Die Tochter des Oekonomen Haugg aus Wollbach bei Augsburg wurde nur sechs Jahre alt. Ihre Mutter hatte einen Salat mit Essigessenz angemacht und die Flasche offen stehen lassen. Das Kind nahm einen kräftigen Schluck und verstarb 1907 unter grässlichen Schmerzen. In Plauen reichte ein Gastwirt einem Kollegen 1905 statt des gewünschten Kognaks ein Glas Essigessenz. Die schweren Verätzungen führten nach mehr als fünf Wochen Ringen zum Tod. Der Richterspruch lautete auf zwei Monate Gefängnis durch fahrlässige Tötung. Auch die hochbetagte Besitzerin des Gasthofes zum Grünen Baum im bayerischen Schöllkrippen griff 1900 zur falschen Flasche, trank statt des üblichen Zwetschgenbranntweins ein Gläschen Essigessenz. Ihr Tod war qualvoll. Neben Verwechselungen trat auch Absicht. Essigessenz gewann das zweifelhafte Prädikat eines Schierlingtranks für Liebende. Derartige Selbstmorde waren doppelt grausig.

Warnende Nachrichten (Sächsische Volkszeitung 1903, Nr. 196 v. 29. August, 3)
Kleine Nachrichten wie diese finden sich immer wieder in den Tageszeitungen der Jahrhundertwende. Die erzieherische Botschaft war klar: Hüte Deine Kinder wie Dich selbst – und übe Sorgfalt mit dem Sauren. Eingewoben war jedoch auch eine schlichte Information: Essigessenz war ein Alltagsprodukt geworden, war seit den 1890er Jahren Bestandteil der allgemeinen Küchenpraxis; und das trotz offenkundiger Gesundheitsgefährdungen.
Was aber war Essigessenz? Unsere heutige Warenwelt ist durch die Verordnung über Essig und Essigessenz von 1972 geregelt. Essig, dem Konsumenten vor allem als Würze und als saurer Zusatz zum Salat bekannt, ist demnach eine wässerige Lösung von Essigsäure. Unser „Essig“ hat einen Gehalt von mindestens 5% des Wirkstoffes, doch selbst „scharfer“ Essig darf einen Anteil von 15,5% nicht überschreiten. „Essigessenz“ ist saurer, hat einen Essigsäuregehalt von bis zu 25%. Man kann sie einfach mit Wasser verdünnen und erhält dann einen Essig von ansprechender Milde. Heutige Essigessenz ist scharf, wirkt schon leicht ätzend, doch ihr Genuss ist nicht tödlich. Die kleine Tochter der Oekonomen Haugg hätte aufgrund dieser Regulierung wohl überlebt.

Starker Stoff (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 39, 1898, Nr. 18, II)
Um 1900 gab es jedoch zwei gravierende Unterschiede zu heute. Zum einen war Essig ein wohl gängigeres Produkt im Alltag. Frische Salate gab es gewiss seltener, doch Eintöpfe, Sauerfleisch und Marinaden standen höher im Kurs. Essig wurde zudem beim Einmachen benötigt, zumal das Einwecken, also die Hitzesterilisierung, damals noch in den Anfängen steckte. Andere vergessene Nutzungen wären zu nennen, erinnert doch Christi Kreuzestod an die Sitte, aromatisierten Essig zu trinken. Zum andern aber war der Nahrungsmittelsektor deutlich geringer reguliert, es dominierten stattdessen informelle Praktiken. Die verschiedenen Arten des Essigs waren meist klar benannt, auch wenn die Bezeichnungen oft regional variierten. Und spätestens seit 1885 gab es auch erste reichsweit angewandte, wenngleich nicht rechtsverbindliche chemische Grenzwerte für deren Bewertung und Unterscheidung. Der Konsument war also grundsätzlich informiert, kannte „seinen“ Essig. Doch er konnte zugleich auch sehr scharfe und eventuell giftige Essigessenz kaufen. Konzentrationen von 80% und 60% waren handelsüblich. Sie war ein gutes Putzmittel, ergab mit Wasser verdünnt aber auch einen schön sauren Speiseessig.
Essig ist ein gutes Beispiel für die tiefgreifenden und bis heute prägenden Veränderungen der Nahrungsmittelproduktion im 19. Jahrhundert. Die Herstellung ist an sich einfach. Benötigt wird Luft, inklusive darin enthaltener Bakterien. Zudem eine alkoholische Grundlage, denn Essigsäure ist transformierter Alkohol. Wärme, ideal sind 25-30 °C, beschleunigt die Essiggärung. All das erfolgt in einem Essigbildner, also einem meist hölzernen, nicht metallischen Gefäß. Kommt alles zusammen, so benötigt man Zeit, denn die vollständige Transformation eines offen stehenden Weintroges in Essig benötigt Wochen. Doch die Essiggärung setzt rasch ein – ein Grund für den so anderen Geschmack eines Weinrestes am Morgen nach einem Fest.

Natürlicher Gärungsessig (Leipziger Zeitung 1859, Nr. 182 v. 3. August, 2. Beilage, 1)
Handreichungen und Rezepte zur Essigbereitung findet man in den Haushaltsökonomien und den Kochbüchern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wein oder leicht vergorenes Obst bildeten die Nährbasis der Essigzubereitungen. Neben der Haushaltsproduktion bestanden teils altehrwürdige Gewerbe, etwa die Essigsieder oder aber Essigbrauer. Sie kauften vielfach saure Weine oder aber unansehnliche Äpfel auf, produzierten für einen lokalen, selten regionalen Bedarf und entwickelten die dafür erforderlichen Absatzstrukturen. Weinbaugebiete waren daher vielfach Essigproduktionsgebiete. Der so gewonnene Essig war aromatisch, doch die Umwandlung dauerte lang. Entsprechend hoch waren die Preise.

Beschleunigung durch Holzspäne (Kosmos 15, 1918, 12)
Die handwerkliche Produktion von „natürlichem“ Essig wurde jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch „künstliche“ Schnellessigverfahren ergänzt. Als Marker wird gemeinhin das Schützenbachsche Schnellessigverfahren genannt, 1817 entwickelt und seit 1823 gewerblich genutzt. Der Freiburger Chemiker (1793-1863) nutzte dazu seine praktischen Kenntnisse: Die Produktionsdauer hing von Sauerstoff, Wärme und der Größe der Oberfläche ab, an der sich Bakterien ansiedeln konnten. Schützenbach vergrößerte die Oberfläche innerhalb der Essigfässer durch Buchholzspäne. Der Alkohol wurde über diese mit Bakterien besetzten Späne geleitet, unterstützt von einem warmen Luftstrahl im unteren Teil des Essigtroges. So konnte die Produktionszeit deutlich auf etwa zwei Tage verkürzt werden. Der Geschmack dieses Schnellessigs ließ anfangs zu wünschen übrig, so dass vor allem technische Anwendungen in der Textil- und dann auch der Farbindustrie von den niedrigeren Preisen profitierten. Langsam aber wurde der Geschmack verbessert, teils durch verbesserte Verfahren, teils durch eine gezielte Aromatisierung.
Die wichtigsten biologisch-chemischen Abläufe der Essigbildung wurden in den 1860er Jahren von Louis Pasteur (1822-1895) geklärt. Davon profitierte vor allem die chemische Industrie, die Verfahren der Holzdestillation nutzte, um hoch konzentrierte Essigsäure herzustellen. Seit Mitte der 1830er Jahre gab es erste effiziente Verfahren, die bei der Holzkohlegewinnung entstehenden flüchtigen Produkte einzufangen und zu nutzen. Die so gewonnene Essigsäure war deutlich preiswerter als das Resultat „natürlicher“ Gärung. Allerdings dauerte es bis Mitte der 1870er Jahre, ehe der teerige Geschmack des „Holzessigs“ durch verbesserte Filtrierung abgemildert und dann abgestellt werden konnte. Essigsäure wurde so zu einer „reinen“ hoch konzentrierten Essigessenz, die seither nicht nur für technische, sondern auch für Haushaltszwecke genutzt werden konnte.

Ein neues Produkt (Katalog zur IV. Deutschen Verbands-Kochkunst-Ausstellung zu Leipzig. 1883, Leipzig 1883, Annoncen, 25)
Derweil hatte sich allerdings auch die Herstellung des Gärungsessigs deutlich verändert. An die Stelle teurer Ausgangsprodukte, zumal des Weins, trat immer stärker ein Abfallprodukt der Alkoholproduktion, die sogenannte Branntweinmaische, später auch reines Ethanol. Dieser „Spritessig“ war günstiger als tradierter Gärungsessig, wenngleich immer noch teurer als Essigessenz. Dies ließ das Angebot weiter anschwellen, mischte man doch vielfach den „Spritessig“ mit „Naturessigen“. Weinessig bestand im späten 19. Jahrhundert vielfach zu 80% aus Schnellessig und nur zu 20% aus traditionellem Gärungsessig aus einem Weingrundstoff. Doch Handelsbräuche erlaubten, diese Mischung als „Weinessig“ zu vermarkten. Ferner entstand ein rasch wachsendes Angebot von Kräuteressigen. Dabei handeltes es sich zumeist um aromatisierten Spritessig, der eine Vielfalt von Geschmacksvorliegen abdecken und auch konservierten Lebensmitteln eine spezifische Würze verliehen konnte. Das nutzen seit den 1890er Jahren auch viele Essigessenzanbieter, so dass der Essig- und Würzenmarkt nochmals breiter wurde.

Im Inneren einer Gärungsessigfabrik (Das neue Buch der Erfindungen […], Bd. V, Leipzig 1867, 197)
Entsprechend schlugen, anders als im ähnlichen Fall des synthetischen Saccharins, frühe Versuche der seit 1894 im Verband deutscher Essigfabrikaten organisierten Gärungsessigproduzenten fehl, ihre Konkurrenz aufgrund offenkundiger Gesundheitsgefahren zu verbieten. Im Reichstag hieß es im Mai 1895, dass das Beispiel der frei verkäuflichen Salzsäure zeige, dass die Konsumenten mit gefährlichen Chemikalien durchaus verantwortungsvoll umgehen könnten. Essigessenz sei zudem ein wichtiges Korrektiv gegen die zunehmend organisierten Interessen der Gärungsessigindustrie, denn es halte die Preise des gesamten Marktes niedrig. Entsprechend wurden auch höhere Zölle abgelehnt (das Deutsche Reich war ein Holzimportland). Dies kann als eine spezifische Form von Verbraucherschutz verstanden werden. Wahrscheinlicher aber ist eine erfolgreiche Lobbyarbeit der Vertreter der chemischen Industrie, vornehmlich des 1877 gegründeten Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands. Dieser verhinderte auch eine 1898 in Preußen ausformulierte Verordnung zur Beschränkung des Verkehrs mit Essigessenz. Unglückfälle wurden so natürlich nicht verhindert.

Produkt ohne Nachteile (Illustrirte Zeitung 113, 1899, 788)
1902 wurde im Reichstag dann schwereres Geschütz aufgefahren. Der nationalliberale Abgeordnete Walther Münch-Ferber (1850-1931), Hofer Textilfabrikant und Kunsthistorikern gewiss gut bekannt, legte eine Liste mit 35 Todesfällen und 34 schweren Körperverletzungen vor, allesamt verursacht durch den Konsum von Essigessenz. Zugleich reicherte er seine Rede anschaulich an, denn er präsentierte dem Hohen Haus gleich sieben ansprechende Essigessenzflaschen, denen allesamt eines fehlte: Der Hinweis auf die potenziell tödliche Gefahr in der Flasche: „Auf den Etiketten befinden sich zum Theil goldene Weinbeeren, goldenes Weinlaub, andere bestechen durch ihre elegante Aufmachung.” Gewiss, es fehlte auch auf den kleinen Viertel-Liter-Fläschchen nicht der Hinweis auf 80%ige Essigessenz, doch Münch-Ferber fragte pointiert, ”wie viele Frauen und Mädchen wissen in ihren Küchen oder in ihren Haushalten was von 80 Prozent?” Widerspruch kam auf, doch der Reichstag verabschiedete eine Resolution, um Essigsäure als Gift einordnen zu können – mit beträchtlichen Folgen für den freien Verkauf.
Doch was sind schon Dutzende von Toten, wenn sie denn nicht Teil der Eliten sind oder politisch nützlich sein können? Das Innenministerium bzw. das Kaiserliche Gesundheitsamt brauchten jedenfalls Zeit, um zu prüfen, um aus ihrer wilhelminischen Starre zu erwachen. Wie in einem föderalen Staat üblich, wurde die handlungsunwillige Reichsregierung von den Einzelstaaten, teils gar von lokalen Initiativen getrieben. 1906, die Zahl der Unglücksfälle war seit 1890 auf etwa 150 gestiegen, hatte die württembergische Regierung beschlossen, dass Essigessenz nicht mehr in Flaschen unter fünf Litern an Letztverbraucher verkauft werden durfte. Die Händler sollten sie verdünnen, die Konsumenten so vor Schaden bewahren. Doch erst 1908 schrieb eine neuerliche Reichstagsresolution eine Neuregelung des Absatzes von Essig und Essigsäure fest. Vorangetrieben vom Agrarpolitiker und späteren Vorsitzenden des Bundes der Landwirte Gustav Roesicke (1856-1924), bündelte sie die bisherigen fachwissenschaftlichen Erkenntnisse und versuchte, die widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen mit denen der Konsumenten zu verbinden.

Abstraktion und Ästhetisierung durch Markenartikel (Karlsruher Tagblatt 1905, Nr. 242 v. 1. September, Beilage)
Die Kaiserliche Verordnung vom 14. Juli 1908 ordnete den Essig- und Essigessenzmarkt neu – fast eine Generation nachdem dieser Konturen angenommen hatte. Einerseits wurde die Suprematie stofflicher Expertise festgeschrieben, wurde doch nicht der Geschmack, sondern der Gehalt von Essigsäure zum entscheidenden Bewertungsmaßstab (vgl. „Künstliche Kost“, Kap. 3.3.3). Anderseits wurden zahlreiche in den Debatten von Chemikern, Interessenverbänden und Öffentlichkeit wabernde Definitionen aufgegriffen und rechtsverbindlich festgeschrieben. Essig mutierte zu Gärungsessig, musste mindestens 3,5% Essigsäure enthalten, nicht aber mehr als 15%. Das „Leben“ der Bakterien wurde Garant für das Lebendige des Konsumgutes; und die obere Grenze wurde durch das Unvermögen der Essigbakterien definiert, mehr als einen 15%igen Essig zu produzieren. Daneben schuf der Gesetzgeber, zauberergleich, neue Angebote. „Kunstessig“, sprachlich schon fast ausgrenzend, war eine verdünnte Essigessenz, durchaus mit Kräutern aromatisiert, mit dem Essigsäuregehalt des Essigs. „Essenzessig“ wurde neu geschaffen, eine einfache verdünnte Essigessenz mit dem abermals gleichen Gehalt an Essigsäure. All dies war ein Sieg der Gärungsessigindustrie, doch bleibt es zweifelhaft, ob die Konsumenten derartige Sprachspiele wirklich nachvollzogen. Essigessenz, auch höherer Konzentration, blieb jedenfalls weiter allgemein verfügbar, auch wenn sie als chemisches Kunstprodukt sprachlich vom „Essig“ getrennt wurde. Die Verordnung war eine Präferenzentscheidung für das „natürliche“ Produkt, ermöglichte dem Konsumenten aber auch für ein „Kunstprodukt“ zu optieren. Ein Scheinkompromiss, unbefriedigend, gewiss; doch vielleicht auch eine kluge Setzung angesichts eines gleichsam postmodern anmutenden Marktangebotes.

Kampf der politischen Parteien (Berliner Börsenzeitung 1909, Nr. 196 v. 28. April, 6)
Dies wurde 1909 während einer Versammlung des Bundes Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikaten und -Händler deutlich, der Lobby der „Nahrungsmittelindustrie“. Sie schien nötig, da in den Kommissionsberatungen des novellierten Branntweinsteuergesetzes 1909 ein §107 eingefügt wurde, der Essigessenz durch eine Verbrauchsabgabe und veränderte Zolltarife verteuern wollte. Das hätte die bisherige prinzipielle Gleichrangigkeit der Essigprodukte in Frage gestellt. Das 1904 veröffentliche „Nahrungsmittelbuch“ des Bundes hatte die intensiven Vorarbeiten berücksichtigt, die erst die bayerischen und dann die deutschen Nahrungsmittelchemiker seit 1885 geleistet hatten. Eine 1899 verabschiedete Novelle ihrer „Vereinbarungen“ entsprach dem mittelständischen Prinzip von Leben und leben lassen: „Unter Essig versteht man das durch die sogenannte Essiggärung aus alkoholischen Flüssigkeiten oder durch Verdünnung von Essigsprit mit Wasser gewonnene, bekannte saure Genuss- und Konservierungsmittel.“ Essigessenz stand nicht im Fokus, wurde aber als Erzeugnis der trockenen Destillation des Holzes erwähnt.
Die Versammlung des Bundes bündelte 1909 nochmals die zentralen Argumente im Kampf zwischen Gärungsessig und Essigessenzproduzenten. Zeitgenossen sahen darin simple Interessenkämpfe: „Jede Partei sucht ihre Produkte als das Einzigwahre hinzustellen, den gegnerischen Produkten aber möglichst schlimme Dinge nachzuweisen und hierfür wissenschaftliche Autoritäten ins Feld zu führen“ (Zeitschrift für öffentliche Chemie 15, 1909, 181). Doch das war zu kurz gegriffen. Die Debatte zeigt vielmehr die Widersprüche und Paradoxien moderner Lebensmittelproduktion und ihrer Regulierung. „Natur“ und „Chemie“, „Künstlichkeit“ und „Tradition“ wurden verhandelt – und dienten als Marker aller Produkte. Gärungsessig war schließlich auch ein Kunstprodukt, der denunziatorisch verwandte Begriff „Spritessig“ deutete daraufhin. „Natürlicher“ Essig war Ergebnis elaborierter Technologie und entstammte vielfach nicht dem edlen Weine und dem duftendem Obst. Gärungsessig war nicht gesundheitsgefährdend, doch es war gewiss auch ein „Kunstprodukt“, ein „Kunsterzeugnis“. Auf der anderen Seite konnte auch die Essigsäuredestillation als ein „natürlicher“ Prozess verstanden werden – die Werbung für Spirituosen spielte schon damals mit verweisenden Begriffen von „Uralt“, „Geist“ und „Tradition“. Technologie war ein Kunstgriff, um der Natur etwas abzugewinnen, was vorhanden war, doch nicht einfach genutzt werden konnte. Essigessenz stand demnach für die Erfindergabe des Menschen, für seine Beherztheit, seine Selbstbehauptung in einer ja immer auch feindlichen Natur. Wissenschaftler und Nahrungsmittelproduzenten übertrugen diese begrifflichen Projektionen in der Debatte auch auf die Inhaltsstoffe der Essigarten. Nicht Essigsäure, sondern ergänzende Stoffe, insbesondere Enzyme und Aromastoffe, machten ein chemisches Produkt zu einem Nahrungs- und auch Genussmittel. Angesichts der Vielfalt möglicher Ausgangsstoffe der Essiggärung und der Aromatisierung von Essigessenz war damit begriffliche Klarheit aber nicht zu gewinnen.
Die Debatte unterstrich, dass kulturell aufgeladene Kampfbegriffe wie Natur, Künstlichkeit oder Chemie keine Klarheit im Alltag schaffen konnten, dass sie tendenziell beliebig zu füllen waren. Einzig der kleinste gemeinsame Nenner verblieb, die einfach messbare Essigsäure. Alltagserfahrungen und wirtschaftliche Interessen wurden so außen vor gehalten, auch wenn es allen Beteiligten klar war, dass damit die Breite des Essigmarktes auch nicht annähernd abgedeckt wurde. Die Schwierigkeiten der Regulierung werden so deutlich, wirklich befriedigende Ansatzpunkte gab es kaum. Postmoderne Beliebigkeiten rangen seit den 1890er Jahren um Einfluss – und derweil starben, unbeabsichtigt und doch real, Menschen. Unfälle, Zufälle, Verzweiflungstaten waren die Begleitmusik einer in Sprachspiele gefangenen Gesellschaft. Als 1912 das Kaiserliche Gesundheitsamt erstmals verbindliche „Festsetzungen über Lebensmittel“ formulierte, wurden die Begriffsbestimmungen der Verordnung von 1908 bestätigt. Essig war nominell Gärungsessig, Essenzessig und Kunstessig besaßen den gleichen Essigsäuregehalt, bestanden aber aus anderen Grund- und Zusatzstoffen. Essigessenz wurde durch einen 60-80%igen Essigsäuregehalt definiert. Viele Konservierungs- und Zusatzstoffe wurden verboten, die gestaltende Phantasie der Produzenten in engere Bahnen gelenkt. Die auch öffentlich geführte Debatte nährte eine bürgerliche Skepsis gegenüber dem billigeren künstlichen „Holzessig“, wovon der „natürliche“ Gärungsessig profitierte. Und es waren widerstreitende Experten und Produzenten, die Distanz zur „Chemie“ und ihren „Kunstprodukten“ nährten.
Im Markt waren damit klarere Kennzeichnungen und Begrifflichkeiten verbindlich geworden. Doch es war hochgradig fraglich, ob die Mehrzahl der Konsumenten diese Veränderungen wirklich realisierte. Hochkonzentrierte Essigessenz konnte weiterhin einfach gekauft werden, auch wenn Kritiker monierten, dass ein derart gefährliches Produkt frei verkäuflich blieb. Mittelfristig reduzierte sich die Zahl der Unfälle und Opfer. Zu verhindern waren sie so jedoch nicht. Der 43-jährige Webermeister Franz Lasik, der sich nach seiner Entlassung arbeitslos dem „Säuferwahnsinn“ ergab, trank in seiner Verzweiflung jedenfalls Essigessenz bevor er sich 1914 erst die linke Hand ganz und dann auch den linken Fuß fast gänzlich abhackte. Und als 1924, lang nach der Regulierung, eine sechszehnjährige bei Osnabrück lebende Schülerin von ihrem Vater, einem Gutsherrn, aufgefordert wurde ihre Beziehung zu einem Melker zu beenden, so wusste sie, dass sie Essigessenz zu trinken hatte, nachdem sie ihrem Liebsten einvernehmlich den Schädel eingeschlagen hatte. „Das ist die wahre Liebe nicht“ lautete die Schlagzeile. Doch immerhin überlebten beide, schwer verletzt.
Uwe Spiekermann, 14. Juni 2018
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