Schaufenster und Schaufensterwerbung im langen 19. Jahrhundert

Werbung ist in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Thema der internationalen Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte geworden. [1] Neue, publikumswirksame Themen konnten so erschlossen werden und zugleich begann man, sich mit den Konturen der modernen Konsumgesellschaft auseinanderzusetzen. Doch die wachsende Zahl einschlägiger Publikationen kann nicht verdecken, dass es gerade in Deutschland an Grundlagenforschung mangelt. Werbung kann angemessen nur im Kontext von Konsum, Kleinhandel und Konsumgüterproduktion verstanden werden – und hier sind valide Studien dünn gesät. [2] Noch weniger wissen wir über die neu entstehende Objektwelt des 19. Jahrhunderts. Welche Waren beworben und gekauft wurden, an welchen Orten man sie erstand und in welchem Rahmen man sie sah – solche einfachen Fragen sind für die deutschen Lande kaum zu beantworten. Wir sollten sie uns jedoch stellen, hat doch nicht nur der Pariser Anthropologe Bruno Latour auf die grundlegende Bedeutung solcher Objekte für das Verständnis der Moderne hingewiesen. [3]

Eine der zentralen Innovationen der frühen Konsumgesellschaft war das Schaufenster. Dahinter wurden die Waren präsentiert und so ein Kunstraum des Käuflichen geschaffen. Doch wie so viele andere Objekte wirkte es erst in einem Gesamtensemble: „Schaufenster wurden zu den urbanen Attraktionen, sie bildeten die Anziehungspunkte der Straße, wirkten wie Magneten, die die Menschenströme in ihren Bann zogen.“ Die Schaulust des Publikums und der Zeigestolz der Händler und Produzenten trafen sich an einem gemeinsamen Ort. Hier fand die Ware zu sich selbst: „Losgelöst aus der Sphäre unmittelbaren Konsums, erschien die Ware dort im verglasten Kunstraum als Objekt, das nicht mehr wegen seines Gebrauchs- und Tauschwertes, sondern scheinbar nur um seiner selbst willen interessierte: Das Objekt will nicht benutzt und nicht gekauft, sondern betrachtet und bestaunt werden. Das Schaufenster ermöglicht die ästhetische Epiphanie der Ware.“ [4] Das Schaufenster verwandelte die schnell wachsenden Städte in Stätten von Zeichen und Bedeutungen und stand damit am Beginn eines modernen Lebensstils, unseres Lebensstils.

Derartig allgemeine Charakterisierungen findet man häufig, selten aber klare Entwicklungslinien, Periodisierungen oder gar Versuche, diese empirisch zu belegen. [5] Darum wird es im Folgenden gehen. Grundsätzlich lassen sich vier Entwicklungsstadien des Schaufensters und der Schaufensterwerbung in deutschen Städten des 19. Jahrhunderts nachzeichnen, die auch den folgenden Beitrag untergliedern: War das Schaufenster erstens bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts lediglich Repräsentationsmittel weniger Luxuswarengeschäfte, so setzte es sich zweitens bis in die 1870er Jahre in den Großstädten des Deutschen Reiches allgemein durch. Danach veränderten sich drittens sowohl das Schaufenster als auch die Dekorationsweise grundlegend. „Glaspaläste“ und „Schaufensterkunst“ fanden um die Jahrhundertwende ihren Höhe- und Wendepunkt. Denn seitdem weitete sich viertens die Werbesphäre in den Laden hinein und wurde zum Vorbild der allgemeinen Warenpräsentation. All dies hatte eine hohe Bedeutung nicht nur für die Geschichte von Werbung, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen Reiches.

Das Schaufenster vor dem Durchbruch zur Konsumgesellschaft

Das Schaufenster ist ohne einen Laden nicht denkbar. Doch der Laden, dessen Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht, hatte anfangs keine Schaufenster. [6] Seine Vorform bildete die Bude, ein fester Marktstand, der Verkäufer und Waren vor den Unbilden der Witterung schützte. Die Vorderseite bestand zumeist aus zwei hölzernen Läden, von denen der eine hoch­ und der andere heruntergeklappt wurde: Zwei Läden machten einen Laden. Dergestalt besaßen die Budenhändler einen Verkaufstisch, auf dem ein Teil der Ware ausgelegt werden konnte, sowie Käufer und Verkäufer einen begrenzten Schutz gegen Sonne und vor allem Regen. Der einfache Holzladen verband den freien Zugang zur Ware am Tage und angemessene Sicherheit des Nachts.

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Kaufladen in der frühen Neuzeit (Vorwärts! Magazin für Kaufleute NF 3, 1862, 87)

Sein Prinzip wurde auch beibehalten, als sich der Verkauf mehr und mehr in Häuser verlagerte. Hier konnten die Händler größere Warenmengen lagern, konnten Handwerker Produktion und Verkauf miteinander verbinden. Der Käufer aber blieb noch außerhalb, er betrachtete das Angebot vom öffentlichen Raum der Straße. Dieses Prinzip blieb in deutschen Landen – anders als in Frankreich, Großbritannien und Österreich – bis ins späte 18. Jahrhundert bestehen. Die seit dem 16. Jahrhundert grundsätzlich vorhandenen Butzenscheibenfenster dienten der Beleuchtung des Innenraums, nicht der Schaustellung der Ware. [7] Für kommerzielle Zwecke waren sie zu klein und ermöglichten nur einen verzerrten Blick auch auf dicht hinter der Scheibe aufgestellte Produkte. Das galt ebenso für Schiebefenster und aushängbare Fenster. Auch als 1688 vom Franzosen Louis Lucas de Néhou (?-1728) entwickelte Verfahren für die Herstellung gewalzten Gussglases blieb für den Kleinhandel im deutschen Sprachraum recht folgenlos. Allerdings erlaubten die bis zu 2 x 1,20 Meter großen Coulage-­Scheiben, anders als die mundgeblasenen und stets auch welligen Fensterscheiben, einen ziemlich klaren und kaum verzerrten Blick auf die Waren.

Die lange Dauer zwischen der Erfindung und der allgemeinen Verwendung dieser ersten Schaufensterscheiben resultierte denn auch nicht allein aus dem hohen Preis, schließlich wurden Spiegelscheiben schnell ein markantes Kennzeichen adeliger Repräsentationsarchitektur. Vielmehr benötigten die gehobenen Verkaufsläden des späten 17. Jahrhunderts, die Schaufenster durchaus hätten bezahlen können, noch keine öffentliche Warenschaustellung. Die Ansprüche des Adels waren exklusiv, sie wurden direkt geäußert und direkt befriedigt. Die Situation änderte sich erst mit dem Aufkommen einer zahlungskräftigen bürgerlichen Klientel. Sie schuf eine neue politische, zugleich aber auch kommerzielle Öffentlichkeit. Entsprechend waren es britische und französische Luxuswarengeschäfte, die zuerst Gussglasscheiben einsetzen. In Deutschland lassen sich entsprechende Läden zwar 1725 in Würzburg oder auch 1740 in Augsburg nachweisen, doch blieben diese seltene Ausnahmen. [8] Allgemeinere Verbreitung fanden Gussglasscheiben erst im frühen 19. Jahrhundert. [9]

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Verglaste Außenwände einer Kunst- und Musikalienhandlung in Hamburg um 1835 (W[ilhelm] Melhop, Alt-Hamburgische Bauweise, 2. neubearb. Aufl., Hamburg 1925, 322)

Dennoch machte die Schaustellung der Ware in deutschen Städten auch im 18. Jahrhundert Fortschritte. Innerhalb des Ladens kamen Schautische auf, die im Verkaufsraum standen. Besonders größere Läden mit Flügeltüren lockten so die Käufer in die Läden. Die Tische, auf denen stets wertvollere Waren ausgelegt wurden, übernahmen die Funktion des unteren Klappladens. Sie standen meist inmitten des Raumes, wiesen so zurück auf ihre präsentistische Funktion. Die Kunst der Warendarbietung entstand innerhalb des Verkaufsraumes. Die Ladenfassaden wurden dagegen noch durch Firmenschilder beherrscht, auf deren Reiz- und Informationskraft die meisten Händler vertrauten. [10] Die Ware lockte erst im Inneren des Ladens. Die Luxuswarengeschäfte schufen zwar Räume für den Konsum bürgerlicher Schichten, doch grenzten sie zugleich die kaum zahlungsfähige Mehrheit der Bevölkerung aus. Die Verkaufsräume betrat nur derjenige, der sich die teuren Textilien, Einrichtungsgegenstande und Apparate leisten konnte. Dem entsprach ein informeller Kaufzwang.

Die Durchsetzung des Schaufensters in deutschen Städten (ca. 1835 bis 1870)

Entscheidend für die wachsende Bedeutung des Schaufensters sollte der quantitative Aufschwung des Kleinhandels werden. Dieser lag in den 1830er Jahren, steht in seiner Bedeutung kam hinter der so einseitig gedeuteten „Industrialisierung“. [11] Diese wird fast durchweg verengt auf die Veränderungen im Produktionssektor. Die vielfaltigen Überlappungen zwischen Produktion und Absatz, die damals überproportional wachsende Zahl leistungsfähiger Handelsbetriebe und der Zwang, die im Produktionssektor arbeitenden Personen auch versorgen zu müssen, werden von bequem zusammengeschriebenen Handbüchern in der Regel nicht beachtet. Angesichts eines vielerorts noch gebundenen Gewerberechtes verortet man den nachhaltigen Aufschwung des Kleinhandels – und damit eine Konsumgesellschaft – erst in die 1870er, teils gar erst in die 1890er Jahre. [12] Das hängt eng mit der irreführenden Vorstellung einer „Warenhausgesellschaft“ zusammen. Erst diese scheinbar neuartigen Läden hätten, so die gängige These, die für Absatz, Werbung und Schaufenstergestaltung entscheidenden Maßstäbe gesetzt. [13] Blickt man jedoch auf lange vorher einsetzenden Veränderungen im Kleinhandel, so muss man dies revidieren: „Sollte je der Handel besser in der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung aufgearbeitet werden, wird wohl auch die Geschichte der Werbung in ihrer Anlaufphase neu periodisiert werden müssen.“ [14] Und zugleich erscheint die deutsche Stadt schon deutlich früher als Ort der Warenpräsentation und des demonstrativen Einkaufens.

Seit den späten 1830er Jahren nahm der Absatz von Konsumgütern in Läden mittlerer und kleinerer Händler in deutschen Landen stark zu. Wurden in Preußen beispielsweise 1837 21.782 Kaufleute mit offenen Verkaufsstellen gezählt, so hatte sich deren Zahl bis 1858 auf 48.625 erhöht. Relativ zum Bevölkerungswachstum nahm die Zahl dieser Gruppe binnen 21 Jahren um 76,4 % zu, während die Bedeutung der größtenteils ohne Läden agierenden Krämer, Höker und Trödler relativ schwand und absolut nur um 10,1 % (von 89.149 auf 98.158) zunahm. [15] Die Ladenhändler arbeiteten vorwiegend in Städten. Trotz gewerberechtlicher Beschränkungen ergänzten sie mehr und mehr das traditionelle, durch Wochen- und Jahrmärkte, Hausierer und Höker, den Handwerkshandel und Krämer geprägte Versorgungssystem, und an immer mehr Orten entwickelte sich der Laden zur dominanten Form des Kleinhandels. Die neuen Läden waren seit dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts immer häufiger mit Schaufenstern versehen. Diese entwickelte sich denn auch bis zur Reichsgründung zum wichtigsten Werbemittel eines zunehmend wettbewerbsorientierten Kleinhandels.

Wegweisend – gleichermaßen für die Produktion wie für den Absatz – war dabei das Textilgewerbe. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es beispielsweise in Berlin üblich, Kleidung entweder selbst zu nähen oder aber als Maßanfertigung vom Schneider anfertigen zu lassen. Zwar gab es seit Beginn des 18. Jahrhunderts Schneider, Händler und Verleger, die auch fertige Kleidung verkauften, doch trotz deren wachsender Bedeutung war der Handel mit gebrauchten Kleidern noch lange bedeutender. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich dies folgenreich. Die zunehmende Zahl alleinstehender (und kaufkräftiger) Männer, der wachsende Fremdenverkehr Berlins und die steigende Bedeutung der Mode, die einen schnelleren Wechsel der Garderobe erforderte, waren Grundlagen für den Aufstieg des Magazins. Hierunter ist ein Kleinhandelsgeschäft zu verstehen, welches Waren von Heimarbeitern, Handwerkern oder auch in eigenen Werkstätten produzieren ließ, dessen Hauptgeschäft aber der Verkauf bildete. Wurden anfangs vor allem Hosen, Westen und Röcke angeboten, so wurde das Sortiment seit den 1820er Jahren auch um Schlafröcke, dann um Joppen und Mäntel, Hemden und Kragen erweitert.

Das wachsende Angebot führte zu wachsender Spezialisierung: Neben Wäsche- und Leinwandhandlungen traten seit den 1830er Jahren gesonderte Herrengarderobemagazine. Adressbuchdaten verdeutlichen den tiefgreifenden Wandel: Gab es in Berlin 1830 erst 54 Wäsche- und Leinwandhandlungen, so waren es 1838 schon 116, 1847 dann 158. 1838 wurden erstmals auch zwanzig Herrengarderobemagazine aufgelistet, deren Zahl bis 1847 auf 66 stieg. [16] Berlin war Vorreiter, keine Ausnahme: In Hamburg stieg die Zahl der Kleiderhandlungen zwischen 1800 und 1822 von zehn auf 39, die der Modewarenhandlungen von 19 auf 31, und die der Manufakturwarengeschäfte gar von zehn auf 91. [17] In den wenigen Großstädten machten diese Geschäfte Schaufenster zum Alltagsphänomen. Schon 1830 glaubte die Hamburger Polizeibehörde gegen die Unsitte einschreiten zu müssen, die ausgestellte Ware mit tiefgezogenen Markisen gegen die Sonnenstrahlung zu schützen. [18]

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Schaufenster in Hamburg (Alter Jungfernstieg) 1846/47 (Hamburgs Neubau. Sammlung sämmtlicher Façaden der Gebäude an den neubebauten Strassen, Charles Fuchs, Hamburg 1846/47 (ND Hannover 1985), Bl. 39)

Die Magazine standen nicht allein für eine neue Betriebsform des Kleinhandels. Sie zeichneten sich auch durch neuartige Werbung aus. Die Hamburger Innenstadt war 1842 durch einen Brand fast vollständig zerstört worden, und die wieder aufgebauten Straßenzüge wurden 1846/47 in einer umfangreichen Lithographieserie festgehalten. Die obige Abbildung zeigt Fassaden gleich zweier Magazine. Beide verfügten über Schaufenster, in beiden fand sich wohldrapierte Ware. Diese Magazine bilden keine Ausnahmen im Straßenbild. Sie waren umrahmt von den Schaufenstern anderer Fachgeschäfte, die allesamt gewerblich gefertigte Waren anboten. Ähnliches galt auch für die Nebenstraßen der Innenstadt.

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Schaufenster in Hamburg (Bohnenstraße) 1846/47 (Hamburgs Neubau, Bl. 17)

Läden mit Schaufenstern dominierten. Gewiss, sie waren fast durchweg kleiner als in den Hauptstraßen, zudem handelte es sich zumeist um preiswertere Sprossenfenster. Die vor 1842 vielfach genutzten Erkerfenster, die sog. „Ausbauer“, fehlten hier; ihr Bau war nach dem Großen Brand verboten worden. [19] Doch nicht allein Textilwarengeschäfte stellten ihre Waren sinnfällig aus. Schuhe, Lederwaren und sogar Fleischwaren wurden in Hamburg schon vor der Jahrhundertmitte im gläsernen Ambiente präsentiert. Bemerkenswert war zudem die Kombination gewerblicher Tätigkeiten (Schuhmacher, Handschuhfabrik) mit einem schaufensterbewehrten Ladengeschäft. Auch in der Frühindustrialisierung war Güterproduktion kein Wert an sich, sondern bekam ihren Sinn erst durch den Absatz. Die Hamburger Lithographieserie enthielt Abbildungen von insgesamt 218 Läden der Innenstadt. Schaufenster fehlten fast nirgends, einzelne Läden präsentierten ihre Waren gar hinter vier großen Spiegelscheiben. Vereinzelt fanden sich schon Beleuchtungseinrichtungen; flackerndes Licht lud in Hamburg schon vor der Jahrhundertmitte zum abendlichen Schaufensterbummel. [20]

In der preußischen Hauptstadt Berlin entstanden seit den späten 1830er Jahren nicht allein deutlich mehr Magazine als in der Hansestadt Hamburg. Hier entstanden auch erste Großbetriebe des Kleinhandels, auch wenn deren Schaufenster noch nicht besonders hervorragten. Das 1836 gegründete „Modewaaren-Lager“ von Herrmann Gerson beschäftigte 1852 schon acht Aufseher/innen und 120-140 Arbeiterinnen in zwei Geschäftshäusern, 150 Meister mit ca. 1.500 Gesellen als Zulieferer und ca. 100 Personen im zweistöckigen Verkaufslokal. Doch das von 120 Gasflammen beleuchtete Magazin lockte seine Kundschaft mit nur zwei jeweils fünf Fuß breiten Spiegelscheiben. Hier zeigte sich noch deutlich die Tradition des Luxuswarengeschäftes, welches für eine feste und wohlsituierte Klientel Ware anbot. [21] Auch das 1839 entstandene Manufakturwarengeschäft Rudolph Hertzog, später größtes deutsches Kaufhaus und als Versandgeschäft in Europa führend, verfügte nur über durchschnittliche Schauflächen und konzentrierte sich stattdessen auf eine großzügige Annoncenreklame.

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Landsbergers Magazin in Berlin 1860 (Robert Springer, Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, 336)

Andere Magazine aber nutzen das neue Werbemedium des Schaufensters konsequent. Eindringlicher Beleg hierfür war das Garderobe-Magazin von Louis Landsberger. Nicht mehr zwei, nicht mehr vier, sondern zehn großformatige Spiegelscheiben schmückten den Geschäftsbau mit seinen zwei Verkaufsetagen. Die Schaufenster umrundeten den Laden, dokumentieren in ihrer Massiertheit Größe und Umfang des Angebotes. Wachsende Verkaufsflächen gingen einher mit wachsenden Schaufensterfronten. Als Kundenmagnet wirkte zusätzlich die Beleuchtung mit 316 Gasflammen, die das Magazin abends zum Blickfang werden ließ. Doch auch Landsberger bildete nur die Spitze eines breiten Ensembles. [22] Folgen wir doch einmal einem Stadtführer des Jahres 1861: „Unsere wohlgenährten Altvordern, die nur für den realen Genuß waren, kannten nicht den Schimmer der Spiegelscheiben und der Bronze, nicht die Farbenpracht, nicht den Zauber des Luxus und den Reiz der Künste. Desto besser verstehen wir uns auf solche Vorzüge. Den Unterschied zwischen Sonst und Jetzt sieht man nirgend auffälliger als an den Verkaufsläden. […] Betrachten wir jetzt jene Läden, […] wo die Waaren, von hübschen Händen geordnet, das Auge bezaubern! […] Sehen Sie dort, meine Damen, die strahlenden Fenster, die man mit Jakona und Organdis drapirt hat, mit Long-Shawls, wofür Sie ihr Lächeln verkaufen, mit venetianischen Spitzen, die Sie um ihre Liebe eintauschen! Sehen Sie hier, Dandies aus der Provinz, die prächtigen Piquéwesten! Steigen Sie hinunter in jene unterirdische Behausung: der Bärenschinken ist servirt und der Cliquot auf Eis gestellt. Hier die glänzenden Hüte à ressort, die zierlichen Ancreuhren, die Velourdecken, die riesigen Spiegel in Goldrahmen; dort kunstvolle Bronzewaaren, werthvolle Oelgemälde, Buffets mit Marmorplatten, prachtvolle Tafelservice; Blumenbouquets in schöneren Farben als die Gaben der Flora Cypris; hier die schönen wissenschaftlichen Sammelwerke in Prachtbänden, Zahn‘s Ornamente aus Pompeji, der Reliquienschein von Brügge in wundervollen Photographien. Welche Fülle von Pracht, Annehmlichkeit und Schönheit für den bevorzugten Sterblichen, der mit Sinn für die Genüsse des Lebens und mit reichlicher Rente gesegnet ist!“ [23]

Ein Schaufensterbummel war in Berlin also schon lange vor der Reichsgründung möglich und reizvoll. Der Reiseführer konzentrierte sich allerdings auf teurere, exklusive Produkte, die innerhalb der Klassengesellschaft der Hauptstadt für die meisten Bewohner unerschwinglich blieben. Und doch begannen in den 1860er Jahren auch Geschäfte mit einfacherem Angebot, vielfach auch Kolonialwaren- und Feinkostläden, mit der Um- und Neugestaltung ihrer Fassaden. Dabei gingen viele Kleinhandler Kompromisse ein: „Sehr oft werden gewöhnliche Fenster zur Schaustellung benutzt und wäre dann der einzige Unterschied, dass größere Scheiben in Anwendung kommen. Dass solche Anlage nur den einfachsten Forderungen entspricht, liegt auf der Hand; die Schaustellung ist hierbei sehr beeinträchtigt und ist gewöhnlich die zu hohe Lage der Fenster störend. Große Ausbreitung der Waren gestattet aber ein Fenster nicht und daher dürfte ein solches nur in Anwendung kommen, wo es darauf ankommt anzuzeigen, was für ein Geschäft sich an dem betreffenden Ort befindet.“ [24]

Die Schaufenster derartiger kleiner und mittlerer Geschäfte sind natürlich kaum mit denen der Großbetriebe zu vergleichen. Doch festzuhalten ist, dass auch etablierte Läden sich um An- und Umbauten zumindest bemühten. Zugleich wurde es in den 1860er Jahren üblich, neue Läden bereits beim Bau mit Schaufenstern auszustatten. Schaufenster wurden integraler Bestandteil des Kaufladens: „Die Schaufenster zum Ausstellen der Waaren müssen möglichst breit angelegt sein, und bedient man sich jetzt allgemein zur Unterstützung der oberen Geschosse der eisernen Säulen und Träger statt der in Stein ausgeführten Pfeiler und Bogen, weil dadurch an Raum gewonnen wird. Man ordnet dann recht oft die oberen Geschosse ganz unbekümmert von den unteren mit anderen Axen an, weil man die Axentheilung der unteren Geschosse doch kaum erkennt, indem bei der geringen Dimension des Eisens letzteres fast verschwindet und nur eine Glasflache sichtbar ist.“ [25]

Die hier schon diskutierte Verwendung von Stahl und Glas schuf ganz neue Möglichkeiten der Fassadengestaltung. Seit Anfang der 1870er Jahre wurden zunehmend auch zweigeschossige Schaufensteranlagen gebaut. [26] Ladenlokale mit Schaufenstern, die von der Mehrzahl der kleineren und mittleren Händler ja gemietet wurden, gehörten seitdem mehr und mehr zur üblichen Ausstattung größerer Geschäfts- und Wohnhäuser. Verlässliche Zahlen fehlen, so dass nicht überprüft werden kann, ob es 1880 in Berlin wirklich „3000 wirkungsvolle Schaufenster“ [27] gegeben hat, wie ein Zeitgenosse behauptete. Zweifellos aber waren in Berlin Schaufenster im Handel mit Gütern des gehobenen und periodischen Bedarfs schon vor der Reichsgründung 1871 üblich. Zwar hinkte der Kleinhandel mit Lebensmitteln dieser Entwicklung noch hinterher, doch der Delikatessen- und Kolonialwarenvertrieb erfolgte schon vielfach in Läden mit gläsernen Fronten. [28]

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Fassade des Karlshofes in Aachen 1869 (Deutsche Bauzeitung 3, 1869, 496)

Das neue Objekt des Schaufensters hatte sich zu dieser Zeit auch schon in der Provinz des Reichs fest etabliert. Die Abbildung zeigt ein „charakteristisches Beispiel der Facadenbildung von Privatbauten“ im Rheinland: Vier großformatige Schaufenster sprechen dagegen, die Durchsetzung eindringlicher Schaufenster erst in die 1890er Jahre zu datieren und mit der Entstehung der Warenhäuser zu verknüpfen. Im Gegenteil begann in Deutschland nach der allgemeinen Etablierung bereits in den 1870er Jahren eine Differenzierung der Schaufenster nach Größe, Anzahl und immer stärker nach der Dekoration. Sie entsprach nicht allein dem herrschenden Geschmack und Baustil, sondern war auch ein wichtiges Unterscheidungselement in einer gleichermaßen von Produktion und Distribution geprägten Wettbewerbsgesellschaft. Die deutschen Großstädte waren schon vor der Jahrhundertwende Stätten bürgerlichen Konsums geworden, und in den Schaufenstern lockten die Verheißungen einer Welt zunehmenden Wohlstands und allgemeinen Fortschritts.

Universalisierung und Differenzierung des Schaufensters in der Wettbewerbsgesellschaft (ca. 1870 bis 1900)

Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 war nicht allein eine politische Zäsur. Sie führte auch im Felde des Gewerberechts zu einer umfassenden Liberalisierung. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit gab es in den meisten deutschen Ländern zwar schon zuvor, doch nun setzten sich diese Prinzipien endgültig durch. Die Verstädterung nahm zu, mündete in den qualitativen Prozess umfassender Urbanisierung. Die Zusammenballung großer Menschenmassen und hoher Kaufkraft ermöglichte dem Kleinhandel ein sich beschleunigendes Wachstum. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wurde strikter, und schon während der 1873 einsetzenden Depression zeigte sich, dass eine wachsende Güterproduktion von liquidem Kapital, vor allem aber von gesichertem Absatz abhängig war. Absatz konnte jedoch nur durch ein leistungsfähiges Kleinhandelssystem gewährleistet werden, welches um die Käufer warb, welches etablierte und neue Waren an die Kunden verkaufte. Der Aufbruch in den Wettbewerb forderte vom Kleinhandel neue Lösungen nicht allein für die grundlegende Versorgungsaufgabe, sondern insbesondere für den Vertrieb der wachsenden Zahl bisher unbekannter gewerblich produzierter Produkte. Dazu bedurfte es einer Modernisierung des Betriebes, neuer Betriebsformen und einer veränderten Außendarstellung. Dem Kunden musste die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Ladens sinnenträchtig vor Augen geführt werden. [29]

Der Wettbewerb im Kleinhandel war nicht allein ein Wettbewerb der Waren, sondern auch ein Wettbewerb um das knappe Gut öffentlicher Aufmerksamkeit. Das Schaufenster nahm gerade angesichts der schnell wachsenden Bedeutung reiner Laufkundschaft einen zentralen Platz für eine erfolgreiche Arbeit vor allem im Gebrauchsgüterhandel ein. Und es war zugleich angemessenes Werbemedium einer Gesellschaft, in der die Präsentation von Warenqualität wichtiger war als die Qualität selbst. Um die Gesamtentwicklung angemessen beurteilen zu können, gilt es verschiedene, gleichwohl miteinander vernetzte Einzelentwicklungen voneinander zu scheiden:

Die Variationsbreite der Schaufensterwerbung nahm insgesamt zu. Neben die gediegene und warenzentrierte Werbung der Mehrzahl der Fachgeschäfte trat eine grelle, lärmende Reklame auch der Fassadenfronten. Das zeigt sich besonders am Beispiel der neuen Betriebsform der Bazare, die sich seit den späten 1860er Jahre aus den Magazinen entwickelten. Auch die Bazare bildeten anfangs prächtige, mit großem Prunk ausgestattete Geschäfte, doch verzichteten sie in der Regel auf eigene Güterproduktion. Sie waren durchweg mit ausladenden Schaufenstern versehen. Während der Depressionszeit entstand unter gleichem Namen jedoch auch eine Gruppe sogenannter Pfennigbazare (zumeist 50-Pfennig-Bazare), die geringerwertige Waren zu niedrigen fest umrissenen Preisen verkaufte und zugleich hohem Reklameaufwand betrieb. Der Begriff des „Bazars“ bekam dadurch einen negativen Grundton, der im seit den späten 1870er Jahren verwandten und vielfach antisemitisch grundierten Begriff der „Ramschbazare“ gespiegelt wurde. Diese in der Regel nicht allzu großen Läden nutzten Schaufenster und Gesamtfassade zu teils greller Anpreisung. Auch die ebenfalls in den 1860er Jahren aufkommenden Wanderlager sowie die Ende der 1870er Jahre entstandenen Abzahlungsbazare setzten auf eine vielfach als marktschreierisch gedeutete Reklame und provozierten damit schon früh Diskussionen über die kommerzielle „Verunstaltung“ der Innenstädte. [30]

Während sich die Bazare in der klassenspezifisch gegliederten Kleinhandelswelt des Kaiserreichs eher an Käufer aus der Mittel- und oberen Unterschicht wendeten, konzentrierten sich die aus den Magazinen entstehenden Kaufhäuser tendenziell auf die mittleren und oberen Klassen der Gesellschaft. Auch sie verzichteten zumeist auf eigene Güterproduktion, konzentrierten sich auf den Vertrieb von Waren. Doch schon aufgrund ihrer Größe besaßen sie meist eine nicht unbeträchtliche Nachfragemacht, die ihnen indirekten Einfluss auf die Lieferanten sicherte. Ihre Schaufenstergestaltung war zumeist gediegen, zurückhaltend und sachlich. Die Kaufhäuser waren jedoch zugleich Vorreiter einer allgemeinen Vergrößerung der Schaufensterflächen. Grundlage dafür boten zum einen Verbesserungen der Glasgusstechnik. Das Spiegelglas wurde glatter und durchsichtiger. Zugleich wurde es technisch möglich, größere Einzelscheiben zu produzieren. Wichtiger aber war, dass die Kaufhäuser schon in den 1870er und 1880er Jahren die neuen Möglichkeiten der Baustoffe Eisen und Stahl für eine immer prächtigere Schaufensterfront nutzten. [31] Nun entstanden rein funktionale Geschäftsbauten, die nur noch in Ausnahmefällen zu Wohnzwecken genutzt wurden. Citybildung und Schaufensterentwicklung waren eng miteinander verzahnt.

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Fassade des Geschäftshauses Rosipal in München 1884 (Zeitschrift für Baukunde 7, 1884, Bl. 9)

Die Abbildung zeigt eine 1884 neugestaltete Fassade des Münchener Kaufhauses Rosipal. Innerhalb des Geschäftes wurden rund um einen Lichthof auf drei Etagen Manufaktur-, Mode- und Schnittwaren verkauft, während sich die Verwaltung im dritten Stock befand. Dekorierte Schaufenster gab es in den ersten beiden Stockwerken, doch auch die großen Fenster im zweiten und dritten Stock dienten zu Werbezwecken.

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Obergeschosse des Berliner Kaufhauses Ascher & Münchow (1886/87) (Blätter für Architektur und Kunsthandwerk 4, 1891, Tafel 27)

Das 1887 fertiggestellte Berliner Kaufhaus Ascher & Münchow zählte in den beiden Untergeschossen elf großformatige und aufwändig dekorierte Schaufenster. Dies allein genügte nicht, denn auch im zweiten Stock nutzte man insgesamt zwölf der schmaleren Fenster zur Präsentation damals moderner Einrichtungsgegenstände (die Abbildung zeigt davon nur vier). Die Fenster im dritten und vierten Stock wurden schließlich für Reklamebeschriftungen genutzt, um dadurch die Käufer in der Leipziger Straße schon von weitem auf das Angebot aufmerksam zu machen. Die Glasflächen der Kaufhäuser wuchsen schon in den 1880er Jahren bis an die Spitze der Geschäftsgebäude, folgten dabei auch der wachsenden Monumentalität damaliger Geschäftsstraßen und Prachtboulevards. Das Prinzip gläserner Fronten wurde dann in den späten 1890er Jahren von den neu entstehenden Warenhäusern auf die Spitze getrieben. [32] Von den Kaufhäusern unterschieden sie sich durch ihr breites Angebot vermeintlich nicht zusammengehöriger Waren. Ihre Architektur war durch neue Innenraumkonzepte, die konsequente Nutzung von Lichthöfen und eine stark auf vertikale Pfeilerkonstruktionen ausgerichtete Fassadengestaltung originell und innovativ, doch in der Gestaltung der Schaufensterpartien befanden sie sich sowohl in der Tradition deutscher Kaufhäuser als auch der wesentlich prächtigeren französischen Grands magasins. [33] Das 1897 von Alfred Messel (1853-1909) erbaute Warenhaus Wertheim und das 1899/1900 errichtete, ebenfalls in Berlins Leipziger Straße gelegene Warenhaus Hermann Tietz mit seinen zwei riesigen, jeweils 460 m2 umfassenden Schaufenstern, waren gewiss die bekanntesten Vertreter dieses Typus.

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Der Kaiser-Bazar als Schaufenster (Das Buch für Alle 27, 1892, 221)

Noch konsequenter allerdings war das um 1900 entstandene Mannheimer Warenhaus Kander: Stärker als bei seinen Berliner Vorbildern verzichtete man bei diesem Glaspalast auf eine schmückende Fassadengestaltung oder auch nur auf eine abrundende Dachkonstruktion. Die Eisen-Glas-Architektur hatte hier einen seltenen Höhepunkt erreicht, das Warenhaus erschien transparent, öffnete sich allseitig den neugierigen Blicken der Kundschaft. Ästhetische, architektonische und brandschutztechnische Erwägungen führten jedoch dazu, dass diese nur noch an Monumentalität zu überbietende Steigerung der Schaufensterfronten an einen Wendepunkt geriet. [34] In der Fabrikarchitektur wurde diese Bauweise allerdings – gemäß den Fabrikbauten von Steiff (Giengen, 1903) oder Fagus (Alfeld, 1911) – zum Vorreiter des Neuen Bauens.

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Das Warenhaus Kander in Mannheim 1900 (Kilian, 1994, 336)

Doch bevor wir auf die hieraus resultierenden Konsequenzen eingehen, müssen wir uns fragen, ob sich das Schaufenster auch abseits herausragender Einzelbetriebe universell durchsetzte. Im zweiten Teil wurde betont, dass in den 1860er Jahren im Gebrauchsgüterhandel auch mittlere und kleinere Betriebe Schaufenster neu einrichteten oder sich Verkaufslokale mieteten, die üblicherweise mit Glasfronten versehen waren. Auch im Handel mit Kolonialwaren und Delikatessen war dies nachweisbar. Doch es ist nicht möglich, diese Entwicklung präzise zu quantifizieren. Allerdings betonte der liberale Politiker und Genossenschafter Eugen Richter (1838-1906) schon 1867 eindringlich, dass Konsumgenossenschaftsläden eine ähnlich hochwertige Ausstattung wie konkurrierende Kolonialwarenläden haben sollten, um zugleich aber festzuschreiben: „Der Ausstellung von Waaren in den Schaufenstern zur Anlockung der Kunden enthalten sich dagegen alle Konsumvereine nach dem Muster der englischen Vereine grundsätzlich.“ [35] Auf Fotografien des letzten Jahrhunderts findet man seit den 1860er Jahren vielfach geschlossene Schaufensterfronten, die spätestens seit den 1880er Jahren stets auch die sesshaften Lebensmittelhändler umgriffen. [36] Lediglich die Konsumgenossenschaften grenzten sich zumindest bis zur Jahrhundertwende selbstbewusst aus, verfügten sie doch über einen festen Stamm eingetragener Mitglieder. [37]

Doch zugleich muss an ihr privatwirtschaftliches Pendant erinnert werden. Massenfilialbetriebe entstanden im Genuss- und Lebensmittelsektor vornehmlich seit den 1870er Jahren. Ihr Erfolgsrezept gründete nicht allein auf zentralem Einkauf und zentraler Verwaltung. Die Einzelfilialen besaßen vielmehr zunehmend einheitliche Außenfronten, deren Blickfang immer ein oder mehrere große Schaufenster bildeten. Zwar lag der eigentliche Aufschwung dieser neuen Betriebsform in den 1890er Jahren, doch entstanden die großen Ketten – Kaiser‘s Kaffeegeschäft verfügte 1900 schon über 667 Filialen – meist aus einfachen Kleinhandelsbetrieben. [38] Es scheint daher mehr als plausibel, dass das Wissen um die Werbekraft eines anziehenden Schaufensters auch im Kolonialwarenkleinhandel schon lange vor der Jahrhundertwende fest verankert war und allgemein praktiziert wurde.

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Filiale von Kaiser’s Kaffee-Geschäft 1904/05 (1880-1980. 100 Jahre Kaiser’s, hg. v. Kaiser’s Kaffee-Geschäft AG, Viersen 1980, s.p.)

Diese Universalisierung des Schaufensters zum zentralen Werbemittel des gesamten ladengebundenen Kleinhandels ging einher mit veränderten Präsentationsformen der Ware selbst. Schon in den Hamburger Schaufenstern wurde möglichst viel Ware gestapelt. Hiermit, so die allgemeine Überzeugung, könne die Leistungsfähigkeit des Geschäftes am besten dokumentiert werden. Doch massierte Warenpräsenz hatte nur begrenzte Lockkraft. Daher begann man spätestens seit den frühen 1870er Jahren damit, ungewöhnliche und spektakuläre Phantasiefenster einzurichten. [39]

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Phantasiefenster eines Fleischwarengeschäftes (Fliegende Blätter 115, 1901, Nr. 2927, 7)

Doch die Kritik an überladenen und ohne Sachbezug eingerichteten Schaufenstern ließ nicht lange auf sich warten, zumal in den Manufaktur-, Konditorei- oder Fleischwarenbranchen. Besonders die Dekoration toten Fleisches erregte Anstoß, auch wenn sie offenbar noch um die Jahrhundertwende weit verbreitet war [40].

Die schon in den 1870er Jahren offenbare Kritik deckte sich kaum mit dem in der bisherigen Forschung gezeichneten Bild der Schaufensterwerbung. [41] Der Übergang vom Phantasiefenster zu sachlichen Stapelfenstern wird gemeinhin mit den Elitendiskursen der Jahrhundertwende verbunden. Doch lange vor programmatischen Aussagen wie „Das neue Fenster will sachlich sein“ [42] war ein Großteil der Schaufenster schon „sachlich“ gestaltet. Städtische Schaufensterfronten wurden zum allgemeinen Präsentationsort moderner Waren. Die zunehmende Spezialisierung des Kleinhandels ließ die Schaufenster zugleich Ausdruck und Träger eines warenzentrierten Angebotes werden: „Beredter als Zeitungsannoncen ladet es zum Kauf ein, denn es zeigt die Waare selbst und erinnert dadurch den Kauflustigen nicht selten erst an Bedürfnisse, deren er ohne die Mahnung des Schaufensters nicht gedacht hatte“ [43].

Die städtischen Schaufenster präsentierten die Errungenschaften des technischen Fortschritts einfach und kaum verschnörkelt: „Durch riesengrosse Spiegelscheiben, […] fällt jetzt das Auge allenthalben auf bunteste Pracht und Fülle und ein Weg besonders durch die Hauptgeschäftsstrassen Berlins gleicht einem Spaziergang durch eine kleine internationale Ausstellung. Da giebt jeder Kaufmann mit grösstem Aufwand ein möglichst charakteristisches Bild seiner Branche und taucht es zum Ueberfluss noch in ein ganzes Meer hellfluthenden Lichtes.“ [44] Die Schaufensterdekoration wurde schon früh als kommerzielle Kunst verstanden, die der Unterhaltung einer wachsenden Zahl shoppender Käufer und Käuferinnen diente: „Die Perspective eine Ladens bei Abendbeleuchtung durch die Fenster betrachtet ist eins der herrlichsten Schauspiele, welches die große Stadt bietet, und wenn das Marmorlager, wo Werke der Sculptur aufgestellt sind, den höheren Kunstsinn noch starker anzieht und inniger erfreut, als die den Werken der Manufacturisten gewidmeten Verkaufshallen, so sind diese Werke doch der Mehrzahl nach, der Kunstsphäre nahe gehoben durch den Geist, welcher heutigen Tages auch im Handwerk sich regt, und die Betrachtung derselben ist folglich ein Genuß, der durch den Namen: Kunstgenuß nicht zu schmeichelhaft benannt ist.“ [45]

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Abendbeleuchtung vor einem Eingang des Kaufhauses Rudolph Hertzog (Der Bär 20, 1894, 441)

Vor diesem Hintergrund scheint es nicht nur angesichts mangelnder Detailforschung unangemessen, dem Kleinhandel vor der Jahrhundertwende Unmaß und mangelnden Kunstsinn zuzuschreiben. Symmetrisch aufgebaute Stapelfenster waren jedenfalls schon lange vor der Jahrhundertwende Gemeingut des Kleinhandels. Warenzentrierung war innerhalb der Schaufenster üblich und keine Ausnahme. Diese Entwicklung fand ihr Pendant in einer wachsenden Zahl von Waren, die im Schaufenster mit Preisauszeichnungen versehen wurden. Schon die Schaufenster der Magazine besaßen dadurch hohen Informationswert. [46] Diese Preistransparenz war aber nicht nur Ausdruck lauterer Geschäftspraxis. Vielmehr waren es gerade die neuen Betriebsformen des Pfennig-Bazars und des Wanderlagers, die geringe Preise seit den 1870er Jahren bewusst als Werbe- und Wettbewerbsmittel einsetzten. Sie schufen Preisdruck für die Konkurrenz, der in den 1890er Jahren durch Warenhäuser und Partiewarengeschäfte nochmals verstärkt wurde. Die Rechenhaftigkeit des Kunden wurde durch die immer häufigere Preisauszeichnung gerade in mittleren und kleineren Läden unterstützt: „Wenn wir in Berlin durch die Strassen gehen und vor einem Schaufenster eine ausserordentliche grosse Fülle sehen, so will ich darauf wetten, dass in dieser Auslage die Waaren mit Preisen versehen sind. Die Preisbezeichnung veranlasst eine Menge Leute, des Studiums halber stehen zu bleiben, auch solche, die im Augenblick gar nicht auf einem Kaufwege sind. Dieses Studium kostet dem Kaufmann nichts, aber es bringt ihm Vortheil; denn nachher heisst es zu Haus: ‚Da und da habe ich das und das zu dem Preise gesehen!‘ womit sich eine neue Kundschaft anbahnt. Um die misstrauischen und ängstlichen Käufer zu beruhigen, giebt es aber kein Mittel, als ihnen an allen Waaren, drinnen wie draussen, die lesbare Preisbezeichnung entgegenzuleuchten zu lassen. Das giebt auch demjenigen, der sich wegen Mangels an Sachkenntnis schwach fühlt, die angenehme Gewissheit, dass man ihm nicht mehr abnimmt, als den getriebenen Kunden.“ [47]

Die nachhaltigen Veränderungen der Dekoration der Schaufenster spiegelten sich aber auch im Entstehen eines neuen Berufszweiges – des teils noch semiprofessionellen Dekorateurs [48] – und einem immer bedeutenderen Angebot von Dekorationsmitteln. Gestelle, Ständer, Etageren, Attrappen, Borde, Spiegel, Plakate und vieles mehr wurde speziell für die Ausstattung von Schaufenstern gefertigt. Ein Lehrbuch listete 1895 allein 103 deutsche Firmen auf, die sich auf diese Produkte spezialisiert hatten. [49] Dazu kamen Anfang der 1890er Jahre mechanische Figuren, die jedoch ebenso wie der Automatenhandel nur geringe Bedeutung gewannen. [50] Auch die Verwendung mechanischer Klopfer, die an der Ladenfassade angebracht wurden, war eine Modeerscheinung, die sich nicht durchsetzen konnte. Wesentlich wichtiger waren dagegen Rollständer und Büstenfiguren, die eine lebensnahe Präsentation von Textilien ermöglichten. Wachspuppen kamen erst nach der Jahrhundertwende auf, hatten dann jedoch durchschlagenden Erfolg bei der Dekoration der größeren Geschäfte. [51] Alle diese Mittel halfen, die Schaufenster insgesamt attraktiver zu machen. Die hohen Kosten ließen die Unterschiede zwischen den Ladenfronten zugleich aber augenfälliger werden.

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Hilfsmittel zur Schaufensterdekoration (Kölner Local-Anzeiger 1904, Nr. 332 v. 1. Dezember, 6)

Auch wenn schon vor der Jahrhundertwende das Schaufenster in deutschen Groß- und Mittelstädten Allgemeingut war, so darf nicht vergessen werden, dass die Warenpräsentation technisch keineswegs ausgefeilt war. Für die Kleinhändler bedurfte es großer Anstrengungen, um den Kunden das Erlebnis eines gelungenen Schaufensterbummels zu ermöglichen. Die Glitzerwelt der Waren musste schließlich von der Straße aus betrachtet werden. Daher galt es Vorkehrungen zu treffen, um das Schaufenster bei allen Witterungsverhältnissen attraktiv zu machen.

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Wachstumsgewerbe Ladenbau (Kladderadatsch 28, 1875, Nr. 19, Beibl. 1, 1; ebd., Nr. 22/23, Beibl. 2, 2)

Augenfälligstes Hilfsmittel der meisten Läden war die Markise. Sie bestand in der Regel aus Leinwand und war meist mit Seitenblenden versehen. [52] Die Markise bot im Sommer Schutz vor Hitze, verringerte die Sonnenblendung und schützte zumindest vor leichtem Regen. Sie diente außerdem der Temperaturregulierung innerhalb des Ladens, denn gerade während des Sommers war Lüftung ein wichtiges Problem. Markisen nötigten zugleich dazu, nahe an das Geschäft heranzutreten, da sie den Blick von weitem beeinträchtigten. [53] Auch Rollläden behinderten insbesondere an Sonn- und Feiertagen den freien Blick auf Schaufenster und Waren. Doch die in Deutschland gebräuchlichen Holz-, später dann Stahlrollläden markierten zumeist mittlere und kleinere Geschäfte. Größere ließen dagegen ihre Schaufenster durchweg offen, da hochwertige Scheiben auch gegen Einbruch guten Schutz boten. Lediglich Kunsthändler und Juweliere griffen zu zusätzlichen beweglichen Gittern, so dass die Ware immerhin noch zu betrachten war. [54] Zu beachten ist allerdings, dass die Schaufenster bis zur Jahrhundertwende in den meisten Städten während der Hauptgottesdienstzeiten verhängt bzw. verschlossen werden mussten. Lokal blieben entsprechende Regelungen teilweise bis zum Ende des Kaiserreiches bestehen. [55]

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Eisverhangene Schaufenster selbst im Frühling (Fliegende Blätter 88, 1888, Beibl., 5)

Ein besonderes Problem bildeten außerdem Hitze und Kälte. Die Schaufenster bestanden in der Regel aus festen, schwer zu lüftenden Holzkästen. Kleine Lüftungslöcher halfen da wenig. Regelmäßig entstand Schwitzwasser, so dass ohne Gegenmaßnahmen die Fenster im Sommer beschlagen, im Winter dagegen gefroren waren. Im Laufe der Jahrzehnte wurden immer neue Hilfsmittel ersonnen, doch keines hatte einen nachhaltigen Effekt. Da offene Gasflammen im Fensterkasten eine hohe Brandgefahr bargen, wurden die Glasscheiben in der Regel alle paar Tage mit Glyzerin oder starken Chemikalien bestrichen. Trotzdem aber stand der Kunde häufig vor Schaufenstern, die nur teilweise einzusehen waren. [56]

Ein weiteres Naturhindernis bildete die Dunkelheit. Schaufenster mussten beleuchtet werden, um auch abends zu gefallen. Aufgrund der bis in die 1890er Jahre kaum beschränkten Ladenöffnungszeiten wurden viele Schaufenster anfangs von innen mit Kerzen und Petroleumleuchten, später dann mit Gasbrennern beleuchtet. Brandgefahr bestand stets, außerdem ließ das offene Feuer die Scheiben beschlagen. Gerade leistungsfähigere Geschäfte setzten daher schon frühzeitig auf die Außenbeleuchtung der Schaufenster. Dadurch konnten die Schaufenster jedoch schlechter ausgeleuchtet werden, außerdem blendeten die Lichter häufig. Gas- und Petroleumlicht schien gelblich, so dass sich die Farben der ausgestellten Waren grundlegend änderten. Seit den späten 1880er Jahren kamen dann elektrische Bogenlampen auf, in den späten 1890er Jahren auch das Gasglühlicht. Beide leuchteten weiß, doch verliehen sie den Waren einen kreidigen Charakter. Schon aus diesem Grunde waren kräftige Farben notwendig, erschien die Farbgestaltung der Schaufenster teilweise unnatürlich. [57] So bedeutsam die mit dem Schaufenster verbundenen Innovationen waren, so muss das Einkaufserlebnis der damaligen Zeit doch auch unter diesen Aspekten betrachtet werden, um nicht voreilig Vorstellungen unserer Zeit in die Vergangenheit zu projizieren. Kommerzielle Traumwelten stießen auch damals immer an die Grenzen natürlicher Gegebenheiten.

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Das Warenhaus Hermann Tietz (Berlin, Leipziger Straße) in nächtlichem Glanz (Die Woche 12, 1910, 373)

Diese Einschränkungen sind wichtig, um nicht der Apologie der urbanen Konsumgesellschaft zu verfallen. Die gläsernen Schaufenster zogen gewiss immer größere Kreise der Bevölkerung in ihren Bann. Doch trotz der steigenden Realeinkünfte waren die Barrieren von Klasse und Einkommen weniger durchlässig als die transparenten Scheiben der Läden.

Schaufenster und Läden als kommerzielle Ensembles (seit ca. 1900)

Die Entwicklung des Schaufensters war um die Jahrhundertwende an einer quantitativen Grenze angelangt. Neue Impulse, wie sie seit der Reichsgründung stets von neuen Betriebsformen des Kleinhandels erfolgt waren, blieben aus. Gewiss, spätestens seit den 1890er Jahren verbreiteten sich Schaufenster nicht nur in Mittelstädten, sondern waren auch immer häufiger in Kleinstädten anzutreffen. [58] Auch die kleineren Geschäfte der urbanen Außenbezirke glaubten nicht mehr auf gläserne Fronten verzichten zu können. Dennoch schritt die Entwicklung des Schaufensters weiter voran. Denn die Universalisierung des Schaufensters in den deutschen Großstädten um die Jahrhundertwende bewirkte einen qualitativen Sprung: Die Prinzipien der Schaufenstergestaltung griffen seither über in den Verkaufsraum, die „Schaufenster-Qualität der Dinge“ [59] erfüllte den gesamten Laden, prägte Ausstattung und Personal.

Den Hintergrund dieses Umschwungs bildete ein generelles qualitatives Wachstum des deutschen Kleinhandels, das spätestens zu Beginn der 1890er Jahre bestimmend wurde. Der intensivierte Wettbewerb führte zu geringeren Handelsspannen, steigerte zugleich aber die allgemeinen Kosten des Geschäftes. Daran hatte das Schaufenster einen wichtigen Anteil: „Enorme Summen verschlingt das moderne Schaufenster. Man macht sich im allgemeinen gar keine Vorstellung davon, wieviel verschiedene Dinge, von der riesigen Spiegelscheibe bis hin zu den kaum beachteten Warenständern benötigt werden, und wieviel Hände sich regen müssen, damit ein leidliches Schaufenster zustande kommt. Bloß die Einrichtung eines solchen kommt durchschnittlich für kleinere Maßstäbe von 150 Mk. bis auf 200 Mk. und für größere auf 1000 Mk., ja mehr zu stehen. Dazu kommen die Löhne für die Arrangeure.“ [60]

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Markenartikelwerbung als Alternative zur Eigendekoration (Über Land und Meer 103, 1910, 96)

Da schon zu Beginn der 1890er Jahre die Schaufensterdekoration auch in mittleren Geschäften durchschnittlich alle zwei Wochen neu gestaltet wurde [61], erhöhten sich die Fixkosten. Umsatzsteigerungen wurden betriebswirtschaftlich notwendig, um diese Kosten degressiv gestalten zu können. Parallel erhöhten sich die fachlichen Anforderungen an die Schaufenstergestaltung. Moden traten an die Stelle von Jahreszeiten und die Dekorationswarenindustrie bot immer neue, stets aber kostspielige Produkte an. Markenartikelanbieter nutzten dies, machten sich dadurch zumal bei Drogerieartikeln und Lebensmitteln unentbehrlich. Größere Betriebe konnten für die Dekoration eigenes Personal einstellen, der Dekorateur trat hier an die Stelle des dekorierenden Kleinhändlers bzw. Handlungsgehilfen. Lehrbücher und die Fachpresse des Kleinhandels boten zugleich einen immer größeren Wissensfundus, um Schaufenster ansprechend und im Einklang mit dem herrschenden Geschmack zu gestalten. [62] Doch diese Aufgaben ließen sich nicht einfach beschränken. Der Kunde sollte ja nicht allein zum Geschäft gelockt werden, um dort die gefällige Auslage zu betrachten. Er sollte den Laden betreten und dort kaufen. Dazu aber musste ihm mit fortschreitender Dekorationstechnik auch im Inneren des Geschäftes ein Ambiente geboten werden, welches gegenüber dem des Schaufensters zumindest nicht abfiel. Das Äußere des Ladens wurde zum Modell für die Neugestaltung des Inneren. Grundlage hierfür waren abermals neue Bautechniken. Die Kaufhäuser besaßen zwar schon frühzeitig große Verkaufsflächen; Rudolph Hertzog offerierte 1878 schon auf 3.710 m2 und das Berliner Kaufhaus Heinrich Jordan brachte es 1893 auf stolze 8.000 m2. [63] Doch erst die Verwendung von Stahlbeton ermöglichte den Bau weiter Verkaufshallen.

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Heizanlage inmitten des Ladens der Bremer Firma Oehlckers & Rabe (Der Manufacturist 24, 1901, s.p.)

Zwischenwände konnten nun beseitigt, die Zahl der Pfeiler wesentlich verringert werden. Bildeten bisher Laden- und Kassiertisch, Stellagen und Regale die Hauptmöbel auch größerer Geschäfte, so kamen nun große Verkaufs- und Präsentationstische auf, die inmitten der Räume platziert wurden. Parallel ersetzten Zentralheizungen die Öfen im Laden, wurden große Treppenhäuser, Galerien und Balkons gebaut. So konnte nicht nur die Ware von Ferne betrachtet werden, sondern auch der Kauf der Anderen geriet ins Blickfeld. [64] Für den Innenraum und die Warendarbietung stellten sich dadurch völlig neue Aufgaben, die in Rückgriff auf die bewährte Schaufenstergestaltung gelöst wurden. Bei den Warenhäusern war dieser Prozess offenkundig. [65] Doch auch und gerade mittlere und größere Kaufhäuser folgten diesem Trend und hoben damit die Schaufensterwerbung auf eine neue, umfassendere Ebene.

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Verkaufsräume der Berliner Firma H. Esders & Dyckhoff 1901 (Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 23, 9)

Die Verkaufsräume der Berliner Firma Esders & Dyckhoff waren nicht nur deutlich größer und besser beleuchtet als frühere Läden. Sie enthielten auch neue Möbel, Verkaufsschränke, teils mit Glas versehen, die mitten im Raume standen. Das Regalprinzip war für größere Raume allein ungeeignet und Schautische boten nur wenigen Waren Platz. Der Laden wurde daher neu möbliert, mit Spiegeln bekränzt, dem Kunden die Ware sichtbar gemacht. Selbstbedienung aber gab es nicht. Analog zum Schaufenster konnte man die Ware zwar betrachten, doch durfte man sie nicht ohne Beisein eines Verkäufers, einer Verkäuferin berühren.

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Verkaufsräume der Berliner Firma Kersten & Tuteur 1914 (Berliner Architekturwelt 16, 1914, 148)

Auch das stetig wachsende Sortiment industriell hergestellter Produkte begünstigte die Warenpräsentation innerhalb des Ladens. Die Ausstellung neuer Hüte und Blusen in den Verkaufsräumen der Berliner Firma Kersten & Tuteur verwies nicht nur durch die Präsenz von Warenständern und Büsten auf die direkte Nähe zur Schaufensterwerbung. Schautische und Glasauslagen erlaubten vielmehr ein Art Schaufensterbummel im Laden.

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Verkaufsräume der Hallenser Firma H.C. Weddy-Pönicke 1901 (Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 25, 13)

Umfassendere Möglichkeiten der neuen Innendekoration zeigt eine Bettenpräsentation des Kaufhauses Weddy-Pönicke. Die dekorierte Ware konnte nicht nur besehen werden, sondern gewann ihre spätere räumliche Qualität zurück, wurde begehbar, erfahrbar. Wunschwelten konnten nun abseits des engen Gevierts des Schaufensters aufgebaut, deren „Natürlichkeit“ somit erhöht werden.

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Innenansicht der Kölner Firma A. Böheimer (Der Manufacturist 24, 1901, s.p.)

Diese Entwicklung der Innendekoration wurde durch Verbesserungen der Lichttechnik unterstützt. Nicht mehr Petroleumleuchten oder einfaches Gaslicht wurden verwandt, sondern die hellen elektrischen Bogenlichter, vorrangig aber das neue Gasglühlicht. Der Laden konnte so gänzlich ausgeleuchtet werden, Waren und Dekoration dadurch ihre Pracht entfalten. Zugleich verschwanden die großen Öfen aus vielen Läden. Sie wurden durch Zentralheizungen ersetzt. Damit wurde weiterer Präsentationsraum gewonnen, das Verkaufsambiente angenehmer gestaltet. Weiterhin störend waren die bautechnisch notwendigen Pfeiler, doch bei Neubauten traten an die Stelle gemauerter Stützpfeiler mehr und mehr gusseiserne Säulen oder eiserne Träger, durch die auch mittlere Geschäfte größere Freiräume gewannen. [66] Die geschmackvolle Inneneinrichtung wurde mit Farbe abgerundet. Manche Ladenbesitzer stimmten Decken, Wände und getöntes Glas farblich aufeinander ab, ließen sie teils mit einfachen Mitteln ausmalen. Der Jugendstil drang gerade in gehobenen Gebrauchsgüterläden vor. [67] Der Laden entwickelte sich nach der Jahrhundertwende zumindest im Gebrauchsgüterhandel zu einer für den Zweck des Verkaufs gestalteten Kunstwelt. Auch wenn die Mehrzahl der kleinen Läden den bedeutenden Vorbildern gerade der Warenhäuser nicht das Wasser reichen konnte, so muss man doch auch deren Veränderungen – die auf niedrigerem Niveau auch den Lebensmittelkleinhandel prägten – in ihrer Gesamtheit würdigen. Analog zum Schaufenster wurde der Laden wurde immer mehr zum reflexiv-kalkulierten Mittel des Absatzes und glich sich diesem dekorativ an.

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Innere Glasfronten des Berliner Spezialgeschäftes Kopp & Joseph (Der Welt-Spiegel 1910, Nr. 101 v. 18. Dezember, 8)

Erst dadurch wurde der urbane Schaufensterbummel zum eigentlichen Einkaufserlebnis. Bewusst wurden dabei Klassengrenzen durchbrochen, um so auch Kundenkreise anzusprechen, für die die dargebotenen Waren meist unerschwinglich waren. Neue kommerzielle Sinnhorizonte entstanden, der nun rasch um sich greifende Ladendiebstahl spiegelte dies. [68] Eine „Demokratisierung des Konsums“ war mit diesen Laden allerdings kaum verbunden, denn die Möglichkeit des Kaufs höherwertiger Gebrauchsgegenstande war für die Mehrheit der Bevölkerung trotz steigender Reallöhne, trotz Abzahlungsgeschäften und Teilzahlung nur ansatzweise gegeben. Gleichwohl bildete sich insbesondere im gehobenen Mittelstand eine neue urbane Konsumkultur aus, in der die Schaufenster gewiss noch lockten, in der jedoch der seinem Vorbild gemäß gestaltete Verkaufsraum das Ziel bildete: „Was hat ein trüber unausstehlicher Wintertag in den lichterfüllten Geschäftsstraßen der Großstadt mit den lockenden Auslagen, den tausend schönen und kostbaren Dingen noch für Schrecken? Ein Hagelschauer, nasse Füße? Man tritt in den erstbesten Laden, wohlige Wärme, helles unaufdringliches Licht, angenehme Eindrücke überall! Man fühlt sich als Besitzer weicher Teppiche, prächtiger Spiegel, schöner und komfortabler Möbel, man weiß, die geschmackvolle Anordnung der Waren ist lediglich für den Käufer da. Alle vorhandenen Annehmlichkeiten stehen zu seiner unbeschränkten Verfügung. Warum soll man da nicht eine Kleinigkeit kaufen? Man braucht vielleicht nichts. Aber was soll man schon an solchem Tage daheim, wo es nicht halb so hübsch und modern ist, wo es nichts Neues mehr zu sehen gibt; was tut man bei dem unfreundlichen Wetter auf der Straße?“ [69]

Die Ausbreitung des Schaufensterprinzips in das Innere des Ladens ermöglichte zugleich, die Front des Ladens unter stärker qualitativen Aspekten zu sehen. Dadurch begann ein Prozess wechselseitiger Abstimmung, der die Einheitlichkeit der Werbung einzelner Geschäfte wesentlich vorantrieb – neudeutsch würde man vom Corporate Design sprechen. Die Zeit der Glaspaläste endete, an ihre Stelle traten Geschäfte mit kleineren Schaufensterfronten. Mehrere Warenhausbrände verdeutlichten die geringe Hitzestabilität reiner Stahl-Eisen-Konstruktionen, so dass nun die vertikalen Pfeiler fast durchgehend mit Stein verblendet wurden. Die Zahl zwei-, insbesondere aber dreigeschossiger Schaufensteranlagen sank rasch, da derart hoch gelegene Fenster kaum beachtet wurden. [70]

Neue Möglichkeiten eröffneten sich seit der Jahrhundertwende aber auch durch die Verwendung stark gebogener Spiegelscheiben. Dadurch konnte der Weg von der Straße hinein in den Laden durch Schaufenster umrahmt werden, wobei gerade gehobene Fachgeschäfte diese Möglichkeit nutzten. [71] Zugleich aber passten sich die Schaufenster stärker den ausgestellten Waren an: „Die Art der Ware wird entscheiden, ob ein großdimensioniertes Schaufenster passend sei oder ein kleiner Ausschnitt genügt. Die Schaufenstergestaltung erfordert beim Modenhaus andere Ueberlegung bei der Warenauslage als beim Juwelierladen, wo der Wert des Stückes in der Einzigkeit besteht. Und indem man der Theorie von der bildlichen Einheit der Warenauslage zuneigte, kam man auf die Idee der Konzentration, der Isolation, der Rahmenbildung für das Schaufensterstilleben. Die Fassung des Fensters wurde zugleich die Fassung der Ware.“ [72]

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Zurückgenommene Schaufensterzeile beim Seidenhaus Maassen 1912 (Berliner Leben 16, 1913, Nr. 2, III)

Auch die Verwendung des Lichtes erlaubte neue Formen der Schaufensterwerbung. Die gleißenden Fassaden der großen Häuser führten zu vermehrter Kritik am „Helligkeitswahn“. Diesem galt es mit schwächerer, aber gezielter eingesetzter Beleuchtung zu begegnen. [73] Die Außenbeleuchtung wurde immer mehr von einer indirekten Innenbeleuchtung abgelöst. Hinter Blindglas angebracht verursachten die elektrischen Bogenlampen kaum noch Schwitzwasser, tauchten die Waren zugleich aber in einen „mystischen Zauber“ [74].

Schließlich änderte sich die Stellung der Ware innerhalb der Dekoration. Die herausragende Rolle der Einzelware, die massierte Warenstapel noch verstärken sollten, schwand angesichts eines Verkaufsambientes, das generell zum Kauf animieren wollte und nur den Rahmen für den Kauf des Einzelproduktes abgab. Während beachtliche Teile der Unterschichten an Mangelernährung litten und der Lebensstandard der großen Mehrzahl der Konsumenten durch Lebensmittelteuerungen immer wieder beeinträchtigt wurde, setzte sich in den Auslagen der großen Geschäfte die Abstraktionskraft der Reklame immer stärker durch: „Die heutige Auslage ist Reklame geworden, Reklame so sehr, daß viele Geschäfte darauf verzichten, verkäufliche Ware zu zeigen.“ [75] Das Schaufenster hatte in diesem Rahmen nur noch appellativen Charakter, war Teil einer größeren Werbemaschinerie geworden.

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Blusen in der sie adelnden Abteilung des Seidenhauses Maassen (Berliner Leben 16, 1903, Nr. 2, III)

Am Ende unseres Rückblicks steht daher nicht mehr die einzelne Ware, deren Lockkraft das Schaufenster einst einen visuellen Rahmen bot. Am Ende steht der kommerzielle Kult um die Ware selbst. Die großen Geschäfte mutierten zu Kathedralen des Konsums, die Dekorateure zu Priestern des neuen Mysteriums und die Auslagen waren ihre Altäre: „Dem Kaufmann, der seine Ware verkaufen will, kann es nicht gleichgültig sein, ob der defilierende Menschenstrom sich nur an der Atmosphäre von Glanz und Licht berauscht. Er will ihn fesseln, locken, in Hemmung versetzen; die Ware soll für ihn Bedeutung gewinnen, soll sich durchsetzen, den ganzen berauschenden Glanz vergessen machen und allein sein mit Jedermann. So allein, dass die magische Suggestion ihre Faden spinnt und der Gebannte nicht loskommt von dem Gedanken: Dich muß ich besitzen. Aber dies Mysterium der Vermählung des Käufers mit der Ware verlangt Konzentration. Es müssen alle Mittel spielen, um die Ware zu isolieren. Vor allem braucht das Fenster einen Rahmen. Endell, der größte Magier unter den Schaufensterkünstlern Berlins, hat dies Erfordernis am besten begriffen. Wo er die Möglichkeit hatte, die Fassaden seiner Läden zu gestalten, hat er breite Pfeilerflächen zwischen die Fenster gelegt und den Einbau des Fensters selbst mit so kostbarer Fassung geschmückt, daß wir die Empfindung eines Wunders haben, schon ehe wir an die Scheiben herantreten. Endell war es auch, der der Beleuchtung ihre beste Lösung gab. In der Beseitigung der äußeren Bogenlampen, die blenden statt zu bestrahlen, hatten ihm andere vorgegriffen. Die verdeckte Beleuchtung, die dem Beschauer die Lichtquelle verbirgt, um die Ware um so heller hervortreten zu lassen, war als Vermächtnis der Bühne schon in die Auslagen eingetreten. In Endells Händen aber gewann das Licht erst seinen mystischen Zauber. Mit funkelnden Flächen tieffarbiger Gläser verschloss es die Beleuchtungskasten gegen die Straße, aus denen das Licht von oben über die Ware herabrieselt. Warenzeichen gleißen, zu magischen Zeichen gewandelt, mit heißen Zügen daraus hervor. Das Ganze atmet jene Stimmung, die das Kind vor dem Vorhange empfindet, der ihm zum ersten Male die Welt der Träume erschließen soll. Was in diesem Zauberschrein dargeboten wird, ist allemal etwas Kostbares, und wären es nur Stiefel aus schwarzem Leder.“ [76]

Zur Stellung von Schaufenstern und Schaufensterwerbung im 19. Jahrhundert

Die empirische Analyse der Entwicklung von Schaufenstern und Schaufensterwerbung im 19. Jahrhundert scheint zwar eindeutig, doch ist sie je nach Perspektive unterschiedlich zu deuten. Schaufenster und Schaufensterwerbung sind in der Tat Hilfsmittel allgemeinerer Fragen: Denken wir an die kulturkritische Variante, die kritisch wendet, was eben im Zitat noch positiv klang: Erhaben stand der moderne Konsument dann vor der leistungsfähigen Schau der scheinbar nur für ihn produzierten Guter. Waren wurden göttergleich, schufen erst im Rahmen der Schaufenster, dann im Rahmen des Ladens, schließlich als symbolische Lebensbegleiter ein neues Mysterium allgegenwärtigen transzendenten Wirkens. Die Rationalität moderner Warenpräsentation kreierte demnach das irrational Rationale des modernen Konsums. Die Entzauberung der Welt fand ihr paradoxes Pendant in allgemeiner Verzauberung durch die Schaufenster, Läden und Waren.

Doch Werbung und Konsum als Ersatzreligion einer kapitalistischen Gesellschaft werden der lustvollen Seite von Kauf und Kaufen, von Schauen und Entdecken sicher nicht gerecht. In der Entwicklung des Schaufensters zeigte sich aber nicht nur Entfremdung, sondern auch das Bemühen einer Vielzahl von Menschen, die Naturkräfte zu beherrschen und in einem kleinen gläsernen Geviert eine eigene, eine menschliche Kunstwelt zu schaffen. Konsum, gar Massenkonsum war im 19. Jahrhundert vielfach auch Ausdruck der Fortschrittsfähigkeit des Menschen. Das Kaufen, Besitznehmen und Einverleiben bestätigte ihn als Herren der Welt, zumal auch der kolonalisierten. Im Schaufenster sahen selbst der Mann, die Frau mit geringem Einkommen, dass die Welt ihm doch zu Füßen liegen konnte. Das hierauf gründende Selbstbewusstsein ist uns heute abhanden gekommen, war jedoch Teil der Faszination des Schaufensters im langen 19. Jahrhundert.

Vielleicht aber sollten wir auch der Leistung der Kleinhändler gedenken, die in der historischen Forschung so häufig übergangen werden. Sie waren es schließlich, die mit viel Energie und Liebe zum Detail kommerzielle Traumwelten schufen und damit wichtige Elemente der modernen Stadt prägten. Durch eine einfache, durchsichtige Scheibe trennten sie Käufer und Ware, schufen so Ungewissheit, versahen die Produkte mit einem unbestimmten Geheimnis. Ob sie aber über sich, über ihre Repräsentationskraft Rechenschaft gegeben haben?

Wir könnten weitere Rollen einnehmen: Historiker sind vielleicht überrascht von der neuartigen Periodisierung in dieser Arbeit. Stimmt sie, dürfte eine große Zahl bisheriger Forschungen falsch fokussiert worden sein. Nicht am Ende, sondern in der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es demgemäß entscheidende Veränderungen von Kleinhandel, Schaufensterwerbung und Konsum. Damit wird das weithin akzeptierte Bild einer erst in den 1890er Jahren entstehenden Konsumgesellschaft fraglich, denn in deutschen Städten setzte sich zumindest ein bürgerlicher Konsumstil schon wesentlich früher durch. Auch die vielfach kolportierte Vorstellung einer neuen visuellen Kultur der Jahrhundertwende wäre zumindest falsch datiert. Vermehrt müsste dann nach den Trägern dieser Veränderungen gefragt werden – unabhängig davon, ob es sich um Produzenten, Händler oder Konsumenten oder aber um Läden, Schaufenster oder Produkte handelt. Menschen und Dinge gehören trotz Eigenleben zusammen. Vielleicht geriete schließlich auch das einseitig von der Produktion beherrschte Bild der „Industrialisierung“ in den Blick, nicht zuletzt um so den Städten als Handels- und Konsumzentren gerecht zu werden. Und auch für die Verortung des Deutschen Reiches als europäische Wirtschaftsmacht ergäben sich möglicherweise überraschende Perspektiven. Viele denkbare Folgerungen, die Sie weiterspinnen, denen Sie gewiss noch weitere hinzufügen können.

Uwe Spiekermann, 25. September 2022

Anmerkungen, Literatur und Quellen

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und mit weiteren Abbildungen versehene Fassung des in englischer Sprache erschienenen Artikels Display Windows and Window Displays in German Cities of the Nineteenth Century: Towards the History of a Commercial Breakthrough, in: Clemens Wischermann und Elliott Shore (Hg.), Advertising and the European City. Historical Perspectives, Aldershot et al. 2000, 139-171.

[1] Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995; David Ciarlo, Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge und London 2011; Pamela E. Swett (Hg.), Selling under the Swastika. Advertising and Commercial Culture in Nazi Germany, Stanford 2014; Alexander Schug, Braune Verführer. Wie sich die deutsche Werbebranche den Nationalsozialisten andiente, Berlin 2015.
[2] Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993; Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt a.M. und New York, 1997; Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999; Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990, Frankfurt/Main und New York 2009; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln und Weimar 2009; Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann (Hg.), Decoding Modern Consumer Societes, New York 2012; Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017; Christian Kleinschmidt und Jan Logemann (Hg.), Konsum im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2021.
[3] Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.
[4] Dieses und das voranstehende Zitat aus Hans-Walter Schmidt, Schaufenster des Ostens. Anmerkungen zur Konsumkultur der DDR, Deutschland-Archiv 27, 1994, 364-372, hier 364.
[5] Dieser fehlt bei Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums, hg. v. Württembergischen Kunstverein, Stuttgart 1974 bzw. Heidrun Großjohann, Die Karriere des stummen Spektakels. Zur Geschichte des Schaufensters, in: Christel Köhle-Hezinger und Gabriele Mentges (Hg.), Der neuen Welt ein neuer Rock, Stuttgart 1993, 252-256.
[6] Vgl. hierzu Johann Georg Krünitz, Kauf-Laden, in: Ders., Oekonomisch-technologische Encyklopädie, Bd. 36, Berlin 1786, 482-486; Margot Aschenbrenner, Buden und Läden, Biberach/Riss 1951; Gerhard Kaufmann, Alte Läden, in: Max Galli (Hg.), Vom Charme der alten Warenwelt, Dortmund 1992, 115-153.
[7] Vgl. Heinrich Sasse, Das bremische Krameramt, Bremisches Jahrbuch 33, 1931, 108-157, hier 135, Anm. 1. Zur Gesamtentwicklung vgl. H.W. Bahn, Studienbeitrag zur Entwicklungsgeschichte des Schaufensters in Deutschland, Ing. Diss. Braunschweig 1923 (Ms.).
[8] Vgl. Bahn, 1923, s.p.; Hermann Weidemann, Skizze zur Geschichte des Glases, Prometheus 24, 1913, 340-342, 358-361, 378-381, 394-395, hier 341.
[9] Vgl. [Josef Kirchner], Münchener Kaufläden von einst und jetzt, Münchener Rundschau 4, 1907, 1-5, hier 1. Die Malerische Topographie des Königreichs Bayern, München 1830, enthält allerdings schon mehrere Zeichnungen von Münchener Läden mit Schaufenstern.
[10] Vgl. Boris Röhrl, Ladenbeschriftungen des 19. Jahrhunderts. Versuch einer Systematisierung, Volkskunst 13, 1990, H. 3, 39-43.
[11] Umfassende Belege hierfür enthält Spiekermann, 1999.
[12] Vgl. demgegenüber Ulrich Lange, Krämer, Höker und Hausierer. Die Anfänge des Massenkonsums in Schleswig-Holstein, in: Werner Paravicini (Hg.), Mare Balticum, Sigmaringen 1992, 315-327 sowie (trotz anderer Fragestellung) Heidrun Homburg, Heidrun, Werbung – „eine Kunst, die gelernt sein will“. Aufbrüche in eine neue Warenwelt 1750-1850, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997/I, 11-52.
[13] Reinhardt, 1993, 271 betonte: „Bis zu den 1890er Jahren blieben die modernen, großflächigen Schaufenster jedoch vereinzelte Farbtupfer in den deutschen Städten“, während er an anderer Stelle (Dirk Reinhardt, Vom Intelligenzblatt zum Satellitenfernsehen. Stufen der Werbung als Stufen der Gesellschaft, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 44-63, hier 46) schrieb: „Die Gründerzeit hatte bereits in den 1870er Jahren durch die beginnende Umwandlung der Geschäftsfronten für eine Wandlung des großstädtischen Straßenbildes gesorgt.“ Zu beachten ist, dass diese Periodisierung nur dann sinnvoll ist, wenn das Warenhaus sehr eng als „eine großbetriebliche, kapitalistische Unternehmung für den Kleinhandel mit Waren verschiedenster, innerlich nicht zusammenhängender Art in einheitlichen Verkaufsraumen/-häusern“ definiert wird (Uwe Spiekermann, Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im spaten Kaiserreich, Frankfurt a.M. et al. 1994, 29). Eine allgemeiner gehaltene Definition – etwa analog zu den französischen Grands magasins – hätte dagegen zur Folge, dass die deutsche Warenhausgeschichte schon während der Frühindustrialisierung einsetzen würde.
[14] Wilfried Reininghaus, Rez. v. Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83, 1996, 239-240, hier 239.
[15] Zahlen nach C[arl] F[riedrich] W[ilhelm] Dieterici, Statistische Uebersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate und im deutschen Zollvereine in dem Zeitraume von 1837 bis 1839, Berlin, Posen und Bromberg 1842, 399-400; Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preussischen Staat für Jahr 1858, hg. v.d. statistischen Bureau zu Berlin, Berlin, 1860, S. 322-323.
[16] Zahlen nach H[ans] Grandtke, Die Entstehung der Berliner Wäsche-Industrie im 19. Jahrhundert, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich NF 20, 1896, 587-607, hier 596.
[17] Eigene Auswertung von Hamburgisches Adress-Buch auf das Jahr 1800, Hamburg o.J.; Hamburgisches Adreßbuch für das Jahr 1822, Hamburg o.J.
[18] Polizey-Bekanntmachung, die bequemere Passage der Stra6en betreffend v. 15.05.1830, in: J[ohann] M[artin] Lappenberg (Hg.), Sammlung der Verordnungen der freyen Hanse-Stadt Hamburg seit 1814, Bd. 11, Hamburg 1832, 170-171, hier 170.
[19] Melhop, 1925, 326. Darin auch eine Reihe weiterer Abbildungen sowie Fotographien aus den 1870er Jahren.
[20] Allerdings war in Hamburg eine einfache, vergleichsweise sachliche Ausgestaltung der Schaufenster allgemein üblich, vgl. Robert Geissler, Hamburg. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, v.a. 53.
[21] Das Gerson’sche Modewaaren-Lager zu Berlin, Werderscher Markt No. 5, Zeitschrift für Bauwesen 1, 1851, Sp. 131-137; Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle/S. 1870, 646.
[22] Entsprechend betonte Elisabeth v. Stephani-Hahn, Schaufenster-Kunst, 3. verb. Aufl., Berlin 1926, 9-10, dass die ersten spezialisierten Schaufensterdekorateure schon Mitte des 19. Jahrhunderts antraten.
[23] Springer, 1861, S. 330, 332-333.
[24] Stock, Ueber Schaufenster-Anlagen, Zeitschrift für Praktische Baukunst 24, 1864, Sp. 9-20, hier 9.
[25] Ueber Kaufläden, Zeitschrift für Bauhandwerker 7, 1863, 132-136, Bl. 17, hier 133.
[26] Vgl. Geschäftshaus in Berlin, Unter den Linden Nr. 13, für den Kaufmann Kohn, Zeitschrift für praktische Baukunde 31, 1871, Sp. 151-152, Taf. 17-20.
[27] Weidemann, 1913, 341. In London wurden dagegen nur 2.000, in Paris 1.500 und in Wien 1.000 entsprechende Schaufenster gezählt.
[28] Das belegen nicht zuletzt vielfaltige Karikaturen, etwa Fliegende Blatter 37, 1862, 40.
[29] Vgl. Bischoff et al., Das Manufakturwaarengeschäft. Fabrikation und Vertrieb, 2. wohlfeile Ausgabe, Leipzig 1869, 479.
[30] Vgl. allgemein Uwe Spiekermann, Elitenkampf um die Werbung. Staat, Heimatschutz und Reklameindustrie im frühen 20. Jahrhundert, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 126-149, v.a. 127-129.
[31] Zum technischen Hintergrund vgl. J. Schuh, Der moderne Ladenbau, Süddeutsche Bauzeitung 2, 1892, 222-224, 234-235, v.a. 222.
[32] Schon das erste Warenhaus, der 1891 gegründete Kaiser-Bazar, besaß 130 Schaufenster (Vom Kaiser­Bazar in Berlin, Wiener Bauindustrie-Zeitung 8, 1891, 323-324, hier 323).
[33] Ähnlich schon A.L. Plehn, Zur Entwicklung der Warenhausfassade, Deutsche Bauhütte 8, 1917, 113-114, 125-127, 129, hier 113. Zum französischen Vorbild vgl. Christian Schramm, Deutsche Warenhausbauten. Ursprung, Typologie und Entwicklungstendenzen, Aachen 1995, S. 28-41; Siegfried Gerlach und Dieter Sawatzki, Grands magasins oder Die Geburt des Warenhauses im Paris des 19. Jahrhunderts, Dortmund 1989, v.a. 5-38.
[34] Vgl. die vorgreifende Kritik von Hugo Koch, Schaufenster und Ladenverschlüsse, in: Handbuch der Architektur, T. 3, Bd. 3, H. 1, Darmstadt 1896, 356-382, hier 357-358. Ferner Hans Schliepmann, Das moderne Geschäftshaus, Berliner Architekturwelt 3, 1901, 423-425. Positiv dagegen Leo Nacht, Moderne Schaufensteranlagen, Berliner Architekturwelt 6, 1904, 336-340, hier 337.
[35] Eugen Richter, Die Consumvereine, Berlin 1867, 95.
[36] Vgl. etwa Richard Bauer, Das alte München. Photographien 1855-1912. Gesammelt von Karl Valentin, o.O.o.J.
[37] Zu den Gründen vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 150-189, v.a. 151- 156; Michael Prinz, Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, Göttingen 1996, 263-264.
[38] Den besten Überblick vermittelt Julius Hirsch, Die Filialbetriebe im Detailhandel, Bonn 1913.
[39] Uli Huber, Die Geschichte des Schaufensters, in: Eugen Johannes Maecker (Hg.), Werbende Fenster, Bd. 1, Berlin o.J., 5-20, hier 15.
[40] Hermann Kind, Die Fleischerei in Leipzig, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 6, Leipzig 1897, 1-178, hier 55-56. Vgl. auch die „künstlerische“ Dekoration von Schweinehälften bei Stephani-Hahn, 1926, 28 bzw. die Abbildung bei S. Thron, Der Weihnachtsmann in der Grossstadt, Die Woche 6, 1908, 2237-2242, hier 2241.
[41] So noch – aufgrund sehr einseitiger Quellennutzung – Christiane Lamberty, ‚Die Kunst im Leben des Buttergeschäfts‘. Geschmacksbildung und Reklame in Deutschland vor 1914, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997/I, 53-78.
[42] Karl Ernst Osthaus, Das Schaufenster, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913, 59-69, hier 61.
[43] Bischoff et al., 1869, 472.
[44] Schaufenster-Decorationen einst und jetzt, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 16, 7.
[45] Bischoff et al., 1869, 476-477.
[46] Geissler, 1861, 53.
[47] Soll man an den Waaren die Preise deutlich mit Ziffern bezeichnen, so dass Jedermann sofort weiss, was das betreffende Stück kostet?, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 10, 5.
[48] Entsprechende Lehrinstitute entstanden allerdings schon vor der Jahrhundertwende, vgl. Decorationsschule für Frauen, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 4, 9.
[49] J. Erhart, Der Schaufenster-Dekorateur, Frankfurt a.M. 1895, 215-220.
[50] Vgl. den Ratschlag in Wie mache ich Reklame, Der Materialist 21, 1900, Nr. 40, 2. S. n. 12.
[51] Vgl. Die Anziehungskraft des Schaufensters, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 5, 40; Stephani­ Hahn, 1926, 17.
[52] R. Goldschmidt, Kauf-, Waaren- u. Geschäftshäuser, in: Baukunde des Architekten (Deutsches Bauhandbuch.), Bd. 2, T. 5, 2. vollst. neu bearb. Aufl., Berlin 1902, 49-192, hier 71.
[53] Vgl. etwa die Abbildungen der Friedrich- bzw. Leipzigerstraße, Berliner Architekturwelt 16, 1914, 193-194.
[54] Vgl. hierzu Koch, 1896, 364, 370-376; Neue Schaufenster-Rouleaux, Der Materialist 20, 1899, Nr. 40, 2; Goldschmidt, 1902, 69-71; Franz Woas, Praktische Neuerungen im Ladenbau, Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen und Elsass-Lothringen 11, 1914, 162-164, 169-170, hier 170.
[55] Vgl. hierzu Dirk Reinhardt, Dirk, Beten oder Bummeln? Der Kampf um die Schaufensterfreiheit, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 116-125.
[56] Aus der Fülle der Ratgeberliteratur nur folgende Titel: Gefrieren der Schaufenster, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 3, 9; Gefrorene Schaufenster, ebd., Nr. 44, 8; Koch, 1896, 362; Das Beschlagen der Schaufenster, Der Materialist, Bd. 21, 1900, Nr. 1, S. 2; Das Beschlagen und Gefrieren der Schaufenster, Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 46, 12.
[57] Vgl. Ueber Schaufenster-Beleuchtung, Ebd. 16, 1893, Nr. 17, 3; Schaufenster-Beleuchtung, Der Materialist 21, 1900, Nr. 16, 2. S. n. 12; Carl Zaar und August Leo Zaar, Geschäfts-, Kauf- und Warenhäuser, in: Handbuch der Architektur, T. 4, Halbbd. 2, H. 2, Stuttgart 1902, 2-138, hier 20-24.
[58] Vgl. hierzu Max Schröder, Das Geschäftshaus der Kleinstadt, Strelitz o.J. (1911).
[59] Georg Simmel, Berliner Gewerbe-Ausstellung, Ästhetik und Kommunikation 18, 1987/89, H. 67/68, 101-105, hier 105 (Original von 1896).
[60] Dora Feigenbaum, Die Reklame, Deutschland 7, 1905/06, 427-436, 589-602, hier 595-596.
[61] Felix Steinl, Die Reklame des kleinstädtischen Manufakturwaarenhändlers, in: Robert Exner, (Hg.), Moderne Reklame, 4. Tausend, Zittau 1892, 7-10, hier 8.
[62] Gute Beispiele aus dem Lebensmittelhandel sind Fritz Grossmann, Schmücke Dein Schaufenster, Magdeburg o.J. (1901) bzw. Gustav Teller, Die Schaufenster-Dekoration für Kolonialwaren-Handlungen und verwandte Geschäftszweige, Leipzig 1909. Zur Einordnung vgl. Spiekermann, 1999, 573-585.
[63] Angaben nach Neu- und Umbau des Geschäftshauses Heinrich Jordan, Markgrafenstrasse 105-107, Deutsche Bauzeitung 27, 1893, 317-321, hier 317; Paul Lindenberg, Berlin und das Haus Rudolph Hertzog seit 1839, in: Agenda Rudolph Hertzog Berlin 1914, Berlin o.J. (1913), 3-96, hier 95.
[64] Vgl. Erwin Paneth, Entwicklung der Reklame vom Altertum bis zur Gegenwart, München und Leipzig 1926, 161.
[65] Vgl. etwa Alfred Wiener, Das Warenhaus, Berlin 1912.
[66] Karl Ross, Neubau und Umbau von Geschäftshäusern und Kaufläden, Der Manufacturist 24, 1901, passim, hier Nr. 29, 5.
[67] Vgl. ebd., Nr. 40, 5. Zur Deckenausgestaltung s. August Endell, Ladeneinrichtungen, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913, 55-58, hier 58.
[68] Näheres bei Uwe Spiekermann, Theft and Thieves in German Department Stores, 1895-1930. A Discourse about Morality, Crime and Gender, in: Geoffrey Crossick und Serge Jaumain (Hg.), Cathedrals of Consumption, London und New York 1998, 139-171.
[69] Die innere Ausstattung. Vom Werke der Raumkunst für das offene Ladengeschäft, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 8, 36.
[70] B. Haas, Das Schaufenster in ästhetischer und betriebstechnischer Beziehung (Schluss.), Deutsche Bauhütte 10, 1906, 221-223. Vgl. auch die Kritik von Hans Schliepmann, Das moderne Geschäftshaus (Schluss.), Berliner Architekturwelt 4, 1902, 52-55, 57-59, v.a. 59.
[71] Vgl. Ein schmales Bremer Geschäftshaus, Deutscher Bauhütte 5, 1901, 266-267; Goldschmidt, 1902, 60; Berliner Architekturwelt 16, 1914, 68 (Anbau bei Herrmann Gerson); Woas, 1914.
[72] Kurt Pallmann, Künstlerische Ladengestaltung als Aufgabe des Architekten, Deutsche Bauhütte 18, 1914, 108-110, 113, 122-123, hier 108.
[73] Neue Wege, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 5, 15, 17, hier 15.
[74] Pallmann, 1914, 108.
[75] Osthaus, 1913, 60. Vgl. auch Stephani-Hahn, 1926, 10-11.
[76] Osthaus, 1913, 62-63.

Backpulver vor Dr. Oetker – Ein Ausflug in das späte 19. Jahrhundert

Backpulver? Das stammt von Dr. Oetker! So dürfte der allgemeine Tenor lauten, gebunden an Bilder traditioneller glücksstrahlender Familien, versammelt am Kaffeetisch, den Kuchen freudig im Blick. Dr. Oetkers Backpulver zeugt von der Stärke stetig geschalteter und stetig umgestalteter Werbung, von der Stärke eines Markenartikels. In der Tat füllten sich um 1900 die Anzeigenspalten von Zeitungen und Zeitschriften, priesen das Backpulver eines Dr. Oetkers, machten aus der langweilig- betriebsamen Fahrräder- und Nähmaschinenstadt Bielefeld eine Nährmaschine der besonderen Art, einen Produktionsort vermeintlich billiger Backhilfsmittel und Convenienceprodukte – allesamt nährend, allesamt gelingend. Dafür bürgte der Hellkopf, der Titel des Herrn Doktor. Markenartikel wie das 1902 für Dr. A. Oetker eingetragene Backpulver „Backin“ (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 292 v. 12. Dezember, 14) drängten jedoch nicht nur ein bestimmtes Produkt in den Vordergrund, sondern sie tilgten zugleich die Erinnerung an die Vorläufer und Wettbewerber. Das galt einerseits unmittelbar, im Falle Oetkers also im Übertrumpfen der damaligen Konkurrenten, von größeren Firmen wie Reese und Sinner, Vogeley und Dr. Crato, von Marken wie Hansa und Nissan. Das galt aber auch in der Erinnerungskultur, dem Tilgen der Branchenpioniere. Gewiss, selbst das mit Firmenauskünften und Archiveinblicken notorisch geizende Familienunternehmen hat stets konzediert, dass August Oetker (1862-1918) nicht der Erfinder des Backpulvers war. Doch die Außen- und Selbstdarstellung hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihr Produkt eine neue Ära einleitete, dass Dr. Oetkers Backpulver das beste, sicherste, zielführendste war. Also denn, erweitern wir unseren Horizont, blicken wir auf die Zeit vor Dr. Oetker, fragen nach den damals angebotenen und genutzten Backpulvern.

Wie kam das Backpulver nach Deutschland?

Backpulver – dieser Begriff war ein Lehnwort, eine deutsche Übersetzung des englischen „Baking Powder“ (F.C. Calvert, Die Schwefelsäurefabrikazion [sic!], Deutsche Gewerbezeitung und Sächsisches Gewerbeblatt 14, 1849, 381-382, hier 382). Erste derartige Patente und Produkte kamen in den 1830er und 1840er Jahren auf und stammten aus England, dem Zentrum der damaligen Welt. Wie bei den meisten alltäglichen Verbesserungen fehlt es an präziser historischer Forschung (Schemenhaft: Emma Kay, A History of British Baking […], Barnsley 2020, 134). Hierzulande galt das 1837 an Whiting verliehene Patent für die Erzeugung von Brot mittels Salzsäure und kohlensaurem Natron eher als Kuriosität, denn als Beginn einer langsamen Veränderung des häuslichen Backens (Ferdinand Artmann, Die Lehre von den Nahrungsmitteln, ihrer Verfälschung und Conservirung […], Prag 1859, 301). Die Beschreibung entsprach Anleitungen zu den im späten 19. Jahrhundert so beliebten Chemiebaukästen: „Wenn man aber Salzsäure und Kohlensäure vermischt, so entwickelt sich kohlensaures Gas; wenn man daher etwas Salzsäure mit etwas Teig vermischt und mit einem andern Theile Teig etwas Kohlensäure, so versucht das kohlensaure Gas zu entweichen, wodurch das Brot locker wird“ (Weizenbrot ohne Hefen, Allgemeine Landwirthschaftliche Zeitung 1838, 108). Das war offensichtlich für die Bäckerei, gar für frühe Brotfabriken gedacht, doch die Gasentwicklung verlief zu schnell, gesundheitliche Schäden waren nicht auszuschließen ([Friedrich Ludwig] Knapp, Brod und Brodbereitung, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 10, 1878, 288-295, hier 293). Erst in den Folgejahren entstanden in England auch häuslich praktikable Angebote, ab 1842 durch George Borwick (1807-1889), ab 1843 durch Alfred Bird (1811-1878). Sie mischten andere Stoffe, Reagenz und Reaktant, zumeist Weinsteinsäure, doppelt kohlensaures Natron und Stärkeprodukte, um handhabbarere Triebmittel zu erhalten (Verschiedene Nahrungsmittel, welche in England im Handel vorkommen, Neuwieder Intelligenz- und Kreis-Blatt 1854, Nr. 35 v. 1. Mai, 3-4, hier 4). Doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis sich Backpulver in englischen Küchen breitflächig einbürgerte.

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Backpulveranzeigen im England der späten 1840er Jahren (Leeds Mercury 1848, Nr. 6001 v. 9. Dezember, 3 (l. oben); Bristol Mercury 1846, Nr. 2937 v. 4. Juli, 1 (r. oben); Newcastle Courant 1848, Nr. 9068 v. 22. September, 1)

Nicht unbeträchtliche Resonanz verursachten in Deutschland auch entsprechende Innovationen in den USA. Dabei stand die Kuchenbäckerei im Mittelpunkt, gemischt wurde Weinstein und Kreide bzw. Kali oder Ammoniak. Dadurch sei es möglich, die „Zufälligkeiten“ des Backens mit Hefe auszuschalten (Amerikanisches Backpulver, Dinglers Polytechnisches Journal 1855, T. 3, 399-400, hier 400). Solche Vorschläge befanden die untersuchenden Männer als „sehr brauchbar“, (Amerikanisches Backpulver, Archiv für Natur, Kunst, Wissenschaft und Leben 3, 1855, 63), lobten derartige Backpulver als Garant „sehr lockerer Gebäcke“ (Allgemeine Medicinische Central-Zeitung 24, 1855, Sp. 439). Doch der Anwendungsbereich war eng, ging es doch um Konditorwaren mit viel Masse, insbesondere um Zuckerwerk (Amerikanisches Backpulver, Neues Jahrbuch für Pharmacie und verwandte Fächer 3, 1855, 106; William Löbe (Hg.), Encyklopädie der gesammten Landwirthschaft […], Suppl.-Bd., Leipzig 1860, 62). Backpulver blieben ungebräuchlich, hingen ab vom chemischen Geschick weniger Fachleute, die sie als „Mittel um lockere Kuchen zu erhalten“ definierten (G[eorg] C[hristoph] Wittstein, Taschenbuch der Geheimmittellehre, Nördlingen 1867, 15). Derartige Pulver wurden meist selbst gemischt, die Zutaten stammten aus Apotheken und Drogerien (Illustrierte Zeitung 1863, Nr. 1019 v. 10. Januar, 38).

Leisten wir uns etwas Abstand, denn angesichts unserer heutigen Koch- und Backpraxis – nehmen Sie ein Päckchen Backpulver… – wissen Sie vielleicht nur ungefähr, was in dem Tütchen ist und was es letztlich bewirkt. Backen ist „eine Art Aufwallung“ (Weizenbrot, 1838), eine Kombination von recht vermischter Materie und Energie: Mehl, Wasser, Zutaten, ein Triebmittel und Hitze – zielgerichtet eingesetzt. Für das Gelingen unseres täglichen Brotes bemühen wir keine göttlichen Kräfte mehr, sondern erklären Backen aus chemischen Reaktionen einzelner Stoffe. Kohlensäure und das so verfemte Kohlendioxid (CO2) sind dabei zentral, sie bewirken ein Auftreiben und damit die Lockerung des Teigs, machen ihn bekömmlich und schmackhaft. Dieser Prozess wurde Mitte des Jahrhunderts jedoch nicht durch „Chemikalien“ in Gang gesetzt, sondern durch Sauerteig einerseits, Hefe anderseits. Backpulver – beachten Sie bitte den Plural! – traten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an deren Seite. Backpulver waren Mischungen chemischer Stoffe, die möglichst effizient eine chemische Reaktion auslösen sollten, die in der Küche, in der Bäckerei bereits zuvor erfolgte, nicht aufgrund des Kopfwissens der Experten, sondern des Handwissens von Hausfrau und Meister. Backpulver waren Ausdruck menschlicher Herrschaft über die Materie, waren unmittelbar abrufbare Abläufe, dem Menschen dienstbar, ihm frommend. Sauerteig und Hefe besaßen einen sicheren Platz im Alltag, in der Praxis von Haushalt und Backstube, nicht aber die Backpulver. Sie wirkten, gewiss. Doch über die optimale Zusammensetzung und die gesundheitlichen Folgen waren sich die Experten uneins. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es hierzulande zudem keine Produktions- und Absatzstrukturen. Sie mussten bedacht, erörtert, entwickelt und umgesetzt werden. Dr. Oetker stand ganz hinten in dieser Kette. Er war vorrangig Nutznießer, für all das andere aber unwichtig.

Ein anderer Blick auf den Alltag

Eigentlich müsste ich nun mit einem anderen großen Mann fortfahren, mit Justus Liebig (1803-1873), dem wohl wichtigsten Anreger der Naturforschung Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch seine 1868 formulierten Vorschläge für ein neues Backpulver werden nur verständlich, wenn man andere Entwicklungen dieser Zeit im Kopfe hält.

02_Habich_1867_p42_Schimper_1886_p13_Weizen_Mehl_Mikroskopie

Neue wissenschaftliche Blicke: Weizenmehl unterm Mikroskop (Habich, 1867, 42 (l.); Schimper, 1886, 13)

Erstens veränderte sich damals das Verständnis der Welt – wenngleich für die Mehrzahl nur schemenhaft. Hatten Entdecker und Astronomen die Größe der Welt und die Weiten des Firmaments erschlossen, so traten seit dem 18. Jahrhundert daneben neue Mikrowelten, teils sichtbar, teils nur mehr vorstellbar. Getreide und Mehl waren Grundbestandteile der Nahrung, das Korn Grundlage menschlicher Existenz. Doch mittels des Mikroskops veränderte sich dieser Blick, denn je genauer man blickte, desto wunderlichere Bestandteile fand man. Sie zu benennen, sie zu systematisieren, sie dann zu erklären – das waren Aufgaben der Naturforschung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Justus Liebig formulierte um 1840 ein Modell eines umfassenden Stoffwechsels, gründend auf den chemischen Stoffen, ihren Reaktionen und Umwandlungen. Ihnen war alles unterworfen, Organisches und Unorganisches, Pflanzen, Tiere und Menschen. Getreide und Mehl bestanden vornehmlich aus Stärke, wurden als solche vom Menschen aufgenommen und weiterverarbeitet, waren Teil eines ewigen Kreislaufes von Materie und in ihr erhaltener Energie (mehr in Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 32-37). Ihn galt es zu erkennen, ihm galt es sich anzupassen.

03_Backpulver-Kochbuch_1891_pI_ebd_p17_Hausfrau_Wage_Haushaltsgeräte_Mehlsieb_Backen

Die rational abwägende Hausfrau – und ein Mehlsieb für die rechte Vermengung (Backpulver-Kochbuch, 1891, I; ebd., 17)

Zweitens veränderte sich damit auch die Rolle der Hausfrau. Ihre Aufgabe schien damals nicht die Erkundung der Welt zu sein, wohl aber hatte sie die dafür notwendigen häuslichen und reproduktiven Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Hausfrau war Funktionsträgerin, war Spezialistin für den Alltagsbetrieb im Familiennukleus, Wiederherstellerin des durch Arbeit Verbrauchten, eine Art Katalysator im Betriebsstoffwechsel der bürgerlichen, der menschlichen Gesellschaft. Sie hatte das neue Wissen aufzunehmen, es „naturgesetzlich“ umzusetzen, damit den Haushalt effizient zu gestalten – und das Wirtschaftsgeld so zu verwenden, dass alle mit Maß genährt wurden, es zudem schmeckte. Sie musste wissen, was sich in den Nahrungsmitteln verbarg, welche Funktion das eiweißhaltige Fleisch, die brutzelnde Butter, das stärkehaltige Brot besaß. Sie war die Energetikerin am Herde, setzte Gewürze und Ingredienzien ein, um aus Einzelteilen mehr zu machen, eine mundende Speise, Handlungsenergie für die Arbeit. Dazu nutzte sie Hilfsmittel, die Wage wie der Apotheker, das Sieb wie der Landmann. Die Hausfrau war unverzichtbarer Teil einer allgemeinen Arbeit, in der alle ihre Funktion, ihre Aufgabe hatten.

04_Industrie-Blätter_04_1867_p081_Fortschritt_Wissenschaft_Aufklaerung

Neue Erkenntnisse – und eine neue Welt (Industrie-Blätter 4, 1867, 81)

Drittens charakterisierte diese Zeit, dieses bürgerliche Zeitalter, eine Funktionsgruppe der gewerblichen Macher und Umsetzer, der Leute von Bildung und Kapital, der Unternehmer. Sie mochten von unterschiedlicher Herkunft sein, eigensinnigen Interessen folgen. Doch sie verkörperten die List der Vernunft, waren Ausdruck des waltenden Weltgeistes: Effizienz und Betriebsamkeit, Berechenbarkeit und Beschleunigung, all das vereinigten sie in modernen Gewerben, in Maschinen und Fabriken. Letztere mochten stationär sein, doch sie waren zugleich miteinander verbunden, durch Eisenbahn und dann auch Dampfschiffe, Teil eines regionalen, nationalen und globalen Austausches, Ausdruck zeitweiligen Gleichgewichts und stetem Vorwärtsdrängens, hin zum Neuen, hin zu Besserem. Unternehmer waren Wissende und Wagende, vorwärtsschreitend Dienende, Propheten und Gestalter eines neuen Gleichgewichts. Diesem sich zu beugen war nicht Zwang, sondern Klugheit, Einsicht in die tiefgründiger verstandene Verfasstheit der Welt. Sauerteig und Hefe hatten ihren Wert, doch die neue Zeit würde an ihre Stelle Überlegenes setzen – Backpulver.

Liebig als Anreger im Konsumsektor

Justus von Liebig, geehrt und geadelt, war mehr als ein Naturforscher. Seine Weltdeutung veränderte die Agrikultur, führte zu neuen Formen des Kunstdüngers und der Tierfütterung. Liebig war Zeit seines Lebens Arbeiter im Laboratorium, doch sein Feld war auch die Welt, war deren Anpassung an seine Weltsicht. Zahlreiche Konsumgüter entstanden aufgrund seiner Anregungen. Am bekanntesten, gewiss, der Fleischextrakt. Doch seine Malzsuppe für Säuglinge zielte auf eine rationale Nährung der Jüngsten, nahm dafür deren Mütter in harte Pflicht (Spiekermann, 2018, 91-92). Neben Fleisch und Milch trat aber auch das wichtigste Nahrungsmittel, das Brot. Seit den späten 1840er Jahren hatte sich Liebig mehrfach mit dem Brotbacken beschäftigt. Für ihn war dies nicht nur eine wissenschaftliche Aufgabe, sondern eine Antwort auf die (nicht nur) damals brennende soziale Frage. Die Sauerteig- und Hefegärung führten zu Nährstoffverlusten, diese galt es zu vermeiden. Liebig empfahl daher schon in seinen vielgelesenen Chemischen Briefen eine Art Vollkornbrot, pries den zuvor verfemten westfälischen Pumpernickel, bei dem die Kleie mit verbacken wurde (Justus von Liebig, Chemische Briefe, Leipzig und Heidelberg 1878, 304). Doch entgegen der Mär, dass derartiges Brot typisch für die alten Deutschen gewesen sei – Vollkornbrot ist ein modernes, v.a. seit den 1890er Jahren entwickeltes Produkt –, blieb die Anregung großenteils folgenlos (sieht man einmal von der Gründung der Firma Sökeland und den zahlreichen unverdienten Späthuldigungen Liebigs zur Zeit der NS-Vollkornbrotpolitik ab). An der Mehrzahl der Essenden prallte derartig rational begründete Fremdbeglückung ab, auch die Bäcker stellten ihre Arbeit nicht um. Liebig aber versuchte seine Mission auf andere Art fortzusetzen, nämlich durch den nachträglichen Zusatz der durch das Mahlen entfernten Stoffe. Das war die zentrale Aufgabe des Backpulvers.

05_Mueller-, Baecker- und Conditoren-Zeitung_04_1874_Nr146_p1_Mueller_Baecker_Backstube

Idealisierte Darstellung des Müller- und Bäckerhandwerks (Müller-, Bäcker- und Conditoren-Zeitung 4, 1874, Nr. 146, 1)

Bevor wir darauf genauer eingehen, noch einige Hinweise zu der Situation in den 1860er Jahren. Erstens war Brot damals neben der Kartoffel das eigentliche Rückgrat der Alltagsversorgung. Es handelte sich zumeist um Roggen- oder Mischbrot, Weizenbrot war abseits des Südwesten und Bayerns selten, eher Vorrecht der Begüterteren. Idyllischen Bildern des alten Bäckergewerbes zum Trotz war die gewerbliche Brotproduktion in deutschen Landen gar nicht so bedeutend. Zwei Drittel des Brotes – so nicht unplausible Schätzungen für die 1860er Jahre – wurden häuslich gebacken, also im eigenen Herd, im eigenen Ofen oder im noch üblichen dörflichen Backofen (Georg von Viebahn, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Bd. 3, Berlin 1868, 589). 1861 beschäftigte das preußische Backgewerbe ca. 47.000 Personen, darunter mehr als 26.000 Meister (Bundesrepublik Deutschland 2021: unter 10.000 Betriebe mit ca. 240.000 Beschäftigten, größtenteils im Verkauf). Bäckerbrot war gemeinhin besseres Brot – und bis zur Jahrhundertwende dürfte es mindestens zwei Drittel des Marktes ausgemacht haben. Die durchschnittliche Bäckerei wurde größer, Brotfabriken blieben im Deutschen Reich aber, anders als in Großbritannien, Ausnahmen.

Zweitens hatte sich Backpulver in den 1850er und 1860er Jahren zwar nicht eingebürgert, wurde aber auch abseits des Konditorgewerbes ab und an verwandt. Gekauft wurde allerdings kein Backpulver, sondern Hirschhornsalz, Pottasche oder kohlensaures Natron und Weinstein, die dann dem Backwerk nach eigener Façon zugemischt und zugemengt wurden. Im Tenor der Zeit hieß das: „Derartige Mittel sind in der Wärme des Backofens flüchtige, der Gesundheit nicht schädliche Stoffe, z.B. das doppelt kohlensaure Ammoniak und die Kohlensäure selbst, welche man, an Wasser gebunden, dem Teige beimischt. Man hat dem Mehle auch wohl doppelt kohlensaures Natron als Pulver zugesetzt und mit dem zur Bereitung des Teiges nothwendigen Wasser so viel Salzsäure hinzugefügt, daß beide Stoffe sich zu Kochsalz verbinden. Auch die Weinsteinsäure ist in Verbindung mit Soda, Kochsalz und Zucker angewendet worden. Weit zweckmäßiger und beliebt ist es jedoch, dem Teige solche wenige Stoffe beizumischen, welche geeignet sind, denselben in weinige Gährung zu versetzen, bei welcher durch die ganze Masse des Teiges Kohlensäure und Weingeist gebildet werden: sie erzeugen schon bei geringer Wärme in dem Teig eine Menge gleichförmig vertheilter Blasen, welche dem Backwerk eine schwammige Beschaffenheit ertheilen und dasselbe leicht verdaulich machen“ (Viebahn, 1868, 584). Beim Kuchen bediente man sich als Lockerungsmittel zudem häufig Alkoholika wie Branntwein, Rum und Arak: Beim Backen entwich der Alkohol, hob und trieb so den Teig. Auch Eischnee wurde nicht nur wegen des besseren Geschmacks genutzt (R[udolf] Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 71).

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Moderne Wachstumsindustrie: Mautnersche Wiener Presshefe-Fabriken (Wiener Bäcker- und Müller-Zeitung 3, 1878, 7)

Drittens dominierten Sauerteig und Hefe weiterhin das Backen. Sauerteig war Teil steter Vorratswirtschaft, handelte es sich doch um einen getrocknet aufbewahrten Altteig, der dann in lauem Wasser aufgelöst und schließlich dem neuen Brotteig zugesetzt wurde. Damals noch nicht bekannte Milchsäurebakterien und auch Hefepilze bewirkten eine Gärung, ergaben zugleich einen leicht säuerlichen Geschmack. Sauerteig wurde vornehmlich für dunklere Brote verwandt. Hefe war zur damaligen Zeit zumeist Bierhefe, teils auch Branntwein- und Weinhefe, wurde nur selten gezielt als Backhefe gezüchtet. Der Wandel des Brauens durch Kühltechnik und Reinzuchthefen seit den 1870er Jahren stärkte die gesonderte Produktion von Preß- und Backhefe. Deren Wirkung war verlässlicher, berechenbarer. Allerdings musste ein Hefeteig über mehrere Stunden aufgehen, musste häufig am Abend vor dem Backen vorbereitet werden. Hefe wurde eher im Süden Deutschlands eingesetzt, für Kuchen und helleres Brot. Beide, Hefe und Sauerteig, führten zu Nährwertverlusten als Folge der Alkohol- und Kohlensäurebildung, gaben dem Backwerk zugleich einen charakteristischen Geschmack (I[sidor] Rosenthal, Vorlesungen über die öffentliche und private Gesundheitspflege, Erlangen 1887, 296).

07_Memoriam_1893_p02_Illustrierte Technik für Jedermann_03_1925_p098_Eben-Norton-Horsford_Justus-von-Liebig

Eben Norton Horsford (1818-1893) und die Büste Justus von Liebigs in der Bayerischen Walhalla (Memoriam, 1893, 2 (l.); Illustrierte Technik für Jedermann 3, 1925, 98)

Liebig hatte sich mit Brotzusätzen schon Mitte der 1850 Jahre beschäftigt: Anstelle der nicht nur in Belgien verbreiteten Sitte, dem Mehl gesundheitsschädliches Alaun und Kupfervitriol beizumengen, empfahl er Kalkwasser – 26 bis 27 Pfund pro 100 Pfund Mehl, dazu reines Wasser und zusätzliches Salz. So könne man das an sich fehlerhaft aufgebaute Getreide physiologisch verbessern, die Knochenbildung fördern, ein auch schmackhaftes Brot backen (Justus Liebig, Ein Mittel zur Verbesserung und Entsäuerung des Roggenbrodes (Hausbrod, Commisbrod), Annalen der Chemie und Pharmacie 91, 1854, 246-249). Anfang 1868 griff er – veranlasst auch durch die Getreidemissernte 1867 und ihre Auswirkungen namentlich in Ostpreußen – neuerlich zur Feder und empfahl den Zusatz von Natriumbikarbonat und Salzsäure. Die aus der Reaktion entstehende Kohlensäure würde den Teig locker machen, das neu gewonnene Salz den Geschmack befördern (Max Rubner, Physiologie der Nahrung und der Ernährung, in: E[rnst] von Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Leipzig 1898, 20-155, hier 97). Chemisch war dies ausgeklügelt, „genial […] gedacht“, doch die „minutiöse Genauigkeit im Abwiegen der Substanzen“ (C. Raabe-Graf, Ueber Verwendbarkeit einiger Backpulver in der Bäckerei und Haushaltung, Die chemisch-technischen Mittheilungen der neuesten Zeit NF 7, 1879, 186-189, hier 187) verwies Liebigs Anregung von Beginn an in das enge Geviert eines Laboratoriums, in die Echolosigkeit der Unbedachtheit.

Doch der Münchner Chemiker ließ sich dadurch nicht beirren, sondern schlug Ende 1868 neue Verfahren vor, sorgte in der Zwischenzeit auch für deren praktische Erprobung (Justus v. Liebig, Eine neue Methode der Brodbereitung, Annalen der Chemie und Pharmacie 149, 1869, 49-61 – daraus die folgenden Zitate). Liebig war durch die Ablehnung gekränkt, polemisierte eingangs gegen die Fortschrittsresistenz der Bäcker, gegen die Indolenz der Masse, sei doch Fortschrittssinn und „ein gewisser Grad von Bildung“ erforderlich, um seinen Vorschlag aufzugreifen. Nun denn, es folgte ein neuerlicher Vorschlag, um „aus gewöhnlichem Mehle, ohne Kleie, ein schönes, schmackhaftes Brod zu bereiten von höherem Nährwerth, als dem Brode aus demselben Mehle nach jeder anderen Methode bereitet zukommt.“ Liebig verwies neuerlich auf den gesundheitlich bedenklichen Verlust wichtiger „Nährsalze“ durch das Mahlen. Der Nährwertverlust betrage etwa 12 bis 15 Prozent. Eine andere Art der Brotbereitung sei daher von immenser nationalökonomischer Bedeutung, „denn der Erfolg in der Praxis der Ernährung ist alsdann genau so, wie wenn alle Felder in einem Lande ⅟7 bis ⅛ mehr Korn geliefert hätten; mit derselben Menge Mehl wird durch diese Ergänzung eine größere Anzahl Menschen gesättigt und ernährt werden können.“ Just das leiste das Horsfordsche Backpulver, „die ich für eine der wichtigsten und segenreichsten Erfindungen halte, welche in dem letzten Jahrzehnt gemacht worden sind.“ Doch Liebig wäre nicht Liebig, hätte er nicht an einer Verbesserung des Produktionsverfahrens gearbeitet, einer Mischung von Phosphorsäure mit doppeltkohlensaurem Natron. Das sei an sich sinnvoll, doch doppeltkohlensaures Kali eigne sich besser zum Ausgleich der stofflichen Defizite des Getreidekorns, es munde zudem besser. Allein, es sei zu teuer. Stattdessen setzte Liebig auf das im anhaltinischen Staßfurt seit 1851 billig gewonnene Chlorkalium. Er errechnete nun das für die Reaktion und die Neutralisierung der zugesetzten Stoffe erforderliche Verhältnis – pro Pfund Mehl 14 Gramm Phosphorsäure und 9 Gramm Chlorkalium – und empfahl diese Stoffe als neue Backpulver, als Zusatz zum Mehl (nicht ohne ein noch besseres, letztlich aber kaum praktikables Verfahren darzulegen): „Das nach dieser Methode bereitete Brod ist von schönem Aussehen, aber schwerer wie das gewöhnliche Bäckerbrod; das letztere ist großblasig und fällt durch sein größeres Volumen mehr in die Augen.“ Gewiss, das neue Backpulver verursache Kosten von 15-18 Kreuzern [60-72 Pfennigen, US], doch nach seiner Berechnung ergäbe das Verfahren 10 bis 12 Prozent mehr Brot, sei dank der Zusätze auch deutlich nahrhafter. Liebig hatte sich auf die Brotbäckerei konzentriert, Küchengebäcke schloss er aus. Sein Ziel war nicht nur ein besseres und nahrhafteres Brot, sondern auch dessen großbetriebliche Herstellung: „Mit dem Ausschluß des Gährungsprocesses fällt das Haupthinderniß hinweg, welches dem industriellen Betriebe des Bäckergewerbes entgegenstand“. Das neue Backpulver diene der Allgemeinheit, sei für den Schiffsverkehr, das Militär, für Gefängnisse und Armenhäuser anzuraten. Die Produktion sei schon im Gange, zwei Fabrikanten damit betraut. Liebigs Artikel wurde Ende 1868 in den führenden Tageszeitungen des deutschen Sprachraums veröffentlicht (Kölnische Zeitung 1868, Nr. 355 v. 22. Dezember, 6; Der Bund 1869, Nr. 2 v. 3. Januar, Sonntagsblatt, 1-2), hinzu kamen zahllose Paraphrasen des Inhalts (etwa Zu den Brotstudien, Der Wächter 1869, Nr. 2 v. 4. Januar, 2-3).

Für die teils bis heute übliche Liebig-Hagiographie (einschlägig Jakob Volhard, Justus von Liebig, Bd. II, Leipzig 1909, 292-303) war dies ein neuerlicher Beleg für die Schaffenskraft und das soziale Engagement des hochgeehrten Innovators. Festzuhalten aber ist, dass dieser seit Mitte der 1850er Jahre in stetem Austausch mit seinem früheren amerikanischen Schüler Eben Norton Horsford (1818-1893) stand. Liebigs wusste um Horsfords Vorarbeiten, von seinem Backpulver-Patent (Nr. 14722), von dessen Übertragung in die industrielle Fertigung und seinem Bestreben, die Zusammensetzung zu optimieren (Paul R. Jones, Justus von Liebig, Eben Horsford and the development of the baking powder industry, Ambix 40, 1993, 65-74). Die zusammenfassende Broschüre (E[ben] N[orton] Horsford, The Theory and Art of Breadmaking, Cambridge 1861) hatte Horsford nach Erscheinen an Liebig gesandt. Auch danach tauschten sich beide über Backpulverfragen aus, auch 1868/69, als es darum ging, die veränderte Rezeptur Liebigs in ein verkaufsfähiges Produkt umzusetzen. Horsfords Backpulver war bereits eine Umsetzung der allgemeinen Prinzipien Liebigs, ermöglichte es doch einen rechnerisch höheren Nährwert und „scientific precision which successful bread-making requires” (Baking-Powders, The Manufacturer and Builder 2, 1870, 88). Horsfords Backpulver bestand aus zwei getrennt abgepackten Komponenten, Weinstein/doppeltkohlensaurem Natron und kalziumsaurem Phosphat/Phosphorsäure. Sie mussten ausgepackt und vermengt werden, die richtige Mischung erlaubte ein beigefügtes Zinngefäß mit zwei Kegelstümpfen unterschiedlichen Umfangs. Dieses wurde mit beiden Komponenten gefüllt, Wasser hinzugefügt, mit Mehl zum Teig verarbeitet und dann in den Ofen gegeben.

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Lange vor Horsford: Werbung für Durkee’s Baking Power (Kenosha Telegraph 1851, Nr. 50 v. 6. Juni, 3 (l. oben); Herald of the Times 1852, Nr. 1147 v. 2. September, 3 (l. unten); Wilmington Journal 1853, Nr. 51 v. 26. August, 3)

Eben Norton Horsford gilt als der Begründer der amerikanischen Backpulverindustrie, doch er war sicher nicht der erste industrielle Produzent oder gar der eigentliche „Erfinder“ des Backpulvers. Man wusste in der früheren Kolonie um die englischen Vorarbeiten. Bereits 1850 wurden erste weinsteinhaltige Backpulver von Preston & Merrill (Boston, MA) oder E.R. Durkee (New York City, NY) verkauft. 1853 folgte Vincent C. Price (Troy, NY) mit einer Mischung aus Weinstein und Natriumkarbonat (L.H. Bailey, Development and Use of Baking Powder and Baking Chemicals, Washington 1930, 2). Über den 1818 in Moscow, NY, in einer gutbürgerlichem Familie geborenen Eben Norton Horsford gäbe es viel, sehr viel zu erzählen: Eine zielstrebige Karriere im Feld von Technik und Chemie, der zweijährige Studienaufenthalt in Gießen als Schüler Liebigs, die nach der Rückkehr 1847 erfolgte Übernahme des neu geschaffenen Rumford Chair on the Application of the Useful Arts an der Harvard University, das Klonen von Liebigs Laboratorium und seiner Art des chemisch-technischen Studiums an der Lawrence Scientific School in Harvard (Charles L. Jackson, Eben Norton Horsford, Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 28, 1892/93, 340-346). Schweigen werde ich von seiner Förderung des Frauenstudiums, seine später von der Firma Borden genutzten Forschungen zur Kondensmilch und seinen höchst problematischen Beiträgen zur Siedlungsgeschichte Nordamerikas (Georg Schwedt, Liebig und seine Schüler, Berlin u.a. 2013, 213-214; William H. Brock, Justus von Liebig. The Chemical Gatekeeper, Cambridge und New York 2002, 239). Der nie promovierte Wissenschaftler hatte sich 1854 an einer von George Francis Wilson (1818-1883) initiierten chemischen Handelsfirma in Pleasant Valley, RI, beteiligt. Ging es anfangs um die Produktion des Bleichmittels Kalziumsulfat, so stand nach der Verlagerung der Firma nach Seekonk, MA, die Produktion von kalziumsaurem Phosphat im Mittelpunkt – einem Bestandteil des 1856 auf Horsford patentierten Backpulvers. Die Firma wurde in Anlehnung an seinen Lehrstuhl in Rumford Chemical Works umbenannt; in Erinnerung an den Loyalisten und naturwissenschaftlichen Forscher Benjamin Thompson, Reichsgraf von Rumford (1753-1814), dessen zeitweiliges Wirken in München mit der Rumford-Suppe für Arme und dem Englischen Garten für Bürger nur unzureichend umrissen ist. Horsford jedenfalls verließ 1862 seinen Lehrstuhl, nachdem er langjährige Patentstreitigkeiten erfolgreich abgeschlossen hatte, und konzentrierte sich bis zu seinem Lebensende auf die Leitung seines höchst lukrativen Unternehmens, andere Geschäfte und die Archäologie (Linda Civitello, Baking Powder Wars. The Cuthtroat Food Fight that Revolutionized Cooking, Campaign 2017, insb. Kap. 3).

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Liebigadepten als Backpulverproduzenten: Ludwig Clamor Marquart und Werbung der Düngermittelfabrik von Georg Carl Zimmer (Wikimedia Commons (l.); Pfälzer Bote für Stadt und Land 1870, Nr. 29 v. 8. März, 116)

Der Reigen der Macher schloss ebenso die beiden Produzenten des Horsford-Liebigschen Backpulvers ein. Der Name würdigte die entscheidenden Vorarbeiten des Amerikaners, berücksichtige aber auch Liebigs neuartige Zusammensetzung und nutzte die immense Werbekraft seines Namens. Der in Frankfurt a.M. geborene und in Heidelberg lebende Georg Carl Zimmer (1839-1895) hatte Mitte der 1860er Jahre die Kunstdüngerfabrik Clemm-Lennig von seinem Onkel, dem Liebig-Schüler Carl Clemm-Lennig (1818-1887) übernommen. 1855 gegründet, produzierte sie auf Grundlage der Liebigschen Agrikulturchemie Düngemittel, erst Knochen, dann Superphosphat und weitere Mineraldünger, schließlich auch zahlreiche chemische Grundstoffe (Heinrich Caro, Über die Entwicklung der Chemischen Industrie von Mannheim-Ludwigshafen a. Rh, in: Ders., Gesammelte Reden und Vorträge, Berlin und Heidelberg 1913, 133-178, hier 143). Zimmer sollte später auch das Hauptdepot für den Verkauf von Liebigs Fleischmehl übernehmen, einem Futtermittel aus dem Resten der Fleischextraktproduktion im uruguayischen Fray-Bentos (Adressbuch und Waarenverzeichniss der chemischen Industrie des Deutschen Reiches 1, 1888, hg. v. Otto Wenzel, Berlin s.a., Abt. II, T. I, 361). Auch der gelernte Apotheker Ludwig Clamor Marquart (1804-1881) war mit Liebig gut bekannt. Seine Karriere chargierte zwischen Köln, Heidelberg und Bonn, zwischen Apotheke, einem eigenen pharmazeutischen Institut und der 1846 gegründeten Fabrik chemischer Produkte. Liebig kooperierte also mit zwei etablierten Unternehmen, um Backpulver in deutschen Landen allgemein einzubürgern. Sie begannen Anfang 1869 mit großzügiger Anzeigenwerbung.

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Anpreisung des Neuen (Bonner Zeitung 1869, Nr. 5 v. 6. Januar, 4)

Breit gefächerte Werbung

Bevor wir näher auf die Werbung für das Horsford-Liebigsche Backpulver eingehen, sollten wir uns nochmals die Motive für das neue Produkt vor Augen führen (wobei ich den Lockreiz des Geldes außen vor lasse). Erstens ging es um nicht weniger als um eine neue menschengemachte Ordnung im Ernährungssektor. Es galt ungeregelte „natürliche“ Prozesse, die Hefe- und Sauerteiggärung, durch eine planmäßig ablaufende Reaktion klar definierter Chemikalien zu ersetzen. Dadurch erst sei gezieltes und sparsames Backen möglich. Einerseits könne so der Nährstoffverlust durch die Zersetzung der Glukose minimiert, anderseits der Beginn der Gärung unmittelbar gesteuert werden (Viktor Gräfe, Über Backhilfsmittel, Drogisten-Zeitung 36, 1921, 327-329, hier 327). Zweitens ging es um eine neue Ökonomie im Ernährungsalltag. Die Experten rechneten die Verluste durch natürliche Prozesse hoch, verdampften allein bei der Hefegärung doch 40 bis 50 Millionen Liter Alkohol. Das war ein Wert von 20 bis 25 Millionen Gulden, Kapital, das Bäcker und Haushalte rationaler investieren konnten (Rudolf Wagner, Ueber das Hefenpulver der Nordamerikaner, Industrie-Blätter 5, 1868, 182-183, hier 182). Andere rechneten mit einem Minderverbrauch von 100 Tonnen Brot pro Tag, günstigeren Preisen, mehr Nahrung (F[riedrich] Strohmer, Die Ernährung des Menschen und seine Nahrungs- und Genussmittel, Wien 1887, 198). Drittens ging es um einen weiteren Industrialisierungsschub, nun aber im vermeintlich rückständigen Kleingewerbe. Dieser Mittelstand schien durch die Industrie bedroht, hatte sich zu modernisieren, um seine wichtige gesellschaftspolitische Mittlerposition weiter ausüben zu können. Nicht umsonst war das Backpulver auch Teil der Rezeptur des später führenden Nationalökonomen Gustav Schmoller (1838-1917) für eine „professionsmäßige Bäckerei“ (Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert […], Halle/S. 1870, 415). Es ging beim Backpulver also auch um die Zukunft der Monarchie und des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Seine Einführung war Teil des Einholens der führenden Wirtschaftsmacht, des Britischen Weltreiches. Viertens schließlich handelte es sich bei der Einführung des Backpulvers um einen Test der Mehrzahl. Es ging um eine Reifeprüfung für Gewerbe und gemeinem Mann. Das liberale Bürgertum war in dieser Zeit zwischen dem deutschen Bruderkrieg 1866 und der sich abzeichnenden Gründung eines kleindeutschen Reiches unter preußischer Führung unsicher, ob es der Macht folgen oder die demokratischen Ideale weiter spinnen wollte. Konnte man ein demokratisches System wagen, wenn die Mehrzahl rationale Angebote nicht wahrnahm? Die Einführung des Backpulvers reichte zu dieser Zeit weit über Küche und Backstube hinaus.

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Münchner Anzeige gemäß der Vorlage des Mannheimer Produzenten Zimmer (Bayerischer Kurier 1869, Nr. 44 v. 13. Februar, 410)

Das Horsford-Liebigsche Backpulver wurde in einer für damalige Verhältnisse überzeugenden Weise präsentiert und beworben. Drei Ebenen gilt es zu unterscheiden, mochten sie auch miteinander verwoben sein. Beginnen wir erstens mit der Arbeit der beiden Produzenten. Sie hatten mit den Vorbereitungen für die Produktion spätestens im Frühjahr 1868 begonnen. Obwohl Zimmer und Marquart Teilkomponenten des Backpulvers selbst herstellten, bereitete deren großbetriebliche Produktion beträchtliche Schwierigkeiten (Volhard, 1909, 298-300; Jones, 1993, 69-70). Backversuche ergaben fehlerhaftes Brot, einschlägig betraute Bäckermeister verwiesen auf fehlendes Volumen. Über all das tauschten sich Liebig, Horsford, Zimmer und Marquart brieflich aus, allesamt darauf vertrauend, dass am Ende die Idee über die Widrigkeiten triumphieren würde. Das schließlich angebotene Backpulver zielte auf Brotherstellung und Bäckereien. Entsprechend wurde es in ganzen und halben Kisten von 100 und 50 Pfund zu 17 Talern und 5 Silbergroschen für 100 Pfund verkauft. Ein Konsumvereinsvorsitzender schrieb: “Probepaquete und 5 Pfund Backpulver werden zu 1 Thlr. 5 Sgr. versandt und ausführliche Gebrauchsanweisungen daneben ertheilt“ und berichtete über „befriedigende Resultate“ (Otto Krüger, Zur Brodbereitungsfrage, Blätter für Genossenschaftswesen 16, 1869, 54-55, hier 55). Das Brot würde zwar teurer, doch der Arbeitszeitgewinn in einer kleinen Konsumvereinsbäckerei gleiche das aus, zumal man auf die Aussage vom höheren Nährwert des neu bereiteten Brotes vertraue.

Die Anzeigen wiederholten im Wesentlichen die Argumente Liebigs. Es handelte sich um Ankündigungen, ja Verlautbarungen. Das Backpulver wurde als überlegenes, revolutionäres Angebot präsentiert, dessen Verwendung scheinbar für sich sprach. Die Kunden erhielten mit der Kiste resp. dem Paket eine Gebrauchsanweisung. Die getrennt abgepackten Säure- und Basekomponenten mussten vom Anwender selbst vermischt werden. Die Gewichtsrelationen hatte man durch die Zumischung von Stärke einander angeglichen, so dass man nicht – wie noch beim amerikanischen Vorbild – unterschiedliche Mengen der Einzelbestandteile abmessen musste. Wichtig war und blieb die trockene Lagerung des Inhalts der schon angebrochenen Verpackungen.

12_Intelligenzblatt für die Stadt Bern_1869_02_18_Nr048_p2_Zuercherische Freitagszeitung_1869_02_26_Nr09_Backpulver_Horsford-Liebig_Schweiz

Angebote auch in der Schweiz (Intelligenzblatt für die Stadt Bern 1869, Nr. 48 v. 18. Februar, 2 (l.); Zürcherische Freitagszeitung 1869, Nr. 9 v. 26. Februar, 3)

Marquart versuchte allerdings in dem von ihm verantworteten norddeutschen Markt Backpulver auch für den Küchengebrauch zu empfehlen, verwies dabei auf die Praxis der amerikanischen Hausfrau (Hamburger Nachrichten 1869, Nr. 46 v. 23. Februar, 10). Beiden Anbietern gelang es, das neue Produkt im Zollverein und im Norddeutschen Bund anzubieten, zudem übernahmen sie auch Offerten aus dem Ausland. Über die Anzeigen hinaus beschickten sie Fachmessen und Ausstellungen, erhielten dabei auch Auszeichnungen (Karlsruher Zeitung 1869, Nr. 229 v. 30. September, 3). An den Ständen wurden Büchsen mit Backpulver präsentiert, sollten Brotproben die Besucher überzeugen (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 157 v. 6. Juni, 5229). Der Geschmack war weniger sauer, die Resonanz allerdings überschaubar: „ Auch Sachsen hat schon hier und da dieses Backpulver praktisch eingeführt […] und soll auch […] in Dresden Herr Bäckermeister Seidel […] sich der neuen Brodbereitungsmethode angeschlossen haben“ (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 164 v. 13. Juni, 1).

Diese Firmenwerbung sollte den Anstoß nicht nur für Käufe, sondern auch für eine öffentliche Debatte sorgen und Berichterstattungen über das neue Backpulver in Gang setzten. Die Werbung gründete zweitens also auf den Institutionen des gewerblichen und öffentlichen Lebens. Das entsprach dem bürgerlichen Ideal der Debatte und wechselseitigen Aufklärung. Das lokale Brotbacken sollte damit Ereignis werden, Bildungsinstitution. Und so fand sich im badischen Weinheim eben nicht nur ein backpulverbackwilliger Bäcker, sondern auch ein erfahrener Chemiker, der das neuartige Angebot um „eine volksthümliche Beleuchtung des Brotbackens“ bereicherte (Karlsruher Zeitung 1869, Nr. 64 v. 17. März, 3). In den Zeitschriften las man zudem Glossen über die Vorteile des Backpulver auch für die Hauswirtschaft, in denen Hausfrauen darauf verwiesen wurden, dass „man neben dem Kochen Brod backen kann, ohne durch langdauernde Vorbereitungen, Gährenlassen etc., Zeit zu verlieren“ (Mannheimer Abendzeitung 1869, Nr. 85 v. 11. April, 3). Entsprechender Flankenschutz kam auch von Wissenschaftlern. Der Bonner Chemiker und Liebig-Schüler August Kekulé (1829-1896) hob etwa im Sinne seines Meisters hervor, „daß nämlich bei der jetzigen verfeinerten Lebensweise ein künstlicher Zusatz von Mineral-Substanzen zur Nahrung – eine Art Mineral-Düngung – nothwendig oder wenigstens vielfach zweckmäßig sei“ (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 113 v. 24. April, 10). Ein Ansturm Düngersüchtiger auf die Bäckereien unterblieb jedoch.

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Berichtete Brotvermehrung bei württembergischen Backversuchen (Ökonomische Fortschritte 3, 1869, 345)

Die wichtigsten Multiplikatoren waren allerdings Gewerbetreibende, organisiert in ganz Deutschland umspannenden Netzwerken von Gewerbe-, Industrie- oder polytechnischen Vereinen. Das waren die Wähler der 1. und 2. Klasse, die bestimmenden Kräfte in den Städten. Sie dachten praktisch, mit Sinn für den Nutzen. Die von Liebig angeführten Vorteile waren für sie überzeugend, doch sie diskutierten zugleich die noch bestehenden Probleme (Kerner, Ueber die Brodbereitung mit Horsford-Liebig’schem Backpulver, Gewerbeblatt aus Württemberg 1869, 83-85, hier 85). Blicken wir beispielhaft auf die Königlich Württembergische Centralstelle für Gewerbe und Handel. Sie kaufte eine große Charge Backpulver und versandte Proben an gleich 70 Adressen, bat um Prüfung und Stellungnahmen, wohl wissend, dass „die Vortheile, die es darbietet, auch mit Aufopferung gewöhnter Ansprüche erkauft werden müssen“ (Zur Horsford-Liebig’schen Brodbereitungsmethode, ebd., 101-102, hier 102). Die Rücklaufquote war hoch: Der Geschmack sei recht gut, doch das Brot durch den Zusatz auch teurer. Werte wie „Pünktlichkeit und Sorgfalt“ und „Wägen und Sieben“ seien nun gefragt, von den Bäckern eingefordert (Die Brodbereitung mittelst des Horsford-Liebig’schen Backpulvers, ebd., 120-121, hier 121). Allen Vorteilen zum Trotz war das Backpulverbrot aber weniger ansehnlich. Deshalb empfahl man es weniger den Bäckern als vielmehr den Privathaushalten, „wo man in Würdigung der erhöhten Schmackhaftigkeit und Nahrhaftigkeit auch mit einem minder ansehnlichen Aeußeren sich leichter versöhnt, während der Bäcker die Wünsche seiner Kunden zu berücksichtigen hat, sogar wenn sie auch nur auf einem Vorurtheil beruhen“ (Dass., ebd., 489-490, hier 490).

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Nährbrot und Backmehl auf Anregung des Gewerbevereins (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 153 v. 2. Juni, 4917)

Andernorts regten die Notablen nicht nur Versuche an, sondern auch Startup-Unternehmen. Die mit Backversuchen beauftragte Dresdener Bäckerei Opel beließ es nicht beim Backpulverbrot, sondern entwickelte im Gefolge einen in den 1880er Jahren recht erfolgreichen Nährzwieback für Kinder. Dem Backpulver aber schwor Familie Opel ab: „Das damit erzielte Brod verdarb jedoch schon kurz nach dem Buck zu einer kleisterartig wässerigen Masse und wurde so, trotz seines bedeutenden Nährgehalts, ungenießbar. Alle Versuche, diesen Zersetzungsproceß zu verhindern, mißglückten“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1879, Nr. 16 v. 16. Januar, 286).

Fasst man die einschlägigen Berichte zusammen, so war der Grundtenor wohlwollend, wurde die Kritik in zarten Nuancen dargeboten: „Das Brod war wohlschmeckend aber noch etwas fest“ (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 32 v. 7. Februar, 1). Vielfach wurden auch nur Liebigs Ansichten paraphrasiert (Hamburger Nachrichten 1869, Nr. 60 v. 11. März, 2; Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 98 v. 8. April, 1). In vielen Fällen wurde die Verwendung des Backpulvers allein für Brot in Frage gestellt, sollten stattdessen auch Kuchen oder Zwieback damit zubereitet werden (Das amerikanische Backpulver, Leipziger Tageblatt 1869, Nr. 143 v. 23. Mai, 4737; Hallesches Tageblatt 1869, Nr. 269 v. 18. Dezember, 1683). Immer wieder monierte man die fehlende Lockerheit des Brotes und die aus ungenügender Vermischung resultierenden braunen Stellen (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 107 v. 9. Mai, 1). Zusammengefasst boten diese Berichte viel Stoff zur Diskussion über das Horsford-Liebigsche Backpulver. Im Sinne der Macher aber war sie nicht, eher im Sinne einer Nachbesserung des Produktes.

Der bei weitem agilste Werbeträger war jedoch drittens das lokale werbetreibende Gewerbe. Bäcker, Apotheker, Drogisten und Kolonialwarenhändler begannen bereits Ende 1868 mit Anzeigen für neuartig gebackenes Brot, für das Backpulver und für Mehlmischungen, die der Hausfrau das Vermengen der Einzelkomponenten abzunehmen vorgaben. Sie erschlossen damit zugleich den häuslichen Markt abseits der Bäckereien.

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Marktpräsenz von Brot und Backpulver im Rheinland (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 29 v. 29. Januar, 4 (unten); Bonner Zeitung 1869, Nr. 9 v. 10. Januar, 4 (l.); Der Wächter 1869, Nr. 14 v. 1. Februar, 3 (r. oben); Echo der Gegenwart 1868, Nr. 358 v. 31. Dezember, 3)

Die lokalen Gewerbetreibenden nutzten dabei die Argumente von Liebig, Zimmer und Marquart, nutzten fast durchweg das Renommee des Münchener Chemikers als Qualitätsgaranten. Zumeist aber beließ man es bei kurzen Aussagen zum Nutzen, insbesondere zur Substitution der für Backwerk gebräuchlichen Hefe.

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Vom Angebot zum Ratgeber – Werbeanstrengungen der Detaillisten (Bonner Zeitung 1869, Nr. 95 v. 8. April, 4 (l.); Jeversches Wochenblatt 1869, Nr. 121 v. 5. August, 5)

Die dezentrale Werbung war dynamisch, führte zu nicht vorherzusehenden Geschäftsinitiativen. Das galt etwa für neuartige Angebote von „American Cracker“, hergestellt mit Backpulver. Die Anfang 1869 gegründete Braunschweiger Firma hatte keinen langen Bestand, doch ihre Geschäftsidee trägt bis in unsere Tage (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 77 v. 18. März, 4; Bonner Zeitung 1869, Nr. 91 v. 4. April, 2; Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 136 v. 16. Mai, 9). Erfolgreiche Karrieren begleiteten sie: Der Dresdener Apotheker J. Paul Liebe übernahm nicht nur eine Generalagentur des Backpulvers (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 164 v. 13. Juni, 2), sondern baute in den Folgejahren sein breitgefächertes Angebot von Malzprodukten, Kindernähr- und Kräftigungsmitteln weiter aus, das er trotz des energischen Protests Liebigs unter dessen Namen vermarktete (J[ustus] v. Liebig, Erklärung, Annalen der Chemie und Pharmacie 158, 1871, 136).

Vor Ort wurden die Grundinformationen also weitergesponnen, auch umgewidmet. Mochte der Name Liebigs auch die Anzeigen dominieren, so wurde doch vielfach vom „Amerikanischen Backpulver“ gesprochen (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 210 v. 29. Juli, 3). Die Ferne zog – wir hatten dies im englischen Falle schon an Borwick’s German Baking Powder gesehen. Zugleich spiegelte die lokale Werbung aber auch das langsame Ende des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Im oldenburgischen Jever hatte der Händler A.W. Deye seit Sommer 1869 die Vorteile des Backpulvers für das häusliche Backwerk öffentlich hervorgehoben. Er war erfolgreich, annoncierte mehrfach neu eingegangene Ware, schaltete auch Erinnerungswerbung zu den Hochfesten. Doch Ende 1870 endete diese kleine Kampagne vor Ort. Die Illusionen über die Reform der Brotbereitung verflogen, der Absatz endete.

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Beharrende und abebbende Werbung (Jeversches Wochenblatt 1869, Nr. 141 v. 9. September, 7; ebd., Nr. 147 v. 19. September, 3; ebd., Nr. 163 v. 17. Oktober, 3; ebd. 1870, Nr. 5 v. 9. Januar, 5; ebd., Nr. 111 v. 17. Juli, 3; ebd., Nr. 201 v. 22. Dezember, 3 (von oben n. unten, von l. n. r.))

Dieser Misserfolg lag kaum an der Werbung. Diese war großzügig, vielgestaltig, wandelte sich gar mit den vermeintlichen Ansprüchen der Käufer von der Bäckerei zum Haushalt. Backpulver war im ersten Halbjahr 1869, teils auch darüber hinaus, ein seriös diskutiertes Thema in der deutschen Öffentlichkeit. Doch anders als von den Machern erwartet, mündete das kritische Räsonnement eigensinniger Bürger in die Ablehnung des Horsford-Liebigschen Backpulvers.

Von der Kritik zum Fiasko: Das Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers

Das „gänzliche Fiasko des Liebigschen Backpulvers in Deutschland“ (Volhard, 1909, 303) spiegelte sich in den Absatzzahlen. Diese liegen indirekt vor, hatte die beiden Produzenten Liebig doch eine Provision von 10 Silbergroschen resp. 35 Kreuzern pro verkauftem Zentner Backpulver zu zahlen. Georg Carl Zimmer verkaufte 1868 und 1869 insgesamt 24.492 Pfund Backpulver, 1870 dann nochmals ca. 2.500 Pfund, insgesamt also ca. 27.000 Pfund oder 13,5 Tonnen. Er gab 1870 die Produktion auf, überließ seine Rechte L.C. Marquart. Dieser zahlte Liebig für 1868/69 26 Taler, 1870 31 und 1871 9 Taler (Angaben n. Volhard, 1909, 302; Jones, 1993, 72). Diese 66 Taler Provision entsprachen einer Menge von ca. 9,9 Tonnen. Auch wenn Marquart wohl bis mindestens 1874 Restbestände verkaufte (Der Bazar 20, 1874, Nr. 2, 20), bestand der Absatz schon 1871 vornehmlich aus Exportware gen Dänemark und Argentinien (ebd.). Der Gesamtabsatz des Horsford-Liebigschen Backpulvers im In- und Ausland betrug 1868 bis 1871 demnach 23,4 Tonnen – oder 468 volle Kisten. Ein Fiasko, zumal angesichts der immensen Erwartungen Liebigs. In einem Schreiben an Zimmer hatte er darüber fabuliert, dass bei einem Erfolg die deutsche Sodaproduktion verdoppelt werden würde (Volhard, 1909, 302). Diese lag 1869 im Deutschen Zollverein bei ca. 75.000 Tonnen (J[oseph] Goldstein, Deutsches Sodaindustrie in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1896, 51).

Was waren die Gründe für dieses Scheitern – auch im Hinblick auf die langsame, aber gedeihliche Aufwärtsentwicklung in England und den USA? Sieben Gründen scheinen mir evident. Wobei ich mir bewusst bin, dass ich damit nicht auf die damalige Kritik aktiver Vegetarier an der „Verliebigung des Brodes“ eingehe, die sich vornehmlich an der Herkunft der Phosphorsäure aus gebleichten und vermahlenen Tierknochen rieben, also der Transformation eines pflanzlichen Nahrungsmittels in ein tierisches (Hugo Oelbermann, Das Knochenbrod, Bonner Zeitung 1868, Nr. 352 v. 29. Dezember, 3).

Erstens war der Markteintritt verfrüht und undurchdacht. Liebigs Vorschlag für eine neue, von Horsfords Verfahren abweichende Zusammensetzung war durch seinen Kaligehalt technisch schwierig und führte 1868 zu immer neuen Nachjustierungen (Volhard, 1909, 298). Die Gründe dafür lagen gewiss in den Kosten, lagen aber auch im starren Beharren auf Liebigs vermeintlich überlegenen Vorschlag. Die Backversuche unterstrichen, dass die Mischung nicht ausgereift war, nur dann erfolgreich, wenn alle Rahmenbedingungen präzise eingehalten wurden. Um dies zu gewährleisten hatte sich Liebig in seinem Privathaus einen eigenen Spezialofen erbauen lassen, doch derartiges Engagement war nicht verallgemeinerungsfähig. Auch das Abspringen des ursprünglich geplanten dritten Produzenten wurde nicht als Warnzeichen verstanden. In dem nahe Brückfeld im Landkreis Rosenheim gelegenen Örtchen Heufeld war unter Liebigs Mitarbeit 1857 die Bayerische Actien-Gesellschaft für chemische und landwirthschaftlich-chemische Fabrikate gegründet worden, die seit 1859 Superphosphat-Dünger produzierte, die letztlich aber kein Backpulver produzieren wollte. Marktforschung unterblieb.

Zweitens konzentrierte sich die Einführung auf die Brotbereitung und die Bäcker. Damit ignorierte man die Marktentwicklung in den USA, insbesondere aber in Großbritannien. Dort bildeten Haushalte und süßes Backwerk einen wachsenden Anteil am Absatz. Mit den gut organisierten Bäckern wurde im Vorfeld nicht gesprochen, sie wurden im Gegenteil als Fortschrittsfeinde denunziert. Der Verband deutscher Müller und Mühlen-Interessenten prüfte das Backpulver 1869, konnte jedoch kein „durchweg günstiges Resultat“ erblicken, da die Brotproduktion auf diese Art nicht wirklich verbessert werden konnte (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 154 v. 3. Juni, 5125). Ignoriert wurde insbesondere die Marktstellung der Bäcker: „ Der Bäcker muß den Geschmack seiner Kunden befriedigen, und es gehört eine gewisse Freiheit von Vorurtheilen dazu, sich von einem bestimmten Geschmacke des täglich genossenen Brotes abzugewöhnen“ (K[arl] Birnbaum, Das Brotbacken, Braunschweig 1878, 108).

Drittens war das stakkatohaft vorgetragene Mantra des trotz Backpulvers letztlich billigeren Brotes weder für die Bäcker noch für die Hausfrauen glaubwürdig. Backpulverbrot war kleiner und weniger ansehnlich, die Vorstellung erhöhten Nährwertes und abstrakte nationalökonomische Kostenrechnungen verpufften. Stattdessen standen die Bäcker vor dem Problem, bei Einführung die Preise für ein Brot anheben zu müssen, das weniger hermachte (Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 3, 1871, 150). Eine raschere Produktion und der teilweise Verzicht auf Nachtarbeit waren gewiss nachvollziehbare Argumente, doch die meisten Bäckereien waren Einmannbetriebe, die für ein Auskommen arbeiteten, nicht für stetig zu mehrenden Gewinn. Die Kosten für das Backpulver hätten die Bäcker tragen müssen, doch dem stand kein Ertrag gegenüber (Preußisches Handels-Archiv 1871, Nr. 11 v. 17. März, 261).

Viertens unterschätzten die Macher die beträchtliche Zusatzarbeit in Bäckereien und Haushalten – letztlich also die deutlich höheren Opportunitätskosten durch das neue Produkt. Die Mischung und Zumengung war ungewohnt und fehleranfällig – trotz Gebrauchsanweisung. Dies ging einher mit einer vornehmlich im Haushalt bestehenden Abneigung gegen den laboratoriumsgemäßen Umgang mit Chemikalien. Sie wurde als etwas Fremdes verstanden, als schwarze Kunst. Objektiv mag dies unbegründet gewesen sein, doch mit derartigen Vorbehalten hätte insbesondere Liebig rechnen müssen, dessen Malzsuppe für Säuglinge zuvor an ihrer zeitaufwändigen und fehleranfälligen Zubereitung gescheitert war.

Fünftens scheiterte das neue Backpulver am zwar zusagenden, letztlich aber doch veränderten Geschmack des Brotes. Dieser war milder, hatte weniger Ecken und Kanten, doch es war just dieser leicht säuerliche Geschmack eines Sauerteigbrotes, den viele nicht einfach aufgeben wollten (Knapp, 1878, 295). Es ging eben um das „gewisse Angenehm-Säuerliche, welches sehr schwer in dem richtigen Maße, d.h. nicht zu viel und nicht zu wenig, durch Chemikalien herzustellen ist“ (Johannes Frentzel, Ernährung und Volksnahrungsmittel, Leipzig 1900, 104). Bei Hefegebäck mochte das anders sein, doch Liebigs Angebot zielte primär auf die Substitution des Sauerteigs bei der Roggen- und Mischbrotproduktion. Auch bei Kuchen wäre dies anders gewesen, denn Zucker überdeckt Geschmacksnuancen. Kritisch vermerkt wurde auch die Missachtung der Tradition durch „dieses künstliche Salzgemisch“ (Heinrich Vogel, Die Verfälschung und Verschlechterung der Lebensmittel, Erfurt 1872, 47). Für die immigrierte New Yorker Hausfrau mochte das Neue seinen Wert haben, nicht aber für eine noch von Sitte und Herkunft geprägte Gesellschaft wie die des frühen Kaiserreichs. Entsprechend urteilten Zeitgenossen skeptisch auch über die längerfristigen Perspektiven der Backpulver (Knapp, 1878, 125).

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Inkarnation ambivalenten Forschungsdrangs: Justus von Liebig (Illustrirte Zeitung 1869, Nr. 1361 v. 31. Juli, 85)

Sechstens erwiesen sich die naturwissenschaftlichen Annahmen Liebigs zunehmend als Schall und Rauch. Das wurde unmittelbar nach dem Scheitern auch öffentlich klar benannt: „Wie Liebig, dieser sonst so klare Kopf, zur Verwirrung der Begriffe über rationelle Ernährung durch Hervorheben des Nährwerthes der Salze im Vergleich mit dem der Eiweißstoffe so viel hat beitragen können, als er neuerlich so in der Lehre von der Brodbereitung durch Backpulver, wie in der über Herstellung von Fleischextract gethan hat, bleibt um so unverständlicher, als er selber früher und zwar gerade aus den hier von uns angeführten Gründen ein ganz anderes Fleischextrakt als das beste, ja als das allein zweckentsprechende, angegeben und empfohlen hat, […]“ (Bonner Zeitung 1871, Nr. 212 v. 2. August, 6). Das Liebigsche Konstrukt der „Nährsalze“ war irreführend und unphysiologisch. Auch seine im Kampf gegen Louis Pasteur halsstarrig hochgehaltene Interpretation der Hefegärung erwies sich als haltlos (Brotbereitungs-Prozeß, Kölner Nachrichten 1884, Nr. 43 v. 19. Februar, 2). Ebenso ergaben sorgfältige Resorptionsstudien an Hunden im Münchener Physiologischen Institut, dass die Liebigschen Summenformeln spekulative Rechnereien waren (Gustav Meyer, Ernährungsversuche mit Brod am Hund und Menschen, Zeitschrift für Biologie 7, 1871, 1-48; Birnbaum, 1878, 305-306). Der rechnerisch erhöhte Nährwert war in der Praxis fiktiv, denn die zusätzlichen Nährstoffe wurden vom Organismus schlicht nicht aufgenommen, sondern ausgeschieden. Der Chemiker Liebig ignorierte basale Erkenntnisse der aufstrebenden Physiologie (A[dam] Maurizio, Die Nahrungsmittel aus Getreide, Bd. 1, Berlin 1917, 350).

Siebtens schließlich gab es auch psychologisch-biographische Gründe für das Scheitern. Liebig war zu diesem Zeitpunkt ein alter, zunehmend unbelehrbarer Mann, der mit polemischem Furor und jugendlicher Energie seine Vorstellungen verfolgte, dagegen stehende Aspekte aber ignorierte. Bezeichnend war, dass er im Mai 1868 erst durch seinen Freund, den Göttinger Chemiker Friedrich Wöhler (1800-1882), auf Horsfords Backpulver-Patent hingewiesen wurde (Volhard, 1909, 297). Liebig hatte in der Freude am eigenen Experimentieren die gesamte Vorgeschichte offenbar verdrängt. Es war daher in gewisser Weise folgerichtig, dass Zimmer und Marquart das Backpulver nicht veränderten, die Werbung nicht umgestalteten, sondern die Produktion einfach abbrachen und auslaufen ließen. Für Liebigs war das Backpulver, sein Backpulver, ein sakrales Gut, dessen Veränderung einem Sakrileg gleichgekommen wäre, war es doch bereits chemisch optimiert. Liebig war letztlich nicht mehr in der Lage, die begründeten Rationalitäten anderer Menschen ernst zu nehmen und in Rechnung zu stellen. Der große Anreger verkörperte eben auch die Hybris einer Wissenschaft, die Modelldenken und eine gegenläufige empirisch wahrnehmbare Realität nicht mehr voneinander zu scheiden wusste.

Lernerfolge oder Neukonfiguration des Backpulvermarktes

Das Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers erfolgte nicht in einem jungfräulichen Markt, denn englische Offerten, etwa Borwicks Backpulver, wurden nicht nur im Norden angeboten (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 136 v. 13. Juni, 4). Backpulver blieben präsent, doch es waren wie zuvor eher Konditoren, die es für Zuckerwerk und Kuchen nutzten, Hausfrauen und Köchinnen, die sich Triebmittel kauften und selbstbereiteten, schließlich Bürger, die ausländische Präparate kauften. Doch zugleich wandelte sich der Markt, veränderte sich das Angebot. Paradoxerweise entsprechen moderne Wissens- und Konsumgesellschaften durchaus Kreislaufmodellen, denn gescheiterte Ansätze werden nicht einfach vergessen, sondern aus ihnen wird gemeinhin gelernt, um die Grundprinzipien für andere Angebote neuerlich anzuwenden und aus ihnen Gewinn zu ziehen. Dass dies nicht artikuliert, sondern in Narrative der Innovation und des Fortschritts eingewoben wird, sollte später auch Dr. Oetker zeigen. Doch als Trittbrettfahrer lernte er später nicht nur und nicht primär aus dem Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Er konnte auch auf die Erfahrungen dutzender Backpulverproduzenten zurückgreifen, die nach Liebigs Tod den Markt aus- und umgestalteten.

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Anonyme Angebote mit Verweis auf den Wissenschaftsheros Liebig (Deutsches Montags-Blatt 1877, Nr. 3 v. 16. Juli, 8)

Bevor wir einzelne Unternehmen genauer analysieren, sollten wir uns aber die Hauptveränderungen gebündelt vor Augen führen, allesamt Lehren aus dem Scheiteren des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Erstens setzte sich der schon von Marquart und zahlreichen lokalen Anbietern eingeschlagene Weg fort, Backpulver nicht in der Bäckerei, nicht beim Brotbacken, sondern in der Küche, beim Kuchenbacken und auch der Speisenbereitung einzusetzen. Es galt nicht mehr Sauerteig zu ersetzen, sondern Hefe. Das ging einher mit einer wachsenden Trennung gewerblicher und häuslicher Angebote, also der Trennung zwischen dem Angebot von Backhilfsmitteln in Fachzeitschriften und dem von Küchenbedarf in Tageszeitungen und Publikumszeitschriften.

Zweitens wurde Backpulver von einem Chemikalienmix zu einem zunehmend einfacher zu handhabenden Convenienceprodukt. Das Angebot von getrennten Säure- und Basekomponenten fiel weg, stattdessen konnten die Käuferinnen ein schon vermischtes Produkt kaufen. Der Begriff Backpulver war immer weniger Plural, wandelte sich immer stärker zum Singular, zu einem direkt nutzbaren kompakten Hilfsmittel. Dies ging einher mit deutlich kleineren Haushaltspackungen, meist kleine Pappkästchen, teils auch schon Papierbeuteln.

Drittens trat neben die Gebrauchsanweisung zunehmend das Rezept. Nach wie vor wurde die Anwendung des Backpulvers in einigen Sätzen erklärt, in den Anzeigen kurz, auf der Packung etwas ausführlicher. Die Rezepte zeigten jedoch den konkreten Nutzen. Sie konzentrierten sich auf einfache Kuchen, auf Gemische des damals immer häufiger konsumierten Zuckers mit Mehl, Eiern, Butter (oder Kunstbutter) und Wasser oder Milch. Anders als Brot wurde häuslich bereiteter Kuchen auch nicht mit einem allseits bekannten Preis verbunden, entzog sich somit ansatzweise der ökonomischen Rationalität der frühen Backpulverdebatten.

Damit veränderte sich viertens auch die soziale Zielgruppe. Während Liebig auf alle Konsumenten zielte und diese über das Backpulverbrot erreichen wollte, konzentrieren sich die Unternehmen in den 1870er und 1880er Jahre vornehmlich auf bürgerliche Haushalte. In den frühen Arbeiterkonsumvereinen wurden Backpulver nicht geführt, das änderte sich erst um 1900 (Uwe Spiekermann und Dörthe Stockhaus, Konsumvereinsberichte – Ein neue Quelle der Ernährungsgeschichte, in: Dirk Reinhardt, Uwe Spiekermann und Ulrike Thoms (Hg.), Neue Wege zur Ernährungsgeschichte, Frankfurt a.M u.a. 1993, 86-112, hier 99-100). Während Liebig Backpulver als Teil der Lösung der sozialen Frage verstand, als Anrecht auf soziale Teilhabe und Ausdruck von Bildung – also als eine gemeinsame Aufgabe von Eliten und Volk, wirkte nun der Lockreiz des bürgerlichen (Sonntags-)Kuchen (ähnlich dem (Sonntags-)Braten). Es ging um Verbürgerlichung, um individuellen sozialen Aufstieg durch Akzeptanz bürgerlichen Daseins.

Fünftens wurde Backpulver der Alleinstellung entkleidet, die ihm Liebig zugedacht hatte. Es wurde nun Teil eines immer breiteren Sortiments küchennaher Angebote. An die Seite des Backpulvers traten nun vermehrt Puddingpulver (abstrus die Aussage von Insa Schlumbohm, Die Geschichte des Puddings und wie der Pudding ins Museum kam, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Essen und Trinken in der Moderne, Münster et al. 2006, 85-98, hier 89, dass Puddingpulver um 1900 „noch nicht allgemein bekannt war“), seit den späten 1870er Jahren auch Vanillinzucker, langsam auch Konservierungsmittel und Einmachhilfen. Peu à peu bildete sich ein Backsortiment aus, welches Backpulverangebote umkränzte, die Bedeutung des verbindenden Triebmittels allerdings nochmals unterstrich.

Sechstens schließlich entwickelte sich eine für die Anfangsjahrzehnte des Kaiserreichs recht typische Marktstruktur. Auf der einen Seite einige innovative, in den Städten reichsweit präsente Markenartikelanbieter. Auf der anderen Seite aber zahlreiche kleinere regionale Anbieter, darunter einige quirlige lokaler Anbieter, meistens Apotheker und Drogeristen, die bekannte und sehr unterschiedliche Rezepturen nutzten und verkauften.

Trendsetter und Marktführer: J. Gädicke, Berlin

Thesen sind leicht zu formulieren, doch sie empirisch zu fundieren ist gewiss ebenso wichtig. In den 1870er und 1880er Jahren gab es im deutschen Sprachraum ein knappes Dutzend relevanter Backpulveranbieter, von denen hier lediglich vier genauer analysiert werden: Ein erstes und zugleich zentrales Beispiel bietet die Berliner Firma J. Gädicke & Co. Meine erste virtuelle Begegnung mit Johannes Gädicke (1836-1916) bezieht sich auf das Jahr 1873, als er künstliche Topfgewächse annoncierte (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 54/55, 1. Beiblatt, 5), einen Klassiker der Heimsurrogate. Wohl wichtiger war seine Rolle als Pionier der Photographie. 1877 wurde ihm ein Patent „auf ein Ueberzugsmittel für Glasplatten, welche mittels des Sandgebläses radirt werden sollen“ erteilt (Amtsblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1877, Nr. 29 v. 21. Juli, 251). Weit darüber hinaus ging die gemeinsam mit Adolf Miethe (1862-1927) 1887 erfolgte Erfindung und Patentierung des aus Magnesium, Kaliumchlorat und Schwefelantimon bestehenden Blitzlichtpulvers. Ganz andere Pulver vertrieb der Fotopionier seit 1874: „Das unter dem Namen Hefenmehl von J. Gädicke in Berlin, Sparwaldsbrücke 2, dargestellte Backpulver ist gut und wird zu wohlfeilen Preisen verkauft. Es gibt beim Einrühren sofort einen lockeren Teig, der beim Erhitzen stark aufgeht und eine sehr poröse Masse bildet […]. Den Pfundpacketen sind Recepte beigegeben“ (Der Bazar 20, 1874, 325). Dieses Angebot war lukrativ und gewinnträchtig, doch Gädicke verkaufte seine Firma 1878 an den Berliner Kaufmann Carl Gustav Göring (Deutscher Reichsanzeiger 1878, Nr. 237 v. 8. Oktober, 4). Dieser gewann mit Wilhelm Meienburg 1880 einen neuen Kompagnon, der kurz darauf das Geschäft übernahm (Ebd. 1880, Nr. 147 v. 25. Juni, 11; ebd., Nr. 156 v. 6. Juli, 7).

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Kuchen statt Brot: J. Gädickes Backpulver (Dortmunder Zeitung 1878, Nr. 151 v. 2. Juli, 6)

Im Gegensatz zu Horsford-Liebig zielte Gädickesche „Hefenmehl“ auf den Ersatz von Hefe, nicht den von Sauerteig. Nicht Brote sollten damit gebacken werden, es diente vielmehr der „leichten und sicheren Herstellung leicht verdaulicher Mehlspeisen und Gebäcke“ (Von der Bäckerei-Ausstellung zu Berlin 6, 1875, 445-447, hier 445). Hefe war langsam, das Hefenmehl, nach kurzer Zeit auch Backmehl, dann Backpulver genannt wurde, dagegen schnell. Das musste erklärt werden, man sprach von frei werdenden Gasen, nicht nur im Backofen, sondern schon nach Vermengung des neuen Produktes; doch man sprach kaum mehr von der chemischen Zusammensetzung des Präparates (S. Roureq, Ueber Gädicke’s Hefenmehl und Jensen’s Futterbrot, Polytechnisches Centralblatt NF 29, 1875, Sp. 653-654). Stattdessen ging es um Sicherheit im Haushalt, um Abkehr von „der so unsicher wirkenden und oft verfälschten Hefe des Handels“ (Von der Bäckereiausstellung zu Berlin, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 2, 1875, 248-250, hier 248). Das Hefenmehl wurde nicht mehr in unterschiedlichen Paketen geliefert, anfangs aber in zwei Varianten: Eine für geschmackneutrale Speisen, etwa Knödel, eine für süße und würzige Kuchen.

Der Übergang von Horsford-Liebig hin zu einem neuartigen Angebot ist offenkundig. Das Backpulver war ähnlich zusammengesetzt wie der Vorläufer, pro Kilo Mehl sollten 5,1 Gramm Phosphorsäure und 8,7 Gramm doppelt kohlensaures Natron zugesetzt werden (bei Horsford-Liebig 4,4 resp. 7,2 Gramm) (Gesundheit 4, 1878/79, 222). Gädicke bot ebenfalls Kisten von 50 Kilogramm an, allerdings mit 31 resp. 40 Mark deutlich billiger als zuvor 51,5 Mark für das reine Backpulver bei Horsford-Liebig. Doch zugleich offerierte er kleinere Pfundpakete für 1874 45 und 55 Pfennig, 1875 dann 40 und 50 Pfennig. Auch wenn man sich vor Augen führen muss, dass Umverpacken eine Kernaufgabe in Drogerien, Apotheken und Kolonialwarenhandlungen war, so näherte sich Gädicke doch der Haushaltspackung an, mochten die Preise auch noch hoch gewesen sein. Entsprechend zielte er anfangs auf ein gutbürgerliches Publikum mit Kaufkraft. Das schnellere Backen diente noch nicht der Hausherrin am Herde, wohl aber der Gastgeberin. War Besuch da, so rief die Hausfrau „ein Wort in die Küche und in 15 Minuten trägt die Köchin eine Schüssel mit frischen, sehr wohlschmeckenden Pfannkuchen auf den Tisch“ (Bäckerei-Ausstellung, 1875, 445).

Neuerlich diskutierten Experten über das neue Präparat – typisch für Wandel, typisch für langsame Akzeptanz. Gädicke setzte die fachliche Diskussion küchentechnisch um: „Ein im täglichen Leben zu verwendendes Backpulver darf nothwendig nur ein Pulver sein, welches die verschiedenen Bestandtheile in genau richtigem Verhältnis enthält“ (Raabe-Graf, 1879, 188). Statt abzumessen nahm die Köchin nun ein einfaches Maß, nämlich einen gehäuften Teelöffel Backpulver pro Pfund Mehl. Das war nicht mehr beckmesserisch-wägend, denn: „Das Mehr oder Weniger beruht auf Erfahrung“ (Backen ohne Hefe, Die Fundgrube 2, 1875, 51). Mehl und Backpulver wurden gemischt, das Gemenge zur Sicherheit durch ein grobes Sieb geschlagen. Die Zutaten kamen hinzu, der Teig wurde in die Form oder die Pfanne geschüttet und gebacken. Auch Fachleute waren überrascht, dass die trocken vermischte Säure-Basen-Komponenten auch nach vielen Monaten noch triebkräftig waren (Apotheker-Zeitung 14, 1879, 85). Dabei hatten das die englischen und amerikanischen Backpulver schon längst belegt.

22_Allgemeine Hausfrauen-Zeitung_01_1878-79_p011_Dresdner Nachrichten_1880_02_20_Nr033_p4_Backpulver_Puddingpulver_J-Gaedicke_Berlin

Herausstechende Anzeigen für Backpulver, Puddingpulver und mehr (Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878/79, 11 (l.); Dresdner Nachrichten 1880, Nr. 33 v. 20. Februar, 4)

Mit der Übernahme der Firma durch Göring und dann Meienburg begann eine markante Aufwärtsentwicklung. Anfangs auf den Berliner Raum konzentriert und mit dem Rest der Welt durch Versandhandel verbunden, etablierten sie ab 1878 offenbar Generaldepositairen „an allen Plätzen des In- und Auslandes“ (Kladderadatsch 32, 1879, Nr. 38, Beibl., 3). Das verbesserte Absatzsystem führte zur Vermarktung des nunmehr durchgehend Backpulver genannten Produktes im gesamten Deutschen Reich – zumindest in dessen urbanen Zentren. Die Ausbreitung im cisleithanischen Österreich blieb dagegen stecken, allein in Prag wurde ein Depot eröffnet (Prager Tagblatt 1880, Nr. 27 v. 27. Januar, 4; Prager Tagblatt 1880, Nr. 13 v. 13. Januar, 9).

Auffällig waren erstens überdurchschnittlich große Anzeigen, deren Größe fast an die Verlautbarungswerbung von Marquart und Zimmer erinnerte. Sie knüpften den Bezug zu Justus von Liebigs Vorarbeiten, präsentierten das Backpulver als Hefeersatz – der Begriff „pulverisirte Trockenhefe“ erinnerte daran. Sie hoben das Gädickesche Angebot zugleich aus den üblichen kleinen Anzeigen hervor, auch wenn sie noch keine Bilder verwandten.

Zweitens knüpfte die Werbung nun ein deutlich engeres Band zur Hausfrau – nicht nur zur bürgerlichen Köchin. Kleine Anzeigen fragten „Wer will schönen Kuchen backen“ (Echo der Gegenwart 1878, Nr. 258 v. 20. September, 3), offerierten scheinbar „Einen schönen lockeren Eierkuchen“ (ebd., Nr. 271 v. 3. Oktober, 4). Die Hausfrau sollte zur praktischen Küchentat schreiten: „Das Backen mit Backpulver ist viel einfacher als mit Hefe, Lockerheit und Gerathen des Gebäcks wird garantirt. – Dazu gehörige Küchenrecepte und Gebrauchs-Anweisung auf jedem Carton“ (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 253 v. 11. September, 4). Nun redeten und predigten nicht mehr die Experten, sondern nun wurden die imaginierten praktischen Sorgen der bürgerlichen Hausfrau unmittelbar aufgegriffen: „Welche Hausfrau hätte nicht schon über schlechte Hefe geklagt und gejammert, sich nicht schon über ‚sitzen gebliebene‘ Sonn- und Festtagskuchen halb zu Tode geärgert? Milch und Mehl, Eier und Butter, Zucker, Rosinen und Mandeln, Mühe und Arbeit – Alles, Alles verdorben und verloren! Und dann kommt noch der Mann und lacht und spottet über den prächtigen Kuchen und die Kinder, die natürlich davon essen, weil er doch einmal da ist und auch Geld gekostet hat, verderben sich ebenso natürlich den Magen an dem unverdaulichen Zeuge. Was ist da zu thun? Man nehme statt der unzuverlässigen Hefe das Backpulver von J. Gädicke & Co. […], und statt der Klagen und des Aergers wird die Hausfrau Lust und Freude an dem Werke ihrer Hände haben, und der Mann wird nicht genug des Lobes finden und die Kinder werden immer gesunder und rothbackiger werden, je mehr sie davon essen“ (Kölner Sonntags-Anzeiger 1879, Nr. 149 v. 31. August, 3; analog Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 292 v. 28. Oktober, 3; Echo der Gegenwart 1880, Nr. 42 v. 12. Februar, 3). So klischeehaft die Szenerie auch sein mochte, sie zeigte doch die wachsende Bedeutung, die Konsumentinnen um diese Zeit gewannen. Sie wurden als Akteurinnen wahrgenommen und umzirzt. Zugleich aber verdichtete man die Vorteile des nunmehr in 50 Pfennig teuren Blechbüchsen angebotenen Backpulvers fast schon sloganartig: „Die Hauptvortheile, welche das Backpulver bietet, sind: Haltbarkeit, Schnelligkeit, Wohlgeschmack, sicheres Gerathen und Billigkeit“ (Volksblatt für den Kreis Mettmann 1878, Nr. 113 v. 24. September, 3). Das waren Ansätze einer direkten Werbesprache, die sich erst Jahrzehnte später einbürgern sollte.

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Eine breite Palette neuartiger Convenienceprodukte (Neueste Nachrichten 1880, Nr. 249/250 v. 5. September, 5)

Drittens bot J. Gädicke nun immer stärker ein Sortiment an, entweder plakativ mit fett gesetztem Puddingpulver oder aber ausgefächert auf „Flammeri, Eiscrème, Gelés, Kalt- und Warm-Puddings“ (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 35 v 28. August, 11). Viertens griff man die schon bei Liebig vorhandenen Motive auf, dass es sich beim Backpulver um einen gesunden, ja gesundheitsfördernden Zusatz handelte. Phosphorsaurer Kalk und Magnesia, doppeltkohlensaures Natron, Kochsalz und Mehl: All das sollte die Knochenbildung und die Verdauung fördern. Die Anzeigen verwiesen plakativ auf die „von den ersten ärztlichen Autoritäten“ verordneten, mit Backpulver zubereiteten Mehl- und Milchsuppen, die die Knochenbildung fördern würden (Kölner Sonntags-Anzeiger 1879, Nr. 148 v. 24. August, 3). Auch Liebigs Traum einer nachträglichen Abmilderung der Folgen moderner Müllerei schien wieder auf: „Das Backpulver von J. Gädicke & Co. nun gibt in seiner Zusammenstellung einen vollständigen Ersatz für die mit der Kleie verlorenen, knochen- und zahnbildenden Phosphate, ist also ein ganz vorzüglicher Zusatz zu jeglicher Nahrung für Kinder, und erhöht zugleich die Verdaulichkeit und den Wohlgeschmack der Speisen“ (ebd., Nr. 149 v. 31. August, 3; ähnlich Bonner Zeitung 1879, Nr. 265 v. 27. September, 1069; Dresdner Nachrichten 1879, Nr. 316 v. 12. November, 2). Damit schwächte man zugleich immer wieder artikulierte Ängste, dass die Zufuhr von chemischen Stoffen „Störungen im Organismus hervorgerufen“ könnte (Max Weitz, Ueber Berliner Hefenmehl und Hefenmehle überhaupt, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 20, 1879, 81-84, hier 83). Wachsende Versorgungssicherheit war in zunehmend anonymen Nahrungsmittelmärkten immer janusgesichtig, schuf neue Ängste und wachsenden Beruhigungsbedarf.

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Schutzmarke und Generaldepot (Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 295 v. 31. Oktober, 4 (l.); Bonner Zeitung 1879, Nr. 270 v. 2. Oktober, 1090)

Doch J. Gädicke & Co. beließ es nicht bei der Beschwörung vermeintlich wissenschaftlich abgesicherter Gesundheitswirkungen. Man baute zugleich eine neue vertrauensbildende Markenidentität auf. Ab 1879 prangte auf den größeren Anzeigen eine grafisch einfach gestaltete Schutzmarke mit Wiedererkennungseffekt. Das war wahrscheinlich auch auf die Arbeit fähiger Repräsentanten zurückzuführen. Georg Geza von Indulfy und August Schleipen machten die rheinische Metropole Köln zu einem Vorzeigemarkt Gädickes.

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Dezentrale Vermarktung (Echo der Gegenwart 1880, Nr. 55 v. 25. Februar, 4 (l.); Der Wächter, Bielefelder Zeitung 1880, Nr. 184 v. 10. August, 4)

Im prosperierenden Rheinland fanden sich mehrfach neue Anzeigenmotive. Auch wenn sie die Kernbotschaften kaum variierten, symbolisierten sie zugleich Dynamik und – durch die Schutzmarke – Kontinuität und Berechenbarkeit (Kölner Sonntags-Zeitung 1880, Nr. 177 v. 14. März, 1; Rhein- und Ruhrzeitung 1880, Nr. 79 v. 5. April, 4; Dortmunder Zeitung 1880, Nr. 96 v. 8. April, 4; Bonner Zeitung 1880, Nr. 145 v. 30. Mai, 583). Neben der Firmenwerbung stand Händlerwerbung, bei der vorrangig die Marke genannt wurde (Karlsruher Zeitung 1880, Nr. 171 v. 24. Juni, 1480). Mangels fehlender Firmenunterlagen ist es nicht möglich, die Geschichte von J. Gädicke & Co. angemessen zu rekonstruieren. Doch auch in Sachsen lässt sich rasches Wachstum nachweisen. In Leipzig gab es immerhin vierzehn Verkaufsstellen, in denen man Gädickes Backpulver „zum Selbstmischen des sog. Liebig’schen selbstthätigen Backmehls“ kaufen konnte (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1880, Nr. 370 v. 10. Dezember, 7308).

26_Koelner Sonntags-Anzeiger_1881_05_29_Nr240_p3_Backpulver_Backen_J-Gaedicke_Prima_Selbsttaetig

Ausverkauf für einen Groschen (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 240 v. 29. Mai, 3)

Anfang der 1880er Jahre erfolgten zwei weitere zukunftsweisende Neuerungen im Marketing des Gädickeschen Backpulvers: Einerseits präsentierte man das Produkt als einen allseits akzeptierten Grundstoff, der zunehmend weniger erklärt werden musste. Dazu bediente man sich nicht mehr nur des Verweises auf Justus von Liebig, sondern verwies auf höchste Kreise, den Hofbäcker von Kaiser Wilhelm, den Backmeister von Kronprinz Friedrich (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 234 v. 17. April, 4; Volksblatt für den Kreis Mettmann 1881, Nr. 63 v. 28. Mai, 3). Backpulver war im kaiserlichen Deutschland anscheinend angekommen. Anderseits aber entstand 1880 eine neue, wenngleich nicht sonderlich herausragende Markenbezeichnung. Prima war das Gädickesche Backpulver, Prima wurde zu dessen Namen. Diese Abkehr von der simplen Kombination von Produzent und Produkt war ein wichtiger Schritt hin zu einer auch abstrakten Markenidentität. Parallel aber trat innerhalb der Werbung das Prima Backpulver langsam zurück, während die Puddingpulver an Bedeutung gewannen (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 129 v. 17. März, 14). Neben Zusätze und Hilfsmittel traten Komplettangebote: „Einen delikaten Pudding binnen 5 Minuten ohne Eier und Butter für 25 Pf., ausreichend für 4 Personen“ (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 1790 v. 17. April, 10).

J. Gädicke & Co. blieb weiter aktiv, auch wenn es nach dem Rückzug von Georg Geza von Indulfy und August Schleipen nur noch vereinzelte Anzeigen gab (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 269 v. 18. Dezember, 2). Das Backpulver hatte sich etabliert, die Präsenz in vielen Kolonialwarenläden (Dürener Zeitung 1886, Nr. 33 v. 24. April, 7) und Drogerien wurde aber nicht mehr durch stetige Anzeigenwerbung unterstützt. Es blieb ein Alltagsprodukt, doch über seine Bedeutung sind verlässliche Aussagen nicht möglich (Woltering, Ueber Klebermehl und über ein neues sehr einfach herzustellendes Diabetiker-Brot, Der praktische Arzt 29, 1888, 173-178, hier 176). J. Gädicke produzierte mindestens bis in die 1930er Jahre weiter Prima-Backpulver, Puddingpulver und ähnliche Produkte, erschien während des Zweiten Weltkrieges noch als Mehlgroßhandlung. Für uns aber ist wichtig, dass die Firma zwanzig Jahre vor Dr. Oetker den Wandel des Backpulvers zu einem küchennah beworbenen Convenienceprodukt vorantrieb.

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Gädickes Backpulver kurz vor der Jahrhundertwende (Spezial-Katalog, 1896, Werbung, 16)

Regionale Cluster, nationaler Anspruch: Backpulver aus Hannover

Die Mehrzahl größerer Backpulverproduzenten etablierte sich in Nord- und Mitteldeutschland, oberhalb des Limes, dieser wirkmächtigen Trennlinie zwischen römischer und germanischer Welt. Hefe, das ist offenkundig, wurde und wird im Süden, nicht im globalen, wohl aber im südlichen deutschen Sprachraum, auch in Böhmen und Mähren, häufiger verwendet als im weiten Norden. Kuchen und Mehlspeisen haben dort ein größeres Gewicht, sind Teil einer auch katholisch zu nennenden Anfälligkeit für das gute Leben schon vor dem Paradies. Liebig und Horsford, Zimmer und Marquart, das nur am Rande, waren allesamt Protestanten. Auch Backpulver war prototypisch protestantisch, berechenbar und gelingend, anders als das wohlige Fläzen, das unproduktive Schwelgen in den stets „rückständigen“ katholischen Gegenden, wo man nie wusste, was nach dem Gottesdienst passierte. Nach dieser Abschweifung ist klar, wo wir enden werden: In Hannover, einer Zinne lutherischer Rechtschaffenheit. Hier lag ein frühes Zentrum der Backpulverproduktion. Und zwar schon zu Zeiten als der Lutheraner August Oetker noch seinen Vater in der Backstube wusste, während er sich langsam auf den Schliff am just umgebauten Bückeburger Adolfinum vorbereitete.

Apotheker Mühlhan & Jacobi, Hannover

Nachdem ich sie nun auf die auch in säkularen Zeiten bedenkenswerte Bedeutung von Religion verwiesen habe – damals wurden Katholiken im Deutschen Reich zudem verfolgt und diskriminiert – wollen wir wieder zur empirischen Analyse zurückkehren. Denn einer der Wettbewerber von J. Gädicke war der Hannoveraner Apotheker Louis Mühlhan. Er betrieb in den frühen 1870er Jahren zusammen mit dem Kaufmann Otto Kneist eine offene Handelsgesellschaft, die 1875 allerdings aufgelöst wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1875, Nr. 156 v. 7. Juni, 5). Mühlhan erschloss sich neue Arbeitsfelder, wandelte auf Liebigs Spuren, bot ab 1877 „Prof. Just. v. Liebig’s Backpulver“ an. Offenkundig nicht ohne Erfolg, denn er gründete 1878 zusammen mit dem Kaufmann Heinrich Jacobi in Hannover eine offenen Handelsgesellschaft mit dem Zweck der „Fabrikation von Backmitteln“ (Ebd. 1878, Nr. 11 v. 14. Januar, 6).

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Apothekerware Backpulver (Kölnische Zeitung 1877, Nr. 348 v. 15. Dezember, 4)

Mühlhan & Jacobi stehen – wie deutlich später Dr. Oetker – für den Geschäftssinn dieses kaum mehr ständisch geschützten Berufsstandes, der durch die in den späten 1860er Jahren eingeführte Gewerbefreiheit erhebliche Einbußen erlitt und sich auf neue Geschäftsmodelle einließ, ja einlassen musste. In diesem Fall aber folgte man bereits beschrittenen Pfaden, denn das neue Backpulver war nichts anderes als eine Wiederkehr des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Derartige gewerbliche Resteverwertung war nicht unüblich. Wie zuvor stand die Brotproduktion im Mittelpunkt, wie zuvor wurden die Backpulver-Chemikalien weiterhin in zwei getrennten Packungen vertrieben – allerdings in haushaltsnahen Pfundverpackungen. Bemerkenswert war der bei lediglich einem Groschen pro Kilogramm Mehl liegende Preis. Das neue alte Backpulver war ein Preisbrecher, stand für die Verbilligung der Produktion, stand auch für die beträchtliche Überteuerung des Horsford-Liebigschen Backpulvers.

29_Wiener Baecker- und Mueller-Zeitung_03_1878_p054_Leipziger Tageblatt_1878_05_16_Nr136_p2616_Backpulver_Liebig_Muehlhau-Jacobi_Hannover

Präsentation des Alten als das Neue (Wiener Bäcker- und Müllerei-Zeitung 3, 1878, 54; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1878, Nr. 136 v. 16. Mai, 2616)

Mit Pathos spielte Mühlhan & Jacobi damals bekannte Weisen: „Man prüfe und verschließe sich nicht dem Fortschritte!“ (Wiener Bäcker- und Müllerei-Zeitung 3, 1878, 54). Doch offenkundig wandelte sich nicht der Markt, sondern das Angebot der Hannoveraner Unternehmer. 1878 offerierten sie „echtes Justus von Liebig’s selbstthätiges Backmehl“, gingen also sprachlich auf neue Mischprodukte ein, ohne aber das Angebot zu verändern. Binnen weniger Monate änderte sich zudem der Fokus weg vom Brot, hin zum Gebäck, weg von der Bäckerei, hin zum Haushalt. Neben die Gebrauchsanweisung trat auch hier das „erprobte“ Rezept.

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Altes Produkt gegen Gädicke (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1878, Nr. 116 v. 26. April, 2155)

Mühlhan & Jacobi weiteten ihre Marktpräsenz auch nach Mitteldeutschland. Wie Gädicke setzten sie zunehmend auch auf Puddingpulver, vermarktet unter Horsfords Namen. Zugleich nahmen sie den Wettbewerb auf, polemisierten gegen Gädickes „unechtes“ Säure-Basen-Komplettpaket. Doch trotz deutlich niedrigerer Preise blieb ein nachhaltiger Erfolg aus. Bequemlichkeit wurde von den Käufern offenkundig goutiert.

Liebigs-Manufactory von Meine & Liebig, Hannover

Anders als die Apotheker erhielten die Drogisten mit der Gewerbefreiheit neue Geschäftschancen. Die 1872 von den Apothekern Albert Eduard Meine und Franz Sonnefeld in Hannover gegründete Drogenhandlung konzentrierte sich anfangs auf gängige Drogerie- und Heilartikel. Backpulver wurde erst vertrieben, nachdem die Firma Meine & Sonnenfeld 1877 unter dem Namen Meine & Liebig an Meine und Heinrich Ferdinand Georg Liebig überging, letzterer ein Neffe des verstorbenen Münchener Chemikers (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 59 v. 9. März, 6). Sie wurde im April 1878 in Liebigs-Manufactury von Meine & Liebig umbenannt (ebd., 1878, Nr. 93 v. 18. April, 6). Schon im Mai 1877 hatten sie ein Warenzeichen für „Liebig’s selbstthätigem Backmehl“ erhalten, das sie seit April 1878 reichsweit nutzten (Intelligenz-Blatt 1878, Nr. 219 v. 26. Juni, 3; Bamberger Neueste Nachrichten 1878, Nr. 317 v. 18. November, 3).

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Backmehl und Puddingpulver durch Liebigs Neffen (Central-Volksblatt für den Regierungs-Bezirk Arnsberg 1878, Nr. 78 v. 6. Juli, 3)

Anders als der lokale Wettbewerber Mühlan & Jacobi bot Meine & Liebig, die offenbar große Backpulvermengen nach Großbritannien exportierten (Ludwig Hoerner, Agenten, Bader und Copisten. Hannoversches Gewerbe-ABC 1800-1900, Hannover 1995, 24), das Backpulver vermischt in nur einem Pfundpaket an. Im Mittelpunkt der anfangs breit gestreuten, aber nur selten variierten Anzeigen standen Kuchen, stand die Bequemlichkeit und Machbarkeit im Haushalt: „Jeder Kuchen ist in einer Stunde fix und fertig, angerührt und gebacken. Vorzügliche Recepte bei jedem Pakete“ (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 350 v. 17. Dezember, 8). Liebigs Manufactury gab auch Einblick in den Produktionsbetrieb: „Der Hauptschwerpunkt, der alles zum Gelingen guter und lockerer Gebäcke bedingt, liegt in der innigen Mischung der phosphorsauren Salze etc. mit Mehl, und wird in der Liebig’s Manufactory diese Mischung durch Melangeure hergestellt, die ungarisches Weizenmehl mit den Salzen ineinandermahlend ein Hinderniß beseitigen, an welchem die meisten Backmehle leiden, und welches der Einführung der Backpulver (die von den Hausfrauen erst dem Mehle beigemengt werden sollen) entgegensteht“ (Bonner Zeitung 1879, Nr. 278 v. 10. Oktober, 1124). Dennoch war das Backmehl resp. Backpulver nur eines von vielen Produkten von Meine & Liebig. Puddingpulver gewann an Bedeutung, doch ebenso Drogerieartikel wie Amerikanische Gichtpomade und Eisen-Cakes, zudem chemische Produkte.

32_Rhein- und Ruhrzeitung_1883_03_21_Nr068_p4_Karlsruher Zeitung_1894_05_09_Nr126_p2278_Backpulver_Liebigs-Manufactury_Meine-Liebig_Backmehl_Selbsttaetig_Puddingpulver

Reiner Markenartikel: Liebigs selbsttätiges Backmehl als Backartikel (Rhein- und Ruhrzeitung 1883, Nr. 68 v. 21. März, 4 (l.); Karlsruher Zeitung 1894, Nr. 126 v. 9. Mai, 2278)

Anders als Mülhan & Jacobi etablierte sich Liebig’s Manufactury aber auch langfristig. Das Backmehl, das mit 8,4 Gramm doppeltkohlensaurem Natron und 18,8 Gramm Weinstein deutlich mehr Triebmittel als Horsford-Liebig oder Gädicke enthielt (Eduard Hahn und J[ohann] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel […], 5., völlig umgearb., verm. u. verb. Aufl., Berlin 1893, 274), wurde stetig und ab den 1880er Jahren auch mit Abbildungen beworben (Pfälzer Bote 1890, Nr. 175 v. 2. August, 4; Karlsruher Zeitung 1892, Nr. 79 v. 19. März, 4). Meine & Liebig begann Mitte der 1890er Jahre mit einer neuerlichen Häutung der eigenen Werbepräsenz, sicherte sich früher als Dr. Oetker Warenzeichen für Backpulver und Puddingpulver (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 72 v. 22. März, 10; ebd., Nr. 173 v. v. 23. Juli, 7). In der Folgezeit war die Firma ein wichtiger Wettbewerber, mit starkem Auslandsmarkt und regionalem Schwerpunkt in Norddeutschland. Trotz eines Konkursverfahrens 1928/29 stellte das Unternehmen bis nach dem Zweiten Weltkrieg Puddingpulver- und Backpulver her.

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Ansprechender als seinerzeit Dr. Oetker: Warenzeichen von Meine & Liebig 1895 (Warenzeichenblatt 2, 1895, 327)

Mimikry der Herkunft: Das Wiener Backpulver von M. Gesz von Indulfy & Co., Hamburg

Bei den Hannoveraner Anbietern war die regionale Herkunft stets transparent. Die Imagination eines allerorts nutzbaren und stetig verfügbaren Produktes wurde hier mit Verweis auf Justus Liebig bzw. seinem Neffen geschaffen, ebenso durch eine langsam geformte Markenidentität bis zu ansprechenden Warenzeichen. Anders war dies beim „Wiener Backpulver“ aus Hamburg. Der Name verwies auf die Caféhaus- und Mehlspeisentradition der habsburgischen Metropole, brach also den begrenzten protestantischen Charme des Backpulvers mit Verweis auf andere Formen des Essens und Lebens. Das Produkt gewann damit zugleich eine eigene Identität, die abseits der Firmenwerbung von zahlreichen Einzelhändlern genutzt werden konnte.

Die Firma M. Gesz von Indulfy wurde im Juli 1880 von den Brüdern Miska und Georg Gesz von Indulfy gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1880, Nr. 166 v. 17. Juli, 6). Sie ging im Februar 1881 an den Kaufmann Gustav Adolph Vogelsang über, Georg Gesz von Indulfy besaß jedoch Prokura. Die Firma entwickelte sich nach dem Eintritt von Vogelsangs Sohn Friedrich Heinrich zum Familienunternehmen, blieb dies auch nach dem Tode Gustav Adolph Vogelsangs im September 1902 (Ebd. 1881, Nr. 42 v. 18. Februar, 8; ebd. 1888, Nr. 232 v. 11. September, 10; ebd. 1891, Nr. 6 v. 7. Januar, 9; ebd. 1903, Nr. 27 v. 31. Januar, 13).

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Deutsches Produkt: „Wiener“ Backpulver aus Hamburg offeriert in Leipzig und Harlem (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1881, Nr. 350 v. 16. Dezember, 5584; Haarlem’s Dagblad 1887, Nr. 1163 v 21. April, 4)

Die ursprünglichen Firmeninhaber hatten ihr Geschäft als Kölner Depotleiter von J. Gädicke gelernt, der Vertrieb eigener Waren erfolgte jedoch erst ab Mitte 1881. Die Werbung ließ die gängigen Themen der späten 1870er Jahre hinter sich, kein Wort wurde mehr auf das Brotbacken verschwendet: „Wiener Backpulver […] empf. sich zur leichten und billigen Herstellung aller Backwaren“ (Kölnische Zeitung 1884, Nr. 199 v. 19. Juli, 4). Die Werbung deckte das gesamte Deutsche Reich ab, Exportmärkte in Westeuropa wurden ebenfalls bespielt (Altonaer Nachrichten 1882, Nr. 163 v. 15. Juli, 4; Jeversches Wochenblatt 1882, Nr. 186 v. 25. November, 6; Iserlohner Anzeiger 1882, Nr. 150 v. 21. Dezember, 4; Bonner Zeitung 1883, Nr. 124 v. 6. Mai, 514).

35_Karlsruher Zeitung_1885_09_04_Nr242_p2768_Emscher-Zeitung_1888_01_12_Nr010_p4_Backpulver_Gesz-von-Indulfy_Hamburg_Wien_Puddingpulver_Convenienceprodukte

Standardsortiment aus Hamburg (Karlsruher Zeitung 1885, Nr. 242 v. 4. September, 2764 (l.); Emscher-Zeitung 1888, Nr. 10 v. 12. Januar, 4)

Festzuhalten ist zweierlei: Zum einen unterstrich die Angebotspalette M. Gesz von Indulfys nochmals den allgemeinen Trend zum Backsortiment: Backpulver, Mehle aus unterschiedlichen Getreiden und in unterschiedlichen Mischungen, Vanillinzucker sowie verschiedene Puddingpulver wurden gemeinsam angeboten, nur noch selten einzeln. Diese Produkte standen seither für einen häuslichen Zweck: „Die seit 22 Jahren von der Firma M. Gesz v. Indulfy & Co. hier fabricierten Mehl- und Zuckerpräparate […] dienen zur billigen und leichten Herstellung feiner Bäckereien“ (Israelitisches Familienblatt 4, 1901, Nr. 31, 4). Zum anderen nutzten zahlreiche Händler in der Tat die Chance, Wiener Backpulver, Wiener Backmehl, Wiener Puddingpulver auch ohne Nennung des Produzenten anzubieten (Altonaer Nachrichten 1884, Nr. 86 v. 10. April, 5; Der Zeitungs-Bote 1889, Nr. 70 v. 13. Juni, 4). Backpulver und Backartikel wurden so schon Mitte der 1880er Jahre geschätzte und weit verbreitete Alltagshilfsmittel.

Fasst man die wenigen Firmenporträts zusammen, so erweisen sich die eingangs entwickelten Thesen als empirisch valide. Das Fiasko des Horsford-Liebigschen Backpulvers mündete nicht in eine backpulverlose Zeit, die erst durch einen Dr. Oetker durchbrochen wurde. Im Gegenteil: Seit Mitte der 1870er Jahre nahm die Zahl der Backpulverproduzenten rasch zu. Die Firmen veränderten den Zuschnitt des Marktes, fokussierten ihn auf die Küchen- und Backpraxis, überwanden dadurch die Engführungen und Fehler Justus von Liebigs und seiner Mitstreiter. Gleichwohl muss man sich vor Augen führen, dass in den ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs das häusliche Backen noch nicht die Bedeutung hatte wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die hier nur beispielhaft vorgestellten Anbieter bedienten einen noch nicht entwickelten Markt – nicht wegen ihrer Angebote und ihrer fehlenden Leistungsfähigkeit, sondern aufgrund der noch überschaubaren Nachfrage der Haushalte. Dazu bedurfte es erst des vermehrten Angebots und des höheren Konsums von Zucker, Milch und Eiern, verbesserter Herde und Backröhren, des Vordringens einfach steuerbarer Gas- und Elektroherde- und -backöfen – und auch wachsenden Wohlstandes im Kleinbürgertum und der Facharbeiterschaft.

Dr. August Oetker nutzte diese veränderten Rahmenbedingungen, die Chancen seiner Zeit – langsam seit 1894, massiv seit der Jahrhundertwende. Er nutzte sie ohne Skrupel, mit Großsprecherei, Kommerzmythen und Werbungsstakkato. Er verkörperte wilhelminische Selbstbezüglichkeit, spiegelte im Kleinen das Poltern Seiner Majestät, führte dieses hinüber in eine visuell anders funktionierende Medienwelt. Historisch gesehen war er jedoch nur Teil einer langen Reihe von „Machern“. Die Wissenschaftler und Experten vor ihm waren aus kaum anderem Holz geschnitzt, wirkten aber unter anderen Zeitläuften. Der Blick hinter die bis heute wirksamen, von den Nachfolgern stets gepflegten Werbebilder kann uns aber wohl auch abseits dieses einen Produktes sensibilisieren, uns nicht mit dem erstbesten und schön scheinenden Eindruck zufrieden zu geben. Oder, wie es der Literaturnobelpreisträger von 1953 in einer Rede im März 1944 pathetisch fasste: „The longer you can look back, the farther you can look forward.“

Uwe Spiekermann, 4. September 2022

Eier auch im Winter – Das Konservierungsmittel Garantol

Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg sind durch eine rasche Chemisierung des Alltags gekennzeichnet. Die aufstrebende chemische Industrie konzentrierte sich nicht mehr allein auf Grundstoffe, vielmehr fanden neu handhabbare chemische Stoffe zunehmend Platz im Haushalt – erst des Bürgertums, dann aber auch der Facharbeiterschaft. Das Essen veränderte sich durch neue Aromen (Vanillin, Maggis Würze), durch Backhilfsmittel (Backpulver, Puddingpulver), durch Stärkeprodukte (Reisstärke, Maizena), Nährpräparate und Essenzen, Konservierungsmittel (Salizylsäure, Benzoesäure) und vieles andere mehr. Haarpflegemittel erlaubten zunehmend Selbstgestaltung, sei es durch Färbemittel wie Wasserstoffperoxyd, sei es durch erste Haarshampoos, vielfach auf Teerbasis. Auch Körperpflege wurde mit verbesserten Seifen, neuartigen Cremes und mannigfachen Schlankheitspräparaten vielfältiger, scheinbar auch einfacher. Es folgten bisher unbekannte Putz- und Waschmittel, Polituren, Wachse, ganz zu schweigen von zahlreichen neuen Farben und Lacken, von Heilmitteln und durchaus wirksamen Pharmazeutika.

Neue chemische Stoffe wurden in Produkte umgeformt, die jedem einzelnen versprachen, sein Leben bequemer zu machen, den Alltag zu erleichtern. Die Zukunft würde bequem werden, Ruhe und Einkehr ermöglichen. Dank der neuen Convenienceprodukte würden Hast und Eile abgemildert, könne man die angespannten Nerven erholen, sich den Wonnen des gesicherten Daseins widmen. Im Haushalt stand Arbeitserleichterung im Mittelpunkt zahlloser Reklamen. Und wer wollte die offenkundigen Fortschritte bezweifeln? Ofenanzünder statt Feuermachen, Drehscheiben statt Lichtanzünden, Schalter für Warmwasser – manches bereits Alltagsluxus, vieles allerdings noch Zukunftsmusik.

01_Die Woche_10_1908_Nr01_pIV_Lustige Blaetter_14_1899_Nr23_p14_Convenienceprodukte_Backpulver_Dr-Crato_Tee_Otto-E-Weber_Wuerfeltee

Vorbereitet und vorportioniert: Convenienceprodukte der Jahrhundertwende (Die Woche 10, 1908, Nr. 1, IV (l.); Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 23, 14)

Und doch: Diese neuen Convenienceprodukte lassen sich auch anders deuten. Es handelte sich eben immer auch um Übergangstechniken, um Wegmarken hin zu den paradiesartigen Verhältnissen, in denen all die Versprechungen eingelöst würden, die in Begriffen wie Muße, Ruhe, Lebensfreude steck(t)en. Convenienceprodukte stehen dann nicht nur für mehr Bequemlichkeit, sondern überdecken die Härten und Fährnisse des Alltags, überspielen die mangelnde Leistungsfähigkeit der Absatz- und Versorgungsketten, die im Alltagstraum des gelingenden Lebens schon längst ausgemalt wurden. Convenienceprodukte hatten und haben den Charme der Verbesserung, doch sie lenken zugleich davon ab, dass der Alltag eben weiterhin unvollkommen und beschwerlich ist. Sie stehen dann für ein Arrangement mit dem Unausgegorenen, dem Halbgaren. Convenienceprodukte sind Zwischenlösungen – die teils viele, viele Jahrzehnte Bestand haben, teils als solche nicht mehr hinterfragt werden. So verstanden, stehen Convenienceprodukte strukturellen Veränderungen entgegen, erschweren diese gar.

Ein dafür recht typisches Beispiel war das heute nicht mehr angebotene Eierkonservierungsmittel Garantol. Seit der Jahrhundertwende verfügbar, wurde es im späten Kaiserreich ein billiger Alltagshelfer. Sein Zweck war der Zeitensprung, war eine möglichst stete Präsenz von Eiern im Haushalt, auch im Winter. Das war an sich naturwidrig, denn die vermaledeiten Hühner legten Eier eben vor allem im Frühjahr und Sommer. Heute, im Zeitalter saisonaler Glättung, von energieintensiver Kühl- und Transporttechnik sowie einer von tradierten Rhythmen weitgehend entkoppelten Geflügelmassenproduktion ist das kein wirkliches Thema mehr. Garantol erlaubte seinerzeit jedoch ein einfaches und recht sicheres Einlegen der Eier – gängiges Alltagshandeln bis in die späten 1950er, frühen 1960er Jahre, bis hin zur Technisierung und Rationalisierung des Groß- und Einzelhandels. Es federte damit einen – im Vergleich etwa zur USA, Großbritannien oder den Niederlanden – Zustand zunehmender Rückständigkeit ab, in dem frische Eier im Winter seltener, teuer und schlechter wurden, wogegen sich die Haushalte aber ansatzweise wappnen konnten.

Eier als saisonale Ware oder Der Zwang zur Eierkonservierung

Eier waren Ende des 19. Jahrhunderts gewiss kein „Naturprodukt“ mehr. Doch trotz langsamer Fortschritte bei der Geflügelzucht, der Futtertechnik und der Bruttechnologie waren Eierproduktion und -versorgung noch an die natürlichen Reproduktionsrhythmen der Hühner angelehnt. Das gackernd-scharrende Federvieh legte die Masse der Eier brutlüstig im Frühjahr, während der „Eierschwemme“ in der Oster- und Nachosterzeit. Noch in den 1930er Jahren wurden hierzulande 60 Prozent aller Eier zwischen März und Juni gelegt (Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 25). Im Juli und August ebbte die Legetätigkeit ab, ebenso die nicht zu vernachlässigende Leistungsfähigkeit der Althähne. „Frische“ Eier wurden im September und Oktober rar, im November und Dezember waren sie Raritäten. Man behalf sich, gewiss. Eierimporte ermöglichten Zeitstreckungen, doch trotz ihrer Verfünffachung zwischen 1880 und 1900 handelte es sich bei diesen „Kisteneiern“ um deutlich teurere Ware, die vor allem Versorgungsengpässe im Winter abfederte.

02_Die Woche_08_1906_Nr15_pII_Eier_Eipulver_Eigelb_Eiweiß_Trocknungstechnik_L-Prenzlau_Hamburg_Convenienceprodukte

Praktisch, doch zu teuer: Eierpulver und Eipräparate (Die Woche 8, 1906, H. 15, p. II)

Die deutsche Eierwirtschaft arbeitete in den Handelszentren Berlin, Hamburg und Leipzig zwar effizient, doch in der Fläche sah das trotz einer leistungsfähigen Eisenbahn anders aus. In den noch dominierenden Mittel- und Kleinstädten sowie auf dem Lande war Selbst- und Nahversorgung üblich, war man den natürlichen saisonalen Rhythmen weit stärker als in den Städten ausgesetzt – auch weil die Kaufkraft hier niedriger lag. Zwar konservierten größere Geflügelwirtschaften, frühe Eierproduktionsgenossenschaften und auch Großhändler wachsende Teile ihres Angebotes, doch dies milderte lediglich das Auf und Ab des Angebotes, zumal in den urbanen Hauptmärkten.

Hinzu kam, dass die preismindernde Eierschwemme seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend von der Industrie genutzt wurde. Eier wurden eben nicht nur direkt verzehrt, sondern mündeten in chemische und kosmetische Produkte. Als Zwischenprodukt fand sich Eigelb etwa in Eiernudeln wieder, in Backhilfsmitteln, Margarine oder Eierkognak. Auch die wachsende Farbstoffindustrie nutzte Eier, ebenso die sich dynamisch entwickelnde Photographie (Albuminpapiere) (Emil Marian, Deutschlands Geflügelhaltung und sein Handel mit Geflügelprodukten, Phil. Diss. Leipzig, Borna-Leipzig 1906, 59-60). Die langsam präzisere Eiweißforschung erlaubte eben nicht nur Eiweißpräparate und Utopien einer synthetischen Kost, sondern schuf Eiern ganz neue Verwertungsmöglichkeiten.

Welche Verfahren der Eierkonservierung gab es nun, welche kamen neu auf? Um den Verderb möglichst lange zu verhindern, galt es die Poren der Schale gegen Lufteintritt, also gegen Schimmelpilze und bakterielle Zersetzung abzudichten. Noch herrschte die Vorstellung, das Ei gleichsam dicht machen zu können. Über die inneren Veränderungen des Eiweißes bei Lagerung wusste man kaum etwas (deutlich elaborierter schon Fr[iedrich] Prall, Über Eier-Konservierung, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 14, 1907, 445-481). Üblich und durchaus „bewährt“ war lange Zeit das Einlegen der Eier in Kalk. Der Fäulnisschutz erfolgte jedoch auf Kosten der an sich vielfältigen küchentechnischen Möglichkeiten der Eier: Das Kalkeiweiß ergab trotz emsigen Schlagens keinen rechten Schaum. Beim Kochen zerbrachen häufig die Schalen, so dass das Frühstücksei immer wieder zerbarst. Der Geschmack der Kalkeier war hässlich und dumpf (Erich Schmidt, Eier und Geflügel als Nahrungsmittel, 3. Aufl., Berlin 1913, 17). Andere Verfahren waren noch schlechter, noch ausfallbehafteter: Einlegen in Salz war verbreitet. Doch anders als die zuvor gekochten und dann mit Senf und Öl verspeisten Soleier entwickelten Salzeier nach längerer Zeit einen „widerlichen Geschmack“ (Josef Weil, Diätetisches Koch-Buch, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Freiburg i. Br. 1873, 105). Weniger invasiv war das Überziehen mit Speiseölen, etwa Leinöl, oder der in den 1870er Jahren aufkommenden Vaseline. Das Ei schmeckte besser, aber die Haltbarkeit war geringer. Derart konservierte Eier waren anfällig, mussten allwöchentlich in den Horden oder im Stroh gedreht werden, um anfällige Druckstellen zu vermeiden. Zeitensprünge hatten also eine beträchtliche Fallhöhe – und die zu Beginn des Kaiserreichs üblichen Schutzmaterialien Kalk, Salz und Fett waren bereits elaborierter als die simple Einlagerung der Eier in schützendem Sand, in Holzasche oder Häcksel sowie die winterliche Kühlung in Kellerräumen bzw. Erdmulden.

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Wasserglas für den Hausgebrauch (Der Landbote 1886, Nr. 51 v. 1. Mai, 4 (l.); ebd. 1889, Nr. 56 v. 11. Mai, 4)

Diese Malaise der Eierkonservierung wurde seit den 1880er Jahren durch ein „neues“ Präparat gemildert, das Wasserglas (Hermann Mayer, Das Wasserglas, seine Eigenschaften, Fabrikation und Verwendung, Braunschweig 1925). Dabei handelte es sich um wasserlösliches kieselsaures Alkali, entstanden aus dem Verschmelzen von Quarzsand mit Kali und/oder Natron – sowie etwas Holzkohle. Wasserglas war pulverisiertes, in Wasser aufgelöstes Glas, eine gallertartige Flüssigkeit für die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer neue Verwendungen gefunden wurden: Sie half bei der Grundierung, bei Dachpappen, diente als Bleichmittel, zum Brandschutz, vermehrt auch als Kitt oder Waschmittel (H. Grothe, Ueber die Wasserglas-Industrie, Badische Gewerbezeitung 9, 1876, 169-179). Um Eier zu konservieren wurde das vom Apotheker oder Drogisten angebotene Wasserglas mit Wasser vermischt und leicht erhitzt. In diese warme Flüssigkeit legte man die Eier und imprägnierte sie ca. zehn Minuten. Dann herausnehmen und abtrocknen. Der Überzug schützte die Hühnerprodukte recht sicher, so dass man sie bis zur nächsten Eierschwemme nutzen konnte (Conservierung der Eier durch Wasserglas, Archiv der Pharmacie 179, 1867, 134). Der Wirkmechanismus war seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt, setzte sich aber erst seit den 1880er Jahren durch (Konserviren der Eier, Der Landbote 1858, Nr. 133 v. 9. November, 526). Der Wirkungsgrad war nämlich größer, legte man Eier dauerhaft in Wasserglas ein. Der Geschmack dergestalt konservierter Eier war nicht ideal, vielmehr recht kratzig. Doch verglichen mit Kalk gab es deutlich weniger Bruchfälle, zudem war das Eiweiß schlagfähig (Alfred Hasterlik, Wasserglas als Eierkonservierungs-Mittel, Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 58, 1917, 265-266, hier 266). Als Rührei, in Speisen oder Backwaren erfüllten die Eier verlässlich den zugedachten Zweck. Um die Jahrhundertwende galt Wasserglas als das beste Eierkonservierungsmittel (Die Konservirung von Eiern, Zeitschrift für Öffentliche Chemie 3, 1897, 301-302).

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Ausnahme: Eierkühlraum der Gesellschaft für Markt- und Kühlhallen in Berlin (Refrigeration, 1913, 82)

Die Kühlung von Eiern blieb dagegen unterentwickelt, anders als in den USA, anders als beim wichtigsten Eierlieferanten Russland. Dies galt, obwohl das Deutsche Reich die weltweit führende Kältemaschinenindustrie hatte (Hans-Liudger Dienel, Linde. History of a Technology Corporation, 1879-2004, Houndmills und New York 2004, 3-12, 28-35). Doch es fehlte abseits der Frachtzentren in Berlin, Hamburg, München und Köln an Kühlhauskapazitäten. Importe wurden rasch per Bahn weiterversandt. Am Ankunftsort aber endete die Kühlkette, insbesondere in den Läden und den Haushalten. Den Experten war bereits um die Jahrhundertwende klar, dass Eier durch Kühlung am besten „frisch“ bleiben würden, auch wenn die chemischen Abbauprozesse bei Kühllagerung noch recht unbekannt waren (Prall, 1907; L. Heyn, Konservierung der Eier durch künstliche Kälte, Die Kälte-Industrie 6, 1909, 50-51, 63-64). Doch trotz der während des Ersten Weltkriegs offen sichtbaren Versorgungsprobleme lag der Anteil der Kühlhauseier noch Ende der 1920er Jahre bei lediglich vier Prozent des Gesamtumsatzes (Einlagerung von Eiern in deutsche Kühlhäuser, Blätter für landwirtschaftliche Marktforschung 2, 1931/31, 135). Eine leistungsfähige Kühlinfrastruktur war schlicht teuer. Und die preiswerte und vermeintlich bequeme Eierkonservierung durch Wasserglas und Garantol verminderte die für Wandel erforderlichen Gewinnaussichten. Mochten die Eikonserven gegenüber gekühlten Angeboten auch schlechter schmecken und höhere Bruchraten ausweisen, so waren diese doch nicht so bedeutsam, um massive Investitionen in die Kühltechnik in Gang zu setzen. Gerade in den Haushalten stand die preiswerte Eierkonservierung somit einer verbesserten Gesamtversorgung im Wege.

Die Hamburger Garantol-Fabrik

Garantol war eines der vielen neuen Eierkonservierungsmittel, die im Nachklang von Wasserglas dessen Markterfolg wiederholen, ja, übertreffen wollten (Alexander Kossowicz, Die Zersetzung und Haltbarmachung der Eier, Wiesbaden 1913, 55-68). Seine Geschichte ist – ebenso wie die der Garantol-Fabrik in Hamburg und der anfangs in Dresden, dann in Gommern resp. Heidenau ansässigen Garantol GmbH – nur indirekt nachzuzeichnen. Archivalien fehlen – ähnlich wie für die große, große Mehrzahl der Unternehmen, zumal der Konsumgüterindustrien. Staatliche Archive interessieren sich halt vorrangig für staatliches Handeln, Wirtschafts- und Firmenarchive konzentrieren sich auf größere Unternehmen. Umso wichtiger sind Rekonstruktionen wie diese, handelte es sich beim Garantol doch um ein von Abermillionen über Jahrzehnte genutztes Convenienceprodukt.

Den Beginn des Reigens machte der in Tangermünde tätige Konditor August Utescher. Sein am 5. April 1893 beantragtes und dann am 31. Mai 1894 patentiertes „Verfahren zur Conservirung von Nahrungs- und Genußmitteln von Eiern mittels eines Eisenoxydulsalzes und Calciumhydroxydes“ (Patentblatt 1894, 54) wurde von den einschlägigen Interessenten nicht nur breit rezipiert, sondern auch positiv bewertet (R. Strauch, Das Hühnerei als Nahrungsmittel und die Conservirung der Eier, Bremen 1896, 26, 28). Eier sollten demnach mittels beider Stoffe eine „künstliche Umhüllung“ erhalten, um so die Poren zu schließen und das Eindringen von Luft und Mikroorganismen zu verhindern (Chemiker-Zeitung 18, 1894, 1097-1098). Das war das anfänglich bei Wasserglas verwandte Verfahren. August Utescher regte aber auch dauerhaftes Einlegen der Eier in Garantol-Wassergemische an – und darauf konzentrierte sich das jahrelange Pröbeln seines in Hamburg ansässigen Bruders Ernst Utescher. Dieser war ein Mann vom Fach, Handelschemiker und seit 1901 Patentanwalt (Stahl und Eisen 21, 1901, 400), Gründer der noch heute bestehenden Kanzlei Harmsen Utescher. Er war zudem Herausgeber und Leiter von Uteschers Berichte, einer industrienahen Zeitschrift der Nahrungs- und Genussmittelindustrie (Jahresbericht der Pharmacie 33, 1898, 754).

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Warenzeichenschutz für ein Konservierungsmittel 1898 (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 124 v. 27. Mai, 9)

Ernst Utescher versandte von Hamburg aus erste Packungen des Konservierungsmittels seines Bruders (Pharmaceutische Centralhalle 37, 1896, 308). Der Name Garantol wurde nach seinen Angaben seit Februar 1897 genutzt (Offizial Gazette of the United States Patent Office 100, 1902, 1106). Es handelte um einen Phantasiebegriff, der Vorstellungen sicheren Konservierens mit der zunehmend modischen Wortendung -ol koppelte.

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Kein Kassenschlager – Garantol aus Hamburg (Der Materialist 20, 1899, Nr. 16, 2. S. v. 1)

Die ersten Anzeigen wandten sich vor allem an Hühnerhalter, konzentrierten sich auf Packungen für tausend oder mehr Eier. Adressat war zugleich aber der Kolonialwarenhandel: „Im Handel fehlt bisher ein wirklich gutes Conservirungsmittel für Eier, und dieser Umstand hat für den Eierhandel und den Unterschied der Eierpreise im Sommer und Winter grossen Einfluss; gute Eier haben im Winter bekanntlich den doppelten Preis und sind oft genug selbst dafür nicht zu haben. Es ist deshalb gar kein Zweifel, dass das neue, bereits in der Praxis auf’s Beste bewährte Eierconservierungsmittel Garantol ein guter Verkaufsartikel werden wird.“ Ernst Utescher verwies auf seine langjährige Forschung, verbesserte und patentierte. Und er offerierte auch Haushaltspackungen: „Das Eierconservirungsmittel Garantol wird in kleinen Packungen von 15 Pf. an (für 15, 60 Pf. und 1 Mk.) in den Handel gebracht; […]. Der Absatz des Garantols wird durch angemessene Reklame in den gelesensten Zeitschriften, durch Prospecte etc. unterstützt“ (Garantol, Der Materialist 20, 1899, Nr. 16, 3. S. v. 1).

Garantol war zu diesem Zeitpunkt ein weißlich graues Pulver, das an „pulverisirten ungelöschten Aetzkalk“ erinnerte (Neumann, Die gemeinsame Eierverwerthung durch Vermittlung der Molkereigenossenschaften, Molkerei-Zeitung 9, 1897, 515-516, hier 516). Es musste in Wasser im Verhältnis 100 zu 1 aufgelöst werden. Gefäße aus Ton und Emaille schienen ratsam, in größeren Betrieben auch aus Zement. Anschließend musste man die frischen Eier überprüfen, denn diese mussten sauber und nicht eingeknickt sein, sollten im Idealfall auch durchleuchtet werden. Dann legte man sie vorsichtig in die Gefäße, Lage um Lage. Das Wasser musste die Eier komplett abdecken, ab 1897 enthielten die Packungen zudem ein getränktes Pergamentpapier, das die Wasseroberfläche abdecken sollte. Utescher versprach bis zu drei Jahre Haltbarkeit (Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 50, 1900, 97).

Garantol war während der 1900er Jahre ein Dachbegriff für unterschiedlich zusammengesetzte Konservierungsmittel. Ernst Utescher ging – wie sein Bruder – stets von Kalkpräparaten aus, ergänzte diese jedoch um vorwiegend metallische Stoffe. Das sollte die geschmacklichen und küchentechnischen Probleme der gängigen Kalkmilch verringern. Auf die Details der Patente 86077, 98231 und 122388 muss hier nicht eingegangen werden. Kalkmilch wurde darin mit Aluminium resp. Magnesiumsulfaltlösungen vermengt oder aber Kalkwasser mit Fett resp. Paraffin imprägniert. Das wichtigste Ergebnis des Pröbelns war gewiss das im April 1901 gewährte Patent Nr. 119575, das Eisenvitriol, Kalkmilch und Paraffinöl kombinierte (Chemisches Centralblatt 71, 1900, Nr. 25, II; ebd. 72, 1901, 980). Das Einlegen funktionierte ähnlich, doch empfahl Utescher nun einerseits eine größere Wassermenge überstehen zu lassen und anderseits am Ende nochmals etwas Pulver aufzustreuen (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 5, 1902, 213). Die fachliche Resonanz war fast durchweg positiv – auch wenn man berücksichtigen muss, dass sehr viele Experten interessenbeladen werteten bzw. solche Wertungen reproduzierten (P. Welmans, Untersuchung von Eikonserven, Pharmaceutische Zeitung 58, 1903, 804; Max Müller, Ref. v. Welmans, 1903, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 8, 1904, 751-752, hier 752). Ernst Utescher, Inhaber eines chemischen Laboratoriums, sollte in den Folgejahren jedenfalls noch zahlreiche Innovationen entwickeln, insbesondere Verfahren der Margarine- und Fettproduktion sowie der Koffeinextraktion.

Verlagerung und Konkurs: Die erste Dresdener Garantol GmbH

Die Hamburger Garantol-Werke legten die Grundlagen für den späteren Erfolg; doch dieser stellte sich erst nach der Übersiedlung nach Dresden ein – und nach dem Konkurs einer ersten Gründung in der sächsischen Hauptstadt.

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Hauptgesellschafter Hermann Leonhardt (1850-1922) und frühe Produktionsstätten in Dresden, Huttenstraße 13 (Garantol, 1953, 5 (l.); ebd., 6)

Die Verlagerung nach Dresden ging mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Initiative des Geschäftsmannes Hermann Leonhardt zurück, 1900 Geschäftsführer der dann aufgelösten Dresdner Industrie GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 91 v. 14. April, 16), zugleich Eigentümer eines Hamburger Export- und Import-Geschäftes (Ebd. 1901, Nr. 304 v. 24. Dezember, 12). Er wurde 1850 in Bremen geboren (Stadtarchiv Dresden, Einäscherungsbücher 1911-1952, Rep. Nr. 9.1.24, Bd. 1923, Nr. 10016), emigrierte möglicherweise in die USA, wurde dort Farmer, gehörte aber zu dem Fünftel der deutschen Auswanderer, die wieder zurück ins Deutsche Reich kamen. Utescher verkaufte Anfang des Jahrhunderts seine Rechte peu a peu an Leonhardt, um dann gemeinsam mit ihm ein neues Unternehmen zu gründen. Die Waagschale pendelte immer stärker Richtung Leonhardt, zumal dieser im September 1902 das Warenzeichen Garantol als Sammelbegriff beantragte, was im April 1903 gewährt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 111 v. 12. Mai, 12).

Zu diesem Zeitpunkt existierte die Garantol GmbH Dresden bereits. Der im Februar 1903 unterzeichnete Gesellschaftervertrag sah „die Verwertung der von dem Handelschemiker und Patentanwalt Ernst Utescher in Hamburg erfundenen Verfahren und Mittel zur Konservierung von Eiern […] durch Fabrikation und Vertrieb der Erfindungsrechte, durch Erteilung von Lizenzen im In- und Auslande und eventuell durch Verkauf der Auslandspatente“ (Ebd. 1903, Nr. 68 v. 20. März, 19). Das Stammkapital betrug 33.000 Mark, Leonhardt und Utescher erhielten für ihre Warenzeichen und Patente 16.000 resp. 8.000 Mark angerechnet. Leonhardt übernahm die Geschäftsführung, unterstrich damit seine dominante Stellung. Ernst Utescher übertrug 1904 weitere Patente an die Garantol GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 164 v. 14. Juli, 9; ebd., Nr. 177 v. 29. Juli, 10; ebd. Nr. 192 v. 16. August, 7).

Alles schien in Ordnung, doch am Mitte Januar 1905 wurde ein Konkursverfahren eröffnet, in dessen Folge die Garantol GmbH am 30. März 1905 gelöscht wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 12 v. 14. Januar, 16; ebd., Nr. 79 v. 1. April, 19). Was war geschehen? Quellen fehlen, doch zwei Szenarien sind plausibel. Erstens können schlechte Geschäfte ursächlich gewesen sein. In den Jahren 1903 bis 1905 finden sich kaum Werbeanzeigen, nur wenige Erwähnungen in der Fachpresse. Zweitens kann es sich um einen konsequent umgesetzten Machtkampf zwischen den Gesellschaftern gehandelt habe. Mir scheint letzteres wahrscheinlicher.

Das Konkursverfahren führte nämlich zur Umgründung, nicht zum wirklichen Ende der Garantol GmbH. Sie wurde am 4. April 1905 eingetragen, ihr Zweck war „der Erwerb der Vermögensmasse der im Konkurs befindlichen bisherigen Garantol-Gesellschaft mit beschränkter Haftung sowie die Fabrikation und der Vertrieb von Eierkonservierungsmitteln unter der Bezeichnung ‚Garantol‘, der Erwerb und Betrieb gleichartiger Unternehmungen“ (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 83 v. 6. April, 16). Das Stammkapital von 20.000 Mark bestand fast gänzlich aus der von Hermann Leonhardt aufgekauften Konkursmasse. Der Dresdener Kaufmann agierte neuerlich als Geschäftsführer, der Name konnte nach Aufhebung des Konkursverfahrens beibehalten werden (Ebd., Nr. 103 v. 2. Mai, 23). Ernst Utescher war nicht mehr mit an Bord. Mag sein, dass die Geschäftsaussichten zwischen den Gesellschaftern umstritten waren. Doch Utescher hätte sich dann auszahlen lassen und verabschieden können.

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Bild-Warenzeichen für Garantol (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 125 v. 29. Mai, 17)

Spätere Aussagen Uteschers von 1906, dass er keinerlei Beziehungen zur Garantol GmbH unterhalte (E[rnst] Utescher, Zu der Veröffentlichung von A. Beythien betr. Garantol, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 12, 1906, 660-661, hier 660), unterstreichen die These einer Art feindlichen Übernahme. Die Garantol GmbH nannte Utescher jedenfalls noch 1906 in ihrer Werbung (A[dolf] Beythien, Einige neuere Erfindungen der Nahrungsmittelindustrie, ebd. 12, 1906, 467-473, hier 468-470; Ders., Bemerkungen zu vorstehenden Ausführungen des Herrn E. Utescher-Hamburg, ebd., 661-662). Das am 16. April 1907 erteilte US-Patent seiner Eierkonservierungsmethode bezeichnete ihn als „Assignor“, also als Zessionar, als Gläubiger der Garantol GmbH (Official Gazette of the United States Patent Office 127, 1905, 2685-2686; US850693). Das deutet auf ein mögliches Zerwürfnis hin. Die bis Mai 1905 erfolgten Patentanmeldungen in Frankreich, Finnland, Dänemark und Österreich liefen allerdings allesamt noch auf die Garantol GmbH (FR343045A; DI2256A; DK7444C; AT19185B). Das im Warenzeichen enthaltene U erinnerte jedenfalls bis in die 1920er Jahre an die Erfindungen Ernst Uteschers.

Garantol mal anders

Eine kleine Abirrung sei erlaubt, inmitten des Patentzwistes, von Konkurs und Neubeginn. Denn die recht enge Warenzeichenanmeldung Uteschers erlaubte zwischen 1901 und 1902 dem gewiss streng seriösen Geheimmittelanbieter Ferdinand Kögler seinerseits Garantol anzubieten – doch es handelte sich um eines der nicht nur das Mannesantlitz, sondern insbesondere die Werbespalten des Kaiserreichs zierenden Bartwuchsmittel. Er trat damit in die Fußstapfen des berühmten Prof. Migargeés, einer weltbekannten Persönlichkeit, der dieser Branche seinerzeit ins Stammbuch schrieb: „Zweifle an der Sonne Klarheit, / Zweifle an der Sterne Licht, / Zweifl‘, ob lügen kann die Wahrheit, / Nur am Barterzeuger nicht!“ (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2220, 6). Ferdinand Kögler, pardon, sein alter ego Paul Koch, der Anbieter des Bartwuchsmittels Fixolins, versprachen „großartige Erfolge“ bei der wilhelminischen „Manneswürde“ (Lustige Blätter 16, 1901, Nr. 2, 15).

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Streng reell! Fixolin (Monika 32, 1900, 454)

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Kein Schwindel! Garantol (Badische Presse 1902, Nr. 75 v. 30. März, 8)

Das Bartwuchsmittel Garantol unterstrich jedenfalls, dass Markterfolg in einer Konsumgesellschaft auf sprachlichen Fiktionen beruhte – und ohne die Kunstwelt der Worte Unordnung und Irritation drohten. Was sollte denn der Garantol-Kunde denken, als der Vertrieb des Mittels zeitweilig aussetzte und er dann mit schmissig-bangem Schritt ab November 1902 zu Harasin greifen musste, um den zarten Erfolg der Anfangskuren zu verstetigen (Münsterische Zeitung 1902, Nr. 687 v. 16. November, 6; Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 75 v. 28. März, 22).

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Streng reell! Kein Schwindel! Harasin (Das interessante Blatt 22, 1903, Nr. 182 v. 5. Juli, 12)

Garantol hieß ehedem auch eine Dachmarke für Lacke und Farben der Firma Gottfried Grün, dann der Gebrüder Kob in Prag (Militär-Zeitung 65, 1910, 998; Färber-Zeitung 25, 1914, 67). Derartige Bedeutungsvielfalt gab es auch bei anderen bekannten Konsumgütern: Mercedes ist für uns Nachgeborene eindeutig ein Vehikel, doch vor dem Ersten Weltkrieg handelte es sich auch um eine erfolgreiche Schuhmarke, Mercedes-Zigaretten wurden mehr als ein halbes Jahrhundert angeboten, die Mercedes-Werke im thüringischen Mehlis offerierten einschlägige Büro- und Schreibmaschinen. Doch zurück zum Eierkonservierungsmittel Garantol.

Die zweite Dresdener Garantol GmbH

Unter Hermann Leonhardts alleiniger Führung konsolidierte sich die Garantol GmbH seit 1905. Sie übernahm neue, im Augst 1903 angemeldete „Verfahren zum Konservieren von Eiern“ (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 132 v. 6. Juni, 10; ebd., Nr. 244 v. 15. Oktober, 10). Ein weiteres Warenzeichen wurde im Mai 1906 erteilt, das alte Uteschersche Warenzeichen 1908 gelöscht (Ebd., Nr. 125 v. 29. Mai, 17; ebd. 1908, Nr. 109 v. 8. Mai, 13). Garantol konnte nun seine Stellung als gleichwertige Alternative zum Wasserglas festigen.

Diese war 1906 von keinem geringeren als dem Dresdener Nahrungsmittelchemiker Adolf Beythien (1867-1949) in Frage gestellt worden. Er kritisierte die Zusammensetzung des Uteschers Patentes 119575, verwies auf das Ausfällen von Eisenoxydulsalz im Kontakt mit Wasser, deduzierte schließlich, dass es sich um nichts anderes „als ein mit etwas Gips, Eisenoxyd etc. verunreinigtes Ätzkalkpulver“ handele, dass Garantol letztlich nur Kalkeier zu erzeuge (Beythien, 1906, 470). Utescher versuchte diese Bedenken beiseite zu wischen, doch seine Ausführungen waren wenig überzeugend (Utescher, 1906). Ich halte es für wahrscheinlich – auch ohne Quellenbeleg –, dass Garantol daraufhin anders hergestellt wurde, nämlich aus Kalkmilch, Eisenbestandteilen (Ferrosulfat) und schließlich sehr fein vermahlene Eierschalen. Auch dieses Patent war bereits 1903 beantragt worden (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 13, 1907, 753). Die immer wieder erwähnte rötlich-graue Farbe des Eierkonservierungsmittels deutet jedenfalls in diese Richtung. Spätere Analysen bestätigten dies, hoben zugleich aber die durch den fast 70-prozentigen Kalkanteil herrührende „Verschiedenheit der Zusammensetzung“ hervor (Ed[uard] Dinslage, Garantol, Pharmazeutische Zeitung 55, 1910, 971; auch J[ohannes] Großfeld, Handbuch der Eierkunde, Berlin 1938, 297-298).

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Ludwig Grube (1885-1935), wohl in den 1930er Jahren (Garantol, 1953, 7)

Das veränderte Produktionsverfahren wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch durch eine Personalentscheidung ergänzt, die sich als Gewinn erweisen sollte. Im Mai 1913 erhielt Ludwig Grube Prokura (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 124 v. 28. Mai, 11). Glaubt man der wohl aus der Erinnerung geschriebenen, notorisch fehlerhaften, ja irreführenden Broschüre zum 50. Firmenjubiläum, so handelte es sich bei Ludwig Grube um einen strebsamen Vollwaisen, der seit einer Gärtnerlehre an Fortbildung und beruflichen Aufstieg arbeitete. Er war demnach in mehreren Industriebetrieben tätig, wurde nach Brüssel versetzt, besuchte dort die höhere Handelsschule und bewarb sich 1910 erfolgreich als Auslandskorrespondent der Garantol GmbH. Amtliche Quellen belegen, dass er 1885 als Sohn des Lehrers Heinrich Friedrich Ludwig Grube und seiner Ehefrau Juliane Maria, geb. Knolle im 100-Seelen-Örtchen Möllensen im niedersächsischen Kreis Gronau geboren worden war. Der auf die Namen August Albert Ludwig lutherisch getaufte Grube zog spätestens 1911 nach Dresden, wo er am 23. Dezember die zwei Jahre ältere Verlagsleiterin Ottilia Carolina Hedvica Siegl heiratete. Deren Eltern stammten aus dem böhmischen Dittersbach, ihr Vater war Holzhändler (alle Angaben n. Stadtarchiv Dresden, Eheaufgebote/Eheregister 1876-1927, 1911, Nr. 381). Ludwig Grube etablierte sich in der Folge in der Garantol GmbH und erhielt im Mai 1913 Prokura; wobei er im Dresdner Adressbuch erstmals 1914 und dann noch als Korrespondent zu finden war (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 124 v. 28. Mai, 11; Adreßbuch für Dresden und seine Vororte 1914, T. I, 288).

Propagierung von Zeitensprüngen: Die doppelte Garantol-Werbung in friedlichen Zeiten

Garantol wird gemeinhin mit einigen wenigen Werbeklischees aus den 1920er Jahren und dann der Zeit des Zweiten Weltkrieges verbunden. Dies spiegelt die vergleichsweise spät einsetzende aktive Werbung des Unternehmens, unterschätzt aber die beträchtliche Alltagspräsenz von Garantol bereits während des Kaiserreichs. Im Alltag der großen Mehrzahl dominierten Tageszeitungen – und darin war das neue Eierkonservierungsmittel stetig präsent. Allerdings waren es die Verkäufer selbst, vor allem Drogisten und Apotheker, seltener Konditoren und Kolonialwarenhändler, die regelmäßig im Frühjahr mit kleinen Erinnerungsanzeigen um Käufe warben.

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Kontinuierliche Werbung für ein Produkt – abseits der wechselhaften Firmenentwicklung (Westfälische Zeitung 1899, Nr. 91 v. 19. April, 4 (l.); Mülheimer Zeitung 1904, Nr. 78 v. 2. April, 4; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1905, Nr. 118 v. 20. Mai, 12 (r.))

Die Verkäufer vor Ort präsentierten Garantol vorrangig einfach, präsentierten Namen, Zweck und Preis des Konservierungsmittels. Doch es wurde auch in ansprechenderer, appellativer Form beworben:

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Elaboriertere Werbung durch Eigeninitiative (Jeversches Wochenblatt 1907, Nr. 91 v. 19. April, 4 (l.); Münsterischer Anzeiger 1912, Nr. 272 v. 14. April, 3)

Die große Mehrzahl lokaler Anzeigen für Eierkonservierungsmittel konzentrierte sich jedoch auf den Verkauf an sich. Garantol und Wasserglas waren praktisch austauschbare Convenienceprodukte, sie waren nicht näher attributierte Angebote. Wichtig war, dass man irgendeines nutzte – welches, war auch den Verkäufern letztlich gleich, denn Preis und Handelsspannen waren ähnlich. Das spiegelte sich in der Werbung präzise wieder: Dort wurde die Illusion eines klar herausragenden Hilfsmittels aufgegeben, wurden Wasserglas und Garantol gleichwertig nebeneinander gestellt.

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Austauschbare Angebote (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 96 v. 25. April, 6 (l.); Der Albtalbote 1911, Nr. 115 v. 11. Mai, 4; Durlacher Wochenblatt 1913, Nr. 78 v. 4. April, 3 (r.))

Die Garantol GmbH bot Flankenschutz für derartige lokale Werbungen. Dazu gehörten Reklamemarken, auch erste Werbeschilder. Doch diese dürften – abseits der Sammler- und Liebhaberforen – rare Ergänzungen gewesen sein. Wichtiger waren wahrscheinlich kleine Faltblätter, auch wenn diese erst in den 1930er Jahren größere Bedeutung gewannen.

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Fehlende Einheitlichkeit (Die Gartenlaube 1908, Nr. 11, Beilage, s.p. (l.); ebd., Nr. 19, Beilage s.p.; ebd. Nr. 10, Beilage, s.p. (r.))

Gleichwohl versuchte die Dresdener Firma, ihr Produkt unmittelbar anzupreisen. Dazu nutzte sie einzelne illustrierte Massenzeitschriften. Im Gegensatz zu anderen Markenartikeln dieser Zeit wurde Garantol aber nicht in der Breite beworben, stattdessen wurden jedes Jahr nur einige wenige Zeitschriften mit Anzeigen bedacht – die dann aber recht konsequent zwischen März und Juli geschaltet wurden. Die Garantol GmbH zielte dabei offenbar auf ein (klein-)bürgerliches, vielfach auch ländliches Publikum. Charakteristisch war anfangs zweierlei: Einerseits präsentierte man gerne redaktionelle Reklame, also kleine Werbetexte, die scheinbar Rat für das nun wieder notwendige, jedoch auch sparsame Einlegen der Eier boten. Anderseits aber gab es noch keine einheitliche Produktkommunikation. Garantol wurde mit sehr verschiedenen, allesamt nicht sonderlich elaborierten Motiven präsentiert, selbst der Namenszug erschien in immer wieder anderen Schrifttypen und Größen. Eier und Hühner boten visuelle Anreize, setzten sich ab von den Attraktionen der urbanen Moderne. Garantol war hilfreich, gewiss, stand zugleich aber für tradierte Lebenszuschnitte, für ruhiges, gedeihliches Leben ohne größeren Anspruch. Es ging darum, Zeit zu überbrücken, zugleich aber, sie stillzustellen. Garantol half, die natürlichen Rhythmen der Geflügelzucht mit den Anforderungen und Herausforderungen der Marktgesellschaft zu verbinden.

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Konservierte Eier – konservierter Lebenszuschnitt (Die Woche 14, 1912, H. 17, 21 (l.) und 20)

Das galt auch für die Firmenwerbung kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Sie blieb sachlich-preisend, erinnerte dabei an Geheimmittelwerbung dieser Zeit. Das eigentliche Markensignet – ein Ei mit einem U – wurde regelmäßig eingesetzt, Kosten-Nutzen-Abwägungen durch Preise unterstützt. Das zielte auf Großverbraucher und Einzelhaushalte. Neu war allerdings, dass man das Einlegen nicht nur in dem jeder Packung hinzugefügten Beipackzettel anschaulich beschrieb, sondern dass man das Vorgehen auch in Anzeigen visuell präsentierte. Dabei zeigte man jedoch kaum handelnde Personen, sondern begnügte sich mit den für den Konservierungsakt erforderlichen Gefäßen – wobei man nun vorrangig auf Glasgefäße setzte. Anleitungen zum Konservieren würden von den Käufern gewiss als Anlass zum Kauf verstanden werden. Die Nähe zum Kunden wurde nur indirekt gesucht, dieser als rationell Rechnender verstanden.

Die Stabilität des Oligopols

Derartige Formen rationaler Erinnerungswerbung sind üblich für Oligopole, also die Marktbeherrschung durch nur wenige, meist ähnlich große Anbieter. Und in der Tat konzentrierten sich hunderte kleiner und kleinster Ratgebertexte in den haus- und gartenwirtschaftlichen Zeitschriften und den Tageszeitungen zwischen 1910 und 1940 stets auf drei Verfahren: Kalk – für größere Betriebe, da etwas billiger –, Wasserglas und Garantol. Andere Anbieter versuchten immer wieder, dieses Oligopol aufzubrechen, doch sie scheiterten. Typisch hierfür war etwa Ovodura, dessen sprechender latinisierter Name schon auf die Verzehrsdauer des Eies verwies. Es handelte sich um eine fast 80-prozentige Kochsalzlösung mit etwa zwei Prozent Kaliumpermanganat (L. Heß, Die Eierkonservierungsmittel ‚Ovodura‘ und ‚Garantol‘, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 39, 1912, 456-458, hier 457). Die Eier wurden in die Salzlake gelegt, das Kaliumpermanganat zersetzte die Keime. Ovodura wurde in kleinen Packungen á zehn Gramm verkauft, 20 Pfennig sollten für 200 Eier reichen. Sie wurden 50 Minuten der Lösung ausgesetzt, konnten dann in Papier gewickelt in Körben oder Kisten aufbewahrt werden. Ovodura funktionierte, doch das Einlegen dauerte recht lang, auch der Geschmack der Eier dürfte gelitten haben. Es scheiterte. Ähnlich weitere Anbieter: Denn auch für Pun, Ovupur, Eikonservose, Antifabrolin und andere mehr galt, dass das Brechen eines bestehenden Oligopols ein klar besseres oder billigeres Produkt erforderte – oder aber neue Vertriebsformen. Andernfalls würden Großhändler und Verkäufer die mit erweiterten oder veränderten Sortimenten einhergehenden Kosten nicht tragen wollen. Die relative Marktstärke der Convenienceprodukte Wasserglas und Garantol gründete auf berechenbarer Bequemlichkeit dieser Marktakteure, die den Markt damit vor Veränderungen schützten. Der Weltenbrand des Krieges hätte einen solchen Bruch allerdings hervorrufen können.

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Scheiternde Konkurrenz (Deutscher Reichanzeiger 1913, Nr. 104 v. 3. Mai, 1 (l.); ebd. Nr. 189 v. 8. Dezember, 32 (oben r.); ebd. 1912, Nr. 110 v. 7. Mai, 18)

Nationale Pflicht und Eiermangel: Eierkonservierung im Ersten Weltkrieg

Die Eierversorgung im Deutschen Reich geriet von Beginn des Ersten Weltkrieges an unter Druck. Einerseits brach ein Großteil der Importe weg: Hauptlieferant Russland fiel als Kriegsgegner aus, Galizien war Kriegsgebiet und chinesische Ei(gelb)konserven wurden durch die völkerrechtswidrige Seeblockade der Alliierten unterbunden. 1915/16 dürften die Einfuhren bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte von ca. 167.000 Tonnen gelegen haben, 1917 bei nur mehr einem Viertel, 1918 ebbten sie dann weiter massiv ab (R[obert René] Kuczynski, Deutschlands Versorgung mit tierischen Nahrungs- und Futtermitteln, Berlin 1927, 138-140). Die einheimische Eierproduktion, über deren Höhe es nur unsichere Schätzungen gibt, nahm nicht zuletzt aufgrund der Rationierungsmaßnahmen mindestens ebenso schnell ab. Eine charakteristische Stimme vermerkte 1915: „Wir Geflügelliebhaber ziehen fast alle dieses Jahr keine Küken; der drohende Futtermangel und das stets wie ein Damoklesschwert über uns hängende Gerstefütterungsverbot der Staatsregierung rät uns dringend, unseren Bestand eher zu vermindern, als zu vermehren. Es ist ja auch ganz klar, daß zuerst versucht wird, das Großvieh durchzuhalten, die Hühner kommen erst in zweiter Linie. Die Kükenaufzucht wird erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht durch den Mangel an Kraftfuttermitteln und Reis, durch das Verbot der Verfütterung von Weizen und Hafer. Den Züchtern, die Brutapparate haben, mangelt das Petroleum“ (Eiereinlegen als Kriegsfürsorge, Daheim 51, 1914/15, Nr. 24, 26-27, hier 27). Während des Krieges sank die Geflügelhaltung um ein Drittel, die Zahl der Eier weit stärker. Die Preise stiegen massiv an, 1916 waren Eier zunehmend Hamsterware, wurden zum Vorrecht der „noch zahlungsfähigen, wohlhabenderen“ Kreise ([Ludwig] v. Bar, Die kriegswirtschaftliche Regelung der Eierversorgung im Deutschen Reich […], Berlin 1919, 2). Ab August 1916 wurde der Eierhandel strikt reguliert, eine Reichsverteilungsstelle für Nährmittel und Eier eingerichtet. Das Hamstern konnte so nicht eingedämmt werden, die Preise stiegen weiter, Eier wurden zunehmend als Tauschmittel genutzt. Nominell erhielt das versorgungsberechtigte Drittel der Bevölkerung im Jahr 1918 noch 25 Eier (Bar, 1919, 8).

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Im Tenor der Sparsamkeit (Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus 19, 1915/16, H. 35, IV (l.); Deutsche Kraft 1916, Nr. 9, 6)

Dieser massive Einbruch führte allerdings nicht zu einem ebenso massiven Einbruch beim Absatz von Eierkonservierungsmitteln. Im Gegenteil: Der Eiermangel führte zu verstärkter Eierkonservierung. Auf der einen Seite wurde ein Großteil der begehrten Waren von den Militärbehörden beschlagnahmt – und zunehmend eingelegt. Dies betraf nicht nur Lazarette und die Sicherstellung des Prunks im Großen Hauptquartier und den Stäben, sondern diente auch einer gewissen Abwechslung in der vielfach eintönigen Militärverpflegung (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 251-263). Importeier wurden durch die bei Kriegsbeginn gegründete Reichseinkaufs-Gesellschaft (ab Dezember 1914 Zentral-Einkaufs-Gesellschaft) bewirtschaftet. Neben die Kühlung trat vermehrt die Konservierung. Verfügbare heimische Eier wurden in wachsendem Maße von den Kommunalverbänden aufgekauft, um die Verteilung saisonal zu strecken und etwa das symbolisch wichtige Weihnachtsbacken zu garantieren. Die Hühnerhalter waren angesichts steigender Preise darauf erpicht, ihre Eier zur gewinnträchtigsten Zeit anbieten zu können (Eiereinlegen als Kriegsfürsorge, Daheim 51, 1914/15, Nr. 24, 26-27, hier 27). Und schließlich wurden die Verbraucher zu vermehrter Sparsamkeit angehalten – und das bedeutete ebenfalls eine zeitliche Streckung des Eierkonsums. Garantol gewann an Alltagswert, sarkastisch festgehalten am Naturallohn für neu einzustellende Haushaltshilfen: „Puddingpulver, zuckersüße, / Eingelegte Schweinefüße, / Erbsen in Konservendosen, / Dauerwürste, die aus Posen, / Eier viel, in Garantol – / und dann massig Sauerkohl“ (Kladderadatsch 70, 1917, Nr. 46, s.p.). Doch diese, schon längst nicht mehr alltäglichen Dauerwaren reichten nicht, die Hilfe trat in die Dienste eines Haushaltes mit Trüffeln und echtem Kaffee.

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Werbung um die Eierproduzenten (Das Land 24, 1915/16, 206 (l.); ebd., 255; Haus Hof Garten 38, 1916, 76 (r.))

Die Garantol GmbH profierte trotz Eiermangels von der veränderten Versorgungslage, die Umsätze stiegen „schlagartig“ (Garantol, 1953, 6). Die Werbung in Zeitungen und Illustrierten wurde fast gänzlich zurückgefahren, geworben wurde einzig noch um Hühnerhalter und Großwirtschaften. Das Konservierungsmittel etablierte sich gleichsam offiziell, wurden Garantol- und Wasserglaseier doch definitorisch als „Eier“ anerkannt (Dresdner Nachrichten 1916, Nr. 179 v. 30. Juni, 11). Ebenso wurde Garantol seit 1916 zu den „Gegenständen des täglichen Bedarfs“ gezählt (Gesetze und Verordnungen sowie Gerichtsentscheidungen […] 9, 1917, 596-597). Die Firma exportierte weiterhin Teile der Produktion, insbesondere in die USA, die Schweiz und die Habsburger Monarchie. Als Konsequenz dieser wachsenden Nachfrage errichtete die Garantol GmbH 1915/16 eine neue vierstöckige und voll mechanisierte Fabrik im nahe Dresden gelegenen Gommern. Im Sommer 1917 verlegte sie dorthin den Firmensitz (Garantol, 1953, 8; Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 168 v. 17. Juli, 10; ebd., Nr. 186 v. 7. August, 6). Diese Kleinstadt fusionierte 1920 mit zwei benachbarten Orten zur Gemeinde Heidenau. Mit einer gewissen Verzögerung schlug sich dies auch in den Anzeigen der Garantol GmbH nieder; wenngleich man im Exportgeschäft weiterhin Dresden als Anlaufpunkt angab.

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Neubau während des Weltkrieges: Produktionsstätten in Gommern (Garantol, 1953, 8)

Die kommode Lage der Anbieter kriegswichtiger Ware rief allerdings neue Wettbewerber hervor. Ihre Produkte ergänzten, die Wirkmechanismen entsprachen grob denen von Wasserglas und Garantol. Die neuen, durchweg kleinen Produzenten reagierten dabei auf die nicht geringen Versorgungsprobleme mit Eierkonservierungsmitteln insbesondere während der zweiten Kriegshälfte und der Übergangswirtschaft. Zudem nährten verschiedene Skandale mit verdorbenen Eiern Skepsis gegenüber Wasserglas und der Kühltechnik. Der Erfolg von Eiwol und Dauer-Ei, von Eiolin und Ovumol blieb jedoch begrenzt (Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 76 v. 30. März, 25; ebd. 1917, Nr. 284 v. 30. November, 17). Sie waren gleichwertiger Ersatz, weder besser, noch billiger als Wasserglas, Garantol und natürlich Kalkmilch. Das reichte nicht.

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Temporäre Substitute für Wasserglas und Garantol (Deutscher Reichanzeiger 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 11 (l.); ebd., Nr. 284 v. 30. November, 18)

Der Erste Weltkrieg stärkte also das bestehende Oligopol der Eierkonservierungsmittelanbieter. Es fehlten preiswerte und wirksame Alternativen, nicht dagegen einschlägige Forschung. Doch auch diese ergab kaum Neues, keine Innovationen. Teils wurde gar empfohlen, die von chinesischen Anbietern genutzte Borsäure einzusetzen (Über die Konservierung von Eiern, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 27, 1916/17, 381; Röhmer, Ueber Konservierung von Nahrungs- und Genussmitteln, Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen, III. F. 56, 1918, 167-220, insb. 195-202). Die führenden Mittel behaupteten sich also auch während der Kriegs- und Übergangszeit. Die Kühltechnik hatte sich parallel bewährt, war jedoch im verarmten Deutschland nach den 1920er Jahren nur mit Auslandskapital auszuweiten.

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Wachsendes Interesse am devisenträchtigen Exportgeschäft nach dem Waffenstillstand (Velhagen & Klasings Export-Anzeiger 8, 1918/19, Nr. 12, 17)

Ein gängiges Haushaltsmittel: Garantol in den 1920er Jahren

Garantol hatte sich während des Weltkrieges in einer Notsituation bewährt, sich damit als gängiges Haushaltsmittel vollends etabliert. Für das Unternehmen bedeuteten Frieden, das langsame Ende der Rationierung und der Übergangswirtschaft allerdings ein Ende einer langwierigen Sonderkonjunktur. Großkunden brachen weg, konnten durch die langsam wachsende Zahl leistungsfähiger Eierproduktionsgenossenschaften auch nicht annähernd wettgemacht werden. Aus diesem Grunde versuchte Hermann Leonhardt, das Produktportfolio zu erweitern.

Die Garantol GmbH hatte schon während ihrer ersten Dresdener Zeit ein breites Sortiment alltagsnaher Convenienceprodukte offeriert. Es handelte sich bei diesen Angeboten um typische Folgeinnovationen, also um kundennähere Ummodellierungen bereits bestehender Geräte und Alltagsprodukte. Den Anfang machte das 1903 eingetragene Promptin (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 262 v. 6. November, 11). Die Garantol GmbH vermarktete unter diesem Namen ab spätestens 1906 einerseits einen Tascheninhalator, gläsern, mit zwei birnenförmigen Stützen zum Einatmen durch die Nase, mit einer Öffnung am Boden zum Einsaugen. Der Apparat war mit Watte gefüllt, auf die Menthol oder anderes geträufelt werden konnte (Therapeutische Monatshefte 2, 1908, 423). Unter gleichen Namen produzierte sie auch ein Schnupfpulver, bestehend aus Borsäure, Menthol, ätherischen Ölen und Aromastoffen (Pharmazeutische Praxis 7, 1908, 62). Für beide galt der frühe Slogan „Promptin wirkt prompt!“ (Hamburgischer Correspondent 1907, Nr. 621 v. 7. Dezember, 4).

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Angebote abseits der Eierkonservierung (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 46, 39)

Promptin wurde in Fachzeitschriften und Illustrierten beworben, der Erfolg blieb jedoch begrenzt (Die Gartenlaube 1908, Nr. 1-4, jeweils Beilage, s.p.). Das 1904 erworbene Patent belegt, dass die Garantol GmbH anfangs breiter angelegt worden war (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 268 v. 13. November, 10). Das Eierkonservierungsmittel sollte Teil eines breiteren Angebots von Drogerieartikeln sein. Doch gerade der Asthmamarkt war hart umkämpft, so dass Flops damals die Regel, nicht die Ausnahme waren. 1930 sollte die Garantol GmbH allerdings an diesen Ausflug in die Alltagsmedizin neuerlich anknüpfen. Promptin wurde der Name einer Hustenpastille mit Lecithin. Sie gewann regionale Bedeutung (Der sächsische Erzähler 1930, Nr. 290 v. 13. Dezember, 10; Dresdner Neueste Nachrichten 1936, Nr. 268 v. 15. November, 20).

Zurück zu den Anfängen: Das ebenfalls 1903 als Sammelbegriff eingetragene Garantin mutierte anfangs zu einem Desinfektionsmittel in der Milchverarbeitung (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 262 v. 6. November, 10; Drogisten-Zeitung 22, 1907, 316). Es sollte während der Bundesrepublik als Trockenstärkesirup eine Neubelebung erfahren, als Zwischenprodukt der Lebensmittelindustrie (Hermann Koch, Die Fabrikation feiner Fleisch- und Wurstwaren, Frankfurt a.M. 1966, XXIV). Weitere Warenzeichen wurden nicht zu Produkten verdichtet: Das galt etwa für das ebenfalls 1903 beantragte Gerbholz Rosol sowie die eventuell für die Viehwirtschaft gedachten Warenzeichen Ossogen und Ossopol. Sie wurden allesamt 1913 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 187 v. 9. August, 1; ebd. Nr. 278 v. 25. November, 23).

Was 1903 begonnen und dann verworfen wurde, griff die Firma 1921 wieder auf: Im Juli weitete man den Geschäftsgegenstand auf „die Herstellung und den Vertrieb weiterer Erzeugnisse“ aus. Parallel verzehnfachte man, gewiss auch inflationsbedingt, das Stammkapital auf 200.000 Mark. Eingebracht wurde diese Summe von Hermann Leonhardt (51.000), seiner Frau Elise Leonhardt (69.000) sowie dem nun auch als Gesellschafter agierenden Prokuristen Ludwig Grube. Sie nutzten dazu bestehende Darlehensforderungen an die GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 201 v. 29. August, 12). Kurz darauf veränderte sich die Geschäftsleitung. Herrmann Leonhardt starb im Dezember 1922, schon ein Monat vorher wurde Ludwig Grube Geschäftsführer. Seine Prokura wurde aufgehoben, er durfte die GmbH nun alleine vertreten (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 274 v. 4. Dezember, 14; ebd. 1923, Nr. 40 v. 16. Februar, 14). Im Gefolge erwarb Grube zudem die Geschäftsanteile der Witwe Elise Leonhardt. Auch der Markenschutz für Garantol wurde verstärkt (Ebd., Nr. 78 v. 4. April, 1). Die Neuausrichtung und Konsolidierung der Firma endete mit der Umstellung des Stammkapitals auf 100.000 Goldmark im November 1924 (Ebd., 1924, Nr. 298 v. 18. Dezember, 16).

Grube behielt den 1921 eingeschlagenen Weg bei, mochte dieser auch auf Leonhardts Ideen zurückgehen. Dabei dürfte es auch um die Nutzung brachliegender Produktionskapazitäten handeln, stellte die Garantol GmbH bis mindestens 1924 doch auch Standardconvenienceprodukte her, etwa Vanillinzucker, Creme- und Puddingpulver (Das Leben 2, 1924/25, Nr. 15, IIb) sowie Likör- und Punschextrakte.

25_Illustrierte Familien-Zeitung_1922_Nr12_p48_Der praktische Ratgeber im Obst- und Gartenbau_37_1922_Nr18_Anzeigen_p6_Garantol_Antityphoid_Tiermedizin_Convenienceprodukte

Verbreiterte Angebote (Illustrierte Familien-Zeitung 1922, Nr. 12, 48 (l.); Der praktische Ratgeber im Obst- und Gartenbau 37, 1922, Nr. 18, Anzeigen, 6)

Langfristig folgenreicher sollte der Einstieg in den Tiermedizinmarkt werden. Ende 1920 hatte man „Lehrer Schaper’s Antityphoid“ eintragen lassen, das seit 1921 offenbar recht erfolgreich vermarktet wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 26 v. 1. Februar, 23). Es handelte sich dabei um ein Mittel gegen Durchfälle von Geflügel. Die Mischung von Eisenvitriol, Methylenblau und Salzsäure war apothekenpflichtig (Bericht über das Veterinärwesen im Freistaat Sachen für das Jahr 1921, Dresden 1922, 90). Es wurde anfangs nicht nur im Deutschen Reich, sondern insbesondere in den USA gegen Devisen vertrieben (Das Echo 41, 1922, 3207, 3701).

26_Haus Hof Garten_43_1923_p120_Deutscher Reichsanzeiger_1921_06_03_Nr127_p21_Tiermedizin_Garantol_Heidenau_Antityphoid_Essenzen_Klebstoff_Kitt_Sanril

Produkte, um die Dinge zusammenzuhalten (Haus Hof Garten 43, 1923, 120 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 127 v. 3. Juni, 21)

Neue Geschäftsfelder sollten auch durch den Klebstoff Sanril erschlossen werden. Ein gleichlautendes Sammelzeichen hatte Hermann Leonhardt bereits zwanzig Jahre zuvor für seine Hamburger Handelsfirma beantragt (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 304 v. 24. Dezember, 12). Nun wurde es durch ein Bildzeichen spezifiziert und auch für den devisenträchtigen Schweizer Markt eingetragen (Schweizerisches Handelsamtsblatt 39, 1921, 1652). Der Erfolg in dem durch Otto Rings Syndetikon dominierten Markt dürfte sich jedoch in engen Grenzen gehalten haben. Das gilt auch für die zur Schaufenster- und Messewerbung nutzbare Schokoladen- und Süßwaren-Imitationsmasse Katee, die dann unter dem Namen Garanta bis mindestens in die 1970er Jahre angeboten wurde (Deutsches Markenartikel-Adressbuch 1931, Leipzig s.a., 168; Fette, Seifen, Anstrichmittel 74, 1972, 252).

Garantol blieb das alles überragende Hauptprodukt. Angesichts des wieder steigenden Konsums – rechnerisch verbrauchte der Durchschnittsdeutsche 1900 102, 1912 111, 1925 108 und 1930 dann 139 Stück pro Jahr (Paul Gross, Der deutsche Eiermarkt, Berlin 1933, 9, 95) – hätten die Aussichten gut sein müssen. Doch die in der 2. Hälfte der 1920er Jahre engagierte geführte Debatte über qualitativ hochwertigere, vor allem auch verlässlich standardisierte Agrarprodukte verlief gegenläufig zur Haushaltskonservierung. „Frisch“ wurde zu einem immer wichtigeren Wert im Eiermarkt, die reichsweite Etablierung des „Deutschen Frischeis“ 1930 unterstrich dies. Importeier, vor dem Weltkrieg noch zu zwei Dritteln von Billiganbietern, stammten nun zu zwei Dritteln aus höherpreisigen Angeboten. Die Bedeutung der Kalkeier schwand – an sich eine Marktchance für Garantol. Doch angesichts eines qualitativ höherwertigen Gesamtangebotes sank der Stellenwert häuslich konservierter Eier.

Die Garantol-Werbung reagierte hierauf, wenngleich verhalten. Seit Mitte der 1920er Jahren wurde die Werbung einheitlicher, fokussierte sich verstärkt auf den Markenartikel als Qualitätsgarant. Das Heidenauer Unternehmen nutzte seine während des Krieges gewonnene Marktstellung, präsentierte Garantol als „bewährten“ Helfer der Hausfrau, anders als die vielen wertlosen Eiersatzmittel der „Hungerzeit“. Doch während viele der damaligen Konsumgüter nun mittels einer starken Werbefigur, eines Slogans oder aber in Alltagsituationen präsentiert wurden, warb man für Garantol öffentlich jährlich, teils mehrjährig mit nur einer, dann allerdings konsequent präsentierten Werbevorlage.

27_Velhagen & Klasings Monatshefte_40_1925-26_H1_p27_Meggendorfer Blaetter_148_1927_Nr1888_p144_Eier_Konservierungsmittel_Garantol

Markenartikelwerbung Mitte der 1920er Jahre (Velhagen & Klasings Monatshefte 40, 1925/26, H. 1, 27; Meggendorfer Blätter 148, 1927, Nr. 1888, 144)

Umsatzzahlen fehlen: Rechnet man jedoch die selbst annoncierte Zahl von 500 Millionen jährlich mit Garantol eingelegten Eiern hoch, so ergeben sich 4,2 Mio. Kleinpackungen und ein Umsatz von 1,7 Millionen Reichsmark. Angesichts von Handelsspannen von etwa 40 Prozent und dem wohl dominierenden Absatz in mittleren Packungen und Großgebinden dürfte der Inlandsumsatz jedoch bei etwa 800.000 Reichsmark gelegen haben. Garantol war angesichts der geringen Herstellungskosten gewiss eine „Cash Cow“, doch zugleich war der Absatzhorizont begrenzt. Hinzuzurechnen ist allerdings das nicht unbeträchtliche Auslandsgeschäft. Vergleicht man die Angabe mit dem Gesamtverbrauch von 1927 ca. 7,8 Milliarden Eiern (Gross, 1933, 97), ergibt sich ein Anteil von 6,4 Prozent aller Eier. Nimmt man als Bezugsrahmen jedoch allein die aus dem Deutschen Reich stammenden Eiern – 1927 ca. 44 Prozent – dann wurden mehr als 14 Prozent aller „deutschen“ Eier mit Garantol konserviert.

Auslandsmärkte: Ein Blick auf die USA und die Schweiz

Während die deutschen Eierproduzenten in den 1920er Jahren trotz beträchtlicher Rationalisierungsbestrebungen, steigender Legeleistungen und vermehrter Geflügelhaltung hinter die ausländischen Wettbewerber zurückfielen, war Garantol immer auch ein erfolgreicher Exportartikel – auch wenn es an Zahlen fehlt. Die Garantol GmbH war, wie ihr Hamburger Vorgänger, ein exportorientiertes Unternehmen. Das Vorgehen im Ausland war konventionell, doch wirksam: Patente und Warenzeichen wurden angemeldet, eine Agentur beauftragt, selten selbst eingerichtet, anschließend begann der Vertrieb, flankiert von mehr oder weniger aktiver Werbung.

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Preisende Benennung in den USA (R.B. Dunning & Co. Illustrated Catalog. Seeds 1908, 47)

Dabei orientierte man sich zumeist an den Spezifika der Auslandsmärkte. Blicken wir etwa in die USA, einen Zielmarkt, der nicht nur durch seine Größe lockte. Angesichts der im Großhandel und Transportwesen bereits weit verbreiteten Kühltechnik waren die Konsumenten zumindest in den Absatzzentren im Osten und mittleren Westen kaum mehr für häusliche Eierkonservierung zu gewinnen. Ernst Utescher hatte 1904 ein erstes Patent erhalten, ein weiteres folgte 1907 (Offizial Gazette of the United States Patent Office 127, 1907, 2686-2687). Als Warenzeichen wurde Garantol bereits 1902 eingetragen (Ebd. 100, 1902, 1106). Die Garantol GmbH nutzte diese Vorarbeiten, erhielt 1911 schließlich ihr Warenzeichen (Ebd. 168, 1911, 777). Der Vertrieb setzte spätestens 1907 ein, doch konzentrierte er sich auf die in den USA bereits recht großen Hühnerfarmen. Niedrige Preise und der gegenüber Kalkwasser bessere Geschmack waren Kaufargumente. Auch in den USA war Wasserglas der wichtigste unmittelbare Konkurrent (Special Bulletin of the Food Department of the Agricultural Experiment Station North Dakota 2, 1912, 260). Garantol wurde während des gesamten Weltkrieges angeboten (R.B. Dunning & Co. Illustrated Catalog. Seeds 1917, 58; ebd., 1918, 58; ebd., 1919, 58). Die Werbung war altbacken und selbstpreisend, präsentierte überholte Bewertungen, zielte auf Erinnerung, nicht auf Überzeugung (American Poultry World 4, 1913, 900; The Progressive Farmer 28, 1913, 665). Es ist wahrscheinlich, dass die Markterfolge seit den 1920er Jahren deutlich abnahmen, da Kühltechnik in den größeren Läden dieser Zeit bereits Standard war.

29_Am haeuslichen Herd_27_1923-24_Nr9_sp_ebd_28_1924-25_Nr8_ebd_31_1927-28_Nr13_sp_Eier_Konservierungsmittel_Garantol_Schweiz

Garantolwerbung in den 1920er Jahren in der Schweiz (Am häuslichen Herd 27, 1923/24, Nr. 9, s.p. (l.); ebd. 28, 1924/25, Nr. 8, s.p.; ebd. 31, 1927/28, Nr13, s.p. (r.))

Anfangs ähnlich, dann aber ganz anders war die Marktpräsenz in der Schweiz – und das trotz der technisch fortgerittenen Konsumgenossenschaften resp. der 1925 gegründeten Migros. Garantol wurde anfangs – sicher ab 1905, nach Eintrag des Warenzeichens (Schweizerisches Handelsamtsblatt 23, 1905, 862) – wie im Deutschen Reich vorrangig über Apotheken und Drogerien vertrieben (Hauswirtschaftlicher Ratgeber 12, 1905, 159). Eine zentrale Markenartikelwerbung fehlte mehr als ein Jahrzehnt, stattdessen pries man das Konservierungsmittel in vielen redaktionellen (Reklame-)Beiträgen und überließ es den Verkäufern vor Ort Werbung zu machen. Eine Ausnahme bildete das allerdings nachfragestarke Hotelgewerbe (Schweizer Hotel-Revue 23, 1914, Nr. 21). Während des Ersten Weltkrieges nahmen die Anzeigen von Wasserglas, Garantol und des Kalziumkarbonat-Präparates Eyoline deutlich zu. Ab den 1930er Jahren trat die Markenartikel-Werbung für Garantol dann stärker hervor und erreichte während des Zweiten Weltkrieges einen Höhepunkt. Dabei verwandte man zumeist die deutschen Werbeklischees, übersetzte deren Texte einfach ins Französische oder Italienische.

30_Le Confedere_1935_05_01_Nr51_p4_Bieler Tagblatt_1935_05_04_Nr103_p7_La Voce della Rezia_1935_05_11_Nr19_p6_Garantol_Eier_Konservierungsmittel_Schweiz

Gleiche Werbung in unterschiedlichen Sprachen (La Confédéré 1935, Nr. 51 v. 1. Mai, 4; Bieler Tagblatt 1935, Nr. 103 v. 4. Mai, 7; La Voce della Rezia 1935, Nr. 19 v. 11. Mai, 6 (r.))

Garantol wurde in der Schweiz während des gesamten Zweiten Weltkrieges beworben. Auch in der Nachkriegszeit findet man einschlägige Anzeigen, wohl von Angeboten aus der Sowjetischen Besatzungszone (La Gruyère 1947, Nr. 37 v. 20. März, 8). Es folgte eine kurzfristige Werbepause, dann aber setzte der Absatz wieder ein – nun aber von Ware aus dem badischen Grötzingen, nun wieder mit den dort verwandten Werbemotiven (Le Confédéré 1950, Nr. 39 v. 31. März, 4; Walliser Volksfreund 1950, Nr. 31 v. 18. April, 3; Neue Zürcher Nachrichten 1955, Nr. 91 v. 18. April, 5).

Ressourcenoptimierung: Garantol während des Nationalsozialismus

Nach Ende der Weimarer Republik (die ich mit den Präsidialdiktaturen 1930 ansetze) und der Machtzulassung der Nationalsozialisten und ihrer konservativen Bündnispartner änderte sich für die Garantol GmbH relativ wenig – trotz der Eierverordnung von 1932, die unter anderem eine Kennzeichnungspflicht für konservierte Eier vorsah. Die Verordnung wurde während der NS-Zeit modifiziert, galt im Grundsatz aber weiter. Der Eierkonsum ging während der Weltwirtschaftskrise beträchtlich zurück, sank durch die Beschränkungen der Importe bis 1934 weiter, lag auch 1938 noch unter den Werten der Weltwirtschaftskrise. Die NS-Zeit war eine Zeit der Eierknappheit – also schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein Umfeld, das einen sorgfältigen Umgang und damit ein Konservieren der begrenzt verfügbaren Hühnerprodukte nahelegte. Das begünstigte zwar auch die Kühltechnik, die ab 1939 in eine vor allem an Wehrmachtsinteressen ausgerichteten und bis 1942 zu einer europäischen Großraumwirtschaft erweiterten Kühlwirtschaft mündete; doch gerade die dabei offenkundige Vernachlässigung der Interessen von Handel und Konsumenten bestärkte den Zwang, Eier auf tradiertem Wege für den Winter zu konservieren.

Für die Garantol GmbH verlief das Geschäft in durchaus tradierten Bahnen – auch wenn sich die Geschäftsleitung beträchtlich veränderte. 1930 wurden gleich zwei Prokuristen benannt. Zum einen die Buchhalterin Elisabeth Menzel (1895-1990), die diese Position allerdings schon nach einem Jahr wieder verlor (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 126 v. 2. Juni, 12-13; ebd. 1931, Nr. 151 v. 2. Juli, 10). Die Tochter eines Dresdener Maurers arbeitete anfangs als Verkäuferin, heiratete 1920 einen Handlungsgehilfen, 1924 einen Werkmeister, etablierte sich in der Garantol GmbH und arbeitete für diese wohl auch später – zumindest deutet ihr Sterbeort Stuttgart darauf hin, dass sie ab 1947 die Neugründung in Grötzingen mitgestaltet hat (Stadtarchiv Dresden, Geburtsregister/Geburtsanzeigen 1876-1907, Bd. 1895, Nr. 2623; ebd. Eheaufgebote/Eheregister 1876-1927, Bd. 1920, Nr. 1240; ebd., Bd. 1924, Nr. 672). Zum anderen der Kaufmann Arthur Irmer (1901-1945), Sohn eines Dresdener Produktenhändlers, der als Oberfunker kurz vor Kriegsende bei den Versuchen der Wehrmacht starb, die vordringenden US-Truppe nach dem Fall von Neuß zu stoppen (Stadtarchiv Dresden, Sterberegister/Sterbefallanzeigen 1876-1957, Bd. 1949, Nr. 2325). Er besaß ab 1931 Gesamtprokura.

31_Dresdner Nachrichten_1935_03_05_Nr108_p14_Unternehmer_Ludwig-Grube_Todesanzeigen_Garantol_Heidenau

Todesanzeigen von Ludwig Grube 1935 (Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 108 v. 5. März, 14)

Gravierend war der Tod von Hauptgesellschafter und Geschäftsführer Ludwig Grube im Rudolf-Heß-Krankenhaus 1935 (Stadtarchiv Dresden, Sterberegister/Sterbefallanzeigen 1876-1957, Bd. 1935, Nr. 389). Otti Grube übernahm, die Auswirkungen auf das unmittelbare Geschäft waren begrenzt. Die Garantol GmbH wurde allerdings zwei Jahre später von einer Kapital- in eine Personalgesellschaft überführt: Sie firmierte nun als Grube & Co. Das folgte der nationalsozialistischen Idee des persönlich haftenden Kaufmannes, der Stärkung von Familienunternehmen. Derartige Übertragungen erfolgten damals massenhaft, denn die Durchführungsverordnungen des 1934 erlassenen Gesetzes über die Umwandlung von Kapitalgesellschaften lockten mit Steuererleichterungen, drängten mit einer erhöhten Körperschaftssteuer. Irmer führte weiterhin die Alltagsgeschäfte, zwei Kommanditen stärkten 1937 und 1938 die Finanzkraft der Firma (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 124 v. 3. Juni, 18; ebd. 1938, Nr. 6 v. 8. Januar, 12).

Das Geschäft von Grube & Co. beruhte damals vorrangig auf Garantol, Promptin und Antityphoid bildeten Ergänzungen. Die Firma bemühte sich allerdings auch während der 1930er Jahre um weitere Produkte. 1935 wurde Bartsch-Tee eingetragen, ein offenbar dem erfolgreichen und massiv beworbenen Dr. Ernst Richters Frühstückstee der Münchener Hermes-Fabrik nachempfundenes Produkt (Warenzeichenblatt 42, 1935, 487). Wie Garantol wurde es 1941 mit ansprechend geschalteter Serienwerbung propagiert, nun allerdings als deutsches Austauschprodukt für den fehlenden Tee aus Asien.

32_Westfaelische Neueste Nachrichten_1938_03_28_Nr073_p6_Fliegende Blaetter_195_1941_p400_Schlankheitstee_Garantol_Bartsch-Tee_Koerper_Fruehstueck

Vom Nischenmarkt zum Kriegsprodukt (Westfälische Neueste Nachrichten 1938, Nr. 73 v. 28. März, 6 (l.); Fliegende Blätter 195, 1941, 400)

Die naheliegende Frage nach den Beziehungen zwischen dem NS-Regime und der Garantol GmbH resp. der Firma Grube & Co. ist nicht seriös zu beantworten. Man dürfte sich angepasst, zugleich auf eine gewisse Distanz geachtet haben. Die Todesanzeigen Ludwig Grubes erschienen nicht im lokalen NS-Parteiorgan Freiheitskampf, sondern in den traditionell konservativen und demokratieskeptischen Dresdner Nachrichten. Sein 1915 geborener Sohn Hans Grube promovierte 1939 an der Handelshochschule Leipzig bei dem Betriebswirt Erich Schäfer (1900-1984), seit 1940 NSDAP-Mitglied, zugleich einer der intellektuellen Köpfe der Gesellschaft für Konsumforschung. Diese Gruppe, der auch der spätere ordoliberale Heros Ludwig Erhard (1897-1977) angehörte, war integraler Bestandteil des NS-Regimes, stand der Kriegs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus aber kritisch gegenüber (zu diesem Milieu vgl. Uwe Spiekermann, German-Syle Consumer Engineering: Victor Vogt’s Verkaufspraxis, 1925-1950, in: Jan Logemann, Gary Cross und Ingo Köhler (Hg.), Consumer Engineering, 1920s-1970s, Cham 2019, 117-145, insb. 128-132). Hans Grubes im Frühjahr 1939 geschriebene Dissertation (Werbung und Umsatzentwicklung bei Markenartikelunternehmungen, Leipzig 1941) ist eine solide, für damalige Verhältnisse weit überdurchschnittliche Arbeit, die dem gängigen NS-Jargon der Zeit keine Konzessionen machte. Anderseits kann man ab 1941 fast sicher von Zwangsarbeit bei Grube & Co. ausgehen, zumal sich in Heidenau viele kriegswichtige Unternehmen angesiedelt hatten und in Dohna-Heidenau ein Durchgangslager für Zwangsarbeiter bestand. Die spätere Enteignung erfolgte gemäß dem SMAD-Befehl Nr. 124/45 vom 30. Oktober 1945, der bei aller Willkür doch Maßnahmen gegen das Vermögen von „Amtspersonen der NSDAP, ihren führenden Mitgliedern und hervortretenden Anhängern“ vorsah (Bestimmungen der DDR zu Eigentumsfragen und Enteignungen, hg. v. Gesamtdeutschen Institut, Bonn 1971, 50-52, hier 50).

33_Illustrierter Beobachter_07_1932_p376_Die Frau und Mutter_23_1934_H4_p38_Konservierungsmittel_Eier_Garantol_Redaktionelle-Reklame

Appelle an die sparsame Hausfrau (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 376 (l.); Die Frau und Mutter 23, 1934, H. 4, 38)

Für die Öffentlichkeit war die Werbepräsenz der Garantol GmbH jedoch vorrangig. Während der Weltwirtschaftskrise und den ersten Jahren der NS-Herrschaft nutzte sie verstärkt einfache Textanzeigen, die regelmäßig auch als redaktionelle Reklame geschaltet wurde. Im Mittelpunkt standen wirtschaftliche Argumente. Eierkonservierung galt als einfacher und bequemer Bestandteil sparsamer Haushaltsführung. Wichtig war, dass auf diese Weise trotz bedrückender Not ein wenig Abwechslung in der Küche beibehalten, den Lieben eine kleine Freude bereitet werden konnte.

34_Fliegende Blaetter_178_1933_p240_ebd_p272_ebd_p336_Garantol_Eier_Konservierungsmittel

Serienwerbung mit einfachen Mitteln (Fliegende Blätter 178, 1933, 240 (l.), 272, 336 (r.))

Die Werbung war weiterhin einfach, aufwändige Formen hätten die Kernbotschaften konterkariert. Allerdings finden sich Anfang der 1930er Jahre auch Ansätze von Werbeparolen, etwa „Garantol hält Eier über ein Jahr lang frisch“. Das klang hölzern, war nicht eingängig, war stattdessen sachbezogen und ernst. Mehr wurde versucht, etwa die Propagierung des Tätigkeitswortes „garantolen“. Das hatte beim Einwecken geklappt, ebenso beim Kukirolen, der Verwendung eines damals erfolgreichen Hühneraugenmittels. Doch beim Eiereinlegen scheiterten entsprechende Sprachspiele.

35_Israelitisches Familienblatt_36_1934_Nr11_p07_Illustrierte Nuetzliche Blaetter_1936_p99_Eier_Konservierungsmittel_Garantol

Die zufriedene Hausfrau mit ihrem Winterschatz (Israelitisches Familienblatt 36, 1934, Nr. 11, 7 (l.); Illustrierte Nützliche Blätter 1936, 99)

Die Garantol GmbH begann Anfang der 1930er Jahre zudem, ihre Markenartikelwerbung zu personalisieren. Dazu wählten sie einfach skizzierte Hausfrauen, deren Konterfei nach mehreren Jahren auch verändert wurde und bei denen durchaus zwischen urbanen und ländlichen Kundinnen unterschieden wurde. Allerdings baute die Firma keine produktspezifische Werbefigur auf, wie dies damals die Margarine- oder aber die Waschmittelindustrie vormachte. Parallel bemühte sich die Heidenauer Firma um Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit, nutzte dafür aber vorrangig Werbeblätter. Im Bereich der Haushaltskonservierung war dies schon seit langem üblich.

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Anschaulichkeit auch in der Werbung – Auszüge aus einem Werbeblatt ca. 1937 (Uwe Spiekermann)

Die NS-Zeit war für die Garantol-Werke eine neuerliche Zeit des Wachstums. Dazu mochte nicht zuletzt die Wehrmacht und die an Bedeutung rasch zunehmende Gemeinschaftsverpflegung beigetragen haben. 1937 wurde in Heidenau ein erster Erweiterungsbau errichtet, um den Versand zu beschleunigen und zu erweitern. Auf der einen Seite lag ein Eisenbahnanschluss, auf der anderen Verladerampen für Lastwagen (Garantol, 1953, 11). Zudem legte die Garantol GmbH vermehrt Wert auf eine verbesserte Ansprache der Verkäufer. Das galt insbesondere für die Drogisten und Apotheker. Es war kein Zufall, dass Ludwig Grube bis zu seinem Tode auch Vorsitzender der Velidro gewesen war, des Verbandes der Lieferanten im Drogenfach (Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 108 v. 5. März, 14).

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Werbung für die Verkäufer (Deutsche Apotheker-Zeitung 50, 1935, 530)

Die Werbung war stets mit diesen Verkaufsmultiplikatoren koordiniert, auf sie nahm man besonders Rücksicht. Die Handelsspanne lag bei ordentlichen 40 Prozent und wurde auch während des Zweitens Weltkrieges nicht gesenkt, als die gebundenen Preise 1941 um etwa ein Achtel reduziert wurden (Drogisten-Zeitung 57, 1941, Nr. 10, 4). Das entsprach dem Ideal der gebunden Wirtschaft, dem ideologisierten „Leben und leben lassen“ des deutschen Kaufmanns.

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Die Krise nutzen – Werbung um Apotheker und Drogisten (Wiener Pharmazeutische Wochenschrift 73, 1940, 125)

Überraschend war der recht eigenständige Charakter der Garantol-Werbung. Obwohl sie nah an zentralen NS-Kampagnen agierte, etwa den seit 1936 im Rahmen des Vierjahresplanes initiierten „Kampf dem Verderb“-Feldzügen, der Propagierung des häuslichen Einmachens, der Förderung von Kleinsiedlung und Kleingärten sowie einer verstärkten Wertschätzung heimischer Produkte, fanden diese höchstens indirekt Widerhall in der Garantol-Markenartikelwerbung. Referenzen etwa auf das Deutsche Frauenwerk oder die Verbrauchslenkung unterblieben. Auch während des Krieges war man nicht Teil der vielgestaltigen Kampagnen um Kohlenklau oder andere mehr oder minder populäre Figuren der Verhaltensregulierung, des völkischen Nudging.

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Visuelle Ankerpunkte für Sparsamkeit und Tradition (Kleine Volks-Zeitung 1940, Nr. 182 v. 4. Juli, 12 (l.); Wiener Pharmazeutische Wochenschrift 73, 1940, Nr. 12, 1).

Bemerkenswert ist zudem die 1940, also während des Krieges, einsetzende Ausweitung der Werbung, die seither konsequent auf ansprechende Bildvorlagen und vor allem serielle Motive setzte. Die Motive knüpften an Huhn und Ei an, doch nun wurde der Alltag der Konsumenten systematisch mit einbezogen. Dieser veränderte Markenauftritt dürfte direkt auf Hans Grube zurückzuführen sein – und es ist wahrscheinlich, dass nun auch eine Werbeagentur engagiert wurde. Grubes Dissertation behandelte die Markenartikelwerbung, setzte sich insbesondere mit den auch für Garantol charakteristischen „Saisonschwankungen“ auseinander (Grube, 1941, 25). Während des Weltkrieges war er Soldat, doch das war mehr Potemkinsche Fassade als Aussage. Das Dresdner Adressbuch verortete ihn bis 1941 noch nahe beim Heidenauer Werk in der Pirnaer Straße 32, ab 1943 dann in der Dresdener Lockwitzerstraße 30 (Dresdner Adreßbuch 1941, Heidenau, 27; ebd. 1943/44, Niedersedlitz, 84). Bereits 1937 hatte er Geschäftsanteile übernommen, wenngleich er im Adreßbuch erst ab 1943 als Mitinhaber der Garantol-Gesellschaft Grube & Co. firmierte (Garantol, 1953, 12).

40_Illustrierter Beobachter_16_1941_p0052_ebd_p148_Konservierungmittel_Eier_Garantol

Verhaltensregulierung und Kaufappell (Illustrierter Beobachter 16, 1941, 52 (l.); ebd., 148)

Die neuen Werbeanzeigen setzten kaum neue Themen, banden die alten jedoch in die Kriegszeit, in die Eierrationierung ein. Der Eierkonsum sank damals reguliert, lag 1944/45 schließlich bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte: 1939/40 waren das durchschnittlich 140 Stück pro Kopf, 1941/42 87 und 1944/45 schließlich 68 (Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, s.l. s.a. (Ms.)). Das war wenig, doch immer noch fast das Dreifache von 1918/19.

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Winke auch abseits der Saison (Die Umschau 46, 1942, 176 (l.); ebd., 400)

Die Werbemotive waren ansprechend gestaltet, führten auch erstmals konsequent über die Legesaison hinaus. 1941 begann im August eine neuerliche Kampagne – also just in dem Monat, in dem zuvor die Werbesaison faktisch endete: Haushälterische Winke – recht typisch für die damalige Werbewelt, doch mit jahrzehntealten Vorläufern bei Convenienceartikeln wie Backhilfsmitteln oder Suppenpräparaten – erläuterten nun den Umgang mit Garantol und gaben Ratschläge für die Werterhaltung der Eier im getränkten Glase. Damit emanzipierte sich das Konservierungsmittel auch von seinem Mitbewerber Wasserglas, für den als Markenartikel nie geworben wurde. Garantol wurde als bewährter Helfer, als Kriegskamerad positioniert, der um die Schwierigkeiten des Kriegsalltags wusste, der jedoch optimistisch die Engpässe und Probleme überwand.

42_Straßburger Neueste Nachrichten_1943_04_16_Nr106_p7_Erlaftal-Bote_1943_04_09_Nr36_p8_Konservierungsmittel_Eier_Garantol

Zuversicht im Kriege (Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 106 v. 16. April, 7 (l.); Erlaftal-Bote 1943, Nr. 36 v. 9. April, 8)

Diese Grundhaltung und auch die stimmungs- und versorgungswirtschaftlich wichtigen Funktionen des Garantol führten denn auch dazu, dass das Konservierungsmittel noch 1943 und selbst 1944 mit recht großen Anzeigen mit visuellen Elementen beworben wurde. Dazu muss man wissen, dass Zeitungen und Zeitschriften Anfang und dann nochmals im Sommer 1942 die Werbemöglichkeiten deutlich reduzieren mussten, da die Anzeigengrößen gedeckelt wurden. Vielfach fanden sich nun ein Dutzend und mehr Motive auf einer Seite, die große Mehrzahl davon reine Werbetexte.

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Verpflichtungsdiskurse in der Volksgemeinschaft (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 4, Beil., 5; ebd., H. 11, Beil., 5)

Das galt auch für Garantol – doch mit deutlichem zeitlichem Verzug. Entsprechend nahm die relative Präsenz des Eierkonservierungsmittels 1943/44 zu. Es stand nun Seit an Seit mit den führenden Markenartikeln weit größerer Unternehmen. Obwohl die Heidenauer Firma bis Kriegsende kontinuierlich produzierte – Dresden wurde als letzte deutsche Großstadt am 8. Mai 1945 besetzt, also am Tag der Kapitulation der Wehrmacht – spiegelten letztlich aber auch deren Anzeigen den nahenden Verlust des Krieges.

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Dem Endsieg entgegen – abebbende Werbeanstrengungen 1944 (Westfälische Zeitung 1944, Nr. 179 v. 2. August, 2 (l. oben); Badische Presse 1944, Nr. 165 v. 17. Juli, 4 (l. unten); Garten-Zeitschrift 1944, Nr. 7/8, 68 (r. oben); Grenzbote 1944, Nr. 16 v. 16. April, 8)

Doppelte Wege: Garantol in Heidenau und Grötzingen

Grube & Co. überstand den Zweiten Weltkrieg ohne Zerstörungen, inklusive den massiven Bombenangriff auf Heidenau am letzten Kriegstag. Dennoch kam der Betrieb 1945 kurzfristig zum Erliegen. Otti Grube wurde von der sowjetischen Militäradministration von der Geschäftsführung ausgeschlossen, ihr Sohn Hans Grube übernahm nach Ende der Kriegsgefangenschaft im Dezember die Leitung des Familienbetriebes. Die Garantol-Werke reüssierten rasch, 1947 übertrafen sie den Beschäftigungsstand der Vorkriegszeit (Garantol, 1953, 12). Der Betrieb wurde 1946 erstmals, 1948 neuerlich beschlagnahmt (Who’s who in Germany, 4. Aufl., Ottobrunn 1972, Bd. 1, 502). Hans Grube wurde verhaftet und für viele Monate inhaftiert, flüchtete Ende 1948, Anfang 1949 dann in den Westen. Die Gründe für diese Entwicklung sind unklar, können in der NS-Zeit liegen, an wahrscheinlicher Beschäftigung von Zwangsarbeitern, an den Interessen der Besatzungsmacht oder aber der kollektivistischen Politik der SED und der Blockparteien. Eine Sichtung der einschlägigen Archivalien im Staatsarchiv Dresden steht noch aus.

Während in Heidenau die Garantol-Werke verstaatlicht wurden, zum VVB (L) und dann VEB Garantol mutierten und weiterhin Garantol und Antityphoid produzierten, nahm die bereits am 18. Oktober 1947 gegründete Dr. Grube GmbH im nahe von Karlsruhe gelegenen Grötzingen den Betrieb auf (Badische Neueste Nachrichten 1949, Nr. 18 v. 27. Januar, 3). Hans Grube wurde am 8. Juni 1949 zum allein vertretungsberechtigten Geschäftsführer bestellt (Ebd., Nr. 119 v. 18. Juni, 10), der zwischenzeitliche Geschäftsführer Otto Lips im Januar 1950 als Geschäftsführer entlassen (Ebd. 1950, Nr. 25 v. 4. Februar, 9). Im April 1950 etablierten Hans Grube, seine Mutter Otti und zwei Kommanditen zudem die Grube & Co. KG, restaurierten also den Status von 1937 (Ebd., Nr. 109 v. 30. Mai, 8), auch wenn die Garantol GmbH parallel bestehen blieb (Ebd. 1951, Nr. 53 v. 3. März, 5). Zwischen den Heidenauer und den Grötzinger Garantol-Werken kam es zu Rechtshändeln (Süddeutsche Juristen-Zeitung 5, 1950, 277). Am Ende gab es zwei Produzenten des Eierkonservierungsmittels Garantol, je einen in beiden deutschen Staaten.

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Werbeplakate für Garantol in Österreich (Wienbibliothek AC10534260-4201 (ca. 1950, l.); ebd. AC10534101-4201 (1950))

Beide Firmen knüpften teils bruchlos an die NS-Zeit an, auch in der DDR warb man mit den alten Werbeklischees. Sie entwickelten sich auch in der Folgezeit ähnlich, wenngleich mit unterschiedlicher Dynamik. Die Grötzinger Firma intensivierte rasch ihre Exporttätigkeit, besaß damit eine angesichts der damaligen Dollar-Lücke strategisch wichtige Einnahmequelle. Beide Firmen erweiterten ihr Sortiment, wobei Grötzingen deutlich aktiver war; auch durch den Ankauf US-amerikanischer Patente. Dominierte Anfang, in der DDR auch noch Ende der 1950er Jahre der Umsatz des namensgebenden Eierkonservierungsmittels, so mutierten mit dem Rückgang der Nachfrage seit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre beide Firmen zu Anbietern von Tiermedizin und Drogerieartikeln. Der Ausbau der Selbstbedienung, das Vordringen der Kühltechnik im Handel und dann auch den Haushalten, die „Massenproduktion“ von Geflügel und Eiern ließen „frische“ Eier zum Standard werden. Die Heidenauer Firma ging später in größere chemische Betriebe auf. Die Geschichte der Grube & Co. KG endete im Juni 1995, im Folgemonat auch die der Dr. Grube GmbH. Die 1985 gegründete Garantol GmbH wurde schließlich im Mai 1996 gelöscht. Wasserglas ist weiterhin verfügbar.

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Angebotspaletten der Grötzinger und der Heidenheimer Garantol-Werke (Garantol, 1953, 18 (l.); Werbezettel Garanta, s.a.)

Convenienceprodukte als Zwischenlösungen mit Beharrungsvermögen

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte es noch mit typisch wilhelminischem Optimismus geheißen: „Die Konservierung der Eier ist nur eine Frage der sich immer mehr und mehr entwickelnden Technik auf dem Gebiet“ (Kurt Woite, Kolonialgeflügel, Die Woche 14, 1912, 1109-1111, hier 1110). Die Geschichte des Konservierungsmittels Garantol belegt, dass die technische Verfügbarkeit einer überlegenen Konservierungstechnik – hier der Kühltechnik – für deren Durchsetzung nicht ausreichte. Wasserglas und Garantol ermöglichten Eier auch im Winter, mochten diese auch geschmacklich schlechter und küchentechnisch begrenzter als gekühlte oder gar frische Angebote gewesen sein. Diese Mängel aber waren überschaubar, an sie konnte man sich gewöhnen, ebenso an den saisonalen Rhythmus derartiger Verschlechterungen. Wasserglas und Garantol halfen Kriege und Krisen zu bewältigen, boten handhabbare Alternativen zum Verzicht, übertrafen zuvor übliche Konservierungsverfahren. Bequem waren diese Bequemlichkeitsprodukte aus heutiger Sicht vielleicht nicht, doch ihre Anwendung wurden seit der Jahrhundertwende zur üblichen Haushaltsroutine, so wie man auch das enorm aufwändige Waschen und Putzen lange, lange kaum hinterfragte, auch, weil dies unbezahlte Frauenarbeit war.

Garantol war Ausdruck begrenzter Anspruchshaltungen, eines Arrangements mit einem Leben, in dem das frische Ei kein Dauerangebot war. Man dachte im Jahresrhythmus, noch nicht mit der für uns geltenden Kurzlebigkeit der Ware. Convenienceprodukte stehen heute für die Beschleunigung des Marktes und des Konsums – einhundert Jahre zuvor standen sie für Stetigkeit und Verlässlichkeit. Heute, wo wir alte Waren nur als gereifte Edelprodukte schätzen, wo uns Frisches und Neues permanent umgibt, wo wir Waren wegwerfen, wenn sie ein zwar begründetes, aber doch auch imaginäres Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, heute können wir uns Convenienceprodukte als Entschleuniger, als Dynamikbremse kaum mehr vorstellen.

Garantol war just dies, war ein Grund für die nur verzögerte Einführung der Kühltechnik hierzulande. Garantol war eine Zwischenlösung in einer unvollkommenen Welt. Dieses scheinbar so nebensächliche Produkt kann uns aber vielleicht anregen darüber nachzudenken, dass wir uns auch mit vielen Zwischenlösungen begnügen, mögen diese uns auch anders präsentiert werden. Das gilt für unsere Ernährung, unsere Umwelt, unsere materielle Existenz. Vielleicht können wir im Kopfschütteln über die überwundene Zwischenlösung Garantol dann gar erkennen, wie wichtig es ist, sich möglichst mit Kernproblemen auseinanderzusetzen, um nicht Jahrzehnte zu verlieren.

Uwe Spiekermann, 14. August 2022

Wissens- und Technologietransfer auf das Land: Die Anfänge der Rübenzuckerindustrie in Kalifornien, 1850-1900

„Jemand muss beginnen – wer wird der Glückliche sein? Denn es ist sicher, dass der Tag nahe ist, an dem Tausende von Tonnen Rübenzucker in Kalifornien hergestellt werden.“ [1] Als diese Frage 1857 im amerikanischen Westen aufkam, war Rübenzucker in Kontinentaleuropa bereits ein Erfolg. [2] Der Zuckergehalt der gemeinen Rübe war im 18. Jahrhundert von deutschen Praktikern nachgewiesen worden, Extraktionstechniken folgten. Züchtungsforschung und verbesserte Maschinen führten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gründung zahlreicher Fabriken. Die Rübenzuckerindustrie gründete auf staatlicher Förderung, namentlich in Frankreich, Belgien und den deutschen Staaten, nachdem die britische Seeblockade französischer Häfen die Zerbrechlichkeit globaler Versorgungsketten deutlich gemacht hatte. Das neue ländliche Gewerbe galt als „heimisch“, denn es ermöglichte wachsende Unabhängigkeit vom globalen Rohrzuckerhandel, der vom Vereinigten Königreich und seinem wachsenden Kolonialimperium dominiert wurde. Rübenzucker war eine der ersten Industrien auf dem Lande: Die „rationale“ Landwirtschaft nutzte Wissenschaft und Technik, durchaus im Sinne des großen Vorbildes Großbritannien. Geist, angewandtes Wissen über die Natur, erlaubte die Produktion moderner Süße auf eigener Scholle. Rübenzucker galt als Triumph des Menschen über die Natur, als Sieg der Agrarwissenschaft und des Maschinenbaus über die Widrigkeiten von Boden und Klima. Die frühe Globalisierung führte eben nicht nur zur wirtschaftlichen Durchdringung und Ausbeutung kolonialer Regionen, sondern löste vielfältige Gegenreaktionen in den Zentren der westlichen Welt aus. Die Aufwertung des Rübenzuckers war Teil einer breiteren Bewegung zum Ersatz von Kolonialwaren durch heimische Substitute. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren ein Nachzügler im Zuckergeschäft. Die allein nennenswerte Rohrzuckerindustrie in Louisiana war klein; fast der gesamte Zucker, den die US-Amerikaner – seit den 1860er Jahren die zweitgrößten Pro-Kopf-Verbraucher der Welt – konsumierten, stammte damals aus der Karibik, dem Pazifikraum und aus europäischen Rübenzuckerimporten. [3] Die junge Nation musste dafür hohe Beträge an Ausländer zahlen – und gemäß den vorherrschenden Narrativen in diesem Hochzollland war eine einheimische Zuckerproduktion erforderlich, um amerikanischen Wohlstand zu sichern, um weitere Agrarsektoren aufzubauen. Mitte des 19. Jahrhunderts verfügten die USA allerdings noch nicht über die technologischen und wissenschaftlichen Kapazitäten zum Aufbau einer solchen Industrie. Getreide und Baumwolle waren die Hauptexportgüter dieses aufstrebenden, aber immer noch rückständigen Preisbrechers im Westen. Wissensbasierte Produkte waren noch Ausnahmen.

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Zukunftsvisionen: Vom Zuckerimportland zum Selbstversorger (American Sugar Industry 12, 1910, 318)

US-amerikanische Fachleute und Politiker waren Mitte des 19. Jahrhundert jedoch zuversichtlich, dass sie eine eigene Zuckerindustrie aufbauen und die europäischen Mächte in naher Zukunft gar überholen könnten: Erste Versuche der Zuckerherstellung waren zwar gescheitert, etwa die 1838 vom Bostoner Journalisten David Lee Child betriebene technische Nutzung seiner belgischen Erfahrungen [4]. Doch die Eroberung und Erschließung der neuen westlichen Territorien Mitte des 19. Jahrhunderts schien neue Chancen zu eröffnen. Als 1856 in San José erstmals Rübenzucker präsentiert wurde [5], galt die Natur als wichtigster Verbündeten der Pioniere. Stolz hieß es über Kalifornien: „Das reichste Land der Welt! Von der Natur mit allem ausgestattet, was das Herz des Menschen begehrt! Reich an Bodenschätzen; unvergleichlich an fruchtbaren Böden“ [6]. Das kalifornische Klima schien für den Rübenanbau perfekt geeignet, zwei Rübenernten pro Jahr möglich. Mochten die Arbeitskosten im Westen auch hoch sein, so sei die Sonne doch Garant für kontinuierliche Ernten und erfolgreiche Produktion. [7] Erste Versuche, in San José eine Rübenzuckergesellschaft zu gründen, scheiterten 1857 allerdings am mangelnden Interesse der Farmer. [8] Der erträumte „Garten des Pazifiks“ [9] blieb erst einmal unbestellt.

„Eine Abfolge von Katastrophen“ – Die frühe Geschichte der kalifornischen Rübenzuckerindustrie

Liest man gängige Darstellungen der US-Geschichte, so wurde diese unbefriedigende Situation durch den Einfallsreichtum des amerikanischen Kapitals und amerikanischer Unternehmer geändert, die den Weg zum Erfolg ebneten und dabei schließlich von den lokalen, bundes- und nationalstaatlichen Regierungen unterstützt wurden. [10] Wahrlich, frühe Versuche, in den 1860er und 1870er Jahren eine Rübenzuckerindustrie zu etablieren, scheiterten, doch um 1900 hatte sich die Branche bereits etabliert und schien ein mehr als überlegener Konkurrent der Rohr- und Rübenzuckerimporteure werden zu können. Dieses Narrativ einer „amerikanischen“ Erfolgsgeschichte ist jedoch höchst fragwürdig. Die amerikanische Rübenzuckerindustrie war stattdessen das Ergebnis eines Wissens- und Technologietransfers aus Europa, namentlich aus Deutschland. Sie war zudem in erster Linie das Geschäft von eingewanderten Unternehmern, allen voran des deutsch-amerikanischen Einwanderers Claus Spreckels. Die Etablierung dieser „heimischen“ Industrie war zugleich integraler Teil einer breiteren Geschichte des Imperialismus und des amerikanischen Zugriff auf Protektorate und Kolonien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Um diese Thesen zu untermauern, müssen wir ins Detail gehen: Dieser Beitrag wird Ihnen zunächst einen kurzen Überblick über die Entwicklung der kalifornischen (und US-amerikanischen) Rübenzuckerindustrie vor Ende der 1880er Jahre geben, als Claus Spreckels seine erste große Rübenzuckerfabrik in Watsonville, Kalifornien, gründete. Zweitens werde ich die Gründe für dessen Erfolg erörtern und dann drittens sein Scheitern bei der Errichtung eines großen Netzwerkes dezentraler Rübenzuckerfabriken in den frühen 1890er Jahren. Dies führte viertens zur Etablierung eines stärker zentralisierten Konzepts der Zuckerproduktion um die Jahrhundertwende, materialisiert in der für viele Jahrzehnte größten Rübenzuckerfabrik im Salinas Valley. Sie wurde zur Blaupause des raschen Wachstums der ländlichen Industrie auch abseits des Vorreiterstaates Kalifornien.

Am Anfang stand das französische Beispiel. In Kalifornien gehörten französische Rübenzuckerexperten wie Eugene Delessert zu den ersten Förderern der neuen Süßpflanze, Rübenzucker galt damals als „französisches Unternehmen“ [11]. Nach dem Goldrausch und getrieben durch steten Kapital- und Arbeitskräftezufluss war es 1857 kein Problem, Kapital für die Gründung einer ersten Rübenzuckerfabrik in San José aufzubringen [12], die von der kalifornischen State Agricultural Society enthusiastisch gefördert wurde. [13] Deren Schatzmeister J.C. Cobb hatte bereits 1855 in San José mit Experimenten begonnen. Zuckerproduktion war eben nicht irgendeine neue Branche, sondern hatte massive Koppeleffekte zur Folge: Sie würde die Versorgungsbasis des neuen US-Bundesstaates verbreitern, den Agrarhandel intensivieren und Agrarwirtschaft enger mit der industriellen Entwicklung verzahnen: „Sie beschäftigt eine große Menge an Land und Arbeitskräften, erhöht die Bodenwerte, führt zu einer Verbesserung des Viehbestands, stimuliert die verarbeitende, mechanische und andere landwirtschaftliche Arbeit im Allgemeinen.“ [14] So war es in Frankreich und Deutschland geschehen, so würde es auch im amerikanischen Westen werden. Die ermutigenden Ergebnisse dieser ersten Versuche überzeugten die kalifornischen Farmer jedoch nicht davon, die neue arbeitsintensive Kulturpflanze anzubauen, die ständige Pflege und vorsichtige Behandlung erforderte. [15] Rübenzucker blieb ein Importgut aus Frankreich und Deutschland, denn die einheimischen Farmer bevorzugten den sicheren und weniger arbeitsintensiven Getreideanbau. Die State Agricultural Society „machte die Öffentlichkeit wiederholt auf die Rübenzuckerproduktion aufmerksam“ [16], doch derartige Appelle bleiben mehr als ein Jahrzehnt praktisch echolos.

Dies änderte sich nach dem Bürgerkrieg [17]. In den späten 1860er Jahren entbrannte eine ähnliche Diskussion wie im Jahrzehnt zuvor – nun aber mit explizitem Bezug auf das erstaunliche Wachstum der deutschen, insbesondere der preußischen Rübenzuckerindustrie. Drei Gruppen trieben die neue Industrie voran: Agrarwissenschaftler, Zuckerproduzenten und Risikokapitalgeber. Während die Produzenten vorrangig versuchten, die Rohstoffbasis möglicher Fabriken zu verbreitern und von den Ergebnissen ihrer Anbauversuche meist enttäuscht waren [18], wurden die Risikokapitalgeber in den späten 1860er Jahren zur dominierenden Kraft, als in Sacramento und Alvarado die ersten Rübenzuckerfabriken gebaut wurden. [19]

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Öffentliche Ankündigung der Gründung der Sacramento Valley Beet Sugar Company 1868 (Sacramento Daily Union 1868, 27. April, 5)

Wagniskapital war mehr als ausreichend vorhanden: Als die Sacramento Beet Sugar Company am 24. April 1868 gegründet wurde, war das Grundkapital von 100.000 Dollar deutlich überzeichnet. [20] Die meisten Kapitalisten hatten jedoch nicht die geringste Ahnung von der Zuckerproduktion. Wie also der gemeinen Rübe genügend Zucker extrahieren? Der fähigste der Direktoren, William Wadsworth, ehemals Redakteur einer landwirtschaftlichen Zeitschrift, reiste zunächst in die amerikanische Fabrik in Chatsworth, Illinois [21] und dann nach Frankreich und Deutschland, um die Rübenzuckerproduktion zu studieren, Maschinen und Saatgut zu kaufen und Fachleute einzustellen, die mit der Branche vertraut waren. [22] Man glaubte, dadurch die Probleme gelöst zu haben: Wadsworth kam begeistert zurück und lobte die gegenüber Rohrzucker vergleichsweise einfache und rentable Herstellung von Rübenzucker. [23] Sein Vorschlag, das 1865 von Julius Robert im mährischen Großseelowitz entwickelte Diffusionsverfahren anzuwenden, stieß jedoch auf Skepsis. Auf Anraten eines französischen Experten testete man die neue Methode in einer kleinen Versuchsanlage, so dass die Produktion erst 1871 aufgenommen wurde. [24] Unter der Leitung eines deutschen Superintendenten und Chefingenieurs war die erste fast ausschließlich auf deutschen Maschinen und deutschem Saatgut basierende Kampagne durchaus erfolgreich. Wie parallel die frühen kalifornischen Winzer – anfangs viele deutsche, später dann zunehmend italienische Einwanderer – zogen auch die Rübenbauern ihr Saatgut anschließend selbst heran. Die Rübenanbaufläche betrug 500 Hektar, die Investition von 225.000 Dollar ermöglichte eine Verarbeitungskapazität von täglich 75 Tonnen Rüben. [25] Die Zeitungen lobten den „vollen Erfolg“ [26] der Sacramento Beet Sugar Company und erwarteten weitere und noch größere Fabriken. 1871/72 pachtete die Firma 1.100 zusätzliche Hektar, doch die Ernte wurde durch den Heerwurm, einen in Europa unbekannten Schädling, nahezu vernichtet. Es folgten Umstrukturierungen und eine weitere Vergrößerung der gepachteten Rübenflächen – und in den beiden folgenden Jahren gab es geringe Gewinne. Dennoch: Eine kalifornische Rübenzuckerproduktion schien sich zu etablieren: Mehr als 650 Männer – 150 „Weiße“ in der Fabrik und 500 „Chinesen“ auf den Feldern – waren in dem Nachfolgeunternehmen Sacramento Valley Beet Sugar Factory beschäftigt. [27] Doch die Verantwortlichen bekamen die technischen Probleme nicht vollends in den Griff, scheiterten insbesondere an der Standardisierung der Produktion. Nicht weniger als sieben technische Leiter widmeten sich der Verbesserung des Rübenanbaus, des Transports und der Verarbeitungstechnik. Verbesserungen waren sichtbar, die Reinheit des Produkts nahm zu, die Farbe des raffinierten Zuckers änderte sich von Braun zu fast Weiß, und das Unternehmen konnte eine eigene Saatgutproduktion aufbauen. 1875 galt die Zuckerindustrie vielen Investoren daher als „ein sicheres Geschäft, in das sich das Kapital mit völligem Vertrauen einbringen kann“ [28] – auch wenn es immer noch schwierig war, qualifizierte Arbeiter zu finden. Doch eine Dürre veränderte die natürlichen Rahmenbedingungen, und ein heftiger Preiskampf zwischen den Rohrzuckerraffinerien in San Francisco, darunter auch der von Claus Spreckels, führte zu Preissenkungen. Außerdem wollten die meisten Direktoren und Investoren nach dem Tod von William Wadsworth im Jahr 1874 auch erste Dividenden für ihr eingezahltes Kapital sehen. Das führte zum raschen Ende: Fabrik und Gelände wurden 1875 für 74.000 Dollar verkauft; die Maschinen brachten 45.000 Dollar ein und wurden für eine neue Rübenzuckerfabrik in Soquel verwendet. [29] Die landwirtschaftliche Presse, die das Unternehmen jahrelang als kalifornischen Vorzeigebetrieb gepriesen hatte, klagte nun über den „Mangel an sorgfältiger Betriebsführung“ [30] und dass man den offenbar minderwertigen Boden im Vorfeld nicht geprüft hatte. Bis zum letzten Kampagne 1875 stockte die Produktion immer wieder, während zugleich lukrative Führungspositionen mit Investoren und Politikern besetzt wurden, denen es an der nötigen Erfahrung und Kompetenz fehlte. [31]

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Die gängige Melange von Korruption und Geschäftssinn: Rückfragende Karikatur 1876 (Wasp 1, 1876, 81)

Günstiger war die Entwicklung der Zuckerfabrik Alvarado, die gemeinhin als die erste erfolgreiche Rübenzuckerfabrik in der kalifornischen und amerikanischen Geschichte gilt. Sie wurde 1870 mit einem Investitionsvolumen von 130.000 Dollar errichtet und nahm noch im selben Jahr die Produktion auf. [32] Die Maschinen, einschließlich der bereits veralteten Zentrifugentechnologie, wurden von der gescheiterten Fond Du Lac-Fabrik in Wisconsin gekauft. Zwei deutsche Einwanderer, die Maschinenbauer Andreas Otto und Ewald Lineau, übernahmen die Leitung des neuen Unternehmens. [33] Die mit einer Tageskapazität von 50 Tonnen Rüben eher kleine Fabrik arbeitete in den ersten vier Jahren erfolgreich und konnte die Zuckerproduktion von 500.000 Pfund im Jahr 1870 auf mehr als 1.000.000 im Jahr 1872 verdoppeln. [34] Interne Probleme führten jedoch zum Rückzug der Investoren aus Wisconsin; damit verlor man zugleich Fachwissen, zumal parallel große Teile des Maschinenparks in ein neues Werk in Soquel transferiert wurden. Im Jahr 1876 vernichtete eine weitere Dürre die gesamte Ernte, und die Fabrik wurde geschlossen. Die Alvarado Company blieb allerdings formal bestehen. Der Neuengländer Ebenezer Dyer reorganisierte das Unternehmen 1879, organisierte neues Kapital und führte die Standard Sugar Manufacturing Co. mit Maschinen aus Sacramento zum Erfolg. Unterstützt von dem deutschen Einwanderer Ernst T. Gennert war das Unternehmen das einzige kalifornische und amerikanische Rübenzuckerunternehmen, das in den 1880er Jahren erfolgreich arbeitete. Dyer etablierte sich parallel als Propagandist für den Rübenzucker, doch angesichts regelmäßig scheiternder Firmen war das Interesse potenzieller Investoren gering. [35]

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Produktionsstätten der Beet Sugar Factory Alvarado (Pacific Rural Press 30, 1885, 57)

In den 1870er Jahren gab es allerdings weitere Unternehmungen. Am wichtigsten war die bereits erwähnte Fabrik in Soquel. Sie wurde oft mit dem Namen von Claus Spreckels in Verbindung gebracht, doch gibt es keine Belege für eine etwaige finanzielle Beteiligung. [36] Rübenzucker wurde in Soquel erstmals 1869 hergestellt. Aber auch nach der Umstrukturierung der Firma im Jahr 1874 war die Santa Cruz Beet Sugar Company mit 70 Arbeitern und einer Tageskapazität von 50 Tonnen Rüben ein noch recht kleines Unternehmen. [37] Allerdings gab es zwei wichtige Besonderheiten: Erstens war es das erste kalifornische Unternehmen, das ein Vertragssystem nutzte, um Farmer für den Rübenanbau zu gewinnen – man etablierte damit das europäische System, das schon lange vor der Ernte feste Lieferungen privatrechtlich festschrieb. Zweitens regten die bis 1880 ökonomisch recht erfolgreichen fünf Kampagnen den führenden Rohrzuckerproduzenten Claus Spreckels an. Seine große Aptos-Ranch lag in der Nähe, im nahe gelegenen Watsonville sollte er sein erstes Rübenzuckerunternehmen gründen.

Misserfolge dominierten jedoch – zum Beispiel in Isleton und Alameda [38]. Wichtiger als Details zu den dortigen Firmen ist es jedoch, die Hauptgründe für die enttäuschende Entwicklung der kalifornischen und amerikanischen Rübenzuckerindustrie in den 1870er und 1880er Jahren herauszuarbeiten. Obwohl Boden und Klima – und die wachsende Nachfrage nach Zucker – an sich ideale Rahmenbedingungen für ein schnelles Wachstum der Industrie boten, waren fünf Hindernisse entscheidend für stete Misserfolge und geringe Fortschritte der neuen Industrie:

Erstens besaßen die meisten Produzenten keine fundierten Fachkenntnisse über den komplexen Prozess des Anbaus, der Herstellung und der Raffination von Rübenzucker. Importierte Maschinen und Saatgut konnten nicht effizient eingesetzt werden, denn es mangelte am Know-how, an der unaufwändigen selbständigen Regelung an sich kleiner Herausforderungen. Die angeworbenen deutschen Experten waren nicht in der Lage, diese Lücke zu schließen, zumal einige von ihnen kein Englisch sprachen, so dass sie Arbeiter und Farmer kaum anleiten konnten. [39]

Noch gravierender war zweitens der Mangel an Rüben für die Verarbeitung. Den ersten Unternehmen fehlten durchweg Rohprodukte. Die Farmer scheuten das Risiko statt der dominanten Getreidearten eine neue arbeitsintensive Hackfrucht zu kultivieren, die viel Pflege erforderte und neue Schädlinge mit sich brachte. Die Rübenpreise mochten zwar etwas höher gelegen haben als bei den bisherigen Agrarprodukten – doch für eine Umstellung hätte es stärkerer Pull- und Pushfaktoren bedurft. Das lag nicht nur an den Farmern selbst, sondern auch an einer nur gering entwickelten Beratung durch die Unternehmen oder aber bundesstaatliche agrarwissenschaftliche Institute. Dadurch nutzte man bestehende Bewässerungsmöglichkeiten nur unzureichend, blieb der Pflanzenschutz in den Kinderschuhen stecken und stellten wechselnde Witterungsbedingungen die Farmer immer wieder vor große Probleme.

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Zuckerrüben vor der Zuckerrübenraffinerie in Alvarado (Pacific Rural Press 30, 1885, 57)

Drittens war die Rübe in den 1860er und 1870er Jahren nur eine von vielen Pflanzen, die als Rohstoffbasis für eine heimische Zuckerindustrie propagiert wurden. Sorghum wurde vom Federal Bureau of Agriculture intensiv gefördert. Auch Wassermelonen schienen in den südlichen Regionen eine gute Alternative zu sein. [40]

Im Gegensatz zu Europa, wo die Rübenzuckerproduktion ein integraler Bestandteil der privatwirtschaftlichen oder genossenschaftlichen Landwirtschaft war, waren die frühen Unternehmen viertens kaum mit der landwirtschaftlichen Wissensbasis in Kalifornien verbunden – dies gewiss eine Folge der hohen Bedeutung von Wagniskapital. Die Zeitungen und auch die landwirtschaftlichen Fachzeitschriften kommentierten die bestehenden Herausforderungen und Probleme mangels Fachkompetenz kaum. Sie waren stattdessen lediglich an einer weiteren großen einheimischen Industrie interessiert, zeichneten immer wieder Wunschwelten, versprachen Investoren irreale Geschäfte.

Fünftens schmälerte schließlich der damalige, durch die Preiskämpfe der Zuckerraffinerien und ein wachsendes Rohrzuckerangebot von den Sandwich-Inseln und den Philippinen verursachte Preisverfall die Gewinne der Rübenzuckerindustrie. Verbraucher und Erzeuger wichen auf preiswerten Rohzucker aus, sahen für sich kaum Vorteile einer „heimischen“ Industrie. [41]

Ein neuer Anfang: Claus Spreckels Western Beet Sugar Company

Allen Misserfolgen zum Trotz wurde Kalifornien in den 1880er Jahren weiterhin als „das Zuckerland schlechthin“ [42] angepriesen. Doch ein neuer Realismus beendete diese „Ära der Übertreibung“ [43], das naive Lob der Rübenzuckerproduktion. Die Kalifornier waren zwar immer noch stolz darauf, über die einzige Fabrik in den Vereinigten Staaten zu verfügen, doch es war offensichtlich, dass Breitenwachstum ein anderes Geschäftsmodell erforderte.

Es war der deutsche Einwanderer Claus Spreckels, der den Unterschied machte. Er wurde in dem kleinen norddeutschen Dorf Lamstedt als Sohn von Kleinbauern geboren. Bevor er 1846 in die USA kam, erhielt er eine Volksschulausbildung und arbeitete als Landarbeiter. In seinem neuen Vaterland betätigte er sich zunächst im Einzel- und Großhandel. Im Juni 1856 siedelte Spreckels nach Kalifornien über, wo er im Einzel- und Großhandel, im Brauereiwesen und ab 1863 in der Zuckerraffination Geld verdiente. In den 1870er Jahren gelang es ihm, zum führenden Rohrzuckerproduzenten des Westens aufzusteigen. Mit Hilfe moderner Maschinen, innovativer Technik und knallharter Geschäftsprinzipien entwickelte sich seine California Sugar Refinery zum führenden kalifornischen Unternehmen. Sie bildete die industrielle Grundlage zur Verarbeitung immer größerer Importe aus dem Königreich Hawaii. Der 1876 geschlossene Reziprozitätsvertrag förderte amerikanische Direktinvestitionen, und Spreckels etablierte Zuckerplantagen in bisher unbekannter Größe. Binnen weniger Jahre schuf er einen vertikal integrierten Zuckerkonzern, der die Produktion, den Transport, die Herstellung, die Finanzierung und den Großhandel mit Rohrzucker im amerikanischen Westen beherrschte. [44]

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Herzstück des Spreckelsschen Zuckerimperiums: Die California Sugar Refinery in San Francisco 1881 (Kirk, 2000, 17)

Als „Zuckerkönig des Westens“ hatte Spreckels eine ambivalente Stellung gegenüber der kalifornischen Rübenzuckerproduktion: Ein Netzwerk einheimischer Erzeuger konnte seine beherrschende Stellung in Frage stellen. [45] Doch der deutsche Einwanderer bekämpfte die lokalen Bestrebungen nicht. Stattdessen plädierte er stets für staatlichen Zollschutz [46] und senkte in den 1880er Jahren seine Zuckerpreise nicht so weit, dass dies der Fabrik in Alvarado den Garaus gemacht hätte. [47]

Dies war für die Öffentlichkeit überraschend, den Claus Spreckels galt nicht zu Unrecht als einer der vielen rücksichtslosen und gierigen Oligarchen, die mit billigen Arbeitskräften und Preisabsprachen rasch immense Vermögen anhäuften [48]. Doch Spreckels war schon früh an Rübenzucker interessiert. Zwischen 1865 und 1867 hatte er in Preußen dessen Anbau und Herstellung studiert. [49] Sein Bruder und Geschäftspartner Peter Spreckels, nach seiner Rückkehr ins Deutsche Reich ein erfolgreicher Bankier und Investor in Sachsen, war einer der ersten Direktoren der Rübenzuckerfabrik in Alvarado. [50] Claus Spreckels nutzte zudem seine 1872 erworbene Ranch in Aptos für den Anbau von Zuckerrüben und gründete dort gar eine kleine Zuckerfabrik – die California Sugar Beet Company in Capitola –, die von 1874 bis 1879 gleichsam im Testlauf geringe Mengen Rübenzucker produzierte. [51] Zu dieser Zeit war Spreckels jedoch nicht willens, in großem Umfang in die Rübenzuckerproduktion zu investieren. In Deutschland und Frankreich war die Rübenzuckerproduktion nicht zuletzt aufgrund billiger Landarbeiter und Pächter rentabel. In Kalifornien lagen die Lohnkosten für Landarbeiter und die Preise für die von Farmern gezogenen Rüben jedoch über der Rentabilitätsschwelle. [52] Das Scheitern fast aller frühen Unternehmungen bestätigte Spreckels Bewertung.

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Spreckels Landsitz in Aptos: Versuchsort für die Rübenzuckerproduktion (Santa Cruz, 1879, n. 64)

Mitte der 1880er Jahre änderten sich jedoch die Rahmenbedingungen. Fünf Gründe bewirkten den Wandel, kaum einer davon war auf die Lage in Kalifornien zurückzuführen:

Erstens konnten aufgrund des technischen Fortschritts in Europa die Produktionskosten erheblich gesenkt werden, wenn man denn Größenvorteile nutzen konnte. [53] Das belegte auch Spreckels großbetriebliche Plantagenwirtschaft auf den Sandwich-Inseln. Trotz stetig sinkender Zuckerpreise konnte er seine Gewinne in den 1880er Jahren steigern, konnte sich dadurch zugleich gegen Wettbewerber mit ungünstigeren Kostenstrukturen durchsetzen.

Zweitens hatte der Aufbau des hawaiianischen Rohrzuckergeschäftes Spreckels gelehrt, das erfolgreiche Zuckerproduktion politische Unterstützung bedurfte. Die Vereinigten Staaten zahlten US-Investoren seit dem Reziprozitätsvertrag von 1876 eine Prämie von zwei Cent pro Pfund für die Einfuhr von Rohrzucker nach Kalifornien. Trotz einer Vertragsverlängerung 1883 war es in den späten 1880er Jahren jedoch offensichtlich, dass diese hohe Subvention nicht länger Bestand haben würde. Mit dem McKinley-Tarif von 1890 wurden sie denn auch abgeschafft. Zugleich aber etablierte er neue Subventionen für „heimische“ Produzenten: Dank der engagierten Intervention kalifornischer Interessengruppen und von Vertretern der Republikanischen Partei – in der die Familie Spreckels ein wichtiger Faktor war – erhielten amerikanische Zuckerrübenproduzenten seither eine Prämie von zwei Cent pro Pfund heimischen Zuckers. [54] Zugleich erhöhte man die Zölle für Zuckerimporte. Das waren keine Petitessen: Vor 1913 stammten bis zu zehn Prozent des US-Bundeshaushalts aus Zuckerzöllen.

Drittens erodierte in den späten 1880er Jahren die ehemals dominante Stellung von Claus Spreckels auf Hawaii. Einerseits versuchten die lokalen Plantagenbesitzer neue Wege für den Verkauf und die Raffination ihres Rohrzuckers zu finden: Bisher waren sie fast gänzlich auf die Segelschiffe und Dampfer der Spreckelsschen Oceanic Steamship Company und seine Zuckerraffinerie in San Francisco angewiesen; nun begann man angesichts sinkender Schiffsfrachtraten mit Direktsendungen nach New York, intervenierte politisch gegen die hohen Eisenfrachtraten in Washington, plante zudem eigene Raffinerien in Kalifornien. Anderseits kündigte sich ein Ende des dominanten Spreckelsschen Einflusses auf Hawaii an. 1887 brach der kalifornische „Zuckerkönig“ mit König Kalakaua, und reduzierte sein Engagement in der hawaiianischen Rohrzuckerproduktion. Zusätzlicher Rübenzucker konnte die Ressourcenbasis der Zuckerraffinerie in San Francisco zugleich verbreitern und sichern.

Viertens befand sich Spreckels ab 1887 in einem heftigen Kampf mit der neu gegründeten American Sugar Refinery Company. Nachdem er sich geweigert hatte, diesem Zuckertrust beizutreten, begann ein langer „Krieg“ zwischen dem Monopolisten im Westen und dem Quasi-Monopolisten im weitaus lukrativeren Osten. Der deutsche Immigrantenunternehmer konnte sein westliches Territorium in einem harten Preiskampf verteidigen. Dazu errichtete er in Philadelphia die größte Zuckerraffinerie der USA, griff seine Konkurrenz also an der Ostküste an, in deren Territorium. 1891 garantierte der Zuckertrust das Monopol von Spreckels im amerikanischen Westen und kaufte die Fabrik in Philadelphia für einen weit über den Investitionskosten liegenden Preis. Während dieser Auseinandersetzung war die Diversifizierung der Rohzuckerversorgung von entscheidender Bedeutung, denn man versuchte wechselseitig, die Zuckerzufuhren zu kappen. [55]

Fünftens glaubte Spreckels in den späten 1880er Jahren, dass er angesichts der seit langem währenden Agrarkrise die kalifornischen Farmer mit Versprechungen auf neuen ländlichen Wohlstand überzeugen könne. Die Getreidepreise waren beträchtlich gesunken, während die Rübenproduktion auch dank der staatlichen Subventionen eine rentable Alternative zu sein schien. Der weiterhin akute Arbeitskräftemangel sollte mit einer Kombination aus hohen garantierten Preisen, dem Anwerben nichteuropäischer Landarbeiter und neuartigen Werbemethoden gemildert, vielleicht gar überwunden werden.

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Erkundung des Landes: Mögliche Anbauflächen für Rüben- und Rohrzucker nach Untersuchungen des US-Landwirtschaftsministeriums in den späten 1880er Jahren (The Review of Reviews 15, 1897, 673)

Das Ergebnis all dieser Überlegungen war die Gründung der Western Beet Sugar Corporation am 18. Oktober 1887 mit einem Grundkapital von 500.000 Dollar. [56] Im Gegensatz zu den meisten früheren Rübenzuckerfirmen war Spreckels Unternehmung das Ergebnis sorgfältiger Vorbereitungen, einer fünfmonatigen Reise nach Deutschland, Böhmen, Belgien und Frankreich und moderner Formen der Öffentlichkeitsarbeit. Spreckels Besuch in Europa diente vor allem den Zweck, „die Durchführbarkeit der Einführung des Zuckerrübenanbaus in großem Maßstab nach europäischen Methoden in den Vereinigten Staaten zu prüfen.“ [57] Er war überzeugt, dass eine amerikanische Rübenzuckerindustrie nur mittels europäischem Wissen, Maschinen und Patenten gedeihen konnte. Zu diesem Zweck gab er 250.000 Mark für Maschinen und Patente in Köln und Prag aus und kaufte zudem 25 Tonnen Rübensamen in Frankreich und Deutschland. [58] Ebenso wichtig wie diese Investitionen in moderne Technik und den Technologietransfer von Europa nach den Vereinigten Staaten war eine breit angelegte öffentliche Kampagne für die Rübenzuckerproduktion in der Neuen Welt. Der eingewanderte Unternehmer nutzte sowohl den amerikanischen Stolz als auch die offenkundige amerikanische Rückständigkeit, um Farmer, Politiker und die Öffentlichkeit für seine Ziele zu gewinnen. Claus Spreckels präsentierte sich als starke Führungspersönlichkeit, die die Zukunft der Branche und des Landes verändern könne. Als er im September 1887 aus Europa zurückkam, erklärte er: „Ich werde niemals ruhen, bis ich die Vereinigten Staaten zum größten Rübenzuckerproduzenten, -hersteller und -markt der Welt gemacht habe, noch vor Deutschland oder Frankreich.“ [59] Die Rübenzuckerindustrie würde dazu beitragen, Abermillionen Dollar im Lande zu behalten. [60] Ähnlich wie zuvor Dyer nutzte auch Spreckels nationale und nationalistische Argumente, um für sein Privatunternehmen zu werben. Pointiert benannte er Defizite der aufstrebenden Wirtschaftsmacht: Amerikanische Mechaniker könnten zwar zahlreiche Maschinen herstellen, doch sie seien „unwissend“ [61], könnten keine moderne Rübenzuckerfabrik ausrüsten. Folgerichtig warb Spreckels Agrarchemiker und erfahrene Praktiker aus Deutschland ab. Sie würden aber nicht in typisch deutscher Manier arbeiten, sondern sich in Kalifornien mit den örtlichen Bedingungen vertraut machen, um dann sein Unternehmen optimal zu betreiben. [62] Erst so könnten die natürlichen Vorteile des Landes genutzt werden. Für Spreckels waren die Vereinigten Staaten ein Land, das Wissen aus dem Ausland benötigte, um mit den führenden europäischen Nationen, insbesondere dem Technologieführer Deutschland konkurrieren zu können. Doch einmal in die Gleise gesetzt, würde man schon an Fahrt aufnehmen, aufschließen und überholen. Selbstverständlich hatten diese an die Öffentlichkeit und Politiker gerichteten Stellungnahmen auch den Zweck, die Zollpolitik in seinem Sinne zu beeinflussen. [63]

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Die Spreckelssche Zuckerrübenfabrik in Watsonville 1889 (Shaw, 1903, 317)

Für den praktischen Erfolg waren Spreckels lokale und regionale Kampagnen in Kalifornien gewiss ebenso wichtig. Zunächst wandte er sich an lokale Politiker und Geschäftsleute, warb bei ihnen für Unterstützung seines Investitionsvorhabens. Damit schürte er bewusst den Standortwettbewerb. [64] Spreckels betonte, dass er seine Fabrik nur an dem Ort mit den besten Bedingungen und einer Mindestanbaufläche von 2.500 Acres errichten werde. [65] In zahlreichen Interviews nannte er zahlreiche Investitionsstandorte, zumeist in Kalifornien, aber auch einige in Oregon oder im Staate Washington. Die letztliche Entscheidung für Watsonville, Santa Cruz County, war nicht nur eine Folge der zuvor bestehenden und nahe gelegenen Soquel-Fabrik, den dabei gewonnen Erfahrungen vieler Farmer und den Vorarbeiten in Aptos resp. Capitola. Die Entscheidung resultierte auch aus der kostenlosen Überschreibung des Fabrikgeländes durch einen am Ort ansässigen Geschäftsmann und der ausdrücklichen Bereitschaft vieler Farmer, Verträge über die Lieferung von Rüben zu unterzeichnen. Spreckels besuchte allerdings die meisten der möglichen Standorte, traf sich dort mit lokalen Repräsentanten, um die genaueren Bedingungen seines Engagements zu erörtern. [66] Für den Kapitalisten aus San Francisco war dabei die Menge des gelieferten Rübenzuckers und die Qualität der Zuckerrüben wichtiger als die an sich nicht hohen Kosten eines Grundstücks im ländlichen Kalifornien.

Spreckels traf sich aber auch stets mit Repräsentanten der lokalen Farmer. Um diese für die neue ländliche Industrie zu gewinnen, bediente er sich im Watsonville umgebenden Pajaro-Tal einer doppelten Strategie: Zum einen verwies er auf die natürlichen Besonderheiten Kaliforniens, die einen Erfolg begünstigen würden. Für den aus Norddeutschland stammenden Spreckels waren Boden und Klima im Westen „für den Zweck günstiger als selbst in Deutschland“. [67] Die früheren Unternehmen seien aufgrund unzureichender Maschinen und mangelnder Geschäftserfahrung gescheitert. Mit ihm hätten die Farmer eine zweite Chance auf Wohlstand und höhere Einkommen als mit dem Getreideanbau. Zum anderen aber war es für Spreckels klar, dass amerikanische Farmer und Arbeiter im Anbau und in der Pflege der neuen Nutzpflanze sorgfältig zu schulen waren. [68] Der frühere Landarbeiter unterstützte so die unabhängige, freie Existenz der Farmer, während er seine eigene Rolle zurücknahm: Er sei ein Kapitalist mit Ideen, aber letztlich nur unzureichenden Fähigkeiten: „Man hat es hier vor 18 Jahren versucht und ist gescheitert, selbst als der Zucker 12 Cents pro Pfund kostete. Jetzt kann ich es schaffen, und es wird kein Misserfolg sein. Ich bin nur einer von 65.000.000 und kann nicht alles alleine machen. Ich brauche die Unterstützung der Farmer.“ [69] Spreckels predigte sein Evangelium von Wohlstand und Reichtums jedem, der bereit war, ihn zu unterstützen. Seine Fabrik in Watsonville sollte vornehmlich die Rübenzufuhren unabhängiger Farmer verarbeiten, eigenes, durch Landarbeiter bearbeitetes Rübenland sollte lediglich ergänzen. Die Lieferverträge enthielten jedoch detaillierte Vorgaben, banden so die Vertragspartner an den reibungslosen Ablauf der Produktion. Spreckels kaufte das Saatgut, Chemiker und Manager gaben Hilfestellungen, ein Prämiensystem belohnte einen höheren Zuckergehalt der abgelieferten Rüben. Der Einwandererunternehmer importierte nicht nur europäische Maschinen und Patente, sondern auch neue Formen vertragsbasierter Geschäftsbeziehungen.

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Fabrik auf dem Lande: Rübenzuckerfabrik Watsonville 1889 (The Review of Reviews 15, 1897, 677)

Die Fabrik in Watsonville war von Anfang an ein Erfolg. Obwohl die Gewinne in der ersten Kampagne bei weniger als 3.000 Dollar lagen, produzierte Spreckels fast 1.500 Tonnen Rohzucker und beschäftigte 135 Mitarbeiter. [70] Zeitgenossen lobten seinen Mut und seinen Unternehmergeist: „Die Rübenzuckerfabrik in Watsonville war die Grundlage und der Startpunkt der Rübenzuckerindustrie der Vereinigten Staaten; und Claus Spreckels war ihr Gründer und Repräsentant.“ [71] In den folgenden Jahren steigerte die Fabrik ihre Produktion, die Beschäftigtenzahl und den Gewinn. Selbst in den von Dürre geprägten späten 1890er Jahren bestätigte sie ihren Ruf als „Cash Cow“, war ihre Kostenstruktur doch günstiger als die der dann aufkommenden Konkurrenz. [72] Das Narrativ, Claus Spreckels habe „den Grundstein für einen neuen Industriezweig in Kalifornien gelegt, der dem Obstanbau an Bedeutung in nichts nachsteht“ [73] war nicht falsch. Die Gebrüder Oxnard, die 1889 in Chino eine weitere Zuckerrübenfabrik auf dem Lande gründeten, waren unmittelbare und wichtige Nachahmer. [74] Claus Spreckels unternehmerische Idee wies allerdings deutlich über Watsonville hinaus. In den späten 1880er Jahren versuchte er, Kalifornien in ein Rübenzuckerland mit einem breiten Netz dezentraler Fabriken zu transformieren. Doch diese Idee sollte erst einmal scheitern.

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Gewichtiger Nachahmer: Die Zuckerraffinerie in Chino 1895 (Los Angeles Herald 1895, Nr. 31 v. 11. November, 11)

Scheiternde Massenproduktion – Spreckels Occidental Beet Sugar Company

Für Spreckels war die Fabrik in Watsonville nur der Ausgangspunkt für ein viel größeres Unternehmen. Er glaubte an die von ihm propagierte Idee einer neuen riesigen Agrarindustrie, die ihm und vielen Kaliforniern Reichtum bringen sollte. Im April 1888 gründeten Claus Spreckels, sein ältester Sohn John D. Spreckels und einige befreundete lokale Kapitalisten die Occidental Beet Sugar Company. [75] Das Grundkapital betrug 5.000.000 Dollar, die beiden Spreckels hielten die Hälfte dieser Summe. Die Grundidee war, die Fabrik in Watsonville zu kopieren und bis zu zehn Rübenzuckerfabriken an den Orten zu errichten, an denen die Landwirte die Produktion von ausreichend Rüben für den Betrieb der Fabrik garantierten. Die Kosten für diese neuen Fabriken sollten sich auf je 400.000 bis 500.000 Dollar belaufen. Insgesamt sollte das Netzwerk 50.000 Tonnen Rübenzucker pro Jahr produzieren, wofür 350.000 bis 500.000 Tonnen Rüben benötigt worden wären. [76] Mehr als 1.500 Menschen sollten in diesen Anlagen beschäftigt werden. [77] Dies wäre eine echte Massenproduktion gewesen: Die Kosten für die Maschinen hätten erheblich gesenkt werden können, ebenso wie die Patentkosten für das Steffen-Verfahren, das fünf Jahre nach der Erfindung des Wiener Ingenieurs Carl Steffen von der Fabrik in Watsonville in Amerika eingeführt wurde. Das Netzwerk hätte den Spreckels die Möglichkeit gegeben, eine große Zahl von Facharbeitern, Führungskräften und Landwirten einzustellen und auszubilden. Das Ziel der Familie Spreckels, und damit war nun immer mehr John D. Spreckels gemeint, war es, eine auf Wissens- und Technologietransfer basierende Industrie zu entwickeln – und parallel Fachpersonal auszubilden, industrielle Kapazitäten in der Werkzeugmaschinenindustrie, im Bauwesen sowie der Agrarchemie aufzubauen. [78] Unter dem Primat wirtschaftlicher Ziele setzten diese Ideen zugleich auf Unterstützung durch Kommunal-, Landes- und Bundespolitik.

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Claus Spreckels und John D. Spreckels (Wasp 38, 1897, 18. September, 20 (l.); Hall, 1896, 748)

Für das Scheitern der Occidental Beet Sugar Company gab es zwei Hauptgründe: Erstens enttäuschte der McKinley-Tarif Claus Spreckels. Sein Sohn verkündete – natürlich auf der Suche nach politischer Unterstützung – „dass sein Vater über die Haltung des Kongresses gegenüber dem Produkt etwas beunruhigt war und dass er sich zu diesem Zeitpunkt nicht berechtigt fühlte, irgendwelche Erweiterungen in seinem Werk vorzunehmen.“ [79] Die Spreckels argumentierten, dass eine Senkung des Zuckerzolls den Ruin der Zuckerrübenindustrie in Kalifornien bedeuten würde – und konnten zumindest die zuvor lange diskutierte Prämie für die heimische Industrie sichern. [80] Es gelang ihnen jedoch weder, ein den Kongress Beine machendes „Rübenzuckerfieber“ [81] zu entfachen, noch die Senkung des in Kraft tretenden Zuckerzolls für Ausländer zu verhindern. Claus Spreckels Vision von letztlich bis zu vierhundert Rübenfabriken in den USA galt als unrealistische Fata Morgana. [82] Entsprechend nahm man mehr Rücksicht auf die deutschen Exportinteressen als es Spreckels lieb war.

Zweitens und viel wichtiger war, dass es den Spreckels nicht gelang, genügend Farmer für ihr ehrgeiziges Ziel zu gewinnen. Obwohl der Rübenzuckeranbau faktisch überwiegend von billigen asiatischen Landarbeitern betrieben wurde, konnte die weiße Farmerelite – eben keine Bauern im deutschen Sinne – nicht davon überzeugt werden, dass der arbeitsintensive Rübenanbau eine echte Alternative zum Getreide- und dem immer wichtigeren Obstanbau darstellte. Dies war nicht nur für die Familie Spreckels enttäuschend, sondern auch für staatliche Agrarwissenschaftler, die in den späten 1880er Jahren in Kalifornien mindestens zwanzig erfolgversprechende Anbaugebiete erkundet und empfohlen hatten. [83] Diese Experten argumentierten volkswirtschaftlich, mit einem abstrakten, aggregierten Nutzen des Rübenzuckeranbaus für Kalifornien und die USA. Die Spreckels versuchten dagegen, den einzelnen Farmer anzusprechen, sein individuelles Streben nach Einkommen und Wohlstand herauszukitzeln. Als Unternehmer glaubten sie an die Überzeugungskraft von Zahlen, an eine überdurchschnittliche Rendite ihrer Investitionen. So versprach Claus Spreckels, wie schon im Wettbewerb um die erste Fabrik, weitere „in jeder Ortschaft zu errichten, in der die Farmer ihm 2.500 Acres Standardrüben garantieren“ [84]. Als Investoren arbeiteten die Spreckels eng mit den örtlichen Handelskammern zusammen, die ihrerseits Farmer ansprachen und Standorte erkundeten, deren Bodenqualität die geforderte Mindestmenge an Rüben liefern konnte. Um dies zu unterstützten und zu gewährleisten, entwickelten sie einen detaillierten Aktionsplan: Sie schickten Rübensamen an die Handelskammern, diese verteilten sie an die Farmer, ergänzten die von den Spreckels erarbeiteten „Anweisungen für die Anpflanzung und den Anbau von Zuckerrüben-Samen“ um lokale Details. Die Investoren boten den Farmern zugleich eine kostenlose chemische Untersuchung ihrer Rüben im Laboratorium der California Sugar Refinery in San Francisco an. [85]

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Die kalifornische Rübenzuckerindustrie als Absatzmarkt für deutsche Maschinen (Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 7, 1891, Nr. 2, xx)

Alle diese Versuche scheiterten, mochten sie auch mit beträchtlichem Aufwand verbunden gewesen sein: San Diego war seit 1887 ein wichtiger Investitionsstandort der Spreckels geworden, erwarb man doch zahlreiche Immobilien in Coronado und der Stadt, investierte in den Hafen und die lokale Infrastruktur. An die dortige Handelskammer versandte man 800 Pakete Saatgut, die sämtlich verteilt und durch einen örtlichen Saatguthändler noch ergänzt wurden. [86] Die Spreckels lobten zudem attraktive Preise für die Rüben mit dem höchsten Saccharingehalt aus. [87] Doch das Ergebnis dieser kostenträchtigen Vorleistungen war enttäuschend: Am Ende erhielten die Spreckels nur zwei Dutzend Rübenproben zurück. Diese waren durchaus zufriedenstellend, doch es war offensichtlich, dass die Farmer des Bezirks San Diego nach anfänglichem Interesse nicht bereit waren, die neue ländliche Industrie zu unterstützen. [88] Einige Jahre später resümierte Claus Spreckels: „Ich habe versucht, Farmer in verschiedenen Teilen des Landes für Experimente mit dem Rübenanbau zu interessieren, aber es war unmöglich. Das Saatgut, das ich kostenlos verteilte, ging in den meisten Fällen verloren oder wurde als Schweinefutter verwendet, und wir hatten so gut wie keine Vorteile von unseren Anstrengungen.“ [89]

Claus und John D. Spreckels versuchten in der Tat, Farmer in ganz unterschiedlichen Regionen zu gewinnen: San Diego, Santa Cruz und Linn County, Ost-Oregon und Edmonton in Kanada waren einige der Regionen, die öffentlich diskutiert wurden. [90] In keinem dieser Orte war es möglich, eine Garantie der für den Fabrikbau erforderlichen Liefermenge zu erhalten. Obwohl aus Deutschland georderte Maschinen für mindestens eine der neuen Fabriken bereits in San Francisco lagerten [91], beschlossen die Spreckels daher, die Errichtung weiterer Rübenzuckerfabriken zu verschieben, ließen diesen Plan letztlich aber fallen. Die Occidental Beet Sugar Company wurde am 22. Dezember 1899 aufgelöst, scheiterte aber schon viel früher. [92] Claus Spreckels setzte sich dennoch weiterhin für die Rübenzuckerindustrie ein, änderte aber seine Strategie: Weihnachten 1895 warb er erneut für seine Idee: „Ich bin bereit, mich in diesem Staat durch die Errichtung von Rübenzuckerfabriken weiter zu engagieren. Ich hoffe dadurch die Kalifornier für dieses großen Thema sensibilisieren zu können, mache es aber auch zum persönlichen Vorteil.“ [93] Doch solche Appelle fruchteten nicht. Es bedurfte letztlich der Unterstützung des Staates, um Spreckels persönliche Investitionen, aber auch die kalifornische Rübenzuckerindustrie insgesamt voranzutreiben.

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Statistische Erfassung des Geschehens: Betriebsergebnisse der Spreckelsschen Western Beet Sugar Corporation 1888-1897 (Pacific Rural Press 56, 1898, 414)

„Die größte Rübenzuckerfabrik der Welt“ – Spreckels Sugar Company im Salinas Valley

In der Zwischenzeit hatte sich die Fabrik in Watsonville erfolgreich entwickelt. Von 1888 bis 1897 stieg die Menge der verarbeiteten Rüben von 15.000 auf mehr als 110.000 Tonnen, während die Menge des produzierten Rohzuckers gar auf fast 15.000 Tonnen Rohzucker verzehnfacht werden konnte. Das Unternehmen war während des gesamten Jahrzehnts rentabel, und davon profitierten nicht nur die Investoren: 1897 erhielten die Farmer 43 Dollar pro Acre mit Rüben, begonnen hatten sie 1888 mit 34 Dollar. [94] Dennoch stagnierte die kalifornische Rübenzuckerindustrie: Es gab nur drei Fabriken in Alvarado, Chino und Watsonville.

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Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft: Von Spreckels getestete Zuckerrübenvarietäten (Sacramento Daily Union 1897, Nr. 33 v. 23. September, 4)

Die Gründe hierfür spiegelten das Scheitern der Occidental Beet Sugar Company: Die Farmer zögerten und der politisch umstrittene Zollschutz machte jede Investition höchst spekulativ. Abermals preschte Claus Spreckels vor, trieb die Rübenzuckerindustrie mit neuen Investitionszusagen voran, stützte sich dabei aber nun auf eine erfolgreiche Öffentlichkeits- und politische Lobbyarbeit in Sacramento und Washington.

1896 begann er eine neue öffentliche Kampagne: Im Frühjahr gab er mehrere Interviews, in denen er seine Fähigkeit und Bereitschaft betonte, große Summen in die Rübenzuckerindustrie zu investieren. Dieses „stehende Angebot“ [95] stellte er als eine Art rational begründete Mission dar: „Ich bin bereit, meinen Glauben an den Rübenzucker mit allem Kapital zu untermauern, das erforderlich ist.“ [96] Parallel dazu erwarb Spreckels große Anbauflächen in verschiedenen Regionen des Landes. Von Mai bis Juni 1896 reiste er erneut nach Deutschland, Belgien und Frankreich, um die dortigen Technologien zu studieren und Saatgut, Patente und Maschinen zu bestellen – diesmal vor allem in Deutschland und Belgien. Anfang Juni 1896 startete er von Paris aus eine Pressekampagne und lockte in bekannter Weise kalifornische Investoren mit dem Versprechen, drei oder vier „immense Zuckerfabriken“ [97] mit einer Verarbeitungskapazität von täglich 3.000 Tonnen zu errichten. Abermals standen jedoch Farmer im Mittelpunkt seiner Vorhaben, denn ohne Rübenanbau ging nichts voran: Im Sommer startete er eine weitere Versandrunde von Saatgut an interessierte Farmer, dieses Mal allerdings gegen ein geringes Entgelt und mit einer ausführlichen Broschüre, die über den Wert der Rüben für den Boden, die Vorteile der Fruchtfolge und die wirtschaftlichen Vorteile informierte: „Je mehr sie anbauen, desto reicher werden sie sein. Ich kann alles verarbeiten, was sie anbauen können. Mein Plan wird die Rettung des Landes sein, aber es gibt viel zu tun, um dieses Ziel zu erreichen.“ [98]

Als er Ende Juli nach Kalifornien zurückkehrte, begann Claus Spreckels eine Werbetour zu mehreren Städten, die an der Errichtung derart großer Fabriken interessiert waren. Lokale Initiativen und der große Finanzier trafen sich, um eine blühende Zukunft auszumalen und von einem Leben im Überfluss zu träumen. Als Spreckels in Salinas ankam, seiner ersten Wahl, wurde er von einem Bürgerkomitee, einer großen Menschenmenge und einer Blaskapelle empfangen, die ihm den Weg zum Rathaus wies, das mit Zuckerrüben – echten und gemalten – und dem Schriftzug „Unsere Zukunftsindustrie“ [99] geschmückt war. Spreckels wurde mit einer Lobrede geehrt, in der man auf alle Erfolge des Multimillionärs verwies: „Er kennt keinen Misserfolg. […] Er ist aus einem armen Bauernjungen hervorgegangen und hat sich durch die Kraft seines eigenen unerschrockenen Geistes einen unübertroffenen Platz unter den industriellen Kräften der Welt erobert. Und doch ist er ein einfacher amerikanischer Bürger, dessen Sympathien den Arbeitern und Mechanikern gelten.“ Spreckels Pläne wurden als „der Anbruch einer neuen Ära in unserem eigenen schönen und fruchtbaren Tal“ angekündigt. In seiner Antwort präsentierte sich Spreckels als realistischer Visionär. Mantrahaft hieß es, seine Investition bräuchten Garantien für den Anbau großer Rübenmengen. Er bat um „einen gewissen Schutz“ für die aufstrebende Industrie. Er appellierte an den Stolz der Kalifornier, verwies auf deutschen Fleiß und Erfindergeist als Vorbild. Er appellierte an das Ehrgefühl der Geschäftsleute und Farmer, fragte er sie doch, ob sie in der Lage seien, mit Europäern zu konkurrieren. Ja, gewiss: Seiner Meinung nach könnten Amerikaner alles erreichen, was sie erreichen wollten. Die Rüben seien „die Rettung für die Farmer“. Spreckels beendete seine Rede mit dem Versprechen, „hier die größte Zuckerraffinerie zu errichten, die jemals auf der Erde gebaut werden wird.“ [100]

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Moderner Stahlskelettbau: Bauarbeiten im Salinas Valley 1898 (Breschini, Gudgel und Haversat, 2006, 17)

Claus Spreckels wäre nicht zur dominierenden Figur im Zuckergeschäft des Westens geworden, wenn er nur seinen eigenen Aussagen geglaubt hätte. Für Fachleute war klar, dass selbst eine Fabrik mit einer Tagesproduktion von 3.000 Tonnen Rüben kleiner sein würde als die Rübenzuckerfabriken im belgischen Wanze und im französischen Cambrai mit Kapazitäten von bis zu 4.200 Tonnen. [101] Spreckels nutzte die amerikanische Begeisterung für Superlative, um für sein neues Unternehmen zu werben, das in der Tat die mit Abstand größte amerikanische Rübenzuckerfabrik werden sollte. Parallel aber intensivierte er in den Kauf von Rübenzuckerland, denn er traute den Zusagen der regionalen Farmer nicht mehr. Als der Bau 1897 begann, besaß Spreckels 6.000 Acres Rübenzuckerland; 1919 besaß, pachtete oder betrieb das Unternehmen 66.000 Acres. [102] Die Fabrik in Watsonville wurde hauptsächlich von unabhängigen Farmern beliefert, doch zwei Drittel der Feldarbeit wurde von etwa 1000 chinesischen und japanischen Landarbeitern geleistet [103]. Das Unterfangen im Salinas Valley besaß dagegen einen eher paternalistischen Charakter. Das Unternehmen führte ein duales System ein: Zum einen ein Vertragssystem für unabhängige Farmer, zum anderen eine Art europäische Gutsstruktur, bei der Land an Kontraktnehmer verpachtet und dann von einer großen Zahl von (in diesem Fall meist asiatischen) ländlichen Vertragsarbeitern bewirtschaftet wurde. Typisch dafür war die Zusammenarbeit Spreckels mit der Heilsarmee, die im nicht fernen Fort Romie ihre erste ländliche Kolonie gründete, in der sie vor allem deutschen Einwanderern Siedlungsland zum Rübenanbau anbot. [104] Die paternalistische Haltung führte auch zur Errichtung der kleinen Stadt Spreckels unmittelbar neben der dominierenden Fabrik. Dort fanden Arbeiter, Angestellte und das Leitungspersonal ein neues Zuhause und eine Infrastruktur abseits der Firma. Diese kümmerte sich um fast alles, erwartete aber Loyalität und harte Arbeit.

Der Bau der Rübenzuckerfabrik war zugleich abhängig vom Flankenschutz durch die Bundesregierung. Der Dingley-Tarif erhöhte die Rübenzuckerzölle, schützte und förderte damit die heimische Industrie, mochten sie auch niedriger als vor 1890 liegen. [105] 1896, vor der Wahl des republikanischen Präsidenten William McKinley, setzten sich sowohl Claus Spreckels als auch John D. Spreckels – letzterer damals einer der führenden Repräsentanten der Republikanischen Partei in Kalifornien – für die Zolltariffrage ein und betrieben erfolgreich Lobbyarbeit zugunsten eines Schutzzolls. Dies erfolgte, zugleich aber wurde die Rübenzuckerindustrie indirekt unterstützt. James Wilson, der neue Landwirtschaftsminister, verstärkte die einschlägige Agrarforschung und intensivierte die Schulung und Beratung von Farmern und Investoren. Langfristig half dies, die Abhängigkeit von ausländischem Know-how, Saatgut und Maschinen zu verringern. [106] Spreckels gelang es zugleich, finanzstarke Geschäftspartner für die Finanzierung seines Vorhabens zu gewinnen. Ohne dass die Öffentlichkeit davon erfuhr, übernahm der Zuckertrust die Hälfte der Investitionen. [107]

17_Myrick_1899_pVIII_Zuckerindustrie_Ruebenzucker_Salinas_Spreckels_Produktionsstaette

Die Zuckerfabrik und der neu erstellte Ort Spreckels 1899 (Myrick, 1899, VIII)

Mit lokaler, staatlicher und finanzieller Unterstützung begannen die Bauarbeiten im Jahr 1898. Es war eine Investition von 2.500.000 Dollar, die eine ganze Region veränderte. Die Spreckels Sugar Company wurde erst am 1. März 1899 mit einem Kapital von 5.000.000 $ gegründet. Damit reorganisierte Spreckels sein kalifornisches Zuckergeschäft. Die Western Beet Sugar Company wurde von ihr übernommen, dann auch die Raffinerie in San Francisco und die neue Fabrik im Salinas Valley. [108] Claus Spreckels gehörte nicht zu den Direktoren, da er den größten Teil seiner Zuckerinteressen bereits an seine Söhne John D. und Adolph B. Spreckels übertragen hatte, die Direktoren und Großaktionäre des neuen Unternehmens wurden. [109] Die neue Fabrik kombinierte moderne Bautechnologie, nämlich eine Stahlrahmenkonstruktion und die intensive Nutzung von Elektrizität mit modernen ausländischen Maschinen – mengenmäßig nicht weniger als 2.800 Tonnen. [110] Sie verfügte über ein großes Laboratorium, in dem nicht nur Rüben im Sinne der Qualitätssicherung untersucht wurden, sondern zunehmend auch die Böden und das Endprodukt. Die Fabrik war Zentrum eines riesigen Eisenbahnnetzes [111] und eines „verschlungenen Netzes von Straßen, […] Mülldeponien, Bewässerungskanälen, Brunnen und Pumpen sowie Rohrleitungen“. [112] Während der Kampagne beschäftigte das Werk fast 700 Arbeiter. Die tägliche Wasserversorgung betrug damals 13.000.000 Gallonen – die gleiche Menge wie San Francisco. Durch die konsequente Nutzung von Skaleneffekten konnten die Produktionskosten erheblich gesenkt werden. Während die Fabrik in Alvarado in den späten 1880er Jahren sechs Dollar pro Tonne Rüben aufwandte, waren es in Salinas nur noch zwei Dollar. [113] Die kontinuierliche voll mechanisierte Produktion gründete auf einem Bewässerungssystem, durch das selbst schwere Dürren wie in den späten 1890er Jahren überstanden werden konnten. Zudem hatte Spreckels dafür gesorgt, dass fast alle Nebenprodukte der Rübenzuckerproduktion verwertet wurden: Die Zuckerschnitzel boten Futter für 600 Kühe, damals noch unüblich. [114]

18_San Francisco Call_1899_09_01_Nr093_p03_Zuckerindustrie_Kalifornien_Salinas_Produktionsstaette_Claus-Spreckels_Ruebenzucker

Ikone des modernen Kaliforniens: Die Monsterfabrik im Salinas-Tal 1899 (San Francisco Call 1899, Nr. 93 v. 1. September, 3)

Spreckels Unternehmen in Salinas erwirtschaftete von Beginn an Gewinne – und blieb jahrzehntelang die größte amerikanische Rübenfabrik. Als eine Art siegreiche Festung in einem Umfeld langer relativer Stagnation wurde sie erst 1982 geschlossen. Wichtiger aber noch war, dass dieses „Mammut-Zuckerunternehmen“ [115] zu einem unerreichten Vorbild für die gesamte Rübenzuckerindustrie wurde – in Kalifornien und in den Vereinigten Staaten. Ab 1897 wurde eine Rübenzuckerfabrik nach der anderen gebaut: die American Beet Sugar Company, Oxnard in Ventura County, ein 500-Mann-Unternehmen, das von den Oxnards organisiert wurde, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Führung in der Branche übernehmen sollten [116]; die Los Alamitos Sugar Company, Los Angeles im Orange County; die California Beet Sugar & Refining Company, Crockett im Contra Costa County; und die Union Sugar Company in Santa Maria.

19_Out West_35_1912_p345_Zuckerindustrie_Kalifornien_Oxnard_American-Beet-Sugar-Factory_Produktionsstaette

Erfolgreiche Mitzügler: American Beet Sugar Factory, Oxnard (Out West 35, 1912, 345)

Von 1898 bis 1913 wurden in den Vereinigten Staaten insgesamt sechsundachtzig Rübenzuckerfabriken gebaut, die Hälfte davon bis 1903. [117] Kalifornien verlor seine führende Position an andere Staaten, insbesondere an Michigan und Nebraska. Die Spreckels Sugar Company blieb jedoch ein Wahrzeichen für die Pionierrolle Kaliforniens und des eingewanderten Unternehmers Claus Spreckels.

Schlussfolgerungen

Die Analyse der Entwicklung der frühen kalifornischen und amerikanischen Rübenzuckerindustrie steht nicht nur für sich allein. Sie mündet vielmehr in Thesen auch für breitere Themen:

Erstens machten Einwanderer den Unterschied. Obwohl das Kapital vielfach von amerikanischen Investoren kam, wurde die Rübenzuckerindustrie vor allem von französischen und deutschen Einwanderern vorangetrieben. Ihr Fachwissen und ihre persönlichen Netzwerke ebneten den Weg für neue Unternehmen in Kalifornien, für Arbeit und Wohlstand in der neuen Welt.

Zweitens basierte die Rübenzuckerindustrie auf einem intensiven Technologietransfer von Europa, insbesondere von Deutschland und Österreich-Ungarn nach Kalifornien. Der westliche Bundesstaat bot ein günstiges Klima und gute Böden, aber ohne moderne Maschinen, Patente und auch Saatgut hätte sich die neue Industrie auf dem Lande nicht entwickeln können. Europäisches Know-how war entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung des amerikanischen Westens.

Drittens waren die reichen Böden und das günstige Klima nicht nur ein Vorteil, sondern auch eine Belastung für die Entwicklung der kalifornischen Landwirtschaft. Die frühe Konzentration auf die Getreide- und dann auch Obstproduktion mündete in Zurückhaltung bei arbeitsintensiven Agrargütern, insbesondere bei Hackfrüchten. Die globale Wirtschaft des späten 19. Jahrhunderts führte daher nicht nur zur Spezialisierung und Nutzung naturaler Rahmenbedingungen, sondern auch zur Übernahme europäischer „Cash crops“ und entsprechender Anbauweisen.

Viertens machte die Fallstudie deutlich, dass „Amerika“ – ein Begriff ohne klar definierte Substanz – immer auch ein Mythos zur Durchsetzung von Partikularinteressen war. Das Paradoxon, dass es sich bei der „heimischen“ Industrie vorrangig um ein Geschäft erfolgreicher Einwanderer war, wurde nie reflektiert, weil der Begriff „Amerika“ der Sammlung diente und zumeist in Zukunftskontexten verwendet wurde. Ähnlich wie bei der Selbstdarstellung von Claus Spreckels als Mann ohne Fehl und Tadel, wurden Visionen einer zuckerexportierenden USA, von Wohlstand und Überfluss für alle Bürger genutzt, um Kapital, Arbeitskräfte, Subventionen, Prämien und Zölle zu mobilisieren. Der Mythos „Amerika“ (und gewiss auch „Kalifornien“) war eine dynamische Fiktion, die zur Entwicklung des Landes auch nach dem Ende der Frontier-Ära beitrug. Er wurde nicht nur von der/den Regierung(en) genutzt, um mit anderen Nationen zu konkurrieren, sondern auch von eingewanderten Unternehmern, um dadurch Ressourcen in ihrem Sinne zu erschließen.

Fünftens kann die Entwicklung der kalifornischen Rübenzuckerindustrie als Prisma für allgemeinere Themen der amerikanischen Geschichte genutzt werden: Die Erschließung und Ausbeutung des Westens, das Erstarken Amerikas im Zeitalter des Imperialismus, die Kommodifizierung von „Cash Crops“, die Nutzung (und der Missbrauch) der „Natur“, die Rassenfrage und die Idee der Vorherrschaft des weißen Mannes, die sich verändernden ethnischen Hierarchien in einer Einwanderungsgesellschaft, etc. Die erfolgreiche Entwicklung einer neuen Industrie auf dem Lande bietet damit einen Schlüssel zu all den bitteren und rückfragenden Geschichten, die für die Mehrheit der Kalifornier typischer waren als die süße Karriere des Zuckerkönigs Claus Spreckels.

Uwe Spiekermann, 14. Juli 2022

Quellen und Literatur

[1] Who will Pioneer the Manufacture of Beer Sugar?, California Farmer and Journal of Useful Sciences 8, 1857, Nr. 2.
[2] Vgl. Max-Ferdinand Krawinkel, Die Rübenzuckerwirtschaft im 19. Jahrhundert in Deutschland: Analyse und Bewertung der betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Entwicklung , Köln 1994; Herbert Pruns, Innovationen in der Rübenzuckerindustrie – Ein frühes Segment des Industrialisierungsprozesses, in Rolf Walter (Hg.), Innovationsgeschichte, Stuttgart 2007, 209-248.
[3] For details and data s. Roy A. Ballinger, A History of Sugar Marketing, Washington 1971.
[4] David Lee Child, The Culture of the Beet, Boston 1840.
[5] Beet Sugar in California, California Farmer and Journal of Useful Sciences 39, 1873, Nr. 2 v. 30. Januar.
[6] Letter from Rev. B. Corwin, Ebd. 8, 1857, Nr. 21.
[7] The Sugar Beet in California, Daily Alta California 1857, 29. August.
[8] Cultivation of the Sugar Beet Hemp and Castor Bean, California Farmer and Journal of Useful Sciences 22, 1864, Nr. 21 v. 16. Dezember.
[9] California Sugar Beet, Daily Alta California 1868, 24. Juni.
[10] Harry A. Austin, History and Development of the Beet Sugar Industry, Washington 1928, 16-21; Deborah Jean Warner, Sweet Stuff. An American History of Sweeteners from Sugar to Sucralose, Washington 2011, 85-108.
[11] Manufacture of Beet Sugar, California Farmer and Journal of Useful Sciences 6, 1856, Nr. 11. Vgl. Beet Sugar, ebd. 7, 1857, Nr. 5.
[12] Beet Sugar Manufactory, Sacramento Daily Union 1857, 13. Februar.
[13] California State Agricultural Society, California Farmer and Journal of Useful Sciences 6, 1856, Nr. 19.
[14] Beet Sugar Profits, Pacific Rural Press 1, 1871, Nr. 4 v. 28. Januar.
[15] Beet Sugar, California Farmer and Journal of Useful Sciences 7, 1857, Nr. 4.
[16] State Agricultural Society, Sacramento Daily Union 1868, 31. Januar.
[17] Vgl. hierzu und zum Folgenden bereits Uwe Spiekermann, Labor as a Bottleneck, Entangled Commodity Chains in Sugar in Hawaii and California in the Late Nineteenth Century, in Andrea Komlosy und Goran Music (Hg.), Global Commodity Chains and Labor Relations, Leiden und Boston 2021, 177-201, hier 189-196.
[18] Sugar Beet, and Beet Sugar, California Farmer and Journal of Useful Sciences 31, 1869, Nr. 4 v. 11. Februar (George Gordon). Zu Spreckels Versuchen s. den dritten Abschnitt.
[19] Einen konzisen Überblick zu Kaliforniens Landwirtschaft und Agrarwirtschaft bietet Richard Walker, The Conquest of Bread: 150 Years of Agri-Business, New York 2004.
[20] Beet Sugar in California, Daily Alta California 1868, 8. Juni.
[21] In Chatsworth etablierten die beiden deutschstämmigen Einwanderer Gottlieb and Ernst T. Gennert 1865 (oder gar schon 1863) die Germania Sugar Company, die bis 1870 in Betrieb war (vgl. Andrew Taylor Call, Jacob Bunn: Legacy of an Illinois Industrial Pioneer, Lawrenceville 2005, 119-120; H[arvey] W. Wiley, The Beet-Sugar Industry: Culture of the Sugar-Beet and Manufacture of the Beet Sugar, Washington 1890, 37; The Chatsworth Experiment, Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 30, 1903, 66).
[22] Industrial Condition of the State, Daily Alta California 1868, 28. Dezember.
[23] Industrial Condition of the State, Ebd. 1869, 9. März.
[24] Beet Sugar its Prospects—A New Process, Pacific Rural Press 1, 1871, Nr. 1, 7. Januar.
[25] California Beet Sugar, Pacific Rural Press 4, 1872, Nr. 8 v. 24. August.
[26] The Sacramento Sugarie a Success, Pacific Rural Press 2, 1871, Nr. 22 v. 2. Dezember; ähnlich Progress in Beet sugar Interest, California Farmer and Journal of Useful Sciences 36, 1871, Nr. 16 v. 19. Oktober.
[27] Vgl. Richard Street, Beasts in the Field. A Narrative of California Farmworkers, 1789-1913, Stanford 2004.
[28] Beet Sugar, Pacific Rural Press 9, 1875, Nr. 12 v. 20. März.
[29] Sacramento Daily Union 1877, 13. März.
[30] Beet Sugar in California, Pacific Rural Press 13, 1877, Nr. 14 v. 7. April.
[31] Beet Sugar in California, Ebd. 17, 1879, Nr. 24 v. 14. Juni.
[32] The Alvarado Beet Sugar, Sacramento Daily Union 1870, 22. November.
[33] The Beet Sugar Operations at Alvarado, Sacramento Daily Union 1870, 28. November.
[34] Industrial Condition of the Slope, Daily Alta California 1872, 11. November.
[35] 1887 wurde die Produktion aufgrund von Trockenheit, einem allgemeinen Preisverfall und einer großen Explosion unterbrochen, die Firma musste geschlossen werden. Dyer gelang es jedoch, das Unternehmen zu reorganisieren und zu vergrößern. 1888 wurde es als Pacific Coast Sugar Company neu gegründet und zugleich fortgeführt (Beet Sugar at Alvarado, Pacific Rural Press 35, 1888, Nr. 7 v. 18. Februar).
[36] Another Beet Sugarie, Ebd. 6, 1873, Nr. 21 v. 22. November.
[37] The Sugarie, Ebd. 14, 1877, 22. September.
[38] Beet Sugar in Isleton, Pacific Rural Press 19, 1880, 104; Sugar from Beets in California, Red Bluff Independent 1869, 20. Januar, 4; New Manufactures 1870, 27. Mai, 2 (Alvarado Beet Sugar Company).
[39] Ernst Th. Gennert, Beet sugar in California, Ebd. 17, 1879, Nr. 24 v. 14. Juni.
[40] San Francisco Market Review, Sacramento Daily Union 1868, 2. Mai; Cane-Sugar from Beets, Sacramento Daily Union 1868, 5. Mai. Vgl. William Lloyd Fox, Harvey W. Wiley’s Search for American Sugar Self-Sufficiency, Agricultural History 54, 1980, 516-26.
[41] L.D. Morse, The Beet Sugar Question, Pacific Rural Press 18, 1879, Nr. 21 v. 21. November.
[42] Ernst Th. Gennert, The Sugar Industry, Ebd., Nr. 8 v. 23. August.
[43] California Abroad, Ebd. 24, 1882, Nr. 16, 14. Oktober.
[44] Genauer hierzu Uwe Spiekermann, Claus Spreckels: A Biographical Case Study of Nineteenth-Century American Immigrant Entrepreneurship, Business and Economic History On-Line 8 (2010).
[45] Our Sugar Supply, Pacific Rural Press 1, 1871, Nr. 14 v. 8. April.
[46] Obwohl Claus Spreckels letztlich der größte Nutznießer des im Reziprozitätsvertrag festgeschriebenen Subventionssystems wurde, argumentierte er anfangs strikt gegen die neuen Regelungen. Eines seiner Argumente war, dass die kalifornische Rübenzuckerindustrie durch steigende Importe hawaiianischen Rohrzuckers stark in Mitleidenschaft gezogen werden würde: Hawaiian Reciprocity, Daily Alta California 1874, 10. Juli; The Hawaiian Treaty, Daily Alta California 1875, 2. März.
[47] Kill the New Industry, Pacific Rural Press 4, 1872, Nr. 24 v. 14. Dezember; California for Sugar, ebd. 29 1885, Nr. 2 v. 10. Januar.
[48] Uwe Spiekermann, Das gekaufte Königreich: Claus Spreckels, die Hawaiian Commercial Company und die Grenzen wirtschaftlicher Einflussnahme im Königtum Hawaii, 1875 bis 1898, in Hartmut Berghoff, Cornelia Rauh und Thomas Welskopp (Hg.), Tatort Unternehmen. Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin und Boston 2016, 47-67.
[49] Allen Collins, Rio Del Mar: A sedate residential community, the depth of its character, 225 years of local history, o.O. 1995, 7.
[50] Beetroot Sugar in California, Australian Town and Country Journal 1871, 11. Februar, 13.
[51] The Coast Countries, Daily Alta California 1872, 16. Oktober 16, 1; Our Beet Sugar Interest, Pacific Rural Press 6, 1873, Nr. 11, 13. September.
[52] Claus Spreckels, in San Francisco: Its Builders Past and Present, Bd. I, Chicago und San Francisco 1913, 3-10, hier 6.
[53] Das war den Produzenten natürlich bekannt. Fehlende Kapital- und Maschinenzufuhr begrenzten in den 1880er Jahren allerdings Pläne für größere Betriebsanlagen. Vgl. John L. Beard, The Beet Sugar Industry, Pacific Rural Press 30, 1885, Nr. 4 v. 25. Juli.
[54] Recht typisch war die Argumentation der San Francisco Chamber of Commerce. S. Beet-Root Sugar, Daily Alta California 1888, 1. Februar bzw. die Gegenargumente in Beet Sugar Bounty, Daily Alta California 1888, 3. Februar.
[55] Fighting a Trust, Daily Alta California 1888, 3. September.
[56] Beet Sugar Company, Los Angeles Herald 1887, 18. Oktober, 2.
[57] Beet Sugar, Sacramento Daily Union 1887, 24. September.
[58] Claus Spreckels’ Sugar Scheme, Chicago Daily Tribune 1887, 16. September, 5.
[59] Ebd.
[60] Great Enterprise in Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 18 v. 29. Oktober.
[61] Beet Sugar, Sacramento Daily Union 1887, Nr. 32 v. 27. September.
[62] Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 18 v. 29. Oktober.
[63] Entsprechend wurde der Bau der Zuckerfabrik durch eine große Zahl öffentlicher Feiern und Feste umkränzt, wobei die Grundsteinlegung im April 1888 herausragte. Vgl. A Great Enterprise, Daily Alta California 1888, 29. April; The Beet-Sugar Enterprise at Watsonville, Pacific Rural Press 35, 1888, Nr. 18, 5. Mai.
[64] Ventura County: Rival Localities Competing for the Sugar Factory, Los Angeles Times 1886, 3. Oktober, 13.
[65] A Beet Sugarie Established at Watsonville, Pacific Rural Press 34, 1887, 24. Dezember.
[66] Great Enterprise in Beet Sugar, Ebd. 34, 1887, Nr. 18 v. 29. Oktober.
[67] Claus Spreckels on Beet Sugar, Ebd. 35, 1888, Nr. 1 v. 7. Januar.
[68] Vgl. seinen Brief an die Farmer in Beet Sugar, Daily Alta California 1887, 23. Dezember und seine späteren Überlegungen in To Fight the Sugar Trust, New York Times 1889, 25. April.
[69] Claus Spreckels on Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 20, 12. November.
[70] The Beet Sugar Experiment, Australian Town and Country Journal 1889, 28. Februar, 29.
[71] W[illiam] W. Allen und R[ichard] B. Avery, California Gold Book, San Francisco und Chicago 1893, 367.
[72] Commercial, Los Angeles Times 1897, 22. April.
[73] The Bay of San Francisco. The Metropolis of the Pacific Coast and its Suburban Cities. A History, Bd. I, Chicago 1892, 351.
[74] Thomas J. Osborne, Claus Spreckels and The Oxnard Brothers: Pioneer Developers of California’s Beet Sugar Industry, 1890-1900, Southern California Quarterly 54, 1972, 117-125; Jeffrey Wayne Maulhardt, Oxnard Sugar Beets. Ventura County’s Lost Cash Crop, Mount Pleasant 2016. Analog zu Watsonville nutzte auch die Fabrik in Chino das Steffen-Verfahren, das ebenso von der deutschen Maschinenfabrik Grevenbroich geliefert wurde. Zum sozialhistorischen Hintergrund s. Carey McWilliams, Factories in the Field. The Story of Migratory Farm Labor in California, Berkeley, Los Angeles und London 2000.
[75] Beet Sugar Company Incorporated, Fitchburg Sentinel 1889, 17. April, 4; American Settler 1888, 11. Mai, 4.
[76] Thomas J. Vivian, The commercial, industrial, transportation, and other Interests of California, Washington 1891, 329.
[77] Sugar Refining, Daily Alta California 1889, 19. April.
[78] A Gigantic Project, Daily Alta California 1889, 19. Mai. Die Occidental Beet Sugar Company wird nicht erwähnt in Sandra E. Bonura, Empire Builder. John D. Spreckels and the Making of San Diego, Lincoln 2020.
[79] Beet Sugar, Los Angeles Herald 1889, 8. Oktober.
[80] The Beet-Sugar Industry, Daily Alta California 1890, 22. März.
[81] Agricultural and Pastoral, Queenslander 1888, 10. März, 390.
[82] Claus and the Farmers, Chicago Daily Tribune 1888, 8. März, 6. Claus Spreckels intervenierte sowohl in Kalifornien als auch in Washington. Im Untersuchungsausschuss über den Zuckertrust plädierte er offensiv für eine „heimische“ Industrie, die „unseren eigenen Zucker“ produzierten würde (Sugar Trust Investigation, Boston Daily Globe 1888, 24. März, 5).
[83] Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 19, 5. November.
[84] Sugar Beets, The Great Southwest 1, 1889, Nr. 5, 2.
[85] Ebd., Nr. 7, 5 und Nr. 8, 8.
[86] Ebd. 2, 1890, Nr. 2, 1.
[87] Sugar Beets: The Seed promised by Spreckels has been received, Ebd. 2, 1889, Nr. 2, 2-3, hier 2.
[88] More Beet Tests, Ebd. 2, 1890, Nr. 9, 4; National City Beets, ebd. Nr. 10, 13.
[89] Mr. Spreckels on the Sugar Beet Question, Pacific Rural Press 50, 1895, Nr. 24, 14. Dezember.
[90] Beet Sugar: An Interview With Mr. J.D. Spreckles [sic!], Los Angeles Herald 1889, 2. Januar; Sugar Beet Factories, Australian Town and Country Journal 1889, 14. September, 42; Colonies and India 1895, 3. August, 22.
[91] A Valuable Industry, Daily Alta California 1889, 14. September.
[92] San Francisco Call 1899, 24. November.
[93] Claus Spreckels, on the Sugar-Beet Industry, Northern Star 1896, 26. März, 4.
[94] Ten Years of Beet sugar at Watsonville, Pacific Rural Press 56, 1898, Nr. 26 v. 24. Dezember.
[95] The Sugar Industry, San Francisco Call 1896, 12. Mai.
[96] Beet Farming, Sausalito News 1896, 7. März.
[97] Refined Sugars Are Reduced, Boston Daily Globe 1896, 7. Juli, 9.
[98] Detailed Plans of the Sugar King, Chicago Daily Tribune 1896, 3. Juli, 1. Ähnlich Santa Claus Spreckels, Los Angeles Times 1896, 3. Juli, 1. Dieser lange Vorlauf von mehreren Jahren resultierte aus den Erfahrungen in Watsonville. Es erforderte gemeinhin zwei bis drei Jahre, um Farmer zu leistungsfähigen Rübenzuckerlieferanten umzuschulen und Fehler abzustellen.
[99] Dies und auch das Folgende nach Citizens of Salinas Unite in Honoring Claus Spreckels, San Francisco Call 1896, 2. August.
[100] Ergänzende Einblicke in dieses bemerkenswerte Treffen finden sich in Salinas Valley Citizens Applaud His Far-Reaching Enterprise, San Francisco Call 1896, 2. August.
[101] Beet Sugar Gazette 1, 1899/1900, Nr. 3, 20; Alfred Musy, The Largest Sugar Mill in the World, Beet Sugar Gazette 3, 1901/02, 135.
[102] Spreckels kaufte von Beginn an weiteres Land an. Ende 1897 gab er beispielsweise $275,000 für zusätzliche 12,000 Acres Zuckerland aus, s. News of the Big Cities, Chicago Daily Tribune 1897, 9. Dezember, 3.
[103] In Beet Fields, Pacific Commercial Advertiser 1897, 31. Juli, 2.
[104] Colony Homes, Los Angeles Herald 1897, 27. Mai; The All-Absorbing Topic, Sacramento Daily Union 1897, 17. Oktober.
[105] Senatorial Sugar, Los Angeles Herald 1897, 16. Mai.
[106] Beet Sugar, Ebd., 16. Mai. Nationalistische Slogans wie etwa „America for Americans“ waren Bestandteil dieses neuen Ansatzes.
[107] Entsprechende Gerüchte kamen 1897 auf, vgl. Commercial, Los Angeles Times 1897, 22. April; Sugar Trust Buys Up More Mills, Chicago Daily Tribune 1897, 21. April; One-Sided Hawaiian Reciprocity, Chicago Daily Tribune 1897, 24. April, 3. Eine Folge war ein Verleumdungsprozess zwischen Claus Spreckels und dem aufstrebenden Verleger William R. Hearst, den letzterer verlor.
[108] Weekly Statistical Sugar Trade Journal 23, 1899, Nr. 43, 26. Oktober, 6.
[109] Spreckels Company Organization, Chicago Daily Tribune 1897, 7. August, 7; Spreckels in Beet Field, Chicago Daily Tribune 1899, 2. März, 3.
[110] Washington Post 1898, 24. April, 22.
[111] Colossal Beet Sugar Exploitation, Chicago Daily Tribune 1896, 1. Juli, 1.
[112] Gary S. Breschini, Mona Gudgel und Trudy Haversat, Spreckels, Charleston 2006, 32.
[113] Local Benefits of the Beet Sugar Industry, Pacific Rural Press 53, 1897, Nr. 4, 23. Januar.
[114] To Produce Our Own Sugar, Beet Sugar Gazette 3, 1901/02, 120.
[115] Wheels of the Mammoth Sugar Factory at Spreckels Begin to Turn, San Francisco Call 1899, 1. September.
[116] A Visit to a Beet Sugar Factory, Pacific Rural Press 64, 1902, Nr. 7, 17. August.
[117] Leonhard J. Arrington, Science, Government, and Enterprise in Economic Development: The Western Beet Sugar Industry, Agricultural History 41, 1967, 1-18.

Deutsche Einwanderer auf dem Weg zu amerikanischen Vorzeigeunternehmern: Die Familie Spreckels, 1850-1930

Seit Gründung der USA haben mehr als siebeneinhalb Millionen „Deutsche“ ihr Vaterland verlas­sen, um jenseits des Atlantiks ein besseres Leben zu führen. Die Mehrzahl von ihnen stammte aus unteren und mittleren Verhältnissen, suchte den sozialen Aufstieg und fand ihn vielfach in einer selbständigen Existenz als Farmer, Handwerker oder Händler. Deutsche Einwanderer schufen nach dem gängigen, von der Migrationsforschung wesent­lich mitgeprägten Bild zwar eine breite mittelständische Grundlage der US-Wirt­schaft des 19. und 20. Jahrhunderts, doch die unternehmerischen Eliten entstammten demnach vorrangig „Protestant, Anglo-Saxon, native-born, well-to-do families“ [1]. Schon kurzes Nachdenken führt zur Skepsis gegenüber dieser Aufstiegsgeschichte aus den Reihen der Kolonisten vorwiegend des 18. Jahrhunderts: Pfizer, Merck, Heinz, Levi Strauss, Anheuser-Busch, Miller, Pabst, Steinway, Studebaker, Boeing – das sind zehn hingeworfene und rasch zu ergän­zende Namen bedeutender amerikanischer Firmen, die von deutschen Einwanderern erster oder zweiter Generation gegründet wurden. Im Washingtoner German Historical Institute haben unsere Recherchen 2009 eine keineswegs vollständige Liste mit mehr als achthundert „signifikanten“ deutsch-amerikanischen Unternehmern ergeben. Analoge Verzeichnisse von Einwanderer­unternehmer aus Skandinavien und Italien, Österreich-Un­garn und Russ­land, China und Mexiko dürften ebenfalls umfangreich sein.

Dies war Anlass, um 2010 das Projekt „Immigrant Entrepreneurship. Ger­man-American Busi­ness Biographies, 1720 to the Present“ zu starten. Darin sollte am Beispiel deutsch-amerikani­scher Einwanderer analysiert werden, welche Bedeutung diese für die Ausbil­dung und Etablierung der USA als führender Wirtschaftsmacht der Welt gehabt haben. [2] Das bis 2015 währende Projekt blieb gewiss hinter den selbstgesetzten Erwartungen zurück, doch die frei zugängliche Webseite [https://www.immigrantentrepreneurship.org] bietet mit knapp 180 biographischen und zahlreichen weiteren thematischen Artikeln einen einzigartigen und insbesondere empirisch fundierten Einblick in die deutsch-amerikanische Migrations- und Unternehmensgeschichte. Dennoch musste die Kernfrage nach dem spezifisch „deutschen“ Beitrag für die US-Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte offen bleiben. Zwar konnte der Mythos einer primär von den tradierten angelsächsischen Kolonisten geprägten und dominierten Wirtschaftssupermacht USA falsifiziert werden, doch die Einwanderer aus deutschen Landen bildeten eine zu heterogene und in sich vielfach widersprüchliche Gruppe, die nicht als klar konfiguriertes Gegenbild zum Establishment der jeweiligen „amerikanischen“ Unternehmer dienen kann. [3]

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Claus Spreckels (1828-1908) (San Francisco Newsletter 26, 1877, 29. Dezember, n. 16 (l.); Phelbs, 1881, vor 449)

Vom Landarbeiter zum Zuckerkönig? Die Karriere von Claus Spreckels

Umso wichtiger bleiben Fallstudien. Die Geschichte der kaliforni­schen Familie Spreckels bietet sich dazu an. Es handelt sich um eine der – nach den Astors – sicherlich erfolgreichsten deutschstäm­migen Immigrantenfamilien; einzig die in Milwaukee und Detroit ansässigen Uihleins dürften in den USA um 1900 eine ähnlich wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle gespielt haben. [4] Familien wie die Spreckels erlauben eine langfristige Analyse nicht nur unternehmerischen Erfolges resp. Misserfolges, sondern ermöglichen auch recht genaue Einblicke in die Akkulturation, die Integration und die sich wandelnde Identität von Einwanderern. [5] Das gilt insbesondere, wenn der in diesem Fall immense Wohlstand die zumeist geltenden Hemmnisse von materieller Enge, Fremdheitserfahrungen und relativer Isolation in der ethnischen oder religiösen Nische kaum zur Tragen kommen lässt: Claus Spreckels rangierte 1998 auf einer methodisch durchaus fraglichen  Liste der reichsten Amerikaner aller Zeiten auf Platz 40, und seine Söhne konnten das Gesamtvermö­gen der Familie nochmals mehren.

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Visualisierte Stationen im Leben eines erfolgreichen Einwandererunternehmers (Sugar in the Making, hg. v. d. Western Sugar Refinery San Francisco, 2. Aufl., San Francisco 1932, s.p.)

Claus Spreckels wurde 1828 als ältestes von sieben Kindern einer alteingesessenen Kötnerfa­milie in Lamstedt, nahe Cuxhaven, geboren. [6] Er wuchs unter beengten Verhältnis­sen und ohne weiterführende Schulbildung auf und verdingte sich seit 1843 als Landarbeiter. 1846 wanderte über Bremen in die USA aus, obwohl er weder über Kapital noch englische Sprachkenntnisse verfügte. In seinem Zielort Charleston, South Carolina, fand er Beschäfti­gung bei einem deutschstämmigen Kolonialwaren- und Alkoholhändler, dessen Geschäft er nach wenigen Jahren übernahm. Spreckels weitere Karriere gründete auf einer Ketten­wande­rung von Lamstedt in die USA. [7] Er heiratete 1852 seine aus einem Nachbarort von Lamstedt stammende Schulkameradin Anna Christina Mangels (1830-1910), die kurz zuvor nach New York emigriert war und dort als Dienstmädchen arbeitete. Mit Hilfe seines Schwagers Claus Mangels (1832-1891), spä­ter Millionär in San Francisco, erwarb Spreckels 1855 ein Groß- und Einzelhandelsge­schäft in New York, das schnell Gewinn abwarf. Ein Jahr später folgte er seinem Bruder Bernhard (1830-1861) nach San Francisco und baute mit seinem Kapital dessen Groß- und Einzelhandels­geschäft aus. [8]

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Industrielle Anfänge im Familienverband – Anzeige der Albany Brewery (San Francisco Directory 1861, 533)

In San Francisco investierte Claus Spreckels gezielt in Wachstumsmärkte. Zusammen mit seinem Bruder Peter (1839-1922) und seinem Schwager gründete er 1857 die Albany Brauerei, die mittels moderner Technologie und innovativer Produkte rasch zu den führenden lokalen Unternehmen aufschloss. [9] Binnen weniger Jahre zu Wohlstand gekommen, zielte Spreckels jedoch auf die weitere Maximie­rung seines Vermögens. In der späteren Selbst- und Fremdstilisierung wird die Gründung zweier Zuckerraffinieren, der Bay Sugar Refinery 1863 und der California Su­gar Refinery 1867, als der eigentliche Durchbruch zum späteren Zuckerimperium gedeu­tet. Doch für Spreckels war die Zuckerbranche zu diesem Zeitpunkt nur ein Feld einer breit gestreuten Tätigkeit als Venture-Kapitalist. In den 1860er und 1870er Jah­ren inves­tierte er in eine weitere Brauerei (Lyons Brewery), Gold- und Silberminen (Virgi­nia Hill Gold and Silver Mining Company, Kennedy Mining Company), in das Diamanten­ge­schäft (Diamond Match Company), die Seidenproduktion (Union Pacific Silk Manufac­turing Company), in die lokale Gasversorgung, den Kanalbau (Mission Creek Canal Com­pany), das Versicherungsgewerbe (Fireman’ Fund Insurance Company, Commer­cial Insu­rance Company of California), Immobilien sowie das Bankgeschäft (Ger­man Savings and Loan Society). [10]

Gleichwohl, die Zuckerbranche wurde zu Spreckels Hauptdomäne. Er setzte von Beginn an moderne Maschinen ein, die er zuerst an der amerikanischen Ostküste, dann auch in Deutschland kaufte. Er nutzte konsequent Größen- und Verbundvorteile: Die California Sugar Re­finery wurde zwischen 1867 und 1881 fünfmal vergrößert, der Maschinenpark mit teils auf Spreckels Namen patentierten neuesten Maschinen bestückt. [11] Die Konkurrenz wurde mit Kampfpreisen aus dem Markt gedrängt. Standardisierte Qualitäten und neue, auf die Letztkonsumenten zugeschnittene Produktinnovationen sowie kleine Packungen gemahlenen Zuckers wa­ren Teil des Erfolgskonzeptes. Parallel knüpfte Spreckels direkte Handelsbeziehungen nach den Philippinen, Hawaii und Mittelamerika, um eine möglichst sichere und zeitli­ch länger gestreckte Rohzuckerversor­gung zu garantieren. Seit Mitte der 1870er Jahre domi­nierte Spreckels die Produktion und zunehmend auch den Außenhandel mit Rohrzucker im Westen der USA.

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California Sugar Refinery, San Francisco 1881 (San Francisco News Letter 1881, Christmas-Nr.)

Diese Position schien bedroht zu sein, als 1876 ein Reziprozitätsvertrag zwischen den USA und dem Königreich Hawaii geschlossen wurde, der für Zuckerimporte aus Hawaii nicht nur keine Zölle vorsah, sondern zudem eine Subvention von zwei Cent pro Pfund. [12] Spre­ckels hatte anfangs seinen politischen Einfluss geltend gemacht, um die­sen Vertrag zu sabotieren. Nach Abschluss stellte er sich jedoch als erster auf die neuen Verhält­nisse ein. Nach kurzer Anlaufzeit begann er mit massiven Investitionen in den Rohrzuckeran­bau. Er erwarb 40.000 Acres Land in Maui, korrumpierte dazu König und Regierung, über­zog mit Hilfe deutschstämmiger Ingenieure die Insel mit einem Netzwerk von Bewässerungska­nälen, Straßen und Eisenbahnen und gründete mehrere Raffine­rien im neu gegründeten Spreckelsville. [13] Spreckels siedelte Tausende von Arbeitern aus Portu­gal, China, Japan, aber anfangs auch Hunderte aus Norwegen und Deutschland in Maui und zahlreichen weiteren Plantagen in Big Island an. [14] Er setzte Standards für die grundlegende Veränderung der Wirtschafts- und Sozial­struktur Hawaiis und bereitete mit seinen Investitionen der späteren Annektie­rung der Inselgruppe durch die USA den Boden – mochte er selbst auch aus ökonomischen Gründen ein Verfechter der Unabhängigkeit Hawaiis gewesen sein.

Aus unternehmenshistorischer Sicht wichtiger war der rasche Aufbau eines vertikal integrier­ten Zuckerkonzerns. Die gemeinsam mit seinen ältesten Söhnen geführte Oceanic Steam­ship Company dominierte das Transport-, Personen- und Postgeschäft mit Hawaii für Jahrzehnte. Neu gegründete Großhandelsorganisationen vertrieben den Rohzucker der wachsenden Zahl hawaiianischer Zuckerplantagen. Von Spreckels kontrol­lierte Banken finanzierten das kapitalintensive Geschäft mit der süßen Rohware. Anfang der 1880er Jahre war Spreckels (nach heutigen Maßstäben) Milliar­där, Quasimachthaber in Hawaii, dessen politischer Einfluss in Kalifornien und Washing­ton die Verlängerung des Reziprozitätsvertrages 1883 auch gegen erbitterten Widerstand der Öffentlichkeit ermöglichte. [15] Zu dieser Zeit stand Spreckels Name als Syno­nym für die Gefahren von Big Business, der umstürzen­den und korrumpierenden Macht der großen Korporationen: Die Arbeitsbedingungen in seinem Plantagensystem waren Gegenstand zahlreicher Regierungsuntersuchungen, er wurde wegen der hohen Monopolpreise für Zucker stetig kritisiert, sein politischer Ein­fluss in der republikani­schen Partei schien die U.S.-Politik zu unterminieren. [16] Die Tarifpoli­tik der großen Eisenbahnlinien, die Spreckels Zuckermonopol im Westen mit Son­derta­rifen schützten, machte die Gefahr der Trusts für die Allgemeinheit nochmals offenkundig. [17]

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Trust-Regulierung als vernachlässigte staatliche Aufgabe (Puck 24, 1888, 137)

Seit Mitte der 1880er Jahren erodierte jedoch die Macht des Zuckerkönigs. Dies galt ein­mal für Hawaii, wo Wettbewerber an Boden gewannen und die Macht des auf Spre­ckels angewiese­nen Königs Kalakaua (1836-1891) spätestens seit der Revolution 1887 schwand. [18] Auch die politi­schen Rahmenbedingungen wandelten sich, die Tarifpolitik des demokratischen Präsi­den­ten Grover Cleveland (1837-1908) war hierfür nur ein Vorbote. Wichtiger noch war die 1887 er­folgte Gründung der American Sugar Refinery Company, des so genannten Zucker­trusts. All dies führte zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Spreckelschen Unterneh­men:

Erstens, verlagerte er seine Aktivitäten stärker zurück nach Kalifornien, wo er seit 1887 zum Pionier der Rübenzuckerproduktion wurde. Nach einem siebenmonatigen Studienaufent­halt in Deutschland im Jahre 1865 hatte Spreckels schon seit 1872 mit Ver­suchsanbau von Rübenzucker begonnen, doch der arbeitsintensive Zuckerrübenan­bau war aufgrund fehlender Farmer resp. Landarbei­ter noch nicht wettbewerbsfähig. [19] Das änderte sich durch den Preisverfall einschlägiger Cash Crops, hinzu kamen Subventio­nen der U.S.-Regierung, die dadurch die Abhängigkeit von Zuckerimporten vermindern wollte. Spreckels informierte sich 1887 während einer fünfmonatigen Reise durch Öster­reich, Frankreich, Belgien und Deutschland über den aktuellen Stand der Rübenzuckerin­dust­rie, importierte anschließend Patente und Technik vornehmlich aus Deutschland und baute südlich von San Francisco zuerst 1887 in Watsonville, dann seit 1898 in Salinas und der neu gegründeten Stadt Spreckels die zu ihrer Zeit jeweils größ­ten Zuckerraffinerien der USA, nach eigenem, nicht zutreffenden Bekunden, auch der Welt auf. [20]

Zweitens, nahm Spreckels publikumswirksam den Kampf mit dem Zuckertrust auf. Die Idee, auch an der Ostküste Zucker anzubieten, hatte er seit langem gehegt; und er setzte sie konsequent um, nachdem der Zuckertrust 1888 eine kleinere konkurrierende Raffine­rie in San Francisco aufgekauft hatte und einen Preiskampf begann. Spreckels zog nun gen Osten, verhandelte mit mehreren Städten wegen Subventionen und errich­tete errichtete seit 1889 die damals weltgrößte Zuckerraffinerie in Philadelphia. [21] Opera­tiv von seinen Söhnen geleitet, ermöglichte sie einen intensiven Preiskampf, der zeitwei­lig zu einer Halbierung des Zuckerpreises in den USA führte. Der vielfach umsatzstärkere und kapitalkräftigere Zuckertrust lenkte schließlich 1891 ein, überließ Spreckels den Westen der USA und kaufte die Fabrik in Philadelphia für das Doppelte der Investitionssumme. [22] Westmonopo­list Claus Spreckels wurde mit diesem Coup zu einer populären öffentlichen Figur, der die Stellung und Werte des Einzelunternehmers gegen die Trusts verteidigt hatte.

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Spreckelsche Zuckerraffinerie in Philadelphia, PA, 1893 (Frank Leslie‘s Illustrated Newspaper 1890, Nr. 1821 v. 8. September, 576)

Drittens begann Claus Spreckels, der sich seit 1893 inoffiziell aus dem operativen Ge­schäft zurückgezogen hatte, mit einer Diversifizierung seiner unternehmerischen Aktivitä­ten. Er schloss damit an die frühere Phase des Venture-Kapitalisten an. Stich­worte müssen genügen, auch wenn es sich teils um (aus heutiger Sicht) Milliardengeschäfte gehandelt hat. Spreckels investierte in verschiedene Eisenbahnunternehmen, um seine Rübenzuckerproduk­tion zu unterstützen (Pajaro Valley Railroad; Pajaro Valley Consoli­dated Railway), um das Quasi-Monopol der Southern Pacific Railway Co. zu attackieren (San Fran­cisco and San Joaquin Valley Railroad Company; Bakersfield and Los Angeles Railway Company) sowie die Infrastrukturentwicklung Südkaliforniens voranzutreiben (National City & Otay Railroad). [23] Sein öffentliches Image als Monopolbrecher erlaubte ihm lukra­tive Investitionen im Infrastruktursektor, wo er unter anderem als Preisbrecher im Gas- und Elektrizitätsgeschäft agierte (Independent Light and Power Company), um seine Aktien nach einigen Jahren mit hohem Gewinn zu verkaufen [24]. Schließlich inves­tierte er zunehmend in Immobilien, darunter den ersten Wolkenkratzer im Westen der USA, das 1897 eröffnete Claus Spreckels Building, Sinnbild des aufstrebenden San Francisco. [25]

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Der Bau der San Joaquin Valley Road als Heil für die Region – Werbemotiv für die Spreckelsche Eisenbahnlinie, 1896 (Valley Road, 1896, 67)

Herkunft als Ressource: Erfolgsfaktoren eines Multimilliardärs

Man kann diese Karriere als US-amerikanische Erfolgsgeschichte lesen, als den Übergang vom Landarbeiter zum Zuckerkönig. Dies wird jedoch weder den Besonderheiten der USA im 19. Jahrhundert noch dem Status eines Einwandererunternehmers gerecht.

Claus Spreckels war seit 1855 Bürger der USA. Er lernte rasch Englisch, auch wenn er es bis an sein Lebensende mit deutlichem deutschem, genauer niederdeutschem, Akzent sprach. Er war stolz auf sein neues Vaterland, pries dessen Freiheitsversprechen und die Unabhängigkeit seiner Bür­ger und wandte sich, je später, je mehr, gegen den US-Imperialismus und die um sich greifende Korruption in der Politik – auch wenn er diese über Jahrzehnte systematisch betrieben hatte. [26] Er war Mitglied, teils Gründungsmitglied der wichtigsten amerikani­schen Vereine der Westküste, aktiv in der Nationalgarde und ein führender Repräsen­tant der Republikaner in Kalifornien. Er förderte den lokalen Patriotismus mit Spenden für die Statuten von James A. Garfield (1831-1881), Ulysses S. Grant (1822-1885), George Dewey (1837-1917), Abraham Lincoln (1809-1865) und William McKinley (1843-1901). Zugleich aber unterstützte er ein Leben lang seine lutherische St. Markus-Gemeinde, war Mitglied im San Francisco Verein und dem Verein Arion, förderte Deutsche Tage und Wochen, das German Altenheim und das Goethe-Schiller-Denkmal. 1899 schenkte er seiner Heimatstadt 1899 ei­nen Temple of Music, nicht zuletzt zur Pflege deutscher Musik.

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Ein Ort deutscher und amerikanischer Weisen: Spreckels Temple of Music (Mark Hopkins Review of Art 1, 1899/1900, Nr. 3, 10)

Spreckels wurde bis in die 1890er Jahre vielfach als Immigrant wahrgenommen. Seine Geschäftspraktiken wurden als die eines „greedy Prussian“ [27] oder aber eines „German Jews“ [28] denunziert. Aufgrund seines Eintretens für chinesische Kontraktarbeiter oder seines Beharrens auf Hawaiis Selbstständigkeit galt er vielfach als national unsicherer Kantonist. Im Deutschen Reich und auch bei deutsch-amerikanischen Vereinigungen wurde er dage­gen vielfach national verein­nahmt, sei es als jovialer Plattdeutsch-Sprecher oder als der „deutsche Zuckerkö­nig“. [29] Deutsche Besucher vermerkten jedoch zunehmend kritisch, dass er „keine ande­ren als rein amerikanische Interessen habe“; und da half es wenig, dass sein Pfarrer ihn am Grabe mit einer deutschen Eiche verglich. [30] In der deutschsprachigen US-Presse hieß es klagend, dass er „für das hiesige Deutschtum und das Deutschtum überhaupt [nicht, US] viel übrig gehabt“ [31] habe. Das war falsch, doch Claus Spreckels achtete stets auf die öffentliche Wirkung und die soziale Bindekraft seiner Zuwendungen auch über die deutsche Nische hinaus.

In den USA wurde er seit den frühen 1890er Jahren immer stärker als ein Repräsentant erst des aufstreben­den Kaliforniens, dann auch der amerikanischen Nation und ihrer Verheißung individueller Entfaltung gese­hen. Gleichwohl, seine Karriere ist ohne seine Herkunft aus Deutschland kaum zu erklären. Deutsche Immigranten ermöglichten ihm jeweils den Start in Charleston, New York und San Francisco. Deutsch-amerikanische Ingenieure und Architekten planten die Plantagenwirt­schaft in Hawaii und die Raffinerie in Philadelphia. Spreckels beschäftigte zahlreiche Facharbeiter aus Deutschland und gab immer wieder Familienmitgliedern die Chance, in seinen Unternehmen zu arbeiten und aufzusteigen. Sein ältester Sohn wurde 1869-1871 auch in Deutschland, an der Polytechnischen Schule in Hannover, erzogen. [32] Deutsche Besucher und Politiker wurden von ihm in Hawaii und San Francisco empfangen und bewirtet.

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Sedan-Feier in San Francisco unter Leitung von Claus Spreckels (San Francisco Abend Post 1871, 30. August, 2)

Er selbst reiste mehrfach für längere Aufenthalte nach Deutschland, um dort vor Ort die Zuckerproduktion zu studieren. Seit 1867 importierte er Maschinen aus Deutschland, seine Zuckerrübenfabriken wurden fast gänzlich mit deutscher Technologie ausgestat­tet, auf kalifornischen Feldern deutsche Rübensaaten angepflanzt. Und doch: Der Grund für diese engen Beziehungen lagen in der Qualität von Know-how und Produk­ten. Spre­ckels folgte einer ökonomischen Logik, keiner nationalen. Falls Saatgut in Frankreich oder Dänemark günstiger angeboten wurde, so kauft er es dort. Zugleich nutzte er seine deutsche Herkunft vielfach geschickt aus, um insbesondere bei Verhandlun­gen um Zolltarife Vorteile zu erzielen; war er doch ein Amerikaner, der vorgab, die Deutschen zu kennen. In Hawaii positionierte er sich als Garant amerikanischer Interessen gegenüber der britischen und deutschen Konkur­renz. Die Gefahr wachsender deutscher Zuckerimp­orte instrumentalisierte er zur Subventio­nierung der US-Rübenzuckerindustrie.

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Blick in die St. Bartholomäus Kirche, Lamstedt, Taufort von Claus Spreckels (Uwe Spiekermann, 2018)

Spreckels blieb seiner Heimat eng verbunden: Er finanzierte nicht nur das Haus seiner Schwester in Lamstedt, sondern ein Jahr vor seinem Tod auch die Orgel seiner Heimatgemeinde. Doch spätes­tens seit den frühen 1890er Jahren führten ihn die regelmäßigen Transatlantikreisen immer häufiger auch nach London, dann vielfach nach Paris und den böhmischen Bädern. Seine pompöse Villa in San Francisco wurde mit französischen Kunstwerken ausgestat­tet, darin wirkten nicht nur deutsche Hausmädchen, sondern auch englische Butler und Gärtner. [33] Der deutsche Immigrant in Amerika war auch ein Freund der französischen Kü­che – und entsprach damit dem Geschmack des sich ausbildenden internationalen Smart Set.

Auf dem Weg zur reichsten und einflussreichsten Familie Kaliforniens? Die zweite Unternehmergeneration der Spreckels

Schon diese wenigen Hinweise unterstreichen die Künstlichkeit klarer nationaler Identitäten im ausgehenden 19. Jahrhundert. Claus Spreckels war im Königreich Hannover geboren worden; und eine deutsche Staatsbürgerschaft gab es formal erst 1913, also nach seinem Tode. Seit 1855 war er naturalisierter Bürger der USA, doch dabei handelte es sich um einen rasch expandierenden Staat mit unklaren Grenzen: Kalifornien wurde 1850 Teil der USA. Kalifornien selbst war noch nicht der heutige Staat mit etwa der Einwohnerzahl, die 1850 der Deutsche Bund aufwies. Für Claus Spreckels war er jedoch der wichtigste Bezugs- und auch Gestaltungsraum, während er das von ihm lange dominierte Hawaii immer als informellen Herrschaftsraum, nicht aber als eigenständigen Staat verstand, zu dem er nie eine innere Bindung hatte.

Fragen nach der Akkulturation und der Integration eines solchen Repräsentanten einer transnationalen Funktionselite zeugen schon bei einer Person von multiplen, parallel gelebten und genutzten Identitäten. Doch der eigentliche Testfall ist gewiss die zweite Einwanderergeneration. Dieser ist im Falle der Fami­lie Spreckels besonders ergiebig, denn die harte Schule des Zuckerkö­nigs führte nicht nur zu innerfamiliären Zerwürfnissen, sondern auch zur Ausbil­dung von vier unternehmeri­schen Talenten, die allesamt auf Grundlage der Arbeit und des Kapitals des Vaters ihre je eigenen Karrieren entwickelten und das Vermögen der gesam­ten Familie bis in die Mitte der 1920er Jahre nochmals vergrößerten. Skizzenar­tige Charakterisierungen müssen genügen.

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John D. Spreckels (1853-1926) (Austin, 1924, n. 74 (l.); ebd., n. 162; Coshocton Tribune 1922, 3. September, 3 (r.))

John Diederich Spreckels, der älteste 1853 in Charleston geborene Sohn, war das viel­leicht größte unternehmerische Talent der vier Brüder. [34] Er wurde von seinem Vater schon früh mit dem Management des Hawaiianischen Besitzes betraut – und führte mit seinem jüngeren Bruder Adolph B. seit den 1890er Jahren die kalifornischen Zuckerbetriebe. Parallel baute er seit 1878 die Oceanic Steamship Company auf, die nicht nur im Fracht- und Postverkehr nach Hawaii tätig war, sondern seit den 1880er Jahren erste regelmäßige Fahrten nach Neuseeland, Australien, Samoa und später auch nach Asien anbot. Die gemeinsam mit seinen Brü­dern Adolph B. und Claus A. gegründete Holding Spreckels & Bros. agierte als Agentur für viele kleinere US-Reeder und zahlreiche europäische Linien im Pazifik- bzw. im Schiffsverkehr von der Ost- zur Westküste. Breite Teile der Versorgung der Westküste mit Kohle, Koks, Düngemitteln und Metallen – von Australien, aber auch aus Großbritannien – erfolgten im Chartergeschäft durch Spreckels & Bros.

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Wirtschaftliche und touristische Erschließung des Pazifikraums durch J.D. Spreckels & Bros. (Ports, 1889, 62 (l.); Oceanic Steamship Company 1902, s.p.)

John Diederich Spreckels emanzipierte sich von seinem Vater mit 1887 einset­zenden systematischen Investitionen in San Diego; auch wenn der alte Herr diese finanziell mittrug und seine Rechte erst um die Jahrhundertwende an die beiden älteren Söhne übertrug. John D. Spreckels engagierte sich für den Ausbau der Hafeninfrastruktur, baute in den 1890er Jahren ein weit über Bedarf geplantes Straßenbahnnetz auf, gründete Elektrizitäts- und Wasserwerke, kaufte zudem die wichtigsten lokalen Tageszeitungen auf. Dies diente der Etablierung von San Diego und der vorgelagerten Insel Coronado als Touristenzentrum und Altersresidenz [35], führte mittelfristig auch zu immensen Gewinnen im Grundstücksgeschäft, da John D. Spreckels einen Großteil des zukünftigen Baulandes preiswert gekauft hatte. Nach dem Erdbeben 1906 siedelte er dauerhaft nach San Diego über und investierte einerseits in zentrale Bürogebäude, baute daneben an sich weit überdimensionierte Theater, Musikstätten und Vergnügungsparks. Parallel sicherte er die Wasserversorgung der Region durch ein Netzwerk von Staudämmen und Kanalsystemen.

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Übernahme und Ausbau bestehender Infrastruktur: Coronado und San Diego 1888 (Coronado Beach Company, 1888, s.p.)

Mit der Spreckels Savage Tire Company, der ersten amerikanischen Reifenfirma westlich vom Produktionszentrum Akron, legte er zugleich Grundlagen für die industrielle Entwicklung San Diegos und des Südwestens Kaliforniens. Als Investor ähnlich breit aufgestellt wie sein Vater, war auch John D. im Eisenbahngewerbe tätig (National City & Otay Railroad, Coquile River Road, San Diego & Southeastern Railway Company, Coos Bay, Roseburg and Eastern Railway). Die 1919 fertiggestellte San Diego and Arizona Railroad band San Diego an das transnationale Eisenbahnnetz der USA an und bildete einen Schlussstein in der verkehrstechnischen Erschließung Südkaliforniens. John Ds. Lebens­stil war aufwendig, er besaß die jeweils größten und schnellsten Yachten der West­küste, zeigte Interesse an Boxsport, Polo und Autorennen und war in den 1890er Jahren nicht nur aufgrund seines Geldes die bestimmende politische Kraft der republikani­schen Partei Kaliforniens. Dennoch stand er nach dem Tode seines Vaters mit jährlich über einer Million Dollar lange Zeit an der Spitze der Einkommenspyra­mide Kalifor­niens und hinterließ bei seinen Tode 1926 mit 25 Millionen Dollar ein aus heuti­ger Sicht Milliardenvermögen. [36]

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Adolph B. Spreckels (1857-1924) (San Francisco Call 1896, 17. September, 7; Men of the Pacific Coast 1902, 188; Jockey Club, 1923, s.p.)

Adolph Bernhard Spreckels, 1857 in San Francisco geboren, stand vielfach im Schatten seines großen Bruders; und doch finanzierte er die meisten seiner Unternehmungen auf 50-Prozent-Basis, war Kapitalist im Wortsinne. Nachdem er 1881 Michel De Young, den Besitzer des San Francisco Chronicle, auf­grund dessen einseitiger Berichterstattung über seinen Vater und insbesondere seiner Mutter niedergeschossen hatte, letztlich aber freigesprochen wurde, führte er längere Zeit ein eher zurückgezogenes Leben. [37] Seine Passion war der Pferderennsport. Er war einer der wichtigsten, vor allem aber der lange Zeit wirtschaftlich erfolgreichste kalifornische Pferde­züch­ter und gründete mehrere Pferderennbahnen in Nordkalifornien und auch – nach dem Verbot erst der Pferdewetten, dann des Alkoholkonsums in Kalifornien – in Mexiko. [38]

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Tanforan Pferderennbahn vor der Wiedereröffnung 1923 (Jockey Club, 1923, s.p.)

Adolph B. Spre­ckels agierte viele Jahre ehrenamtlich als Park Commissioner, verantwortlich für den Golden Gate Park. [39] Als einziger Spreckels dieser Generation engagierte er sich im boomenden Ölgeschäft, konnte sich aber mittelfristig nicht gegen die Konkurrenz der Standard Oil Company behaupten. [40] Obwohl ein beträchtlicher Teil seines Vermögens auf Drängen seiner Gattin Alma des Bretteville Spreckels (1881-1968) in den frankophonen California Palace of the Legion of Honor floss, dem in sei­nem Todesjahr 1924 eröffneten wichtigsten Kunstmuseums der Westküste, hinterließ er seinen Erben immerhin noch 15 Millionen Dollar. [41]

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Bohrtürme und Verarbeitungsindustrie der Sunset Monarch Oil Company, 1910 (Sunset 25, 1910, 243)

Während John D. und Adolph B. die autokratische Grundhaltung ihres Vaters lebenslang ertrugen, rebellierten die beiden jüngeren Brüder Claus Augustus und Rudolph Anfang der 1890er Jahre gegen Claus Spreckels. In jahrelangen Rechtsverfahren gelang es ihnen Millionenwerte vom Vater zu erstreiten, die sie dann für ihre eigenen Unternehmun­gen nutz­ten. [42]

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Verwerfungen im Hause Spreckels: Karikatur zur Serie von Gerichtsverfahren zwischen Claus Spreckels und seinen Söhnen Rudolph und Claus A., 1892-1896 (Oakland Tribune 1908, 10. Januar, 1)

Beide hatten für ihren Vater die Zuckerraffinerie in Philadel­phia geleitet, beide wa­ren desillusioniert von deren Verkauf an den Zuckertrust, den sie doch eigentlich bekämp­fen und besiegen wollten. Claus A. und Rudolph erhielten als Ausgleich ein Millionen-Kapital, vor allem aber die Verfü­gungsgewalt über das Herzstück des Spreckelschen Zuckergeschäft in Hawaii, der Hawaiian Commercial Sugar Company. Sie führten diese durch einen finanziellen Engpass in den frühen 1890er Jahren, um sie 1898 schließlich mit Millionengewinnen zu verkaufen, freilich gegen ihren Willen. [43]

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Claus A. Spreckels (1858-1946) (New York Journal 1897, 4. Juli, 24 (l.); Evening Telegram New York 1911, 22. Juli, s.p.; Kansas City Sun 1918, 26. Januar, 3 (r.))

Claus A. Spreckels nutzte dieses Kapital, um 1902 in Yonkers, nördlich von New York City, die Federal Sugar Refinery aufzu­bauen, die sich aufgrund neuartiger Produktionsverfahren rasch nicht nur zur größten unabhängigen Zuckerraffinerie der USA entwi­ckelte, sondern Anfang der 1920er Jahre mit mehr als 3.000 Beschäftigen auch die größte Zuckerfabrik der USA war. [44] Bevor er sich Mitte der 1920er Jahre aus dem akti­ven Geschäft zurückzog, agierte er – ein potenter Finanzier der demokrati­schen Partei – als ein politisch einflussreicher Gegenspieler des Zuckertrusts und auch der US-Kriegsernäh­rungswirtschaft unter Herbert Hoover (1874-1964).

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Federal Sugar Refining Co. – Leitbetrieb der „Unabhängigen“ in den USA, 1922 (Postkarte, Privatbesitz)

Der auch im Bankgeschäft tätige Claus A. Spre­ckels setzte sich damals in Frankreich zur Ruhe. Sein Vermögen ist nicht präzise zu taxieren. Anfang der 1920er Jahre gewiss noch (nach heutigem Maßstab) ein einfacher Milliardär, verlor er sein Vermö­gen mit dem Bankrott der Federal Sugar Refinery 1932 und starb 1946 in Paris in gesicherten, doch eher modera­ten Verhältnissen. [45]

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Rudolph Spreckels (1872-1958) (San Francisco Call 1895, 7. März, 2 (l.); Los Angeles Times 1906, 27. Oktober, I1; Who’s who in California, 1929, 33 (r.))

Dieses Schicksal teilte auch der jüngste der vier Brüder, der 1872 geborene Rudolph Spreckels. 1928 mit zeitweilig mehr als 30 Millionen Dollar das vermögendste Mitglied der zweiten Generation, brach sein neu strukturiertes Geschäftsimperium während der Weltwirtschaftskrise spektakulär zusammen. Ru­dolph hatte sich mit 1898 im Alter von 26 Jahren mit einem Vermögen von vier Millionen Dollar zur Ruhe ge­setzt und nichts deutete darauf hin, dass er vielleicht der schillerndste, sicher aber der in den USA bekann­teste Spreckelszögling werden sollte. Grund hierfür war sein Engagement erst in der Bekämpfung der Korruption in San Francisco, dann sein aktives Eintreten für die Progres­sives in den USA. [46] In der Metro­pole Kalifor­niens finanzierte Rudolph Spreckels 1906-1909 mit – nach heutigem Wert – fast 20 Millio­nen Dollar die spektakuläre An­klage gegen die Stadtregierung, die Union Labor und die Republican Party. Seine Ankündi­gung, auch die vornehmlich aus der Geschäfts­welt stammenden Korruptionsge­ber vor Gericht zu stellen, führte zur Spaltung der Gesellschaft in San Francisco.

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Rudolph Spreckels als Saubermann und „Diktator“ San Franciscos nach dem Erdbeben 1906 (New York Times 1907, 7. Juli, SM10)

Die Graft Prosecution er­reichte letztlich ihre selbstgesteck­ten Ziele nicht, doch San Fran­cisco und auch Ru­dolph Spreckels wurden zum Symbol für eine notwendige Reform der amerikanischen Politik und auch des unterneh­merischen Ethos. Rudolph Spreckels, zwischen­zeitlich als Banker, Investor und Immobilienspekulant erfolgreich etabliert [47], wurde für mehrere Jahre zu einem führenden Vertre­ter der Progressive Republi­cans. Während und nach dem Ersten Welt­krieg konzipierte er ambitionierte Infra­strukturprojekte in Kalifornien, die unter anderem die Verstaatlichung von Eisenbah­nen, den Bau moderner Fernstraßen sowie die kom­plette Übernahme des Was­ser- und Elektrizitätsgeschäftes durch den Staat Kalifornien vorsahen. Alle diese Pro­jekte scheitern seinerzeit, doch mehrere wurden in den 1930er Jahren im Rahmen des New Deal angegangen und umgesetzt. Rudolph Spreckels reorgani­sierte Mitte der 1920er Jahre seine unternehmerischen Aktivitäten, verabschie­det sich aus dem Bankge­schäft und investierte seine beträchtlichen Mittel in die Zukunfts­märkte der Radio- und TV-Branche (Federal Telegraph Company, Kolster Ra­dio) sowie in der Reorgani­sation des Spreckelschen Zuckerimperiums in New York (Spre­ckels Sugar Corpora­tion). [48] Anfäng­lich profitierte er vom Boom der Börse, doch dann wurden seine auf Expansion ausgerichteten Betriebe durch die Weltwirtschafts­krise und den Preisverfall im Zuckermarkt hart getroffen. 1930 musste erst das Radio-, anschließend auch das Zuckergeschäft einge­stellt werden. Rudolph Spreckels weigerte sich, das Familienunternehmen zu akzeptab­len Bedingungen an General Foods zu verkaufen, doch die geplante Reorganisation schei­terte am fehlenden Kapital. 1936 leis­tete der frühere Milliardär einen Offenbarungs­eid. [49]

Reminiszenz und Last: „Deutschtum“ in der zweiten Generation

Es scheint schwierig aus diesen vier kursorischen Lebensbildern das Gemeinsame ihrer Stellung als amerika­nische Einwandererunternehmer der zweiten Generation herauszuarbeiten. Es besteht kein Zweifel, dass sich alle vier Brüder als amerikanische Staatsbürger verstan­den, deren deutsche Herkunft zunehmend brüchig und irrelevant wurde. Wie ihr Va­ter, wurden auch die Söhne schon in den 1890er Jahren als Vorzeigeunternehmer des amerikani­schen Westens präsentiert und wahrgenommen – und sie nutzten ihrerseits die von ihnen teils beherrschte Presse, um ein solches Bild zu zeichnen.

Die fast zwanzigjährige Altersdifferenz zwischen John D. und Rudolph verweist aber schon auf eine sich wandelnde Sozialisation. Während der Ältere zwei Jahre in Deutschland zur Fachschule ging, vor Ort in die amerikanischen und deutsch-amerikanischen Vereine einge­führt wurde, zum Colonel der Nationalgarde avancierte und regelmäßig sowohl an Festlichkeiten im San Francisco Schuetzen­park als auch an Massenversammlungen der Deutschen in San Francisco beteiligt war [50], fokussierte sich die häusliche Erziehung des asthmatischen Ru­dolph lediglich auf Grund­kenntnisse der deutschen Sprache, Kultur und Geschichte. Er blieb den deutsch-amerikani­schen Vereinen fern, im Hause wurde mit ihm Englisch gesprochen. Sein Vater bot ihm ein Studium in Yale an, doch Rudolph zog die Verantwortung im Geschäft vor.

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Deutschstämmige Nationalgardisten in San Francisco (Wasp 3, 1878, 64)

Parallel schwand die Bindekraft kultureller Faktoren. Die zweite Generation nahm Ab­stand vom deutsch-lutherischen Glauben des Claus Spreckels, auch wenn die Brüder Mitglieder protestanti­scher Kirchen blieben. John D. und Adolph B. wurden führende Reprä­sentan­ten der kalifornischen Freimaurer, standen ansonsten der episkopalen Kir­che nahe. Claus D. brach im Heiligen Jahr 1924 zu einer Pilgerfahrt nach Rom auf, während Rudolph die methodistische Kirche unterstützte. Musik war für alle Spreckels­söhne wichtig, doch nur John D. blieb als passionierter Orgelspieler der deut­schen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts verhaftet, während seine Brüder die zeitgenös­sische europäische und amerikanische Musik zu schätzen wussten. Das zeigte sich analog bei vielen, in der Oberschicht üblichen Spenden: John D. Spreckels ermöglichte der University of Berkeley 1904/05 den Ankauf der bis heute renommierten Bibliothek des Berliner Philologen Karl Weinhold (1823-1901) mit mehr als 6000 Büchern und knapp 2.300 Manuskripten, die einen wichtigen Grundstock für die Germanistik an der Westküste bildete. [51] Er folgte dabei der Spendentradition seines Vaters, der den dortigen Büchergrundstock in den Rechts- und Staatswissenschaften legte. Rudolph hatte bereits 1902/03 vorgelegt, indem er Berkeley ein für die Berufung des damals in Chicago tätigen deutschstämmigen Physiologen Jacques Loeb (1859-1924) erforderliches physiologisches Laboratorium finanzierte. [52]

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Repräsentative Kalifornier in den 1890er Jahren: John D. Spreckels und Adolph B. Spreckels, Einwanderer der zweiter Generation (San Francisco Call 1896, 27. September 27, 1 (l.); Kirk, 2000, 21)

Im geschäftlichen Sektor war Claus Spreckels ein strikter Vertreter eines unternehmerischen Paternalismus, entsprechend fühlte er sich der großen Mehrzahl sei­ner Facharbeiter und führenden Angestellten persönlich verpflichtet. Dies galt auch noch für John D., dessen Unternehmen schon aufgrund der weit überdurchschnittlichen Löhne in den ersten Jahrzehnten kaum Arbeitskämpfe verzeichneten – was sich in den managergeführten Unternehmen in San Diego wandeln sollte. Claus A. setzte dagegen auf einen strikt antige­werkschaft­lichen Kurs und ließ seinen Neffen und Generalmanager Louis Spre­ckels (1869-1929) seine Fabrik 1913 angesichts von gewerkschaftlichen Lohnforderungen kurzfristig schlie­ßen. [53] Anderseits agierte Rudolph als sozial engagierter Unternehmer, der wäh­rend der Inflation des Weltkriegs die Löhne freiwillig erhöhte, um seiner sozialen Verantwor­tung gerecht zu werden. [54] Dies war für ihn jedoch Ausdruck ei­ner funktional-technokratischen Grundhaltung, die eine faire Bezah­lung vorsah, eine persönliche Bezie­hung zwischen Unternehmer und Bediensteten aber in Abrede stellte. Für die Söhne war Deutschland weniger die frühere Heimat als vielmehr eher ein Wettbewer­ber um Marktanteile in der Zuckerbranche und der Außenpolitik. In verschiede­nen Senatsanhörungen wurde Deutschland von ihnen stets als Konkurrent präsentiert, um auf diese Weise die Tarif- und Subventionspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen. John D. nahm im imperialen Wettstreit im Pazifik wiederholt Partei gegen die Weltpolitik Wil­helm II. und Großbritanniens und unter­stützte mit seiner Dampferflotte die US-Politik in Südamerika und den Philippinen. [55]

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John D. Spreckels Privatjacht “Venetia” als USS Venetia (SP 431) 1919 (U.S. Navy NH 85180-A)

Die schwindende Bedeutung der deutschen Herkunft zeigte sich besonders an den Ehe­frauen der Brüder. Sie alle entstammten amerikanischen Fami­lien, keine davon mit deutsch-amerikanischem, zwei dagegen aus irisch-amerikanischem (und katholischen) Hintergrund. Sie orientierten sich an den kulturellen Standards New Yorks und der westeuropäischen Gesellschaften, ihre zumeist jährlichen Auslandsreisen führ­ten sie nach London und insbesondere Paris, nach Monte Carlo, den böhmischen Bä­dern und Italien. Ihre Vorstellung von Kunst, Kultur und Mode war vornehmlich frankophon ge­prägt, dort besaß man Villen und Apart­ments, dort war man Teil der hohen Gesell­schaft. [56] Das wurde einzelnen Mitgliedern der Familie Spreckels im Deutschen Reich expli­zit verwehrt. Als Rudolph Spreckels 1913 von Wilson als U.S.-Botschaf­ter in Berlin nominiert worden war, liefen nicht nur deutsch-amerika­nische Ver­eine Sturm, sondern hielt sich auch die deutsche Regierung bedeckt. Die Spreckels erschie­nen ihnen nicht nur als Konkurrenten im Zuckergeschäft und Ru­dolph als verkappter Sozialdemokrat, sondern sie waren als Abkömmlinge von norddeut­schen Kleinbauern gesellschaftlich einfach nicht satisfaktionsfähig. [57]

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Rudolph Spreckels als Kritiker des saturierten Establishment (Salt Lake Telegram 1924, 20. September, 3)

Gleichwohl wäre es verfehlt, von einer vollständigen Integration der Einwandererunterneh­mer in die US-Gesellschaft auszugehen. „Deutschtum“ wurde an die Söhne immer wieder als Fremddeutung herangetragen. In Auseinandersetzungen um Hawaii, beim Eintreten für die Immigration asiatischer Arbeiter, beim Kampf gegen Korruption in San Francisco und anderswo – immer wieder wurden von der Presse und vielen Gegnern Vorwürfe „unamerikanischen“ Verhaltens laut. John D. und Adolph B. kompensierten dies mit besonderem Patriotismus und knüpften enge Verbindungen zum Kriegsministerium und der Marine. Das galt zumal im Ersten Weltkrieg, als sie sich schon lange vor dem US-Kriegseintritt betont patriotisch gaben. Die mit französischen Regierungsstellen eng vertraute Mrs. Adolph B. Spreckels schien deutschen Stellen seit ihrem 1915 einsetzenden Engagement für das Belgische Hilfswerk als dezidierte Gegnerin des Kaiserreichs. John D.s zum Torpedoboot umgebaute Yacht Ve­netia kämpfte 1918 im Mittelmeer erfolgreich gegen deutsche U-Boote, und der Besitzer popularisierte anschließend gar die falsche Legende, dass sie U-20 zerstört habe, das Boot, das 1915 die Lusitania versenkt hatte. [58] Rudolph dagegen geriet schon während des Ersten Weltkrieges in die Mühlen der Red Scare. Als Kriegsgegner wurde er nicht nur als Teil feindlich gesinnter „pro-German elements“ angeprangert, sondern nach den Bombenatten­tat am Prepardness Day 1916 in San Francisco in die Nähe des Anarchismus gerückt. [59] In Yonkers, NY musste der nicht naturalisierte Walter P. Spreckels (1888-1976) 1918 seine Position als stellvertretender Geschäftsführer der Federal Sugar Refinery als uner­wünsch­ter Ausländer aufgeben [60]; der unmittelbare Kontakt zu Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) von drei der Brüder konnte dem nicht entgegenwirken. Ru­dolph Spreckels Eintreten für ver­stärkte Regulierung und höhere Steuern führte wäh­rend der Weltwirtschaftskrise zu sei­ner Denunziation als Agent der Sowjetunion. [61] Auch amerikanische Vorzeigeunterneh­mer wurden wie die große Mehrzahl der Einwanderer aus Osteuropa behandelt, wenn sie sich nicht an die Spielregeln des US-Mainstreams hielten.

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Maskenspiel und Doppelbödigkeit eines etablierten Fremden – Karikatur 1908 (Oakland Tribune 1908, 8. Januar, 1)

Deutsche Herkunft und amerikanische Realität: Ein Zwischenfazit

Eine kurze Fallstudie kann nur Hinweise liefern. Doch thesenartig verdichtet ist sie für Vergleichsstudien wichtig, kann Anregungen zum Nachdenken über die fragile Identität deutscher Einwandererunternehmer geben, zugleich Rückfragen an die starren Kategorisierungen im Forschungsalltag anregen.

Im vorliegenden Falle war Amerikanisierung erst einmal die Konsequenz aus Auswanderungsentscheidung und frühem Erfolg. Familiäre und ethnische Netzwerke wurden ge­nutzt, um Erfolg im neuen amerikanischen Umfeld zu haben. Sie wurden ergänzt durch neu etablierte geschäftliche Netzwerke, zumal in der Einwandererstadt San Fran­cisco. Für diese war Kapital entscheidend, weniger die Herkunft. Die Offenheit einer Grenzland­situation erforderte zugleich aktives politisches Gestalten auf lokaler, regiona­ler und staatlicher Ebene. Dem konnte sich ein Unternehmer, zumal in der von politi­schen Rahmenbedingungen abhängigen Zuckerbranche, nicht verschlie­ßen. In einer demo­kratischen Gesellschaft ohne starken Staat war dies ein wichtiges Integrationsmo­ment. Die gesellschaftliche Anerkennung als Amerikaner, die schon früh medial in der Massen­presse verhandelt wurde, hatte für diese Elitenemigranten entsprechend hohe Bedeu­tung. Es ging nicht allein um Besitz, sondern auch um die Akzeptanz des unternehmeri­schen Handelns. Offensive Pressearbeit sowie gezieltes Mäzenatentum waren spätes­tens seit den 1880er Jahren die Folge.

Die simple Dichotomie des Deutsch-Amerikanischen verkennt die breit gefächer­ten Identi­tätsstrukturen dieser Zeit. Der jeweilige Lebensort war ebenso wichtig wie das Her­kunftsland. Kalifornien trat neben die Vereinigten Staaten von Amerika und wurde überwölbt durch neue transnationale Identitä­ten des westlichen Smart Set, einer globalen Oligarchie der Reichen und Superreichen. Der Blick auf die zweite Generation verweist auf sich stetig wandelnde Sozialisationen und kulturelle Selbstverständlichkeiten – wenngleich in unterschiedlichem Maße. Rückbezug auf das Deutschtum war für die Spre­ckels spätestens seit den 1880er Jahren lediglich ein Senti­ment, nicht mehr entschei­dend für die Alltagsgestaltung. Dies war für sie kein Verlust, sondern ein Übergang zu anderen Identitätsangeboten.

Der Bezug auf Deutschland war für die Spreckels gebrochen, weil das Vaterland Konkur­renz und Ideen- und Technologiezentrum zugleich war. Dies führte zu einer Rationali­sierung des Umgangs mit der früheren Heimat aus der Perspektive der damit verbundenen Chancen im amerika­nischen Umfeld.

Die Spreckels wurden Amerikaner von der ersten Generation an. Gleichwohl wurde der deutsche Hintergrund immer wieder von anderen Amerikanern – und auch Deutschen – thematisiert. Die Spreckels, zumal ab der dritten Generation, konnten sich jegliche Extrava­ganzen im gesell­schaftlichen Bereich leisten, ohne als Amerikaner hinterfragt zu werden. Sie praktizierten unterschiedliche Formen des Unternehmertums, die allesamt ihren Platz in der Wirtschaftsverfassung der USA hatten. Sobald sie aber den politischen Mainstream hinterfragten, wurden sie immer wieder auf den Status der Immig­ranten reduziert.

Uwe Spiekermann, 14. Juni 2022

Literatur und Anmerkungen

[1] Reinhard Bendix und Frank Howton, Social Mobility and the American Business Elite, in Seymour M. Lip­set und Reinhard Bendix (Hg.), Social Mobility in Industrial Society, New Brunswick 1992, 114-146, hier 138. Vgl. auch Walter A. Friedman und Richard S. Tedlow, Statistical Portraits of American Business Elites: A Re­view Essay, Business History 45, 2003, 89-113.
[2] Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann, Immigrant Entrepreneurship: The German-American Business Biography, 1720 to the Present. A GHI Research Project, Bulletin of the German Historical Insti­tute 47, 2010, 69-82; Uwe Spiekermann und Hartmut Berghoff, Immigrant Entrepreneurship: German American Business Biographies, 1720 to the Present. Zielsetzungen, Organisation und Herausforderungen eines Forschungsprojektes des Deutschen Historischen Instituts Washington, Jahrbuch der historischen Forschung: Berichtsjahr 2012 [2013], 53-61.
[3] Detailliert hierzu Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience since 1700, Washington 2016.
[4] Uwe Spiekermann, Family Ties in Beer Business: August Krug, Joseph Schlitz und the Uihleins, Yearbook of German-American Studies 48, 2013 [2015], 59-112.
[5] Andrea Colli, The History of Family Business, 1850-2000, Cambridge et al. 2003; Ders. und Mats Larsson, Family business and business history: An example of comparative research, Business History 56, 2014, 37-53; Andrea Calabrò (Hg.), A Research Agenda for Family Business. A Way Ahead for the Field, Glos und Northampton, MA 2020; Hartmut Berghoff und Ingo Köhler, Verdienst und Vermächtnis. Familienunternehmen in Deutschland und den USA, Frankfurt/M. und New York 2020.
[6] Uwe Spiekermann, Claus Spreckels: A Biographical Case Study of Nineteenth-Century American Immigrant Entrepreneurship, Business and Economic History On-Line 8 (2010); Ders., Claus Spreckels: Robber Baron and Sugar King (2011) Claus Spreckels: Robber Baron and Sugar King | Immigrant Entrepreneurship (immigrantentrepreneurship.org) [12.06.2022].
[7] Allen Collins, Rio Del Mar, Aptos 1995 (Ms.), 6-10.
[8] Spreckels, Claus, Bancroft Library C-D 216-230, reel 25, C-D 230. Vgl. auch die hagiographische aber materialreiche Arbeit von William Woodrow Corday, Claus Spreckels of California, Phil. Diss. University of Southern California 1955 (Ms.).
[9] Die gängigen Angaben einer raschen Marktführerschaft lassen sich nicht bestätigen. Ende der 1860er Jahre besaß die Albany Brewery vielmehr einen lokalen Marktanteil von 10-12%, vgl. The Brewers, Daily Alta California (DAC) 1869, 20. Januar; The Brewers, ebd., 5. Februar.
[10] Angaben nach Claus Spreckels, in San Francisco. Its Builders Past and Present, Bd. I, Chicago und San Fran­cisco 1913, 3-10, hier 5; DAC 1864, 3. April; Kennedy Mining Company, DAC 1876, 31. Mai; Profits Show a Decrease, Chicago Daily Tribune (CDT) 1899, 2. Februar, 9; A Meeting of the Stockholders, DAC 1874, 10. März; Mission Creek Canal Company, DAC 1868, 10. Mai; DAC 1866, 10. Mai; DAC 1868, 20. März; Sacramento Daily Union (SDU) 1868, 6. April.
[11] John S. Hittell, The Commerce and Industries of the Pacific Coast, San Francisco 1883, 547, 550.
[12] Jacob Adler, Claus Spreckels. The Sugar King in Hawaii, Honolulu 1966, 3-15.
[13] Jon M. Van Dyke, Who owns the Crown Lands of Hawai’i?, Hawai’i 2008, 100-110; Jessica B. Teisch, Engineering Nature: Water, Development, & Global Spread of American [sic!] Environmental Expertise, Chapel Hill 2011, 134-150, insb. 137-141; Uwe Spiekermann, Das gekaufte Königreich: Claus Spreckels, die Hawaiian Commercial Company und die Grenzen wirtschaftlicher Einflussnahme im Königtum Hawaii, 1875 bis 1898, in Hartmut Berghoff, Cornelia Rauh und Thomas Welskopp (Hg.), Tat­ort Unternehmen. Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin und Boston 2016, 47-67.
[14] Uwe Spiekermann, Labor as a Bottleneck. Entangled Commodity Chains of Sugar in Hawaii and California in the Late Nineteenth Century, in Andrea Komlosy und Goran Music (Hg.), Global Commodity Chains and Labor Relations, Leiden und Boston 2021, 177-201.
[15] Vgl. etwa Outragous Monopoly, CDT 1882, 7. November, 8; Spreckels’ Monopoly, CDT 1883, 15. Januar, 6. Zur Stellungnahme der Zuckerpflanzer s. The Hawaiian Reciprocity Treaty, The Planters’ Monthly 1882, 188-196. Spreckels wies Vorstellungen eines etwaigen Monopols stets zurück, vgl. Claus Spreckels: The Sugar Monopoly, CDT 1882, 16. Dezember, 15.
[16] Prononciert etwa der Erfahrungsbericht Slave or Starve, CDT 1881, 18. Oktober, 5. Ankla­gend hieß es: „His monopoly is based upon injustice, corruption, and bribery” (Claus Spreckels’ Monopoly, CDT 1883, 9. Januar, 4). Zusammenfassend und starker abwägend John Tyler Morgan: Report from the Committee on Foreign Relations and Appendix in Relation to the Hawaiian Islands, Washing­ton 1894, 67-77.
[17] The Sugar Fraud, CDT 1882, 12. Februar, 2; A Hawaiian Sugar Monopoly, New York Times (NYT), 1882, 12. April. Zur allgemeinen Debatte s. Richard R. John, Robber Barons Redux: Antimonopoly Reconsidered, Enterprise and Society 13, 2012, 1-38.
[18] Sugar. Opposition to Claus Spreckels, CDT 1884, 20. Februar, 3; The Far West, CDT 1885, 4. November, 6; The Two Sandwich Kings, CDT 1887, 2. Mai, 9.
[19] The Coast Countries, DAC 1872, 16. Oct., 1.
[20] The Tariff on Sugar. Claus Spreckels tells about his Beet Sugar Business, NYT 1889, 10. Januar; Jimmie Don Conway, Spreckels Sugar Company: The first Fifty Years, Thesis San Jose State Univer­sity 1999 (Ms.); Gary S. Breschini, Mona Dudgel und Trudy Haversat, Images of America: Spreckels, Charleston et al. 2006. Zur Gesamtentwicklung der Branche s. Progress of the Beet-sugar Industry in the United States in 1902, Washington 1903.
[21] Spreckels in New York, CDT 1888, 7. März, 6; Claus Spreckels’ Idea, ebd., 13. Mai, 9.
[22] Spreckels‘ Refinery Absorbed, Washington Post (WP) 1892, 28. März, 1; There Will Be No More Competition Between Them, CDT 1891, 7. April, 5; Spreckels Tells of Money Disbursed, CDT 1895, 12. April, 5; David Genesove and Wallace P. Mullin, Predation and its rate of return: the sugar industry, 1887-1914, RAND Journal of Economics 37, 2006, 47-69.
[23] The Valley Road, San Francisco 1896; New Transcontinental Road, CDT 1898, 21. September, 10; Southern California Growing, Wall Street Journal (WSJ) 1906, 26. August, 7.
[24] Pacific Gas and Electric and the Men who made it, San Francisco 1926, 34-35.
[25] Alfred Darner: A Factor in the New San Francisco. The Claus Spreckels Building, Overland Monthly 30, 1897, 571-576; Michael R. Corbett, The Claus Spreckels Building, San Francisco, San Francisco 2013.
[26] Vgl. etwa Spreckels Ausführungen in Defies the Sugar Trust, CDT 1891, 9. August, 2; Hawaiian would fight, WP 1893, 18. September, 1; Claus Spreckels’ Indifference, ebd., 23. Oktober, 4.
[27] Spreckel’s Sugar, NYT 1883, 6. Januar.
[28] Stevens to Blount, CDT 1893, 30. November, 2.
[29] Die Zucker-Industrie in den Vereinigten Staaten von Amerika, Die chemische Industrie 24, 1901, 520-525, 563-569, hier 524. Die vorherige Einschätzung aus Der Zuckerkönig, Hansa 21, 1884, 128.
[30] Zitat n. Albrecht Wirth, Californische Zustände, Deutsche Rundschau 92, 1897, 65-85, hier 68; Noted Pioneer is Buried with Simple Rites, San Francisco Call (SFC) 1908, 29. Dezember, 3.
[31] Emil Ließ, Aus Kalifornien, Abendpost 1916, Nr. 268 v. 10. November, 3.
[32] Archiv der TIB/Universitätsarchiv Hannover, Best. 9, Nr. 45 und 46.
[33] National Archives and Records Administration, 1900 U.S. Federal Population Census, Line 97, Enumeration District 0113, Sheet B, 2.
[34] Hagiographisch: H. Austin Adams, The man, John D. Spreckels, San Diego 1924. Biographisch fundiert, doch mit vielen unternehmenshistorischen Lücken: Sandra E. Bonura, Empire Builder. John D. Spreckels and the Making of San Diego, Lincoln 2020.
[35] Hotel des Coronado History, hg. v. Hotel del Coronado Heritage Department, Coronado 2013.
[36] Million a Year List Still Growing, NYT 1914, 25. Oktober, 14.
[37] Vgl. Mike De Young Shot, CDT 1884, 20. November, 1; The Far West, CDT 1885, 7. Juni, 11; Young Spreckels Free, ebd., 2. Juli, 1; The Spreckels Trial, Los Angeles Times (LAT) 1885, 6. Juni, 4.
[38] California Jockey Club Organizes, CDT 1893, 4. Januar, 7; Day of Upsets at Bay District, CDT 1894, 22. März, 11; Ingleside Track Owners Disagree, CDT 1897, 12. März, 8; Another California Track, CDT 1901, 17. Mai, 7.
[39] Adolph Bernhard Spreckels, in San Francisco. Its Builders Past and Present, Bd. I, Chicago und San Fran­cisco 1913, 20-24, hier 22-23.
[40] Anthony Kirk, A Flier in Oil. Adolph B. Spreckels and the Rise of the California Petroleum Industry, San Francisco 2000.
[41] Legion of Honor. Inside and Out, hg. v. Fine Arts Museums of San Francisco, San Francisco 2013; Spreckels Leaves $14,944,495 Estate, Ogden Standard Examiner 1926, 14. Oktober, 13.
[42] Claus Spreckels Sued, NYT 1893, 26. November, 8; The Disgusting Squabble in the Spreckels Family, CDT 1895, 31. Mai, 16; At War with Two Sons, WP 1896, 19. Januar, 20.
[43] Maui’s Cane Fields, CDT 1898, 14. August, 33; Hearings held before the Special Committee on the Investigation of the American Sugar Refining Co. and others. House of Representatives, Bd. III, Washington 1911, 2209-2216.
[44] To Build Big Sugar Refinery, CDT 1902, 22. Juli, 3; Financial Notes, CDT 1922, 6. Dezember, 28; Detailliert hierzu Uwe Spiekermann, An Ordinary Man among Titans: The Life of Walter P. Spreckels (2015) (An Ordinary Man among Titans: The Life of Walter P. Spreckels | Immigrant Entrepreneurship (immigrantentrepreneurship.org) [12. Juni 2022]; Huge Judgment Against Spreckels, San Mateo Times and Daily News Leader 1940, 3. Februar, 12).
[45] ‚Gus‘ Spreckels Dies in Paris, Oakland Tribune 1946, 10. November, A-13.
[46] Vgl. Uwe Spiekermann, Cleaning San Francisco, cleaning the United States: The graft prosecutions of 1906-1909 and their nationwide consequences, Business History 60, 2018, 361-380.
[47] Slope Briefs, LAT 1906, 5. Mai, I3; Rudolph Spreckels, Christian Science Monitor (CSM) 1922, 15. August, 10.
[48] United Bank & Trust Co. of California, WSJ 1923, 21. August, 4; California Bank Merger, WSJ 1927, 23. März, 8; Kolster Radio Obtains Rights to 600 Patents, CSM 1928, 17. November, 1; Coast Frosts, Time 1929, 22. April; Broken Caneheart, Time 1932, 1. Februar; District Court of Appeal, First District, Division 2, California. Raine v. Spreckels et al., 77 Cal.App.2d 177, 174 P.2d 857.
[49] Rudolph Spreckels Tells R.C. Court of $33,000,000 Failure, San Mateo Times and Daily News Leader 1939, 26. Oktober, 1, 4.
[50] Military Items, DAC 1878, 22. Mai, 1; Horticultural Hall, DAC 1879, 27. April.
[51] Oakland Tribune 1904, 16. August, 6; Great German Library Classified, ebd. , 11. August, 12; Commemorate Gift of Great Library, ebd., 22. September, 9.
[52] Famous Physiologists Coming to California, LAT 1902, 12. November, 5. Im Gefolge gelang es auch, den Leipziger Chemiker Wilhelm Ostwald (1853-1932) für Vorträge zu gewinnen (Sends Report to Governor, SFC 1905, 22. Januar, 34; Savant will soon come to University, SFC 1905, 18. März, 6).
[53] Heads Off Sugar Strike, NYT 1913, 15. April, 20.
[54] Rudolph Spreckels Raises Salaries, LAT 1917, 4. Januar, I5.
[55] Chilean Brutality, Los Angeles Herald 1891, 22. Dezember, 1; On the Naval List, San Francisco Morning Call 1892, 26. Januar, 2; Merritt is Leader, CDT 1898, 5. Juni, 3.
[56] Bernice Scharlach, Big Alma. San Francisco’s Alma Spreckels, San Francisco 2015.
[57] Opposing Spreckels, The California Outlook 14, 1913, Nr. 24, 3; Waging War on Spreckels, LAT 1913, 8. Juni, I4. Spreckels selbst stellte in diesem, wie in allen anderen Fällen klar, dass er für ein öffentliches Amt nicht zur Verfügung stehen würde.
[58] John D. Spreckels Yacht Returns Home With Gold Star: Knocked Out the Submarine That Sank the Lusitania, Eau Claire Leader 1919, 9. März, 6.
[59] Jeanne Redman, San Francisco’s Cup of Bitterness, LAT 1916, 30. Juli, III3; The Fickert Fight, LAT 1917, 24. November, II4 (Zitat).
[60] W.P. Spreckels Barred From Sugar Plant, NYT 1918, 1. Mai, 11; Spiekermann, Walter P. Spreckels.
[61] Spreckels’ Panacea, WP 1930, 25. September, 6.

Joints im kaiserlichen Berlin? Die kurze Geschichte der Bronchiol-Asthmazigaretten

Joints im kaiserlichen Berlin? Ja, die gab es – vorausgesetzt, man denkt dabei an cannabishaltige Zigaretten. Nein, die gab es nicht – denn diese Zigaretten dienten nicht dem Vergessen und der Entspannung, sondern einem medizinischen Zweck: Cannabishaltige Zigaretten waren wichtiger Teil einer breiten Palette von Heilmitteln gegen Asthma, gegen Bronchialkatarrhe, gegen Atemnot. Asthmazigaretten dieser Art konnte man während des gesamten Kaiserreiches in Berlin und andernorts kaufen. Cannabis war damals ein gängiger Inhalts- und Wirkstoff, auch wenn dessen Bedeutung in einem Markt ohne Verbot bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges gering war und abgenommen hatte. Asthmazigaretten wurden anfangs von ausländischen Anbietern verkauft, vorwiegend Franzosen, teils auch Holländern. Doch parallel zum Aufstieg der heimischen Pharmaindustrie drangen auch deutsche Anbieter in die Marktnische. Das zeigte sich vor allem an der kurzen, von 1901 bis 1914/16 währenden Geschichte der Berliner Bronchiol GmbH. Es handelte sich um eine kleine Gruppe jüdischer Geschäftsleute, die Ideen eines kränkelnden Zahnarztes, des Hauptes der amerikanischen Kolonie in Berlin aufgriffen, um dessen „Gesundheitszigaretten“ in Berlin, im Deutschen Reich und auch im Ausland anzubieten. Die Bronchiol GmbH wird im Mittelpunkt dieses kleinen Ausfluges stehen. Doch um deren Geschichte verstehen und einordnen zu können, müssen wir mehr über ihre Vorgeschichte wissen.

Indischer Hanf gegen Asthma: Die Etablierung der Asthmazigaretten

Asthma ist eine chronische Entzündung der Atemwege, die zu steten Hustenattacken und Atemnot führt. Im 19. Jahrhundert war es eine weit verbreitete Alltagskrankheit, die in ihrer chronischen Form nicht wirklich kuriert, einzig gelindert werden konnte (W[ilhelm] Brügelmann, Ueber Asthma, sein Wesen und seine Behandlung, 3. verm. Aufl., Wiesbaden 1895). Kräutertherapien milderten die Symptome, seit dem späten 18. Jahrhundert wurden dazu vornehmlich Bilsenkraut, Tollkirsche (Belladonna) und Stechapfel (Stramonium) genutzt. Man trocknete diese Naturprodukte, zerbröselte sie, zerkleinerte sie zu Pulvern. Um die Lunge krampflösend zu erreichen, wurden sie einerseits geraucht, zuerst als Pfeife, dann in Zigarren, seit den 1850er Jahren auch in Zigaretten (Mark Jackson, „Divine Stramonium“: The Rise and Fall of Smoking for Asthma, Medical History 54, 2010, 171-194; Cecile Raynal, De la fumée contre l’asthme, histoire d’un paradoxe pharmaceutique, Revue d’histoire de la pharmacie 94, 2007, Nr. 353, 7-24). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden zudem erste Inhalationsapparate. Die Heilmittel wurden entzündet, der Patient atmete den Dampf teils direkt, teils mittels eines Tubus oder eines Schlauches ein. Rauchen und Inhalieren halfen bei akuten Asthmaanfällen, linderten Schmerzen, konnten aber die Ursachen der chronischen Entzündung nicht beseitigen. Das war ein Steilpass für Erfindergeist, für neue Marktangebote, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um 1900 gab es für die Bekämpfung von Asthma daher eine kaum überschaubare Zahl innerlich und äußerlich anwendbarer Mittel: Tees, Essenzen und Tinkturen wurden angeboten, Asthmapapiere, -pappen, -kerzen, -pulver, -kräuter, zudem zahlreiche Asthmazigaretten (Otto von Lengerken, Handbuch neuerer Arzneimittel, Frankfurt a.M. 1907, 148-149): „Die Auswahl ist groß – der Erfolg gering“ (Jaroslaw Hrach, Das Bronchialasthma und die pneumatische Kammer, Wiener Medizinische Wochenschrift 55, 1905, Sp. 2025-2028, hier Sp. 2026). Die Ärzteschaft schien therapeutisch „wehrlos“ (Paul v. Terray, Ueber Asthma bronchiale und dessen Behandlung mit Atropin, Medizinische Klinik 5, 1909, 79-83, hier 79).

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Heimapparaturen für den Selbstbetrieb (Berliner Tageblatt 1910, Nr. 501 v. 3. Oktober, 7)

Im langen 19. Jahrhundert hatten sich jedoch nicht nur die Darbietungsformen der Heilmittel geändert. Auch neue Wirkstoffe wurden eingesetzt, darunter der Mitte des 19. Jahrhunderts erst in Großbritannien, dann in Frankreich, schließlich auch im deutschsprachigen Raum bekannte und medizinisch eingesetzte indische Hanf. Anders als der einheimische Hanf, Cannabis Sativa, der seit dem Mittelalter in der Volksmedizin zur Beruhigung und gegen Entzündungen eingesetzt wurde, war Cannabis Indica von Beginn mit Rausch und der Exotik des Orients verbunden. Mediziner und Pharmazeuten untersuchten und erprobten das neue Kraut, setzten es therapeutisch ein, verdichteten es zu neuen, allerdings nicht sonderlich erfolgreichen Pharmazeutika.

Die Asthmatherapie war anfangs eine Ausnahme, denn sie wurde stark geprägt von einem weltweit präsenten Unternehmen, der Pariser Pharmafirma Grimault & Co. Ihr Geschäftserfolg basierte auf der Erschließung globaler, meist kolonialer naturaler Ressourcen für die aufstrebende pharmazeutische Industrie. Deren Stärke war es, die belebte und unbelebte Materie auf Stoffe zurückzuführen, auf Wirkstoffe, die mehr oder weniger kausale Effekte hervorrufen konnten. Grimault bot jedenfalls seit den 1850er Jahren eine rasch wachsende Palette ummantelter Wirkstoffe an, vorrangig Stärkungsmittel aus Pflanzenextrakten, wie etwa Matico oder Guarana. Als Sirup oder in Pillenform wurden sie international vermarktet, dienten als Allzweckmittel gegen eine Vielzahl von Alltagskrankheiten (American Medical Times NS 2, 1861, Nr. 26, 4; Allgemeine Illustrirte Zeitung 1, 1865, 112, 136; Über Land und Meer 23, 1869/70, 383). Obwohl die Besitzer seit den frühen 1870er Jahren mehrfach wechselten, stand der Name weltweit für „französische Specialitäten“, durchaus mundende Hilfsmittel gegen die Fährnisse des bürgerlichen Alltags. Spätestens seit 1862 bot Grimault auch „Indische Cigaretten“ aus Cannabis Indica an (Die Anwendung des Matico, hg. v. Grimault und Comp., Paris s.a. [1862], 35). Sie sollten zum bekanntesten Produkt des Unternehmens werden. Anfangs im Heimatmarkt und dann in Österreich als „Hachisch-Cigaretten“ [sic!] (Der Militärarzt 1, 1867, Sp. 327) beworben, setzten sie sich unter dem neutraleren Begriff „Indische Cigaretten“ auch in Übersee fest: Bereits 1867 waren sie in Australien und im frankophonen New Orleans erhältlich, ab 1868 in Indien, spätestens 1869 finden sich Anzeigen in Kanada, dann auch in Großbritannien. Seit 1871, just nach dem verlorenen Krieg, eroberte Grimault rasch die Marktführerschaft im neu gegründeten Deutschen Reich. Die cannabishaltigen Asthma-Zigaretten wurden bis Mitte der 1880er in deutschen Tageszeitungen breit beworben, dann auch wieder zwischen 1895 und 1906. Verfügbar waren die in schicken gelben Papierovalen angebotenen Glimmstängel bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges (C[arl] Bachem, Deutsche Ersatzpräparate für pharmaceutische Spezialitäten des feindlichen Auslandes, Bonn 1916, 11), doch auch wieder danach. Sie konnten in Apotheken direkt, ohne Rezept, gekauft werden.

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Marktführer im Nischenmarkt: Grimaults „Indische Cigaretten“ (Kölnische Zeitung 1871, Nr. 359 v. 28. Dezember, 4 (l.); ebd. 1876, Nr. 31 v. 31. Januar, 4)

Grimault etablierte cannabishaltige Asthmazigaretten im Alltag der Mittel- und Oberschicht. Andere, frühere Angebote gab es, doch es handelte sich um Apothekerware, angefertigt für eine begrenzte lokale Nachfrage, meist auf Rezept eines Arztes. Der Hohenmölsener Apotheker Carl Stutzbach (1789-1871) hatte zwar schon in den frühen 1850er Jahren „Deutsches Hanfkraut“ zum Rauchen angefertigt (Georg Martius, Pharmakologisch-medicinische Studien über den Hanf, Leipzig 1856, 39, 58-63), doch dies schuf keinen neuen Markt. Stutzbach und auch die später führende Darmstädter Firma E. Merck blieben Spezialanbieter für Cannabispräparate, die Apotheker dann zu Hanföl (für Einreibungen), Opodelbok (gegen Rheuma) und Hanfchloroform (zum Inhalieren gegen Asthma) und auch für Asthmazigaretten weiterverarbeiteten und verabreichten.

Werbung für Grimaults Indische Cigaretten in Berlin (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 194 v. 28. April, 4 (l.); Berliner Tageblatt 1905, Nr. 219 v. 1. Mai, 6)

Während lokale Apotheker nach grundsätzlich bekannten Rezepten arbeiteten, zeigten sich am Beispiel von Grimault & Co. typische Probleme eines breit angebotenen Geheimmittels. Die Pariser Firma bewarb zwar offensiv den Cannabis-Gehalt der Zigaretten, doch die genaue Zusammensetzung des Krautes war unklar. Die zunehmend üblichere pharmazeutisch-chemische Kontrolle nährte Zweifel, ob die Zigaretten tatsächlich indischen Hanf enthielten (Indische Cigaretten, Dinglers Polytechnisches Journal 236, 1880, 349). Ergänzende Untersuchungen konnten zwar geringe Mengen nachweisen, doch der Hauptwirkstoff war Belladonna, waren also fein zerstoßene Tollkirschenblätter (Hermann Hager, Handbuch der pharmaceutischen Praxis, Ergänzungsbd., Berlin 1884, 191). Die Werbung war demnach irreführend, „eine Täuschung und Uebervortheilung des Publikums“ (Karlsruher Tagblatt 1885, Nr. 117 v. 30. April, 1891). Öffentliche Warnungen folgten, denn Gesundheitsschäden konnten aufgrund der unklaren Zusammensetzung nicht ausgeschlossen werden. Die Marktstellung von Grimault wurde dadurch empfindlich getroffen, die Werbung für längere Zeit eingestellt. Dennoch verordneten viele Ärzte weiterhin das Präparat: „Wenige Athemzüge lassen sehr oft erhebliches Asthma verschwinden, indess sind die Gefahren des Haschischrauchens bekanntlich so gross, dass man die Cannabis in Cigarettenform nur ausnahmsweise gestatten kann. Der willkürliche Verkauf dieser Cigaretten ist streng zu untersagen“ (Brügelmann, 1895, 127). Grimaults Indische Cigaretten blieben dennoch verfügbar. Nicht aber als vermeintlicher Joint auf Rezept, sondern als überteuertes Geheimmittel mit gewisser Wirkung.

Französisches Pionierprodukt: Espic-Zigaretten und -Pulver (Kölnische Zeitung 1858, Nr. 194 v. 15. Juli, 6 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1893, Nr. 7 v. 5. Januar, 6)

Hauptwettbewerber von Grimault war die französische Firma Espic. Sie bot seit Mitte des 19. Jahrhunderts Inhalatoren an (Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 67, 1850, 412), spätestens seit 1858 auch Asthmazigaretten. Diese enthielten ein sehr kleine Prise Opium, bestanden vornehmlich aus Tollkirschen- und Stechapfelblättern, aus Bilsenkraut und dessen Samen, waren entsprechend atropinhaltig (Annali Universali di Medicina 166, 1858, 656; Kölnische Zeitung 1897, Nr. 209 v. 8. März, 4). Ihre Anwendung war nicht unumstritten, längerer Gebrauch bewirkte nervöses Zittern ([Carl] L]udwig] Merkel, Die neuesten Leistungen auf dem Gebiete der Lehre vom Asthma, Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 109, 1861, 225-247, hier 244). Auch bei Espic wurde diskutiert, ähnlich wie unter anderen Vorzeichen bei Grimault, ob der Opiumgehalt nur werbeträchtig vorgespielt sei (Drogisten-Zeitung 22, 1907, 11). Angeboten in einer schmucken Büchse, kosteten sie aufgrund der preiswerteren Inhaltsstoffe 1,70 resp. 2 Mark pro Büchse mit zehn Stück (Echo der Gegenwart 1879, Nr. 31 v. 31. Januar, 4; Sport & Salon 3, 1880, Nr. 3, 22). Das war deutlich weniger als die 2,50 Mark für ein Döschen Grimault-Zigaretten. Beide linderten Asthmaanfälle, die Kosten sprachen aber gegen das cannabishaltige Präparat. Langfristig näherten sich die Preise allerdings an, nach der Jahrhundertwende galt 1,50 Mark als Standardpreis für eine 10er-Packung Asthmazigaretten (Lengerken, 1907, 149).

Marktalternative: Holländische Asthmazigaretten mit dem Wirkstoff Tollkirsche (Illustrirte Zeitung 78, 1882, 201 (l.), Allgemeine Zeitung 1896, Nr. 97 v. 8. April, 4)

Ein früher Preisbrecher waren die „holländischen“ Asthmazigaretten der vor allem durch ihren Chinawein bekannten pharmazeutischen Firma Kraepelien & Holm aus dem holländischen Zeist, nahe Utrecht. Auch dabei handelte es sich um ein „aus verschiedenen Kräutern“ (Reichs-Medicinal-Kalender für Deutschland auf das Jahr 1890, T. 2, Leipzig 1889, Anzeigen, 58) hergestelltes Geheimmittel. Die Wirkung resultierte vornehmlich von Belladonnakräutern. Opium und indischer Hanf außen vor blieben. Mit 1,50 Mark war es günstiger als Espic und Grimault, markierte damit einen Trend des späten 19. Jahrhunderts: Exotische Rauschgifte wie Opium und Cannabis Indica wurden durch preiswertere Kräuter substituiert. Das verhinderte nicht zwingend gefährliche Nebenwirkungen, denn der freie Verkauf von Tollkirschenpräparaten war von Verbotsforderungen und Warnungen begleitet (Germann, Asthma-Cigaretten, Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte 19, 1889, 157). Doch es galt das Leiden der Patienten mit möglichen anderen Gesundheitsgefahren abzuwägen. Im Deutschen Reich wurde die massive Deregulierung des Arzneimittelmarktes in den späten 1860er Jahren zwar mehrfach wieder zurückgenommen, doch trotz zunehmender Apothekenpflicht und begrenzter Werbeverbote für Geheimmittel blieb der deutsche Markt offen für die heute als Drogen regulierten Wirkstoffe. Die Anbieter nahmen Rücksicht auf Behörden und Apotheker, behaupteten für die aus London importierten „Joys Asthma-Cigaretten“ gar: „Garantiert unschädlich für Kinder, Damen, überhaupt für jede Constitution“ (Westfälische Zeitung 1892, Nr. 175 v. 29. Juli, 3). Ein Verbot der Asthmazigaretten stand damals nicht auf der Tagesordnung – und neue Angebote kamen schon aufgrund des Preisvorteils meist ohne Cannabis und Opium aus. Ein Beispiel hierfür waren die in Berlin produzierten Asthmazigaretten von Dr. Graff & Co. (Führer durch die Ausstellung der Chemischen Industrie Deutschlands auf der Columbischen Weltausstellung in Chicago 1893, Berlin 1893, 87).

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Indische Zigaretten als Herkunftsbezeichnung für Standardtabakwaren (Kölnische Zeitung 1899, Nr. 891 v. 12. November, 4 (l.); Iserlohner Kreisblatt 1897, Nr. 297 v. 20. Dezember, 4)

Indische Zigaretten waren trotz ihres teils süßlich-penetranten Geruchs, trotz der teils unklaren Zusammensetzung Alltagsgegenstände. In einem vornehmlich von orientalischen Tabakmischungen aus dem Osmanischen Reich und Ägypten geprägten Zigarettenmarkt hatten Angebote aus der britischen Kronkolonie Indien bei „gesunden“ Rauchern durchaus Erfolg. Genuss, Exotik und Nikotin schien eine Erfolgsmischung zu sein.

Berliner Medizinaljoints: Die amerikanische Familie Abbot als Ideengeber

Als die Berliner Bronchiol GmbH im August 1900 mit der Werbung für ihre cannabishaltige Zigarette begann, baute sie auf ein für Geheimmittel typisches Narrativ: „Dr. Abbot, welcher dreißig Jahre an Asthma litt, gelang es, verschiedene Kräuter der südamerikanischen Flora zu finden, welche sich von linderndem Wesen gegen das Asthma erwiesen! Das Präparat dieser Kräuter ist nun von Dr. Abbot in Form einer Cigarette den Patienten gegeben, welche die Bronchiol-Gesellschaft Berlin, Mittelstr. 23, herstellt“ (Berliner Tageblatt 1900, Nr. 419 v. 19. August, 11). Hierin stimmte wenig, doch das war in vielen Werbungen damals üblich, det war nicht nur Berlin. Immerhin: Es gab den besagten „Dr. Abbot“.

Dabei handelte es sich um Francis Peabody Abbot (1827-1886). Er wurde 1827 in Portland, Maine, geboren, stammte aus der Oberschicht Neu-Englands. Im zarten Alter von sechs Jahren erkrankte er an Scharlach, und dies war wahrscheinlich Auslöser eines Asthmaleidens, „das ihn ein Leben lang geplagt und schließlich zu seinem relativ frühen Tod mit 59 Jahren führte“ (Julian C. Anthony, Willoughby Dayton Miller (1853 – 1907) American dentist und deutscher Zahnarzt: eine Karriere in zwei Erdteilen, Med. Diss. Regensburg 2019, 80). Abbot erhielt 1851 den „Doctor of Dental Surgery“ vom Baltimore College of Dental Surgery (Boston Medical and Surgical Journal 44, 1851, 208). Er reiste umher und ließ sich 1852 in Berlin nieder. Dort lebte und arbeitete er erst in der Oberwallstraße 20, fand seine eigentliche Wirkungsstätte dann am hundert Meter südlich gelegenen Hausvogteiplatz 2 (Adreß-Kalender für Berlin 1853, 308; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Berlin 1863, 1; Berliner Adreßbuch für das Jahr 1886, T. III, 467). Preußens Zahnärzte waren damals Virtuosen des Extrahierens, vom Plombieren aber verstanden sie wenig. Derartige Zahnrettung entwickelte sich zu Abbots Spezialgebiet. Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten erkundeten die Wirksamkeit unterschiedlicher Füllungen auf Gebiss und Mundhöhle (F[rancis] P. Abbot, Ansichten über das zu frühzeitige Extrahiren der ersten Molarzähne, Deutsche Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 17, 1877, 340-341). Die Folgen waren beträchtlich: Abbots Arbeiten machten tiefen Eindruck auf einen 1877 in Berlin weilenden Studenten, Willoughby D. Miller (1853-1907), der 1879 nicht nur seine Tochter heiratete und in seiner Praxis als Zahnarzt tätig war, sondern mit seiner Kariestheorie die Zahnheilkunde grundlegend veränderte (Die Mikroorganismen der Mundhöhle, Leipzig 1889).

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Francis P. Abbot als Werbegarant für Gustav Lohses Kampfer-Zahnpulver (Der Damen-Salon 1877, Nr. 1, 8)

Francis P. Abbot war damals eine Führungsfigur der US-Bürger in Berlin. Als „der am Längsten hier ansässige americanische Bürger“ (Coburger Zeitung 1881, Nr. 228 v. 28. September, 1) hielt er die Trauerrede auf den nach einem Attentat verstorbenen Präsidenten James A. Garfield (1831-1881). Abbots Zahnarztpraxis war seinerzeit Anlaufpunkt für Berlins höhere Gesellschaft, hohe Preise schreckten nicht. Der geschäftstüchtige Amerikaner war zugleich offen für Werbekooperationen, wie etwa mit dem Parfümhersteller Gustav Lohse, dessen Stammsitz in der Jägerstraße in unmittelbarer Nachbarschaft lag (Elisabeth Bartel und Lutz Hermann, Berliner Düfte. Parfüms, Parfümeure und Parfümhäuser, Berlin 2015, 35). Ende des 19. Jahrhunderts mischten lokale Apotheker zudem Abbotsche Zahnpulver und Mundwässer (Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 120 v. 12. März, 2). Privat aber war Abbots Leben von Asthma überschattet: Die Nächte verbrachte er nicht im Bett, sondern in einem Sessel (Anthony, 2019, 80).

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Francis P. Abbot mit Asthmazigarette (l.), rechts Willoughby D. Miller (Anthony, 2019, 91)

Francis P. Abbot griff zur Linderung unter anderem zu Asthmazigaretten. Es ist unklar, um welche Marken und Mischungen es sich gehandelt hat. Doch es ist zugleich nicht unwahrscheinlich, dass Abbot unterschiedliche Mischungen versuchte und mit ihnen experimentierte, um sein Leiden zu verringern. Die Werbung der Bronchiol-Zigaretten betonte jedenfalls: „Präparat nach Dr. Abbot“ (Kölner Local-Anzeiger 1901, Nr. 95 v. 19. April, 6). Zu diesem Zeitpunkt war Francis P. Abbot allerdings schon längst verstorben, das liebreizende Berliner Adreßbuch vermerkte Ende 1886 lapidar: „Abbot, F. P., Dr., Zahnarzt ist zu streichen“ (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1887, Nachtrag, s.p.). An seine Stelle trat sein 1862 in Berlin geborener Sohn Charles Henri Abbot. Er erhielt seinen Doctor of Dental Surgery 1885 von der Harvard University (The Dental Cosmos 27, 1885, 503), war Anfang der 1890er Jahre auch US-Vize-Generalkonsul (Berliner Tageblatt 1894, Nr. 358 v. 17. Juli, 4), etablierte sich als Zahnarzt schließlich nahe am Potsdamer Platz in der Königgrätzer Straße 140, der heutigen Stresemannstraße. Möglich, dass er das Wissen über die Mischung einer cannabishaltigen Asthmazigarette an die Gründer der Bronchiol GmbH verkauft hat. Doch mangels Quellen bleibt es bei begründeten Mutmaßungen.

Die Berliner Bronchiol-Gesellschaft mbH

Mutmaßungen? Nicht mehr? Doch, es gibt mehr, nämlich verstreute Informationen, die es einem Puzzle gleich zusammenzusetzen gilt. Nicht mutmaßen ist die Profession des Historikers, sondern eine Geschichte gut begründet zu rekonstruieren und zu erzählen. Dass dies bei einem kleinen Spezialanbieter schwieriger ist als bei Haupt- und Staatsaktionen oder gut alimentierten „Firmengeschichten“ steht außer Frage: Doch just so können wir vielleicht auch eingefahrene Denkmuster über Vergangenes in Frage stellen.

Am Anfang der Berliner Bronchiol GmbH stand eine Geschäftsidee, der Wunsch einer kleinen Gruppe jüdischer Geschäftsleute auszubrechen aus ihrem Alltagsgeschäft, neben Bestehendes Neues zu setzen, vielleicht gar den großen Coup zu landen. Heinrich Przedecki – wir werden später auf ihn, seine Kompagnons und Nachfolger zurückkommen – betrieb die Firmengründung professionell. Er meldete am 21. März 1900 das Bildzeichen „Bronchiol“ an, eingetragen wurde es am 14. Mai: Der Geschäftsbetrieb sollte kreisen um: „Heilmittel, Rauchtabak und Zigaretten, hauptsächlich Zigaretten, welche aus besonders präparierten Stoffen gefertigt werden“ (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 132 v. 5. Juni, 12). Dieses Warenzeichen Nr. 43751 verkörperte einen noch immateriellen Wert, doch Przedecki überschrieb es als Teil seiner Stammeinlage am 22. Juli 1900 auf die Bronchiol GmbH (Ebd., Nr. 198 v. 21. August, 11). Diese Gesellschaft mit beschränkter Haftung hatte er am 3. Juli 1900 gegründet. Das Stammkapital betrug 20.000 Mark, zwei Geschäftsführer wurden eingesetzt, neben Przedecki auch der Berliner Kaufmann Bernhard Hirschfeld, der zugleich Kapital einzahlte. Das stammte nämlich kaum von Przedecki, der neben dem Warenzeichen aber noch das „Verfahren, die Gesundheitszigarette Bronchiol herzustellen“ mit einbrachte (Ebd., Nr. 278 v. 28. Juli, 15). Die kommerzielle Nutzung des Verfahrens war auf zehn Jahre beschränkt, doch Verlängerung möglich. Nun konnte es losgehen – und es begann der Aufbau der Produktion in der Mittelstraße 23, einer Seitenstraße von Berlins Prachtallee Unter den Linden. Werbung folgte, parallel der Aufbau eines Vertriebs- und Absatznetzwerkes. Doch dann die Hiobsmeldung am 25. Oktober 1900: „Der Geschäftsführer Heinrich Przedecki ist verstorben“ (Ebd., Nr. 259 v. 30. Oktober, 14).

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Bildzeichen Bronchiol (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 132 v. 5. Juni, 12)

Privatpersonen sterben, nicht jedoch juristische Personen. Und so machte man weiter unter Federführung Bernhard Hirschfelds. Offenbar nicht ohne Erfolg, denn das Stammkapital der Bronchiol GmbH wurde am 19. Dezember 1901 auf 40.000 Mark verdoppelt (Ebd. 1901, Nr. 12 v. 15. Januar, 10). Der Ausbau der Firma erforderte Kapital – und Hirschfeld konnte dieses mobilisieren. Über den Geschäftsbetrieb kann man – weiter unten – nur begründet mutmaßen. Hirschfeld blieb Geschäftsführer bis Anfang 1906, wurde dann vom Berliner Kaufmann Siegmund Schoenlank abgelöst (Ebd. 1906, Nr. 23 v. 26. Januar, 15). Dieser agierte bis Anfang 1910, es folgte der Charlottenburger Kaufmann Kurt Fröbus (Ebd. 1910, Nr. 33 v. 8. Februar, 11). Die Bronchiol GmbH wurde nach den anfangs anvisierten zehn Jahren – der üblichen Dauer für den Schutz eines Bildzeichens – allerdings nicht aufgelöst, scheinbar war noch Gewinn zu erzielen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg dürfte sich dies jedoch gewandelt haben. Der Wechsel von Fröbus zum sehr jungen Wilmersdorfer Fräulein Elli Salamonski im Juli 1913 deutet schon auf eine brüchige Fassade hin (Ebd. 1913, Nr. 178 v. 30. Juli, 7). Nach Beginn des Krieges zogen die Verantwortlichen jedenfalls rasch die Konsequenzen aus den daraus resultierenden Schwierigkeiten, die naturalen Rohstoffe ihrer Gesundheitszigarette importieren zu können.

Am 22. November 1914 beschied das Kgl. Amtsgericht Berlin-Mitte: „Die Gesellschaft ist aufgelöst“ (Ebd. 1914, Nr. 277 v. 25. November, 8). Die Liquidation zog sich allerdings hin: Liquidator Julius Mosessohn annoncierte mehrfach: „Gläubiger wollen sich melden“ (Ebd. 1915, Nr. 58 v. 10. März, 8; ebd. Nr. 56 v. 8. März, 9). Das Warenzeichen „Bronchiol“ wurde am 5. August 1915 gelöscht (ebd., Nr. 156 v. 20. August, 12). Mitte 1916 hieß es dann schließlich: „Die Firma ist gelöscht; die Liquidation ist als beendigt angemeldet“ (Ebd. 1916, Nr. 176 v. 28. Juli, 8).

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Firmensitze der Berliner Bronchiol GmbH 1900-1915 (Stadtplan 1913: Wikipedia; Berliner Adreßbuch 1901-1915)

Die wechselvolle Unternehmensgeschichte der Bronchiol GmbH spiegelt sich in ihren Firmensitzen. Anfangs nahe der Prachtallee Unter den Linden angesiedelt, verlagerte sie ihren Sitz wohl 1902 in die Taubenstraße, nahe der Friedrichstraße. Beide standen für das kommerzielle und politische Zentrum der damaligen Reichshauptstadt. 1906/07 verlagerte die Bronchiol GmbH ihren Sitz jedoch nach Wilmersdorf, in die Regensburgerstraße 23. Dies war ein aufstrebendes Viertel im expandierenden Berliner Westen, besaß den höchsten Anteil jüdischer Bewohner aller Bezirke. Doch es war vorrangig Wohn- und Geschäftsgebiet, kaum Gewerbezentrum. Die neuerlichen Adresswechsel in die nähere Umgebung 1914 und 1915 spiegelten die Agonie der Firma, die damals nicht mal mehr über einen Telefonanschluss verfügte. Ella Salamonski, nicht Fräulein, sondern Frau, dürfte wenig zu tun gehabt haben.

Wie bietet man cannabishaltige Zigaretten an?

Die im Juli 1900 hoffnungsfroh gegründete Bronchiol GmbH hatte eigentlich eine einfache unternehmerische Aufgabe. Sie musste ein neues Produkt einführen, gewiss. Doch zugleich musste sie für Asthmazigaretten selbst nicht mehr werben, denn diese waren bekannt, hatten einen klar abgrenzbaren Markt. Cannabis Indica war durch die 1895 wieder einsetzende Werbung für Grimaults „Indische Cigaretten“ ein zwar seltenes, aber doch etabliertes Heilmittel. Auch die Leipziger Firma Robert Paul & Co. (dann Wagner & Wiebe) hatte 1900 einen neuen holzspanartigen Asthmazünder „Pressant“ auf den Markt gebracht, dessen Räuchermasse nicht nur 40 Prozent Stramonium enthielt, sondern auch 10 Prozent Cannabis Indica (Apotheker-Zeitung 15, 1900, 732, Fortschritte der Heilstoffchemie 1946, 85).

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Vom Geheimmittel zur Spezialität (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 183 v. 8. August, 4 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 508 v. 30. Oktober, 18)

Die Bronchiol GmbH offerierte ihre ab Anfang August in Tageszeitungen annoncierte Gesundheitszigarette auch daher als Geheimmittel, also ohne Angabe der Inhaltsstoffe (so noch Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 470 v. 7. Oktober, 19). Schon vor dem Tod Heinrich Przedeckis begann man dann aber, die wichtigsten Bestandteile inklusive des Cannabis Indica anzugeben (Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 495 v. 25. Oktober, 10). Die Asthmazigaretten waren seither eine Spezialität, also ein Pharmazeutikum mit grundsätzlich bekannter Zusammensetzung (Berliner-Börsen-Zeitung 1900, Nr. 544 v. 20. November, 19; Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 301 v. 25. Dezember, 4). Die Firmenangaben wurden von Pharmazeuten nicht in Frage gestellt, sondern weiterverbreitet. Die Bronchiol-Zigaretten bestanden demnach – und das war neu – aus Tabak, Stechapfel, Cannabis Indica, Salpeter und Anisöl (Zeitschrift des Allgemeinen oesterr. Apotheker-Vereines 41, 1903, 874; Eduard Hahn und J[oachim] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel. Ihre Herkunft und Zusammensetzung, 6. verm. u. verb. Aufl., bearb. v. G[eorg] Arends, Berlin 1906, 13). Die aus heutiger Sicht bemerkenswerte Nutzung der „Droge“ Cannabis war vor einhundertzwanzig Jahren offenbar nicht besonders erwähnenswert – was mehr über uns als über unsere Vorfahren aussagt. Asthmazigaretten wurden wegen eines allgemeinen Wirkungsversprechens gekauft, nicht aber wegen bestimmter Inhaltsstoffe. Entsprechend war in der eingangs erwähnten Anzeige wichtig, dass Dr. Abbott „verschiedene Kräuter“ kombiniert hatte. Diese mochten grundsätzlich gefährlich sein – doch wichtiger schien, dass sie wirksam waren. Die Bronchiol-Zigaretten waren gewiss medizinisch wirksame Joints, doch neu – und respiratorisch eher bedenklich – war die ungewöhnliche Kombination von Tabak und dem stark atropinhaltigen Stechapfel. Ihre Positionierung als gezielt einsetzbares Alltagsprodukt begrenzte zugleich die Menge des Konsums. Exzesse waren auch bei asthmatischem Leidensdruck nicht zu erwarten, empfohlen wurde der Konsum von etwa zwei Zigaretten pro Tag.

Auch ansonsten war die Vermarktung der Bronchiol-Zigarette recht konventionell, entsprach dem Standard gängiger öffentlich beworbener Heilmittel. Das galt etwa für Prominentenwerbung. Die Stelle heutiger B- und C-Sternchen nahmen damals natürlich wohlangesehene Adelige ein (Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 395 v. 27. August, 3). Die Berliner Macher verwiesen, kaum ohne ein kleines Entgelt für deren darbende Haushalte, zum einen auf Maria Luise von Hohenzollern-Sigmaringen (1845-1912), durch Heirat mit Prinz Philipp von Belgien (1837-1905) immerhin Prinzessin von Belgien. Zum anderen nannten sie Gabriele von Hatzfeld-Wildenburg (1825-1909), die aus einem traditionsbewussten hessischen Geschlecht entstammte und deren Linie im Euskirchener Raum residierte, nicht unweit der belgischen Grenze. Dem gängigen Drehbuch einschlägiger Anzeigen folgte auch der Bezug auf einen akademischen Gewährsmann, der sich lobend über das neue Präparat ausgesprochen hatte. Bei dem erwähnten praktischen Arzt Dr. Krüger dürfte es sich um den in der Schöneberger Hauptstraße 135 praktizierenden Dr. Samuel Krüger gehandelt haben (Berliner Adressbuch für 1900, T. 1, 824). Przedecki, Hirschfeld und Krüger dürften sich gekannt haben. Ob die erwähnten Tests mit „verschiedenen Asthmatikern“ (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 187 v. 12. August, 3) wirklich stattgefunden haben ist unklar, aber nicht ausgeschlossen.

Bevor wir dieses jüdische Netzwerk näher beleuchten, noch ein Verweis auf die durchaus ungewöhnlich Art des Absatzes. Anders als Grimault, Espic oder Kraepelien & Holm, die viel Wert auf ansprechende Kleinpackungen legten – was auch deshalb ungewöhnlich war, da Zigaretten damals vielfach per Stück verkauft wurden – setzte die Bronchiol GmbH tendenziell auf den Dauerkunden. Entsprechend bot sie die apothekenpflichtigen Zigaretten vorrangig in Pappkartons mit je 100 Stück an. Trotz des vereinheitlichen Namens gab es den Markenartikel Bronchiol jedoch nicht in nur einer Zusammensetzung, sondern er wurde in vier unterschiedlichen Mischungen zu 15, 10, 7,50 und 5 Mark angeboten (Vossische Zeitung 1901, Nr. 3 v. 3. Januar, 9). Das klingt teuer – der Jahresverdienst von Arbeitern lag damals bei ca. 1.500 Mark –, doch die Preise pro Stück variierten zwischen 15 und 7,5 Pfennig. Das war deutlich weniger als bei den Wettbewerbern: Bronchiol-Zigaretten waren also relative Preisbrecher. Die Preisunterschiede der Mischungen resultierten dabei nicht aus den eigentlichen Wirkstoffen, sondern aus dem verwandten Tabak. Es gab normale und milde Varianten, die dann nochmals nach Männern und Frauen – Entschuldigung, Herren und Damen – gestaffelt waren (Neue Freie Presse 1900, Nr. 12912, 13; Münchner Neueste Nachrichten 1902. Nr. 91 v. 23. Februar, 11). Die Bronchiol GmbH war sich ihres Preisvorteils bewusst, warb in ihren Anzeigen auch mit den Vergleichspreisen für gängige 10 Stück-Packungen (Dresdner Nachrichten 1901, Nr. 69 v. 10. März, 19). Zudem offerierte sie Probeschachteln mit weniger Zigaretten, so dass Kunden sie anfangs schon für 60 Pfennig ausprobieren konnten. Es ist anzunehmen, dass bei der Markteinführung auch Gratisproben angeboten wurden; doch ein Beleg hierfür fehlt. Insgesamt gelang es der Bronchiol GmbH jedoch nicht, die 100er-Vorratspackungen als neuen Standard zu etablieren. Schon Ende 1900 wurden vereinzelt Kartons à 10, 20, 50 und 100 Stück angeboten (Hamburger Nachrichten 1900, Nr. 280 v. 29. November, 11). Die Kunden verlangten wohl üblichere Packungen, auch weil dann der Preisvorteil offenkundig war. In Köln wurden 10er-Kartons für 50 und 75 Pfennige angeboten (Kölner Local-Anzeiger 1901, Nr. 123 v. 3. Mai, 8). Nach der Markteinführung, also ab Frühjahr 1901, erhielt man die cannabishaltigen Asthmazigaretten in vier Mischungen à 10, 20, 50 und 100 Stück, also in insgesamt sechszehn Varianten (Westfälische Zeitung 1902, Nr. 9 v. 11. Januar, 7). Das war typisch für eine Zeit erst beginnender Verpackungsnormierung, erhöhte aber den Lageraufwand in den von immer neuen Angeboten vielfach berstenden Apotheken. Die Preise blieben während der gesamten Produktionszeit identisch, die damals geltende Preisbindung unterband lokale Sonderangebote. Auch im Ausland blieb die Preisabstufung ähnlich wie im Deutschen Reich (L’Imperial 1902, Nr. 6536 v. 23. März, 12).

Die Bronchiol GmbH als Netzwerk jüdischer Geschäftsleute

Bevor wir noch genauer auf das Absatz- und Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH eingehen, ist ein Blick auf die eigentlichen Akteure, also die Berliner Unternehmer zu werfen. Während die französischen Anbieter vorrangig Katholiken, die holländischen Protestanten waren, waren die Akteure in der Reichshauptstadt fast durchweg jüdischen Glaubens. Man kann die Bronchiol GmbH als Teil der besonderen Fähigkeit einer überdurchschnittlich gebildeten und vielfach auch fleißigeren Minderheit sehen, neue Märkte zu antizipieren, neue Produkte und Dienstleistungen passgenau anzubieten und sie mittels virtuos gehandhabter Reklame erfolgreich anzupreisen (Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933, Frankfurt a.M. 2011, passim). Während des Kaiserreichs entwickelte sich insbesondere Berlin zum Paradebeispiel einer deutsch-jüdische Symbiose und repräsentierte den atemberaubenden Aufstieg einer leistungsbereiten Minderheit, die noch Mitte der 1920er Jahre nicht weniger als 30 Prozent aller direkten Steuern der Reichshauptstadt trug. Eine genauere Analyse der jüdischen Erfolge wird jedoch Schattierungen in diesem Gloriolenschein sehen (Uwe Spiekermann, Paul Lerner und Anne Schenderlein, Jews, Consumer Culture, and Jewish Consumer cultures: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Jewish Consumer Cultures in Nineteenth and Twentieth-Century Europe and North America, Cham 2022, 1-39, insb. 1-24) – auch die Geschichte der Bronchiol GmbH zeigt die beträchtlichen Schwierigkeiten, Wachstumsgeschichten fortzusetzen.

Beginnen wir unsere biographische Erkundung mit dem eigentlichen Macher, mit Heinrich Przedecki (1850-1900). Bei der Familie Przedecki handelte es sich um aschkenasische Juden aus der Stadt Moosburg im heutigen Polen (wo nicht anders vermerkt Angaben n. Family tree Przedecki / Perdeck / van Perdeck (gerritspeek.nl) bzw. den von Ancestry.com digitalisierten Personenstandsakten des Landesarchivs Berlin). Heinrich Przedecki wurde 1850 in Warschau als Sohn von Abraham Przedecki (1805-1872) und seiner Frau Ernestine, geb. Lubliner (1811-1887), geboren. Er heiratete 1876 Martha Ginsberg [auch Giensberg] (1856-1934), mit der er sechs Kinder hatte: Albert (1877) Predeck [Namenswechsel 1908], Else Elisabeth (1878), Rosalie (1879), Salo (1882), Leopold Max (1885) Predeck [Namenswechsel 1908] und Morris Martin (1893). Heinrich Przedecki starb am 25. September 1900 im Alter von 50 Jahren.

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Die Przedeckis als Pionierunternehmer der Zigarrettenproduktion (Kladderadatsch 20, 1867, Nr. 59/60, 14)

Zuvor lebte und arbeitete er im Familienverbund seines Bruders Stanislaus (1834-1883) und dessen Sohn Ludwig (1867-1926). Ersterer hatte 1862 zusammen mit Emanuel Kary in Breslau die „Sultan“ gegründet, die türkische Tabake importierte und zu Zigaretten weiterverarbeitete (Sammlung der deutschen Handels-Register, Bd. 1, Köln 1862, 186). Zusammen mit Joseph Huppmann (1814-1897), der 1862 in Dresden den Marktführer Compagnie Laferme gründete, war Stanislaus Przedecki einer der Pionierunternehmer der deutschen Zigarettenindustrie. Die spätere Selbstbezeichnung als „größte u. älteste Fabrik Preußens“ unterstrich dies (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1895, T. I, 260). Stanislaus‘ Bruder Heinrich erhielt 1874 Prokura in dem neuen Berliner General-Depot der Türkischen Cigaretten- und Tabakfabrik „Sultan“ und leitete dessen Geschäft in der Friedrichsstraße 196 (Deutscher Reichsanzeiger 1874, Nr. 253 v. 28. Oktober, 4). 1876 übernahm Heinrich kurzfristig das General-Depot als Eigentümer, 1877 ging es dann an seinen Neffen Ludwig Przedecki über (Ebd., 1876, Nr. 81 v. 3. April, 7; ebd. 1877, Nr. 107 v. 8. Mai, 5). Der inzwischen verheiratete Heinrich agierte weiterhin für die „Sultan“, führte auch den Laden 42 („Türkisches Zelt“) in der 1873 gegründeten Kaiserpassage, die Friedrichstraße und Unter den Linden verband (Berliner Adreßbuch 1877, T. I, 214). Parallel wurde im Namen seiner Frau Martha die Fabrik Turkestant in Berlin Unter den Linden 20 gegründet, Heinrich erhielt Prokura (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 210 v. 7. September, 3). Die Familie Przedecki zelebrierte die Exotik der Angebote aus dem Vorderen Orient, lange bevor Heinrich Präparate mit Cannabis Indica produzierte und vertrieb.

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Werbung unter eigenem Namen (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 325 v. 22. November, 8 (l.); Neueste Nachrichten 1878, Nr. 328/9 v. 24. November, 14)

1878 folgte eine Werbeoffensive im deutschen Sprachraum, zugleich aber wurden Grenzen der Expansion erkennbar. Der Schweizer „Nebelspalter“ machte Heinrich Przedeckis Säumigkeit bei der Zahlung von Insertionsschulden öffentlich (Nebelspalter 5, 1879, H. 37, s.p.). Man konsolidierte, der junge Unternehmer übernahm später Läden in der Friedrichstraße und in der Kaiserpassage. Gleichwohl wurde 1893 ein Konkursverfahren über sein Vermögen eröffnet (Deutscher Reichsanzeiger 1893, Nr. 153 v. 29. Juni, 14; Echo der Gegenwart 1893, Nr. 149 v. 1. Juli, 10). Es folgte ein Zwangsvergleich, der 1894 schließlich rechtlich bestätigt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1893, Nr. 243 v. 10. Oktober, 10; ebd. 1894, Nr. 76 v. 31. März, 15; ebd., Nr. 114 v. 17. Mai, 10; Nr. 133 v. 8. Juni, 10). Damit konnte der Konkurs abgewandt werden. Die Gründe für diesen Ritt am Abgrund sind unbekannt: Heinrich Przedecki, der in der anfangs modischen Kaiserpassage einen zweiten Laden resp. ein Lager für Bernstein-, Meerschaum-, Leder- und Luxuswaren errichtet hatte (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1884, T. 1, 769; ebd., 1888, T. I, 873), dürfte jedoch der wachsenden Konkurrenz durch leitungsfähigere Wettbewerber wie Lubatsch, Wertheim, Hermann Tietz, Jandorf, Israel, etc. kaum mehr gewachsen gewesen sein. Ihm blieb in den späten 1890er Jahren noch sein Laden 42 in der Kaiserpassage und der Hoflieferantentitel S. Königl. Hoheit des Prinzen Friedrich Karl von Preußen (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1899, T. I, 1141).

Dieser relative Bedeutungsverlust kontrastierte deutlich mit dem Aufschwung der Breslauer Zigarettenfirma, die derweil von Heinrichs beiden Neffen Ludwig und Joseph (1863-1929) geleitet wurde. Ihr Erfolg gründete auf eher hochpreisigen Zigaretten, doch schon im späten 19. Jahrhundert bot die Firma auch erste Filter („Mundstücke“) an, um die Schäden durch das Rauchen zu minimieren. 1901 siedelte die mittlerweile zur Egyptian Cigarette Company umbenannte Firma nach Berlin über (Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 326 v. 15. Juli, 13). Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigte sie etwa 700 Arbeiter und produzierte jährlich mehr als 200 Millionen Zigaretten (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1912, T. IV, 506). Vor dem Hintergrund des nur knapp abgewendeten Konkurses und angesichts des bemerkenswerten unternehmerischen Erfolgs anderer Familienmitglieder war die Bronchiol GmbH für Heinrich Przedecki mehr als eine einfache Firmengründung. Sie sollte seinen Weg zurück zu neuerlichem Erfolg bahnen. Die für Asthmazigaretten unübliche Zumengung von Tabak zu Stechapfel und Cannabis Indica lässt sich zudem eher mit seinem Berufsfeld als mit Francis P. Abbots vermeintlicher Mixtur erklären.

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Gesundheitsangebot für den konventionellen Kunden: Zigaretten mit Mundfiltern aus dem Angebot von Heinrich Przedeckis Neffen (Die Woche 7, 1905, Nr. 4, VII)

Kommen wir zu Przedeckis Kampagnon, dem Berliner Kaufmann Burkhard Hirschfeld (1855-1938). Auch er war anfangs im Handel tätig, 1883-1892 übernahm er das Handelsgeschäft von „Hirschfeld & Goldschmidt“ (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 166 v. 18. Juli, 8; ebd. 1892, Nr. 31 v. 4. Februar, 10). Auch er übernahm rasch bedeutungsvollere Aufgaben, war von 1888 bis 1892 Brandenburger Generalbevollmächtigter der Hamburger Janus AG, einem Versicherungsunternehmen mit 1,5 Million Mark Grundkapital und einer Bilanzsumme von 1889 mehr als 24 Million Mark (Ebd. 1888, Nr. 319 v. 19. Dezember, 8; ebd. 1890, Nr. 100 v. 23. April, 8). 1892 trat an seine Stelle sein langjähriger Geschäftspartner Otto Goldschmidt (Ebd. 1892, Nr. 38 v. 12. Februar, 10). Mit diesem hatte Burkhard Hirschfeld zuvor die offene Handelsgesellschaft „Wechselstube Hirschfeld & Goldschmidt“ mit einem Geschäftslokal in der Alexanderstraße 50 gegründet (Ebd. 1892, Nr. 26 v. 30. Januar, 10). Das relative Auf und Ab mündete 1895 in ein Konkursverfahren über das Vermögen Bernhard Hirschfelds, das ebenso wie im Falle Heinrich Przedeckis mit einem Zwangsvergleich endete und somit aufgehoben wurde (Ebd. 1896, Nr. 28 v. 31. Januar, 16). Auch für Hirschfeld war die Bronchiol GmbH also eine Chance, geschäftliche Krisen zu überwinden, neue berufliche Ufer zu erreichen. Nach seinem Ausscheiden aus der Bronchiol GmbH – über deren Gründe ist nichts bekannt – arbeitete Hirschfeld weiter in seiner Wechselstube, wurde Gesellschafter, ab 1909 dann Inhaber der in Schöneberg gelegenen Auskunftei „Reform“ (Ebd. 1909, Nr. 91 v. 19. April, 37). Auf diese konzentrierte er sich bis in die 1930er Jahre (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1930, T. I, 72; Berliner Handels-Register 67, 1931, 15). Der unverheiratete Bernhard Hirschfeld starb am 16. April 1938 im Jüdischen Altersheim in der Lützowstraße 48 (Landesarchiv Berlin, Personenstandsregister, Sterberegister, Nr. 300 via Ancestry.com).

Hirschfelds Nachfolger als Geschäftsführer war der 1865 geborene Siegmund Schoenlank. Er hatte seine ersten Sporen in der Handelsgesellschaft Steinau & Schoenlank verdient, die er 1888 übernahm und unter eigenem Namen fortführte (Deutscher Reichsanzeiger 1888, Nr. 266 v. 18. Oktober, 8). Parallel zu seiner Arbeit für die Bronchiol GmbH betrieb er weiterhin ein eigenes Handelsgeschäft (Ebd. 1908, Nr. 127 v. 30. Mai, 13). Nach seinem Ausscheiden 1910 gründete der in Wilmersdorf ansässige Schoenlank ein Kino mit Ausschank. Expansionspläne mündeten 1911 in die Tip-Top Kino GmbH, doch umgesetzt wurden diese nicht (Ebd. 1912, Nr. 31 v. 2. Februar, 11).

Während alle anderen Mitglieder der Führungsriege „mosaischen“ Glaubens waren, bildete der von 1910 bis 1913 aktive Geschäftsführer Kurt [Alexander] Fröbus eine Ausnahme, denn er wurde 1877 als Katholik getauft (Landesarchiv Berlin Personenstandsregister, Geburtsregister, Nr. 43). Er arbeitete im elterlichen Betrieb, einem 1875 gegründeten Agentur- und Kommissionsgeschäft. Er übernahm dieses Anfang 1913, schied dann aus der Bronchiol GmbH aus (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1911, T. 1, 718; Ebd. 1914, T. 1, 773; Handels-Register des Königlichen Amtsgerichts Berlin-Mitte 49, 1913, 254). Das in unmittelbarer Nähe vom Kaufhaus des Westens gelegene elterliche Geschäft führte er auch in den 1920er Jahren weiter (Berliner Handels-Register 59, 1923, 163).

Letzte Geschäftsführerin war die einzige Frau, Elli Salamonski (1886-1918). Sie stammte aus einer wohlsituierten Berliner Familie, die schon in den 1870er Jahren südlich vom Gendarmenmarkt ein Auskunfts-Bureau für Handel und Gewerbe etabliert hatte (Berliner Wespen 12, 1879, Nr. 13 v. 28. März, 1). Nach der Jahrhundertwende residierte es in der Taubenstraße 35, von 1902 bis 1906 auch Sitz der Bronchiol GmbH. Dies deutet auf Kapitalverflechtungen hin. Elli Salamonski lebte ihrerseits in der Wilmersdorfer Bayerischen Straße 29 (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1914, T. III, 55), ein Haus neben dem damaligen Sitz der Bronchiol GmbH. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die junge Dame kein Beleg für die wachsende Frauenemanzipation dieser Zeit war, sondern dass sie als Name in einem Abwicklungsprozess diente. Ihre persönliche Lebensgeschichte war jedenfalls traurig, todesnah. Geboren als am 3. September 1886 heiratete Elli im September 1911 den aus Braunschweig stammenden Kaufmann Georg Katz (LA Berlin, Personenstandsregister, Geburtsregister, Nr. 72; ebd., Heiratsregister, Nr. 417). Ihr Vater war damals schon verstorben, die Mutter leitete das Auskunfts-Bureau, sie selbst war ohne Beruf. Elf Monate später gebar sie einen toten Sohn (Ebd., Sterberegister, Nr. 1270). Ellis Gatte starb 1918 im Alter von 36 Jahren, sie selbst folgte knapp zwei Wochen später am 19. Dezember im Alter von 32 Jahren (Ebd., Sterberegister, Nr. 1270). Auch der Liquidator Julius Mosessohn (1853-1921) war Mitglied dieser eng vernetzten Gruppe jüdischer Geschäftsleute. Er heiratete, doch die Ehe blieb kinderlos. Seinen Tod meldete Kurt Salamonski den Behörden, Ellis Bruder (LA Berlin, Personenstandsregister, Sterberegister, Nr. 30).

Fassen wir die biographischen Informationen zusammen, so handelte es sich bei den führenden Personen der Bronchiol GmbH um gut qualifizierte und eng vernetzte Kaufleute, die im jüdischen Milieu von Berlin-Mitte, Schöneberg und Wilmersdorf arbeiteten und lebten. Sie alle erreichten Wohlstand, wirklichen Reichtum aber repräsentierten sie nicht. Sie alle dürften in der Bronchiol GmbH eine Chance gesehen haben, mit einem gezielten Investment, mit ihnen bekannten Arbeiten nicht nur Einkünfte zu erzielen, sondern ihren materiellen Lebensunterhalt zu verbessern. Man kann es auch anders fassen: Französische Ideen exotischer Cannabiszigaretten wurden von einem US-Amerikaner aufgegriffen und verfeinert, diese wiederum dienten aus dem Osten des Deutschen Reiches stammenden jüdischen Geschäftsleuten dazu, ein bisher stets importiertes Konsumgut im deutschen Umfeld zu produzieren: Die Bronchiol GmbH war insofern recht typisch für das Berlin dieser Zeit. Det war Berlin.

Aufbau eines Vertriebs- und Absatznetzwerkes

Der Absatz der Bronchiol-Zigaretten war einfach und schwierig zugleich. Der übliche Weg war das Versandgeschäft. Dazu erforderlich war eine breit gestreute Reklame, waren ansprechende Verpackungen und großtönende Wirkungsversprechen. Dazu eigneten sich vor allem Novitäten, vermeintlich nie dagewesene Angebote. Die Preise waren meist relativ hoch, die Produkte in der Regel überteuert. Bei Asthmazigaretten hatte man es jedoch mit einem etablierten Heilmittel zu tun, das über Apotheken verkauft und in der Öffentlichkeit eher moderat erinnernd beworben wurde. Ein Preisbrecher wie die Bronchiol-Zigaretten hätte gewiss die ungewöhnliche Kombination von Tabak, Stechapfel und Cannabis Indica preisend hervorheben können. Doch es ist nachvollziehbar, dass man versuchte, seinen Hauptvorteil, den Preis, im bestehenden Netzwerk auszuspielen. Das war übersichtlich und handhabbar: 1899 gab es 5.391 Apotheken im Deutschen Reich (Vossische Zeitung 1899, Nr. 603 v. 24. November, 11). Sie sollten möglichst allesamt Bronchiol-Zigaretten mit der offizinellen Heilpflanze Cannabis Indica anbieten.

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Wachsende Vertriebsnetze in Berlin (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 438 v. 19. September, 12 (l.); ebd., Nr. 496 v. 23. Oktober, 11)

Blicken wir erst einmal auf den Heimatmarkt Berlin. Der Vertrieb begann wenig überraschend mittels verschiedener Apotheken mit jüdischen Besitzern. Erste Anbieter waren die Apotheke zum König Salomo in der Charlottenstraße 54 und die Löwen-Apotheke in der Jerusalemerstraße 30 (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 193 v. 19. August, 4). Anfangs wurde noch die A. Lucae-Apotheke, Unter den Linden 53 genannt, die dann aber wieder absprang (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 183 v. 8. August, 4, nicht mehr vorhanden in ebd., Nr. 190 v. 16. August, 4). Man begann den Vertrieb also einerseits im jüdischen Berlin, anderseits in der unmittelbaren Nachbarschaft.

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Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH in Berlin 1901 (Stadtplan 1902: Wikipedia; auf Basis von Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1901, Nr. 3 v. 4. Januar, 10)

Anschließend folgte man einem räumlichen Raster, um den Weg für die Kunden möglichst gering zu halten. Die Werbung informierte durchweg über die lokalen Kaufmöglichkeiten. Das war typisch für ein Nischenprodukt, denn die für Massenangebote übliche Werbung durch Emailleschilder oder Schaufensterplatzierungen war Produkten mit höherem Umsatz vorbehalten.

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Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH in Köln 1902 (Stadtplan 1900: Mayer via Wikipedia; auf Basis von Kölner Local-Anzeiger 1902, Nr. 71 v. 15. März, 3)

Das Absatznetzwerk war, wie die Lage der Apotheken selbst, räumlich vorgeprägt. In den Großstädten war es wichtig, nicht nur das Zentrum zu besetzen, sondern auch die Wohnviertel der einkommensstärkeren Bewohner abzudecken. Das gelang zumindest in den Metropolen. Ähnlich wie in Köln sah es in den meisten Großstädten des Deutschen Reiches aus. Dabei wurde dem massiven Städtewachstum durchaus Rechnung getragen. Neben die Kölner Apotheken traten etwa weitere drei Vertriebsorte im westlich gelegenen Köln-Ehrenfeld und im 1914 eingemeindeten Mülheim a. Rhein.

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Erweitertes Netzwerk im Rheinland (Bonner Zeitung 1901, Nr. 123 v. 25. Mai, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1901, Nr. 374 v. 25. Mai, 4)

Die Großstädte waren zugleich Ausgangspunkte für die weitere Durchdringung der umliegenden Mittelstädte. Die Anzeigen verdeutlichen ein analoges Vorgehen wie in den Großstädten: In Bonn konnte man 1901 Bronchiol-Zigaretten in vier Apotheken kaufen, zudem im erst 1904 eingemeindeten Poppelsdorf. Ähnlich sah es in Aachen aus, denn hinter dem Hinweis auf „alle“ Apotheken der Stadt dürften sich wenig mehr Apotheken verborgen haben, mochte die aufstrebende Grenzstadt damals auch mehr als doppelt so viele Einwohner wie die spätere Bundeshauptstadt zählen.

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Wachstum über Großhandels-Vertreter (Berichte der Deutschen Pharmaceutischen Gesellschaft: Berichte für 1901, Berlin 1903, Werbeanhang, s.p.)

Der Aufbau derartiger Vertriebsnetzwerke erfolgte dezentral. Die Bronchiol GmbH schloss dazu Verträge mit bestehenden Großhandelsfirmen ab, die ihnen exklusive Rechte für eine bestimmte Region gewährten, die ihnen aber zugleich die Aufgabe zuwiesen, regionale Netzwerke aufzubauen und zu pflegen. Die Bronchiol GmbH akzeptierte also die damals schon nicht mehr unumstrittene Lieferkette von Produktion über Großhandel hin zum Einzelhandel. Das bedeutete zugleich feste Handelsspannen, so dass die Gewinne niedriger waren als etwa bei einem Versandgeschäft. Dafür aber konnte man die Reputation lang ansässiger Unternehmen nutzen.

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Großhandelsdepots der Bronchiol GmbH im Deutschen Reich und im Ausland 1903 (Karte: Wikipedia; auf Basis von Berichte, 1903, s.p.)

Mit Hilfe etablierter Absatzstrukturen für Pharmazeutika gelang es der Berliner Bronchiol GmbH ihre Asthmazigarette binnen nur eines Jahres in den meisten Regionen des Deutschen Reiches, im deutschsprachigen Raum und in westeuropäischen Staaten anzubieten. Das ist hervorzuheben, denn noch hatten die meisten Produkte regionale Schwerpunkte, war der einheitliche nationale Markt nur eine Zukunftsvision. Der Markenartikel Bronchiol war jedenfalls fast überall zu erhalten, denn viele Apotheken versandten ihrerseits an die auswärtige, insbesondere die ländliche Kundschaft. Das dürfte vornehmlich für den Nordosten und den Nordwesten gegolten haben, denn dort fehlten regionale Großhandelsvertreter. Möglich, dass Apotheken in diesen Gebieten auch direkt von der Berliner Zentrale beliefert wurden.

Die Bronchiol GmbH war ein kleines Unternehmen, Beschäftigten- und Umsatzzahlen liegen allerdings nicht vor. Es war zugleich aber ein multinationales Unternehmen, stand für die engen wirtschaftlichen Verflechtungen in der Hochzeit der ersten Globalisierung. Gleichwohl dürfte der Anteil der Auslandsmärkte am Gesamtumsatz überschaubar gewesen sein. Das zeigte sich schon im cisleithanischen Österreich. Die erste mir bekannte Anzeige erschien am 4. August 1900, also vor Beginn des geordneten Absatzes in Berlin: Darin hieß es anpreisend: „Anerkannt vorzüglich im Geschmack, die Athemnot lindernd, von Aerzten und hohen Persönlichkeiten wiederholt bezogen. Diese Asthma-Cigaretten Bronchiol nach dem Präparat des Dr. Abbot sind sehr beliebt und werden von der Bronchiol-Gesellschaft m.b.H. in Berlin, Mittelstrasse 23, versendet gegen Nachnahme oder vorherige Einsendung des Betrages“ (Neue Freie Presse 1900, Nr. 12912 v. 4. August, 13).

21_Wiener Caricaturen_1900_08_12_Nr33_p9_Österreichs Illustrierte Zeitung_13_1903-04_H45_p907_Bronchiol_Asthma_Medizinalzigaretten_Versandgeschäft

Werbung ohne Angaben zur Zusammensetzung (Wiener Caricaturen 20, 1900, Nr. 33 v. 12. August, 9 (l.); Österreichs Illustrierte Zeitung 13, 1903/04, H. 45, 907)

In Österreich war die rechtliche Lage schwierig. Zum einen mussten Ausländer eine Firmendependance gründen, um im Binnenmarkt direkt verkaufen zu können. Zum anderen waren die Behörden restriktiver als ihre deutschen Kollegen; der Import von Grimaults Indischen Zigaretten war dort seit Anfang der 1880er Jahre verboten. Zudem gab es in der k.u.k.-Monarchie bereits ein leistungsfähiges einheimisches Angebot. Die Apotheker-Dynastie von Trnkóczy bot seit den frühen 1880er Jahren cannabishaltige Asthmazigaretten an, die per Versandgeschäft und über Apotheken gekauft werden konnten. In der Habsburger Monarchie konnte man sie dort allerdings nicht direkt kaufen, sondern benötigte ein ärztliches Rezept (Pharmaceutische Post 29, 1896, 584). Entsprechend beließ es die Bronchiol-Gesellschaft bei Versandangeboten per Nachnahme oder Vorkasse in Mark.

22_Fremden-Blatt_1899_03_25_Nr24_p10_Innsbrucker Nachrichten_1881_06_20_Nr137_p2128_Asthma_Medizinalzigaretten_Trnkoczy_Cannabis_Laibach

Überlegener Marktführer: Anzeigen für Trnkóczy Asthmazigaretten (Fremden-Blatt 1899, Nr. 24 v. 25. März, 10 (l.); Innsbrucker Nachrichten 1881, Nr. 137 v. 20. Juni, 2128)

Auch in der Schweiz war die rechtliche Lage herausfordernd. Die Sanitätsbehörden waren kantonal organisiert, doch 1900 hatten sich die wichtigsten Kantone der Deutsch-Schweiz zur Kontrollstelle des Konkordats zur Bekämpfung des Geheimmittelwesens (und zum Schutz der einheimischen Pharmaindustrie) zusammengeschlossen (Der Bund 1909, Nr. 70 v. 11. Februar, 1). Ihre erste, 1901 vorgelegte Liste vom 15. April 1901 enthielt 611 Präparate, darunter auch die Bronchial-Zigaretten aus Berlin (Amtsblatt für den Kanton Zürich vom Jahre 1908, Zürich 1909, 307). Das bedeutete kein Verbot, wohl aber Werbeeinschränkungen. Das System von Positivlisten war allerdings höchst lückenhaft: Die Grimaults Indische Zigaretten oder aber die Asthma-Zigarillos des Frankfurter Apothekers Neumeier wurden durchaus beworben (Der Bund 1904, Nr. 77 v. 17. März, 5; Neue Zürcher Zeitung 1904, Nr. 15 v. 15. Januar, 3).

23_Feuille d'Avis de Neuchatel_1902_04_16_Nr086_p1_Jorunal de Jura_1902_02_26_Nr48_p4_Bronchiol_Asthma_Medizinalzigaretten

Sachliche Wiederholung gängiger Informationen und Versprechungen (Feuille d’Avis de Neuchatel 1902, Nr. 86 v. 16. April, 1 (l.); Journal du Jura 1902, Nr. 48 v. 26. Februar, 4)

Deutlich einfacher war der Absatz allerdings in der Romandie, also der französischsprachigen Westschweiz. Dort konnte für die cannabishaltigen Zigaretten geworben werden, und dort etablierten die beiden Schweizer Großhandelsdepots Absatznetzwerke wie im Deutschen Reich (L’Imperial 1902, Nr. 6536 v. 23. März, 12; La Tribune de Genève 1902, Nr. 114 v. 18. Mai, 2; La Liberté 1902, Nr. 142 v. 22. Juni, s.p.). Insgesamt dürfte sich die Absatzlage vor dem Ersten Weltkrieg jedoch weiter verschärft haben: In Zürich empfahl die lokale pharmazeutische Kontrollstelle 1911 ein Verbot der Berliner Medizinaljoints (Journal Suisse de Chimie et Pharmacie 49, 1911, 141)

Bronchiol-Zigaretten waren auch in den Niederlanden und in Großbritannien erhältlich, gewannen dort aber keine größere Bedeutung, auch wenn der Londoner Großhändler Newbery & Co. zu den führenden Anbietern von „Patent Medicine“ gehörte (Alan Mackintosh, The Patent Medicines Industry in late Georgian England: A Respectable Alternative to both Regular Medicine and Irregular Practice, Social History of Medicine 30, 2017, 22-47). In Frankreich, der eigentlichen Heimat der Asthmazigaretten, fand ich keine Hinweise auf Bronchiol. Dass das Präparat zeitgleich im Reichsland Elsass-Lothringen frei verfügbar war, unterstreicht aber nochmals die Bedeutung staatlicher Regulierung auch in den recht freien Gesundheitsmärkten dieser Zeit.

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Notiz für Fachleute (Times 1902, Nr. 36782 v. 31. Mai, 19)

Die Werbung für Bronchiol-Zigaretten

Bronchiol war 1900 nicht nur ein neuartiges Präparat, sondern ein erster Markenartikel im Nischenmarkt der Asthmamittel. Während die Wettbewerber ihre Produkte meist nach dem Anbieter benannten, handelte es sich nun um einen abstrakter Begriff, der das Wirkungsfeld suggestiv benannte. Die Idee war einfach: Ähnlich wie Aspirin oder Odol, die tradierte Märkte für Schmerzmittel oder Mundwasser neu definierten und alte, nach Herstellern benannte Angebote vom Markt verdrängten, sollte auch die deutlich preiswertere und gleichwohl „unbedingt“ wirksame Bronchiol-Zigarette den Markt aufrollen und dominieren. Dies war Teil einer umfassenden Kommerzialisierung der Alltagssprache, die nun von zehntausenden neuer Begriffe und Sprachbilder mitgeprägt wurde: „Die moderne Reklame hat nun in großen Mengen zum Teil ganz merkwürdige Wort- und Bildzeichen erzeugt, wie Odol und Trybol, Carminol und Bronchiol, Javol und Floreol, Ni O ne und Wuk, Maggi zum Würzen der Suppen, Hundolin und Petrolina“ (Gebrauchsmuster und Warenbezeichnungen, Berliner Tageblatt 1904, Nr. 180 v. 9. April, 8). „Bronchiol“ war im Trend dieser Zeit: Fachbegriffe wurden in die Alltagssprache übertragen, gewannen als Markenartikel einen eigenen Charakter. Bronchiol war Teil des Siegeszuges neuartiger Endungen, wie -in, -on, -one, -ma, -en, -al, -ta, -il, -ol. Neue Produkte hießen nun Aspirin, Brillantine, Tropon, Kaloderma, Sanatogen, Duotal, Odonta, Pomeril, Odol oder eben Bronchiol (Richard Palleske, »Glühweinnol«. Eine neue sprachliche Modenarrheit, Zeitschrift des Allgemeinen Sprachvereins 18, 1903, Sp. 43-45; Ernst Wülfing, Hundolin und Petrolina […], Scranton Wochenblatt 1904, Nr. 1 v. 7. Januar, 6).

Bronchiol repräsentierte gleichermaßen den sprachlichen Wandel der pharmazeutischen Angebote und der Zigarettenindustrie. Das war auch Folge massiver Defizite des Rechtsschutzes. Noch galt das überholte Markenschutzgesetz von 1874, erst 1904 sollte das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen ermöglichen, neue Wortzeichen (neben Bildzeichen) einzutragen und damit zu schützen. In der Zigarettenbranche, zumal in Berlin, erlaubte das fröhliche Betrügerei. Geheime Druckereien entstanden, „welche sich lediglich mit der Anfertigung nachgemachten Cigarettenpapiers und falscher Etiketten befaßten“ (Gebrauchsmuster, 1904). „Bronchiol“ stand begrifflich also für Seriosität und Modernität, auch deshalb verwiesen die Anzeigen auf das von Heinrich Przedecki zuerst beantragte Bildzeichen Nr. 43751.

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Karge Information mit Wirkungsversprechen (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 424 v. 11. September, 11 (l.); Badische Presse 1900, Nr. 241 v. 16. Oktober, 3)

Die Bronchiol GmbH konzentrierte ihre Werbemaßnahmen – anders als die Mehrzahl der Geheimmittelproduzenten – auf Anzeigen in Tageszeitungen. (Teurere) Annoncen in Zeitschriften gab es, doch sie blieben Ausnahmen (Illustrirte Zeitung 1900, Nr. 2980, 220). Die kleinen Hinweise finden sich meist im hinteren Anzeigenteil der Zeitungen, hoben sich von den vielfach visuell anspruchsvolleren Reklamen für andere Produkte kaum ab. In den nie bebilderten Anzeigen dominierten werblich drei Aspekte: Das Einsatzfeld – Asthma –, den Markennamen – Bronchiol – und die Herkunft – Berlin. Mit dieser Trias glaubten die Anbieter eine zurückhaltende Werbung mit Erfolg am Verkaufstresen der Apotheken verbinden zu können. Hinzu kam – die Anbieter waren liberale Verfechter des Deutschtums – der immer mit zu denkende nationale Gegensatz. Deutsche Pharmazeutika dominierten die Weltmärkte; und auch im Heimatmarkt sollte man tunlichst dem deutschen Präparat den Vorrang geben.

Die Anzeigenwerbung für die Medizinaljoints wurde von der Berliner Zentrale, von den Großhändlern, auch von einzelnen Apothekern in Auftrag gegeben, nicht aber selbst gestaltet. Diese Aufgabe übernahm eine Anzeigenagentur, im Regelfall die Annoncen-Expedition von Rudolf Mosse (1843-1920) – auch er ein aus Ostdeutschland nach Berlin gezogener jüdischer Pionierunternehmer. Sie erstellte nach den Wünschen der Auftraggeber eine Vorlage, ein Klischee – und der Setzer versuchte dann, dies passgenau in den Bleisatz einzufügen. Entsprechend gab es von Zeitung zu Zeitung kleine Unterschiede trotz einheitlich verwandter Klischees.

Die Einzelmotive variierten kaum: Selten standen Werbeversprechen am Kopf der Anzeige, wobei an die Stelle des anfangs üblichen „Erfolg unbedingt“ zunehmend der moderatere Hinweis „Erfolg ärztlich nachweisbar“ trat. Damit war aber keine stärkere Zurückhaltung verbunden, denn während man Bronchiol 1901 immer wieder als „Linderungsmittel“ anpries mutierte es 1902 vielfach zum „Heilmittel“ (Münchner Neueste Nachrichten 1901, Nr. 134 v. 21. März, 10; ebd. 1902, Nr. 91 v. 23. Februar, 11).

26_Dresdner Nachrichten_1901_05_29_Nr147_p28_Strassburger Post_1900_11_13_Nr966_p4_Asthma_Bronchiol_Medizinalzigaretten_Cannabis_Dr-Abbot

Leichte Variationen bei gleichartiger Grundstruktur (Dresdner Nachrichten 1901, Nr. 147 v. 29. Mai, 28 (l.); Straßburger Post 1900, Nr. 966 v. 13. November, 4)

Festzuhalten ist, dass die Bronchiol GmbH ihre Werbung ab Mitte 1902 reichsweit einstellte (in Sachsen zuletzt Dresdner Nachrichten 1902, Nr. 149 v. 1. Juni, 28, im Elsass Straßburger Post 1902, Nr. 390 v. 27. April, 7). Dies bedeutet nicht zwingend die Einschränkung des Geschäftes. Grimault beendete Annoncenwerbung im Deutschen Reich Mitte der 1880er Jahre, setzte sie Mitte der 1890er Jahre wieder gleichartig fort. Es ist eher davon auszugehen, dass Bronchiol-Zigaretten grundsätzlich eingeführt waren, dass man es nun den Apothekern überließ, das eigene Präparat weiter anzubieten. Zu bedenken ist, dass die Bronchiol GmbH nach dem Tode Heinrich Przedeckis ein Ein-Produkt-Unternehmen blieb. Forschung und Entwicklung wurden nicht betrieben, die Zigaretten wurden nach Rezept hergestellt und dann an die Großhändler versandt. Sinkende Kosten ließen die Gewinne auch bei sich langsam abschleifendem Absatz auf akzeptabler Höhe bleiben. Die Einstellung der Werbung war Ausdruck von Realismus: Der große Coup war nicht gelungen, Bronchiol-Zigaretten ein etabliertes Angebot neben anderen. Während andere Ein-Produkt-Unternehmen, etwa die Tropon- oder die Sanatogen-Werke, ihre Angebote ausdifferenzierten und sich weltweit etablierten, gelang dies der Bronchiol GmbH nicht.

Eine fragile Marktstruktur

Über die Gründe kann man mangels Quellen wiederum nur begründet mutmaßen. Erwähnenswert ist erstens ein sich langsam verschärfendes regulatives Umfeld. Die vor allem von Medizinern und Pharmazeuten getragen Proteste gegen die vermeintlich wachsende Zahl von Geheimmitteln und obskuren Spezialitäten ergab 1903 einen wichtigen symbolischen Erfolg, als der Bundesrat ein Werbeverbot für 90 Angebote erließ, darunter auch die Zematone Asthmazigaretten (Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 3. F. 26, 1903, 424-428, hier 425).

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Zematone: Werbeverbot ab 1. Januar 1904 (Kölnische Zeitung 1899, Nr. 891 v. 12. November, 2)

Zweitens veränderte sich das steuerliche Umfeld. Asthmazigaretten wurden von den deutschen Zoll- und Steuerbehörden bei Gründung der Bronchiol GmbH nicht als Zigaretten, sondern als Heilmittel definiert (Gustav Müller, Die chemische Industrie in der deutschen Zoll- und Handelsgesetzgebung des neunzehnten Jahrhunderts, 1902, 224). Dies änderte sich 1906 mit der Einführung der Zigarettensteuer. Sie war eine indirekte, also beim Produzenten erhobene Verbrauchssteuer, Teil eines Gesamtpaketes zur Finanzierung des Flottenbaus. Die Frage, ob Asthmazigaretten Zigaretten im Sinne des Gesetzes waren, wurde parallel aufgerollt. Die Bronchiol GmbH, deren Gesundheitszigaretten ja auch Tabak enthielten, richteten 1906 eine Eingabe „betreffend der Steuerpflicht von Asthmazigaretten“ an den Bundesrat (Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reichs 1906, Berlin o.J., 526). Doch die Eingabe drang nicht durch. Während Asthmazigaretten ohne Tabak weiter als Heilmittel galten, war die Bronchiol-Zigarette doppelt betroffen (Wilhelm Cuno, Zigarettensteuergesetz vom 3. Juni 1906, Berlin 1906, 4). Zum einen stiegen die Einfuhrzölle für Tabak, zum anderen hatte die Berliner Firma nun Zigarettensteuer zu entrichten (Protokolle, o.J., 426). Angesichts der starren Verkaufspreise minderte dies die Gewinne der Bronchiol GmbH. Immerhin, die Exporte in die deutschen Kolonien blieben davon unbeeinträchtigt.

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Exporte deutscher Asthmazigaretten in die Kolonien (Export 30, 1908, 529)

Drittens wuchsen nach der Jahrhundertwende die Zweifel an der medizinischen Wirksamkeit der Asthmazigaretten (Adolf von Strümpell, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, Leipzig 1904, 293). Während man zuvor Besorgnisse vor allem angesichts einer nur ungenauen Dosierung der potenziell toxischen Inhaltsstoffe hatte (Rudolf Kobert, Lehrbuch der Pharmakotherapie, Stuttgart 1897, 441), ergaben nun präzise Analysen des Rauches, dass die darin enthaltenen Mengen Atropin für kausale Effekte kaum ausreichend waren (F. Netolitzky und R. Hirn, Rauchversuche mit einigen Asthmamitteln, Wiener Klinische Wochenschrift 16, 1903, 584-585). Asthmazigaretten galten daher zunehmend als Mittel, „das entweder ausschließlich oder doch hauptsächlich suggestiv wirkt“ (Allgemeine Medizinische Central-Zeitung 80, 1911, 439). Weitere Studien ergaben demgegenüber, dass nur hartes Lungenrauchen einen kausalen Effekt habe (Gustav Günther, Darf man den Stramoniumzigaretten eine arzneiliche Wirkung zuschreiben?, Wiener klinische Wochenschrift 24, 1911, 748). In dieser Debatte spiegelte sich nicht nur das durch die Anwendung seinerzeit modischer Heilmittel wie Veronal oder Heroin gestiegene Bewusstsein für die Gesundheitsgefahren moderner Pharmazeutika, sondern auch der Wunsch nach einer kausalen, und das heißt stofflich nachweisbaren Wirkung der Asthmazigaretten. Rückfragende Hinweise, dass „doch den Pat[ienten, US] zu helfen erstes Gesetz bleibt“ (Excerpta Medica 16, 1906/07, 437) traten demgegenüber in den Hintergrund. Für die Bronchiol GmbH waren Zweifel an der Wirksamkeit ihres Präparates jedoch eine Bürde.

Viertens wurde die Marktstellung der Bronchiol-Zigaretten kurz nach der Jahrhundertwende durch neue, anders zusammengesetzte Präparate beeinträchtigt. Cannabis war ein unzuverlässiger Inhaltsstoff, seine Wirksamkeit schwankte, zumal über die Wirkstoffe wissenschaftlich trefflich gestritten wurde. Wichtiger aber war, dass es teurer war als andere Naturstoffe. Das galt insbesondere im Vergleich mit Stechapfelpräparaten. Dieses war Hauptbestandteil des wohl ab 1905 angebotenen Astmol. Das sowohl als Pulver als auch als Zigarette angebotene Präparat wurde von den Farbenfabriken Elberfeld (Bayer) produziert und der Frankfurter Engels-Apotheke vertrieben (Proceedings of the Annual Meeting of the New York State Pharmaceutical Association 27, 1905, 103; Pharmazeutische Praxis 4, 1905, 81). Später übernahm das Frankfurter Pharmaunternehmen Galenus diese Aufgaben.

29_Simplicissimus_12_1908-09_p612_Badische Presse_1924_10_24_Nr394_p11_Asthma_Astmol_Dr-Elswirth_Medizinalzigaretten

Astmol gegen die „peinliche Krankheit“ Asthma (Simplicissimus 13, 1908/09, 612 (l.); Badische Presse 1924, Nr. 394 v. 24. Oktober, 11)

Astmol war eine mit Menthol aromatisierte Mischung aus Stechapfel (40 %), Grindelie, Blutmohn und Lärchenschwamm (je 10 %) (Hahn und Holfert, 1906, 15; Leipziger Tageblatt 1907, Nr. 306 v. 4. November, 7). Das apothekenpflichtige Medikament wurde entweder als Pulver in Blechdosen oder aber in Zigaretten eingerollt vertrieben, beide für 2,50 M pro Dose resp. Schachtel. Während die Zigaretten einfach auf Lunge geraucht wurden, hatte man das Pulver teelöffelweise auf einen Teller zu legen, dann anzuzünden und den Dampf tief einzuatmen. Husten war die Folge, dann Auswurf, schließlich – so das Versprechen – Erleichterung (Sport im Bild 29, 1923, 512). Die in Zeitungen und Zeitschriften geschaltete Werbung präsentierte das „wunderwirkende“ (Deutsches Südmährerblatt 1906, Nr. 1 v. 5. Januar, 3) Astmol anfangs als ein „absolut zuverlässiges Mittel […], welches nicht nur die Anfälle sofort beseitigt und diesselben verhütet, sondern auch in vielen Fällen diesen Zustand vollständig beseitigt“ (Kindergarderobe 15, 1908, H. 12, 24).

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Asthmazigaretten als Atemgarant (C.V.-Zeitung 9, 1930, 113 (l.); Badische Presse 1931, Nr. 540 v. 19. November, 12)

Als Pharmazeutikum war Astmol ein Übergangspräparat. An die Stelle des im Bronchiol aktiv beworbenen indischen Hanfs traten billigere, in ihrer Wirksamkeit kausal besser abschätzbare Inhaltsstoffe. An die Stelle kleiner Spezialanbieter traten mittlere und größere Pharmaunternehmen. Die Präparate aus „Naturstoffen“ wurden seit den 1920er Jahren jedoch zunehmend durch synthetische Arzneimittel auf Ephedrin- oder Theophyllinbasis verdrängt.

Nachklang: Bronchiol gegen Erkältung

Während die Asthmatherapie in den 1920er Jahren neue Wege ging, wurde 1922 auch wieder Bronchiol angeboten. Dieses Mal handelte es sich allerdings nicht um eine cannabishaltige Zigarette, sondern um ein Husten- und Erkältungsmittel (Klinische Wochenschrift 1, 1922). Das Produkt verging, der Name blieb. Das Warenzeichen „Bronchiol“ wurde am 27. Dezember 1922 der Westfälischen Essenzen-Fabrik GmbH in Dortmund erteilt (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 16 v. 19. Januar, 19). Sie vermarktete das zu zwei Dritteln aus karamellisiertem Zuckersirup bestehende „Hustenpräparat“ als Alltagswaffe, setzte als Wirkstoff dabei auf Kaliumsulfogusjakolat (Badische Presse 1927, Nr. 77 v. 16. Februar, 8). Die Werbung war breit gefächert, richtete sich etwa an „Touristen, Sänger, Redner, Raucher, Sportler sowie alle, die beruflich viel sprechen müssen“ (Badische Presse 1926, Nr. 558 v. 1. Dezember, 8). Es wurde als „erfrischend, angenehm lösend und Hustenreiz stillend“ angepriesen (ebd.), als „das altbewährte, führende deutsche Vorbeugungsmittel gegen alle Erkrankungen der Atmungsorgane“ (Badische Presse 1926, Nr. 582 v. 15. Dezember, 8). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg half es gegen Husten, Heiserkeit und Katarrh.

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Bronchiol als Hilfsmittel gegen Husten und Erkältung (Badische Neueste Nachrichten 1950, Nr. 213 v. 21. Oktober, 12 (l.); ebd., Nr. 219 v. 28. Oktober, 16)

Das Präparat ist heute nicht mehr lieferbar. Doch auf Bronchiol müssen Sie nicht verzichten. Bronchiol, das ist heutzutage der Name eines Gummibonbons mit japanischem Minzöl, angeboten vom Süßwarenhersteller Haribo. Anfangs mit Stevia gesüßt, dominieren heute Glukosesirup und Zucker die „gesunden“ Drops. Wer von den Käufern heute noch weiß, was ehedem mit Bronchiol verbunden war?

Mehr als Joints im kaiserlichen Berlin?

Wir sind am Ende unserer vielgestaltigen Mutmaßungen über ein kleines, kurzlebiges multinationales Unternehmen ohne Quellenüberlieferung. Man kann die Geschichte aus heutiger Sicht überrascht zur Kenntnis nehmen, dokumentiert sie doch einen pragmatisch rationalen Umgang mit Stoffen, die heutzutage wohlbegründet als „Drogen“ gelten, aller „Liberalisierung“ des Cannabis zum Trotz.

Als Unternehmen war die Bronchiol GmbH nicht außergewöhnlich. Und doch ist es im Rückblick spannend zu sehen, wie einige wenige Personen binnen nur eines Jahres ohne größeres Kapital eine im gesamten Deutschen Reich und auch im Ausland tätige Firma haben ins Rollen bringen können. Das Kaiserreich war eine Zeit des unternehmerischen Aufbruchs, des wirtschaftlichen Fortschritts, die Rahmenbedingungen aufwies, die Begüterten beträchtliche Chancen bot. Gleichwohl zeigt die Geschichte der Bronchiol GmbH auch ein langsames Erodieren dieser Grundlagen, sei es durch zunehmende Regulierung, sei durch einen expandierenden Steuerstaat. Sie zeigt aber auch, dass es sich um eine harte Wettbewerbslandschaft handelte, in der neue Produkte eine geringe Halbwertszeit hatten, in dem Preisdruck herrschte, in der weniger wirksame Produkte aus dem Markt verdrängt wurden. Dergestalt zeigt die Geschichte der Bronchiol GmbH den liberalen Kapitalismus mit all seinen Möglichkeiten – mochte die Kartellbewegung, die Bürokratisierung und strikten Klassengegensätze dieser Zeit auch die Grenzen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell klar konturieren.

Sozialgeschichtlich spiegelt die Geschichte der Bronchiol GmbH einerseits die bürgerliche Aufwärtsmobilität des späten Kaiserreichs: Eine erst 1871 mit umfassenden Bürgerrechten versehene jüdischen Minderheit nutzte die Chancen des eben nicht nur anonymen Marktes. Mit Hilfe enger ethnischer und auch persönlicher Netzwerke etablierten sie ein lukratives Geschäft, das in der eigenen, durchaus weit gefassten Klasse blieb. Gleichwohl geben die Biographien der Geschäftsführer auch einen Blick auf die Brüche innerhalb dieses Aufstiegsmilieus frei. Die Fallhöhe war tief, Konkurse möglich, Ausbrechen aus vorgegebenen Bahnen hatte seinen Preis.

Konsumhistorisch steht die Bronchiol GmbH für tiefgreifende Wandlungen vor dem Ersten Weltkrieg, vor dem immer wieder beschworenen Bruch in der Weimarer Republik. Die cannabishaltigen Asthmazigaretten stehen für eine beträchtliche Ausweitung des Güterangebotes, für dessen relative Verbilligung – aber auch für die hohen Kosten der an sich jedem Asthmatiker zustehenden Gesundheitsprodukte. Bronchiol stand für den immer mächtigeren Einfluss breit bekannter Markenartikel und nationaler, ja internationaler Absatzstrukturen. Die Produkte der Bronchiol GmbH waren nicht mehr durch Herkunft gekennzeichnet, Berlin war Produktionsort, Vermengungsort international eingekaufter Rohware. Doch Bronchiol stand zugleich für die Leistungsfähigkeit der deutscher Pharmazeutika, war Ausdruck der zunehmend beliebigen Projektionskraft moderner Konsumgüter. Es etablierte eine Kunstwelt des Gelingens, in der Leiden bekämpft werden konnte, kein Schicksal mehr war. Bronchiol-Zigaretten waren moderne Produkte, mag uns die Werbung auch zurückhaltend, ja hausbacken erscheinen.

Als Medikament verkörperten die Medizinaljoints nichts Neues. Sie materialisierten das immanente Erlösungs- und Heilversprechen der modernen Pharmazie, der modernen Medizin: Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen, es muss nur noch gefunden und richtig angewandt werden, um erst Linderung, dann aber auch Heilung zu garantieren. Die Asthmazigaretten waren eingebettet in ein Leben steter Gefährdung, waren zugleich noch Teil einer tätigen Praxis des Dagegenhaltens, der bewussten Wahl für eine von vielen Therapien. Die Bronchiol-Zigaretten waren ein Angebot in einer Übergangszeit hin zu wirksameren Pharmazeutika, die ihre Nutzung scheinbar selbst programmierten. Sie stehen für den Wandel von der Patienten- zur Medikamentensouveränität, von der begrenzten Autonomie der (bürgerlichen) Patienten hin zur Dominanz der Pharmazeuten, der Ärzte und ihrer Produkte.

Als Teil einer moderner Wissensgeschichte ging es schließlich um die Dominanz unterschiedlicher Wissensregime: Die Bronchiol-Mischung aus Tabak, Stechapfel und Cannabis Indica war krampflösend und wirksam, doch ihre Wirkung war ungewiss, variierte individuell, konnte experimentell kaum eindeutig bestätigt werden. An die Stelle helfender, nicht aber eindeutig erklärbarer Angebote traten zunehmend Produkte mit stofflich-kausalen Wirkmechanismen, die im Modell sicher funktionierten, vielfach auch in der Praxis. Cannabis Indica war in diesem Umfeld ein unsicheres Kraut, verschwand daher vor dem begrenzten Verbot 1929 aus dem Alltagsangebot relevanter Hilfsmittel. Ob aber eine „Liberalisierung“, die auf den gleichen stofflich-pharmakologischen Wissensbeständen (und dem ökonomischen Gewinnstreben eines Heinrich Przedecki) beruht wie die Pharmazie, vorrangig das Wohl der Patienten im Blick hat, mag füglich bezweifelt werden.

Uwe Spiekermann, 14. Mai 2022

Glas in den häuslichen Alltag! Konservieren und Einkochen bis zum Zweiten Weltkrieg

Denkt man heute ans Einmachen, so stehen einem schöne, satte Bilder vor Augen – die Farben des Herbstes, der Ernte. Doch Idylle ist fehl am Platz, reden wir historisch über Konservierung. Sie war (und ist) elementar, erforderlich, um die geernteten Nahrungsmittel, um geschlachtete Tiere und ihre Produkte möglichst lange, das ganze Jahr über zu nutzen, zumindest aber bis zur nächsten Ernte damit hauszuhalten. Nahrung ist ohne Konservierung ein flüchtiges Gut. Sie ist nicht einfach für uns da, ihr Wesen ist Verwesung, Zersetzung, Entwertung, Auslaugung, Verderb. Konservierung kann diesen Prozessen Einhalt gebieten. Sie steht für die Selbstbehauptung des Menschen im Angesicht einer grundsätzlich feindlichen Natur und einer zwischen Lebewesen bestehenden Fraßkonkurrenz.

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„Conserven“ – Dachbegriff für länger haltbar gemachte Nahrungsmittel (Kladderadatsch 42, 1889, Nr. 44/45, Beibl., 2)

Im 19. Jahrhundert war dies alltagspräsent, Hungersnöte prägten noch die Jahre 1816/17 und 1846/47. Konserven konnten etwas dagegensetzen. Dieser Begriff stand bis Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht für einzelne Produkte oder Verfahren, sondern für verarbeitete und haltbare Lebensmittel als solche. Doch Mitte des Jahrhunderts veränderte sich diese Struktur mit dem aufkommenden Maschinenzeitalter, mit der das Alltagsleben langfristig grundlegend verändernden Industrialisierung. Maschinen nährten die Hoffnung auf menschliche Herrschaft über die Natur, auf neue Souveränität. War Konservierung zuvor in den bäuerlichen und bürgerlichen Haushalt eingebunden, in Ernterhythmen und Jahreszeiten, so schien mit dem Aufkommen einer Konservierungsindustrie im späten 19. Jahrhundert eine neue Zeit des Umgangs mit der Nahrung anzubrechen. Technik sollte helfen Zeiten und Räume zu durchbrechen, zu überwinden. Die Träume dieser Zeit prägen vielfach noch unsere heutige Welt: technischer Fortschritt, regionale und nationale Arbeitsteilung, der Ausgleich des Mangels durch freien Handel. Dadurch sollten Hunger und Mangelernährung besiegt, soziale Konflikte vermindert und die Haushalte von mühseliger Arbeit entlastet werden. Die tradierten Techniken des Pökelns und Dörrens, des Einkellerns und Räucherns sollten zentralisiert und durch Hitzesterilisierung und Kältetechnik, durch Büchsenkonservierung und chemische Konservierungsmittel abgelöst werden.

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Gewerbliche Konservierung und häusliches Einmachen („Tischlein deck dich“ kein Märchen mehr, Hanau und Frankfurt a.M. 1901, 1 (l.); Die Frischhaltung 44, 1950, H. 7, s.p.)

Doch schon diese Bilder unterstreichen, dass die Geschichte anders verlief. Die Konservierungsindustrie führte eben nicht zu einer raschen Verdrängung der häuslichen Konservierung, wohl aber zu deren tiefgreifender Veränderung (Uwe Spiekermann, Zeitensprünge. Lebensmittelkonservierung zwischen Haushalt und Industrie 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, hg. v. Katalyse/Buntstift, Köln 1997, 91-109).

Konservierung im 19. Jahrhundert: Anfänge einer Versorgungsindustrie

Um die Geschichte des häuslichen Einkochens verstehen zu können, ist es dennoch ratsam mit der frühen gewerblichen Konservierung anzufangen. In deutschen Landen startete diese relativ spät – zumal im Vergleich zu Großbritannien, der damals führenden Weltmacht. Obwohl die grundlegenden Konservierungstechniken seit Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt waren, entwickelten sich erste handwerklich arbeitende Betriebe erst in den „hungrigen“ 1840er Jahren; und erst in den 1860er Jahren begann der Aufstieg der fischverarbeitenden Industrie an der Nord- und Ostseeküste oder der bis heute bekannten Braunschweiger Spargelkonservenindustrie (Martin Humbert, Die Entstehung der Konservenindustrie und ihre technische sowie wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland im Bereich der Obst- und Gemüsekonserven, Diss. rer. pol. Hamburg 1997). Deren Produktion blieb jedoch vor 1890 gering, erst danach begann ein rascher Aufstieg (Wolfgang Horn, Vom Klempnergag zur Massenware, die Anfänge der Braunschweiger Konservenindustrie, Braunschweig 1988 (Ms.); Carsten Grabenhorst, Seesen – Stadt der Konserve. Geschichte der Seesener Konserven- und Blechwarenindustrie von 1830 bis 1926, Seesen 2011).

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Von der regionalen zur nationalen Delikatesse: Werbung für Spargelkonserven 1886 (Fliegende Blätter 85, 1886, Nr. 2155, Beibl.)

Spargel in Blechkonserven war ein Luxusprodukt, war eine edle bürgerliche Speise. Das lag weniger an den Kosten für Anbau und Ernte, sondern vorrangig an den hohen Aufwendungen bei Herstellung und Verpackung. Das Kochen der Pflanzen war langwierig, erst 1873 wurden Autoklaven eingesetzt, in denen Nahrung durch Überdruck schneller sterilisiert werden konnte. Die Dosen mussten noch per Hand verlötet werden; erst 1889 wurden erste automatische Dosenverschlussmaschinen eingesetzt. Dosenkonserven blieben daher bis ins späte 19. Jahrhundert einem kaufkräftigen bürgerlichen Publikum vorbehalten.

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Konservensonderverkauf im KaDeWe (Berliner Tageblatt 1912, Nr. 135 v. 14. März, 12)

Konserven wurden jedoch nicht nur durch Maschineneinsatz billiger. Auch der Einzelhandel modernisierte sich während des Kaiserreichs rasch, erweiterte sein Sortiment, bot neue haltbare Produkte an. Am Anfang standen seit den 1870er Jahren vor allem Versandgeschäfte. An deren Seite traten Massenfilialbetriebe und ab den 1890er Jahren dann erste Warenhäuser. Sie alle nutzten Konserven, um dem Publikum ihre Preiswürdigkeit unter Beweis zu stellen.

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Fehlende Einheitlichkeit: Form- und Materialvielfalt bei Rahmprodukten ([Paul] Buttenberg, Über Dauermilchpräparate, in: Bericht über die Allgemeine Ausstellung für hygienische Milchversorgung im Mai 1903 zu Hamburg, hg. v. Deutschen Milchwirtschaftlichen Verein, Hamburg 1904, 25-43, hier 29)

Ein Kernproblem der Blechkonserven war allerdings, dass man nicht sah, was man kaufte, dass man dem Anbieter und dem Verkäufer trauen musste (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 458-460). Anfangs hatten die Dosen vielfach nicht einmal Etiketten, denn lang haltende Klebstoffe sind technisch komplex (Wilhelm Gruber, Das Konservenetikett im Wandel der Zeit, Die industrielle Obst- und Gemüseverwertung 50, 1965, 204-209). Doch auch die Qualität schwankte beträchtlich, zudem waren die Büchsen teils nur unzureichend gefüllt. Das änderte sich erst nach der Jahrhundertwende, auch aufgrund der Klagen der Käufer. Während größere Firmen ihre Markenprodukte vielfach noch in eigenen Verpackungen in unterschiedlichen Größen anboten, vereinbarten insbesondere kleine Anbieter Offerten in einheitlichen Größen. Seit 1907 gab es erste Einheitsdosen etwa für Obst und Gemüse. Das half Vertrauen zurückzugewinnen. Die Konsummengen aber blieben begrenzt: Um 1900 verzehrte der Durchschnittsdeutsche etwa ein Kilogramm Konserven pro Jahr und Kopf, um 1913 war es dann immerhin schon die doppelte Menge.

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Glas statt Blech? Transparent angebotenes Eigelb 1896 (Fliegende Blätter 104, 1896, Nr. 2656, Beibl.)

Die nicht unerhebliche Skepsis gegenüber undurchsichtigen Konservenbüchsen führte zur Suche nach Alternativen. Glaskonserven wurden schon im späten 19. Jahrhundert angeboten, doch ihre Brüchigkeit und ihr relativ hoher Preis legten den Einsatz nur bei hochwertigen Angeboten nahe, insbesondere bei Arzneien und Drogerieartikeln. Noch in den späten 1930er Jahren lag die durchschnittliche Bruchquote bei 2 bis 3 Prozent (Eduard Nehring, Die Verwendung metallischer und nichtmetallischer Werkstoffe als Verpackungsmaterial in der Konservenindustrie, in: Wissenschaft und Technik in der Konservenindustrie, Braunschweig 1939, 41-54, hier 44-45). Für Glas sprach damals vor allem seine Geschmacksneutralität, seine Undurchlässigkeit, seine Ungiftigkeit. Verzinntes Dosenblech war relativ korrosionsbeständig, tolerant gegenüber Druck und Temperaturen, leichter als Glas und besser stapelbar. Doch je nach Füllgut gab es trotz des 1887 erlassenen Blei-Zink-Gesetzes immer wieder Vergiftungsfälle durch gelösten Zinn und auch gelöstes Lötblei.

Wie bei der Blechkonservenindustrie hing die Nutzung des Werkstoffes Glas von dessen preiswerter Massenproduktion ab. Das bedeutete vor allem eine rationale und auch mechanisierte Hohlglasherstellung. Die handwerklich betriebenen Waldglashütten bekamen schon seit der Jahrhundertmitte Konkurrenz durch Glashütten mit größer gebauten Schmelzöfen mit einer oder gar mehreren Schmelzwannen. Holzfeuerung wurde zunehmend auf Kohle, Gas und Koks umgestellt und ermöglichte dünnwandigeres und schlierenfreieres Glas (L[udwig] Lobmeyr (Hg.), Die Glasindustrie, ihre Geschichte, gegenwärtige Entwicklung und Statistik, Stuttgart 1874, insb. 166-177). Die Produktionssprünge im späten 19. Jahrhundert resultierten vor allem aus größeren und heißeren Öfen. Dabei ragte der seit 1867 grundsätzlich verfügbare Siemenssche Regenerativofen heraus. Er war ursprünglich für die Stahlproduktion entwickelt worden, bewährte sich aber auch bei der Leichen- und Tierkadaververbrennung. Die durch indirekte Hitzeführung möglichen höheren Temperaturen ließen das Glasgemenge schneller schmelzen und den Durchfluss beträchtlich steigen. Doch noch erfolgte die Produktion vornehmlich per Hand und Mund durch die standesbewusste Gruppe der Glasbläser  (Georg Goes, Arbeitermilieus in der Provinz. Geschichte der Glas- und Porzellanarbeiter im 20. Jahrhundert, Essen 2001, insb. Kap. VII).

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Mechanisierung der Hohlglasherstellung: Owens-Maschine 1912 (Library of Congress, Washington DC, ncl2004001184)

Das änderte sich erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als vollautomatisch blasende Maschinen eingeführt wurden. Die erste sog. Owens-Maschine lief im Deutschen Reich 1908 an, doch ein Kartell wachte über eine markt- und preisschonende Etablierung. Entsprechend veränderte sich die Hohlglasherstellung nur langsam. Selbst in technisch führenden Unternehmen, wie etwa Gerresheim, wurden tradierte Verfahren über Jahrzehnte weiter genutzt. Dadurch konnten sich viele mittlere Unternehmen behaupten, wenn sie ihre Produktion auf Nischen konzentrierten.

Handarbeit führte dazu, dass die im 19. Jahrhundert produzierten gläsernen Vorratsgefäße deutlich anders aussahen als die uns allen bekannten Konservengläser (Astrid Bergmeister, Mindestens haltbar bis… Konservieren und Bevorraten in Glasgefäßen, Essen 1998, insb. 24-37). Sie wurden teils frei, teils modelgeblasen. Die Gläser wurden zumeist mit einem Korken verschlossen, teils auch verwachst. Sie waren daher hygienisch heikel, die gewölbten Böden schwer zu reinigen. Aus diesem Grunde wurden sie vielfach geschwefelt, was wiederum gesundheitsgefährdend war. Die Konservierungsgläser dieser Zeit waren noch nicht standardisiert, auch wenn man sie in unterschiedlichen Größen kaufen konnte. In den Haushalten wurden sie etwa mit Marmelade oder Gelee gefüllt und dann mit Papier, Blasen oder Leim verschlossen. Das war nicht steril, so dass es bei den Glaskonserven häufig Verderb gab.

Der Haushalt als Experimentierfeld technischer Innovationen

Die häusliche Konservierung lebt bis heute von einnehmenden Bildern, wie sie uns aus bürgerlichen Kochbüchern und Haushaltslehren des späten 19. Jahrhunderts im Gedächtnis prangen: Gefüllte Vorratskeller mit schimmernd lockenden Regalen, ein wenig auch die behäbige Gemütlichkeit Wilhelm Buschs (1832-1908): „Eben geht mit einem Teller / Wittwe Bolte in den Keller, / Daß sie von dem Sauerkohle / Eine Portion sich hole, / Wofür sie besonders schwärmt, / Wenn er wieder aufgewärmt“ (Max und Moritz, München 1865, 11). Festzuhalten ist jedoch, dass häusliche Konservierung notwendig war, um preiswert und ohne größere gesundheitliche Schäden durch das das Jahr, zumal durch Winter und Frühling zu kommen. Häusliches Konservieren war mühselig, das Ergebnis nicht immer schmackhaft. Es ging nicht um eine abwechslungsreiche Küche, sondern um die Befriedigung von Grundbedürfnissen.

Hausfrauen beharrten daher nicht auf Traditionen, sondern nahmen die vielfältigen Neuerungen der modernen Zeit rasch auf. Das war nicht modisches „Do-it-yourself“, kein „Prosuming“, sondern notwendige Selbsthilfe. Bis zur Jahrhundertwende erfolgten viele Verbesserungen, nicht aber grundlegende Veränderungen: Die wichtigste Konservierungstechnik war das Einkellern oder Einmieten vor allem von Kartoffeln, aber auch von Kohl, Äpfeln oder Möhren. Entsprechende Vorräte fanden sich meist über das ganze Haus, über die kleine Wohnung verteilt. Wichtig waren ferner das Einlegen in Essig, Trocknen, Dörren, Pökeln und Räuchern. Konservierung war jedoch in vielen Haushalten kaum möglich, setzte es doch den Besitz oder Kauf von Kleinvieh, von Obst und Gemüse voraus. Damals wurde deutlich weniger Fleisch, Obst und Gemüse gegessen, Der Konsum richtete sich stark nach Ernte- und Schlachtzeiten. Häuslich konservierte Nahrung war aber sozial weiter verbreitet, denn man bekam sie, wie auch Getreide und Mehl, noch als Lohn für Arbeit. Vieles blieb regional begrenzt, wie etwa die Mostherstellung im Süden und Südwesten. Manches verlor an Bedeutung, etwa das Dörren in gemeinsam genutzten Dörrhäuschen.

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Nicolas Appert und eines seiner gläsernen Konservierungsgefäße (Wikipedia)

Neue industrielle Produkte veränderten nur langsam die häusliche Konservierung. Am wichtigsten war der Einsatz der Konservierungsmittels Zucker, wodurch die Muskocherei um Marmeladen und Gelees ergänzt werden konnte. Viele Verfahren waren bekannt, konnten jedoch nicht umgesetzt werden. Der französische Koch und Konditor Nicolas Appert (1749-1841) entwickelte beispielsweise schon 1804 aus heutiger Sicht praktikable Verfahren der Hitzesterilisierung in Gläsern. Die Art der von ihm verwandten Gläser verdeutlicht aber auch, dass der sterile Verschluss ein Kernproblem des Verfahrens blieb. Es verwundert daher nicht, dass er seine Luxuskonserven ab 1812 in Blechbüchsen packte und verkaufte. Sein Hauptwerk wurde 1832 ins Deutsche übersetzt, weitere Auflagen folgten ([Nicolas] Appert, Die Kunst, alle animalischen und vegetabilischen Nahrungs-Substanzen durch viele Jahre aufzubewahren […], Prag 1844). Doch die Auswirkungen blieben begrenzt.

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Haushaltskonservierung mittels Blechbüchsen (Kladderadatsch 22, 1869, n. 48)

Die Modernisierung des häuslichen Konservierens begann daher nicht mit Glasbehältnissen, sondern mit „hermetisch verschließbaren“ Blechkonserven. Glasanbieter konterten, boten ihrerseits sicher verschließbare Glasgefäße an. Im letzten Drittel des 19. Jahrhundert tobte ein Kampf zwischen Blech und Glas, getrieben von Haushaltslehrerinnen und Kleintüftlern, von Unternehmern und Chemikern.

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Glaskonserven in den 1870er Jahren (A[nton] Hausner, Die Fabrikation der Conserven und Canditen, Wien, Pest und Leipzig 1877, 156)

Dabei ging es nicht nur um die Gefäße, sondern vor allem um den sicheren und sterilen Verschluss derselben. „Luftdicht“ oder „hermetisch“ wurden zu zentralen Werbeversprechen. Obwohl die Palette der Patente und Angebote wuchs, blieben die Ergebnisse bescheiden: Für den normalen Haushalt waren Blechdosenmaschinen zu teuer, während der Gläserinhalt entgegen den Anpreisungen immer wieder verdarb.

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Konservenglas mit Bügelverschluss und blecherne Einmachbüche (H[einrich] Timm, Die Obst- & Gemüseverwertung für Haushaltungs- und Handelszwecke, Stuttgart 1892, 73 (l.) und 74)

In einer dynamischen Markt- und Konsumgesellschaft führte dies zu Alternativangeboten. Die Defizite der Gefäße sollten beispielsweise durch neue chemische Konservierungsmittel gemildert, ja gebannt werden (Ueber Salicylsäure und ihren Gebrauch im Haushalte, Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878-79, 26). Rasch bekannt wurde beispielsweise Dr. Oetker’s Salicyl, das auf das Einmachgut gestreut wurde, um Schimmelbildung zu verhindern. Die seit Mitte der 1870er Jahre vertriebene Salizylsäure nutzte man aber vor allem als Arzneimittel, etwa gegen Hühneraugen. Aufgrund ihrer akut reizenden Wirkung konnte sie Magen-Darm-Schädigungen hervorrufen, wurde aber trotz kontroverser Debatten um die Jahrhundertwende erst 1959 als Konservierungsstoff für Lebensmittel verboten. Dr. Oetker verringerte schon vor dem Ersten Weltkrieg die Dosis und taufte das Produkt zur „Einmach-Hülfe“ um (Daheim 50, 1914, Nr. 45, 33).

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Chemische Hilfsstoffe für das Einmachen (Allgemeine Zeitung 1908, Nr. 19 v. 8. August, III (l.); Die Woche 7, 1905, Nr. 29, III)

Die eigentliche Innovation beim Einkochen, beim dann so genannten Einwecken, erfolgte durch Johann Carl Weck (1841-1914), einem der vielen Tüftler in diesem Felde. Er war es, der 1895 das Patent eines kurz zuvor verstorbenen Chemikers, Rudolph Rempel (1859-1893) aus Gelsenkirchen erwarb. Es war das Patent eines Apparates zum selbständigen Schließen und Entlüften von Sterilisiergefäßen. Weck war Lebensreformer, Antialkoholiker und Vegetarier. Mit seinem Apparat wollte er nicht nur Gewinn machen, sondern die Alltagsernährung verändern (J[ohann] Weck, Erfahrung über Konservierung, Vegetarische Warte 31, 898, 80-81). Er verband seinen Namen mit dem des Apparates (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 89 v. 15. April, 11), baute ein Netzwerk von Agenturen und Zweigniederlassungen auf. Schon 1902 verließ Weck sein Unternehmen, Lizenzzahlungen versüßten den Abschied. Das eigentliche Geschäft machte Georg van Eyck (1869-1951), ein erfahrener Groß- und Einzelhändler für Haushaltswaren im niederrheinischen Emmerich. Er hatte gemeinsam mit Johann Weck Anfang 1901 die J. Weck GmbH im badischen Öflingen gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 7 v. 9. Januar, 11), und er war es, der die Firma zum Marktführer erst im Deutschen Reich, später auch in Europa machte.

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Johann Weck und seine Schutzmarke (Wikipedia (l.); Tischlein, 1901, 12)

Die Grundlage für diesen Erfolg war einerseits Werbung, die bis heute ihre Liebhaber findet. „Frischhaltung“, Markenbegriff und neues mit dem Einmachen zunehmend deckungsgleiches Substantiv, erschien als Verheißung eines besseren Lebens, einer Gesellschaft, in der der Mensch die Natur befriedet hatte und beherrschte. Anfangs schaltete Eyck nur wenige Anzeigen, warb stattdessen mit Plakaten, mit Broschüren, hob sich dadurch von den vielen anderen Anbietern ab. Doch Werbung allein wäre zu wenig gewesen, mochte der Apparat auch so funktionieren, wies es sich Appert schon ein Jahrhundert zuvor erträumt hatte. Weck bot seit der Jahrhundertwende jedoch nicht nur einen Apparat zum Einkochen an, sondern weitete die Palette auf Einkochgläser und Dienstleistungen aus, bot ein Gesamtpaket an, ein Rundum-Sorglos-Paket. Das hatten andere eben nicht.

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Apparat, Gläser und ein sicherer Verschluss (H[ans] Allihn und [Ottilie] Allihn, Rationelle Krankenkost, 2. verb. Aufl., Öflingen 1911, 44)

Zudem knüpfte die Firma ein direktes Band mit ihren Kundinnen (W.D. Müller, Aus der Werbegeschichte des Hauses „Weck“, Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamefachleute, 1915, 280-282). Sie gründete Beratungsstellen, die Hausfrauen zeigten, wie Apparate und Gläser zu nutzen waren. Sie beschäftigte Wanderlehrerinnen, die auch auf dem Land präsent waren. Sie gab seit 1901 zudem eine eigene Zeitschrift heraus, „Die Frischhaltung“, die 1915 immerhin ca. 10.000 zahlende Abonnenten hatte, die sie unterhielt, informierte und mit vielfältigen „erprobten“ Rezepten versorgte. Hinzu kamen zahlreiche im Auftrag der Firma herausgegebene Broschüren, Rezept- und Kochbücher, Haushalts- und Gesundheitslehren.

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Konservierungsgläser der Firma Weck (M[ax] Hotop und E[dmund] Michael (Bearb.), Koche auf Vorrat, Bd. 1, Öflingen 1905, 12, 13)

Für das Wachstum der Firma waren weniger die Apparate als vielmehr die Konservierungsgläser entscheidend. Sie sorgten für steten Nachkauf, zumal immer neue Formen, Größen und Spezialgläser angeboten wurden.

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Einkochen als eine Kombination von Glas, Gummi, Hitze und hauswirtschaftlicher Arbeit (Hotop und Michael (Bearb.), 1905, 14 (l.), Dass., 9. Aufl., Öflingen 1911, 14)

Erfolgsgaranten waren dabei die flach geschliffenen Deckel, die mittels eines Gummirings dicht hielten und die Bügel, die während des eigentlichen Einkochens unverzichtbar waren. Geräte und Gläser machten zugleich etwas her, waren präsentabel, nicht nur in Küche und Keller, sondern auch auf der Tafel. Die Firma Weck bot zudem eine Reihe ergänzender Geräte und Gefäße an, etwa Gemüsedämpfer. Ihr Absatz reichte zwar nicht an den der eigentlichen Einweckapparate heran, war für das Wachstum von Firma und Umsatz aber wichtig. Weck konnte dadurch eine breite Palette haushälterischer Tätigkeiten aus einer Hand bedienen.

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Steinzeug als Alternative: Konkurrierendes Angebot einer kleineren Glashütte (Der Praktische Ratgeber im Obst- und Gartenbau 18, 1908, Nr. 22, Anzeigenteil, 1)

Weck wies vor dem Ersten Weltkrieg einer ganzen Branche und vielen Glashütten den Weg. Nachahmerprodukte kamen rasch auf, Apparate und vor allem Einmachgläser wurden vielfach variiert. Kein Konkurrent besaß jedoch ein derart breites Angebot und auch eine derart vielgestaltige Werbung wie der im Schwarzwald ansässige Pionier. Dessen Angebote waren relativ teuer, die Firma hielt die Preise bewusst hoch. Sie folgte einer Qualitätsstrategie, bei der es nicht nur um haltbare Nahrung, sondern auch um lange nutzbare Geräte und Gefäße ging.

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Anhaltender Wettbewerb zwischen Fabrik- und Haushaltskonserven (Fliegende Blätter 138, 1913, Nr. 3521, Beibl.)

Der Durchbruchserfolg Wecks zeigte sich aber auch an anderen Marktbewegungen. Schon vor dem ersten Weltkrieg nutzte die Firma erfolgreich die weiterhin bestehenden Geschmacks- und Sicherheitsprobleme der Blechkonserven, um die im Glas eingemachten Produkte als wohlschmeckend zu vermarkten, als höherwertige Alternative zu den „faden Konserven“ der Industrie. Diese Kampagnen waren so erfolgreich, dass auch Anbieter zeitgenössischer Haushaltshelfer – hier Liebigs Fleischextrakt – diese breit geteilte Vorstellung unterstützten.

Verpflichtungen: Einmachen und staatliche Krisenbewältigung

Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges gab es also eine spannende Wettbewerbsstruktur: Auf der einen Seite eine rasch wachsende Konservenindustrie, deren Produkte zunehmend preiswerter wurden, die auch immer wieder neue Angebote integrierte, so etwa die in den 1890er Jahren aufkommenden Bockwürstchen der Halberstädter Firma Heine. Auf der andern Seite wurde um 1900 die häusliche Konservierung zu einer einfach umsetzbaren bürgerlichen Tugend, zum Stolz der selbstbewussten Hausfrau, die mit Hilfe neuer Technik und neuer Gläser für ihre Liebsten sorgte. Um 1914 hätten Analysten wohl ein weiteres rasches Wachstum der Konservenindustrie beschworen, da die Arbeiterschaft für billige Konserven zunehmend gewonnen werden konnte. Das legten zumindest die Absatzzahlen der Konsumgenossenschaften nahe. Doch es sollte anders kommen – und das war die Folge der Weltkriege und Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht Enthäuslichung dominierte, sondern eine neuartige Verhäuslichung des Konservierens.

Während des Ersten Weltkrieges galt Einkochen als nationale Pflicht, als Rückgrat der Alltagsversorgung, als Mittel zum Durchhalten. Just deshalb griff nun der Staat ein, vornehmlich auf lokaler und regionaler Ebene. Die Ernten mussten mit weniger Personal und Fuhrwerk eingebracht werden, das Militär wurde vorrangig versorgt. Staatliche Instanzen machten nun dort weiter, wo Weck bereits angesetzt hatte, bei der umfassenden Belehrung über das Einkochen durch Hausfrauenvereine und Hauswirtschaftlerinnen. Zugleich aber investierte der Staat in neue Techniken. Zinnblech war durch die alliierte Seeblockade ab 1915 kaum mehr verfügbar, wurde vorrangig für Militärbelange zurückgehalten. Glashütten produzierten vermehrt für den Kriegsbedarf, und auch dort fehlten die vielen eingezogenen Fachkräfte. Daher förderte der Staat vor allem alternative Techniken, insbesondere das Dörren und die Kühltechnik.

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Aufrüstung im Haushalt (Joh. Ernst Brauer-Tuchorze, Transportable Trockner für die Dauerbereitung von Gemüse […], Prometheus 27, 1916, 616-620, hier 617 (l.) und Johannes Schneider, Das Dörren des Obstes und der Gemüse, Leipzig 1916, 12)

Dörren, also das Trocknen von Nahrungsmitteln, wurde nicht nur gewerblich betrieben, sondern drang mittels einfacher und auch elaborierter Apparate in die Haushalte vor. Doch die Technik war unausgegoren, Obst, Gemüse und Fleisch hielten nicht lange, schmeckten schlecht. Gerade seit dem Hungerwinter 1916/17 nahm nicht nur die Menge, sondern gerade auch die Qualität der Nahrung deutlich ab. Doch es blieb die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die gefüllten Konservengläser des ersten und zweiten Kriegsjahres.

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Alternativen zum Weck-Verfahren: Vakuum Schnellkonservierungsapparat (Voss 1921, Nr. 46 v. 17. Dezember, 16)

Aufgrund der Materialbewirtschaftung während und auch unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg blieb die Produktion neuer häuslicher Konservierungsapparate beschränkt, musste man sich insbesondere in ärmeren Haushalten mit Konservierungstechniken des späten 19. Jahrhunderts behelfen oder aber hamstern. Doch nach dem Kriege nahmen die Angebote rasch zu. Im Mittelpunkt standen zum einen billige Verfahren, um so die teureren Apparate umgehen zu können. Doch zugleich wurden von vielen Firmen, teils auch direkt von Glashütten, Konservengläser wieder vermehrt angeboten, fielen doch die Militäraufträge weg. Dies führte zu einem relativen Preisverfall Anfang der 1920er Jahre, so dass nun auch vermehrt Arbeiterhaushalte zum Einkochen übergingen. Das war aber war auch notwendig, denn gerade während der Hyperinflation 1922 und vor allem 1923 galt es wieder schlicht, die Grundversorgung im Winter sicherzustellen.

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Vielfältige Angebote: Konservierungsverfahren Anfang der 1920er Jahre (Zeitschrift für Waren- und Kaufhäuser 20, 1922, Nr. 22, 51 (l.); ebd., Nr. 33, 43; ebd., Nr. 26, 17 (r.))

Firmen und Marken wie Linn, Rex oder Duplex boten zudem preiswerte Komplettangebote an (Ratgeber zum Selbstgebrauch […] in Konservengläsern und Einkochapparaten Marke „LINN“, Arnstadt o.J.). Der Marktführer Weck geriet dadurch unter Druck, zugleich aber verbreiterte sich der gesamte Absatzmarkt während der 1920er Jahre erheblich. Dagegen stagnierte die Konservenindustrie. Das hatte nicht nur mit der vermehrten Haushaltskonservierung und dem Dosenmangel während des Krieges zu tun. Vielmehr war die Qualität der Konserven deutlich schlechter geworden, da die Qualität der Vorprodukte deutlich sank, da die Zahl beschädigter, undichter Dosen deutlich stieg. Zunehmend Sorgen bereitete auch der Vitamingehalt der Angebote. „Vitamine“ wurden erst 1911/12 benannt, doch nun wurde rasch klar, dass große Hitze B- und C-Vitamine zerstörte. Das unterminierte das Renommee der Konservennahrung weiter. Schonendere Verfahren mit leistungsfähigeren Maschinen und einer besseren Hitzeführung folgten, doch der Absatz nahm erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wieder stärker zu.

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Vermehrte Anzeigenwerbung (An unsere Geschäftsfreunde! Eine Reihe Vorlagen für wirkungsvolle Anzeigen, hg. v. J. Weck und Co., Öflingen 1927 (Ms.), 2)

Was machte parallel der Marktführer Weck? Zuerst machte er weiter wie bisher, warb mit den bekannten Argumenten und begründete die hohen Anschaffungskosten mit der hohen Qualität von Gläsern und Apparaten (Warum ist die Marke WECK immer noch die verhältnismäßig billigste?, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen 1927 (Ms.). Herausgestellt wurde auch der Geschmack und der Nährwert der häuslich konservierten Nahrung; dass, obwohl sich beim Einmachen das Problem des geringen Vitamingehaltes gleichermaßen stellte und die Haushaltshygiene nicht immer ideal war. Das fiel aber beim Selbstmachen scheinbar nicht so ins Gewicht. Weck intensivierte daher auch vermehrt in Werbung, nutzte nun auch vermehrt Anzeigen (Der große Erfolg. Reklame-Ratgeber, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen 1928). Nicht vergessen werden darf, dass die hohen Verkaufspreise auch hohe Handelsspannen ermöglichten. Daher bevorzugten Händler die badischen Angebote, präsentierten sie in ihren Läden an bevorzugten Plätzen, nutzten gerne die einladend gestalteten Plakate für Verkaufsräume und Schaufenster oder die Vorlagen für Zeitungsanzeigen.

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Weck als Weltmarke Mitte der 1930er Jahre (Kleines Lehrbuch für erfolgsicheres [sic!] Einkochen der Nahrungsmittel mit den Frischhaltungs-Einrichtungen Weltmarke WECK, Öflingen 1935, hinteres Titelblatt)

Zugleich verbesserte die Firma ihre Kostenstruktur. Obwohl weiterhin neue Gläser entwickelt und vermarktet wurden, nahm deren Variationsbreite doch ab, wurden die Formen länger beibehalten. Wichtiger noch war der verstärkte Export. Er führte zu niedrigeren Fixkosten, stärkte zugleich die Stellung der deutschen Premiummarke gegenüber staatlichen Instanzen und der Öffentlichkeit. Mitte der 1930er Jahre hatte Weck fast 4000 Beschäftigte, war damit ein wichtiger Faktor innerhalb des vom NS-Regime neu etablierten Reichsnährstandes.

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Einkochen in Dosen (Einmachen von Obst und Gemüse, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Leipzig 1935, 7)

Gleichwohl gelang es nicht, die Glaskonservierung auch im häuslichen Bereich alternativlos zu machen (Blechdosen oder WECK-Gläser?, Frischhaltung 28, 1928/29, 178-180). Während der 1920er Jahren wurden jährlich immerhin 30.000 Büchsenverschlussmaschinen verkauft, 1930 kauften Privathaushalte ca. 27 Millionen leere Blechbüsen, die in der Regel zweimal gefüllt wurden. Der Umgang mit diesen Dosen war in dieser Zeit einfacher geworden und auch billiger, wenn man über etwas größere Herde und Vorratskapazitäten verfügte. Weck, aber auch andere Anbieter nahmen diese Herausforderung an und warben verstärkt auf dem Lande und in Kleinstädten: „Nun schlüpft sogar das liebe Schwein / als ‚Wurst‘ ins Glas von Weck hinein“ (zit. n. Bergmeister, 1998, 48; vgl. auch Das Schwein im Weck – die Sparkasse der Hausfrau, Frischhaltung 28, 1928/29, 82-85). Das mag heute fern unserer Alltagsernährung klingen. Doch 1933 gab es letztmals mehr Beschäftigte in der Landwirtschaft als in der Industrie; und die Zahl der Kleingärtner lag bei 2,6 Millionen. Sie erwirtschafteten schätzungsweise 30 Prozent des deutschen Gemüseertrags, zogen die Mehrzahl der Kaninchen groß.

Mittels dieser Maßnahmen gelang es der Firma Weck ihre Marktführerschaft nicht nur zu behaupten, sondern während der Weltwirtschaftskrise noch auszubauen. Während die Arbeitslosigkeit den männlichen Familienernährer besonders traf, konnte die Hausfrau – und vermehrt wieder in der Mittelschicht – so einen produktiven Beitrag zur Familienwirtschaft beisteuern. Generell ist der Bedeutungsgewinn der Glaskonservierung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht ohne einen Blick auf die sich ändernde Rolle der Hausfrauen, der Frauen allgemein, zu verstehen. Firmen wie Weck adelten von Beginn an die rechnende Hausfrau, die mit Hilfe ihrer Apparate und Gläser eine Art Zusatzeinkommen schuf, die ihre Hauswirtschaft wie eine kleine Fabrik leitete.

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Einkochen als produktive Tätigkeit der Hausfrauen (Die Frischhaltung 48, 1954, H. 6, s.p.)

Einkochen war eine weibliche Arbeit, doch eine, die Geld sparte und das Haushaltsgeld vermehrte. Und dies war nicht mehr die von Friedrich Schiller im späten 18. Jahrhundert besungene „züchtige Hausfrau“, die mit „ordnendem Sinn“ ihre Rolle erfüllte und nimmer ruhte. Die einkochende Hausfrau war eine Marktexpertin, kannte sich im Garten und in der Hauswirtschaft aus, kalkulierte kühl und rechenhaft den Einkauf und das eigene Konservieren. Der Mann mochte das Haupteinkommen verdienen, doch die Frau dachte mit und schuf Mehrwert.

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Einkochen im völkischen Umfeld: Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Sicherung des Volksvermögens (Anleitungen für das Einkochen von Nahrungsmitteln mit den Frischhaltungsgeräten Marke Weck, Öflingen 1941, 79)

Was während der Weimarer Republik noch Ausdruck einer modernen, effizienten Hausfrau war, wandelte sich während der NS-Zeit jedoch beträchtlich. Glaskonserven und Einmachen standen immer auch im Zusammenhang mit deren Ideologie, deren Biologismen. Es ging nie nur um Arbeit für die eigene Familie, sondern diese war immer auch Arbeit für das deutsche Volk, die deutsche Rasse (Nancy R. Reagin, Marktordnung and Autarkic Housekeeping: Housewives and Private Consumption under the Four-Year Plan, 1936-1939, German History 19, 2001, 162-184). Was der Bauer auf den Markt brachte, der Kleingärtner erntete, wurde durch vielfach blond dargestellte Hausfrauen bewahrt und für alle gemehrt. Damit diente sie sich selbst, ihren Kindern, ihrem Gatten, ihrem Volk.

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Einkochen als Pflicht der deutschen Frau (Lehrbuch, 1935, 31 (l.); Anleitungen, 1941, Titelblatt)

Einkochen wurde während des Nationalsozialismus zu einem häuslichen Quasi-Militärdienst der Frau, war ihr Beitrag zur „Nahrungsfreiheit“ des Deutschen Reichs, reduzierte die Importe. Die Firma Weck stellte sich willig in den Dienst des NS-Regimes, unterstützte Ideen landwirtschaftlicher Autarkie. In ihren Publikationen war die Volksgemeinschaft immer auch eine Einkochgemeinschaft. Einkochen wurde zur moralischen Verpflichtung, zum Dienst für Führer und Vaterland (Mechtilde Raetsch (Bearb.), Meine Vorratsküche, erw. Ausg., Berlin 1936).

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Moralische Verpflichtung (Lehrbuch, 1935, 1)

Für die Firma Weck hatte die einkochende Frau ihre natürliche Aufgabe gefunden, eine Aufgabe, die sie glücklich und dankbar machen sollte (Glück im Glas, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen o.J. (1936)). Eine einfache haushälterische Tätigkeit wie das Einkochen wurde im Sinne des Regimes aufgeladen – und die Mehrzahl der Hausfrauen folgte willig. Und doch: Der eigentliche Umschwung hin zu modernen Formen der Fremdversorgung und Konservierung erfolgte just während der NS-Zeit (Spiekermann, 2018, insb. 474-548). Fast die Hälfte der öffentlichen Forschungsinvestitionen von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges floss in die Agrarwirtschaft und den Lebensmittelsektor.

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Einsäuerung von Sauerkraut, Trocknen von Obst (Einmachen, 1935, 13)

Die Folge war ein besseres Wissen über Erntepraktiken, Lagertechniken, Verarbeitung und Konservierung, über Geschmack und Lebensmittelpsychologie. Selbst getrocknete Nahrungsmittel wurden nun zunehmend schmackhaft. Die Haushaltsratgeber der 1930er Jahre empfahlen das Einkochen, präsentierten aber auch eine breite Palette tradierter Formen des Einmachens (Ewald Köhnemann, Saft, Mus und Marmelade, Berlin 1940). All dies auf dem vermeintlich neuesten Stand der Wissenschaft, was selbst für die Vergärung von Kohl zu Sauerkraut galt.

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Abseits der Sterilisierungsapparate: Einkochen im Gasbackofen (Kochbuch für den Junker u Ruh Gasherd, Karlsruhe 1940, 54)

Auch die wachsende Zahl von Elektro- und Gasherden erlaubte neue Formen des Einmachens – ganz ohne teure Konservierungsgeräte. Daneben zahlte sich die intensive Forschung von Kühl- und Gefriertechnik aus. Diese war zwar vornehmlich für die Wehrmacht gedacht, auch der „Volkskühlschrank“ ließ auf sich warten. Der Aufbau der Kühlkette sollte den eroberten europäischen Großraum miteinander und dann auch die Haushalte mit vitaminhaltiger und tiefgefrorener „Frischkost“ versorgen. Der Elektrokühlschrank, in Deutschland seit Ende der 1920er Jahre von der US-Firma Frigidaire in den Massenmarkt eingeführt, blieb eine Ausnahme für wohlhabende Haushalte. Doch die Werbung vermittelte schon einen Abglanz ganz anderer, schonenderer Verfahren für die Haushaltskonservierung und einer nationalsozialistischen Wohlstandsgesellschaft.

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Vorbote eines neuartigen technischen Systems: Werbung für Elektrokühlung (Lebe gesund durch Elektrokühlung […], Mannheim 1939, Titelblatt)

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gab es schon ein breites, vor allem propagandistisch aufbereitetes Angebot von Gefrierkonserven, die im Haushalt nur noch gelagert oder besser sofort verwertet werden sollten. Die Mehrzahl der Deutschen aß solche Produkte erst ein bis zwei Jahrzehnte später, erst in den 1960er Jahren setzte sich Tiefkühlkost allgemein durch.

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Hitzesterilisierung, Einkochen und andere Konservierungsverfahren im Deutschen Reich 1941 (Ergebnisse, 1942, 81)

Im Zweiten Weltkrieg aber – das zeigen die Ergebnisse einer Untersuchung der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung von ca. 14.000 Personen im Deutschen Reich 1941 (Ergebnisse einer Untersuchung über die häusliche Vorratshaltung, Markt und Verbrauch 14, 1942, 49-87) – wurde in fast jedem deutschen Haushalt Vorratshaltung betrieben; zumeist von Obst und Gemüse, aber auch von Fleisch und selbst Pilzen. Dies galt für Stadt und Land. Frischware wurde nicht nur zum unmittelbaren Verzehr gekauft, sondern auch, um sie einzumachen, um einen Puffer bei Versorgungsengpässen zu haben. Blicken wir auf die Konservierungsarten, so dominierte die Hitzesterilisierung bei weitem. Sie erfolgte zumeist in Gläsern. Das betraf insbesondere Obst und Gemüse, aber auch Fleisch, Wurst und Speck. Marmelade wurde vorwiegend eingekocht, Gurken eingesalzen oder eingesäuert, Pilze vielfach gedörrt, Wurst und Speck häufig geräuchert. Bemerkenswert war auch, dass es nur geringe soziale Unterschiede bei der Haushaltskonservierung gab. Ein Volk, ein Reich, und (fast) alle Haushalte am Konservieren.

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Kampf dem Verderb (Lehrbuch, 1935, 28)

Das war auch ein Folge der 1936 im Rahmen des Vierjahresplan einsetzende Kampagne „Kampf dem Verderb“. Sie sollte die Hauswirtschaft effizienter machen, auf Engpässe, Rationierung und Krieg vorbereiten, gab daher Hilfestellungen für Einkauf, Zubereitung, Konservierung, Einkellerung und Resteverwertung. Weck, aber auch viele andere Firmen, unterstützten mit eigenen Werbekampagnen. All dies ging einher mit propagandistischen Feldzügen à la „Brot ist kostbares Volksgut“, „Richtig Verbrauchen“, „Kampf dem Verderb – so gut wie Erwerb“ und schuf neue Phantasiegeschöpfe, etwa „Groschengrab, das Ungeheuer“ (Spiekermann, 2018, 388-391). Weck, ein NS-Musterbetrieb, profitierte davon. Bis Kriegsende propagierte dieser Einmachen als Teil des vermeintlichen Schicksalskampfes des deutschen Volkes, beschwor Nahrung als Waffe und die einkochende Hausfrau als Kämpferin (Hanns W. Brose, Die Wirtschaftswerbung im Dienste der häuslichen Vorratshaltung, Markt und Verbrauch 14, 1942, 131-135).

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Mobilisierung bis zum Schluss (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 744 (l.); Einmachzeit, 1940, Titelblatt)

Wachsende Fülle: Haushaltskonservierung und Haushaltshandeln in Zeiten der Enthäuslichung

Über die Nachkriegszeit will ich Ihnen nur einige allgemeine Trendaussagen geben, denn dies ist eine Zeitspanne, die sie selbst aus ihrer Lebenspraxis und/oder den Erinnerungen ihrer Familien oder Freunde kennen – oder zumindest kennen könnten. Weck transformierte seine Botschaft der Haushaltskonservierung jedenfalls in die Nachkriegszeit, verlor aber Produktionsstätten und Glashütten im „Osten“. Ersatz kam zeitweilig von kleineren Anbietern, darunter etwa der bis heute bestehenden Boffzener Firma Noelle & von Campe.

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Sortimentsstrukturen in SB-Geschäften und Supermärkten 1954-1988 (Spiekermann, 2018, 665)

Die Bedeutung konservierter Nahrung stieg seit den 1950er Jahren immens an, auch wenn uns das vielfach nicht bewusst ist. Die Konservierung wurde jedoch immer stärker vom Haushalt in die Versorgungsketten zurückverlegt, im großen Stil erfolgte Enthäuslichung. Selbst „frische“ Nahrung ist heute vielfach vorbehandelt, wird insbesondere gekühlt. Die in der Zwischenkriegszeit beträchtlich fortentwickelten Techniken des Gefrierens und Kühlens, des Trocknens, des Einsatzes immer leistungsfähigerer Verpackungen, von Zusatzstoffen und Aromen wurden nun mit der weiter entwickelten amerikanischen und britischen Technik gekoppelt. Die angelegten Veränderungen gestalteten Einkauf und Vorratshaltung ab den 1950er Jahren tiefgreifend um, setzten sich dann in den 1960er Jahren durch, wurden durch die Technisierung der Haushalte, insbesondere durch Kühlschränke und Gefriertruhen in den 1970er Jahren nochmals beschleunigt.

Häusliche Konservierung ist auch heutzutage nicht unwichtig. Doch ihre Bedeutung hat sich grundlegend gewandelt. Sie ist kaum mehr Mittel gegen Not, Mangel und Enge. Stattdessen ist sie Beziehungspflege, Ausdruck von Zuwendung und Liebe, von Selbstbehauptung angesichts überquellender Verkaufsregale. In einer Welt austauschbarer Güter sind selbstgemachte Marmeladen oder selbst eingelegte Gemüse etwas Besonderes (Heinz G. Gans, Konservieren rund ums Jahr, Köln 2013). Das nehmen wir gerne an, teilen es auch gerne, denn es soll zeigen, wer wir sind und dass wir sind.

Wir leben heute – trotz neuerlicher „Versorgungsengpässe“ – in einer im Vergleich zum 19. und frühen 20. Jahrhundert fast paradiesischen Welt, kaum mehr rückgebunden an Ernterhythmen, an die Mühsal der Agrikultur. Die Hoffnungen des 19. Jahrhunderts, sie haben sich erfüllt, wir haben sie erfüllt, vielfach gar übertroffen. Die Geschichte der Haushaltskonservierung zeigt jedoch, dass dieser Weg in die Versorgungssicherheit nicht alternativlos war. Haushalte dominierten die Konservierung noch um 1940, trotz funktionierender und leistungsfähiger Industrien. Dies gründete auf einer speziellen Rolle der Hausfrau, auf spezialisierten und unterstützenden Unternehmen, auf staatlichen Zielen relativer Autarkie. Fremdversorgung war nie alternativlos, das unterstreicht die Geschichte der Haushaltskonservierung in Glas, in Blech und mittels anderer Techniken. Wir haben unsere Wahl getroffen, haben damit Freiheiten abseits des früher üblichen Haushaltshandelns gewonnen. Doch dies bedeutet nicht, dass wir oder unsere Nachfahren nicht doch einst auf entsprechende Selbsthilfe wieder zurückgreifen werden, vielleicht gar müssen.

Uwe Spiekermann, 30. April 2022

Deutsches Kauen: Nationalsozialistisches „Rösen“ und seine Vorgeschichte

Kauen, dieses Hin und Her, Auf und Ab im Munde, ist allen Menschen gemein. Der Mund ist das Haupteintrittstor der Nahrung, hier wird sie zerkleinert und aufgeschlossen, hat auch der Geschmack einen Ort. Die Bedeutung guten Kauens für Genuss, für Verdauung und Gesundheit ist kulturübergreifendes Gemeingut. In deutschen Landen lässt sich dieses Wissen bis ins hohe Mittelalter zurückverfolgen: „De gôd kaut, de gôd daut“ hieß es im Holsteinischen (Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörter-Lexicon, Bd. 2, Leipzig 1870, Sp. 1215). Das hochdeutsche Sprichwort „Gut gekaut / Ist halb verdaut“ ziert seit Mitte des 19. Jahrhunderts die einschlägigen Lexika (Karl Simrock, Die deutschen Volkbücher, Bd. 5, Frankfurt/M. 1846, 148; Wilhelm Körte, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen, Neue Ausgabe, Leipzig 1847, 181). Adel und das aufkommende Bürgertum bauten darauf seit dem späten 18. Jahrhundert Anstandsregeln und Umgangsformen auf: „Wer gut verdauen will, muß vor allem Andern langsam essen und gut kauen“ betonte der Gastrosoph Eugen von Vaerst (1792-1855) (Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel, Leipzig 1851, 38). Sein französischer Vorgänger Alexandre Grimond de la Reynière (1758-1838) verlangte gar, dass man jeden Bissen vor dem Herunterschlucken mindestens 32mal kauen sollte – jeder Zahn sollte seine Chance erhalten. Die Medizin des 19. Jahrhundert nahm dies auf, auch um die Ordnung am Tische und im Leben sicherzustellen: „‚Esse langsam,‘ damit du hinreichend Zeit habest, Alles klein zu zerbeißen, alles Nahrhafte gut auszuquetschen, Alles Genossene gut gekaut auch richtig einzuspeicheln!“ (J[ohann] A[ugust] Schilling, Schlechte Zähne, – schlechter Magen, Augsburger Sonntags-Blatt 1877, 364-367, hier 366).

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Kauen als Arbeit des Gourmands (Fliegende Blätter 113, 1900, 176)

Sinnsprüche wie „Gut gekaut ist halb verdaut“ waren Teile einer uns heute kaum mehr geläufigen Sentenzenwelt. Zwischen „Richtiges Kochen bringt Mark in die Knochen“ und „Höre auf, wenn Dir’s am besten schmeckt“ wurde Kochen und Essen verortet, das eigene Tun mit den großen Empfehlungen verbunden. Das war nicht nur bevormundend und erzieherisch, denn auch Bekömmlichkeit, Umgangsformen und die Achtung des anderen am Tisch ließen sich damit vereinen. Die Alltäglichkeit und Unverzichtbarkeit des Essens und des Kauens erlaubten aber zugleich, unter deren breitem Denkmantel ganz andere Ziele zu verfolgen. Denken Sie nur an die Werbung: Kalodont, eine der ersten Zahnpastamarken, rundete eben nur ab, was gutes Kauen vorbereitet hatte (Wiener Salonblatt 1907, Nr. 29 v. 20. Juli, 14). Das Kauen, dem „Schlingen“ zunehmend entgegengesetzt, wurde um die Jahrhundertwende auch zum Ausdruck einer guten, alten, gemütlichen Zeit, die Distanz zur vermeintlich modernen Hast und einer ungebührlichen Eile auch beim Essen erlaubte.

Gutes Kauen war nun nicht mehr nur Zeichen eines gesunden Lebens, praktizierter Lebenskunst. Es wurde Teil einer bürgerlichen, auch kleinbürgerlichen Welt des Innehaltens: Auf dem Teller, am heimischen Tisch konnte ein wenig Widerstand geleistet, Abstand gewonnen werden: „1. Schneide dir nicht den nächsten Bissen, solange du am vorigen noch kaust oder schluckst. 2. Kaue so, daß beim Gefühl im Munde oder dein Geschmack unterscheiden, was fest und weich, was trocken und was feucht, was flüssig, salzig, süß oder sauer ist. […] 3. Kaue möglichst so lange, bis keine ungleichen Teile mehr im Bissen sind! 4. Vergiß das Atmen beim Kauen (Essen) nicht! 5. Ist dir die Zeit bei Tische wirklich knapp, so verwende sie lieber aufs wirkliche Essen als auf die Nachtischzigarre oder aufs Zeitungslesen. 6. Wenn du kannst, iß in Gesellschaft. Die hastigsten Esser sind gewöhnlich Alleinesser. 7. Wenn die Zeit oder Ruhe in ganz besonderem Maße fehlt, so gibt es nur einen Rat: Iß weniger, als du essen willst“ (Alfred Pohl, Vom richtigen Kauen, Das Rote Kreuz 16, 1908, 220-221, hier 221). Entschleunigung ist keineswegs neu.

Kauen wurde um die Jahrhundertwende vermehrt Projektionsfläche für vielfältige Veränderungen, die mit der steten Bewegung des Auf und Ab, des Hin und Her an sich wenig zu tun hatten. Kauen wurde aus der Alltagspraxis herausgelöst, in neue Zusammenhänge gestellt. Bis heute bekannt ist der „Fletcherismus“, eine auf dem rechten Kauen aufbauende, in den USA zuerst propagierte, dann aber auch weltweit praktizierte lebensreformerische, „alternative“ Gesundheitslehre. Während des Ersten Weltkriegs wurde das intensive, feine Kauen nationalisiert, galt als patriotische Pflicht, um aus der Nahrung mehr herauszuholen, um an der Heimatfront länger durchhalten zu können. Beide Bewegungen mündeten während des Nationalsozialismus in eine propagandistische Bewegung für harte Nahrung und gutes Kauen. Sie wurde schließlich „Rösen“ genannt, nach dem völkisch-nationalistischen Zahnarzt und Ernährungsreformer Carl Röse (1864-1947). Kauen wurde deutsch, war Ausdruck einer scheinbar volkswirtschaftlich sinnvollen, gesundheitlich notwendigen und rassistisch fundierten Selbstdisziplin der Deutschen. Wie das? Wie konnte es dazu kommen, dass ein alle Menschen einigendes Tun der Abgrenzung, der Selbsterhöhung galt? Wohlan, blicken wird genauer hin.

 

Horace Fletcher – oder die Ideologisierung des Kauens

Ein erster Schritt hierbei war die Ideologisierung des Kauens durch den „Fletcherismus“, eine amerikanische Gesundheitslehre. Richtiges Kauen ermögliche eine bessere, eine vollständige Nutzung der Nahrung, bringe den Menschen zurück zu seinen natürlichen Ursprüngen, so Horace Fletcher (1849-1919), ein Unternehmer mit ehedem massiven Gewichts- und Darmproblemen. Wie so viele Ernährungsreformer präsentierte auch er seit den späten 1890er Jahren eine Geschichte von Krankheit, Einsicht und Umkehr, die dann in Bekenntnis und Mission mündete. Worum ging es? Fletcher beschloss, zur Rekonvaleszenz nicht mehr zu essen als nötig. Dazu bediente er sich einer neuen Kautechnik, nahm damit tradierten Ratschläge des „Well chewed is half digested“ wörtlich. Das wenige Essen – Ideal war eine Reduktion auf die Hälfte – sollte besser genutzt, die Verdauung schon in den Mund vorverlegt werden. Zähne und Speichel sollten werken, die Nahrung sich zu einem Saft verflüssigen. War auf der Zunge nichts Festen mehr zu spüren, so wurde geschluckt – doch das erfolgte gleichsam natürlich. Der Gaumen bestimmte, wurde zur „Schildwache der Gesundheit“ (Matthaei, Das Fletchern, eine Ergänzung des Vegetarismus, Vegetarische Warte 40, 1907, 77-78, 89-91, hier 77), zum diätetischen Gewissen, zum Garanten einer natürlichen, instinktgemäßen Ernährung.

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Horace Fletcher, Kaupropagandist und Bestsellerautor (Horace Fletcher, Fletcherism […], 3. Aufl., New York 1913, II (l.), Good Health 42, 1907, Nr. 9, 13)

Fletcher schrieb seine Erfahrungen nieder, baute auf seiner Art des richtigen Kauens eine, seine Lebensphilosophie auf. Sie entsprach dem bürgerlichen Individualismus, dem Wollen und Zwingen selbstbestimmter Menschen. Kauen stand für die bewusste Wahl eines gesunden Lebens, stand für eine Rückfrage an den an sich geteilten Mainstream des modernen Daseins. Fletchers Bücher „Menticulture“, „Happiness“, „What Sense? or Economic Nutrition“ waren Bestseller der Jahrhundertwende, entfachten eine populäre Bewegung, wie sie ähnlich schon Mitte der 1860er Jahre William Banting mit seiner Korpulenz-Diät losgetreten hatte (Hillel Schwartz, Never Satisfied. A Cultural History of Diets, Fantasies and Fat, New York und London 1986, 125-131; J[ames]C. Whorton, “Physiologic optimism”: Horace Fletcher and hygienic ideology in Progressive America, Bulletin of the History of Medicine 55, 1981, 59-87). Fletcher hielt der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor, zeigte am eigenen Beispiel jedoch Auswege aus einer von Hast und Kommerz, vom Verlust der Natur und der Dominanz gesellschaftlicher Konventionen geprägten Gegenwart: “Mastication”, richtiges Kauen war Ruhepol, war Konzentration auf eigenes Tun. Fletchers Programm war breit angelegt, der Einzelne Teil einer umfassenden Sozialreform, die Effizienz und Natur harmonisch miteinander verbinden sollte. Der Reformer suchte folgerichtig nicht nur Kontakt zu anderen Reformern, etwa zu John Harvey Kellogg (1852-1943), sondern auch zu etablierten Wissenschaftlern. Er ließ sich auf physiologische Versuche ein, die er großenteils selbst bezahlte.

Die 1902 bis 1904 vom Physiologen Russell Henry Chittenden (1856-1943) in Yale durchgeführten Untersuchungen bestätigten, auch am Beispiel Fletchers, dass die starren Regeln des seit Jahrzehnten geltenden Voitschen Kostmaßes nicht immer galten. Die darin empfohlenen täglichen 118 Gramm Eiweiß waren eine schon zuvor wiederholt hinterfragte Setzung, gesundes und sparsames Leben auch mit weniger möglich (Russell H. Chittenden, Physiological Economy in Nutrition […], New York 1907; Vernon R. Young and Yong-Ming Yu, Dietary Protein Standard Can Be Halved (Chittenden, 1904), Journal of Nutrition 127, 1997, 1025S-1027S). Fletcher transformierte diese Ergebnisse in neue Bestseller („The New Glutton or Epicure“; „The new Menticulture“), unternahm nun aber auch umfangreiche Vortragsreisen durch Europa (Margaret Barnett, Fletcherism. The chew-chew fad of the Edwardian era, in: David F. Smith, Nutrition in Britain […], 6-28). Auch dort suchte er Kontakt mit geneigten Wissenschaftlern, etwa dem dänischen Mediziner Mikkel Hindhede (1862-1945). Weitere Forschungen folgten, vielfach von Fletcher finanziert. „Fletchern“ blieb auch dadurch öffentliches Thema (Jason Pickavance, Gastronomic Realism: Upton Sinclair’s The Jungle, the Fight for Pure Food, and the Magic of Mastication, Food & Foodways 11, 2003, 87-112). Was kümmerte es da, dass rückfragende Untersuchungen schon 1903 klar ergaben, dass die physiologischen Effekte intensivierten Kauens marginal, dass also Fletchers Kernbotschaft unzutreffend war (L. Margaret Barnett, ‚Every Man His Own Physician‘: Dietetic Fads, 1890-1914, in: Harmke Kamminga und Andrew Cunningham (Hg.), The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam und Atlanta 1995, 155-178, hier 171).

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„Zahnverderbnis“ humoristisch gewendet (Lustige Blätter 19, 1904, Nr. 7, 6)

Auch im Deutschen Reich wurde der Fletcherismus kontrovers diskutiert. Er passte in die Fin de Siècle-Stimmung, wie sie insbesondere von den Brotreformern gepflegt wurde. Sie verstanden die Abkehr vom (vielfach fiktiven) harten Roggenbrot der Vorfahren als Verweichlichung, als „Entartung“ (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. […], Comparativ 11, 2001, 27-50, hier 28-29). Alfred Kuhnert (1870-194?), Gustav Simons (1861-1914), Stefan Steinmetz (1858-1930) und andere mehr standen für eine völkisch-nationalistische Deutung des Übergangs zum Industriestaat und zur Konsumgesellschaft, der sich auch viele Zahnärzte anschlossen: „Wer die Nachteile vermindern will, die die verfeinerten Lebensweise mit sich bringt, muss sich schon im Kindesalter an eine möglichst kräftige Kauthätigkeit gewöhnen. […] Man wende mir nicht ein, die Kinder seien zum Genusse des harten Brotes nicht zu bewegen. Wo nur ein Wille, da ist auch ein Weg“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 28).

Hartes Brot und gutes Kauen bedingten einander, schienen den bürgerlichen Aktivisten deshalb unabdingbar für ein gesundes und zukunftsfähiges Deutsches Reich. Aber musste dies in Form eines kruden amerikanischen Kausystems erfolgen? Wo blieb da edler deutscher Sinn, die schweigende Andacht am Familientisch? Solche Rückfragen wurden zumindest innerhalb der vegetarischen Bewegung laut. Weniger Eiweiß, zumal weniger Fleisch – das war in ihrem Sinne. Gutes, geduldiges Kauen – das hatte schon der vegetarische Schriftsteller und Restaurantbesitzer Carlotto Schulz (1842-1901) angemahnt. „Gut gekaut, ist halb verdaut!“ stand auf seinen Speisekarten. Doch Fletchern? „Die übergroße Mehrzahl unserer Mitmenschen hat gar nicht die Zeit, um einer so genau zu beobachtenden Kautätigkeit obzuliegen, wie sie Fletcher verlangt. Die kärglichen Minuten, die dem im Erwerbsleben stehenden Manne außerhalb der Berufstätigkeit verbleiben, kann er doch nicht ausschließlich dem Kauen widmen. Das ist wohl Leuten möglich, die lediglich ihrer Gesundheit zu leben vermögen, wie dies bei Fletcher der Fall war, nicht aber der auf Erwerb angewiesenen Bevölkerung“ – so der Theosoph Julius Sponheimer (1868-1939), der vom Menschen mehr verlangte, als „im rein mechanisch-vegetativem Tun“ aufzugehen (Das Fletcherisieren, Vegetarische Warte 39, 1906, 41-42, für beide Zitate).

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Kauen in der lebensreformerischen Praxis (Borosini, Eßsucht, 4. Aufl., 1912, n. 192)

Während die erste Woge der Rezeption des Fletcherismus 1905/1906 abebbte, war die zweite Welle ab 1911 heftiger. Der Grund war einfach, hatte Fletcher doch mit dem Münchener Arzt August Joseph von Borosini (1874-1965) einen bekennerfreudigen Jünger gefunden. Er veröffentlichte 1911 „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung durch Horace Fletcher A.M.“, vermarktete den Fletcherismus als Diät und Verjüngungskur. Sein Fletchers Lehre kondensiertes, auch mit eigenen Ideen angereichertes Erfolgsbuch wurde zum Ankerpunkt aller Kauwilligen. Im Gedächtnis haften blieb vor allem Borosinis strikt-militärisches Kauregime, Gesundheitsarbeit, die viele spätere Wellness-Wellen vorwegnahm. Obwohl bis 1912 10.000 Exemplare gedruckt worden waren, galt der Fletcherismus damals aber eher als Absonderlichkeit, als Ausfluss eines obskuren Amerikaners und seines deutschen Künders: „Merk, du große Menschenherde: / Nur das Kauen bringt Genuss! / Dieser Kasus macht die Erde / Zu ‚nem einzigen Kau-kasus. / Der Prophet will, dass man flott / Rings im weiten Weltenbau, / Kau‘ in Moskau, Zwickau, Grottkau, / Afri- und Amerikau! / Heil dem Yankee Horace Fletcher! / Bringt ein Hoch ihm kräftigen Lauts / Schließt euch an, Kartoffelquetscher! / Wer nicht kaut, der ist ein Kauz“ (Der Kau-Boy, Die Lebenskunst 7, 1912, 532). In der Populärkultur wurde die Ideologisierung des Kauens im Rahmen eines lebensreformerischen Gesundheitsregimes gnadenlos aufgespießt. Gewiss, „gut gekaut, ist halb verdaut“ – doch man kann alles übertreiben: „Herr Fletcher predigt gutes Kau’n, / Nur so gelingt es, zu verdau’n. / Der ganze Mensch sei konzentriert / Auf jeden Gang, den man serviert. / Man lese keinen Mordbericht, / Wenn man verspeist sein Leibgericht. / Und lauf‘ nicht gleich, lärmt s‘ Telephon, / Vom Mittagstisch auf und davon! / Vor allem kaue man exakt, / Gemächlich im Larghettotakt. / Wer solchen Fletcherismus treibt, / Nochmal so lang am Leben bleibt!“ (Die Kunst des Kauens oder: Die neueste Art, das Leben zu verlängern, Nebelspalter 37, 1911, H. 2, s.p.).

 

Deutschland fletschere! – Die Nationalisierung des Kauens während des Ersten Weltkriegs

Der Erste Weltkrieg führte dennoch zu einer Nationalisierung des Kauens. Vor dem Hintergrund massiver Versorgungsprobleme wandelte sich zugleich dessen Begründung: Gutes Kauen diente nicht mehr vorrangig einer besseren Gesundheit oder dem Abnehmen. Gutes Kauen schien vielmehr angeraten, um die vorhandenen Nahrungsreserven besser auszunutzen. Horace Fletcher stand dafür weiterhin Pate, Borosini und viele Vegetarier sekundierten. Doch hinzu kamen nun zahlreiche national gesinnte Ärzte, die damit Sparsamkeit an der Heimatfront stärken, zugleich aber auch Hilfestellungen angesichts drohender Mangelernährung geben wollten.

Sparsamkeit war erforderlich, war das Deutsche Reich doch abhängig von Nahrungsmittel-, vor allem aber von Futtermittelimporten. Nur etwa 80 % des Vorkriegskonsums stammten aus eigener Produktion, Fett und Eiweiß waren besonders knapp. Die völkerrechtswidrige Seeblockade der Royal Navy nutzte dieses aus. Da man auf deutscher Seite von einem kurzen siegreichen Krieg ausging, knüpften Sparsamkeitsappelle anfangs meist an tradiertes Wissen an. In der wichtigsten Handreichung für Ernährungsmultiplikatoren hieß es schon im Herbst 1914: „Man soll weniger essen, dafür aber besser kauen“ (Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan, 17.-22. Tausend, Braunschweig 1915, 177). Doch nach dem Verlust der Marneschlacht war dies zu schwach, zu unklar, denn der Krieg würde länger dauern. Die Analysen wurden deutlicher, die Ratschläge fordernder: „Nachdem nun unserem Volke der entscheidende rücksichtslose Daseinskampf aufgezwungen wurde, ist uns dringend vonnöten die völlige Klarheit über unsere Daseinsquellen und der unbeugsame Entschluß zu ihrer möglichst restlosen Nutzbarmachung in allen Teilen der Volkswirtschaft, vor allem aber für die Lebensnotdurft“ ([Georg] Stieger, Unsere Daseinsquellen in der Kriegszeit, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 30, 1915, 105-108, hier 105).

05_Lustige Blaetter_30_1915_Nr11_p06_WKI_Hungerblockade_Korpulenz_Nahrungsmittelversorgung

Propagandabilder fern der Realität (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 11, 6)

Der Berliner Bakteriologe Max Piorkowski (1859-1937) war einer von vielen, die nun Fletchers Lehre empfahlen. Essen sei schon lange nicht mehr vom Appetit geprägt, sondern verlaufe wie nach einem „mechanischen Uhrwerk“. Hier gelte es umzusteuern, die Kunst zu pflegen, „mit wenigen, aber gut gekauten Bissen auszukommen.“ Im nationalen Überschwang vergaß er die begründete Kritik am Fletcherismus, versprach vielmehr erstaunlichen „Wohlgeschmack und nie geahnte Tafelfreuden“ nach 30- bis 40maligem Kauen (Das Fletchern, Berliner Tageblatt 1915, Nr. 90 v. 18. Februar 1915, 5). Neben solche Empfehlungen trat zunehmend indirekter Zwang. Brot war als wichtigstes Lebensmittel von Beginn an Gegenstand kriegswirtschaftlicher Maßnahmen. Im Herbst 1914 wurde das K-Brot, das Kartoffelbrot, als Kriegsbrot eingeführt. Die ursprünglich 65 %ige Getreideausmahlung stieg 1915 auf 75 %, 1916 auf 82 % und 1917 schließlich auf 94 %. Die Folge waren Unverträglichkeiten und Magenprobleme, eine Bürokratie der Ausnahmegenehmigungen. Doch die Ärzte berichteten auch von Anpassungen: Die Beschwerden über hartes Brot „nahmen nicht zu, vielen tat es gut, es zwang sie, besser zu kauen. […] Ein gesunder Zug kam in viele Menschen“ (G[eorg] Klemperer, Die Krankenernährung in jetziger Zeit, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 642-643, hier 642).

Getragen von Hunderten von Zeitungsartikeln, Ratgebern und Kriegskochbüchern etablierte sich ab 1915 eine Art Wünsch-Dir-Was-Physiologie. Fletchers Vorstellungen einer umfassenden Mundverdauung wurden für bare Münze genommen: „Kauen, bis die Nahrung im Munde flüssig, schleimig und geschmacklos ist, sonst findet keine Vorverdauung derselben durch den Speichel und keine Aufschließung der in der winzigen Zelle ruhenden Nährstoffe statt“ (Georg Hiller, Wir verhungern nicht! […], Hannover 1917, 5). Begleitet wurde all dies durch Sprachpflege. Fletcher wurde eingedeutscht, mutierte zu „Fletscher“ und zum „Fletscherismus“ (E[rnst] W[alter] Trojan, Die Zukunft der deutschen Volksernährung, Vegetarische Warte 48, 1915, 63-64, hier 63). Das war Teil allgemeiner Sprachreinigung, so wie das Abschlagen von „Cinema“-Reklamen, der Ersatz von „Restaurant“ durch Gasthaus oder dem zeitweiligen Aufkommen von „Biefstücks‘ und ‚Schatobriangs“ (Hans Sachs, Der deutsche Kaufmann und die deutsche Sprache, Das Plakat 7, 1916, 210-219, hier 212). Fletschern wurde mit religiösem Fasten verglichen (E[rnst] W[alter] Trojan, Fasten und leiblich sich bereiten!, Vegetarische Warte 48, 1915, 195-196), mutierte aber auch zum „Feinkauen“. Dieses sei „eine hohe vaterländische Pflicht für Volk und Heer, sonst kommt der Körper rasch herunter; wir können nicht durchhalten und all die großen Opfer sind vergeblich gebracht“ (Adolf Mang, Streckung unserer Lebensmittel, Die Lebenskunst 12, 1917, 151-152, hier 152). Auch August von Borosini stieß ins nationale Horn, verzichtete gar auf seinen Leitbegriff „Vermunden“. Alle sollten seine Vorkriegsratschläge aufgreifen: „Ihr nützt dadurch euch selbst, euren Kindern und dem Vaterlande, denn wer fletschert, hilft durchzuhalten!“ (Fletschert!, Die Lebenskunst 12, 1917, 179-180, hier 180).

Zum meistzitierten Kaupropagandisten mutierte während des Ersten Weltkrieges allerdings der Aachener Zahnarzt und Geheimrat Georg Kersting, der sein Gewicht während des Krieges auch durch das Rösen von 216 auf 140 Pfund reduzierte. Seit Frühjahr 1915 veröffentlichten die Gazetten seine nationalistischen Artikel, in denen er von Sachkenntnissen unbelastet über die Lehre des „englischen Arztes Fletcher“ fabulierte. Umsetzungsprobleme gab es nicht: „Die Vorschrift ist einfach, kostet kein Geld, keine Mühe, keine Entbehrungen, jedermann begreift sie sofort, kann jeden Tag ohne Berufsstörung nach derselben leben und hat noch Gewinn dabei für seinen Geldbeutel, seine Gesundheit und als edelsten Gewinn das stolze Bewußtsein: auch ich helfe meinem Vaterlande siegen“ (Eßt weniger – aber richtig!, Badischer Beobachter 1915, Nr. 160 v. 8. April, 1). Kauen war für Kersting ein Kampfmittel, es konnte Schlachten gewinnen, den Schlachtgewinn sichern. Richtig Kauende benötigten nur noch die Hälfte der Nahrung, auch die österreichischen Truppen hätten ihre belagerte galizische Festung in Przemysl halten können, hätten sie nur gefletschert (Deutschland fletschere!, 19.-23. Tausend, Köln 1916, 25). Der Hamburger Hygieniker Rudolf Otto Neumann (1868-1952) sprach nach dem Kriege treffend von „Übertreibungen und Entgleisungen, die an das Pathologische streifen“ (Die im Kriege 1914-1918 verwendeten und zur Verwendung empfohlenen Brote, Brotersatz- und Brotstreckmittel […], Berlin 1920, 34). Obwohl Fletschern bis 1917 immer wieder eingefordert wurde, ebbte die publizistisch-nationalistische Welle dann massiv ab. Der Grund war einfach, denn das intensivierte Kauen war faktisch wirkungslos, wurde deshalb auch nur von kleinen Kreisen praktiziert. „Der Schlinger braucht das Doppelte“ (F[ritz] Herse, Sparsame Ernährung durch gründliches Kauen, Vegetarische Warte 49, 1916, 182-184, hier 183) – solche Wandsprüche erwiesen sich angesichts massiven Hungers als hohle Phrasen, als irreführende Wolkenkuckucksheime nationalistischer Möchtegernexperten.

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Kauen gegen den Mangel – Ratgeberliteratur (Kersting, 1916, I (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1917, Nr. 247 v. 16. Mai, 3)

Die physiologischen Effekte des Kauens wurden im Deutschen Reich während des Krieges nochmals mehrfach unabhängig voneinander untersucht – und die Ergebnisse waren eindeutig. Der damals führende Ernährungswissenschaftler Max Rubner (1854-1932) urteilte: „Ein gesunder und vernünftiger Mensch mit leidlich gesunden Zähnen verliert mit der Fletscherschen Regel nur unnötig Zeit. Die Versuche bei Brot zeigen, daß auch durch das Kauen in verstärktem Maße hier nichts mehr zu gewinnen ist. Was die beste Mühle nicht zermahlen kann, zermahlt auch nicht unser Gebiß. […] Viel wichtiger als die feinste Verteilung ist der bakterielle Eingriff, und diesen können wir nicht beeinflussen, auch erfolgt er in größerem Umfange erst dort, wo im Darm die Stellen ausgiebiger Resorption schon überschritten sind“ (Max Rubner, Untersuchungen über Vollkornbrote, Archiv für Physiologie 1917, 245-372, hier 361-362). Auch der Diätetiker Carl von Noorden (1858-1944) bewertete Fletchern als „Verschwendung. Man würde ansehnliche Massen wertvollen Materials durch den Darm treiben, das für die menschlichen Gewebe nicht greifbar ist, und man würde es Nutztieren, die es gut verarbeiten, vorenthalten“ (Carl v. Noorden und Ilse Fischer, Neuere Untersuchungen über die Verwendung der Roggenkleie für die Ernährung des Menschen, Deutsche Medizinische Wochenschrift 43, 1917, 673-676, hier 673). Dieses Wissen setzte sich langsam auch in der unter Zensur stehenden Presse durch: Fletchers Kaulehre sei nur „ein Sport und Eigengebiet eines beschränkten Kreises, ganz ebenso wie Okkultismus, Christian science, Mazdazananlehre [sic!] usw. Sie kann nicht als Methode der Allgemeinheit empfohlen werden, da keine physiologischen Gründe für sie sprechen“ (Sp. Irving, Diätheilslehren für den Krieg, Frankfurter Zeitung 1917, Ausg. v. 27. März, zit. n. Neumann, 1920, 34). Doch ebenso wie die breite Mehrzahl der Deutschen die Niederlage nicht akzeptieren konnte, blieb die Vorstellung von der wundersamen physiologischen Kraft des Kauens auch während der Weimarer Republik virulent.

 

Kauen ohne Übertreibung – Der physiologische Konsens während der Weimarer Republik

Zu Beginn der Weimarer Republik etablierte sich auf Grundlage der physiologischen Forschungsergebnisse allerdings ein Grundkonsens, den Max Rubner wiederholt unterstrich: Das Fletchern sei eine Empfehlung, „die auf dem alten Satz fußt: Gut gekaut ist halb verdaut. Die Leute, die nach ihm die Methode ausführen, sagen, und verbreiten es durch Broschüren, daß man unbedingt mit der Hälfte oder höchstens zweidrittel der Nahrung auskommen kann. Es ist Zeit, solchem Unfug ein Ende zu machen. Wie soll man denn nur die Hälfte oder nur ein Drittel mehr aus der besseren Verdauung herausschaffen können, wenn man weiß, daß im Durchschnitt von unserer Nahrung überhaupt nur 7-8% verloren gehen und von dieser Masse sind meist wieder nur 1/3 d.h. 2-3% des Genossenen unverdaut gebliebene Anteile, die selbst ein Wiederkäuer nicht viel weiter verarbeiten könnte“ (Die Kriegserfahrungen über die Volksernährung, Halbmonatsschrift für Soziale Hygiene und praktische Medizin 26, 1918, 187-189, 195-197, hier 188). Für „den hastenden Amerikaner, der sein Essen möglichst schnell hinabwürgt, [sei Fletchern, US] ganz gut. Alle Eltern wissen, daß man auch bei Kindern oft Mühe hat, ein langsames Essen zu erzielen. Also wirklich altbekannt. Aber was Fletscher [sic!] weiter behauptet – die wesentliche Verringerung des Nahrungsbedarfes war unrichtig. Während der Blockade hatte man bald erfahren, daß die Portionen mit dem Kauen nicht größer werden“ (Über neuere Strömungen in der Krankenernährung, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 28, 1931, 413-416, 451-454, 479-484, 519-526, 548-551, hier 482). Weitere Forschungen bestätigten Rubners Einschätzung (Otto Jipp, Selbstversuche über die Ausnutzung der Nahrung beim Fletschern, Zahnmed. Diss. Hamburg 1923). Fletchern blieb ein Heilverfahren insbesondere bei Magenerkrankungen und Darmentzündungen (an denen auch Horace Fletcher gelitten hatte) (Theodor Brugsch, Lehrbuch der Diätetik des Gesunden und Kranken, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1919, 278). Darüber hinaus weisende Empfehlungen schienen jedoch unbegründet (Oscar Spitta, Grundriss der Hygiene, Berlin 1920, 298).

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Schaubildimaginationen: Volkswirtschaftliche Kosten ungenügenden Kauens (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 42 v. 14. Oktober, 10)

Das Fletchern geriet dadurch ins Hintertreffen, vergessen aber wurde es nicht. Zum einen legte die volkswirtschaftlich attraktive Idee eines effizienten Gesundheitswesens die Idee besseren Kauens immer wieder nahe. Das sich etablierende System allgemeiner Ortskrankenkassen führte zu neuer Kostentransparenz, die verbesserte Schulzahnpflege machte ebenso wie neue Visualisierungstechniken die volkswirtschaftlichen Lasten kranker Zähne und verfehlten Kauens deutlich. Selbst ein so abwägender Soziologe wie Adolf Günther (1881-1958) sprach damals noch vom „Nutzeffekt“ des Fletcherns, der durch Erziehung grundsätzlich gesteigert werden könnte (Sozialpolitik, T. 1: Theorie der Sozialpolitik, Berlin und Leipzig 1922, 207).

Wichtiger als solche in Zeiten allgemeiner Rationalisierungsdebatten attraktiven Aspekte war jedoch der kontinuierliche Lobpreis des guten Kauens und des Fletcherns in der allerdings kleinen Schar der Vegetarier. Fletchern mochte aufwendig sein, doch angesichts des allgemeinen Zwangs zur Sparsamkeit könne man darauf nicht verzichten (Carl Blietz, Leben oder Tod?, Vegetarische Warte 53, 1920, 5-7, hier 6). Auch die durch Hindhede, Ragnar Berg (1873-1956) und Carl Röse weiter in Gang gehaltene Eiweißminimumdebatte sorgte für kontinuierliches öffentliche Interesse (G[ustav] Riedlin, Unser Eiweißbedarf, Ebd. 57, 1924, 61-62; Böhme, Wozu essen wir?, Ebd. 59, 1926, 71-73). An Ermahnungen zum langsamen Essen und zum guten Kauen fehlte es zudem nicht.

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Kauen als Freizeitbeschäftigung: Wrigleys Kau-Bonbons und Kaugummiautomat in Berlin (Der Volksfreund 1926, Nr. 46 v. 24. Februar, 11 (l.); Illustrierte Technik für Jedermann 5, 1927, 66)

Zugleich wurde mehr oder weniger bewusstes Kauen durch neue Konsumgüter unterstützt. Das galt für Pfefferminzbonbons, wie die Ende der 1920er Jahre immer stärker beworbenen Marken Vivil und Dr. Hillers. Das galt insbesondere aber für das Kaugummi. Der US-Konzern Wrigley produzierte von 1925 bis 1932 im Deutschen Reich, machte Jugendliche und Angestellte „kaugummireif“ (Ernst Lorsky, Die Stunde des Kaugummis, Das Tagebuch 7, 1926, 913-915, hier 913). Unter Medizinern und Drogisten wurde medizinisches Kaugummi diskutiert und empfohlen (Wolfgang Weichardt, Kaugummi zur Desinfektion der Mundhöhle, Die Medizinische Welt 3, 1929, T. 2, 1837-1838). Im Konsumsektor wurden nach den Übertreibungen des Weltkrieges transatlantische Gemeinsamkeiten erkennbar. Doch sie währten nicht lange, denn spätestens mit der Machtzulassung der Nationalsozialisten und ihrer konservativen Bündnispartner trat „Deutsches Kauen“ wieder auf die öffentliche Agenda.

 

Die Reideologisierung des Kauens während des Nationalsozialismus

1933 gilt gemeinhin als Wasserscheide zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Rechtsstaat und Maßnahmenstaat. Zerschlagung und Verbot von Gewerkschaften und Parteien, die schon vor dem „Judenboykott“ vom 1. April 1933 einsetzende Drangsalierung und schleichende Entrechtung der deutschen Juden, Massenmobilisierung und Remilitarisierung, Gewalt und Folter – Stichworte eines raschen Wandels hin zum NS-Staat. Und doch ist dies zu eng gedacht, nicht nur weil das Deutsche Reich ab 1930 in ein autoritäres Präsidialsystem transformiert wurde, sondern weil es massive Kontinuitäten in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft gab. Doch konzentrieren wir uns auf das Kauen: Charakteristisch für die NS-Zeit war das Anknüpfen an tradierte Denkmuster des Kaiserreichs, an ideologisierte und nationalistische Deutungen der Kriegszeit. Regimenahe Ernährungsreformer und Zahnärzte setzten ungeachtet anderslautender wissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf überholte, aber griffige Parolen. Das war kein Rückfall in vormoderne Zeiten, schließlich ist Wissenschaft ein Modus der begründeten Hierarchisierung von Wissen. Am Beispiel des deutschen Kauens zeigt sich, dass sich gesellschaftlich nicht hinterfragte und politisch einseitig gestützte Wissensformationen nicht nur halten, sondern dass sie revitalisiert werden können.

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Negativbild Tempo (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 8 v. 19. Februar, 13)

Ein guter Andockpunkt war die von Ernährungswissenschaftlern und Zahnärzten immer wieder beklagte Hast und Eile der Moderne. War diese während der Weimarer Republik noch Signum einer dynamischen, fortschrittsaffinen Zeit, so traten nun Denkmuster der Vorkriegszeit wieder in den Vordergrund: „Der heutige Mensch hat leider das richtige Kauen verlernt, weil die Auswahl der Nahrungsmittel und eine große Bequemlichkeit bei der Bearbeitung des Bissens, oft auch eine nervöse Hast es gar nicht zur Ausübung der Funktion des Mahlens und Zerreibens kommen läßt, sondern die Kiefer nur auf- und abwärts bewegt“ (Schönwald, Der Einfluß des systematischen Kauens auf Kiefer und Zähne, Forrog-Blätter 1, 1934, Sp. 65-78, hier 65-66). Dass sich zur gleichen Zeit Metaphern wie „jüdische Eile“ oder „jüdische Hetze“ wachsender Beliebtheit erfreuten, war eben kein Zufall, ging vielmehr einher mit der Ausgrenzung und dem Berufsverbot „marxistischer“ und „jüdischer“ Ärzte und Zahnärzte (Norbert Guggenbichler, Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz […], Frankfurt/M. 1988, 127-162). Denen half auch nicht, dass sie während des Weltkrieges gleichermaßen zum „Fletschern“ aufgerufen hatten.

Dies ging einher mit einer durch die Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise nochmals verstärkten Kritik an der Kommerzialisierung des Alltagslebens und dem damit einhergehenden Verdrängen guter, einfacher Nahrung: Das 20. Jahrhundert erschien als „das Jahrhundert des Technikers und Krämers oder […] das Jahrhundert der Ueberwucherung der werteschaffenden Arbeit durch den Handel. Handel und Industrie haben sich auch eines großen Teiles der Nahrungsmittel bemächtigt und verändern sie weitgehend, ehe sie sie dem Menschen zuführen“ (Walther Klussmann, Gebissverfall und Ernährung, Hippokrates 6, 1935, 500-505, 522-529, 721-730, 752-769, hier 528-529). Charakteristisch war jedoch keine Rückkehr zu vorindustriellen Denkmustern, sondern die paradoxe Parole „Vorwärts zur Natur!“, wie sie etwa vom führenden nationalsozialistischen Hygieniker Werner Kollath (1892-1970) ausgegeben wurde (Uwe Spiekermann, Der Naturwissenschaftler als Kulturwissenschaftler: das Beispiel Werner Kollaths, in: Gerhard Neumann, Alois Wierlacher und Rainer Wild (Hg.), Essen und Lebensqualität, Frankfurt/M. und New York 2001, 247-274, hier 253-254). An die Stelle eines technisch-zivilisatorischen Zeitalters werde ein biologisch-kulturelles treten. Das Kauen, das gute, war ein Hebel, um grundsätzlichere Fragen zunehmender „Konstitutionsverschlechterung“ (M[aximilian] Bircher-Benner, Diätetische Erfahrungen und ihre Perspektiven, Hippokrates 5, 1934, 185-191, 245-253, 280-286, 326-333, hier 185) angehen zu können.

Wichtig war dabei zweierlei: Zum einen wurde dieses Denken nun eingebunden in rassistische Deutungsmuster, wie sie insbesondere in der Neuen Deutschen Heilkunde und im Reichsverband der Zahnärzte Deutschlands offensiv vertreten wurden (Robert Jütte et al., Medizin und Nationalsozialismus […], Göttingen 2012; Dominik Groß et al. (Hg.), Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ […], Berlin 2018). Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888-1939) betonte: „Diese Weltanschauung sieht den Menschen nicht als einzelnes Individuum, sondern als Glied einer großen, deutschen, blutsverbundenen Volksfamilie, als Erben rassischer, körperlicher und geistig-seelischer Eigenschaften, die er als Träger der Zukunft seines Volkes an künftige Generationen weiterzugeben hat“ (Ausbau der deutschen Heilkunde, Hippokrates 5, 1934, 223-224, hier 223). Der als bedrohlich wahrgenommene schlechte Zahnstatus der Deutschen war ein Symbol für die Verschlechterung der völkischen Substanz. Zahnkrankheiten wie Karies bedrohten die gesamte Volksgemeinschaft, schlechte Zähne schienen „Ausdruck einer Allgemeinerkrankung“ (Walter Wegner, Mund-Fokalinfektion und Volksernährung, Deutsches Ärzteblatt 68, 1938, 178-179, hier 178). Herdinfektionen konnten Gesundheit und Leben bedrohen, spiegelten zugleich aber Gefahren für den deutschen Volkskörper. Gutes Kauen war ein einfaches und preiswertes Vorbeugungsmittel, dessen Umsetzung auch die völkische Gesinnung der Deutschen widerspiegeln sollte. Die Volksgemeinschaft war immer auch Kaugemeinschaft.

Zweitens wurde die Propaganda für gutes Kauen von Beginn an mit der Brotfrage gekoppelt (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im Dritten Reich, 1999 16, 2001, 91-128, insb. 101-107). Die Interessen der Getreidewirtschaft hatten schon während der Weimarer Republik zu breiten Kampagnen für Roggenbrot geführt, „Der Patriot ißt Roggenbrot“. Nun traten zudem Knäcke- und Vollkornbrot in das Blickfeld von Gesundheitspolitik und Ärzteschaft. 1933 wurde die Forschungsgemeinschaft für Roggenbrotforschung gegründet, die zahlreiche Studien zu Karies und Kauen finanzierte. Hartes Brot und gutes Kauen harmonierten scheinbar. Für Wilhelm Kraft (1887-1981), Gründer der Burger Knäckebrotwerke und völkisch-nationaler Ernährungsreformer, lag hier der Hebel für die Renaturierung der deutschen Menschen: „Wer gut kaut, verdaut nicht nur viel besser, sondern hat einen viel besser entwickelten, feineren, natürlichen Geschmacksinn als der ‚Schlinger‘. Er wählt sich spontan eine physiologisch richtig zusammengesetzte Nahrung und eine mäßige Nahrungsmenge“ (Kampf dem Gebißverfall!, Volksgesundheitswacht 1936, Nr. 3, 10-14, hier 13).

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Fletchern führt zu guten Gebissen: Suggestive Zahnabdrücke (Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 72 und 73)

Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass dem Kauen eine prominente Rolle auch in der Ernährungsbildung zugebilligt wurde. Die zehnte der „Zwölf wichtige[n] Regeln für Deine Ernährung“ der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung – Vorläufer der heutigen 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung – lautete: „Gut gekaut ist halb verdaut. Iß ruhig und sorgfältig, denn das Essen ist keine Nebensache“ (Reichs-Gesundheitsblatt 12, 1937, 50). Auch das Fletchern trat nun wieder hervor, wurde in ärztlichen Fachorganen neuerlich propagiert: „Wenn wir unser Volk wieder zu einer naturnahen Nahrung zurückführen wollen, dann müssen wir zuerst wieder die Wertschätzung richtig durchgeführten Kauens durchsetzen: Je ausgiebiger gekaut wird, desto besser vermag unser Körper die Nahrung auszunützen. […] Desto weniger brauchen wir ihm also Speisen zuzuführen. […] Was liegt mehr im Interesse des Vierjahresplanes, als auf dem Wege über diese Kaugewohnheit, der Wiedereinführung einer wahrhaft vorbildlichen Tischkultur, Verschwendungen zu vermeiden?“ (Heinrich Böhme, Das Fletschern. Das gründliche Kauen in seiner überragenden Gesundheitsbedeutung, Zahnärztliche Mitteilungen 28, 1937, 973-977, hier 976-977). Gutes Kauen diente der Effizienzsteigerung während des 1936 einsetzenden Vierjahresplans, war Teil der Rüstungen für den Krieg.

 

Vor der Wiederentdeckung: Zur Biographie Carl Röses

All dies erfolgte ohne Verweis auf Carl Röse, den späteren Namensgeber des „Rösens“, des bewussten deutschen Kauens. „Röse, das klingt in unserer kurzleidigen Zeit wie ein Ruf aus einer anderen Welt“ ([Alfred] Kuhnert, Röse und seine jüngste Forschertätigkeit, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 59-68, hier Sp. 59). Und doch; spätestens 1934 begann innerhalb der deutschen Zahnärzteschaft eine bemerkenswerte Wiederentdeckung – obwohl der Veteran in den 1920er Jahren nur eine nennenswerte Broschüre veröffentlicht hatte. Blicken wir mittels seiner Biographie zurück in die scheinbar andere Welt des Kaiserreichs (Detailreich, aber wissenschaftlich unzureichend Thomas Nickol, Das wissenschaftliche Werk des Arztes und Zahnarztes Carl Röse (1864-1947), Frankfurt a.M. et al. 1992, 1-10; Ute Hopfer-Lescher, Carl Röse (1864-1947). Sein Leben und Wirken unter besonderer Berücksichtigung der zahnmedizinischen Aspekte, Med. Diss. 1994, 10-41. Ebenfalls voller Fehler Sabine Merta, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult, Stuttgart 2003, 145-148).

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Annonce des Münchner Zahnarztes Carl Röse (Münchner Neueste Nachrichten 1896, Nr. 223 v. 13. Mai, 3)

Carl Röse wurde 1864 im thüringischen Clingen als Sohn eines Mühlenbesitzers und Landwirts geboren. Er studierte 1884 bis 1888 Medizin in Jena, München und Heidelberg, wo er 1888 schließlich auch promovierte. Röse begann seine ärztliche Tätigkeit erst in München, dann in Rheinhessen. Seine Schwerhörigkeit erschwerte jedoch den Umgang mit Patienten. Er sattelte um, studierte zwei Semester Zahnheilkunde in Berlin und Erlangen und ließ sich 1891 in Freiburg a.Br. nieder, wo er im Dezember habilitiert wurde. Er arbeitete dort als Privatdozent bis 1894 resp. 1896, siedelte dann nach München über, wo er eine wenig erfolgreiche Privatpraxis führte. Zwischen 1900 und 1909 leitete er die Lingnersche Zentralstelle für Zahnhygiene, parallel eine vom Odol-Produzenten ebenfalls finanzierte Schulzahnklinik ([Carl] Röse, Die Zentralstelle für Zahnhygiene und die Schul-Zahnklinik, in: Fr[iedrich] Schäfer (Hg.), Wissenschaftlicher Führer durch Dresden, Dresden 1907, 307-308). Nach der Auflösung dieser Institutionen chargierte Röse zwischen Forschungsprojekten und einer zahnärztlichen Privatpraxis, erst allein in Dresden, dann in Gemeinschaft mit seiner seit 1892 angetrauten Frau Else in Erfurt. Abermals scheiterte er an Krankheiten und den Patienten. Nach einem Selbstmordversuch zog er sich 1913 aus der Zahnarzttätigkeit zurück, kaufte mit Familienunterstützung Land im thüringischen Schirma. Röse baute Obst, Blumen- und Gemüsesamen an, verkaufte die 35 Morgen jedoch 1919. Zuvor, 1917, wurde er nach einer Affäre mit einer minderjährigen Bediensteten, schuldig geschieden, heiratete diese später, zeugte mit ihr sechs Kinder. Nach der Revolution wollte er auswandern, kehrte 1920 aber nach Deutschland zurück und erwarb im thüringischen Gebesee ein Grundstück von 38, später 43 Morgen. In den 1920er Jahren publizierte er kaum, lebte vom Ertrag des Gartenbaus, ohne aber den Kontakt insbesondere zum Dresdner Hygiene-Museum und Ragnar Berg gänzlich abbrechen zu lassen.

Liest sich die Biographie erst einmal wie eine Abfolge begrenzter Erfolge und wiederholten Scheiterns, so bilden seine Forschungsarbeiten teils originelle Beiträge zu zentralen Fragen im Grenzgebiet zwischen Zahnheilkunde und Ernährungswissenschaft. Der im universitären Betrieb gescheiterte Röse dachte eben nicht im engen Blickfeld disziplinärer Binnenlogiken, sondern verband auf Grundlage einer völkisch-nationalistischen Deutungswelt Mundhöhle, Stoffwechsel, wirtschaftlichen Wandel und „Entartung“ zu gesellschaftshygienischen Kausalgeflechten, die während des Nationalsozialismus wieder anschlussfähig wurden. Grob gesprochen lassen sich drei Forschungsperioden voneinander abgrenzen.

In den 1890er Jahren, insbesondere während seiner Privatdozentur, konzentrierte sich Röse auf zahnmedizinische Themen. Anfangs dominierten phylogenetische Fragen der Zahnentwicklung bei Tier und Mensch. In Anlehnung an die Kariestheorie des in Berlin wirkenden Zahnheilkundlers Willoughby D. Miller (1853-1907) – Ursache der „Zahnfäule“ waren von Bakterien ausgelöste Stoffwechselprozesse in der Mundhöhle – wandte sich Röse dann jedoch Fragen des Kalkstoffwechsels und des Speichelflusses zu (Katherine MacCord, Development, Evolution, and Teeth […], Phil. Diss. Arizona State University 2017, 57-78). Als gelernter Mediziner und in stetem Drang, seine Wichtigkeit in Freiburg unter Beweis zu stellen, weitete er seinen Blickwinkel auch auf erste Reihenuntersuchungen, zuerst von Schulkindern, dann auch von Rekruten (Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Oestereichisch-ungarische Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 10, 1894, 313-340; Ueber die Zahnverderbnis der Musterungspflichtigen in Bayern, ebd. 12, 1896, 381-449). Diese Arbeiten waren unter Professionalisierungsgesichtspunkten interessant, bot die sich langsam etablierende Schulzahnpflege doch Dauerstellen. Röse lieferte damit aber auch Beiträge zur damaligen Industrie-Agrarstaatsdebatte. Er griff die Angst vor einer allgemeinen „Entartung“ nicht nur der Großstädte sondern auch des Landes auf, warnte vor einer körperlichen „Degeneration“ der Menschen, die nicht zuletzt die Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches zu unterminieren schien.

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Carl Röse als Teil seiner Reihenuntersuchungen (Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 3, 1906, 120)

Während seiner Dresdener Zeit hatte Röse dann die Chance, diesen Fragen mit Hilfe von Massenuntersuchungen nachzugehen (Ulf-Norbert Funke, Leben und Wirken von Karl August Lingner […], Hamburg 2014, 57-63). Fast eine Viertelmillion Kinder und auch Erwachsene wurden auf Basis einheitlicher Frageraster untersucht – im In- und europäischen Ausland. Im Mittelpunkt dieser sozialstatistischen Erfassungen standen die Verbreitung und die Ursachen der Karies. Röse konzentrierte sich dabei auf die Bedeutung von Mineralstoffen, vornehmlich Kalk und Magnesium. Trotz eines kleinen Laboratoriums in Dresden ging es dabei vornehmlich um Trinkwasser, Nahrungsmittel und deren Auswirkungen auf Zahngesundheit und Allgemeinbefinden. Auf Grundlage seiner Hochschätzung des menschlichen Speichels als alkalisches Schutzfluidum in der Mundhöhle wandte er sich zunehmend strikter gegen eine kalkarme Ernährung, gegen zu weiches Wasser. Obwohl heute der stupende Empirismus und die apodiktische Sprache Röses irritieren, konnte er die Bedeutung des Mineralstoffwechsels für die Zahngesundheit doch genauer justieren und auch prophylaktische Maßregeln begründen. Just deshalb wurde er 1906 vom Eugeniker Gustav von Bunge (1844-1920) für den Nobelpreis für Medizin vorgeschlagen, kam aber nicht einmal auf die Kurzliste möglicher Anwärter (Dominik Gross und Nils Hansson, Carl Röse (1864-1947) […], British Dental Journal 229, 2020, 54-59, hier 55-57). Röse hatte zuvor Bunges Behauptung eines kausalen Zusammenhangs von Kariesinzidenz und Stillunfähigkeit unterstützt (G[ustav] v. Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen ihre Kinder zu stellen, 6. verm. Aufl., München 1908, 29).

Nach der Entlassung in Dresden war an Massenuntersuchungen kaum mehr zu denken. Röses Interesse lenkte sich notgedrungen auf engere Fragen, bei denen die Untersuchung des Mineralstoffwechsels mit dem des Eiweißbedarfs gekoppelt wurde. Schon zuvor hatte er eine vornehmlich basische Kost empfohlen, auch wenn er säurehaltiges Fleisch oder Brot nicht von der Tafel verbannen wollte. Von 1912 bis 1915 wurden unter der Leitung seines früheren Mitarbeiters Ragnar Berg an Röse und seinem Sohn Walter zahlreiche Versuche im Lahmannschen Sanatorium „Weißer Hirsch“ durchgeführt (C[arl] Röse und Ragnar Berg, Ueber die Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1011-1016). Auf diesen Grundlagen entwickelt Berg seine breit rezipierte Säure-Basen-Diät (Christian Rummel, Ragnar Berg. Leben und Werk des schwedischen Ernährungsforschers und Begründers der basischen Kost, Frankfurt a.M. et al. 2003, insb. 87-92, 118-119, 180). Röse zog aus den Untersuchungen eigene Schlüsse, lebte fortan von einer Kartoffel-, Gemüse- und Milchdiät mit täglich knapp 40 Gramm Eiweiß. Für ihn war dies eine Idealkost, für das darbende Vaterland eine Sparkost, mit der volkswirtschaftliche Versorgungsprobleme gemildert und die Volksgesundheit gehoben werden konnte (Carl Röse, Eiweiß-Überfütterung und Basen-Unterernährung, 2. völlig umgearb. u. erw. Aufl., Dresden 1925). Die Beziehung von Mineral- und Eiweißstoffwechsel blieb Röses Kernanliegen, auch in den 1930er Jahren, als er mit nun wieder wachsender Unterstützung offene Forschungsfragen weiter verfolgen konnte. Aus dem Kariesforscher war ein Ernährungsreformer geworden; und just dies machte ihn für nationalsozialistische Bundesgenossen interessant (dies verkennen Groß und Hannson, 2020, 57).

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Zahnkunde als Rassenkunde: Beispiel für Röses Schädelstudien (Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 131)

Während sich die Forschungsschwerpunkte Röses mehrfach veränderten, blieb das Grundmotiv seines Schaffens jedoch konstant. Der Mediziner, Zahnarzt, Sozialhygieniker und Ernährungsreformer war Sozialdarwinist, völkischer Aktivist, Rassenvorkämpfer. Schon seine im Mund verorteten Zahnstudien standen im Gesamtgefüge des Darwinismus, im „Kampfe ums Dasein“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 66). Antiurbanismus dominierte, Auslöser der „Entartung“ sei vornehmlich die städtischen Bevölkerung, seien künstliche Säuglingsernährung, Alkoholgenuss und „Stubenluftelend“ ([Carl] Röse, Über Beruf und Militärtauglichkeit [Referat], Die Umschau 9, 1905, 611-615, hier 613). Doch auch ländliche Bevölkerung und Jugend degenerierten: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 61). Zähne waren für ihn nur „der Spiegel des menschlichen Körpers oder das Wasserstandsrohr am Dampfkessel des Organismus“ (C[arl] Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Berlin 1908, 60). Röse ging es um die Bewahrung einer Deutschland noch beherrschenden „germanischen Oberschicht“, als dessen Teil er sich verstand. Doch auch in der Breite des Volkes gäbe es „noch viel nordisches Blut“, das zu fördern sei. Eugenik, Rassenhygiene und eine „kluge Rassenpolitik“ seien erforderlich, seine Arbeit Inventuren des dringend zu stoppenden und zu wendenden völkischen Niedergangs (C[arl] Röse: Beiträge zur europäischen Rassenkunde und die Beziehungen zwischen Rasse und Zahnverderbnis. V., Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 42-134, Zitate 104, 106, 108). An all dem machte der an sich wendige Röse auch später keine Abstriche. Und all dies war auch selbstgesetztes Programm der NSDAP und ihrer die Universitäten, Forschungsinstitute und Fachverbände in den 1930er Jahren zunehmend dominierenden Repräsentanten.

 

Wiederentdeckung eines Vorkämpfers: Die Rezeption Carl Röses in den 1930er Jahren

Die Wiederentdeckung Carl Röses begann schon vor 1933. Mit Unterstützung schweizerischer Kollegen – hier hatte er zuvor Zugang zu lebensreformerischen Kreisen gefunden – begann er 1930 neuerliche Selbstversuche zur Klärung der Eiweißminiumfrage, demonstrierte seine körperliche Leistungsfähigkeit 1930 und 1931 mit dem Besteigen unter anderem des Matterhorns (C[arl] Röse, Vierjährige Ernährung an der Grenze des Eiweißmindestbedarfes, Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin 94, 1934, 579-595). Wichtiger als eigene Untersuchungen war jedoch die neuerliche Rezeption einerseits durch die nun vielfach nationalsozialistisch geadelte Naturheilkundebewegung (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft […], Baden 2010, 134-150, insb. 139-143), anderseits durch eine Koalition von Brotreformern und Zahnärzten.

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Werbung für Röse (und Fletcher und Borosini) im Umfeld der Ernährungsreform (Das neue Leben 2, 1930/31, 240 (l.); Ragnar Berg und Martin Vogel, Die Grundlagen einer richtigen Ernährung, 5.-7. T., Dresden s.a. [1925], 222)

Röse passte bestens in die Agrar- und Ernährungspolitik des Nationalsozialismus. Er empfahl keine Importgüter, sondern die basischen, „die natürlichen und billigen Nahrungsmittel: Milch, Quark, Eier, grüne Gemüse, Hülsenfrüchte“ (Carl Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Naturärztliche Rundschau. Physiatrie 6, 1934, 74-77, hier 76). Anders als Vegetarier lieferte Röse aber auch physiologische Begründungen für diese Wahl. Der breit publizierende Ragnar Berg, von 1902 bis 1909 Röses Mitarbeiter in Dresden, verwies immer wieder auf Röses Forderung nach genügend Kalk und Magnesium, nach harter und nährender Kost: „Daß hierbei das Brot tatsächlich von außerordentlicher Bedeutung ist, hat schon vor dreißig Jahren Röse zeigen können“ (Der Einfluß der Ernährung auf die Zähne, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 38, 1935, 654-658, hier 654). Hartes Brot konnte demnach weiches Trinkwasser überkompensieren, erfordere es doch überdurchschnittlichen Speichelfluss. Kauen sei wichtig, stärke die Kiefermuskulatur: „Fehlt diese naturgemäße Beanspruchung der Kauorgane, geht ihre Gesamtentwicklung zurück und der Speichel verliert einen guten Teil seiner nützlichen Eigenschaften“ (Ragnar Berg, Unser Brot und unsere Zähne, Die Umschau 42, 1938, 51-53, hier 52). Seitens der Naturheilkunde wurde Carl Röse als „Arzt, Rassenforscher, Bauer“, ferner als „Ernährungslehrer“ gefeiert. Hätte man 1914 auf ihn gehört, wäre man zu einer von ihm empfohlenen Kartoffel-Grüngemüse-Milch-Kost übergegangen, so wäre eine Aushungerung Deutschlands unmöglich gewesen. Sein steter Verweis auf möglichst hartes Trinkwasser, harte Möhren und hartes Brot erschien wegweisend (Der Zahnarzt Hofrat Dr. med. Carl Röse. Die Bedeutung des Trinkwassers, in: Alfred Brauchle (Hg.), Naturheilkunde in Lebensbildern, Leipzig 1937, 326-334, Zitate 332). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sah das ähnlich, gewährte dem akademischen Außenseiter 1936 und 1938 insgesamt drei Sachbeihilfen für Forschungen zum Eiweißstoffwechsel (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R 73/14038).

Auch Zahnärzte und Brotreformer würdigten Röse als einen der Ihren ([Eduard] Schrickel, Was wir wollen, Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 1-4, hier 2). Dabei bezog man sich vornehmlich auf dessen Massenuntersuchungen, zog daraus weitergehende Schlüsse: „Wie ihnen bereits aus den Arbeiten von Röse, Kunert, Kleinsorge und anderen Verfassern bekannt ist, stimmen sie alle darin überein, daß tägliche Kauübungen mit festen Speisen, konsequent bei Kindern durchgeführt, normalere Kiefer und Zähne erzeugen, als bei Kindern, die nicht zum richtigen Kauen erzogen wurden“ (Schönwald, 1934/35, Sp. 76-77). Reichszahnärzteführer Ernst Stuck (1893-1974) hielt große Stücke auf Röse, förderte ihn mit eigenen Mitteln. Auch der wichtigste Zahnarztfunktionär des Dritten Reiches, Hermann Euler (1878-1961), würdigte Röse als Wegbereiter der „Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde“ (Die Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde, eine geschichtliche Betrachtung, Zahnärztliche Mitteilungen 26, 1935, Sdr-Nr. v. 29. September, 20-23, hier 23). Ehrungen waren da nicht fern. Röse erhielt 1935 den Miller-Preis der Deutschen Zahnärzteschaft und im Folgejahr die Bronze-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.

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Lobeshymne durch den Reichszahnärzteführer (Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 365)

Mitte der 1930er Jahre hatte Carl Röse also Ehrungen wie zuletzt in Dresdner Zeiten erhalten. Doch dies war erst der Anfang. Denn seither begann vornehmlich durch nationalsozialistische Zahnärzte und Brotreformer eine Stilisierung Röses zum Vorzeigekämpfer. Dazu gehörte sein nie verhehlter Antisemitismus. Er wurde als „Feind der Juden“ (W[alther] Klußmann, Röse, ein Forscherschicksal, Zahnärztliche Mitteilungen 27, 1936, 601-605, hier 603) belobigt, habe „frühzeitig die Gefahr erkannt, die das Judentum für unser Volk bildet, und bekannte sich mannhaft zu seiner Ueberzeugung“ (Klussmann, 1935, 526). Lächerliche Gerüchte wurden gestreut, seine Forschungen seien von Juden bekämpft wurden. Das galt einem deutschen Visionär, der schon vor mehr als einem Menschenalter „mit seherischer Kraft“ (Ebd.) auf Ernährungsschäden hingewiesen habe. Die Stilisierung zum nationalsozialistischen Wissenschaftskrieger fand ihren Höhepunkt 1938 anlässlich Röses goldenen Doktorjubiläums: „Röse verbindet in seltener Harmonie eine geniale Intuition mit der Unbestechlichkeit des wahren Forschers, einen bewundernswerten Idealismus mit der unerbittlichen Fragestellung im Experiment. Nur so ist seine bedingungslose Hingabe an die Sache und seine Selbstaufopferung im Kampf um die als richtig erkannte Idee zu verstehen. […] Ueber die deutsche Zahnärzteschaft hinaus aber muß jeder deutsche Volksgenosse der mit dem wieder erstandenen fruchtbaren Leben seines Volkes im Dritten Reich verbunden ist, in Röse einen aufrechten und unerschrockenen Vorkämpfer nationalsozialistischer Prägung sehen, den uns die Vorsehung noch lange in voller Rüstigkeit erhalten möge“ ([Eduard] Schrickel, Intuition, Wissen und Selbstaufopferung: die Kennzeichen C. Röse’s […], Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 41, 479-480, Zitate 479, 480). Da lag es nahe, ihm Dank zu erweisen. Sein früherer Weggefährte Otto Escher (1863-1947) regte die Gründung einer „Zentralstelle für Ernährungswissenschaft“ an, zugleich Forschungs- und Ausbildungsstätte: „Die Lösung der Ernährungsfrage hält Röse für eine wichtige politische Angelegenheit, um unser Volk vor der nächsten großen Krisis ernährungshygienisch geschult zu haben“ (Hofrat Dr. med. Carl Röse zum 50jährigen Promotions-Jubiläum am 15. Mai 1938, Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 372-376, hier 376). Krieg stand bevor, Röse hatte wieder vorgedacht.

 

Das „Rösen“ – Ein Nebenstrang gutes Kauens für Deutschland

Kommen wir damit zum „Rösen“, dieser Ehrbezeichnung des nationalsozialistischen Deutschen Reichs an einen seiner Gesundheitsführer. Sie knüpfte an diese Stilisierung des Ernährungsreformers und Erforschers der Kariesursachen unmittelbar an. Doch sie erfolgte nicht ohne Röses Zutun. Er nahm den Lobpreis ernst, präsentierte sich als „Nationalsozialist der Tat“ (Escher, 1938, 376). Analog zu den Narrativen der nationalsozialistischen Führer deutete er seine Lebensgeschichte. Seine langjährigen Selbstversuche zielten nicht auf Stelle, Geld und Anerkennung: „Ich tue es für mein Volk, vor allem für die nordische Führerschicht unseres Volkes. Unser von allen Seiten bedrohtes und leider auch gehaßtes Volk darf nicht weiterhin tiefer im Schlammkessel von Eiweißüberfütterung und Harnsäureüberladung versinken. Es muß gesunder werden als seine Nachbarn, wenn es nicht vom Erdboden vertilgt werden soll“ (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127, hier 125). Er habe mit seinem Forschen ein Beispiel gegeben, habe dem Geldmangel getrotzt, um seine Mission für das deutsche Volk zu erfüllen: „Nicht an Ratten, sondern an meinem eigenen Leibe mußten die Versuche durchgeführt werden“ (Ebd.). Doch ihm ging es nicht mehr um sein zahnärztliches, ihm ging es um sein ernährungswissenschaftliches Wirken: „Seit 26 Jahren lebe ich nun ununterbrochen dem deutschen Volke vor, wie man bei Innehaltung vorwiegend pflanzlicher basenreicher Kost mit geradezu lächerlich geringen Mengen des teuersten Lebensmittels Eiweiß auskommen kann“ (Carl Röse, Im 75. Lebensjahr bei schmaler, eiweißarmer Kost auf Mönch und Jungfrau, Hippokrates 10, 1939, 296-297, hier 296). Dazu gehörte auch, seine eigenen Arbeiten immer wieder umzudeuten. Die Millersche Kariestheorie hatte er in den 1900er Jahren kaum mehr beachtet – kompatibel mit dem sozial- und rassehygienischen Ansätzen seines Arbeitgebers Karl August Lingner (1861-1916). Seine in den 1910er Jahren stets freundliche Bewertung des einflussreichen Doyens der Ernährungswissenschaft Max Rubner wandelte sich mit der Nähe zur Ernährungsreform in strikte Distanz zum „Eiweißfanatiker Rubner“ (C[arl] Röse, Das Märchen vom Eiweißmangel der Zittauer Weber, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 57-60, hier Sp. 57). Röses Kritik war Teil einer umfassenden Denunziation des liberal-konservativen Forschers, bis hin zu seiner Diskreditierung als „Jude“ (Prof. Dr. Max Rubner war deutschblütiger Herkunft, Hippokrates 7, 468). Es verwundert daher nicht, dass Röse auch seine Verbindungen zur Brotreform öffentlich hervorhob. Wahrheitswidrig tönte er: „44 Jahre sind bereits darüber verflossen, seitdem ich zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe. Heute endlich beginnt man die Notwendigkeit ausreichender Basenzufuhr in der menschlichen Nahrung allgemein einzusehen. […] Ich hoffe aber, es noch zu erleben, daß diese Basenlehre auch unter den Ärzten ebenso allgemein durchdringen wird, wie die Vollkornbrotlehre bereits durchgedrungen ist“ (C[arl] Röse, Tomatensaft als Kurmittel, Hippokrates 9, 1938, 985-987, hier 985).

Festzuhalten ist, dass Röse zwar für sein „nordisch-germanisches Kulturideal“ und die „Aufklärung ernährungsphysiologischer Problemstellungen“ gewürdigt wurde, nur in Ausnahmefällen aber als Propagandist des guten Kauens ([Hanns] D[erstro]ff, Hofrat Dr. med. Karl Röse feierte seinen 75. Geburtstag, Zahnärztliche Mitteilungen 30, 1939, 331-332, hier 331). Festzuhalten ist auch, dass Röses (und Bergs) basische Ernährung von der Mehrzahl der damaligen Ernährungswissenschaftler abgelehnt wurde. Der Münchner Mediziner Wilhelm Hermann Jansen (1886-1959) hatte schon 1918 die Aussagen Röses und Bergs über den Eiweißumsatz als „nicht haltbar“ kritisiert (Zur Frage der Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1112). Anfang der 1930er Jahre erneuerte und verschärfte er seine Kritik (Ueber Eiweißbedarf und Mineralstoffwechsel […], Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 7, 1932, 373-375; Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, Münchener Medizinische Wochenschrift 79, 1798-1799; Ragnar Berg und W[ilhelm] H[ermann] Jansen, Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, ebd., 2089-2090). Der Charlottenburger Arzt Benno Süßkind folgerte aus seinen Selbstversuchen mit basischer Rohkost Ende der 1920er Jahre, dass diese tendenziell gesundheitsgefährdend sei – und erwähnte Röse dabei nicht einmal (B[enno] Süßkind, Zur Frage des Eiweißbedarfs bei Rohkost, Die Volksernährung 3, 1928, 215-217; Ders., Kritische Betrachtungen zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 113-119). Auch der bestens vernetzte Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1947) kritisierte Röses „teleologische Deutung“ (Eiweißminimum und Basengehalt der Nahrung, Referat, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 71) seiner Selbstversuche scharf. Röses Antwort bot keine Gegenargumente, nur sein eigenes Lebensbeispiel (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127). Bickel antwortete kühl, „die praktische Volksernährung […] verlangt bessere Garantien für die Sicherung des Gesundheitszustandes des Volkes“ (Antwort, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 128). Er empfahl 80 Gramm Eiweiß pro Tag, ein Wert, der später auch Grundlage des Rationierungssystems werden sollte. Allen Ehrungen zum Trotz blieb Carl Röse für eine Mehrzahl auch der NS-Ärzte trotz seiner Karies- und Rasseforschungen ein eigenbrödlerischer Ernährungsreformer. Diese mochten ihre Verdienste haben, so der Physiologe Karl Eduard Rothschuh (1908-1984): „Aber die Bewährung des praktischen Handels vor der Wirklichkeit macht aus wahnhaften Theorien nicht ohne weiteres eine wissenschaftliche begründete Vorstellung“ (Wahn, Wissenschaft und Wirklichkeit in der Ernährungslehre vom ärztlichen Standpunkt, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 58-60, hier 60).

Gutes Kauen war derweil auch ohne Röse zum propagandistischen Thema geworden. Zahnmediziner und Brotreformer hatten schon seit der Weimarer Republik vermehrt auf die Bedeutung eines nahrhaften Roggenbrotes hingewiesen. 1930 gab es erbitterte Kontroversen über die Mehlbleichung, die vielfach als Krebs- und Kariesauslöser galt, die aber dennoch beibehalten wurde (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 563). Die Kariesinzidenz konnte in den 1930er Jahren nicht verringert, der Abbau der Schulzahnpflege durch die propagandistisch durchaus wirksamen neuen fahrbaren Zahnambulanzen nicht kompensiert werden. 1937 begann mit ersten regionalen Kampagnen für verstärkten Vollkornbrotverzehr ein weiterer propagandistischer Feldzug für bessere Ernährung und gutes Kauen. Relative Erfolge in Schwaben und Sachsen führten schließlich im Sommer 1939 zur Gründung des Reichsvollkornbrotausschusses, der kurz nach Kriegsbeginn fast 100 Beschäftigte aufwies und eine reichsweite, zunehmend dezentralisierte, zugleich auf viele eroberte Staaten ausgeweitete Tätigkeit aufnahm (Uwe Spiekermann, Brown Bread for Victory: German and British Wholemeal Politics in the Inter­war Period, in: Frank Trentmann und Flemming Just (Hg.), Food and Conflict in Eu­rope in the Age of the Two World Wars, Basingstoke und New York 2006, 143-171, insb. 150-155). Vollkornbrotpropaganda war immer auch Kaupropaganda:“Für die Zähne, für das Blut / ist Vollkornbrot besonders gut. / Der Zahn wird stark, wenn man gut kaut, / und gut gekaut ist halb verdaut“ (Vollkornbrotfibel, Planegg 1941, 7).

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Braune Pädagogik: Vollkornbrot erspart den Zahnarzt (Vollkornfibel, Planegg 1941, 15)

Brotpropaganda war allerdings nicht Röses Ziel. Er aß vornehmlich Kartoffeln und Gemüse, dazu ein wenig Milch. Säurehaltiges Brot verzehrte er selten. Auch sein Zahnstatus war dafür unzureichend, besaß er 1936 doch nur noch „3 völlig nutzlose Mahlzähne“ (C[arl] Röse, Warum ich persönlich das dünne Delikateß-Knäckebrot bevorzuge?, Forrog-Blätter 3, 1936, 7-8, hier 8). Just im Hauptorgan der Brotreformer betonte er: „In den Augen der neuzeitigen Ernährungslehre ist auch das beste Brot nur ein notwendiges Übel“ ([Carl] Röse, Brot oder Kartoffel?, Ebd., 76-77, hier 77).

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Carl Röse und öffentliche Werbung für das Rösen ([Georg] Kersting, Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen, Jungborn/Harz 1941, II (l.), Nationalsozialistischer Volksdienst 8, 1941, 40)

Dennoch kam es 1941 zum „Rösen“, also einer unmittelbar an Horace Fletchers Kaulehre anschließenden Empfehlung zum guten deutschen Feinkauen. Der Aachener Arzt und Zahnarzt Georg Kersting hatte ab 1915 überzeugungsstark zum allgemeinen Fletschern aufgerufen. Nun, vor dem Angriff auf die Sowjetunion, trat er wiederum in Aktion, praktizierte abermals Sprachpflege, um all das wieder einzufordern, was schon 1916/17 nicht recht Widerhall fand. Sein Büchlein „Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen“ bestand abermals aus einer Sammlung von zuvor veröffentlichen Einzelartikeln, die nun allerdings ein konzises Ganzes ergaben. Kersting hatte vor dem Krieg noch für das Fletschern getrommelt, vor dem Hintergrund des Vierjahresplans abermals immense Einsparungen durch „besseres Kauen“ versprochen (Was ist „Fletschern“?, Freie Stimmen 1938, Nr. 165 v. 20. Juli, 9).

Veröffentlicht wurde die knapp hundert Seiten starke Broschüre im lebensreformerischen Jungborn-Verlag, breit bekannt für vegetarische Kochbücher. Im nahe von Bad Harzburg gelegenen Jungborn-Sanatorium wurde ein „Nationalsozialismus der Tat“ (Rudolf Just, 40 Jahre Jungborn, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 282-285, hier 284) praktiziert. Hier war eine Zinne der Ernährungsreform, wurde pflanzlicher Kost von eigener Scholle das Wort geredet: „Ernährt sich ein Volk richtig, dann leistet es viel; lernt ein Volk einteilen und entbehren, so wird es hart und verzagt nicht in Zeiten der Not“ (Rudolf Just, Vom Brotbelag, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 51-53, hier 53). Der Sanatoriumseigner und Verleger Rudolf Just (1877-1948) stand bereits 1917 mit Kersting in Kontakt, fletcherte die von Just befehligte Kompagnie angesichts unzureichender Truppenverpflegung doch auf Grundlage von dessen Empfehlungen (Kersting, Gesundheit, 1941, 76). Bad Harzburg stand symbolisch für die 1931 erfolgte Gründung der Harzburger Front von Nationalsozialisten, Stahlhelm, Deutschnationalen, Reichslandbund und Alldeutschen. Es war aber auch die Wirkungsstätte des Zahnarztfunktionärs und Bestsellerautors Walther Klussmann. Dieser hatte Carl Röse immer wieder als NS-Vorkämpfer gewürdigt, war zugleich Autor des reich illustrierten „ABC der Zahnpflege“, das 1942 eine Auflage von 400.000 erreichte und in der Bundesrepublik eine Neuauflage erfuhr. Er hatte schon 1934 empfohlen, einen hohen Ausmahlungsgrad des Getreides vorzuschreiben ([Walther] Klussmann, Die Zukunftsaufgabe der Zahnheilkunde, Zahnärztliche Mitteilungen 25, 1934, Sp. 1327-1334, 1373-1378, hier 1329), war damit ein Wegbereiter der Vollkornbrotpolitik.

Der Begriff „Rösen“ hatte unterschiedliche Aufgaben. Erstens war er eine Ehrbezeugung gegenüber Carl Röse. Zweitens erlaubte dieser Begriff die Vermeidung des „Fletscherns“. Das war nicht nur eine Abgrenzung von den USA, sondern sollte vor allem keine Erinnerung an die unselige Zeit der Mangelversorgung im Ersten Weltkrieg hervorrufen. Fletchern, so die unausgesprochene Botschaft, sei nicht nötig, denn das Großdeutsche Reich präsentierte sich als „blockadefest“, als Zentrum einer europäischen „Großraumwirtschaft“, als gelungenes Beispiel für „Nahrungsfreiheit“. „Rösen“ diente der Unterstützung einer vermeintlich erfolgreichen Rationierungspolitik, war eine Option für diejenigen, die mehr tun wollten. Drittens war der Begriff Teil einer breiteren Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte: „Wir alle kennen den Ausdruck und den Vorgang des Fletschern und haben uns angewöhnt, gutes Kauen mit jenem Amerikaner als dessen ‚Entdecker‘ in Zusammenhang zu bringen. Dabei ist es, wenn man von dem auch in Deutschland üblichen Rat aller gewissenhafter Ärzte, gut zu kauen, absieht, nicht der Amerikaner Fletscher, sondern der deutsche Arzt und Zahnarzt Röse gewesen, die die Kunst des Kauens zuerst wissenschaftlich untersucht und seine Ergebnisse in verschiedenen Schriften niedergelegt hat.“ „Rösen“ war „eine späte, aber doch noch rechtzeitige Wiedergutmachung eines begangenen Unrechts an dem Forscher Röse“ (Gesundheit durch ‚Rösen‘, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, 220-221, hier 220 für beide Zitate). Das war Geschichtsklitterung, doch zugleich Teil einer Germanisierung (und Entjudung) der Forschungsgeschichte. Zugleich diente es dem gern gepflegten Mythos des genialen Forschers, obwohl selbst die seit dem Ersten Weltkrieg stetig zurückfallende deutsche Wissenschaft zunehmend in Forschungsverbünden organisiert war.

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Denunzierte Wissenschaftler: Max Rubner und der Stolperstein von Otto Kestner (Zeitbilder 1932, Nr. 19. v 8. Mai, 2 (l.); Wikipedia)

„Rösen“ war jedoch nicht nur ein Begriffswechsel. Es war die Transformation einer aus dem amerikanischen Individualismus stammenden Gesundheitslehre in eine nationalsozialistische Tugend. Es ging eben nicht darum, dass Kersting in seinem Buch weiterhin verkündete, dass man mit dem deutschen Kauen mal ein Drittel, mal die Hälfte der Nahrung sparen könne (Kersting, 1941, 47 bzw. 68). „Rösen“ diente der Implementierung der nationalsozialistischen Gesundheitsauffassung in die Praxis möglichst vieler. Es galt an die Stelle vermeintlicher Trägheit und Faulheit die adelnde Selbstarbeit zu setzen: „Dazu gehört bessere Arbeitsgelegenheit, in diesem Falle: weniger weiche Speisen, besseres Arbeitsgerät: bessere Zähne, und eine gute Arbeitsweise: das Rösen“ (Ebd., 45). „Rösen“ stand nicht allein für gutes Kauen. Es materialisierte „die nationalsozialistische Weltanschauung durch Erfüllung der deutschen Grundsätze und Bestrebungen, Gemeinnutz geht vor Eigennutz, Volksgemeinschaft, Blut und Boden, Rassereinheit, Vierjahresplan und durch andere wünschenswerte Folgen. Wer den Grundsatz Gemeinnutz geht vor Eigennutz befolgen will durch Verbesserung der Volksgesundheit und Ersparen von Nahrungsmittel, dem ist es durch das Rösen leicht gemacht; denn der Nutzen für die eigene Gesundheit und Geldbeutel fällt hier mit dem Gewinn für die Allgemeinheit zusammen“ (Kersting, 1941, Gesundheit, 68-69).

Die haltlose Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte machte dabei aber nicht vor Fletcher Halt. „Rösen“ war eben nicht nur lustiges „Zähneturnen“, sondern diente der Tilgung zentraler Forschungsergebnisse des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Das betraf zum einen das Voitsche Kostmaß und dessen flexiblere Fassung durch Max Rubner. Das galt auch für das in Gemeinschaft mit dem Reichsgesundheitsamt herausgegebene Buch „Die Ernährung des Menschen“ (Otto Kestner und H[ugo] W[ilhelm] Knipping, Berlin 1924), in dem eine ausgewogene Mischkost mit ausreichend tierischem Eiweiß empfohlen wurde (ebd., 27-30). Kersting – wie auch Carl Röse – verstanden darunter Asphaltkultur, Angestelltenmassen, jüdische Wissenschaft. „Rösen“ stand demnach auch für eine wissenschaftliche Verschwörungstheorie, spiegelte eine Weltverschwörung gegen das Deutschtum: „Ist diese ‚exakte‘ materialistische, plutokratische Ernährungslehre auch wissenschaftlich überwunden, so hat sie doch unter obrigkeitlichem Schutz und Förderung ein halbes Jahrhundert geherrscht, ist in die großen und kleinen Koch- und Eßgemeinschaften so tief eingedrungen, daß unsere ganze Ernährung und Eßweise darunter heute leidet. Die Schule Rubner-Cohnheim [Kestner wurde als Cohnheim geboren, US] und der durch sie Schätze häufende Handel sind die eigentlichen Verführer des Volkes in der Auswahl der Nahrung, die durch ihren Gehalt und die Vorbehandlung zum Vielessen reizt und teils mittelbar, teils unmittelbar gegen das Rösen arbeitet“ (Kersting, Gesundheit, 1941, 72).

All das fand freudigen Widerhall bei den führenden Zahnärzten. Kersting konnte seine – wir erinnern uns – „an das Pathologische“ (Neumann, 1920, 34) streifende Mär von der Halbierung der notwendigen Nahrung in führenden Fachzeitschriften unwidersprochen propagieren ([Georg] Kersting, Schlucken, Schlingen, Würgen und die entsprechenden Vorgänge beim „Rösen“, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 398-399; Ders., Das Rösen, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 668-669; Ders., Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362). Auf der 1. Reichstagung der Zahnärztlichen Arbeitsgemeinschaft für medizinisch-biologische Heilweisen in der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt-Rhese erntete Kersting „Großen Beifall“– dies mit explizitem Verweis auf den „Altmeister der Ernährungslehre, Hofrat Dr. Röse in Gebesee“ (W[ilhelm] Holzhauer, Alt-Rehse – Schule zwischen See und Wald, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, Sp. 378-381, 402-406, hier 404). Spitzenfunktionär Hermann Euler stimmte dem zu, resümierte einen Forschungsüberblick mit Verweis auf die Vollwerternährung Kollaths und die Kaulehre des „Rösens“: „Ernährung im Sinne Kollaths, Funktion im Sinne Roeses (Der neueste Stand der Kariesforschung unter besonderer Berücksichtigung der Ernährung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 635-642, hier 642). Vor diesem Hintergrund mutet es schon tapfer an, dass der Jungborn-Verlag Kerstings Broschüre eine Bemerkung voranstellte, in dem er vor „utopischen Ausschmückungen“ des Aachener Sanitätsrates warnte.

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Carl Röse als Propagandist des guten Kauens?

Bevor wir uns abschließend fragen, welche Bedeutung das „Rösen“ abseits der Binnenwelten nationalsozialistischer Funktionseliten besaß, gilt es noch einen Blick auf Carl Röses Forschungsarbeiten zu werfen. Schließlich wird dieser Protagonist einer basischen Kartoffel-Gemüse-Milch-Diät bis heute als Protagonist des guten Kauens präsentiert: „In general, he recommended thoroughly chewing food, which even became a verb in German (‘rösen’)” (Groß und Hansson, 2020, 56). „Rösen“ war jedoch etwas völlig anderes als gutes Kauen. Und Carl Röse ist in seinen Forschungsarbeiten eben kaum über den bis ins Mittelalter zurückzuverfolgenden Gemeinplatz „Gut gekaut ist halb verdaut“ hinausgekommen und -gegangen. Kersting gab für seine Aussagen keine Belege, sondern lediglich die Jahre 1894 resp. auch mal 1897 an ([Georg] Kersting, Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362, hier 360), Gross und Hannsson verwiesen neben unreflektierten Paraphrasen in Hopfer-Lescher, 1994 (wohl 120-123) auf einen Beitrag von 1896 –Seitenangaben fehlen allerdings. Sie verkennen dabei, dass guten Kauen für Röse keinen Selbstwert besaß, sondern rein funktional verstanden wurde.

Carl Röse tönte 1938, dass er 1894 „zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe“ (Röse, 1938, 985). Das ist nur richtig, wenn man diesen Satz so versteht, dass er für sich damals erstmals die Bedeutung des harten Brotes realisiert habe (vom Kauen schrieb er hier übrigens nicht). Die Bedeutung eines solchen Brotes wurde aber von vielen Gelehrten und Praktikern seit langem hervorgehoben; Röse selbst verwies damals auf Justus von Liebigs Empfehlungen (Röse, 1895, hier 76). Das Jahr 1894, von Kersting mehrfach betont, bezieht sich auf Röses erste Reihenuntersuchungen in Freiburg sowie die daraus resultierenden prophylaktischen Folgerungen. Der Privatdozent bezog sich in seiner ersten einschlägigen Arbeit explizit auf Millers Säuretheorie, daraus resultierte die Ablehnung eines „weichen klebrigen Weizenbrotes“ (Röse, 1894, 314). Er referierte anschließend Liebigs Empfehlung eines „derben Schwarzbrotes“ und zog daraus die Schlussfolgerung: „Ueberall dort, wo ein derbes Schwarzbrot gegessen wird, findet man eine straffe gesunde Mundschleimhaut trotz der mangelhaftesten Mundpflege. Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähne blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Röse, 1894, 315). Röse wiederholte damals völlig gängige Thesen führender Wissenschaftler – um dann auf sein Hauptthema zu kommen, nämlich den Zusammenhang von Kalkverzehr und Karies. Röse empfahl weder den Konsum von Vollkornbrot, noch von Brot überhaupt. Brot erschien ihm vielmehr als „die widernatürlichste und künstlichste Nahrung des Menschen“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Zahngesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 67). Wenn schon Brot, dann allerdings „ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot“ (Röse, 1894, 329). Brot war damals – wie auch später – für Röse ein Notbehelf, mit dem man pragmatisch umzugehen hatte, da es das Rückgrat der Alltagsernährung bildete. Weder gutes Kauen, noch gar Fletchern wurde hier empfohlen, sondern Röse zielte auf eine allgemein verbesserte Zahnpflege, die am besten durch eine kalkreiche Ernährung, durch den Einsatz von Zahnbürsten und eine stetige Schulgesundheitspflege zu gewährleisten sei. Röse ging es 1894/95 zudem nicht um die Allgemeinbevölkerung, sondern um Schulkinder. Entsprechend beendete er 1895 einen Aufsatz mit dem wissenschaftlich nicht gerade innovativen Hinweis: „Ein altes Sprichwort sagt mit Recht: ‚Gut gekaut ist halb verdaut‘. Und eine gute Verdauung ist bei Kindern eine unumgängliche Vorbedingung für die kräftige Entwicklung von Leib und Seele!“ (Röse, 1895, 87).

Schwarzbrot sei besser als weiches Brot, Kuchen oder Kartoffeln, doch entscheidend für die Zahngesundheit sei eine sorgsame Mundpflege (C[arl] Röse, Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Wien 1895, 17 resp. 19). In seinen Empfehlungen findet sich 1894 der danach mehrfach wiederholte Merkspruch „Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähnen blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Ebd., 3), doch dieser stand eben nicht allein, muss vielmehr im Kontext gelesen werden. Das gilt analog auch für den von Groß und Hansen herangezogenen Artikel von 1896, in dem Röse Hauptergebnisse seiner Rekrutenuntersuchungen vorstellte. Auch dort betonte er: „Unter allen stärkehaltigen Nahrungsmitteln ist ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot den Zähnen am wenigsten schädlich” (Röse, 1896, 394). Analog zu zeitgenössischen Dekadenztheorien der frühen Brotrefomer beklagte der Freiburger Zahnarzt die durch die weiche, künstlich zubereitete Nahrung erst mögliche Existenz der Träger schlechter Gebisse. „Würden beim Menschen gute Zähne zum Zerkauen harter Nahrung unbedingt erforderlich sein, dann könnte sich die Zahncaries unmöglich so weit verbreitet haben! Die schlecht bezahnten Individuen würden ihre Zähne nicht auf die Nachkommen vererben können, sondern würden infolge schwächlicher Allgemeinentwicklung aussterben“ (Röse, 1896, 428). Weiche Kost würde das Gebiss verkümmern lassen. Bei Älteren sei eine Intervention schon vergeblich, Prävention sei daher erforderlich: „Auch aus diesen Erwägungen ist daher der Schluss zu ziehen, dass es sehr wichtig ist, die Kinder an ein energisches Kauen zu gewöhnen. Man verbiete ihnen das Trinken während des Essens, da die Kinder sehr geneigt sind, sich die Mühe des Kauens dadurch zu ersparen, dass sie den Bissen mit Wasser herunterspülen; gebe ihnen kein weiches klebriges Weizenbrot, sondern ein härteres, trockenes, aus gröberen Mehlsorten bereitetes Brot u. s. w.“ (Röse, 1896, 448). Neuerlich handelte es sich um eine Empfehlung an Kinder im Zusammenhang einer breiter gefassten Mundpflege.

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Zahnpflege nach Röse: Zahnbürsteneinsatz an den Innenflächen der Zähne (Röse, 1900, 42)

In seiner späteren Handreichung für Schul- und Zahnärzte präsentierte Röse „Zehn Leitsätze der Zahn- und Mundpflege“. Kauen wurde dort als solches nicht empfohlen, einzig das „kräftige Kauen eines derben, dickrindigen Schwarzbrotes“ (Röse, 1900, 60). Röse ging es eben nicht um das Kauen als solches. Dies war sinnvoll, nicht aber sein zentrales Anliegen: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (Röse, 1900, 61). Angesichts solcher im kulturkritischen Diskurs dieser Zeit tropenhaft auftretenden Allgemeinplätze ist es nicht verwunderlich, dass Röse auch hier auf den Volksmund verwies: „Hartes Brot macht die Wangen rot“ und „Gut gekaut ist halb verdaut“ (Röse, 1900, 9) hieß es dann. Das aber hat mit dem Fletcherismus nichts zu tun, auch nichts mit dem späteren nationalsozialistischen „Rösen“.

Eine Ausnahme gab es, sie stammt aus dem Jahre 1912. In seinem erstmals in der Deutschen zahnärztlichen Wochenschrift (15, 1912, 593-598, 658-659) veröffentlichten Beitrag „Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit“ griff Röse die Thesen Horace Fletchers auf und stellte sich mit ihm in eine Reihe: Er habe „immer wieder auf die Notwendigkeit ausgiebiger Kautätigkeit hingewiesen und den Genuss harten Brotes empfohlen, das ohne ausgiebige Behandlung in der Mundhöhle überhaupt nicht gut verschluckt werden kann. Es ist mir gelungen, durch mühsame Stoffwechselversuche nachzuweisen, dass schon kalkreiche Ernährung die Menge und Wirksamkeit des Speichels steigern kann. Um wieviel günstiger wird ausgiebige Kautätigkeit von Jugend an auf die Entwicklung der Speichdrüsen einwirken! In der letzten Ausgabe meiner Zahnpflegebroschüre empfehle ich daher ausdrücklich, jeden Nahrungsbissen 80-100 mal zu kauen, ehe man ihn hinabschluckt“ (C[arl] Röse, Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit, Berlin und Heidelberg 1912, 5). Dies war ein Jahr nach der Publikation von Borosinis Buch über „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung“. Röse war ohne Festanstellung. Im sozialdemokratischen Vorwärts hieß es zum Hintergrund: „Dr. Rose [sic!], einer dieser Forscher, will jetzt die schwedischen Brotsorten, besonders das Hartbrot (Knäckebrot), untersuchen und ihre Einführung in Deutschland anbahnen“ (Vorwärts 1912, Nr. 170 v. 24. Juli, 5).

Fassen wir diesen rückfragenden Exkurs zusammen, so war Carl Röse weder Brotreformer, noch Kaupropagandist. Sein Interesse galt andern Fragen, erst im Nachhinein stilisierte er sich als Vorreiter, wurde von anderen auch als solcher präsentiert. Diese aber haben seine Arbeiten kaum gelesen, im Falle eines Falles aber missverstanden. Der Namensgeber des „Rösen“ wurde während des Kaiserreichs von Brotreformern durchaus rezipiert. Doch sie interessierten sich für seine Kariesforschungen, denn sie bestätigten scheinbar den körperlichen Niedergang der Deutschen und begründeten damit ihr Drängen nach hartem, „deutschen“ Brot (A[lfred] Kunert, Unsere heutige falsche Ernährung als letzte Ursache für die zunehmende Zahnverderbnis und die im ganzen schlechtere Entwicklung unserer Jugend, 3. Aufl., Breslau 1913, insb. 48-49).

 

Nationalsozialistische Kaupropaganda – Ein breites Unterfangen abseits des „Rösens“

George Orwell schrieb ab 1946 an seinem Roman „1984“, in dem er Erfahrungen des Stalinismus, Nationalsozialismus und auch der britischen Kriegspropaganda zu einer bis heute gültigen Dystopie verdichtete. Das „Rösen“ war ein gutes Beispiel für die Kontrolle und Umdefinition der Vergangenheit als Herrschaftsinstrument. Carl Röse, ein akademisch gescheiterter und stets umstrittener Forscher wurde während der NS-Zeit als Vorkämpfer aufgebaut und hofiert, seine Arbeiten mythologisiert und zu einem möglichen Alltagskonzept verdichtet. „Rösen“ stand für die Selbstpraxis einer rassistischen Gesundheitslehre. Sie war wissenschaftlich substanzlos, doch sie erlaubte das Wegdrängen unbequemer Wissenschaftler, unbequemer Sachverhalte. Sie erlaubte zugleich, die massiven Defizite der NS-Gesundheitspolitik und der NS-Zahngesundheitspflege zu überdecken, hatte es doch jeder Volksgenosse in Hand und Mund, sein und seines Volkes Schicksal zu wenden.

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Hartes Brot, gutes Kauen – und Zahnpflege mit Chlorodont (Illustrirte Zeitung 1940, 211)

Blicken wir abschließend zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Damals gab es im Deutschen Reich eine intensive Kaupropaganda, zumindest bis Mitte 1942, als nicht nur die Rationen deutlich gesenkt wurden (die dennoch weit über denen der beherrschten Gebiete lagen), sondern auch die Zeitungen und Anzeigen massiv schrumpften. Trotz des steten regimetreuen Zeugnisses von Ärzten und Zahnärzten war die Kaupropaganda erstens integraler Bestandteil der Vollkornbrotpolitik, erfolgte zweitens aber eher indirekt, wurde nämlich von staatsnah agierenden Unternehmen getragen. Hinzu traten drittens die vielfältigen gesundheitspolitischen Maßnahmen in der Hitler-Jugend, der NS-Frauenschaft oder des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst. Sie alle griffen jedoch nur selten das „Rösen“ auf, sondern knüpften an tradiertes Alltagswissen an, mochte dieses im Rahmen der nationalsozialistischen Denkens auch eine andere Aufladung besitzen: „Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist das Kauen an sich. ‚Gut gekaut ist halb verdaut!‘ sagt ein altes, nur zu wahres Sprichwort; denn im Munde beginnt bereits die Verdauung. Langsam essen, damit die Speicheldrüsen des Mundes ausreichende Gelegenheit zur Arbeit haben und die Nahrung gründlich durchgespeichelt wird, ist ebenso wichtig wie ein gutes Kauen, das heißt hinreichende Zerkleinerung der Nahrung“ (Mund und Magen, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 50 v 19. Februar, 24). Kauen war trotz vertrauter Sentenzen nicht mehr in das Belieben des Einzelnen gestellt, Schlingen untergrub die „Arbeitskraft des Volkes“ (Die Medizinische Welt 16, 1942, 228) und der Wirtschaft, gefährdete Wehrfähigkeit und rassistische Qualität (Franz G.M. Wirz, Lebensreform und Nationalsozialismus, Volksgesundheitswacht 1938, 313-319, insb. 316). Deutsches Kauen war im Nationalsozialismus Grundmotorik, Körperlichkeit im Umgang mit der Materie, war Behauptung in einer an sich feindlichen Umwelt.

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Kaupropaganda durch Unternehmen: Chlorodont-Werbung (Völkischer Beobachter 1941, Nr. 268 v. 25. September, 3)

Die visuelle Präsenz der Kaupropaganda garantierten vornehmlich Unternehmen, die ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse am Kauen und an Zahnpflege hatten. Herausragend dabei waren mehrere Werbekampagnen der Dresdner Firma Chlorodont. Kauen war darin notwendiger und integraler Bestandteil einer breiter gefassten Mundpflege, eine Ergänzung zu Zahnpasta, Mundwasser und Zahnbürste. Das galt ähnlich für die Burger Knäckebrotwerke. Während Chlorodont mit Parolen, erläuternden Texten und eingängigen Schaubildern warb, erinnern die illustrierten Knäckebrot-Anzeigen teils an gern gelesene Comics. Sie standen teils aber auch für eine Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in der das harte Vollkornbrot – eine Erfindung der Brotreformer, die erst um die Jahrhundertwende an Bedeutung gewann – Teil der guten alten deutschen Zeit war.

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Knäckebrot als Kau-Schule für die Jüngsten (Die Gesundheitsführung. Ziel und Weg 1943, H. 1, V)

Die Vollkornbrotpropaganda stieß in die gleiche Richtung, doch es ging hier vor allem um die Verbrauchslenkung auf ein vielfach ungeliebtes hartes Brot (Spiekermann, 2001, 117-122). Trotz vielfältiger pädagogischer Anstrengungen – „Der Vollkornbrotverzehr macht jede Brotmahlzeit zur Turn- und Gymnastikstunde für Kiefer, Zähne und Kaumuskeln“ (H. Gebhardt, Die zahnärztliche Vollkornbrot-Werbung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 354-355, hier 354) – fehlten nachhaltige und evaluierte Maßregeln über das sorgfältige Kauen. Viel wichtiger war Vitaminversorgung, waren Absatz und Qualität des Vollkornbrotes. Kauwilligkeit war Grundbedingung seiner Akzeptanz, nicht aber Wert an sich. Es ging um eine bessere Nährstoffversorgung. Gebissförderung und Kariesbekämpfung waren wichtige Nebeneffekte.

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Zahnkräftigung durch hartes, kauintensives Vollkornbrot – Kinowerbung 1940 (Mehl und Brot 40, 1940, 438)

Diese moderateren und indirekten Formen der Kaupropaganda wurden wissenschaftlich breit flankiert, doch stand die „Kaugymnastik“ (Eugen Wannenmacher, Zivilisationsschäden und Gebiß, in: Heinz Zeiss und Karl Pintschovius (Hg.), Zivilisationsschäden am Menschen, München und Wien 1940, 184-199, hier 198) nie allein, war Teil breiterer prophylaktischer Maßnahmen. „Rösen“ blieb öffentlich unbedeutend, noch unbedeutender als das wesentlich breiter propagierte Fletchern während des Ersten Weltkrieges. Das änderte nichts an der offiziellen Wertschätzung, die der Namensgeber weiter erfuhr: 1941 wurde Carl Röse Ehrenmitglied der Deutschen Zahnärzteschaft, 1944 erhielt er gar die Goethe-Medaille (Kölnische Zeitung 1944, Nr. 108 v. 19. April, 2). In beiden Fällen wurde das „Rösen“ nicht erwähnt. Carl Röse war auch nicht beteiligt, als in Berlin im Februar 1942 das Institut für Kariesforschung eröffnet wurde (Das Institut für Kariesforschung wurde in Berlin errichtet, Zahnärztliche Mitteilungen 33, 1942, 93-98). Er verbrachte die letzten fünf Jahre seines Lebens im Rollstuhl. Einen Nachruf habe ich nicht finden können.

Gutes deutsches Kauen blieb bis zum Kriegsende wichtig, wurde immer wieder eingefordert. Während der Endsieg beschworen und die Vergeltungswaffen bejubelt wurden, schien es weiterhin opportun auf die Verdopplung des Nahrungswertes durch verflüssigendes Kauen hinzuweisen (Gut kauen – sättigt besser! Die Vorteile des richtigen Kauens für die Gesundheit, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 328). „Rösen“ wurde im Deutschen Reich sporadisch propagiert, während in der Schweiz eine analoge Kaupropaganda abgelehnt wurde. Selbst im ernährungsreformerischen Lager hieß es dort: „Wie ist es möglich, dass immer wieder kluge Menschen von listigen ‚wissenschaftlichen Experimenten‘ überlistet werden?!“ (W[illy] B[ircher], Bringt sorgfältiges Kauen einen Gewinn an Nährkraft bei knapper Nahrungsversorgung?, Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 20, 1943, 69-72, hier 72). Deutsches Kauen wurde zwar bis Kriegsende empfohlen, inmitten des Bombenkrieges noch die „Hetze“ beim Essen beklagt, kämpferisches Einspeicheln gefordert (F[ritz] Blumenstein, Kauen – kriegswichtig, Deutsche Dentistische Wochenschrift und Dentistische Reform 1944, 165-167). Seit den späten 1940er Jahren hieß es dann weiter gefällig „Gut gekaut ist halb verdaut“. Es war nun wieder Verweis auf eine mythische Welt des Innehaltens und des Abstands zum Alltagsgeschehen.

Uwe Spiekermann, 14. April 2022

Die erste moderne Diät – William Bantings Kur gegen Korpulenz in Mitteleuropa

William Banting (1797-1878) – dieser Name steht für die erste moderne Diät, für „low carb“. Bantings 1863 vorgestellte Maßregeln verlangten nicht Nahrungsverzicht und Bewegung, sondern eine begründete Nahrungsauswahl, gezieltes Essen gegen die Korpulenz. Doch die Banting-Kur steht für deutlich mehr: In den 1860er Jahren zerbrachen traditionelle Formen des Fastens, religiöse Rituale wurden zunehmend ersetzt durch wissenschaftlich begründete Interventionen. Diäten waren nicht mehr länger Privatsache, sondern entfalteten in der bürgerlichen Öffentlichkeit eine zuvor unbekannte Breitenwirkung, die nicht zuletzt das Bild der Dicken deutlich veränderte. Der „Bantingismus“ wurde in England rasch eine „craze“, eine Manie, eine modische Massenerscheinung, über die ärztlich häufig geschimpft, über die in den Gazetten couragiert debattiert wurde. Die Banting-Kur war aber auch ein kommerzielles Phänomen: Sie gab jedem ein einfaches Rezept an die Hand, um Ballast abzuwerfen und den eigenen Körper gefälliger zu formen. Neue Dienstleistungen und Diätprodukte dockten sich an den Trend an und zogen daraus Gewinn. Schließlich war die Kur eine offenkundige Demütigung der ärztlichen Profession, denn Banting war ein Laie, kein Wissenschaftler. Doch diese Demütigung setzte weitere physiologische Forschung in Gang, um die Gesetze der Stoffumsetzung seriös zu begründen und die Körpermaschinerie dann wissenschaftlich in Balance und im Gewicht zu halten. Weitere, andere Diäten waren die Folge. Die Banting-Kur entstand im Zentralort der damaligen Welt, in London. Sie fand Widerhall erst in Großbritannien, dann in den USA. Es folgte Kontinentaleuropa, vorrangig Österreich, und nach etwa einem Jahr auch die Länder des späteren Deutschen Reichs. Auf letztere werden wir uns konzentrieren.

Vom Fasten zu Diäten

Die Banting-Kur war ein Übergangsphänomen. Sie stand am Ende diätetischer Regime, die noch auf antikem Wissen gründeten. Korpulenz war demnach Ausdruck eines aus der Balance geworfenen Körpers und Lebens. Heutige Kriterien, etwa der Verweis auf allgemein gültige Normalgewichte, auf kausal mit der Körperfülle erklärbare Krankheitsbilder oder aber füglich akzeptierte Schönheitsideale traten demgegenüber zurück. Fette Bäuche, so hieß es im späten 18. Jahrhundert, seien der „Denkzettel […], welche die Natur denen anhinge, die sich an ihr versündiget hätten“ (Fettigkeit, in: Johann Georg Krünitz, Oekonomische Encyklopädie, T. 12, Berlin 1786, 675-687, hier 677). Den Naturforschern und Medizinern war klar, dass sie mit zu viel Nahrung verbunden waren, gab es doch augenfällig eine zu große Anhäufung von Ölen und Fetten unter der Haut. Diese führten sie jedoch auf überflüssige Nahrungssäfte zurück, die durch das Blut nicht abtransportiert werden konnten. Die Therapie der Korpulenz bestand demnach nicht im Essen bzw. Nicht-Essen bestimmter Nahrungsstoffe, sondern im Verzehr von Nahrung und Speisen nicht anderen Gehaltes, sondern anderer Qualität. Gleich wichtig war die Mobilisierung der Selbstheilungskräfte: Die offenbar zu schlaffen Zellen sollten durch kalte Bäder wieder aktiviert werden, „Leibesbewegung“ war durch trockenes Reiben der Haut zu ergänzen. Dabei konnte Seife helfen, ebenso vermehrte Exkretionen (Malcolm Flemying, Auszug aus einer Abhandlung von der Natur, den Ursachen und der Kur der Feistigkeit, Bremisches Magazin zur Ausbreitung der Wissenschaften, Künste und Tugend 6, 1762/63, 315-322). Diätetische Ratschläge kreisten um weiche, flüssige und sehr nahrhafte Speisen, etwa Kraftsuppen, weiches Fleisch, Milch- und Mehlspeisen, starkes Bier und Fette. Dennoch ging es weniger um anderes Essen als vielmehr um ein anderes Leben (Handbuch zum Nutzen & Vergnügen des Bürgerstandes, Wien 1795, 109-113). Die ruhige Lebensart und die vermeintliche Schläfrigkeit, ja Unempfindlichkeit des Phlegmatikers machten Korpulenz auch zu einer Typfrage.

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Ein fröhlicher und gutmütiger Dicker (Düsseldorfer Monatshefte 5, 1852, 134)

Korpulenz war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine klar umrissene Krankheit, sondern eher ein Unpässlichkeit, die nur selten zu einer „Untauglichkeit zu allen Geschäften“ (Carl von Linné, Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, Bd. 2, Leipzig 1777, 254) führte. Der Begriff war noch eine Raummetapher, korpulente Bücher waren dicke Wälzer. Korpulenz war angesiedelt im neutralen Feld zwischen Gesundheit und Krankheit. Sie konnte durchaus als „das Gepräge vorzüglich gelungener Ernährung“ (Anton Friedrich Fischer, Prüfende Blicke auf das Embonpoint der Männer und Frauen, Nürnberg 1832, 1) gelten. Mediziner waren noch der Ansicht, dass „ein mäßiger Grad von Wohlbeleibtheit dem Manne zur Zierde gereicht, und daß ein mittlerer Grad von Embonpoint den jüngeren und älteren, unvermählten und vermählten Damen zu großer Reizerhöhung dient“ (ebd., 2-3). Im Falle wirklich krankhafter Korpulenz wurde Mischkost ohne Übermaß empfohlen, zudem Kräuter-, Obst- und Gemüseextrakte sowie Heilwasser, um die Mischungsverhältnisse des Blutes zu verändern und den Abfluss der Nahrungsstoffe zu erleichtern. Allerdings versuchten frühe Naturheilkundler auch striktere Maßregeln. Am bekanntesten wurde die kombinierte Wasser- und Hungerkur von Johann Schroth (1798-1856). Erstere sollte „die fetten, zähen, festsitzenden alten Verschleimungen und unreinen Stoffe“ (Die letzte Zuflucht oder der Naturarzt Johann Schroth und dessen Heilmethode, Breslau 1844, 7) als eigentlichen Krankheitsherd auflösen, letztere durch eine individualisierte Enthaltsamkeit von Flüssigkeiten und einer vornehmlich aus Brötchen, Breien sowie gekochtem Obst und Gemüse bestehenden Kost die Heilung unterstützen.

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Ärztliche Kunst im Kampf gegen die Korpulenz (Düsseldorfer Monatshefte 3, 1850, 108)

All dies änderte sich seit den 1830er und 1840er Jahren durch die sich etablierende, in den Folgejahrzehnten auch die Medizin durchdringende Stoffwechselphysiologie (vgl. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 32-37). Diese in deutschen Landen insbesondere vom Chemiker Justus Liebig (1803-1873) propagierte neue Lehre reduzierte Nahrungsmittel auf chemisch klar definierte Stoffe, die dann die Körpermaschinerie nährten und in Gang hielten. Korpulenz mutierte zu einem Rechenexempel. Weniger Stoffe und/oder deren vermehrte Verbrennung durch körperliche Anstrengung wurden dadurch zu Königswegen gegen die Korpulenz. Der französische Mediziner Jean-Francois Dancel propagierte schon lange vor Banting eine physiologisch begründete Diät mit möglichst wenig fett- und kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln und viel Fleisch (Préceptes fondés sur la chimie organique pour diminuer l’embonpoint, 2. Aufl., Paris 1850, 111-128). Eine Breitenwirkung erzielte er damit jedoch nicht; auch eine deutsche Übersetzung seiner Vorschläge verebbte abseits der medizinischen Profession. Die Banting-Kur änderte dies.

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Eiweißernährung macht nicht fett, wohl aber Fett und Kohlehydrate – Jean-Francois Dancels Broschüre für eine rationelle Diät nach Liebig (Karlsruher Zeitung 1852, Nr. 293 v. 11. Dezember, 4 (l.); Dancel, 1850, 3)

William Bantings „Letter on Corpulence“

Wilhelm Banting war ein wohlhabender Beerdigungsunternehmer in London. Anfang der 1860er Jahre hatte er sich bereits aus dem Familienunternehmen zurückgezogen, organisierte aber weiterhin Begräbnisse hochrangiger Persönlichkeiten, etwa des früheren britischen Premierministers Lord Palmerston (1784-1865) (Die Todtenfeier für Palmerston, Neue Freie Presse 1865, Nr. 421 v. 30. Oktober, 2). Obwohl Dienstleister für höchste und allerhöchste Kreise, ist von Bantings Leben nur wenig bekannt (vgl. A Virtual History Tour Of William Banting – YouTube). So wichtig und finanziell lukrativ repräsentative Beerdigungen im viktorianischen Zeitalter auch waren, „Undertaker“ blieben etablierte Außenseiter (Paul S. Fritz, The Undertaking Trade in England. Its Origins and early Development 1660-1830, Eighteenth-Century Studies 28, 1994/95, 241-253; Trevor May, The Victorian Undertaker, Bloomington 2008).

Bantings Brief erschien 1863 im Anschluss an seine eigene erfolgreiche Diät (William Banting, Letter on Corpulence, 3. Aufl., London 1864). Erfahrungsberichte galten jedoch nicht als wissenschaftliche Abhandlungen, die durchaus üblichen Fallgeschichten dienten Ärzten gemeinhin als Zierkranz eigener Untersuchungen. Banting hatte nicht studiert, war nicht Teil der ärztlichen Kreise, pflegte keine Fachsprache oder gar einen latinisierten Duktus. Er kokettierte kurz mit einem Bericht in „The Lancet“, dem führenden britischen medizinischen Fachjournal, nahm davon aber Abstand. Als im April 1863 ein populär gehaltener Artikel über die Ursachen der Korpulenz in einer vornehmlich literarisch ausgerichteten Zeitschrift erschienen war (Corpulence, Cornhill Magazine 7, 1863, 457-468), wollte er erst einen ergänzenden Brief an die Herausgeber schicken, publizierte diesen jedoch im Mai in erweiterter Form als Privatdruck. Es handelt sich um eine Leidens- und Erlösungsgeschichte, um denen zu helfen, die wie er unter Korpulenz litten.

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Bantings vergebliche Bemühungen, Gewicht zu verlieren (Kladderadatsch 18, 1865, 92)

Der Brief war kurz, gedruckt nicht länger als 19 kleine Seiten. Banting schilderte darin erst einmal seinem Kampf gegen den „Parasiten“ Übergewicht. Er sei stets aktiv gewesen, ein fleißiger, ordnungsliebender Mensch. Dennoch habe er ab Mitte 30 kontinuierlich zugenommen. Die Korpulenz war für ihn anfangs keine Krankheit, sondern eher eine Unpässlichkeit, die sein geselliges Leben einengte. Er nahm den Kampf gegen die Pfunde auf, verbündete sich dabei im Laufe der Jahre mit mehr als zwanzig Ärzten, darunter einschlägige Autoritäten. Sie gaben allgemeine Ratschläge, verstanden Korpulenz aber eher als eine Begleiterscheinung des Alterns. Banting haderte damit, nahm türkische Bäder, trieb Sport und Gymnastik, wollte den „Parasiten” so verdammen: „I have tried sea air and bathing in various localities; taken gallons of physic and liquor potassae; riding on horseback“ (Banting, 1864, 12). Mit jeder körperlichen Anstrengung wuchs aber nicht nur seine Kraft, sondern auch sein Appetit, so dass er letztlich weiter zunahm. Hungerkuren folgten, der Ausschluss fettreicher Lebensmittel, die Suche nach den das Übergewicht verursachenden Nahrungskomponenten; doch alles vergebens.

Bantings Brief lebt von der Spannung zwischen seiner mit einfachen Worten beschriebenen Hilflosigkeit und seinem ungebrochenen Willen, gegenüber dem „Parasiten“ zu obsiegen. In wenigen Sätzen beschrieb er die kleinen bohrenden Schmähungen und Hänseleien in der Öffentlichkeit, ausgesprochen von einfachen Arbeitern und Dienstboten gegenüber ihm, dem bürgerlichen Fettwanst. Scham bemächtigte sich seiner als er kaum mehr in der Lage war, seine Füße zu sehen, seine Schuhe zu schnüren. Banting musste schließlich Treppen rückwärts steigen, trugen seine Beine doch kaum mehr den feisten Körper. Ein Nabelbruch kam hinzu, weitere Beschwerden. Als Folge konsultierte er Spezialisten für ganz andere Krankheiten, darunter den Londoner Ohrenarzt William Harvey (1806-1876), dessen Name nicht im Brief erwähnt wurde, dem Banting aber nach Rückfragen das Verdienst zuwies, ihn auf eine neuartige Diät gesetzt zu haben.

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Leiden an der Korpulenz (Kladderadatsch 18, 1865, 93)

Diese Diät erschien Banting erst einmal paradox, denn sie erlaubte ihm kulinarische Fülle: „I was advised to abstain as much as possible were:—Bread, butter, milk, sugar, beer, and potatoes, which had been the main (and, I thought, innocent) elements of my existence“ (Banting, 1864, 17). Ansonsten aber durfte er schwelgen und unterstrich dies mit einem kaum eine Seite langem Speisezettel. Mageres Fleisch und Fisch standen nun im Mittelpunkt, Obst und Gemüse, hinzu kamen Weine, nicht aber Champagner. Tee und einige Biskuits zwischen den Hauptmahlzeiten, abends noch einen Grog oder einen Sherry. Banting griff getreulich zu – und er nahm stetig ab, fast ein Viertel seines Gewichtes.

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Linie in ein unbelastetes Leben: William Bantings Gewicht während seiner Diät 1862-1863 (The Science News-Letter 13, 1928, 407)

Er konnte sich nicht recht erklären warum. Doch ebenso wie ein Pferd nicht an sich nährende Bohnen, sondern Heu und Gras fressen solle, so habe seine Diät die ihm nicht zuträglichen Lebensmittel erfolgreich ausgeschlossen. Seine Tafel sei nun besser als zuvor, er aß mehr und mit Genuss. Als Leser teilt man die Freude Bantings an seinem neuen leichteren Leben, mit normalem Treppensteigen, besserem Seh- und Hörsinn, verbessertem Gesamtbefinden und eigenständiger Lebensgestaltung. Sein Brief schloss mit der Hoffnung, dass es anderen Leidensgenossen ebenso ergehen möge. Die Diät müsse gewiss stets ein wenig anders gestaltet werden, doch ihre Essenz, der Ausschluss von stärke- und fetthaltigen Lebensmitteln, sei allen Korpulenten anzuraten.

Banting verteilte die 1000 Exemplare seines Privatdruckes ab Mai 1863 kostenlos an Bekannte, an Ärzte, auch an Multiplikatoren. Aufgrund der beträchtlichen Resonanz schob er 1863 nochmals 1500 Broschüren nach. Die Druckkosten waren mit drei Pence gering, doch der Vertrieb und vor allem die sich anschließende Privatkorrespondenz teuer und zeitaufwändig. 1864 übertrug er daher die Vertriebsrechte an den Londoner Verlag Harrison. Die 1864 erschienene dritte Auflage 1864 betrug 50.000 Exemplare, den damit erzielten Gewinn spendete der Autor (The Bookseller 76, 1864, 239). 1869 folgte schließlich eine vierte Auflage, 13.000 Broschüren, jede für einen Schilling. Auch diese Tantiemen spendete Banting für soziale Zwecke (A „Banting“ Convalescent Institution, The Lancet 93, 1869, 833). Schon 1864 erschien eine US-amerikanische Ausgabe. Der Text des „Letter on Corpulence“ blieb während der ersten drei Auflagen praktisch identisch, während Vorwort und Anhang zunehmend umfangreicher wurden. Die vierte Auflage war dann deutlich korpulenter, da Banting und sein Arzt William Harvey auf Rückfragen und öffentliche Kritik eingingen (Jaime M. Miller, „Do you Bant?“ William Banting and Bantingism. A Cultural History of a Victorian Anti-Fat Aesthetic, Phil. Diss. Norfolk, VA 2014, 91). Banting tat also einiges, um seinen Erfahrungsbericht zu verbreiten. Zum Bestseller und einer in der gesamten westlichen Welt diskutierten Diätkur wurde er jedoch erst durch die kontroverse Diskussion in der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Der Widerhall in Großbritannien und den USA

Bantings „Letter on Corpulence“ führte zu einer breiten innerwissenschaftlichen und öffentlichen Debatte, die dann in den sog. „Bantingism“ mündete, also einer breit gefächerten, teils obsessiven Diätbewegung mit beträchtlichem Widerhall in der Populär- und Konsumkultur (detailliert und oberflächlich zugleich hierzu Miller, 2014). Da es in diesem Artikel um die Bedeutung der Banting-Kur in Mitteleuropa geht, sind nur Kernpunkte der britischen und auch US-amerikanischen Geschehnisse hervorzuheben, denn sie bildeten eine Folie für die Rezeption Bantings auf dem Kontinent.

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Der Korpulente im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit (Punch 46, 1864, 200)

Vier Aspekte sind hervorzuheben: Erstens war Bantings „Letter on Corpulence“ für die meisten Ärzte ein Ärgernis. Apodiktisch hieß es: „The professional literature about corpulence is tolerably complete“ (Bantingism, The Lancet 83, 1864, 520). Banting ignoriere und überdecke mit seinem Vorpreschen die bisherige medizinische Forschung: „There was nothing new in the statements made by Mr. Banting, nothing that was not previously well known to physiologists“ (Edinburgh Medical Journal 11, 1865, 826). Verwiesen wurde auf den eingangs schon zitierten Malcolm Flemyng (1700-1764), häufiger noch auf den Mediziner William Wadd (1776-1829). Dieser Mann von Stand und Profession hatte, ähnlich wie Banting, seine Lebens- und Leidensgeschichte in Form eines Briefes präsentiert (Cursory Remarks on Corpulence, London 1810). Justus Liebig wurde mehrfach erwähnt, insbesondere aber der oben schon vorgestellte Jean-Francois Dancel. Dessen 1854 veröffentlichtes Werk wurde 1864 als „an act of justice“ ins Englische übersetzt und enthielt in der Tat ein langes Literaturverzeichnis (Obesity, Or Excessive Corpulence, Toronto 1864, iii resp. 116-127). 1863 veröffentlichte er ein weiteres französisches Buch über Ursachen und Behandlung der Korpulenz (Traité théorique et pratique de l’Obésité, Paris 1863). Festzuhalten aber ist, dass dieses Spezialistenwissen auch bei den von Banting herangezogenen „Autoritäten“ kaum präsent war. Die Mehrzahl der Ärzte spann noch Ideen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts weiter, während Bantings Kur Ausdruck der Leistungsfähigkeit just der neuen Stoffwechselphysiologie war (Bantingism, The Lancet 84, 1864, 493-494).

Zweitens initiierte Bantings Brief eine kontroverse Debatte über die Bedeutung von Laien und Öffentlichkeit für Wissenschaft und die medizinischen Professionen. Die Ärzte hoben sofort das wirkende Prinzip der Kur hervor, nämlich “excluding ‘starch and saccharine matter as much as possible’” (Corporation Reform, Punch 45, 1863, 195). Als Laie habe Banting dies natürlich nicht wissen können, indes, sein Brief offenbare mögliche Wohltaten der Wissenschaft für das Alltagsleben (The Search after Health, The Saturday Review 16, 1863, 721-722, hier 721). Banting sei allerdings nicht der eigentlichen Anreger der Kur, die intellektuelle Urheberschaft liege vielmehr beim Fachkollegen William Harvey (A Cure for Corpulence, British Medical Journal 1, 1864, 99-100; John Harvey, Bantingism, The Lancet 83, 1864, 571). Der Brief des Beerdigungsunternehmers sei anmaßend gewesen, “blowing the trumpet of the medical man” (Bantingism, 1864) nicht statthaft. In den USA war die einschlägige Kritik noch strikter, denn Korpulenz war dort recht selten, Selbstmedikation ein stetes Ärgernis (Bantingism, The Boston Medical and Surgical Journal 71, 1864, 183-186, hier 185). Zudem kritisierte man insbesondere in Neuengland den überbürdenden Alkoholkonsum Bantings (Bantingism and Stimulants, The Boston Medical and Surgical Journal 71, 1864, 227-228). Für die Ärzte glich die von Banting ausgelöste Bewegung einer Springflut, der sie nicht Herr werden konnten, der sie aber ausgeliefert waren: “It is the single case which the public always does jump at, without regard to general principles or consequences” (Bantingism, The Boston Medical and Surgical Journal 71, 1864, 183-186, hier 185). Die Masse sei gefährlich, nicht lenkbar, könne nicht gebremst werden. So dachte eine Elite, die sich kaum erklären konnte und brauchte.

Diese Kritik entsprang drittens einem rasch stärker werdenden Risikodiskurs, war die Diät doch mit gesundheitlichen Gefahren verbunden (Bantingism, The Lancet 84, 1864, 387-388). Vorsicht sei geboten, denn aufgrund der Erfahrungen mit Jockeys wusste man, dass eine „low carb“-Diät nur bis zu einer gewissen Grenze fortgeführt werden dürfe (A few Words concerning Bantingism, Edinburgh Medical Journal 10, 1864, 288-289). Von Einseitigkeiten wie der Banting-Kur sei generell abzuraten, moderate Mischkost zu empfehlen. Einseitiger Fleischkonsum könne Krankheiten hervorrufen, die individuelle Konstitution sei bei jeder Diät zu beachten (Charles Munde, A few Words on Bantingism and Obesity, The Boston Medical and Surgical Journal 72, 1865, 457-460). Damit verbunden waren auch Warnungen vor der neuen Stoffwechselphysiologie und ihres materiellen Reduktionismus. Man möge stofflich richtig düngen, möge Tiere gezielt füttern, aber: “Men are not pigs, to be estimated entirely by the standard of weight”. Die Banting-Kur, “possibly well adapted for the training of a brutal gladiator, is in every respect unfitting for the nutriment of a reasonable Christian” (Banting on Corpulence, The Living Age 83, 1864, 553-561, hier 554). Dennoch führten die wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zu einem vorwärtsgerichteten Konsens. Bantings Erfolg zeige, wie wichtig klare und einfache Vorgaben, wie bedeutsam eine verständlichere Sprache für die Verbreitung und Akzeptanz von Wissenschaft sei. Diese “episode has shown how willing the public is to be taught, and has proved how desirable it is that its teachers should be thoroughly informed men” (Edinburgh Medical Journal 11, 1865, 826).

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Dicke im Banne der möglichen Kur (Punch 47, 1864, 142)

Diese drei Aspekte – Ignoranz der bisherigen Erforschung der Korpulenz, Anmaßung eines Laien, Unterschätzung von Gesundheitsrisiken – beeinflussten ähnlich gelagerte Debatten auf dem europäischen Kontinent. Noch stärker war viertens jedoch die Strahlkraft der englischen Populärkultur. Der Bruch mit tradierten Formen des Fastens erfolgte weniger bei vielfach zögerlichen, teils unkundigen Medizinern. Er erfolgte durch die Betroffenen selbst, eingebettet in einer bürgerlich-liberalen Medienlandschaft und Konsumkultur. Die Bandbreite der einschlägigen Graphiken, Gedichte, Geschichten, Lieder und Sketche ist wahrlich beeindruckend. Sie oszillierten gemeinhin zwischen dem vollen, prallen Leben und der Gefahr von Siechtum und Tod. Die Karikaturzeitschriften füllten sich rasch mit Zeichnungen von Dicken in allen Lebenslagen. Korpulente galten als plump und bedauernswert, die dank der Banting-Kur eine zweite Chance erhielten, mochten sie diese auch erst einmal nicht sehen. Anfang 1864 ergötzte man sich noch vielfach am Grundparadoxon der Banting-Kur, nämlich einer Gourmetdiät, durch die man abspecken konnte: “Take a fresh lease of life, and commence a new era, / Mr. Banting’s advice makes one long to begin— / ‘Drink claret and sherry, good grog, and Madeira, / Take four meals a day and—grow gracefully thin’” (The Banting Code, Punch 46, 1864, 115). Zunehmend aber wurde in Frage gestellt, ob die Bekämpfung der Korpulenz zu einem guten und gesunden Leben führen würde. Beispiel hierfür war ein Modetanz, dessen schlichte Zeilen von einem Dirigenten kündeten, der durch die Kur zunehmend schmaler wurde, bis von ihm lediglich ein dünner bedauernswerter Rest übrig war (Saturday Review 18, 1864, 1058; C.H.R. Marriott, The Banting Quadrille, London 1864, 7-8, 12-13).

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Vor und nach der Banting-Kur (Marriott, 1864, 1)

Ähnlich klangen die Abschiedsverse auf einen ehedem korpulenten Gastwirt, der eine Banting-Kur begann, doch erst im Tod davon lassen konnte: “So rapidly was he reduced / That though some people think / That fat is always sure to swim, / He soon began to sink” (The Doleful Ballad of Billy Bulky. Dedicated to Mr. Banting, Fun 7, 1864, Ausg. v. 29. Oktober, 61). Solcher Schabernack lag bei der Kur eines Beerdigungsunternehmers nahe, schwarzer Humor feierte fleißige Urstände. Lächelnd, doch mit Sinn für die Bedeutung des wohlbeleibten Körpers als Marker von Prosperität und Besitz, wurde der Verlust der Fülle kommentiert. „Oh, why was I so jolly green / Extremes to go in Banting! / I’m fleshless now as any rat, / I scarcely knew what I was at, / I feel I was a fool, that’s flat; / I really must regain my fat” ([Howard Paul], Banting, Fun 7, 1864, Christmas-Number, 14). In diesem Falle verlor ein Ehemann erst sein Fett und dann seine Frau. Parallel wurde die neue Kur oft zu Grotesken verdichtet: Eine neu gegründete Banting Restaurant AG kredenzte ihren Gästen demgemäß erlesene Fleischspeisen fast ohne Fett und Kohlenhydrate. Chemiker und Professoren der Gastronomie erforschten in ihrem Dienste neue schmackhafte Speisen im Mikrokosmos des Erlaubten (The Banting Restaurant Joint Stock Company (Limited), Punch 47, 1864, 143). Banting war 1864 immer für einen Lacher gut, doch die Kur galt zunehmend als exzentrische Abirrung eigenartiger Charaktere. Der Neujahrswunsch der Karikaturzeitschrift Punch war daher eindeutig: “Now let the sports begin for which you ‘re panting, / Laugh and grow fat, and bother Mr. Banting!” (Punch 47, 1864, 267).

Die Rezeption in Mitteleuropa

Die Rezeption der Banting-Kur in Mitteleuropa verlief zeitversetzt: Die französische und die österreichische Öffentlichkeit setzten sich schon 1863/64 mit der Diät und ihren Auswüchsen auseinander. Auch in deutschen Landen gab es damals erste Berichte. 1864 erschienen zunehmend medizinische Rezensionen, die öffentliche Debatte setzte aber erst nach der Übersetzung und Kommentierung des „Letter on Corpulence“ ein. Ihren Höhepunkt erreichte sie 1865/66, also mit beträchtlicher Zeitverzögerung. Der Transfer mündete dennoch in eine kurzzeitige „Banting-Manie“, die mit dem „Deutschen Krieg“ im Sommer endete.

Anfangs, 1863, galt Bantings Kur schlicht als ein Witz. Im mährischen Brünn spottete man, dass man diese „Heilmethode“ auf den Wiener Finanzplan anwenden solle, um diesen mager zu machen (Mährischer Correspondent 1863, Nr. 139 v. 20. Juni, 4). Die Diät galt als Spleen der höheren englischen Gesellschaft (Ebd., Nr. 199 v. 1. September, 4). Bissige Kommentare über zu üppige Schauspielerinnen forderten Bühnenrückzug oder Banting-Kur – und der Bürger schmunzelte, mochte er auch nicht im Detail informiert gewesen sein (Ebd., Nr. 213 v. 19. September, 4).

Die 1864 einsetzende Rezeption von William Bantings „Letter on Corpulence“ in deutschen Landen erfolgte nicht direkt. Sie war unmittelbar verknüpft mit dessen Übersetzung, Kommentierung, Modifikation und Erklärung durch den Hallenser Mediziner Julius Vogel (1814-1880). Seine im Juni 1864 veröffentlichte Broschüre „Korpulenz. Ihre Ursachen, Verhütung und Heilung durch einfache diätetische Mittel. Mit Benutzung der Erfahrungen von William Banting“ sollte ein Bestseller werden, der auch das Wortfeld des Übergewichtes neu umriss: Zuvor übliche Begriffe wie Feistigkeit, Beleibtheit, Fettsucht, Fettleibigkeit, Embonpoint, Dicke oder Wohlbeleibtheit verloren seither an Bedeutung. Vogel hatte in München promoviert, in Göttingen habilitiert, war seit 1846 Ordinarius für Heilkunde in Gießen, ab 1855 in Halle/S. Er trat vor allem als Anatom und Pathologe hervor, war dabei Grenzgänger auch hin zur Physiologie (Vogel, Julius, in: Biographisches Lexicon hervorragender Ärzte, hg. v. J[ulius] Pagel, Bd. 6, Wien/Leipzig 1884, 193).

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Julius Vogel und das Titelblatt seines Erfolgsbuches (Wikipedia (l.))

Vogel war sich des Risikos bewusst, ein populäres, nicht vorrangig an die Herren Kollegen gerichtetes „Schriftchen“ (Vogel, 1864, X) von etwas mehr als siebzig Seiten zu veröffentlichen. Eine allgemeinfassliche Darstellung sei jedoch nicht nur durch Bantings Vorlage angeraten, sondern dürfte, so der Autor, dazu beitragen, „der gerade unter dem gebildeten Theile des Publikums leider immer mehr überhand nehmenden Neigung: mit Umgehung der Aerzte, den Rath von Quacksalbern und Charlatanen zu befolgen, sowie allerlei in den Zeitungen angepriesenen Mittel zu gebrauchen, durch eine Belehrung über die daraus zu befürchtenden Nachtheile entgegenzuwirken“ (ebd., XI). Vogel griff damit die angelsächsische Debatte auf, knüpfte aber auch an populärere Schriften wie Justus Liebigs „Chemische Briefe“ oder Julius Adolf Stöckhardts (1809-1886) „Chemische Feldpredigten“ an, die Agrikulturchemie und Stoffwechsellehre in der deutschen Öffentlichkeit etablierten halfen.

Missbilligungen Vogels ließen nicht auf sich warten. In Wien kritisierte man seinen Verweis auf Liebig als typisch teutsche Anmaßung, den deutschen Ursprung allen Fortschritts nachweisen zu wollen (Die Mageren und die Dicken, Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 8 v. 23. Mai, 4), während man in London diesem durchaus beipflichtete (Bantingism abroad, British Medical Journal 1, 1865, Nr. 211, 42-43, hier 43). In bayerischen Fachzeitschriften glaubte man an die Rotation der verstorbenen Häupter der Hallenser medizinischen Fakultät in ihren Gräbern, voll Scham ob des Abstiegs eines Wissenschaftlers in die Lebens- und Leidenswelt eines Laien (Rez. v. Vogel, Corpulenz, 81865, Ärztliches Intelligenzblatt 13, 1866, 136-138, hier 138). Auch eine führende pharmazeutische Zeitschrift schäumte ob der vermeintlichen Weihe des Bantingschwindels, der „nun an allen ölwassersüchtigen Deutschen bereits gründlich ausprobirt sein muss“ (Ein deutscher Professor der Heilkunde und der Bantingschwindel, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 7, 1866, 141-143, hier 141). Kaum verwunderlich, dass selbst in neueren biographischen Arbeiten die Broschüre Vogels unerwähnt blieb (Johannes Büttner, Gießener Schüler Justus von Liebigs mit späteren Tätigkeiten in der Medizin, Gießener Universitätsblätter 34/35, 2001, 35-48, hier 37-38). Aus heutiger Sicht war Vogel einer der vielen Wissenschaftspopularisierer, die nicht nur in der Profession Pionierarbeit leisteten, sondern auch den Unterbau für die zeitweilig weltweit führende Stellung der deutschen Wissenschaft schufen.

Dass die Debatten über die Banting-Kur im deutschen Sprachraum faktisch Debatten über Vogel und Banting waren, lag vor allen an zwei Punkten. Erstens erklärte Vogel die Funktionsweise der Kur in einer bis heute fesselnden Darstellung der Stoffwechsellehre und ihrer Unschärfen. Zweitens übersetzte er nicht nur rein wörtlich, sondern stellte in einer Fußnote Bantings Speisezettel eine gleichsam deutsche Version an die Seite. Dies war die mundgerechte Anleitung für die nun einsetzende Diät-Praxis: Bantings Tee wurde von Vogel durch möglichst schwarzen Kaffee ersetzt. Brot war in engen Grenzen erlaubt, doch beim Frühstück sollte auf Kuchen oder Butter möglichst verzichtet werden, nicht aber auf Eier, kaltes Fleisch oder aber rohen Schinken. Auf das zweite Frühstück solle man nur wenig Wert legen. Mittags empfahl Vogel eine Fleischbrühsuppe möglichst ohne Einlagen, fettarmes Gemüse und Kompott, erlaubte auch wenige Salzkartoffeln und etwas Brot. Nachmittags sei wieder Kaffee-, nicht aber Kuchenzeit, ehe man abends den Tag mit etwas Fleischbrühsuppe oder Tee, mit Salat, kaltem Fleisch, Schinken, Eiern und ein wenig Brot abrunden könne. Als Getränk und Seelentröster durften Wein, aber auch Apfelwein getrunken werden. Vergleicht man Vogels Speisezettel mit dem Bantings, so war ersterer einfacher und preiswerter, zielte auf einen bürgerlichen Tisch, erinnerte an leichte Kost in Sanatorien. Physiologisch waren sie austauschbar, enthielten beide – im Gegensatz zu späteren rigideren „low carb“-Diäten – moderate Fett- und Kohlenhydratmengen. Dies diente der Abfederung einer zu einseitigen Kost und erlaubte, wie Bantings Gewichtskurve unterstrich, eine stetige, sich über längere Zeit hinziehende Abnahme.

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William Banting und eine deutsche Imagination eines Engländers (Wikipedia.de (l.); Fliegende Blätter 42, 1865, 70)

William Banting mutierte 1864/65 zu einer in Mitteleuropa bestens bekannten Persönlichkeit, galt als „Wohlthäter der überfütterten Menschheit“ (Ein System der Entfettung, Fränkische Zeitung 1864, Nr. 271 v. 15. November, 2). Überrascht nahm man seine steile Karriere zur Kenntnis: „Kaum gelangte je ein einfacher Mann so schnell zu ausgebreitetem Ruf als Mr. William Banting zu London“ (Neue Würzburger Zeitung 1865, Nr. 29/30 v. 20. Januar, 1-2, hier 1). Angesichts nur dürrer Kenntnisse über seine Biographie reicherten Journalisten seine Lebensgeschichte beherzt an, machten ihn so zu einer populären Figur (Wie William Banting auf seine Methode kam, Waldheims Illustrirte Zeitung 1866, H. 17, 66). Dabei spielte sein Beruf eine wichtige Rolle, fehlte es doch nicht an Bonmots über Diät und Sterben. Da viele Journalisten aus medizinischen Rezensionen abschrieben, mischten sich jedoch auch negative Stimmen in den breiten Chor des Lobes: „Wissenschaftliche Bildung hat er keine. Sein oftgenanntes Schriftchen ist ganz crüde in Form und Inhalt“ (Neue Freie Presse 1865, Nr. 141 v. 20. Januar, 5).

Vereinzelte Berichte beschworen schon vor dem Erscheinen der Vogelschen Broschüre die offenkundigen Erfolge der neuen Diät (Ueber Wohlbeleibtheit, Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1864, Nr. 125 v. 4. Mai, 2521). In Mitteleuropa war man stärker als in Großbritannien mit Hungerkuren vertraut, war religiöses Fasten verbreiteter. Entsprechend freudig nahm man zur Kenntnis, dass man gut essend abnehmen konnte (Bayerische Zeitung 1864, Nr. 258/259 v. 19. September, 879). Bantings Leidensgeschichte berührte, die Kur – ein Begriff der (ähnlich wie „Banting-System“) erst 1864 im deutschen Sprachraum aufkam – gaben jedem Dicken ein schicksalswendendes Mittel in die Hand. Der Erfolg war handgreiflich, keine theoretische Spielerei, sondern praktische Tatsache (Diät gegen Fettleibigkeit, Passauer Blätter für Unterhaltung und Belehrung 1865, Nr. 27 v. 9. Juli, 215-216, hier 216). Es ist wahrscheinlich, dass der „Knalleffekt“ (Die Fettleibigkeit und die sogenannte Banting’sche Kur, Der Bayerische Landbote 1865, Nr. 40 v. 9. Februar, 157-158, hier 157) der neuen Diät in Norddeutschland eher vernommen wurde als im Süden. Doch da man dort – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bis heute mit der Quellendigitalisierung fremdelt, dominieren hier Stimmen fernab der üblichen Transferorte Bremen und Hamburg.

Korpulenz wurde nun ernster genommen, galt zunehmend als gesundheits-, ja lebensgefährdend. Spott sei verfehlt, Heilung nun aber einfach. Das unterstrichen insbesondere Berichte in medizinischen Fachzeitschriften (Das Banting-System gegen Fettleibigkeit, Wiener Medizinische Wochenschrift 15, 1865, Sp. 943-944; Die Banting-Kur, Neues Jahrbuch für Pharmacie und verwandte Fächer 24, 1865, 127-128; Dass., Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines 3, 1865, 421; Die diätetische Kur gegen Korpulenz, Der praktische Arzt 7, 1866, 150-151). Sie verwiesen auf die bisherigen Erfahrungen in England, auf „Hunderte von fetten Personen“, die nun wieder ein gutes Leben führen würden (H. Meissner, Ueber Wohlbeleibtheit, Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 127, 1865, 168-174, hier 169). Mit der zeitlichen Distanz konnte die Wirksamkeit der Diät besser beurteilt werden. Stärker als in England oder gar den USA bröselten auf dem Kontinent die Trennwände zwischen hehrer Wissenschaft und gesundheitlicher Praxis: „Wo es sich nun gar um diätetische Massregeln handelt, da ist das Popularisiren immer an seinem Platze. Ist doch ein grosser Theil unserer heutigen Heilkunde nichts Anderes als angewandte Diätetik, richtige Anwendung und Benützung von Licht, Luft, Wasser, Nahrungsmitteln u.s.w.“ (Pichler, Banting’s System gegen Corpulenz, Allgemeine Wiener Medizinische Wochenschrift 10, 1865, 217). Solche Aussagen spiegelten die größere Bedeutung von Naturheilkunde und Homöopathie in Mitteleuropa, deren Herausforderungen für die akademische Medizin durchaus produktiv waren (Karl Müller, Die Korpulenz, Die Natur 14, 1865, 76-78).

Unterschiede gab es auch bei der Einschätzung der Stammväter und Vorläufer der Banting-Cur. Vogel hatte Liebig in den Vordergrund gerückt, ihm sein Werk gewidmet. Die Rezensenten folgten, griffen anders als in Großbritannien nicht mehr auf überholte Ratschläge des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurück (Die Banting-Kur gegen Fettleibigkeit, Sachs‘ repertorisches Jahrbuch für die neuesten und vorzüglichsten Leistungen der gesammten Heilkunde 33, 1866, 134-138). Allerdings mit einer Ausnahme: Die 1826 veröffentlichten Diätratschläge des Gastrosophen Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826), nämlich „Mässigkeit im Essen, Enthaltsamkeit im Schlaf, Bewegung zu Fuss oder zu Pferde“ (Physiologie des Geschmacks oder Physiologische Anleitung zum Studium der Tafelgenüsse, Braunschweig 1865, 214), entstammten noch dem Denken der Humoralpathologie, wurden aber ärztlich breit empfohlen. Sie knüpften an die Alltagserfahrungen einer bäuerlichen Gesellschaft an: Fleischfressende Tiere waren im Regelfall schlank, während – die omnivoren Schweine mögen mir verzeihen – Masterfolge vor allem mit kohlenhydrathaltigen Futtermitteln erzielt wurden. Der französische Richter und Bonvivant empfahl auch daher „eine mehr oder minder strenge Enthaltsamkeit von Mehl und Stärkemehl enthaltenden Nahrungsmitteln“ (ebd., 216) als Gegenmittel zur Korpulenz. Die Übersetzung seines Hauptwerkes just im Jahre 1865 ist ohne die Diskussionen über die Banting-Kur nicht zu verstehen (P[aul] Niemeyer, Das Banting-System keine neue Erfindung!, Deutsche Klinik 18, 1866, 159).

Die verhaltende Banting-Manie 1865/66

Auch in Kontinentaleuropa gab es eine „Banting-Manie“ (Pulver und Pillen, Wiener Medizinische Wochenschrift 15, 1865, Sp. 1055-1058, hier Sp. 1055), auch wenn einige Dutzend einschlägiger Quellen deren Umfang nicht präzise umreißen können. Gewiss ist, dass es sich um eine dominant bürgerliche Bewegung handelte und die Metropolen hierbei Vorreiter waren. Ungewiss ist, ob nicht einige der Berichte mit Wissen um den „Bantingismus“ verfasst wurden, denn Manien waren, wie Verbrechen, Modetorheiten und Skandale, gern gepflegtes Genres schon vor dem Aufkommen einer Boulevardpresse. Und da man „dickbäuchigen Lords und Misters“ bei ihren „vielfachen Experimenten“ (Ein System der Entfettung, Würzburger Anzeiger 1866, Nr. 312 v. 10. November, 2) gefolgt war, waren die groben Umrisse eines kontinentaleuropäischen Korpulenztheaters schon ansatzweise vorgegeben. Auch britische Beobachter sprachen darüber (British Medical Journal 1865, Bd. 2, Nr. 239, 99).

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Fort mit Kohlenhydraten, fort mit den Pfunden! (Kladderadatsch 18, 1865, 94)

Die Manie war ein ernstes Unterfangen, nicht umsonst sprach man zwischen zwei realen Kriegen vom „Krieg gegen die Korpulenz“ (Diät gegen Fettleibigkeit, Passauer Blätter für Unterhaltung und Belehrung 1865, Nr. 27 v. 9. Juli, 215-216, hier 216). Banting gab die Anregung, Vogel die Hilfsmittel, nun hatten die Dicken ihre Chance: „Noch vor drei Wochen stöhnten sie unter einer unmäßigen Ueberfrachtung des Körpers, und heute waren sie, Dank den Erfolgen der Banting-Kur, ‚um den Leib nicht so dick wie eine Adlersklaue‘, und hätten mit dem jugendlichen Sir John ‚durch eines Aldermans Daumenring kriechen können‘“. Banting, einst Märtyrer, wurde nun “Heiland der Fettleibigkeit“ (beide Zitate n. Banting, Neue Würzburger Zeitung 1865, Nr. 160/161 v. 12. Juni, 1-4, hier 1). Fleischessen wurde – fast wie heute dessen Nicht-Essen – zu einer politischen Tat, mit der man kauend Leib und Welt umgestalten konnte. Ja, die Zeiten hatten sich rasch gewandelt: „In der guten Gesellschaft mag auf einmal Niemand mehr als ‚Fetter‘ auftreten. Da sogar diejenigen, welche sich nie eines Überflusses an Fett rühmen konnten, der allgemeinen Sitte zu Liebe sich der ‚Banting’schen Kur gegen die Korpulenz‘ unterwarfen, so mögen die Aerzte entscheiden, ob wir es hier mit einer modernen Geistesepidemie zu thun haben“ (Die englische Diät gegen Korpulenz, Der Sammler 34, 1865, 44). Doch wie immer die Bewertung ausfiel, man musste sich darauf einstellen: „Ladet man jetzt seine Freunde zu einem Gastmahl, so kann man darauf wetten, daß sich mehrere unter denselben befinden, welche als Bantingianer zu jener spezifischen Eß- und Trinkmethode geschworen haben – und Wirth und Wirthin durch beharrliches Versagen der verbotenen Genüsse und durch ihre Bitten um gewisse Nahrungsstoffe in nicht geringe Verlegenheit bringen“ (Corpulenz, Die Debatte 1865, Nr. 30 v. 30. Januar, 1).

Für Außenstehende besaß das Geschehen etwas Sektenhaftes, ähnlich wie beim Vegetarismus. Und zugleich nährte die Mode sich selbst: Die Jünger „üben mit allem Fleiße und strenger Konsequenz die Banting-Kur, welche ihren Gläubigen das Gelübde der Enthaltsamkeit von Bier, Mehlspeise, namentlich von Fett auferlegt. Die Bekenner der Banting’schen Lehre, welche in Wien zusehends mehr Anhänger gewinnt, erzählen Wunderdinge von den unfehlbaren Erfolgen, welche sie durch den Genuß der vorgeschriebenen und Entbehrung der verbotenen Nahrungsstoffe an sich und ihren Proselyten erzielt haben. Hier zeigt ein solcher Banting-Apostel auf die Stelle, wo sich sein ‚ehemaliger Bauch‘ befand, der bereits vollständig verdunstet ist – dort weiset er auf einen Freund, der noch vor wenig Wochen als Fettwanst das Entsetzen aller Omnibuspassagiere, gegenwärtig eben nur seinen Platz anständig ausfüllt – ein Banting-Fanatiker macht seit einem Monate von 3 zu 3 Tagen eine Probe seines abnehmenden Umfanges bei dem Drehkreuz am Eingang des Museums, und siehe da, unser dicker Freund, der noch Mitte Juni regelmäßig stecken blieb, passirt jetzt diesen Kreuzweg bereits ohne alle Schwierigkeit“ (Wiener Plaudereien, Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 60 v. 13. Juli, 13).

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Banting-Kur oder Gymnastik? Für viele eine einfache Wahl (Kladderadatsch 18, 1865, 93 (l.); Fliegende Blätter 41, 1864, 63)

Die Banting-Kur schien einfach, die Anleitung war „in jedem Bücherladen“ erhältlich (Kraft und Größe, Der Bazar 12, 1866, 198). „Ueberall spricht man von Banting“ – so hieß es (Das Banting-Fieber, Mnemosyne 1865, Nr. 60 v. 26. Juli, 244). Entkommen schien kaum möglich, Banting war und blieb Stadtgespräch, in öffentlichen Lokalen, in den Wartesälen der ersten und zweiten Klasse (nicht der dritten und vierten), ebenso in geräumigeren Bahnabteilen (Ueber das sogenannte Banting-System gegen Fettleibigkeit, Pfälzer Zeitung 1865, Nr. 270 v. 17. November, 1-2, hier 1). Auch einer der damals führenden deutschen Mediziner, Felix von Niemeyer (1820-1871), bestätigte die Breite der Bewegung und, mehr noch, ihre Wirksamkeit: „Schon jetzt wandern zahlreiche lebende Beweise von Erfolgen der Banting-Kur auch auf unsern Straßen einher“ (Die Behandlung der Korpulenten nach dem sogenannte Bantingsystem, Berlin 1866, 15).

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Korpulenz als bürgerliches Problem, als Teil der sozialen Frage (Fliegende Blätter 45, 1866, 40)

Bei aller Freude am Spektakel sollte man jedoch nicht vergessen, dass die Banting-Manie die sozialen und wirtschaftlichen Hierarchien des damaligen bürgerlichen Zeitalters spiegelte und reproduzierte. Der gemeine Mann, der Arbeiter, der arme Schreiber, sie waren in der Regel dünn, zudem deutlich kleiner als Menschen heutzutage. Banting schien „einfache, unschädliche Mittel gefunden [zu haben, US], welchen den ‚Austernfriedhof‘ des dicken Bankiers in normale Formen zu bringen wissen – die ‚moderne Heilkunde‘ hat auch ihr ‚training‘ und ihr ‚trainer‘ heißt William Banting“ (Die Mageren und die Dicken, Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 8 v. 23. Mai, 4). Die Banting-Kur, auch in der Vogelschen Variante, war teuer. Wild, Kompott, Fleisch, Fisch – sie waren selten auf dem Tisch der Armen, fehlten teils ganz, so wie Rotwein, Sherry oder Madeira. Die Trainingsmetapher war sprechend und wurde vielfach aufgegriffen. Doch nun wurden nicht Jockeys abgespeckt, um Rennen zu gewinnen, sondern die Herren vom Jockey-Club, um im Wettbewerb ums Abnehmen zu siegen, um fideler und erfolgreicher ihren Geschäften nachgehen zu können (Neues Fremden-Blatt 1867, Nr. 109 v. 21. April, 5).

Natürlich waren die Berichte voll von kleinen Abweichungen, hatte Banting (Prösterchen!) doch die Größe der Gläser nicht vorgegeben. Die Banting-Manie war ein Fest der Bürger, ihrer so trefflichen Emanzipation von dem noch herrschenden Adel. Ehedem dicke Herren standen wieder auf dürren Freiersfüßen, hielten Ausschau nach nun wieder junonischen Damen. Und dann aß man gemeinsam “eine große Tasse Bouillon-Suppe, eine große Forelle, eine große Portion ‚kaltes Aufgeschnittenes‘, ein kolossales Beefsteak, ein Prachtstück von einem Karfiol, ein enormes Brathuhn mit einem respektablen Teller gekochter Kirschen, eine famose Flasche Wein“ (Banting-Fieber, 1865, 331) – doch da auf Brötchen und Bier verzichtet wurde, war es Teil der Kur, Teil der Körpergesundung.

All dies wurde gelassen wahrgenommen, der scharfe Ton in Großbritannien, gar den USA, fehlte in diesen Berichten aus meist katholischen Gegenden. Man gedachte der darbenden Bierwirte, mochten die Dünneren nun auch endlich Platz auf den Bänken der Bierschwemmen haben (Aus dem Wiener Leben, Wiener Abendpost 1865, Nr. 64 v. 18. März, 254). Bäckern und Bädern ständen schwere Zeiten bevor. Doch auch während des vermeintlichen Krieges gegen die Korpulenz ertönten noch vernehmbare Stimmen des Widerstandes: „O theurer Freund, was muß ich hören, / Was fängst Du doch für Unsinn an, / Im Banting will ich Dich nicht stören, / Doch alles Andere gieb nur d’ran. / Morgens, Mittags, Abends, Wasser. / Und dann nur magere Kost dazu; / Du wirst von Tag zu Tag ja blasser, / Und nimmst der Freundin ihre Herzesruh‘ / Verlier‘ doch nicht die runde Fülle / Ich bitte Dich, sie steht Dir gut. / Veränderst Du des Geistes Hülle, / Der Zauber bricht, ich bin Dir nicht mehr gut“ (Echo der Gegenwart 1865, Nr. 233 v. 26. August, 3).

Die Banting-Kur in der Populärkultur

Wie in England, so wurde die Banting-Kur auch in Mitteleuropa rasch Teil der Populärkultur. Die Karikaturzeitschriften brachten dies und das, Ertrag und Umfang waren aber nicht vergleichbar mit dem englischer Magazine (Hans Jörgel von Gumpoldskirchen 34, 1865 v. 8. Juli, H. 28, 4). Dicke wurden bespöttelt, doch seltener als im Lande Bantings. Dessen Leidens- und Erlösungsgeschichte wurde auch humoristisch persifliert, doch handelte es sich dabei um ein Einzelstück (Durch Dick und Dünn, Kladderadatsch 18, 1865, 92-94). Ob das daran lag, dass es auf dem Kontinent weniger übergewichtige Bürger gab, ist nicht zu ermitteln. Aussagefähige Messdaten liegen für Soldaten, teils auch Arbeiter und Insassen von Wohlfahrtseinrichtungen vor, kaum aber für die Wohlhabenden. Schmähungen dicker Häupter unterblieben, dabei hätte Queen Victoria (1819-1901) doch dazu reichlich Anlass geboten. Einzig Napoleon III. erhielt sein Fett weg (Figaro 9, 1865, Nr. 26 v. 10. Juni, 103). Einschlägige Zeichnungen griffen dagegen vielfach auf bekannte Vorbilder zurück, so im folgenden Beispiel des nach der Kur nicht mehr erkannten Ehemannes.

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Der unerkannte Ehemann (Illustrirte Dorfzeitung des Lahrer Hinkenden Boten 4, 1866, 491-492)

Größeren Widerhall erfuhr die Kur dagegen im Gesang und im Theater. Der Wiener Männergesangsverein präsentierte mehrfach eine Improvisation des Komponisten Alois Sebera (1827-1909). Dessen ‚Apostrophe an Banting‘ besang und präsentierte die Transformation eines 230 Pfund schweren Kerls in einen Mann, „schlank ‚wie eine Palme‘“ (Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 140 v. 1. Oktober, 5). Nicht alle Possen aber waren erfolgreich, so der dramatische Scherz „Die Banting-Kur“ (Die Debatte 1866, Nr. 18 v. 20. Januar, 2). Trotz Karneval und gefälligem Spiel bekannter Schauspieler fiel er durch und wurde von der Direktion des Theaters an der Wien nach der ersten Aufführung vom Spielplan genommen: Die Posse war „an Stoff und Witz zu mager, als daß irgend eine Kunst ihr helfen könnte“ (Neue Freie Presse 1866, Nr. 501 v. 22. Januar, 2).

Auch abseits der Donau wurde Banting gewürdigt, etwa vom Pfälzer Mundartdichter Karl August Woll (1834-1893) (Die Bantingkur, Pfälzer Zeitung 1865, Nr. 276 v. 24. November, 1). Eine klagende Hausfrau drängte ihren immer dicker werdenden Mann zwecks Banting-Kur ins Wirtshaus, doch dieser fand Gefallen an der guten Speise, so dass er nicht nur die Haushaltskasse leerte, sondern auch einen halben Zentner zunahm (Gedichte, Speyer 1868, 21-23).

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Der vermeintliche Kreislauf der Korpulenz (Kladderadatsch 18, 1865, 92)

Banting blieb auch in den 1870er Jahren ein gern herangezogener Gast auf deutschen Bühnen, in deutscher Literatur. Zwei Beispiele mögen genügen: In der komischen Oper „Der Wunderdoctor in der Liedertafel zu Singsanghausen“ Carl Kuntzes (1817-1883) tritt ein französischer Scharlatan auf, dem man Banting erklären muss: „Grande homme! – Le plus grande homme! – Rapide succés!“ (Leipzig 1870, 14). Auch Adolf Wilbrandt (1837-1911) pries in seinem Lustspiel „Ein Kampf ums Dasein“ einen korpulenten Winzer, der sich Dank Banting verpflichtete kurzzeitig „nur von Fleisch zu leben, ohne Fett, ohne Mehl, ohne Süßigkeiten“ (Leipzig 1873, 43-44). Zusammengefasst ergibt sich das Bild gefälligen Frohsinnes – und das im vermeintlichen Zeitalter des Realismus. Die Populärkultur verwies auf die Chancen und die Wirksamkeit der neuen, der ersten Diät. Deren Gefahren aufzuzeigen, blieb der Medizin vorbehalten.

Wirksam und gesund? Zur zeitgenössischen Bewertung der Banting-Kur

Die öffentliche Berichterstattung über die Banting-Cur führte zu einer abwägenden Bewertung in den großen Familienzeitschriften: „Zur Verhütung und Beseitigung übermäßiger Fettproduction ist die sogenannte Banting-Cur ein erprobtes Verfahren“ hieß es 1866 in der in sechsstelliger Auflage erscheinenden Frauen- und Modezeitschrift „Der Bazar“ (12, 1866, 280). Auch im konservativen „Daheim“ fand sich eine klare Empfehlung (Das Banting-System gegen Fettleibigkeit, Daheim 3, 1867, 752). Das in Stuttgart erscheinende „Illustrirte Buch der Welt“ preschte gar weiter vor, sah keinerlei Gefahr und hoffte, dass die Banting-Kur „alle die früher gebräuchlichen, sehr eingreifenden und gefährlichen, und leider dennoch erfolgarmen Curen der Fettsucht mittelst Essig, Apfelwein, Jod, Karlsbad, Marienbad, Bilin etc.“ verdrängen würden. Hauptvorteil sei, dass man sie variieren und auch ohne Probleme abbrechen könne (Wurm, Die Banting der Corpulenz, Das Illustrirte Buch der Welt 1866, 150-152, hier 152). Doch es gab auch andere Stimmen: Der Marktführer „Gartenlaube“ riet zu einer behutsamen Anwendung, warnte vor jedem Übereifer, denn dann sei die Kur gefährlich und bewirke, dass die Anwender „gewöhnlich garstig zusammenrunzeln“ ([Carl Ernst]Bock, Diätetisches Recept für Fettleibige, Die Gartenlaube 1866, 151-152, hier 151). Auch „Der Bazar“ schwenkte 1867 um, riet vor Beginn der Diät unbedingt zur Konsultation eines Arztes: „Die plötzliche Veränderung der jahrelang gewöhnten Diät kann unter Umständen Abmagerung und Entkräftung, ja, einen raschen Tod zur Folge haben!“ (Der Bazar 13, 1867, 328, ähnlich ebd. 14, 1868, 148). Die Massenzeitschriften gaben demnach unterschiedliche Ratschläge, beließen die Entscheidung aber in der Verantwortung der Leserinnen.

Dadurch waren die Mediziner gefordert. Die Banting-Kur, so hieß es einvernehmlich, sei grundsätzlich wirksam und vor Beginn stets ein Arzt zu Rate zu ziehen. Befürworter hoben ihren wichtigen Impuls für Volksbildung, eine verbesserte Gesundheitspflege und die Selbstverantwortung hervor (J. Seegen, Die Aufgaben der Nahrung für den Haushalt des Thieres, mit besonderer Rücksicht auf die Bantingcur, Wiener Medizinische Wochenschrift 18, 1868, Sp. 375-378). Über die „üblen Folgen einer einseitigen Ernährungsweise“ waren die Experten jedoch unterschiedlicher Ansicht (Ueber die Behandlung der Korpulenz auf Grundlage des Banting-Systems, Memorabilen 11, 1866, 70-71, hier 70). Eine körperliche Schwächung sei wahrscheinlich, Banting eine Ausnahme von der Regel. Die simplen Speisepläne seien unausgegoren, vernachlässigten insbesondere Kochsalzzufuhr und Speichelfluss (Ch. Hildmann, W. Banting und J. Vogel über Corpulenz, Deutsche Klinik 17, 1865, 429-430).

Schwerwiegender war eine wachsende Zahl akuter Gesundheitsschäden, gar mehrerer Todesfälle. Schon früh wurde ein enger Konnex zur Lungentuberkulose und auch psychischen Störungen behauptet (Die Bantings-Kur [sic!] und Fettentziehung als Ursache psychischer Störungen, Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines 6, 1868, 486-487). Mehrere bekannte Persönlichkeiten, etwa der Brünner Oberlandesgerichtspräsident Lewinsky oder der Komponist Erik Nessl (1831-1883) starben bzw. erkrankten im Anschluss an eine Banting-Kur schwer (Wiener Sonn- und Montag-Zeitung 1869, Nr. 38 v. 2. Mai, 2; Die Debatte 1869, Nr. 190 v. 11. Juli, 3; (Neue Freie Presse 1869, Nr. 1748 v. 11. Juli, 7). Der Frankfurter Kliniker Theodor Clemens (1824-1900) führte 1869 schließlich drei Todesfälle auf eine durch die Diät bewirkte Abmagerung der Nieren fest. Mit Ingrimm auf die „blutgierigen Fleischfresser“ verwies er auf die Gefahren eines raschen Übergangs zu „einer ganz entgegengesetzten Lebensweise“ (Schlimme Folgen der Banting-Cur, Deutsche Klinik 21, 1869, 10). Doch wer gedacht hatte, dass die Begleitung durch einen Arzt solche Nebenwirkungen ausschließen könne (Pierers Universal-Conversationslexikon, 6. vollst. umgearb. Aufl., Bd. 2, Oberhausen und Leipzig 1875, 651), sah sich bald eines besseren belehrt. Die klinische Forschung besaß zu dieser Zeit eben nicht einmal eine klare Definition der Korpulenz und ihrer Varianten (Wilhelm Epstein, Die Fettleibigkeit (Corpulenz) und ihre Behandlung nach physiologischen Grundsätzen, Wiesbaden 1882, 1). Bei krankhafter Fettsucht seien Diäten nicht anzuwenden, müsse die Hoffnung auf die Banting-Kur trügen (H[ermann] Kühne, Die Bedeutung des Anpassungsgesetzes für die Therapie, Leipzig 1878, 82). Vorsicht sei generell anzuraten.

Wachstumsmarkt Korpulenz: Die Vermarktung der Banting-Kur

Die Banting-Kur war dennoch erfolgreich, denn sie entstand im Rahmen einer modernen Konsumgesellschaft. Korpulenz war eben nicht nur ein medizinisches Problem, sondern Grundlage neuer Märkte. Die Diät wurde nicht nur in der Öffentlichkeit und von Ärzten kontrovers diskutiert, sondern schuf reale Marktchancen. Neben die ärztliche Praxis traten Ratgeber, Dienstleistungen und Diätprodukte. Ende des 19. Jahrhundert kam mit den pharmazeutischen Schlankheitspräparaten noch ein weiteres Marktsegment hinzu.

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Einfache Annoncierung des Vogelschen Buches (Aachener Zeitung 1864, Nr. 230 v. 19. August, 4 (l.); Fürther Tagblatt 1865, Nr. 134 v. 6. Juni, 3)

Am Anfang der Banting-Rezeption im deutschsprachigen Raum stand weniger Bantings Brief als vielmehr die von Julius Vogel 1864 veröffentlichte Broschüre über Korpulenz. Sie präsentierte dem Publikum eine mit Kommentaren versehene Übersetzung der dritten Auflage von William Bantings „Letter on Corpulence“, seiner Vor- und Nachworte. Der Widerhall in Zeitungen und Zeitschriften war beträchtlich, diese bürgerlichen Medien popularisierten Ratgeber und Diät. Vogels Broschüre bot jedoch auch eine stupende Weitung und Interpretation des Themas. Die Modernität des Buches resultierte nicht nur aus einer prägnanten Darstellung der neuen Stoffwechselphysiologie und einer darauf gründenden wissenschaftlichen Rationalisierung der Banting-Kur. Die Modernität des Buches lag auch in der Profanisierung der Diät selbst. An die Stelle des zuvor stetig zu konsultierenden Arztes trat der gedruckte Ratgeber, trat die Broschüre. An die Stelle einer auf die bürgerlichen Klassen begrenzten medizinischen Dienstleistung trat tendenziell Selbsthilfe. Der Beerdigungsunternehmer William Banting bot ein Modell der bürgerlichen Selbstoptimierung, stand damit für das liberale Zeitalter. Damit verbunden war aber auch eine wachsende individuelle Verpflichtung, gegen Korpulenz eigenständig vorzugehen. Während Handel und Gaststätten mit nahrhaften Nahrungsmitteln und schmackhafter Kost lockten, entstand parallel ein weiterer Markt zur Eindämmung der Konsumfolgen. Dazwischen aber stand der Konsument in seiner Qual der Wahl.

Die Werbung für die Vogelsche Publikation spielte anfangs noch mit den gängigen Hierarchien der Zeit. Napoleon III. (1808-1873), wohlbeleibter Kaiser der Franzosen, erschien als Gewährsmann der Banting-Kur (Allgemeine Rundschau 1865, Nr. 2 v. 8. Januar, 15; Augsburger Tagblatt 1865, Nr. 82 v. 23. März, 706). Im Ringen um den Stellenwert von Bantings „Schrift eines Laien in der Medicin über Medicin“ (Ueber das sogenannte Banting-System gegen Fettleibigkeit, Pfälzer Zeitung 1865, Nr. 270 v. 17. November, 1-2, hier 1) spiegelte sich noch die Abgrenzung der studierten Ärzte gegenüber breiten Teilen der mittleren Gesellschaftsschichten. „Wir empfehlen allen Lesern das kleine viel Lehrreiches enthaltende Schriftchen“ (Rez. v. Vogel, Corpulenz, Graevell’s Notizen für praktische Ärzte 8, 1865, 127-128, hier 128) – das war nicht nur Empfehlung, sondern unterstrich die soziale Stellung der Wissensexperten. Die Verlagswerbung kippte diese Perspektive, argumentierte vermehrt aus Sicht der potenziellen Käufer. Das Buch sei „jedem Laien völlig verständlich“ und zeige „fern von aller medicamentösen Behandlung“ wie man „von seinem größten Feinde, der Fettsucht, nebst allen ihren Folgeübeln sicher geheilt werden könne und müsse“ (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 18, 1864, Nr. 109 v. 19. April, 1872). Kurze Zeit später setzte der Verlag den Willen zur Selbsthilfe schon voraus, annoncierte eine „für an starker Körperfülle Leidende unentbehrliche Schrift“ (Nürnberger Anzeiger 1866, Nr. 110 v. 21. April, 3). Die 1867 bereits in zehnter Auflage vorliegende Broschüre erlaubte zudem ein Andocken an tradierte Formen des Fastens: Beim „Beginn der Frühlungscuren [sic!] wird von Neuem auf diese praktisch bewährte Heilmethode hingewiesen“ (Badischer Beobachter 1867, Nr. 92 v. 18. April, 4). Vogel bot Wissenschaft zur Selbstanwendung, ermutigte die Korpulenten zu Kur und Kauf. Der Leipziger Verleger Ludwig Denicke wies parallel Buchhändler auf die damit einhergehenden Absatzchancen hin: „Verwenden Sie sich, ich bitte, nach Kräften, wie ich es meinerseits an Anzeigen nicht fehlen lassen werde“ (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1866, Nr. 67 v. 4. Juni, 1253). Gesundheitliche Selbstoptimierung und Geschäftsinteressen harmonierten, die unsichtbare Hand des Marktes schien das Gute zu gewährleisten.

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Broschürenwerbung (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1866, Nr. 33 v. 19. März, 672; Julius Vogel, Korpulenz, 22. Aufl. bearb. v. J[osef] Goliner, Berlin 1897, I)

Die Vogelsche Broschüre lag 1878, zwei Jahre vor dem Tod des Autors in der fünfzehnten Auflage vor. Nach dem Tode des Hallenser Mediziners wurde sie von dem Berliner, später Erfurter Mediziner Josef Golimer in neuem Verlag fortgeführt. Stand anfangs Bantings Brief im Zentrum, so nahm die wissenschaftliche Handreichung zur Selbstkur im Laufe der Zeit immer mehr Platz ein. In den 1880er Jahren etablierten sich weitere, physiologisch ganz anders begründete Diäten, die von Golimer gebührend beachtet wurden. Aus der Vogelschen Banting-Broschüre wurde nun eine allgemeine wissenschaftliche Handreichung über den Kampf gegen die Pfunde (Julius Vogel, Korpulenz, 21. Aufl. bearb. v J[osef] Golimer, Berlin 1889; Dass., 24. Aufl., Berlin 1904). Noch 1922 erschien eine Neuauflage mit dem bezeichnenden Umschlagtitel „Wie man wieder schlank wird“ (Dass., 25. Aufl., Oranienburg 1922). Während es Vogel anfangs um eine Popularisierung der Liebigschen Stoffwechselphysiologie ging, propagierte Golimer praktikable Diäten. Der Weg ging von einer Aufklärung der Laien zwecks Anwendung von Wissenschaft zu einer Handreichung für die unmittelbare Anwendung. Das Resultat der Diät trat in den Vordergrund, die Begründung aber zurück. Wissenschaftspopularisierung etablierte Vertrauen in Wissenschaft als solcher.

Julius Vogels Broschüre blieb Marktführer, doch sie war keineswegs ohne Konkurrenz. Schon 1865 propagierte eine weitere Broschüre eine leicht modifizierte Banting-Kur, doch der verlegerische Erfolg blieb aus. Der Wiener Arzt Hermann Fischer versprach im gleichen Jahr die „Heilung der Fettleibigkeit“ durch ein verbessertes Banting-System (Morgen-Post 1865, Nr. 40 v. 9. Februar, 4), legte aber erst ein knappes Jahrzehnt später mit einem nur mäßig erfolgreichen Ratgeber nach.

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Nachfolgepublikationen im deutschen Sprachraum (Kölnische Zeitung 1865, Nr. 132 v. 13. Mai, 3 (l.); Neue Freie Presse 1874, Nr. 3675 v. 18. November, 12)

Fischer repräsentierte damit schon den wachsenden Dienstleistungsmarkt für Diäten. Prototypisch hierfür stand der Münchener Naturheilkundler und Sanatoriumsbesitzer Josef Steinbacher (1819-1869). Auch dieser veröffentliche 1866 eine modifizierte Version der Banting-Kur (Asthma, Fettherz, Korpulenz (Fettsucht), deren Wesen, Verhütung und Heilung durch das Naturheilverfahren mit besonderer Berücksichtigung des Bantings-Systems, Stuttgart 1866). Darin verband er Bantings diätetische Grundsätze mit seiner seit Anfang der 1850er Jahre praktizierten und seit Anfang der 1860er Jahre breit dargelegten „Regenerationskur“. Diese kombinierte, verwissenschaftlichte und ergänzte die Wasser- und Hungerkuren von Schroth und Vincenz Prießnitz (1799-1851). Steinbacher plädierte in der 60-seitigen Abhandlung entsprechend für die „Anwendung der Banting-Kur in Verbindung mit den den Stoffumsatz mächtig befördernden Mitteln, wie Dunstbad, feuchte Wärme, Verringerung der Flüssigkeitszufuhr, Bäder, Bewegung“ (Bad Brunnthal bei München, Augsburger Neueste Nachrichten 1866, Nr. 95 v. 7. Mai, 1068). Er plädierte zudem für eine nur begrenzte Flüssigkeitszufuhr, nahm damit schon Empfehlungen des Münchener Mediziners Max Joseph Oertel (1835-1897) vorweg, die sich 1884 als sog. Oertel-Diät etablierten. Steinbachers Broschüre war Belehrung und Warnung zugleich, unmittelbar an Laien gerichtet. Befriedigt stellte er eingangs der zweiten Auflage fest: „Viele haben durch einfachen Wechsel der Nahrungsmittel und Getränke ihre Schwerathmigkeit und Fettanhäufung verloren und fühlen sich – die Vorschriften auch ferner festhaltend wie neugeboren“ (Steinbacher, Asthma, 2. Aufl., Augsburg 1868, IV).

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Banting-Kuren unter ärztlicher Aufsicht (Kölnische Zeitung 1866, Nr. 104 v. 15. April, 4)

Doch dabei blieb es nicht, denn Steinbacher war seit 1863 eben auch Besitzer der bei München gelegenen Naturheilanstalt Brunnthal (Erich Ebstein, Steinbacher: Josef St., in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 54, Leipzig 1908, 460-463, hier 462). Diese therapierte ein auch internationales gutbürgerliches Publikum und warb mit wirksamen Erfolgen gegen Fettsucht (National-Zeitung 1866, Nr. 186 v. 22. April, 16). Steinbacher griff mit seinem Angebot die medizinische Kritik an einer zu strikten und einseitigen Banting-Kur auf, bot ärztliche Begleitung mit garantiertem Erfolg (Regensburger Conversations-Blatt 1866, Nr. 133 v. 9. November, 4). Bis zu seinen frühen Tod 1869 pilgerten Hunderte in seine Anstalt, um angeleitet ihre Korpulenz zu bekämpfen.

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Medikalisierung der Banting-Kur (Neuburger Wochenblatt 1869, Nr. 64 v. 27. Mai, 312)

In Brunnthal wurde die modifizierte Banting-Kur auch danach weiter angeboten, auch wenn sich das Dienstleistungsangebot nach einigen Jahren wieder auf die Kernelemente der Regenerativkur, also Dampf- und Sonnenbäder sowie Gymnastik konzentrierte. Ergänzt wurde dies durch neue modischere Angebote, etwa galvanische Kuren oder pneumatische Drucktherapien. Zwar ebbte die Dienstleistung Banting-Kur nicht so schnell ab wie die öffentliche Begeisterung 1865/66, doch Ärzte und Sanatorien reagierten auf die veränderte Nachfrage. Banting-Kuren wurden in den späten 1860er Jahren vielerorts angeboten, teils ergänzt durch Pillen und Elixiere, deren Wirkungsversprechen wohl größer war als ihre nachhaltige Wirkung (Nationalzeitung 1866, Nr. 266 v. 12. Juni, 10). Ende der 1870er Jahre boten im Deutschen Reich nur noch wenige Heilanstalten Banting-Kuren an, darunter Dr. Hackers Thalkirchener Sanatorium und die Dr. Rosenfeldsche Hydrodiätetische Heilanstalt in Berlin (Aerztliches Taschenbuch NF 18, 1878, s.p.).

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Bekämpfung der Korpulenz in und außerhalb klinischer Anstalten (Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878/79, 76)

Diese Engführung war Folge einerseits der Privatisierung der Banting-Diät via Ratgeber, anderseits aber der Spezialisierung der Kurmedizin. Aufgrund seiner vielgestaltigen kalten Säuerlinge war der böhmische Kurort Marienbad bereits Mitte des 19. Jahrhunderts für Gewichtsreduktionen bekannt. Diese Marktstellung wurde mit Angeboten modifizierter Banting-Kuren weiter ausgebaut. Der dortige Brunnenarzt Carl Samuel Schindler (1840-1901) veröffentlichte 1867/68 einschlägige Broschüren (Die Banting-Kur in Verbindung mit den Marienbader Quellen, Marienbad 1867; Die Reduktionskur zur Verhütung und Heilung der Fettleibigkeit und Fettsucht sowie ihrer Folgekrankheiten mit Bezugnahme auf Marienbad, Wien 1868) auch um eine kaufkräftige internationale Klientel weiter an Marienbad zu binden.

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Banting-Kur im Kurort Marienbad (Allgemeine Wiener Medizinische Wochenschrift 13, 1868, 136)

Mehrere Brunnenärzte überwachten die Banting-Kuren vor Ort. Mehr noch: Für Enoch Heinrich Kisch (1841-1918) hatte der Londoner Beerdigungsunternehmer nur etwas propagiert, was in Marienbad mit seiner „mehr animalischen Kost“ (Allgemeine Wiener Medizinische Wochenschrift 12, 1867, 227) auf Grundlage der Arbeiten Jakob Moleschotts (1822-1893) und Friedrich Theodor Frerichs (1819-1885) schon seit langem praktiziert wurde. Historische Narrative und behauptete Traditionen waren marktrelevant, wurden deshalb systematisch gepflegt. Davon profitierten nicht nur Sanatorien, sondern auch die einschlägigen Hotels: „In Klingers Hotel (dem feinsten unter Allen) wird an einem separaten Tische auch das Mittagsessen nach dem Banting-System um 1 fl. verabreicht; es besteht in Fischen, einem Entrée-Braten, Gemüse, zweiten Braten und einigen Compots – Suppe und Rindfleisch kommt an diesem Tische niemals an die Reihe“ (Aussiger Anzeiger 1867, Nr. 23 v. 8. Juni, 181). Marienbad sicherte auch dadurch seinen Ruf als Stelldichein kosmopolitischer Eliten, denn diese konnten hier kuren und entspannen, abspecken und konvenieren. Doch die Kritik an dieser „Anarchie“ war drastisch: „Die Quantitäten, so da konsumirt werden, sind unglaublich, und die Qualitäten unfasslich. Keine Spur eines diätetischen Regimes, keine Ahnung von diätetischer Selbstbeherrschung. Schindler, Begründer und Beherrscher der Banting-Kur in Marienbad, wo weilen deine Gläubigen, wo deine Unterthanen?“ (W[ilhelm] Schlesinger, Von Kurplätzen. I., Wiener Medizinische Wochenschrift 24, 1874, Sp. 799-802, hier 801). Marienbad blieb ein Zentrum für Entfettungskuren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, die Schindler-Barnayschen Marienbader Reduktionspillen und die Kischschen Lehrbücher über Korpulenz unterstrichen diesen Anspruch. Die Markenkraft der Banting-Kur trat gegenüber der Marke Marienbad zurück.

Die dritte Säule der Vermarktung der Banting-Kur bildeten schließlich Diätprodukte, wozu auch die während der Kur gereichten und in noch größerem Maße versandten Heilwässer zu zählen sind. Ab Ende 1865 gab es in Wien Banting-Zwieback zu kaufen, eine „jetzt so zeitgemäße Zwieback-Sorte“ (Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 229 v. 31. Dezember, 17). Typisch für die Marktbildung war der öffentlichkeitswirksame Streit über die Diätprodukte. Gewiss, Bantings Speisezettel enthielt „biscuits“. Aber die physiologische Erklärung der „low carb“-Diät hatte doch jedem Anwender klar gemacht, „daß Brod ihm Gift ist“ (Bantingiana, Das Vaterland 1866, Ausg. v. 28. Februar, 3). Doch wer wollte so beckmesserisch sein, wenn man gewohnt war, Brot in seinen Rotwein zu tunken? Nun gab es dazu eine gesunde Alternative, wurde das schlechte Gewissen durch ein einschlägig beworbenes Produkt beruhigt. Den Banting-Zwieback gab es jedenfalls noch bis mindestens Frühling 1866 (Konstitutionelle Volks-Zeitung 1866, Nr. 12 v. 18. März, 8). In Großbritannien wurden Banting-Gebäcke noch über Jahrzehnte angeboten (The Lancet General Advertiser 1877, Ausg. v. 4. August, s.p.).

24_National-Zeitung_1866_04_15_Nr174_p04_Der Kamerad_05_1866_p184_Diaetprodukte_Gebaeck_Biscuits_Banting_Emil-Thiele_Zwieback

Inhalt unklar – Trendprodukte mit Banting-Bezug (Nationalzeitung 1866, Nr. 162 v. 8. April, 11 (l.); Der Kamerad 5, 1866, 184)

Der Name „Banting“ war eben nicht nur bekannt, sondern gewann auch eine eigene Markenqualität. Deutsche Anbieter folgten dem Trend, boten 1866 ebenfalls Banting-Biscuits an. Parallel wurde „Banting“ auch für völlig andere Produkte verwendet. Banting-Halskragen bzw. Banting-Krawatten erheischten eben mehr Aufmerksamkeit als rein sachlich beschriebene Angebote (Figaro 13, 1869, Nr. 5 v. 30. Januar, 6). Diese für eine Konsumgesellschaft übliche reflexive Vermarktung, also das Anknüpfen an Bekanntes und ein damit verbundener Transfer auf andere Angebote, zeigte sich gar in der Miederwerbung der Pariser Madame Weiß. Frauen hätten ihre Leibesform zu kultivieren: „Die schönste und schlankeste Taille kann doch zur vollen Geltung erst durch das Mieder gelangen, und rascher als eine Banting-Cur wird ein gutes Mieder im Stande sein, eine corpulente Büste auf das Ebenmaß der Schönheit zurückzuführen“ (Neue Freie Presse 1867, Nr. 1101 v. 24. September, 9). In solchen Aperçus erkennt man die durchdringende Kraft neuer Ideen, hier solcher der Körperformung und -kontrolle.

Die Umwertung der Dicken und des dicken Körpers

Die Debatten über die Banting-Kur, ihre Wirksamkeit, ihre Gefahren und ihre Marktchancen blieben nicht folgenlos. Sie verstärkten eine seit Mitte des Jahrhunderts bestehende, sich im Fluss befindende Umwertung des Körpers und seiner Leistungsfähigkeit. Und sie übertrugen vornehmlich in den angelsächsischen Staaten bestehende Denkmuster nach Kontinentaleuropa und insbesondere in die deutschen Lande. Dadurch nahm die Akzeptanz eines korpulenten Körpers langsam ab, mochte eine tolerable Fülle auch noch erträglich erscheinen. Festzuhalten ist, dass die Pathologisierung des Korpulenten eben nicht durch die Medizin dieser Zeit vorangetrieben wurde. Movens war vielmehr eine bürgerliche Öffentlichkeit, die durch Marktangebote bisher kaum bekannte Wahlmöglichkeiten erhielt. Mediziner und Physiologen zogen nach, gewiss. Doch sie waren immer auch Getriebene von Öffentlichkeit und Markt. Die praktischen Konsequenzen der Stoffwechselphysiologie wurden von Wissenschaftlern eben langsamer gezogen als von Praktikern und Betroffenen.

Korpulenz war in der Zeit des Übergangs vom Fasten zur Diät anfangs nichts Schlimmes, sondern Naturgeschehen: „Ein ‚Wohlgenährter‘ wurde bis heute für einen Mann gehalten, der ein warmes Herz und gutmüthige Sinnesart besitzt; man achtete ihn der Freundschaft werth, denn ein ‚dicker‘ Freund war von jeher gleichbedeutend mit ‚treuer‘ Freund.“ Korpulente, so die aufstrebende Statistik, begingen weniger Verbrechen, neigten weniger zum Selbstmord. „So kann man denn die korpulenten Leute weit gediegenere Grundpfeiler der staatlichen Ordnung nennen als die mageren, zumal da letztere sich weit schneller revolutionären Ideen und Handlungen anschließen sollen als die ersteren“ (beide Zitate n. Diät, 1865, 44). Nun, es sollte noch dauern, bis sich das Bild des dürren fanatischen Anarchisten und Bombenlegers in der Öffentlichkeit etablierte, gefolgt vom kaum weniger bedrohlichen Anblick der spindeldürren Frauen mit ihren Ansprüchen auf universitäre Bildung und Wahlrecht. Doch die Praxis der Banting-Kur stand für Bewegung innerhalb des Bürgertums. Korpulenz wurde zunehmend als Schwäche gedeutet, nicht nur körperlich, sondern insbesondere als eine des Charakters. Der enge Konnex mit dem Phlegma war kaum mehr wegzudenken, Körperkontrolle und Leistungsfähigkeit rückten enger zusammen. Die Trennung von natürlicher Wohlbeleibtheit im Alter und einer Fettleibigkeit schon in jüngeren, geschäftstüchtigern Jahren erlaubte allerdings unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber den „ungehörigen Fettmassen“ (Bock, Recept, 1866, 151).

25_Fliegende Blaetter_044_1866_p104_Koerper_Korpulenz_Buergertum

Der dicke Bürger kritisch betrachtet (Fliegende Blätter 44, 1866, 104)

Die Banting-Manie stand für Selbstreflektion innerhalb des Bürgertums. Wirtschaftlich hatte man den Adel längst überholt, Bildung und Nationalstolz prägten es, die Übernahme auch der politischen Macht stand scheinbar kurz bevor. Disziplin war Bürgerpflicht, nicht mehr fremdbestimmt, wie bei Rekruten, sondern selbstbestimmt. Ein vorzeigbarer Körper war Teil dieses Denkens, war Grundlage der beträchtlichen Resonanz der Banting-Kur. Das zeigt sich insbesondere an der Peripherie der bürgerlichen Gesellschaft, etwa am Zierrat des Bürgers, nämlich seiner Gattin. Bezeichnend waren etwa Berichte über aufgelöste Verlobungsversprechen gegenüber dicken Damen. Ein Verlobter begründete dies brieflich: „Sie sind in ein Ungeheuer verwandelt und flößen mir Grauen ein. Ich habe eine Rose geliebt, aber keinen Kürbiß, keine Biertonne, keinen Kartoffelberg. Ihr Gesicht glich früher einer Lilie, jetzt ist es ein Schinken, der in Paradeissauce schwimmt. Selcher und Brauer werden sich gewiß um solche Reize reißen. Ich mag aber mit keinem keuchenden Fleischberg das Lager theilen.“ Der Verlobte fuhr zurück nach Hause – und in einem weiteren Schreiben stand abschließend die Zeile: „Brauchen Sie die Banting-Hungerkur, vielleicht bekommen Sie wieder ein menschliches Aussehen“ (beide Zitate n. Konstitutionelle Volks-Zeitung 1866, Nr. 50 v. 9. Dezember, 6). Solch strikte Äußerungen waren gewiss ungewöhnlich, doch sie spiegelten die möglichen Konsequenzen eines Lebens abseits „größter Mäßigkeit im Essen und Trinken“ (Felix Balden, Die weibliche Schönheit, Politische Frauen-Zeitung 1870, Nr. 6 v. 6. Februar, 174-175, hier 174). Parallel etablierte sich die schon von Banting erwähnte öffentliche Diskriminierung dicker Bürger durch unterbürgerliche Schichten: Man fühlte sich getroffen, wenn man „auf der Straße von Hinzen und Kunzen auf den (allerdings corpulenten) Bauch geklopft wird und [man, US] hören muß: ‚Nein, werden Sie dick!‘ oder wenn ihn die Müllers und Schulzes mit den Redensarten verfolgen: ‚Sie müssen nach Carlsbad‘; ‚Wollen Sie denn nicht die Banting’sche Entfettungscur vornehmen?‘“ ([Carl Ernst] Bock, Strafpredigt gegen rücksichtslose Leute. 1. Für Die im Trink- und Speisehause, Die Gartenlaube 1866, 814-816, hier 814-815).

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Selbstekel angesichts fehlender Selbstkontrolle (Fliegende Blätter 53, 1870, 205)

Auch im Theater, dieser Bildungs- und Unterhaltungsstätte, wurde Körperlichkeit nun anders bewertet. Ein Wiener Kritiker echauffierte sich einschlägig: „Bei wie viel Pfund Körpergewicht hört jede Nachsicht auf? Darf ein Theaterdirector zu einer Stimme zwei bis drei Centner Zuwage geben? […] Eine Sängerin, die wie eine Bombe kugelrund und gefüllt und zum Platzen reif, wie diese, uns auf das Theater geschleudert, d.h. gerollt wird?“ (Frank, Zu dick!, Wiener Sonn- und Montag-Zeitung 1869, Nr. 72 v. 16. August, 1-2, hier 1). Eine Banting-Kur schien unverzichtbar. Die Folgen für viele Sängerinnen und Schauspielerinnen waren Hungerkuren – die erst später zu einem öffentlichen Spektakel männlicher Hungerkünstler werden sollten. Den Zeitgenossen waren die Konsequenzen für die Betroffenen klar, auch wenn sie humoristisch umtänzelt wurden: „Möge doch die Künstlerin Maß zu halten verstehen und nicht in dem Wunsche, stets in schlanker ätherischer Schöne dahinzuschweben, sich soweit vergessen, daß zuletzt einer ihrer Verehrer die klagende Kunde den Freunden bringen wird: ‚Boulotte ist verloren; heute sind blos einige kleine geisterhafte Fragmente von ihr vorgefunden worden. Auf dem Toilett-Tischchen der Unglücklichen lag ein Buch: ‚Banting, oder die radicale Embonpoint-Cur‘“ (Aus der Wiener Theaterwelt, Die Presse 1867, Nr. 314 v. 15. November, 14). Kaum verwunderlich, dass parallel dicke Damen nicht nur im Prater, sondern auf vielen Volksfesten präsentiert wurden (M. A. Grandjean, Wiener Silhouetten, Tagespost [Graz] 1865, Nr. 155 v. 9. Juli, 1). Dicke wurden dem Pöbel, den Ungebildeten vorgeführt – während die bürgerliche Norm zunehmend dünnere, nicht ausufernde Formen forderte. Banting-Kuren erlaubten die Umkehr, doch zum Ideal wurde zunehmend Prävention, moderate Ernährung und eine entsprechende Denkweise. Es ging bei der Banting-Kur nur vordergründig um die körperliche Hülle. Korpulente konnten “äußerlich, wie unsere Kartoffelmenschen, recht wohlgenährt aussehen“ (Müller, 1865, 78), waren innerlich aber Schwächlinge. Die Banting-Kur war ein Wegmarker in eine effiziente und gesunde Welt. Doch sie erforderte Innenleitung als „zuverlässige Schildwache“ (Josef Weil, Diätetisches Koch-Buch, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Freiburg i.Br. 1873, 219). Dies gelang nur ansatzweise, nicht nur aufgrund des Abebbens des „Bantingismus“ in den späten 1860er Jahren. Zivilisationskritische Töne waren eine Folge dieser am Körper manifesten Brüchigkeit bürgerlichen Daseins. Denker wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) reagierten hierauf.

27_Fliegende Blaetter_078_1883_p184_Diaet_Koerper_Korpulenz_Ratgeber

Eine Dame, aus der Zeit gefallen (Fliegende Blätter 78, 1883, 184)

Verwissenschaftlichung: Die Physiologie der Korpulenz

Doch nicht nur Philosophen reagierten. Für Naturwissenschaftler war Banting ein Ärgernis, zugleich aber eine Chance. Wissenschaft ist ein Modus der Umwandlung von Nicht-Wissen in bezahlte Forschung. Entsprechend beließen es die vermeintlichen Experten nicht bei Schmähungen und Vorsichtsmaßregeln. Sie sahen durchaus die Leerstellen ihres Wissens, wussten, dass die Heilkunde trotz aller Fortschritte, „noch heute mehr ein Wissen und Denken als ein Können und Handiren ist“ (Paul Niemeyer, Physikalische Diagnostik, Erlangen 1874, 83). Die Banting-Kur war eine Herausforderung, zumal für die weltweit führende Münchener Schule der Physiologie mit ihrem Vorreiter Justus Liebig. Sie bestätigte einerseits deren Kernannahmen, war in gewisser Weise Höhepunkt des imaginären Kultes von animalischem Eiweiß und Fleisch. Auf der anderen Seite zeigte die Diät-Praxis, wissenschaftlich ja ein Massenexperiment, dass die Körperentwicklung keineswegs so einfach war, wie diese mit der Maschinenmetapher der Physiologie beschrieben wurde.

Die Aufgabe des Arztes war demnach ähnlich der eines Lokführers: „Er muß den Verbrennungsproceß, welchem unser Körper beständig ausgesetzt ist, bis zu dem Grade steigern, bei welchem auch das im Uebermaaß vorhandene Fett verbrannt wird. 2) Er muß die Zufuhr von neuem Brennmaterial so lange einschränken, bis der Ueberschuß des angehäuften Fettes durch die Verbrennung verzehrt ist“ (Niemeyer, 1866, 29). Die Banting-Kur verringerte nun die Menge der sog. Respirationsstoffe zugunsten der sog. plastischen Stoffe – oder, im uns besser bekannten Duktus, die Menge der Kohlenhydrate und Fette zugunsten des Eiweißes. Beide Stoffklassen hatten nach damaliger Ansicht höchst unterschiedliche Aufgaben, die mit den sprechenden Begriffen eingefangen wurden. Die plastischen Stoffe dienten dem Körperaufbau, schufen Muskeln, stärkten die Kraft des Körpers. Die Respirationsstoffe hatten dagegen die Aufgabe, den Körper, die Atmung selbst am Laufen zu halten, die Maschinerie zu schmieren (Vogel, 1864, 35-37). Doch schon die Nutzung derartiger Sammelbegriffe dokumentiert die nur geringen Detailkenntnisse über Fettsäuren, Aminosäuren oder der Saccharide, ganz zu schweigen von Mineralstoffen und den noch nicht bekannten Vitaminen. Die Banting-Kur popularisierte das einfache Grundschema und die damit verbundenen Wertungen: Seither “theilt bald jeder Laie die Nährstoffe so ein, wie es die Chemiker, namentlich Liebig, schon vor vielen Jahren gethan und sagt von einer Classe der Nährstoffe ‚sie geben Kraft‘, von der anderen ‚sie machen fett‘“ (Joseph Weil, Abhandlung über die Krankheiten des Magens, Constanz 1868, 41).

Die Wirksamkeit der Banting-Kur konnte dadurch einfach erklärt werden. Erhöhte Eiweißzufuhr bei gleichzeitiger Reduktion der Kohlenhydrate und Fette änderte deren Relation, zwang den Körper, die plastischen Komponenten zu stärken. Daher wurde der Stoffwechsel intensiviert, mehr Sauerstoff in den Körper gezogen, aufgespeichertes Fett dadurch verbrannt. Kohlenhydrate konnten dieses ansatzweise ersetzen. Entsprechend musste das Ernährungsregime länger beibehalten werden, zumal sich der Prozess dann beschleunigte. Mehr Eiweiß führte zu vermehrtem Fettabbau, geringere Kohlenhydratversorgung verringerte den Ersatz. „Auf diese Weise steigert sich nach und nach Alles, um den wunderbaren Effekt hervorzubringen“ (Carl v. Voit, Ueber die Theorien der Ernährung der thierischen Organismen, München 1868, 33 – auch zuvor). Die innere Dynamik dieser Stoffwechselprozesse erklärte die Gefahren einer forcierten Diät und den Ruf nach ärztlicher Konsultation (Ferdinand Francken, Ein Beitrag zur Lehre von der Blutgerinnung im lebenden Organismus und ihre Folgen, Dorpat 1870, 69).

Doch diese simple Mechanik entsprach einem Modelldenken, das schon bei vielen Tierexperimenten nicht klappte. Die Vorgänge beim Stoffersatz waren unklar, insbesondere die Beziehung zwischen Kohlenhydraten und Fett warf Fragen auf. Warum unterschiedliche Stoffgruppen, wenn sie doch scheinbar gleiche Funktionen besaßen? Warum ein künstlicher Eingriff in die von der Natur doch so trefflich eingerichteten Regelkreise? Warum die „goldene Mittelstraße“ (C. Ludwig, Vegetarier und Bantingisten. Die Nothwendigkeit diätetischer Versuche am Menschen, Im neuen Reich 1, 1871, T. II, 601-611, hier 602) einer Mischkost verlassen? Warum keine individuell erstellten Diäten, passend für den Einzelnen? (Friedrich Wilhelm Beneke, Grundlinien der Pathologie des Stoffwechsels, Berlin 1874, 71). Solche Fragen kamen nicht nur von praktischen Ärzten, sondern auch von Physiologen. Die Banting-Kur habe ihre Meriten, doch die „Banting-Propaganda“ (Ders., Balneologische Briefe zur Pathologie und Therapie der constitutionellen Krankheiten, Marburg/Leipzig 1876, 69) führe in die Irre. Eingriffe in die Lebensprozesse würden angesichts begrenzten Wissens „immer auf Kosten der Gesundheit und Leistungsfähigkeit“ (Karl Reklam, Lebensregeln, Berlin 1877, 62) gehen. Die Diskussion innerhalb der Wissenschaft folgte damit in gewisser Weise dem Geschehen in der Diät-Praxis, wo die Banting-Kur zunehmend seltener angewandt wurde. Die Bürger lernten mit den neuen Wahlmöglichkeiten umzugehen, lernten vorsichtiger zu werden, mochte das Körperfett auch schwinden „wie der Schnee vor der Märzensonnen“ (Fedor F. Erisman, Gesundheitslehre für Gebildete aller Stände, München 1878, 199).

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Dem Fett auf der Spur: Propagierung der Stoffwechselversuche Carl Voits (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1884, Nr. 73 v. 27. März, 1472 (l.); Fliegende Blätter 81, 1884, Nr. 2037, Beibl., 5)

Parallel wurde die physiologische Grundlagenforschung intensiviert (H[ermann] Immermann, Fettsucht in: H[ugo] v. Ziemssen, Handbuch der Speciellen Pathologie und Therapie, Bd. 13, T. 2, Leipzig 1876, 283-414). Carl von Voit (1831-1908) veröffentlichte die Ergebnisse seiner langjährigen Versuche schließlich 1881 (Handbuch der Physiologie des Gesammt-Stoffwechsels und der Fortpflanzung, Leipzig 1881), schob 1884 noch Teilabdrucke seiner Studien zur Fettablagerung nach. Er attestierte darin Vogel eine „ungenügende Erklärung“ (ebd., 317, FN 1), doch dieses Verdikt galt auch seinen eigenen früheren Ausführungen. Der Stoffwechsel war offenkundig komplexer als zu Bantings Zeiten angenommen, vor allem die Interaktion von Fett und Kohlenhydraten unterminierte das simple Ideengebäude Liebigs, auch wenn sie den Gesamtbau nicht zum Einsturz brachte. Die Quintessenz wurde rasch in die Öffentlichkeit getragen: „Durch Kohlenhydrate […] wird direct kein Fett gebildet, wol aber durch seinen Einfluß Fett aus dem Eiweiß abgespaltet. Fett, in richtigem Maße genossen, begünstigt den Fleischansatz und verhindert das Zustandekommen der Fettleibigkeit“ (Banting und Ebstein, Neue Freie Presse 1883, Nr. 6851 v. 23. September, 1-2, hier 2). Die praktischen Konsequenzen für Korpulente waren offenkundig: „Sie dürfen wieder Brod, Gemüse, Butter, Eier, Lachs u. s. w. essen. Professor Voit in München, einer unserer ersten Physiologen, hat nachgewiesen, daß diese Nahrungsmittel durchaus nicht in dem Maße die Fettbildung begünstigen, wie man früher angenommen. Gemischte Kost ist also auch für die Fettleibigkeit die zuträglichste“ (Durlacher Wochenblatt 1882, Nr. 144 v. 7. Dezember, 2).

29_Allgemeine Zeitung_1882_10_13_Nr286_Beil_p4214_Korpulenz_Ebstein_Diaet_Banting

Diese Ergebnisse bedeuteten nicht das Ende der Banting-Kur. Doch sie ergänzten und ersetzen sie, just weil sie einseitig und wirksam war: „Die Bantingkur stellt eben zu große Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des fettleibigen Menschen“ (Emil Pfeiffer, Die Corpulenz und eine neue Cur derselben, Industrie-Blätter 20, 1883, 3-4, hier 3). Voit selbst empfahl sie, doch sollte man nach ersten Wirkungen in einer zweiten Phase neben dem Eiweiß auch verstärkt Kohlenhydrate verzehren. Auf der differenzierteren physiologischen Grundlage erhöhte sich die Zahl wissenschaftlich fundierter Diäten Anfang der 1880er Jahre rasch. Die Oertel-Kur bzw. die praktisch deckungsgleiche Schweninger-Kur empfahlen Fett- und Flüssigkeitszufuhr zu vermindern. Die physiologisch und klinisch deutlich breiter abgesicherte Ebstein-Diät zielte auf möglichst wenig Kohlenhydrate, erlaubte aber Fette. Diese pluralen Diäten konkurrierten im medizinischen Markt, riefen anfangs auch neuerliche Diätmoden hervor. Die Konsumenten nutzten diese, waren zugleich überwältigt: „Montags wird gebantingt, / Dienstags wird vegetarianert, / Mittwochs geebsteint, / Donnerstag geörtelt, / Freitags geschwenigert und die Sonnabende halte ich mir vorläufig noch frei für die nächste Entfettungsmethode, die doch über kurz oder lang entdeckt werden wird. So habe ich wenigstens noch die Sonntage für mich und führe an ihnen ein menschenwürdiges Dasein“ (Schmauser, Ueber Selbst-Entfettung, Kladderadatsch 37, 1884, 146).

An die Bedeutung der Banting-Kur und der Banting-Manie der 1860er Jahre konnten diese neuerlichen Moden jedoch nicht ansatzweise anknüpfen. Diese erste Diät war noch umfassend, verband virtuelle und reale Körper, koppelte Physiologie und Wohlgeschmack. William Bantings Kur gegen Korpulenz unterstrich noch eindringlich den janushaften Charakter von Essen und Ernährung, das mit der Spezialisierung der Wissenschaften immer stärker auseinanderanalysierten Wechselspiel von Natur und Kultur. Die erste Diät war Teil des Aufstiegs eines meritokratischen Bürgertums, das nicht mehr allein aufgrund ausgeprägteren Geschäftssinns und höherer Bildung gesellschaftliche Führung beanspruchte, sondern auch wegen leistungsfähigerer, gepflegteren und repräsentativerer Körper. Die Banting-Kur war Kind einer Konsumkultur, die nicht nur Güter, sondern auch Heil und Glück versprach, die dies in immer neue Dienstleistungen und Güter ummünzte. William Banting öffnete mit seinem „Letter on Corpulence“ 1863 aber auch die Pforte in eine neue Welt der Körpermodellierung und Körperkontrolle, in eine Welt des unausgesprochenen Zwangs, des Wettbewerbs um relevante Äußerlichkeiten. Fast 160 Jahre ist dies her, doch auch Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin, stehen im breiten Schlagschatten dieser Vergangenheit.

Uwe Spiekermann, 30. März 2022

Das Scheitern der „guten“ Bakterien: Die Acidophilusmilch und der Reformjoghurt Saya

Bakterien sind Krankheitserreger, sind Feinde des Menschen. Das war das Credo der Mikrobiologie, der Bakteriologie, als sie seit den 1870er Jahren ihren raschen Siegeszug begann. Geleitet von den Ideen und der praktischen Arbeit von Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910) wurden zahlreiche Infektionskrankheiten auf ihre kausalen Ursachen zurückgeführt. Der Mensch war offenbar Angriffspunkt eine Mikrowelt des Schreckens, denn Bakterien konnten zu Milzbrand und Cholera, Typhus und Paratyphus, Tuberkulose und Pest, Lungenentzündungen und Keuchhusten, Scharlach und Diphterie, Fleckfieber und Ruhr, etc. führen (Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890-1933, Göttingen 2009). Immer weitere Einbruchsschneisen wurden im späten 19. Jahrhundert entdeckt, der Blick auf die bakteriellen Erreger von Tier- und Sexualkrankheiten geweitet.

Die kausale Koppelung von Bakterien und Krankheiten schuf nicht nur Klarheit, sondern erlaubte auch Gegenmaßnahmen. Impfstoffe wurden entwickelt, wappneten große Gruppen gegen die drohenden Gefahren, verhießen den Sieg über den imaginären Feind (Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017). Bauten, Infrastrukturen und Versorgungsketten konnten zielgerichtet umgestaltet werden. Die neue Wissenschaft der Hygiene begleitete dies, gab Ratschläge für persönliche Gefahrenminderung. Neue Sicherungssysteme verbesserten die Alltagsversorgung, die bakteriologische Milch- und Fleischbeschau waren hierbei Vorreiter. Parallel zerbrachen tradierte Vorstellungen von Krankheit und Körper, wurden die Menschen in einen neuartigen Bezug zur Natur gesetzt (Philipp Sarasin, Die Visualisierung des Feindes. Über metaphorische Technologien der frühen Bakteriologie, Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, 250-276). Das Unsichtbare und Untergründige wurde bewusst, das Geschehen in Luft und Wasser, Darm und Zellen ward öffentlich thematisiert. Wichtiger noch: Zahllose neue Märkte, Dienstleistungen und Produkte entstanden, schufen Wachstum und Wohlstand durch zivile Vernichtung.

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Markt versus Bakterien: Anzeige für ein aseptisches Mundwasser 1890 (Berliner Tageblatt 1890, Nr. 163 v. 30. März, 22)

Und doch, trotz aller Erfolge trogen viele mit dem Aufstieg der Mikrobiologie verbundene Hoffnungen. Viele Krankheiten konnten mit diesem Wissen nicht erklärt und eingedämmt werden. Aseptische Reinheit konnte wiederum eine Krankheitsursache sein, wie die von sterilisierter Säuglingsmilch hervorgerufene Möller-Barlow-Krankheit schlagend belegte. Zudem blieben die Mikrowelten trotz aller Entdeckungen großenteils unbekannt, Vitamine und Viren harrten noch ihrer Entdeckung.

Joghurt oder das Aufkommen des „guten“ Bacillus bulgaricus

Zugleich zeigte sich, dass Bakterien nicht allein Feinde, sondern auch unverzichtbare Bestandteile eines gedeihlichen und gesunden Lebens waren. Dies jedenfalls war die Quintessenz weiterer, vor allem vom französisch-russischen Bakteriologen Elie Metchnikoff (1845-1916) popularisierten Forschungen (Elias Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. Eine optimistische Philosophie, Leipzig 1904; Ders., Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung, München 1908). Er war ein gläubiger Naturwissenschaftler, der mittels genauer Kenntnis der Mikrowelten Entzündungen abmildern, Stoffwechselprozesse optimieren und das Leben verlängern wollte. Wohlbedacht konnten Bakterien auch Helfer werden, Heinzelmännchen des Wohlbefindens und der Gesundheit. Das bis heute bekannteste Beispiel hierfür war der von Metchnikoff propagierte Joghurt (Scott Podolsky, Cultural Divergence: Elie Metchnikoff’s Bacillus Bulgaricus Theraphy and His Underlying Concept of Health, Bulletin of the History of Medicine 72, 1998, 1-27).

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Lobpreis der „guten“ Bakterien (Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 2, Beibl. 2)

Joghurt, so Metchnikoff und auch andere Forscher des Pariser Institut Pasteurs, enthielt eine Bakterienart, die er nach der Herkunft des untersuchten Fermentes Bacillus bulgaricus nannte. Verzehr von Joghurt führe diese ins Körperinnere ein. Im Darm nähmen sie dann den Kampf mit den anderen, tendenziell „bösen“ Bakterien auf, hielten sie nieder. Nachschiebender Konsum verhindere „Darmfäulnis“ und Verstopfung – und all die gravierenden Folgen einer Verseuchung des Körpers. Bulgarien war dabei nicht nur Chiffre für die Weisheit des Ostens und die Herkunft des Untersuchungsmaterials. Es stand auch für eine noch intakte bäuerliche Kultur, für einen anderen, gleichsam natürlichen Lebensstil. Entsprechend langlebig waren die bulgarischen Bauern, erreichten teils 80, teils über 100 Lebensjahre. All das waren Mythen, doch sie entsprachen einer Sehnsucht im Fin de Siècle, in den von Konventionen und dem Markt geprägten Großstadtkulturen des Westens. Breite Debatten schlossen sich an, durchaus im Einklang mit positiver Eugenik. Metchnikoff jedenfalls gab einfache Antworten auf komplexe Fragen: Ein gesundes langes Leben erfordere einen entsprechenden Lebensstil. Doch im Kern bedeutete dies den Kauf und steten Verzehr eines neuen, zuvor unbekannten Produktes. Es galt nicht anders zu essen (und zu leben), sondern es galt anderes zu essen, vor allem aber zu kaufen. Den Rest erledigten die „guten“ Bakterien.

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Joghurt zwischen „Gesundheitsmilch“ und Ferment für den Hausgebrauch (Vorwärts 1912, Nr. 144 v. 23. Juni, 19 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1913, Nr. 305 v. 18. Juni, 6)

In ganz Europa war dies Auftakt für intensive Forschung einerseits, breitgefächerte Marktbildung anderseits (Uwe Spiekermann, Twentieth-Century Product Innovations in the German Food Industry, Business History Review 83, 2009, 291-314, hier 300-302). Joghurt etablierte sich als Functional Food, also als Hybrid von Nahrung einerseits, Arznei anderseits (Uwe Spiekermann, Functional Food: Zur Vorgeschichte einer „modernen” Produktgruppe, Ernährungs-Umschau 49, 2002, 182-188, hier 185-186). Ab 1908 boten zahlreiche städtische Molkereien Joghurt einem vornehmlich bürgerlichen Publikum an. Hinzu kam ein breiter Markt der Selbstbereitung: Zahlreiche Versandgeschäfte offerierten Joghurtkulturen und -brüter, Glasfläschchen und Rezepte inklusive. Joghurtprodukte folgten, etwa mit „gutem“ Joghurt vermischte Butter oder aber einschlägig angereicherte Bonbons oder Käsevarietäten. Marktdifferenzierung also, wie es sie schon bei Schokolade oder Nährsalzen gegeben hatte. Auch bei den Milchprodukten hatte es Vorläufer gegeben, sei es bei der Einführung von Kumys, sei es bei der Etablierung von Kefir. Joghurt stand eben nicht allein, sondern war Teil einer tief gefächerten Gruppe von Sauermilchprodukten, Kommerzimporte vorrangig aus Russland und dem Orient, die nun allesamt als „Kampfstoffe gegen die Darmfäulnis“ (M[ax] Düggeli, Die Mikroflora der Sauermilcharten und deren Verwendung, Schweizerische Zeitschrift für Allgemeine Pathologie und Bakteriologie 1, 1938, 273-312, hier 282) galten. Joghurt konnte sich allerdings deutlich breiter etablieren und blieb als Naturjoghurt ohne Zucker und Fruchtzubereitung Teil des urbanen Konsumangebots vor dem Ersten Weltkrieg.

Damit war keine grundlegende Änderung der Ernährungsweise verbunden. Joghurt blieb Ergänzungsspeise, vorwiegend im Sommer. Das lag zum einen an dem üblichen Wildwuchs bei den Angeboten: „Erfolgen standen Versager gegenüber. Ein objektives Urteil war um so schwerer zu erlangen, weil die verschiedensten Sauermilchen unter dem Namen Yoghurt benutzt wurden und weil Laien und Kurpfuscher sich am Kampfe beteiligten“ (Julius Kleeberg, Die therapeutische Bedeutung von Yoghurt und Kefir in der inneren Medizin, Deutsche Medizinische Wochenschrift 53, 1927, 1093-1095, hier 1093). Kontrollverfahren wurden entwickelt, Nahrungsmittelchemiker unterstrichen ihren Anspruch als Wächter des Marktes und Beschützer der Konsumenten. Einzelne Marken etablierten sich, am bekanntesten gewiss der in Lizenz in vielen Großstädten produzierte Dr. Axelrod Joghurt. Auch das Versandgeschäft konzentrierte sich nach dem kurzen Boom auf wenige verlässliche Anbieter, etwa die Münchner Firma Dr. Klebs. Joghurt stand demnach für eine erfolgreiche Nahrungsmittelinnovation, mehr nicht. Die nutritive Revolution war ausgeblieben, der Siegeszug des „Guten“ blieb verhalten.

Der Bacillus acidophilus: Ein konkurrierendes „gutes“ Bakterium

Warum siegte die Trägersubstanz der „guten“ Bakterien nun nicht? Trägheit, Kosten, Verfügbarkeit, Geschmack? All dies, gewiss. Doch im Kern bestand Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Versprechungen. Verständlich angesichts der offenkundige Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Bulgarien mochte für manche eine Bauernidylle sein, doch die Öffentlichkeit sah es als ein rückständiges Land mit einem wankelmütigen König, als Unruhestifter auf dem Balkan. Weniger bekannt, doch zunehmend wichtiger wurden bakteriologische Rückfragen an das von Metschnikoff präsentierte Wirkungskonzept.

Einerseits ergaben Dutzende von Untersuchungsreihen, dass die vorhergesagte Harmonie im Darm auch nach regelmäßigem Joghurtverzehr nicht eintrat. Anderseits häuften Bakteriologen und Kinderärzte immer genauere Kenntnisse über die menschliche Darmflora an (Forschungsüberblick bei Leo F. Rettger und Harry A. Cheplin, Treatise of the Transformation of the Intestinal Flora with special Reference to the Implantation of Bacillus Acidophilus, New Haven 1921, 1-10). Einen Durchbruch bildete schon 1900 die Entdeckung eines neuen Darmbakteriums durch den österreichischen Pädiater Ernst Moro (1874-1951) (Ueber den Bacillus acidophilus, Jahrbuch für Kinderheilkunde 52, 1900, 38-65). Er benannte es plakativ Bacillus acidophilus, also „säureliebendes Milchbazillus“. Säurefest besiedelte er den menschlichen Darm. Eine damit versehene, „geimpfte“ Milch hatte offenbar Effekte auf Gesundheit und Wohlbefinden (Karl Leiner, Die Bakterien als Erreger von Darmerkrankungen im Säuglingsalter, Wiener klinische Wochenschrift 13, 1900, 1200 -1204, hier 1203). Doch eine genaue Scheidung und Isolation der Bakterienstämme blieb äußerst schwierig, so dass viele Forscher weiterhin von der Identität der Bulgaricus- und Acidophilusbakterien ausgingen (P.G. Heinemann und Mary Fefferan, A Study of Bacillus Bulgaricus, Journal of Infectious Diseases 6, 1909, 304-318, insb. 317-318).

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Lactobacillus acidophilus unter dem Mikroskop sichtbar gemacht (Damm, 1929, 1129)

Die Wissenschaft folgte damit der Alltagspraxis. Sauermilch war auch in Mitteleuropa eine häuslich hergestellte Alltagsspeise. Für Dickmilch, Setzmilch oder Schlippermilch goss man ungekochte Milch in ein Glas oder eine Schale, stellte sie an die (mit Bakterien durchsetzte) Luft oder fügte einen Schuss der noch verfügbaren restlichen Dickmilch zu. Auch Buttermilch gewann um die Jahrhundertwende wachsende Bedeutung als Säuglingskost. Doch Mikrobiologie war Klassifikation, Ausdifferenzierung, Scheidekunst und Isolation. Die im Alltag undifferenziert genutzten Einzelstämme sollten in ihren jeweiligen Wirkungen verstanden werden, so wie dies auch bei Nahrungsstoffen und Pharmazeutika seit längerem üblich war.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg setzten insbesondere amerikanische Forscher auf breit angelegte Tierversuche mit kontrollierten Testdiäten. Sie legten nahe, dass Metchnikoffs optimistische Annahmen trogen, denn der Bacillus bulgaricus wurde durch die körpereigenen Verdauungssäfte sicher beseitigt, konnte per Joghurt daher nicht zur Walstatt im Darm eilen. Anders jedoch der Bacillus acidophilus. Ca. 90 % der säurefesten Kleinlebewesen überwanden die Körperbarrieren (Rettger und Cheplin, 1921). Die Frage nach den „guten“ Bakterien war damit entschieden, wenngleich noch Anfang der 1920er Jahre über deren Leistungsfähigkeit gerungen wurde (Anthony Bassler und J. Raymond Lutz: Bacillus Acidophilus. Its very limited value in intestinal disorders, Journal of the American Medical Association 79, 1922, 607-608; Nicholas Keploff und Clarence O. Cheney, Studies on the Therapeutic Effect of Bacillus Acidophilus Milk and Lactose, ebd. 79, 1922, 609-611).

Derweil arbeitete man in Yale und in anderen Orten bereits an der kommerziellen Nutzung der neuen Erkenntnisse. An die Stelle der Joghurt-Milch sollte eine Acidophilus-Milch treten. Dazu war es erforderlich, Reinkulturen zu produzieren und den Produktionsprozess ohne Luftzufuhr ablaufen zu lassen, da andernfalls Verunreinigungen mit schneller wachsenden Fremdbakterien auftreten würden. „Indess, diese Schwierigkeiten sind durch die Anwendung von geeigneten Mitteln, mit Hilfe eines sorgfältigen und fähigen Arbeiters und durch strenge Beaufsichtigung seitens eines geübten Bakteriologen erfolgreich überwunden worden“ (Leo R. Rettger, Milchsäurebakterien mit besonderer Bezugnahme auf den Bacillus Acidophilus Typus, Welt-Kongress für Milchwirtschaft, 1923. Auszug, U.S. Department of Agriculture, Abstract No. 188, 2). Deutlich erkennt man hieran die zunehmende Verwissenschaftlichung der Nahrungsmittelproduktion: Dickmilch konnte jeder herstellen, Joghurt bedurfte der Milchexperten oder der bakteriologischen Versandgeschäfte, Acidophilusmilch konnte dagegen vom Konsumenten lediglich gekauft werden, erforderte akademisch gebildete Fachleute. Doch am Ende sollte nun endlich ein angenehm mundendes, nährendes, zähflüssiges Getränk stehen, dessen Wirkung im Darm gesichert war (Leo F. Rettger, Acidophilus Milk a Therapeutic Agent and Health Drink, American Food Journal 20, 1925, Nr. 6, 301-302). In den USA setzte der Vertrieb nach mehr als vierjährigen Vorarbeiten 1925/26 ein. Das neue Produkt etablierte sich im Umfeld einer größeren Zahl bakteriologischer Institute.

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Wachsende Marktpräsenz: Werbung für Walker-Gordon Acidophilusmilch (Evening Star [Washington, DC] 1926, Nr. 29878 v. 18. Februar, 6)

Amerikanisierung? Deutsche Debatten über die Acidophilusmilch

Im Deutschen Reich war derweil nach dem verlorenen Krieg, dem Abbau und der Aufhebung der Zwangswirtschaft und der Stabilisierung der Währung langsam wieder Normalität eingetreten. Joghurt wurde weiterhin angeboten, beworben mit den bekannten Vorkriegsmetaphern: „Joghurt, diese Götterspeise, / Fördert Dich in jeder Weise, / Joghurt gibt Dir neue Kräfte, / Joghurt stärkt die Magensäfte, / Joghurt tötet die Bakterien, / Die im Darm Du hast in Serien. / Joghurt ist auch leicht verträglich! / Drum, iß Joghurt Du tagtäglich […] / Und zum Aerger Deiner Erben / Wirst Du alt – wirst lang‘ nicht sterben!“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 273 v. 22. November, 9). Nun, das konnte nicht stimmen, zumindest nicht in Gänze. Doch angesichts der massiven Einbrüche, die die Milchwirtschaft während des Jahrzehnts der Ernährungskrise 1914-1923 erlitten hatte, war es nicht nur notwendig, den Milch-, Butter- und Käseabsatz wieder auf alte Höhen zu bringen. Das war volkswirtschaftlich geboten, denn die Wertschöpfung der Milchwirtschaft war damals höher als die des Bergbaus und der Stahlindustrie zusammen. Doch Zusatzangebote schienen ebenfalls erforderlich, wurden auch als eine Art Friedensdividende der umfangreichen Forschungen während der Kriegszeit verstanden: Trockenmilch, Kasein, Milchzucker sowie die Molkenverwertung gewannen an Bedeutung, neben Endprodukte traten vermehrt Zwischenprodukte (L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927).

Ein vermehrter Joghurtabsatz passte zu dieser Neuakzentuierung, doch der Markt für Sauermilchangebote war begrenzt: „In landwirtschaftlichen Kreisen war zwar das Interesse für diese Milcharten sehr rege, auch eine kleine Anzahl von Konsumenten fand sich, besonders in den großen Städten. Aber das Gros der Bevölkerung blieb teilnahmslos, auch die Mehrzahl der Aerzte. Im Beginn dieses Jahrhunderts hatte Metschnikows Eifer auch in Deutschland einigen Widerhall gefunden. Allein nach wenigen Jahren war alles vergessen, und man darf sagen, daß man die wenigen Aerzte und Laien, die ihre Kuren mit Yoghurt oder Kefir betrieben, etwas mit Spott ansah“ (Julius Kleefeld und Hans Behrend, Die Nährpräparate mit besonderer Berücksichtigung der Sauermilcharten, Stuttgart 1930, 191). Das lag an typisch deutschen Problemen, etwa einer vielfach fehlenden Marktorientierung, kaum vorhandenen Marken und Gütezeichen, einer unzureichenden Standardisierung und weiterhin akuten Qualitätsproblemen. Neben diese für fast alle Agrarsektoren geltenden ökonomischen Probleme gab es bei den technisch komplexeren Milchpräparaten aber auch naturwissenschaftliche Defizite. Die vorhandenden Reinkulturen waren höchst unterschiedlich wirksam, entsprechend hatten die Produkte trotz gleichen Namens eine recht unterschiedliche Zusammensetzung, Textur und Geschmack (Julius Kleeberg, Studien über Yoghurt und Kefir. I. , Centralblatt für Bakteriologie Abt. II 68, 1926, 321-326, hier 326; Traugott Baumgärtel, Milchspezialitäten. (Joghurt, Kefir, Acidophilusmilch, Saya), Milchwirtschaftliches Zentralblatt 59, 1930, 17-21, hier 19).

Vor diesem Hintergrund bot die Acidophilusmilch eine besondere Chance. Sie stand für die pragmatische und marktnahe Forschung in den USA, dieser Siegermacht des Weltkrieges, diesem Hort des Wohlstandes und der Fülle. Kam der Joghurt aus dem Osten, so schien es nun ein noch leistungsfähigeres Angebot aus dem Westen zu geben. Kaum beachtet wurde dabei, dass Acidophilusmilch in den USA auch Folge der Prohibitionskultur war. In Mitteleuropa wurde sie jedenfalls Anfang der 1920er Jahre bereits vereinzelt in Kliniken als Kräftigungsmittel gereicht (Wiener Medizinische Wochenschrift 74, 1924, Sp. 1719). Brückenkopf einer möglichen Amerikanisierung der deutschen Milchwirtschaft wurde die Preußische Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Kiel. Dort hatte man bereits 1924 Milchexperten versammelt, um amerikanisches Rahmeis in Deutschland einzuführen (Uwe Spiekermann, Die verfehlte Amerikanisierung. Speiseeis und Speiseisindustrie in Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: Hermann Heidrich und Sigune Kussek (Hg.), Süße Verlockung, Molfsee 2007, 31-38, hier 34). Dies scheiterte, doch davon ließ sich der Anstaltsleiter Wilhelm Henneberg (1871-1936) nicht beirren. Für ihn war die Acidophilusmilch eine Art Joghurt 2.0, ein Edel- bzw. Reformjoghurt. Am Geschmack des amerikanischen Präparates sei gewiss noch zu arbeiten, doch das Bakteriologische Institut der Forschungsanstalt würde Reinkulturen erstellen und an alle Interessenten versenden, zudem Proben des fertigen Produktes kontrollieren: „Da der ‚Reform-Yoghurt‘ (=Acidophilusmilch), der genau so einfach und auf die gleiche Weise wie der Yoghurt im kleinen oder großen Maßstab bereitet werden kann, sehr gut schmeckt, wird er sich in Deutschland leicht einführen lassen“ (Über Bacillus acidophilus und „Acidophilus-Milch“ (= Reform-Yoghurt), Molkerei-Zeitung 40, 1926, 2633-2635, hier 2635).

Das war forsch, denn Henneberg wusste gewiss von den sorgfältigen Arbeiten der amerikanischen Pioniere. Doch dem 1922 eingesetzten neuen Direktor ging es darum, einen Prozess in Gang zu setzten. Dass dies möglich war, legten aber auch erste deutsche Präparate nahe, so die bereits 1925 zur Begutachtung eingesandte „Saya-Milch“ (Bericht der Preußischen Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Kiel 1922 bis 1925, Berlin 1925, 50). Dennoch kritisierten Praktiker Hennebergs Vorpreschen, etwa der Schweizer Unternehmer J. Spohr. Er hatte 1926 im Tessin mit der Produktion von Reinkulturen begonnen und bot mit Acimil eine der ersten Marken-Acidophilusprodukte an (Schweizerisches Handelsamtblatt 44, 1926, 1265). Spohr wandte sich strikt gegen die semantischen Illusionen des Deutschen. Acidophilusmilch sei eben kein Edeljoghurt, „so wie der Bandwurm dem Regenwurm stets verschieden sein wird“ (J.L.P. Spohr, Acidophilus-Milch, Molkerei-Zeitung 41, 1927, 604-605, hier 604). Wer die gravierenden Unterschiede nicht ernst nähme, der würde im Markt zwingend scheitern. Henneberg wischte solche Kritik jedoch beiseite. Neue Bezeichnungen seien erforderlich, „da sich der Laie unter Acidophilusmilch garnichts [sic!] vorstellen kann. Ferner ist es Tatsache, daß sehr viele Menschen sich ekeln, wenn sie erfahren, daß die Acidophilusmilch durch Bakterien, die aus dem Menschendarm (Exkrementen) stammen, erzeugt wird. Bei der Bezeichnung Reformjoghurt forschen die meisten nicht weiter nach, sie erfahren, daß es sich um eine neue, verbesserte Art Joghurt handelt. Herstellungsweise und Geschmack ist ja auch fast wie bei dem alten Joghurt.“ ([Wilhelm] Henneberg, Bemerkungen zu der vorstehenden Abhandlung „Acidophilus-Milch“, Molkerei-Zeitung 41, 1927, 605). Es gäbe jedenfalls „viel Interesse“ am Reform-Yoghurt, zahlreiche Molkereien hätten Reinkulturen geordert.

Acidophilusmilch im deutschen Markt

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Dr. Pohls Acidophilusmilch in Karlsruhe (Badische Presse 1927, Nr. 310 v. 7. Juli, 13)

In der Tat boten spätestens 1927 mehrere großstädtische Molkereien vorrangig im Sommer Acidophilusmilch an. Präsentiert wurde ein wissenschaftliche Präparat: Neuere amerikanische Forschungen hätten die „die Resultate älterer Forschungen ins Wanken“ gebracht, hätten einen neuen Reform- oder Edel-Yoghurt entwickelt. Hierzulande finde dieser „ebenfalls Anklang und das Interesse, welcher dieser Heilmilch, besonders von wissenschaftlicher Seite, entgegengebracht wird“ stimme optimistisch, sei Grund für einen wagenden Kauf (O[tto] Pohl, Einiges über die Acidophilusmilch und ihre Wirkung, Karlsruher Tagblatt 1927, Nr. 185 v. 7. Juli, 7). Es folgten optimistische Verallgemeinerungen: „Schon heute werden große Mengen Acidophilus-Milch in Amerika, neuerdings auch in Deutschland, besonders in Süddeutschland, hergestellt und mit bestem Heilerfolge genossen” (Otto Druckrey, Uber Lactobacillus acidophilus und Acidophilus-Milch, Phil. Diss. Leipzig, Jena 1928, 373). Doch zugleich ergaben bakteriologische Untersuchungen der neuen deutschen Präparate, dass sie „zu therapeutischen Zwecken nicht geeignet waren“ (Ebd., 392).

Die Diskrepanz war offenkundig: Bakteriologische Forschung konnte an Tiermodellen nachweisen, dass Acidophilusmilch in der Lage war, „die Darmfäulnis und ihre schädlichen Folgen zu mindern und zu einer länger andauernden Umstimmung der Darmflora beizutragen“ (Helmut Damm, Kefir, Yoghurt und Acidophilus-Milch, Apotheker-Zeitung 1929, 1127-1130, hier 1129). Doch der Markterfolg blieb aus – obwohl die Proben des „Reform-Yoghurts“ auch geschmacklich überzeugten. Es gelang den Anbietern nämlich nicht, ihr Produkt in stetig gleicher Qualität anzubieten. Die raschen Deutschen hatten die Kernaussage der amerikanischen Forscher ignoriert: „Da jedoch nur geringfügige Abweichungen bei der Herstellungsweise eine hundertprozentige Güte in Frage stellen, wird sich die Acidophilus-Milch nur schwer ihren Weg erobern können, im Gegensatz zu der bulgarischen Milch, die zu ihrer Herstellung viel weniger Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, abgesehen davon, daß zur Ueberwachung der Entwicklungsstadien unbedingt ein Bakteriologe zugegen sein muß“ (Alfred Schreiber, Acidophilus-Milch, Milchwirtschaftliche Zeitung 1929, 1576-1577, hier 1576). Die in Kiel erstellte und vertriebene Reinkultur war offenbar regelmäßig verunreinigt. Das amüsierte die Konkurrenz, etwa den Münchener Produzenten der Dr. Axelrod Joghurt-Reinkulturen: „Als in neuerer Zeit in Amerika der Bacillus acidophilus entdeckt wurde, waren auch Fachgelehrte in Deutschland gleich der Meinung, daß dieser nun sofort den Bacillus bulgaricus verdrängen, ja den Joghurtvertrieb vollständig lahm legen können. Der Mann der Praxis lächelte hierüber. Heute darf ich sagen, daß vor allem in Deutschland der Joghurt weiter gesiegt hat. Ich will aber nicht verkennen, daß auch jene Städte, denen ich das Ferment für die Acidophilusmilch liefere, Erfolge erzielen, wenn auch bescheidene“ (Spieker, Joghurt in der Theorie und Praxis, Milchwirtschaftliche Zeitung 1929, 1505-1508, hier 1505). Doch die Qualitätsprobleme standen zugleich für die damals vielfach zu Tage tretende Unfähigkeit zahlreicher deutscher Unternehmen, die Massenproduktion hochwertiger Konsumgüter aufzunehmen.

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Wachsender Absatz von Joghurt – Ergänzungssortiment Acidophilusmilch Millacol (Der Volksfreund 1927, Nr. 171 v. 26. Juli, 9)

Die unbedachte und unzureichend vorbereitete Markteinführung der Acidophilusmilch mündete in Ablehnung seitens der Konsumenten. Der Joghurt dominierte weiter – obwohl das Narrativ der „guten“ Bakterien für dieses Produkt nicht mehr galt. Für Bakteriologen und Milchwissenschaftler war dies durchaus ein Moment der Neubesinnung. Der Staffelstab wurde nun von Vertretern der Süddeutschen Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchforschung Weihenstephan in Freising übernommen. Sie erstellten eine Reinkultur nicht nur unter bakteriologischer Aufsicht, sondern stellten sicher, dass die geimpfte Milch auch keimfrei war. Das „gute“ Acidophilus-Darmbakterium entwickelte sich nämlich langsamer als einschlägige Milchbakterien. „Ist nun die Milch nicht ganz keimfrei, so werden sich die anderen Bakterien, die darin sind, rascher als der Acidophilus entwickeln und diesen im Laufe von mehreren Umimpfungen nach wenigen Tagen vollständig unterdrücken“ (Karl J. Demeter, Ueber Acidophilus- und Joghurtmilch, Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 277 v. 14. Juni, 4).

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Produkte auf der Suche nach einem Markt (Villacher Zeitung 1928, Nr. 15 v. 18. Februar, 7)

Aufgrund verbesserter Reinkulturen bestand also durchaus eine Zukunft für die Acidophilusmilch. Die von den Amerikanern propagierten reinen Produkte wurde jedenfalls auch in gängigen Tageszeitungen gefordert – und als Vorteil der Acidophilusmilch präsentiert (Hoffmann, Der Wert der Sauermilch, Sächsische Volkszeitung 1931, Nr. 213 v. 13. September, Beilage Die praktische Hausfrau, 3). Dies wurde weiterhin begleitet vom Narrativ des Bakterienkampfes im Körperinnern: „In der Milch sind für gewöhnlich beide Gruppen von Bakterien vertreten und wenn nicht besondere Verhältnisse vorwalten, siegt auch hier das ‚Gute‘ über das ‚Böse‘. Das gute Prinzip in der Milch sind die Milchsäurebakterien, ihr Umsetzungsprodukt, die Milchsäure, ist das Gegenmittel, dem die Fäulnis- und Giftbakterien erliegen. […] Saure Milch ist also in jeder Form gut und die Milchsäurebakterien sind die Freunde der Menschen“ ([Hermann] Weigmann, Bakterien als Förderer der Gesundheit, Die Neue Zeitung 1931, Beilage der Naturarzt Nr. 2, 1). Wenn Naturwissenschaftler ihre Metaphern schleudern, dann schweigen die Kolportageautoren.

Saya: Eine deutsche Acidophilusmilch

Frischen Wind in die zwischen Kiel und Weihenstephan hin und her wogende deutsche Debatte kam jedoch auch von einem etablierten Außenseiter. Richard Wehsarg (1862-1946) hatte nach dem Medizinstudium in Gießen und München 1888 seiner Schwester Wilhelmine geholfen, eine Kuranstalt in Hobbach im bayerischen Spessart zu gründen (Heinz Linduschka, Vom »reitenden Doktor« und dem Spessart, Main-Post v. 16. November 2015). Diese scheiterte nach mehreren Jahren, doch Wehsarg etablierte sich im benachbarten Sommerau erst als Arzt, leitete dort nach der Jahrhundertwende dann sein Sanatorium, eine Nervenheilanstalt (Allgemeine Zeitung 1904, Nr. 284 v. 26. Juni, 4). Von Beginn an engagierte er sich auch für die Verbesserung der hygienischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der armen Mittelgebirgsregion. 1906 gründete der in der Heimatschutzbewegung engagierte Wehsarg die bis heute existierte Zeitschrift „Spessart“, in der Regionalgeschichte, Volkskunde, Tourismus, soziale und wirtschaftliche Themen zeittypisch gebündelt wurden. Wehsarg, der für sein Engagement den Sanitätsratstitel verliehen bekam, stand in der Tradition sozial engagierter Wissenschaftler: „Der Arzt ist gewissermaßen Pionier und muß sich an allen Lebensfragen der Bevölkerung beteiligen“ ([Richard] Wehsarg und Will, Das Ernährungsproblem im Spessart und seine wirtschaftlichen Grundlagen, Zeitschrift für Ernährung 2, 1932, 265-274, hier 265). Als solcher präsentierte er seit Mitte der 1920er Jahre eine Eigenentwicklung, die er nach einem anderen russischen Sauermilchpräparat „Saya“ nannte.

Saya war für Wehsarg ein Heilmittel, ein erprobtes Therapeutikum, Resultat ständigen bis Anfang der 1890er Jahre zurückreichenden Pröbelns (Rich[ard] Wehsarg, Moderne Milchtherapie bei Verdauungsstörungen und Tuberkulose, München 1928, 81). Wie viele andere Ärzte strebte er nach einem Alleinstellungsmerkmal, fand dieses in der Milchtherapie. Ihn störte allerdings, dass bei der Herstellung von Kefir und Joghurt „die lebendige Kraft der Rohmilch verloren“ (Ebd., 29) gehe. Saya diente erst einmal seinen Patienten, diente der Kräftigung und Erfrischung. Die Herstellung des Präparates zog sich allerdings lange hin, währte Wochen. „Das Verfahren ist nicht einfach und daher im Privathause oder in einer Krankenanstalt nicht ohne weiteres durchführbar“ (Ebd., 81). Doch am Ende stand ein lang haltbares Therapeutikum, Kern einer mittel- und langfristigen Kur. Wehsarg war vom Wert seiner Erfindung überzeugt: „Sayakuren bedeuten eine völlige Umwälzung aller seither geübten Methoden“ (Ebd., 88). Das Präparat übertraf demnach alle anderen Milchprodukte durch seinen Reichtum „an Enzymen und einer entsprechenden Flora von Verdauungsbakterien“ (Ebd.). Saya sollte stärken und prophylaktisch wirken, als Heilmittel bei Verdauungsstörungen, Verstopfung, Diabetes, Arteriosklerose, Herz- und Nierenkrankheiten, Bronchitis, Tuberkulose sowie Fieberkrankheiten dienen (Ebd., 89-92). Das war ein breites Spektrum, doch die „guten“ Enzyme und Bakterien würden es gewiss richten. Wehsarg kreiste aber nicht nur im Selbst- und Sayalob, sondern bot das Milchpräparat auch Ärzten kostenlos zum Test an.

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Richard Wehsarg und seine Gattin Maya im heimatlichen Ambiente (Main-Post 2015, Ausg. v. 16. November)

Wehsarg strebte nach Anerkennung: Zum einen betonte er, dass Saya „ein völlig neuartiges Produkt“ (Richard Wehsarg, Wesen und Bedeutung der „Saya-Milch“, Molkerei-Zeitung 43, 1929, 1989-1991, hier 1989) sei, anzusiedeln zwischen Joghurt und Kefir. Er präsentierte sich als Pionier einer neuen Arzttums, das seine Kraft aus praktischer Arbeit, nicht aus chemisch-physiologischem Wissen schöpfte. Er verstand sich als Gesundheitsführer, dem Patienten durch gleichsam natürliche Autorität übergeordnet. Entsprechend knüpfte Wehsarg nicht an die bakteriologische Debatte an, deren Details er offenkundig nicht kannte: „Ich suchte vor allem ein leicht verdauliches und trotzdem schmackhaftes Milchpräparat herzustellen, mit dessen Hilfe ich auch solchen Patienten die Nährstoffe der Milch in größeren Mengen zuführen konnte, welche die gewöhnliche Kost, Frischmilch und die bisher bekannten Sauermilchpräparate nicht vertrugen, also vor allem Kindern, alten Leuten und Magen- und Darm-Kranken. Nach langjährigen Versuchen ist mir das gelungen. Durch bestimmte Kombination von, in der Hauptsache Mikro- und Streptokokken erzielte ich unter Sauerstoffabschluß, bei langer Gärdauer und tiefer Temperatur ein Produkt, das außerordentlich leicht verdaulich ist und zu meiner eigenen Überraschung sich bei kühler Aufbewahrung monatelang unverändert hält“ (Ebd.). Doch Wehsarg wusste um seine Grenzen und übertrug die Herstellung der Reinkultur an die Süddeutsche Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft, nachdem er das Verfahren patentiert hatte.

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Kraft und Gesundheit durch trinkfertige Angebote am Milchhäuschen (Molkerei-Zeitung 49, 1929, 887)

Damit veränderte sich auch die Marktpositionierung des Milchpräparates. Für Wehsarg blieb Saya ein Heilmittel, doch 1929 trat seine Bedeutung als mögliches Volksgetränk hervor. Im Einklang mit dem 1926 gegründeten Reichsmilchausschuss propagierte er sein Milchgetränk als Massengetränk, um gleichermaßen Fleisch- und Alkoholkonsum einzugrenzen. Sauermilchpräparate sollten an die Stelle der viel zu teuren Mineralwässer und Limonaden treten. Saya sei durch seinen guten Geschmack eine Alternative für Konsumenten, „die den Geschmack der Milch und anderer Milchpräparate nicht schätzen und die lange Haltbarkeit, ferner gute Bekömmlichkeit und leichte Verdaulichkeit“ (Ebd., 1990) zu würdigen wissen. Diesem Tenor folgte auch die Saya-Werbung in der Schweiz (Von der „Saya-Milch“, Der Bund 1930, Nr. 68 v. 11. Februar, 6).

Saya und andere Milchpräparate

Saya wurde beschrieben als eine „dickflockige, sauer riechende und sauer schmeckende unmittelbar trinkfertige Milch, die nach Angaben des Herstellers monatelang haltbar ist. […] Der Geschmack ist eigenartig“ (Kleeberg und Behrendt, 1930, 259). Neben derartige Produktbeschreibungen traten nach Vertriebsbeginn chemisch-physiologische Analysen. Diese bestätigten die meisten von Wehsargs Aussagen. Saya bestand demnach aus ungekochter Vollmilch, die mit patentierten (also im Detail unbekannten) Bakterien geimpft wurden und dann bei relativ tiefen Temperaturen „eine 4wöchige spezifische Gärung […] in völlig sauerstofffreiem Milieu“ (Hermann Mohr, Milchtherapie mit dem Milchpräparat Saya, Medizinische Klinik 25, 1929, 230-231, hier 230) durchmachten. Das Milchkasein wurde dadurch größtenteils abgebaut, das Milcheiweiß in eine einfacher lösliche und leicht resorbierbare Form überführt. Anders als Kefir enthielt Saya praktisch keinen Alkohol, jedoch deutlich schmeckbare Kohlensäure (Wiener Tierärztliche Monatsschrift 17, 1930, 157).

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Visualisierung der relativen Vorteile von Saya gegenüber Frischmilch, Kefir und Joghurt (Forster, 1929, 84)

Die in verschiedenen bayerischen Kliniken und Laboratorien durchgeführten Untersuchungen waren vergleichend angelegt, auch wenn das neue Produkt im Mittelpunkt stand. Mit den damals zunehmend verwandten Visualisierungstechniken wurden die Spezifika von Saya gebührend hervorgehoben, galt das Interesse doch einem bayerischer Spezialprodukt. Deutlich wurde die gegenüber Frischmilch, Kefir und Joghurt bessere Verdaulichkeit, außerdem die schon von Wehsarg hervorgehobene lange Haltbarkeit. Deutlicher noch waren die jeweiligen Vitamingehalte, die mittels Rattenversuchen auch gut ins Bild gesetzt werden konnten. Schon die unterschiedlichen Ausgangsmaterialien (aufgekochte versus frische Milch) waren hierfür verantwortlich (A[ugust] Forster, Ueber das Sauermilchpräparat „Saya“, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 73-74; Ders., „Saya“ ein neues Sauermilchpräparat, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1929, 83-85; Ders., Vitamingehalt der Sauermilchpräparate, Süddeutsche Molkereizeitung 50, 1929, 749-751). Das quasi vorhersehbare Ergebnis lautete denn auch, dass Saya nicht nur eine wichtiges Heilmittel, sondern vor allem ein hervorragendes Volksgetränk sei (F. Kieferle, K[arl] J. Demeter und A[ugust] Forster, „Saya“, ein neues Sauermilchpräparat, Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, 101-102, hier 101).

12_Molkerei-Zeitung_49_1929_p1990_Forster_1929_p751_Saya_Acidophilusmilch_Vitamine_Ratten_Schaubild_Joghurt_Kefir

Der Vitamingehalt von Saya als Wachstumsgarant: Links drei 8 Wochen B-vitaminfrei gefütterte Ratten, die zudem täglich 5 gr Joghurt, Kefir bzw. Saya erhielten: rechts die jeweiligen A-, C- und D-Vitamingehalte (Molkerei-Zeitung 49, 1929, 1990 (l.); Forster, 1929, 751)

Die Saya GmbH

All dies erfolgte parallel zur Gründung einer Produktions- und Vertriebsfirma für die neuartige Acidophilusmilch. Die Saya Gesellschaft mit beschränkter Haftung wurde am 9. April 1929 in München gegründet, die Geschäftsräume lagen oberhalb des Hauptbahnhofs in der Nymphenburgerstraße 25 (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 127 v. 4. Juni, 9). Dort war auch der Kemptner Käseproduzent Alfred Hindelang ansässig, der für die neue Firma freudig warb (Gräfinger Zeitung 1929, Nr. 178 v. 3. August, 7). Das Stammkapital der Saya GmbH lag bei 24.000 Reichsmark, Geschäftsführer wurde der Diplomlandwirt Josef von Dall’Armi, Spross einer der führenden Münchner Familien. Der aus Trient stammende Andreas Michael Dall’Armi (1765-1842) war einst ein einflussreicher Bankier und Offizier, gilt zudem als Begründer des Münchner Oktoberfestes (Markus A. Denzel, Münchens Geld- und Kreditwesen in vormoderner Zeit, in Hans Pohl (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes München, München 2007, 1-40, hier 20-22).

Der Gegenstand der Saya GmbH war breit angelegt, war für Expansion offen, nämlich die „Herstellung und der Vertrieb von Saya-Milch und deren Nebenprodukten, die Vergebung von Lizenzen zu deren Herstellung und Verkauf und die Beteiligung an anderen Unternehmen, welche sich mit Milch oder Milchprodukten befassen“ (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 127 v. 4. Juni, 9). Es ist unklar, ob die nicht sehr dynamische Unternehmensentwicklung, bestehender Kapitalmangel oder persönliche Gründe dazu führten, dass Josef von Dall’Armi Anfang 1930 als Geschäftsführer zurücktrat und vom Frankfurter Kaufmann Otto Goll (1864-1953) ersetzt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 44 v. 21. Februar, 10). Dabei dürfte es sich um den gleichnamigen Chemiker gehandelt haben, der verschiedene Patente in die IG Farben einbrachte, wo er von 1926 bis 1930 Prokura besaß (Die Chemische Industrie 49, 1926, 227; Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 286 v. 12. August, 12 (Hoechst), ebd., 11 (Bayer); ebd., Nr. 300 v. 24. Dezember, 15 (BASF)). Golls Eintritt dürfte die Kapitalkraft der Saya GmbH deutlich verbessert haben, denn im April 1930 wurde das Stammkapital auf 66.000 Reichsmark erhöht (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 114 v. 17. Mai, 15).

Die Firma dürfte sich die Verwertungsrechte an den Wehsargschen Patenten gesichert haben. Saya wurde in zwei Varietäten hergestellt, nämlich auf Voll- und auf Magermilchbasis, verkauft als Kursaya resp. Saya. Das Herstellungsverfahren blieb unbekannt (Kleeberg und Behrendt, 1930, 259). Es wurde im November 1929 aber auch in der Schweiz patentiert (Schweizerisches Handelsamtblatt 49, 1931, 2034), der österreichische Markt vorrangig mittels Versandgeschäft beliefert (Pharmazeutische Monatshefte 10, 1929, 177). Zudem gab es eine Dependance im 130 Kilometer östlich von München gelegenen Grenzort Mauerkirchen (Tages-Post [Linz] 1929, Nr. 206 v. 6. September, 3).

Über den Umsatz und die Beschäftigten der Saya GmbH ist nichts bekannt. Die vielfach in Abstimmung mit der Firma durchgeführten wissenschaftlichen Analysen erbrachten aber weitere Details: Mikrokokken und Streptokokken beherrschten die Ausgangsflora, wobei letztere vorrangig aus Milch- bzw. Aromabakterien bestanden (Strept. kefir und Strept. citrovorus) (Kieferle, Demeter und Forster, 1929, 102). Die Reinkultur entstand in Weihenstephan, möglichweise auch am Produktionsort Steingaden. Dieser lag 90 Kilometer südwestlich von München, nördlich vom Ammergebirge. Die Sayaproduktion selbst wurde für eine 1932 in Dresden entstandene Dissertation auf dem sächsischen Rittergut Benndorf nachmodelliert. Die Schilderung verdeutlicht, dass Wehsarg in der Tat eine sehr eigenständige Technik entwickelt hatte, die deren weitere Verbreitung sowie das Lizenzgeschäft erschwerte: Benötigt wurden ein großer Mischkessel mit Rührwerk, komprimierte Kohlensäure und eine Flaschenabfüllvorrichtung – eine zylinderförmige Glastrommel – mit direkter Verbindung zum Mischkessel. Rohmilch von ca. 18°C wurde in den Kessel gefüllt, mit der Reinkultur vermengt, Waldmeisteressenz diente als Geschmacksveredeler. Der Deckel wurde verschlossen, unter weiterem Rühren Kohlensäure eingeleitet, um einen Überdruck zu schaffen. Nach fünf Minuten Rühren öffnete man dann die Abfüllvorrichtung, die Trommel wurde gefüllt und der Inhalt dann unter Druck und automatisch abgefüllt (Käte Kunze, Über das Sauermilchpräparat Saya, Phil. Diss., Leipzig 1932, 3).

13_Illustrierter Sonntag_1929_Nr21_08_18_p04_Sueddeutsche Molkerei-Zeitung_50_1929_FS_p86_Acidophilusmilch_Joghurt_Saya_Verpackung

Gesundheit aus der Spezialflasche: Verpackung von Saya (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 8. August, 4 (l.); Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, Festschrift, 86)

„Die Saya-Flaschen sind starkwandig und ähneln in der Form der bekannten Selterswasserflasche mit Bügelverschluss, nur daß sie weithalsiger gestaltet sind; das Fassungsvermögen beträgt 3/8 Liter. Nach dem Abfüllen werden die Flaschen festverschlossen, drei bis vier Tage lang bei einer Temperatur von 15 bis 18ˆC. vorgelagert und dann vorsichtig ohne Schütteln zur Ausgärung in einen Lagerraum, dessen Temperatur auf 11ˆC. zu halten ist, gebracht. In dem Lagerraum bleiben die Flaschen sechs Wochen; vor Ablauf dieser Zeit ist die Milch nicht reif und genussfähig“ (Ebd.).

Werbung für Saya

Die mit einem Gummiring abgedichteten Saya-Flaschen waren demnach funktional, mussten sie doch hohem Druck standhalten und zugleich den eigentlichen Gärraum schützen. Doch sie waren zugleich ein wichtiger Werbeträger. Im Gegensatz zu den Mitte der 1920er Jahre zunehmend eingeführten Milcheinheitsflaschen hoben sie Saya aus dem gängigen Angebot auch von Joghurt und Kefir heraus. Die Verpackung portionierte vor, strich damit den Conveniencecharakter des unmittelbar verzehrsfähigen Produktes heraus. Das weiß-matte Fläschchen kokettierte zudem mit der wissenschaftlichen Aura von Medizinal-, Laboratoriums- und Apothekerglas. Nicht umsonst wählten auch die führenden Anbieter von Functional Food-Milchprodukten um die Jahrtausendwende ähnliche Kleinbehälter, wenngleich aus Kunststoffen. Zugleich präsentierte man das Produkt als „Gesundheitsmilch“, grenzte sich also bewusst von dem werblich beschädigten Begriff der Acidophilusmilch ab, auch wenn dieser zutreffender gewesen wäre.

14_Boersenblatt für den deutschen Buchhandel_1928_07_25_Nr171_p6123_Wehsarg_Saya_Milchtherapie_Otto-Gmelin_Muenchen

Werbung für Wehsargs Broschüre über die Milchtherapie (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1928, Nr. 171 v. 25. Juli, 6123)

Die Saya GmbH nutzte für ihre Werbung zweitens die wissenschaftliche Aura ihres Erfinders, des Sanitätsrats Dr. Wehsarg. Das war üblich für viele meist kleinere Anbieter pharmazeutischer und kosmetischer Produkte, ebenso im breiten und rechtlich kaum geregelten Grenzgebiet zwischen Nahrungs- und Heilmitteln: Dr. Axelrod (ein Phantasietitel) und Dr. Klebs wurden bereits erwähnt, eine breite Palette von Säuglingsnährmitteln wäre zu ergänzen. Mit „Sanitätsrat Dr. Wehsarg“ war das Narrativ des Tüftlers eingebettet, des letztlich erfolgreichen Visionärs (Entgiftung durch Diät, Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 4). Wehsarg hatte dieses in seinem Büchlein über die Milchtherapie unterstrichen. Hinzu kam eine gewisse öffentliche Präsenz, etwa Rundfunkvorträge über „Milch als Nahrungsmittel“ (AZ am Abend 1928, Nr. 283 v. 5. Dezember, 9). Insgesamt gelang die enge Verbindung von Wissenschaftler und wissenschaftlichem Produkt. Teils war gar die Rede von „Wehsargschen Bakterien“ (Pharmazeutische Monatshefte 11, 1930, 30).

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Werbung für die Fachleute: Produktpräsentation mit Verweis auf Ausstellungspräsenz (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 358)

Drittens war die Saya GmbH in der Anfangszeit auf mehreren landwirtschaftlichen Ausstellungen präsent. Dies diente einerseits der Popularisierung des neuen Produktes, zielte anderseits aber auf die dort breit vertretenen Molkereien: „Lizenzen zur Herstellung und zum Vertrieb von ‚Saya‘ werden für alle größeren Plätze oder Bezirke vergeben“ (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 187). Zugleich profitierte das neue Produkt von der stets umfangreichen Berichterstattung über derartige Ausstellungen. Dazu richtete man einen Saya-Ausschank ein – so wie schon in den 1880er Jahren für Carne pura-Produkte und viele andere Innovationen. Journalistischer Widerhall war damit quasi garantiert: „Die Saya-Milch ist sehr kalorienreich, sie erhält einen Zusatz von frischgewonnenem Rahm, ihr Geschmack ist angenehm säuerlich“ (Neue Milchprodukte, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 252 v. 16. September, 13). Wichtiger aber war noch die stete Wiederholung des Narrativs vom bakteriellen Krieg im Darm, für die Funktion von Saya als „Darmreinigungsmittel“ (Will, Ein modernes Milchgetränk. Saya-Gesundheitsmilch als Heil- und Genußmittel, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 252 v. 16. September, 12). Die landwirtschaftlichen Ausstellungen boten zudem breitere Absatzchancen, war doch Joghurt zu dieser Zeit ein nicht unübliches Futtermittel für malade Ferkel und Kälber (Hoenow, Vom Joghurt, Ingolstädter Anzeiger 1928, Nr. 21 v. 26. Januar, 4). Folgerichtig wurde Saya auch als Heilmittel für streptokokkenkranke Kühe getestet (Tierärztliche Rundschau 36, 1930, 553).

16_Muenchner Neueste Nachrichten_1929_06_04_Nr149_Sonderbeilage_p17_Acidophilusmilch_Gesundheitsmilch_Saya_Wehsarg_Volksgetraenk

Saya als „Volksgetränk der Zukunft“ (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 149 v. 6. April, Sonderbeilage, 17)

Viertens schließlich schaltete die Saya GmbH Anzeigen in gängigen Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Erstere dienten der Marktpflege im bayerischen, letztere der im nationalen Rahmen. Diese Anzeigen waren sachlich gehalten, einzig die fett gedruckte Überschrift propagierte einen weitergehenden Anspruch. Die Anzeigen sollten über das Produkt aufklären, seinen Nutzen und Sinn kommunizieren. Dabei bediente man sich – abseits der Bezeichnung „Gesundheitsmilch“ – jedoch keiner Werbesprache im engeren Sinne, sondern listete wissenschaftliche überprüfte Argumente auf. Die in den meisten Motiven enthaltenen elf Vorzüge von Saya (Werbefachleute hätten wohl eher zu zehn geraten) waren Destillate der Wehsargschen Schriften und parallel laufender wissenschaftlicher Studien.

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Variationen der Werbung durch „wissenschaftliche“ Gutachten (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 183 v. 8 Juli, 9)

Entsprechend finden sich in den Anzeigen abseits der Saya-Flasche keine weiteren Abbildungen. Variiert wurden die appellativen Überschriften, zusätzlicher Platz wurde mit Auszügen aus Gutachten, selten auch mit Empfehlungsschreiben gefüllt. Die Saya-Anzeigen entsprachen damit eher der pharmazeutischen Fachwerbung als etwa der damals durchaus bunten, mit Zeichnungen und Strichmännchen aufgelockerten Werbung für Joghurt. Die Bakterien, die „guten“ wie die „bösen“, waren durchaus präsent, wurden jedoch umschrieben („besondere, experimentell ermittelte Stoffe“; „Darmfäulnis“). Diese Zurückhaltung mochte mit dem faktischen Scheitern der Acidophilus-Angebote 1927/28 zusammengehangen haben, auch der schon von Henneberg betonten Reserviertheit des Publikums im Umgang mit den im Kot zahlreich vorhandenen Darmbakterien. Sie war aber auch ein Reflex auf den in der 2. Hälfte der 1920er Jahre gängigen Kampf von Interessengruppen und die wachsende Bedeutung von Experten und Gegenexperten. Die lange Haltbarkeit von Saya war gewiss ein wichtiges Argument in einem Umfeld heißer Sommer und fehlender Kühlschränke. Doch Joghurtproduzenten begegneten dem mit Kritik an der „Konservenform“ des Edeljoghurts, um stattdessen frische Kost zu propagieren (Behandlung des Joghurt in der heißen Zeit, Fürstenfeldbrucker Zeitung 1928, Nr. 157 v. 11. Juli, 3).

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Propagierung als „tägliches Getränk“ (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 4)

Die Anzeigenwerbung unterstrich dennoch das Ziel, Saya als Volksgetränk für Kranke und Gesunde zu positionieren, also die Wehsargsche Welt des Sanatoriums zu durchbrechen. Saya sollte ein „tägliches Getränk“ werden, modern und auf der Höhe der Zeit. Dabei zielte man vorrangig auf Angestellte, Akademiker und bürgerliche Konsumenten. Unklar blieb, ob die vielfach hervorgehobene „Billigkeit“ des Produktes zutraf, denn Preise konnte ich leider nicht finden.

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Einfache Präsentation als Functional Food (Münchner Hochschulalmanach WS 1929-1930, München 1929, 5)

Saya als Heil- und Kurmittel

Trotz dieser Öffnung hin zum Massenmarkt blieb Saya jedoch vorrangig ein Heil- und Kurmittel. Zahlreiche Studien verwiesen wieder und wieder auf ihren hohen diätetischen Wert (Josef Gloetzl, Beiträge zur Kenntnis der stickstoffhaltigen Bestandteile, insbesondere des Reststickstoffs der Kuhmilch, Landw. Diss. Weihenstephan 1929, Berlin und Heidelberg 1930, 53). Klinische Interventionsstudien bestätigten viele der Wehsargschen Annahmen, wenngleich die Studienanlagen aus heutiger Sicht kaum überzeugend zu nennen sind. Saya wurde gut vertragen, kaum abgelehnt. Bei Kolitis, also Darmentzündungen, siegten die „guten“ Bakterien regelmäßig (Mohr, 1929). Auch bei Gastroenteritiden sowie Magengeschwüren milderte sie die Symptome (Pharmazeutische Monatshefte 11, 1930, 63). Die Hauptbedeutung schien jedoch in „einer raschen und zuverlässigen Kräftigung des Gesamtorganismus“ (Kieferle, Demeter und Forster, 1929, 102) zu liegen, also bei unspezifischen Krankheits- und Schwächezuständen wie Rekonvaleszenz, Bleichsucht oder Blutarmut. Aufgrund ihres relativ hohen Nährwerts ermöglichte Saya auch Gewichtszunahmen (H[ans] Seel, Experimentelle Untersuchungen über das Sauermilchpräparat „Saya“, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 41, 1930/31, 294-297).

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Gewichtskurven als vermeintlicher Beleg für die Wertigkeit von Saya (Seel, 1930/31, 296)

Dennoch führten die Untersuchungen auch zu kritischen Rückfragen. Leichte Besserungen etwa bei Lungentuberkulose konnten schon deshalb nicht kausal auf den Einfluss von Saya zurückgeführt werden, da die Wirkmechanismen unklar blieben (C[arl] Funck, Nutritive Allergie als Faktor in der Pathogenese initialer Lungentuberkulose, Archiv für Verdauungskrankheiten 44, 1928, 356-361, hier 360-361). Bei Tuberkulose war Saya generell wirkungslos; so jedenfalls das Ergebnis einer Studie an 81 Kindern in der Prinzregent-Luitpold-Kinderheilstätte Scheidegg (L. Bötticher und Hans Heinrich Knüsli, Versuche mit Saya-Milch bei den verschiedenen Formen der kindlichen Tuberkulose, Zeitschrift für Tuberkulose 54, 1929, 130-131). Die damals vor allem von der sog. SHG-Diät – einer von Sauerbruch, Herrmannsdorffer und Gerson propagierten salzfreien Tuberkulosediät – geweckten Hoffnungen an eine wirksame Bekämpfung des „weißen Todes“ erwiesen sich auch im Falle von Saya als trügerisch.

Das Wehsargsche Acidophilusmilch dürfte gleichwohl von der Ende der 1920er Jahre wachsenden Bedeutung ernährungsbasierter Therapien, der Rohkostdiäten und der Vitaminlehre profitiert haben. Jedenfalls wurden Milchtherapien öffentlich häufiger empfohlen. Das galt vor allem bei Frühjahrskuren, bei denen Sauermilchpräparate – darunter auch explizit Saya-Milch – für eine „Durchspülung des ganzen Körpers und die Anregung der Nieren- und Darmtätigkeit“ (W[aldemar] Schweisheimer, Frühlingskuren mit Milch, Frauenzeitung 1931, Nr. 12 v. 4. Juni, 1) sorgen sollten. Wiederum also die helfende Symbiose von Mensch und „guten“ Bakterien. Das galt aber auch für die Schönheit der menschlichen Außenhülle. Verheißend hieß es, Milch – explizit auch Saya-Milch – „geht zum Teil in das Blut über, schafft Gesundheit, heiße Augen, frische, natürliche Gesichtsfarbe und zarte Haut“ (Hildegard G. Fritsch, Natürliche Schönheitsmittel, Internationale Frisierkunst und Schönheitspflege 20, 1932, H. 1, 18). Richard Wehsarg griff derartige Moden auf, denn er hatte Schönheitsfehler schon seit langem mittels Ernährungsumstellung und Milchtherapie behandelt. Rückgang von Gesichtspickeln und Besserung von Ekzemen waren die Folgen, ebenso regelmäßiger Stuhlgang ([Richard] Wehsarg, Hautpflege / Milch und Butter, Die Volksernährung 5, 1930, 369-370, hier 370).

Qualitätsprobleme

Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Etablierung von Saya im Massenmarkt und im klinischen Alltag waren also gut. Doch wie schon bei der Acidophilusmilch bestanden massive Qualitätsprobleme, so dass der Markenartikel nicht in stetig gleicher Güte angeboten wurde. Ausgerechnet Traugott Baumgärtel (1891-1969), damals frisch ordinierter Mikrobiologe an der TH München und später einer der wichtigsten deutschen Milchbakteriologen, erhielt im August 1928 eine Fehlcharge von Saya. Und er wetterte in heiligem Zorne gegen das „neuerdings so lebhaft propagierte Sauermilchfabrikat ‚Saya‘“ (Baumgärtel, Milchspezialitäten, hier 17): Wer „Saya-Milch etwas näher betrachtet, wird sie auf den ersten Blick für eine in Fäulnis übergegangene Flaschenmilch halten. Man erkennt deutlich die gelb-grünliche Molke, in welcher das von Gasblasen durchsetze Milcheiweiß Koagula bildet, die an der Oberfläche eine dicke Rahmdecke tragen, an welcher man mitunter mehrere Schichten wahrnehmen kann. Entsetzt wird man aber zurückfahren, wenn man die meist unter Druck stehende Flasche öffnet und den fauligen, wenn nicht jaucheartigen Geruch ihres Inhalts wahrnimmt. Nach der Gebrauchsanweisung soll der Inhalt jeder Flasche vor dem Gebrauch kräftig geschüttelt und das klümpchenhaltige Koagulum verrührt werden. Es mag sein, daß hierdurch das Präparat etwas an Appetitlichkeit gewinnt, während es seinen unangenehmen Geruch und Geschmack nach wie vor beibehält. Nach allem gehört eine starke Überwindung dazu, ein Sauermilchprodukt wie Saya zu genießen; es sei denn, daß man sich als Kranker – im festen Glauben an die Heilkraft der Arznei – an den Geruch und Geschmack der Saya gewöhnt“ (Ebd., 21). Für Baumgärtel war klar, dass Präparate, die „wegen ihres fäulnisartigen Aussehens, Geruchs und Geschmacks geradezu ekelerregend wirken“, keine Marktchancen haben, höchstens als Arznei bestehen konnten.

Baumgärtel ruderte zurück, als ihm die Kollegen aus Weihenstephan Produktionsprobleme eingestanden und ihm vorschriftsgemäß hergestellte Fläschchen lieferten. Er veröffentlichte daraufhin einen zweiten Artikel, in dem er nicht nur den säuerlich-erfrischen Geschmack lobte, sondern auch das Konzept und dessen volkswirtschaftliche und volkshygienische Bedeutung (Traugott Baumgärtel, „SAYA“ ein spezifisches Milchgärprodukt?, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 59, 1930, 137-139). Doch die Milch war in den Brunnen gefallen, denn welcher Konsument wollte sich auf das Lotteriespiel einlassen, ein verdorbenes Produkt zu erwerben, dessen Qualität er trotz der durchsichtigen Flasche eben nicht unmittelbar einschätzen konnte. Außerdem gelang es der Saya GmbH auch in der Folgezeit nicht, die Qualitätsprobleme abzustellen: „Bei der Herstellung der Saya im Grossen ist wiederholt die unliebsame Erfahrung gemacht worden, dass das Präparat nicht haltbar war und noch vor Ablauf der Reifeperiode ungeniessbar wurde. […] Der Geschmack war scharf bitter, und der Geruch stechend scharf“ (Kunze, 1932, 23). Die damalige deutsche Unfähigkeit zur Massenproduktion komplexer Gebrauchsgüter wurde dadurch nochmals unterstrichen.

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Flaschenhygiene als Qualitätsproblem: Reinigungsmaschine von Ernst Mäurich, Dresden (Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, 780)

Die Ursachen hierfür lagen allerdings nicht bei der Reinkultur, sondern offenkundig in unzureichender Hygiene. Das betraf zum einen Kessel und Abfüllanlage, vor allem jedoch Flaschen und Gummiringe. Diese mussten nämlich keimfrei sein, ansonsten setzten sich rasch die „bösen“ Bakterien durch. Das wusste jede einmachende Hausfrau, doch Saya bedurfte eines deutlich reineren Umfeldes als die gern genommene und mit Konservierungsstoffen (Zucker) versehene Marmelade. Fremdinfektionen waren auch deshalb wahrscheinlich, weil die gängigen chemischen Reinigungsmittel aufgrund ihrer Auswirkungen auf den Geschmack nicht eingesetzt werden konnten.

Praktiker und Bakteriologen empfahlen gleichermaßen regelmäßige Belehrungen der Beschäftigten, sogleich aber auch der Hausfrauen, da verdorbene Ware grundsätzlich Erkrankungen nach sich ziehen konnte (Spieker, 1929, 1506). Hefen, anaeroben Sporenbildern und vor allem die gängigen Escherichia coli-Bakterien mussten schlicht gänzlich beseitig werden, bevor Saya gelang (Karl J. Demeter, Bakteriologische und biologische Untersuchungsmethoden, in: Willibald Winkler (Hg.), Handbuch der Milchwirtschaft, Bd. 2, T. 2, Wien 1931, 397-437, hier 403). Die Qualitätsprobleme der Wehsargschen Gesundheitsmilch unterstrichen indirekt, dass die Milchwirtschaft noch einen weiten Weg hin zur aseptischen Produktion auch nur der Milchspezialitäten vor sich hatte (Tr[augott] Baumgärtel, Die Anwendung von Mikrobenreinkulturen in der Milchwirtschaft, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 67, 1938, 81-88, hier 88).

Vom Nahrungsmittel zur Arznei

Die Saya GmbH in Liquidation wurde schließlich am 3. August 1932 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1932, Nr. 186 v, 10. August, 7). Die genauen Ursachen hierfür sind unklar, doch es lag sicherlich nicht an den „guten“ Bakterien. Wie schon die einfache Acidophilusmilch scheiterte Saya wohl an fehlender Hygiene und unausgereifter Technik. „Diese Milchart wurde […] unter dem Namen ‚Reform-Joghurt‘ in Deutschland eingeführt, ohne jedoch die Verbreitung zu finden, die ihrer Bedeutung als Heilmittel zukommt“ (Heinrich Thomsen, Joghurt, Acidophilusmilch und Kefir, Hildesheim 1951, 17). Und doch, das Scheitern von Acidophilusmilch und Saya war nicht vollständig.

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Trockenprodukte im Trend: „Acidophilus“ als Kaufanreiz für häuslich einzusetzende Sauermilchkulturen (C.V.-Zeitung 9, 1930, 495)

Ähnlich wie schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als frischer Joghurt mit einer großen Zahl von rasch entwickelten Trockenpräparaten konkurrieren musste, konnten Konsumenten seit Ende der 1920er Jahre auch auf eine Reihe von Acidophiluspräparaten zurückgreifen. Aus Nahrungsmitteln wurden Heilmittel. Der Absatz von Acidophilusmilch verlagerte sich von den Milch- und Kolonialwarenhandlungen in die Drogerien, die Apotheken und Reformhäuser. Im Deutschen Reich erweiterte Dr. Klebs sein Angebot unter der Dachmarke von Joghurt-Tabletten. In Österreich bot das Wiener Laboratorium Groll mit Acidophil gar ein Trockenprodukt an, mit dem sich jeder die „guten“ Bakterien eigenverantwortlich zuführen konnte.

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Vom Nahrungsmittel zum Pharmazeutikum: Werbung für Grolls Acidophil (Neue Freie Presse 1933, Nr. 24699 v. 18. Juni, 13)

Anfang der 1930er Jahre wuchs das Arzneimittelangebot weiter. Baktolax war eine Mischung aus Lactobacillus acidophilus, Fragulaextrakt sowie Gleit- und Quellmitteln, das Darmkontrolle und innere Harmonie verhieß (Hermann Poras, Über Baktolax, ein neues Darmregulans, Wiener Medizinische Wochenschrift 85, 1935, 47-49). Im Deutschen Reich konnte man auf die Edelweiß-Tabletten oder aber Acidophilus Dr. Düll zurückgreifen (Neue Erkenntnisse im Verdauungsvorgange, Badische Presse 1933, Nr. 13 v. 1. August, 6; Pharmazeutische Wochenschrift 72, 1939, 118). Diese pulverförmigen Präparate waren einfacher herzustellen, ihr Hersteller hatten weniger heikle Hygienefragen zu klären als die Saya GmbH und viele Molkereien. Gleichwohl konnte man Acidophilusmilch weiterhin vereinzelt zu kaufen, etwa als Angebot der Wiener Molkereien (Acidolphilusmilch (Wimo), Medizinische und Pharmazeutische Rundschau 7, 1931, Nr. 145, 10). Doch all dies ummäntelte nur das Scheitern der Acidophilusmilch und des Reformjoghurts Saya in Mitteleuropa. Erst der 1957 eingeführte „Bioghurt“ sollte dies schließlich ändern.

Uwe Spiekermann, 15. November 2021