Es gibt sie noch, die Erbswurst. Doch sie fristet in den Regalen ein karges Restdasein, richtet ihre Nährkraft vorrangig auf Camper aus, liegt unbestimmt lange als letzte Reserve in den Küchenschränken. Wie anders ihre Stellung während und nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Damals war die Erbswurst neu, Ausdruck deutscher Innovationskraft, ein wichtiger Baustein beim militärischen Sieg über das Kaiserreich im Westen.
- Herbert Küster, Das Lied von der Erbswurst, Berlin s.a. [1870], 1
Erbswurst war Militärkost, doch als solche war sie eigentlich nicht gedacht. Prosaisch handelte es sich um ein Nahrungskompendium, eine Mischung von getrocknetem Erbsenmehl, Speck, Salz, Zwiebeln, Paprika und weiteren Gewürzen. All dies wurde vorgekocht und in Naturdärme gepresst. Verschiedene Erfinder hatten sich an der neuen Speise versucht, viele Versuche misslangen. Den Siegerkranz im kulinarischen Wettbewerb errang der Berliner Konservenunternehmer Johann Heinrich Grüneberg (1819-1872), der seine Versuche 1867 gestartet hatte. Inspiriert von der langsam Raum greifenden chemisch-physiologischen Stofflehre wollte er nicht nur eine x-beliebige Konserve herstellen, sondern eine rasch nutzbare Speise mit hohem Eiweiß- und Fettgehalt. Die Erbswurst war entsprechend ein preiswerter Suppengrundstoff mit hohem Nährwert, die lediglich zerkleinert und dann mit Wasser aufgekocht werden musste.
Grüneberg hatte gegenüber Mitbewerbern den Vorteil fundierter Vorarbeiten. Er zielte zwar auf den zivilen Markt, sah aber schon frühzeitig die Chancen der Militärkost (zu deren Anfängen s. „Künstliche Kost“ Kap. 3.2.1). Grüneberg besaß gute Kontakte zur Heeresverwaltung, lockte die Herren schon lange vor dem Krieg mit der Idee einer wohlschmeckenden, einfach zuzubereitenden und relativ leichten Erbsensuppe im Tornister. Es folgten Menschenversuche: Im Frühjahr 1870 wurden in Frankfurt/M. und in Brandenburg a.d.H. zwei sogenannte Erbswurst-Kommandos abgestellt, bestehend aus Offizier, Unteroffizieren und etwa 20 Gemeinen. Sie waren zuvor ärztlich untersucht und gewogen worden. Sechs Wochen lang wurden sie bei Brot und Erbswurst gehalten, durften also neben der üblichen Brotportion (430 Gramm/Tag) lediglich das neue Produkt verzehren. Dienst war ansonsten nach Vorschrift zu leisten. Das Resultat war mehr als überzeugend, nahmen die Soldaten doch etwa fünf Pfund zu und wiesen keinerlei Mängelzustände auf.
Erbswurst war also mehr als eine Erfinderphantasie – und die preußische Regierung zahlte Grüneberg 1870 37.000 Taler für die exklusive Nutzung seines Rezeptes. Mitte Juli, also just zu Kriegsbeginn, wurde in Berlin die „Königl. Preußische Fabrik für Armeepräserven in Berlin“ gegründet, in der nach nur wenigen Wochen Bauzeit zuerst Erbswurst, dann parallel Fleisch- und Gemüsepräserven produziert wurden. Besucher der Fabrikanlagen waren beeindruckt: „Ein betäubender Lärm, Klopfen, Hämmern, Schlagen, Rollen, umgibt uns. Man denke sich einen ausgedehnten, von einer Menge eiserner Säulen getragenen Holzbau, in welchem über 1700 Personen, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen, von früh bis spät beschäftigt sind, um nicht weniger als 150,000 Pfund Erbswurst und 240,000 Portionen Fleisch- und Gemüsepräserven mit Verpackung fertig zur Lieferung an die Bahn herzustellen“ (Allgemeine Zeitung [München] 1870, Nr. 337 v. 2. Dezember, 5344). Die Tageskapazitäten lagen anfangs bei 7 Tonnen, konnten jedoch auf 65 Tonnen gesteigert werden. Insgesamt wurden in der von Grüneberg eingerichteten und geleiteten Fabrik etwa 5.000 t Erbswurst produziert. 12 Millionen Därme wurden eingesetzt, ca. 40 Millionen Portionen hergestellt.
- Spott für das Eiserne Kreuz des Erbswurst-Verwaltungsbeamten Schott (Kladderadatsch 24, 1871, 64)
Die Armeepräservenfabrik war arbeitsteilig organisiert, nutzte Maschinen, folgte dem Grundprinzip der Fließfertigung: Speck und Schinken wurden in zwölf großen Kesseln gekocht, dann das in Fässern bereitstehende Erbsmehl sowie Salz, Zwiebeln und Gewürze hinzugefügt. All diese Zutaten wurden vorgekocht, dem Fleisch also passgenau zugeführt. Die fertige Kochmasse wurde anschließend in Eimern zu Spritztischen gebracht, wo 250 Schlachter sie in Form brachten und in Pergamentpapier vorverpackten. Dann übernahmen Hilfskräfte, im Regelfall Kinder beiderlei Geschlechts, und fuhren die Halbfertigprodukte in kleinen Wagen in den Verpackungsraum. Folgen wir nun wieder einer zeitgenössischen Schilderung: „Dort sind 400 Frauen und Kinder emsig thätig jede Wurst, nachdem sie von Fett gereinigt, mit einer Etikette und Gebrauchsanweisung zu versehen, die folgendermaßen lautet: ‚Zehn Loth oder den dritten Theil einer Erbswurst vom Darm befreien, in ¾ Quart kalten Wassers legen, unter Umrühren auf- und dann noch 5 Minuten weiter kochen lassen.“ Zu zwei und zwei werden die Würste sorgfältig verpackt und wandern nun nach den Bötticherwerkstätten, wo sie in Kisten zu 150 Pfund verpackt, vernagelt und überhaupt zum sofortigen Transport fertig gemacht werden“ (Freisinger Tagblatt 1870, Nr. 279 v. 1. Dezember). Die Prozesstechnik blieb geheim, die Grünebergsche Erbswurst war dem Militär vorbehalten. Dieses baute parallel weitere Kapazitäten auf, so etwa in Frankfurt/M., Hamburg und München, vor allem aber in Gustavsburg bei Mainz. Die neuen Fabriken produzierten, erprobten zugleich aber weitere Produkte. Doch bei Bohnen- und Linsenwürsten entsprachen weder Nährwert und Haltbarkeit noch der Geschmack den Erfordernissen einer akzeptablen Grundversorgung.
Nach Kriegsende sickerten weitere Details der Produktion in die Öffentlichkeit. Sie belegten nochmals die beträchtlichen Vorarbeiten, ohne die Erbswurst ein Flop geworden wäre. Das Erbsmehl bestand demnach aus drei unterschiedlichen Arten, gedämpft, kondensiert und doppelt kondensiert. Das hinzugefügte Rindfleisch wurde konsequent abgedämpft, der Speck war zu einem Drittel fett, zu zwei Dritteln mager. Die Zwiebeln waren passiert, einzelne Gewürze vorbehandelt. Erbswurst war eine frühe industriell produzierte Fertigspeise, bot ein Ideal für viele Nahrungsmittelunternehmer, etwa Rudolf Scheller (1822-1900), Julius Maggi (1846-1912) oder Carl Heinrich Eduard Knorr (1843-1921).
Während die Produktion erfolgreich war, zeigten sich während des deutsch-französischen Krieges aber auch problematische Seiten der Nahrungsinnovation. Erst einmal war sie dringend erforderlich, um die unzureichenden Verpflegungsstrukturen der deutschen Heere abzufedern. Die viel gerühmte Taktung der Eisenbahnen geriet immer wieder ins Stocken, Rückstaus behinderten den Nachschub und in den drei zentralen Depots verdarben massiv Lebensmittel, nicht nur die nachrangigen „Liebesgaben“ der Heimat. Die mit- und nachgeführten Rinder- und Schweineherden waren schlicht zu langsam, wurden zudem durch Seuchen massiv reduziert. Da die Lebensmittelrequirierung im Feindesland an Grenzen stieß, bot die Erbswurst eine willkommene, zugleich aber notwendige Ergänzung.
Schwieriger war, dass das neue Universallebensmittel anfangs zwar gerne genossen wurde, zumal die einfache Zubereitung auch von kochunkundigen Männern gewährleistet werden konnte. Doch sie verlor nach einigen Monaten ihren Kredit: Man „konnte dieselbe später wohl in den Gräben, auf den Landstraßen und Bivouac-Plätzen massenhaft herumliegend, wenig aber aufbewahrt in den Kochgeschirren, Packtaschen oder Tornistern der Mannschaften finden. Der Grund lag wohl darin, daß sie den Leuten bald Ueberdruß und außerdem noch Magenbeschwerden und Unwohlsein verursachte“ (Straubinger Tagblatt 1871, Nr. v. 1. August, 745). Grund hierfür war zumeist die unzureichende Lagertechnik. Die Erbswurst wurde ranzig, war dann nur mit Widerwillen zu verzehren. In späteren Kriegen traten Präserven bzw. Konserven an ihre Stelle.
- Moltke vor dem Kriegsgericht (Fliegende Blätter 54, 1871, Nr. 1340, 1. Beiblatt, 1)
Das Wechselspiel zwischen offenkundigen Problemen und dem Status einer kulinarischen Wunderwaffe machte aus der Erbswurst zugleich aber eine populäre Speise, auf die viele Deutsche stolz waren, die kulinarisch jedoch eher ein Fremdkörper blieb. Der Soldatenhumor war entsprechend: „Frage: Welchem Kriegsgericht kann kein deutscher Soldat entgehen? Antwort: Der Erbswurst“ (Augsburger Anzeigeblatt 1871, Nr. v. 15. Januar). Die damaligen Karikaturzeitschriften arbeiteten sich an dem Nahrungskomprimat vielfach ab. Es mutierte zur Ehestifterin, und im „Ulk“ kommentierte die Konfektionsdame „Paula Erbswurst“, eine töricht-naive Seele aus dem Volke. Der Münchener „Puck“ verspottete die absonderliche Speise, ließ in der Etappe eine Erbswurstausstellung erstehen, die gegen Entree betreten werden konnte, um die Suppenspeise erst zu sehen, dann zu beriechen und schließlich gar zu essen. Auch Berichte über „enorme Diebstähle“ in der Grünebergschen Fabrik machten ihre Runde. Der „Kladderadatsch“ schickte gar einen virtuellen Reporter hin zu Grüneberg, voll von Elan und Hintersinn: „Die Stätte will ich sehen, auf der Frankreich geschlagen, die Lateinische Race vertilgt wird; die Stätte, die das geflügelte Wort erzeugt, welches unsere Krieger täglich wiederholen müssen: ‚Wurst, wieder Wurst!‘.“ Klar, dass dieser Investigativjournalist am Ende schwelgte: „Das ist die Wurst der Zukunft! Die Sphinx! Der Richard Wagner im Darm! Die bacchantische Umschlingung der drei Naturreiche! Das Pflanzenwurstthier! Die Thierwurstpflanze! Der Wurstbrillant! Die Brillantwurst!“ (Kladderadatsch 24 (1871), Nr. v. 1. Januar, 2). Selbst Grünebergs plötzlicher Tod 1872 wurde launig kommentiert: „Ob er wohl an den Folgen der Erbwurst, oder an aus besseren Folgen überladenem Magen gestorben ist!“ (Oberfränkische Zeitung 5, 1872, Nr. 248 v. 19. Oktober). Ja, Deutschland ist Urgrund für Humoristen.
- Werbung für Erbswurst 1870 (Kladderadatsch 23, 1870, 3. S. n. 216)
Doch zugleich auch ein Land geschäftstüchtiger Praktiker. Noch vor der offiziellen Niederlage Frankreichs baute die Frankfurter Erbswurstfabrik ein Netzwerk von Niederlagen in Süddeutschland auf. Erbswurst wurde als nationale Wonnespeise vermarktet, als billiges und wohlschmeckendes Grundprodukt für eine „in jedem Augenblicke fertige Mahlzeit“ (Kitzinger Anzeiger 1871, Nr. v. 28. Februar). Marktforschung gab es noch nicht, Erbswurst schien für alle da: „Vermöge der vielen Vorzüge eignet sich das Präparat zu einem Nahrungsmittel für alle Berufsclassen. Bei plötzlich eintretendem Besuch ist die Hausfrau sofort in der Lage ihre Gäste bewirthen zu können; bei Treibjagden oder anderen Gelegenheiten bildet die Erbswurst ein passendes Gericht, und selbst der Arbeiter ist dadurch in den Stand gesetzt, wenn er an Wintertagen spät von der Arbeit heimkehrt, sich ein sättigendes, warmes Abendbrod in der kürzesten Zeit zu bereiten“ (Allgemeine Zeitung [München] 1871, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6144). Auch private Anbieter nutzten den Trend, so etwa die Berliner Produzenten Jacobi-Scherbening & Wiedemann bzw. Louis Lejeune.
- Grüneberg auf dem Markt – Werbung 1871 (Kladderadatsch 24, 1871, Nr. 52, 2. Beibl., 3)
Grüneberg sprang spät auf diesen Zug auf. Erst nach Einstellung der Armeeproduktion begann er im Herbst 1871 mit der Produktion seiner „Deutschen Erbswurst,“ für die er rasch ein Vertriebsnetz aufbauen konnte. Zahlen zum Erfolg dieser Unternehmungen gibt es nicht, doch schon ab 1872 finden sich nur noch vereinzelte Anzeigen. Gleichwohl wurde Erbswurst weiter produziert, gab es eine Reihe von Anbietern, so etwa die seinerzeit bedeutende Firma Alexander Schörke & Co. in Görlitz. Die heutige offenkundig irreführende redaktionelle Werbung von Knorr-Unilever bezeichnet – ebenso wie zahlreiche PR-Journalisten – den Beginn der Knorrschen Erbswurstproduktion 1889 als wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Convenienceartikel. Das ist eine typische Kommerzlegende. Knorrs Erfolg lag vor allem an einer effektiven Absatzstruktur. Das Rezept war deutlich verändert worden, Erbswurst war eine – man verzeihe mein abstraktes Deutsch – fungible semantische Illusion geworden.
- Einer der vielen Wettbewerber von Knorr (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 2, 1905, 708)
Doch Verbesserungen gab es keineswegs nur auf deutschem Boden. Schon im Dezember 1870 wurde von Experimenten der englischen Armee mit der Erbswurst berichtet, Österreich folgte. Die französische Armee führte sie im September 1871 ein. In Russland liefen Versuche seit 1870, ab 1873 wurde sie eingeführt. Zeitgenossen mahnten jedoch: „Acht‘ wohl auf das, was Kutschke spricht: Die bloße Erbswurst siegt noch nicht! Nein, außerdem gehört dazu Der Heldenmuth, die Seelenruh‘, Das blanke Putzen des Gewehrs Und das Geschick des Commandeurs. […] Drum iß die Erbswurst mit Verstand Und denk‘ dabei ans Vaterland; Hab‘ Acht auf das, was Kutschke spricht: Die bloße Erbswurst siegt noch nicht“ (Kladderadatsch 30, 1877, Nr. 11 v. 4. März, 42).
Obzwar in Deutschland nicht mehr wohlgelitten, wurde Erbswurst als Speise geadelt, die den Erfindergeist der großen Mächte symbolisierte, die Herrschaft des weißen Mannes unterstrich. So endet diese wahre Geschichte der Erbswurst mit einem Blick über den Atlantik, wo man ihre zivilisatorische Mission rasch verstand. Die U.S. Army bestellte schon 1871 Kisten voller Erbswurst, die von San Francisco aus dann an Forts an den Grenzen der noch von Indianern beeinflussten Gebiete versandt wurden. Und ein unbekannter bayerischer Redakteur vermerkte hoffnungsfroh: „Was dem Branntwein, den Kanonen und Gewehren, ja dem Christenthum sogar nicht gelungen, mag die Erbswurst vielleicht zu Stande bringen, den Indianer an warme Küche, d. h. an Civilisation zu gewöhnen“ (Ingolstädter Tagblatt 1871, Nr. v. 28. Juni, 621). Howgh, so hat er gesprochen.
Uwe Spiekermann, 19. Mai 2018
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