Backpulver vor Dr. Oetker – Ein Ausflug in das späte 19. Jahrhundert

Backpulver? Das stammt von Dr. Oetker! So dürfte der allgemeine Tenor lauten, gebunden an Bilder traditioneller glücksstrahlender Familien, versammelt am Kaffeetisch, den Kuchen freudig im Blick. Dr. Oetkers Backpulver zeugt von der Stärke stetig geschalteter und stetig umgestalteter Werbung, von der Stärke eines Markenartikels. In der Tat füllten sich um 1900 die Anzeigenspalten von Zeitungen und Zeitschriften, priesen das Backpulver eines Dr. Oetkers, machten aus der langweilig- betriebsamen Fahrräder- und Nähmaschinenstadt Bielefeld eine Nährmaschine der besonderen Art, einen Produktionsort vermeintlich billiger Backhilfsmittel und Convenienceprodukte – allesamt nährend, allesamt gelingend. Dafür bürgte der Hellkopf, der Titel des Herrn Doktor. Markenartikel wie das 1902 für Dr. A. Oetker eingetragene Backpulver „Backin“ (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 292 v. 12. Dezember, 14) drängten jedoch nicht nur ein bestimmtes Produkt in den Vordergrund, sondern sie tilgten zugleich die Erinnerung an die Vorläufer und Wettbewerber. Das galt einerseits unmittelbar, im Falle Oetkers also im Übertrumpfen der damaligen Konkurrenten, von größeren Firmen wie Reese und Sinner, Vogeley und Dr. Crato, von Marken wie Hansa und Nissan. Das galt aber auch in der Erinnerungskultur, dem Tilgen der Branchenpioniere. Gewiss, selbst das mit Firmenauskünften und Archiveinblicken notorisch geizende Familienunternehmen hat stets konzediert, dass August Oetker (1862-1918) nicht der Erfinder des Backpulvers war. Doch die Außen- und Selbstdarstellung hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihr Produkt eine neue Ära einleitete, dass Dr. Oetkers Backpulver das beste, sicherste, zielführendste war. Also denn, erweitern wir unseren Horizont, blicken wir auf die Zeit vor Dr. Oetker, fragen nach den damals angebotenen und genutzten Backpulvern.

Wie kam das Backpulver nach Deutschland?

Backpulver – dieser Begriff war ein Lehnwort, eine deutsche Übersetzung des englischen „Baking Powder“ (F.C. Calvert, Die Schwefelsäurefabrikazion [sic!], Deutsche Gewerbezeitung und Sächsisches Gewerbeblatt 14, 1849, 381-382, hier 382). Erste derartige Patente und Produkte kamen in den 1830er und 1840er Jahren auf und stammten aus England, dem Zentrum der damaligen Welt. Wie bei den meisten alltäglichen Verbesserungen fehlt es an präziser historischer Forschung (Schemenhaft: Emma Kay, A History of British Baking […], Barnsley 2020, 134). Hierzulande galt das 1837 an Whiting verliehene Patent für die Erzeugung von Brot mittels Salzsäure und kohlensaurem Natron eher als Kuriosität, denn als Beginn einer langsamen Veränderung des häuslichen Backens (Ferdinand Artmann, Die Lehre von den Nahrungsmitteln, ihrer Verfälschung und Conservirung […], Prag 1859, 301). Die Beschreibung entsprach Anleitungen zu den im späten 19. Jahrhundert so beliebten Chemiebaukästen: „Wenn man aber Salzsäure und Kohlensäure vermischt, so entwickelt sich kohlensaures Gas; wenn man daher etwas Salzsäure mit etwas Teig vermischt und mit einem andern Theile Teig etwas Kohlensäure, so versucht das kohlensaure Gas zu entweichen, wodurch das Brot locker wird“ (Weizenbrot ohne Hefen, Allgemeine Landwirthschaftliche Zeitung 1838, 108). Das war offensichtlich für die Bäckerei, gar für frühe Brotfabriken gedacht, doch die Gasentwicklung verlief zu schnell, gesundheitliche Schäden waren nicht auszuschließen ([Friedrich Ludwig] Knapp, Brod und Brodbereitung, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 10, 1878, 288-295, hier 293). Erst in den Folgejahren entstanden in England auch häuslich praktikable Angebote, ab 1842 durch George Borwick (1807-1889), ab 1843 durch Alfred Bird (1811-1878). Sie mischten andere Stoffe, Reagenz und Reaktant, zumeist Weinsteinsäure, doppelt kohlensaures Natron und Stärkeprodukte, um handhabbarere Triebmittel zu erhalten (Verschiedene Nahrungsmittel, welche in England im Handel vorkommen, Neuwieder Intelligenz- und Kreis-Blatt 1854, Nr. 35 v. 1. Mai, 3-4, hier 4). Doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis sich Backpulver in englischen Küchen breitflächig einbürgerte.

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Backpulveranzeigen im England der späten 1840er Jahren (Leeds Mercury 1848, Nr. 6001 v. 9. Dezember, 3 (l. oben); Bristol Mercury 1846, Nr. 2937 v. 4. Juli, 1 (r. oben); Newcastle Courant 1848, Nr. 9068 v. 22. September, 1)

Nicht unbeträchtliche Resonanz verursachten in Deutschland auch entsprechende Innovationen in den USA. Dabei stand die Kuchenbäckerei im Mittelpunkt, gemischt wurde Weinstein und Kreide bzw. Kali oder Ammoniak. Dadurch sei es möglich, die „Zufälligkeiten“ des Backens mit Hefe auszuschalten (Amerikanisches Backpulver, Dinglers Polytechnisches Journal 1855, T. 3, 399-400, hier 400). Solche Vorschläge befanden die untersuchenden Männer als „sehr brauchbar“, (Amerikanisches Backpulver, Archiv für Natur, Kunst, Wissenschaft und Leben 3, 1855, 63), lobten derartige Backpulver als Garant „sehr lockerer Gebäcke“ (Allgemeine Medicinische Central-Zeitung 24, 1855, Sp. 439). Doch der Anwendungsbereich war eng, ging es doch um Konditorwaren mit viel Masse, insbesondere um Zuckerwerk (Amerikanisches Backpulver, Neues Jahrbuch für Pharmacie und verwandte Fächer 3, 1855, 106; William Löbe (Hg.), Encyklopädie der gesammten Landwirthschaft […], Suppl.-Bd., Leipzig 1860, 62). Backpulver blieben ungebräuchlich, hingen ab vom chemischen Geschick weniger Fachleute, die sie als „Mittel um lockere Kuchen zu erhalten“ definierten (G[eorg] C[hristoph] Wittstein, Taschenbuch der Geheimmittellehre, Nördlingen 1867, 15). Derartige Pulver wurden meist selbst gemischt, die Zutaten stammten aus Apotheken und Drogerien (Illustrierte Zeitung 1863, Nr. 1019 v. 10. Januar, 38).

Leisten wir uns etwas Abstand, denn angesichts unserer heutigen Koch- und Backpraxis – nehmen Sie ein Päckchen Backpulver… – wissen Sie vielleicht nur ungefähr, was in dem Tütchen ist und was es letztlich bewirkt. Backen ist „eine Art Aufwallung“ (Weizenbrot, 1838), eine Kombination von recht vermischter Materie und Energie: Mehl, Wasser, Zutaten, ein Triebmittel und Hitze – zielgerichtet eingesetzt. Für das Gelingen unseres täglichen Brotes bemühen wir keine göttlichen Kräfte mehr, sondern erklären Backen aus chemischen Reaktionen einzelner Stoffe. Kohlensäure und das so verfemte Kohlendioxid (CO2) sind dabei zentral, sie bewirken ein Auftreiben und damit die Lockerung des Teigs, machen ihn bekömmlich und schmackhaft. Dieser Prozess wurde Mitte des Jahrhunderts jedoch nicht durch „Chemikalien“ in Gang gesetzt, sondern durch Sauerteig einerseits, Hefe anderseits. Backpulver – beachten Sie bitte den Plural! – traten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an deren Seite. Backpulver waren Mischungen chemischer Stoffe, die möglichst effizient eine chemische Reaktion auslösen sollten, die in der Küche, in der Bäckerei bereits zuvor erfolgte, nicht aufgrund des Kopfwissens der Experten, sondern des Handwissens von Hausfrau und Meister. Backpulver waren Ausdruck menschlicher Herrschaft über die Materie, waren unmittelbar abrufbare Abläufe, dem Menschen dienstbar, ihm frommend. Sauerteig und Hefe besaßen einen sicheren Platz im Alltag, in der Praxis von Haushalt und Backstube, nicht aber die Backpulver. Sie wirkten, gewiss. Doch über die optimale Zusammensetzung und die gesundheitlichen Folgen waren sich die Experten uneins. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es hierzulande zudem keine Produktions- und Absatzstrukturen. Sie mussten bedacht, erörtert, entwickelt und umgesetzt werden. Dr. Oetker stand ganz hinten in dieser Kette. Er war vorrangig Nutznießer, für all das andere aber unwichtig.

Ein anderer Blick auf den Alltag

Eigentlich müsste ich nun mit einem anderen großen Mann fortfahren, mit Justus Liebig (1803-1873), dem wohl wichtigsten Anreger der Naturforschung Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch seine 1868 formulierten Vorschläge für ein neues Backpulver werden nur verständlich, wenn man andere Entwicklungen dieser Zeit im Kopfe hält.

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Neue wissenschaftliche Blicke: Weizenmehl unterm Mikroskop (Habich, 1867, 42 (l.); Schimper, 1886, 13)

Erstens veränderte sich damals das Verständnis der Welt – wenngleich für die Mehrzahl nur schemenhaft. Hatten Entdecker und Astronomen die Größe der Welt und die Weiten des Firmaments erschlossen, so traten seit dem 18. Jahrhundert daneben neue Mikrowelten, teils sichtbar, teils nur mehr vorstellbar. Getreide und Mehl waren Grundbestandteile der Nahrung, das Korn Grundlage menschlicher Existenz. Doch mittels des Mikroskops veränderte sich dieser Blick, denn je genauer man blickte, desto wunderlichere Bestandteile fand man. Sie zu benennen, sie zu systematisieren, sie dann zu erklären – das waren Aufgaben der Naturforschung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Justus Liebig formulierte um 1840 ein Modell eines umfassenden Stoffwechsels, gründend auf den chemischen Stoffen, ihren Reaktionen und Umwandlungen. Ihnen war alles unterworfen, Organisches und Unorganisches, Pflanzen, Tiere und Menschen. Getreide und Mehl bestanden vornehmlich aus Stärke, wurden als solche vom Menschen aufgenommen und weiterverarbeitet, waren Teil eines ewigen Kreislaufes von Materie und in ihr erhaltener Energie (mehr in Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 32-37). Ihn galt es zu erkennen, ihm galt es sich anzupassen.

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Die rational abwägende Hausfrau – und ein Mehlsieb für die rechte Vermengung (Backpulver-Kochbuch, 1891, I; ebd., 17)

Zweitens veränderte sich damit auch die Rolle der Hausfrau. Ihre Aufgabe schien damals nicht die Erkundung der Welt zu sein, wohl aber hatte sie die dafür notwendigen häuslichen und reproduktiven Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Hausfrau war Funktionsträgerin, war Spezialistin für den Alltagsbetrieb im Familiennukleus, Wiederherstellerin des durch Arbeit Verbrauchten, eine Art Katalysator im Betriebsstoffwechsel der bürgerlichen, der menschlichen Gesellschaft. Sie hatte das neue Wissen aufzunehmen, es „naturgesetzlich“ umzusetzen, damit den Haushalt effizient zu gestalten – und das Wirtschaftsgeld so zu verwenden, dass alle mit Maß genährt wurden, es zudem schmeckte. Sie musste wissen, was sich in den Nahrungsmitteln verbarg, welche Funktion das eiweißhaltige Fleisch, die brutzelnde Butter, das stärkehaltige Brot besaß. Sie war die Energetikerin am Herde, setzte Gewürze und Ingredienzien ein, um aus Einzelteilen mehr zu machen, eine mundende Speise, Handlungsenergie für die Arbeit. Dazu nutzte sie Hilfsmittel, die Wage wie der Apotheker, das Sieb wie der Landmann. Die Hausfrau war unverzichtbarer Teil einer allgemeinen Arbeit, in der alle ihre Funktion, ihre Aufgabe hatten.

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Neue Erkenntnisse – und eine neue Welt (Industrie-Blätter 4, 1867, 81)

Drittens charakterisierte diese Zeit, dieses bürgerliche Zeitalter, eine Funktionsgruppe der gewerblichen Macher und Umsetzer, der Leute von Bildung und Kapital, der Unternehmer. Sie mochten von unterschiedlicher Herkunft sein, eigensinnigen Interessen folgen. Doch sie verkörperten die List der Vernunft, waren Ausdruck des waltenden Weltgeistes: Effizienz und Betriebsamkeit, Berechenbarkeit und Beschleunigung, all das vereinigten sie in modernen Gewerben, in Maschinen und Fabriken. Letztere mochten stationär sein, doch sie waren zugleich miteinander verbunden, durch Eisenbahn und dann auch Dampfschiffe, Teil eines regionalen, nationalen und globalen Austausches, Ausdruck zeitweiligen Gleichgewichts und stetem Vorwärtsdrängens, hin zum Neuen, hin zu Besserem. Unternehmer waren Wissende und Wagende, vorwärtsschreitend Dienende, Propheten und Gestalter eines neuen Gleichgewichts. Diesem sich zu beugen war nicht Zwang, sondern Klugheit, Einsicht in die tiefgründiger verstandene Verfasstheit der Welt. Sauerteig und Hefe hatten ihren Wert, doch die neue Zeit würde an ihre Stelle Überlegenes setzen – Backpulver.

Liebig als Anreger im Konsumsektor

Justus von Liebig, geehrt und geadelt, war mehr als ein Naturforscher. Seine Weltdeutung veränderte die Agrikultur, führte zu neuen Formen des Kunstdüngers und der Tierfütterung. Liebig war Zeit seines Lebens Arbeiter im Laboratorium, doch sein Feld war auch die Welt, war deren Anpassung an seine Weltsicht. Zahlreiche Konsumgüter entstanden aufgrund seiner Anregungen. Am bekanntesten, gewiss, der Fleischextrakt. Doch seine Malzsuppe für Säuglinge zielte auf eine rationale Nährung der Jüngsten, nahm dafür deren Mütter in harte Pflicht (Spiekermann, 2018, 91-92). Neben Fleisch und Milch trat aber auch das wichtigste Nahrungsmittel, das Brot. Seit den späten 1840er Jahren hatte sich Liebig mehrfach mit dem Brotbacken beschäftigt. Für ihn war dies nicht nur eine wissenschaftliche Aufgabe, sondern eine Antwort auf die (nicht nur) damals brennende soziale Frage. Die Sauerteig- und Hefegärung führten zu Nährstoffverlusten, diese galt es zu vermeiden. Liebig empfahl daher schon in seinen vielgelesenen Chemischen Briefen eine Art Vollkornbrot, pries den zuvor verfemten westfälischen Pumpernickel, bei dem die Kleie mit verbacken wurde (Justus von Liebig, Chemische Briefe, Leipzig und Heidelberg 1878, 304). Doch entgegen der Mär, dass derartiges Brot typisch für die alten Deutschen gewesen sei – Vollkornbrot ist ein modernes, v.a. seit den 1890er Jahren entwickeltes Produkt –, blieb die Anregung großenteils folgenlos (sieht man einmal von der Gründung der Firma Sökeland und den zahlreichen unverdienten Späthuldigungen Liebigs zur Zeit der NS-Vollkornbrotpolitik ab). An der Mehrzahl der Essenden prallte derartig rational begründete Fremdbeglückung ab, auch die Bäcker stellten ihre Arbeit nicht um. Liebig aber versuchte seine Mission auf andere Art fortzusetzen, nämlich durch den nachträglichen Zusatz der durch das Mahlen entfernten Stoffe. Das war die zentrale Aufgabe des Backpulvers.

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Idealisierte Darstellung des Müller- und Bäckerhandwerks (Müller-, Bäcker- und Conditoren-Zeitung 4, 1874, Nr. 146, 1)

Bevor wir darauf genauer eingehen, noch einige Hinweise zu der Situation in den 1860er Jahren. Erstens war Brot damals neben der Kartoffel das eigentliche Rückgrat der Alltagsversorgung. Es handelte sich zumeist um Roggen- oder Mischbrot, Weizenbrot war abseits des Südwesten und Bayerns selten, eher Vorrecht der Begüterteren. Idyllischen Bildern des alten Bäckergewerbes zum Trotz war die gewerbliche Brotproduktion in deutschen Landen gar nicht so bedeutend. Zwei Drittel des Brotes – so nicht unplausible Schätzungen für die 1860er Jahre – wurden häuslich gebacken, also im eigenen Herd, im eigenen Ofen oder im noch üblichen dörflichen Backofen (Georg von Viebahn, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Bd. 3, Berlin 1868, 589). 1861 beschäftigte das preußische Backgewerbe ca. 47.000 Personen, darunter mehr als 26.000 Meister (Bundesrepublik Deutschland 2021: unter 10.000 Betriebe mit ca. 240.000 Beschäftigten, größtenteils im Verkauf). Bäckerbrot war gemeinhin besseres Brot – und bis zur Jahrhundertwende dürfte es mindestens zwei Drittel des Marktes ausgemacht haben. Die durchschnittliche Bäckerei wurde größer, Brotfabriken blieben im Deutschen Reich aber, anders als in Großbritannien, Ausnahmen.

Zweitens hatte sich Backpulver in den 1850er und 1860er Jahren zwar nicht eingebürgert, wurde aber auch abseits des Konditorgewerbes ab und an verwandt. Gekauft wurde allerdings kein Backpulver, sondern Hirschhornsalz, Pottasche oder kohlensaures Natron und Weinstein, die dann dem Backwerk nach eigener Façon zugemischt und zugemengt wurden. Im Tenor der Zeit hieß das: „Derartige Mittel sind in der Wärme des Backofens flüchtige, der Gesundheit nicht schädliche Stoffe, z.B. das doppelt kohlensaure Ammoniak und die Kohlensäure selbst, welche man, an Wasser gebunden, dem Teige beimischt. Man hat dem Mehle auch wohl doppelt kohlensaures Natron als Pulver zugesetzt und mit dem zur Bereitung des Teiges nothwendigen Wasser so viel Salzsäure hinzugefügt, daß beide Stoffe sich zu Kochsalz verbinden. Auch die Weinsteinsäure ist in Verbindung mit Soda, Kochsalz und Zucker angewendet worden. Weit zweckmäßiger und beliebt ist es jedoch, dem Teige solche wenige Stoffe beizumischen, welche geeignet sind, denselben in weinige Gährung zu versetzen, bei welcher durch die ganze Masse des Teiges Kohlensäure und Weingeist gebildet werden: sie erzeugen schon bei geringer Wärme in dem Teig eine Menge gleichförmig vertheilter Blasen, welche dem Backwerk eine schwammige Beschaffenheit ertheilen und dasselbe leicht verdaulich machen“ (Viebahn, 1868, 584). Beim Kuchen bediente man sich als Lockerungsmittel zudem häufig Alkoholika wie Branntwein, Rum und Arak: Beim Backen entwich der Alkohol, hob und trieb so den Teig. Auch Eischnee wurde nicht nur wegen des besseren Geschmacks genutzt (R[udolf] Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 71).

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Moderne Wachstumsindustrie: Mautnersche Wiener Presshefe-Fabriken (Wiener Bäcker- und Müller-Zeitung 3, 1878, 7)

Drittens dominierten Sauerteig und Hefe weiterhin das Backen. Sauerteig war Teil steter Vorratswirtschaft, handelte es sich doch um einen getrocknet aufbewahrten Altteig, der dann in lauem Wasser aufgelöst und schließlich dem neuen Brotteig zugesetzt wurde. Damals noch nicht bekannte Milchsäurebakterien und auch Hefepilze bewirkten eine Gärung, ergaben zugleich einen leicht säuerlichen Geschmack. Sauerteig wurde vornehmlich für dunklere Brote verwandt. Hefe war zur damaligen Zeit zumeist Bierhefe, teils auch Branntwein- und Weinhefe, wurde nur selten gezielt als Backhefe gezüchtet. Der Wandel des Brauens durch Kühltechnik und Reinzuchthefen seit den 1870er Jahren stärkte die gesonderte Produktion von Preß- und Backhefe. Deren Wirkung war verlässlicher, berechenbarer. Allerdings musste ein Hefeteig über mehrere Stunden aufgehen, musste häufig am Abend vor dem Backen vorbereitet werden. Hefe wurde eher im Süden Deutschlands eingesetzt, für Kuchen und helleres Brot. Beide, Hefe und Sauerteig, führten zu Nährwertverlusten als Folge der Alkohol- und Kohlensäurebildung, gaben dem Backwerk zugleich einen charakteristischen Geschmack (I[sidor] Rosenthal, Vorlesungen über die öffentliche und private Gesundheitspflege, Erlangen 1887, 296).

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Eben Norton Horsford (1818-1893) und die Büste Justus von Liebigs in der Bayerischen Walhalla (Memoriam, 1893, 2 (l.); Illustrierte Technik für Jedermann 3, 1925, 98)

Liebig hatte sich mit Brotzusätzen schon Mitte der 1850 Jahre beschäftigt: Anstelle der nicht nur in Belgien verbreiteten Sitte, dem Mehl gesundheitsschädliches Alaun und Kupfervitriol beizumengen, empfahl er Kalkwasser – 26 bis 27 Pfund pro 100 Pfund Mehl, dazu reines Wasser und zusätzliches Salz. So könne man das an sich fehlerhaft aufgebaute Getreide physiologisch verbessern, die Knochenbildung fördern, ein auch schmackhaftes Brot backen (Justus Liebig, Ein Mittel zur Verbesserung und Entsäuerung des Roggenbrodes (Hausbrod, Commisbrod), Annalen der Chemie und Pharmacie 91, 1854, 246-249). Anfang 1868 griff er – veranlasst auch durch die Getreidemissernte 1867 und ihre Auswirkungen namentlich in Ostpreußen – neuerlich zur Feder und empfahl den Zusatz von Natriumbikarbonat und Salzsäure. Die aus der Reaktion entstehende Kohlensäure würde den Teig locker machen, das neu gewonnene Salz den Geschmack befördern (Max Rubner, Physiologie der Nahrung und der Ernährung, in: E[rnst] von Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Leipzig 1898, 20-155, hier 97). Chemisch war dies ausgeklügelt, „genial […] gedacht“, doch die „minutiöse Genauigkeit im Abwiegen der Substanzen“ (C. Raabe-Graf, Ueber Verwendbarkeit einiger Backpulver in der Bäckerei und Haushaltung, Die chemisch-technischen Mittheilungen der neuesten Zeit NF 7, 1879, 186-189, hier 187) verwies Liebigs Anregung von Beginn an in das enge Geviert eines Laboratoriums, in die Echolosigkeit der Unbedachtheit.

Doch der Münchner Chemiker ließ sich dadurch nicht beirren, sondern schlug Ende 1868 neue Verfahren vor, sorgte in der Zwischenzeit auch für deren praktische Erprobung (Justus v. Liebig, Eine neue Methode der Brodbereitung, Annalen der Chemie und Pharmacie 149, 1869, 49-61 – daraus die folgenden Zitate). Liebig war durch die Ablehnung gekränkt, polemisierte eingangs gegen die Fortschrittsresistenz der Bäcker, gegen die Indolenz der Masse, sei doch Fortschrittssinn und „ein gewisser Grad von Bildung“ erforderlich, um seinen Vorschlag aufzugreifen. Nun denn, es folgte ein neuerlicher Vorschlag, um „aus gewöhnlichem Mehle, ohne Kleie, ein schönes, schmackhaftes Brod zu bereiten von höherem Nährwerth, als dem Brode aus demselben Mehle nach jeder anderen Methode bereitet zukommt.“ Liebig verwies neuerlich auf den gesundheitlich bedenklichen Verlust wichtiger „Nährsalze“ durch das Mahlen. Der Nährwertverlust betrage etwa 12 bis 15 Prozent. Eine andere Art der Brotbereitung sei daher von immenser nationalökonomischer Bedeutung, „denn der Erfolg in der Praxis der Ernährung ist alsdann genau so, wie wenn alle Felder in einem Lande ⅟7 bis ⅛ mehr Korn geliefert hätten; mit derselben Menge Mehl wird durch diese Ergänzung eine größere Anzahl Menschen gesättigt und ernährt werden können.“ Just das leiste das Horsfordsche Backpulver, „die ich für eine der wichtigsten und segenreichsten Erfindungen halte, welche in dem letzten Jahrzehnt gemacht worden sind.“ Doch Liebig wäre nicht Liebig, hätte er nicht an einer Verbesserung des Produktionsverfahrens gearbeitet, einer Mischung von Phosphorsäure mit doppeltkohlensaurem Natron. Das sei an sich sinnvoll, doch doppeltkohlensaures Kali eigne sich besser zum Ausgleich der stofflichen Defizite des Getreidekorns, es munde zudem besser. Allein, es sei zu teuer. Stattdessen setzte Liebig auf das im anhaltinischen Staßfurt seit 1851 billig gewonnene Chlorkalium. Er errechnete nun das für die Reaktion und die Neutralisierung der zugesetzten Stoffe erforderliche Verhältnis – pro Pfund Mehl 14 Gramm Phosphorsäure und 9 Gramm Chlorkalium – und empfahl diese Stoffe als neue Backpulver, als Zusatz zum Mehl (nicht ohne ein noch besseres, letztlich aber kaum praktikables Verfahren darzulegen): „Das nach dieser Methode bereitete Brod ist von schönem Aussehen, aber schwerer wie das gewöhnliche Bäckerbrod; das letztere ist großblasig und fällt durch sein größeres Volumen mehr in die Augen.“ Gewiss, das neue Backpulver verursache Kosten von 15-18 Kreuzern [60-72 Pfennigen, US], doch nach seiner Berechnung ergäbe das Verfahren 10 bis 12 Prozent mehr Brot, sei dank der Zusätze auch deutlich nahrhafter. Liebig hatte sich auf die Brotbäckerei konzentriert, Küchengebäcke schloss er aus. Sein Ziel war nicht nur ein besseres und nahrhafteres Brot, sondern auch dessen großbetriebliche Herstellung: „Mit dem Ausschluß des Gährungsprocesses fällt das Haupthinderniß hinweg, welches dem industriellen Betriebe des Bäckergewerbes entgegenstand“. Das neue Backpulver diene der Allgemeinheit, sei für den Schiffsverkehr, das Militär, für Gefängnisse und Armenhäuser anzuraten. Die Produktion sei schon im Gange, zwei Fabrikanten damit betraut. Liebigs Artikel wurde Ende 1868 in den führenden Tageszeitungen des deutschen Sprachraums veröffentlicht (Kölnische Zeitung 1868, Nr. 355 v. 22. Dezember, 6; Der Bund 1869, Nr. 2 v. 3. Januar, Sonntagsblatt, 1-2), hinzu kamen zahllose Paraphrasen des Inhalts (etwa Zu den Brotstudien, Der Wächter 1869, Nr. 2 v. 4. Januar, 2-3).

Für die teils bis heute übliche Liebig-Hagiographie (einschlägig Jakob Volhard, Justus von Liebig, Bd. II, Leipzig 1909, 292-303) war dies ein neuerlicher Beleg für die Schaffenskraft und das soziale Engagement des hochgeehrten Innovators. Festzuhalten aber ist, dass dieser seit Mitte der 1850er Jahre in stetem Austausch mit seinem früheren amerikanischen Schüler Eben Norton Horsford (1818-1893) stand. Liebigs wusste um Horsfords Vorarbeiten, von seinem Backpulver-Patent (Nr. 14722), von dessen Übertragung in die industrielle Fertigung und seinem Bestreben, die Zusammensetzung zu optimieren (Paul R. Jones, Justus von Liebig, Eben Horsford and the development of the baking powder industry, Ambix 40, 1993, 65-74). Die zusammenfassende Broschüre (E[ben] N[orton] Horsford, The Theory and Art of Breadmaking, Cambridge 1861) hatte Horsford nach Erscheinen an Liebig gesandt. Auch danach tauschten sich beide über Backpulverfragen aus, auch 1868/69, als es darum ging, die veränderte Rezeptur Liebigs in ein verkaufsfähiges Produkt umzusetzen. Horsfords Backpulver war bereits eine Umsetzung der allgemeinen Prinzipien Liebigs, ermöglichte es doch einen rechnerisch höheren Nährwert und „scientific precision which successful bread-making requires” (Baking-Powders, The Manufacturer and Builder 2, 1870, 88). Horsfords Backpulver bestand aus zwei getrennt abgepackten Komponenten, Weinstein/doppeltkohlensaurem Natron und kalziumsaurem Phosphat/Phosphorsäure. Sie mussten ausgepackt und vermengt werden, die richtige Mischung erlaubte ein beigefügtes Zinngefäß mit zwei Kegelstümpfen unterschiedlichen Umfangs. Dieses wurde mit beiden Komponenten gefüllt, Wasser hinzugefügt, mit Mehl zum Teig verarbeitet und dann in den Ofen gegeben.

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Lange vor Horsford: Werbung für Durkee’s Baking Power (Kenosha Telegraph 1851, Nr. 50 v. 6. Juni, 3 (l. oben); Herald of the Times 1852, Nr. 1147 v. 2. September, 3 (l. unten); Wilmington Journal 1853, Nr. 51 v. 26. August, 3)

Eben Norton Horsford gilt als der Begründer der amerikanischen Backpulverindustrie, doch er war sicher nicht der erste industrielle Produzent oder gar der eigentliche „Erfinder“ des Backpulvers. Man wusste in der früheren Kolonie um die englischen Vorarbeiten. Bereits 1850 wurden erste weinsteinhaltige Backpulver von Preston & Merrill (Boston, MA) oder E.R. Durkee (New York City, NY) verkauft. 1853 folgte Vincent C. Price (Troy, NY) mit einer Mischung aus Weinstein und Natriumkarbonat (L.H. Bailey, Development and Use of Baking Powder and Baking Chemicals, Washington 1930, 2). Über den 1818 in Moscow, NY, in einer gutbürgerlichem Familie geborenen Eben Norton Horsford gäbe es viel, sehr viel zu erzählen: Eine zielstrebige Karriere im Feld von Technik und Chemie, der zweijährige Studienaufenthalt in Gießen als Schüler Liebigs, die nach der Rückkehr 1847 erfolgte Übernahme des neu geschaffenen Rumford Chair on the Application of the Useful Arts an der Harvard University, das Klonen von Liebigs Laboratorium und seiner Art des chemisch-technischen Studiums an der Lawrence Scientific School in Harvard (Charles L. Jackson, Eben Norton Horsford, Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 28, 1892/93, 340-346). Schweigen werde ich von seiner Förderung des Frauenstudiums, seine später von der Firma Borden genutzten Forschungen zur Kondensmilch und seinen höchst problematischen Beiträgen zur Siedlungsgeschichte Nordamerikas (Georg Schwedt, Liebig und seine Schüler, Berlin u.a. 2013, 213-214; William H. Brock, Justus von Liebig. The Chemical Gatekeeper, Cambridge und New York 2002, 239). Der nie promovierte Wissenschaftler hatte sich 1854 an einer von George Francis Wilson (1818-1883) initiierten chemischen Handelsfirma in Pleasant Valley, RI, beteiligt. Ging es anfangs um die Produktion des Bleichmittels Kalziumsulfat, so stand nach der Verlagerung der Firma nach Seekonk, MA, die Produktion von kalziumsaurem Phosphat im Mittelpunkt – einem Bestandteil des 1856 auf Horsford patentierten Backpulvers. Die Firma wurde in Anlehnung an seinen Lehrstuhl in Rumford Chemical Works umbenannt; in Erinnerung an den Loyalisten und naturwissenschaftlichen Forscher Benjamin Thompson, Reichsgraf von Rumford (1753-1814), dessen zeitweiliges Wirken in München mit der Rumford-Suppe für Arme und dem Englischen Garten für Bürger nur unzureichend umrissen ist. Horsford jedenfalls verließ 1862 seinen Lehrstuhl, nachdem er langjährige Patentstreitigkeiten erfolgreich abgeschlossen hatte, und konzentrierte sich bis zu seinem Lebensende auf die Leitung seines höchst lukrativen Unternehmens, andere Geschäfte und die Archäologie (Linda Civitello, Baking Powder Wars. The Cuthtroat Food Fight that Revolutionized Cooking, Campaign 2017, insb. Kap. 3).

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Liebigadepten als Backpulverproduzenten: Ludwig Clamor Marquart und Werbung der Düngermittelfabrik von Georg Carl Zimmer (Wikimedia Commons (l.); Pfälzer Bote für Stadt und Land 1870, Nr. 29 v. 8. März, 116)

Der Reigen der Macher schloss ebenso die beiden Produzenten des Horsford-Liebigschen Backpulvers ein. Der Name würdigte die entscheidenden Vorarbeiten des Amerikaners, berücksichtige aber auch Liebigs neuartige Zusammensetzung und nutzte die immense Werbekraft seines Namens. Der in Frankfurt a.M. geborene und in Heidelberg lebende Georg Carl Zimmer (1839-1895) hatte Mitte der 1860er Jahre die Kunstdüngerfabrik Clemm-Lennig von seinem Onkel, dem Liebig-Schüler Carl Clemm-Lennig (1818-1887) übernommen. 1855 gegründet, produzierte sie auf Grundlage der Liebigschen Agrikulturchemie Düngemittel, erst Knochen, dann Superphosphat und weitere Mineraldünger, schließlich auch zahlreiche chemische Grundstoffe (Heinrich Caro, Über die Entwicklung der Chemischen Industrie von Mannheim-Ludwigshafen a. Rh, in: Ders., Gesammelte Reden und Vorträge, Berlin und Heidelberg 1913, 133-178, hier 143). Zimmer sollte später auch das Hauptdepot für den Verkauf von Liebigs Fleischmehl übernehmen, einem Futtermittel aus dem Resten der Fleischextraktproduktion im uruguayischen Fray-Bentos (Adressbuch und Waarenverzeichniss der chemischen Industrie des Deutschen Reiches 1, 1888, hg. v. Otto Wenzel, Berlin s.a., Abt. II, T. I, 361). Auch der gelernte Apotheker Ludwig Clamor Marquart (1804-1881) war mit Liebig gut bekannt. Seine Karriere chargierte zwischen Köln, Heidelberg und Bonn, zwischen Apotheke, einem eigenen pharmazeutischen Institut und der 1846 gegründeten Fabrik chemischer Produkte. Liebig kooperierte also mit zwei etablierten Unternehmen, um Backpulver in deutschen Landen allgemein einzubürgern. Sie begannen Anfang 1869 mit großzügiger Anzeigenwerbung.

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Anpreisung des Neuen (Bonner Zeitung 1869, Nr. 5 v. 6. Januar, 4)

Breit gefächerte Werbung

Bevor wir näher auf die Werbung für das Horsford-Liebigsche Backpulver eingehen, sollten wir uns nochmals die Motive für das neue Produkt vor Augen führen (wobei ich den Lockreiz des Geldes außen vor lasse). Erstens ging es um nicht weniger als um eine neue menschengemachte Ordnung im Ernährungssektor. Es galt ungeregelte „natürliche“ Prozesse, die Hefe- und Sauerteiggärung, durch eine planmäßig ablaufende Reaktion klar definierter Chemikalien zu ersetzen. Dadurch erst sei gezieltes und sparsames Backen möglich. Einerseits könne so der Nährstoffverlust durch die Zersetzung der Glukose minimiert, anderseits der Beginn der Gärung unmittelbar gesteuert werden (Viktor Gräfe, Über Backhilfsmittel, Drogisten-Zeitung 36, 1921, 327-329, hier 327). Zweitens ging es um eine neue Ökonomie im Ernährungsalltag. Die Experten rechneten die Verluste durch natürliche Prozesse hoch, verdampften allein bei der Hefegärung doch 40 bis 50 Millionen Liter Alkohol. Das war ein Wert von 20 bis 25 Millionen Gulden, Kapital, das Bäcker und Haushalte rationaler investieren konnten (Rudolf Wagner, Ueber das Hefenpulver der Nordamerikaner, Industrie-Blätter 5, 1868, 182-183, hier 182). Andere rechneten mit einem Minderverbrauch von 100 Tonnen Brot pro Tag, günstigeren Preisen, mehr Nahrung (F[riedrich] Strohmer, Die Ernährung des Menschen und seine Nahrungs- und Genussmittel, Wien 1887, 198). Drittens ging es um einen weiteren Industrialisierungsschub, nun aber im vermeintlich rückständigen Kleingewerbe. Dieser Mittelstand schien durch die Industrie bedroht, hatte sich zu modernisieren, um seine wichtige gesellschaftspolitische Mittlerposition weiter ausüben zu können. Nicht umsonst war das Backpulver auch Teil der Rezeptur des später führenden Nationalökonomen Gustav Schmoller (1838-1917) für eine „professionsmäßige Bäckerei“ (Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert […], Halle/S. 1870, 415). Es ging beim Backpulver also auch um die Zukunft der Monarchie und des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Seine Einführung war Teil des Einholens der führenden Wirtschaftsmacht, des Britischen Weltreiches. Viertens schließlich handelte es sich bei der Einführung des Backpulvers um einen Test der Mehrzahl. Es ging um eine Reifeprüfung für Gewerbe und gemeinem Mann. Das liberale Bürgertum war in dieser Zeit zwischen dem deutschen Bruderkrieg 1866 und der sich abzeichnenden Gründung eines kleindeutschen Reiches unter preußischer Führung unsicher, ob es der Macht folgen oder die demokratischen Ideale weiter spinnen wollte. Konnte man ein demokratisches System wagen, wenn die Mehrzahl rationale Angebote nicht wahrnahm? Die Einführung des Backpulvers reichte zu dieser Zeit weit über Küche und Backstube hinaus.

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Münchner Anzeige gemäß der Vorlage des Mannheimer Produzenten Zimmer (Bayerischer Kurier 1869, Nr. 44 v. 13. Februar, 410)

Das Horsford-Liebigsche Backpulver wurde in einer für damalige Verhältnisse überzeugenden Weise präsentiert und beworben. Drei Ebenen gilt es zu unterscheiden, mochten sie auch miteinander verwoben sein. Beginnen wir erstens mit der Arbeit der beiden Produzenten. Sie hatten mit den Vorbereitungen für die Produktion spätestens im Frühjahr 1868 begonnen. Obwohl Zimmer und Marquart Teilkomponenten des Backpulvers selbst herstellten, bereitete deren großbetriebliche Produktion beträchtliche Schwierigkeiten (Volhard, 1909, 298-300; Jones, 1993, 69-70). Backversuche ergaben fehlerhaftes Brot, einschlägig betraute Bäckermeister verwiesen auf fehlendes Volumen. Über all das tauschten sich Liebig, Horsford, Zimmer und Marquart brieflich aus, allesamt darauf vertrauend, dass am Ende die Idee über die Widrigkeiten triumphieren würde. Das schließlich angebotene Backpulver zielte auf Brotherstellung und Bäckereien. Entsprechend wurde es in ganzen und halben Kisten von 100 und 50 Pfund zu 17 Talern und 5 Silbergroschen für 100 Pfund verkauft. Ein Konsumvereinsvorsitzender schrieb: “Probepaquete und 5 Pfund Backpulver werden zu 1 Thlr. 5 Sgr. versandt und ausführliche Gebrauchsanweisungen daneben ertheilt“ und berichtete über „befriedigende Resultate“ (Otto Krüger, Zur Brodbereitungsfrage, Blätter für Genossenschaftswesen 16, 1869, 54-55, hier 55). Das Brot würde zwar teurer, doch der Arbeitszeitgewinn in einer kleinen Konsumvereinsbäckerei gleiche das aus, zumal man auf die Aussage vom höheren Nährwert des neu bereiteten Brotes vertraue.

Die Anzeigen wiederholten im Wesentlichen die Argumente Liebigs. Es handelte sich um Ankündigungen, ja Verlautbarungen. Das Backpulver wurde als überlegenes, revolutionäres Angebot präsentiert, dessen Verwendung scheinbar für sich sprach. Die Kunden erhielten mit der Kiste resp. dem Paket eine Gebrauchsanweisung. Die getrennt abgepackten Säure- und Basekomponenten mussten vom Anwender selbst vermischt werden. Die Gewichtsrelationen hatte man durch die Zumischung von Stärke einander angeglichen, so dass man nicht – wie noch beim amerikanischen Vorbild – unterschiedliche Mengen der Einzelbestandteile abmessen musste. Wichtig war und blieb die trockene Lagerung des Inhalts der schon angebrochenen Verpackungen.

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Angebote auch in der Schweiz (Intelligenzblatt für die Stadt Bern 1869, Nr. 48 v. 18. Februar, 2 (l.); Zürcherische Freitagszeitung 1869, Nr. 9 v. 26. Februar, 3)

Marquart versuchte allerdings in dem von ihm verantworteten norddeutschen Markt Backpulver auch für den Küchengebrauch zu empfehlen, verwies dabei auf die Praxis der amerikanischen Hausfrau (Hamburger Nachrichten 1869, Nr. 46 v. 23. Februar, 10). Beiden Anbietern gelang es, das neue Produkt im Zollverein und im Norddeutschen Bund anzubieten, zudem übernahmen sie auch Offerten aus dem Ausland. Über die Anzeigen hinaus beschickten sie Fachmessen und Ausstellungen, erhielten dabei auch Auszeichnungen (Karlsruher Zeitung 1869, Nr. 229 v. 30. September, 3). An den Ständen wurden Büchsen mit Backpulver präsentiert, sollten Brotproben die Besucher überzeugen (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 157 v. 6. Juni, 5229). Der Geschmack war weniger sauer, die Resonanz allerdings überschaubar: „ Auch Sachsen hat schon hier und da dieses Backpulver praktisch eingeführt […] und soll auch […] in Dresden Herr Bäckermeister Seidel […] sich der neuen Brodbereitungsmethode angeschlossen haben“ (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 164 v. 13. Juni, 1).

Diese Firmenwerbung sollte den Anstoß nicht nur für Käufe, sondern auch für eine öffentliche Debatte sorgen und Berichterstattungen über das neue Backpulver in Gang setzten. Die Werbung gründete zweitens also auf den Institutionen des gewerblichen und öffentlichen Lebens. Das entsprach dem bürgerlichen Ideal der Debatte und wechselseitigen Aufklärung. Das lokale Brotbacken sollte damit Ereignis werden, Bildungsinstitution. Und so fand sich im badischen Weinheim eben nicht nur ein backpulverbackwilliger Bäcker, sondern auch ein erfahrener Chemiker, der das neuartige Angebot um „eine volksthümliche Beleuchtung des Brotbackens“ bereicherte (Karlsruher Zeitung 1869, Nr. 64 v. 17. März, 3). In den Zeitschriften las man zudem Glossen über die Vorteile des Backpulver auch für die Hauswirtschaft, in denen Hausfrauen darauf verwiesen wurden, dass „man neben dem Kochen Brod backen kann, ohne durch langdauernde Vorbereitungen, Gährenlassen etc., Zeit zu verlieren“ (Mannheimer Abendzeitung 1869, Nr. 85 v. 11. April, 3). Entsprechender Flankenschutz kam auch von Wissenschaftlern. Der Bonner Chemiker und Liebig-Schüler August Kekulé (1829-1896) hob etwa im Sinne seines Meisters hervor, „daß nämlich bei der jetzigen verfeinerten Lebensweise ein künstlicher Zusatz von Mineral-Substanzen zur Nahrung – eine Art Mineral-Düngung – nothwendig oder wenigstens vielfach zweckmäßig sei“ (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 113 v. 24. April, 10). Ein Ansturm Düngersüchtiger auf die Bäckereien unterblieb jedoch.

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Berichtete Brotvermehrung bei württembergischen Backversuchen (Ökonomische Fortschritte 3, 1869, 345)

Die wichtigsten Multiplikatoren waren allerdings Gewerbetreibende, organisiert in ganz Deutschland umspannenden Netzwerken von Gewerbe-, Industrie- oder polytechnischen Vereinen. Das waren die Wähler der 1. und 2. Klasse, die bestimmenden Kräfte in den Städten. Sie dachten praktisch, mit Sinn für den Nutzen. Die von Liebig angeführten Vorteile waren für sie überzeugend, doch sie diskutierten zugleich die noch bestehenden Probleme (Kerner, Ueber die Brodbereitung mit Horsford-Liebig’schem Backpulver, Gewerbeblatt aus Württemberg 1869, 83-85, hier 85). Blicken wir beispielhaft auf die Königlich Württembergische Centralstelle für Gewerbe und Handel. Sie kaufte eine große Charge Backpulver und versandte Proben an gleich 70 Adressen, bat um Prüfung und Stellungnahmen, wohl wissend, dass „die Vortheile, die es darbietet, auch mit Aufopferung gewöhnter Ansprüche erkauft werden müssen“ (Zur Horsford-Liebig’schen Brodbereitungsmethode, ebd., 101-102, hier 102). Die Rücklaufquote war hoch: Der Geschmack sei recht gut, doch das Brot durch den Zusatz auch teurer. Werte wie „Pünktlichkeit und Sorgfalt“ und „Wägen und Sieben“ seien nun gefragt, von den Bäckern eingefordert (Die Brodbereitung mittelst des Horsford-Liebig’schen Backpulvers, ebd., 120-121, hier 121). Allen Vorteilen zum Trotz war das Backpulverbrot aber weniger ansehnlich. Deshalb empfahl man es weniger den Bäckern als vielmehr den Privathaushalten, „wo man in Würdigung der erhöhten Schmackhaftigkeit und Nahrhaftigkeit auch mit einem minder ansehnlichen Aeußeren sich leichter versöhnt, während der Bäcker die Wünsche seiner Kunden zu berücksichtigen hat, sogar wenn sie auch nur auf einem Vorurtheil beruhen“ (Dass., ebd., 489-490, hier 490).

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Nährbrot und Backmehl auf Anregung des Gewerbevereins (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 153 v. 2. Juni, 4917)

Andernorts regten die Notablen nicht nur Versuche an, sondern auch Startup-Unternehmen. Die mit Backversuchen beauftragte Dresdener Bäckerei Opel beließ es nicht beim Backpulverbrot, sondern entwickelte im Gefolge einen in den 1880er Jahren recht erfolgreichen Nährzwieback für Kinder. Dem Backpulver aber schwor Familie Opel ab: „Das damit erzielte Brod verdarb jedoch schon kurz nach dem Buck zu einer kleisterartig wässerigen Masse und wurde so, trotz seines bedeutenden Nährgehalts, ungenießbar. Alle Versuche, diesen Zersetzungsproceß zu verhindern, mißglückten“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1879, Nr. 16 v. 16. Januar, 286).

Fasst man die einschlägigen Berichte zusammen, so war der Grundtenor wohlwollend, wurde die Kritik in zarten Nuancen dargeboten: „Das Brod war wohlschmeckend aber noch etwas fest“ (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 32 v. 7. Februar, 1). Vielfach wurden auch nur Liebigs Ansichten paraphrasiert (Hamburger Nachrichten 1869, Nr. 60 v. 11. März, 2; Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 98 v. 8. April, 1). In vielen Fällen wurde die Verwendung des Backpulvers allein für Brot in Frage gestellt, sollten stattdessen auch Kuchen oder Zwieback damit zubereitet werden (Das amerikanische Backpulver, Leipziger Tageblatt 1869, Nr. 143 v. 23. Mai, 4737; Hallesches Tageblatt 1869, Nr. 269 v. 18. Dezember, 1683). Immer wieder monierte man die fehlende Lockerheit des Brotes und die aus ungenügender Vermischung resultierenden braunen Stellen (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 107 v. 9. Mai, 1). Zusammengefasst boten diese Berichte viel Stoff zur Diskussion über das Horsford-Liebigsche Backpulver. Im Sinne der Macher aber war sie nicht, eher im Sinne einer Nachbesserung des Produktes.

Der bei weitem agilste Werbeträger war jedoch drittens das lokale werbetreibende Gewerbe. Bäcker, Apotheker, Drogisten und Kolonialwarenhändler begannen bereits Ende 1868 mit Anzeigen für neuartig gebackenes Brot, für das Backpulver und für Mehlmischungen, die der Hausfrau das Vermengen der Einzelkomponenten abzunehmen vorgaben. Sie erschlossen damit zugleich den häuslichen Markt abseits der Bäckereien.

16_Koelnische Ztg_1869_1_29_Nr29_p4_Bonner Ztg_1869_1_29_Nr9_p4_Waechter_1869_2_1_Nr14_p3_Echo d Gegenwart_1868_12_31_Nr358_p3_Backpulver_Liebig_Horsford

Marktpräsenz von Brot und Backpulver im Rheinland (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 29 v. 29. Januar, 4 (unten); Bonner Zeitung 1869, Nr. 9 v. 10. Januar, 4 (l.); Der Wächter 1869, Nr. 14 v. 1. Februar, 3 (r. oben); Echo der Gegenwart 1868, Nr. 358 v. 31. Dezember, 3)

Die lokalen Gewerbetreibenden nutzten dabei die Argumente von Liebig, Zimmer und Marquart, nutzten fast durchweg das Renommee des Münchener Chemikers als Qualitätsgaranten. Zumeist aber beließ man es bei kurzen Aussagen zum Nutzen, insbesondere zur Substitution der für Backwerk gebräuchlichen Hefe.

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Vom Angebot zum Ratgeber – Werbeanstrengungen der Detaillisten (Bonner Zeitung 1869, Nr. 95 v. 8. April, 4 (l.); Jeversches Wochenblatt 1869, Nr. 121 v. 5. August, 5)

Die dezentrale Werbung war dynamisch, führte zu nicht vorherzusehenden Geschäftsinitiativen. Das galt etwa für neuartige Angebote von „American Cracker“, hergestellt mit Backpulver. Die Anfang 1869 gegründete Braunschweiger Firma hatte keinen langen Bestand, doch ihre Geschäftsidee trägt bis in unsere Tage (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 77 v. 18. März, 4; Bonner Zeitung 1869, Nr. 91 v. 4. April, 2; Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 136 v. 16. Mai, 9). Erfolgreiche Karrieren begleiteten sie: Der Dresdener Apotheker J. Paul Liebe übernahm nicht nur eine Generalagentur des Backpulvers (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 164 v. 13. Juni, 2), sondern baute in den Folgejahren sein breitgefächertes Angebot von Malzprodukten, Kindernähr- und Kräftigungsmitteln weiter aus, das er trotz des energischen Protests Liebigs unter dessen Namen vermarktete (J[ustus] v. Liebig, Erklärung, Annalen der Chemie und Pharmacie 158, 1871, 136).

Vor Ort wurden die Grundinformationen also weitergesponnen, auch umgewidmet. Mochte der Name Liebigs auch die Anzeigen dominieren, so wurde doch vielfach vom „Amerikanischen Backpulver“ gesprochen (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 210 v. 29. Juli, 3). Die Ferne zog – wir hatten dies im englischen Falle schon an Borwick’s German Baking Powder gesehen. Zugleich spiegelte die lokale Werbung aber auch das langsame Ende des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Im oldenburgischen Jever hatte der Händler A.W. Deye seit Sommer 1869 die Vorteile des Backpulvers für das häusliche Backwerk öffentlich hervorgehoben. Er war erfolgreich, annoncierte mehrfach neu eingegangene Ware, schaltete auch Erinnerungswerbung zu den Hochfesten. Doch Ende 1870 endete diese kleine Kampagne vor Ort. Die Illusionen über die Reform der Brotbereitung verflogen, der Absatz endete.

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Beharrende und abebbende Werbung (Jeversches Wochenblatt 1869, Nr. 141 v. 9. September, 7; ebd., Nr. 147 v. 19. September, 3; ebd., Nr. 163 v. 17. Oktober, 3; ebd. 1870, Nr. 5 v. 9. Januar, 5; ebd., Nr. 111 v. 17. Juli, 3; ebd., Nr. 201 v. 22. Dezember, 3 (von oben n. unten, von l. n. r.))

Dieser Misserfolg lag kaum an der Werbung. Diese war großzügig, vielgestaltig, wandelte sich gar mit den vermeintlichen Ansprüchen der Käufer von der Bäckerei zum Haushalt. Backpulver war im ersten Halbjahr 1869, teils auch darüber hinaus, ein seriös diskutiertes Thema in der deutschen Öffentlichkeit. Doch anders als von den Machern erwartet, mündete das kritische Räsonnement eigensinniger Bürger in die Ablehnung des Horsford-Liebigschen Backpulvers.

Von der Kritik zum Fiasko: Das Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers

Das „gänzliche Fiasko des Liebigschen Backpulvers in Deutschland“ (Volhard, 1909, 303) spiegelte sich in den Absatzzahlen. Diese liegen indirekt vor, hatte die beiden Produzenten Liebig doch eine Provision von 10 Silbergroschen resp. 35 Kreuzern pro verkauftem Zentner Backpulver zu zahlen. Georg Carl Zimmer verkaufte 1868 und 1869 insgesamt 24.492 Pfund Backpulver, 1870 dann nochmals ca. 2.500 Pfund, insgesamt also ca. 27.000 Pfund oder 13,5 Tonnen. Er gab 1870 die Produktion auf, überließ seine Rechte L.C. Marquart. Dieser zahlte Liebig für 1868/69 26 Taler, 1870 31 und 1871 9 Taler (Angaben n. Volhard, 1909, 302; Jones, 1993, 72). Diese 66 Taler Provision entsprachen einer Menge von ca. 9,9 Tonnen. Auch wenn Marquart wohl bis mindestens 1874 Restbestände verkaufte (Der Bazar 20, 1874, Nr. 2, 20), bestand der Absatz schon 1871 vornehmlich aus Exportware gen Dänemark und Argentinien (ebd.). Der Gesamtabsatz des Horsford-Liebigschen Backpulvers im In- und Ausland betrug 1868 bis 1871 demnach 23,4 Tonnen – oder 468 volle Kisten. Ein Fiasko, zumal angesichts der immensen Erwartungen Liebigs. In einem Schreiben an Zimmer hatte er darüber fabuliert, dass bei einem Erfolg die deutsche Sodaproduktion verdoppelt werden würde (Volhard, 1909, 302). Diese lag 1869 im Deutschen Zollverein bei ca. 75.000 Tonnen (J[oseph] Goldstein, Deutsches Sodaindustrie in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1896, 51).

Was waren die Gründe für dieses Scheitern – auch im Hinblick auf die langsame, aber gedeihliche Aufwärtsentwicklung in England und den USA? Sieben Gründen scheinen mir evident. Wobei ich mir bewusst bin, dass ich damit nicht auf die damalige Kritik aktiver Vegetarier an der „Verliebigung des Brodes“ eingehe, die sich vornehmlich an der Herkunft der Phosphorsäure aus gebleichten und vermahlenen Tierknochen rieben, also der Transformation eines pflanzlichen Nahrungsmittels in ein tierisches (Hugo Oelbermann, Das Knochenbrod, Bonner Zeitung 1868, Nr. 352 v. 29. Dezember, 3).

Erstens war der Markteintritt verfrüht und undurchdacht. Liebigs Vorschlag für eine neue, von Horsfords Verfahren abweichende Zusammensetzung war durch seinen Kaligehalt technisch schwierig und führte 1868 zu immer neuen Nachjustierungen (Volhard, 1909, 298). Die Gründe dafür lagen gewiss in den Kosten, lagen aber auch im starren Beharren auf Liebigs vermeintlich überlegenen Vorschlag. Die Backversuche unterstrichen, dass die Mischung nicht ausgereift war, nur dann erfolgreich, wenn alle Rahmenbedingungen präzise eingehalten wurden. Um dies zu gewährleisten hatte sich Liebig in seinem Privathaus einen eigenen Spezialofen erbauen lassen, doch derartiges Engagement war nicht verallgemeinerungsfähig. Auch das Abspringen des ursprünglich geplanten dritten Produzenten wurde nicht als Warnzeichen verstanden. In dem nahe Brückfeld im Landkreis Rosenheim gelegenen Örtchen Heufeld war unter Liebigs Mitarbeit 1857 die Bayerische Actien-Gesellschaft für chemische und landwirthschaftlich-chemische Fabrikate gegründet worden, die seit 1859 Superphosphat-Dünger produzierte, die letztlich aber kein Backpulver produzieren wollte. Marktforschung unterblieb.

Zweitens konzentrierte sich die Einführung auf die Brotbereitung und die Bäcker. Damit ignorierte man die Marktentwicklung in den USA, insbesondere aber in Großbritannien. Dort bildeten Haushalte und süßes Backwerk einen wachsenden Anteil am Absatz. Mit den gut organisierten Bäckern wurde im Vorfeld nicht gesprochen, sie wurden im Gegenteil als Fortschrittsfeinde denunziert. Der Verband deutscher Müller und Mühlen-Interessenten prüfte das Backpulver 1869, konnte jedoch kein „durchweg günstiges Resultat“ erblicken, da die Brotproduktion auf diese Art nicht wirklich verbessert werden konnte (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 154 v. 3. Juni, 5125). Ignoriert wurde insbesondere die Marktstellung der Bäcker: „ Der Bäcker muß den Geschmack seiner Kunden befriedigen, und es gehört eine gewisse Freiheit von Vorurtheilen dazu, sich von einem bestimmten Geschmacke des täglich genossenen Brotes abzugewöhnen“ (K[arl] Birnbaum, Das Brotbacken, Braunschweig 1878, 108).

Drittens war das stakkatohaft vorgetragene Mantra des trotz Backpulvers letztlich billigeren Brotes weder für die Bäcker noch für die Hausfrauen glaubwürdig. Backpulverbrot war kleiner und weniger ansehnlich, die Vorstellung erhöhten Nährwertes und abstrakte nationalökonomische Kostenrechnungen verpufften. Stattdessen standen die Bäcker vor dem Problem, bei Einführung die Preise für ein Brot anheben zu müssen, das weniger hermachte (Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 3, 1871, 150). Eine raschere Produktion und der teilweise Verzicht auf Nachtarbeit waren gewiss nachvollziehbare Argumente, doch die meisten Bäckereien waren Einmannbetriebe, die für ein Auskommen arbeiteten, nicht für stetig zu mehrenden Gewinn. Die Kosten für das Backpulver hätten die Bäcker tragen müssen, doch dem stand kein Ertrag gegenüber (Preußisches Handels-Archiv 1871, Nr. 11 v. 17. März, 261).

Viertens unterschätzten die Macher die beträchtliche Zusatzarbeit in Bäckereien und Haushalten – letztlich also die deutlich höheren Opportunitätskosten durch das neue Produkt. Die Mischung und Zumengung war ungewohnt und fehleranfällig – trotz Gebrauchsanweisung. Dies ging einher mit einer vornehmlich im Haushalt bestehenden Abneigung gegen den laboratoriumsgemäßen Umgang mit Chemikalien. Sie wurde als etwas Fremdes verstanden, als schwarze Kunst. Objektiv mag dies unbegründet gewesen sein, doch mit derartigen Vorbehalten hätte insbesondere Liebig rechnen müssen, dessen Malzsuppe für Säuglinge zuvor an ihrer zeitaufwändigen und fehleranfälligen Zubereitung gescheitert war.

Fünftens scheiterte das neue Backpulver am zwar zusagenden, letztlich aber doch veränderten Geschmack des Brotes. Dieser war milder, hatte weniger Ecken und Kanten, doch es war just dieser leicht säuerliche Geschmack eines Sauerteigbrotes, den viele nicht einfach aufgeben wollten (Knapp, 1878, 295). Es ging eben um das „gewisse Angenehm-Säuerliche, welches sehr schwer in dem richtigen Maße, d.h. nicht zu viel und nicht zu wenig, durch Chemikalien herzustellen ist“ (Johannes Frentzel, Ernährung und Volksnahrungsmittel, Leipzig 1900, 104). Bei Hefegebäck mochte das anders sein, doch Liebigs Angebot zielte primär auf die Substitution des Sauerteigs bei der Roggen- und Mischbrotproduktion. Auch bei Kuchen wäre dies anders gewesen, denn Zucker überdeckt Geschmacksnuancen. Kritisch vermerkt wurde auch die Missachtung der Tradition durch „dieses künstliche Salzgemisch“ (Heinrich Vogel, Die Verfälschung und Verschlechterung der Lebensmittel, Erfurt 1872, 47). Für die immigrierte New Yorker Hausfrau mochte das Neue seinen Wert haben, nicht aber für eine noch von Sitte und Herkunft geprägte Gesellschaft wie die des frühen Kaiserreichs. Entsprechend urteilten Zeitgenossen skeptisch auch über die längerfristigen Perspektiven der Backpulver (Knapp, 1878, 125).

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Inkarnation ambivalenten Forschungsdrangs: Justus von Liebig (Illustrirte Zeitung 1869, Nr. 1361 v. 31. Juli, 85)

Sechstens erwiesen sich die naturwissenschaftlichen Annahmen Liebigs zunehmend als Schall und Rauch. Das wurde unmittelbar nach dem Scheitern auch öffentlich klar benannt: „Wie Liebig, dieser sonst so klare Kopf, zur Verwirrung der Begriffe über rationelle Ernährung durch Hervorheben des Nährwerthes der Salze im Vergleich mit dem der Eiweißstoffe so viel hat beitragen können, als er neuerlich so in der Lehre von der Brodbereitung durch Backpulver, wie in der über Herstellung von Fleischextract gethan hat, bleibt um so unverständlicher, als er selber früher und zwar gerade aus den hier von uns angeführten Gründen ein ganz anderes Fleischextrakt als das beste, ja als das allein zweckentsprechende, angegeben und empfohlen hat, […]“ (Bonner Zeitung 1871, Nr. 212 v. 2. August, 6). Das Liebigsche Konstrukt der „Nährsalze“ war irreführend und unphysiologisch. Auch seine im Kampf gegen Louis Pasteur halsstarrig hochgehaltene Interpretation der Hefegärung erwies sich als haltlos (Brotbereitungs-Prozeß, Kölner Nachrichten 1884, Nr. 43 v. 19. Februar, 2). Ebenso ergaben sorgfältige Resorptionsstudien an Hunden im Münchener Physiologischen Institut, dass die Liebigschen Summenformeln spekulative Rechnereien waren (Gustav Meyer, Ernährungsversuche mit Brod am Hund und Menschen, Zeitschrift für Biologie 7, 1871, 1-48; Birnbaum, 1878, 305-306). Der rechnerisch erhöhte Nährwert war in der Praxis fiktiv, denn die zusätzlichen Nährstoffe wurden vom Organismus schlicht nicht aufgenommen, sondern ausgeschieden. Der Chemiker Liebig ignorierte basale Erkenntnisse der aufstrebenden Physiologie (A[dam] Maurizio, Die Nahrungsmittel aus Getreide, Bd. 1, Berlin 1917, 350).

Siebtens schließlich gab es auch psychologisch-biographische Gründe für das Scheitern. Liebig war zu diesem Zeitpunkt ein alter, zunehmend unbelehrbarer Mann, der mit polemischem Furor und jugendlicher Energie seine Vorstellungen verfolgte, dagegen stehende Aspekte aber ignorierte. Bezeichnend war, dass er im Mai 1868 erst durch seinen Freund, den Göttinger Chemiker Friedrich Wöhler (1800-1882), auf Horsfords Backpulver-Patent hingewiesen wurde (Volhard, 1909, 297). Liebig hatte in der Freude am eigenen Experimentieren die gesamte Vorgeschichte offenbar verdrängt. Es war daher in gewisser Weise folgerichtig, dass Zimmer und Marquart das Backpulver nicht veränderten, die Werbung nicht umgestalteten, sondern die Produktion einfach abbrachen und auslaufen ließen. Für Liebigs war das Backpulver, sein Backpulver, ein sakrales Gut, dessen Veränderung einem Sakrileg gleichgekommen wäre, war es doch bereits chemisch optimiert. Liebig war letztlich nicht mehr in der Lage, die begründeten Rationalitäten anderer Menschen ernst zu nehmen und in Rechnung zu stellen. Der große Anreger verkörperte eben auch die Hybris einer Wissenschaft, die Modelldenken und eine gegenläufige empirisch wahrnehmbare Realität nicht mehr voneinander zu scheiden wusste.

Lernerfolge oder Neukonfiguration des Backpulvermarktes

Das Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers erfolgte nicht in einem jungfräulichen Markt, denn englische Offerten, etwa Borwicks Backpulver, wurden nicht nur im Norden angeboten (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 136 v. 13. Juni, 4). Backpulver blieben präsent, doch es waren wie zuvor eher Konditoren, die es für Zuckerwerk und Kuchen nutzten, Hausfrauen und Köchinnen, die sich Triebmittel kauften und selbstbereiteten, schließlich Bürger, die ausländische Präparate kauften. Doch zugleich wandelte sich der Markt, veränderte sich das Angebot. Paradoxerweise entsprechen moderne Wissens- und Konsumgesellschaften durchaus Kreislaufmodellen, denn gescheiterte Ansätze werden nicht einfach vergessen, sondern aus ihnen wird gemeinhin gelernt, um die Grundprinzipien für andere Angebote neuerlich anzuwenden und aus ihnen Gewinn zu ziehen. Dass dies nicht artikuliert, sondern in Narrative der Innovation und des Fortschritts eingewoben wird, sollte später auch Dr. Oetker zeigen. Doch als Trittbrettfahrer lernte er später nicht nur und nicht primär aus dem Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Er konnte auch auf die Erfahrungen dutzender Backpulverproduzenten zurückgreifen, die nach Liebigs Tod den Markt aus- und umgestalteten.

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Anonyme Angebote mit Verweis auf den Wissenschaftsheros Liebig (Deutsches Montags-Blatt 1877, Nr. 3 v. 16. Juli, 8)

Bevor wir einzelne Unternehmen genauer analysieren, sollten wir uns aber die Hauptveränderungen gebündelt vor Augen führen, allesamt Lehren aus dem Scheiteren des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Erstens setzte sich der schon von Marquart und zahlreichen lokalen Anbietern eingeschlagene Weg fort, Backpulver nicht in der Bäckerei, nicht beim Brotbacken, sondern in der Küche, beim Kuchenbacken und auch der Speisenbereitung einzusetzen. Es galt nicht mehr Sauerteig zu ersetzen, sondern Hefe. Das ging einher mit einer wachsenden Trennung gewerblicher und häuslicher Angebote, also der Trennung zwischen dem Angebot von Backhilfsmitteln in Fachzeitschriften und dem von Küchenbedarf in Tageszeitungen und Publikumszeitschriften.

Zweitens wurde Backpulver von einem Chemikalienmix zu einem zunehmend einfacher zu handhabenden Convenienceprodukt. Das Angebot von getrennten Säure- und Basekomponenten fiel weg, stattdessen konnten die Käuferinnen ein schon vermischtes Produkt kaufen. Der Begriff Backpulver war immer weniger Plural, wandelte sich immer stärker zum Singular, zu einem direkt nutzbaren kompakten Hilfsmittel. Dies ging einher mit deutlich kleineren Haushaltspackungen, meist kleine Pappkästchen, teils auch schon Papierbeuteln.

Drittens trat neben die Gebrauchsanweisung zunehmend das Rezept. Nach wie vor wurde die Anwendung des Backpulvers in einigen Sätzen erklärt, in den Anzeigen kurz, auf der Packung etwas ausführlicher. Die Rezepte zeigten jedoch den konkreten Nutzen. Sie konzentrierten sich auf einfache Kuchen, auf Gemische des damals immer häufiger konsumierten Zuckers mit Mehl, Eiern, Butter (oder Kunstbutter) und Wasser oder Milch. Anders als Brot wurde häuslich bereiteter Kuchen auch nicht mit einem allseits bekannten Preis verbunden, entzog sich somit ansatzweise der ökonomischen Rationalität der frühen Backpulverdebatten.

Damit veränderte sich viertens auch die soziale Zielgruppe. Während Liebig auf alle Konsumenten zielte und diese über das Backpulverbrot erreichen wollte, konzentrieren sich die Unternehmen in den 1870er und 1880er Jahre vornehmlich auf bürgerliche Haushalte. In den frühen Arbeiterkonsumvereinen wurden Backpulver nicht geführt, das änderte sich erst um 1900 (Uwe Spiekermann und Dörthe Stockhaus, Konsumvereinsberichte – Ein neue Quelle der Ernährungsgeschichte, in: Dirk Reinhardt, Uwe Spiekermann und Ulrike Thoms (Hg.), Neue Wege zur Ernährungsgeschichte, Frankfurt a.M u.a. 1993, 86-112, hier 99-100). Während Liebig Backpulver als Teil der Lösung der sozialen Frage verstand, als Anrecht auf soziale Teilhabe und Ausdruck von Bildung – also als eine gemeinsame Aufgabe von Eliten und Volk, wirkte nun der Lockreiz des bürgerlichen (Sonntags-)Kuchen (ähnlich dem (Sonntags-)Braten). Es ging um Verbürgerlichung, um individuellen sozialen Aufstieg durch Akzeptanz bürgerlichen Daseins.

Fünftens wurde Backpulver der Alleinstellung entkleidet, die ihm Liebig zugedacht hatte. Es wurde nun Teil eines immer breiteren Sortiments küchennaher Angebote. An die Seite des Backpulvers traten nun vermehrt Puddingpulver (abstrus die Aussage von Insa Schlumbohm, Die Geschichte des Puddings und wie der Pudding ins Museum kam, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Essen und Trinken in der Moderne, Münster et al. 2006, 85-98, hier 89, dass Puddingpulver um 1900 „noch nicht allgemein bekannt war“), seit den späten 1870er Jahren auch Vanillinzucker, langsam auch Konservierungsmittel und Einmachhilfen. Peu à peu bildete sich ein Backsortiment aus, welches Backpulverangebote umkränzte, die Bedeutung des verbindenden Triebmittels allerdings nochmals unterstrich.

Sechstens schließlich entwickelte sich eine für die Anfangsjahrzehnte des Kaiserreichs recht typische Marktstruktur. Auf der einen Seite einige innovative, in den Städten reichsweit präsente Markenartikelanbieter. Auf der anderen Seite aber zahlreiche kleinere regionale Anbieter, darunter einige quirlige lokaler Anbieter, meistens Apotheker und Drogeristen, die bekannte und sehr unterschiedliche Rezepturen nutzten und verkauften.

Trendsetter und Marktführer: J. Gädicke, Berlin

Thesen sind leicht zu formulieren, doch sie empirisch zu fundieren ist gewiss ebenso wichtig. In den 1870er und 1880er Jahren gab es im deutschen Sprachraum ein knappes Dutzend relevanter Backpulveranbieter, von denen hier lediglich vier genauer analysiert werden: Ein erstes und zugleich zentrales Beispiel bietet die Berliner Firma J. Gädicke & Co. Meine erste virtuelle Begegnung mit Johannes Gädicke (1836-1916) bezieht sich auf das Jahr 1873, als er künstliche Topfgewächse annoncierte (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 54/55, 1. Beiblatt, 5), einen Klassiker der Heimsurrogate. Wohl wichtiger war seine Rolle als Pionier der Photographie. 1877 wurde ihm ein Patent „auf ein Ueberzugsmittel für Glasplatten, welche mittels des Sandgebläses radirt werden sollen“ erteilt (Amtsblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1877, Nr. 29 v. 21. Juli, 251). Weit darüber hinaus ging die gemeinsam mit Adolf Miethe (1862-1927) 1887 erfolgte Erfindung und Patentierung des aus Magnesium, Kaliumchlorat und Schwefelantimon bestehenden Blitzlichtpulvers. Ganz andere Pulver vertrieb der Fotopionier seit 1874: „Das unter dem Namen Hefenmehl von J. Gädicke in Berlin, Sparwaldsbrücke 2, dargestellte Backpulver ist gut und wird zu wohlfeilen Preisen verkauft. Es gibt beim Einrühren sofort einen lockeren Teig, der beim Erhitzen stark aufgeht und eine sehr poröse Masse bildet […]. Den Pfundpacketen sind Recepte beigegeben“ (Der Bazar 20, 1874, 325). Dieses Angebot war lukrativ und gewinnträchtig, doch Gädicke verkaufte seine Firma 1878 an den Berliner Kaufmann Carl Gustav Göring (Deutscher Reichsanzeiger 1878, Nr. 237 v. 8. Oktober, 4). Dieser gewann mit Wilhelm Meienburg 1880 einen neuen Kompagnon, der kurz darauf das Geschäft übernahm (Ebd. 1880, Nr. 147 v. 25. Juni, 11; ebd., Nr. 156 v. 6. Juli, 7).

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Kuchen statt Brot: J. Gädickes Backpulver (Dortmunder Zeitung 1878, Nr. 151 v. 2. Juli, 6)

Im Gegensatz zu Horsford-Liebig zielte Gädickesche „Hefenmehl“ auf den Ersatz von Hefe, nicht den von Sauerteig. Nicht Brote sollten damit gebacken werden, es diente vielmehr der „leichten und sicheren Herstellung leicht verdaulicher Mehlspeisen und Gebäcke“ (Von der Bäckerei-Ausstellung zu Berlin 6, 1875, 445-447, hier 445). Hefe war langsam, das Hefenmehl, nach kurzer Zeit auch Backmehl, dann Backpulver genannt wurde, dagegen schnell. Das musste erklärt werden, man sprach von frei werdenden Gasen, nicht nur im Backofen, sondern schon nach Vermengung des neuen Produktes; doch man sprach kaum mehr von der chemischen Zusammensetzung des Präparates (S. Roureq, Ueber Gädicke’s Hefenmehl und Jensen’s Futterbrot, Polytechnisches Centralblatt NF 29, 1875, Sp. 653-654). Stattdessen ging es um Sicherheit im Haushalt, um Abkehr von „der so unsicher wirkenden und oft verfälschten Hefe des Handels“ (Von der Bäckereiausstellung zu Berlin, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 2, 1875, 248-250, hier 248). Das Hefenmehl wurde nicht mehr in unterschiedlichen Paketen geliefert, anfangs aber in zwei Varianten: Eine für geschmackneutrale Speisen, etwa Knödel, eine für süße und würzige Kuchen.

Der Übergang von Horsford-Liebig hin zu einem neuartigen Angebot ist offenkundig. Das Backpulver war ähnlich zusammengesetzt wie der Vorläufer, pro Kilo Mehl sollten 5,1 Gramm Phosphorsäure und 8,7 Gramm doppelt kohlensaures Natron zugesetzt werden (bei Horsford-Liebig 4,4 resp. 7,2 Gramm) (Gesundheit 4, 1878/79, 222). Gädicke bot ebenfalls Kisten von 50 Kilogramm an, allerdings mit 31 resp. 40 Mark deutlich billiger als zuvor 51,5 Mark für das reine Backpulver bei Horsford-Liebig. Doch zugleich offerierte er kleinere Pfundpakete für 1874 45 und 55 Pfennig, 1875 dann 40 und 50 Pfennig. Auch wenn man sich vor Augen führen muss, dass Umverpacken eine Kernaufgabe in Drogerien, Apotheken und Kolonialwarenhandlungen war, so näherte sich Gädicke doch der Haushaltspackung an, mochten die Preise auch noch hoch gewesen sein. Entsprechend zielte er anfangs auf ein gutbürgerliches Publikum mit Kaufkraft. Das schnellere Backen diente noch nicht der Hausherrin am Herde, wohl aber der Gastgeberin. War Besuch da, so rief die Hausfrau „ein Wort in die Küche und in 15 Minuten trägt die Köchin eine Schüssel mit frischen, sehr wohlschmeckenden Pfannkuchen auf den Tisch“ (Bäckerei-Ausstellung, 1875, 445).

Neuerlich diskutierten Experten über das neue Präparat – typisch für Wandel, typisch für langsame Akzeptanz. Gädicke setzte die fachliche Diskussion küchentechnisch um: „Ein im täglichen Leben zu verwendendes Backpulver darf nothwendig nur ein Pulver sein, welches die verschiedenen Bestandtheile in genau richtigem Verhältnis enthält“ (Raabe-Graf, 1879, 188). Statt abzumessen nahm die Köchin nun ein einfaches Maß, nämlich einen gehäuften Teelöffel Backpulver pro Pfund Mehl. Das war nicht mehr beckmesserisch-wägend, denn: „Das Mehr oder Weniger beruht auf Erfahrung“ (Backen ohne Hefe, Die Fundgrube 2, 1875, 51). Mehl und Backpulver wurden gemischt, das Gemenge zur Sicherheit durch ein grobes Sieb geschlagen. Die Zutaten kamen hinzu, der Teig wurde in die Form oder die Pfanne geschüttet und gebacken. Auch Fachleute waren überrascht, dass die trocken vermischte Säure-Basen-Komponenten auch nach vielen Monaten noch triebkräftig waren (Apotheker-Zeitung 14, 1879, 85). Dabei hatten das die englischen und amerikanischen Backpulver schon längst belegt.

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Herausstechende Anzeigen für Backpulver, Puddingpulver und mehr (Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878/79, 11 (l.); Dresdner Nachrichten 1880, Nr. 33 v. 20. Februar, 4)

Mit der Übernahme der Firma durch Göring und dann Meienburg begann eine markante Aufwärtsentwicklung. Anfangs auf den Berliner Raum konzentriert und mit dem Rest der Welt durch Versandhandel verbunden, etablierten sie ab 1878 offenbar Generaldepositairen „an allen Plätzen des In- und Auslandes“ (Kladderadatsch 32, 1879, Nr. 38, Beibl., 3). Das verbesserte Absatzsystem führte zur Vermarktung des nunmehr durchgehend Backpulver genannten Produktes im gesamten Deutschen Reich – zumindest in dessen urbanen Zentren. Die Ausbreitung im cisleithanischen Österreich blieb dagegen stecken, allein in Prag wurde ein Depot eröffnet (Prager Tagblatt 1880, Nr. 27 v. 27. Januar, 4; Prager Tagblatt 1880, Nr. 13 v. 13. Januar, 9).

Auffällig waren erstens überdurchschnittlich große Anzeigen, deren Größe fast an die Verlautbarungswerbung von Marquart und Zimmer erinnerte. Sie knüpften den Bezug zu Justus von Liebigs Vorarbeiten, präsentierten das Backpulver als Hefeersatz – der Begriff „pulverisirte Trockenhefe“ erinnerte daran. Sie hoben das Gädickesche Angebot zugleich aus den üblichen kleinen Anzeigen hervor, auch wenn sie noch keine Bilder verwandten.

Zweitens knüpfte die Werbung nun ein deutlich engeres Band zur Hausfrau – nicht nur zur bürgerlichen Köchin. Kleine Anzeigen fragten „Wer will schönen Kuchen backen“ (Echo der Gegenwart 1878, Nr. 258 v. 20. September, 3), offerierten scheinbar „Einen schönen lockeren Eierkuchen“ (ebd., Nr. 271 v. 3. Oktober, 4). Die Hausfrau sollte zur praktischen Küchentat schreiten: „Das Backen mit Backpulver ist viel einfacher als mit Hefe, Lockerheit und Gerathen des Gebäcks wird garantirt. – Dazu gehörige Küchenrecepte und Gebrauchs-Anweisung auf jedem Carton“ (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 253 v. 11. September, 4). Nun redeten und predigten nicht mehr die Experten, sondern nun wurden die imaginierten praktischen Sorgen der bürgerlichen Hausfrau unmittelbar aufgegriffen: „Welche Hausfrau hätte nicht schon über schlechte Hefe geklagt und gejammert, sich nicht schon über ‚sitzen gebliebene‘ Sonn- und Festtagskuchen halb zu Tode geärgert? Milch und Mehl, Eier und Butter, Zucker, Rosinen und Mandeln, Mühe und Arbeit – Alles, Alles verdorben und verloren! Und dann kommt noch der Mann und lacht und spottet über den prächtigen Kuchen und die Kinder, die natürlich davon essen, weil er doch einmal da ist und auch Geld gekostet hat, verderben sich ebenso natürlich den Magen an dem unverdaulichen Zeuge. Was ist da zu thun? Man nehme statt der unzuverlässigen Hefe das Backpulver von J. Gädicke & Co. […], und statt der Klagen und des Aergers wird die Hausfrau Lust und Freude an dem Werke ihrer Hände haben, und der Mann wird nicht genug des Lobes finden und die Kinder werden immer gesunder und rothbackiger werden, je mehr sie davon essen“ (Kölner Sonntags-Anzeiger 1879, Nr. 149 v. 31. August, 3; analog Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 292 v. 28. Oktober, 3; Echo der Gegenwart 1880, Nr. 42 v. 12. Februar, 3). So klischeehaft die Szenerie auch sein mochte, sie zeigte doch die wachsende Bedeutung, die Konsumentinnen um diese Zeit gewannen. Sie wurden als Akteurinnen wahrgenommen und umzirzt. Zugleich aber verdichtete man die Vorteile des nunmehr in 50 Pfennig teuren Blechbüchsen angebotenen Backpulvers fast schon sloganartig: „Die Hauptvortheile, welche das Backpulver bietet, sind: Haltbarkeit, Schnelligkeit, Wohlgeschmack, sicheres Gerathen und Billigkeit“ (Volksblatt für den Kreis Mettmann 1878, Nr. 113 v. 24. September, 3). Das waren Ansätze einer direkten Werbesprache, die sich erst Jahrzehnte später einbürgern sollte.

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Eine breite Palette neuartiger Convenienceprodukte (Neueste Nachrichten 1880, Nr. 249/250 v. 5. September, 5)

Drittens bot J. Gädicke nun immer stärker ein Sortiment an, entweder plakativ mit fett gesetztem Puddingpulver oder aber ausgefächert auf „Flammeri, Eiscrème, Gelés, Kalt- und Warm-Puddings“ (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 35 v 28. August, 11). Viertens griff man die schon bei Liebig vorhandenen Motive auf, dass es sich beim Backpulver um einen gesunden, ja gesundheitsfördernden Zusatz handelte. Phosphorsaurer Kalk und Magnesia, doppeltkohlensaures Natron, Kochsalz und Mehl: All das sollte die Knochenbildung und die Verdauung fördern. Die Anzeigen verwiesen plakativ auf die „von den ersten ärztlichen Autoritäten“ verordneten, mit Backpulver zubereiteten Mehl- und Milchsuppen, die die Knochenbildung fördern würden (Kölner Sonntags-Anzeiger 1879, Nr. 148 v. 24. August, 3). Auch Liebigs Traum einer nachträglichen Abmilderung der Folgen moderner Müllerei schien wieder auf: „Das Backpulver von J. Gädicke & Co. nun gibt in seiner Zusammenstellung einen vollständigen Ersatz für die mit der Kleie verlorenen, knochen- und zahnbildenden Phosphate, ist also ein ganz vorzüglicher Zusatz zu jeglicher Nahrung für Kinder, und erhöht zugleich die Verdaulichkeit und den Wohlgeschmack der Speisen“ (ebd., Nr. 149 v. 31. August, 3; ähnlich Bonner Zeitung 1879, Nr. 265 v. 27. September, 1069; Dresdner Nachrichten 1879, Nr. 316 v. 12. November, 2). Damit schwächte man zugleich immer wieder artikulierte Ängste, dass die Zufuhr von chemischen Stoffen „Störungen im Organismus hervorgerufen“ könnte (Max Weitz, Ueber Berliner Hefenmehl und Hefenmehle überhaupt, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 20, 1879, 81-84, hier 83). Wachsende Versorgungssicherheit war in zunehmend anonymen Nahrungsmittelmärkten immer janusgesichtig, schuf neue Ängste und wachsenden Beruhigungsbedarf.

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Schutzmarke und Generaldepot (Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 295 v. 31. Oktober, 4 (l.); Bonner Zeitung 1879, Nr. 270 v. 2. Oktober, 1090)

Doch J. Gädicke & Co. beließ es nicht bei der Beschwörung vermeintlich wissenschaftlich abgesicherter Gesundheitswirkungen. Man baute zugleich eine neue vertrauensbildende Markenidentität auf. Ab 1879 prangte auf den größeren Anzeigen eine grafisch einfach gestaltete Schutzmarke mit Wiedererkennungseffekt. Das war wahrscheinlich auch auf die Arbeit fähiger Repräsentanten zurückzuführen. Georg Geza von Indulfy und August Schleipen machten die rheinische Metropole Köln zu einem Vorzeigemarkt Gädickes.

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Dezentrale Vermarktung (Echo der Gegenwart 1880, Nr. 55 v. 25. Februar, 4 (l.); Der Wächter, Bielefelder Zeitung 1880, Nr. 184 v. 10. August, 4)

Im prosperierenden Rheinland fanden sich mehrfach neue Anzeigenmotive. Auch wenn sie die Kernbotschaften kaum variierten, symbolisierten sie zugleich Dynamik und – durch die Schutzmarke – Kontinuität und Berechenbarkeit (Kölner Sonntags-Zeitung 1880, Nr. 177 v. 14. März, 1; Rhein- und Ruhrzeitung 1880, Nr. 79 v. 5. April, 4; Dortmunder Zeitung 1880, Nr. 96 v. 8. April, 4; Bonner Zeitung 1880, Nr. 145 v. 30. Mai, 583). Neben der Firmenwerbung stand Händlerwerbung, bei der vorrangig die Marke genannt wurde (Karlsruher Zeitung 1880, Nr. 171 v. 24. Juni, 1480). Mangels fehlender Firmenunterlagen ist es nicht möglich, die Geschichte von J. Gädicke & Co. angemessen zu rekonstruieren. Doch auch in Sachsen lässt sich rasches Wachstum nachweisen. In Leipzig gab es immerhin vierzehn Verkaufsstellen, in denen man Gädickes Backpulver „zum Selbstmischen des sog. Liebig’schen selbstthätigen Backmehls“ kaufen konnte (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1880, Nr. 370 v. 10. Dezember, 7308).

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Ausverkauf für einen Groschen (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 240 v. 29. Mai, 3)

Anfang der 1880er Jahre erfolgten zwei weitere zukunftsweisende Neuerungen im Marketing des Gädickeschen Backpulvers: Einerseits präsentierte man das Produkt als einen allseits akzeptierten Grundstoff, der zunehmend weniger erklärt werden musste. Dazu bediente man sich nicht mehr nur des Verweises auf Justus von Liebig, sondern verwies auf höchste Kreise, den Hofbäcker von Kaiser Wilhelm, den Backmeister von Kronprinz Friedrich (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 234 v. 17. April, 4; Volksblatt für den Kreis Mettmann 1881, Nr. 63 v. 28. Mai, 3). Backpulver war im kaiserlichen Deutschland anscheinend angekommen. Anderseits aber entstand 1880 eine neue, wenngleich nicht sonderlich herausragende Markenbezeichnung. Prima war das Gädickesche Backpulver, Prima wurde zu dessen Namen. Diese Abkehr von der simplen Kombination von Produzent und Produkt war ein wichtiger Schritt hin zu einer auch abstrakten Markenidentität. Parallel aber trat innerhalb der Werbung das Prima Backpulver langsam zurück, während die Puddingpulver an Bedeutung gewannen (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 129 v. 17. März, 14). Neben Zusätze und Hilfsmittel traten Komplettangebote: „Einen delikaten Pudding binnen 5 Minuten ohne Eier und Butter für 25 Pf., ausreichend für 4 Personen“ (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 1790 v. 17. April, 10).

J. Gädicke & Co. blieb weiter aktiv, auch wenn es nach dem Rückzug von Georg Geza von Indulfy und August Schleipen nur noch vereinzelte Anzeigen gab (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 269 v. 18. Dezember, 2). Das Backpulver hatte sich etabliert, die Präsenz in vielen Kolonialwarenläden (Dürener Zeitung 1886, Nr. 33 v. 24. April, 7) und Drogerien wurde aber nicht mehr durch stetige Anzeigenwerbung unterstützt. Es blieb ein Alltagsprodukt, doch über seine Bedeutung sind verlässliche Aussagen nicht möglich (Woltering, Ueber Klebermehl und über ein neues sehr einfach herzustellendes Diabetiker-Brot, Der praktische Arzt 29, 1888, 173-178, hier 176). J. Gädicke produzierte mindestens bis in die 1930er Jahre weiter Prima-Backpulver, Puddingpulver und ähnliche Produkte, erschien während des Zweiten Weltkrieges noch als Mehlgroßhandlung. Für uns aber ist wichtig, dass die Firma zwanzig Jahre vor Dr. Oetker den Wandel des Backpulvers zu einem küchennah beworbenen Convenienceprodukt vorantrieb.

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Gädickes Backpulver kurz vor der Jahrhundertwende (Spezial-Katalog, 1896, Werbung, 16)

Regionale Cluster, nationaler Anspruch: Backpulver aus Hannover

Die Mehrzahl größerer Backpulverproduzenten etablierte sich in Nord- und Mitteldeutschland, oberhalb des Limes, dieser wirkmächtigen Trennlinie zwischen römischer und germanischer Welt. Hefe, das ist offenkundig, wurde und wird im Süden, nicht im globalen, wohl aber im südlichen deutschen Sprachraum, auch in Böhmen und Mähren, häufiger verwendet als im weiten Norden. Kuchen und Mehlspeisen haben dort ein größeres Gewicht, sind Teil einer auch katholisch zu nennenden Anfälligkeit für das gute Leben schon vor dem Paradies. Liebig und Horsford, Zimmer und Marquart, das nur am Rande, waren allesamt Protestanten. Auch Backpulver war prototypisch protestantisch, berechenbar und gelingend, anders als das wohlige Fläzen, das unproduktive Schwelgen in den stets „rückständigen“ katholischen Gegenden, wo man nie wusste, was nach dem Gottesdienst passierte. Nach dieser Abschweifung ist klar, wo wir enden werden: In Hannover, einer Zinne lutherischer Rechtschaffenheit. Hier lag ein frühes Zentrum der Backpulverproduktion. Und zwar schon zu Zeiten als der Lutheraner August Oetker noch seinen Vater in der Backstube wusste, während er sich langsam auf den Schliff am just umgebauten Bückeburger Adolfinum vorbereitete.

Apotheker Mühlhan & Jacobi, Hannover

Nachdem ich sie nun auf die auch in säkularen Zeiten bedenkenswerte Bedeutung von Religion verwiesen habe – damals wurden Katholiken im Deutschen Reich zudem verfolgt und diskriminiert – wollen wir wieder zur empirischen Analyse zurückkehren. Denn einer der Wettbewerber von J. Gädicke war der Hannoveraner Apotheker Louis Mühlhan. Er betrieb in den frühen 1870er Jahren zusammen mit dem Kaufmann Otto Kneist eine offene Handelsgesellschaft, die 1875 allerdings aufgelöst wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1875, Nr. 156 v. 7. Juni, 5). Mühlhan erschloss sich neue Arbeitsfelder, wandelte auf Liebigs Spuren, bot ab 1877 „Prof. Just. v. Liebig’s Backpulver“ an. Offenkundig nicht ohne Erfolg, denn er gründete 1878 zusammen mit dem Kaufmann Heinrich Jacobi in Hannover eine offenen Handelsgesellschaft mit dem Zweck der „Fabrikation von Backmitteln“ (Ebd. 1878, Nr. 11 v. 14. Januar, 6).

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Apothekerware Backpulver (Kölnische Zeitung 1877, Nr. 348 v. 15. Dezember, 4)

Mühlhan & Jacobi stehen – wie deutlich später Dr. Oetker – für den Geschäftssinn dieses kaum mehr ständisch geschützten Berufsstandes, der durch die in den späten 1860er Jahren eingeführte Gewerbefreiheit erhebliche Einbußen erlitt und sich auf neue Geschäftsmodelle einließ, ja einlassen musste. In diesem Fall aber folgte man bereits beschrittenen Pfaden, denn das neue Backpulver war nichts anderes als eine Wiederkehr des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Derartige gewerbliche Resteverwertung war nicht unüblich. Wie zuvor stand die Brotproduktion im Mittelpunkt, wie zuvor wurden die Backpulver-Chemikalien weiterhin in zwei getrennten Packungen vertrieben – allerdings in haushaltsnahen Pfundverpackungen. Bemerkenswert war der bei lediglich einem Groschen pro Kilogramm Mehl liegende Preis. Das neue alte Backpulver war ein Preisbrecher, stand für die Verbilligung der Produktion, stand auch für die beträchtliche Überteuerung des Horsford-Liebigschen Backpulvers.

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Präsentation des Alten als das Neue (Wiener Bäcker- und Müllerei-Zeitung 3, 1878, 54; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1878, Nr. 136 v. 16. Mai, 2616)

Mit Pathos spielte Mühlhan & Jacobi damals bekannte Weisen: „Man prüfe und verschließe sich nicht dem Fortschritte!“ (Wiener Bäcker- und Müllerei-Zeitung 3, 1878, 54). Doch offenkundig wandelte sich nicht der Markt, sondern das Angebot der Hannoveraner Unternehmer. 1878 offerierten sie „echtes Justus von Liebig’s selbstthätiges Backmehl“, gingen also sprachlich auf neue Mischprodukte ein, ohne aber das Angebot zu verändern. Binnen weniger Monate änderte sich zudem der Fokus weg vom Brot, hin zum Gebäck, weg von der Bäckerei, hin zum Haushalt. Neben die Gebrauchsanweisung trat auch hier das „erprobte“ Rezept.

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Altes Produkt gegen Gädicke (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1878, Nr. 116 v. 26. April, 2155)

Mühlhan & Jacobi weiteten ihre Marktpräsenz auch nach Mitteldeutschland. Wie Gädicke setzten sie zunehmend auch auf Puddingpulver, vermarktet unter Horsfords Namen. Zugleich nahmen sie den Wettbewerb auf, polemisierten gegen Gädickes „unechtes“ Säure-Basen-Komplettpaket. Doch trotz deutlich niedrigerer Preise blieb ein nachhaltiger Erfolg aus. Bequemlichkeit wurde von den Käufern offenkundig goutiert.

Liebigs-Manufactory von Meine & Liebig, Hannover

Anders als die Apotheker erhielten die Drogisten mit der Gewerbefreiheit neue Geschäftschancen. Die 1872 von den Apothekern Albert Eduard Meine und Franz Sonnefeld in Hannover gegründete Drogenhandlung konzentrierte sich anfangs auf gängige Drogerie- und Heilartikel. Backpulver wurde erst vertrieben, nachdem die Firma Meine & Sonnenfeld 1877 unter dem Namen Meine & Liebig an Meine und Heinrich Ferdinand Georg Liebig überging, letzterer ein Neffe des verstorbenen Münchener Chemikers (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 59 v. 9. März, 6). Sie wurde im April 1878 in Liebigs-Manufactury von Meine & Liebig umbenannt (ebd., 1878, Nr. 93 v. 18. April, 6). Schon im Mai 1877 hatten sie ein Warenzeichen für „Liebig’s selbstthätigem Backmehl“ erhalten, das sie seit April 1878 reichsweit nutzten (Intelligenz-Blatt 1878, Nr. 219 v. 26. Juni, 3; Bamberger Neueste Nachrichten 1878, Nr. 317 v. 18. November, 3).

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Backmehl und Puddingpulver durch Liebigs Neffen (Central-Volksblatt für den Regierungs-Bezirk Arnsberg 1878, Nr. 78 v. 6. Juli, 3)

Anders als der lokale Wettbewerber Mühlan & Jacobi bot Meine & Liebig, die offenbar große Backpulvermengen nach Großbritannien exportierten (Ludwig Hoerner, Agenten, Bader und Copisten. Hannoversches Gewerbe-ABC 1800-1900, Hannover 1995, 24), das Backpulver vermischt in nur einem Pfundpaket an. Im Mittelpunkt der anfangs breit gestreuten, aber nur selten variierten Anzeigen standen Kuchen, stand die Bequemlichkeit und Machbarkeit im Haushalt: „Jeder Kuchen ist in einer Stunde fix und fertig, angerührt und gebacken. Vorzügliche Recepte bei jedem Pakete“ (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 350 v. 17. Dezember, 8). Liebigs Manufactury gab auch Einblick in den Produktionsbetrieb: „Der Hauptschwerpunkt, der alles zum Gelingen guter und lockerer Gebäcke bedingt, liegt in der innigen Mischung der phosphorsauren Salze etc. mit Mehl, und wird in der Liebig’s Manufactory diese Mischung durch Melangeure hergestellt, die ungarisches Weizenmehl mit den Salzen ineinandermahlend ein Hinderniß beseitigen, an welchem die meisten Backmehle leiden, und welches der Einführung der Backpulver (die von den Hausfrauen erst dem Mehle beigemengt werden sollen) entgegensteht“ (Bonner Zeitung 1879, Nr. 278 v. 10. Oktober, 1124). Dennoch war das Backmehl resp. Backpulver nur eines von vielen Produkten von Meine & Liebig. Puddingpulver gewann an Bedeutung, doch ebenso Drogerieartikel wie Amerikanische Gichtpomade und Eisen-Cakes, zudem chemische Produkte.

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Reiner Markenartikel: Liebigs selbsttätiges Backmehl als Backartikel (Rhein- und Ruhrzeitung 1883, Nr. 68 v. 21. März, 4 (l.); Karlsruher Zeitung 1894, Nr. 126 v. 9. Mai, 2278)

Anders als Mülhan & Jacobi etablierte sich Liebig’s Manufactury aber auch langfristig. Das Backmehl, das mit 8,4 Gramm doppeltkohlensaurem Natron und 18,8 Gramm Weinstein deutlich mehr Triebmittel als Horsford-Liebig oder Gädicke enthielt (Eduard Hahn und J[ohann] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel […], 5., völlig umgearb., verm. u. verb. Aufl., Berlin 1893, 274), wurde stetig und ab den 1880er Jahren auch mit Abbildungen beworben (Pfälzer Bote 1890, Nr. 175 v. 2. August, 4; Karlsruher Zeitung 1892, Nr. 79 v. 19. März, 4). Meine & Liebig begann Mitte der 1890er Jahre mit einer neuerlichen Häutung der eigenen Werbepräsenz, sicherte sich früher als Dr. Oetker Warenzeichen für Backpulver und Puddingpulver (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 72 v. 22. März, 10; ebd., Nr. 173 v. v. 23. Juli, 7). In der Folgezeit war die Firma ein wichtiger Wettbewerber, mit starkem Auslandsmarkt und regionalem Schwerpunkt in Norddeutschland. Trotz eines Konkursverfahrens 1928/29 stellte das Unternehmen bis nach dem Zweiten Weltkrieg Puddingpulver- und Backpulver her.

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Ansprechender als seinerzeit Dr. Oetker: Warenzeichen von Meine & Liebig 1895 (Warenzeichenblatt 2, 1895, 327)

Mimikry der Herkunft: Das Wiener Backpulver von M. Gesz von Indulfy & Co., Hamburg

Bei den Hannoveraner Anbietern war die regionale Herkunft stets transparent. Die Imagination eines allerorts nutzbaren und stetig verfügbaren Produktes wurde hier mit Verweis auf Justus Liebig bzw. seinem Neffen geschaffen, ebenso durch eine langsam geformte Markenidentität bis zu ansprechenden Warenzeichen. Anders war dies beim „Wiener Backpulver“ aus Hamburg. Der Name verwies auf die Caféhaus- und Mehlspeisentradition der habsburgischen Metropole, brach also den begrenzten protestantischen Charme des Backpulvers mit Verweis auf andere Formen des Essens und Lebens. Das Produkt gewann damit zugleich eine eigene Identität, die abseits der Firmenwerbung von zahlreichen Einzelhändlern genutzt werden konnte.

Die Firma M. Gesz von Indulfy wurde im Juli 1880 von den Brüdern Miska und Georg Gesz von Indulfy gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1880, Nr. 166 v. 17. Juli, 6). Sie ging im Februar 1881 an den Kaufmann Gustav Adolph Vogelsang über, Georg Gesz von Indulfy besaß jedoch Prokura. Die Firma entwickelte sich nach dem Eintritt von Vogelsangs Sohn Friedrich Heinrich zum Familienunternehmen, blieb dies auch nach dem Tode Gustav Adolph Vogelsangs im September 1902 (Ebd. 1881, Nr. 42 v. 18. Februar, 8; ebd. 1888, Nr. 232 v. 11. September, 10; ebd. 1891, Nr. 6 v. 7. Januar, 9; ebd. 1903, Nr. 27 v. 31. Januar, 13).

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Deutsches Produkt: „Wiener“ Backpulver aus Hamburg offeriert in Leipzig und Harlem (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1881, Nr. 350 v. 16. Dezember, 5584; Haarlem’s Dagblad 1887, Nr. 1163 v 21. April, 4)

Die ursprünglichen Firmeninhaber hatten ihr Geschäft als Kölner Depotleiter von J. Gädicke gelernt, der Vertrieb eigener Waren erfolgte jedoch erst ab Mitte 1881. Die Werbung ließ die gängigen Themen der späten 1870er Jahre hinter sich, kein Wort wurde mehr auf das Brotbacken verschwendet: „Wiener Backpulver […] empf. sich zur leichten und billigen Herstellung aller Backwaren“ (Kölnische Zeitung 1884, Nr. 199 v. 19. Juli, 4). Die Werbung deckte das gesamte Deutsche Reich ab, Exportmärkte in Westeuropa wurden ebenfalls bespielt (Altonaer Nachrichten 1882, Nr. 163 v. 15. Juli, 4; Jeversches Wochenblatt 1882, Nr. 186 v. 25. November, 6; Iserlohner Anzeiger 1882, Nr. 150 v. 21. Dezember, 4; Bonner Zeitung 1883, Nr. 124 v. 6. Mai, 514).

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Standardsortiment aus Hamburg (Karlsruher Zeitung 1885, Nr. 242 v. 4. September, 2764 (l.); Emscher-Zeitung 1888, Nr. 10 v. 12. Januar, 4)

Festzuhalten ist zweierlei: Zum einen unterstrich die Angebotspalette M. Gesz von Indulfys nochmals den allgemeinen Trend zum Backsortiment: Backpulver, Mehle aus unterschiedlichen Getreiden und in unterschiedlichen Mischungen, Vanillinzucker sowie verschiedene Puddingpulver wurden gemeinsam angeboten, nur noch selten einzeln. Diese Produkte standen seither für einen häuslichen Zweck: „Die seit 22 Jahren von der Firma M. Gesz v. Indulfy & Co. hier fabricierten Mehl- und Zuckerpräparate […] dienen zur billigen und leichten Herstellung feiner Bäckereien“ (Israelitisches Familienblatt 4, 1901, Nr. 31, 4). Zum anderen nutzten zahlreiche Händler in der Tat die Chance, Wiener Backpulver, Wiener Backmehl, Wiener Puddingpulver auch ohne Nennung des Produzenten anzubieten (Altonaer Nachrichten 1884, Nr. 86 v. 10. April, 5; Der Zeitungs-Bote 1889, Nr. 70 v. 13. Juni, 4). Backpulver und Backartikel wurden so schon Mitte der 1880er Jahre geschätzte und weit verbreitete Alltagshilfsmittel.

Fasst man die wenigen Firmenporträts zusammen, so erweisen sich die eingangs entwickelten Thesen als empirisch valide. Das Fiasko des Horsford-Liebigschen Backpulvers mündete nicht in eine backpulverlose Zeit, die erst durch einen Dr. Oetker durchbrochen wurde. Im Gegenteil: Seit Mitte der 1870er Jahre nahm die Zahl der Backpulverproduzenten rasch zu. Die Firmen veränderten den Zuschnitt des Marktes, fokussierten ihn auf die Küchen- und Backpraxis, überwanden dadurch die Engführungen und Fehler Justus von Liebigs und seiner Mitstreiter. Gleichwohl muss man sich vor Augen führen, dass in den ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs das häusliche Backen noch nicht die Bedeutung hatte wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die hier nur beispielhaft vorgestellten Anbieter bedienten einen noch nicht entwickelten Markt – nicht wegen ihrer Angebote und ihrer fehlenden Leistungsfähigkeit, sondern aufgrund der noch überschaubaren Nachfrage der Haushalte. Dazu bedurfte es erst des vermehrten Angebots und des höheren Konsums von Zucker, Milch und Eiern, verbesserter Herde und Backröhren, des Vordringens einfach steuerbarer Gas- und Elektroherde- und -backöfen – und auch wachsenden Wohlstandes im Kleinbürgertum und der Facharbeiterschaft.

Dr. August Oetker nutzte diese veränderten Rahmenbedingungen, die Chancen seiner Zeit – langsam seit 1894, massiv seit der Jahrhundertwende. Er nutzte sie ohne Skrupel, mit Großsprecherei, Kommerzmythen und Werbungsstakkato. Er verkörperte wilhelminische Selbstbezüglichkeit, spiegelte im Kleinen das Poltern Seiner Majestät, führte dieses hinüber in eine visuell anders funktionierende Medienwelt. Historisch gesehen war er jedoch nur Teil einer langen Reihe von „Machern“. Die Wissenschaftler und Experten vor ihm waren aus kaum anderem Holz geschnitzt, wirkten aber unter anderen Zeitläuften. Der Blick hinter die bis heute wirksamen, von den Nachfolgern stets gepflegten Werbebilder kann uns aber wohl auch abseits dieses einen Produktes sensibilisieren, uns nicht mit dem erstbesten und schön scheinenden Eindruck zufrieden zu geben. Oder, wie es der Literaturnobelpreisträger von 1953 in einer Rede im März 1944 pathetisch fasste: „The longer you can look back, the farther you can look forward.“

Uwe Spiekermann, 4. September 2022

Die erste moderne Diät – William Bantings Kur gegen Korpulenz in Mitteleuropa

William Banting (1797-1878) – dieser Name steht für die erste moderne Diät, für „low carb“. Bantings 1863 vorgestellte Maßregeln verlangten nicht Nahrungsverzicht und Bewegung, sondern eine begründete Nahrungsauswahl, gezieltes Essen gegen die Korpulenz. Doch die Banting-Kur steht für deutlich mehr: In den 1860er Jahren zerbrachen traditionelle Formen des Fastens, religiöse Rituale wurden zunehmend ersetzt durch wissenschaftlich begründete Interventionen. Diäten waren nicht mehr länger Privatsache, sondern entfalteten in der bürgerlichen Öffentlichkeit eine zuvor unbekannte Breitenwirkung, die nicht zuletzt das Bild der Dicken deutlich veränderte. Der „Bantingismus“ wurde in England rasch eine „craze“, eine Manie, eine modische Massenerscheinung, über die ärztlich häufig geschimpft, über die in den Gazetten couragiert debattiert wurde. Die Banting-Kur war aber auch ein kommerzielles Phänomen: Sie gab jedem ein einfaches Rezept an die Hand, um Ballast abzuwerfen und den eigenen Körper gefälliger zu formen. Neue Dienstleistungen und Diätprodukte dockten sich an den Trend an und zogen daraus Gewinn. Schließlich war die Kur eine offenkundige Demütigung der ärztlichen Profession, denn Banting war ein Laie, kein Wissenschaftler. Doch diese Demütigung setzte weitere physiologische Forschung in Gang, um die Gesetze der Stoffumsetzung seriös zu begründen und die Körpermaschinerie dann wissenschaftlich in Balance und im Gewicht zu halten. Weitere, andere Diäten waren die Folge. Die Banting-Kur entstand im Zentralort der damaligen Welt, in London. Sie fand Widerhall erst in Großbritannien, dann in den USA. Es folgte Kontinentaleuropa, vorrangig Österreich, und nach etwa einem Jahr auch die Länder des späteren Deutschen Reichs. Auf letztere werden wir uns konzentrieren.

Vom Fasten zu Diäten

Die Banting-Kur war ein Übergangsphänomen. Sie stand am Ende diätetischer Regime, die noch auf antikem Wissen gründeten. Korpulenz war demnach Ausdruck eines aus der Balance geworfenen Körpers und Lebens. Heutige Kriterien, etwa der Verweis auf allgemein gültige Normalgewichte, auf kausal mit der Körperfülle erklärbare Krankheitsbilder oder aber füglich akzeptierte Schönheitsideale traten demgegenüber zurück. Fette Bäuche, so hieß es im späten 18. Jahrhundert, seien der „Denkzettel […], welche die Natur denen anhinge, die sich an ihr versündiget hätten“ (Fettigkeit, in: Johann Georg Krünitz, Oekonomische Encyklopädie, T. 12, Berlin 1786, 675-687, hier 677). Den Naturforschern und Medizinern war klar, dass sie mit zu viel Nahrung verbunden waren, gab es doch augenfällig eine zu große Anhäufung von Ölen und Fetten unter der Haut. Diese führten sie jedoch auf überflüssige Nahrungssäfte zurück, die durch das Blut nicht abtransportiert werden konnten. Die Therapie der Korpulenz bestand demnach nicht im Essen bzw. Nicht-Essen bestimmter Nahrungsstoffe, sondern im Verzehr von Nahrung und Speisen nicht anderen Gehaltes, sondern anderer Qualität. Gleich wichtig war die Mobilisierung der Selbstheilungskräfte: Die offenbar zu schlaffen Zellen sollten durch kalte Bäder wieder aktiviert werden, „Leibesbewegung“ war durch trockenes Reiben der Haut zu ergänzen. Dabei konnte Seife helfen, ebenso vermehrte Exkretionen (Malcolm Flemying, Auszug aus einer Abhandlung von der Natur, den Ursachen und der Kur der Feistigkeit, Bremisches Magazin zur Ausbreitung der Wissenschaften, Künste und Tugend 6, 1762/63, 315-322). Diätetische Ratschläge kreisten um weiche, flüssige und sehr nahrhafte Speisen, etwa Kraftsuppen, weiches Fleisch, Milch- und Mehlspeisen, starkes Bier und Fette. Dennoch ging es weniger um anderes Essen als vielmehr um ein anderes Leben (Handbuch zum Nutzen & Vergnügen des Bürgerstandes, Wien 1795, 109-113). Die ruhige Lebensart und die vermeintliche Schläfrigkeit, ja Unempfindlichkeit des Phlegmatikers machten Korpulenz auch zu einer Typfrage.

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Ein fröhlicher und gutmütiger Dicker (Düsseldorfer Monatshefte 5, 1852, 134)

Korpulenz war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine klar umrissene Krankheit, sondern eher ein Unpässlichkeit, die nur selten zu einer „Untauglichkeit zu allen Geschäften“ (Carl von Linné, Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, Bd. 2, Leipzig 1777, 254) führte. Der Begriff war noch eine Raummetapher, korpulente Bücher waren dicke Wälzer. Korpulenz war angesiedelt im neutralen Feld zwischen Gesundheit und Krankheit. Sie konnte durchaus als „das Gepräge vorzüglich gelungener Ernährung“ (Anton Friedrich Fischer, Prüfende Blicke auf das Embonpoint der Männer und Frauen, Nürnberg 1832, 1) gelten. Mediziner waren noch der Ansicht, dass „ein mäßiger Grad von Wohlbeleibtheit dem Manne zur Zierde gereicht, und daß ein mittlerer Grad von Embonpoint den jüngeren und älteren, unvermählten und vermählten Damen zu großer Reizerhöhung dient“ (ebd., 2-3). Im Falle wirklich krankhafter Korpulenz wurde Mischkost ohne Übermaß empfohlen, zudem Kräuter-, Obst- und Gemüseextrakte sowie Heilwasser, um die Mischungsverhältnisse des Blutes zu verändern und den Abfluss der Nahrungsstoffe zu erleichtern. Allerdings versuchten frühe Naturheilkundler auch striktere Maßregeln. Am bekanntesten wurde die kombinierte Wasser- und Hungerkur von Johann Schroth (1798-1856). Erstere sollte „die fetten, zähen, festsitzenden alten Verschleimungen und unreinen Stoffe“ (Die letzte Zuflucht oder der Naturarzt Johann Schroth und dessen Heilmethode, Breslau 1844, 7) als eigentlichen Krankheitsherd auflösen, letztere durch eine individualisierte Enthaltsamkeit von Flüssigkeiten und einer vornehmlich aus Brötchen, Breien sowie gekochtem Obst und Gemüse bestehenden Kost die Heilung unterstützen.

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Ärztliche Kunst im Kampf gegen die Korpulenz (Düsseldorfer Monatshefte 3, 1850, 108)

All dies änderte sich seit den 1830er und 1840er Jahren durch die sich etablierende, in den Folgejahrzehnten auch die Medizin durchdringende Stoffwechselphysiologie (vgl. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 32-37). Diese in deutschen Landen insbesondere vom Chemiker Justus Liebig (1803-1873) propagierte neue Lehre reduzierte Nahrungsmittel auf chemisch klar definierte Stoffe, die dann die Körpermaschinerie nährten und in Gang hielten. Korpulenz mutierte zu einem Rechenexempel. Weniger Stoffe und/oder deren vermehrte Verbrennung durch körperliche Anstrengung wurden dadurch zu Königswegen gegen die Korpulenz. Der französische Mediziner Jean-Francois Dancel propagierte schon lange vor Banting eine physiologisch begründete Diät mit möglichst wenig fett- und kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln und viel Fleisch (Préceptes fondés sur la chimie organique pour diminuer l’embonpoint, 2. Aufl., Paris 1850, 111-128). Eine Breitenwirkung erzielte er damit jedoch nicht; auch eine deutsche Übersetzung seiner Vorschläge verebbte abseits der medizinischen Profession. Die Banting-Kur änderte dies.

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Eiweißernährung macht nicht fett, wohl aber Fett und Kohlehydrate – Jean-Francois Dancels Broschüre für eine rationelle Diät nach Liebig (Karlsruher Zeitung 1852, Nr. 293 v. 11. Dezember, 4 (l.); Dancel, 1850, 3)

William Bantings „Letter on Corpulence“

Wilhelm Banting war ein wohlhabender Beerdigungsunternehmer in London. Anfang der 1860er Jahre hatte er sich bereits aus dem Familienunternehmen zurückgezogen, organisierte aber weiterhin Begräbnisse hochrangiger Persönlichkeiten, etwa des früheren britischen Premierministers Lord Palmerston (1784-1865) (Die Todtenfeier für Palmerston, Neue Freie Presse 1865, Nr. 421 v. 30. Oktober, 2). Obwohl Dienstleister für höchste und allerhöchste Kreise, ist von Bantings Leben nur wenig bekannt (vgl. A Virtual History Tour Of William Banting – YouTube). So wichtig und finanziell lukrativ repräsentative Beerdigungen im viktorianischen Zeitalter auch waren, „Undertaker“ blieben etablierte Außenseiter (Paul S. Fritz, The Undertaking Trade in England. Its Origins and early Development 1660-1830, Eighteenth-Century Studies 28, 1994/95, 241-253; Trevor May, The Victorian Undertaker, Bloomington 2008).

Bantings Brief erschien 1863 im Anschluss an seine eigene erfolgreiche Diät (William Banting, Letter on Corpulence, 3. Aufl., London 1864). Erfahrungsberichte galten jedoch nicht als wissenschaftliche Abhandlungen, die durchaus üblichen Fallgeschichten dienten Ärzten gemeinhin als Zierkranz eigener Untersuchungen. Banting hatte nicht studiert, war nicht Teil der ärztlichen Kreise, pflegte keine Fachsprache oder gar einen latinisierten Duktus. Er kokettierte kurz mit einem Bericht in „The Lancet“, dem führenden britischen medizinischen Fachjournal, nahm davon aber Abstand. Als im April 1863 ein populär gehaltener Artikel über die Ursachen der Korpulenz in einer vornehmlich literarisch ausgerichteten Zeitschrift erschienen war (Corpulence, Cornhill Magazine 7, 1863, 457-468), wollte er erst einen ergänzenden Brief an die Herausgeber schicken, publizierte diesen jedoch im Mai in erweiterter Form als Privatdruck. Es handelt sich um eine Leidens- und Erlösungsgeschichte, um denen zu helfen, die wie er unter Korpulenz litten.

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Bantings vergebliche Bemühungen, Gewicht zu verlieren (Kladderadatsch 18, 1865, 92)

Der Brief war kurz, gedruckt nicht länger als 19 kleine Seiten. Banting schilderte darin erst einmal seinem Kampf gegen den „Parasiten“ Übergewicht. Er sei stets aktiv gewesen, ein fleißiger, ordnungsliebender Mensch. Dennoch habe er ab Mitte 30 kontinuierlich zugenommen. Die Korpulenz war für ihn anfangs keine Krankheit, sondern eher eine Unpässlichkeit, die sein geselliges Leben einengte. Er nahm den Kampf gegen die Pfunde auf, verbündete sich dabei im Laufe der Jahre mit mehr als zwanzig Ärzten, darunter einschlägige Autoritäten. Sie gaben allgemeine Ratschläge, verstanden Korpulenz aber eher als eine Begleiterscheinung des Alterns. Banting haderte damit, nahm türkische Bäder, trieb Sport und Gymnastik, wollte den „Parasiten” so verdammen: „I have tried sea air and bathing in various localities; taken gallons of physic and liquor potassae; riding on horseback“ (Banting, 1864, 12). Mit jeder körperlichen Anstrengung wuchs aber nicht nur seine Kraft, sondern auch sein Appetit, so dass er letztlich weiter zunahm. Hungerkuren folgten, der Ausschluss fettreicher Lebensmittel, die Suche nach den das Übergewicht verursachenden Nahrungskomponenten; doch alles vergebens.

Bantings Brief lebt von der Spannung zwischen seiner mit einfachen Worten beschriebenen Hilflosigkeit und seinem ungebrochenen Willen, gegenüber dem „Parasiten“ zu obsiegen. In wenigen Sätzen beschrieb er die kleinen bohrenden Schmähungen und Hänseleien in der Öffentlichkeit, ausgesprochen von einfachen Arbeitern und Dienstboten gegenüber ihm, dem bürgerlichen Fettwanst. Scham bemächtigte sich seiner als er kaum mehr in der Lage war, seine Füße zu sehen, seine Schuhe zu schnüren. Banting musste schließlich Treppen rückwärts steigen, trugen seine Beine doch kaum mehr den feisten Körper. Ein Nabelbruch kam hinzu, weitere Beschwerden. Als Folge konsultierte er Spezialisten für ganz andere Krankheiten, darunter den Londoner Ohrenarzt William Harvey (1806-1876), dessen Name nicht im Brief erwähnt wurde, dem Banting aber nach Rückfragen das Verdienst zuwies, ihn auf eine neuartige Diät gesetzt zu haben.

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Leiden an der Korpulenz (Kladderadatsch 18, 1865, 93)

Diese Diät erschien Banting erst einmal paradox, denn sie erlaubte ihm kulinarische Fülle: „I was advised to abstain as much as possible were:—Bread, butter, milk, sugar, beer, and potatoes, which had been the main (and, I thought, innocent) elements of my existence“ (Banting, 1864, 17). Ansonsten aber durfte er schwelgen und unterstrich dies mit einem kaum eine Seite langem Speisezettel. Mageres Fleisch und Fisch standen nun im Mittelpunkt, Obst und Gemüse, hinzu kamen Weine, nicht aber Champagner. Tee und einige Biskuits zwischen den Hauptmahlzeiten, abends noch einen Grog oder einen Sherry. Banting griff getreulich zu – und er nahm stetig ab, fast ein Viertel seines Gewichtes.

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Linie in ein unbelastetes Leben: William Bantings Gewicht während seiner Diät 1862-1863 (The Science News-Letter 13, 1928, 407)

Er konnte sich nicht recht erklären warum. Doch ebenso wie ein Pferd nicht an sich nährende Bohnen, sondern Heu und Gras fressen solle, so habe seine Diät die ihm nicht zuträglichen Lebensmittel erfolgreich ausgeschlossen. Seine Tafel sei nun besser als zuvor, er aß mehr und mit Genuss. Als Leser teilt man die Freude Bantings an seinem neuen leichteren Leben, mit normalem Treppensteigen, besserem Seh- und Hörsinn, verbessertem Gesamtbefinden und eigenständiger Lebensgestaltung. Sein Brief schloss mit der Hoffnung, dass es anderen Leidensgenossen ebenso ergehen möge. Die Diät müsse gewiss stets ein wenig anders gestaltet werden, doch ihre Essenz, der Ausschluss von stärke- und fetthaltigen Lebensmitteln, sei allen Korpulenten anzuraten.

Banting verteilte die 1000 Exemplare seines Privatdruckes ab Mai 1863 kostenlos an Bekannte, an Ärzte, auch an Multiplikatoren. Aufgrund der beträchtlichen Resonanz schob er 1863 nochmals 1500 Broschüren nach. Die Druckkosten waren mit drei Pence gering, doch der Vertrieb und vor allem die sich anschließende Privatkorrespondenz teuer und zeitaufwändig. 1864 übertrug er daher die Vertriebsrechte an den Londoner Verlag Harrison. Die 1864 erschienene dritte Auflage 1864 betrug 50.000 Exemplare, den damit erzielten Gewinn spendete der Autor (The Bookseller 76, 1864, 239). 1869 folgte schließlich eine vierte Auflage, 13.000 Broschüren, jede für einen Schilling. Auch diese Tantiemen spendete Banting für soziale Zwecke (A „Banting“ Convalescent Institution, The Lancet 93, 1869, 833). Schon 1864 erschien eine US-amerikanische Ausgabe. Der Text des „Letter on Corpulence“ blieb während der ersten drei Auflagen praktisch identisch, während Vorwort und Anhang zunehmend umfangreicher wurden. Die vierte Auflage war dann deutlich korpulenter, da Banting und sein Arzt William Harvey auf Rückfragen und öffentliche Kritik eingingen (Jaime M. Miller, „Do you Bant?“ William Banting and Bantingism. A Cultural History of a Victorian Anti-Fat Aesthetic, Phil. Diss. Norfolk, VA 2014, 91). Banting tat also einiges, um seinen Erfahrungsbericht zu verbreiten. Zum Bestseller und einer in der gesamten westlichen Welt diskutierten Diätkur wurde er jedoch erst durch die kontroverse Diskussion in der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Der Widerhall in Großbritannien und den USA

Bantings „Letter on Corpulence“ führte zu einer breiten innerwissenschaftlichen und öffentlichen Debatte, die dann in den sog. „Bantingism“ mündete, also einer breit gefächerten, teils obsessiven Diätbewegung mit beträchtlichem Widerhall in der Populär- und Konsumkultur (detailliert und oberflächlich zugleich hierzu Miller, 2014). Da es in diesem Artikel um die Bedeutung der Banting-Kur in Mitteleuropa geht, sind nur Kernpunkte der britischen und auch US-amerikanischen Geschehnisse hervorzuheben, denn sie bildeten eine Folie für die Rezeption Bantings auf dem Kontinent.

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Der Korpulente im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit (Punch 46, 1864, 200)

Vier Aspekte sind hervorzuheben: Erstens war Bantings „Letter on Corpulence“ für die meisten Ärzte ein Ärgernis. Apodiktisch hieß es: „The professional literature about corpulence is tolerably complete“ (Bantingism, The Lancet 83, 1864, 520). Banting ignoriere und überdecke mit seinem Vorpreschen die bisherige medizinische Forschung: „There was nothing new in the statements made by Mr. Banting, nothing that was not previously well known to physiologists“ (Edinburgh Medical Journal 11, 1865, 826). Verwiesen wurde auf den eingangs schon zitierten Malcolm Flemyng (1700-1764), häufiger noch auf den Mediziner William Wadd (1776-1829). Dieser Mann von Stand und Profession hatte, ähnlich wie Banting, seine Lebens- und Leidensgeschichte in Form eines Briefes präsentiert (Cursory Remarks on Corpulence, London 1810). Justus Liebig wurde mehrfach erwähnt, insbesondere aber der oben schon vorgestellte Jean-Francois Dancel. Dessen 1854 veröffentlichtes Werk wurde 1864 als „an act of justice“ ins Englische übersetzt und enthielt in der Tat ein langes Literaturverzeichnis (Obesity, Or Excessive Corpulence, Toronto 1864, iii resp. 116-127). 1863 veröffentlichte er ein weiteres französisches Buch über Ursachen und Behandlung der Korpulenz (Traité théorique et pratique de l’Obésité, Paris 1863). Festzuhalten aber ist, dass dieses Spezialistenwissen auch bei den von Banting herangezogenen „Autoritäten“ kaum präsent war. Die Mehrzahl der Ärzte spann noch Ideen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts weiter, während Bantings Kur Ausdruck der Leistungsfähigkeit just der neuen Stoffwechselphysiologie war (Bantingism, The Lancet 84, 1864, 493-494).

Zweitens initiierte Bantings Brief eine kontroverse Debatte über die Bedeutung von Laien und Öffentlichkeit für Wissenschaft und die medizinischen Professionen. Die Ärzte hoben sofort das wirkende Prinzip der Kur hervor, nämlich “excluding ‘starch and saccharine matter as much as possible’” (Corporation Reform, Punch 45, 1863, 195). Als Laie habe Banting dies natürlich nicht wissen können, indes, sein Brief offenbare mögliche Wohltaten der Wissenschaft für das Alltagsleben (The Search after Health, The Saturday Review 16, 1863, 721-722, hier 721). Banting sei allerdings nicht der eigentlichen Anreger der Kur, die intellektuelle Urheberschaft liege vielmehr beim Fachkollegen William Harvey (A Cure for Corpulence, British Medical Journal 1, 1864, 99-100; John Harvey, Bantingism, The Lancet 83, 1864, 571). Der Brief des Beerdigungsunternehmers sei anmaßend gewesen, “blowing the trumpet of the medical man” (Bantingism, 1864) nicht statthaft. In den USA war die einschlägige Kritik noch strikter, denn Korpulenz war dort recht selten, Selbstmedikation ein stetes Ärgernis (Bantingism, The Boston Medical and Surgical Journal 71, 1864, 183-186, hier 185). Zudem kritisierte man insbesondere in Neuengland den überbürdenden Alkoholkonsum Bantings (Bantingism and Stimulants, The Boston Medical and Surgical Journal 71, 1864, 227-228). Für die Ärzte glich die von Banting ausgelöste Bewegung einer Springflut, der sie nicht Herr werden konnten, der sie aber ausgeliefert waren: “It is the single case which the public always does jump at, without regard to general principles or consequences” (Bantingism, The Boston Medical and Surgical Journal 71, 1864, 183-186, hier 185). Die Masse sei gefährlich, nicht lenkbar, könne nicht gebremst werden. So dachte eine Elite, die sich kaum erklären konnte und brauchte.

Diese Kritik entsprang drittens einem rasch stärker werdenden Risikodiskurs, war die Diät doch mit gesundheitlichen Gefahren verbunden (Bantingism, The Lancet 84, 1864, 387-388). Vorsicht sei geboten, denn aufgrund der Erfahrungen mit Jockeys wusste man, dass eine „low carb“-Diät nur bis zu einer gewissen Grenze fortgeführt werden dürfe (A few Words concerning Bantingism, Edinburgh Medical Journal 10, 1864, 288-289). Von Einseitigkeiten wie der Banting-Kur sei generell abzuraten, moderate Mischkost zu empfehlen. Einseitiger Fleischkonsum könne Krankheiten hervorrufen, die individuelle Konstitution sei bei jeder Diät zu beachten (Charles Munde, A few Words on Bantingism and Obesity, The Boston Medical and Surgical Journal 72, 1865, 457-460). Damit verbunden waren auch Warnungen vor der neuen Stoffwechselphysiologie und ihres materiellen Reduktionismus. Man möge stofflich richtig düngen, möge Tiere gezielt füttern, aber: “Men are not pigs, to be estimated entirely by the standard of weight”. Die Banting-Kur, “possibly well adapted for the training of a brutal gladiator, is in every respect unfitting for the nutriment of a reasonable Christian” (Banting on Corpulence, The Living Age 83, 1864, 553-561, hier 554). Dennoch führten die wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zu einem vorwärtsgerichteten Konsens. Bantings Erfolg zeige, wie wichtig klare und einfache Vorgaben, wie bedeutsam eine verständlichere Sprache für die Verbreitung und Akzeptanz von Wissenschaft sei. Diese “episode has shown how willing the public is to be taught, and has proved how desirable it is that its teachers should be thoroughly informed men” (Edinburgh Medical Journal 11, 1865, 826).

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Dicke im Banne der möglichen Kur (Punch 47, 1864, 142)

Diese drei Aspekte – Ignoranz der bisherigen Erforschung der Korpulenz, Anmaßung eines Laien, Unterschätzung von Gesundheitsrisiken – beeinflussten ähnlich gelagerte Debatten auf dem europäischen Kontinent. Noch stärker war viertens jedoch die Strahlkraft der englischen Populärkultur. Der Bruch mit tradierten Formen des Fastens erfolgte weniger bei vielfach zögerlichen, teils unkundigen Medizinern. Er erfolgte durch die Betroffenen selbst, eingebettet in einer bürgerlich-liberalen Medienlandschaft und Konsumkultur. Die Bandbreite der einschlägigen Graphiken, Gedichte, Geschichten, Lieder und Sketche ist wahrlich beeindruckend. Sie oszillierten gemeinhin zwischen dem vollen, prallen Leben und der Gefahr von Siechtum und Tod. Die Karikaturzeitschriften füllten sich rasch mit Zeichnungen von Dicken in allen Lebenslagen. Korpulente galten als plump und bedauernswert, die dank der Banting-Kur eine zweite Chance erhielten, mochten sie diese auch erst einmal nicht sehen. Anfang 1864 ergötzte man sich noch vielfach am Grundparadoxon der Banting-Kur, nämlich einer Gourmetdiät, durch die man abspecken konnte: “Take a fresh lease of life, and commence a new era, / Mr. Banting’s advice makes one long to begin— / ‘Drink claret and sherry, good grog, and Madeira, / Take four meals a day and—grow gracefully thin’” (The Banting Code, Punch 46, 1864, 115). Zunehmend aber wurde in Frage gestellt, ob die Bekämpfung der Korpulenz zu einem guten und gesunden Leben führen würde. Beispiel hierfür war ein Modetanz, dessen schlichte Zeilen von einem Dirigenten kündeten, der durch die Kur zunehmend schmaler wurde, bis von ihm lediglich ein dünner bedauernswerter Rest übrig war (Saturday Review 18, 1864, 1058; C.H.R. Marriott, The Banting Quadrille, London 1864, 7-8, 12-13).

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Vor und nach der Banting-Kur (Marriott, 1864, 1)

Ähnlich klangen die Abschiedsverse auf einen ehedem korpulenten Gastwirt, der eine Banting-Kur begann, doch erst im Tod davon lassen konnte: “So rapidly was he reduced / That though some people think / That fat is always sure to swim, / He soon began to sink” (The Doleful Ballad of Billy Bulky. Dedicated to Mr. Banting, Fun 7, 1864, Ausg. v. 29. Oktober, 61). Solcher Schabernack lag bei der Kur eines Beerdigungsunternehmers nahe, schwarzer Humor feierte fleißige Urstände. Lächelnd, doch mit Sinn für die Bedeutung des wohlbeleibten Körpers als Marker von Prosperität und Besitz, wurde der Verlust der Fülle kommentiert. „Oh, why was I so jolly green / Extremes to go in Banting! / I’m fleshless now as any rat, / I scarcely knew what I was at, / I feel I was a fool, that’s flat; / I really must regain my fat” ([Howard Paul], Banting, Fun 7, 1864, Christmas-Number, 14). In diesem Falle verlor ein Ehemann erst sein Fett und dann seine Frau. Parallel wurde die neue Kur oft zu Grotesken verdichtet: Eine neu gegründete Banting Restaurant AG kredenzte ihren Gästen demgemäß erlesene Fleischspeisen fast ohne Fett und Kohlenhydrate. Chemiker und Professoren der Gastronomie erforschten in ihrem Dienste neue schmackhafte Speisen im Mikrokosmos des Erlaubten (The Banting Restaurant Joint Stock Company (Limited), Punch 47, 1864, 143). Banting war 1864 immer für einen Lacher gut, doch die Kur galt zunehmend als exzentrische Abirrung eigenartiger Charaktere. Der Neujahrswunsch der Karikaturzeitschrift Punch war daher eindeutig: “Now let the sports begin for which you ‘re panting, / Laugh and grow fat, and bother Mr. Banting!” (Punch 47, 1864, 267).

Die Rezeption in Mitteleuropa

Die Rezeption der Banting-Kur in Mitteleuropa verlief zeitversetzt: Die französische und die österreichische Öffentlichkeit setzten sich schon 1863/64 mit der Diät und ihren Auswüchsen auseinander. Auch in deutschen Landen gab es damals erste Berichte. 1864 erschienen zunehmend medizinische Rezensionen, die öffentliche Debatte setzte aber erst nach der Übersetzung und Kommentierung des „Letter on Corpulence“ ein. Ihren Höhepunkt erreichte sie 1865/66, also mit beträchtlicher Zeitverzögerung. Der Transfer mündete dennoch in eine kurzzeitige „Banting-Manie“, die mit dem „Deutschen Krieg“ im Sommer endete.

Anfangs, 1863, galt Bantings Kur schlicht als ein Witz. Im mährischen Brünn spottete man, dass man diese „Heilmethode“ auf den Wiener Finanzplan anwenden solle, um diesen mager zu machen (Mährischer Correspondent 1863, Nr. 139 v. 20. Juni, 4). Die Diät galt als Spleen der höheren englischen Gesellschaft (Ebd., Nr. 199 v. 1. September, 4). Bissige Kommentare über zu üppige Schauspielerinnen forderten Bühnenrückzug oder Banting-Kur – und der Bürger schmunzelte, mochte er auch nicht im Detail informiert gewesen sein (Ebd., Nr. 213 v. 19. September, 4).

Die 1864 einsetzende Rezeption von William Bantings „Letter on Corpulence“ in deutschen Landen erfolgte nicht direkt. Sie war unmittelbar verknüpft mit dessen Übersetzung, Kommentierung, Modifikation und Erklärung durch den Hallenser Mediziner Julius Vogel (1814-1880). Seine im Juni 1864 veröffentlichte Broschüre „Korpulenz. Ihre Ursachen, Verhütung und Heilung durch einfache diätetische Mittel. Mit Benutzung der Erfahrungen von William Banting“ sollte ein Bestseller werden, der auch das Wortfeld des Übergewichtes neu umriss: Zuvor übliche Begriffe wie Feistigkeit, Beleibtheit, Fettsucht, Fettleibigkeit, Embonpoint, Dicke oder Wohlbeleibtheit verloren seither an Bedeutung. Vogel hatte in München promoviert, in Göttingen habilitiert, war seit 1846 Ordinarius für Heilkunde in Gießen, ab 1855 in Halle/S. Er trat vor allem als Anatom und Pathologe hervor, war dabei Grenzgänger auch hin zur Physiologie (Vogel, Julius, in: Biographisches Lexicon hervorragender Ärzte, hg. v. J[ulius] Pagel, Bd. 6, Wien/Leipzig 1884, 193).

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Julius Vogel und das Titelblatt seines Erfolgsbuches (Wikipedia (l.))

Vogel war sich des Risikos bewusst, ein populäres, nicht vorrangig an die Herren Kollegen gerichtetes „Schriftchen“ (Vogel, 1864, X) von etwas mehr als siebzig Seiten zu veröffentlichen. Eine allgemeinfassliche Darstellung sei jedoch nicht nur durch Bantings Vorlage angeraten, sondern dürfte, so der Autor, dazu beitragen, „der gerade unter dem gebildeten Theile des Publikums leider immer mehr überhand nehmenden Neigung: mit Umgehung der Aerzte, den Rath von Quacksalbern und Charlatanen zu befolgen, sowie allerlei in den Zeitungen angepriesenen Mittel zu gebrauchen, durch eine Belehrung über die daraus zu befürchtenden Nachtheile entgegenzuwirken“ (ebd., XI). Vogel griff damit die angelsächsische Debatte auf, knüpfte aber auch an populärere Schriften wie Justus Liebigs „Chemische Briefe“ oder Julius Adolf Stöckhardts (1809-1886) „Chemische Feldpredigten“ an, die Agrikulturchemie und Stoffwechsellehre in der deutschen Öffentlichkeit etablierten halfen.

Missbilligungen Vogels ließen nicht auf sich warten. In Wien kritisierte man seinen Verweis auf Liebig als typisch teutsche Anmaßung, den deutschen Ursprung allen Fortschritts nachweisen zu wollen (Die Mageren und die Dicken, Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 8 v. 23. Mai, 4), während man in London diesem durchaus beipflichtete (Bantingism abroad, British Medical Journal 1, 1865, Nr. 211, 42-43, hier 43). In bayerischen Fachzeitschriften glaubte man an die Rotation der verstorbenen Häupter der Hallenser medizinischen Fakultät in ihren Gräbern, voll Scham ob des Abstiegs eines Wissenschaftlers in die Lebens- und Leidenswelt eines Laien (Rez. v. Vogel, Corpulenz, 81865, Ärztliches Intelligenzblatt 13, 1866, 136-138, hier 138). Auch eine führende pharmazeutische Zeitschrift schäumte ob der vermeintlichen Weihe des Bantingschwindels, der „nun an allen ölwassersüchtigen Deutschen bereits gründlich ausprobirt sein muss“ (Ein deutscher Professor der Heilkunde und der Bantingschwindel, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 7, 1866, 141-143, hier 141). Kaum verwunderlich, dass selbst in neueren biographischen Arbeiten die Broschüre Vogels unerwähnt blieb (Johannes Büttner, Gießener Schüler Justus von Liebigs mit späteren Tätigkeiten in der Medizin, Gießener Universitätsblätter 34/35, 2001, 35-48, hier 37-38). Aus heutiger Sicht war Vogel einer der vielen Wissenschaftspopularisierer, die nicht nur in der Profession Pionierarbeit leisteten, sondern auch den Unterbau für die zeitweilig weltweit führende Stellung der deutschen Wissenschaft schufen.

Dass die Debatten über die Banting-Kur im deutschen Sprachraum faktisch Debatten über Vogel und Banting waren, lag vor allen an zwei Punkten. Erstens erklärte Vogel die Funktionsweise der Kur in einer bis heute fesselnden Darstellung der Stoffwechsellehre und ihrer Unschärfen. Zweitens übersetzte er nicht nur rein wörtlich, sondern stellte in einer Fußnote Bantings Speisezettel eine gleichsam deutsche Version an die Seite. Dies war die mundgerechte Anleitung für die nun einsetzende Diät-Praxis: Bantings Tee wurde von Vogel durch möglichst schwarzen Kaffee ersetzt. Brot war in engen Grenzen erlaubt, doch beim Frühstück sollte auf Kuchen oder Butter möglichst verzichtet werden, nicht aber auf Eier, kaltes Fleisch oder aber rohen Schinken. Auf das zweite Frühstück solle man nur wenig Wert legen. Mittags empfahl Vogel eine Fleischbrühsuppe möglichst ohne Einlagen, fettarmes Gemüse und Kompott, erlaubte auch wenige Salzkartoffeln und etwas Brot. Nachmittags sei wieder Kaffee-, nicht aber Kuchenzeit, ehe man abends den Tag mit etwas Fleischbrühsuppe oder Tee, mit Salat, kaltem Fleisch, Schinken, Eiern und ein wenig Brot abrunden könne. Als Getränk und Seelentröster durften Wein, aber auch Apfelwein getrunken werden. Vergleicht man Vogels Speisezettel mit dem Bantings, so war ersterer einfacher und preiswerter, zielte auf einen bürgerlichen Tisch, erinnerte an leichte Kost in Sanatorien. Physiologisch waren sie austauschbar, enthielten beide – im Gegensatz zu späteren rigideren „low carb“-Diäten – moderate Fett- und Kohlenhydratmengen. Dies diente der Abfederung einer zu einseitigen Kost und erlaubte, wie Bantings Gewichtskurve unterstrich, eine stetige, sich über längere Zeit hinziehende Abnahme.

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William Banting und eine deutsche Imagination eines Engländers (Wikipedia.de (l.); Fliegende Blätter 42, 1865, 70)

William Banting mutierte 1864/65 zu einer in Mitteleuropa bestens bekannten Persönlichkeit, galt als „Wohlthäter der überfütterten Menschheit“ (Ein System der Entfettung, Fränkische Zeitung 1864, Nr. 271 v. 15. November, 2). Überrascht nahm man seine steile Karriere zur Kenntnis: „Kaum gelangte je ein einfacher Mann so schnell zu ausgebreitetem Ruf als Mr. William Banting zu London“ (Neue Würzburger Zeitung 1865, Nr. 29/30 v. 20. Januar, 1-2, hier 1). Angesichts nur dürrer Kenntnisse über seine Biographie reicherten Journalisten seine Lebensgeschichte beherzt an, machten ihn so zu einer populären Figur (Wie William Banting auf seine Methode kam, Waldheims Illustrirte Zeitung 1866, H. 17, 66). Dabei spielte sein Beruf eine wichtige Rolle, fehlte es doch nicht an Bonmots über Diät und Sterben. Da viele Journalisten aus medizinischen Rezensionen abschrieben, mischten sich jedoch auch negative Stimmen in den breiten Chor des Lobes: „Wissenschaftliche Bildung hat er keine. Sein oftgenanntes Schriftchen ist ganz crüde in Form und Inhalt“ (Neue Freie Presse 1865, Nr. 141 v. 20. Januar, 5).

Vereinzelte Berichte beschworen schon vor dem Erscheinen der Vogelschen Broschüre die offenkundigen Erfolge der neuen Diät (Ueber Wohlbeleibtheit, Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1864, Nr. 125 v. 4. Mai, 2521). In Mitteleuropa war man stärker als in Großbritannien mit Hungerkuren vertraut, war religiöses Fasten verbreiteter. Entsprechend freudig nahm man zur Kenntnis, dass man gut essend abnehmen konnte (Bayerische Zeitung 1864, Nr. 258/259 v. 19. September, 879). Bantings Leidensgeschichte berührte, die Kur – ein Begriff der (ähnlich wie „Banting-System“) erst 1864 im deutschen Sprachraum aufkam – gaben jedem Dicken ein schicksalswendendes Mittel in die Hand. Der Erfolg war handgreiflich, keine theoretische Spielerei, sondern praktische Tatsache (Diät gegen Fettleibigkeit, Passauer Blätter für Unterhaltung und Belehrung 1865, Nr. 27 v. 9. Juli, 215-216, hier 216). Es ist wahrscheinlich, dass der „Knalleffekt“ (Die Fettleibigkeit und die sogenannte Banting’sche Kur, Der Bayerische Landbote 1865, Nr. 40 v. 9. Februar, 157-158, hier 157) der neuen Diät in Norddeutschland eher vernommen wurde als im Süden. Doch da man dort – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bis heute mit der Quellendigitalisierung fremdelt, dominieren hier Stimmen fernab der üblichen Transferorte Bremen und Hamburg.

Korpulenz wurde nun ernster genommen, galt zunehmend als gesundheits-, ja lebensgefährdend. Spott sei verfehlt, Heilung nun aber einfach. Das unterstrichen insbesondere Berichte in medizinischen Fachzeitschriften (Das Banting-System gegen Fettleibigkeit, Wiener Medizinische Wochenschrift 15, 1865, Sp. 943-944; Die Banting-Kur, Neues Jahrbuch für Pharmacie und verwandte Fächer 24, 1865, 127-128; Dass., Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines 3, 1865, 421; Die diätetische Kur gegen Korpulenz, Der praktische Arzt 7, 1866, 150-151). Sie verwiesen auf die bisherigen Erfahrungen in England, auf „Hunderte von fetten Personen“, die nun wieder ein gutes Leben führen würden (H. Meissner, Ueber Wohlbeleibtheit, Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 127, 1865, 168-174, hier 169). Mit der zeitlichen Distanz konnte die Wirksamkeit der Diät besser beurteilt werden. Stärker als in England oder gar den USA bröselten auf dem Kontinent die Trennwände zwischen hehrer Wissenschaft und gesundheitlicher Praxis: „Wo es sich nun gar um diätetische Massregeln handelt, da ist das Popularisiren immer an seinem Platze. Ist doch ein grosser Theil unserer heutigen Heilkunde nichts Anderes als angewandte Diätetik, richtige Anwendung und Benützung von Licht, Luft, Wasser, Nahrungsmitteln u.s.w.“ (Pichler, Banting’s System gegen Corpulenz, Allgemeine Wiener Medizinische Wochenschrift 10, 1865, 217). Solche Aussagen spiegelten die größere Bedeutung von Naturheilkunde und Homöopathie in Mitteleuropa, deren Herausforderungen für die akademische Medizin durchaus produktiv waren (Karl Müller, Die Korpulenz, Die Natur 14, 1865, 76-78).

Unterschiede gab es auch bei der Einschätzung der Stammväter und Vorläufer der Banting-Cur. Vogel hatte Liebig in den Vordergrund gerückt, ihm sein Werk gewidmet. Die Rezensenten folgten, griffen anders als in Großbritannien nicht mehr auf überholte Ratschläge des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurück (Die Banting-Kur gegen Fettleibigkeit, Sachs‘ repertorisches Jahrbuch für die neuesten und vorzüglichsten Leistungen der gesammten Heilkunde 33, 1866, 134-138). Allerdings mit einer Ausnahme: Die 1826 veröffentlichten Diätratschläge des Gastrosophen Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826), nämlich „Mässigkeit im Essen, Enthaltsamkeit im Schlaf, Bewegung zu Fuss oder zu Pferde“ (Physiologie des Geschmacks oder Physiologische Anleitung zum Studium der Tafelgenüsse, Braunschweig 1865, 214), entstammten noch dem Denken der Humoralpathologie, wurden aber ärztlich breit empfohlen. Sie knüpften an die Alltagserfahrungen einer bäuerlichen Gesellschaft an: Fleischfressende Tiere waren im Regelfall schlank, während – die omnivoren Schweine mögen mir verzeihen – Masterfolge vor allem mit kohlenhydrathaltigen Futtermitteln erzielt wurden. Der französische Richter und Bonvivant empfahl auch daher „eine mehr oder minder strenge Enthaltsamkeit von Mehl und Stärkemehl enthaltenden Nahrungsmitteln“ (ebd., 216) als Gegenmittel zur Korpulenz. Die Übersetzung seines Hauptwerkes just im Jahre 1865 ist ohne die Diskussionen über die Banting-Kur nicht zu verstehen (P[aul] Niemeyer, Das Banting-System keine neue Erfindung!, Deutsche Klinik 18, 1866, 159).

Die verhaltende Banting-Manie 1865/66

Auch in Kontinentaleuropa gab es eine „Banting-Manie“ (Pulver und Pillen, Wiener Medizinische Wochenschrift 15, 1865, Sp. 1055-1058, hier Sp. 1055), auch wenn einige Dutzend einschlägiger Quellen deren Umfang nicht präzise umreißen können. Gewiss ist, dass es sich um eine dominant bürgerliche Bewegung handelte und die Metropolen hierbei Vorreiter waren. Ungewiss ist, ob nicht einige der Berichte mit Wissen um den „Bantingismus“ verfasst wurden, denn Manien waren, wie Verbrechen, Modetorheiten und Skandale, gern gepflegtes Genres schon vor dem Aufkommen einer Boulevardpresse. Und da man „dickbäuchigen Lords und Misters“ bei ihren „vielfachen Experimenten“ (Ein System der Entfettung, Würzburger Anzeiger 1866, Nr. 312 v. 10. November, 2) gefolgt war, waren die groben Umrisse eines kontinentaleuropäischen Korpulenztheaters schon ansatzweise vorgegeben. Auch britische Beobachter sprachen darüber (British Medical Journal 1865, Bd. 2, Nr. 239, 99).

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Fort mit Kohlenhydraten, fort mit den Pfunden! (Kladderadatsch 18, 1865, 94)

Die Manie war ein ernstes Unterfangen, nicht umsonst sprach man zwischen zwei realen Kriegen vom „Krieg gegen die Korpulenz“ (Diät gegen Fettleibigkeit, Passauer Blätter für Unterhaltung und Belehrung 1865, Nr. 27 v. 9. Juli, 215-216, hier 216). Banting gab die Anregung, Vogel die Hilfsmittel, nun hatten die Dicken ihre Chance: „Noch vor drei Wochen stöhnten sie unter einer unmäßigen Ueberfrachtung des Körpers, und heute waren sie, Dank den Erfolgen der Banting-Kur, ‚um den Leib nicht so dick wie eine Adlersklaue‘, und hätten mit dem jugendlichen Sir John ‚durch eines Aldermans Daumenring kriechen können‘“. Banting, einst Märtyrer, wurde nun “Heiland der Fettleibigkeit“ (beide Zitate n. Banting, Neue Würzburger Zeitung 1865, Nr. 160/161 v. 12. Juni, 1-4, hier 1). Fleischessen wurde – fast wie heute dessen Nicht-Essen – zu einer politischen Tat, mit der man kauend Leib und Welt umgestalten konnte. Ja, die Zeiten hatten sich rasch gewandelt: „In der guten Gesellschaft mag auf einmal Niemand mehr als ‚Fetter‘ auftreten. Da sogar diejenigen, welche sich nie eines Überflusses an Fett rühmen konnten, der allgemeinen Sitte zu Liebe sich der ‚Banting’schen Kur gegen die Korpulenz‘ unterwarfen, so mögen die Aerzte entscheiden, ob wir es hier mit einer modernen Geistesepidemie zu thun haben“ (Die englische Diät gegen Korpulenz, Der Sammler 34, 1865, 44). Doch wie immer die Bewertung ausfiel, man musste sich darauf einstellen: „Ladet man jetzt seine Freunde zu einem Gastmahl, so kann man darauf wetten, daß sich mehrere unter denselben befinden, welche als Bantingianer zu jener spezifischen Eß- und Trinkmethode geschworen haben – und Wirth und Wirthin durch beharrliches Versagen der verbotenen Genüsse und durch ihre Bitten um gewisse Nahrungsstoffe in nicht geringe Verlegenheit bringen“ (Corpulenz, Die Debatte 1865, Nr. 30 v. 30. Januar, 1).

Für Außenstehende besaß das Geschehen etwas Sektenhaftes, ähnlich wie beim Vegetarismus. Und zugleich nährte die Mode sich selbst: Die Jünger „üben mit allem Fleiße und strenger Konsequenz die Banting-Kur, welche ihren Gläubigen das Gelübde der Enthaltsamkeit von Bier, Mehlspeise, namentlich von Fett auferlegt. Die Bekenner der Banting’schen Lehre, welche in Wien zusehends mehr Anhänger gewinnt, erzählen Wunderdinge von den unfehlbaren Erfolgen, welche sie durch den Genuß der vorgeschriebenen und Entbehrung der verbotenen Nahrungsstoffe an sich und ihren Proselyten erzielt haben. Hier zeigt ein solcher Banting-Apostel auf die Stelle, wo sich sein ‚ehemaliger Bauch‘ befand, der bereits vollständig verdunstet ist – dort weiset er auf einen Freund, der noch vor wenig Wochen als Fettwanst das Entsetzen aller Omnibuspassagiere, gegenwärtig eben nur seinen Platz anständig ausfüllt – ein Banting-Fanatiker macht seit einem Monate von 3 zu 3 Tagen eine Probe seines abnehmenden Umfanges bei dem Drehkreuz am Eingang des Museums, und siehe da, unser dicker Freund, der noch Mitte Juni regelmäßig stecken blieb, passirt jetzt diesen Kreuzweg bereits ohne alle Schwierigkeit“ (Wiener Plaudereien, Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 60 v. 13. Juli, 13).

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Banting-Kur oder Gymnastik? Für viele eine einfache Wahl (Kladderadatsch 18, 1865, 93 (l.); Fliegende Blätter 41, 1864, 63)

Die Banting-Kur schien einfach, die Anleitung war „in jedem Bücherladen“ erhältlich (Kraft und Größe, Der Bazar 12, 1866, 198). „Ueberall spricht man von Banting“ – so hieß es (Das Banting-Fieber, Mnemosyne 1865, Nr. 60 v. 26. Juli, 244). Entkommen schien kaum möglich, Banting war und blieb Stadtgespräch, in öffentlichen Lokalen, in den Wartesälen der ersten und zweiten Klasse (nicht der dritten und vierten), ebenso in geräumigeren Bahnabteilen (Ueber das sogenannte Banting-System gegen Fettleibigkeit, Pfälzer Zeitung 1865, Nr. 270 v. 17. November, 1-2, hier 1). Auch einer der damals führenden deutschen Mediziner, Felix von Niemeyer (1820-1871), bestätigte die Breite der Bewegung und, mehr noch, ihre Wirksamkeit: „Schon jetzt wandern zahlreiche lebende Beweise von Erfolgen der Banting-Kur auch auf unsern Straßen einher“ (Die Behandlung der Korpulenten nach dem sogenannte Bantingsystem, Berlin 1866, 15).

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Korpulenz als bürgerliches Problem, als Teil der sozialen Frage (Fliegende Blätter 45, 1866, 40)

Bei aller Freude am Spektakel sollte man jedoch nicht vergessen, dass die Banting-Manie die sozialen und wirtschaftlichen Hierarchien des damaligen bürgerlichen Zeitalters spiegelte und reproduzierte. Der gemeine Mann, der Arbeiter, der arme Schreiber, sie waren in der Regel dünn, zudem deutlich kleiner als Menschen heutzutage. Banting schien „einfache, unschädliche Mittel gefunden [zu haben, US], welchen den ‚Austernfriedhof‘ des dicken Bankiers in normale Formen zu bringen wissen – die ‚moderne Heilkunde‘ hat auch ihr ‚training‘ und ihr ‚trainer‘ heißt William Banting“ (Die Mageren und die Dicken, Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 8 v. 23. Mai, 4). Die Banting-Kur, auch in der Vogelschen Variante, war teuer. Wild, Kompott, Fleisch, Fisch – sie waren selten auf dem Tisch der Armen, fehlten teils ganz, so wie Rotwein, Sherry oder Madeira. Die Trainingsmetapher war sprechend und wurde vielfach aufgegriffen. Doch nun wurden nicht Jockeys abgespeckt, um Rennen zu gewinnen, sondern die Herren vom Jockey-Club, um im Wettbewerb ums Abnehmen zu siegen, um fideler und erfolgreicher ihren Geschäften nachgehen zu können (Neues Fremden-Blatt 1867, Nr. 109 v. 21. April, 5).

Natürlich waren die Berichte voll von kleinen Abweichungen, hatte Banting (Prösterchen!) doch die Größe der Gläser nicht vorgegeben. Die Banting-Manie war ein Fest der Bürger, ihrer so trefflichen Emanzipation von dem noch herrschenden Adel. Ehedem dicke Herren standen wieder auf dürren Freiersfüßen, hielten Ausschau nach nun wieder junonischen Damen. Und dann aß man gemeinsam “eine große Tasse Bouillon-Suppe, eine große Forelle, eine große Portion ‚kaltes Aufgeschnittenes‘, ein kolossales Beefsteak, ein Prachtstück von einem Karfiol, ein enormes Brathuhn mit einem respektablen Teller gekochter Kirschen, eine famose Flasche Wein“ (Banting-Fieber, 1865, 331) – doch da auf Brötchen und Bier verzichtet wurde, war es Teil der Kur, Teil der Körpergesundung.

All dies wurde gelassen wahrgenommen, der scharfe Ton in Großbritannien, gar den USA, fehlte in diesen Berichten aus meist katholischen Gegenden. Man gedachte der darbenden Bierwirte, mochten die Dünneren nun auch endlich Platz auf den Bänken der Bierschwemmen haben (Aus dem Wiener Leben, Wiener Abendpost 1865, Nr. 64 v. 18. März, 254). Bäckern und Bädern ständen schwere Zeiten bevor. Doch auch während des vermeintlichen Krieges gegen die Korpulenz ertönten noch vernehmbare Stimmen des Widerstandes: „O theurer Freund, was muß ich hören, / Was fängst Du doch für Unsinn an, / Im Banting will ich Dich nicht stören, / Doch alles Andere gieb nur d’ran. / Morgens, Mittags, Abends, Wasser. / Und dann nur magere Kost dazu; / Du wirst von Tag zu Tag ja blasser, / Und nimmst der Freundin ihre Herzesruh‘ / Verlier‘ doch nicht die runde Fülle / Ich bitte Dich, sie steht Dir gut. / Veränderst Du des Geistes Hülle, / Der Zauber bricht, ich bin Dir nicht mehr gut“ (Echo der Gegenwart 1865, Nr. 233 v. 26. August, 3).

Die Banting-Kur in der Populärkultur

Wie in England, so wurde die Banting-Kur auch in Mitteleuropa rasch Teil der Populärkultur. Die Karikaturzeitschriften brachten dies und das, Ertrag und Umfang waren aber nicht vergleichbar mit dem englischer Magazine (Hans Jörgel von Gumpoldskirchen 34, 1865 v. 8. Juli, H. 28, 4). Dicke wurden bespöttelt, doch seltener als im Lande Bantings. Dessen Leidens- und Erlösungsgeschichte wurde auch humoristisch persifliert, doch handelte es sich dabei um ein Einzelstück (Durch Dick und Dünn, Kladderadatsch 18, 1865, 92-94). Ob das daran lag, dass es auf dem Kontinent weniger übergewichtige Bürger gab, ist nicht zu ermitteln. Aussagefähige Messdaten liegen für Soldaten, teils auch Arbeiter und Insassen von Wohlfahrtseinrichtungen vor, kaum aber für die Wohlhabenden. Schmähungen dicker Häupter unterblieben, dabei hätte Queen Victoria (1819-1901) doch dazu reichlich Anlass geboten. Einzig Napoleon III. erhielt sein Fett weg (Figaro 9, 1865, Nr. 26 v. 10. Juni, 103). Einschlägige Zeichnungen griffen dagegen vielfach auf bekannte Vorbilder zurück, so im folgenden Beispiel des nach der Kur nicht mehr erkannten Ehemannes.

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Der unerkannte Ehemann (Illustrirte Dorfzeitung des Lahrer Hinkenden Boten 4, 1866, 491-492)

Größeren Widerhall erfuhr die Kur dagegen im Gesang und im Theater. Der Wiener Männergesangsverein präsentierte mehrfach eine Improvisation des Komponisten Alois Sebera (1827-1909). Dessen ‚Apostrophe an Banting‘ besang und präsentierte die Transformation eines 230 Pfund schweren Kerls in einen Mann, „schlank ‚wie eine Palme‘“ (Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 140 v. 1. Oktober, 5). Nicht alle Possen aber waren erfolgreich, so der dramatische Scherz „Die Banting-Kur“ (Die Debatte 1866, Nr. 18 v. 20. Januar, 2). Trotz Karneval und gefälligem Spiel bekannter Schauspieler fiel er durch und wurde von der Direktion des Theaters an der Wien nach der ersten Aufführung vom Spielplan genommen: Die Posse war „an Stoff und Witz zu mager, als daß irgend eine Kunst ihr helfen könnte“ (Neue Freie Presse 1866, Nr. 501 v. 22. Januar, 2).

Auch abseits der Donau wurde Banting gewürdigt, etwa vom Pfälzer Mundartdichter Karl August Woll (1834-1893) (Die Bantingkur, Pfälzer Zeitung 1865, Nr. 276 v. 24. November, 1). Eine klagende Hausfrau drängte ihren immer dicker werdenden Mann zwecks Banting-Kur ins Wirtshaus, doch dieser fand Gefallen an der guten Speise, so dass er nicht nur die Haushaltskasse leerte, sondern auch einen halben Zentner zunahm (Gedichte, Speyer 1868, 21-23).

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Der vermeintliche Kreislauf der Korpulenz (Kladderadatsch 18, 1865, 92)

Banting blieb auch in den 1870er Jahren ein gern herangezogener Gast auf deutschen Bühnen, in deutscher Literatur. Zwei Beispiele mögen genügen: In der komischen Oper „Der Wunderdoctor in der Liedertafel zu Singsanghausen“ Carl Kuntzes (1817-1883) tritt ein französischer Scharlatan auf, dem man Banting erklären muss: „Grande homme! – Le plus grande homme! – Rapide succés!“ (Leipzig 1870, 14). Auch Adolf Wilbrandt (1837-1911) pries in seinem Lustspiel „Ein Kampf ums Dasein“ einen korpulenten Winzer, der sich Dank Banting verpflichtete kurzzeitig „nur von Fleisch zu leben, ohne Fett, ohne Mehl, ohne Süßigkeiten“ (Leipzig 1873, 43-44). Zusammengefasst ergibt sich das Bild gefälligen Frohsinnes – und das im vermeintlichen Zeitalter des Realismus. Die Populärkultur verwies auf die Chancen und die Wirksamkeit der neuen, der ersten Diät. Deren Gefahren aufzuzeigen, blieb der Medizin vorbehalten.

Wirksam und gesund? Zur zeitgenössischen Bewertung der Banting-Kur

Die öffentliche Berichterstattung über die Banting-Cur führte zu einer abwägenden Bewertung in den großen Familienzeitschriften: „Zur Verhütung und Beseitigung übermäßiger Fettproduction ist die sogenannte Banting-Cur ein erprobtes Verfahren“ hieß es 1866 in der in sechsstelliger Auflage erscheinenden Frauen- und Modezeitschrift „Der Bazar“ (12, 1866, 280). Auch im konservativen „Daheim“ fand sich eine klare Empfehlung (Das Banting-System gegen Fettleibigkeit, Daheim 3, 1867, 752). Das in Stuttgart erscheinende „Illustrirte Buch der Welt“ preschte gar weiter vor, sah keinerlei Gefahr und hoffte, dass die Banting-Kur „alle die früher gebräuchlichen, sehr eingreifenden und gefährlichen, und leider dennoch erfolgarmen Curen der Fettsucht mittelst Essig, Apfelwein, Jod, Karlsbad, Marienbad, Bilin etc.“ verdrängen würden. Hauptvorteil sei, dass man sie variieren und auch ohne Probleme abbrechen könne (Wurm, Die Banting der Corpulenz, Das Illustrirte Buch der Welt 1866, 150-152, hier 152). Doch es gab auch andere Stimmen: Der Marktführer „Gartenlaube“ riet zu einer behutsamen Anwendung, warnte vor jedem Übereifer, denn dann sei die Kur gefährlich und bewirke, dass die Anwender „gewöhnlich garstig zusammenrunzeln“ ([Carl Ernst]Bock, Diätetisches Recept für Fettleibige, Die Gartenlaube 1866, 151-152, hier 151). Auch „Der Bazar“ schwenkte 1867 um, riet vor Beginn der Diät unbedingt zur Konsultation eines Arztes: „Die plötzliche Veränderung der jahrelang gewöhnten Diät kann unter Umständen Abmagerung und Entkräftung, ja, einen raschen Tod zur Folge haben!“ (Der Bazar 13, 1867, 328, ähnlich ebd. 14, 1868, 148). Die Massenzeitschriften gaben demnach unterschiedliche Ratschläge, beließen die Entscheidung aber in der Verantwortung der Leserinnen.

Dadurch waren die Mediziner gefordert. Die Banting-Kur, so hieß es einvernehmlich, sei grundsätzlich wirksam und vor Beginn stets ein Arzt zu Rate zu ziehen. Befürworter hoben ihren wichtigen Impuls für Volksbildung, eine verbesserte Gesundheitspflege und die Selbstverantwortung hervor (J. Seegen, Die Aufgaben der Nahrung für den Haushalt des Thieres, mit besonderer Rücksicht auf die Bantingcur, Wiener Medizinische Wochenschrift 18, 1868, Sp. 375-378). Über die „üblen Folgen einer einseitigen Ernährungsweise“ waren die Experten jedoch unterschiedlicher Ansicht (Ueber die Behandlung der Korpulenz auf Grundlage des Banting-Systems, Memorabilen 11, 1866, 70-71, hier 70). Eine körperliche Schwächung sei wahrscheinlich, Banting eine Ausnahme von der Regel. Die simplen Speisepläne seien unausgegoren, vernachlässigten insbesondere Kochsalzzufuhr und Speichelfluss (Ch. Hildmann, W. Banting und J. Vogel über Corpulenz, Deutsche Klinik 17, 1865, 429-430).

Schwerwiegender war eine wachsende Zahl akuter Gesundheitsschäden, gar mehrerer Todesfälle. Schon früh wurde ein enger Konnex zur Lungentuberkulose und auch psychischen Störungen behauptet (Die Bantings-Kur [sic!] und Fettentziehung als Ursache psychischer Störungen, Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines 6, 1868, 486-487). Mehrere bekannte Persönlichkeiten, etwa der Brünner Oberlandesgerichtspräsident Lewinsky oder der Komponist Erik Nessl (1831-1883) starben bzw. erkrankten im Anschluss an eine Banting-Kur schwer (Wiener Sonn- und Montag-Zeitung 1869, Nr. 38 v. 2. Mai, 2; Die Debatte 1869, Nr. 190 v. 11. Juli, 3; (Neue Freie Presse 1869, Nr. 1748 v. 11. Juli, 7). Der Frankfurter Kliniker Theodor Clemens (1824-1900) führte 1869 schließlich drei Todesfälle auf eine durch die Diät bewirkte Abmagerung der Nieren fest. Mit Ingrimm auf die „blutgierigen Fleischfresser“ verwies er auf die Gefahren eines raschen Übergangs zu „einer ganz entgegengesetzten Lebensweise“ (Schlimme Folgen der Banting-Cur, Deutsche Klinik 21, 1869, 10). Doch wer gedacht hatte, dass die Begleitung durch einen Arzt solche Nebenwirkungen ausschließen könne (Pierers Universal-Conversationslexikon, 6. vollst. umgearb. Aufl., Bd. 2, Oberhausen und Leipzig 1875, 651), sah sich bald eines besseren belehrt. Die klinische Forschung besaß zu dieser Zeit eben nicht einmal eine klare Definition der Korpulenz und ihrer Varianten (Wilhelm Epstein, Die Fettleibigkeit (Corpulenz) und ihre Behandlung nach physiologischen Grundsätzen, Wiesbaden 1882, 1). Bei krankhafter Fettsucht seien Diäten nicht anzuwenden, müsse die Hoffnung auf die Banting-Kur trügen (H[ermann] Kühne, Die Bedeutung des Anpassungsgesetzes für die Therapie, Leipzig 1878, 82). Vorsicht sei generell anzuraten.

Wachstumsmarkt Korpulenz: Die Vermarktung der Banting-Kur

Die Banting-Kur war dennoch erfolgreich, denn sie entstand im Rahmen einer modernen Konsumgesellschaft. Korpulenz war eben nicht nur ein medizinisches Problem, sondern Grundlage neuer Märkte. Die Diät wurde nicht nur in der Öffentlichkeit und von Ärzten kontrovers diskutiert, sondern schuf reale Marktchancen. Neben die ärztliche Praxis traten Ratgeber, Dienstleistungen und Diätprodukte. Ende des 19. Jahrhundert kam mit den pharmazeutischen Schlankheitspräparaten noch ein weiteres Marktsegment hinzu.

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Einfache Annoncierung des Vogelschen Buches (Aachener Zeitung 1864, Nr. 230 v. 19. August, 4 (l.); Fürther Tagblatt 1865, Nr. 134 v. 6. Juni, 3)

Am Anfang der Banting-Rezeption im deutschsprachigen Raum stand weniger Bantings Brief als vielmehr die von Julius Vogel 1864 veröffentlichte Broschüre über Korpulenz. Sie präsentierte dem Publikum eine mit Kommentaren versehene Übersetzung der dritten Auflage von William Bantings „Letter on Corpulence“, seiner Vor- und Nachworte. Der Widerhall in Zeitungen und Zeitschriften war beträchtlich, diese bürgerlichen Medien popularisierten Ratgeber und Diät. Vogels Broschüre bot jedoch auch eine stupende Weitung und Interpretation des Themas. Die Modernität des Buches resultierte nicht nur aus einer prägnanten Darstellung der neuen Stoffwechselphysiologie und einer darauf gründenden wissenschaftlichen Rationalisierung der Banting-Kur. Die Modernität des Buches lag auch in der Profanisierung der Diät selbst. An die Stelle des zuvor stetig zu konsultierenden Arztes trat der gedruckte Ratgeber, trat die Broschüre. An die Stelle einer auf die bürgerlichen Klassen begrenzten medizinischen Dienstleistung trat tendenziell Selbsthilfe. Der Beerdigungsunternehmer William Banting bot ein Modell der bürgerlichen Selbstoptimierung, stand damit für das liberale Zeitalter. Damit verbunden war aber auch eine wachsende individuelle Verpflichtung, gegen Korpulenz eigenständig vorzugehen. Während Handel und Gaststätten mit nahrhaften Nahrungsmitteln und schmackhafter Kost lockten, entstand parallel ein weiterer Markt zur Eindämmung der Konsumfolgen. Dazwischen aber stand der Konsument in seiner Qual der Wahl.

Die Werbung für die Vogelsche Publikation spielte anfangs noch mit den gängigen Hierarchien der Zeit. Napoleon III. (1808-1873), wohlbeleibter Kaiser der Franzosen, erschien als Gewährsmann der Banting-Kur (Allgemeine Rundschau 1865, Nr. 2 v. 8. Januar, 15; Augsburger Tagblatt 1865, Nr. 82 v. 23. März, 706). Im Ringen um den Stellenwert von Bantings „Schrift eines Laien in der Medicin über Medicin“ (Ueber das sogenannte Banting-System gegen Fettleibigkeit, Pfälzer Zeitung 1865, Nr. 270 v. 17. November, 1-2, hier 1) spiegelte sich noch die Abgrenzung der studierten Ärzte gegenüber breiten Teilen der mittleren Gesellschaftsschichten. „Wir empfehlen allen Lesern das kleine viel Lehrreiches enthaltende Schriftchen“ (Rez. v. Vogel, Corpulenz, Graevell’s Notizen für praktische Ärzte 8, 1865, 127-128, hier 128) – das war nicht nur Empfehlung, sondern unterstrich die soziale Stellung der Wissensexperten. Die Verlagswerbung kippte diese Perspektive, argumentierte vermehrt aus Sicht der potenziellen Käufer. Das Buch sei „jedem Laien völlig verständlich“ und zeige „fern von aller medicamentösen Behandlung“ wie man „von seinem größten Feinde, der Fettsucht, nebst allen ihren Folgeübeln sicher geheilt werden könne und müsse“ (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 18, 1864, Nr. 109 v. 19. April, 1872). Kurze Zeit später setzte der Verlag den Willen zur Selbsthilfe schon voraus, annoncierte eine „für an starker Körperfülle Leidende unentbehrliche Schrift“ (Nürnberger Anzeiger 1866, Nr. 110 v. 21. April, 3). Die 1867 bereits in zehnter Auflage vorliegende Broschüre erlaubte zudem ein Andocken an tradierte Formen des Fastens: Beim „Beginn der Frühlungscuren [sic!] wird von Neuem auf diese praktisch bewährte Heilmethode hingewiesen“ (Badischer Beobachter 1867, Nr. 92 v. 18. April, 4). Vogel bot Wissenschaft zur Selbstanwendung, ermutigte die Korpulenten zu Kur und Kauf. Der Leipziger Verleger Ludwig Denicke wies parallel Buchhändler auf die damit einhergehenden Absatzchancen hin: „Verwenden Sie sich, ich bitte, nach Kräften, wie ich es meinerseits an Anzeigen nicht fehlen lassen werde“ (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1866, Nr. 67 v. 4. Juni, 1253). Gesundheitliche Selbstoptimierung und Geschäftsinteressen harmonierten, die unsichtbare Hand des Marktes schien das Gute zu gewährleisten.

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Broschürenwerbung (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1866, Nr. 33 v. 19. März, 672; Julius Vogel, Korpulenz, 22. Aufl. bearb. v. J[osef] Goliner, Berlin 1897, I)

Die Vogelsche Broschüre lag 1878, zwei Jahre vor dem Tod des Autors in der fünfzehnten Auflage vor. Nach dem Tode des Hallenser Mediziners wurde sie von dem Berliner, später Erfurter Mediziner Josef Golimer in neuem Verlag fortgeführt. Stand anfangs Bantings Brief im Zentrum, so nahm die wissenschaftliche Handreichung zur Selbstkur im Laufe der Zeit immer mehr Platz ein. In den 1880er Jahren etablierten sich weitere, physiologisch ganz anders begründete Diäten, die von Golimer gebührend beachtet wurden. Aus der Vogelschen Banting-Broschüre wurde nun eine allgemeine wissenschaftliche Handreichung über den Kampf gegen die Pfunde (Julius Vogel, Korpulenz, 21. Aufl. bearb. v J[osef] Golimer, Berlin 1889; Dass., 24. Aufl., Berlin 1904). Noch 1922 erschien eine Neuauflage mit dem bezeichnenden Umschlagtitel „Wie man wieder schlank wird“ (Dass., 25. Aufl., Oranienburg 1922). Während es Vogel anfangs um eine Popularisierung der Liebigschen Stoffwechselphysiologie ging, propagierte Golimer praktikable Diäten. Der Weg ging von einer Aufklärung der Laien zwecks Anwendung von Wissenschaft zu einer Handreichung für die unmittelbare Anwendung. Das Resultat der Diät trat in den Vordergrund, die Begründung aber zurück. Wissenschaftspopularisierung etablierte Vertrauen in Wissenschaft als solcher.

Julius Vogels Broschüre blieb Marktführer, doch sie war keineswegs ohne Konkurrenz. Schon 1865 propagierte eine weitere Broschüre eine leicht modifizierte Banting-Kur, doch der verlegerische Erfolg blieb aus. Der Wiener Arzt Hermann Fischer versprach im gleichen Jahr die „Heilung der Fettleibigkeit“ durch ein verbessertes Banting-System (Morgen-Post 1865, Nr. 40 v. 9. Februar, 4), legte aber erst ein knappes Jahrzehnt später mit einem nur mäßig erfolgreichen Ratgeber nach.

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Nachfolgepublikationen im deutschen Sprachraum (Kölnische Zeitung 1865, Nr. 132 v. 13. Mai, 3 (l.); Neue Freie Presse 1874, Nr. 3675 v. 18. November, 12)

Fischer repräsentierte damit schon den wachsenden Dienstleistungsmarkt für Diäten. Prototypisch hierfür stand der Münchener Naturheilkundler und Sanatoriumsbesitzer Josef Steinbacher (1819-1869). Auch dieser veröffentliche 1866 eine modifizierte Version der Banting-Kur (Asthma, Fettherz, Korpulenz (Fettsucht), deren Wesen, Verhütung und Heilung durch das Naturheilverfahren mit besonderer Berücksichtigung des Bantings-Systems, Stuttgart 1866). Darin verband er Bantings diätetische Grundsätze mit seiner seit Anfang der 1850er Jahre praktizierten und seit Anfang der 1860er Jahre breit dargelegten „Regenerationskur“. Diese kombinierte, verwissenschaftlichte und ergänzte die Wasser- und Hungerkuren von Schroth und Vincenz Prießnitz (1799-1851). Steinbacher plädierte in der 60-seitigen Abhandlung entsprechend für die „Anwendung der Banting-Kur in Verbindung mit den den Stoffumsatz mächtig befördernden Mitteln, wie Dunstbad, feuchte Wärme, Verringerung der Flüssigkeitszufuhr, Bäder, Bewegung“ (Bad Brunnthal bei München, Augsburger Neueste Nachrichten 1866, Nr. 95 v. 7. Mai, 1068). Er plädierte zudem für eine nur begrenzte Flüssigkeitszufuhr, nahm damit schon Empfehlungen des Münchener Mediziners Max Joseph Oertel (1835-1897) vorweg, die sich 1884 als sog. Oertel-Diät etablierten. Steinbachers Broschüre war Belehrung und Warnung zugleich, unmittelbar an Laien gerichtet. Befriedigt stellte er eingangs der zweiten Auflage fest: „Viele haben durch einfachen Wechsel der Nahrungsmittel und Getränke ihre Schwerathmigkeit und Fettanhäufung verloren und fühlen sich – die Vorschriften auch ferner festhaltend wie neugeboren“ (Steinbacher, Asthma, 2. Aufl., Augsburg 1868, IV).

20_Koelnische Zeitung_1866_04_15_Nr104_p4_Naturheilkunde_Diaet_Banting_Korpulenz_Steinbacher_Muenchen

Banting-Kuren unter ärztlicher Aufsicht (Kölnische Zeitung 1866, Nr. 104 v. 15. April, 4)

Doch dabei blieb es nicht, denn Steinbacher war seit 1863 eben auch Besitzer der bei München gelegenen Naturheilanstalt Brunnthal (Erich Ebstein, Steinbacher: Josef St., in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 54, Leipzig 1908, 460-463, hier 462). Diese therapierte ein auch internationales gutbürgerliches Publikum und warb mit wirksamen Erfolgen gegen Fettsucht (National-Zeitung 1866, Nr. 186 v. 22. April, 16). Steinbacher griff mit seinem Angebot die medizinische Kritik an einer zu strikten und einseitigen Banting-Kur auf, bot ärztliche Begleitung mit garantiertem Erfolg (Regensburger Conversations-Blatt 1866, Nr. 133 v. 9. November, 4). Bis zu seinen frühen Tod 1869 pilgerten Hunderte in seine Anstalt, um angeleitet ihre Korpulenz zu bekämpfen.

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Medikalisierung der Banting-Kur (Neuburger Wochenblatt 1869, Nr. 64 v. 27. Mai, 312)

In Brunnthal wurde die modifizierte Banting-Kur auch danach weiter angeboten, auch wenn sich das Dienstleistungsangebot nach einigen Jahren wieder auf die Kernelemente der Regenerativkur, also Dampf- und Sonnenbäder sowie Gymnastik konzentrierte. Ergänzt wurde dies durch neue modischere Angebote, etwa galvanische Kuren oder pneumatische Drucktherapien. Zwar ebbte die Dienstleistung Banting-Kur nicht so schnell ab wie die öffentliche Begeisterung 1865/66, doch Ärzte und Sanatorien reagierten auf die veränderte Nachfrage. Banting-Kuren wurden in den späten 1860er Jahren vielerorts angeboten, teils ergänzt durch Pillen und Elixiere, deren Wirkungsversprechen wohl größer war als ihre nachhaltige Wirkung (Nationalzeitung 1866, Nr. 266 v. 12. Juni, 10). Ende der 1870er Jahre boten im Deutschen Reich nur noch wenige Heilanstalten Banting-Kuren an, darunter Dr. Hackers Thalkirchener Sanatorium und die Dr. Rosenfeldsche Hydrodiätetische Heilanstalt in Berlin (Aerztliches Taschenbuch NF 18, 1878, s.p.).

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Bekämpfung der Korpulenz in und außerhalb klinischer Anstalten (Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878/79, 76)

Diese Engführung war Folge einerseits der Privatisierung der Banting-Diät via Ratgeber, anderseits aber der Spezialisierung der Kurmedizin. Aufgrund seiner vielgestaltigen kalten Säuerlinge war der böhmische Kurort Marienbad bereits Mitte des 19. Jahrhunderts für Gewichtsreduktionen bekannt. Diese Marktstellung wurde mit Angeboten modifizierter Banting-Kuren weiter ausgebaut. Der dortige Brunnenarzt Carl Samuel Schindler (1840-1901) veröffentlichte 1867/68 einschlägige Broschüren (Die Banting-Kur in Verbindung mit den Marienbader Quellen, Marienbad 1867; Die Reduktionskur zur Verhütung und Heilung der Fettleibigkeit und Fettsucht sowie ihrer Folgekrankheiten mit Bezugnahme auf Marienbad, Wien 1868) auch um eine kaufkräftige internationale Klientel weiter an Marienbad zu binden.

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Banting-Kur im Kurort Marienbad (Allgemeine Wiener Medizinische Wochenschrift 13, 1868, 136)

Mehrere Brunnenärzte überwachten die Banting-Kuren vor Ort. Mehr noch: Für Enoch Heinrich Kisch (1841-1918) hatte der Londoner Beerdigungsunternehmer nur etwas propagiert, was in Marienbad mit seiner „mehr animalischen Kost“ (Allgemeine Wiener Medizinische Wochenschrift 12, 1867, 227) auf Grundlage der Arbeiten Jakob Moleschotts (1822-1893) und Friedrich Theodor Frerichs (1819-1885) schon seit langem praktiziert wurde. Historische Narrative und behauptete Traditionen waren marktrelevant, wurden deshalb systematisch gepflegt. Davon profitierten nicht nur Sanatorien, sondern auch die einschlägigen Hotels: „In Klingers Hotel (dem feinsten unter Allen) wird an einem separaten Tische auch das Mittagsessen nach dem Banting-System um 1 fl. verabreicht; es besteht in Fischen, einem Entrée-Braten, Gemüse, zweiten Braten und einigen Compots – Suppe und Rindfleisch kommt an diesem Tische niemals an die Reihe“ (Aussiger Anzeiger 1867, Nr. 23 v. 8. Juni, 181). Marienbad sicherte auch dadurch seinen Ruf als Stelldichein kosmopolitischer Eliten, denn diese konnten hier kuren und entspannen, abspecken und konvenieren. Doch die Kritik an dieser „Anarchie“ war drastisch: „Die Quantitäten, so da konsumirt werden, sind unglaublich, und die Qualitäten unfasslich. Keine Spur eines diätetischen Regimes, keine Ahnung von diätetischer Selbstbeherrschung. Schindler, Begründer und Beherrscher der Banting-Kur in Marienbad, wo weilen deine Gläubigen, wo deine Unterthanen?“ (W[ilhelm] Schlesinger, Von Kurplätzen. I., Wiener Medizinische Wochenschrift 24, 1874, Sp. 799-802, hier 801). Marienbad blieb ein Zentrum für Entfettungskuren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, die Schindler-Barnayschen Marienbader Reduktionspillen und die Kischschen Lehrbücher über Korpulenz unterstrichen diesen Anspruch. Die Markenkraft der Banting-Kur trat gegenüber der Marke Marienbad zurück.

Die dritte Säule der Vermarktung der Banting-Kur bildeten schließlich Diätprodukte, wozu auch die während der Kur gereichten und in noch größerem Maße versandten Heilwässer zu zählen sind. Ab Ende 1865 gab es in Wien Banting-Zwieback zu kaufen, eine „jetzt so zeitgemäße Zwieback-Sorte“ (Neues Fremden-Blatt 1865, Nr. 229 v. 31. Dezember, 17). Typisch für die Marktbildung war der öffentlichkeitswirksame Streit über die Diätprodukte. Gewiss, Bantings Speisezettel enthielt „biscuits“. Aber die physiologische Erklärung der „low carb“-Diät hatte doch jedem Anwender klar gemacht, „daß Brod ihm Gift ist“ (Bantingiana, Das Vaterland 1866, Ausg. v. 28. Februar, 3). Doch wer wollte so beckmesserisch sein, wenn man gewohnt war, Brot in seinen Rotwein zu tunken? Nun gab es dazu eine gesunde Alternative, wurde das schlechte Gewissen durch ein einschlägig beworbenes Produkt beruhigt. Den Banting-Zwieback gab es jedenfalls noch bis mindestens Frühling 1866 (Konstitutionelle Volks-Zeitung 1866, Nr. 12 v. 18. März, 8). In Großbritannien wurden Banting-Gebäcke noch über Jahrzehnte angeboten (The Lancet General Advertiser 1877, Ausg. v. 4. August, s.p.).

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Inhalt unklar – Trendprodukte mit Banting-Bezug (Nationalzeitung 1866, Nr. 162 v. 8. April, 11 (l.); Der Kamerad 5, 1866, 184)

Der Name „Banting“ war eben nicht nur bekannt, sondern gewann auch eine eigene Markenqualität. Deutsche Anbieter folgten dem Trend, boten 1866 ebenfalls Banting-Biscuits an. Parallel wurde „Banting“ auch für völlig andere Produkte verwendet. Banting-Halskragen bzw. Banting-Krawatten erheischten eben mehr Aufmerksamkeit als rein sachlich beschriebene Angebote (Figaro 13, 1869, Nr. 5 v. 30. Januar, 6). Diese für eine Konsumgesellschaft übliche reflexive Vermarktung, also das Anknüpfen an Bekanntes und ein damit verbundener Transfer auf andere Angebote, zeigte sich gar in der Miederwerbung der Pariser Madame Weiß. Frauen hätten ihre Leibesform zu kultivieren: „Die schönste und schlankeste Taille kann doch zur vollen Geltung erst durch das Mieder gelangen, und rascher als eine Banting-Cur wird ein gutes Mieder im Stande sein, eine corpulente Büste auf das Ebenmaß der Schönheit zurückzuführen“ (Neue Freie Presse 1867, Nr. 1101 v. 24. September, 9). In solchen Aperçus erkennt man die durchdringende Kraft neuer Ideen, hier solcher der Körperformung und -kontrolle.

Die Umwertung der Dicken und des dicken Körpers

Die Debatten über die Banting-Kur, ihre Wirksamkeit, ihre Gefahren und ihre Marktchancen blieben nicht folgenlos. Sie verstärkten eine seit Mitte des Jahrhunderts bestehende, sich im Fluss befindende Umwertung des Körpers und seiner Leistungsfähigkeit. Und sie übertrugen vornehmlich in den angelsächsischen Staaten bestehende Denkmuster nach Kontinentaleuropa und insbesondere in die deutschen Lande. Dadurch nahm die Akzeptanz eines korpulenten Körpers langsam ab, mochte eine tolerable Fülle auch noch erträglich erscheinen. Festzuhalten ist, dass die Pathologisierung des Korpulenten eben nicht durch die Medizin dieser Zeit vorangetrieben wurde. Movens war vielmehr eine bürgerliche Öffentlichkeit, die durch Marktangebote bisher kaum bekannte Wahlmöglichkeiten erhielt. Mediziner und Physiologen zogen nach, gewiss. Doch sie waren immer auch Getriebene von Öffentlichkeit und Markt. Die praktischen Konsequenzen der Stoffwechselphysiologie wurden von Wissenschaftlern eben langsamer gezogen als von Praktikern und Betroffenen.

Korpulenz war in der Zeit des Übergangs vom Fasten zur Diät anfangs nichts Schlimmes, sondern Naturgeschehen: „Ein ‚Wohlgenährter‘ wurde bis heute für einen Mann gehalten, der ein warmes Herz und gutmüthige Sinnesart besitzt; man achtete ihn der Freundschaft werth, denn ein ‚dicker‘ Freund war von jeher gleichbedeutend mit ‚treuer‘ Freund.“ Korpulente, so die aufstrebende Statistik, begingen weniger Verbrechen, neigten weniger zum Selbstmord. „So kann man denn die korpulenten Leute weit gediegenere Grundpfeiler der staatlichen Ordnung nennen als die mageren, zumal da letztere sich weit schneller revolutionären Ideen und Handlungen anschließen sollen als die ersteren“ (beide Zitate n. Diät, 1865, 44). Nun, es sollte noch dauern, bis sich das Bild des dürren fanatischen Anarchisten und Bombenlegers in der Öffentlichkeit etablierte, gefolgt vom kaum weniger bedrohlichen Anblick der spindeldürren Frauen mit ihren Ansprüchen auf universitäre Bildung und Wahlrecht. Doch die Praxis der Banting-Kur stand für Bewegung innerhalb des Bürgertums. Korpulenz wurde zunehmend als Schwäche gedeutet, nicht nur körperlich, sondern insbesondere als eine des Charakters. Der enge Konnex mit dem Phlegma war kaum mehr wegzudenken, Körperkontrolle und Leistungsfähigkeit rückten enger zusammen. Die Trennung von natürlicher Wohlbeleibtheit im Alter und einer Fettleibigkeit schon in jüngeren, geschäftstüchtigern Jahren erlaubte allerdings unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber den „ungehörigen Fettmassen“ (Bock, Recept, 1866, 151).

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Der dicke Bürger kritisch betrachtet (Fliegende Blätter 44, 1866, 104)

Die Banting-Manie stand für Selbstreflektion innerhalb des Bürgertums. Wirtschaftlich hatte man den Adel längst überholt, Bildung und Nationalstolz prägten es, die Übernahme auch der politischen Macht stand scheinbar kurz bevor. Disziplin war Bürgerpflicht, nicht mehr fremdbestimmt, wie bei Rekruten, sondern selbstbestimmt. Ein vorzeigbarer Körper war Teil dieses Denkens, war Grundlage der beträchtlichen Resonanz der Banting-Kur. Das zeigt sich insbesondere an der Peripherie der bürgerlichen Gesellschaft, etwa am Zierrat des Bürgers, nämlich seiner Gattin. Bezeichnend waren etwa Berichte über aufgelöste Verlobungsversprechen gegenüber dicken Damen. Ein Verlobter begründete dies brieflich: „Sie sind in ein Ungeheuer verwandelt und flößen mir Grauen ein. Ich habe eine Rose geliebt, aber keinen Kürbiß, keine Biertonne, keinen Kartoffelberg. Ihr Gesicht glich früher einer Lilie, jetzt ist es ein Schinken, der in Paradeissauce schwimmt. Selcher und Brauer werden sich gewiß um solche Reize reißen. Ich mag aber mit keinem keuchenden Fleischberg das Lager theilen.“ Der Verlobte fuhr zurück nach Hause – und in einem weiteren Schreiben stand abschließend die Zeile: „Brauchen Sie die Banting-Hungerkur, vielleicht bekommen Sie wieder ein menschliches Aussehen“ (beide Zitate n. Konstitutionelle Volks-Zeitung 1866, Nr. 50 v. 9. Dezember, 6). Solch strikte Äußerungen waren gewiss ungewöhnlich, doch sie spiegelten die möglichen Konsequenzen eines Lebens abseits „größter Mäßigkeit im Essen und Trinken“ (Felix Balden, Die weibliche Schönheit, Politische Frauen-Zeitung 1870, Nr. 6 v. 6. Februar, 174-175, hier 174). Parallel etablierte sich die schon von Banting erwähnte öffentliche Diskriminierung dicker Bürger durch unterbürgerliche Schichten: Man fühlte sich getroffen, wenn man „auf der Straße von Hinzen und Kunzen auf den (allerdings corpulenten) Bauch geklopft wird und [man, US] hören muß: ‚Nein, werden Sie dick!‘ oder wenn ihn die Müllers und Schulzes mit den Redensarten verfolgen: ‚Sie müssen nach Carlsbad‘; ‚Wollen Sie denn nicht die Banting’sche Entfettungscur vornehmen?‘“ ([Carl Ernst] Bock, Strafpredigt gegen rücksichtslose Leute. 1. Für Die im Trink- und Speisehause, Die Gartenlaube 1866, 814-816, hier 814-815).

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Selbstekel angesichts fehlender Selbstkontrolle (Fliegende Blätter 53, 1870, 205)

Auch im Theater, dieser Bildungs- und Unterhaltungsstätte, wurde Körperlichkeit nun anders bewertet. Ein Wiener Kritiker echauffierte sich einschlägig: „Bei wie viel Pfund Körpergewicht hört jede Nachsicht auf? Darf ein Theaterdirector zu einer Stimme zwei bis drei Centner Zuwage geben? […] Eine Sängerin, die wie eine Bombe kugelrund und gefüllt und zum Platzen reif, wie diese, uns auf das Theater geschleudert, d.h. gerollt wird?“ (Frank, Zu dick!, Wiener Sonn- und Montag-Zeitung 1869, Nr. 72 v. 16. August, 1-2, hier 1). Eine Banting-Kur schien unverzichtbar. Die Folgen für viele Sängerinnen und Schauspielerinnen waren Hungerkuren – die erst später zu einem öffentlichen Spektakel männlicher Hungerkünstler werden sollten. Den Zeitgenossen waren die Konsequenzen für die Betroffenen klar, auch wenn sie humoristisch umtänzelt wurden: „Möge doch die Künstlerin Maß zu halten verstehen und nicht in dem Wunsche, stets in schlanker ätherischer Schöne dahinzuschweben, sich soweit vergessen, daß zuletzt einer ihrer Verehrer die klagende Kunde den Freunden bringen wird: ‚Boulotte ist verloren; heute sind blos einige kleine geisterhafte Fragmente von ihr vorgefunden worden. Auf dem Toilett-Tischchen der Unglücklichen lag ein Buch: ‚Banting, oder die radicale Embonpoint-Cur‘“ (Aus der Wiener Theaterwelt, Die Presse 1867, Nr. 314 v. 15. November, 14). Kaum verwunderlich, dass parallel dicke Damen nicht nur im Prater, sondern auf vielen Volksfesten präsentiert wurden (M. A. Grandjean, Wiener Silhouetten, Tagespost [Graz] 1865, Nr. 155 v. 9. Juli, 1). Dicke wurden dem Pöbel, den Ungebildeten vorgeführt – während die bürgerliche Norm zunehmend dünnere, nicht ausufernde Formen forderte. Banting-Kuren erlaubten die Umkehr, doch zum Ideal wurde zunehmend Prävention, moderate Ernährung und eine entsprechende Denkweise. Es ging bei der Banting-Kur nur vordergründig um die körperliche Hülle. Korpulente konnten “äußerlich, wie unsere Kartoffelmenschen, recht wohlgenährt aussehen“ (Müller, 1865, 78), waren innerlich aber Schwächlinge. Die Banting-Kur war ein Wegmarker in eine effiziente und gesunde Welt. Doch sie erforderte Innenleitung als „zuverlässige Schildwache“ (Josef Weil, Diätetisches Koch-Buch, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Freiburg i.Br. 1873, 219). Dies gelang nur ansatzweise, nicht nur aufgrund des Abebbens des „Bantingismus“ in den späten 1860er Jahren. Zivilisationskritische Töne waren eine Folge dieser am Körper manifesten Brüchigkeit bürgerlichen Daseins. Denker wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) reagierten hierauf.

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Eine Dame, aus der Zeit gefallen (Fliegende Blätter 78, 1883, 184)

Verwissenschaftlichung: Die Physiologie der Korpulenz

Doch nicht nur Philosophen reagierten. Für Naturwissenschaftler war Banting ein Ärgernis, zugleich aber eine Chance. Wissenschaft ist ein Modus der Umwandlung von Nicht-Wissen in bezahlte Forschung. Entsprechend beließen es die vermeintlichen Experten nicht bei Schmähungen und Vorsichtsmaßregeln. Sie sahen durchaus die Leerstellen ihres Wissens, wussten, dass die Heilkunde trotz aller Fortschritte, „noch heute mehr ein Wissen und Denken als ein Können und Handiren ist“ (Paul Niemeyer, Physikalische Diagnostik, Erlangen 1874, 83). Die Banting-Kur war eine Herausforderung, zumal für die weltweit führende Münchener Schule der Physiologie mit ihrem Vorreiter Justus Liebig. Sie bestätigte einerseits deren Kernannahmen, war in gewisser Weise Höhepunkt des imaginären Kultes von animalischem Eiweiß und Fleisch. Auf der anderen Seite zeigte die Diät-Praxis, wissenschaftlich ja ein Massenexperiment, dass die Körperentwicklung keineswegs so einfach war, wie diese mit der Maschinenmetapher der Physiologie beschrieben wurde.

Die Aufgabe des Arztes war demnach ähnlich der eines Lokführers: „Er muß den Verbrennungsproceß, welchem unser Körper beständig ausgesetzt ist, bis zu dem Grade steigern, bei welchem auch das im Uebermaaß vorhandene Fett verbrannt wird. 2) Er muß die Zufuhr von neuem Brennmaterial so lange einschränken, bis der Ueberschuß des angehäuften Fettes durch die Verbrennung verzehrt ist“ (Niemeyer, 1866, 29). Die Banting-Kur verringerte nun die Menge der sog. Respirationsstoffe zugunsten der sog. plastischen Stoffe – oder, im uns besser bekannten Duktus, die Menge der Kohlenhydrate und Fette zugunsten des Eiweißes. Beide Stoffklassen hatten nach damaliger Ansicht höchst unterschiedliche Aufgaben, die mit den sprechenden Begriffen eingefangen wurden. Die plastischen Stoffe dienten dem Körperaufbau, schufen Muskeln, stärkten die Kraft des Körpers. Die Respirationsstoffe hatten dagegen die Aufgabe, den Körper, die Atmung selbst am Laufen zu halten, die Maschinerie zu schmieren (Vogel, 1864, 35-37). Doch schon die Nutzung derartiger Sammelbegriffe dokumentiert die nur geringen Detailkenntnisse über Fettsäuren, Aminosäuren oder der Saccharide, ganz zu schweigen von Mineralstoffen und den noch nicht bekannten Vitaminen. Die Banting-Kur popularisierte das einfache Grundschema und die damit verbundenen Wertungen: Seither “theilt bald jeder Laie die Nährstoffe so ein, wie es die Chemiker, namentlich Liebig, schon vor vielen Jahren gethan und sagt von einer Classe der Nährstoffe ‚sie geben Kraft‘, von der anderen ‚sie machen fett‘“ (Joseph Weil, Abhandlung über die Krankheiten des Magens, Constanz 1868, 41).

Die Wirksamkeit der Banting-Kur konnte dadurch einfach erklärt werden. Erhöhte Eiweißzufuhr bei gleichzeitiger Reduktion der Kohlenhydrate und Fette änderte deren Relation, zwang den Körper, die plastischen Komponenten zu stärken. Daher wurde der Stoffwechsel intensiviert, mehr Sauerstoff in den Körper gezogen, aufgespeichertes Fett dadurch verbrannt. Kohlenhydrate konnten dieses ansatzweise ersetzen. Entsprechend musste das Ernährungsregime länger beibehalten werden, zumal sich der Prozess dann beschleunigte. Mehr Eiweiß führte zu vermehrtem Fettabbau, geringere Kohlenhydratversorgung verringerte den Ersatz. „Auf diese Weise steigert sich nach und nach Alles, um den wunderbaren Effekt hervorzubringen“ (Carl v. Voit, Ueber die Theorien der Ernährung der thierischen Organismen, München 1868, 33 – auch zuvor). Die innere Dynamik dieser Stoffwechselprozesse erklärte die Gefahren einer forcierten Diät und den Ruf nach ärztlicher Konsultation (Ferdinand Francken, Ein Beitrag zur Lehre von der Blutgerinnung im lebenden Organismus und ihre Folgen, Dorpat 1870, 69).

Doch diese simple Mechanik entsprach einem Modelldenken, das schon bei vielen Tierexperimenten nicht klappte. Die Vorgänge beim Stoffersatz waren unklar, insbesondere die Beziehung zwischen Kohlenhydraten und Fett warf Fragen auf. Warum unterschiedliche Stoffgruppen, wenn sie doch scheinbar gleiche Funktionen besaßen? Warum ein künstlicher Eingriff in die von der Natur doch so trefflich eingerichteten Regelkreise? Warum die „goldene Mittelstraße“ (C. Ludwig, Vegetarier und Bantingisten. Die Nothwendigkeit diätetischer Versuche am Menschen, Im neuen Reich 1, 1871, T. II, 601-611, hier 602) einer Mischkost verlassen? Warum keine individuell erstellten Diäten, passend für den Einzelnen? (Friedrich Wilhelm Beneke, Grundlinien der Pathologie des Stoffwechsels, Berlin 1874, 71). Solche Fragen kamen nicht nur von praktischen Ärzten, sondern auch von Physiologen. Die Banting-Kur habe ihre Meriten, doch die „Banting-Propaganda“ (Ders., Balneologische Briefe zur Pathologie und Therapie der constitutionellen Krankheiten, Marburg/Leipzig 1876, 69) führe in die Irre. Eingriffe in die Lebensprozesse würden angesichts begrenzten Wissens „immer auf Kosten der Gesundheit und Leistungsfähigkeit“ (Karl Reklam, Lebensregeln, Berlin 1877, 62) gehen. Die Diskussion innerhalb der Wissenschaft folgte damit in gewisser Weise dem Geschehen in der Diät-Praxis, wo die Banting-Kur zunehmend seltener angewandt wurde. Die Bürger lernten mit den neuen Wahlmöglichkeiten umzugehen, lernten vorsichtiger zu werden, mochte das Körperfett auch schwinden „wie der Schnee vor der Märzensonnen“ (Fedor F. Erisman, Gesundheitslehre für Gebildete aller Stände, München 1878, 199).

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Dem Fett auf der Spur: Propagierung der Stoffwechselversuche Carl Voits (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1884, Nr. 73 v. 27. März, 1472 (l.); Fliegende Blätter 81, 1884, Nr. 2037, Beibl., 5)

Parallel wurde die physiologische Grundlagenforschung intensiviert (H[ermann] Immermann, Fettsucht in: H[ugo] v. Ziemssen, Handbuch der Speciellen Pathologie und Therapie, Bd. 13, T. 2, Leipzig 1876, 283-414). Carl von Voit (1831-1908) veröffentlichte die Ergebnisse seiner langjährigen Versuche schließlich 1881 (Handbuch der Physiologie des Gesammt-Stoffwechsels und der Fortpflanzung, Leipzig 1881), schob 1884 noch Teilabdrucke seiner Studien zur Fettablagerung nach. Er attestierte darin Vogel eine „ungenügende Erklärung“ (ebd., 317, FN 1), doch dieses Verdikt galt auch seinen eigenen früheren Ausführungen. Der Stoffwechsel war offenkundig komplexer als zu Bantings Zeiten angenommen, vor allem die Interaktion von Fett und Kohlenhydraten unterminierte das simple Ideengebäude Liebigs, auch wenn sie den Gesamtbau nicht zum Einsturz brachte. Die Quintessenz wurde rasch in die Öffentlichkeit getragen: „Durch Kohlenhydrate […] wird direct kein Fett gebildet, wol aber durch seinen Einfluß Fett aus dem Eiweiß abgespaltet. Fett, in richtigem Maße genossen, begünstigt den Fleischansatz und verhindert das Zustandekommen der Fettleibigkeit“ (Banting und Ebstein, Neue Freie Presse 1883, Nr. 6851 v. 23. September, 1-2, hier 2). Die praktischen Konsequenzen für Korpulente waren offenkundig: „Sie dürfen wieder Brod, Gemüse, Butter, Eier, Lachs u. s. w. essen. Professor Voit in München, einer unserer ersten Physiologen, hat nachgewiesen, daß diese Nahrungsmittel durchaus nicht in dem Maße die Fettbildung begünstigen, wie man früher angenommen. Gemischte Kost ist also auch für die Fettleibigkeit die zuträglichste“ (Durlacher Wochenblatt 1882, Nr. 144 v. 7. Dezember, 2).

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Diese Ergebnisse bedeuteten nicht das Ende der Banting-Kur. Doch sie ergänzten und ersetzen sie, just weil sie einseitig und wirksam war: „Die Bantingkur stellt eben zu große Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des fettleibigen Menschen“ (Emil Pfeiffer, Die Corpulenz und eine neue Cur derselben, Industrie-Blätter 20, 1883, 3-4, hier 3). Voit selbst empfahl sie, doch sollte man nach ersten Wirkungen in einer zweiten Phase neben dem Eiweiß auch verstärkt Kohlenhydrate verzehren. Auf der differenzierteren physiologischen Grundlage erhöhte sich die Zahl wissenschaftlich fundierter Diäten Anfang der 1880er Jahre rasch. Die Oertel-Kur bzw. die praktisch deckungsgleiche Schweninger-Kur empfahlen Fett- und Flüssigkeitszufuhr zu vermindern. Die physiologisch und klinisch deutlich breiter abgesicherte Ebstein-Diät zielte auf möglichst wenig Kohlenhydrate, erlaubte aber Fette. Diese pluralen Diäten konkurrierten im medizinischen Markt, riefen anfangs auch neuerliche Diätmoden hervor. Die Konsumenten nutzten diese, waren zugleich überwältigt: „Montags wird gebantingt, / Dienstags wird vegetarianert, / Mittwochs geebsteint, / Donnerstag geörtelt, / Freitags geschwenigert und die Sonnabende halte ich mir vorläufig noch frei für die nächste Entfettungsmethode, die doch über kurz oder lang entdeckt werden wird. So habe ich wenigstens noch die Sonntage für mich und führe an ihnen ein menschenwürdiges Dasein“ (Schmauser, Ueber Selbst-Entfettung, Kladderadatsch 37, 1884, 146).

An die Bedeutung der Banting-Kur und der Banting-Manie der 1860er Jahre konnten diese neuerlichen Moden jedoch nicht ansatzweise anknüpfen. Diese erste Diät war noch umfassend, verband virtuelle und reale Körper, koppelte Physiologie und Wohlgeschmack. William Bantings Kur gegen Korpulenz unterstrich noch eindringlich den janushaften Charakter von Essen und Ernährung, das mit der Spezialisierung der Wissenschaften immer stärker auseinanderanalysierten Wechselspiel von Natur und Kultur. Die erste Diät war Teil des Aufstiegs eines meritokratischen Bürgertums, das nicht mehr allein aufgrund ausgeprägteren Geschäftssinns und höherer Bildung gesellschaftliche Führung beanspruchte, sondern auch wegen leistungsfähigerer, gepflegteren und repräsentativerer Körper. Die Banting-Kur war Kind einer Konsumkultur, die nicht nur Güter, sondern auch Heil und Glück versprach, die dies in immer neue Dienstleistungen und Güter ummünzte. William Banting öffnete mit seinem „Letter on Corpulence“ 1863 aber auch die Pforte in eine neue Welt der Körpermodellierung und Körperkontrolle, in eine Welt des unausgesprochenen Zwangs, des Wettbewerbs um relevante Äußerlichkeiten. Fast 160 Jahre ist dies her, doch auch Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin, stehen im breiten Schlagschatten dieser Vergangenheit.

Uwe Spiekermann, 30. März 2022

Carne pura – Fleischpulver, Volksnahrungsmittel, Fehlschlag

Carne pura, reines Fleisch… Dieser Markenname der 1880er Jahre steht für die Nöte und Visionen dieser Zeit, für Forschungsdrang, Geschäftsinteressen und einen veritablen Bankrott. Wissenschaft und eine global ausgreifende Wirtschaft waren, so die Botschaft, Garanten für die Minderung der sozialen Spannungen, strebten nach gesunder und kräftiger Ernährung auch und gerade der Ärmeren. Carne pura war neu, materialisierte die Schaffenskraft starker Männer und die Verheißungen der Moderne. 140 Jahre ist das her; und das Spiel wiederholt sich auch heute tagtäglich, wenngleich in anderem Gewande, mit anderen Marken und Begründungen.

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Der Carne pura-Pavillon auf der Berliner Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen 1883 (Die weite Welt 8, 1883, 504)

Vergegenwärtigen wir uns einmal Berlin im Sommer 1883: „Jeder Fremde muß in die ‚Hygienische!‘“, hieß es damals. „Jeder, dem ein Bädeker unter dem Arme und die Lust, Neues und Interessantes zu sehen, in der Brust saß, pilgerte nach den Anlagen und Räumen der hygienischen Ausstellung, wo das große Buch ‚von der gesunden und kranken Menschheit‘ aufgeschlagen war“ (Friedrich Schwab, Reiseplaudereien II., Prager Tagblatt 1883, Nr. 291 v. 20. Oktober, 1-3, hier 1). Berliner und Fremde blickten auf die wissenschaftlichen Errungenschaften, staunten ob der Fortschritte, freudig, da die Wissenschaft „immer weiter vorschreiten und gegen Gefahren aller Art Schutz bieten wird“ (Allgemeine deutsche Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen zu Berlin 1882/83, Die weite Welt 8, 1883, 515-516, hier 516). Teil dessen war der glänzende Carne pura-Pavillon, ein Muss auf der Hygienischen. Dort wurde man kundig aufgeklärt, konnte kosten von einem neuen Fleischpulver, von zahllosen damit bereiteten Speisen. Kräftig, ja würzig im Geschmack, wurde es als unbegrenzt haltbar gepriesen, war zudem billiger als Frischfleisch. War man im Pavillon Zeuge eines anbrechenden neuen Zeitalters preiswerter Ernährung, allseitiger Verfügbarkeit der teuren und begehrten Essenz des Rindfleisches? Die Macher, allesamt veritable Männer, waren davon überzeugt. Sie waren seriöse Mitglieder der bürgerlichen Klassen. Gegen die massiven Überschwemmungen im Rheinland hatten sie schon im Winter 10.000 Portionen Carne pura gespendet und in eigens errichteten Suppenanstalten den Flutopfern Beistand geleistet (Carne pura, Wiener Presse 1882, Nr. 1 v. 17. Dezember, 5). Die Welt würde besser werden – und Carne pura Teil davon.

Fleischgier und der Ausgriff nach Südamerika

Ja, die Welt. Die Besucher kosteten in Berlin tatsächlich das Endprodukt eines weltweiten Ausgriffs auf die Fleischreserven der Welt. Wissen, können, haben. Neue Maschinen, vor allem aber die immer größeren Segelschiffe, die immer mächtigeren Dampfer machten sie verfügbar: „Die Bisonheerden der nordamerikanischen Prairien, die halbwilden Rinder der Pampas in Südamerika, der Falklandsinseln, die Millionen der Antilopen, Gazellen, Gnu’s, Springböcke etc., welche Südafrika durchwandern, die podolischen Rindviehheerden der südrussischen und asiatischen Steppen, die Schafe Australiens etc. geben noch auf Jahrhunderte Material genug her, um die Menschheit mit hinreichender Fleischnahrung zu versehen“ (Wilhelm Hamm, Nationalökonomische Zeitfragen. Zur Ernährung des Volkes: Billiges Fleisch. (Fortsetzung.), Allgemeine Rundschau 1865, Nr. 37 v. 10. September, 304).

Dieser Ausgriff auf die naturalen Ressourcen hatte viele Väter, Handelstreibende, vor allem aber Wissenschaftler. Deutsche standen hintan gegenüber Briten, Franzosen, Niederländern, doch ihre Zugriffe erfolgten trotz fehlender in den Boden gerammter Flaggen. Der im 18. Jahrhundert massiv ausgeweitete, im 19. Jahrhundert dann in große Kolonialreiche mündende Blick über die Grenzen Europas machte den Blick frei für die massiven Unterschiede zwischen den Weltregionen – und das betraf weniger Kulturen, sondern vorrangig Rohstoffe und Preise. Fleisch war in Übersee billig zu haben. Und Fleisch war knapp und teuer in den immer dichter bevölkerten Staaten Europas. Doch es war Frischware, also verderblich. Transport war erforderlich und eine Mechanik der Bewahrung.

Die dazu hierzulande bekannteste Idee der Mitte des 19. Jahrhunderts stammte vom Münchener Chemiker Justus Liebig (1803-1873). Er wusste von den großen, noch vielfach wild lebenden Rinderherden der südamerikanischen La-Plata-Regionen, die zwar zunehmend eingefangen und getötet wurden, von denen man aber lediglich die Felle zur Lederproduktion nutzte. In den 1870er Jahren schätzte man die Zahl der Rinder in den Pampas auf etwa 30 Millionen (Linzer Volksblatt 1878, Nr. 250 v. 29. Oktober, 1). Dort bestanden unabhängige Siedlerkolonien, bürgerliche Republiken, der spanischen Herrschaft entronnen. Kühltechnik war jedoch noch nicht entwickelt; Pökeln und Trocknen veränderten den Geschmack des Fleisches gravierend. Liebig empfahl daher ein zuvor in Frankreich entwickeltes Verfahren des Auskochens und Filtrierens: Am Ende würde die Essenz des Fleisches stehen, die wertvollen Inhaltsstoffe eingedickt. Von Wasser und Ballast befreit würde dieser Fleischextrakt erlauben, den Überfluss Südamerikas zumindest teilweise in Deutschlands Küchen zu lenken. Erfolgreiche multinationale Konzerne entstanden seit Mitte der 1860er Jahre, mochte Liebigs Idee vom nährenden Extrakt auch trügen. Er enthielt kein Eiweiß, keine Nährstoffe – und die mit dem Extrakt verbundenen Ideen billigen Fleisches für die minderbemittelte Bevölkerung erforderten offenkundig andere Technologien.

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Der Gaucho, die Rinder und das Markenprodukt: Nachklang des Ausgriffs auf die naturalen Ressourcen Südamerikas (Fliegende Blätter 115, 1901, Nr. 2920, Beibl., 2)

Anregungen dazu kamen aus der sog. Münchener Schule der Ernährungsphysiologie, einem Kreis von Kollegen und Schülern Liebigs, die nicht nur die Grundlagen der modernen Stoffwechsellehre etablierten, sondern die auch Wissenschaft in liberaler Verantwortung für das Gemeinwesen betrieben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 37-42). Die trotz auskömmlicher Grundversorgung stetig gefährdete Eiweißversorgung der Bevölkerung sollte mittels Expertenwissens gesichert werden. Der Physiologe Carl Voit (1831-1908) forderte 1869, dass man über den Import von Fleischextrakt und die als Dünger und Futtermittel dienenden ausgelaugten Fleischreste hinausgehen müsse, um „das ganze Fleisch trocken oder frisch auszuführen“ (zit. n. Marie Ernst, Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker. Ein Kochbuch, Bd. 1, Leipzig 1886, 515). Mangels leistungsfähiger Kühltechnik war die Fleischtrocknung offenbar der Königsweg. Das Verbrennen des nicht zu verwertenden Fleisches schien ihm, aber auch dem Agrarchemiker Julius Lehmann (1825-1894), eine Sünde wider die Natur und den menschlichen Geist zu sein (Julius Lehmann, Untersuchungen über die chemische Zusammensetzung der Fleischextract-Rückstände und über den Nährwerth derselben bei Schweinen, Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern 63, 1873, 3-16, hier 5-6). Fleischextrakt, die hier nicht zu behandelnden Fleischpeptone und das nun wieder in den Blick tretende Carne pura waren wissenschaftliche Geisteswaren, die auf Technik und Chemie gründeten. Sie waren zugleich Ausdruck eines informellen Kolonialismus, der überseeische Länder nicht direkt in Besitz nehmen musste, um einvernehmlich zugreifen zu können. Wissen, können, haben.

Ein neuartiges Fleischprodukt: Forschungen zu getrocknetem Fleischmehl

Auch Franz Adolf Hofmann (1843-1920) entstammte der Münchener Schule (C[arl] Flügge, Franz Hofmann †, Deutsche Medizinische Wochenschrift 46, 1920, 1173). Er hatte dort bei Max Pettenkofer (1818-1901) studiert. Der ist gemeinhin als Vater der modernen Hygiene bekannt, optimierte aber zwischen 1850 und 1852 auch die Herstellung des Fleischextraktes. Ab 1872 institutionalisierte Hofmann in Leipzig das neue Fach der praktischen Hygiene, wurde 1878 dann auf den dort neu eingerichteten Lehrstuhl für Hygiene berufen. Hofmann war ein liberaler Streiter für eine moderne öffentliche Gesundheitsfürsorge, engagierte sich für eine leistungsfähige Wasserversorgung, für Kläranlagen, Großmarkthallen und einen städtischen Schlachthof. Zugleich aber entwickelte er ab Mitte der 1870er Jahre ein neues Produktionsverfahren für Trockenfleisch, für Fleischmehl (Franz Hofmann, Die Bedeutung von Fleischnahrung und Fleischconserven mit Bezug auf Preisverhältnisse, Leipzig 1880, 108-118; daraus auch die folgenden Zitate).

Franz Hofmann war ein „Ritter des Fleisches“, so die Sektenklage vieler Vegetarier. Wie für alle Mitglieder der Münchener Schule war für ihn die Welt ein steter Stoffwechsel. Ernährung verstand er als rationales Unterfangen, die besten Speisen schienen die, „welche für den niedrigsten Preis das dem Menschen nöthige Nahrungsquantum in schmackhafter Form gewähren.“ Die „Körpermaschine“ verdaute aber animalische Nahrung deutlich effizienter als pflanzliche. Die Armenkost der breiten Mehrzahl sei daher defizitär, das Siechtum in den Gefängnissen und Armenhäusern belege dies hinlänglich. Animalische Kost schmecke zugleich besser. Allein die hohen Kosten schnitten die Mehrzahl vom Kauf ab. Technik könne helfen, das billige südamerikanische Fleisch auf die deutsche Tafel zu setzen.

Die Trocknung von Fleisch wurde in deutschen Landen schon seit langem praktiziert – häuslich und gewerblich (Johann Carl Leuchs, Die Kunst zu trocknen, Nürnberg 1829). Die Münchener Schule führte viele ihrer Stoffwechselversuche an Hunden durch, die in Respirationsapparaten Wasser und getrocknetes Fleischmehl erhielten. Es gab zahllose Patente (Ch[ristian] Heinzerling (Hg.), Die Conservirung der Nahrungs- und Genussmittel, Halle a.S. 1884, 147-148). Doch das Trockenfleisch war Notbehelf, sein Geschmack wurde mit wachsender Eiweiß- und Fettzersetzung zunehmend muffig, schlug schließlich ins Ekelige um. Fortschritte gab es, parallel zum verbesserten Wissen um Eiweißchemie und Sensorik. Kein geringerer als der britische Hygieniker Arthur Hill Hassall (1817-1894) hatte Mitte der 1860er Jahre mit seinem Produktionsverfahren einen neuen Standard gesetzt. Sein Fleischmehl entstand durch eine langsame Trocknung bei relativ niedrigen Temperaturen. Dies verhinderte nicht nur die Gerinnung des Eiweißes, sondern nutzte auch die Diffusionswirkung des Fleischsaftes selbst. Das Hassallsche Fleischmehl zielte vor allem auf die Schiffs- und Militärverpflegung, doch es diente auch der Fortifizierung anderer Lebensmittel. Vermengt mit Kakao oder aber Zwieback stärkte es Kranke und Rekonvaleszente (Conserviren von Nahrungsmitteln, Deutsche Industrie-Zeitung 1, 1867, 396-397).

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Trocknungsapparat zur Produktion von Fleischpulvers (Dingler’s polytechnisches Journal 247, 1883, 336)

Hofmann nahm die Grundgedanken Hassalls auf, führte sie weiter: „Das einzig richtige Verfahren des Fleischtrocknens kann somit nur darin bestehen, die Austrocknung anfangs bei niederer Temperatur einzuleiten um einen Theil des Wassers zu entfernen und am Fleisch eine äussere undurchlässigere Trocknungsschicht zu bilden, dann die Temperatur zu steigern um die vollkommene Gerinnung und Austrocknung ohne jeden Verlust zu erzielen“ (Hoffmann, 1880, 110). Während Hassall sein Fleischmehl rasch öffentlich vermarktete, setzte Hofmann allerdings auf langwierige Tests, die spätestens 1876 einsetzen und auch 1880 noch nicht beendet waren. Gleichwohl war er damals überzeugt, dass das nach seinem Verfahren hergestellte Fleischmehl, „wegen seines Geschmackswerthes sowie des Nährwerthes das geeignetste Zusatzmittel zur Pflanzenkost“ sei (Ebd., 115).

Hofmann war der Ideengeber von Carne pura – doch zum Taktgeber und Propagandisten mutierte ein Geschäftsmann ganz anderen Kalibers: Carl Alphons Meinert, 1843 in Leipzig geboren, 1888 in seinem südlich davon liegenden Gut verstorben. Hofmann war Wissenschaftler, Meinert wollte dies gerne sein. Hoffmann gestaltete, auch als Stadtverordneter, die Konturen seiner neuen Heimatstadt, Meinert wollte dagegen als Geschäftsmann die Konturen des neuen Deutschlands verändern. Hoffmann regte an, überließ die Patentierung seines Verfahrens anderen. Meinert dagegen sah eine Geschäftschance, eine Möglichkeit, einen Abdruck in der Welt zu hinterlassen.

Carl Alphons Meinert entstammte einer wohlhabenden Leipziger Kaufmannsfamilie. Er ehelichte eine Adelige, Anna Margaretha von Bünau (1843-1919), mit der er zwei Kinder, Reinhold (*1870) und Edith Pauline (*1872) hatte. Auch seine Schwester Margarethe heiratete später einen Rittergutsbesitzer (Leipziger Tageblatt 1876 v. 163 v. 11. Juni, 3355). Schon im Alter von 22 Jahren firmierte Meinert als Doktor der Rechtswissenschaften (Ebd. 1868, Nr. 94 v. 3. April, 2507), doch Zeitgenossen stellten dessen Echtheit in Frage (Ebd. 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451) – und einen Nachweis für die Promotion habe auch ich nicht finden können.

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Carl Alphons Meinerts Wirkungsfeld väterliches Geschäft: Anzeigen für Fischguano und Fleischextrakt (Der sächsische Erzähler 1873, Nr. 20 v. 8. März, 4 (l.); Lübeckische Anzeigen 1874, Nr. 23 v. 28. Januar, 4)

Der junge Kaufmann trat früh in das Geschäft seines Vaters Emil Meinert ein. Dieser war im Düngemittelhandel tätig, gleichsam auf den Spuren der Liebigschen Agrikulturchemie. Seit 1860 konzentrierte er sich auf den Import von norwegischem Fischguano (Grünberger Wochenblatt 37, 1861, Nr. 53 v. 4. Juli, 2). Dies war Fischkot, ein natürlicher Dünger, dessen Wirksamkeit er in agrarwissenschaftlichen Versuchen in Möckern und Proskau wissenschaftlich erproben ließ – in letzterer Versuchsanstalt war Julius Lehmann aus München Professor (Der Landwirth 9, 1873, Nr. 18 v. 3. März, 76; ebd. 11, 1875, Nr. 94 v. 23. November, 488). Trotz dieser Spezialisierung war das Meinertsche Handelsgeschäft breit aufgestellt. Kontakte nach Südamerika gab es nicht zuletzt durch den Vertrieb von üblichem Peru-Guano sowie von Chili-Salpeter (Leipziger Tageblatt 1869, Nr. 160 v. 9. Juni, 5317). Emil Meinert war zugleich ein Tüftler, aktiv in der Leipziger Polytechnischen Gesellschaft. Ab 1869 übernahm er zudem die Generalagentur für Buschenthals Fleischextrakt (E[duard] Reichardt, Ueber die chemische Untersuchung von Fleischextract, Dingler’s polytechnisches Journal 194, 1869, 505-507, hier 505). Während des russisch-osmanischen Krieges versorgte sie die russische Regierung mit dem fleischhaltigen Suppenpräparat (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 17 v. 17. Januar, 322). Carl Alphons Meinert lernte im väterlichen Geschäft also viel über internationalen Handel, über Agrarwirtschaft und Maschinentechnik – und auch über Werbung für neue wissensbasierte Kunstprodukte.

Dennoch musste Emil Meinerts derweil auch auf Zement- und Kommissionsgeschäfte ausgeweitete Firma im Juni 1877 ihre Zahlungen einstellen (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 174 v. 23. Juni, 3693). Die Firma erlosch im Juli, und der nachfolgende Konkurs betraf nicht nur sein Vermögen, sondern auch das seiner beiden Söhne Carl Emil und Carl Alphons (Ebd., Nr. 198 v. 17. Juli, 4185; ebd., Nr. 236 v. 24. August, 4905). Für letztere war dies ein gravierender Einschnitt, doch sie machten weiter. Bereits im September 1877 wurde in Leipzig die Firma M. Meinert gegründet. Carl Alphons Ehefrau fungierte als Inhaberin, sein Bruder Carl Emil als Prokurist (Ebd., Nr. 254 v. 11. September, 5268). Parallel aber intensivierte Carl Alphons Meinert seine praktische Arbeit am Hofmannschen Fleischmehl. Er etablierte eine „Versuchsstation“, in der bis 1880 mehrere Tonnen Fleisch auf unterschiedliche Arten getrocknet wurden (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, 5). Dieses Trockenfleisch wurde nach Argentinien verschifft, dort die Auswirkungen des Transportes untersucht. Wichtiger waren Tests, ob eine derartige Verarbeitung auch in Übersee möglich war. In Deutschland führte Meinert parallel physiologische Versuche an Arbeitern durch – und konnte auf diese Weise auch den Geschmack des Fleischpulvers erproben. Ende 1880 legte er seine Ergebnisse in einem zweibändigen Werk vor (Armee- und Volksernährung. Ein Versuch Professor C. von Voit’s Ernährungstheorie für die Praxis zu verwerthen, 2 T., Berlin 1880). Der Widerhall war wohlwollend.

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Werbung für Meinerts frühe Werbeschriften für Carne pura (Allgemeine Zeitung 1881, Nr. 333 v. 29. November, Beil., 4904 (l.); Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1882, Nr. 244 v. 20. Oktober, 4540)

Etablierung einer leistungsfähigen Firma

Zu diesem Zeitpunkt war das Produktionsverfahren des neuartigen Fleischmehls bereits patentiert worden. Rechts- und Urheberschutz wurde Ende 1878 von der neu gegründeten Firma M. Meinert und dem Hamburger Kaufmann Johann Conrad Warnecke jr. (1817-1893) beantragt und am 2. Dezember 1879 gewährt (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 283 v. 2. Dezember, 6). Die „Combination verschiedener Verfahren zur Herstellung einer neuen Sorte Fleischmehl“ war Ergebnis des jahrelangen Pröbelns Hofmanns und Meinerts: Frischfleisch wurde vom sichtbaren Fett befreit, dann mit 2-3 Prozent Salz bestreut, anschließend bei variablen Temperaturen zwischen 50 und 60 °C vorgetrocknet, bei 100 °C völlig getrocknet und schließlich vermahlen. Auch an die Fleischhygiene war gedacht: „Um Insekten abzuhalten, sollen die Räume, in denen das Fleisch bearbeitet wird, so stark mit Schwefelkohlenstoffdampf erfüllt werden, als die Arbeiter vertragen können“ (Herstellung von Fleischmehl, Dingler’s polytechnisches Journal 236, 1880, 85). Die Patentierung zeigte Meinert als treibende Kraft, Warnecke war vornehmlich Finanzier. Sein Handelshaus importierte Kolonialwaren und skandinavische Güter, später wurde er Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Die Firma Conrad Warnecke musste im September 1882 allerdings aufgrund beträchtlicher Verluste im Importhandel die Zahlungen einstellen (Chemiker-Zeitung 6, 1882, 1007).

Meinert und Warnecke standen nun vor der Aufgabe Wagniskapital für die Produktion und den Vertrieb des „Patentfleischpulvers“ einzuwerben – und es sollten fast zwei Jahre zwischen der Patenterteilung und der Firmengründung vergehen. Das dürfte zum einen an der komplexen Aufgabe gelegen haben, ein multinationales Unternehmen aufzubauen. Während die verschiedenen Fleischextrakte in uruguayischen oder argentinischen Hafenstädten produziert und in Europa lediglich kontrolliert wurden, sollte die Wertschöpfung des neuen Fleischmehls nicht primär in der überseeischen Peripherie, sondern vorrangig im europäischen Zentrum erfolgen. In Südamerika sollte lediglich das Fleisch getrocknet und versandfertig gemacht werden, weitere Produktionsschritte inklusive der Vermahlung und der Verarbeitung zu Carne pura-Produkten für den Letztkonsumenten dagegen im Deutschen Reich erfolgen. Zum anderen wusste man um den nur begrenzten ökonomischen Erfolg des Hassallschen Fleischmehls – auch wenn es sich bei dem Patentfleischpulver natürlich um eine verbesserte Variante handelte.

Die „Carne Pura, Patent-Fleischpulver-Fabrik, Actiengesellschaft“ wurde schließlich am 15. September 1881 in Hamburg gegründet (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 240 v. 10. Oktober, 7). Ziel war die Produktion und der Vertrieb von Fleischpulver und Conserven. Das Kapital betrug stattliche 600.000 M (Deutscher Reichsanzeiger 1881, Nr. 239 v. 12. Oktober, 8). Carl Adolph Meinert war technischer Beirat und zuständig für Produktion und – in unserer Sprache – Marketing. Der Vorstand bestand aus Hamburger Kaufleuten. Neben Warnecke und Ferdinand Kob stand Julius Richter (1836-1909), ein Bankier und Investor, der zwei Drittel der Aktien zur Subskription hielt, der dafür also weitere Investoren suchte. Auch die genaue Firmenstruktur war noch unklar: Als Produktionsländer waren anfangs Argentinien, Uruguay und Brasilien im Rennen (Carne Pura. Patent Fleischpulver-Fabrik, Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 187 v. 4. August, 2).

Der hohe Kapitalbedarf resultierte auch daraus, dass die Aktiengesellschaft erst einmal das Fleischmehlpatent für 75.000 M in bar und 25.000 M in Aktien erwerben musste. Dies sollte die bisherigen Auslagen decken. Zudem forderten M. Meinert und Warnecke eine „Rente“ von 20 Pfennig je Kilogramm Fleischpulver. Für eine Billigware war dies eine denkbar schwere Hypothek. Und doch, Venture-Capital ist immer eine Frage des in Aussicht erstellten Ertrages. 18,5% seien pro Jahr zu erwarten, die Produktion dürfte bei jährlich etwa 300,000 Kilogramm liegen. Die Aktionäre hatten 20% der Aktiensumme unmittelbar einzuzahlen, der Rest würde dann peu á peu abgerufen werden (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451). Franz Hofmann war zu diesem Zeitpunkt längst mit anderen Dingen beschäftigt, war an der Firma nicht beteiligt und hatte von den Plänen und Statuten erst aus der Zeitung erfahren (Ebd., Nr. 222 v. 10. August, 3506). Sein Name war jedoch Teil des werbenden Statuts – ebenso wie die Carl Voits, Max Pettenkofers und vieler anderer Gelehrten und Militärs. Ja, Militärs, denn Carne pura sollte zwar mit höchstens 4 M pro Kilogramm deutlich günstiger als Fleisch verkauft werden, doch die stehenden Armeen Preußens, Bayerns und Württembergs waren finanzstarke Interessenten. Wichtig auch: Die Gewinne würden vorrangig in das Unternehmen und an die Investoren fließen, erst danach müsse die „Rente“ an die ursprünglichen Patentinhaber gezahlt werden. Die Journalisten waren dennoch zwiegespalten. Doch ein Jahr vor Gründung des Deutschen Kolonialvereins war die Carne pura AG auch ein nationales Unterfangen, ein „Segen für unser deutsche Volk und unsere deutsche Armee“ (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 224 v. 12. August, 3536). Das Argument billigen Fleisches zog ebenfalls – schließlich war es erklärtes Ziel der Regierungspolitik, das Deutsche Reich zu einem mustergültigen Sozialstaat auszubauen, in dem Sozialdemokraten überflüssig waren. Entsprechend erfreuten sich die meisten Journalisten an dem noch virtuellen Produkt, sei man doch „endlich im Besitz einer Conserve, die auch dem Unbemittelten zugänglich ist.“ Und der Geschmack sei gut: „Selbst der zweite Aufguß überragt noch manche Fleischsuppe, wie sie auf dem Mittagstisch in manchen Familien erscheint“ (Zur Volksernährung, Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 233 v. 21. August, 3665-3666, hier 3665).

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Verlegung von Hamburg nach Bremen (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 286 v. 2. Dezember, 8)

Geld macht sinnlich – und die neu gegründete Firma bewegte sich: Schon im Dezember 1881 verlegte sie ihren Sitz nach Bremen, folgte damit der sich nun herauskristallisierenden Gruppe der Investoren (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 90 v. 17. April, 8). Mit dem knapp 50-Jährigen Heinrich Hollmann hatte man einen aus Bremen stammenden Direktor für die in Buenos Aires angesiedelten Trocknungsanlagen gefunden. Am 15. März 1882 wurde ein neuer Aufsichtsrat gewählt, der die Investorenstruktur widerspiegelte (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 53 v. 5. März, 8). An der Spitze stand mit Ludwig Gottfried Dyes (1831-1903) ein renommierter Bremer Kaufmann, Mitbegründer der dortigen Deutschen Nationalbank. George A. Albrecht (1834-1898) war Inhaber des Bremer Baumwoll-Handelshaus Joh. Lange Sohn Wwe. & Co., Carl August Franzius (1835-1913) Versicherungskaufmann in der Hansestadt. Franz Eduard Lax stammte dagegen aus Minden, wo sein gleichnamiger Vater ein veritables Bauunternehmen etabliert hatte. Als Inhaber einer Knochen- und Düngerfabrik (Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie, Bd. 1, Leipzig 1873, 43) war er schon länger im Südamerikahandel aktiv. Er gewann später aufgrund der wohl 1885 einsetzenden Bestechung von Marineangehörigen notorische Bekanntheit (Altonaer Nachrichten 1890, Nr. 99 v. 29. April, 4). Der Berliner Kaufmann Arthur von Genschow schloss den Reigen ab (Leonhard Volkmar, Geschichte der „Ersten Fabrik condensirter Suppen von Rudolf Scheller Hildburghausen /Thüringen“ 1871-1947, Hildburghausen 1995, 101).

Nach Klärung der Finanz- und Personalfragen nahm der Betrieb an Fahrt auf. Die getrocknete Rohware wurde von Buenos Aires nach Bremen verschifft, dort zu Fleischmehl vermahlen. Dieses konnte direkt abgesetzt werden, wurde in der Regel jedoch zu Suppentafeln bzw. Suppenpatronen weiterverarbeitet (Stinde, 1882, 6). Dazu errichtete man in Berlin eine Konserven-Fabrik, die im April 1882 ihren Betrieb aufnahm (Deutsche Bauzeitung 1882, v. 31. Mai, 254). Um dies zu finanzieren, mussten die Aktionäre ihre Einzahlungen im April und Oktober 1882 komplettieren (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 110, v. 10. Mai, 8; Hamburger Nachrichten 1882, Nr. 254 v. 26. Oktober, 3). All diese Maßnahmen zielten auf eine spektakuläre Präsentation des Carne pura auf der im Sommer 1882 geplanten Hygiene-Ausstellung in Berlin. Den Pavillon konnten Sie schon sehen, eine illustrierte Prachtbroschüre war bei dem aufstrebenden Schriftsteller Julius Stinde (1841-1905) in Auftrag gegeben worden, den ich auch deshalb erwähnen muss, weil er in meinem Geburtsort verstarb.

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Warenzeichen der Carne pura AG (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, IV)

Und doch, ein Brand machte Mitte Mai 1882 diese Pläne zunichte (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 135 v. 15. Mai, Beilage, 1981). Obwohl der Carne pura-Pavillon nicht betroffen war, musste die Ausstellung doch um ein Jahr verschoben wurden. Für das Bremer Startup-Unternehmen war dies ein schwerer Schlag. Der Markteintritt musste verschoben werden, doch die Fixkosten blieben. Immerhin besaß man ab September ein offiziell eingetragenes Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 211 v. 8. September, 6), das neben die Marke Carne pure trat – und den eher technischen Begriff des Patentfleischpulvers in den Hintergrund treten ließ.

Amerikanische Werbung: Probeessen und Vortragsveranstaltungen

Carne pura wurde schließlich mit einem Knall eingeführt, mit einer großen Sause „in echt amerikanischer Weise“ (Leipziger Tageblatt 1882, Nr. 311 v. 7. November, 5192). Am Sonntag, den 5. November 1882 waren nicht weniger als 3.000 Berliner geladen worden, im Wintergarten an einem Probeessen teilzunehmen. Nun, das gleichnamige Varieté wurde erst 1887 erbaut, doch es handelte sich um formidable Räumlichkeiten des größten Hotels der Reichshauptstadt, ein wenig unterhalb des Bahnhofs Friedrichstraße gelegen: „Wer sollte einer so aparten Einladung wiederstehen? Nachher bei dem schönen Wetter einen Spaziergang, dann den Kaffee bei Bauer nehmen, wie reizend! An die Herrscherin am häuslichen Herde erging also die Weisung: Wir kommen erst Abends nach Hause! Um 12 herum fand nach dem Centralhotel eine förmliche Völkerwanderung statt. Wer dorthin wallfahrtete, ist schwerer zu sagen, als wer nicht: Officiere aller Gradem sämmtlich im Helm, die Aerzte Berlins in großer Zahl, hervorragende Beamte, Professoren, Afrikareisende, Redacteure, Kaufleute, Industrielle – kurz, binnen einer halben Stunde war der Wintergarten des Centralhotels überfüllt“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 521 v. 7. November, 6). 2.000 waren gekommen, allesamt erwartungsfroh, allesamt hungrig – darunter auch mehr als 200 Arbeiter, die in einem Nebensaal ein Carne pura-Mahl erhielten. Die wohlgewandete Menge erfreute sich an den Klängen der Hauskapelle, besichtigte die ausgestellten Präparate, durchblätterte Prospekte und Drucksachen, doch Sitzplätze waren rar. Kleine Büffets mit Proben von Carne pura-Schokolade, -Bisquits und Fleischzwieback gähnten abgegessen leer. Um 13 Uhr schließlich trat Carl Adolph Meinert auf. Er sprach über die Ernährung allgemein, deren Unzulänglichkeit im Besonderen, lobte das Fleisch und kritisierte die Kartoffel, ließ den Blick gen Südamerika schweifen, sprach von deutscher Wissenschaft und endete mit dem Ideal der Zukunft, der Carne pura-Ernährung (Carne pura, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 520 v. 6. November, 2).

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Werbung im Vorfeld des großen Berliner Probeessens (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 519 v. 5. November, 8)

Das dauerte mehr als eine Dreiviertelstunde. Doch dann lenkte Meinert den Blick der zunehmend hungrigen Menge auf das reiche Angebot: „Fleischbrühe in Tassen, Julienne-Suppe aus Carne pura, Patentfleischbohnensuppe mit geröstetem Brod, Patentfleischerbsensuppe, Patentfleischbrodsuppe, Patentfleischgemüse mit Kartoffeln und Erbsen oder Linsen, Sauerkohl mit Kartoffeln in Carne pura gekocht, Carne pura-Graupen mit Kohlrabi und Kartoffeln, gekochtes Rindfleisch in Fleischbrühe etc., ferner Croquettes, Auflauf, Bisquits und Zwieback aus Carne pura“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1882, Nr. 519 v. 6. November, 2). All das gab es, gewiss, doch nur für die Recken, die sich auf dem alimentären Schlachtfeld durchsetzen, die sich im furchtbaren Gedränge behaupten konnten. Erst Besteck und Teller erobern, dann etwas Essbares, so die Devise; und manch Kompromiss musste geschlossen werden, mit Sitte und mit Tischetikette. Wer jedoch irgend in die Nähe der nach der Rede Meinerts hereingetragenen großen Kupferkessel gelangen konnte, „der kostete von der Bouillon, den Erbsen- und Linsensuppen und den sonstigen carne-pura-Genüssen“ (Berliner Tageblatt 1882, Nr. 520 v. 6. November, 3). Diejenigen aber, die leer ausgingen, standen nicht nur vor den Damen bedröppelt da, sondern sannen auf Ersatz. So stürmten Wagemutige den dekorativen „Gabentempel“, entnahmen die dort aufgestellten Verpackungen, öffneten sie erwartungsfroh, um festzustellen, dass sie mit Sand, mit märkischem, gefüllt waren. Und doch – das Resümee der Journalisten war so schlecht nicht: Carne pura war essbar, nichts für Gourmets, doch ganz in Ordnung. Man war sich allerdings nicht sicher, ob es sich als Volksnahrungsmittel würde durchsetzen können. Die große Sause hatte Spuren, die „amerikanische Reklame“ (Dresdner Nachrichten 1882, Nr. 313 v. 9. November, 2) durchaus Eindruck hinterlassen: „Wenn die Absicht der Gesellschaft dahin ging, die Einführung ihrer Fabricate mit Eclat zu bewerkstelligen, so dürfte sie ihren Zweck erreicht haben“ (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 313 v. 9. November, Beil., 4607). Famoses Chaos, durch den „der Zweck einer blitzschnellen Verbreitung des Carne pura-Renommées vollständig“ (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15) erreicht worden sei.

Werbung dieser Art war modern, brach mit tradierten Formen. Dr. Meinert war eben kein Nachfolger der Marktschreier, sondern präsentierte ein modernes, ein deutsches Wissensprodukt auf der Höhe der Zeit. Das Probeessen wandte sich vorrangig an die höheren Kreise, an Multiplikatoren wie die geladenen, vornehmlich in Wohltätigkeitseinrichtungen aktiven Damen. Die gespeisten Arbeiterhundertschaften boten gleichsam ein Abbild ihres Appetits, ihrer Bedeutung. Sie standen kräftig malmend aber auch für die Dankbarkeit der Massen gegenüber dem Einsatz der bürgerlichen und militärischen Spitzen der Gesellschaft. Die parallel verhalten einsetzende Anzeigenwerbung verwies explizit auf die Autorität der kontrollierenden Wissenschaftler. Mit Joseph König (1843-1930) hatte man den damals wichtigsten Nahrungsmittelchemiker Norddeutschland gewinnen können, mit Paul Jeserich (1854-1927) nicht nur Meinerts Kompagnon bei der Kreation neuer Nahrungsmittel, sondern auch einen der später wichtigsten Gerichtsmediziner des Kaiserreichs. Ihre Namen unterstützten die wissenschaftliche und soziale Aura des Carne pura.

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Wissenschaftliche Werbung für Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 55 v. 24. Februar, 8)

Meinert selbst agierte im Winter 1882/83 als Vortragsreisender in eigener Sache. Seine Publikationen boten die Versatzstücke für Carne pura-Vorträge im ganzen Land. Nach der Berliner Großveranstaltung konzentrierte er sich nun aber auf kleinere Probeessen mit teils handverlesenem Publikum. In Leipzig lud man nur 20 Personen, meist Journalisten, zu einem Mahle, bei dem das Patentfleischmehl im Mittelpunkt stand, es aber doch von Weinen, Rinderfilet, Geflügel und Kompotten umkränzt wurde (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15). Zuvor in der Presse geäußerte Kritik griff die Firma auf, denn der nicht unbeträchtlichen Unsicherheit über Herkunft und Qualität des in fernen Ländern verarbeiteten Fleisches begegnete sie mit Verweis auf strenge Regierungsbeamte und schließlich der Anstellung eines deutschen Veterinärmediziners. Die Frage des Geschmacks ging Meinert in seinen Vorträgen offensiv an, kokettierte gar mit Vorwürfen, Carne pura würde nach Seife, Teer oder gar nach eingestampften Indianern schmecken (Der Vortrag des Herrn Dr. Meinert aus Berlin über das neue Nahrungsmittel Carne pura, Badischer Beobachter 1883, Nr. 75 v. 6. April, 3). Die Geladenen sollten selber kosten, wurden als urteilsfähig angesehen, das fleischige Gut würde für sich selbst zeugen. Die Vorträge dienten zugleich aber Vertriebszwecken allgemeiner Art, nämlich erstens der Werbung für neu eingerichtete Niederlagen, also Großhandels- und Einkaufsstätten, zum anderen aber dem Kontakt mit lokalen Militärs bzw. Vertretern der Wohlfahrtspflege (Carne pura, Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 58 v. 27. Februar, 1-2, hier 1). Die Firma konzentrierte ihre Direktwerbung auf die Ober- und gehobene Mittelschicht, vergaß aber nicht die soziale Agenda des Volksnahrungsmittels. In München waren unter den dort speisenden dreihundert Personen auch zehn Arbeitervertreter aus Augsburg (Carne pura, Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, 865).

Die Direktwerbung für Carne pura erreichte im Sommer 1883 ihren Höhepunkt, denn nun fand nach einem Jahr Aufschub endlich die internationale Hygieneausstellung in Berlin statt, „aus der Asche prächtiger entstanden“ (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 115 v. 19. Mai, 3) denn zuvor. Der mit zwölf elektrischen Glühlichtlampen illuminierte Carne pura-Pavillon (Elektrotechnische Zeitschrift 1883, 372-374, hier 373) lag längs der Invalidenstraße, nahe der Kochschule des Berliner Hausfrauenvereins und dem Gebäude mit dem Siemens-Verbrennungsapparat, der sich bei Stahl- und Glasfabrikation bestens bewährt hatte und nun seine lechzenden Flammen auch auf Leichen warf, menschliche und tierische. Der Pavillon war Informationsplattform und Küche zugleich: Die Resonanz war beträchtlich, die Speisen wurden neugierig gekostet und durchweg als „ganz schmackhaft befunden, wenn auch Einzelne sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen konnten, dass man aus getrocknetem Fleischpulver wohlschmeckende Bouillon und Speisen zu bereiten im Stande ist“ (J[oseph] König und [Eugen] Sell, Ernährung und Diätetik, Lebensmittel und Kost, in: Paul Boerner (Hg.), Bericht über die Allgemeine deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens, Bd. 1, Breslau 1883, 141-226, hier 172). Wie sehr das neue Fleischprodukt lockte, sah man insbesondere am Auflauf der hohen, ja höchsten Häupter: Kaiser Wilhelm I. und Kaiserin Augusta besuchten ihn am 5. Juni 1883 (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 129 v. 5. Juni, 3). Zuvor verbeugte man sich brav vor der Großherzogin von Baden und der Erbprinzessin Charlotte von Meiningen (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 211 v. 8. Mai, 2), dem König von Sachsen und seiner Gattin mit Kronprinz Wilhelm (dem späteren Kaiser Wilhelm II.) im Schlepptau (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 114 v. 18. Mai, 3). Auch der chinesische Gesandte Li Fong Pao „machte zahlreiche Einkäufe und Bestellungen, so im Carne pura-Häuschen“ (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 230 v. 21. Mai, 3). All das und mehr wurde huldvoll berichtet – und war eine stete Werbung für das Neue.

Die Berichterstattung über Carne pura auf der Hygiene-Ausstellung erlaubt es, Werbung, Sortiment und Anspruch der Firma genauer aufzufächern. Vier Punkte sind hervorzuheben: Erstens setzten die Fleischpulverhersteller ihre Direktwerbung auch andernorts fort, luden sie doch Multiplikatoren zu einer persönlichen Führung in ihre am Küstriner Platz gelegene Konservenfabrik. Diese stellte nicht nur Carne pura-Produkte her, sondern auch gängige Fleisch- und Gemüsepräserven für Haushalte und Armeebedarf. Nun aber standen die mit Carne pura vermengten Suppenpräparate im Mittelpunkt: Das in Bremen vermahlene Fleischpulver wurde in Berlin mit getrockneten, neuerlich erhitzten und dann fein vermahlenen Hülsenfrüchten vermischt. In weiteren Mischapparaten fügten die Arbeiter geschmolzenes Fett, Salz und verschiedene Gemüse hinzu. Porree, Zwiebeln, Sellerie und andere Bodenfrüchte gaben dem Mehl zusätzlichen Geschmack. Die so zusammengefügte Masse wurde anschließend abgewogen und in Patronen von je 125 Gramm gepresst. Dieses Komprimat war zylindrisch, etwa vier Zentimeter hoch und mit einem Durchmesser von sechs Zentimetern. Die vorportionierte Patrone konnte mit Wasser in einen Topf gegeben werden und sollte nach zehn bis fünfzehn Minuten Kochen eine fleischig-schmackhafte Suppe ergeben. Die äußere Aufmachung entsprach dem wissenschaftlichen Anspruch, denn lange, lange vor einschlägigen Kennzeichnungsverordnungen enthielt die Verpackung bereits genaue Angaben zu den Nährwertgehalten, bei denen der hohe Eiweißgehalt besonders hervorstieß (Theodor Scheller, Ueber Fleischconservirungsmethoden und deren Verwendung für Heereszwecke, Med. Diss. Berlin 1883, 11). Die Modernität der Angebote wies zugleich über den Gehalt hinaus, galt es doch, „den Hausfrauen die Aufgabe des Ankaufes der einzelnen Nahrungsmittel dadurch zu ersparen, daß man ihnen die letztern entweder bereits zu Kostrationen gemischt oder in einer derartig verbreiteten Form bietet, daß es nur einer kurzen Arbeit bedarf, um daraus preiswürdige Kostrationen zu bereiten“ (H[ugo] Fleck, Hygienische Wanderungen durch die Berliner Ausstellung. IV, Berliner Tageblatt 1883, Nr. 280 v. 19. Juni, 1-2, hier 1). Doch diese für viele Neuerungen der Zeit stehende Aussage rief zugleich Puristen hervor, die Carne pura allein als Fleischpulver, nicht aber als Bestandteil moderner Convenienceprodukte verstanden (Die allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens. II., Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 2, 1883, 275-289, hier 285).

10_Stinde_1882_pIV_Carne-Pura_Sortiment_Fleischpulver_Suppenpraeparate

Produktionspalette der Carne Pura Aktiengesellschaft 1882 (Stinde, 1882, IV)

Zweitens: Die Firmenvertreter, zumal aber Carl Adolph Meinert, waren keine Puristen. Sie präsentierten in ihrem Pavillon eben nicht nur ein neuartiges Fleischpulver, sondern verstanden dieses als Teil einer tiefergreifenden Verwissenschaftlichung der Nahrungsmittelproduktion. Im Pavillon konnten die Gäste gängige Fleisch- und Suppengerichte verzehren, wurden aber auch an Neuerungen wie Patent-Fleisch-Schokolade, Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen sowie Patent-Fleischbiscuits und Patent-Fleisch-Zwieback herangeführt (Stinde, 1882, 30-31). Sie sollten Alltagsspeisen werden, Volksnahrungsmittel. Das unterstrich auch die Ausstellung des Pavillons durch den Leipziger Maler und Graphiker Gustav Sundblad (1835-1891), der durch seine zahlreichen Abbildungen in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ einem Millionenpublikum gut bekannt war. Carne-pura war gewiss die wichtigste Innovation, pur oder aber vermischt. Es wurde jedoch ergänzt durch einen neuen, von Meinert entwickelten süßen Kaffee-Extrakt, ein neuartiges Dauerbrot sowie eine neue Margarine namens India-Butter, die Meinert zusammen mit Jeserich entwickelt hatte und im April 1882 patentiert bekam. Sie bestand aus Kokos- und Palmkernmehl, während die meisten Kunstbuttersorten noch aus tierischen Fetten bestanden (König und Sell, 1883, 177). Auch neuartiges Büchsenfleisch war erhältlich. Diese Angebotspalette wurde ergänzt durch Auftragsproduktion anderer Firmen für das Bremer Startup-Unternehmen. Die weltweit präsente Amsterdamer Firma J. & C. Blooker lieferte einen Patent-Fleisch-Kakao, die Kölner Teigwarenproduzenten C.A. Guilleaume & Söhne mit Carne pura versetzte Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen. Auch die Wurzener Bisquitfabrik F. Kreitsch verarbeitete das Fleischpulver und lieferte Patent-Fleischbiscuits, Patent-Fleisch-Zwieback und Patent-Fleisch-Schiffbrot (Ludwig Krieger, Carne pura, Rundschau für die Interessen der Pharmacie, Chemie und der verwandten Fächer 1883, 159-161, hier 160). Wissenschaftliches und unternehmerisches Ziel war die Schaffung einer um das eiweißhaltige Carne pura herum gruppierten Palette haltbarer und gehaltvoller Nahrungsmittel.

Drittens kreiste die öffentliche Diskussion immer um den Geschmack des neuen Fleischpulvers. Die im Pavillon gereichten Näpfe wurden als nährend und appetitlich beschrieben (Paul von Schönthan, Die Hygiene-Ausstellung in Berlin. II., Die Presse 1883, Nr. 147 v. 31. Mai, 1-3, hier 3), insgesamt lag die Wertung bei ordentlich bis akzeptabel. Selbst Lohnschreiber der Firma konzedierten allerdings, dass Carne pura nicht wie Frischfleisch schmecke, ja, einen „etwas eigenthümlichen Beigeschmack und Geruch“ (König und Sell, 1883, 174) besäße. Ein führender Militärarzt sprach von einem „gewissen fremdartigen Beigeschmack“ (W[ilhelm] Roth, Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens zu Berlin im Sommer 1883. (Fortsetzung), Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 16, 1884, 161-269, hier 171). Andere Besucher erinnerten sich der famosen Erbswurst von 1870/71, die anfangs gerne genommen, mit der Zeit aber aufgrund ihres immer gleichen Geschmackes (und der langsamen Fettzersetzung) immer stärkeren Widerwillen hervorgerufen hatte (Lohmann, 1883, 361). Für die Firma waren dies Aufforderungen für technische Veränderungen und verbesserte Rezepturen ihrer Produkte.

Viertens schließlich diskutierten die Besucher des Carne pura-Pavillons die Zukunftsfähigkeit des Produktes, vorrangig also seine Marktgängigkeit. Das Marktpotenzial schien beträchtlich, doch darüber würde der zukünftige „Verbrauch im Kleinen“ (Scheller, 1883, 11) entscheiden. Zentral dafür war der Preis. Ohne eine weitere Preisreduktion sei Carne pura für den Massenmarkt schlicht zu teuer, könne daher einzig in die Truppen- oder Massenverpflegung Eingang finden (Fußnote bei Lohmann, 1883, 361). Dies galt, obwohl die meisten Besucher die Meinertschen Angaben von dem gegenüber Frischfleisch vermeintlich billigeren Fleischpulver durchaus wiedergaben. Chemiker und Physiologen stimmten ihnen auf Grundlage der Stoffbilanzen zu – und Carne pura besaß einen Eiweißgehalt von knapp 70 % (J[oseph] König, Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, T. 1, 2. sehr verm. u. verb. Aufl., Berlin 1883, 72). Im Alltag aber kämen auch andere Faktoren zur Geltung. Sie würden über die Zukunft des Carne pura entscheiden.

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Eine breite Produktpalette (Hamburger Nachrichten 1883, Nr. 42 v. 18. Februar, 12)

Der steinige Weg in den Massenmarkt

Das Marketing der Carne pura Aktiengesellschaft war für die 1880er Jahre ungewöhnlich, hinterfragt gängige Erzählungen von einer vermeintlich völlig rückständigen Werbung dieser Zeit (so etwa das Zerrbild von Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, 432-435). Doch Präsenz im Massenmarkt war mit einer reichsweit beachteten Direktwerbung nicht erreicht. Dazu musste ein Vertriebsnetz aufgebaut werden – und das war schwieriger zu erhalten als Gutachten von Multiplikatoren, die Care pura „eine grosse Zukunft“ vorhersagten (Carl Rüger, Attest v. 30. August 1883, Bundesarchiv R 86 Nr. 3442).

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Neue Nahrungsmittel und bewährte Absatzstrukturen (Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, Beil., 862)

Der damalige Lebensmittelhandel war noch entlang gestufter Absatzketten organisiert. Produzenten lieferten an Großhändler, diese an Agenturen und Kolonialwarenläden. Genaue Zahlen fehlen, doch kann man 1882 von ca. 200.000 Nahrungsmittelgeschäften ausgehen (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 704). Markenartikel waren selten, nationale Märkte gab es nur für wenige Artikel, die Läden führten ein aus heutiger Sicht sehr kleines Sortiment gangbarer Waren. Carne pura war haltbar, gewiss, doch es war ein neuartiges Produkt, das tradierte Ernährungsweisen in Frage stellte. Investoren waren gewonnen worden, die Produktionsstruktur war etabliert. Ende 1882 begann zudem Überzeugungsarbeit in den wichtigsten Städten des Deutschen Reichs: Großhändler und Agenturen mussten gewonnen werden, diese dann die Kleinhändler beliefern. Die Carne pura Aktiengesellschaft bot Flankenschutz, informierte das Publikum mittels Anzeigen über die lokalen Verkaufsstätten.

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Aufbau eines Vertriebsnetzes (Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 6 v. 7. Januar, 4)

In München konnte man beispielsweise in knapp zwei Dutzend Niederlagen Carne pura-Produkte kaufen. Dabei handelte es sich durchweg um teils seit langem etablierte Kolonialwarenhandlungen. Das Netzwerk wuchs im Frühjahr auf 22 Niederlagen an, blieb auf dieser Höhe, wenngleich mit leicht sinkender Tendenz (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 73 v. 14. März, 8; ebd. 1883, Nr. 238/239 v. 26. August, 12). In der Provinz waren die Verhältnisse begrenzter. Im oberfränkischen Coburg benannten die Anzeigen lediglich einen lokalen Händler (Coburger Zeitung 1883, Nr. 123 v. 29. Mai, 541).

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Etablierung im Feinkosthandel (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 171 v. 20. Juni, 5 (l.), Ebd., Nr. 119/120 v. 29. April, 4)

Dieses Vertriebsnetz ermöglichte einen allgemeinen Absatz, begrenzte ihn aber zugleich auf eine bürgerliche Käuferschicht. Während die Werbung der Bremer Firma ihre Produktpalette als solche präsentierte, banden die einzelnen Läden das neue Fleischmehl in ein anderes Umfeld ein, nämlich das von Kolonialwaren, Genussmitteln und Feinkost, das der gehobenen bürgerlichen Tafel. Angesichts der damals (und gewiss bis heute) üblichen sozialen Segregation der Einkaufsstätten kann von einem wirklichen Massenangebot daher nicht die Rede gewesen sein.

15_Rosenheimer Anzeiger_1883_12_19_Nr289_p3_Carne-pura_Fleischpulver_Fleischkonserven_Suppenpraeparate.

Fehlende graphische Durchdringung (Rosenheimer Anzeiger 1883, Nr. 289 v. 19. Dezember, 3)

Vor Ort wurden Anzeigen durchaus in Einklang mit den Grundinformationen der Carne pura AG ausgestaltet. Doch dies betraf nur den Inhalt, die Worte: „Fleischnahrungsmittel, billig, nahrhaft, schmackhaft, haltbar. Garantie für Reinheit, Güte, Gehalt und Haltbarkeit. Amtliche und tierärztliche Controle der Fabriken in Buenos Aires und Berlin. […] Bedeutende Ersparnis an Brennmaterial und Zeit“ (Düsseldorfer Volksblatt 1883, Nr. 261 v. 29. September, 4) – das waren die Kernbotschaften abseits der Nennung von Produkt und Sortiment. Das neue Präparat wurde präsentiert, nicht aber genauer vorgestellt, nicht wirklich erklärt. Zugleich gelang es der Firma nicht, einheitliche graphische Anzeigenstandards durchzusetzen. Das mag auch an den begrenzten technischen Möglichkeiten vieler Zeitungen gelegen haben, doch Klischeewerbung war damals durchaus üblich. Carne pura war zwar Markenartikel, doch eine stringente Markenführung überforderte die Bremer Vertriebsabteilung. Überraschend ist auch, dass man parallel kein Versandgeschäft aufbaute. Dabei konnte man in dieser Zeit nicht nur bei Textilversendern wie etwa Rudolph Hertzog ordern, sondern auch Weine, Zigarren, Butter, Konserven oder aber Baumkuchen per Post und Nachnahme bestellen. Gewiss, dies wäre ein Bruch mit dem vielfach gängigen Borgwesen der Mittel- und Unterschichten gewesen. Doch Carne Pura war haltbar und gut verpackt, wäre also einfach zu versenden gewesen. Stattdessen begann schon die internationale Expansion des Produktes: In Österreich wurde Carne pura im September 1883 als Marke registriert (Wiener Zeitung 1883, Nr. 213 v. 16. September, 7). Auch im westlichen Ausland, etwa den Niederlanden, wollte man den Markt erobern.

Die Carne pura AG wählte allerdings andere Wege, durchaus in Einklang mit der Direktwerbung seit November 1882. Die Anzeigen mochten keine genaueren Informationen darüber enthalten, wie das neue Fleischmehl in der Küche zu verwenden war, doch die Firma schuf Hilfsmittel für die Hauswirtschaft. So wurde erst für die Kochkunstausstellung in Leipzig, dann auch für die Berliner hygienische Ausstellung die Leiterin der hannoverschen Kochschule Lina Kux engagiert, die nicht nur vor Ort kochte, sondern die Zubereitung auch (den bürgerlichen Besuchern) erklärte (Carne pura, Industrieller Anzeiger 1883, Nr. 5 v. 18. April, 34). Ihre Mutter, eine der nicht wenigen erfolgreichen Kochbuch- und Haushaltsschriftstellerinnen, offerierte ab Mai 1883 ein spezialisiertes Kochbuch mit nicht weniger als 187 Rezepten (Auguste Kux, Carne pura-Kochbuch. Erste populäre Anleitung, naturhafte, schmackhafte und billige Speisen aus den Carne pura-Nahrungsmitteln zu bereiten, 5. Aufl., Berlin 1883). Für 50 Pfennig billig zu haben, unterstützte das Büchlein den lokalen Absatz der Produkte (Elbeblatt und Anzeiger 1883, Nr. 62 v. 29. Mai, 6). Ab 1884 war es auch in niederländischer Übersetzung erhältlich.

16_Davidis-Rosendorf_1885_p638_Kartoffelsuppe_Carne-pura_Rezept

Suppenrezept mit Carne pura (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, 638)

Wie bei den Probeessen und den Ausstellungen setzte die Carne pura AG auf eine Art Rieseleffekt. Das gute Produkt würde sich durchsetzen, sobald vernünftige Menschen darüber in Kenntnis gesetzt wären. Weitere Kochbücher berichteten nach Honorarzahlungen über das neue Fleischmehl, präsentierten einschlägige Rezepte, „wenn auch die damit gemachten Versuche und Erfahrungen noch nicht abgeschlossen sein können“ (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, III). Die redaktionelle Reklame für das neue „Nahrungsmittel von großem Werte“ (ebd., 639) war zugleich ein doppelter Appell an das Bürgertum. Auf der einen Seite ging es um den Konsum von Carne pura, zumal als Grundstoff einer Fleischbrühe. Auf der anderen Seite war dessen Verbreitung eine soziale Mission: „Die alte Erfahrung, daß fast alles Neue mit Vorurtheilen zu kämpfen hat, muß bei der Einführung des Patent-Fleischpulvers ins Auge gefaßt werden und Jeder, der ein Herz für die Nothlage des Mitmenschen besitzt, möge sich an der planmäßigen belehrenden Einwirkung auf das Volk, sei es in weiteren oder engeren Kreisen betheiligen“ (Ernst, 1886, 522).

17_Stinde_1882_p11_Fleisch_Fleischpulver_Carne-Pura_Volksnahrungsmittel_Arbeiter_Familie

Das Idealbild der Arbeiterfamilie (Stinde, 1882, 11)

Neben den Ausbau der Vertriebsstruktur und der hauswirtschaftlichen Fortbildung trat ab Anfang 1883 die Preisgestaltung. Dies schien vielen Beobachtern essenziell: „Wenn es Meinert wirklich gelingt, seine Präparate um die angegebenen billigen Preise zu liefern […], dann glaube ich nicht zu viel zu sagen, dass er damit bald alle Welt sich erobern wird“ (Vogel, Rez. v. Meinert, Armee- und Volksernährung, 1880, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 13, 1881, 462-464, hier 463).

18_Der oberschlesische Wanderer_1883_05_17_Nr111_p4_Carne-pura_Fleischpulver

Preissenkung zur Marktdurchdringung (Der oberschlesische Wanderer 1883, Nr. 111 v. 17. Mai, 4)

Entsprechend begann die Carne pura AG nach Etablierung des Vertriebsnetzes die Preise erheblich zu senken: Eine 30-prozentige Preisreduktion sollte den offenbar stockenden Absatz beleben, sollte nun auch der Arbeiterbevölkerung den Kauf ermöglichen (Der Wendelstein 1883, Nr. 100 v. 31. August, 4). An bezahlter Begleitpublizistik fehlte es jedenfalls nicht: „Die Präparate der Carne pura-Aktiengesellschaft in Bremen, […] sind bei ihrer Güte und erstaunlich billigen Preisen so recht berufen, ein Volksnahrungsmittel zu sein“ (Heinrich Boehnke-Reich, Künstliche Nahrungsmittel für Kinder und Erwachsene, Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 2, 1884, 441-453, hier 452).

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Das Carne pura-Sortiment und seine Preise (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 115 v. 28. April, 1218)

Carne pura für den Arbeiter? Grenzen des Sozialpaternalismus

Ein eiweißhaltiges Fleischprodukt, billig und einfach zuzubereiten, in Verwendung auch bei höheren Klassen – wie sollte der deutsche Arbeiter sich da verweigern? Eine Antwort darauf gab vielleicht die implizite Abwertung ihrer täglichen Kost durch bürgerliche Wissenschaftler und Haushaltslehrerinnen. Gewiss, die Arbeiterernährung war objektiv vielfach unausgewogen, teils unzureichend, hätte vielfältig verbessert werden können (Uwe Spiekermann, Die Ernährung badischer Arbeiter an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483). Sie war monoton, Frauen und Kinder hatten gegenüber dem männlichen Familienoberhaupt oft das Nachsehen. Doch die bürgerlicher Reformer achteten nicht die kulturelle und ökonomische Logik der Kost der Unterschichten, wollten diese vielmehr zivilisieren und der ihren angleichen: Es „wird Mühe kosten, die an Massen von Kartoffeln gewöhnten Personen auf ein kleineres Maß von kräftiger Nahrung zu beschränken“ (Stinde, 1882, 36). Der Arbeiter wurde als Arbeitsmaschine verstanden, billiges Eiweiß war daher unverzichtbar. Bezeichnenderweise hieß es von liberaler Seite: Carne pura „könnte zur Erleichterung des ‚Kampfes ums Daseins‘ der unteren Volksklassen viel beitragen und die Schwierigkeiten der Lösung der socialen Frage erheblich verringern“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 529 v. 11. November, 5). Zugleich sollte es als Fleischbrühe das Grundübel der Arbeiterexistenz beseitigen, den überbürdenden Alkoholkonsum – der damals etwa bei der Hälfte des heutigen Durchschnittskonsums lag.

20_Karlsruher Tagblatt_1883_02_10_Nr040_p0337_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Preise_Arbeiterernaehrung

Vermarktung als Billignahrungsmittel (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 40 v. 10. Februar, 337)

Gewiss, es ist leicht, die fürsorgliche Belagerung der Arbeiter zu kritisieren, ihren bis heute nachwirkenden, in der Ernährungsbildung weiterhin üblichen Sozialpaternalismus zu beklagen. Die bürgerliche Sozialreform war ein wichtiger Anreger moderner Sozialpolitik. Doch sie war brachial, wollte nicht nur den physischen, sondern auch den moralischen Zustand der Sorgeträger nach eigenem Ideal verbessern (Das Carne pura, Hamburgische Börsen-Halle 1883, Nr. 16 v. 18. Januar, 5). Während Agrarökonomen Flurbereinigungen vorantrieben, in den Städten erste Zonenbebauungen festgeschrieben wurden, schien Carne pura „eine vorläufig in ihrer Ausdehnung und ihren Folgen noch garnicht [sic!] zu übersehende Veränderung und Verbesserung der Ernährungsverhältnisse des deutschen Arbeiters, des ländlichen wie des industriellen“ bewirken zu können (Carne Pura, Die Grenzboten 42, 1883, 559-564, hier 562). Arbeiter waren zwar beseelte Wesen, doch das Fleischmehl sollte ihnen wie Hunden Eiweiß „in einer für die Ausnutzung im Darmkanal günstigen Form“ zusetzen (Ueber Volksernährung, Social-Correspondenz 7, 1883, 36-37, hier 36). Dass dies gelingen würde, daran hatten auch bürgerliche Beobachter allerdings ihre Zweifel (Demuth, Zur Cur der Fettleibigkeit, Medizinisch-chirurgische Rundschau NF 14, 1883, 867-875, hier 870).

21_Concordia_05_1883_620_Carne-pura_Fleischpulver_Kakao_Gebaeck

Repräsentative Anzeige für bürgerliche Arbeiterwohltäter (Concordia 5, 1883, 620)

Und in der Tat, der Arbeiter, der böse Lümmel, verweigerte sich. Auf Seiten der damals staatlich massiv bekämpften Sozialdemokratie war das erwartbar, denn die „Verwohlfeilung der Nahrungsmittel“ (Arbeiterfreundlichkeit auf Irrwegen, Der Sozialdemokrat 1886, Nr. 36 v. 1. September, 1-2, hier 1) könne die Lage der Arbeiter nicht verbessern, da aufgrund des ehernen Lohngesetzes jede Preisreduktion zu niedrigeren Löhnen führen würde. Meinerts Broschüre „Wie ernährt man sich gut und billig?“ stand daher nicht für eine bessere Ernährung durch billiges Fleisch, sondern für vermehrte soziale Kontrolle: Ein rheinischer Fabrikant, der davon mehrere hundert Exemplare kaufte und seinen Arbeitern schenkte, erhielt zur Antwort: „‚Will der Kerl uns auch noch vorschreiben, was wir kochen sollen?‘“ (Dresdner Nachrichten 1889, Nr. 156 v. 5. Juni, 1). Die vom sozialreformerischen Verein „Concordia“ ausgezeichnete Broschüre hatte daher kaum praktische Resonanz (Dresdner Nachrichten 1888, Nr. 331 v. 16. November, 2). Trotz anderslautender Beschwörungen klangen bei Carne pura Vorstellungen von Armensuppe und Armenhaus mit (Julius Stinde, Naturwissenschaftliche Plaudereien, Indiana Tribüne 1883, Ausg. v. 10. Dezember, 4). Der Geschmack des Fleischmehls war gewöhnungsbedürftig, konnte die tradierte Ernährungsweise nicht ersetzen. Hinzu kamen die Defizite im Vertrieb, die in übertriebenen Aussagen gipfelten, dass Carne pura „niemals in nennenswerther Menge in den Handel gekommen“ sei (Socialpolitisches Centralblatt 3, 1893/94, 498, FN 1). Carne pura war Teil eines weit verbreiteten Sozialpaternalismus, der den Eigensinn und die Selbstbestimmtheit körperlich arbeitender Mitbürger nicht ernst nahm und der durch machtbewusste Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften und die schließlich größte Partei des Kaiserreichs langsam beiseite gedrängt wurde. Ein Volksnahrungsmittel konnte nicht gegen das Volk durchgesetzt werden.

Befohlenes Fleisch: Carne pura in der Militärverpflegung

Arbeitern konnte der Verzehr von Carne pura nicht befohlen werden, Soldaten schon. Daher ist es nicht verwunderlich, dass abseits der vielbeschworenen Volksernährung auch um eine Umgestaltung der Militärverpflegung gerungen wurde. Care pura stand dabei in einer lang zurückreichenden historischen Reihe, gab es doch zahlreiche frühere Versuche, Fleischmehl erst in Kriegs-, dann auch in Friedenszeiten einzusetzen. Die logistischen Probleme der Viehtrosse der damaligen Heere waren offenkundig, lange Haltbarkeit wurde von den Herstellern versprochen. Bereits während des Krimkrieges (1853-1856) errichteten die französischen Interventionsstreitkräfte einsatznah eine Fleischmehlfabrik, doch das Ergebnis war ernüchternd: „Das in Packeten mitgeführte Fleischpulver fand wenig Beifall. Es hat einen widerlichen Geschmack, und man muß, da sich leicht verfälschen läßt, immer fürchten, daß es von allen möglichen Thieren bereitet sei. Der Soldat empfand auch bald großen Ekel davor“ (Die sanitätischen Verhältnisse in der Krim, Allgemeine Militär-Zeitung 33, 1858, Sp. 415-418, hier Sp. 417). Fleischmehl wurde von den führenden Armeen getestet, doch das Ergebnis war durchweg negativ (Die Verpflegung im Kriege, Militär-Zeitung 12, 1859, 596-597, hier 597; Die Conservation des Mannes. (Fortsetzung.) III., Allgemeine Militär-Zeitung 38, 1863, 319-321, hier 320; Michaelis, Die Conservation des Mannes. II., Österreichische militärische Zeitschrift 3, 1862, 177-189, hier 186).

Dennoch blieb das Interesse an einer nahrhaften, billigen, schmackhaften und haltbaren Fleischration weiter hoch. Dies lockte Tüftler und Wissenschaftler. In deutschen Landen breit diskutiert wurde etwa das zuerst als Krankenkost entwickelte „Fleischbrod“ des Württembergischen Arztes Koch, das von 1867 bis 1869 vom württembergischen Kriegsministerium getestet wurde (A. Koch, Fleischbrod für den Soldaten, Algovia 1870, Nr. 31, 1-2). Trotz wiederholter Verbesserungen gab die Armee es nur selten als Teil der eisernen Portion aus (Militair-Wochenblatt 53, 1868, Nr. 102, 831-832). Auch die Vermarktung als „Universalnahrungsmittel“ scheiterte (Deutsche Klinik 21, 1869, 24). Dennoch folgten weitere Angebote, weitere Tests – in Bayern etwa durch Carl Voit (Anhaltspunkte zur Beurtheilung des sogenannten eisernen Bestandes für den Soldaten, München 1876, 14-16). Der Einsatz von Carne pura in der Militärverpflegung stand daher am Ende einer langen Reihe von Fehlschlägen. Nun aber, mit all den Verbesserungen, würde es gewiss gelingen.

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Carne pura als Militärverpflegung (Stinde, 1882, 9)

In der Tat waren zahlreiche Militärs an Carne pura interessiert, zumal Franz Hofmann und Carl Alphons Meinert ihre Innovation vernehmlich propagierten (Rez. v. C.A. Meinert, Armee- und Volks-Ernährung, 2 Bde., Berlin 1880, Neue Militärische Blätter 24, 1884, 565-566, hier 565). Ab 1880 liefen Vorgespräche mit den Kriegsministerien, ab 1882 folgten zahlreiche Tests (Zur Konservenfrage, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 11, 1882, 645-649). Die Direktwerbung 1882/83 zielte immer auch auf Sanitätsoffiziere. Das Interesse reichte weit über das Deutsche Reich hinaus: Französische Offiziere besuchten in Begleitung des Hygienikers Jules Arnould (1830-1894) den Berliner Carne pura-Pavillon und die Konservenfabrik (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 375 v. 14. August, 3). Russische Marineärzte begannen 1883 mit ihren Tests, kurz darauf auch das österreichische Militär-Comité sowie die schwedische Marine.

In Deutschland gab es einschlägigen Untersuchungen in den preußischen, bayerischen, sächsischen und württembergischen Armeen (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1883, Nr. 83 v. 17. Juli, 3; Militärzeitung 36, 1883, Nr. 69 v. 31. August, 547). Wie Chemiker und Physiologen waren auch die ersten Militärärzte voller Lob: „Carne pura empfiehlt sich durch einige hervorragende Eigenschaften von durchschlagender militärischer Wichtigkeit: Haltbarkeit, geringes Volumen und Billigkeit“ (Rönnberg, Versuche über den Nährwerth des Fleischmehls „Carne pura“, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 442-449, hier 449). Wie von Meinert angeregt, sollte das neue Fleischmehl schon während des Friedensdienstes in Menagen verabreicht werden, während im Felde die Brot- und Suppenpatronen gereicht werden könnten. Auch die ersten französischen Untersuchungen im Pariser Hospital Bicètre – nicht nur Foucault-Lesern sicher bestens bekannt – kamen zu dem Fazit, „es ist vielmehr die Verwendbarkeit desselben für die Armeeverpflegung im Felde nur noch eine Frage des Geschmacks und der Fabrication passender Zusammensetzungen“ (Rönnberg, Nachtrag zu der Arbeit über die Verwendbarkeit von Carne pura als Armee-Nahrungsmittel, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 501-503, hier 501). Ähnlich positiv urteilten die russischen Militärärzte (Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 9, 1884, 41; Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 43). Die Liste ließe sich einfach verlängern ([Salomon] Kirchenberger, Carne pura. Eine neue Fleisch-Konserve und ihre Verwendbarkeit im Felde, Neue militärische Blätter 25, 1885, 224-233).

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Fortifizierte Kompaktnahrung vom Vertragspartner F. Krietsch in Wurzen (Stinde, 1882, XIV)

Dennoch blieb der seitens der Carne pura AG erhoffte Strom von Bestellungen aus. Das hatte erst einmal strukturelle Gründe: Das aus Argentinien stammende Fleischmehl war nicht blockadefest, der Nachschub konnte im Kriegsfalle relativ leicht gestört, ja unterbunden werden (St. Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 42). Zudem gab es keine ausreichenden Kontrollen vor Ort, fehlte doch eine amtliche und militärischen Kriterien genügende Fleischkontrolle (Ref. v. M. Hassler, De l’emploi des poudres de viande dans l’alimentation du soldat, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 13, 1884, 523-524, hier 523). Den Hauptkritikpunkt brachte jedoch die österreichische Stellungnahme auf den Punkt. Sie lautete, „dass die Carne pura-Präparate für die Heeres-Verpflegung völlig unbrauchbar sind und dass alle bisher versuchten Fleischmehl-Conserven die Geruchs- und Geschmacksnerven der Versuchenden in einer Weise alterirten, dass kaum von einer Geniessbarkeit derselben zu sprechen ist“ (zit. n. Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 10, 1885, 66).

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Carne pura als Teil eines Komplettangebots: Mobile Herd-Kochkessel-Kombination ([Carl Alphons] Meinert, Fliegende Volks- und Arbeiterküche. Eine Denkschrift, Berlin 1882, 1)

Die konzeptionellen Vorteile des Carne pura wurden in der militärischen Fachliteratur weiter diskutiert (Albert Eulenburg (Hg.), Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Bd. 13, Wien und Leipzig 1888, 158). Doch die zentralen Probleme von Haltbarkeit und Geschmack, also die Folgen ranzigen Fettes und zersetzten Eiweißes konnten nicht beseitigt werden (L[udwig] Bernegau, Chemische Streifzüge durch das Konservengebiet unter besonderer Berücksichtigung von Konserven für Massenverpflegung, Apotheker-Zeitung 10, 1895, passim, hier 509). Das Fleischmehl Carne pura war der letzte Versuch, die Fleischtrocknung für die allgemeine Militärverpflegung nutzbar zu machen. Stattdessen setzte sich die Hitzesterilisierung von Fleischpräserven und dann -konserven durch.

Nur versuchsweise: Carne pura in Gefängnissen

Das relative Scheitern Carne puras in der Militärverpflegung war Ende 1883 absehbar. Für Carl Alphons Meinert war dies jedoch zusätzlicher Anreiz, sein Fleischpulver auch in anderen Einrichtungen der Massenverpflegung einzubürgern. Er konzentrierte sich insbesondere auf die Ernährung in Gefängnissen, die damals völlig unzureichend war, zu vielfältigen Krankheiten und einer hohen Sterblichkeit führte (Ulrike Thoms, Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß. Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2005).

25_Boersenblatt für den deutschen Buchhandel_1885_11_16_Nr265_p5738_Meinert_Gefangenenernaehrung_Jeserich_Ploetzensee_Carne-pura

Kontinuierliche Untersuchungen zwischen Markt und Wissenschaften (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1885, Nr. 265 v. 16. November, 5738)

Anfang 1883 begann Meinert mit chemischen Analysen der in der Strafanstalt Plötzensee üblichen Speisen, erweiterte diese dann durch Stoffwechselversuche an Gefängnisinsassen. Seine Versuche wurden großenteils von Carne pura AG finanziert, so dass die Ergebnisse teils abgelehnt wurden, da man es „mit einem Producte der im Dienste einer rührigen Reclame stehenden Wissenschaft zu thun“ habe (Rez. v. Meinert, 1885, Über Massenernährung, Organ der Militärwissenschaftlichen Vereine 33, 1886, XLIV-XLV, hier XLV). Hinzu kamen methodische Probleme (K[arl] B[ernhard] Lehmann, Rez. v. C[arl] v. Voit, Ueber die Verköstigung der Gefangenen in dem Arbeitshause Rebdorf, MMW 1885, Nr. 1-4, Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 5, 1886, 255-258, hier 258). In der Tat handelte es sich bei den Untersuchungen um Forschung im Rahmen der Fleischpulvermission. Das zeigte sich bereits 1884, als Meinert ein preiswertes dreiteiliges Kochbuch für Massenverpflegungsinstitutionen vorlegte, das Rezepte für Standardgerichte unter Nutzung von Carne pura enthielt (Internationales Kochbuch für Gefängnißanstalten, Militärmenagen, Kranken- und Irrenhäusern, T. 1: Küche für Gefängnisanstalten, Hamburg 1884, T. 2: Küche für Militärmenagen, T. 3: Küche für Kranken- und Irrenhäuser (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1884, Nr. 239 v. 13. Oktober, 4740).

Meinerts 1885 publizierte Ergebnisse waren nicht wirklich überraschend, forderte er doch höhere Eiweiß- und Fettrationen und empfahl als Gegenmittel Carne pura, Magerkäse und Hering (Ueber die Beköstigung der Gefangenen, Berliner Volksblatt 1886, Nr. 6 v. 8. Januar, 3). Fleischpulver sei ideal, da es einen hohen Eiweißgehalt habe, vollständig resorbiert würde, sich mit anderen Speisen mischen ließe und deutlich billiger als Frischfleisch sei. Carne pura würde ermöglichen, den physiologischen Mindestbedarf zu decken und zugleich dem Vorwurf zu entgehen, „»daß der Verbrecher frisches Fleisch erhält, während der ehrliche, freie Arbeiter sich solches kaum Sonntags verschaffen kann«“ (C[arl] A[lphons] Meinert, Ueber Massenernährung, Berlin 1885, 93). Im Einklang mit einer wachsenden Zahl von Gefängnisärzten und Physiologen empfahl er zudem eine strukturelle Reform der Gefängniskost: Die immer gleiche Suppenkost aus Hülsenfrüchten müsse durch gekochte feste Mehrkomponentenspeisen durchbrochen und insbesondere mehr Wert auf Würzung und Geschmack gelegt werden. Die Ernährung sollte nicht Teil der Strafe sein, sondern vielmehr die Gefangenen zu nützlicher Arbeit befähigen ([Abraham] Baer, [Ohne Titel] Blätter für Gefängniskunde 22, 1887, 10-21; Paul Jeserich, Bericht über ausgedehnte Ernährungs-Versuche in der kgl. Strafanstalt Plötzensee auf Veranlassung der Act.-Ges. Carne pura ausgeführt und bearb., Berlin s.a.). Diese Forderungen waren zukunftsweisend, wurden aber erst in der Weimarer Republik in breiterem Maße umgesetzt. Carne pura wurde in deutschen Gefängnissen jedoch nicht eingeführt, wegen des zu hohen Preises, „dem Anhaften eines unangenehmen Beigeschmacks“ und mangelhafter Haltbarkeit (A[rthur] Leppmann, Ueber zweckmässige Gefangenenbeköstigung, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 23, 1891, 413-432, hier 431).

Ein Unternehmen im Niedergang: Finanzielle Probleme und Gegenmaßnahmen

Es wird Zeit, den Blick vom Wollen der Carne pura AG zurück auf die reale Unternehmensgeschichte zu lenken. Die „ganz bedeutende Preisermäßigung“ (Teltower Kreisblatt 1883, Nr. 52 v. 30. Juni, 5) vom Mai 1883 hatte nicht die gewünschten Effekte, der Absatz der Carne pura-Präparate blieb weit hinter den Erwartungen zurück (ist aber mangels Zahlen leider nicht zu quantifizieren). Die modernen Formen der Direktwerbung machten Carne pura zwar zu einem populären Begriff, der sich auch als Synonym für nackte (weibliche) Haut sogar für einige Zeit etablierte (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 470 v. 10. Juni, 6; Edmund Rothe, Stoss- und Trostseufzer eines praktischen Arztes. (In folschen Reimen), in: Korb (Hg.), Liederbuch für Deutsche Aerzte und Naturforscher, Abschnitt 2, Hamburg 1892, 234-236, hier 235) – doch dies schlug nicht auf den Absatz durch. Die Konkurrenz frohlockte, dass Fleischpulverpräparate „gründlich zurückgewiesen“ (Leonhard, 1995, 121) wurden.

Die Auszehrung der Carne pura AG begann Mitte 1883, kurz nach Ende der Berliner Hygiene-Ausstellung. Carl Alphons Meinert und Arthur von Gerschow schieden im Juli aus dem Vorstand und der Gesellschaft aus (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 335 v. 20. Juli, 13; Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 171 v. 24. Juli, 6). Der Vorstand wurde nicht wieder erweitert (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 233 v. 4. Oktober, 8).

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Tief in den roten Zahlen: Bilanz Ende 1883 (Hamburgische Börsen-Halle 1884, Nr. 109 v. 7. Mai, 6)

Die Bilanz wies Ende 1883 tiefrote Zahlen aus: Verluste von knapp 300.000 M waren aufgelaufen, Warenvorräte und Ausstände lagen gar noch höher. Anders ausgedrückt: In Berlin stapelte sich nicht absetzbare Ware, und die Zahlungsmoral der Großhändler und Agenturen war gering. Seit der Gründung hatte die Firma „stetig“ Verluste geschrieben (Hamburger Nachrichten 1886, Nr. 154 v. 1. Juli, 11). Bei einem Startup-Unternehmen war dies nicht ungewöhnlich, doch auch die Ergebnisse des Jahres 1884 waren mehr als ernüchternd.

27_Deutscher Reichsanzeiger_1885_07_10_Nr159_p05_Carne-Pura_Bremen_Bilanz

Rote Zahlen. Bilanz der AG Carne pura Ende 1884 (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 159 v. 10. Juli, 5)

Die Verluste waren am Jahresende auf mehr als 420.000 M angewachsen, die Warenvorräte und Ausstände konnten nur moderat vermindert werden. Wohl und Wehe der Gesellschaft hingen von den Gläubigern ab. Beunruhigend waren auch erste Wertberichtigungen, denn die Investoren hatten eben nicht – wie in der Bilanz von 1883 noch ausgewiesen – die gesamte Aktiensumme einbezahlt, sondern 80 der 600 Aktien keine Abnehmer gefunden, drei Aktien wurden nicht vollständig bedient. Dies führte Mitte 1885 zu weiteren personellen Schnitten: Dyes, Albrecht und Lax schieden aus dem Vorstand aus, Carl August Franzius blieb alleiniger Aufsichtsrat (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 239 v. 12. Oktober, 10; Berliner Börsen-Zeitung 1885, Nr. 476 v. 12. Oktober, 9). Zuvor war das Statut geändert worden und die Gesellschaft von Bremen nach Berlin umgezogen (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 181 v. 5. August, 7).

28_Neueste Nachrichten und Muenchener Anzeiger_1885_11_03_Nr307_p05_Fleischpulver_Carne-Pura_Verpackung_Berlin

Verbessertes Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1885, Nr. 307 v. 3. November, 5)

Weitere unternehmerische Maßnahmen kann man nur indirekt erschließen. Sicher ist, dass das Unternehmen einerseits die Rezepturen veränderte, um dadurch den Geschmack der Fleischpulverpräparate zu verbessern (Deutsche Medicinische Wochenschrift 12, 1886, 156). Anderseits senkte es im Herbst 1885 abermals die Preise – wobei unklar ist, ob dies nur erfolgte, um die vorhandene Ware abzusetzen.

29_Stinde_1882_p13_Carne-Pura_Reiseverpflegung_Suppenpraeparate_Touristen_Alpen

Carne pura als Suppengrundstoff für Touristen (Stinde, 1882, 13)

Werblich scheint es zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Zielgruppen gekommen zu sein. Touristen und Reisende wurden speziell angesprochen, Carne pura als schnell und unkompliziert zuzubereitender Fleischbrühgrundstoff empfohlen (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 301 v. 1. Juli, 11).

30_Berliner Tageblatt_1883_08_01_Nr353_p09_Krankenkost_Gebaeck_Biscuit_Carne-purna

Carne pura als Teil der Krankenkost (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 353 v. 1. August, 9)

Wachsende Bedeutung gewann auch die Krankenkost – wobei in diesem Marktsegment ab Herbst 1884 Kemmerichs breit beworbene Fleischpeptone rasch den Ton angaben. Dabei warb man vor allem für die in Kommission fabrizierten Gebäcke, für Kakao und Schokolade. Eine ganze Reihe von Kranken hatte einen Widerwillen gegen den zur Stärkung gereichten frisch zubereiteten Fleischsaft. Carne pura-Präparate boten eine schmackhaftere Alternative.

31_Deutsche Medizinal-Zeitung_1882_Nr47_Medizinal-Anzeiger_p4_Carne-pura_Krankenernaehrung_Fleischpulver_Eiweiß

Carne pura als Kräftigungsmittel (Deutsche Medizinal-Zeitung 1882, Nr. 47, Medizinal-Anzeiger, 4)

So nachvollziehbar derartige Maßnahmen auch waren, so zeigen sie doch zugleich, dass die ursprüngliche Idee, ein billiges Fleischpulver als Volksnahrungsmittel und als neuartiges Element der Massenverpflegung einzuführen, unrealistisch war. Zentrifugalkräfte gewannen die Oberhand, das Unternehmen war am eigenen Anspruch gescheitert.

Ein Ende mit Schrecken: Der Konkurs der Carne pura AG

Am 29. Juni 1886 wurde der Konkurs über das Vermögen der Berliner Carne pura Patent-Fleischpulver-Fabrik eröffnet (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 2272 v. 15. Juni, 16). Auf der Gläubigerversammlung wurde deutlich, dass sich die Verluste von 200.000 M 1882 auf über 450.000 M 1886 erhöht hatten. Eine nachvollziehbare Buchführung hatte es bis 1883 offenbar nicht gegeben. Aktiva von knapp 250.000 M standen Forderungen von mehr als 500.000 M gegenüber. Noch aber schien es möglich, die Firma nach Einigung mit den Gläubigern fortzuführen (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 298 v. 30. Juni, 14). Dieser Schwebezustand währte bis Oktober 1886, vielleicht etwas länger (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 476 v. 12. Oktober, 16).

Die Gläubiger zogen jedoch ein Ende mit Schrecken vor, sie sahen keine Chancen auf einen profitablen Geschäftsbetrieb nach einem notwendigen Schuldenschnitt. Man begann daher mit der Realisierung der verbliebenen Vermögensbestände. Alles was übrig blieb, kam dann im September 1887 in einer Konkursauktion unter den Hammer. Ein letztes Mal strömten Zuschauer und Händler zu einem Care pura-Ereignis zusammen: „Da sah man den ‚stilvollen Pavillon‘ wieder, der einst, mit den verschiedensten Carne-pura-Erzeugnissen ausgestattet, in der Hygieine-Ausstellung prangte; er wurde für 60 M einem Händler zugeschlagen. Dann gabs Proben der aus Conserven bereiteten Erbsensuppe in kleinen Tassen, die sich die anwesenden Käufer und Nichtkäufer gar wohl schmecken ließen. 600 Kisten von solchen Conserven wurden versteigert, immer in Posten von 5 Kisten, die je 10 bis 15 M erzielten. Im Vergleich zu der sonstigen Bewerthung der Waaren waren es geradezu Schleuderpreise, zu denen hier losgeschlagen wurde. Und dabei mußten sich die anwesenden Gesellschafter noch manchen Spott über die Conserven gefallen lassen. Auch ein großer Kochapparat, vollständig aus Messing, wurde verkauft und brachte 70 M. Alles ging fast ausschließlich in den Besitz der Händler, die nun ihrerseits einen flotten Handel mit den erworbenen 30,000 Kilogr. Carne-pura veranstalten können“ (Carne-pura-Gesellschaft, Leipziger Tageblatt 1887, Nr. 255 v. 12. September, 15). Die in Aussicht gestellte Reform der Ernährung endete in einer Farce.

32_Mittheilungen über Landwirthschaft_1887_01_14_Nr02_p12_Berliner Tageblatt_1887_09_07_Nr451_p04_Carne-pura_Konkurs_Viehfutter_Fleischmehl

Restverwertung des Fleischpulvers als Viehfutter (Mittheilungen über Landwirthschaft, Gartenbau und Hauswirtschaft nebst industrieller Anzeiger 1887, Nr. 2 v. 14. Januar, 12 (l.); Berliner Tageblatt 1887, Nr. 451 v. 7. September, 4)

Die endgültige Abwicklung zog sich noch länger hin. Im November 1889 hatte der Konkursverwalter – nach Abzug seiner Aufwendungen – 33.000 Mark erlöst, mit denen nun anteilig die Forderungen bedient werden sollten (Berliner Börsen-Zeitung 1889, Nr. 542 v. 19. November, 17). Die Schlussrechnung wurde kurz vor Weihnachten 1889 präsentiert, das Konkursverfahren anschließend beendet (Deutscher Reichsanzeiger 1889, Nr. 283 v. 26. November, 12; ebd. 1890, Nr. 11 v. 10. Januar, 10). Es folgten noch einige Nachwehen, darunter eine Nachtragsverteilung im März 1892 (Berliner Börsen-Zeitung 1892, Nr. 110 v. 5. März, 15). Die Marke der Carne pura-Gesellschaft wurde am 21. September 1892 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1892, Nr. 225 v. 23. September, 9) – und zu schlechter Letzt das General-Depot der Carne pura Nahrungsmittel, M. Meinert, Leipzig am 21. Januar 1895 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 27 v. 30. Januar, 13).

Das kurze Nachleben des Carne pura

Mit dem Konkurs der Carne Pura AG war das Kapitel Fleischpulver keineswegs geschlossen. Nach wie vor reizte die Idee einer haltbaren und billigen Fleischkonserve Tüftler und Wissenschaftler. Gewiss, Carne pura war zu teuer gewesen, der Geschmack nicht ideal. Doch dies konnte mit Technik und Wissen verändert, verbessert werden (F. Strohmer, Fleischextract und Fleischconserven, Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 35, 1885, 211; Die Nahrung der Zukunft, Prager Tagblatt 1893, Nr. 197 v. 18. Juli, 2-4, hier 4).

33_Karlsruher Tagblatt_1888_10_04_Nr272_p3673_General-Anzeiger fuer Hamburg-Altona_1890_09_11_Nr213_p08_Fleischpulver_Schnurr-Gross_Liebig_Krankenkost_Albuminatpulver_Dr-Jervell

Neue Fleischmehl- und Fleischeiweißprodukte (Karlsruher Tagblatt 1888, Nr. 272 v. 4. Oktober, 3673 (l.); General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1890, Nr. 213 v. 11. September, 8)

Das Carne pura-Patent wurde 1887 von der Karlsruher Firma Schnurr & Gross erworben, die ihr Fleischpulver bis mindestens 1890 reichsweit als Krankenkost vermarktete (Münchener Neueste Nachrichten 1890, Nr. 492 v. 26. Oktober, 7; Hamburger Nachrichten 1890, Nr. 267 v. 9. November, 10). Es wurde abgelöst durch neue Präparate aus Schlachthofresten, wie etwa das Albuminatpulver von Dr. Jervell. Mitte der 1890er Jahre dominierte dann vor allem das US-amerikanische Mosquera‘s Fleischmehl (E[rnst] v. Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Leipzig 1897, 290), ehe mit dem Eiweißpräparat Tropon ein neuerlicher Versuch unternommen wurde, die Alltagskost mittels eines wissenschaftlichen Geniestreiches umzustürzen. Nun aber stand nicht mehr das billige Fleisch der südamerikanischen Pampas zur Diskussion, sondern die Vision einer Eiweißsynthese aus billigen Rest- und Abfallstoffen. Auch dieser Versuch, sie ahnen es, scheiterte – nach der teuersten Werbekampagne des Kaiserreichs (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209, hier 198-204).

34_Leipziger Tageblatt_1894_01_22_Nr039_p518_Vossische Zeitung_1899_12_24_Nr603_p20_Fleischmehl_Mosquera_Trockenfleisch_Tropon_Eiweißpraeparate

Substitute des Carne pura: Mosquera’s Fleischmehl und Tropon (Leipziger Tageblatt 1894, Nr. 39 v. 22. Januar, 518 (l.); Vossische Zeitung 1899, Nr. 603 v. 24. Dezember, 20)

In der Fachliteratur wurde der Carne pura-Präparate auch aufgrund dieser Nachgänger immer wieder respektvoll gedacht, mochte es sich als Volksnahrungsmittel auch nicht bewährt haben (Carl Flügge, Grundriss der Hygiene, Leipzig 1889, 309; Max Heim, Die künstlichen Nährpräparate und Anregungsmittel, Berlin 1901, 33-34). Nur wenige Wissenschaftler verstanden ihr Tun als Hybris. „Fleisch als Genussmittel zu ersetzen“ (Felix Hirschfeld, Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden und Kranken, 1900, 49) war mit derartigen Ersatzmitteln schlicht nicht möglich.

Was blieb vom Carne pura?

Die Geschichte von Carne pura zeugt von gescheiterten Träumen, zerplatzten wissenschaftlichen und ökonomischen Utopien. Der Ausgriff auf die naturalen Fleischressourcen der Welt endete als Fehlschlag. Respekt davor mag bleiben. Doch die Geschichte von Carne pura ist auch eine Geschichte unserer Zeit.

Carne pura steht für den Sozialpaternalismus des späten 19. Jahrhunderts, für eine bürgerliche Erziehungsmission, für eine scheinbar nur so denkbare Teilhabe der arbeitenden Massen an den Erträgen dieser dynamischen Zeit der Innovationen und Entdeckungen. Carne pura steht für die Differenz zwischen Wissenden und Nicht-Wissenden, für den Versuch, letzteren hierarchisch und ohne Mitsprache einen Platz in der Welt, an der bürgerlichen Tafel zuzuweisen. Teilhabe dieser Art ist an Bedingungen geknüpft, an die Moral eines rational geführten Lebens, eines Haushaltens mit dem wenigen, was man besitzt. Das häusliche Glück in Selbstbescheidung und Dankbarkeit.

Carne pura steht für die Kraft und die Schwäche gedanklicher Engführungen, für Röhrenblicke und ihre Folgen. Die Investoren hatten die Folgen ihrer Fehleinschätzungen immerhin direkt zu tragen, doch die konzeptionellen Ideen von Hofmann und Meinert wurden weitergesponnen, ebenso eng, wenngleich mit anderen Produkten und Rohwaren. Die dargebotene Geschichte ist damit ein Appell für historisches Lernen. Das Scheitern der Carne pura-Präparate war aufgrund des konzeptionellen Scheiterns des Liebigschen Fleischextraktes und des faktischen Scheiterns der vielen Fleischmehlarten bis hin zu Hassall vorhersagbar – so wie etwa das relative Scheitern vieler neuartiger Fleischsubstitute heutzutage. Doch zugleich ist gewiss, dass enggeführtes Agieren und vorhersehbares Scheitern auch weiterhin den üblichen (Fleisch-)Konsum begleiten werden. Der Mensch ist ein gläubiges Wesen, vor allem, wenn dieser Glaube auf wenigen einfachen Wahrheiten gründet.

Die Geschichte von Carne pura ist schließlich eine Geschichte auch des Eigensinns der Menschen. Der großen Mehrzahl schmeckte es nicht, mochten die Produzenten und viele Wissenschaftler auch anderes verkünden. Für die große Mehrzahl war es zu teuer – auch wenn die Präparate auf Grundlage komplexer Stoffäquivalenzberechnungen „objektiv“ billiger waren als gängiges Frischfleisch. Das Scheitern von Carne pura unterstreicht die Herrschaft von gesundem Menschenverstand bei der breiten Mehrzahl, von Selbstbehauptung trotz prekärer Rahmenbedingungen. Gilt das, so erzählt die Geschichte von Carne pura auch von Behauptungsmöglichkeiten in allseits moralisierten und kommodifizierten Lebenszuschnitten. Geschichte ist eben nicht nur eine analysierte, gezähmte, gelenkte und geglättete Dosis Vergangenheit. Sie ist vielmehr Ausgangspunkt selbstbestimmten Denkens und Handelns.

Uwe Spiekermann, 14. August 2021

Als sich der Hunger in die Körper der Kinder fraß – Entwicklungsrückstände im Gefolge des Ersten Weltkriegs

Die Lage vor den Geschäften war dramatisch: „Unter den Wartenden sieht man mangelhaft gekleidete Personen, auch schlecht gekleidete Kinder und Greise. Seitens vieler Frauen mit kleinen hungernden Kindern wurden Aeusserungen von Lebensüberdruss gehört. Die Wache hat wiederholt die Kinder in der Weise berücksichtigt, dass sie sie vorne anstellen lässt; doch ist dies nicht immer möglich, da die Kinder oft sehr zahlreich kommen“ (Stimmungsbericht d. K.k. Polizeidirektion in Wien v. 25. Januar 1917, 2 (Ms.)). Dieser Polizeibericht aus Wien hätte ebenso aus einer beliebigen deutschen Großstadt kommen können. Im Winter 1916/17 herrschten Unterernährung und Hunger sowohl im Habsburger als auch im Deutschen Reich. Mütter mit ihren Kindern ließen sich von den Gewaltdrohungen der Militärbefehlshaber kaum mehr einschüchtern, verlangten nach auskömmlicher Nahrung, forderten zunehmend „Frieden“. Auch auf Seiten der „Feinde“, der Alliierten, in Paris und London, gab es ähnlichen Aufruhr. Und doch, die Lage auf Seiten der Mittelmächte war bedrohlicher. Gewichtsverluste und zunehmende Gesundheitsprobleme, Tuberkulose und erste Hungerkrankheiten waren im Alltag unübersehbar. Gestorben wurde erst einmal an der Front, doch der Anteil der zivilen Opfer wuchs von Jahr zu Jahr. Während des „Steckrübenwinters“ 1916/17 wurde den meisten Müttern zudem bewusst, dass der Hunger auch ihre Kinder ergriff. Sensibel registrierten sie einen Zivilisationsbruch: Die körperliche Entwicklung ihrer Kinder stagnierte, sie wuchsen nicht mehr recht, legten weniger Gewicht zu, blieben klein.

Das war ein Bruch, den auch wir Nachgeborenen ansatzweise nachvollziehen können. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war es nämlich ausgemacht, dass Kinder etwas größer als ihre Eltern wurden. Die deutschen Recken waren anfangs durchschnittlich nur ca. 1,55 Meter groß, Frauen erreichten zumeist keine 1,50 – doch mit dem Aufstieg des Deutschen Reiches zur Weltmacht wurde nachgelegt, Zentimeter um Zentimeter, ein stetes Wachstum schon vor dem Ersten Weltkrieg. Dieser Trend ist ungebrochen, auch wenn er sich in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt hat. Der Mikrozensus von 2017 weist in der Bundesrepublik Deutschland eine durchschnittliche Größe von 1,79 Meter (Männer) bzw. 1,66 Meter (Frauen) aus, während 18-20-Jährige 1,81 respektive 1,68 erreichen (Körpermaße der Bevölkerung 2017, hg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2018, 11). Diese Werte werden heute zudem meist bei Volljährigkeit erreicht, also deutlich früher als noch vor hundert Jahren, als man noch mit 20 oder auch 22, 23 Jahren etwas wuchs. Mit dem Größenwachstum veränderte sich im Laufe der letzten anderthalb Jahrhunderte auch die Gestalt der Menschen, denn die Gewichtszunahme erfolgte nicht proportional, sondern blieb deutlich hinter dem Längenwachstum zurück. Trotz weit verbreitetem und noch stärker beklagtem Übergewicht sind die Bundesbürger heutzutage durchschnittlich schmaler und „schlanker“ als die der Bürger des Kaiserreichs. Über die Ursachen dieser Entwicklung, dieser „Akzeleration“, streiten die Experten. Die verbesserte Wohnsituation, der wachsende Umfang ärztlicher Betreuung, der Rückgang körperlich schwerer Arbeiten und längere Ausbildungszeiten waren und sind wichtig. Entscheidend aber dürfte die veränderte und verbesserte Ernährung seit Ende des 19. Jahrhunderts sein. Stetes und auskömmliches Essen ist und war für die Körperentwicklung entscheidend – und just das mussten unsere Vorfahren leidvoll während der Kriege und wirtschaftlicher Krisen erfahren. Der Kampf um auskömmliches Essen war für die Mütter auch ein Kampf für das Wachstum ihrer Kinder (Fritz Hoppe, Kriegsjugend und Hungerfolgen, Archiv für soziale Hygiene NF 2, 1926/27, 534-545; Größe und Gewicht der Schulkinder […], Berlin 1924).

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Erwartet und geliebt – Eloge auf ein Kriegskind (Fliegende Blätter 146, 1917, 225)

Kriegsernährung, Unterernährung und „Übersterblichkeit“

Die Rahmenbedingungen für auskömmliches und stetes Essen sanken seit dem Kriegsbeginn im August 1914. Vorrangig die britische Flotte riegelte das Deutsche Reich vom Weltmarkt ab. Das galt nicht nur für die Nord- und Ostsee, sondern zunehmend auch für den Handel mit Neutralen, für die Versorgung über das Mittelmeer oder die Donau. Und doch, die andauernde, im Winter 1916/17 lediglich kumulierende Versorgungskrise war großenteils selbstgemacht. Die Rationierung der Nahrungsmittel erfolgte halbherzig, ohne klaren Plan, ohne Vorbereitung. Die Bevölkerung wurde dreigeteilt – Soldaten, ländliche Selbstversorger und städtische Rationenempfänger –, jede Gruppe erhielt unterschiedliche Sätze, war unterschiedlich betroffen, zumal Städte und Industriebetriebe im Wettbewerb um Nahrung standen und die Preise ansteigen ließen, administrierten „Höchstpreisen“ zum Trotz. Landwirtschaftliche Interessen fanden Widerhall beim monarchisch-konservativen Machtstaat, kaum dagegen die Interessen der fremdversorgten Konsumenten. Der ineffizienten und dumpf-bürokratischen Kriegsernährungspolitik gelang es seit spätestens 1916 nicht mehr, den physiologischen Bedarf an Nahrungsmitteln in den Städten zu decken. Die Folgen waren verheerend, auch wenn die Menschen nicht direkt verhungerten. Immer geringere Rationen deckten in den Großstädten und Industriegebieten seit 1916 nur mehr zwei Drittel des Lebensnotwendigen: Das bedeutete täglich 1.500 bis 1.600 Kilokalorien – wenn sie denn geliefert wurden: Im westfälischen Münster erhielten die Bürger – trotz eines leistungsfähigen Agrarumlandes – 1918 lediglich täglich 1.409 Kilokalorien zugewiesen (Anne Roerkohl, Hungerblockade und Heimatfront […], Stuttgart 1991, 291, Anm. 12). Hamstern oder Hungern war die bedrückende Alternative, Rechtsbrüche wurden aufgrund staatlicher Ineffizienz üblich. Parallel veränderte sich die Zusammensetzung der Speisen: Es fehlte vor allem an Eiweiß und Fett, beides wesentlich für das Wachstum der Kinder. Vitaminträger wie Obst, Gemüse und Milch wurden aus dem täglichen Speiseplan verbannt. Selten zugewiesene Kindermilch war häufig sauer (F[ranz] Bumm (Hg.), Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluss des Weltkrieges, Halbbd. I und II, Stuttgart, Berlin u. Leipzig 1928).

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Bittere Alternativen lustig gewendet: Ohne landwirtschaftliche Produktion kommt der Leichenwagen (Lustige Blätter 31, 1916, Nr. 35, 5)

Als die erschöpften, zu längerfristigem Widerstand nicht mehr fähigen deutschen Truppen am 11. November 1918 kapitulierten, wurde im Waffenstillstand eigens festgeschrieben, dass die völkerrechtswidrige Seeblockade Großbritannien fortgesetzt würde. Offizielle deutsche Angaben gingen von 763.000 zivile Opfer der Blockade aus (Schädigung der deutschen Volkskraft durch die feindliche Blockade, o.O. o.J. (1919), 17). Diese aus der statistischen Übersterblichkeit errechnete Zahl war weit überhöht, waren doch etwa die Grippetoten nicht auf die „Hungerblockade“ zurückzuführen. Auch die Folgen des massiven Kohlemangels zumal im eiskalten Winter 1917 sind in Rechnung zu stellen. Realistisch war eine „Übersterblichkeit“ von ca. 424.000 Personen ([Emil] Roesle, Die Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse, in: Bumm (Hg.), 1928, Halbbd. I, 1-61, hier 28). In dieser Zahl inbegriffen sind mehr als 60.000 Insassen in psychiatrischen Anstalten, die durch bewusste Vernachlässigung ums Leben kamen (Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie, Freiburg i. Br. 1998, 67). Die Unterernährung betraf allerdings fast die gesamte Bevölkerung, konnten in der Spätphase des Krieges doch nicht einmal die an sich bevorzugten Soldaten ausreichend ernährt werden (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 251-263). Diese Folgen war spürbar und sichtbar, prägten und lähmten den Alltag fast aller: Der Berliner Physiologen Max Rubner (1854-1932) errechnete, dass der Durchschnittsdeutsche Ende 1917 lediglich 49 Kilogramm wog. 1913 hatte dieser Wert noch etwa 60 Kilogramm betragen. Das war ein durchschnittlicher Verlust von fast 20 Prozent des Körpergewichtes (Einfluss der Kriegsverhältnisse auf den Gesundheitszustand im Deutschen Reich, Münchener Medizinische Wochenschrift 67, 1920, 229-242, hier 235).

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Fette Lügen: Beschwichtigungskarikatur zur britischen „Aushungerung“ (Fliegende Blätter 142, 1915, 204)

Nahrungsfürsorge für die Kinder

Die Kriegsnahrung war „im Gesamtbrennwert herabgesetzt, sie ist eine eiweißarme, fettarme, vorwiegend vegetabilische Kost von geringer Auswahl wie früher“ (H[ermann] Determann, Die Bedeutung der Kriegsernährung für Stoffwechsel und Gesundheit, Zeitschrift für physikalische und diätetische Therapie 23, 1919, 1-14, 49-65, 92-108, 237-248, hier 1). Die Folgen für die Zivilbevölkerung waren tiefgreifend, wurden aber von den kriegführenden Militärs und Politikern in Kauf genommen, von manchen Vegetariern und Medizinern gar als stählerner Jungbrunnen gepriesen: Bis 1916 war der generelle Tenor, dass „bisher von einer Beeinträchtigung der Gesundheit und Kraft der Kinder höchstens in Ausnahmefällen die Rede sein.“ Ja, die Nahrungsmenge habe sich reduziert: „Durch die Beschränkung schein indes – und das ist das allein maßgebend – die Grenze der physiologisch für Gesundheit und Wachstum notwendigen Ernährung allgemein nicht unterschritten zu sein.“ Der drohenden Gefahren war man sich klar: „Wir müssen […] unter allen Umständen und um jeden Preis dafür sorgen, daß auch während der fernern Kriegsdauer die Gesundheit und die körperliche Entwicklung unserer Jugend keine Schädigung erfährt.“ Dabei waren Schulen und Schulärzte in der Pflicht: „Die Schulen müssen den Ernährungs- und Kräftezustand ihrer Kinder dauern sorgsam beobachten und bei eintretender Verschlechterung sofort eingreifen. Sie müssen im letzteren Falle zunächst durch Aufklärung und Ermahnung der Angehörigen der Kinder, durch positive Ratschläge zu rationellster Lebens- und Nährweise, Abhilfe zu schaffen suchen; wo dieses Mittel aber versagt – infolge mangelnden Verständnisses, mangelnder Zeit und vor allem mangelnder finanzieller Leistungsfähigkeit – werden sie äußerstenfalls öffentliche Ernährungshilfe (Schulspeisungen) zu vermitteln haben. Die Mittel dazu müssen beschafft werden. Eine auch nur einigermaßen häufige Unterernährung unserer Schuljugend als Kriegsfolge darf es nicht geben und wird es nicht geben“ (Die Ernährung der Kinder im Kriege, Kölnische Zeitung 1916, Ausg. v. 10. Februar). Man war sich der Gefahren für die Kinder also mehr als bewusst: Als wachsende, sich entwickelnde Wesen konnten sie nicht einfach Fettreserven aufbrauchen. Unterernährung würde zu Entwicklungsrückständen führen. Noch aber schienen die Gefahren überschaubar, es war halt Krieg: „Das ist der Krieg, der schreckliche Krieg, / Und was wir leiden, der Preis für den Sieg“ (Heinrich Tiwald, Die deutsche Mutter zu ihrem Kinde, Österreichische Volkszeitung 1916, Ausg. v. 22. April).

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Propaganda an der Heimatfront: Germania und Kriegsernährungsamtsleiter Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe (1868-1944) nähren die deutschen Kinder (Lustige Blätter 31, 1916, Nr. 40, 2)

Und in der Tat, an die jüngeren Kinder glaubte man gedacht zu haben. Sonderrationen wurden ausgegeben und realistisch zynisch kalkulierte man mit der Leidenskraft und Opferwilligkeit der Mütter, die ihre älteren Kinder schon versorgen würden. Neugeborene besaßen in den ersten beiden Lebensjahren einen Anspruch auf einen, dann auf dreiviertel Liter Milch pro Tag. Für zwei- bis sechsjährige Kinder sank die Milchration rasch auf ein Viertel Liter, während ältere Kinder Milch nur im Krankheitsfalle auf ärztliche Verordnung erhielten (Ad[olf] Czerny, Die Ernährung der deutschen Kinder während des Weltkrieges, Monatsschrift für Kinderheilkunde 21, 1921, 2-13, hier 6-7). Formal aber waren Kinder bis zum 10. Lebensjahr über Gebühr versorgt, erhielten sie doch die Erwachsenenration (M[einhard] Pfaundler, Ration und Bedarf an Nährstoffen für Kinder, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 173-174, hier 173). Anschließend aber konnten sie ihren Bedarf durch die offiziellen Rationen nicht mehr decken, mussten ihn also durch nicht rationierte Nahrungsmittel, durch Schwarzmarkt- oder Hamsterware ergänzen. Die 1916 einsetzende Stadt-Landverschickung der Kinder sollte die Nährungssituation bessern, doch eine an sich angestrebte „Auffütterung“ war damit keineswegs gesichert (Roerkohl, 1991, 299-301). Das galt ebenso für die langsam ausgebauten Schulspeisungen, die jedoch vielfach auf ideologische Vorbehalte trafen – die Familie hatte zu sorgen, nicht die Gemeinschaft – und für die häufig nur unzureichende Mittel und Nahrung bereit standen. So sehr man sich also des Sonderanspruchs der Unmündigen auf Schutz durch die Gesellschaft bewusst war, so begrenzt waren doch die Maßnahmen und Möglichkeiten.

Ernüchternder Realismus

Während die Mehrzahl der Ärzte noch beruhigende und verfälschende Berichte über die gesundheitliche Situation an der „Heimatfront“ veröffentlichten – „Die Aerzte hätten sich nicht zu solchen Darstellungen hergeben sollen“ (G[ustav] Tugendreich, Die Wirkung der englischen Hungerblockade auf die deutschen Kinder, Deutsche Medizinische Wochenschrift 45, 1919, 806-807, hier 807) – zeigten sich jedoch schon 1915 erste Risse im Propagandabild der stählernen Nation. Das äußere Erscheinungsbild vieler Kinder gab Anlass zu Besorgnis, Blässe und Mattigkeit nahmen zu ([Wilhelm] Hanauer, Kinderernährung und Krieg, Frankfurter Zeitung 1916, Ausg. v. 26. Mai). Untersuchungen Berliner Säuglingen ließen erahnen, dass sich die „Kriegsneugeborenen“ von den Friedenskindern unterschieden (Sigismund Peller, Die Maße der Neugeborenen und die Kriegsernährung der Schwangeren, Deutsche Medizinische Wochenschrift 43, 1917, 178-180: Ders., Rückgang der Geburtsmaße als Folge der Kriegsernährung, Wiener klinische Wochenschrift 32, 1919, 758-761).

Das Geburtsgewicht näherte sich der später unterschrittenen Drei-Kilogramm-Schwelle und die Körperlänge sank unter 50 Zentimeter. Wirkte sich somit die schlechte Versorgung der Schwangeren und der Mütter – Fettarmut der Muttermilch – direkt auf die Körper der Säuglinge aus, so verlangsame sich bei den Klein- und Schulkindern lediglich der Gewichtszuwachs. Es schien sich bei der Masse der Kinder doch zu bestätigen, was erste Tierversuche noch 1914 ergeben hatten: Das Längenwachstum erfolge ohne Rücksicht auf die Ernährung und eher gehe ein Organismus zugrunde, als dass er aufhöre zu wachsen (Hans Aron, Untersuchungen über die Beeinflussung des Wachstums durch die Ernährung, Berliner klinische Wochenschrift 51, 1914, 972-977). Doch bald schon sollte diesem Wunschdenken ein neuer Realismus entgegentreten: Zuerst traten noch relativ begrenzte Gewichtsverluste auf – immer in Bezug zu der durch Normzahlen näher umrissenen Standardentwicklung eines Kindes. Sie blieben allerdings begrenzt, wurden nicht wirklich wahrgenommen, da es sich ja um ein Zurückbleiben eines weiterhin wachsenden Körpers war. Anschließend traten jedoch auch Längeneinbußen auf. Anders als Gewichtsverluste ließen sie sich aber nur auf längere Sicht – und dann nicht vollständig – reparieren.

Ein Jahr später, 1916, zeigte sich jedoch, wie verfehlt diese Hoffnungen auf die Wachstumskräfte des kindlichen Körpers waren. Umfangreiche Messungen etwa in Straßburg ergaben, dass Klein- und Schulkinder rund einen Zentimeter kleiner waren als ihre wenige Jahre vorher geborenen Vorgänger (Eugen Schlesinger, Der Einfluß der durch die Kriegslage veränderten Ernährung auf die schulpflichtige und heranwachsende Jugend, Archiv für Kinderheilkunde 66, 1918, 161-179). Und nach dem berüchtigten „Steckrübenwinter“ 1916/17 war der Tenor der medizinischen Fachzeitschriften trotz abdämpfender Zensur eindeutig: Der Hunger fraß sich in die Körper der Kinder. Nun maß man, von Region zu Region variierend, Längeneinbußen von zwei bis vier Zentimeter. Knaben nahmen dabei stärker ab als Mädchen. Soziale Unterschiede verringerten sich: Die Kinder aus Mittel- und Oberschichten konnten ihren Vorsprung gegenüber den Unterschichten zwar halten, er reduzierte sich jedoch von zwei bis vier Zentimeter auf ein bis zwei. Auch das Gewicht nahm um acht bis zwölf Prozent ab (Eugen Schlesinger, Wachstum, Ernährungszustand und Entwicklungsstörungen der Kinder nach dem Kriege bis 1923, Zeitschrift für Kinderheilkunde 37, 1924, 311-324).

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Eine Knabenklasse im sächsischen Werdau (Walter Eschbach, Kinderelend – Jugendnot, völlig neu bearb. Aufl., Berlin 1924, 25)

Die dezentral, meist in einzelnen Städten, teils nur in wenigen Schulen erhobenen Daten enthielten Durchschnittsziffern, versuchten dergestalt die Entwicklungsrückstände zu objektivieren. Und doch traf die Mangelernährung die Kinder unterschiedlich. 1917 nahm die Zahl ausgesprochen kleiner Schüler unter den Schulanfängern sowohl in Volksschulen als auch in Gymnasien beträchtlich zu, kurz darauf waren zudem 13-Jährige davon betroffen (Eugen Schlesinger, Wachstum und Gewicht der Kinder und herangewachsenen Jugend während des Krieges, Münchener Medizinische Wochenschrift 66, 1919, 662-664, hier 662). Auffallend war auch ein wachsender Anteil disproportional wachsender Schüler, bei denen Längen- und Gewichtswachstum auseinandertraten: Kleine kompakte und spindeldürr hochgeschossene Kinder prägten viele Schulklassen, fette propere fehlten. Die Zahl der „tadellosen, gut entwickelten Knaben“, und mit Abstand auch Mädchen, nahm deutlich ab (Eugen Schlesinger, Der Einfluss der Kriegskost im dritten Kriegsjahr auf die Kinder im Schulalter und die herangewachsene Jugend, ebd. 64, 1917, 1505-1507, hier 1507). Generell blieb das Längenwachstum relativ hinter der Gewichtszunahme zurück. Ersteres wurde auf mangelnde Eiweiß-, letzteres auf die stark zurückgegangene Fettzufuhr zurückgeführt. Zu bedenken ist, dass die nachwachsende Generation eben noch nicht über die Körperreserven der Erwachsenen verfügte. Entsprechend erreichte der Gewichtsverlust ein Drittel (Schüler) bis die Hälfte (Jugendliche) der der Erwachsenen, die bis Kriegsende ja durchschnittlich ein Fünftel ihrer Körpersubstanz verloren.

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Krumme Beine, Gelenkschäden und übergroße Köpfe: Kinder auf einem Berliner Spielplatz (Das Buch für Alle 57, 1922, H. 1, 14)

Voll Sorge blickten verhärmte Eltern, meist Mütter, nun auf ihre Zöglinge, denn der Körperschwund war Anzeichen tiefer greifender Ernährungsstörungen: So schnellte die Zahl der Vitamin-D-Mangelkrankheit Rachitis in München zwischen 1913 und 1924 von unter 5 Prozent auf etwa 25 Prozent hoch. Rund 30 Prozent der Kinder wiesen deutliche Verkrümmungen an Rumpf und Beinen auf – ein nicht unüblicher Wert, wies doch der Regierungsbezirk Münster ebenfalls 25 Prozent Rachitisfälle auf (L[eo] Langstein und F[ritz] Rott, Der Gesundheitsstand unter den Säuglingen und Kleinkindern, in: Bumm (Hg.), 1928, Halbbd. I, 87-114, hier 99-100).

Und die Kinder? Zeugnisse sind selten, doch Erwachsene nahmen sich ihrer Sorgen durchaus an. Heinrich Zille fasste sie in eine Zeichnung einer ärmlichen Einzimmerwohnung, in der die Mutter auf dem Herd Wäsche kochte. Der auf ihrem Arm sitzende Kleine fragte: „Mutta, wat kochste denn da?“ – „Wäsche, du Dummlack!“ – „Schmeckt’n det jut?“ (Ulk 45, 1916, Nr. 27, 6). Diese Horizontverengung auf Nahrung prägte den Alltag zumal der Jahre 1916 bis 1919.

Doppelte Standards und politische Indienstnahme der „Hungerblockade“

Darbende Kinder, ausgemergelte Körper – das sollte jeden berühren; so dachten 1918 wohl fast alle Deutschen. Sie vergaßen dabei jedoch ihre eigene Unbarmherzigkeit wenige Jahre zuvor. Gustav Hettstetter (1873-1944), ein später im Konzentrationslager Theresienstadt ermordeter Schriftsteller, ließ in den „Lustigen Blätter“ seinem eliminatorischen Hass gegen das britische Weltreich freien Lauf – und tausende und abertausende von Bildungsbürgern stimmten dem in eigenen Gedichten zu.

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Hungerkrieg gegen Großbritannien (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 9, 6)

Dichter und Militärs setzten dabei auf die bei Kriegsbeginn noch kaum beachtete U-Boot-Waffe, durch die dem von Nahrungszufuhren noch stärker abhängigen Großbritannien der Brotkorb höher gehängt werden sollte, durch die man den Gegner – auf Kosten der Zivilbevölkerung – in die Knie zwingen wollte. Der deutschen Propaganda gelang es ab 1916, die ineffiziente Ernährungspolitik in den Hintergrund zu drängen und die offenbaren Folgen fehlender Nahrung als Folge primär der völkerrechtswidrigen britischen Seeblockade darzustellen. Dies schuf den Nährboden für eine wachsende öffentliche Zustimmung zum „uneingeschränkten“ U-Boot-Krieg 1917, durch den man gleiches mit gleichem vergelten wollte. Großbritannien sollte der Schmachtriemen angezogen, der Feind durch die Versenkung der Zufuhren zur Aufgabe bewogen werden. Die USA nutzten dies 1917, um auch formal in den Krieg einzutreten.

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U-Boote zwischen Kinderersatz und apokalyptischem Erfüller (Ulk 43, 1914, Nr. 45 (l.); Ulk 45, 1916, Nr. 50)

Nach der deutschen Kapitulation wurde die „Hungerblockade“ zu einem wichtigen Argument für einen möglichst milden Frieden und politische Rückendeckung bei den Neutralen (Die Aushungerung Deutschlands, Berliner klinische Wochenschrift 56, 1919, 1-9). Max Rubner stand dabei an vorderster Heimatfront, er, der schon während des Krieges die Gesundheitsgefahren von Erwachsenen und Kindern in Gutachten benannt hatte, er, dessen zwei Söhne als Soldaten starben, er, der sich lange weigerte, mehr als die ihm zustehenden Rationen zu verzehren. Er sprach von einer „Halbhungertortur“ durch die Alliierten und forderte die Aufhebung der Blockade, um weiteren Schaden zumal von den Jüngeren abzuwenden ([Max] Rubner, Die Opfer der Blockade, Deutsche Allgemeine Zeitung 1919, Nr. 46 v. 29. Januar, 1-2, hier 1): „Zuerst ergriff die steigende Sterblichkeit die älteren Altersklassen vom 50. Lebensjahre ab, dann aber auch die jüngeren Jahrzehnte, ferner die Jugendlichen, endlich auch die jüngsten Altersstufen. Beobachtungen der allerletzten Zeit lassen gar nicht verkennen, daß auch die Säuglinge an der Mutterbrust in ihrem Gedeihen bereits getroffen sind. Im allgemeinen kann man sagen, daß bei Hunderttausenden und Millionen Menschen der Körper durch die ungenügende Kost allmählich so hinfällig wurde, daß alle möglichen Krankheiten, die sonst in Genesung ausgingen zum Tode führen.“ Rubner schmiedete daraus eine politische Waffe, die von der großen Mehrzahl der Deutschen aller politischen Richtungen hochgehalten wurde. Nährschäden wurden quantifiziert, die volkswirtschaftlichen Kosten der Blockade auf 56 Mrd. Mark beziffert (ebd., 2). Sie sollten von den zu erwartenden Reparationszahlungen abgezogen werden (Wirkungen der Hungerblockade auf die Volksgesundheit, Soziale Praxis 28, 1919, Sp. 443-446, hier Sp. 446). Der propagandistische Dokumentarfilm „Die Wirkung der Hungerblockade auf die Volksgesundheit“ unterstützte diese Deutung, ging es doch immer auch um politisch verwertbare Bilder (Wolfgang U. Eckart, Kino, Hunger, „Rassenschmach“. Exemplarische Dokumentar- und Propagandafilme aus dem Nachkriegsdeutschland, 1919-1924, in: Philipp Osten et al. (Hg.), Das Vorprogramm, Heidelberg 2015, 315-336, hier 320-324).

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Kriegsschuld Hungerblockade – vermeintlich schlimmer als die von deutschen Soldaten begangenen Zerstörungen in Nordfrankreich (Der Wahre Jakob 37, 1920, 9877)

Derartige Rechnungen verkannten jedoch nicht nur die komplexe ernährungspolitische Lage: Die Übersterblichkeit hätte durch eine effizientere Ernährungspolitik und den besonderen Schutz vulnerabler Gruppen, insbesondere von Anstaltsinsassen und Alten, deutlich verringert werden können. Sie zeichneten sich ferner durch eine geringe Empathie gegenüber einzelnen Opfergruppen aus, die wahrheitswidrig zu Blutzeugen nationaler Kraftanstrengungen stilisiert wurden. Das heißt nicht, dass die Trauer angesichts von Übersterblichkeit und Entwicklungsrückständen unbegründet gewesen wäre. Sie war es – und die Kritik des völkerrechtswidrigen Agierens der britischen Regierung war berechtigt. Und das galt um so mehr für die bis Juli 1919 aufrechterhaltene Seeblockade. Rubner schrieb im April 1919, dass die Zahl der an dem seit dem Waffenstillstand bestehenden Nahrungsmangel gestorbenen Menschen „schon wieder über 100000 Menschen“ (M[ax] Rubner, Von der Blockade und Aehnlichem, Deutsche Medizinische Wochenschrift 45, 1919, 393-395, hier 393) betragen habe. Diese Zahl war haltlos, Zeugnis der Bitternis über die erlittene Niederlage, die als Schmach verstanden wurde.

Die „Hungerblockade“ war neben der „Dolchstoßlegende“ das wichtigste Narrativ zur Erklärung der deutschen Niederlage. Je länger, je mehr wurde sie zu einem völkisch-nationalistischen Argument, mit dem die westlichen Besatzungsmächte denunziert werden konnten, mit dem man Begriffe wie „Kindermord“ stetig verband. Während der belgisch-französischen Besetzung des Ruhrgebietes fand sich der Begriff in neuem Kontext (Die französische Hungerblockade, Badische Post 1923, Nr. 176 v. 28. Juni, 2). Im zweiten Weltkrieg war die „Hungerblockade“ ein wichtiges Element der nationalsozialistischen Kriegspropaganda. Die überhöhte Zahl der fast 800.000 „Hungertoten“ findet sich gleichwohl bis heute in zahlreichen historischen Darstellungen. Selbst ein so seriöser Kenner wie der Freiburger Historiker Jörn Leonhard schrieb in seiner jüngsten Gesamtdarstellung des Krieges ohne solide Belege von bis zu 700.000 direkt oder indirekt durch Unterversorgung Verstorbenen (Die Büchse der Pandora, 4. durchges. Aufl., München 2014, 518).

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Anklage gegen die Entente (Simplicissimus 24, 1919-20, 231)

1919/20 wurde die „Hungerblockade“ jedoch nicht nur in völkisch-nationalistischen Kreise beklagt. Überall „wartet man sehnlichst auf die Aufhebung der Blockade und verspricht sich dann von ihr die Rettung. Wird aber, kann aber die Aufhebung der Blockade das Allheilmittel sein, das man in ihr erblickt, wird ausreichende Ernährung allein alles wieder gutmachen können, was dieser unselige Krieg an unseren Kindern verbrochen hat?“ (Heinrich Keller, Was muß jetzt für unsere Kinder geschehen?, Arbeiterzeitung 1919, Ausg. v. 23. März) Auch die sozialdemokratische Sozialpolitikerin Henriette Fürth (1861-1938) schrieb 1919 fatalistisch und verzweifelt: „Was sich uns da vor Augen stellt, ist düster und hoffnungslos genug. Das Grausige aber kommt noch. Die unerhörte, so ganz unmenschliche, durch keinerlei sog. Kriegsnotwendigkeit gerechtfertigte Aushungerungspolitik nach dem Kriege, in der Zeit des Waffenstillstandes und nach Friedensschluß ist nicht anders zu qualifizieren denn als Menschenmord, der als ein ewiger, untilgbarer Fluch auf denen lasten wird, die ihn verschuldet haben. Diese Nachkriegsmarter hat das tiefste Mark unseres Volkes zerstörend angegriffen“ (Statistische Nachdenklichkeiten, Soziale Praxis 29, 1919/20, Sp. 1100-1101, hier 1101). Dass ein Ende der Blockade erst einmal wenig am Nahrungsmangel geändert hätte, wurde dabei schlicht ignoriert – ebenso wie das britische Kalkül über wirksame Faustpfänder in den Friedensverhandlungen. Schätzungen für die „Wiederauffütterung“ gingen jedenfalls von 294 Tagen bei einer Zufuhr eiweißreicher animalischer Kost aus bzw. 1097 Tagen bei dominanter Getreidezufuhr (G[otthold] Mamlock, Die Blockade-Denkschrift des Reichsgesundheitsamtes, Zeitschrift für physikalische und diätetische Therapie 23, 1919, 213-215, hier 215).

Kontinuität der Entwicklungsrückstände auch nach Kriegsende

Die Ernährungsprobleme blieben 1919/20 bestehen, verminderten sich auch nach dem Ende der Seeblockade nur ansatzweise. Die Nährschäden wuchsen weiter, auch die Entwicklungsrückstände der Kriegskinder nahmen weiter zu. Die neue Generation der Kriegskinder war rund drei bis fünf Zentimeter kleiner als ihre altersgleichen Vorgänger, in besonders stark geschädigten Gebieten betrugen die Längenunterschiede bis zu acht Zentimeter. Das Durchschnittsgewicht lag je nach Alter um zwei bis fünf Kilogramm hinter dem der Friedenskinder. Rechnet man diesen Wert auf die heutigen, durchweg properen und längeren Kinder um, so betrug das relative Mindergewicht fünfeinhalb bis vierzehn Pfund. Selbst in ländlichen Gebieten, die teilweise erst nach Kriegsende Versorgungsprobleme aufwiesen, waren ernste Schädigungen nicht mehr zu übersehen (vgl. Das Kinderelend in Deutschland, Soziale Praxis 29, 1919/20, Sp 997; Otto Blum, Die Ernährungsverhältnisse der kleinstädtischen und ländlichen Bevölkerung während der Krisenzeit, Med. Diss. München 1917). Die Rückfragen wurden entsprechend drängender, grundsätzlicher: „Was für Hoffnung besteht auf einen Wiederaufbau der Welt, wenn die Kinder Europas, die überleben, von Rachitis und Tuberkulose so geschwächt sind, daß ihr Leben nur ein halbes Leben ist? […] Wie kann die Welt von Völkern wieder aufgebaut werden, die in ihrer Lebenskraft so schwer erschüttert sind? Denn es handelt sich nicht nur um die Lebenden, sondern um die degenerierten Nachkömmlinge der heute Lebenden. Wir fragen mit Entsetzen, was für eine Zivilisation von dieser wachsenden Masse menschlichen Elends ausgehen soll“ (Das Kinderelend in Mitteleuropa, Vorwärts 1919, Nr. 336 v. 4. Juli, 2).

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Zurückgebliebene und unterentwickelte Säuglinge und Jugendliche (Zeitbilder 1920, Nr. 10 v. 7. März, 2)

Allerdings hofften die meisten Ärzte auf eine gleichsam natürliche Gegenreaktion: „Herabgesetzter Ernährungszustand und damit Magerkeit ist noch keine Krankheit. Bedenklich wird der Zustand erst dann, wenn sich tatsächlich durch die Ernährungsknappheit und Ernährungsveränderungen Krankheitserscheinungen einstellen“ ([Adolf] Thiele, Für die „gefährdeten“ Jugendlichen, Soziale Praxis 27, 1917/18, Sp. 73-76, hier Sp. 75). Hier aber waren die Kinder weniger betroffen als Alte oder auch berufstätige Erwachsene. Die Säuglingssterblichkeit war während des Krieges anfangs zurückgegangen, erreichte erst gegen Kriegsende höhere Margen. Typische Kinderkrankheiten stagnierten auf einem nicht geringen Niveau. Der weiter bestehende Milchmangel führte zu „auffällig blassen und blutarmen“ Kindern, Rachitisfälle nahmen massiv zu, ebenso die vielfach tödliche Tuberkulose. Die gesundheitlichen Verhältnisse und der körperliche Zustand der Kinder verbesserten sich erst in der zweiten Hälfte 1921 und dann 1922, ehe die Hyperinflation neuerlich mit lokal teils massiver Unterernährung verbunden war: „Standen auch zwar Lebensmittel wieder in reichlicherer Menge zur Verfügung, so machten doch die unerschwinglich hohen Preise eine ausreichende Ernährung für weiteste Bevölkerungskreise unmöglich“ (Vonessen, Der Ernährungszustand von Cölner Schulkindern, Öffentliche Gesundheitspflege 6, 1921, 196-209, hier 197).

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Reisetourismus der Genährten: Deutsche Politiker und schwedische Experten besuchen unterernährte Kinder im Berliner Virchow-Krankenhaus (heute: Charité) (Zeitbilder 1919, Nr. 13 v. 13. April, 2)

Hilfe war erforderlich. Sie kam anfangs, 1919/20, aus vielen neutralen europäischen Staaten, aus der Schweiz und den Niederlanden, aus Dänemark und Schweden. Mit gewissem Zeitverzug setzte die Hilfe aus den USA ein, die während des Krieges schon die belgische Zivilbevölkerung unter deutscher Besatzungsherrschaft versorgt hatten. Es waren vor allem Quäker, viele Deutschamerikaner und dann auch Regierungsstellen, die erst der Kindernot in Wien und Deutschösterreich, dann auch der im Deutschen Reich konkrete Hilfe entgegensetzten. Nicht Feinde wurden gespeist, sondern unterernährte und zurückgebliebene Kinder. Bis 1922 wurden 290 Millionen nährende Mahlzeiten ausgegeben, bis 1925 – nun im Rahmen eines deutsch-amerikanischen Gemeinschaftswerkes – insgesamt fast 700 Millionen. Vor dem Hintergrund einer sich insgesamt bessernden Versorgungslage konnten so die Ernährungsschäden begrenzt werden, auch wenn die Hyperinflation 1922/23 viele Bemühungen wieder zunichtemachte (Eugen Schlesinger, Ergebnisse der Quäkerspeisung, Concordia 27, 1920, 182-184). Erst die Jahrgänge seit 1924 wiesen keine Körperschädigungen mehr auf (Heinrich Davidsohn, Untersuchungen über die Reparation unterernährten Kinder, Klinische Wochenschrift 1, 1922, 2483-2486; Georg Wolff, Kriegsunterernährung und Grössenwachstum […], ebd. 9, 1930, 1778-1783).

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Normalisierung: Körpergewicht Münchener Schulkinder (links Knaben, rechts Mädchen) 1923-1926 (Wilhelm Gieseler und Fritz Bach, Die Münchener Schulkinderuntersuchungen in den Jahren 1925 und 1926, Anthropologischer Anzeiger 4, 1927, 120-131, hier 124)

Entwicklungsrückstände als wissenschaftliches Problem

Unterernährung, Hunger und Entwicklungsrückstände sind allesamt Resultate breit angelegter wissenschaftlicher Expertise. Die Referenzdaten stammten zumeist von Schulärzten, von Pädiatern, Schulärzten und Anthropologen. Für sie war die Ernährungskrise eine wissenschaftliche Herausforderung, „ein Experiment größten Stils über die Zeichen und Folgen der Unterernährung“ (Ad[olf] Czerny und A[rthur] Keller, Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie, Bd. II, 2. vollkommen umgearb. Aufl., Leipzig und Wien 1928, 299). Ihre Aufgabe war es, bestehende Problemlagen zu objektivieren, nachdem sie diese lange bewusst ausgeblendet hatten. Bleiche Gesichter und ausgemergelte Körper hatten als solche eben keine Beweisqualität, mögen sie auch jeden ansprechen und berühren. Allgemeine Einschätzungen, etwa von großer Magerkeit, einer zurückbleibenden Größe und muskulären Stärke sowie einer gewissen „Schlaffheit“ (Richard Hamburger, Die Ernährung der deutschen Kinder in der Kriegszeit und der Gegenwart, Zeitschrift für Krankenpflege 1, 1919, 129-142, hier 141), waren nicht nur reale Beschreibungen, sondern standen auch in einer Tradition der Geringschätzung und Maßregelung der breiten Mehrzahl der arbeitenden Bevölkerung durch die noch relativ kleine Zahl großenteils wohlsituierter Experten. Parallel wurden ja zehntausende Kranke wieder arbeits- und frontverwendungsfähig geschrieben, nahm die Mehrzahl keine rechte Notiz von den zehntausenden Anstaltsinsassen, die man schlicht verhungern ließ, verweigerten viele Ärzte Kindern Atteste für Milchzuschläge.

Weltkrieg und Nachkriegszeit bewirkten eine massive Professionalisierung der Kinderheilkunde. Die noch im späten 19. Jahrhundert in der Pädiatrie weit verbreitete präzise Schilderung von Einzelfällen trat zunehmend in den Hintergrund, der Einzelne ging fast durchweg in der statistischen Masse auf. Fachwissenschaftlich waren die umfangreichen Reihenuntersuchungen sowohl während des Krieges als auch in der Nachkriegszeit mit intensiven Methodendiskussionen verbunden, vom Vordringen mathematischer Modelle begleitet, wobei am Ende übrigens auch eine neuerliche Wertschätzung der ärztlichen Einzelfalldiagnostik stand.

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Durchschnittswerte in Tabellenform: Ergebnisse der Messungen und Wägungen von 2742 Schülern der Bürgerschule in Apolda 1920 (Jaenicke, Der Einfluss der Kriegsernährung auf die Körperbeschaffenheit der Schulkinder in Apolda und der Rohrersche Index, Öffentliche Gesundheitspflege 76, 1921, 181-186, hier 183)

Damit einher gingen neue Formen der Visualisierung wissenschaftlicher Daten. Tabellen nahmen weiterhin breiten Raum ein, in ihnen manifestierte sich der große Aufwand der Messungen und Wägungen. Sie wurden zunehmend ergänzt durch Häufigkeitstabellen, zumal beim Vergleich von Normdaten „normaler“ körperlicher Entwicklungen mit den Messergebnissen. Sie gaben zugleich einen besseren Eindruck über die Dynamik körperlichen Geschehens.

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Körperlängen Berliner Waisenhauskinder 1919 (I = Knaben, II = Mädchen) im Vergleich zu den damals meist herangezogenen Camererschen Daten zur Normalentwicklung (Heinrich Davidsohn, Die Wirkung der Aushungerung Deutschlands auf die Berliner Kinder […], Zeitschrift für Kinderheilkunde 21, 1919, 349-407, hier 389)

Während Balkendiagramme eher selten waren (Richard Maron, Der Einfluß der Ernährungsverhältnisse im Kriege auf den körperlichen Entwicklungszustand der Neugeborenen, Berlin 1918), wurden die Daten zunehmend in Liliendiagramme gebannt. Auch wenn es sich dabei um eine noch abstraktere Form der Präsentation handelte, erschienen sie doch als gleichsam nachvollziehbares Abbild des Geschehens. Obwohl die Mehrzahl der Ärzte als Fachleute für Fachleute schrieb, zielte sie zugleich aber auf bessere Verständlichkeit. So lag das Längenwachstum der Berliner Waisenkinder 1919 7,2 (Knaben) bzw. 6,4 Prozent (Mädchen) hinter den gängigen Normzahlen zurück – und es bedurfte eines beträchtlichen Abstraktionsvermögens, um daraus korrekte Schlüsse zu ziehen (Davidsohn, 1919, 391). Die gängigen Normdaten stammten nämlich von 1903 und waren in der Vorkriegszeit regelmäßig übertroffen worden (W[ilhelm] Camerer, Gewichts- und Längenwachstum der Kinder, in: M[einhard] Pfaundler und A[rthur] Schlossmann (Hg.), Handbuch der Kinderheilkunde, Bd. I, Hälfte I, Leipzig 1906, 385-400). Sowohl das Liniendiagramm als auch die Durchschnittsziffer konnten dies kaum vermitteln. Einigermaßen anschaulich wurden die Daten erst, verwies man darauf, dass die Knaben im Vergleich zur Normentwicklung anderthalb, die Mädchen dagegen eineinviertel Jahre Entwicklungsrückstand aufwiesen.

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Ärztliche Reihenuntersuchung „unterernährter“ Kinder im Berliner Kinderhaus in der Blumenstraße (Deutsch-Amerika 8, 1922, Nr. 45, 12)

Auch wenn Experten damit versuchten, ihre Ergebnisse einem breiteren Publikum anschaulich zu präsentieren, so blieb ihr zunehmend komplexeres Methodenarsenal jedoch außen vor (Martin, Richtlinien für Körpermessungen, München 1924). Weit vor Tabellen und Diagrammen rangierten vielmehr einschlägige Photos, auch wenn deren Aussagewert vielfach nur eng begrenzt ist. Dünn ist nicht krank, einzelne Kinder bleiben einzelne Kinder. Festzuhalten aber ist, dass die umfangreiche fachliche und öffentliche Debatte über die massiven Entwicklungsrückstände der Kriegskinder die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit tiefgreifend veränderte. Die vielfältigen anthropometrischen Darstellungen und Abbildungen während der NS-Zeit sind Folge auch dieses Wandels.

Gewachsenes Wissen, begrenzter Erkenntnisgewinn

Die Erforschung der Entwicklungsrückstände der deutschen Kinder während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hat fast ein Jahrzehnt ein Großteil der Schulärzte und Anthropologen beschäftigt. Die Ergebnisse waren beachtlich, nicht nur Datenfriedhöfe. Neben dem Nachweis, dass Wachstum nicht allein konstitutionell bedingt, sondern vielmehr durch sog. Umwelteinflüsse wie etwa Ernährung beeinflusst wurde, gab es vor allem vier Hauptergebnisse – auf die nicht alle zuvor eingegangen werden konnte: Erstens gab es bei den Folgen der Unterernährung beträchtliche geschlechtsspezifische Unterschiede, machten sich die Folgen der Unterernährung bei Mädchen doch deutlich geringer bemerkbar als bei Jungen. Dies ging einher mit der insgesamt höheren Verletzlichkeit der männlichen Körper, die in der Medizin bis heute keinen angemessenen Widerhall gefunden hat. Zweitens besaßen die Entwicklungsrückstände eine klare soziale Schlagseite, ist der Körper doch immer auch ein sozialer Marker. Während des Krieges sanken die Größen- und Gewichtsvorteile der wohlhabenderen Schichten überdurchschnittlich, während sie anschließend, auch schon während der Inflationszeit, wieder überdurchschnittlich anstiegen. Drittens waren die Entwicklungsrückstände bei denen besonders groß, die ohnehin schwächlich und kränklich waren. Zeitgenössisch wurde diese quasi eugenische Selektion nicht durchweg verurteilt, sondern als Stärkung des „Volkskörpers“ teils begrüßt. Viertens legten die Daten Unterschiede zwischen den verschiedenen Phasen der Kindheit offen, die eine genauere Unterscheidung zwischen dem Kindergarten-, dem Schulalter und der Pubertät erforderlich machten. Kindheit wie Wachstum waren eben keine linear ablaufenden Prozesse, sondern wiesen unterschiedliche Geschwindigkeiten auf, die zu unterschiedlich ausgeprägten Entwicklungsrückständen führten (Hoppe, 1926-27, 540). Entsprechend waren arithmetische Mittelwerte vielfach irreführend – auch wenn sie griffig zu sein schienen.

Eine große Zahl der Kinder blieb dauerhaft geschädigt, konnte die Entwicklungsrückstände nicht mehr wettmachen. Das galt vor allem für Kinder vor der Pubertät. Langfristig war all dies anthropometrisch unbedeutend, da die Schädigungen keinen unmittelbaren Einfluss auf die Nachkommen hatten (Georg Wolff, Die Nachwirkung der Kriegshungerperiode auf das Schulkinderwachstum, Leipzig 1932, insb. 34-38). Rein rechnerisch kosteten der Erste Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit den Kindern eine Länge von ein bis zwei Zentimeter. Nicht viel – so mag man meinen: „Aber auch wo die Folgen nicht so ernst waren, wird die Erinnerung bei unseren Kindern an die Zeiten kaum verloren gehen, in denen sie den Hunger kennen gelernt haben, in denen ihnen eine erhöhte Brotration zum Ziel ihrer Sehnsucht wurde“ (Ad[olf] Czerny, Die Ernährung der deutschen Kinder während des Weltkrieges, Monatsschrift für Kinderheilkunde 21, 1921, 2-13, hier 13).

Festzuhalten ist schließlich, dass die „objektive“ wissenschaftliche Darstellung der Entwicklungsrückstände der deutschen Kinder zugleich Grundprobleme unseres Umgangs mit Vergangenem anreißt. Die „Hungerblockade“ war eben ein kein rein „objektives“ Thema, sondern hoch emotionalisiert – wer wollte das verurteilen. Sie wurde jedoch zunehmend eine Projektionsfolie, mit deren Hilfe Fehler der deutschen Eliten überdeckt, mit denen zugleich tradierte Feindbilder neu aufgeladen werden konnten. Der Kampf um die kindlichen Körper führte andere Kämpfe von Erwachsenen fort, ließ sie weiter köcheln.

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Zertreten – Käthe Kollwitz, 1900 (Das Ostpreußenblatt 2, 1951, Folge 9, 5)

Vielleicht hilft hier einfach Innehalten: Die Pädagogin Mathilde Vaerting (1884-1977), ab 1923 erste Professorin ihres Faches, vermerkte sachlich trauernd: „Wir haben dem Kriege nicht nur unseren Wohlstand geopfert, sondern auch unsere Gesundheit und damit die Gesundheit unserer spätesten Nachkommen“ (Hungerkinder – Hungerdegeneration, Reichs-Medizinal-Anzeiger 44, 1919, 209-213). Mir selbst kam bei der Niederschrift immer wieder eine Vorstudie zu der um ihr Kind trauernden Arbeiterfamilie von Käthe Kollwitz (1867-1945) in den Sinn. Es gilt hinzuschauen, auch wenn es schmerzt.

Uwe Spiekermann, 15. Mai 2021

Migetti – Ein topffertiges, biologisch vollwertiges Nährmittel der NS-Zeit

Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen herrschte Hochstimmung bei vielen NS-Ernährungsplanern. Nun endlich konnten sie auch öffentlich die Ergebnisse ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten präsentieren. Neuartige Lebensmittel würden, so tönte es, deutsche Soldaten und Arbeiter zu Höchstleistungen an Front und Heimatfront befähigen. Deutsch sollten sie sein, aus heimischen Rohstoffen gefertigt. Gesund sollten sie sein, vitaminreich und biologisch vollwertig. Und schmecken sollten sie, schon einen Abglanz der Volksgemeinschaft nach dem Kriege liefern, die Wohlstand für alle Volksgenossen verhieß.

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Anzeige und Blick in die Produktionsstätte von Migetti 1939 (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, Nr. 19, III (l); ebd., 304)

Eines dieser neuartigen Lebensmittel war Migetti, ein heute vergessenes Nährmittel, das 1939 jedoch die Leistungsfähigkeit deutscher Wissenschaft und Wirtschaft manifestierte: Es war ein „ausschließlich aus einheimischen Rohstoffen hergestelltes Erzeugnis, das als sättigende Hauptkost dienen kann, im weitgehenden Umfang biologisch vollwertig ist und in seinen Eigenschaften etwa Eierteigwaren, Reis oder Sago ähnlich ist“ (Ein neues Nahrungsmittel für die Gemeinschaftsverpflegung, Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, 304). Migetti wurde mit modernen, eigens konstruierten Maschinen vollautomatisch produziert, hygienische Verpackungen behüteten die kleinen Körner. Stolz präsentierte man vor allem das stoffliche Profil: „‚Migetti‘ verhütet Mangelkrankheiten, es enthält genügend Eiweiß und Mineralsalze und die Ausnutzung der Kohlehydrate ist besonders gut, weil es gleichzeitig die für den Kohlehydratstoffwechsel notwendigen Vitamine enthält. ‚Migetti‘ weist keinerlei chemische Zusätze auf und ist auch nicht künstlich gefärbt. […] ‚Migetti‘ verbindet also den Nährwert der Ackererzeugnisse mit dem biologischen Werten der Milch.“ Und mehr noch: Das neue Nährmittel war kochfertig, ein Convenienceprodukt, dass man nur zwei, drei Minuten kochen musste, um es anschließend zu genießen. Deliziös und ingeniös, fürwahr.

Molke als verwertbarer Reststoff

Doch die nationalsozialistische Wissenselite zielte nicht nur auf Volksgenossenbeglückung. Migetti war Teil einer breiten Forschungs- und Entwicklungsinitiative, deren Ziel „Nahrungsfreiheit“ war. Seit Ende des Ersten Weltkrieges, verstärkt noch seit der Weltwirtschaftskrise flossen hohe staatliche Fördersummen in die Agrar- und Ernährungswirtschaft, in Laboratorien und die Absatzketten. Einerseits galt es die Abhängigkeit von devisenträchtigen Importen zu minimieren, anderseits den Anbau und die Verarbeitung heimischer Agrarprodukte zu steigern. Nur so schien ein neuerliches Fiasko wie im Ersten Weltkrieg vermeidbar, als die fehlende Ernährung ein Grund für die Niederlage der Mittelmächte gewesen war. „Nahrungsfreiheit“ war Teil eines machtpolitischen Revisionismus, der den neuerlichen Krieg stets mit einschloss.

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Molke als Verwertungsaufgabe. Die deutsche Milchproduktion 1936 in der Stoffbilanz ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Tafel I)

Das wohl wichtigste Arbeitsfeld war dabei die Milchwirtschaft. Sie war ein Kernelement vor allem der Versorgung mit Fett und Eiweiß, besaß zugleich aber beträchtliches Rationalisierungspotenzial. Trinkmilch-, Butter- und Käseproduktion befanden sich in einem langwierigen Modernisierungsprozess, der nicht allein auf erhöhte Warenmengen zielte, sondern auch auf qualitativ hochwertige und neuartige Lebensmittel. Wichtiger noch für die Ernährungsplaner in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft war dabei, bisher unerschlossene Nahrungsreserven durch neue Technik verfügbar zu machen. Spätestens seit Mitte der 1930er Jahre begann ein durch den Vierjahresplan nochmals intensivierter Ausgriff auf vermeintliche „Restprodukte“, insbesondere auf Magermilch und Molke, das viel beschworene letzte, nur unzureichend verwertete Drittel der Milch.

Bei Molke handelt es sich um die flüssigen, grünlich-gelben Rückstände der Käseverarbeitung. Sie war praktisch fettfrei, jedoch vitamin-, mineralstoff- und milchzuckerhaltig. Schätzungen gingen von jährlich etwa zwei Milliarden Tonnen Molke aus – genaue statistische Daten fehlten –, die vornehmlich an Schweine verfüttert wurden. Mindestens 500 Millionen Tonnen Molke wurden jedoch ungenutzt weggekippt. Diese Nahrungsressource galt es zu nutzen. Seit 1937, also vergleichsweise spät, wurde die Forschung intensiviert, teils im Rahmen von Ressortforschung, teils dezentral in den seit dem Reichsmilchgesetz 1930 rasch zunehmenden leistungsfähigen regionalen Molkereien und Milchhöfen. Molke wurde vom Rest- zum Wertstoff und seit 1939 öffentlich bewirtschaftet. 1943 erfolgten umfassende Begriffsdefinitionen für Molkeprodukte, die damit in das allgemeine Lebensmittelrecht integriert wurden. Der Höhe- und Wendepunkt dieser Förderung war erst das Jahr 1947, in dem sowohl in der amerikanischen (Stuttgarter Plan) als auch der britischen (Hamburger Plan) Besatzungszone die Produktion von Molkenprodukten hohe Priorität besaß (G. v. Flotow, Marktordnung und Bewirtschaftung von Molke, Süddeutsche Molkerei-Zeitung 69, 1948, 82-84).

Zehn Jahre zuvor mussten erst einmal Grundlagen geschaffen werden. Die Forschung konzentrierte sich anfangs auf die Trocknung der Molke. Sie war technisch nicht sonderlich komplex, ergab nach Zumischung von Kleie und Getreideresten auch ein von Schweinen und Geflügel akzeptiertes Futter (G. Schwarz, Milchverarbeitung und -verwertung, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit. Arbeitsbericht 1934 bis 1937 des Forschungsdienstes, Neudamm und Berlin 1938, 612-615, hier 614). Doch der Preis der Molke war niedrig – etwa ein Pfennig pro Liter –, die Trocknungskosten dagegen hoch – zwischen ein und zwei Pfennig (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 224). Hinzu kamen Transportkosten, aber auch eine generelle Geringschätzung der Molke als Wertstoff. Die Resonanz auf Anordnungen der Hauptvereinigung der deutschen Milchwirtschaft blieb daher vor dem Krieg begrenzt (Alle Molke muß verwertet werden!, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 41).

Das änderte sich nach Kriegsbeginn: 1943 war die nutzbare Molkenmenge aufgrund besserer Erfassung und erhöhter (Hart-)Käseproduktion auf ca. vier Milliarden Kilogramm gestiegen. Mehr als drei Viertel davon wurden verfüttert, ein Zehntel ungenutzt entsorgt. Doch derweil wurden mehr als zehn Prozent der Molke zu Lebensmitteln weiterverarbeitet (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 377). Den NS-Ernährungsfachleuten gelang durch die Produktion von Zwischenprodukten beträchtlich höhere Wertschöpfung: Molkeneiweißpaste gab es nun, karamellisierte Molkenpaste, Molken-Sirup und Paga F., fortifizierte Roggen-Vollkornflocken und sog. Schwabenbissen. Auch Molkenmarmelade und Kunsthonig mit Molkenzusatz entstanden, ferner Invertzucker und Hefeextrakt auf Molkenbasis (Ziegelmayer, 1947, 387; Walter Müller, Neuere Wege der Molkenverwertung, Deutsche Molkerei-Zeitung 61, 1940, 183-184). Die Verbraucher nahmen diese breite Palette innovativer Produkte kaum wahr, aßen sie jedoch als Bestandteil von Schmelzkäse, Süß- und Backwaren, Wurst und Suppenpräparaten oder in Kantinen. Migetti war eine vermeintlich zukunftsweisende Ausnahme, ein Bannerträger für Molkenaustauschprodukte im Massenmarkt.

Was war Migetti?

Migetti war ein sprechender Name, ein Silbenwort, zusammengesetzt aus Mi[lch] und [Spa]g[h]etti. Es bestand aus Molke, Weizen- und Kartoffelstärkemehl. Es sollte küchentechnisch den damals zumeist aus Italien importierten Reis ersetzten, ebenso die angesichts geringer Eierbestände vielfach knappen Eiernudeln. Auch Weizengrieß war in der NS-Mangelökonomie nicht mehr allseits verfügbar. Migetti galt im Ausland als eine nennenswerte, ja wichtige Nahrungsinnovation. Anfangs wurde es dort vor allem als Kartoffelprodukt angesehen – wobei wahrscheinlich Erinnerungen an das K-Brot des Ersten Weltkrieges mitschwangen (Foreign Crops and Markets 40, 1940, Nr. 22 v. 1. Juni, 725). Ab 1941 galt es als ein reisähnliches Austauschprodukt aus Kartoffeln und Molke (William A. Hamor, Industrial Research in 1940. An Account of Advances in Foreign Countries, News Edition 19, 1941, 57-72, hier 65; Karl Brandt, How Europe Is Fighting Famine, Foreign Affairs 19, 1941, 806-817, hier 809). Nach der deutschen Kriegserklärung an die USA galten “Migettis” schließlich als Produkt aus Milchreststoffen (H.W. Singer, The German War Economy-VIII, The Economic Journal 53, 1943, Nr. 209, 121-139, hier 132).

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Präsentation des Neuen 1940: Migetti-Rezeptbuch und Migetti-Frühstück (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81)

Das neue Produkt war körnig und reisähnlich. Am Anfang standen Ideen des Erlanger Ingenieurs Dr. A. Werner über einen Reisersatz aus Milch und Kartoffeln. Dies wäre technisch möglich gewesen, war jedoch zu teuer (M[ax] E[rwin] Schulz, Molkenverwertung durch neuartige Erzeugnisse Beispiel: Migetti, Die Milchwissenschaft 1, 1946, 55-66; ebd. 2, 1947, 77-83, hier 56). Der aus Italien als Teil von Kompensationsgeschäften importierte Reis war nämlich deutlich billiger als etwa Haferflocken oder das aus Kartoffelstärke hergestellte Sago. Anders als heutige Reissorten musste er jedoch lange gekocht werden. Hier lag die Marktchance für Migetti, dessen Kochzeit auch deutlich unter der gängiger Eierteigwaren lag. Anders als der 1939 eingeführte und aus Magermilch gewonnene Eier-Austauschstoff Milei konnte es nicht als Preisbrecher agieren. Die politisch gewünschte Verwertung von Molke und Kartoffelstärke verteuerte das Produkt weiter.

Der Ingenieur und Milchwissenschaftler Max Erwin Schulz (1905-1982) hätte Migetti neben Molke und Kartoffeln daher lieber auch Hühnereiweiß beigefügt, um so die Textur an Eiernudeln anzunähern. Während einer Kriegstagung hieß es 1942: „Auch bei dem Produkt ‚Migetti‘ ist man im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gekommen, daß nicht der Wunsch, bestimmte Rohstoffe zu verwerten, sehr in den Vordergrund gestellt werden darf. Wir können z. B. bei diesem Produkt den Wunsch Kartoffelstärkemehl zu nehmen oder sehr viel Molke unterzubringen, nicht so stark berücksichtigen, daß dadurch die küchentechnischen Eigenschaften des Produktes leiden“ (M[ax Erwin] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Das helle, gelblich scheinende Migetti hatte eine krosse Textur, schmeckte als Röstgut keksartig, konnte im Notfall auch trocken gegessen werden. Migetti war neutral, besaß keinen wirklichen Eigengeschmack. Dadurch war es in der Küche breit einsetzbar, als Einlage in Suppen und Eintöpfen, als Sättigungsbeilage, zu süßen Nach- und salzigen Vorspeisen. Hinzu kam ein beträchtlicher Gehalt an B-Vitaminen und Mineralstoffen, zudem mit 400 Kilokalorien pro 100 Gramm ein auch gegenüber anderen Nährmitteln überdurchschnittlicher Nährwert. Migetti war demnach ein gehaltvolles Convenienceprodukt, eine Allzweckwaffe in der Küche, ein Aushelfer eigenen Rechts.

Vollautomatische Produktion

Migetti wurde auf Anregung des Oberkommandos des Heeres entwickelt, sollte ursprünglich der Versorgung der Truppe dienen. Die konzeptionelle Arbeit erfolgte durch einen kleinen Stab von Chemikern und Ingenieuren der Bayerischen Milchversorgung GmbH in Nürnberg. Diese war 1930 aus der Gemeinnützigen Milchversorgungsgesellschaft der Städte Nürnberg-Fürth hervorgegangen, dem neuen finanzkräftigen Verbund gehörte auch die Stadt Regensburg an (Deutscher Reichsanzeiger 193, Nr. 89 v. 15. April, 15). Der im gleichen Jahr in Nürnberg entstandene Milchhof war nicht nur Monument des Neuen Bauens (das man vor mehr als einem Jahrzehnt DDR-mäßig zerstört hat), sondern bündelte auch fortgeschrittene Technik.

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Maschinelle Fließfertigung: Schemazeichnung des Fürther Migetti-Betriebes (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 57)

Migetti war das Ergebnis umfangreicher Tests in kleinem Maßstab. Im Nürnberger Laboratorium wurde lange um das stoffliche Profil und die Zusammensetzung des Produktes gerungen. Der detaillierte Bericht des späteren Patenteinhabers Max Erwin Schulz ist ein treffliches Zeugnis für die Gestaltungsfreude von Männern im Kittel. Ihr Ziel war Kochfestigkeit und eine rasche Zubereitung. Das Migetti-Korn musste kompakt sein, durfte sich beim Kochen nicht auflösen, zudem eine gute Quellfähigkeit besitzen. Zugleich aber galt es einerseits möglichst viel Molke und auch erhebliche Mengen Kartoffeln zu nutzen, um die deutsche Stoffbilanz zu verbessern. Das Ergebnis war ein Kompromiss zwischen Vorgaben, Marktgängigkeit und wehrwirtschaftlichen Aspekten. Migetti bestand anfangs aus 10 Prozent Molkepulver, 20 Prozent Kartoffelstärkemehl und 70 Prozent Weizenmehl. Später nahm der Molkeanteil weiter zu, wurde Weizen- teils durch Roggenmehl ersetzt. Die Laboratoriumsversuche wurden anschließend großtechnisch umgesetzt, dazu ein eigenes neues Werk in Fürth gegründet. Dort erst legten die Experten Form und Gewicht des einzelnen Kornes fest, ebenso die Farbe. Zugleich wurden verschiedene Maschinen getestet und zu einer automatischen Fließfertigung verbunden. Aus wehrwirtschaftlichen Gründen sollte „das Produkt mit geringem Personalaufwand und auch mit weiblichen Arbeitskräften hergestellt werden“ (Nahrungsmittel, 1939).

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Kernelemente der Migetti-Produktion: Drei-Bandtrockner (l.) und Lihotzky-Presse (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 60)

Die eingedickte Molke wurde im Migetti-Stammwerk mit den Getreide- und Kartoffelzutaten gemischt und zu einem Teig vermengt. Er wurde anschließend in einem von der Plattlinger Firma Emil Lihotzky neu konstruierten Schleuder-Mischer zu Körnern gepresst. Die derart geformten Teigkörper kamen anschließend in große Trockner mit mehreren Laufbändern, in denen sie bei über 100 °C getrocknet wurden. Zwei Typen kamen dabei zum Einsatz, nämlich einerseits der oben gezeigte Bandtrockner der Hersfelder Firma Benno Schilde oder aber – in anderen Betriebsstätten – ein noch größerer Trockner der Hamburger Firma Lange. Der Schilde-Trockner war schneller und benötigte weniger Heizmaterial, der Lange-Trockner konnte größere Chargen bedienen, war im Betrieb jedoch teurer. Ersterer entwickelte sich zur Standardausrüstung der sich damals rasch entwickelnden deutschen Trocknungsindustrie, die vorrangig Obst, Gemüse und Kartoffeln für Wehrmacht und Großküchen produzierte (E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 48-59).

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Verpackungsraum (l.) und Mühle für deformierte Körner (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 65 (l.) und 60)

Die getrockneten Körner kamen anschließend in einen Verpackungsraum, wo sie mittels Maschinen zumeist in Verkaufsverpackungen von 250 Gramm gefüllt und anschließend von vornehmlich weiblichen Arbeitskräften versandfertig gemacht wurden. Deformierte Körner (etwa fünf Prozent der Produktion) wurden zuvor auf Rüttelbändern ausgesondert, gelangten in eine Mühlen, wo sie vermahlen und dann neuerlich verarbeitet wurden. Misch- und Formmaschinen waren vorgelagert, die Einzelkomponenten der Produktion über Transportbänder miteinander vernetzt. Ein Betriebslaboratorium kontrollierte die Qualität des Produktes. Die Herstellung der Migetti-Körner dauerte zwischen ein und zwei Stunden. Sie erfolgte vollautomatisch und erlaubte einen Mehrschichtenbetrieb. Die Migetti-Fabrik repräsentierte das damals im Deutschen Reich technisch Machbare.

Auch aus diesem Grunde wandten sich Produzenten und die durch Presseanweisungen an die Hand genommenen Journalisten gegen die Bezeichnung „Ersatzstoff“: „Migetti ist vielmehr nahrhafter als Reis und darf als biologisch vollwertiges Nahrungsmittel bezeichnet werden. Es enthält z. B. natürlichen Kalk in zehnfacher Menge wie Reis. Außerdem enthält es Vitamin B und, was sehr wesentlich ist, die Nährsalze der Milch, Bestandteile, die Reis nicht aufweist. Die Kalorienzahl von Migetti ist 400, von Reis 356 und von Sago 335. Auch hiermit ist die Vollwertigkeit dieses neuen Dauernahrungsmittels bewiesen, das sich infolge seiner überaus günstigen Zusammensetzung besonders auch als Kranken- und Kinderkost eignet“ (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7).

Der Weg in den Massenmarkt

Migetti war nicht nur Molkenträger, Halbfertigprodukt und Wegbereiter einer vollautomatischen Lebensmittelproduktion. Es war zugleich Quintessenz vieler hauswirtschaftlicher Debatten über eine neue schnelle Küche, durch die Hausfrauen ihre Kernarbeit rascher erledigen, durch die sie zugleich aber mehr Zeit für Familie und Muße gewinnen konnten. Dies stand sehr wohl im Einklang mit der offiziellen Beschwörung der Frau als Mutter und Mannesgefährtin, mochte es auch nicht mehr den emanzipatorischen Touch der großenteils sozialdemokratisch und feministisch geprägten Debatten der Weimarer Zeit haben. Zwischen 1933 und 1939 war die Zahl weiblicher Erwerbstätiger um ca. drei Millionen angestiegen, bei Kriegsbeginn gingen mehr als die Hälfte aller erwerbsfähigen Frauen einer gewerblichen Arbeit nach. Migetti erleichterte ihre weiterhin zu erbringende Kocharbeit: Reis musste mehr als eine Stunde, Migetti nur wenige Minuten kochen (Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Doch das neue Halbfertiggericht forderte Hausfrauen zugleich, denn sie mussten tradierte Herdarbeit in Frage stellen und die Zeitökonomik der Speisenproduktion ändern. Es ging um Veränderungen gemäß den im Migetti materialisierten Vorgaben einer männlichen Expertenkultur.

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Migetti-Auflauf unter Zusatz auch von Milei G und W, gebacken und serviert in dicken Tassen (Zeitgemäßer Haushalt, hg. v.d. Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Elektrowirtschaft 1941, Brief März-April, 3)

Migetti war anfangs markenfrei, was nicht zuletzt den auch durch äußerst geringe Rationen diskriminierten Juden begrenzte Alternativen bot (Else R. Behrend-Rosenfeld, Ich stand nicht allein. Erlebnisse einer Jüdin in Deutschland 1933-1944, 3. Aufl., Köln und Frankfurt a.M. 1979, 82; zur Rationierung s. Gustavo Corni und Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 555-573). Die Produktwerbung besaß 1939/40 eine nur geringe Bedeutung, konzentrierte sich vorrangig auf Prospekte und Rezeptbroschüren. Diese waren sorgfältig gestaltet, um jeden Gedanken an ein Ersatzmittel zu vermeiden (Walter Ernst Schmidt, Aus dem Werbeschaffen des Kriegsjahres 1940, Werben und Verkaufen 24, 1940, 361, hier 363). Werbung sollte Vertrauen schaffen, entsprechend wurden anfangs die Nährkraft und die biologische Vollwertigkeit hervorgehoben: „Allein hieraus wird die Hausfrau erkennen, daß ihr dieses neue Nahrungsmittel aus altvertrauten Rohstoffen ein schützenswerter Helfer in der Küche sein kann“ (Neue Helfer der Hausfrau, Der Führer 1940, Nr. 289 v. 20. Oktober, 10). Zugleich aber zogen die Werbetreibenden immer auch die Karte nationalen Stolzes. Der Kauf von Migetti war Dienst am Volke, war ein konsumtives Plebiszit für „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsbereitschaft (Die Industrie der Molke, ebd. 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6). Die Konsumenten wurden dergestalt eingebunden in die vom Regime in Gang gesetzte „Revolutionierung der Milchwirtschaft“, in die Schaffung zusätzlicher Nährwerte (Straßburger Neueste Nachrichten. Ausgabe Nord 1942, Nr. 216 v. 7. August, 4).

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Die Hausfrau umgarnen – mit Humor und Schaukochen (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81 (l.); Salzburger Volksblatt 1942, Nr. 50 v. 28. Februar, 10)

Die frühe Werbung zielte daher auf Einsichtshandeln, auf rationales Verhalten im Sinne des völkischen Ganzen. Über die Rezeptbücher, über Schaukochen und hauswirtschaftliche Beratung wurden die Hausfrauen an eine neue Art der Zubereitung herangeführt, die ihre Rolle als gleichberechtigte Akteurin auf biologisch vorbestimmtem Felde gleichsam adelte. Analog zu den Befehlen im Militär erhielten auch die Hauswalterinnen klare Grundregeln: „1. Migetti wird vor der Anwendung nicht gewaschen oder gewässert. 2. Es verlangt auch keine sonstige Vorbehandlung: Migetti ist kochfertig. 3. Es wird stets in die kochende Flüssigkeit eingerührt. 4. Migetti nur kurz auf Stufe 3 ankochen und auf Stufe 0 garquellen lassen. 5. Wird eine möglichst feste, körnige Form der Speise gewünscht, so lässt man Migetti 2 bis 3 Minuten aus Stufe 3 kochen und anschließend etwa 3 Minuten quellen. 6. Für weichere Formen der Speisen wird die Kochzeit entsprechend verlängert, bei Milch- und Buttermilchsuppen bis zu 20 Minuten. 7. Migetti ist sparsam im Gebrauch, aber nie zuviel nehmen. Man rechnet bei 1 l Flüssigkeit für Suppen etwa 80 g, für puddingartige Breie etwa 200 g, für feste Breie 300 g“ (Zeitgemäßer Küchenzettel, Zeitschrift für Volksernährung 16, 1941, 88-90, hier 89). Das Ergebnis folgsamen Tuns war eine breite Palette wohlschmeckender Speisen. Die Hausfrauen verlängerten so den Gestaltungstraum der Experten in die Praxis.

Im Januar 1941 wurde Migetti dann kartenpflichtig, „um den Verbrauch der Erzeugung anzupassen und eine geordnete Belieferung der Verbraucher sicherzustellen“ (Steigende Migetti-Erzeugung, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1941, Nr. 23 v. 30. Juni, 8). Das Austauschprodukt trat dadurch an die Stelle von Teigwaren (Deutscher Reichsanzeiger 1941, Nr. 40 v. 17. Januar, 1). Ab Mai 1941 konnte Migetti auch anstelle von Getreidenährmitteln gekauft werden (Anzeiger für Zobten am Berge und Umgegend 1941, Nr. 54 v. 9. Mai, 4). Diese Regelung wurde später auch auf Selbstversorger ausgeweitet. All das spiegelt nicht nur die wachsenden Schwierigkeiten des Regimes, die Grundversorgung sicherzustellen. Sie bedeutete auch eine kontinuierliche Marktpräsenz des neuen Produktes – und damit einen gedämpften Wettbewerb um den Käufer.

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Migetti im Spiegel einer Konsumentenbefragung der Gesellschaft für Konsumforschung (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 80)

Zwei Folgen traten besonders hervor: Erstens wurden Kundenwünsche und -präferenzen mittels einer Konsumentenbefragung in Nürnberg, München und Berlin genauer erkundet. Die von der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung durchgeführte Untersuchung ergab recht positive Urteile: Zwei Drittel der Befragten bewerteten Migetti-Speisen als gut oder gar ausgezeichnet, nur ein Achtel lehnte es ab. Überraschenderweise wurden Migetti-Suppen schlechter bewertet als Süßspeisen und andere Hauptgerichte. Von einem notgedrungen konsumierten Ersatzmittel konnte also nicht die Rede sein, stattdessen überzeugte die Verwendungsbreite: Das neue Produkt stand für Vielfalt und Flexibilität, war just deshalb besonders kriegsgeeignet. In Walter Kempowskis Roman „Tadellöser und Wolff“ hieß es daher zutreffend: „Migetti-Suppe. Nudelartig, gar nicht so schlecht. Aus Milchsubstanzen hergestellt“ (München 1975, 367).

Zweitens wurde die Werbung nun intensiviert und professionalisiert. Migetti mutierte dabei zum Milei-Erzeugnis, der Milei-Aufklärungsdienst übernahm die kommerzielle Kommunikation, gab ihr Struktur und Wiedererkennungswert. Aus dem Molkenaustauschprodukt wurde ein reichsweit bekannter Markenartikel. Zuvor hatte die Nürnberger Bayerische Milchversorgung GmbH begonnen, das seit Ende 1938 hergestellte Eier-Austauschprodukt Milei auch im eigenen Milchhof zu produzieren. Vertragspartner war die 1940 gegründete Stuttgarter Milei GmbH, deren Anfänge auf eine Kooperation der Württembergischen Milchversorgung AG mit den Vierjahresplanbehörden zurückzuführen war. Die Firma verwertete Patentrechte, errichtete ein über die Grenzen des Großdeutschen Reiches hinausweisendes Produktions- und Vertriebsnetz, zudem eigene Produktionsstätten im besetzten und auszubeutenden Ausland.

10_Wiener Modenzeitung_1941_H159_p24_Vorarlberger Landbote_1941_08_23_Nr067_p8_Milei_Migetti

Migetti als Trittbrettfahrer der Markenartikelwerbung für Milei (Wiener Modenzeitung 1941, H. 159, 24 (l.); Vorarlberger Landbote 1941, Nr. 67 v. 23. August, 8)

Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, ehe Migetti eine unverwechselbare Werbegestalt erhielt, nahm der Bekanntheitsgrad von Migetti schon 1941 deutlich zu (Rainer Horbelt und Sonja Spindler, Tante Linas Kriegskochbuch. Erlebnisse, Kochrezepte, Dokumente. Rezepte einer ungewöhnlichen Frau, in schlechten Zeiten zu überleben, Frankfurt a.M. 1982, 67). Milei-Anzeigen verwiesen nun auch auf das körnige Nährmittel, koppelten es an die relative Erfolgsgeschichte des reichsweit erfolgreichen Mileis. Der Milei-Aufklärungsdienst integrierte Migetti in seiner Vortrags- und Kochveranstaltungen. Auch das Deutsche Frauenwerk erläuterte den zielgenauen Umgang mit dem Halbfertiggericht. Eine kleine Broschüre wurde teils versandt, teils über Einzelhändler in hoher Auflage verteilt (Gut essen und satt werden durch das Migetti Nährgericht, Stuttgart 1941). Insgesamt wurden damals 10-15 Prozent des Großhandelsumsatzes für Werbung ausgegeben und bewusst auf einen Gewinn verzichtet (Schulz, 1947, 79). Der würde schon kommen, nach der erfolgreichen Etablierung als Markenartikel. Der Krieg war eine Chance, der Markt kaum ausgeschöpft: „Bereits im Jahre 1940 wurden 1 Mill. kg Migetti erzeugt; im Jahre 1941 will man die Produktion auf 5 Mill. kg. steigern und im Jahre 1942 10 Mill. kg erreichen“ (Was ist Migetti?, Sächsische Volkszeitung 1941, Nr. 39 v. 14. Februar, 6). Den Molken-Austauschstoff präsentierte man seither selbstbewusst als ein angereichertes Lebensmittel, das dem Verbraucher die biologischen Wertstoffe der Milch neuartig erschließe (Kennen Sie Migetti?, Neueste Zeitung – Innsbruck 1941, Nr. 91 v. 12. Mai, 4).

11_Riesaer Tageblatt_1942_06_02_Nr126_p4_Naehrmittel_Migetti_Nudeln_Preise_Alfred-Otto

Migetti im Wettbewerb der Nährmittel (Riesaer Tageblatt 1942, Nr. 126 v. 2. Juni, 4)

Materialauf­wand, Entwicklungs- und Investitionskosten erlaubten kein Billigpro­dukt, doch der vergleichsweise hohe Preis schien mit Blick auf die Brennstoffersparnis, den Geschmack und die Anwendungsbreite mehr als gerechtfertigt. Spätestens ab 1942 spiegelte sich dies auch in den Rezeptspalten gängiger Tages- und Wochenzeitungen (vgl. etwa Frau und Mutter 1942, H. 9, 14; Neues Wiener Tagblatt – Wochenausgabe 1942, Nr. 16, 11; ebd., Nr. 28, 11; ebd. Nr. 30, 11; ebd., Nr. 43, 11). Zu dieser Zeit hatte der Milei-Aufklärungsdienst Migetti eine eigenständige werbliche Präsenz geschaffen. Der Slogan „Die kräftige Nährkost“ spielte nach den Rationenkürzungen 1942 mit dem hohen Kaloriengehalt des Nähmittels. Migetti wurde zudem als eiweißhaltige Ergänzung der zunehmend gängigen Kartoffel- und Gemüsespeisen und -eintöpfe beworben. Damit war es im Massenmarkt angekommen.

12_Nationalsozialistischer Volksdienst_09_1942_p130_Kunst fuer Alle_57_1941-42_Nr11-12_Anhang_p6_Wiener Illustrierte_61_1942_Nr43_p8_Migetti_Eintopf_Fleischlos_Kriegsernaehrung

Appelle nach den Rationenkürzungen 1942 (Nationalsozialistischer Volksdienst 9, 1942, 130 (l.); Die Kunst für Alle 57, 1941/42, Nr. 11/12, Anhang, 6; Wiener Illustrierte 61, 1942, Nr. 43, 8 (r.))

Migetti in der Gemeinschaftsverpflegung

Migetti war anfangs nicht als Massenartikel konzipiert worden, sondern als eine Nahrungsinnovation für die Wehrmacht – nicht umsonst kamen Anregungen und Unterstützungen aus dem Oberkommando des Heeres (Karl-Dieter Frombach, Gemeinschaftsverpflegung im Wandel der Zeit, Med. Diss. FU Berlin, Berlin s.a. [1961], 47). Migetti war nährstark, relativ einfach zu transportieren und hielt mehrere Jahre. Noch Anfang 1941 hieß es in der gelenkten NS-Presse stolz: „Das Nährmittel ‚Migetti‘ hat sich bei unserer Truppe gut eingeführt“ (Am Ufer des weißen Stromes, Das Kleine Volksblatt 1941, Nr. 67 v. 8. März, 7) und sich „namentlich bei der Truppe gut bewährt“ („Rohstoff“ Milch aus nächster Nähe, Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14797 v. 26. März, 8). Auch Großküchen gehörten zu den umworbenen Abnehmern. Migetti gab es 1939/40 in Krankenhäusern, Hotelküchen, aber auch in den Speisewagen der Mitropa (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Gerade für Gaststätten schien die „vollwertige Teigware“ bestens geeignet (Jederzeit ein ‚tulli‘ Papperl auch für dich, Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 155 v. 5. Juni, 6).

13_Zeitschrift fuer Volksernaehrung_17_1942_H09_pIII_ebd_H10_pII_Migetti_Gemeinschaftsverpflegung_Gaststaetten_Feldkuechengericht_Milei_Austauschstoffe

Migetti in Gaststätten als Nachklang der Milei-Werbung (Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, H. 9, III (l.); ebd., H. 10, II)

Der Geschäftsbericht der Bayerische Milchversorgung GmbH vermerkte, dass 1940 mehr als die Hälfte der knapp 1000 erzeugten Tonnen „an Großküchen“ gingen (Migetti-Erzeugung, 1941). Mochte der „Migetti-Macher“ Max Erwin Schulz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf die weitere Produktion auch behaupten, dass Migetti „für Massenverpflegung ungeeignet“ (Schulz, 1947, 80) gewesen sei, da es für die Nahrungsinnovation keinen Platz zwischen Sago und Teigwaren gegeben habe, so belegt die Produktwerbung eine doppelte Präsenz im Massenmarkt und in der Massenverpflegung bis zum Kriegsende. Migetti half beim massiven Ausbau der Außer-Haus-Verpflegung, an der Anfang 1944 schätzungsweise 26 Millionen Personen teilnahmen (Gemeinschaftsverpflegung 1944, 363). Einschlägige Rezepte finden sich in den Fachzeitschriften und Ratgebern dieser Zeit (Alexander Novotny, Küchenzettel zur Gemeinschaftsverpflegung in Lager- und Werksküchen. Eine Sammlung von 250 erprobten Kochanweisungen, Berlin 1942). Wichtiger noch: 1943/44 wurde für Migetti mit neuen Werbeanzeigen und einem lachenden Kochtopf umfassend beworben.

14_Gemeinschaftsverpflegung_1944_H12_Beil_p4_ebd_H16_Beil_p4_Migetti_Austauschstoffe_Eintopf_Halbfertiggericht

Geschwindigkeit und Effizienz in der Großküche (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 12, Beil., 4; ebd., H. 16, Beil., 4)

Die Anzeigen hoben einerseits die betrieblichen Vorteile des Halbfertigproduktes hervor, nämlich seine rasche Zubereitung und die dadurch mögliche Brennstoffeinsparung. Zugleich aber trat der relative hohe Nährwert von Migetti in den Vordergrund. Gute Verdaulichkeit und ein „nährgesundes“ Stoffprofil waren überzeugende Argumente, um die Hürde des höheren Preises zu überspringen. Angesichts zunehmend fader und monotoner Abfütterung wurde auch der „gute“ Geschmack hervorgehoben. Im totalen Krieg konnte Migetti den Verpflegungstrott ansatzweise durchbrechen: „Wenn man auch berücksichtigen muß, daß Migetti ein Kunst- und kein Naturprodukt ist, das in seinen biologischen Werten dem Vollgetreide nicht gleichgestellt werden kann, so ist im Augenblick jede Abwechslung zu begrüßen“ (Josef Hierz, Fleisch- und fleischlose Speisen aus Migetti, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 181). Die gängigen Rezepte entsprachen dabei den Anregungen für die Einzelhaushalte. Migetti diente vornehmlich als Einlage für Suppen und Eintöpfe, als Nährfüller für Hammelfleisch- und Krautgerichte, erschien als Migetti-Fleisch, -knödel, -schnitte oder -Auflauf, als Tunke sowie süße Nachspeise.

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Gute Stimmung und Geschmack trotz Kriegsanstrengung (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 5, Beil., 3 (l.); ebd., H. 1, Beil., 4)

Produktionswerte und Produktionsnetzwerk

Anders als bei Milei sind die Informationen über die Produktion von Migetti rudimentär und nicht widerspruchsfrei. Eine archivalische Überlieferung fehlt. Das Migetti-Werk in Fürth lag in der Ottostraße 24, nicht weit vom Hauptbahnhof (Bayerisches Landes-Adreßbuch für Industrie, Handel u. Gewerbe 21, 1942/43, 383). Regionale Adressbücher verweisen zudem auf ein „Migetti-Werk“ resp. eine „Nährmittelfabrik“ auf dem Gelände des Nürnberger Milchhofes (Ebd., 412), doch dürfte es sich hierbei lediglich um eine Firmendependance gehandelt haben. Heimatgeschichtliche und touristische Literatur verweist auf zwei andere Standorte in Regionen mit überdurchschnittlicher Käseproduktion. Das galt einmal für die Lötzener Milchwerke, die nach der Eroberung Polens 1939/40 neue Produktionsstätten hochzogen (Max Meyhöfer, Der Kreis Lötzen. Ein ostpreussisches Heimatbuch, Würzburg 1961, 218). Falls Sie Schwierigkeiten bei der Vorortung haben: Es handelte sich um eine ostpreußische Mittelstadt, ungefähr 80 Kilometer südlich von Insterburg gelegen, dem Geburtsort meiner Mutter. Zudem gab es wahrscheinlich ein Migetti-Werk im pommerschen Pasewalk (Fritz R. Barran, Städte-Atlas Pommern, Leer 1989, 86). Die Untersuchungen britischer Offiziere zur Stuttgarter Milei GmbH enthalten keine detaillierten Informationen über das Produktions- und Vertriebsnetzwerk von Migetti, das lediglich als Teil des Milei-Sortiments erwähnt wurde (Bate-Smith et al., 1946, 92). Neben Stuttgart besuchten die neuen Herren auch den schleswig-holsteinischen Produktionsort Lütjenburg – und es erscheint nicht abwegig, dass in der dortigen Käseregion ebenfalls Migetti hergestellt wurde.

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Produktion von Migetti in Fürth und dabei verarbeitete Molke 1941-1944 (eigene Darstellung auf Grundlage von Schulz, 1947, 82)

Migetti sollte anfangs in drei Fabriken produziert werden, anvisiert waren etwa 6000 Tonnen pro Jahr (Schulz, 1947, 80). Dieses Ziel ist auch nicht ansatzweise erreicht worden, Folge insbesondere des elaborierten Maschinenparks, der aufgrund von Lieferengpässen nicht einfach multipliziert werden konnte (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Der 1940er Geschäftsbericht der Bayerischen Milchversorgung GmbH gab für 1939 eine Produktionsmenge von lediglich 98 Tonnen an, die 1940 dann auf 952 Tonnen gesteigert werden konnte (Migetti-Erzeugung, 1941). Schulz präsentierte für den Zeitraum 1941 bis 1944 die oben graphisch aufbereiteten Produktionszahlen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Daten allein die Fürther Produktion wiedergab: 2000 Tonnen pro Jahr, das entsprach rein rechnerisch etwa acht Millionen Migetti-Packungen – und auch der von Schulz angegebenen Kapazität einer Migetti-Fabrik (Schulz, 1947, 80). Die britischen Untersuchungen dokumentierten anhand der Milei-Unterlagen für 1943 und 1944 allerdings einen etwa doppelt so hohen Ausstoß, nämlich 3.926,785 Tonnen Migetti mit einem Produktionswert von ca. einer Million RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Das bedeutete jährlich jeweils 16 Millionen Packungen.

Migetti als blitzschnelle Nährspeise im totalen Krieg

Von 1943 an wurde die Migetti-Werbung zunehmend in die allgemeine Kriegspropaganda eingebunden. Den Anfang machten von Februar bis Mai 1943 vier Motive, in denen das Kochen von Migetti-Speisen mit Warnungen vor „Kohlenklau“ verbunden wurde. Dabei handelte es sich um die wohl präsenteste deutsche Werbefigur der Kriegszeit, denn Unternehmen und Staat zogen hier an einem Strang. Migetti konnte dabei seine Vorteile als kochfertige Halbfertigware ausspielen.

17_Kleine Volks-Zeitung_1943_03_10_Nr069_p8_Wiener Illustrierte_16_1943_Nr14_p8_Migetti_Kohlenklau_Milei_Kochen_Brennstoff

Kohlenklau lauert auch in der Küche (Kleine Volks-Zeitung 1943, Nr. 69 v. 10. März, 8 (l.); Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 14, 8)

Damals lenkte der Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung durch Broschüren und hauswirtschaftliche Beratung die Konsumenten, kooperierte aber zugleich eng mit der Konsumgüterindustrie. Seine „Ratschläge für die (und aus der) Wirtschaftspraxis“ beeinflussten die Werbung im Sinne des NS-Regimes und der Prioritäten der Kriegswirtschaft. Kohlenklau war Teil der Ende 1942 einsetzenden Sparsamkeitswerbung des Reichspropaganda- und des Reichsrüstungsministeriums (Alfred Heizel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124). Es wurde rasch „eine volkstümliche Figur“, die dem schlechten Gewissen über Energieverschwendung ein Gesicht gab, ohne Missetäter einseitig zu denunzieren (Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hg. u. eingel. v. Heinz Boberach, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718).

18_Der Fuehrer_1943_03_18_Nr077_p6_ebd_03_07_Nr066_p6_Migetti_Kohlenklau_Sparsamkeit_Kochen

Sparsamkeit bei der Migetti-Werbung – hier ohne Abbildungen (Der Führer 1943, Nr. 77 v. 18. März, 6 (l.); ebd., Nr. 66 v. 7. März, 6)

Auch Migetti wurde damals „volkstümlich“, der lachende Kochtopf oder die wandernde Möhre brachten etwas Freude in den zunehmend entbehrungsreichen Alltag. Die Marke wurde auch durch ein großes M gestärkt – Reminiszenzen an Fritz Langs Filmklassiker dürften keine Rolle gespielt haben. Die Verwendung von Großbuchstaben war damals eine nicht ungewöhnliche Marketingstrategie, deckte sich etwa mit der kommerziellen Präsenz von Vivil-Pfefferminz oder Hanewacker-Kautabak.

Migetti-Werbung wurde 1943/44 intensiv geschaltet, zunehmend in Form reiner Textanzeigen. Im Gegensatz zur Milei-Werbung setzte man auf eine überschaubare Zahl von Themen und Motiven, die dann jedoch wieder und wieder erschienen. Dies entsprach der recht eindeutigen Textur des körnigen Nährmittels und seiner Haupteigenschaften. Dem Halbfertiggericht war eine engführende Nutzung schon einprogrammiert. Ein pulverförmiger Eier-Austauschstoff besaß demgegenüber breitere werbliche Möglichkeiten.

19_Litzmannstaedter Zeitung_1943_09_23_Nr266_p6_Offenburger Tagblatt_1943_11_06_Nr261_p8_ebd_10_21_Nr247_p4_Migetti_Molke_Austauschstoff_Kriegsernaehrung_Moehre_Suppenschuessel_Fruehstueck

Verbreiterung der Einsatzpalette (Litzmannstädter Zeitung 1943, Nr. 266 v. 23. September, 6; Offenburger Tagblatt 1943, Nr. 261 v. 6. November, 8; ebd., Nr. 247 v. 21. Oktober, 4)

Migettis prägende Eigenschaften waren eine sehr kurze Kochzeit, geringe Brennstoffkosten, ein hoher Nährwert, biologische Vollwertigkeit sowie eine breite küchentechnische Einsatzmöglichkeiten. Die Werbung setzte diese in eingängige Adjektive um, nämlich „kochfertig“, „topffertig“, „nährstark“, „nachhaltig“, „zeitschnell“, „küchenschnell“, „geschmacksneutral“ und „körpernützlich“. Zugleich bettete sie diese in kleine Geschichten ein, vornehmlich Alltagssituationen: „10 vor Zwölf … kam man da noch rasch ein schmackhaftes Essen herstellen. Ja, Man nimmt einfach das topffertige Migetti dazu“ (Badische Presse 1944, Nr. 31 v. 7. Februar, 4). „Blitzschnell läßt sich mit Migetti ein schmackhaftes, sättigendes Essen herstellen. Migetti ist bekanntlich topffertig: Es braucht also nicht gewaschen, nicht gewässert werden“ (Ebd., Nr. 127 v. 2. Juni, 4).

Daneben arbeiteten die Werbetexter mit Aufmerksamkeit erheischenden Plattitüden, die gleichsam als Auftakt eines Gesprächs, eines Ratschlages dienten: „Am Waschtag kann die Hausfrau keine große Kocharbeit brauchen“ (Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 264 v. 10. November, 1240). „Geschwindigkeit in der Küche liebt jede Hausfrau“ (Badische Presse 1944, Nr. 25 v. 31. Januar, 4). Doch wenn der Platz begrenzt war, so konnte man den Topf auch direkt schlagen, die Produktinformation kurz und knackig an die Frau bringen. Dann hieß es etwa: „Migetti zeichnet sich durch sehr kurze Kochzeit aus. […] Daran muß man denken… dann wird Migetti kornglatt“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 94 v. 4. April, 6). Oder: „Migetti immer kräftig würzen… das muß man sich merken“ (Ebd., Nr. 226 v. 17. August, 6).

20_Das Kleine Volksblatt_1943_05_31_Nr149_p7_Offenburger Tageblatt_1943_11_04_Nr259_p4_Migetti_Hausfrau_Kochbuch_Rezepte_Milei_Austauschprodukt_Halbfertigprodukt

Anleitung zum präzisen Kochen: Direkt oder per Kochbüchlein (Das Kleine Volks-Blatt 1943, Nr. 149 v. 31. Mai, 7 (l.); Offenburger Tageblatt 1943, Nr. 259 v. 4. November, 4)

Die wachsende Enge, ja Not der späten Kriegszeit spiegelte sich in den Anzeigen 1943/44 nur indirekt. Doch Forderungen wurden gestellt. Präzision und Wertarbeit waren nicht auf die Werkbank und die Fabrikhalle zu begrenzen, auch die Hausfrau hatte ihren Mann zu stehen: „Über den Daumen peilen? Also nach Gutdünken Migetti zu Mahlzeiten verwenden? Das ist grundfalsch, das ist verschwenderisch. Migetti wird immer löffelgenau abgemessen“ (Der Führer 1945, Nr. 18 v. 22. Januar, 4). Dem diente die während den Herbst 1943 andauernde Werbung für das Migetti-Kochbüchlein, das eine siebenstellige Auflage hatte (Schulz, 1947, 80).

Die Kriegssituation gebar zugleich zunehmend striktere Appelle an Sparsamkeit, an ein Haushalten im Sinne der völkischen Kampfgemeinschaft. Migetti-Wasser durfte nicht geschüttet werden, denn zum Andicken von Suppen und Saucen – sorry, Tunken – war es noch gut zu verwenden (Badische Presse 1943, Nr. 273 v. 20. November, 8). Auch ohne Kohlenklau war klar, dass Migetti keinesfalls auf großer Flamme unbeaufsichtigt kochen gelassen werden durfte (Hakenkreuzbanner 1944, Nr. 261 v. 3. Oktober, 4). Und auch der Abfall war Volkseigentum, denn die papierene, mit sieben Migetti-Rezepten bedruckte Verpackung durfte nicht verheizt, sondern musste der Altpapiersammlung zugeführt werden (Ebd., Nr. 259 v. 30. September, 4). Und doch, die Texte waren nicht immer ernst und betroffen, sondern ließen auch Platz für ein kleines Schmunzeln. Etwa, wenn der Topos der „Vollkost“ zu „Migetti, die topffertige Volkskost“ mutierte (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 6). Oder wenn es um Männer ging: „Männer kochen nicht gern. Wenn es aber sein muß, reicht ihr Kochtalent völlig, um sich eine nahrhafte Migetti-Suppe zu bereiten. […] Kochkünstler sehen sich die Rezepte auf der Migetti-Packung an; nach ihnen können sie noch manches schmackhafte Migetti-Essen bereiten!“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 235 v. 26. August, 6) Ja, die Lacher waren damals dünn gesät…

Die Anzeigen wurden bis mindestens Mitte 1944 von elaborierteren Kochrezepten für Frauen und kontinuierlichen Kochvorführungen begleitet (Der Führer-Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Dort fanden die Nöte des Alltags durchaus Widerhall, wurden in der aufmunternden gemeinsamen Tat jedoch gebrochen: „Es ist heute für die Hausfrau eine rechte Schwierigkeit, ihrer hungrigen Familie ein schmackhaftes Mittagessen auf den Tisch zu stellen; es kostet der Speisezettel immer viel Kopfzerbrechen. Jetzt, wie wäre es einmal mit: Topinambur-Gemüse mit Roggengrützrand? Weckauflauf mit Aepfel? Süße Milchsuppe mit Migetti oder Gänseblümchen-Salat? Die Zubereitung? Diese erfahren Sie bei einem Schaukochen des Deutschen Frauenwerkes“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1944, Nr. 101 v. 12. April, 3).

21_Bozner Tagblatt_1944_05_19_Nr116_p3_ebd_05_31_Nr125_p6_Migetti_Fruehstueck_Kaltschale_Austauschstoffe_Molke

Fleischlos und gesund – Migetti-Varianten (Bozner Tagblatt 1944, Nr. 116 v. 19. Mai, 3; ebd., Nr. 125 v. 31. Mai, 6)

Die letzte neu gestaltete Migetti-Werbekampagne lief dann von November 1944 bis Januar 1945. Der Angriff der Roten Armee im Baltikum hatte massive Flüchtlingsbewegungen zur Folge, eine ausreichende Lebensmittelversorgung war langfristig nicht mehr möglich (Corni und Gies, 1997, 575-582). Werbeabbildungen waren damals unterbunden, die Zeitungen zu kleinen, meist vierseitigen Ausgaben auf braunem Papier geschrumpft. Die Anzeigen spiegelten die recht ausweglose Situation, gaben aber zugleich Ratschläge, um daraus das Beste zu machen. Dabei halfen die beiden Haupteigenschaften des Nährmittels, nämlich einerseits seine geringe Zubereitungszeit, anderseits sein Nährwert. Ob alle satt werden, war ab Herbst 1944 wahrlich eine berechtigte Frage, denn die Rationen fielen beträchtlich. Doch mit Migetti ließ sich ein „dünnes Süpplein […] mühelos verbessern“ (Völkischer Beobachter 1945, Nr. 9 v. 11. Januar, 3). Das gelang in höchstens fünfzehn Minuten. Wichtig blieben weiterhin Präzision und Sparsamkeit. Migetti musste „löffelgenau“ verwendet und durfte nicht zu lange gekocht werden (Ebd. 1944, Nr. 322 v. 28. November).

22_Völkischer Beobachter_1944_12_05_Nr328_p3_ebd_12_23_Nr344_p3_Migetti_Eintopf_Kriegsernaehrung_Molke_Austauschstoffe

Küchenwinke vor Kriegsende (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 328 v. 5. Dezember, 3 (l.); ebd., Nr. 344 v. 23. Dezember, 3)

Strenge wurde mit Empathie verbunden, Ausdruck einer Volksgemeinschaft im Endkampf. Selbst Männer mussten nun an den Herd: „Schicke mir, bitte, Migetti – so schrieb er kürzlich an seine evakuierte Frau. Weshalb? Weil er herausgefunden hatte, wie zeitschnell und schmackhaft eine Migetti-Gericht herzustellen ist. Die Migetti-Rezeptpackung gibt sieben verschiedene Kochanweisungen, […]. Das geht eins, zwei, drei… und im Handumdrehen ist ein gutes Migetti-Gericht fertig“ (Ebd., Nr. 313 v. 17. November, 3). Auch für die Familie konnte er sorgen, war seine Gattin abwesend: „Vater bindet sich die Küchenschürze um und dringt in die Geheimnisse der Kochkunst ein. Er greift zur Migetti-Rezeptpackung, studiert Rezept 7… und 15 Minuten später steht eine sommerliche Migetti-Kaltschale vor ihm“ (Ebd., Nr. 310 v. 14. November, 3). Migetti erlaubte virile Selbstbehauptung auch bei Ausfall der Massenverpflegung: „Herr Meyer wälzt das Kochbuch – er ist Strohwitwer. Er sucht emsig nach einem Migetti-Rezept“ (Ebd. 1945, Nr. 15 v. 18. Januar, 3). All das erfolgte mit Augenzwinkern. Jede dieser Kleinanzeigen war Ausdruck einer sorgenden Diktatur, in der man zum nächsten Tag, zur nächsten Bewährungsprobe geleitet wurde: Davon geht die Welt nicht unter, / Sieht man manchmal auch grau. / Einmal wird sie wieder bunter, / Einmal wird sie wieder himmelblau…

Ausklang

Heutzutage ist Molke ein wichtiges Nebenprodukt der seit der NS-Zeit immens gewachsenen „deutschen“ Käseindustrie. Die Herstellung von Molkepulver sichert die Rentabilität dieser im globalen Wettbewerb führenden Branche. 2019 wurden hierzulande 310.000 Tonnen Molkepulver hergestellt. Es dient nicht allein als Viehfutter, sondern ist ein unverzichtbares Zwischenprodukt der Lebensmittelindustrie, zumal von Babynahrung (Corina Jantke, Richard Riester und Amelie Rieger, Milch, in: Agrarmärkte 2020, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2021, 121-152, hier 147). Die grün-gelbe Molke hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem „grünen“ alternativen Getränk gemausert, das frisch oder aber in Form von Molkeprodukten von fast zwei Millionen Bundesbürgern einmal pro Woche oder aber häufiger konsumiert wird (Statistica 2021). Und doch führt keine gerade Linie von den NS-Ernährungsplanern in die alternativen und gesundheitsbewussten Zirkel.

Molkenprodukte waren während der Besatzungszeit stark gefragt, die Forschung lief weiter auf Hochtouren und es fehlte auch nicht an politischer Unterstützung (Georg Willfang und Erika Willfang, Molken- und Abzeugverwertung für die Ernährungswirtschaft […], Süddeutsche Molkerei-Zeitung 68, 1947, 154-158). Neben Migetti wurden vor allem zahlreiche Molkegetränke entwickelt (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 547). Nicht nur das 1941 präsentierte Molkenbier fand Käufer, sondern insbesondere Lactrone, ein Erfrischungsgetränk auf Molkengrundlage, dass ebenfalls von der Bayerische Milchversorgung GmbH verkauft wurde. Es hielt sich einige Jahre und war eines der nicht wenigen Beispiele für Kontinuitäten zwischen der NS-Forschung und der vermeintlichen Wirtschaftswunderzeit (Uwe Spiekermann, A Consumer Society Shaped by War: The German Experience 1935-1955, in: Hartmut Berghoff, Jan Logemann und Felix Römer (Hg.), The Consumer on the Home Front […], Oxford und New York 2017, 301-312, hier 306-308).

Doch trotz eines breiten Angebotes insbesondere von Molkegetränken scheiterten die neuen Produkte auf Molkebasis (A. Hesse, Molkengetränke […], Zeitschrift für die Untersuchung der Lebensmittel 88, 1948, 499-506). Das gilt auch für die meisten damals in anderen Staaten entwickelten Angebote, waren die deutschen Bemühungen doch Teil internationaler Forschung und Produktentwicklung (V.H. Holsinger, L.P. Posati und E.D. BeVilbiss, Whey Beverages: A Review, Journal of Dairy Sciences 57, 1974, 849-859). Das galt auch für Migetti, das auf der Agrarmesse 1949 in Frankfurt a.M. noch hoffnungsfroh präsentiert wurde (Deutsche Milchhandels- und Feinkost-Zeitung 71, 1949, 399). Trotz steten Kaufs und im Gegensatz zu den relativ guten Kundenbewertungen galt es – wie in zeitgenössischen Analysen – als überholtes NS-Austauschprodukt (Fascism in Action. A Documented Study and Analysis of Fascism in Europe, Washington 1947, 161). Für Migetti war kein Platz mehr als die Rationierung auslief und Nährmittel wieder in ausreichender Zahl und Güte verfügbar waren.

Und doch war Migetti mehr als eine leidlich erfolgreiche Episode im recht langen Kapitel der Austauschstoffe der NS-Zeit. Es setzte vielmehr erstens Standards für die Entwicklung und Herstellung neuer Konsumgüter, stand zweitens für die stofflich und technologisch dominierte und von Konsumenteninteressen weitgehend unberührte Forschungs- und Entwicklungsarbeit der Lebensmittelindustrie und belegt drittens eine ideologisch letztlich indifferente Arbeit der Ernährungsfachleute. Max Erwin Schulz wurde 1950 Institutsdirektor und Professor an der Bundesversuchs- und Forschungsanstalt für Milchwissenschaft in Kiel – und war dann eine prägende Figur bei der grundstürzenden Rationalisierung der Milchwirtschaft in der Bundesrepublik und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Uwe Spiekermann, 1. Mai 2021

Waffe an der NS-Heimatfront – Der Eier-Austauschstoff Milei

Wer im Lebensmittelhandel einkauft, weiß häufig nicht, was er schließlich mit nach Hause trägt. Gewiss, Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch jedes Produkt ist doppelbödig, stofflich und rechtlich definiert, Ausdruck eines vorgelagerten Expertenwissens, ohne das der Einkauf gar nicht möglich wäre. Das hat große Vorteile, erlaubt der Mehrzahl sich dem Leben abseits der Mühen um die tägliche Kost zu widmen. Doch es führt zu Unschärfen, zu Ängsten um Selbstbestimmung und Gesundheit, um Identität und moralische Integrität. Und dabei bleibt es nicht: Denn dieser schielende Blick auf unseren Einkauf gibt anderen Experten Platz für ihre Dienstleistungen oder aber neue Produkte. All das ist eine stabile und zugleich dynamische Marktstruktur, getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft und Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges.

Dieses Hamsterrennen im konsumtiven Laufrad lässt sich analysieren (vgl. als Versuch Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018). Geschichtswissenschaft fürchtet nicht den Spiegel, blickt übermütig und mutig hinein, um zu erklären und zu verstehen, wie wir wurden, wie wir kauften. Und wenn das Gekaufte nur schemenhaft bekannt ist, so gilt es sich just mit ihm zu beschäftigen. Doch wo ansetzen? Der Einkauf besteht eben aus Produkten, die allesamt aus Einzelkomponenten zusammengesetzt sind – schon ein flüchtiger Blick auf die Pflichtangaben auf der Verpackung gibt einen blassen Eindruck von den wertgebenden Stoffen, von der im Produkt materialisierten Arbeit. Moderne Produkte sind Komposita, bestehend auch Einzelstoffen, zusammengesetzt aus Zwischenprodukten. Sie sind reale Konstruktionen für deren Verständnis die Einzelkomponenten und das ganze Produkt in den Blick zu nehmen ist. Milch ist Milch, ein trinkfertiges Ganzes – und zugleich eine aus Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, Wasser, Mineral- und Mikrostoffen zusammengesetzte Komposition, Ausfluss einer langen Kette von künstlicher Besamung bis hin zur Kühltheke.

Ich will Sie nun einladen, mit mir aus dem Theoriehimmel hinabzusteigen, um sich einem Beispiel zu widmen, das diese Doppelbödigkeiten genauer zu beleuchten hilft. Milei war ein Ende 1938 eingeführtes Milcheiweißpräparat, ein Eier-Austauschstoff, der bis weit in die 1960er Jahre bedeutsam war. Das Besondere an Milei war sein Doppelcharakter: Es war erst einmal ein Zwischenprodukt für das Lebensmittelgewerbe und die Massenverpflegung. Zugleich aber war es ein Markenartikel für Verbraucher, die es in Kriegs- und Nachkriegszeiten als Zutat für das häusliche Kochen und Backen nutzten. Milei verband in sich damit den Widerspruch jedes Konsumgutes, das Zweck und Mittel zugleich sein kann.

Wenige Sätze zur Vorgeschichte seien erlaubt. Die Zahl der Zwischenprodukte hatte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zugenommen. Es handelte sich anfangs meist um einfache Sortenabstufungen, wie etwa bei unterschiedlich ausgemahlenen Getreideprodukten. Konservierte Zwischenprodukte folgten, etwa getrocknete Gewürze oder Suppenzugaben. Das Feld erweiterte sich aufgrund wachsender Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung der Nahrungsmittel, die Stoffprofile denkbar machten. Verstand man das Ganze als Summe seiner Teile, so konnten einzelne Bestandteile ausgetauscht werden, waren preiswertere und auf bestimmte Zielgruppen zugeschnittene Produkte möglich. Nicht Milch wurde nun in den Blick genommen, sondern Milcheiweiß und Milchfett, dann die in der Milch befindlichen Amino- und Fettsäuren – und jede dieser Komponenten konnte gesondert gewonnen, verändert und weiterverwertet werden; zumindest theoretisch. Denn die Isolation, die Verarbeitung und dann die Lagerung und der Vertrieb hingen von Wissen und Infrastrukturen ab, die erst entwickelt werden mussten. Denken Sie etwa an die Konservierungstechnik, den Maschinenbau und die Verpackungsindustrie. Butter und Käse waren die tradierten Wege der Bewahrung von Milchfett und -eiweiß. Doch durch einfaches Filtrieren der Milch konnte man bereits im späten 19. Jahrhundert nicht nur Quark und Sauerkäse gewinnen, sondern auch das Eiweißprodukt Kasein, das als Zwischenprodukt in Seifen, Kosmetika, Lacken oder Photofilmen eingesetzt wurde. Filtrieren bedeutete Konzentration durch Wasserentzug. Ein anderer Weg zum Eiweiß war Hitzezufuhr. Trocknungsverfahren wurden erprobt, doch auch ein so einfaches Produkt wie Trockenmilch gewann erst kurz nach 1900 an Bedeutung, anfangs in der Säuglingsernährung, dann auch in der Lebensmittelverarbeitung (Trockenmilch, Der Konsumverein 5, 1907, 357). Erst die verstärkte Nachfrage der kaiserlichen Armeen und der darbenden städtischen Bevölkerung führten während des Ersten Weltkrieges zu technisch versierteren Verfahren, die derartigen Milchkonserven langsam auch den Weg in die Lebensmittelverarbeitung bahnten (J[osef] Tillmans, Trockenmilch, Kosmos 19, 1922, 43-45), so bei Würsten und Backwaren.

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Mahl- und Verpackungsraum der M. Töpfer Trockenmilchwerke in Böhlen, Sachsen, 1914 (Kurt Friedel und Arthur Keller (Hg.), Deutsche Milchwirtschaft in Wort und Bild, Halle a.S. 1914, 221)

Derartige Zwischenprodukte hatten wichtige Vorteile: Die spezialisierte Produktion ermöglichte Maschineneinsatz, größere Verarbeitungsmengen und damit geringere Gestehungskosten. Kasein und Trockenmilch waren deutlich länger haltbar als Frischmilch und konnten somit die noch beträchtlichen saisonalen Unterschiede im Milchaufkommen ausgleichen. Schließlich erlaubte ihre pastöse oder pulverige Konsistenz, sie anderen Nahrungsgütern rezeptgenau zuzufügen: Neue und/oder billigere Waren wurden so möglich. Ähnliche Veränderungen gab es bei fast allen landwirtschaftlichen Gütern, so auch bei Eiern. Doch noch waren Trocknungs- und Kühltechnik kaum ausgebildet, wussten Wissenschaftler und Unternehmer nur wenig von den Schädigungen des Eiweißes durch Hitze oder Kälte, wussten nichts über die erst 1911 entdeckten resp. benannten Vitamine. Daran scheiterten wissenschaftliche Utopien einer durch billige Eiweißpräparate auskömmlich ernährten Bevölkerung, die um die Jahrhundertwende vielfach geglaubt wurden (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Ein komplexes Milcheiweißprodukt wie Milei setzte weitere massive Grundlagenforschung voraus.

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Trockeneier als Hilfe in der eiarmen Zeit (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 39, 32)

Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ als Nährboden von Eier-Austauschstoffen

Während des Ersten Weltkrieges war das Marktpotenzial verarbeiteter Milch- oder Eiprodukte überdeutlich geworden. Das betraf nicht allein die Säuglings- und Kinderernährung, das Backen und den Herd. Eiweiß fehlte in allen Bereichen der Küchen, das Essen wurde bröselig und fad. Hinzu kamen wachsende gesundheitliche Schädigungen, denn trotz des wissenschaftlichen Ringens um physiologische Eiweißminima fehlte der breiten urbanen Bevölkerung und zuletzt auch Teilen der Truppe die vermeintlich aufbauende Substanz der Ernährung. Die Folgen waren Schwarzhandel, Inflation und ein wucherndes Ersatzmittelwesen, das bis Ende des Krieges nicht wirklich gebändigt werden konnte. Unter den damals registrierten 12.000 Produkten dominierten Getränkesubstitute, lediglich 33 Eier-Ersatzmittel wurden behördlich anerkannt (August Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1927, 60-61). Das spiegelte die immensen technischen Probleme in der Verarbeitung von Eiweiß, das kaum konserviert werden konnte, sich aber rasch zersetzte.

Für Wissenschaftler bedeutete dies Forschungspotenzial, für Agrar- und Ernährungspolitiker Forschungsbedarf und für Unternehmer und Milchgenossenschaften ein schwer zu entwickelndes Marktfeld. Entsprechende Bemühungen setzten schon in den frühen 1920er Jahren ein, getragen von notwendigen Rationalisierungen insbesondere der Milch- und Eierwirtschaft. Die ab 1919 wieder möglichen Importe dämpften diese ab, zumal die Anbieter etwa aus den Niederlanden, Dänemark oder osteuropäischen Staaten entweder qualitativ hochwertigere oder aber billigere Waren liefern konnten. Dies änderte sich langsam seit der internationalen Agrarkrise, die Schutzzölle und massive Subventionen nach sich zog. Sie erreichten einen ersten Höhepunkt während der Weltwirtschaftskrise, die nicht nur den Zerfall der ersten Globalisierung markierte, sondern von intensiven Debatten über Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ begleitet war (Spiekermann, 2018, 359-365). Die Nationalsozialisten waren dabei keineswegs Auslöser oder bestimmende Kräfte, doch nach ihrer Machtzulassung setzten sie in bisher unbekanntem Maße staatliche Gelder für Forschung und Entwicklung ein. Die während der 1920er Jahre nochmals gewachsene Importabhängigkeit der deutschen Ernährungswirtschaft – 1929 wurden lediglich 72% des Kalorienbedarfs im Inland produziert – band eben nicht nur beträchtliche Devisen, sondern unterminierte auch die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches. Der von Beginn an anvisierte Krieg konnte nur auf Grundlage neuen Wissens und neuer Produkte „erfolgreich“ geführt werden (Spiekermann, 2018, 351-359).

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Importe als Gefährdung der deutschen Wirtschaft (Kladderadatsch 85, 1932, Nr. 43, s.p.)

Die Folgen waren einerseits eine massive Rationalisierung der Agrarwirtschaft, anderseits aber neuartige Lebensmittel: „Wir müssen schließlich bei vielen Erzeugnissen eine verbesserte Grundlage der deutschen Rohstofflage herbeiführen. Nicht Ersatzstoffe dürfen geschaffen werden, sondern neue Erzeugnisse, die vielleicht noch besser sind als die bisherigen“ – so etwa der nationalsozialistische Chemiker Hans-Adalbert Schweigart (1900-1972) (Aufgaben der landwirtschaftlichen Gewerbeforschung, Der Forschungsdienst 1, 1936, 87-89, hier 88). Dabei konzentrierten sich Wissenschaftler, Militärs und Unternehmer gleichermaßen auf die Minimierung der sog. Fett- und Eiweißlücken, denn bei diesen Stoffen war die Abhängigkeit vom Ausland besonders groß. Dazu galt es, heimische Rohstoffe effizienter zu nutzen und neue technische Verfahren zu entwickeln, um nährende Zwischenprodukte zu entwickeln (Fritz Steinitzer, Deutsche Technik und Ernährungsfreiheit, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 192-194, hier 192). Das war damals Ausdruck deutschen Erfindergeistes und wurde entsprechend offensiv propagiert: Verwertung von Blut, Fischmehl, Fischeiweiß, Hefe, Holzabfällen und Sulfitablaugen, Eiweißschlempe, synthetischem Harnstoff, synthetischen Fette sowie – eigentlich nach vorn zu setzen – Milcheiweiß. Noch handelte es sich dabei um Zwischenprodukte für die Lebensmittelproduktion, die an Bedeutung rasch wachsende Massenverpflegung und die Wehrmacht. Der Vierjahresplan intensivierte einschlägige Forschungen seit 1936 nochmals – und die Investitionen führten zu Ergebnissen.

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Neue Zwischenprodukte für Backstuben und Großbetrieb: Werbung für Schoeterol und Plenora (Mehl und Brot 40, 1940, 455; ebd., 42, 1942, 123)

1938 wurde etwa Aminogen eingeführt, ein mit Pektin versetztes Magermilchpräparat, oder auch Albugen, eine getrocknete und mit Zucker und Pektin versetzte Eiweißmasse, die schlagfertig war und in Haushalten und Bäckereien das Eiereiweiß ersetzten sollte. Damit war es gelungen, Eiweiß aus Magermilch, einem bis dato vor allem in der Tierfütterung eingesetzten Reststoff der Butterproduktion, für den Menschen neuartig nutzbar zu machen. Weitere Präparate sollten folgen, etwa Schoeterol, Plenora und eben Milei. Die verschiedenen Präparate waren dabei nicht nur Ausdruck erfolgreicher Forschung. Die Zersplitterung des Angebotes verwies auch auf die nach wie vor bestehenden Defizite dieser Austauschprodukte für Eier. Der Eiweißgehalt stimmte, stammte auch aus billigen heimischen Rohstoffen. Doch sie alle besaßen Defizite im Geschmack oder aber in der Verarbeitungsqualität. Hühnerweiß war ein probates Bindemittel und konnte zu Eischnee geschlagen werden, gab Speisen und Produkten eine ansprechende Konsistenz und Textur. Die neuen Milcheiweißpräparate versuchten allesamt diesem Ideal zu genügen, doch ein vollwertiger Ersatz gelang nicht.

Bevor wir uns genauer mit Milei auseinandersetzen, ist noch ein Blick auf die Eierversorgung dieser Zeit erforderlich. Das Milcheiweiß übersprang nämlich die Branchengrenzen: Kuhmilch sollte das Hühnerei substituieren. Letzteres war das drittwichtigste tierische Lebensmittel – nach Fleisch und Kuhmilch. Zumeist in kleinen, bestenfalls mittleren Betrieben herstellt, war der Importdruck durch die qualitativ überlegene und vielfach billigere ausländische Konkurrenz jedoch besonders spürbar. Noch 1936 wurde ca. ein Sechstel des Inhaltsbedarf durch Importe gedeckt ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Taf. IV). Anders als in der Milchwirtschaft stand die Forschung in der Eierbranche erst in den Anfängen (Bernhard Grzimek, Die Forschungstätigkeit in der Eierwirtschaft, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit, Neudamm und Berlin 1938, 581-584). Zugleich war das Hühnerei eine hochgradig saisonale Ware: Fast sechzig Prozent der heimischen Eier wurden in nur vier Monaten gelegt, von März bis Juni (Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 25). Die Importe glätteten die Versorgungstäler zumal im Herbst und im Winter, waren daher für die Grundversorgung vielfach notwendig. Kühlhäuser fehlten und die übliche Haushaltskonservierung mit kalkhaltigen Präparaten ergab leicht muffig schmeckende Eier, die für Backwerk nicht richtig genutzt werden konnten. Milcheiweißpräparate waren daher unabdingbar für die allseits propagierte „Nahrungsfreiheit“. Schon im Frieden waren sie kriegswichtig.

 Milei als Verbundprojekt von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat

Seit Dezember 1938 wurde Milei als „Schlagfähiges Milch-Eiweiß-Erzeugnis“ (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. v. 155) angeboten. Es bestand aus 90 % Magermilch, 10 % Molke sowie technischen Hilfsstoffen und wurde anfangs von der Württ[embergi­schen] Milchverwertung AG, Stuttgart, ab 1940 dann von ihrem neu gegründeten Tochterunternehmen, der Milei-GmbH, hergestellt. Milei entstand im Gefolge umfassender, im Milchwerk Stuttgart durchgeführten Versuche der württembergischen Dienststelle Vierjahresplan und des württembergischen Wirtschaftsministers (Weihnachtsgebäck mit „Milei“, Badische Presse 1938, Nr. 330 v. 30. November, 6). Milei – eine Abkürzung für Milcheiweiß – diente als Austauschstoff für Hühnereiweiß, denn es konnte zu Eischnee geschlagen und verbacken werden. Anders als manche Vorgängerprodukte deckte es damit eine breite Palette der süddeutschen Mehlspeisenküche ab. Nudeln und Spätzle, Waffeln und Pfannkuchen, Klöße und Knödel, Schaumspeisen und Aufläufe, Kleingebäck und einfache Kuchen – in all diesen Fällen konnte Milei „Volleier“ nahezu gleichwertig ersetzen, nachdem Ende 1939 auch Milei G produziert wurde, ein Austauschstoff für Eigelb.

Das neue Milcheiweiß war Ergebnis kleinteiliger und langjähriger Forschungen. Auch wenn die Patente letztlich auf den Maschinenbauingenieur Karl Kremers liefen, so profitierte dieser doch von der durch das Milchgesetz von 1930 beschleunigten Verwissenschaftlichung und wirtschaftlichen Rationalisierung der Milchwirtschaft. Die Details der Produktentwicklung sind mangels aussagefähiger Archivalien nicht exakt nachzuzeichnen. Doch die groben Züge dieser gemeinsamen Anstrengung von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat sind recht klar:

Karl Kremers hatte 1930 an der TH Aachen mit einer Arbeit über „Das System Kupfer-Zink“ promoviert, die aus gemeinsamer Forschung mit seinem akademischen Lehrer Rudolf Ruer (1865-1938) hervorgegangen war (Ders. und Karl Kremers, Das System Kupfer-Zink, Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 184, 1929, 193-221). Ruer, eine Kapazität im Felde der physikalischen Chemie, sollte 1933 aufgrund seines jüdischen Glaubens in den Ruhestand gezwungen werden. Kremers forschte anschließend weiter im eingeschlagenen Forschungsfeld, wandte sich jedoch parallel der Lebensmitteltechnik zu. 1933 beantragte er – gemeinsam mit seinem Aachener Kollegen Heinz G. Hofmann – ein erstes Patent zur „Gewinnung von Eiweißstoffen aus Molken und Vorrichtungen zur Ausführung des Verfahrens“. Preiswertes Molkeeiweiß, Reststoff der Käseproduktion, sollte mittels Elektrizität verändert und einfach gewonnen werden (Chemisches Zentralblatt 1935, Bd. II, 2898). Weitere Patentanmeldungen folgten 1935 (Die Chemische Fabrik 8, 1935, 336, gemeinsam mit Heinz G. Hofmann) und 1938 (DRP 725955; DRP 739983), doch ihre kommerzielle Nutzung übernahm ein neues Unternehmen: Am 28. Februar 1938 wurde in Stuttgart die Forschungsgemeinschafft Dr. Kremers GmbH gegründet – eine Woche nach Erteilung des Milei-Patentes. Geschäftsführer war Dr. Friedrich Brixner (1904-1975), der starke Mann und Vorstandsvorsitzender der Württembergischen Milchverwertung AG, die bis spätestens Ende 1942 mit 50% beteiligt war (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4). Unternehmensgegenstand war „die Ausarbeitung, der Erwerb und der Vertrieb von Verfahren, Patenten und sonstigen Schutzrechten, die zur Verarbeitung und Verwertung der Milch von Tieren aller Art, der Milcherzeugnisse und der Bestandteile der Milch sowie eiweißhaltiger Lösungen tierischen und pflanzlichen Ursprungs geeignet sind, im In- und Auslande, insbesondere der Erfindungen und Schutzrechte des Dr. Karl Kremers“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 61 v. 14. März, 8). Kremers beantragte ab 1939 auch internationalen Rechtsschutz: Der US-Patentantrag von Milei (No. 257240) war am 18. Februar 1939 eingereicht worden, der für Milei-G folgte am 16. Mai 1939. Die Firma hielt auch in Frankreich, Belgien, Spanien und der Schweiz Patente, wahrscheinlich auch in weiteren Staaten. Kremers verbesserte die Produktionstechnik kontinuierlich, wobei er sich besonders auf die Verarbeitungsqualität von Magermilchpräparaten konzentrierte (Chemisches Zentralblatt 1945, Bd. II, 88 und 313).

Die angewandte Forschung wurde durch staatliche Stellen unterstützt, doch von mindestens gleicher Bedeutung war die Förderung durch die Württembergische Milchverwertung. Dabei handelte es sich um eine 1930 von regionalen Milchproduzenten gegründete Aktiengesellschaft, die ihr Entstehen der mit dem Milchgesetz verbundenen strikten Regulierung der Milchwirtschaft verdankte. Das Unternehmen übernahm 1933 die Milchversorgung Stuttgart GmbH, die nicht nur Butter, Quark und Joghurt produzierte, sondern 1936 auch 693,5 Tonnen Magermilchpulver, 387,3 Tonnen Vollmilchpulver und kleinere Mengen Butter- und Sahnepulver herstellte (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht 1936, Stuttgart 1937, 9). Die Württ. Milchverarbeitung war profitabel und wuchs rasch. 1937 erwirtschaftete sie einen Reingewinn von 65.237 RM, 1939 von 66.250 RM – bei einer Bilanzsumme von 4,42 resp. 6,59 Mio. RM (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7; ebd. 1940, Nr. 131 v. 6. Juli, 9). In der Bundesrepublik entwickelte sich aus dem Württ. Milchverwertung die Südmilch AG, die ihrerseits 1996 in der Campina AG aufging, heute FrieslandCampina Germany GmbH.

Die Stuttgarter Firma vertrieb Milei 1939/40 unter eigenem Namen, legte diese Arbeit jedoch nach Kriegsbeginn in die Hände einer Tochterfirma, der Milei GmbH. Diese wurde „anfangs“ 1940 mit Unterstützung der Hermann-Göring-Werke gegründet, ausgestattet mit einem Stammkapital von 250.000 RM (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht für das 10. Geschäftsjahr […] 1940, Stuttgart 1941, 5; E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 88-89). Wohl zur Sicherung der eigenen Produktion übernahm sie im August 1940 die nahe der heutigen Universität gelegene Stuttgarter Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik für 199.500 RM (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 230 v. 1. Oktober, 10). Als Geschäftsführer fungierten Otto Häußler (Vorstand der Württ. Milchverwertung AG, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7), Karl Feneberg (früherer Geschäftsführer der Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik in Birkenfeld, Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 98 v. 30. April, 9 und Geschäftsführer der Milei GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 212 v. 10. September, 6)) und Alfred Schächtel, früherer Prokurist von Eiermann (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 25 v. 1.

Was war Milei?

Kommen wir zum Produkt selbst: Milei war ein Milcheiweißpräparat aus Magermilch und Molke. Hinter dem Namen verbarg sich anfangs ein Eiweißaustauschstoff, der sich gut zum Aufschlagen und Backen eignete. Dazu wurde nahezu vollständig entfettete Magermilch oder aber eine mit Natriumhydroxid neutralisierte Mischung aus Magermilch und Molke verwandt. Diese Grundmasse wurde anschließend in einem Vakuumverdampfer aus rostfreiem Stahl auf etwa 40 Prozent ihres Ausgangsgewichtes eingetrocknet und dann mit Kalkmilch auf einen pH-Wert von über 7 gebracht. Dieses Gemenge wurde schließlich per Sprühtrockner auf einen Feuchtigkeitsgehalt von 3-4 Prozent reduziert. Die Trockentemperatur durfte dabei 60° C nicht überschreiten. Am Ende stand ein weißes Pulver, das unmittelbar gemahlen und verpackt werden konnte (Vgl. die Patentschrift US2349969A.pdf sowie Bate-Smith et al., 1946, 89-91; N.E. Holmes und J.F. Kefford, The Manufacture of „Milei‘ Egg-Substitutes, London s.a. [1946] (B.I.O.S. Trip, Nr. 3344)).

„Milei“ entwickelte sich seit 1939 zu einer Dachmarke. Während Milei Eiweiß substituierte, diente das kurz nach Produktionsbeginn zusätzlich hergestellte Milei G dem Ersatz von Eigelb. Milei G wies im Gegensatz zu Milei keinen Molkenzusatz auf, konnte durch die Wahl unterschiedlicher Trocknungsgrade auch für verschiedene Nutzungsarten aufbereitet werden. Als Zusatzstoffe dienten Dinatriumhydrogenphosphat (heute auch bekannt als E 339), Johannisbrotkernmehl und gelbe Lebensmittelfarbe, wohl das bald darauf verbotene krebserregende Buttergelb (Holmes und Kefford, 1946, 2-3; 274000kremers.pdf). Die Milei GmbH nutzte auch weitere Patente, etwa für schaumfähige Produkte aus Kasein, eine Innovation des Nürnberger Milchwissenschaftlers Max Erwin Schulz (1905-1982) vom Juli 1938. Dennoch ist es auch ohne fundierte lebensmittelchemische Kenntnisse offenkundig, dass es sich bei den Produktionsverfahren nicht um High-Tech handelte, sondern um relativ einfach umsetzbare, also „robuste“ Technik. Als Trocknungsanlagen verwandte man etwa die schon seit 1931 im Deutschen Reich eingeführten Krause-Anlagen, nutzte also Bewährtes (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 60, 1931, 183). Dadurch war eine rasche Umsetzung des Wissens in Produkte möglich.

Die damaligen Planer und Wissenschaftler rückten andere Sachverhalte in den Vordergrund. In der volkswirtschaftlichen Fachpresse hieß es: „Milei ist ein schlag- und backfähiges, in Wasser lösliches Pulver, das in reiner Form […] die vollständigen Eiweißstoffe der Milch enthält […]. Der volkswirtschaftliche und privatwirtschaftliche Nutzen dieser Erfindung ist vielseitig. Sie verspricht, die seit Jahren schwierige Eierversorgung zu entlasten, die Haushaltsführung zu verbilligen, die Milchverwertung des Landmanns zu verbessern, und sie bahnt schließlich auch eine Verbesserung der Eiweißbilanz der deutschen Ernährungswirtschaft an“ („Milei“ statt Knickei, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1303). Milei war nicht nur strategisch wichtig, sondern konnte bereits vor Kriegsbeginn die Auswirkungen des japanischen Krieges gegen China vermindern. Großküchen und Bäckereien waren vielfach abhängig von billigen importierten chinesischen Flüssigeiern, die 1938 etwa ein Achtel der Eierimporte ausmachten. Milei sollte erst einmal helfen, den gewerblichen Eierbedarf zu decken, der ungefähr zwei Fünftel des Gesamtverbrauchs abdeckte. Ökonomisch konnte dies mit einer deutlichen Verbilligung einhergehen, denn die Eiweißkosten von Milei lagen bei der Hälfte des Hühnereiweißes.

Produkteinführung vor dem Kriege

Trotz solcher um die gewerbliche Lebensmittelversorgung kreisenden Überlegungen wurde Milei jedoch seit Ende 1938 auch als Markenartikel im Einzelhandel angeboten. Schoeterol und Plenora, Aminogen und Albugen blieben den Fachleuten vorbehalten, waren und blieben Zwischenprodukte in den rückwärtigen Bereichen von Handwerk, Lebensmittelproduktion und Großküchen. Milei aber war von Beginn an ein Alltagsprodukt, das einschlägig beworben wurde.

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Produkteinführung unter dem Logo der Württ. Milchverwertung und der Milchversorgung Stuttgart (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Anfangs war es die Württ. Milchverwertung AG, die zusammen mit der Milchversorgung Stuttgart das in kleinen Metalldosen verpackte Milei vertrieb (Badische Presse 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 17, ebd., Nr. 50 v. 19. Februar, 17). Die luftdichten Verpackungen enthielten 20 bzw. 40 Gramm und entsprachen 4 bzw. 8 Volleiern resp. 8 bzw. 16 Hühnereiweißen (F[ritz] St[einitzer], Austauschstoffe für das Ei in der Küchentechnik, Zeitschrift für Volksernährung 15, 1940, 9-10). Die Verbraucher mussten allerdings wahrlich an die Hand genommen werden, denn das neuartige Pulver erforderte einen steten Zwischenschritt, musste nämlich vor der Verarbeitung in Wasser aufgelöst werden. Analoge Anzeigen wurden auch in der Fachpresse der Gemeinschaftsverpflegung geschaltet (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. vor 155). Neben Milei, seit Frühjahr 1941 Milei W (für Weiß = Eischnee), trat Ende 1939 Milei G (für Gelb = Eigelb) (Badische Presse 1939, Nr. 181 v. 5. Juli, 11).

Die Begleitpublizistik der gelenkten deutschen Presse kombinierte Sachinformationen mit Lobpreisungen des deutschen Forschergeistes: „Dass Kühe nicht nur Milch und Fleisch liefern, sondern auch Hühnereier produzieren sollen, wird manchem zunächst reichlich unglaublich und unvorstellbar erscheinen. Dennoch ist es ein Wunder, das tatsächlich geschieht und das die moderne Nahrungsmittelchemie möglich gemacht hat“ (Eiweiß und Eigelb aus Milch, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1940, Nr. 46 v. 20. Juli, 8). Wie einst der Rübenzucker und der Zichorienkaffee die Kontinentalsperre überwinden halfen, so könnten nun moderne Eier-Austauschstoffe die notwendige Abkehr Deutschlands von den Weltmärkten absichern. Ja mehr als das. Milei war eben kein „Ersatzmittel“, sondern vollwertiger „Ausgleich, der sich von dem Hühnereiweiß nur in einem unterscheidet, nämlich daß der Stoff, aus welchem es hergestellt wird, reichlich vorhanden ist, während die Eier immerhin knapper sind“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Sein Kauf war Dienst am Volke, zugleich doppelt nützlich: „Die Verwendung von Milei in der Küche hilft in hohem Maße Devisen sparen und ist auch für den einzelnen Haushalt wirtschaftlich vorteilhaft, da Milei viel billiger ist als Eier“ (Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 247 v. 24. Oktober, 5). Dieses Nutzenkalkül wurde statistisch unterfüttert: „88,5 Millionen Hühner legten 1938 6,4 Milliarden Eier. Eine hübsche Menge! Aber nicht genug, um den Verbrauch von 8,1 Milliarden Stück zu decken […]. Aber jetzt tritt Milei auf den Plan“ (Rudolf Vogel, Milei und das Hühnerei, Das Kleine Volksblatt 1939, Nr. 91 v. 2. April, 18). Im Ausland wurde es dagegen als Ausdruck einer Kriegswirtschaft vor dem Kriege verstanden (Der Bund 1939, Nr. 155 v. 2. April, 12).

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Einführungswerbung von Milei durch den Karlsruher Lebensmittelfilialisten Union (Badische Presse 1939, Nr. 40 v. 9. Februar, 5)

Die Produkteinführung beruhte neben der Anzeigenwerbung vor allem auf Koch- und Rezeptbüchern, auf Rezepten in Tageszeitungen oder aber allgemeiner Kochbüchern (Sigma Kochanleitung. Eine Auslese bewährter Rezepte und Betriebsanleitung für den Sigma Elektroküchenherd, Mannheim 1939, 54-56). Auch die nach Kriegsbeginn unmittelbar geschalteten Anregungen für einen Wochenküchenzettel verbreiteten die Kenntnis des neuen Produktes (Badische Presse 1939, Nr. 219 v. 12. August, 10; Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 193 v. 19. August, 12; ebd., Nr. 214 v. 13. September, 8; Badische Presse, Nr. 284 v. 16. Oktober, 5; ebd., Nr. 291 v. 23. Oktober, 4). Sie stammten aus den Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes, das Milei zudem mit ihrem Sonnenzeichen ausgezeichnet hatte. Rezepte wirkten wie Gütezeichen durch erfahrene Hausfrauen und studierte Hauswirtschaftslehrerinnen. Die Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes präsentierten zudem regionalspezifische Rezepte, zerstreuten so Vorstellungen dekretierter Einheitsküche. Sie halfen den Kartenbezieherinnen zugleich, das neue Produkt in just ihrer Küche zu verwenden.

Die in Tageszeitungen veröffentlichen Rezepte ließen teils noch die Wahl, lauteten auf „1 Ei oder Milei“ (Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 252 v. 27. Oktober, 5). Teils aber gaben sie nur noch die Zahl der notwendigen Löffel Milei an (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 51 v. 23. Dezember, 3; Land und Frau 24, 1940, 244). Auch für die Weihnachtsbäckerei waren einschlägige Milei-Rezepte verfügbar (Der Führer am Sonntag 1939, Nr. 46 v. 17. Dezember, 3). All dies war begleitet von gesonderten Werbe- und Rezeptbroschüren der Württ. Milchverarbeitung und der Milei GmbH, deren Umfang zwischen 12 und 16 Seiten schwankte (Milei-Rezepte für die Hausfrau, Stuttgart 1939; Milei in der Großküche, Stuttgart 1939; Rezepte für die Gemeinschaftsverpflegung, Stuttgart 1940). Zum wichtigsten derartigen Werbemittel mutierte das so genannte grüne Milei-Merkbuch für die Hausfrauen. Es umfasste immerhin 36 Seiten, enthielt Abbildungen und eine nicht wirklich anheimelnde, doch nützliche Palette von Rezepten für Kurz-, Spar- und Restgerichte, Kleingebäck und die Kinderernährung (Zeitgemäßes Kochen – Backen – Braten, Stuttgart 1940).

07_Der Fuehrer_1939_01_15_p08_Milei_Deutsches-Frauenwerk_Kochvorfuehrung_Haushaltsberatung

Einführung von Milei durch das Deutsche Frauenwerk (Der Führer 1939, Ausg. v. 15. Januar, 8)

Der Kriegsbeginn war für Milei eine kommerzielle Chance, denn nun wurde es reichsweit propagiert. Die Ernährungsführung legte gezielt nach, lieferte im Oktober 1939 etwa je 400.000 Dosen in die Metropolen Berlin und Wien (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). „Das Ei aus der Milch“ – so ein Slogan – wurde offensiv beworben. Zentral war dabei die Schlagfähigkeit des neuen Produktes, Beleg seiner Hühnereiebenbürtigkeit. Die Werbung selbst hatte mehrere Väter. Einer davon war Anton Stankowski (1906-1998), ein früherer Folkwankschüler. Er hatte von 1929 bis zum Entzug der Aufenthaltsgenehmigung 1934 in der Schweiz gearbeitet, war dann in Lörrach tätig und machte sich 1938 als Graphiker in Stuttgart selbständig. Dort arbeitete er für NSU und Milei, bevor er ab 1940 zum Kriegsdienst einberufen wurde (Hans Neuburg, Anton Stankowski, Gebrauchsgraphik 22, 1951, Nr. 7, 10-22, hier 18). Nach dem Weltkrieg wurde er Schriftleiter der Stuttgarter Illustrierten und setzte seine Arbeit für Milei fort. Stankowski wurde in der Bundesrepublik zu einem der wichtigsten Typographen, seine Firmenlogos begleiteten und prägten die prosperierende Bonner Republik (Iduna, Vissmann, Rewe, Deutsche Bank, Vereinigte Versicherungen, BKK, etc.). Auch wenn nicht genau abzuschätzen ist, wie weit er die Milei-Werbung zumal nach 1940 prägte, so ist deren klare funktionalistische Formensprache doch auch auf Stankowskis (Mit-)Wirken zurückzuführen.

Diese realisierte, dass Milei ein technisches Produkt war, materialisiertes Know-how. Darin glich es technischen Produkten, Motorrädern, Radios oder Elektrokühlschränken. Mileis Verbreitung war auch eine präziser Gebrauchsanweisungen, die sich auf den Dosen, dann auf dem Rücken der bald üblichen Papierpackungen fanden. Die Werbesprache zielte entsprechend nicht auf Atmosphäre oder Gefühle: Es ging vielmehr um die Programmierung des Hausfrauenhandelns, um Wissen, Pflicht und Tun. Das lag nahe angesichts der rasch spürbaren Härten der frühen Rationierung, die einen allgemeinen Gewichtsverlust der Bevölkerung billigend in Kauf nahm (vgl. aus vornehmlich rechtlicher Sicht Fritz Keller, Kochen im Krieg. Lebensmittelstandards in Deutschland und Österreich 1933 bis 1945, Wien 2017). Die gelenkten Medien verlautbarten entsprechend: „Wir kaufen, was der Markt uns bietet! Wir lassen nichts umkommen!“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Und rasch wusste die Hausfrau, wie sie mit dem weißen Pulver umzugehen hatte: Es war mit etwas Wasser vorzubereiten. Milei W wurde geschlagen, Milei G dagegen ungeschlagen weiter verarbeitet. Bei Fleisch- und Fischspeisen oder aber Nudeln konnte dies unterbleiben. Frischeier sollten dem Frischverbrauch vorbehalten sein, als Frühstücksei den Sonntagstisch zieren. Ansonsten konnten sie durch Milei ersetzt werden (Illustrierte Flora und Nützliche Blätter 65, 1941, Beil., 20).

Etablierung in Bäckereien und Gemeinschaftsverpflegung

Die Verwendung von Milei im Haushalt war ein Zugeständnis an die Konsumenten, denn Neues ließ sich einfacher in der Lebensmittelproduktion und der Gemeinschaftsverpflegung einführen. Wer schmeckte schon die Soja im Bratling, das „deutsche Gewürz“ im Eintopf, den Eier-Austauschstoff in der Wurst. Milei aber etablierte sich als Breitbandangebot, als Innovation für Alle: „Heute wird Milei und Milei G. nicht nur bei der Wehrmacht und in Grossküchenbetrieben, sondern auch in Bäckereien und darüber hinaus, soweit es die Produktionskraft möglich macht, auch in jedem Haushalt verwendet“ (Eiweiß, 1940). Entsprechend nahm Milei auch regulative Hürden ohne größere Probleme, wurden gleich nach Kriegsbeginn doch Kennzeichnungspflichten zugunsten des neuen Austauschstoffes reduziert: Speiseeis durfte ab November 1939 ohne Kennzeichnung auch mit Milei G produziert werden, ein Anreiz für Konditoren und Industrie (Ministerialblatt für die badische innere Verwaltung 1939, Sp. 1288).

Die rückwärtigen Lebensmittelsektoren erhielten zudem Spezialprodukte: Milei G II war ein Eigelbersatz mit hohem Lockerungs- und Schaumvermögen, das nach dem Auflösen unmittelbar in Bäckerei und Großküche verarbeitetet werden konnte. Die Milei GmbH etablierte einen eigenen Aufklärungsdienst und bot Schaukochen und Weiterbildungen an (Hamburger Neueste Zeitung 1941, Nr. 80 v. 4. April, 3), nutzte daneben die schon erwähnten Rezeptbücher. Der günstige Preis half, in der Bäckerei das Hühnereiweiß weiter zu ersetzen, ebenso in der Wurst- und Suppenfabrikation. Auch Krankenhausküchen griffen zum Austauschstoff (Hans Glatzel, Krankenernährung, Berlin (W), Göttingen und Heidelberg 1953, 394). Überraschend ist allerdings, dass die Milei-Werbung Bäckereien und Großküchen nicht grundlegend anders als Hausfrauen ansprach. Dies ist nur vor dem Hintergrund der kleinteiligen Produktions- und Absatzstruktur der Bäckereien zu verstehen. Im Deutschen Reich war die Zahl größerer Backwarenproduzenten gering, gab es keine wirklich bedeutenden Filialbetriebe. Die Werbung auch in der Fachpresse blieb leicht verständlich.

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Vermittlung grundlegender Kenntnisse über Milei (Mehl und Brot 42, 1942, 345 (l.); ebd. 187)

Das änderte sich auch nicht Mitte 1942. Damals wurde Milei V (= Vollei) als verbessertes Substitut für Eiweiß eingeführt, ersetzte Milei G II (Mehl und Brot 42, 1942, 365). Derartige Maßnahmen folgten aber nicht nur weiterer Forschung oder neuen Maschinen. Sie spiegelten auch die Kriegssituation: Milei G wurde anfangs mit Hilfe von Fruchtkernmehl produziert, einem Bindemittel aus Johannisbrotkernmehl, das aus Italien und Marokko importiert wurde. Doch die Zufuhren brachen weg und mussten durch Bohnenmehl ersetzt werden, dessen Viskosität deutlich niedriger lag (Holmes und Kefford, 1946, 1-2). Qualitätsschwankungen waren die Folge, zumal die Produktionsstätten unterschiedlich ausgestattet waren. Auch der spürbare Mangel an Verpackungsmaterial hatte Auswirkungen auf das Produkt. Die Magermilch wurde im Laufe des Krieges immer stärker evaporiert, obwohl die Bäckereien eigentlich ein luftigeres Präparat bevorzugten, das schaumigere Ware ermöglichte. Ein stärker getrocknetes Produkt verbrauchte jedoch weniger Verpackungsmaterial. Üblich waren mehrlagige Säcke von 25 Kilogramm Gewicht. Die Bäcker mussten also entweder die Gebäckmassen stärker schlagen oder eine weniger ansprechende Ware verkaufen. Gleichwohl funktionierten die Gewerbebetriebe bis zum Kriegsende willig und gläubig. Sie waren unmittelbar von Rohstoffzuweisungen der Behörden abhängig – und damit leicht zu sanktionieren und zu lenken.

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Gewährleistung der Alltagsversorgung: Milei-Werbung in der Endphase des Krieges (Mehl und Brot 43, 1943, 419 (l.); ebd. 44, 1944, 239)

Akzeptierte Alternative zur Eiernot: Milei im System der Rationierung

Widerstand blieb auch bei der Bevölkerung eine Ausnahme, weit verbreitetem Murrens zum Trotz (Andrea Brenner, „Milei“ und Sojabohne. Ersatzlebensmittel im Zweiten Weltkrieg, Wiener Geschichtsblätter 62, 2007, H. 3, 28-53; Fritz Keller, Wie „Ostmärkische Leckermäuler“ den Eintopf verdauen lernten, Zeitgeschichte 34, 2007, 292-309). Milei betraf dies kaum. Selbst die Gewährsleute der sozialdemokratischen Opposition vermerkten in einem Sonderbericht über Ersatzspeisen: „Es gibt aber auch Ersatzmittel, die in Geschmack und Verwendungsfähigkeit einigermaßen dem Original entsprechen, z. B. das Milei, das hauptsächlich aus Milcheiweiß besteht.“ Vor dem Krieg eingeführt, wurde es nun „ erst allgemein gebraucht und auf jeweils bekanntgegebene Markenabschnitte der Lebensmittelkarte abgegeben“ (Beides n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 6, 1940, 65).

10_Straßburger Neueste Nachrichten_1940_10_13_Nr086_sp_Neues Wiener Tagblatt_1941_03_28_Nr13_p12_Milei_Austauschstoff_Eier

Austauschstoffe als Küchenereignisse (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1940, Nr. 86 v. 13. Oktober, 86, s.p. (l.); Neues Wiener Tagblatt. Wochenausgabe 1941, Nr. 13 v. 28. März, 12)

Die relative Akzeptanz von Milei war auch Folge einer breit gestreuten und sachlich gehaltenen Werbesprache. Zudem wurde Milei verlässlich geliefert, war das technische Produkt angesichts des immer noch recht breiten Anfalls von Magermilch und Molke von saisonalen Schwankungen kaum betroffen. Zudem wurde die Produktion rasch hochgefahren. Mitte 1940 wurde der Austauschstoff bereits in acht Betriebsstätten produziert, war die Milei GmbH damit „das grösste Unternehmen seiner Art in Deutschland“ (Eiweiß, 1940).

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Das Neue verarbeiten: Eischnee mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 517)

Entscheidend für die Akzeptanz beim Verbraucher dürften jedoch die küchentechnischen Eigenschaften des Eier-Austauschstoffes gewesen sein. Er hielt schlicht, was er versprach. Dies resultierte auch aus seiner relativ späten Einführung. Die frühen Eier-Austaustoffe dienten vorwiegend ihrem Primärzweck, nämlich der Verwertung billiger und allseits verfügbarer Rohware. Bei späteren Produkten berücksichtigte man dagegen die küchentechnischen Eigenschaften höher, den Geschmack stärker (M[ax Erich] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Ohne ordentlichen Geschmack kein erfolgreicher Krieg.

Doch Milei war auch ein Kopfprodukt. Als Austauschstoff half es, die strukturelle Veränderung der Alltagskost zu begrenzen, der sich die meisten Konsumenten nicht entziehen konnten. Generell sank der Kalorienverbrauch (Vorkriegszeit = 100) über 91 Prozent 1939/30 und 1942/43 auf 86 Prozent 1944/45. Während der Kohlehydrateanteil aber moderat auf 102 Prozent stieg, sank vor allem der Anteil der Fette, der 1944/45 nur noch 53 Prozent des (nicht eben üppigen) Vorkriegskonsums erreichte. Der Eiweißgehalt der Alltagskost konnte bis 1943/44 dagegen fast auf Vorkriegshöhe gehalten werden, sank erst 1944/45 auf dann 91 Prozent. Tierische Eiweißquellen machten damals noch 69 Prozent aus, bremsten damit die allgemeine Vegetabilisierung der Ernährung (Angaben n. Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, s.l. s.a. (Ms.), s.p.). Milei stützte während des Zweiten Weltkrieges vor allem den wegbrechenden Eierkonsum. Dieser lag 1944/45 nur mehr bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte: 1939/40 handelte es sich um 140 Stück pro Kopf, 1941/41 um 87 und 1944/45 schließlich um 68 (Häfner, s.a.). Anfangs ergänzten Importe vor allem aus Dänemark, den Niederlanden und Bulgarien den Konsum, doch schon 1943/44 lagen die Werte bei lediglich einem Zehntel der Importe von 1939/40. Milei war ein reeller und spürbarer Puffer.

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Die werbliche Illusion vom Naturstoff (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 131 v. 12. Mai, 8 (l.); Der deutsche Volkswirt 16, 1942, 529)

Etablierung als reichsweiter Standardaustauschstoff

Die Milei GmbH erweiterte 1940 ihre Produktpalette um Milei Nachspeise, einem Schaumprodukt für süße Nachspeisen, zugleich ein Zuckersparer (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Als Ersatz für Puddingpulver erfüllte er eine wichtige Funktion, denn Vollmilch war für Erwachsene immer schwerer zu erhalten. Auch als „Wehrmachts-Milchspeise“ gewann er weite Verbreitung (Schulz, 1942, 16).

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Milei-„Aufklärung“ mittels Werbefilm (Werben und Verkaufen 25, 1941, 239)

Wichtiger aber war eine seit 1941 intensivierte reichsweite Produktwerbung. Sie folgte den Vorgaben der Ernährungsplaner, die nicht allein auf den Zwang der Rationierung setzten, sondern an die Einsicht der Volksgenossen appellierten. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), führender Kopf der Truppenverpflegung, formulierte dafür klare Vorstellungen: „Mit der technischen, geschmacklichen und ernährungsphysiologischen Eignung eines Rohstoffes ist die Einführung noch nicht gesichert. Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit)“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 207). Es galt, dem Produkt eine positive Aura zu verschaffen – und damit gleichzeitig allen neuen Austauschprodukten. Gedacht war das ähnlich wie bei den Vitaminen, deren breit ausgemalte Heilwirkungen in den 1920er Jahren zu einer Neubewertung der ehedem „schwachen“ pflanzlichen Produkte geführt hatte (Uwe Spiekermann, Bruch mit der alten Ernährungslehre. Die Entdeckung der Vitamine und ihre Folgen, Internationaler Arbeiterkreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen 4, 1999, 16-20).

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Erstes Kriegsostern mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 472)

Die Milei-Werbung bediente sich entsprechend einer breiten Palette von Werbemitteln, die bis hin zum Werbefilm reichte, der vor der Wochenschau und dem Hauptfilm in den Kinos mit ihrem Millionenpublikum gezeigt wurde. Die Anzeigenwerbung wurde ab 1941 zu Kampagnen gebündelt, die jeweils eine einheitliche Formensprache kennzeichnete. Vor dem Angriff auf die UdSSR präsentierte die Milei GmbH immer noch das Produkt selbst, stellte dessen Nutzen und die erforderlichen hauswirtschaftlichen Kniffe in den Mittelpunkt.

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Informationen für den Umgang mit dem Neuen (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 158 v. 9. Juni, 7 (l.); ebd., Nr. 71 v. 12. März, 12)

Doch die Werbekampagne 1941 ging schon über den alleinigen Nutzen heraus. Der „Milei-Aufklärungsdienst“ verband das Produkt mit allgemeinen Attributen gängiger Lebensmittel, betonte etwa die nährende „Kraft“ des Markenartikels, präsentierte es als „Geschenk der Natur“. Aus dem vermeintlichen Nachteil des wissensbasierten Präparates sollte ein Vorteil entstehen. Milei stand für einen erst durch den Nationalsozialismus bewirkten fundamentalen Wandel der deutschen Konsumgüterindustrie: „Ebenso wie der große Aufschwung der Montanindustrie erst einsetzte, als auch eine erfolgreiche Verwertung der Nebenerzeugnisse gelungen war, so besteht die Hauptaufgabe der Milchwirtschaft heute in der Verwertung der Rest- und Nebenprodukte der Butterherstellung und der Käserei, dem Kasein und der Molke“ (Die Industrie der Molke, Der Führer 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6).

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Alltag mit dem Austauschstoff (Wiener Modenzeitung 1942, H. 161, 23 (l.); ebd., H. 157, 23)

Die Werbekampagne des Jahres 1942 vertiefte derartige Überlegungen. Schattenrisse aus dem Alltag traten hervor, immer verbunden mit dem Anbau, der Beschaffung und dem Kochen und Backen von Lebensmittel und Speisen. Im Vordergrund stand Altbewährtes – und die Texte stellte Mileipräparate in just diesen Rahmen. Milei war neu, unbestritten, doch es setzte sich durch, etablierte sich, half damit zugleich das Bekannte zu bewahren. Dabei half, dass Milei keinen charakteristischen Eigengeschmack besaß. Es war ein uncharismatisches, chamäleonhaftes Lebensmittel, das diente und half, „küchentüchig“ und „schlagstark“.

Entsprechend wichtig waren daher praktische Versuche, war die direkte Ansprache der Hausfrauen. 1940 nahmen die in allen größeren Städten vorhandenen Versuchsküchen etwa der Deutschen Frauenschaft oder aber des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes den Kochlöffel in die Hand, simulierten auf kleiner Bühne haushälterisches Tun, ließen die Hausfrauen dann nachschlagen. Proben rundeten all dies ab. Bevor nun aber Argumente von der vermeintlichen Berufung der Frau für die Küche aufkommen, gilt es eines zu bedenken. Die späten 1930er und frühen 1940er Jahre hatten insbesondere in der Wehrmacht zu einem massiven Ausbau männlichen Küchenexpertise geführt: Mitte 1940 gab es 100.000 ausgebildete Feldköche, bis Mitte 1942 dann etwa 160.000 (Spiekermann, 2018, 590). Diese Männer waren mit den neuen Austauschstoffen bereits vertraut – und nun galt es auch die Hausfrauen in die neue Welt leistungsfähigerer Präparate einzuführen (Das Blatt der Hausfrau 56, 1942/43, 231). Die nationalsozialistisch geprägte Ernährungswirtschaft war technisch-männlich geprägt und zielte auf eine massive Modernisierung des weiblichen Haushaltens mit neuen, von Männern entwickelten Convenience- und Halbfertigprodukten.

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Oh kommet, ihr Hausfrauen, oh kommet doch all (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 220 v. 29. September, 6)

Die Wirkung derartiger praktischer Werbung wurde durch zahlreiche Zeitungsberichte multipliziert, die haushälterisches Tun wertschätzten und dem Zwang gestalterische Elemente abgewannen: „Kaum machten sich manche Lebensmittel auf dem Markte rar, da schossen schon wie Pilze die neuen Rezepte aus dem Boden, die sich dieser Marktlage anpassen. […] ‚Ein Weg findet sich immer, und das macht ja erst richtig Freude, wenn man auch unter Einschränkungen etwas Gutes zuwege bringt‘“ (Badische Presse 1940, Nr. 9 v. 10. Oktober, 6). In Wien präsentierte man „mollige“ Saucen mit Milei, pikant und mit erhöhtem Nährwert (Völkischer Beobachter 1940, Nr. 69 v. 9. März, 5): Der Charme der lokalen Küche endete offenkundig nicht mit der Rationierung. Selbstverständlich traten auch Meisterköche auf, die mit Kochkunst und Phantasie mit Milei, Tulli und Sojapräparaten kreierte Speisen darboten – und wahrlich, es sah gut aus und schmeckte (Kochkunst + Phantasie = ein schmackhaftes Gericht, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 157 v. 5. Juni, 6). Das Neue, das „der forschende Menschengeist entdeckt hat“ weckte wiederum Neues, war Teil des ewigen völkischen Ringens mit der Natur und ihren Rohstoffen. Versuchsküchen waren Stätten einer kulinarischen Moderne, in der Austauschstoffe nicht „Verlegenheitsschöpfungen, sondern eine Errungenschaft in der Ernährungswirtschaft der Zukunft“ waren (beide Zitate n. Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 153 v. 5. Juni, 6).

Im Laufe des Krieges übernahm vielfach der Milei-Aufklärungsdienst die vorher dezentral wahrgenommenen Veranstaltungen. Er zog durch das Land und veranstaltete in größeren Städten Vorträge und Schaukochen, vielfach in Verbindung mit den lokalen Elektrizitäts- und Gasanbietern (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 239 v. 10. Oktober, 6; Wiener Kronen-Zeitung 1942, Nr. 15085 v. 11. Januar, 15; Der Führer. Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Lokale Haushaltsschulen folgten parallel, bildeten Haushaltsgehilfinnen und Hauswirtschafterinnen nicht nur im sparsamen Haushalten aus, sondern wiesen ihnen auch Wege mit neuen „gesunden“ Produkten: „Biologische Salze werden dem schädlichen Kochsalz vorgezogen, das Milei triumphiert, die ‚Grünsbrühe‘ duftet herrlich und ersetzt die Fleischbrühe. Gartenkräuter werden als deutsche Würze verwendet, gemahlener Paprika ist jetzt der Pfeffer“ (Ein Besuch in der Haushaltungsschule Pforzheim, Der Führer 1942, Nr. 79 v. 20. März, 4). Es dürfte Ihnen klar sein, dass all diese Zitate auch Teil des schönen Scheins des Nationalsozialismus sind, dass sie über die Härten und Verwerfungen des Kriegsalltages hinweggingen. Mit fortschreitender Dauer des Krieges wurde eine schmackhafte Zubereitung immer schwieriger, auch wenn die Machthaber Gewürzen und Gewürzsubstituten hohe Aufmerksamkeit schenkten. Backpulver war Mangelware, musste durch Natron, Pottasche oder Hirschhornsalz bzw. durch vermehrten Einsatz von Hefe ansatzweise ersetzt wurde. Milei wurde für all diese Fährnisse erprobt, die Resultate in handhabbare Rezepte umgemünzt (Leckeres Gebäck aus Roggenmehl, Der Führer 1942, Nr. 325 v. 24. November, 4). All dies setzte Versorgungssicherheit voraus – und damit eine leistungsfähige Unternehmensstruktur.

Auf- und Ausbau eines reichsweiten Vertriebs- und Produktionsnetzwerkes

Die Milei GmbH ist ein unbekanntes Unternehmen, denn Firmenunterlagen existieren offenbar nicht mehr. Die heutige in Leutkirch ansässige Milei GmbH sieht sich nicht in der Nachfolge des Stuttgarter Unternehmens. Der „hidden champion der Lebensmittelindustrie“ folgt dem eigenen Motto „Live. Love. Enjoy“ und lässt die eigene Geschichte erst in den 1970er Jahren beginnen. Das ist recht typisch für weite Teile des deutschen Mittelstandes, die ihre NS-Geschichte schlicht übergehen. Wir sind heutzutage über die Opfer des Nationalsozialismus weitaus besser informiert als über die damaligen Akteure und Täter – und dies gilt trotz einer nicht unbeträchtlichen Zahl aussagefähiger Unternehmensgeschichten dieser Zeit.

Die Milei GmbH, die erste, war vorrangig eine Vertriebsorganisation (Bate-Smith et al., 1946 – auch für das Folgende). Sie besaß keine eigenen Produktionsstätten, sondern schloss Verträge mit zahlreichen milchverarbeiteten Betrieben, die in ihrem Auftrag Mileiprodukte herstellten. Diese Firmen kannten weder die genauen Produktionsverfahren, noch die eingesetzten Rohwaren und Zusätze. Diese wurden vielmehr codiert eingesetzt, obwohl ein erfahrener Betriebsleiter sie leicht decodieren konnte (Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 4). In Stuttgart saß die Verwaltung, der Aufklärungs-Dienst, hier wurden Verträge geschlossen und die Rohstoffwirtschaft koordiniert.

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Bezirksleitungen der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Der Vertrieb erfolgte in tradierten Formen. Von Stuttgart ausgehend, richtete die Milei GmbH ein reichsweites Netzwerk von Bezirksleitungen aus, die wie Großhandelsvertretungen funktionieren. Die zehn Bezirksleitungen waren über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt und koordinierten recht eigenständig. Der Absatz in der Backwarenproduktion und im Gaststättengewerbe erfolgte mittels Reisender, die von „Oberreisenden“ regional koordiniert wurden (Der Führer 1941, Nr. 60 v. 2. März, 14). Eine von Ludwig Herrmann geleitete Generalvertretung wurde im März 1942 in Berlin Unter den Linden gegründet, erlosch jedoch schon im November (Deutscher Reichsanzeiger 1942, Nr. 57 v. 9. März, 5; ebd., Nr. 284 v. 3. Dezember, 3).

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Lage der Milei-Produktionsstätten im Großdeutschen Reich 1941 (Der Vierjahresplan 5, 1941, 246)

Die Produktion erfolgte anfangs nur in Stuttgart, doch die Zahl der Produktionsstätten weitete sich rasch aus, da lokale Kapazitäten nicht beliebig gesteigert werden konnten und zugleich Transportkosten reduziert werden konnten. Anfang 1940 substituierte die Firma nach eigenen Angaben bereits monatlich 45 Millionen Eiern (Eiweiß, 1940). Eine Anzeige in der Zeitschrift „Vierjahresplan“ zeigte 1941 bereits neun Produktionsstätten. Deren Zahl wurde bis 1942/43 nochmals verdoppelt.

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Fabrikationsstätten der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Die von britischen Wissenschaftlern sichergestellte Liste der Produktionsstätten unterstrich, dass im Laufe des Krieges der Stellenwert des Produktionsstandortes Stuttgart bzw. Württembergs tendenziell sank. Stattdessen finden sich Vertragspartner in den wichtigsten Milchregionen Deutschlands, Österreichs, der Tschechoslowakei sowie Polens. Einzelne Standorte wurden beträchtlich aufgewertet, so die zwei Milei-Werke im sächsischen Wurzen. Dort fand auch die Qualitätskontrolle statt. In der zweiten Kriegshälfte wurden Milei-Produkte an folgenden Produktionsstätten hergestellt:

  • Milei-Gesellschaft Werk I und II, Wurzen/Sachsen
  • Württ. Milchverwertung AG, Stuttgart
  • Milchversorgung Heilbronn GmbH, Heilbronn/Ilsfeld
  • Omira Oberland Milchverwertung GmbH, Ravensburg
  • Odam-Milchwerk Gebr. Müller, Holzkirchen/Oberbayern
  • Bayerische Milchversorgung GmbH, Nürnberg
  • Molkerei-Genossenschaft Tabor
  • Molkerei-Genossenschaft Mährisch-Budwitz
  • Molkerei-Genossenschaft Stainach GmbH
  • Molkerei-Genossenschaft eGmbH, Hagenow/Mecklenburg
  • Dauermilchwerke Korschen GmbH, Korschen
  • Ostdeutsche Dauermilchwerke GmbH, Marienburg
  • Alfa-Nährmittelwerk Tonningen GmbH, Tonningen
  • Wartheland-Milchverwertung GmbH Posen, Krotoschin
  • Milchzentrale eGmbH, Lütjenburg/Holstein
  • Schweriner Zentral-Molkerei, Schwerin
  • Ein- und Verkaufsgen. westfälischer Molkereien eGmbH Münster, Lippstadt
  • Verkaufsverband norddeutscher Molkereien, Plathe

Diese Liste bestätigt frühere Aussagen, nach denen „die Betriebe, die Milei herstellen, nichts anderes, als sehr neuzeitlich eingerichtete Molkereien“ sind. „Es fehlen durchaus die geheimnisvollen Retorten und Destillationskolben einer chemischen Fabrik. Wie in jeder anderen Molkerei wird die von den Bauern und Landwirten gelieferte Milch gereinigt, pasteurisiert, entrahmt und zu Butter, Käse, Quark, Kasein und Trockenmilchpulver verarbeitet“ (Eiweiß, 1940). Ganz normale Betriebe für ganz normale Produkte. Milei war zu diesem Zeitpunkt bereits der wichtigste Hersteller von Eier-Austauschstoffen aus Magermilch im Deutschen Reich, ließ Wettbewerber wie Syntova und die Berliner Edmes GmbH weit hinter sich. Die gegenüber der Vorkriegszeit allseits massiv gesteigerte Produktion wurde vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie der Hauptvereinigung der deutschen Milch- und Eierwirtschaft stetig gefördert (Pirner, 1942, 269). Eine weitere Produktionssteigerung scheiterte allerdings am Mangel an Maschinen, vor allem der unverzichtbaren Sprühtrockner.

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Vertriebslager der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Neben den Bezirksleitungen und Fabrikationsstätten existierte noch ein weiteres Netzwerk von Vertriebslagern. Diese entsprach großenteils, aber keineswegs durchweg, dem Produktionsnetzwerk. Die 19 Lager waren ebenfalls über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt, konnten von alliierten Bombern zwar getroffen werden, boten aber eine flexible Struktur zur kontinuierlichen Versorgung der Bevölkerung.

Schon diese Netzwerke verweisen auf den Ausgriff auf besetzte Gebiete, auf eine Expansion in die frühere Tschechoslowakei und Polen, die wohl 1941/42 erfolgte (Pirner, 1942, 269). Die Produktion von Milei-Produkten war Teil der gewalttätigen Nutzung ausländischer Ressourcen für die Stabilisierung der reichsdeutschen Rationen. Hinzu kam eine Expansion nach Westeuropa. 1941 gründete die Milei GmbH „gemeinsam mit der holländischen Spezialfirma für Milchkonserven Lijempf eine Gesellschaft, die in Holland die Verarbeitung von Magermilch zu ähnlichen Ersatzlebensmitteln aufnehmen soll. Die Milei G.m.b.H. hat sich hierbei die Majorität gesichert“ (Die Zeitung [London] 1941, Nr. 244 v. 22. Dezember, 2) Es handelte sich um die im nordfriesischen Leeuwarden ansässige Milchfabrik N.V. Lijempf, die im nahegelegenen Winsum eine moderne Trockenmilchfabrik mit knapp 200 Beschäftigten betrieb (P. Noord, De Zuivelfabriek van Winsum, 1892-1975, Info Bulletin Winshem 7, 2002, Nr. 3, 8-9). In Frankreich, genauer in der Normandie, wurde 1941 ein ähnlicher Betrieb aufgenommen, der von 1942 bis 1944 Milei auch nach Deutschland exportierte (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4; Bundesarchiv Berlin R 15-V/21). 1943 sollen dadurch ca. 35 Millionen Eier ersetzt worden sein (Innsbrucker Nachrichten 1944, Nr. 114 v. 16. Mai, 5). Im gleichen Jahr plante die Firma eine deutsch-spanische Dependance in Barcelona (Bundesarchiv Berlin R 3101/34784, Bd. 3). Nach Ende des Krieges bemühte sich die Milei GmbH bis 1947 um die Rückerstattung ihres Auslandsvermögens (Bundesarchiv Berlin B 218/755). Außerdem wurde 1942 „ein Unternehmen unter maßgeblicher Beteiligung der Milei-Gesellschaft m.b.H. geschaffen“ (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4).

Was war nun das Ergebnis all dieses Bemühens? Die vom britischen Nachrichtendienst ausgesandten Wissenschaftler sicherten 1945 Unterlagen, nach denen die Produktion 1944 bei 6.466.000 Kilogramm Milei G und W gelegen hat. Hinzu kamen 547.113 Kilogramm Nachspeise und 3.926.785 Kilogramm Migetti. 1943 lag die Produktion auf gleicher Höhe. Der Umsatz von Milei G und W lag 1944 bei 25 Millionen RM, bei der Nachspeise bei 3,5 Millionen RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Rechnet man 5 Gramm Milei als Substitut für ein Vollei, so entsprach die 1944 produzierte Menge 1,293,200,000 Volleiern. Das wäre – geht man zurück zu den Ausgangsplanungen – etwa 17% der 1936 im damaligen Deutschen Reich konsumierten Eier. Diese Menge entsprach den gesamten damaligen Eierimporten. Damit dürfte Milei das erfolgreichste Austauschprodukt der nationalsozialistischen Ernährungsforschung gewesen sein – und die anderen gewerblich genutzten Präparate können hier noch zugerechnet werden.

Kaum überraschend waren die verantwortlichen Experten stolz auf das Geleistete: „Für die Kriegswirtschaft bedeutet die Steigerung der Produktion von Milei die Verhinderung des Aufkommens eines unerträglichen Mangels an Eiweiß“ (Wandlungen der deutschen Milchwirtschaft, Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 275). Milei hatte sich bewährt, würde auch nach dem Kriege ein wichtiger Markenartikel bleiben, Teil einer neu gestalteten Volksernährung sein (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 375). Die Fachleute hatten geholfen, diese Waffe für die Heimatfront zu schmieden. Und sie verstanden es einen Baustein zur Stabilität und Prosperität eines mörderischen Regimes.

Verbraucherlenkung und Intensivierung

Damit könnte man es erst einmal belassen, könnte die Geschichte von Milei unmittelbar in der beschworenen Nachkriegszeit verfolgen; wenngleich unter einer anderer Siegerkonstellation. Damit aber würde man der Bedeutung eines doppelbödigen Markenartikels jedoch nicht gerecht. Die beschworene Bewährung erlaubte es nämlich der Milei GmbH das Renommee des Produktes in den Dienst allgemeinerer Ziele des Regimes zu stellen. Konsumgüter haben stets einen Subtext, weisen stets über ihre eigene Materialität hinaus. Das gilt auch in Zeiten von Knappheit und Not.

Blicken wir zuerst auf die Versorgung und Verbrauchslenkung in der Mitte des Krieges. 1942 mussten die Rationen deutlich gesenkt werden, ihre Zusammensetzung verschlechterte sich – und sie waren gleichwohl weit besser als in den besetzten Gebieten, weit besser auch als im Hungerwinter 1916/17. Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff „Eier-Austauschstoff“ nicht nur weit verbreitet, sondern auch geadelt worden. Er durfte nicht mehr für Hilfs- oder Ersatzmittel in der Kriegssituation verwandt werden, sondern nur für Produkte, die „auch über die Zeit des Mangels hinaus einen dauernden Platz in ihrem Anwendungsgebiet erhalten sollen“ (Verwendung der Bezeichnung ‚Eier-Austauschstoff‘, Werben und Verkaufen 25, 1941, 206). Die relative Wertigkeit von Milei wurde auch durch weitere Verfügungen des Werberates der deutschen Wirtschaft erhöht (Werben und Verkaufen 26, 1942, 68). Die staatspolitische Bedeutung des Austauschstoffes zeigte sich ferner in der Werbung anderer Markenartikelfirmen: Maizena warb beispielsweise mit Rezepten, die Milei propagierten (Badener Zeitung 1941, Nr. 88 v. 1. November, 3).

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Werbung mit Rezepten und breiter Anwendungspalette (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1941, Nr. 104 v. 16. April, 852 (l.); Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14862 v. 31. Mai, 10)

Milei diente ab 1942 zunehmend dazu, die klarer hervortretenden Härten des Rationierungssystems erträglicher zu machen. Weißwäscher hämmerten die Melodie: „Mit diesen Eiaustauschstoffen kann man ebensogut Schlagobers wie gute Biskuits oder Windmassen erzeugen“ (Hans Rudiak, Kriegswirtschaftliche Materialfragen, Werkzeitung der Hammerbrotwerke 6, 1942, H. 5, 3-10, hier 9). Die Milei-Rezepte wurden der Versorgungslage angepasst. Schon Anfang 1942 fanden sich Rezepte für gebackene Kohlrübenscheiben, die als „verkanntes Gemüse“ (Der Führer 1942, Nr. 57 v. 26. Februar, 4) und nicht als Reminiszenz an den berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 präsentiert wurden. Auch als Mayonnaisezusatz zierte Milei billige Rohkostsalate (Durlacher Tageblatt 1943, Nr. 14 v. 18. Januar, 3). Die immer wieder umgestellten Rezepte wurden gezielt an die Frau gebracht: Ab 1943 verstärkte man die Werbung für das grüne Milei-Merkbuch für Hausfrauen: „Es zeigt die richtige Anwendung des milchgeborenen Milei W und Milei G“ (Badische Presse 1943, Nr. 192 v. 18. August, 6). Diese „Fundgrube zeitgemäßer Rezepte“ (Ebd., Nr. 226 v. 27. September, 6) wurde bis Anfang 1944 kostenlos von der Milei-Gesellschaft versandt. Es ergänzte die Anfang 1943 noch in großer Zahl geschalteten Bildanzeigen, die spezielle Anwendungsweisen des Milei bildlich und textlich präsentierten.

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Haushaltstipps in Wort und Bild (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstadt 1943, Nr. 3 v. 3. Januar, 7 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 3219 v. 20. November, 6)

Parallel zur Intensivierung des „totalen“ Krieges wuchsen die Anforderungen an die Konsumenten. Sie kamen moderat daher, etwa als Anleitung zu erhöhter Präzision: „Eine Handvoll? – Ein schlechtes Maß! So ungenau darf man niemals beim milchgeborenen Milei W und Milei arbeiten. Man muß sich genau nach der Gebrauchsanweisung richten“ (Hamburger Anzeiger 1943, Nr. 185 v. 2. September, 4). Der Kampf gegen Verderb wurde strikter, rasches Umfüllen des Präparates war ein Teil davon. Während Milei anfangs noch in kleinen Büchsen verkauft worden war, wurden nun einzig mit Aluminium beschichtete Papiertüten verwandt. Da Milei feuchtigkeitsempfindlich war, bestand bei unsachgemäßer Lagerung die Gefahr, dass der Stoff verklumpte, ja, verknotete. Dagegen half das Umfüllen in ein trockenes Glas – mit einem zwingend trockenen Löffel (Badische Presse 1943, Nr. 201 v. 28. August, 8). Hatte das hydrophile Milei dagegen Wasser aufgenommen, war es zwar „schlagfaul“, konnte jedoch immer noch zum Panieren genutzt werden (Ebd., Nr. 216 v. 15. Juni, 6). Oder aber für Breie oder Suppen (Ebd., Nr. 235 v. 7. Oktober, 6). Hauptsache, das Präparat wurde genutzt.

Die gewünschte Löffelgenauigkeit wurde eben nicht als Manko gegenüber dem Hühnerei gedeutet, sondern als ein Vorteil gegenüber der Natur, die nur das eine, wenngleich unterschiedlich große Ei kannte. Klares Abmessen half dagegen Sparen – mochte man per Gebrauchsanweisung auch auf kleine Eier umgelenkt werden. Sprache versuchte dies ansatzweise zu kompensieren. Milei war rein und „milchgeboren“, entstammte es doch aus frischer entrahmter Milch, die zur natürlichen, sauberen Herkunft stilisiert wurde (Ebd., Nr. 223 v. 23. September, 6).

24_Oberdonau-Zeitung_1943_06_30_Nr178_p6_Wiener Illustrierte_1941_12_17_Nr51_p12_Milei_Austauschstoff_Eier_Gebäck_Backen

Gebäck als Symbol von Heimat und Frontverbundenheit (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 178 v. 30. Juni, 6; Wiener Illustrierte 1941, Nr. 51 v. 17. Dezember, 12)

Während die 1943 noch möglichen Werbeabbildungen den symbolischen Gehalt von Lebensmitteln, sei es von nährendem Hackbraten oder von Weihnachtsgebäck verstärkt betonten, bot die Mehrzahl der Anzeigen klar gefasste Haushaltstipps: Bei Tunken Milei erst in Wasser auflösen, dann den Brei löffelgenau in die Tunke geben – schon wird sie cremig und verliert ihre Wässerigkeit (Badische Presse 1943, Nr. 204 v. 1. September, 6). Gerade bei fleischarmen Speisen war dies essentiell (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 213 v. 4. August, 6). Ähnlich musste frau vorgehen, wollte sie Mürbeteig machen (Ebd., Nr. 211 v. 9. September, 6). Oder aber beim Kochen von Suppe (Ebd., Nr. 214 v. 13. September, 6). Bei Kleingebäck wurde Milei geschlagen, zu Schäumchen geformt und dann gebacken (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 6). Ähnlich bei mehlfreiem Kleingebäck (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 121 v. 3. Mai, 4). Und selbst der Sonntagskuchen gelang, trotz Ersatz des Eies (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 234 v. 25. August, 6). Vorausgesetzt, man vermied Aluminiumgefäße zum Schaumschlagen (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 200 v. 22. Juli, 6). Das war hilfreich, hilfreich beim Rausholen des Letzten. Die Intensivierung des Haushalts entsprach der in der Rüstungsindustrie.

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Gesunde Kost und Sparen auch in der Gemeinschaftsverpflegung (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, nach 28 (l.); ebd., n. 42)

All dies beschränkte sich natürlich nicht auf den Haushalt. Die Bediensteten in Großküchen und Gewerbebetrieben wurden ähnlich angesprochen. Und über den tristen Alltag hinweg half immer stärker ein Blick auf die Modernität der Austauschpräparate: „Heute ist das nicht mehr nötig“, das alte ungenaue Kochen und Backen mit Eiern: „Dessen Aufgabe übernimmt Milei, das Ei aus der Milch. Es wird zum Braten, Backen und Kochen verwendet. Es ist naturrein und nährt. Milei ist rezeptleicht anwendbar … und steigert den Geschmack der Speisen“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14877 v. 16. Juni, 7). Selbst der Stolz der südwestdeutschen Hausfrau, die Spätzle, waren vor dem Neuen nicht mehr sicher. Sie „verlangten früher die Verwendg. des Hühnereies“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 162 v. 13. Juni, 6). Heute machte dies… – Sie kennen die Antwort.

Rendezvous mit Kohlenklau

Ab 1943 wurde die Milei-Werbung zunehmend breiter eingesetzt, zielte nicht allein auf das Produkt, sondern unterstützte die Kriegsanstrengungen auch anderweitig. Das belegt etwa die enge Verkopplung der Markenartikelwerbung mit der allgemeinen Agitation gegen „Kohlenklau“. Kohlenklau war eine der vielen nationalsozialistischen Imaginationen, die allesamt zu erhöhter Sparsamkeit, zu geringem Ressourcenverbrauch, zu einem gesünderen und gedeihlicheren Leben anhielten (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 91-95). „Groschengrab“ und „Roderich, das Leckermaul“ traten auf, „Flämmchen“ und eben auch Kohlenklau, das „Ungeheuer mit dem zugekniffenen Auge, dem gewaltigen Schnauzbart, großem Sack und bedrohlichen Krallen“ (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstedt 1943, Nr. 94 v. 18. Juni, 6). Er stahl nicht nur Kohlen, sondern vergeudete Energie und Ressourcen jeglicher Art, unterminierte damit die Kriegsanstrengungen der deutschen Nation. Sogar beim Kuchenbacken lauerte er.

26_Voelkischer Beobachter_1943_04_14_Nr104_p6_Wiener Illustrierte_1943_05_26_Nr21_p08_Milei_Kohlenklau_Austauschstoff_Eier_Kochen

Kohlenklau in der Milei-Werbung (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 104 v. 14. April, 6 (l.); Wiener Illustrierte 1943, Nr. 21 v. 26. Mai, 8)

Kohlenklau war mehr als ein schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man höre nur: „Taps, taps, taps… Kohlenklau ist in der Küche.“ (Das kleine Volksblatt 1943, Nr. 55 v. 24. Februar, 8). Und der grinste höhnisch, wenn Speisen durch zu langes Kochen zerstört und Gas verschwendet wurden (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 63 v. 4. März, 6). Oder wenn das Kleingebäck verbrannte. Die Moral schien einfach zu sein: „Auf Kohlenklau achten“ resp. Plätzchen rechtzeitig aus dem Backofen herausnehmen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1943, Nr. 15551 v. 28. April, 7).

Verhaltensregulierung im Endkampf

Der Kampf gegen Kohlenklau war nur einer von vielen Maßnahmen, um die deutschen Volksgenossen zu gemeinen Anstrengungen zu verpflichten. Die Milei GmbH trug dazu bei und knüpfte am Ende des Krieges ein enges Band zwischen Konsument und Firma (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 743). In dieser Werbewelt kooperierten Forscher mit Praktikern, arbeiteten Bauern und Chemiker zum Wohle der Konsumenten. Präsentiert wurde ein völkisches Bild wechselseitiger Verpflichtung, getragen vom gemeinsamen Willen, das Beste zu geben.

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Wechselseitige Verpflichtung der forschenden Produzenten und der Konsumenten (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, vor 117 (l.); ebd., nach 184)

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Nahrung als Waffe (Tages-Post – Linz 1942, Nr. 284 v. 1. Dezember, 6)

Milei war Alltagsgarant, war zuverlässiger Alltagshelfer (Der Führer. Aus dem Ortenau 1943, Nr. 36 v. 5. Februar, 4). In dem damaligen Völkerringen war es eine Waffe, ein Schwert mit scharfer Klinge. Es half beim notwendigen Strecken nach der Decke, beim Strecken der Lebensmittel und Speisen. Milei stand für die zunehmende Militarisierung der Alltagskost, die durch verpflichtende fleischlose Tage und Feldküchengerichte längst Realität geworden war. Doch das Schwert wurde nur gegen Feinde gezückt, denn innerhalb der Volksgemeinschaft war der Konsument Kulturträger, gesittet, gefasst und optimistisch. Entsprechend konnte allseits „Höflichkeit“ gefordert werden, grenzte man sich von „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ strikt ab. Das galt zumal beim Einkauf, am Tresen, im Umgang mit dem Einzelhändler, der über Bekommen oder Nicht-Bekommen mit entschied.

29_Oberdonau-Zeitung_1944_01_09_Nr008_p8_Wiener Illustrierte_64_1944_Nr15_p08_Milei_Kaeufer-Verkaeufer_Einzelhandel_Hoeflichkeit_Einkaufen_Laden

Seid höflich und nett zueinander – gerade im Krieg (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 8 v. 9. Januar, 8 (l.); Wiener Illustrierte 64, 1944, Nr. 15, 8)

Die Milei-Werbung wandte sich eindeutig gegen Fehlverhalten und Resignation: „Eine einzige verdrießliche Kundin wirkt wie Gift. Sie kann die beste Laune aller Anwesenden zerstören. Deshalb bemühen wir uns, verdrießliche Gemüter aufzumuntern und selbst recht höflich zu sein … auch wenn wir einmal nicht alles bekommen, was wir brauchen“ (Innviertler Heimatblatt 1944, Nr. 8 v. 25. Februar, 8). Zugleich aber forderte sie eine Kultur reflektierter Rücksichtnahme: „Ihr Kaufmann ist heute mit Arbeit reichlich überlastet. Zudem ist das Personal knapp. Trotzdem bemüht er sich, Sie zuvorkommend und höflich zu bedienen. Begegnen Sie ihm auch höflich … und machen Sie ihm das Leben nicht schwer […]. Höflichkeit macht beliebt!“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 48 v. 18. Februar, 4)

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Der Einzelne muss zurückstehen (Nationalsozialistischer Volksdienst 10, 1943, H. 8, II (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 314 v. 13. November, 5)

Spiegelten sich in derartigen Anzeichen die realen Verwerfungen in der Psyche vieler Menschen, so wurden in der Milei-Werbung ab 1943 die bestehenden Versorgungsprobleme zunehmend deutlicher thematisiert. Das betraf zum einen die Hausfrauen, denen etwa Hilfestellungen gegeben wurden, Speisen „bequem und unauffällig“ (Badische Presse 1944, Nr. 35 v. 11. Februar, 4) zu strecken. Das betraf aber zunehmend auch die zerbröselnde Verkehrsinfrastruktur. Deutlich hieß es: „Die Reichsbahn ist überlastet“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 243 v. 29. Februar, 6). Die Konsumenten sollten darauf verständnisvoll reagieren, sich selbst ein kleines Glied im großen Ganzen verstehen. Das half durchzuhalten, seine eigenen Sorten und Nöte geringer zu gewichten.

31_Wiener Illustrierte_62_1943_Nr33_p08_Oberdonau-Zeitung_1944_08_17_Nr226_p5_Milei_Fruchtspeise_Eier_Austauschstoff_Frauenarbeit_Nachbarschaftshilfe

Kinderfreude und Unterhaken der Hausgemeinschaft (Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 33, 8 (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 5)

Zugleich aber lenkte die Milei-Werbung den Blick auf die kleine Lichtblicke und Freuden des Alltags. Freude über eine wohlschmeckende, eine nährende Speise, Dankbarkeit gegenüber einer kleinen Alltagshilfe und Nachbarschaftshilfe. Das entsprach nicht der Realität des letzten Kriegsjahres, half jedoch nicht zu verzweifeln und seine Aufgaben zu erfüllen.

Damit wurden vornehmlich Frauen angesprochen, denn diese waren damals für Haushalt und Kochen verantwortlich, bekochten Kinder und auch Männer. Da musste eben ein Hackbraten her, auch wenn er mit Brot gestreckt werden musste (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 148 v. 30. Mai, 6). Doch zunehmend wurde auch des alleinstehenden Mannes gedacht, den man gemeinhin unter die Dachkategorie des „Strohwitwers“ subsummierte. Sie wurden vielfach in Werksküchen verpflegt, doch es gab seit 1944 auch vermehrt Koch- und Hauswirtschaftskurse für Männer. Die virtuose Handhabung von Milei wurde dabei geprobt (Neues Wiener Tagblatt 1945, Nr. 24 v. 28. Januar, 3). Und siehe da, auch Männer waren lernfähig, wussten die modernen Austauschstoffe zu schätzen.

Die Milei GmbH schaltete bis Anfang 1945 immer neue Werbetexte, denn ab Mitte 1944 verschwanden die letzten Graphiken aus den Zeitungen, schrumpfte die Anzeigen zu Texten in engen Kolumnen. Diese munterten auf, empfahlen das Produkt als Hilfegarant in der Krise: „Hausfrauen wissen sich immer wieder zu helfen“ (Badische Presse 1944, Nr. 179 v. 2. August, 6). Und sie halfen anderen, vielleicht mit einem alltagsaufhellenden Baiser (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 348 v. 28. Dezember, 3). Zugleich lenkte die Werbung den Blick auf eine andere, nicht vom Krieg geprägte Welt. Dort wurden Produkte in „blitzsauberen Milchwerken“ (Badische Presse 1944, Nr. 127 v. 2. Juni, 4) hergestellt, dort gab es keimfreie Produktion (Ebd., Nr. 131 v. 7. Juni, 4). In den Anzeigen wurde an Feinschmecker erinnert, sprach man von Wohlgeschmack. Kindergeburtstage feierte man, denn Milei-Fruchtschaum „schmeckt wie im Frieden“ (Kleine Wiener Kriegszeitung 1944, Nr. 77 v. 29. November, 8). Und die Kleinen waren „selig“, wenn es ihn denn gab (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 7). Die Städte stürzten zusammen, die alte Welt zerbrach, doch das ging einher mit der Geburt des Neuen: „Großmutters Rezeptbuch ist längst überholt“ (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 8) und wird ausgetauscht von wissenschaftlichen Präparaten, praktisch und besser als das Alte.

Kontinuität im Schwarzmarkt und der Nachkriegsrationierung

Die Rationierungspolitik wurde nach Ende des Krieges von den Besatzungsmächten fortgeführt, die Lebensmittel teils der eigenen Bevölkerung vorenthalten, um eine Hungerkatastrophe in deutschen Landen zu vermeiden. Milei gehörte dazu, mochten die Zuweisungen pro Normalversorger 1945 und 1946 auch gering ausfallen, da das unternehmerische Netzwerk der Milei GmbH zerrissen war (Badener Tagblatt 1946, Nr. 10 v. 2. Februar, 63; Badische Neueste Nachrichten 1947, Nr. 53 v. 6. Mai, 4). Doch in den einzelnen Zonen wurde weiter produziert. Milei konzentrierte seine Aktivitäten wieder auf den Württemberger Raum, die amerikanische Zone. Von dort wurde auch exportiert, wenngleich meist gegen Ware, nicht gegen Geld (Wiener Zeitung 1946, Nr. 149 v. 29. Juni, 2; Badener Tagblatt 1946, Nr. 30 v. 6. Juli, 323). Milei diente wie in der Endphase des Krieges dazu, fehlende Eier- und Fleischlieferungen zu kompensieren (Neues Österreich 1945, Nr. 207 v. 21. Dezember, 3). Angesichts beträchtlicher Unterversorgung bemühten sich Großbetriebe um Milei-Zuweisungen für ihre Werksküchen, wollten Eiweiß für Arbeit (Volkswille 1946, Nr. 98 v. 15. August, 3).

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Zwischen Emmentaler Käse und Eier: Rationiertes Milei (Neue Zeit 1946, Nr. 285 v. 7. Dezember, 4)

Die Wertschätzung der Milei-Produkte spiegelte sich auch darin, dass sie regelmäßig bei Schiebern und Schwarzhändlern beschlagnahmt wurden (Obersteirische Volkszeitung 1947, Nr. 20 v. 8. März, 2; Volksstimme 1947, Nr. 98 v. 26. April, 3; Wiener Kurier 1947, Nr. 10 v. 14. Juni, 2). Hoher Nährwert und lange Haltbarkeit waren wie für den Schwarzmarkt gemacht – wobei solche bereits während des NS-Regimes bestanden.

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Viel begehrt – leider knapp! Milei Werbung in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Stuttgarter Rundschau 2, 1947, H. 6, 32 (l.); Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 9, 28)

Zugleich begannen frühere Produktionsstätten die Herstellung auf eigene Rechnung. In Österreich, der früheren Ostmark, setzte nach Kriegsende die Molkerei Stainach der Landesgenossenschaft Ennstal ihre Arbeit fort, um insbesondere für den Winter Reserven aufzubauen (Neue Steierische Zeitung 1945, Nr. 97 v. 18. September, 5). Das führte zu Sonderzuteilungen von zehn Volleiersubstituten und Freude bei den darbenden Konsumenten (Ebd., Nr. 140 v. 8. November, 8). Mitte 1946 musste der Betrieb jedoch eingestellt werden, da die Milchzufuhr aufgrund von Zwangsablieferungen zu gering war (Neue Zeit 1946, Nr. 178 v. 8. August, 3). Die Milei GmbH klagte gegen die Produktion des vermeintlichen neuartigen Stainacher Milcheiweis V und S, musste jedoch vor Gericht schließlich eine Niederlage einstecken (Wiener Zeitung 1946, Nr. 186 v. 11. August, 7; Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4). International waren Kramers Patentrechte ohnehin seitens der Alliierten kassiert worden (Official Gazette of the United States Patent Office 550, 1943, xxxvi; ebd., 552, xxxix).

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Erst im Gewerbe, dann im Haushalt (Bäcker-Zeitung für Nord- und West-Deutschland 2, 1948, Nr. 33, 11 (l.); ebd., Nr. 37, 14; Der Spiegel 1948, Ausg. v. 6. November, 16 (r.))

Nach Gründung der Bundesrepublik und dem zunehmenden Abbau der Rationierung war Milei gängiger Gast etwa auf Fachmessen, wo es gleichrangig neben Suppen- und Soßenpräparaten, Mayonnaisen, Aspikpulver und anderem stand (Südkurier 1949, Nr. 116 v. 1. Oktober, 5). Seine Qualität wurde in altbewährter Manier gepriesen, der Phrasenschatz der NS-Zeit war noch bekannt: „Milei ist also kein chemisches Erzeugnis, sondern setzt sich aus den natürlichen Bausteinen der Milch zusammen. Hochwertiges Milcheiweiß – dem Hühnereiweiß biologisch gleichwertig – finden wir in Milei wieder. Freuen wir uns, daß es unseren Milchforschern gelungen ist, ein so hochwertiges Erzeugnis zu entwickeln. Dadurch kann man im Haushalt viel Geld einsparen und billiger kochen, braten und backen“ (Durlacher Tageblatt 1949, Nr. 117 v. 17. Dezember, 3).

In der Tat investierte die Milei GmbH nicht nur in den Fortbetrieb, sondern auch in neue Technik. 1946 wurden leistungsfähigere Rolltrockner eingeführt (Holmes und Kefford, 1946, 5). Karl Kremers, mittlerweile in Eislingen a.d. Fils ansässig, arbeitete kontinuierlich an der Produktionstechnik. Noch 1953 wurde ein Verfahren zur Gewinnung eines schlag- und backfähigen Milcheiweißes patentiert (Fette, Seifen, Anstrichmittel 53, 1953, 561). Weitere Patente folgten (Chemisches Zentralblatt 127, 1956, 138).

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Weiterhin Sparsamkeit (Südkurier 1949, Nr. 138 v. 22. November, 7 (l.); ebd., Nr. 146 v. 10. Dezember, 7)

Dennoch konnte sich Milei in der Nachkriegszeit als Markenartikel immer schlechter behaupten. Man kaufte und verarbeitete es, teils dankbar, war zugleich aber dessen überdrüssig und wollte wieder „richtige“ Eier haben. Leicht angeekelt hieß es Anfang 1949 etwa in Salzburg: „In diesem Aufruf kommen daher wieder die berühmten ‚Marshall-Fette‘ und das ‚Milei‘ zur Ausgabe als Ersatz für unsere heimischen Eier und Butter“ (Salzburger Tagblatt 1949, Nr. 28 v. 4. Februar, s.p.). Obwohl begehrt, wurde Milei auch als „künstliches Ersatzmittel“ (Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4) verdammt. Die Milei-Werbung hielt dagegen, verwies auf den „großen Kraftquelle der Milch“ und auf dessen „zauberhafte Verwandlungen“ durch moderne Technik (Was ist eigentlich Milei?, Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 2, 1948, 194). Doch all das war nur Imagination, denn Einkommen und die Höhe der Eierpreise sollten über die künftige Marktstellung von Milei entscheiden. Auch die Neugestaltung der Milei-Werbung durch Anton Stankowski brachte Anfang der 1950er Jahre keinen durchschlagenden Erfolg bei den Verbrauchern (Neuburg, 1951). Die Gewissheit der NS-Planer trog, die schon früh darauf gesetzt hatten, dass Milei „auch in kommenden Friedenszeiten seine Bedeutung weiter behalten und besonders Deutschlands Einfuhrabhängigkeit an Trockenei beseitigen“ werde (Neue Entwicklungen in der Nahrungsmittelwirtschaft der Welt, Die deutsche Volkswirtschaft 10, 1941, 542-543, hier 542).

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Milei als Dachmarke bewährter Spezialartikel (Deutsche Lebensmittel-Rundschau 44, 1948, Nr. 11, V)

Die Milei GmbH erweiterte nach Gründung der Bundesrepublik ihre Produktpalette, fügte Zwischenprodukte für Nachspeisen und Karamellwaren hinzu. Die mit gleichem Namen bezeichneten Präparate veränderten sich auch durch neue Maschinen, Verfahren und Zusatzstoffe. In der Werbung ließ man dies durchaus anklingen, schrieb von neuen Milcheiweiß-Erzeugnissen (Die Küche 49, 1953, Nr. 3, II). Angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von frischen Eiern, steigenden Eierimporten aus den Niederlanden und Dänemark und einer langsam wachsenden Kaufkraft konzentrierte sich die Milei GmbH jedoch verstärkt auf gewerbliche Zwischenprodukte. 1954 bewarb man etwa Milei WS für „Negerküsse“ und Waffelfüllungen, Milei G III E für „sahniges, zartes und geschmeidiges Eis“ (Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 16, 27; ebd., Nr. 50, 27). Als Markenartikel endete die Geschichte von Milei in den 1950er Jahren. Im gewerblichen Bereich, in Form von Zwischenprodukte konnte sich die Dachmarke jedoch weit länger behaupten. Milei wurde weiter konsumiert, doch die Konsumenten wussten nicht, was in ihren Produkten enthalten war – und kümmerten sich darum auch nicht wirklich.

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Billiger als Eier: Milei-Werbung für Bäckereien und Konditoreien 1949 (Die Küche 53, 1949, Nr. 1, IV (l.); ebd., Nr. 2, II)

Wie bewerten?

Milei war eine der erfolgreichsten Lebensmittelinnovationen der NS-Zeit. Anders als ähnliche Eier-Austauschstoffe wurde es zu einem Markenartikel, zu einem allseits bekannten Hausnamen. Verbraucher lernten mit dem weißen Pulver umzugehen und die Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu mildern. Milei blieb jedoch mit der Aura der Notzeiten verbunden und verschwand in den 1950er Jahren langsam aus den Regalen, um in anderer Form doch im Magen der Konsumenten zu landen.

Milei war ein Paradebeispiel für den Bedeutungsgewinn der Zwischenprodukte in der Zwischenkriegszeit. Obwohl ohne die massive staatliche Förderung kaum denkbar, war es kein prototypisch nationalsozialistisches Konsumgut, sondern eine Konsequenz der durch den Ersten Weltkrieg vielfach zerbrochenen internationalen Arbeitsteilung, die in den 1920er Jahren nicht wieder etabliert werden konnte und durch die Weltwirtschaftskrise vollends zerbarst. Er steht für nationale Kraftanstrengungen, wie es sie nicht nur im Deutschen Reich gegeben hat.

Staatliche Stellen förderten preiswerte und genießbare Austauschstoffe nicht erst seit 1933. Die systematische Erforschung heimischer Ressourcen charakterisierte schon die 1920er Jahre. Volkswirtschaftliche und machtpolitische Überlegungen dominierten, an Krieg dachten die meisten Protagonisten dabei nicht. Eier-Austauschstoffe wurden in dieser Zeit nicht nur denkbar, sondern standen im Kontext der sich damals rasch entwickelnden Eiweiß- und Vitaminforschung. Sie standen für neuartige Strukturen wissenschaftlicher Forschung, für die Verbindung agrarwissenschaftlicher, chemischer, biochemischer und lebensmitteltechnologischer Arbeit. Und sie standen für eine verstärkte Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion, die sich unter dem Druck von Auslandsware vielfach als nicht wettbewerbsfähig erwiesen hatte.

Milei war demnach ein typisch „modernes“ Produkt, das es auch ohne die nationalsozialistische Machtzulassung gegeben hätte; in etwas anderer Form, vielleicht etwas später. Und doch war Milei auch ein nationalsozialistisches Konsumgut. Es diente nicht als beliebiges Zwischenprodukt, als schlichtes preiswertes Angebot für Konsumenten. Es diente von Beginn an der Rückendeckung einer kriegerischen Machtpolitik, als Garant für den Herrschaftsanspruch des NS-Regimes. Milei profitierte vom Kriegsbeginn, ohne diesen wäre das deutsche und europäische Produktions- und Vertriebsnetzwerk nicht denkbar gewesen. Milei stand für deutschen Forschergeist, war die zivile Seite einer Expansion, die von den genagelten Stiefeln der Wehrmacht geprägt war, von Gewalt und Destruktion der Schergen. Die Firma folgte in die eroberten Gebiete, nutzte sich bietende ökonomische Chancen in West- und Osteuropa.

Milei wurde mittels Werbung sehr unterschiedlich präsentiert. Das war nicht nur Folge eines uncharismatischen Konsumgutes, eines weißen Pulvers ohne eigene Attribute. Das spiegelte auch die unterschiedlichen Facetten eines Regimes, das Normen- und Maßnahmenstaat zugleich war, dessen Konsumgütermärkte sich analog zu denen der westlichen Kriegsgegner entwickelten, zugleich aber zeittypische Unterschiede aufwiesen. Milei wurde als wissenschaftliches Präparat beworben, seine Anwendung musste erlernt und vermittelt werden. Diese Anstrengung erfolgte angesichts der Enge einer effizienten und zugleich auf Raub ausgerichteten Lebensmittelrationierung. Sie programmierte Hausfrauen und Feldköche hin auf Zubereitungsformen und eine völkische Kraftanstrengung, appellierte nicht nur an das Mitmachen, sondern bot rationale Gründe hierfür. Einmal etabliert wurde Milei zu einem wichtigen Alltagsgaranten, einem verlässlichen Alltagshelfer. Dies wurde genutzt, um mit der Werbung nicht nur wirtschaftliche Ziele zu erreichen, sondern eine Mobilisierung der Bevölkerung im Sinne des Krieges, im Sinne der Bewährung und des Weitermachens bis zum (für die meisten Deutschen) bitteren Ende.

Milei konnte sich in der Nachkriegszeit behaupten, denn es war ein preiswertes, nahrhaftes und funktionales Produkt. Doch es konnte sich als Markenartikel nicht festsetzen, denn Konsumgütermärkte folgen nicht allein (und vielleicht nicht einmal primär) rationalen Überlegungen. Obwohl das Milei-Eiweiß billiger war als das gackernder Hühner, war es doch mit der Enge und Not der Kriegszeit verwoben. Das Hühnerei, ein morgendlicher Proteinschub am Frühstückstisch und Symbol für eine neue alte Normalität, war anders bewertet, Ausdruck einer prosperierenden neuen alten Zeit. Es dauerte einige Zeit, bis die Massenproduktion von Eiern und dann Geflügel auch in deutschen Landen einsetzte – doch das sah man weder dem Ei, noch dem Gefrierhuhn an.

Milei verschwand als sichtbarer Markenartikel, blieb als Zwischenprodukt jedoch unsichtbar präsent. Hier kommen vielleicht wir mit ins Spiel, wir, die wir nicht recht wissen, was wir vom Einkauf schließlich mit nach Hause tragen. Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch von der Herkunft der Ingredienzien und Zwischenprodukte wissen wir wenig, von ihrer Geschichte noch weniger. Wir essen willig und fügsam, folgen den so unterschiedlichen Suggestionen der Werbung, die uns andere Geschichten nahebringen, solche, die wir hören sollen, denen wir gerne lauschen, um zu werden, was wir gerne wären – getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft, nach Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges oder einfach, weil wir all dies nicht an uns heranlassen wollen.

Uwe Spiekermann, 17. April 2021

Tod durch Kinderkost? Gekochte Milch, Säuglingsskorbut und unwissende Wissenschaftler im Deutschen Reich, 1880-1930

Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich das vorwissenschaftliche Verständnis von Essen und Ernährung grundlegend. [1] Gründend auf der im späten 18. Jahrhundert einsetzenden chemischen „Revolution“ wurden neu benannte und definierte Nahrungsstoffe – Eiweiß, Kohlenhydrate und Fette – die entscheidenden Elemente für das europäische Projekt der modernen Ernährungswissenschaften. In den 1840er Jahre verband der Gießener Chemiker Justus Liebig (1803-1873) zahlreiche Einzelbeobachtungen zu einem neuen Modell der „Natur“, nämlich eines für Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen geltenden Stoffwechsels. Leben war demnach nicht primär Gottes Schöpfungswerk, sondern gründete auf Materie, auf chemischen Prozessen und steten stofflichen Reaktionen.

Auf den ersten Blick schien eine derart agnostische und rational-reduktionistische Vorstellung kaum geeignet, allgemein akzeptiert zu werden. Die Chemie galt schließlich nicht von ungefähr als „eine völlig esoterische Wissenschaft“ [2]. Gemäß dem Stoffparadigma war Essen – im Gegensatz zur Alltagserfahrung – nicht mehr länger ein integraler Bestandteil von menschlichem Leben und Gesundheit, sondern die Kombination und Zufuhr nicht direkt sichtbarer Nahrungsstoffe. Dennoch: Das neue, durch Chemiker, Physiologen, Pharmazeuten und dann auch viele Mediziner propagierte Wissen etablierte binnen weniger Jahrzehnte eine neue Vorstellung von der Alltagskost, durch die es möglich wurde, Alltagshandeln und Ernährungsweisen zu rationalisieren und zu optimieren. Der menschliche Körper schien vergleichbar mit der Dampfmaschine, benötigte er zum Funktionieren doch gleichermaßen Treibstoff. Das Ziel der verschiedenen Wissenschaften war nicht allein die Erkenntnis der vom Menschen geschaffenen Welt, sondern zunehmend die Kontrolle der menschlichen Lebensumwelt, der Nahrung und des Menschen selbst.

Die Kinderernährung war der erste Versorgungssektor, der auf Grundlage des neuen Stoffparadigmas umgestaltet wurde. [3] An die Stelle der „natürlichen“ Muttermilch sollte etwas Besseres, etwas Künstliches gesetzt werden. „Künstlich“ wird heute vor allem mit Begriffen wie Intelligenz oder aber Befruchtung verbunden. Sein Bedeutungsgewinn begann in den 1870er Jahren jedoch vor allem als „künstliche Säuglingsernährung“. Diese schien erst einmal unnatürlich zu sein, schien Muttermilch doch als Garant guter und gesunder Kinderernährung. Auch deren damals gängige Substitute waren noch „natürlich“, handelte es sich doch um die Milch von Ammen oder aber von Tieren, vornehmlich Kühen und Ziegen. „Künstliche Säuglingsernährung“ umgriff dagegen neuartige gewerblich hergestellte Produkte, die chemisch analysiert und häufig von Medizinern verordnet wurden. Es war das Wissen der Nahrungsmittelchemie und der Ernährungsphysiologie das neue Märkte schuf und der neuen Profession der Pädiater den Weg bahnte.

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Alltagsverluste: Der Tod des Erstgeborenen (The Leisure Hour 14, 1855, 817)

„Künstliche Säuglingsernährung“ war eine Antwort auf die epidemisch verbreitete Kindersterblichkeit, neben den Infektionskrankheiten die wichtigste Todesursache im 19. Jahrhundert. Die Industrialisierung mochte vorangehen, doch die jüngsten Erdenbewohner erreichten immer seltener das zweite Lebensjahr. In Preußen, dem wichtigsten deutschen Teilstaat, stieg die Kindersterblichkeit seit den 1820er Jahren vergleichsweise kontinuierlich und erreichte zwischen 1860 und 1900 eine nie wieder erreichte Höhe von etwa zwanzig Prozent.

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Deutsche Rückständigkeit: Kindersterblichkeit in Europa im späten 19. Jahrhundert (Prausnitz, 1912, 295)

Über die Gründe für diese humanitäre Katastrophe wird bis heute beredt gestritten. Historische Demographen verwiesen etwa auf ein weiter bestehendes traditionelles „system of wastage“ [4], also einer angesichts hoher Geburtenraten üblichen relativen Vernachlässigung des einzelnen Kindes, das den kulturellen Wandel, sozio-ökonomische und wissenschaftliche Veränderungen lange Zeit bremste. Sozialhistoriker verwiesen dagegen eher auf die beträchtlichen Gesundheitsprobleme der frühen Industrialisierung und Urbanisierung, die man erst ab Ende des 19. Jahrhunderts durch politische und medizinische Interventionen erfolgreich verringern konnte. [5] Wichtige Elemente einer verbesserten Alltagshygiene waren demnach die verbesserte Milchversorgung, der steigende Konsum von Nährpräparaten und die neu entstehende Pädiatrie, die im frühen 20. Jahrhundert allesamt zu sinkender Kindersterblichkeit geführt hätten. Genauere Analysen haben jedoch ergeben, dass all diese Elemente vorrangig bürgerliche Kreise betrafen, nicht jedoch die Mehrzahl der Bevölkerung. [6]

Wissenschaft als Garant für eine Reduktion der Kindersterblichkeit

Analysiert man allerdings die wissenschaftlichen und auch wirtschaftlichen Debatten des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, so ging man das Problem der Kindersterblichkeit doch anders an: Die Ernährung wurde erstens Gegenstand einer chemischen Analyse. Kulturelle und sozioökonomische Unterschiede mochten ihre Bedeutung haben, doch Veränderungen glaubte man primär durch eine Analyse der materiellen Welt der Nahrungsstoffe und Körper bewirken zu können, der Markt würde die Ergebnisse dann allseits verbreiten.

Der Säugling war kein zartes, der Zuwendung bedürftiges Menschenjunges, sondern ein organisches Wesen mit zwei Besonderheiten: Seine Physiologie war noch unausgebildet, nicht an die neue Umwelt angepasst. Und seine Bedürfnisse orientierten sich vornehmlich auf Essen und Wachsen. Babys waren einfach und auskömmlich mit nur wenigen Lebensmitteln zu ernähren. Für ihr Gedeihen schien die Verdaulichkeit und die Resorption der Nahrungsstoffe entscheidend. Trotz ihrer offenkundigen Materialismus standen die frühen Kinderärzte noch unter dem Bann der Natur, mochten sie diese auch in die Sprache der Chemie und Physiologie übersetzen. Muttermilch war deren Sinnbild, harmonisch zusammengesetzt, alles enthaltend, was der Säugling benötigte. Tiermilch schien demgegenüber nur „ein trauriger Notbehelf“ [7]. Schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten chemische Analysen die vom Menschen abweichende chemische Zusammensetzung nachgewiesen – und zugleich die Fiktion einer relativ einheitlichen Zusammensetzung der Muttermilch genährt. Während man nun einerseits versuchte, die Tiermilch etwa durch Verdünnung der menschlichen Norm anzupassen, diente die Muttermilch als Ideal einer gewerblichen Rekonstruktion.

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Führende Vertreter der Bakteriologie: Louis Pasteur (1823-1895) und Robert Koch (1843-1910) (Der Welt-Spiegel 1928, Ausg. v. 14. Oktober, 3)

Der Blick der Wissenschaftler richtete sich aber nicht allein auf die Nahrungsstoffe, sondern auch auf die Vorgänge im Körper der Neugeborenen. Zentral hierfür wurde die 1857 von Louis Pasteur (1823-1895) beschriebene Milchsäuregärung. Erst schien es undenkbar, dann, in den 1860er Jahren, wurde es Gemeinplatz, dass diese Gärung von lebendigen Bakterien verursacht wurde. Im Inneren des kindlichen Körpers tobte eine andauernder Kampf zwischen Bakterium und Mensch um die Nutzung der Nahrungsstoffe. Dies konnte die Magen- und Darmkrankheiten erklären, die insbesondere im Sommer zu zahllosen Todesfällen führten. Tiermilch war nicht nur anders zusammengesetzt als die der Mutter, sondern enthielt auch Keime, die lebensgefährlich sein konnten. Eine verbesserte Milchhygiene war unabdingbar, wollte man Menschenleben retten.

Mochten die Konturen damit klar sein, so wusste man doch nur wenig über die Details der Verdauung der Kleinkinder. [8] Physiologie und Biochemie der körperinneren Vorgänge blieben unklar. Für eine gezielte Gesundheitsprävention reichte das bestehende Wissen nicht aus, zumal man weder genauere Vorstellungen über „Eiweiß“ oder „Kohlenhydrate“ besaß. Hinzu kam ein strukturelles Problem der Stoffwechselforschung: An Durchschnitten und Gesetzmäßigkeiten interessiert, zielte sie auf allgemeine Interventionen, nicht aber auf individuelle Therapien. Die beträchtlichen Abweichungen zwischen einzelnen Säuglingen und auch einer durch Konstitution und Herkunft heterogenen Milchkost machten vieles möglich, unterstrichen vor allem aber die Vielfalt der „Natur“. Künstliche, vom Menschen nach dem Ideal der Natur hergestellte Säuglingskost schien ein Ausweg aus diesem Dilemma zu sein.

Gewerbliche Verbesserungen? Der Bedeutungsgewinn der Kindernährmittel

Muttermilch blieb das Ideal gesunder Säuglingsernährung, Selbststillen schien erforderlich. Kinderärzte forderten dies von den Wöchnerinnen, sahen sich selbst als Sachwalter der Natur. Die beträchtlichen statistischen Unterschiede zwischen der Lebenserwartung gestillter und nicht gestillter Kinder unterstützten diesen Rigorismus am Kindbett. Doch ein gewisser Anteil der Frauen war von Natur aus nicht fähig zu stillen, hinzu kamen beträchtliche soziale, konfessionelle und regionale Unterschiede. Im späten 19. Jahrhundert wurden etwa drei Viertel bis zwei Drittel der Kleinkinder mit Muttermilch aufgezogen. [9] Der große Rest erhielt vornehmlich Tiermilch, in wachsendem Maße aber auch künstliche Kindernährmittel. Menschlicher Erfindergeist war also gefragt, Ziel war die Nachbildung der Natur. Die neuen Präparate waren getragen vom neuen Stoffparadigma der Chemie, wurden begrenzt durch die vermeintlichen Erfordernisse der Bakteriologie. Es galt zu gestalten, neu zu schaffen – zugleich aber die hygienisch heiklen Substitute der Muttermilch zu ersetzen. Künstliche Nährpräparate hatten theoretisch beträchtliche Vorteile: Sie waren gleichmäßig zusammengesetzt, wurden keimarm produziert, waren im Prinzip dauerhaft verfügbar. Die betriebliche Praxis mochte zahlreiche Probleme mit sich bringen, doch schien es möglich, Wissenschaft und Technik zum Wohl des Ganzen einzusetzen und die Kindersterblichkeit deutlich zu reduzieren.

Hier ist nicht der Ort für eine genaue Analyse der frühen Produktion künstlicher Säuglingsernährung. Grobe Konturen müssen genügen. Die Zahl der Präparate stieg seit den 1860er Jahren rasch an. Den Anfang machten Nährmittel, die auf wissenschaftlichen Theorien und Ratschlägen gründeten und sich noch an die häusliche Praxis anlehnten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die von Justus von Liebig entwickelte und propagierte Malzsuppe. Chemisch war sie ein Analogon der Muttermilch, das Rezept folgte der Logik des Laboratoriums: Die Mütter sollten einen Brei kochen, in diesen dann Kali und Malz einrühren. Kochen, sieben und verfüttern schlossen sich an. [10] Das Rezept wurde – zumal von Ärzten – sehr positiv aufgenommen, das Renommee Liebigs sorgte für allgemeine Aufmerksamkeit. Doch die Malzsuppe scheiterte rasch in der haushälterischen Praxis. Der Geschmack ließ zu wünschen übrig, die suppige Textur schien geringe Nährkraft zu suggerieren. Zudem musste die Suppe immer wieder frisch gekocht werden, war relativ teuer und nicht haltbar. Liebigs Malzsuppe scheiterte als Alltagsspeise. Ihr Grundprinzip wurde allerdings vom Stuttgarter Lizenznehmer, dem Apotheker Franz Eduard Loeflund (1835-1920), aufgegriffen, der seit 1865 Kindernährmittel produzierte und die Liebigsche Malzsuppe zu einem Nährpräparat umgestaltete. [11] Auch die Dresdener Firma J. Paul Liebe bot kurz danach einen löslichen Extrakt der Liebigschen Malzsuppe an.