Die neue Lust am Ersatz – Ein alternativer Blick

Im August 2021 wagte VW Wolfsburg eine interne Revolution. Der „Kraftriegel des Facharbeiters“, die Currywurst, wurde aus der Kantine im Markenhochhaus verdammt, pflanzliche Ersatzprodukte inklusive einer veganen Variante traten an ihre Stelle. Es ging um weniger Fleisch und mehr Gemüse, um „gutes“ Essen, bessere Gesundheit und ein erweitertes Angebot. Empörung folgte, zwei Jahre hielt die Kantine durch, doch angesichts der öffentlichen Kritik und der Abwanderung zu anderen Kantinen hisste sie im August letzten Jahres die weiße Flagge. Die Currywurst, die echte, war wieder erhältlich. Neuerlich keimte Kritik auf, denn wir wissen doch: „The future is vegan“. Das mag angesichts von höchstens ein Prozent Veganer wagemutig klingen, doch lustvolles Bekennertum übertönt das mit einem überzeugungsfrohen Lächeln.

Die Wolfsburger Posse ist einer von vielen Kämpfen um richtige, zeitgemäße, verantwortbare und gesunde Ernährung in einer Zeit der vermeintlichen Krisen, der allgemeinen Umbrüche. Ersatz, nicht nur veganer, gibt „uns“ seit mehr als einem Jahrzehnt endlich Hilfsmittel an die Hand, um die Gefahr für uns und unseren Planeten zu wenden, so heißt es. Unternehmer stellen Startups vor, Wissenschaftler versichern uns Machbarkeit – und auch Politiker begrüßen die neuen Ersatzmittel als Beitrag zu Nachhaltigkeit und gutem Leben. Die große Mehrzahl steht dem Geschehen eher skeptisch gegenüber. Weniger Fleisch? Vielleicht… Tofu-Schnitzel oder Proteinquelle Mehlwurm? Doch eher nicht…

Wo sich einreihen? Mit scheint Distanz zur neuen Lust am Ersatz erforderlich. Unsere heutigen Kämpfe sind nämlich keineswegs neu. Wir schlagen heutzutage lediglich ein neues Kapital einer Geschichte auf, die im späten 18. Jahrhundert begann. Damals zerbrachen langsam die ständischen Strukturen der vorindustriellen Welt, eines trans- und vornationalen bäuerlichen Universums, geprägt von steten Nahrungsmittelkrisen, von der elementaren Sorge um das tägliche Brot. Essen war grundlegend, denn es ging um das eigene Leben, das der Familie, der Gemeinschaft. Essen war noch nicht Wahlhandeln, denn die geringe Produktivität der Landwirtschaft ließ kaum mehr zu, selbst in Jahren mit guter Ernte. Ernährungssicherheit war damals immer bedroht, die Machtmittel der Herren konnten die Not aber wenden, mussten sie auch, wenn Gott die Gebete und Klagen nicht erhöhte.

Ersatz als Teilhabe

Ersatz war im späten 18. Jahrhundert noch nicht verengt auf bestimmte Produktgruppen. Der Begriff kam um 1780 auf, ergänzte das „Surrogat“, den seit ca. 1740 genutzten Begriff der Gelehrten. Für den gemeinen Mann war beides fern, ihm ging es um einen Anteil an der Welt, die Gott doch für alle geschaffen hatte. Das änderte sich als zunehmend Kolonialwaren aufkamen, erst im Adel, dann im Bürgertum: Rohrzucker, Schokolade, Tee, Tabak, neue Getränke wie Rum und Arrak. Rasch entstand eine Kultur der Aneignung dieser Genussmittel durch das Bürgertum – und eine nachholende Bewegung der breiten Bevölkerung, erst der ärmeren Bürger, dann auch der ländlichen Bevölkerung.

Die deutschen Lande waren damals jedoch relativ arm und ökonomisch vergleichsweise rückständig, zumindest im Vergleich zu Frankreich, dem aufstrebenden England, auch den niedergehenden Niederlanden. Das Land war von Kriegen zerfurcht, dem 30-jährigen-Krieg 1618-1648, dem Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688-1679, dem 7-jährigen-Krieg 1756-1763. Hunger gab es alle sieben Jahre, Hungerkrisen jede Generation, 1770/71, dann wieder 1816/17. Binnenmärkte fehlten, Zölle und Transportkosten waren hoch, merkantilistische Industriepolitik förderte Exporte, behinderte aber Importe.

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Werbung für Ersatzkaffee (Münsterisches Intelligenzblatt 1808, Nr. 22 v. 27. Mai, 266 (l.), Der Beobachter 1810, Nr. 2198 v. 26. November, 911)

Ersatz als Teilhabe bedeutete erst einmal den Ersatz der Kolonialprodukte. Die neuen Waren auf der Tafel der Begüterten umrahmten Geselligkeit und Feste: Kaffeerunden und Rauchkolloquien, Tee- und Kakaokränzchen, die feuchtfröhliche Runde mit aromatischen Spirituosen. Surrogate ersetzten nicht vorrangig Nährwert, sondern standen für ein wenig Wärme, für befreiende Trunkenheit, für Geschmack über den eigenen Acker hinaus. Die eigene Ernährung gab Sicherheit, die neue aber weitete die Welt. Kolonialprodukte waren jedoch viel zu teuer für die ländliche Bevölkerung, die oft noch nicht in den sich erst entwickelnden Geldkreislauf eingebunden war. Ersatz musste billig sein, auch weil der Konsum staatlich kritisch beäugt wurde, verschwenderisch schien, unschicklich. Man griff daher auf die Natur zurück: Man erprobte kaffeeähnliche Wurzeln und Pflanzen, Erdmandeln, Eicheln, Haferwurzeln, Bucheckern, Möhrensamen – doch am Ende zumeist Zichorie und Gerste. Doch sie wurden nicht nur zuhause angebaut und geröstet. Privilegierte Unternehmer begannen die Herstellung in kleinen Packungen (Ein schöner Mythenbrecher: Matthias Seeliger, Zichorienkaffee – eine Holzmindener Erfindung? Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 37/38, 2019/2020, 61–80). Rohrzuckeranpflanzungen scheiterten in Frankreich am Klima, doch bestimmte Rüben enthielten Zuckersaft, den man extrahieren konnte. Tabak, deutschen Tabak, konnte man in der Rheinebene anpflanzen. Das war Teilhabe, doch eine Teilhabe in kleiner Münze. Man wusste darum, nannte Ersatzkaffee Plämpel, Hutzelbrühe, Kaffeepantsch oder Lurke. Doch es war besser als das Einerlei oder aber nichts. Die neuen Surrogate unterstrichen, dass auch klimatisch gemäßigten Länder wie Deutschland die brutale und teure Kolonialherrschaft eigentlich nicht benötigten, denn diese konnten die Waren der Ferne nachmachen und dann stetig verbessern. Das galt selbst für Rum, der anfangs auch aus Rüben destilliert wurde, später als aromatisierter Kunstrum seine Abnehmer fand.

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Werbung für Kunstbutter (ab 1887: Margarine) (Würzburger Presse 1875, Nr. 10 v. 13. März, 3)

Ersatz war Teilhabe an den Gütern der Welt. Das galt auch für die Kartoffel, breiter genutzt erst seit der Hungerkrise 1770/71. Sie schuf Versorgungssicherheit, bot zugleich einen Ersatz für die Alkoholika der Tropen: Billiger Branntwein aus Kartoffeln veränderte die Alkoholkultur ebenso grundlegend wie die Knolle die Alltagskost in der Mitte Deutschlands. Ersatz bot demnach Teilhabe weit über die Genussmittel hinaus. Das unterstrichen auch exotische Angebote wie die von Fernhändlern feilgebotenen italienischen Makkaroni. Schon in den 1830er Jahren wurde sie mit Weichweizen heimisch produziert, seit den 1870er Jahren auch mit Hartweizen, dann mit Eiern. Weiteres wurde übernommen, an deutsche Geschmacksvorlieben angepasst, schließlich zu etwas Eigenem: Französische Kaninchen erweiterten das Fleischangebot just ärmerer Schichten. Das galt auch für Geflügel aus Frankreich und Italien, das zudem die kleinteilige Eierversorgung verbesserte. Der Ausbau der Milchwirtschaft seit den 1870er Jahren umfasste auch russisch-slawische Produkte wie Kumys, Kefir und seit 1906 auch Joghurt. Als Ersatzmittel wurden sie kaum mehr wahrgenommen.

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Surrogate als Mentekel für den Wandel der Welt – Klagegedicht (Abend-Zeitung 1824, Nr. 83 v. 6. April, 329)

Ersatz als Teilhabe war allerdings keineswegs herrschaftsfrei. Denn mit der Fortentwicklung der organischen Chemie trat seit den 1860er Jahren die angemessene Versorgung mit Eiweiß zunehmend in den Mittelpunkt der sozialen Frage, Lohnforderungen folgten. Arbeitgeber konterten mit Ersatzprodukten, die als billige Volksnahrungsmittel propagiert wurden. Die Rangoon-Bohne hatte einigen Erfolg, ebenso Maté-Tee. Dagegen scheiterten die Zuckerpflanze Sorghum und die hierzulande schon in den 1870er Jahren angepflanzten Sojabohnen. Halten wir kurz inne, so sehen wir ein Deutschland fern des Wilhelminischen Machtstaates. Inmitten Europas und fern der kolonialen Händel übernahm man hierzulande zahllose Anregungen von den Nachbarn und aus der Ferne. Im Rahmen der damaligen Agrartechnik gestaltete man sie um, machte sie zu deutschen Produkten, die teils wiederum – wie der Rübenzucker – zu wichtigen Exportgüter werden sollten. All das war Widerhall eines bürgerlichen-liberalen Zeitalters, in dem Austausch zum Nutzen aller herrschen sollte – fernab der ausbeuterischen Kolonialpolitik der großen Mächte.

Ersatz als wissenschaftliche und technische Neugestaltung der Natur

Seit der Mitte des 19. Jahrhundert veränderte sich die Stellung der Surrogate. Grund hierfür war der Aufstieg der organischen Chemie. Justus von Liebig bündelte französische, deutsche, niederländische und skandinavische Forschung um 1840 zu neuen wagenden Synthesen eines die Natur kennzeichnenden Stoffwechsels. Die chemischen Elemente erschienen als Schlüssel zu einer Mikrowelt, aus der sich Leben, Wachsen und Gedeihen ableiten ließ. Nutzanwendungen gab es zuerst in der Landwirtschaft, wo die Stoffzufuhr von Pflanzen und Tieren optimiert wurde. Ersatzstoffe wurden dem heimischen Dung gezielt zugesetzt, im Stoffverbund erhöhten sie die Erträge beträchtlich: Zuerst durch importierte organische Düngemittel wie Peru-Guano oder Chili-Salpeter, dann durch gewerblich produzierte Reststoffe wie das südamerikanische Fleischfuttermehl, schließlich mittels chemischer Kunstdünger wie Kali, Stickstoff und Phosphor.

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Gesunder Ersatz des Frischfleisches: Dr. Kochs Fleischpepton (Fliegende Blätter 85, 1886, Nr. 2139, 1. Beibl., 2)

Warum aber bei Tier und Pflanzen stehen bleiben? Schon Anfang des 19. Jahrhunderts hegte man Utopien einer neu gestalteten Menschenernährung: „Mit Einsicht angeordnete Reihen chemischer Versuche müssen zu Produkten führen, die nicht Surrogate, sondern jene Produkte selbst sind, denn einerley Produkt kann auf zweyfachem Wege erhalten werden, auf dem langsamen Weg der Natur, und auf dem schnellern (abkürzenden) Wege der Kunst“ (Vorschlag zu einem Surrogate aller Surrogate. Ein Wort an die Deutschen, Der Verkünder 1811, Nr. 90 v. 7. Mai, 361-363, hier 363). Chemiker, Ingenieure und Unternehmer bemächtigen sich seit den 1860er Jahren Branche nach Branche, um Kunstprodukte zu erstellen, um die Natur mit Geist zu überwinden. Kraftmehle und Milchpräparate bildeten die Muttermilch nach, halfen die Säuglingssterblichkeit zu reduzieren. Eiweiß war teuer, insbesondere das Fleisch. In den 1860er bis 1880er Jahren erschloss man mittels Fleischextraktes, Fleischpulvern und Peptonen daher die Fleischreste Südamerikas, dann auch der amerikanischen Schlachthöfe. Tierisches Eiweiß wurde durch pflanzliches ersetzt, Erbswurst und Suppenmehle Teil der Alltagskost. Die Kunstbutter Margarine etablierte sich seit den 1870er Jahren als Billigfett. Kohlenhydrate folgten mit gewissem Abstand, denn an ihnen herrschte kein Mangel. Doch ab den 1890er Jahren drangen Haferkakao, Kunsthonig und siruphaltige Marmelade vor.

Neben die Güter der gewerblichen Industrie traten nun auch Ersatzmittel aus Laboratorien: Holzessig und Essigessenzen waren billiger als natürlich vergorene Ware. Backpulver scheiterte lange vor Dr. Oetker beim Brotbacken, etablierte sich aber dann als Kuchentreibmittel. Chemische Gewürzextrakte oder das synthetische Vanillin ersetzten weitere Kolonialwaren. Das synthetische Ersatzmittel Saccharin veränderte gegen Ende des Jahrhunderts das Süßen, wurde als Rohrzuckerersatzersatz aber zeitweilig verboten. All diese Kunstprodukte sind für uns heute keine Ersatzmittel mehr, sind vielmehr Teil unseres Ernährungsalltags, ebenso wie andere Surrogate der Kaiserzeit, nämlich alkoholarmes Bier, entnikotinisierte Zigarren und entkoffeinierter Kaffee.

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Was ist echt, was unverfälscht? Werbung für Liebigs Fleischextrakt (Münchner Neueste Nachrichten 1908, Nr. 553 v. 25. November, 8)

Auf Basis wissenschaftlichen Wissens entwickelt sich das Deutsche Reich seit den 1870er Jahren zu einer industriellen Weltmacht, deren Stärken Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik bis heute Kernelemente unseres Wohlstandes sind. Die immensen Fortschritte der organischen Chemie erlaubten die Umwandlung von Reststoffen in preiswerte Massengüter, ermöglichten die Neugestaltung der Natur. Um die Jahrhundertwende schien die Schaffung einer neuen, gerechteren Welt mit Hilfe neuer Ersatzstoffe möglich. Der SPD-Vorsitzender August Bebel schrieb: „Was die Pflanzen bisher taten, werde die Industrie tun und vollkommener als die Natur“ (Die Frau und der Sozialismus, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1985, 435). Und die lieferte: Nähr- und Eiweißpräparate wie Aleuronat, Nutrose und Tropon offerierten zunehmend billiges Protein, zahllose Kräftigungsmittel folgten. Synthetische Nahrung – Fett aus Kohle – schien möglich, über eine Pillenernährung wurde öffentlich kontrovers diskutiert, nicht nur gewitzelt. Diese Träume sollten in eine bessere Welt für alle münden: Vegetarier boten nach der Jahrhundertwende nicht nur Nusspasten und Limonaden als Wegzehrung hin zu einer pflanzlichen und friedlichen Welt an, sondern auch zahlreiche Fleischersatzprodukte.

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Der Traum einer zu schaffenden Ersatzwelt: Der französische Chemiker Marcellin Berthelot (1827-1907) beim virtuellen Schöpfungsakt (Des Lahrer hinkenden Boten neuer historischer Kalender 1897, 45)

Wir sollten die Kosten dieses stets kritisch umkämpften Fortschritts allerdings im Blick behalten. Das neue, in Produkten materialisierte Wissen schuf nicht nur Märkte. Es entwertete zugleich tradiertes hauswirtschaftliches Wissen, war Kauf doch teils billiger als Selbermachen. Die Chemie schuf nicht nur Qualitätsware, sondern ermöglichte immer schwieriger zu entdeckende Fälschungen. Der Geschmack der Produkte änderte sich, nicht immer zum Guten. Das damals noch mit vielen Zusatzstoffen gebraute Bier hieß nicht umsonst „Surrogatenbrühe“ (Berliner Volksblatt 1886, Nr. 138 v. 17. Juni, 2). Das Ersatzmittelwesen schuf Träume, setzte Dynamik frei, schuf aber auch wachsende Wissensklüfte. Die Sprache wurde zunehmend brüchig, uneindeutig, denn Holzessig war etwas anderes als Weinessig. Moderate Regulierungen folgten, zuerst durch Wissenschaft und Industrie, dann auch vom Staat. Verbraucher spielten hierbei kaum eine Rolle. Ersatz bot neue Nahrungswelten, entmündigte aber zugleich.

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Übergriffige Wissenschaft (Kladderadatsch 65, 1912, Nr. 40, 6. Beibl, 1)

Ersatz in Kriegen und Krisen

Allem umkämpften Fortschritt zum Trotz behielt der Ersatz jedoch seinen dunklen Grund als eine letzte Barriere gegen Hunger und Hungertod. Notspeisen sollten akute Engpässe überbrücken, waren zumeist ein Rückgriff auf wenig einladende Naturprodukte wie Eicheln, konnten aber, wie die Rumfordsche Armensuppe, auch elaborierter sein. Hungerkrisen traten hierzulande bis 1846/47, dann nochmals 1867 in Ostpreußen auf – damals fehlte es an einer Transportinfrastruktur, war Kühltechnik nicht vorhanden. Das Arsenal der Notnahrung der vorindustriellen Gesellschaft blieb auch danach präsent, Bilder von grasfressenden „Irren“ im Ersten Weltkrieg verweisen auf die vielfach bewusst hingenommene „Übersterblichkeit“ von 42.000 Anstaltsinsassen in Preußen, die keine Ergänzung ihrer Mindestrationen erhielten. Nach den Wirren der napoleonischen Kriege, als insbesondere 1812 bis 1814 mögliche Ersatzmittel intensiv diskutiert wurden, waren es jedoch die Weltkriege und ihre Nachkriegszeiten, aber auch tiefgreifende Wirtschaftskrisen wie die Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise, die neuartige, notwendende Surrogate forderten. Sie versprachen elaboriertere wissenschaftlich-technisch Notnahrung.

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Stolze Präsentation deutscher Schaffenskraft (Vorwärts 1917, Nr. 8 v. 11. Januar, Unterhaltungsbl., 16)

Während des Ersten Weltkriegs sah sich das Deutsche Reich mit einer völkerrechtswidrigen Seeblockade der Entente konfrontiert. Schon 1914 wurde mit Kartoffeln gestrecktes K-Brot eingeführt. Seit 1915 folgten erstens freiwillige Versuche, Lebensmittel zu substituieren: Magermilch und Hülsenfrüchte sollten Fleisch ersetzen, Kartoffeln und Roggenbrot Weizenmehl und -brot. Zweitens sollte man wie in alten Zeiten Wildpflanzen wie Bucheckern und heimische Gewürze sammeln, Handlungsroutinen der vorindustriellen Zeit aufgreifen. Die moderne Zeit manifestierte sich drittens in der Resteerschließung, denn Blut und Tierkadaver, auch das den Abwässern abgerungene Fett oder Stroh sollte Menschen nähren. Hinzu kamen viertens verarbeitete Produkte, allesamt vor dem Krieg verfügbar, durch den Nahrungsmangel nun aber akzeptabel: Trockenmilch und -eier kamen auf, Nährhefe, Fischfleisch und Hefeextrakte, Presskaffee aus kaffeeähnlichen Substanzen.

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Werbung für Tee- und Ei-Ersatz (Anzeiger für Lebensmittelverteiler in Frankfurt a.M. 2, 1918, Nr. 1, 3 (l.) Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 636 v. 13. Dezember, 4)

Doch das „Zeitalter des Ersatzes“ verkörperten vorrangig die bis 1919 etwa 12.000 angemeldeten Ersatzmittel. Sie verdichteten Nähr- und Reststoffe zu Produkten mit wohlklingenden Namen: Fleisch- und Wurstersatz, Suppenwürfelsubstitute, künstliche Salatöle, Kunstlimonaden, etc. Der Markt wuchs rasch, 1917 wurde ein Siebtel der Nahrungsausgaben darauf verwandt. Diese Ersatzmittel waren zumeist überteuert, von fraglicher Qualität, teils gesundheitsschädlich. Neu eingerichtete Kontrollinstanzen konnten dem kaum Einhalt gebieten. Diese Ersatzmittel waren Ausgeburten wissenschaftlicher Vernunft, selten seriös, vielfach kriminell. Es handelte sich um eine Kommerzialisierung der Not, um ein perfides Spiel mit den Erinnerungen an früher erhältliche Lebensmittel gleichen Namens. Und doch, die Menschen in den Städten kauften, denn Schlechtes war besser als nichts. Am Ende der bis 1921, teils bis 1923 währenden Rationierungswirtschaft hatte der Begriff Ersatz seinen früher durchaus auch positiven Bedeutungsgehalt jedoch verloren. Anzeigen warben mit „Kein Ersatz!“ – der Begriff mutierte zur Ausgeburt des Schlechten.

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Ersatzmittelwerbung und resultierenden Alltagsprobleme (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 633 v. 13. Dezember, 10 (l.); Meggendorfer Blätter 114, 1918, 98)

Nie wieder! in der Bevölkerung, nicht aber bei den Funktionseliten in Wissenschaft, Industrie und Politik. Nicht nur hatte ein „Nährstoffausschuss“ seit 1917 im Auftrag des Kriegsamts an neuen Verfahren geforscht, von der Brotstreckung über die Getreideentkeimung bis hin zur Nutzung von Laub, Schilf und Quecken für Nahrungsmittel. Auch nach dem verlorenen Krieg, insbesondere aber nach dem als „Diktat“ verstandenen Friedensvertrag von Versailles war es bei den Funktionseliten kaum umstritten, dass nationale Selbstbehauptung auf erhöhte Resilienz durch Technik und Wissenschaft setzen müsse. Verbesserte Ersatzmittel seien ein wichtiges Mittel, sich der „Sklaverei des Lebensmittel-Weltmarktes“ (Carl von Noorden, Ernährungsfragen der Zukunft, Berlin 1918, 55) möglichst zu entziehen. Wachsender Förderung des Agrar- und Ernährungssektor zum Trotz, lagen die Schwerpunkte der neuen Ersatzmittelwirtschaft bei Großchemie und Schwerindustrie, beim Rohstoff Kohle und der chemischen Synthese. Diese „Flucht in den Käfig“ (Ulrich Wengenroth) mochte teuer sein, doch sie könne einen neuerlichen Zusammenbruch der „Heimatfront“ verhindern helfen.

Die Ergebnisse dieser Forschung waren wissenschaftlich ansprechend, allerdings zu teuer, teils auch qualitativ zweitklassig. Neue Faserstoffe wie Kunstseide, die Indanthrenfärbung, das Verpackungsmaterial Cellophan und der im Versuchsstadium stehende Holzzucker zeugten von einem Wandel der Forschungsrichtung, weg von End-, hin zu Zwischenprodukten. Ersatzmittel verschwanden begrifflich, Rübenzuckerrum mutierte zu „Deutschem Rum“, von dem Anfang der 1920er Jahre weit über eine Millionen Liter produziert wurden. Ein höherer Selbstversorgungsgrad wurde parteiübergreifend gefördert, zunehmend „Nahrungsfreiheit“ (Kölnische Zeitung 1924, Nr. 450 v. 28. Juni, 6) gefordert, Ernährung von deutscher Scholle, Verzicht auf allzu viele Südfrüchte, Kakao oder Kaffee. Die Züchtungsforschung etablierte parallel deutschen Hartweizen, Süßlupinen, verschob den Weizenanbau nach Norden. All das waren Grundlagen für qualitativ hochwertigen Ersatz. Autarkie wurde wieder denkbar.

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Autarkieträume (Uhu 9, 1932/33, H. 3, 73)

Seit 1934 trat an die Stelle des verschlissenen Begriffs des Ersatzes dann der „Austauschstoff“, von Wirtschaft und Staat geadelt. Er stammte aus dem Grenzgebiet zwischen Ingenieurswissenschaft und Planungssprache, war Teil der Sprachpflege des NS-Regimes. Künstliche Werkstoffe seien „hochwertige heimische Austauschstoffe“ (Tag der deutschen Technik in Breslau, Wittener Tagblatt 1935, Nr. 129 v. 5. Juni, 2). Im Rahmen der 1936 einsetzenden „Kampf dem Verderb“-Kampagnen wurde dieser Ersatzbegriff auch auf den Lebensmittelsektor übertragen, wenngleich im Rahmen der forcierten Aufrüstung seit dem Vierjahresplan Gebrauchsgüter wie Buna (künstlicher Kautschuk), synthetischer Treibstoff, Kunstseide, Kunstharz oder Zellwolle dominierten, allesamt Zeugnisse der schaffenden Kraft der Großchemie. Doch die Virtuosen der Lebensmittelverarbeitung standen dem kaum nach: Die Gemeinschafts- und Wehrmachtsverpflegung war ihre Spielwiese, hier wurden neue Stoffe, Vitamine, Aromen, Mineralstoffe in neue Dauerwaren integriert, eine männliche, außerhäuslich produzierte Kost. Einfach zu handhaben, meist aus heimischen Rohstoffen, haltbar, abwechslungsreich, die zahllosen Sojabohneneinsprengsel nicht sichtbar.

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Bis zum bitteren Ende: Sonderrationen mit Schokakola und Nahrungskonzentraten (Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 1, 1)

Das Bewährungsfeld der neuen Ersatzwaren blieb jedoch die Alltagskost, die unter gesundheitlichen, wehrwirtschaftlichen und rassistischen Aspekten umgestaltet wurde. „Normale“ Produkte waren reflektierter Ersatz, etwa bestrahlte Milch, vitaminisierte Margarine, Puddingpulver aus deutscher Kartoffelstärke, Hefeextrakte und Würzpräparate. Es ging um die Abkehr von Importware, eine fettärmere Kost, mehr pflanzliches Eiweiß, mehr Frischkost. Der neue Ersatz war teils besser als vorherige Produkte, so der nun aufkommende Fruchtsaft oder das Vollkornbrot von deutschem Boden. Staat und Partei griffen schon vor dem Krieg systematisch ein, veränderten Kennzeichnungspflichten, lenkten den Verbrauch: Seefisch statt Fleisch, Walfettmargarine, pflanzliche Bratlinge. All das war ernährungswissenschaftlich optimiert, leitet bis heute die Gesundheitspolitik; auch wenn es schon damals die Mehrzahl nicht überzeugte.

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Glaube an Führer und Wissenschaft (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 432 v. 18. September, 155)

Während des Weltkrieges zeigte sich nochmals eine neue Palette von Ersatzwaren, die durch verbesserte Technologie und Konservierungsverfahren auch Grundlagen für die Wirtschaftswunderzeit legten. Zwischenprodukte veränderten das Backhandwerk, Eiweißpulver wie Plenora und Wiking-Eiweiß wurden Standard, Kunstpfeffer und Käsepulver etablierten sich, Volksgetränke aus Hefe, Molke und Magermilch verwerteten Reststoffe. Ab 1939, mit der vor Kriegsbeginn einsetzenden Rationierung, wurde viele dieser Produkte obligatorisch. Sie waren durchaus leistungsfähig und kostengünstig: Das Magermilchprodukt Milei ersetzte noch 1944 1,3 Mrd. Eier – das entsprach den Eierimporten des Jahres 1936. Das topffertige, biologisch vollwertige Migetti bestand aus Molke und Stärkemehl, substituierte die ab Anfang 1940 nicht mehr produzierten Eiernudeln. 1944 wurden 16 Millionen Packungen verkauft.

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Austauschgeräte im zuvor bekannten Markenkleid (Die Kunst für Alle 56, 1940/41, H. 1, Anhang, 11)

Die Ersatzstoffwirtschaft der NS-Zeit knüpfte an die gestalterische Fantasie (auch Fanta war ein Ersatzgetränk dieser Zeit) des Kaiserreichs und des Ersten Weltkrieges an. Tierfutter wurde optimiert, um Lebensmittel für Menschen freizumachen. Synthetische Fette oder Biosyn-Wurst führen in die Lagerwelten des NS-Regimes, denn sie wurden auch in Menschenversuchen erprobt, verursachten Hunderte von Toten in Konzentrationslagern. Die verantwortlichen Wissenschaftler sind kaum belangt worden, fanden sich nach dem Krieg eher in internationalen Gremien wieder, wurde außerhalb des Reichs doch an ähnlichen Austauschprodukten geforscht.

Ersatz als kontinuierlicher, kaum sichtbarer und anders benannter Fortschritt

Ersatzmittel blieben auch nach dem Krieg unverzichtbar, waren während der Besatzungszeit Teil des Überlebens. Sie etablierten sich als Zwischenprodukte, wurden in Kantinen, Menagen, Krankenhäusern und Lagern gereicht, in Produkten, unsichtbar. Kritik an den Auswüchsen der Ersatzmittelwirtschaft war allgegenwärtig, doch die bezog sich auf Qualitätsverschlechterungen, schlechten Geschmack, grelle Färbung. Mit der langsamen Aufhebung der Rationierung verschwanden viele dieser Produkte vom Markt, im Westen schneller als im Osten. Doch die Substitution der Produkte begann von neuem, schneller gar als zuvor, denn ausländische Technik erweiterte die Fertigkeiten der Lebensmittelproduktion.

Ersatzmittel prägten auch und gerade die Nachkriegszeit. Doch Begriffe wie Surrogat, Ersatz, Austauschprodukt wurden durch neue positive Begriffe ersetzt, wurden Teil einer ästhetischen Inszenierung, im Westen stärker und früher als im Osten. Über Ersatzkaffee, dem bis Mitte der 1950er Jahre wichtigsten Heißgetränk, hieß es nun: „Er ist so frisch, so rein und mild, so bekömmlich. Vor allem aber: er schmeckt immer wieder so gut“ (Kristall 14, 1959, 131). Margarine wurde, nun „gesund“, zum wichtigsten Streichfett, verlor seine Stellung in der Küche aber bald an raffinierte Pflanzenöle, die später ergänzt und ersetzt wurden durch kalt gepresste Olivenöle. Die Veränderung tradierter Genussmittel wurde durch starke Marken überdeckt, denn natürlich waren Nescafe und Kafix, Kaba und Nesquik keine Ersatzmittel, sondern innovative Instantprodukte. Sprache und Produkte wandelten sich parallel mit der seit Ende der 1950er Jahre gängigen Selbstbedienung, dem rapidem Wachstum der Läden. Waren und Verpackungen veränderten sich, mussten für sich selbst sprechen, sich nach den Kundenwünschen richten. Die Härten der Lebensmittelproduktion, die schwierige Arbeit die Ware haltbar, schmackhaft und ansehnlich zu gestalten, sie entglitt dem Augenschein der Konsumenten – parallel zum massiven Abschmelzen der Landwirtschaft, die 1933 noch mehr Beschäftigte als die Industrie aufwies. Die Warenwelt war eine der Technik, der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, der Absatzwissenschaften, richtete sich zunehmend an den Forderungen des erstarkenden Handels aus.

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Linde Kaffee als Garant eines bescheidenen, glücklichen Lebens (Kristall 16, 1961, Nr. 17, 47)

Die Experten knüpfen an die Vorarbeiten der Kriege und Kriegszeiten an, doch nicht mehr Not und Enge, sondern zunehmend Fülle und die Freude am Neuen bestimmte das Angebot. Die Konservierungstechnik wurde verbessert, Kühltechnik setzte sich durch, ebenso neue Verpackungen, Kunsträume der Haltbarkeit. Verbesserte Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung, der Stoffprofile machten Ersatz einfacher, konnte man doch Einzelelemente verändern, während das Produkt scheinbar gleich blieb. Nicht Milch wurde nun in den Blick genommen, sondern Milcheiweiß und Milchfett, dann die in der Milch befindlichen Amino- und Fettsäuren – und jede dieser Komponenten konnte gesondert gewonnen, verändert und weiterverwertet werden.

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„Kraft“ aus der Verpackung: Knorrprodukte ersetzten Frischwaren und Kochen (Der Markenartikel 30, 1968, 255)

Diese Veränderungen ermöglichten neuerlich Teilhabe, eine Demokratisierung des Konsums. Die alten Utopien, sie kamen in anderem Gewande daher, die durch die EWG und GATT ermöglichte neuerliche Weitung bot dazu eine zuvor unbekannte Rohstoffgrundlage. Exotik drang vor, erst in Dosen, dann im Kühlregal. Essen wurde vielgestaltiger, Teil des Suchens nach Erlebnissen, nach dem kleinen Urlaub auf dem Teller. Die Lebensmittel änderten sich, doch von Ersatz war nicht mehr die Rede, mochten auch jährlich tausende, ja bald zehntausende Produkte ausgetauscht werden.

Und doch, auch in diesem Umfeld gab es Angebote von Ersatz, genauer von „synthetischer Kost“. Zahllose Formen von „Space Food“ begleiteten das Rennen der Supermächte zum Mond, wurden Teil der Populärkultur. Synthetische Nahrungsmittel erschienen in den 1960er und 1970er Jahren als probates Mittel der Eindämmung des Hungers in der Dritten Welt (Magnus Pyke, Synthetic Food, London 1970; Aaron M. Altschul (Hg.), New Protein Foods, New York et al. 1976). Auf dem eigenen Teller aber wollte man derartigen Ersatz nicht haben: Das 1968 aus entfettetem Sojabohnenmehl hergestellte Kunstfleisch TVP (Texturized Vegetable Protein) kam hierzulande über neugierig begleitete Testverkäufe nicht hinaus. Das „Kunstschwein“ verblieb in den USA in der Nische des Vegetarier und Prepper (James Talmange Stevens, Making the Best of Basics. Family Prepardness Handbuch, 5. Aufl., Salt Lake City 1976, 131-142).

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Scheitern im Massenmarkt: TVP-Kunstfleisch bei einer Verkostung in Hamburg – und ästhetisch aufbereitet (Der Verbraucher 23, 1969, Nr. 7, 29 (l.); Dorothy R. Bates, The TVP-Cookbook, Summertown 1991, 1)

Lebensmittel waren immer weniger einfach verarbeitet, Vorstufe zum häuslichen Kochen. Convenienceprodukte drangen vor, erforderten neue Haushaltstechnik, verlängerten die Kühlkette bis in den Haushalt, förderten Schnellkochtöpfe, Schnellherde, Mikrowellen. Fertiggerichte ersetzten die einzeln kaufbaren Rezeptbestandteile. Der Geschmack war anfangs gewöhnungsbedürftig, doch Alupackungen und Plastikabdeckungen wurden verbessert, dann durch „Chilled Food“ und „Frische to go“ ersetzt. Geschmack war auch Folge der Aromatisierung, anfangs mit künstlichen, dann mit natürlichen Aromen: Bereits Mitte der 1990er Jahre ein Fünftel des Angebots. Lightprodukte besaßen weniger Fett, zugleich aber noch das so wichtige Mundgefühl. Entkoffeinierte, alkoholarme und kalorienarme, dennoch süße Produkte waren seit den 1970er Jahren gängig, gewannen Marktanteile. Der Markt war leistungsfähig, Zukunftsgarant und Problemlöser, mochten um jede Phase des Ersatzes auch Kämpfe um das Neue ausgefochten werden.

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Ersatz des Alten: Fertigkroketten und Instantgetränke (Chic 1973, Nr. 11, 175 (l.); Hamburger Abendblatt 1972, Nr. 154 v. 6. Juli, 10)

Die Hauptwirkung all des Neuen war eine massive Veränderung der alten, auf eine überschaubare Zahl heimischer Produkte gründenden Ernährungsweise. Kartoffeln, um 1900 mit 300 kg pro Kopf und Jahr Kernbestand deutscher Ernährung, wurden nicht nur seltener verzehrt, sondern erschienen in neuer verarbeiteter Form. 54 kg sind es gegenwärtig, doch nurmehr 16 kg davon sind Frischware, der Rest wird als vorgefertigte Pommes, als Chips oder fertigem Kartoffelsalat gegessen. Getreide wird zu drei Fünfteln verfüttert, zu einem Fünftel verfeuert und 80 kg vorwiegend verarbeitet gegessen. Auch die relative Konstanz des Fleischkonsums ging einher mit einem großenteils verarbeiteten Angebot, darunter auch die erst seit 1949 verbreitete Currywurst, die als Kantinenbockwurst seit 1973 die Facharbeiter bei Volkswagen nährte. Die neuen Ersatzwaren sind schmackhaft, werden allseits konsumiert: 400.000 Tonnen Tiefkühlpizza verkörpern den Wandel plakativ, dreizehn pro Kopf und Jahr; ein ästhetisch dargebotenes Mischgericht, über dessen Einzelbestandteile der Kunde kaum etwas wissen dürfte.

Wer im Lebensmittelhandel einkauft, weiß häufig nicht, was er schließlich mit nach Hause trägt. Gewiss, Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch jedes Produkt ist doppelbödig, stofflich und rechtlich definiert, Ausdruck eines vorgelagerten Expertenwissens, ohne das der Einkauf gar nicht möglich wäre. Das hat große Vorteile, erlaubt der Mehrzahl sich dem Leben abseits der Mühen um die tägliche Kost zu widmen. Doch es führt zu Unschärfen, zu Ängsten um Selbstbestimmung und Gesundheit, um Identität und moralische Integrität.

Ersatz in einer Welt ohne Zukunft

Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Die neuen Ersatzmittel verkörpern neue Wahlmöglichkeiten, verkaufen Weltverbesserung in kleiner Münze. Neu ist an diesen vielfach als „vegan“ ausgelobten Ersatzmitteln nicht viel, denn Fleisch- oder Milchersatz gab es seit den 1890er Jahren, Ersatz des tierischen Eiweißes seit den 1860er Jahren: Ideenhort waren liberale Ideen einer Weltgesellschaft des Austausches und der Teilhabe – und Bemühungen um billige Substitute für die Arbeiterschaft. Weltverbesserung war auch damals Ziel vieler Forscher.

Doch die Unterschiede sind ebenfalls beträchtlich. Da ist erstens das offensive Werben und lustvolle Eintreten für einen reflektierten Ersatz. Ersatz wird wieder sagbar, gar modisch. Der drohende Untergang erfordert andere Konsummuster. Globale Gerechtigkeit steht auf den Fahnen, wichtiger noch erscheint die Gefahr des manifesten Klimawandels. Vegane und vegetarische Produkte werden als weltwendend und weltrettend angeboten – und das obwohl die Selbstversorgungsraten bei Gemüse bei 38 Prozent, bei Obst bei lediglich 20 Prozent liegen und Frischwarenimporte offenkundig nicht klimaneutral sind. Doch angesichts der mit der Fleischproduktion verbundenen Emissionen scheint das kaum von Belang.

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Geschmacksrevolution mit veganen Bratwürsten (Eve 2023, Nr. 3, 43)

Der neue Ersatz ist zweitens marktfromm. Gewiss, man sieht sich in der Tradition der Warnungen des Club of Rome und der seither allgemein bewussten Welthungerproblematik. Doch die damaligen sozialen Bewegungen versuchten noch eine konsum- und kapitalismuskritische ökologische Kultur zu etablieren. Sie gründete auf eigenem Handeln, auf das Gegenbild von Kommunen, Genossenschaften, einer anderen Land- und Hauswirtschaft. Die neuen Ersetzer fordern die große Umkehr, kaufen sie jedoch als Ware oder Dienstleistung. Es geht um Retro durch Technik, um Erbsen oder Hanföl, beides gängig im frühen 19. Jahrhundert. Es geht um neue Eiweißträger, meist pflanzlich, teils tierisch durch Insekten oder aber Laborfleisch. Die Ackerarbeit wird in die Stadt einpflanzt, „Clean Gardening“ propagiert, von grünen Städten als Orten des Ausgleichs, des multiethnischen Zusammenlebens und gesunder Nahversorgung geträumt. Man selbst aber tut wenig, ersetzt hier und da seine Einkaufskomponenten, denn die sind ja bequem aufzuwärmen, nähren, gelten als schmackhaft, ja Genuss.

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Knusprig und gut für unseren Planeten: Paniertes Ersatzschnitzel (Mit Liebe 2024, Nr. 1, 21)

Die neuen Anbieter sind drittens geschichtsvergessen, zeichnen ihre eigene Zukunft aber in rosigen, unrealistischen Farben. Mandelmilch, seit ca. 2000 als gesunde und klimaschonende Alternative in aseptischer Verpackung von kalifornischen Produzenten in den Markt gedrückt, zielt vorrangig auf den asiatischen Markt, wo Tee durch Kaffee verdrängt wird, ein Kaffeeweißer für die großenteils laktoseintolerante Kundschaft ökonomisch höchst attraktiv ist. Mandelmilch war hierzulande im 19. Jahrhundert ein Erfrischungsgetränk bürgerlicher Frauen, auch Zwischenprodukt in der Säuglingsernährung und der Margarineproduktion, dann gängige Reformware. Erst die Marketingmacht der Weltmarktführer änderte dies. Fleischersatz wird von global tätigen Firmen erforscht und vermarktet, das nicht erfolgreiche Pionierprodukt Beyond Meat gewann auch durch Finanzspritzen des weltgrößten Fleischproduzenten Tyson Food seine zeitweilige Marktführung. Nerdige Startups dominieren das Marketing, doch der Markt wird von finanzkräftigen Firmen mit weit reichenden Absatzketten dominiert. Irreale Wachstumsszenarien schleifen sich im Markt ab und brechen. In Schrot & Korn, Eve, Vegan World, etc. dominieren derweil spannende Mischungen aus Weltuntergangsszenarien, Gestaltungsoptimismus und Werbung für zukunftserhaltende Produkte, vielfach eingebettet in eine bäuerliche Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Arbeit und Fron fehlen, der urbane Kunde scheint eher an einer fiktiven Ersatzwelt interessiert.

Ersatz heute – eine fehlgeleitete Debatte

Die heutigen lustvoll beworbenen Ersatzmittel sind Teil einer alternativlosen Marktvergesellschaftung, der damit verbundenen Arbeitsteilung, der Befreiung von eigener kulinarischer Arbeit. Sie sind eingebettet in Szenarien bestehender Probleme, die apokalyptisch erhöht werden, denn so ist höhere Wertschöpfung möglich, sind die meist hochverarbeiteten Produkte voller Zusatzstoffe als natürlich und nachhaltig, gar als Alternative zum Bestehenden zu bewerben: „Mit Ei-Ersatz die Welt retten“ (Kronenbach 2023, Nr. 3, 74).

Der neue Ersatz ist ein faszinierendes Beispiel des nimmer versiegenden Spieltriebs und Gestaltungswillen vieler Lebensmitteltechnologen und Marketingspezialisten. Sie vermögen es, künstliche Ersatzprodukte zu naturalisieren, ihren altbackenen Ersatzcharakter mit Sprachspielen zu übertönen. Seit der Gründerzeit wurde derartiger „Materialschwindel“ (Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins 21, 1871, 17) kritisch verdammt, wetterten Vertreter des Echten öffentlich gegen den Ersatz. Heute ergötzt es uns wieder.

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Convenienceprodukte, Ersatz und hochverarbeitet: Bestes Bio 2024 (Schrot & Korn 2024, Nr. 1, 34)

Derweil sucht die Mehrzahl der Bevölkerung Trittfestigkeit in einer fluiden, krisenhaften Welt voller Wohlstand. Die eigene Nahrung ist hochwertig und vielgestaltig, doch 1,5 Mrd. € werden jährlich für Nahrungsmittelergänzungsmittel ausgegeben. Allüberall dröhnt es, dass man sein Leben ändern müsse. So hält man sich fest an vertrauten Symbolen wie der Currywurst, mag diese bei VW ab 1973 auch andere Speisen ersetzt haben, allerdings keine veganen. In den heutigen Kulturkämpfen stehen die verunsicherten Alten jungen, akademisch gebildeten, wirtschaftlich und medial präsenten Gruppen gegenüber, vermeintlichen Gipfelmenschen. Sie betreiben Planspiele mit der Welt, ohne Rückfrage, ohne Mitwirken der Betroffenen. Körper sind ihnen auf Biofunktionalität getrimmte Gestaltungsmasse, sie deuten Genuss in Form reflektierter Kasteiung mit neuen Ersatzmitteln, hegen zugleich Heilserwartungen an Technik und Wissenschaft, an die Arbeit der anderen. Unsere heutigen Kulturkämpfe um eine zeitgemäße Ernährung erschöpfen sich in Spiegelfechtereien, die in Zeiten echter Krisen nicht durchzuhalten wären. Allseitige Unsicherheit prägt die polaren Debatten, der imaginierte Feind hilft die Reihen zu schließen.

Die Lust am Ersatz ist spannend durch das, was nicht diskutiert wird. Es geht um den Kauf von Produkten, um nicht mehr und nicht weniger. Die Kulturkämpfe um den Ersatz ignorieren den steten, in einer modernen Gesellschaft nicht stillzustellenden Wandel der Alltagsangebote, des als solchen nicht benannten Ersatzes. Sie werden geführt ohne genauere Kenntnisse unserer kulinarischen Vergangenheit, von Menschen, die von Ackerbau und Viehzucht kaum etwas verstehen, die nicht mehr täglich kochen und vielfach nicht mehr kochen können. Vegane und andere Ersatzmittel werden ihre Nische finden, doch ihre Bedeutung weit hinter den Verheißungen zurückbleiben. Sie werden veralten, durch neue ergänzt und ersetzt werden. Für die Zukunft unserer Welt dürften andere Probleme vorrangig sein.

Uwe Spiekermann, 24. Februar 2024