Porter, Schwindel und Bankrott – Johann Hoffs Scheitern im Biermarkt der Gründerzeit

Johann Hoff, der Berliner Krösus, ist heutzutage unbekannt. In den 1860er und 1870er Jahren war er dagegen der wohl bekannteste deutsche Unternehmer. Wie kein anderer hat er die Macht der Reklame genutzt, um einfache Produkte mit einem betörenden Gloriolenschein zu umgeben. Er adelte Malzextrakt zum „Gesundheitsbier“, etablierte überteuerte Malzprodukte als Garanten für Genesung und Heilung. Johann Hoff war ein Schwindler großen Stils, doch er fand Kundschaft und gewinnträchtigen Absatz. Als glühender Patriot verkörperte er die Nationalstaatsbildung, als orthodoxer Jude die brüchige deutsch-jüdische Symbiose. Kaum ein anderer wurde gleichermaßen befehdet, von Karikaturisten, Dramatikern, Konkurrenten und naturwissenschaftlichen Experten. Schon zu Lebzeiten eine mythische Figur, fehlen seriöse Arbeiten zu seinem Leben, seinem Werk. Johann Hoff war ein Selbstdarsteller per Inserat, feilte an seinem öffentlichen Bild, ließ aber weitere Einblicke kaum zu. Forschung fehlt, Historiker folgen eben nur selten vergangener Bedeutsamkeit, sondern meist heutigen Vorstellungen von Erinnerungswürdigkeit.

Mag sein, dass ein biographischer Schneisenschlag sinnvoll wäre – und ich behalte mir diesen vor. Doch in diesem Beitrag möchte ich lediglich eine, wenngleich eine zentrale Episode aus Johann Hoffs Karriere näherungsweise rekonstruieren. Es geht um den wichtigsten Bruch in seinem Leben, dem faktischen Bankrott seines Firmenimperiums während der Gründerkrise 1873. Dieser war Folge einer ungebührlichen Überschätzung der Möglichkeiten moderner Werbung und der Fehleinschätzung des Biermarktes der frühen Kaiserzeit. Johann Hoff wollte damals „Deutschen Porter“ einführen, also ein dunkles kräftiges Bier, wie es vornehmlich in England gebraut wurde. Er antizipierte den damaligen dramatischen Wandel des Biermarktes: Doch statt auf die neuen untergärigen Biersorten, auf bayerisches Lager und böhmisches Pilsner zu setzen, wollte er den englischen Porter billiger herstellen – und diesen zum neuen „Nationalgetränk“ machen. Das war – aus heutiger Sicht – fantastisch und zum Scheitern verurteilt; doch das galt auch für die Marktetablierung des Malzextraktes seit den späten 1850er Jahren. Bevor wir aber auf die Struktur und den Wandel des deutschen Biermarktes Mitte des 19. Jahrhunderts eingehen, sind einige biographische und unternehmenshistorische Grundlagen zu legen.

Johann Hoff – Unternehmer und Unternehmen

Johann Bernhard Hoff wurde am 20. Dezember 1826 in Pleschen, im südöstlichen Posen, als Sohn des Handelsmanns Leob Hoff und seiner Frau Dorothea Hoff, geb. Lefschütz geboren (Landesarchiv Berlin, Sterberegister 1874-1920, Berlin I, 1887, Nr. 216). Er erlernte wohl seit 1852 das Brauereihandwerk und ließ sich Mitte der 1850er Jahre in Breslau nieder, wo er eine Gaststätte mit eigenem Brauereibetrieb eröffnete. Das war Sesshaftwerdung nach seiner Heirat mit Johanna Fränkel (1829-1894), Tochter aus einem Kaufmannshaushalt im nordöstlich von Breslau gelegenen Städtchen Festenberg. Dort hatten Mitte des 18. Jahrhunderts aus Breslau vertriebene Juden eine formidable Gemeinde gegründet, deren Mitglieder ein Jahrhundert später wieder in die wachsenden Städte wanderten. 1855 gebar Frau Hoff in der schlesischen Hauptstadt die Tochter Selma (1855-1916), Therese und die Söhne Max und Martin folgten.

Johann Hoff verlegte später die Anfänge der familiären Malzproduktion in das Jahr 1847, datierte die Geschäftsgründung in Breslau auf 1849 (Vendette 19, 1887, Nr. 1, 8) – doch das waren selbstgenährte Mythen, die gleichwohl Wirkung auf Kritiker hatten, die zwischen Sein und Schein kaum unterscheiden konnten und ihrerseits negative Legendenbildung betrieben (Wilhelm v. Varchim, Die Medicinal-Pfuscherei der Jetztzeit und ihre Koryphäen […], 2. verm. u. verb. Aufl., Bremen 1867, 32). Nachweisbar sind eine Erwähnung des „Brauermeisters Bernhard Hoff“ 1856 (Breslauer Zeitung 1856, Nr. 103 v. 1. März, 44) sowie Anzeigen aus dem Jahre 1857, in denen „Hoff’s Brauerei“ und dann „Hoff’s Pariser Restauration, Wein- und Bierkeller“ beworben wurden (Schlesische Zeitung 1857, Nr. 77 v. 15. Februar, 367; ebd., Nr. 467 v. 7. Oktober, 2447). Beide lagen an der Südseite des Breslauer Rings, also in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rathaus. Hoff produzierte zudem präpariertes Brustmalz zur Linderung von Husten und Atemwegserkrankungen, vertrieb dieses auch regional (Lublinitzer Kreisblatt 1858, Nr. 3 v. 16. Januar, 16). Im Mittelpunkt seiner Geschäftstätigkeit stand jedoch ein „Gesundheitsbier“, das er „Malz-Extrakt“ nannte. Dieses bewarb er offensiv als Heilmittel, gab vor, „Autoritäten der Medicin“ hätten es untersucht, propagierte es dann als Kräftigungsmittel und Hilfe bei zahlreichen unspezifischen Krankheiten (Schlesische Zeitung 1857, Nr. 277 v. 18. Juni, 1473).

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Malzextraktangebot von Johann Bernhard Hoff in Breslau 1858 (Schlesische Zeitung 1858, Nr. 121 v. 13. März, 624)

Die Breslauer Anzeigen spiegeln erstens eine systematische Nutzung der lokalen Inseratenpresse, zweitens einen ausgeprägten Drang nach Größe und Bedeutsamkeit. Schon 1857 gab Hoff vor, Niederlagen in London, Hamburg, Berlin, Magdeburg und ganz Ostelbien zu unterhalten (Ebd., Nr. 439 v. 20. September, 2286). Drittens nahm die Palette seiner durch Zubereitung und Zumischung allesamt heilkräftigen Malzpräparate weiter zu. Sein „Bäder-Malz“ empfahl er zur Kräftigung und gegen degenerative Krankheiten (Ebd., Nr. 535 v. 15. November, 2798). Mit solchen Offerten stand er keineswegs allein, lokale Konkurrenzen offerierten ähnliche Malzpräparate seit den 1840er Jahren (Ebd., 2801). Viertens aber nutzte er schon in Breslau systematisch vermeintliche Zusendungen resp. Empfehlungsschreiben, druckte sie in Anzeigen ab. Damit hob er die Qualität seiner Produkte nochmals hervor, verortete sie im oberen gesellschaftlichen Spektrum. Vielfach handelte es sich allerdings um reine Erfindungen. Der von ihm als Garant erwähnte Prinz Friedrich Wilhelm Karl von Preußen starb beispielsweise schon 1851.

Aller Werbung, allen Anstrengungen zum Trotz ging Hoffs Geschäft spätestens im Sommer 1859 bankrott, der Konkurs über sein Vermögen folgte im Herbst (Ebd. 1859, Nr. 459 v. 22. September, 6). Warum ist unklar, berichtet wurde über „eine unvorsichtige Speculation“ (Der Israelit 8, 1865, 527). Familie Hoff siedelte jedenfalls nach Berlin über, wo er das fortsetzte, was er in Breslau begonnen hatte. Er etablierte sich im Zentrum der preußischen Hauptstadt, in der unmittelbar an der Spree gelegenen Neuen Wilhelmstraße 1 – und begann unter dem Namen Johann Hoff ab spätestens März 1860 neuerlich sein Malzextrakt-Gesundheitsbier und seinen Brustmalz anzubieten (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 30 v. 31. März, 155).

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Schwindel in Premiumlage: Ansicht des Geländes von Johann Hoffs früherem Firmensitz Neue Wilhelmstr. 1, heute ARD Hauptstadtstudio (Uwe Spiekermann, 2019)

Johann Hoff wurde in Berlin zum Exponenten moderner Geheimmittelproduzenten, die ihre objektiv überteuerten Produkte mit Heilsversprechen aufluden und einem zahlungskräftigen Publikum als Alltagshelfer anpriesen. „Malzextrakt“ war eine sprachliche Fiktion, denn darunter hatte man zuvor kein Bier, sondern ein medizinisches Stärkungsmittel verstanden. Hoff betonte stetig und unbeirrt, dass sein Produkt Heilwirkungen habe – und es seine Pflicht sei, seine Mitbürger darüber in Kenntnis zu setzen. Das tat er direkt, vor allem aber mittels realer und großenteils wohl fiktiver Dank- und Empfehlungsschreiben. Als Adressat sah er sich in der „Pflicht, die leidende Menschheit unausgesetzt auf dieses vortreffliche und dabei wohlschmeckende Getränk aufmerksam zu machen“ (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 209 v. 30. Juli, 6).

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Ein altes Familienrezept aus Ägypten: Geheimmittelwerbung a la Johann Hoff (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 82 v. 17. Juli, 332)

Hoffs virtuose Nutzung moderner Werbung machte ihn zu einem der wichtigsten Vorläufer heutigen Marketings. Dies reicht tiefer als der eventuell zutreffende Verweis, Hoff habe als erstes deutsches Unternehmen eine eigenständige Werbeabteilung eingerichtet (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing, Berlin 1993, 24). Der junge Unternehmer verstand die Grundprinzipien moderner Massenmärkte: Hohe Werbekosten waren einerlei, wenn es dadurch gelang, den Umsatz überproportional zu steigern. Hoff meinte dazu anekdotenhaft: Als „ich die ersten Tausend Thaler mit meinem Malzextract verdient hatte, sagte ich mir: die hast du nicht verdient, und steckte sie als Inserate in die Zeitungen. Als es zehntausend geworden waren, sagte ich mir: die Hälfte davon hast du nicht verdient und steckte sie wiederum in die Zeitungen, und so fort“ (Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 9 v. 11. Januar, 2-3, hier 3 – auch für das Folgende). Anfang der 1860er Jahre soll er einen Jahresumsatz von ca. 250.000 Talern gehabt und für Anzeigen ca. 100.000 Taler aufgewandt haben. Produktions- und Betriebskosten dürften bei ca. 50.000 Talern gelegen haben, so dass der Gewinn exorbitant war. Hoff betonte aber auch: „Aber das kann ich Ihnen sagen, mit Schund hat man keine Aussicht auf Erfolg, und wenn man Millionen verinserirt.“ Daraus entstand ein Nimbus immensen und wachsenden Reichtums (Altonaer Mercur 1862, Nr. 273 v. 19. November, 2). Während die meisten Geheimittelhersteller nach kurzer Zeit wieder vom Markt verschwanden, etablierte sich Hoffs Malzextrakt als einer der bekanntesten Markenartikel der 1860er Jahre, dessen Produktion hierzulande erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg eingestellt wurde.

Als Person blieb Johann Hoff relativ unsichtbar. Er war ein mediales Phänomen, das mittels seiner Anzeigen kommunizierte, in denen er einen Avatar seiner selbst schuf, sich als sendungsbewussten Unternehmer stilisierte: „Es ist eine weise Lehre, man solle sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern vor den Leuten leuchten lassen“ (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 186 v. 7. Juli, 5). Dabei verwob er Lobpreis seines Produktes mit unbeirrbarem Eigenlob. Er sah sich als Wegbereiter einer neuen Heilsindustrie, als Wegbereiter des Aufschwungs der nationalen Industrie: „Wie können wir eine Anerkennung von außen erwarten, wenn wir sorgfältig das zu verdunkeln suchen, was fähig wäre, uns eine solche zu verschaffen. Mit um so größerer Freude muß uns jeder Ausnahmefall erfüllen, und wir werden es uns zur Pflicht machen, einen solchen im Interesse der vaterländischen Industrie auch jedesmal zur öffentlichen Kenntnis zu bringen, sobald er nur von einiger Bedeutung ist“ (Kölnische Zeitung 1861, Nr. 46 v. 15. Februar, 4).

Widerspruch und erbitterte Kritik

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Bewertungen und Einschätzungen als „Thatsachen“ (Die Presse 1861, Nr. 335 v. 6. Dezember, 6)

Bei aller Übertreibung, bei allem Lobpreis setzte Johann Hoff gleichwohl auf eine quasi dokumentarische Werbung. Die Textmasse seiner Anzeigen bestand aus Zitaten von Empfehlungsschreiben, aus Geschäftskorrespondenz, aus Nachrichten über den erfolgreichen Fortgang des eigenen Geschäftes und die zahlreichen Ehrungen, die ihm zuteilwurden. Die alle paar Tage geschalteten Anzeigen, zuerst in Berlin, ab 1861 zunehmend im ganzen deutschsprachigen Raum, hatten zwar Stakkatocharme, doch sie veränderten sich stetig, waren eine Art Fortsetzungsroman des Immergleichen. Das Publikum war sich gewiss bewusst, dass nicht alles eins zu eins zu nehmen war – doch die Wiederholung machte Eindruck, führte zur Probe, zum Kauf. Dieser mochte seinen eigenen Charme haben – moderater Alkoholkonsum unter dem Deckmantel des Heilmittels –, doch man reihte sich zugleich ein in die große Schar der in den Anzeigen erwähnten Persönlichkeiten. Hoff zielte auf den Adel, den Hochadel, hatte Erfolge bei finanzarmen Häusern, die gegen Gebühr auch Titel vergaben, mit denen er dann weiter warb. Die Empfehlungsschreiben entstammten dagegen dem gehobenen Bürgertum, dem Militär, den Pfarrhäusern. Hoffs Malzextrakt war ein bürgerliches Produkt nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution, war die Materialisierung des dann in der Reichsgründung manifesten Bündnisses des nationalen Bürgertums mit dem angestammten Adel. Hoffs Anzeigen waren Ausdruck selbstbewussten Untertanengeistes, freuten sich am huldvollen Dankeschön, an der Ehrerbietung für ein gelungenes Produkt. All das rief teils erbitterten Widerspruch hervor – vor und auch nach dem preußischen Verfassungskonflikt, der 1866 schließlich mit dem Indemnitätsgesetz gelöst wurde, das das königliche Unrecht nachträglich legitimierte.

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Ein virtueller Johann Hoff inmitten einer Schar durch wissenschaftliche Aufklärung entlarvter Scharlatane (Industrie-Blätter 3, 1866, 1)

Die Kritik zielte erstens auf das Produkt selbst. Den Hoffschen Bewertungen wurden chemisch-pharmazeutische Analysen entgegengestellt: „Es geht daraus zur Genüge hervor, daß der vielgepriesene Hoff’sche Malzextrakt weiter keinen Vorzug hat, als daß er völlig unschädlich ist, sonst aber mit den übrigen Wundermitteln auf gleicher Stufe steht, die keinen andern Nutzen stiften, als den, ihren Erfinder reich zu machen“ (Hoff’scher Malzextrakt, Mittheilungen ueber Gegenstände der Landwirthschaft und Industrie Kärntens 19, 1862, 61-62, hier 62). Es war offenkundig, dass der Malzextrakt ein „dunkles Braunbier“ mit ca. 3% Alkoholgehalt war, dem ein Aufguss aus Dreiblatt und Faulbaumrinde zugefügt wurde (Hoff’sches Malz-Extrakt, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 3, 1861/62, 55 – auch für das Folgende). Die Herstellung einer der üblichen 12-Unzen-Flaschen (ca. 340 ml) kostete demnach ca. 6 Pfennig für das Gebräu und 12 Pfennig für Flasche, Etikett und Kork. Das waren 1 Silbergroschen und 6 Pfennige, während der Verkaufspreis bei 7½ Sgr. lag – das Publikum wurde also offenkundig übervorteilt. Hoff kritisierte derartige Analysen, stellte sie methodisch in Frage (Entlarvte Geheimmittel, Ebd., 193-194) – und in der Tat war die Analytik damals lückenhaft und fehlerbehaftet (Ueber die Analyse des Hoff’schen Malzextrakts, Ebd., 200-202). Hinzu kam, dass viele Mediziner durchaus anderer Meinung waren: Es fehlte an gemeinsamen Standards im Umgang mit gewerblichen Anbietern, gekaufte Gutachten waren nicht unüblich. Während Pharmazeuten und öffentlich besoldete Chemiker versuchten, die Expertenreihen zu schließen – die 1864 gegründeten „Industrie-Blätter“ waren dafür eine Wegmarke – blieb die medizinische Profession deutlich offener gegenüber kommerziellen Zuwendungen.

Hoffs Malzextrakt war für viele Wissenschaftler und Publizisten zweitens ein beredtes Beispiel für die negativen Wirkungen der wachsenden Kommerzialisierung des Alltagslebens im Gefolge zunehmender Gewerbefreiheit und des raschen Wachstums der gewerblichen Produktion. Obwohl es vereinzelte öffentliche Warnungen und auch Verkaufseinschränkungen gab – in Wien, in Hannover – so schien die neue liberale Zeit doch tradierte Schutzrechte erodieren, den Konsumenten zurück auf eigene Urteilskraft zu werfen, die durch die Kapitalkraft über Inserate vernebelt wurde: „Die heutigen Alchymisten tragen Fracks und werden nicht verbrannt, das ist der ganze Unterschied“ (Rosafarbene Blätter aus Hamburg, Nordischer Courier und Altonaer Nachrichten 1862, Nr. 218 v. 18. September, 2).

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Etikettenpräsenz: Konterfei von Johann Hoff (Deutscher Reichsanzeiger 1875, Nr. 246 v. 20. Oktober, 6)

Drittens stießen sich die Kritiker an Johann Hoffs ausgeprägter öffentlicher Spendenbereitschaft, die 1862 mit dem preußischen Kommissionsratstitel und dann mit weiteren Orden obrigkeitlich anerkannt wurde. Für den gläubigen Juden Hoff war dies Ausdruck der Zedeka – und innerhalb der orthodoxen Gemeinschaft dankte man ihm für seine vielfältigen Spenden für Arme in Berlin, in Pleschen, in Osteuropa, in Erez Israel, für Bildungseinrichtungen, für die Gründung einer eigenen Haussynagoge und seine Stipendien (Der Israelit 6, 1865, 527; ebd. 7, 1866, 813; ebd. 8, 1867, 39, 885). Doch Hoff unterstützte als Konservativer und Hohenzollernverehrer parallel die nationale Sache, richtete Stiftungen für Veteranen, Invaliden und Kriegerwitwen ein, begleitete jeden Krieg mit Malzextraktschenkungen, spendete dem König und dem Kriegsministerium anlässlich der zahlreichen nationalen Gedenktage, flaggte seine Fabrik preußisch und deutsch – und breitete diese Wohltätigkeit in seinen Inseraten aus. Für Kritiker war dies übergriffig, eine strategische Ausnutzung von Mildtätigkeit für kommerzielle Zwecke, für öffentliche Aufmerksamkeit. Das entsprach nicht ihrer Vorstellung vom alten Preußen und vom neuen Deutschland.

Es überrascht daher nicht, dass Johann Hoff viertens auch Zielscheibe des schon deutlich vor der Gründerkrise und dem Berliner Antisemitismusstreit akuten Antisemitismus wurde. Sein „Reklamegeschmetter“ galt als jüdische Überhebung, war Teil gängiger bildungsbürgerlicher Kritik an „der“ Reklame (W[ilhelm] Giese, Die Judenfrage am Ende des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1899, 35). Hoff stand für die „ungeheuerlichen, beispiellos frechen und materiell erfolgreichen Schwindel-, Luxus-, Lugs- und Betrugs-, Unsittlichkeits- und Unzuchtsindustrien“, die sie als sittlich verderblich und undeutsch gegeißelt wurden (H[einrich] Beta [d.i. Johann Heinrich Bettziech], Die Geheimmittel- und Unsittlichkeits-Industrie, Berlin 1872, 4). Sein Reichtum, sein Schwindel spiegelte einen aus den Fugen geratenen, vermeintlich von Juden geprägten Kapitalismus. Kurzum, in der Figur von Johann Hoff bündelten sich die vielfältigen Tropen des Alltagsantisemitismus, der nicht nur von bürgerlichen Konservativen und Nationalliberalen, sondern auch von weiten Teilen des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft getragen wurde.

Malz und Malzextrakt – Sprache als Marktelement

Diese vier Kritikpunkte müssten allesamt aufgefächert und ausdifferenziert werden. Für unsere Fragestellung nach dem späteren Scheitern des Braumeisters Hoff an der Etablierung eines neuartigen „Deutschen Porters“ als Substitut des importierten englischen Porters und der damals (in Berlin) noch vorherrschenden obergärigen Biere ist ein Blick auf die Nischenmärkte des Braugewerbes dieser Zeit jedoch wichtiger. Obwohl Hoff sich als „Erfinder“ des Malzextraktes präsentierte, obwohl er sich später auch als Neuerer des „Deutschen Porters“ stilisierte, so zeigt eine genauere Analyse des damaligen Marktumfeldes, dass der Berliner Erfolgsbrauer lediglich die einfach erkennbare Spitze eines vernischten und regional disparaten Marktes von Medizinalbieren war.

Was aber verstand man Mitte des 19. Jahrhunderts unter „Malzextrakt“? Malzextrakt war Teil der Brauersprache, galt als „die Würze“, als zu vergärender Grundstoff (J[ohann] F[riedrich] Dorn, Praktische Anleitung zum Bierbrauen und Branntweinbrennen […], 3. gänzl. umgearb. u. verm. Aufl., Berlin 1833, 65; Heinrich Förster, Praktische Anleitung zur Kenntniß über Besteuerung des Branntweins und des Braumalzes […], 2. umgearb. u. verm. Aufl., Berlin 1830, 72-73). Malzextrakt war einerseits ein aus Dextrin und Traubenzucker bestehendes nichtalkoholisches Vorprodukt der Bierproduktion (Eduard Reich, Die Nahrungs- und Genussmittelkunde, Bd. 1, T. 1, Göttingen 1860, 289-290). Anderseits aber handelte es sich um den stofflichen Rückstand, den man nach dem Abdampfen des Bieres bei der Nahrungsmittelkontrolle zurückbehielt. Bei dunklen Süßbieren, etwa der Braunschweiger Mumme, war er dominant, lag beim englischen Porter hoch, ebenso beim bayerischen Starkbier. Sein Anteil betrug gemeinhin zwischen 4 und 8 Prozent des Bieres (Hermann Klencke, Die Verfälschung der Nahrungsmittel und Getränke […], Leipzig 1858, 311).

Malzextrakt war, wenngleich nicht immer unter diesem Begriff, spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert diätetisches Heilmittel bei Erkältungen. Die relativ rasche Zersetzung der Enzyme und die aufwendige Herstellung begrenzten seine Verbreitung. Apotheker mussten es frisch zubereiten, konnten es nicht lange bevorraten. Dazu wurde Malz, also gekeimtes und wieder getrocknetes Getreide, geschrotet und vollständig mit Wasser bedeckt. Nach 6-8 Stunden wurde die Flüssigkeit abgelassen und dann bei geringer Hitze zu einem Sirup eingedampft. Dieser wurde anschließend nochmals mit Wasser bedeckt – und nach weiteren 6-8 Stunden neuerlich verdampft (Aerztliches Intelligenz-Blatt 9, 1862, 231). Das Resultat bestand aus einfach löslichen Kohlehydraten, war ein Nährmittel für Kranke und Kinder. Zeitweilige Bedeutung gewann ab 1864 die sog. Liebigsche Malzsuppe, ein häuslich zubereitetes Kindernährmittel, das die Muttermilch ersetzen sollte, als gewerbliches Substitut aber kaum Bedeutung gewann (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 91-93).

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Werbung für Liebigs Suppenpulver, einem Malzpräparat für Kinder (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 30 v. 30. Januar, 4)

Es ist offenkundig, dass derartige Nähr- und Heilmittel etwas anders waren als die Hoffschen Angebote in Breslau und Berlin. Und entsprechend hieß es apodiktisch: „Der sogenannte Hoff’sche Malz-Extrakt ist kein Malz-Extrakt“ (Wiener Medizinische Wochenschrift 15, 1865, Nr. 42, Beilage). Es handelte sich vielmehr um „ein ziemlich starkes Bier, angeblich mit heilkräftigen Stoffen versetzt“ (Annalen der Landwirtschaft 7, 1867, 342). Hoffs Erfolg gründete jedoch just auf der Illusionskraft der Sprache: Er vermengte begrifflich ein Medizinalprodukt und ein Vorprodukt des Bierbrauens, machte aus ordinärem Bier ein „Gesundheitsbier“, einen neu definierten „Malzextrakt“. Die Schaffung neuer Dachbegriffe war nicht unüblich, überdeckte vielfach Produktänderungen ohne nähere Kennzeichnungen. Backpulver war in den späten 1860er Jahren etwas anderes als um die Jahrhundertwende, auch Brot und Bier veränderten sich derweil beträchtlich. Johann Bernhard Hoff hat die für moderne Konsumgütermärkte üblichen semantischen Illusionen für seine unternehmerischen Zwecke genutzt – und konnte seine Wertschöpfung dadurch massiv erhöhen.

Hoffs Malzextrakt im Marktkontext: Gesundheitsbiere, Deutscher Porter und medizinische Malzextrakte

Die Überlappung von Bier- und Medizinalmarkt, die damit einhergehenden Veränderungen tradierter Marktsegmente wurden von Zeitgenossen als Bruch mit der alten Ordnung verstanden, nicht aber als Übergang zu moderneren Formen der Marktgestaltung. Functional Food oder vegane Ersatzprodukte waren und sind in den letzten Jahrzehnten gleichfalls von intensiven Debatten eingerahmt worden, die nicht beachten, dass Fluidität, das Zerbrechen bestehender Ordnung, ein konstitutives Element moderner Marktwirtschaften ist. Ohne Einbezug der ökonomischen Logik bleiben solche Debatten halbgar, erschöpfen sich in medial gut aufzubereitenden Aufregungen. So auch die Debatten über Bier und Malzextrakt seit den 1860er Jahren: „Die Fabrikate des Hrn. Hoff in Berlin und das des Hrn. Rohrschneider in Potsdam […] sind dünnflüssige gegohrene Flüssigkeiten, die zwar ursprünglich ein Malz-Auszug gewesen seyn können, gegenwärtig aber vollständig den Charakter des Bieres angenommen haben“ (Ueber Malz-Extract, Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1861, Nr. 282 v. 28. November, 4).

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Konkurrierende Malzextraktangebote in Berlin: Rohrschneider, Potsdam (Königlich privilegirte Berlinerische Zeitung 1860, Nr. 230 v. 30. September, 33)

Derartige Zitate belegen, dass Hoff nicht alleine stand. Auch andere Anbieter verkauften ihr Bier als Gesundheitsbier, als Malzextrakt. Die zeitgenössischen Blicke richteten sich vorrangig auf den Marktführer, den Anzeigenkönig. Doch Hoffs Angebote wurden von Konkurrenten unmittelbar nachgeahmt und in ähnlicher Weise beworben. Sprachwandel ist einfacher als eine kapitalintensive produktionstechnische Umgestaltung. Nachahmungen und allgemeine Produktbezeichnungen lassen sich ohne Patentrechte resp. Markenschutz nicht verhindern. Derartiger Rechtsschutz fehlte, hätte auch kaum gewirkt – und die öffentliche Klage über die stets als schlechter bezeichneten Konkurrenzprodukte spiegelte dies nur.

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Andauernde Konkurrenz – auch in der Berliner Nachbarschaft (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 36 v. 27. März, 4)

Bei der den „Malzextrakt“ charakterisierenden Überlappung von Bier- und Gesundheitsmärkten sind drei eng miteinander verwobene Entwicklungen auseinanderhalten: Erstens nutzten zahlreiche kleinere Brauereien den von Hoff gesetzten Trend, um ihrerseits lokale und regionale Märkte zu bedienen. Zweitens griffen weitere Anbieter die Hoffschen Sprachspiele auf und vermarkteten Malzextraktprodukte unter anderen Namen, zumal als „Deutschen Porter“. Drittens grenzten sich Anbieter diätetischer Spezialitäten von den modischen Gesundheitsbieren ab und etablierten einen neuen Markt haltbarer und nichtalkoholischer Malzextrakte, die als Kräftigungs- und Heilmittel „seriös“ beworben wurden und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für Kinder, Kranke und Alte genutzt wurden. Dass all dies ab den späten 1880er Jahren auch zum neuen Getränkesegment der alkoholfreien Malz- und Nährbiere führte, sei nur ergänzt. Doch blicken wir genauer hin.

Lokale Konkurrenz bereiteten Johann Hoff in Berlin vor allem die Hofbrauer und Hoflieferanten Gebrüder Auerbach. Ihre Bitterbierbrauerei bestand seit 1855. Sie hatten seit den späten 1850er Jahren bereits mit Malzpulver als Muttermilchersatz experimentiert, nahmen also die Liebigsche Malzsuppe tendenziell vorweg (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 60 v. 24. Mai, 244). Seit Sommer 1860 boten sie als „kräftig-nahrhaftes, aber nicht aufregendes Getränk“ ein Gesundheits-Bier an, 15 Flaschen für einen Taler (Ebd., Nr. 87 v. 28. Juli, 352). Das war günstig, gab es für den Taler doch neun Flaschen mehr als bei Hoff. Selbstverständlich betonten die Hersteller, ihr „Gesundheits-Malz-Bier“ schon „seit Jahren“ zu brauen, den guten Ruf bei „fast sämmtlichen berliner Aerzten“, hoben ferner freie Zustellung und mäßige Preise durch „Massenabsatz“ hervor (Ebd., Nr. 99 v. 25. August, 400). Selbst der tägliche Genuss bei Hofe und „von den Königl. Prinzen“ durfte nicht fehlen (Ebd., Nr. 102 v. 1. September, 412). Die Gebrüder Auerbach etablierten Niederlagen ihres „Malz-Extractes“ auch außerhalb Berlins, nutzten bei der Werbung auch Empfehlungsschreiben (Rhein- und Ruhrzeitung 1861, Nr. 147 v. 25. Juni, 4: Dresdner Anzeiger 1861, Nr. 261 v. 18. September, 8). Die Inserate endeten jedoch 1863, danach konzentrierte sich die Firma vorrangig auf Malzpräparate für Kinder (Berliner Gerichts-Zeitung 11, 1863, Nr. 101 v. 29. August, 6). Das galt auch für eine Reihe anderer Berliner Anbieter, etwa die Schweizer Bierbrauerei von B. Weidner (National-Zeitung 1860, Nr. 485 v. 16. Oktober, 9). Einzig das von Julius resp. Carl Schultz seit 1860 angebotene Malz-Extrakt-Gesundheitsbier überdauerte die Hoffsche Marktpräsenz.

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Gesundheitsbier als Getränk des deutschen Michels 1862 (Frankfurter Latern 3, 1862, 108)

Dennoch gab es wiederholt lokale Konkurrenten, die sich nicht nur gegen Hoff behaupteten, sondern ihn offensiv attackierten. Das galt vor allem für die erbitterte öffentlich ausgefochtene Konkurrenz zwischen Johann Hoff und dem Kölner Braumeister Hubert Koch. Seit Mai 1862 bot er einen „Malz-Extract“, ein Gesundheitsbier an, in Flaschen für 3 Sgr., als Hauskrug, aber auch im Ausschank seiner Gast- und Speisewirtschaft (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 126 v. 7. Mai, 6). Hoff warf dem Konkurrenten Täuschung vor, beklagte Angebote von „geborgtem Ruf“, verwies auf fehlende Gutachten (Ebd., Nr. 124 v. 5. Mai, 4). Koch nahm den Fehdehandschuh auf, machte sein Produktionsverfahren transparent und sich über seinen Konkurrenten in bemerkenswerter Weise lustig. Er, der „Braumeister ohne Titel“, verspottete den Hoffschen Titelfirlefanz, das Trallala seiner Gewährsleute. Er persiflierte dessen Werbung mittels erfundener Gutachten und forderte Hoff wieder und wieder auf, ihre Produkte vergleichend zu analysieren, statt lediglich die „Annoncen-Drehorgel“ zu spielen: „Nicht Wappensiegel zieren meine Flaschen, / Doch bergen sie viel edlern Saft, / Der – gar nicht wirkend auf die Taschen – / dem Schwachen neue Kräfte schafft“ (Ebd., Nr. 255 v. 14. September, 7). Die Auseinandersetzung zog sich über Monate hin, die Verbalinjurien nahmen zu, struktureller Antisemitismus brach sich Bahn. Als die Fehde im Januar 1863 endete, hatte sich Hubert Koch auf Kosten des Marktführers einen Namen gemacht, das Publikum über die „Malz-Extract-Schwindelei“ (Ebd. 1863, Nr. 25 v. 25. Januar, 8) aufgeklärt. Er verkaufte weiterhin seinen Malzextrakt, konzentrierte sich dann stärker auf das Gaststättengeschäft. Die Kölner Posse unterstrich die Brüchigkeit der Hoffschen Marktstellung, zugleich aber die Kraft einer unbeirrt durchgehaltenen Werbung. Kochs Vorwürfe mochten berechtigt sein, gingen aber an der Essenz des Marktgeschehens und der Konsumentenpsychologie vorbei. Dass zeitgleich der Kölner Braumeister Johann P. Schmitt mit seinem „Malz-Extract (Gesundheitsbier)“ Hoff und Koch erfolgreich Konkurrenz bereitete, unterstreicht die Dynamik des lokalen Wettbewerbs (Ebd. 1862, Nr. 154 v. 4. Juni, 8; ebd., Nr. 297 v. 26. Oktober, 8).

Hoffs Marktführerschaft wurde aber nicht nur von lokalen Braumeistern bedroht, die von Hoff gesetzte Begriffe aufgriffen und die Waren billiger anboten. Das galt auch für Nachfolgeanbieter im Ausland, etwa Wander in Bern oder aber die Wilhelmsdorfer Malz-Produkten-Fabrik in Linz. Allen Klagen über den „Malzextrakt-Gesundheitsbier-Schwindel“ (Malzextrakt nach rationellen Prinzipien bereitet, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 8, 1867, 109-110, hier 109) zum Trotz löste das anders benannte Bier zeitweilige Konsummoden hervor: „Malzextrakt ist die Universalmedizin, die man nicht löffel- sondern gleich krügelweise zu sich nimmt. Jedes Gasthaus ist zur Apotheke geworden und bei der herrschenden Gewitterschwüle schreit alles nur nach Malzextrakt. […] Karawanenweise zieht die Bevölkerung hinaus in den Weichselgarten und – medizinirt“ (Der Wiener Beobachter, Der Zeitgeist 2, 1862, Nr. 29, 5). Innerhalb der Brauereiwirtschaft akzeptierte man die neuartig beworbene Biersorte, plädierte für eine standardisierte und kontrollierte Massenproduktion: „Wenn dabei ferner jeder Schein von Schwindel ängstlich vermieden wird, dann kann jedes solche Etablissement eine glückliche Zukunft ‚anhoffen‘“ (Eigentliches Malzextrakt, Der Bierbrauer 7, 1865, 49-53, hier 53).

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Wettbewerb zwischen Malzextrakten unterschiedlicher Namen: Deutscher Porter vs. simplen Malzextrakt (Coburger Zeitung 1864, Nr. 180 v. 3. August, 1928)

Dazu kam es nicht. Stattdessen fächerte sich der Markt weiter auf – und dies mit Hilfe der zuerst von Hoff genutzten Sprachspiele. Der Leipziger Bierhändler und Hoflieferant Carl Grohmann verkaufte seit spätestens 1858 Zerbster Bitterbier als „Malz-Extrakt-Bier“ (Illustrirter Dorfbarbier 1858, Nr. 12 v. 21. März, 8; Illustrirte Zeitung 1860, Nr. 873 v. 24. März, 228). Dabei handelte es sich um ein seit der frühen Neuzeit gebrautes dunkles Bier, dessen Malz besonders geröstet wurde und in seinem Geschmack an die starken englischen Biere erinnerte. Grohmann ließ seit 1861 ein ähnliches Bier auf eigene Rechnung brauen, verkaufte es aber als „Deutscher Porter (Malzextrakt)“ (Illustrirte Curorte-Zeitung 22, 1897, Nr. 10, 11). Das war ein weiteres Gesundheitsbier, doch die neue Bezeichnung verlieh dem Produkt zeitweilig ein Alleinstellungskriterium, das zudem gut zur laufenden Adaption englischer Biere in deutschen Landen passte. Es handelte sich um ein hochpreisiger Heilsprodukt, zugleich aber um ein „diätetisches Genußmittel“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 9 v. 10. Januar, 179). Grohmann verstand es als Alternative zum Malzextrakt, als Tafelgetränk sollte es auch Wein ersetzen können. Die Werbung setzte mit einer gewissen Verzögerung ein, folgte ab spätestens 1863 der Hoffschen Art der Werbung mit großen Anzeigen (Leipziger Zeitung 1863, Nr. 16 v. 18. Januar, 288; ebd., 1864, Nr. 282 v. 27. November, 6298).

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Moderner Werbeauftritt (Neues Fremden-Blatt 1869, Nr. 68 v. 9. März, 18 (l.); Leipziger Zeitung 1867, Nr. 256 v. 27. Oktober, 6094; Illustrirte Curorte-Zeitung 26, 1901, Nr. 10, 18 (r.))

Johann Hoff blieb Grohmanns Hauptwettbewerber, Gutachten hoben stoffliche Gleichwertigkeit, jedoch höheren Wohlgeschmack und den etwas niedrigeren Preis hervor. Dennoch entwickelte sich der Deutsche Porter eher in Richtung eines Medizinalbieres: Er wurde angepriesen als das „gesündeste und wohlschmeckendste Stärkungsgetränk für Gesunde, Kranke und Reconvalescenten jeden Alters und Geschlechts“ (Dresdner Nachrichten 1865, Nr. 101 v. 11. April, 4), dann gar als prophylaktisches Mittel gegen Cholera (Ebd. 1866, Nr. 285 v. 12. Oktober, 3). Wie Hoffs Malzextrakt sollte es bei „Krankheiten der Respirationswege, Verdauungsbeschwerden, Appetitlosigkeit, geschwächtem oder verdorbenem Magen, Hämorrhoidalleiden“ helfen (Leipziger Zeitung 1868, Nr. 255 v. 25. Oktober, 6465). Auch Grohmann verlieh seinem Deutschen Porter eine längere, bis 1856 zurückreichende Vorgeschichte (Ebd., Nr. 234 v. 1. Oktober, 5997). Bier wurde damals zunehmend zu einem Traditionsgetränk. Geschmack, Nutzen und ein angemessener Preis reichten für die Vermarktung abseits von Haus und Gaststätte nicht mehr aus.

Grohmanns „Deutscher Porter“ unterschied sich zugleich aber vom Hoffschen Vorbild. Seine Zusammensetzung wurde mehrfach verändert, am Ende stand ein für damalige Zeiten sehr starkes Getränk von 4,7 % Alkohol – damals lagen fast alle Biere um 3 % Alkoholgehalt, erst die bayerischen Biere sollten dies ändern (Ebd. 1867, Nr. 54 v. 3. März, 1288; Chemisch-technisches Repertorium 21, 1882, 65). Der Deutsche Porter war kein reines Bier, sondern mit Traubenzucker und konservierenden Schwefelsäure versetzt (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 23, 1892, 406). Zudem pflegte Grohmann einen engen Bezug zum wissenschaftlichen Establishment Sachsens, nutzte Gutachten und Empfehlungsschreiben von Pharmazeuten und vor allem von Medizinern (Leipziger Zeitung 1866, Nr. 268 v. 11. November, 5837). Das half, sich gegenüber dem „Absude nachahmender Speculanten“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 54 v. 3. März, 1288) abzugrenzen. Die Werbung selbst war moderner als die Hoffs, nutzte früher sächsische Hoheitszeichen und Medaillen als Bildelemente (Leipziger Zeitung 1864, Nr. 6298 v. 27. November, 282). Berlin war damals werbetechnisch eher rückständig, während Sachsen vom Lehrmeister Wien profitierte. Grohmann nutzte auch ab 1865 einen Slogan, „genau nach medicinischer Vorschrift gebraut“ (Leipziger Zeitung 1865, Nr. 275 v. 19. November, 5966). Der Absatz konzentrierte sich auf Sachsen, Bayern und Cisleithanien, dort konkurrierte man mit Hoffs Malzextrakt. Dazu dienten niedrigere Verkaufspreise, anfangs 6,5 Sgr., 1868 aber nur noch 5 Sgr. pro Flasche. Hoff bewarb vorrangig Letztkunden, Grohmann zielte stärker auf den Großhandel und konzessionierte Depots (Wiener Medizinische Wochenschrift 19, 1869, Nr. 20, Sp. 36). Das entsprach dem Geschäftsgebaren eines großstädtischen Bierhändlers.

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In vertrautem Ton: Anzeige von Carl Eduard Werners „Deutschem Porterbier“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 253 v. 24. Oktober, 6031)

Ansonsten finden wir in Sachsen ähnliche Marktentwicklungen wie beim Hoffsche Malzextrakt. Grohmanns nachgeahmtes Pionierprodukt Deutscher Porter wurde seinerseits ab Mitte der 1860er Jahre vom Leipziger Restaurateur Carl Eduard Werner nachgeahmt (Dresdner Anzeiger 1866, Nr. 346 v. 12. Dezember, 18). Dessen Werbung war selbstbewusst, gründete auf chemischen Analysen. Der Mediziner Gustav Hoppe bestätigte, dass Werners „Deutscher Porter“ den vergleichsweise „meisten Nahrungsstoff“ besitze (Dresdner Nachrichten 1866, Nr. 365 v. 31. Dezember, 3). Auch bei Werner ging dem Vertrieb ein Bierhandel und ein Bierausschank voran, auch hier stand das Zerbster Bitterbier am Anfang (Leipziger Tageblatt 1864, Nr. 97 v. 6. April, 1753). Der Herausforderer forderte zudem deutlich niedrigere Preise, 1873 lediglich 2 Sgr. pro Flasche resp. 17 Flaschen für einen Taler (Ebd. 1873, Nr. 57 v. 26. Februar, 3). Damit war auch ein gewisser Rahmen für die 1872 beginnende Einführung des Hoffschen Deutschen Porters gesetzt.

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Hammers Deutscher Porter – Ein weiteres billiges Substitut für Hoffs Malzprodukte (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6241)

In Sachsen etablierten sich in den 1860er und frühen 1870er Jahren mehrere Anbieter Deutschen Porters. In Schlesien lieferte seit spätestens 1868 die Lagerbier- und Porterbrauerei A. Hausdorf „Deutscher Porterbier“ für drei Sgr. die Flasche (Kladderadatsch 21, 1868, Nr. 5, Beibl., 1; ebd. 23, 1870, Nr. 11, Beibl., 4). Auch in Halle a.d.S. entstand mit der Firma Lehmer ein neuer Billiganbieter (Saale-Zeitung 1873, Nr. 233 v. 5. Oktober, 6), verschärfte mit Preisen von 2 Sgr. die Wettbewerbslage für das 7½ Sgr. teure Hoffschen Produkt weiter (Ebd., Nr. 236 v. 9. Oktober, 6). Die Einführung des Hoffschen Deutschen Porters war 1872 daher auch ein Konter gegenüber neuen Billigangeboten. Dass es sich dabei durchweg um ähnliche Biere handelte, versteht sich sicher von selbst. Es ging um Kraftmeierei in einem sprachlich heterogenisierten Markt. Entsprechend verstand Carl Grohmann den Hoffschen Deutschen Porter als Nachahmung seines vermeintlichen Pionierproduktes: „Diese Copien stehen natürlich hinter dem Original weit zurück“ (Leipziger Zeitung 1873, Nr. 30 v. 3. Februar, 678).

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Malzextrakt auf dem Weg zum Pharmazeutikum (Schwäbische Kronik 1872, Nr. 294 v. 11. Dezember, 4413; Dresdner Journal 1878, Nr. 24 v. 29. Januar, 95)

Die mitteldeutsche Produktion Deutschen Porters spiegelte den wettbewerbsbedingten Preisverfall der neuen Gesundheitsbiere. Parallel aber entstanden neue höherpreisige Segmente für neuartige Medizinalprodukte. Firmen wie Eduard Loeflund (Stuttgart) und J. Paul Liebe (Dresden), dann auch Gehe (Dresden) und Schering (Berlin) griffen die Tradition des Malzextraktes als Apothekerware wieder auf. Am Anfang standen trockene alkoholfreie Malzextrakte. In Sirupform waren sie eine Beigabe der Säuglingsernährung, ein ärztlich verordnetes Nährmittel bei Entkräftung und Krankheit (Trocknes Malzextrakt und trocknes Mehlextrakt, Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin 154, 1872, 384-385). Genaueres chemisches Wissen über Kohlehydrate, vorrangig die Dextrine, insbesondere aber die Maltose, erlaubten durch veränderte Prozessführung gehaltreichere, kaum gärende und haltbarere Produkte. Malzextrakte blieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Standardpräparat (Eugen Seel, Zur Kenntnis des Malzextrakts, Medizinische Klinik 7, 1911, 456-458).

Englisches Nationalgetränk: Der Porter

Die marktbezogenen Sprachspiele von Johann Hoff und Carl Grohmann hatten die tradierte Bedeutung von Malzextrakt und Porter unterminiert, spiegelten zugleich aber die innere Gärung des Biermarktes in Mitteleuropa. In der Forschung lesen wir vom Siegeszug der untergärigen Lagerbiere, deren Ursprünge in Böhmen und dann vor allem in Bayern lagen. Diese waren weit aufwändiger herzustellen als die noch dominierenden obergärigen Biere. Doch der Einsatz moderner Technik, der Dampfmaschine, automatischer Malzdarren, dann auch moderner Kühlmaschinen und Reinhefen, ermöglichten eine zuvor nicht erreichbare Kontrolle des Brauprozesses. Technisierung und Verwissenschaftlichung mündeten seit den 1870er Jahren in vollmundigere und alkoholhaltigere Biere bayerischer Art. „Deutsche“ Biere begannen damals ihren internationalen Siegeszug, weniger in Form von Exportbier als vielmehr durch den Export von Brauern, Hopfen, Malz, Maschinen und zahllosen technisch-analytischen Geräten. Die Akzeptanz des Reinheitsgebotes im norddeutschen Braugebiet war 1906 demnach Schlussstein einer Entwicklung hin zur Weltgeltung deutschen Lagerbieres, die zugleich die obergärigen Biere Großbritanniens weltweit verdrängten. Gewiss, so war es – wenn man allein auf die großen Linien blickt. Doch schon der Aufstieg des Deutschen Porters im Sachsen der 1860er und 1870er Jahre sollte aufhorchen lassen. Noch viel mehr, dass Johann Hoff seinen Deutschen Porter just 1872/73 propagierte, parallel zur Gründung zahlreicher Aktiengesellschaften für bayerisches Bier. Er erklärte letzteres für überholt und vergangen und wollte einen Deutschen Porter zum Nationalgetränk machen wollte.

Porter entstand in England, genauer in London im frühen 17. Jahrhundert (Martyn Cornell, Porter for the Geography of Beer, in: Nancy Hoalst-Pullen und Mark W. Patterson (Hg.), The Geography of Beer, Cham 2020, 7-22; James Sumner, Status, scale and secret ingredients: The retrospective invention of London porter, History and Technology 24, 2008, 289-306). Das dunkle, nährstoffreiche und relativ alkoholhaltige Bier war deutlich länger haltbar als die gängigen Biere, als Ale und Stout. Porter setzte sich in Großbritannien auch in breiten Teilen der Arbeiterschaft durch, wurde zudem weltweit exportiert. Das Wachstum des British Empire ging einher mit der Verbreitung des Porterbieres. In deutschen Landen war es seit dem späten 18. Jahrhundert präsent, Hamburg der wichtigste Importhafen (Hamburger Relations-Courier 1780, Nr. 177 v. 6. November, 4; Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 1796, Nr. 32 v. 24. Juli, 7; Altonaischer Mercurius 1798, Nr. 104 v. 29. Juni, 7). Importierter englischer Porter war Anfang des 19. Jahrhunderts im nördlichen und westlichen Deutschland erhältlich (Lippstädtische Zeitung 1800, Nr. 78 v. 16. Mai, 6; Leipziger Zeitung 1814, Nr. 189 v. 26. September, 2694; Berlinische Nachrichten 1814, Nr. 117 v. 29. September, 8). Die Bewertung des ausländischen Bieres war allerdings unterschiedlich: Während es auf der Hamburger Boulevardbühne hieß, dass man „Lüstern nach Porterbier“ sei (Friedrich Ludwig Schmidt, Die Theilung der Erde, Hamburg 1824, 75), urteilte ein bayerischer Reisender nach Besichtigung führender Londoner Brauereien: „So ungeheuer auch die Braustätten […] sind, so ungenießbar ist ihr Porter und ihr Ale für einen Baier, dessen Gaumen und Magen nie ohne Ekel an den stattlichen Porter […] und an das starke Ale […] sich zurück erinnern kann, wenn er auch nur einmahl in seinem Leben zu dem martervollen Versuche aus Durst gezwungen war, davon zu kosten“ (Barclay’s Brauerei in London, Polytechnisches Journal 17, 1825, 129-130). Porter war im deutschsprachigen Raum durch Transport und Zölle zudem teuer, ein Luxusbier für Begüterte, kein Massengetränk.

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Importbier als teures Angebot für deutsche Kenner (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 25, Beibl. 1, 1)

Porter verkörperte im frühen 19. Jahrhundert England, stand für einen militärisch starken, wirtschaftlich prosperierenden Staat mit hohem Lebensstandard: „Des Tages ein- oder mehrmal einige Eier, ein Beefsteak oder Rostbeef, einige Tassen Thee mit Zucker und Porterbier gehören zu den allgewöhnlichsten Lebensbedürfnissen, ohne welche der englische Fabriksarbeiter, so wie selbst der sogenannte Arme über die bitterste Noth klagen würde“ (Liebich, Ueber Vermehrung des Arbeitsfondes und des Brennstoffs, Mittheilungen des Vereines zur Ermunterung des Gewerbegeistes in Böhmen 3, 1844, 637-653, hier 637). Das entsprach nicht der historischen Realität, die Friedrich Engels (1820-1895) präziser beschrieb. Doch auch für ihn spiegelte sich die besondere Not des Armenhauses in dem karg bemessenen, teils gar fehlenden Bier (Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845, 342). Porter galt als englisches Nationalgetränk – so wie der Schnaps für Preußen, das Bockbier für Bayern und der leichte Wein für Österreich. Die neue chemische Lehre der Nahrungsstoffe und des Stoffwechsels ließ Trank und Menschen miteinander verschmelzen, spiegelte vermeintliche Nationalcharaktere: „Der Porterbier trinkende, schwerfällige, ruhige, finstere, schweigsame, Strick-Nerven besitzende Britte bedarf seines Porterbieres, er braucht ein dem Nebel und Kohlendampf besiegendes, mächtig erregendes, den Magen beschäftigendes Getränk; dort wo ein Anderer eines Fingerdruckes bedarf, braucht er einen Rippenstoß, um aus seinem Gleichmuthe zu kommen: der immer rege, thätige Geist fordert Essenzen“ (Der Blasirte, Echo von der Elbe 1875, 127-128, hier 128).

„Nationalgetränke“ spiegelten das Zeitalters des Nationalismus, waren mit der komplexen Realität regional, teils auch lokal geprägter Trinkweisen jedoch nicht in Einklang zu bringen. Sie standen für simplifizierende Homogenität in einer zunehmend fragmentierten Welt, geprägt vom Vordringen neuer „fremder“ Waren, teils aus dem Ausland, teils aus den gewerblichen Betrieben. Letztere nutzen die wohlige Fiktion des Eigenen denn auch konsequent für ihre Werbung. Kräuterlikör von August Dennler mutierte zum „schweizerischen Nationalgetränk“ (Süddeutsche Post 1874, Nr. 63 v. 6. August, 6), doch auch der mit Zichorie versetzte Kaffee tauchte als deutsches Nationalgetränk auf, während „Bier“ damals den Altbayern zugeschrieben wurde und der „Haustrunk“ Most in weiten Teilen Hessens, des Südwesten und Österreichs als Nationalgetränk vermarktet wurde. Der Begriff spiegelte die wachsende Bedeutung, die Speis und Trank für die Identität großer von Wahlmöglichkeiten geprägten Gruppen hatten, der Kümmel etwa für Preußen, der Wein für die Rheingegend. In dem erst 1871 in einem kleindeutschen Rumpfstaat zusammengeführten Deutschland waren Nationalgetränke Herausforderungen, war man doch auf der Suche nach Einheit, gar nach einer nicht vorhandenen deutschen Küche. Der Kauf von Porterbier war lange Zeit ein Verstoß gegen die sittlich gebotene Sparsamkeit: Champagner und Porter verkörperten unangemessenen Luxus, gar Verschwendung. Bierbrauen sei eine deutsche Kunst – trotz der Dominanz des häuslichen Brauens, trotz der Unzahl kleinster Brauereien mit kläglichem, nach Wetterlage unterschiedlichen Resultaten. Doch in einer vielgelesenen Erörterung über die deutsche Misere nach den an sich gewonnenen napoleonischen Kriegen hieß es, nachdem ein billiges und wohlschmeckendes Bier anstelle des Porters gereicht wurde: „Herrmann. Nur wenige deutsche Bierbrauer werden aber ein solch herrliches Bier zu bereiten vermögen? Biedermann. Und doch bin ich überzeugt, daß er jedem diese Kunst gelernt haben würde, der ihn darum ersucht hätte!“ (Unterhaltungen des Pfarrers Biedermann zu Roßberg […] über Deutschland bedenklich-kränklichen Zustand […], Stuttgart 1821, 93)

Lernprozesse, Nachahmung und Adaption: Englischer Porter in deutschen Landen

Der Import von englischem Porter war aufwändig und teuer. Entsprechend gab es schon im späten 18. Jahrhundert Bemühungen, ihn auch in deutschen Landen zu brauen. Das geschah im merkantilistischen Umfeld anfangs nicht marktbezogen, sondern wurde obrigkeitlich angestoßen. Charakteristisch war eine hamburgische Preisaufgabe, die demjenigen „hiesigen Bierbrauer, welcher ein braunes Bier, das dem ächten Englischen Porterbier an Geschmack, Stärke, Klarheit und Dauer gleich kommt, zu einem verhältnißmäßig billigen Preis liefert, eine Prämie von 8. Sp. Duc“ versprach (Intelligenzblatt der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek 1796, Nr. 3, 39).

Zu dieser Zeit war Nachahmung zwar anrüchig, zugleich aber gängige Praxis. Kolonialwaren wurden in wachsendem Maße gekauft, doch abseits von Adel und gehobenem Bürgertum waren Surrogate ein gängiges Mittel bedingter Teilhabe an den Gütern der Welt. Dazu nutzte man einheimische Ressourcen, mit deren Hilfe man sich dem begehrten Original näherte: Aus Rüben wurde Zucker extrahiert, Zichorenwurzeln, Gerstenkörner, gar Eicheln mutierten zu Kaffeeersatz. Oft fehlende Kenntnisse des Originals erleichterten den Ersatz, machten ihn akzeptabler. Wärmender „Kaffee“ war ein Heißgetränk neuer Qualität, der Rübenzucker erweiterte die Geschmacksvielfalt.

Beim Bier, bei der Nachahmung des Porters setzte man hierzulande anfangs auf die Veränderung des Bewährten. In Nord- und Mitteldeutschland gab es eine reiche Tradition starker, haltbarer Biere. Sie waren, wie das schon erwähnte Zerbster Bitterbier, Handelsgüter, die angesichts der Verbreitung des englischen Porters unter Druck gerieten. Auf Basis recht rudimentärer Kenntnisse des Porters veränderte man Anfang des 19. Jahrhunderts daher in vielen Orten tradierte Brauweisen, um neue lokale Spezialitäten herzustellen, mit denen man zumindest den Heimatmarkt gegen die „englischen Biere“ behaupten konnte. Entsprechende Angebote gab es etwa in Lüneburg, in Braunschweig, in Magdeburg und Frankfurt a.M., allesamt Städte mit einer weit zurückreichenden Brau- und Handelstradition (Joh. Heinrich Moritz Poppe, Technologisches Lexicon, T. 1, Stuttgart und Tübingen 1816, 441). Porterbier wurde aber nicht nur nachgeahmt, sondern an vielen Orten auch unter diesem und dem eigenen Namen vermarktet: Althaldenslebener, Halberstädter und Prillwitzer Porter oder aber das Stettiner Porterbier waren bekannte Beispiele (Johann Herrmann Becker, Versuch einer allgemeinen und besondern Nahrungsmittelkunde, T. 2, Abt. 2, Stendal 1822, 151).

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Echtes Porterbier aus Köstritz (Leipziger Zeitung 1815, Nr. 186 v. 23. September, 2218)

Trotz dieser offenbar eindeutigen Bezeichnungen war die Frage nach der genauen Zusammensetzung nicht nur dieser Biere, sondern insbesondere des englischen Porters vielfach offen. In London gab es schon großbetriebliche und maschinelle Porterbrauereien, doch deren Rezeptur war Geschäftsgeheimnis. Damalige Konsumgüter waren aber auch aufgrund der fehlenden Standardisierung der Rohprodukte chamäleonhafte Angebote. Die Brauweise war an sich bekannt, die Zutaten aber unklar. So wurde Hopfen vielfach durch Bitterklee ersetzt (Bereitung des so berühmten, englischen Porter-Biers, für Bierbrauer, Oettingisches Wochenblatt 1802, Nr. 45 v. 10. November, 3). In Deutschland folgten umfangreiche Versuche, Hopfensubstitute sollten das gesamte 19. Jahrhundert über ein kontroverses Thema bleiben. Süßholz resp. Lakritzsaft war ebenfalls üblich und wurde hierzulande ebenso eingesetzt – etwa beim Köstritzer Doppel- und Porterbier (Der Anbau des Süßholzes, Wochenblatt 1812, Nr. 3 v. 17. Januar, Sp. 46-28, hier 47). Daneben aber nutzte man weitere Zusatzstoffe, um Farbe, Geschmack und Haltbarkeit zu verbessern: „Malz, Hopfen, Syrup, Süßholzwurzel, […karamelisierter Zucker…, US], Farbe (gebrannter Zucker, weniger lang und daher weniger bitter) und Capsium (Cayennepfeffer), spanischer Süßholzsaft, Fischkörner, Alaun, Eisenvitriol und Weststeinsalz (Pottasche), Ingwer, gelöschter Kalk, Leinsamen und Zimt“ (Vorschrift zu Porterbier, Das Neueste und Nützlichste der Erfindungen, Entdeckungen und Beobachtungen […], Bd. 8, Aufl. 2, Nürnberg 1820, 18-20). Angesichts derartiger Rezepte war Nachahmung immer auch innovativ, konnte keine Reproduktion des englischen Porters sein. Bis weit über die Jahrhundertmitte wiesen die Angebote aus London oder Dublin beträchtliche Unterschiede auf. Bier war damals immer auch ein Abenteuer, ein Überraschungsmoment im Alltag. Es war den vielfältigen Geheimmitteln dieser Zeit nicht völlig unähnlich.

Stärker als in England debattierte man hierzulande über die genaue Stellung des Porterbieres: War es ein Medizinalbier, wie viele der deutschen Schwarz- und Braunbiere? Oder war es ein nährendes Alltagsgetränk wie in Großbritannien? Das galt analog für viele andere Importwaren: Schokolade und Kakao wurden damals vielfach salzig konsumiert, galten als Genussmittel und als Medizin. Einer der ersten Ratgeber für die Brauerei englischer Biere enthielt demnach „erprobte Anweisungen und Recepte, aus verschiednen Ingredienzien die besten Gesundheitsbiere zu verfertigen, die bey gewissen Krankheiten die herrlichsten Dienste thun“ (Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyschen Correspondenten 1808, Nr. 83 v. 24. Mai, 4). Als Stärkungsmittel wurde Porter, wie die Mumme, ärztlich empfohlen (Medicinisch chirurgische Zeitung 1798, Erg.-Bd. 2, 266). Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein besaß Porter nach Auskunft der Zeitgenossen „einen arzneilichen Geschmack“ (J[ohann] C[arl] Leuchs, Brau-Lexicon, 3. Ausg. v. Leuchs Braukunde, Nürnberg 1867, 165). Erst langsam emanzipierte sich das englische Bier von dieser Bürde. Brauer aber blickten auf die englischen Verhältnisse, auf ein Alltagsgetränk: „Es ist der Trank der untern Volksklasse, der stetige Gesellschaft am Tisch des Bürgers, und niemals fehlend beim Mahle des Reichen“ (Adolph Lion, Handbuch der Medicinal- und Sanitätspolizei, Bd. 1, Iserlohn 1862, 360).

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Wissenstransfer durch Ratgeber (Accum, 1821 (l.) und Hermbstädt, 1826)

Das Wissen um die Porterproduktion wurde seit Anfang des 18. Jahrhunderts in Deutschland erst durch Spezialartikel, dann durch Ratgeber und Lehrbücher verbreitet. Üblich waren Übersetzungen englischer Werke: Johann Gottfried Bönischs (1777-1831) 1806 erschienenes Buch „Ueber das Bierbrauen der Engländer“ stammte großenteils aus dem 1802 erschienenen „A Treatise on brewing“ des Londoner Brauers Alexander Morrice. Andere Arbeiten unterstreichen die Bedeutung von Emigranten beim Wissenstransfer. Andreas Freeport veröffentlichte nach zwanzigjähriger Arbeit als Brauer in Deutschland und England 1808 seine „Theorie und Praxis von dem braunen und weißen Englischen und Deutschen Bierbrauen“ (Reich der Todten 23, 1808, 519-520). Friedrich Accums (1769-1838) 1820 erschienene Anweisung zum Brauen englischer Biere erschien ein Jahr später in deutscher, dann auch in französischer Übersetzung. Als Standardwerke dürften sich aber Sigismund Friedrich Hermbstädts (1760-1833) „Chemische Grundsätze der Kunst Bier zu brauen“ bzw. Johann Carl Leuchs (1797-1877) 1831 erschienene „Vollständige Braukunde“ durchgesetzt haben. Ersterer beschrieb die konstitutive Mischung dreier Malzarten und den Zusatz von Zucker und Süßholz- oder Lakritzsaft, letzterer verglich die verschiedenen Verfahren der Porterbrauerei in England und Deutschland. Gleichwohl bezeichneten Mediziner Porter weiterhin als „ein wahres Compositum giftiger Substanzen“ (A[nton] H[einrich] Nicolai, Grundriss der Sanitäts-Polizei, Berlin 1835, 48).

In der Tat wurde der Exporterfolg in deutschen Landen von fehlenden Standardisierungen und häufigen Verfälschungen insbesondere der Fassware beeinträchtigt. Flaschenware war hochwertiger, doch aufgrund der hohen Verpackungskosten und schlechter Glasqualität nochmals teurer (E.A.F. Hoffmann, Der Getränke-Prüfer, Quedlinburg und Leipzig 1826, 29-35). Porter blieb ein städtisches, gutbürgerliches und norddeutsches Getränk, war unterhalb der Mainlinie selten. Deutschland war keineswegs das typische Bierland, denn im Norden und Osten dominierte der Kartoffelschnaps, der „Branntwein“, in Bayern und den südwestlichen Mostländern wurde weit mehr als doppelt so viel Bier getrunken. Vor allem die Hafen- und Handelsstadt Hamburg galt als Porterstadt, dort gab es zahlreiche Import- und Handelsfirmen, dort wurden englische Biere ausgeschenkt und in Fachgeschäften verkauft (Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1859, Nr. 8 v. 19. Januar, 4).

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Porterverkauf in Hamburg (Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1836, Nr. 130 v. 3. Juni, 10 (l.); Hamburger Fremdenblatt 1871, Nr. 201 v. 27. August, 4)

Entsprechend überrascht es nicht, dass sich Porterbrauereien nur in Nord- und Mitteldeutschland etablieren konnten. Neugründungen waren anfangs selten, zumeist handelte es sich um die schon erwähnten lokalen Brauereien, die ein als Porter bezeichnetes Bier in ihr Angebot integrierten. Die wichtigste Neugründung war die Porterbrauerei der Nathusiuschen Gewerbeanstalten in Althaldensleben bei Magdeburg, einem in den 1820er Jahren einzig dastehenden Mischkonzern mit weit über tausend Beschäftigen. Über die dort durchgeführten Versuche und die Produktionstechnik unterrichtete das 1821 veröffentliche Buch „Der deutsche Porterbrauer oder Anweisung, ein dem englischen Porter gleichkommendes Bier zu brauen“, das noch 1836 in vierter Auflage überarbeitet herausgegeben wurde (vgl. auch Leuchs, 1831, 384-386). Zeitgenossen sprachen damals vom „Uebergang aus dem Gebiete der Oekonomie zu dem der Technologie“, lobten insbesondere das dort gebraute Ale, während man dem Porter gegen skeptisch war, „da er seines säuerlichen Geschmacks wegen, der auch dem ächt englischen eigen ist, dem teutschen Gaumen im Allgemeinen schwerlich zusagen wird“ (Oekonomische Neuigkeiten und Verhandlungen 1824, Nr. 93, 742 – beide Zitate). Andere lobten dagegen seine lange Haltbarkeit, seine Nährkraft und betonten, dass der Porter „neuerlich in Deutschland Cours erhalten“ habe (Emil Ferdinand Vogel, Geschichte der denkwürdigsten Erfindungen […], Leipzig 1842, 172 (Zitat)-173).

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Schema einer dampfgetriebenen englischen Porter-Brauerei (Leuchs, 1831, 596)

Mitte des 19. Jahrhunderts war die erste Welle der Gründungen abgeebbt, doch steigende Importe und der insgesamt wachsende Bierkonsum führten im Gebiet des deutschen Zollvereins zu vermehrtem Porterkonsum. Weiterhin gab es regionale Gründungen, so 1853 die kleine Brauerei von Christian Rose (1803-1877) im mecklenburgischen Grabow, der die Porterbraukunst zuvor in London studiert hatte. Im gleichen Jahr entstand auch in München eine erste Porterbrauerei (Philipp Heiß, Die Bierbrauerei mit besonderer Berücksichtigung der Dickmaischbrauerei, München 1853, 156-160). Der Siegeszug des hellen bayerischen Bieres war von weiteren Gründungen gegen die vermeintlichen Trends der Zeit begleitet: 1865 errichtete der Großbrauer Gabriel Sedlmayr (1811-1891) ein Brauhaus für englischen Porter – sechs Jahre bevor er mit der Installation der ersten Lindeschen Großkältemaschine in der Spatenbrauerei sein Gewerbe technisch grundstürzte (Tag-Blatt der Stadt Bamberg 1865, Nr. 76 v. 17. März, 2). Porter wurde in der Fachliteratur jedenfalls stetig behandelt (Ladislaus von Wagner, Handbuch der Bierbrauerei, 5. sehr verm. u. gänzl. umgearb. Aufl., Weimar 1877, 904-907). Wie die bayerischen Biere mit ihrer gemeinschaftsbildenden Gemütlichkeit verkörperte auch der Porter als Getränk aller gesellschaftlichen Klassen die gesellschaftspolitische Idee der bürgerlichen Gesellschaft.

Diese Entwicklungen bildeten den Rahmen für die Sprachspiele mit dem „Deutschen Porter“ erst in Sachsen, dann im gesamten mitteldeutschen Raum. Festzuhalten aber ist, dass Porter englischer Art ein gänzlich anderes Getränk war als die Malzextrakte und Gesundheitsbiere Hoffscher und Grohmannscher Art. Sie waren alkoholhaltiger, süffiger und auch billiger. Es handelte sich nicht um flüssige Medizin, sondern um Bier mit hohem Nährwert. Das schuf Marktchancen, erste Aktiengesellschaften wie die 1868 begründete Norddeutsche Ale- und Porter-Brauerei in Hemelingen entstanden: „Für die Produktion von Ale und Porter ist in Deutschland noch keine Konkurrenz vorhanden; die wenigen in Bremen und Hamburg existierenden Ale- und Porterbrauereien exportiren ihr Produkt überseeisch; es müssen daher alle dergleichen Biere für den Konsum im Zollvereine vom Auslande eingeführt werden“ (Westfälischer Merkur 1868, Nr. 158 v. 12. Juli, Ausg. 2, 1). Die englische Brauart sei kostengünstiger und weniger fehleranfällig als die Produktion untergäriger bayerischer Biere. Mit den niedrigeren deutschen Löhnen und dem besseren Zugang zu heimischen Rohwaren könne man billiger als die englische Konkurrenz produzieren, könne man auch in die Massenproduktion einsteigen.

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Weitreichendes Versandgeschäft: Englische obergärige Biere aus Deutschland (Aschaffenburger Zeitung 1869, Nr. 281 v. 14. November, 3)

Von den 300.000 Goldtalern Grundkapital wurden 200.000 eingezahlt, 1869 begann die Produktion, Anerkennung in der Fachpresse folgte. Englands Brauereien erhielten scheinbar mehr als gleichwertige Konkurrenz, denn moderne Technik ermöglichte ein chemisch reineres Bier (Werner, Porter und Ale, Allgemeine Hopfen-Zeitung 10, 1870, 54). Parallel nahm schon vor der Gründerzeit die Zahl der Gaststätten und Bierhallen zu, die ihren Kunden andere Biere von auswärts boten. All das erfolgte, während Johann Hoff den Einstieg in die Produktion „Deutschen Porters“ vorbereitete, um eine Umgestaltung der deutschen Bierkultur und ein weltweites Verdrängen des englischen Porters zu bewirken.

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Begrenztes Vordringen englischer Biere: Englische Taverne in Köln 1872 (Kölnische Zeitung 1872, Nr. 90 v. 30. März, 8)

Gründerboom: Johann Hoffs Einstieg in die Porterproduktion

Am 22. Februar 1872 blickte Johann Hoff auf eine dreißigjähre Tätigkeit im Brauereifach zurück, ließ sich als Vertreter von „Patriotismus, Wohlthätigkeit, Frömmigkeit und Industriefleiß“ feiern (Der Israelit 13, 1872, 270). Er war umstritten, gewiss, doch erfolgreich, eine Person des öffentlichen Lebens, „eine herrliche Zierde des hiesigen, ja des gesammten orthodoxen Judenthums“ (Der Israelit 13, 1872, 270). Das Malzextraktgeschäft war jedoch nicht mehr so dynamisch wie in den 1860er Jahren, und ein reines Abschöpfen der weiterhin hohen Erträge schien im Umfeld des Gründerbooms der frühen 1870er Jahre nur eine Selbstbeschränkung. Hoff spekulierte, setzte auf eine Ausweitung und Diversifizierung seines Geschäftes, wollte ein noch größeres Rad drehen. Zugleich erhöhten der massive Zufluss französischer Reparationszahlungen und die allgemeine Deregulierung der Wirtschaft den Druck auf alle im tradierten Fahrwasser wirtschaftenden Betriebe.

Zu dieser Zeit litt Berlin unter einer „Bierfrage“, die lange Zeit Wind in die Segel Johann Hoffs war. Berlin besaß spätestens seit den 1860er Jahren nicht genügend Braukapazität für die rasch wachsende Bevölkerung, so dass es insbesondere während des Sommers zur regelmäßigen „Biernoth“ kam. Wie bei anderen Konsumgütern, etwa dem an sich aus Berlin stammenden Baumkuchen, war die neue Reichshauptstadt eine Importstätte für Bier allgemein, für Lagerbiere und Spezialitäten im Besonderen. Das Aktiengesetz vom 11. Juni 1870 initiierte eine Gegenbewegung, denn mit Bier ließ sich scheinbar rasch Gewinn machen.

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Brauereiaktien als Handelsgut (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 92 v. 20. April, 21)

Berlin war traditionell eine Stadt obergärigen Bieres. Im späten 18. Jahrhundert dominierte Braunbier, auch Kufenbier, als lokale Spezialität zudem die „Weiße“. Allerdings gab es damals schon eine erste Brauerei für „englische Biere“ (Otto Wiedfeld, Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720 bis 1890, Leipzig 1898, 148, auch für das Folgende). Bis Mitte des 19. Jahrhundert dominierte der steuerfreie Haustrunk, die Brauereien waren eher mittelständisch. Die Braun- und Weißbierbrauerei geriet in den folgenden Jahrzehnten jedoch unter massiven Druck des zuerst importierten, dann aber zunehmend auch in Berlin produzierten untergärigen bayerischen Bieres. Noch 1860/61 wurden in Berlin 126,334 Ztr. Malz für obergärigen und 75,023 für untergärige Biere versteuert. 1875/76 hatte sich die Relation umgekehrt, zugleich die Produktion massiv erhöht (293,508 vs. 531,448 Ztr. Malz) (Julius Frühauf, Der Bierverbrauch in Berlin, Arbeiterfreund 15, 1877, 253-258, hier 257). Das bayerische Bier galt als schmackhafter und vollmundiger, doch in Berlin produzierten die neuen Aktiengesellschaften fast durchweg „Dividendenjauche“, also schlecht schmeckende Getränke geringer Qualität. Quantitativen Wachstums zum Trotz erodierte in den 1870er Jahren das Vertrauen in das lokale Bier, das als „Erzeugnis der chemischen Bierfabriken“ galt (Gustav Dannehl, Die Verfälschung der Nahrungs- und Genußmittel. 2. Das Bier, Die Gartenlaube 1877, 600-602, hier 600). Importbiere legten weiter zu, der Markt für Spezialitäten schien chancenreich. Auch „Naturwein“ gewann, Oswald Nier wurde später dessen Propagandist. All dies schuf grundsätzlich gute Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige Alternative, für den Johann Hoffschen „Deutschen Porter“.

Die Aktienbrauereien veränderten zugleich die tradierte Art des Bierkonsums. Sie bauten eigene Vertriebsnetze auf, insbesondere von ihnen gepachtete, teils auch errichtete Bierhallen. Die Aktienbrauerei Moabit, die ihren Ausstoß binnen eines Jahres fast verdoppelt hatte, besaß zu Beginn der neuen Saison 1873 gleich acht solcher Etablissements (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 92 v. 20. April, 41). Diese Gaststätten neuen Typs erforderten Hunderte von Gästen, lockten diese mit Musik, Theater und relativ günstigen Speisen. Kellner gewannen an Bedeutung, Trinkgelder erforderten zusätzliche Ausgaben, dennoch wurde immer wieder über die Anhebung des Bierpreises für das Standardbier von 1 Sgr. 6 Pfg. diskutiert (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 185 v. 7. Juli, 3). Mittelfristig setzten sich die Kapitalkräfte durch, seit den 1880er Jahre verbesserte sich die Qualität des Bieres wieder, Folge wachsender Investitionen nicht nur in den Maschinenpark, sondern vor allem in die Mälzerei, die Kühltechnik, den Hefeeinsatz und die chemische Kontrolle des Produktionsprozesses. Seit den 1890er Jahren wurde Berlin schließlich zu einem Bierexporteur mit zugleich hohen Importraten (Henry Gidom, Die Geschichte der Berliner Brauereien von 1800 bis 1925, Rostock 2021).

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Berliner Stammtisch mit Weißbier (Berliner Wespen 6, 1872, Nr. 2, 2)

Investitionsentscheidungen: Glashütte, Ausschankstätten, Ausflugslokal

Der Hoffsche Einstieg in die Produktion eines weiteren Bieres war komplexer als die Gründung einer der vielen Aktienbrauereien in Berlin. Diese bedienten vorrangig den aufnahmefähigen lokalen Markt, während Johann Hoff offenbar von Beginn an auf überregionalen, gar internationalen Erfolg zielte. Entsprechend erwarb er als erstes eine Glashütte, um genügend Flaschen für den Versand und den Verkauf in und vor allem abseits der preußischen Metropole zu haben. Zweitens folgte er dem Trend der Zeit, indem er vor Ort Grundstücke erwarb, auf denen er Ausschankstätten einrichtete, die aber auch als Brauereistandorte dienen sollten. Drittens zielte er auf ein großzügiges Ausflugslokal vor den Toren Berlins, das regelmäßig Tausende in seinen Bann schlagen sollten. Mangels einschlägiger Akten ist leider nicht abzusichern, ob dieser Geschäftsplan 1871 entstand und dann recht konsequent umgesetzt wurde; oder ob es sich um ein sich verstärkendes Wunschgebilde handelte, das immer größer wurde, bevor es zusammenbrach. Angesichts des Einsatzes eines Großteils seines von Zeitgenossen auf ca. 3 bis 4 Millionen Taler geschätzten Vermögens scheint es mir jedoch wahrscheinlicher, von einem durchaus rationalen Plan auszugehen: Man müsse nur die Grundlagen legen – die Werbung und der Durst würden den Rest schon erledigen.

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Erweiterte Kapazitäten in einem strukturschwachen Raum (Stettiner Zeitung 1872, Nr. 207 v. 5. September, 4)

Hoff erwarb erstens am 9. Juni 1871 die Schönemannsche Glashütte zu Neufriedrichsthal bei Uscz, einer südöstlich von Schneidemühl gelegenen Kleinstadt mit etwas mehr als 2000 Einwohnern (Deutscher Reichsanzeiger 1871, Nr. 41 v. 19. Juni, 7). Die Hohlglashütte hatte sich lange Zeit auf Spirituosen- und Süßweinflaschen konzentriert, besaß zum sicheren Versand auch eine eigene Korbflechterei (Königlich Preußischer Staats-Anzeiger 1856, Nr. 1669, 1395). Johann Hoffs verstärkter Einkauf von Malzextraktflaschen verbreiterte die Produktionspalette, zumal nach der 1865 erfolgten Einführung eines mit Torf befeuerten Siemens-Regenerativofens (Ferdinand Steinmann, Compendium der Gasfeuerung in ihrer Anwendung auf die Hüttenindustrie, Freiberg 1868, 55). Wöchentlich produzierte man damals mehr als 15 Tonnen Flaschenglas (Polytechnisches Journal 182, 1866, 216). Die Übernahme ging einher mit massiven Investitionen. Hoff erweiterte den Betrieb um vier neue Glasschmelzöfen: „Die Glasschmelzöfen sind sämmtlich auf Massenproduction eingerichtet, indem z.B. an einem Flaschenofen 24 Mann Glasmacher aus 12 Häfen arbeiten und dieselben in einer Arbeit zusammen mindestens 10,000 Stück Hoff’sche Malzextractflaschen oder ähnliche Größen fabriciren“ (Die Glasindustrie im Regierungs-Bezirk Bromberg, Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 540 v. 17. November, 8). Drei weitere Öfen waren geplant, ein eigenes Torfmoor sicherte die Feuerung, zudem gab es eine Kalkbrennerei und eine Ziegelei, die auch Baumaterial für die Berliner Erweiterungen lieferte.

Der Posener Betrieb wurde von Beginn an als Teil des Hoffschen „Weltgeschäftes“ beworben (Extra-Felleisen des Würzburger Stadt- und Landboten 1872, Nr. 1 v. 2. Januar, 3-4). Hoff sah darin den Eckstein einer massiven Ausweitung erst der Malzextraktproduktion, dann auch des Vertriebs Deutschen Porters (Berliner Börsenzeitung 1872, Nr. 418 v. 7. September, 7-8, hier 8): „Um eine derartige Concurrenz eröffneten zu können, muß auch auf billigste Beschaffung der Materialien Rücksicht genommen werden“. Von Glaswaren im Wert von jährlich 200,000 Talern war die Rede (Altonaer Nachrichten 1872, Nr. 219 v. 18. September, 1-2). Am 23. Dezember 1872 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Neue Friedrichsthaler Glashüttenwerke AG hatte ihren Sitz in Berlin, ein Grundkapital von 400,000 Talern und Johann Hoff fungierte als Direktor (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 5 v. 7. Januar, 6). Die Emission erfolgte durch die Vereins-Bank Quistorp & Co., Berlin, die die meisten Hoffschen Grundstücksgeschäfte federführend begleitete (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 228 v. 27. September, 6).

In einem zweiten Schritt erwarb Johann Hoff eine Reihe zusätzlicher Grundstücke in Berlin, war Teil der Terrainspekulation der Gründerzeit. Ausgangspunkt war weiterhin das Stammhaus in der Neuen Wilhelmsstraße. Dort lag die Brauerei, die Malzschokolade- und Malzbonbonfabrik, eine Druckerei für Etiketten, Verpackungen und Werbematerialien sowie, als „Seele des ganzen Geschäfts“, ein chemisches Laboratorium (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 1 v. 4. Januar, 4). Hier lag auch Johann Hoffs Büro, die Verwaltung, ferner Abfüllerei und Packkeller.

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Sitz des Hoffschen Brauerei: Neue Wilhelmstraße 1 1882 (Droschken-Wegemesser (berliner-stadtplansammlung.de)

Die recht beengten Verhältnisse hatten bereits zur Anmietung weiterer Lager geführt. Am Louisenplatz 6 befand sich zudem eine Mälzerei. 1871 kaufte Johann Hoff weitere Grundstücke in dessen Nachbarschaft. Das betraf erst einmal Louisenstraße 2. Die Mälzerei sollte dadurch erweitert, weiterer Lagerraum geschaffen werden. Wichtiger aber noch war die dortige Schaffung eines neuen Gartens und gleich zweier große Bierlokale. Ergänzt wurde diese Phase des Geschäftsausbau mit einem großen Gelände in Potsdams Bertinistraße 5-6, nördlich des späteren Schlossses Cecilienhof gelegen, zwischen den späteren Villen Strack und Mendelssohn Bartholdy. Bei der Villa Bertini wurde Eis gewonnen und gelagert, das mehr als 20.000 m² große Gelände sollte zu einem Malzkurort umgewandelt werden. Daraus wurde nichts, ebenso wie der Ausbau eines großes, nach Hoffs Auskunft für 50 Häuser ausreichenden Terrains in Charlottenburg.

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Wachsendes Angebot und neue Betriebsstätten: Werbung für Malzseifen und Malzpomade (Schwäbischer Merkur 1872, Nr. 298 v. 15. Dezember, Beil. n. 1298)

Im März 1872 erwarb Hoff dann weitere Grundstücke zur Arrondierung des Besitzes in der Louisenstraße, nämlich die angrenzenden Häuser Louisenplatz 7 und das Eckhaus Louisenstr. 1 (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 138 v. 22. März, 9). Der Komplex sollte als ganzer entwickelt werden, einerseits Lager- und Kühlräume bündeln, anderseits Platz für eine großen Ausschankstätte inklusive Biergartens bieten (Altonaer Nachrichten 1872, Nr. 219 v. 18. September, 2). Dieser Plan schien unwiderstehlich: „So sehen wir im Johann Hoff’schen Weltgeschäft ein Rad in das andere greifen und einen Gesammt-Mechanismus erzeugen, dessen Großartigkeit einzig und allein dasteht“ (Berliner Börsenzeitung 1872, Nr. 418 v. 7. September, 7-8, hier 8).

Dennoch veränderte Johann Hoff dieses Räderwerk des sicheren Erfolgs im Dezember 1872: Er kaufte drittens das in der Nähe von Spandau gelegene Schloß Ruhwald (Ebd., Nr. 604 v. 25. Dezember, 7). Und sogleich präsentierte er diesen Ort als neuen Eckstein seiner Mission Deutscher Porter. Er habe „von der unter Quistorps genialer Leitung so vortrefflich blühender Westendgesellschaft das von dem Herrn von Schäfer-Voit [sic!] in der Nähe des Spandauer Bockes erbaute und allen Berlinern wohlbekannte Schloß Ruhwaldsruh nebst einem großen Länderterrain angekauft“ und werde „nun an dieser Stelle für die Sommermonate ein Ausschanklokal des Deutschen Porterbieres errichten, welches für 10,000 Gäste ausreichenden Platz haben wird. Das himmlisch schön gelegene Etablissement wird wie ein Volksgarten eingerichtet werden und es besteht die Absicht, daselbst allwöchentlich regelmäßig prachtvolle Feuerwerke und Concerte abhalten zu lassen“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 2 v. 3. Januar, 14). Hoff hatte seine Karten werbeträchtig ausgebreitet, doch unbefangene Beobachter dürften den blinden Fleck gleich vermerkt haben. Der Geschäftsplan war auf massives Wachstum ausgelegt, doch es fehlten neue Braustätten. Sie sollten – so immer wieder zwischendurch erwähnt – erst in der Louisenstraße, dann bei Schloß Ruhwald gegründet werden. Doch Hoffs Aktivitäten setzten andere Schwerpunkte: Zuerst die Popularisierung des neuen Deutschen Porters, dann die Vergrößerung des Absatzes per Versandgeschäft, in den Ausschanklokalen, im Ausflugslokal. Und so ging Hoff denn an die Umsetzung seiner ambitionierten Pläne.

Deutscher Porter als neues deutsches Nationalgetränk

Die neuen Gaststätten sollten noch Anfang 1873 dem allgemeinen Ausbau des Hoffschen Brauereigeschäftes dienen. Malzextrakt war dafür nicht geeignet, die Kunden sollten dieses Gesundheitsbier ja entweder mehrfach täglich aus kleinen Weingläsern trinken – oder den Flascheninhalt erhitzen und es als Kurgetränk nutzen. Malzextrakt war ein häusliches Getränk, daher bedurfte es neuer Biersorten. Von Deutschem Porter wurde seit im Mai 1872 gesprochen, im Vorfeld der angekündigten Grundsteinlegung war von „einer Bayerisch-Bierbrauerei (resp. Deutschen Porter-Bierbrauerei) mit Ausschank und Garten“ die Rede (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 240 v. 26. Mai, 9). Über das neue Bier hielt man sich bedeckt, denn bayerisches Bier und deutscher Porter galten als Gegensätze, mochten sie auch beide untergärig herstellbar sein. Dieser Dualismus prägte noch die reichsweite Ankündigung, die „Porter- und Bairisch-Bierbrauerei“ am 1. Oktober zu eröffnen (Bielefelder Wochenblatt 1872, Nr. 103 v. 29. August, 2). Das neue Etablissement – die Blickrichtung war stets die Gaststätte – würde die Reichshauptstadt weiter verschönern und durch die Porter-Brauerei „eine abermalige industrielle Superiorität über die anderer Städte des deutschen Reiches“ erlangen (Westfälischer Merkur 1872, Nr. 227 v. 23. August, 3). Zugleich begann verbal die Mission Deutscher Porter: „Der englische Porter wird nun wohl seinem deutschen Rivalen weichen müssen, besonders da wir endlich zu der Einsicht gekommen sind, daß Deutschland bezüglich seiner Fabrikate dem Auslande in keiner Hinsicht nach zu stehen braucht“ (Hannoverscher Courier 1872, Nr. 5671 v. 24. August, 3). Ab September kippte die Hoffsche Werbung dann vollends in Richtung Deutscher Porter. Spötter kommentierten: „Der Malzextract zieht gewiß nicht besonders mehr, darum ein anderes Bier!“ (Volksblatt für den Kreis Mettmann 1872, Nr. 70 v. 31. August, 3)

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Auftragsannahme für den „Berliner Porter“ – ein Werbeversprechen (Hamburger Nachrichten 1872, Nr. 232 v. 29. September, 9)

Die Anzeigen unterschieden sich deutlich von dem seit 1857 gepflegten Werbestil. An die Stelle einer Abfolge scheinbar nicht versiegender Dank- und Empfehlungsschreiben trat eine für diese Zeit völlig neuartige Werbekampagne. Die Inserate boten eine Art redaktionellen Text, eine Fortsetzungsgeschichte mit immer neuen Ergänzungen und Neuigkeiten. Werbung war für Johann Hoff seit jeher Teilhabe der Kunden an seinem Erfolg, an der Qualität seiner Produkte. Nun aber gewann der Geschäftsplan Gestalt, wurde in immer neuen Facetten öffentlich ausgebreitet. Die Anzeigen wurden parallel in den Berliner Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, nur selten wiederholt. Der Inhalt glich einer Abfolge von Fanfarenstößen. Zugleich aber berichtete man inhaltlich über die Fortschritte und Pläne, ermöglichte den Kunden dadurch Teilhabe. Die Werbung für Deutschen Porter war nicht mehr länger produktzentriert, sie zielte auf die Seele des Kunden, auf seinen Stolz als Deutscher, als Zeitgenosse des allgemeinen Aufstieges. Die Aufforderung zur kommerziellen Teilhabe war Teil eines Plebiszits für einen Prozess, der dank Johann Hoffs Voraussicht, der Größe seines bereits bestehenden Geschäftes und der herausragenden Qualität seines Deutschen Porters sich ohnehin durchsetzen würde. Es galt, einer imaginären Kraft zu folgen, die wie die Eisenbahnen und Dampfschiffe der neuen Zeit ihren Stempel aufdrücken würde.

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Anzeigen in Form von Fortsetzungsgeschichten (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 416 v. 6. September, 4 (l.); Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 152 v. 31. Dezember, 4)

Deutscher Porter bildete von September 1872 bis Ende April 1873 denn auch den begrifflichen Kern der Hoffschen Bier- und Gaststättenwerbung. Lange stand im Keller des Stammsitzes ein großes Bierfass mit der Inschrift „Weil es der Industrie in Preußen Ehr’ gebracht, / drum ward dem Bier zur Ehr‘ / das große Faß gebracht.“ Im Mai 1872 wurde es in werbeträchtigem Umzug in die Louisenstraße verfrachtet – und nun trug es die sloganhaften Worte: „Ruhmvoll besiegt / Deutsches Porterbier / Englisch Porter hier!“ Nun galt es, das neue Getränk vorzustellen.

Erstens sollte der Deutsche Porter ein neues Nationalgetränk der Deutschen werden. Johann Hoff knüpfte an die damals (und noch heute) weit verbreiteten Stereotypen über Völker und die sie charakterisierenden Getränke an: Wodka dem Russen, Tokayer dem Ungarn, dem Franzosen sein leichter Bordeaux. Deutschland sei dagegen ein Bierland. Doch „Bier“ sei wandelbar, müsse sich einem sich wandelnden Volk anpassen: „Wir haben im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts vor den Augen der Welt eine große, gewaltige Umwälzung vollzogen, wir sind vollgewichtiger, kräftiger, imponirender geworden, ganz in derselben Weise, wie unser Nationalgetränk, das Bier“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 534 v. 14. November, 7-8 – auch für das Folgende). Noch vor 40 Jahren sei Weißbier das hiesige Nationalgetränk gewesen, „das Symbol der Ruhe, des Friedens.“ Dann folgte das bayerische Bier: „Der starke, kräftige, braune Trunk war das Symbol der Thatkraft, des Wirkens, des Ringens im Leben, welches ja auch oft mit Bitterkeit gemischt ist. So verging wieder eine Reihe von Jahren und wir Deutsche wurden mit unserem Nationalgetränk großgesäugt, wir nahmen zugleich mit ihm auch diejenigen Eigenschaften an, deren Symbol es ist.“ Doch der Sieg gegen Frankreich hatte die Machtfrage geändert – und damit auch den Charakter der Deutschen: „Wohl sind unsere Grundzüge unverändert geblieben, aber rastlos, athemlos ist unser Aller Thätigkeit im neuen Deutschen Reiche! Wir stehen mitten in der schäumenden Brandung! Wir sind jetzt bis zu dem Moment gekommen, wo unser unaufhörlich arbeitendes Gehirn, unsere stählernen Nerven anderer stärkerer Anregungen bedürfen, als sie uns unser bisheriges Nationalgetränk verschafft!“ Deutscher Porter sei dieses neue Getränk, es repräsentiere eine Nation, die mit England konkurrieren könne. Es sei kräftig und dunkel, nährend und anregend, eine Abkehr von „dem leichten, hellen, dünnen, süßsäuerlichen Getränk vergangener Decennien“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 149 v. 21. Dezember, 3). Diese Aussagen sind doppelt bemerkenswert, denn einerseits war der Trend hin zum „bayerischen“ gerade in Berlin besonders ausgeprägt, anderseits bot Hoff selbst dieses hellere Gebräu an.

Zweitens sei der Deutsche Porter auf friedliche Konkurrenz ausgerichtet, eine Kampfansage an ein Kernprodukt des Welthegemons Großbritannien. Der Konsum des Neuen würde erst einmal helfen, die Importe in Höhe von zwei Millionen Talern zu beenden. Dann aber werde es „nicht nur in unserem Vaterlande, sondern über die Marken desselben hinaus, über das englische schließlich den Sieg davontragen“ (Ebd., Nr. 109 v. 19. September, 4). Als Getränk einer wettbewerbsfähigen und letztlich siegreichen Nation sei es zugleich aber klassenübergreifend, binde alle Schichten in die gemeinsame Anstrengung ein. Der Preis erlaube auch Unbemittelten regelmäßigen Konsum (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 538 v. 16. November, 7), ermögliche es als „Lieblings- und Hauptgetränk selbst der weniger Bemittelten“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 104 v. 7. September, 4). Deutscher Porter war konservative Sozialpolitik, ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage.

Drittens aber vermittelte die Werbung schon lange vor dem ersten Anstich eine Idee des Bieres selbst. Als Nationalgetränk war die Meßlatte hoch gelegt worden – und der Deutsche Porter war „feurig und perlend, stark und kräftig, dunkel und schäumend“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 534 v. 14. November, 7-8, hier 7). Der Geschmack sei milder als der des englischen Produktes. Dieses galt zwar als Vorbild, doch die Importware habe einen „sauren, scharfen, oft widerlich bittern Geschmack“. Deutscher Porter hebe sich davon ab, sei „ein mildes angenehmes, weder kratzendes noch Husten erregendes Getränk, welches voll und gewichtig das Blut durch unsere Adern treibt und an bluterzeugender Kraft vielleicht seines Gleichen sucht. An Farbe ist es dunkel und braun, es schäumt in jenem festen soliden weißen Schaume, der nicht lockere Blasen antreibt und das Kennzeichen eines vorzüglich guten Bieres ist. Es wirkt für den Körper nahrhaft und für den Geist anregend. Es verdirbt nicht unseren Magen noch vergiftet es unsere Säfte durch schädlich Substanzen wie andere Porterbiere. Es rinnt mit einem milden Feuer die Kehle hinab und erweckt das größte Wohlbehagen des Leibes und des Geistes!“ (beide Zitate n. Ebd., Nr. 538 v. 16. November, 7) Deutscher Porter war ein Wunschbier, ein Labetrunk, auf dem Papier unerreicht.

Viertens wiederholten die Hoffschen Anzeigen eine Reihe rationaler Argumente für den Kauf, für den Trank. Der Preis sei mit 2½ Sgr. pro Flasche nur leicht höher als bei Standardbieren; und deutlich niedriger als bei englischen Importen. Die Transportkosten seien gering, Zölle fielen weg. Die Qualität des Deutschen Porter sei höher, da der langwierige und vom steten Wellengang geprägte Seetransport das englische Produkt schädige. Auch aus nationalen Gründen schienen deutsche Kunden verpflichtet, das preiswertere und bessere Hoffsche Getränk zu kaufen. Schließlich klang immer wieder die Größe der „Weltfirma“ an, die anders als die bisherigen deutschen Porterbrauer in der Lage sei, mit den Engländern zu konkurrieren: „Denn an den meisten größern, nach vielen Tausenden zählenden Orten hat Herr Johann Hoff seit fast 30 Jahren einen festen, sicheren, reellen Kundenkreis sich geschaffen, dem er sein Fabrikat ohne Weiteres zusendet und es dadurch in demselben Augenblicke schon fast in den entferntesten Theilen der Erde eingeführt und eingebürgert, wo in Berlin selbst, dem Orte der Fabrikation, vielleicht noch keine Flasche öffentlich verkauft worden ist“ (Ebd., Nr. 560 v. 29. November, 11).

Fünftens prägte die Anzeigen der schrille Klingklang des Erfolgs. In Berlin war noch keine einzige Flasche verkauft worden, da hieß es triumphal: „Mit dem Moment, wo das Johann Hoff’sche Deutsche Porterbier ans Licht der Welt getreten ist, hat es sich auch nicht nur über alle Städte Deutschlands, nicht nur über alle Staaten Europas, sondern fast über alle civilisirten Länder der Welt verbreitet“ (Ebd.). Mögliche Kritik versuchte man im Vorfeld zu entkräften, denn die Malzfabrikate hätten sich doch „über alle bewohnten und civilisirten Theile unserer Erde“ verbreitet. Dieses Vertriebsnetz werde man nutzten – nicht, um angesichts des sinkenden Malzextrakonsums andere Pferde zu reiten, sondern um auf Grundlage globalen Erfolgs eine weitere Mission anzugehen (Ebd., Nr. 594 v. 18. Dezember, 8).

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Kritik an Hoffs Werbung und „Schwindel“ (Frankfurter Latern 9, 1873, 214)

Hoffs Argumente einer globalen Mission des Deutschen Porters trafen vorhersehbar auf Widerspruch. Wie, um Gottes willen, wollte der Berliner Brauer die behaupteten Transport-, Qualitäts- und Zollvorteile bewahren, wenn er mit seinem neuen Bier in der Ferne mit englischem Porter konkurrieren würde? Nicht in Frage gestellt wurde allerdings Johann Hoffs Fähigkeit, eine solche Kraftanstrengung national und international anzugehen. Dabei gab es abseits Cisleithaniens kein wirklich dichtes Absatznetz. Gewiss, es gab Depots und Großhandelsdependancen in Westeuropa, auch in Russland. Hoffs Malzextrakt wurde per Versand verkauft, ihn gab es in Drogerien, Bier- und Feinkosthandlungen. Doch ein straffes Vertriebsnetz fehlte, ebenso Gebietskonzessionen im In- und Ausland – und dieses war für den Absatz von Deutschen Porter daher auch nicht zu nutzen. Selbst in Österreich-Ungarn, dem wichtigsten Auslandsmarkt, wurden die neuen Biere nicht angeboten – und anders als beim Malzextrakt wurde über Deutschen Porter, gar ein neues Nationalgetränk in der K.u.K.-Monarchie nicht diskutiert. In der Schweiz wurde vereinzelt Werbung für Deutschen Porter geschaltet, doch mehr als eine Kuriosität war er dort nicht (Das deutsche Porterbier, Der Bund 1873, Nr. 110 v. 22. April, 6).

Johann Hoff nährte die Idee weltweiter Präsenz allerdings mit regelmäßigen Erfolgsnachrichten über den Export großer Mengen Malzextrakt, etwa nach Holland oder Russland (Hannoverscher Courier 1872, Nr. 5792 v. 4. November, 3). Typisch war die Notiz über einen japanischen Agenten, der nach einer Probe gleich hunderttausend Flaschen für sein Heimatland orderte (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 31 v. 15. März, 4; Saazer Hopfenzeitung und Lokal-Anzeiger 1873, Nr. 53 v. 3. Juli, 2). Da zeitgleich japanische Studenten in Berlin und Weihenstephan als Brauer ausgebildet wurden, war das grundsätzlich denkbar (Jeffrey W. Alexander, Brewed in Japan. The Evolution of the Japanese Beer Industry, Vancouver 2013). Doch eine Parallelüberlieferung fehlt – und angesichts nachgereichter Exporterfolge in der Türkei, gar der Nachricht von einem ablehnten Angebot, eine „Malzbrauerei“ in London zu errichten, dürfte es sich eher um Wünsche gehandelt haben (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 93 v. 14. August, 4; ebd., Nr. 96 v. 21. August, 4)

Neue Ausschanklokale, neues Bier: Neue Wilhelmstraße und Louisenstraße

Doch blicken wir stattdessen auf die Geschehnisse vor Ort. Johann Hoff hatte die Eröffnung seiner beiden neuen Ausschanklokale am Stammsitz Neue Wilhelmstraße und am umgestalteten Komplex der Louisenstraße anfangs für den 1. Oktober und dann den 1. Dezember angekündigt, ebenso, mit etwas anderen Terminen, den Beginn des lokalen Liefergeschäftes: Am 25. Dezember war es dann so weit, das Geschäft mit dem Deutschen Porter begann.

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Das Warten hatte ein Ende: Eröffnungsanzeigen vor Weihnachten (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 600 v. 22. Dezember, 7 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1872, Nr. 301 v. 24. Dezember, 15)

Betrachten wir zuerst das von Hoff ausgiebig belobige Interieur beider Gaststätten. Am Stammsitz hatte er den an der Spree gelegenen Eckladen mit dem Nebenraum zu einem chinesischen Boudoir umgestaltet: „An allen Stellen von den Wänden herab blicken ihn [den Besucher, US] die langzöpfigen Söhne und Töchter des himmlischen Reiches an und eine reiche chinesische Landschaft dehnt sich vor seinen Augen aus. Das Lokal ist bereits aus des Künstlers Hand fertig hingestellt und wartet nur noch des Tages, wo es unter der Obhut eines tüchtigen Oekonomen den Deutschen hier mitten in China die braune Fluth des schäumenden deutschen Porters neben den dampfenden Würstchen oder dem duftenden Beefsteak darreichen wird, vielleicht in demselben Augenblicke, wo im fernen, wirklichen himmlischen Reiche China das erste deutscher Porter im Hafen landet und die langzöpfigen Mandarinen dann mit uns zugleich ein Glas trinken werden zum Lobe der deutschen Industrie, welche mit ihren Produkten die Meere durchfurcht und die fernsten Länder überfluthet“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 588 v. 15. Dezember, 8). Exotik sollte offenbar locken, die Mischung war ein Nebeneinander des Eklektischen – doch das galt auch in den damaligen gehobenen Weinrestaurants, die vermeintliche Nationalgerichte nebeneinander darboten, in denen Pressglas und Furnier ein Ambiente scheinbarer Größe schufen.

Weitaus wichtiger als die Aufhübschung des Stammsitzes war der neu erworbene und ausgestattete Komplex an der Louisenstraße, der bei seiner Grundlegung über 2000 Gäste beherbergen sollte (Ebd., Nr. 240 v. 26. Mai, 9). Hier sollte ursprünglich eine zweite Porterbrauerei entstehen, die derweil in Betrieb gegangen sein sollte (Ebd., Nr. 582 v. 12. Dezember, 7). Gleichwohl stammte bei der Eröffnung der Deutsche Porter aus der Stammbrauerei.

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Lage und Umfeld des Hoffschen Brauerei- und Gaststättenkomplexes Louisenstraße (Droschken-Wegemesser (berliner-stadtplansammlung.de)

Wie sah es nun vor Ort aus, in der „Hofbrauerei Friedrich-Wilhelmstadt“? Die Werbung versprach viel: „Der ganze Bau ist ein Meisterwerk und mit fabelhafter Schnelligkeit in wenigen Monaten hergestellt worden. Das Ganze zerfällt in fünf Räume, von denen zwei nach hinten und höher gelegen sind und als lichte, hübsch decorirte Glashallen den Garten des Etablissements umschließen. Die anderen drei mit den Hallen verbundenen Räume sind der mit Oberlicht versehene Mittelsaal und seine beiden Seitenhallen. Der Styl der neuesten italienischen Renaissance, in dem das Ganze erbaut wurde, bringt sich namentlich in der feindurchdachten reichen Ornamentik der Decke zur Geltung, während das Mobiliar, die festen, schweren, eichenen Tische, die soliden, dauerhaften und mit dem Namenszuge J.H. versehenen Stühle, sowie das kunstvoll geschnitzte Büffet sich dem Uebrigen würdig anreihen. Die Wandbilder ringsum in den Seitenhallen zieren die in reich vergoldeten Rahmen befindlichen Bilder der sämmtlichen Herrscher unseres Königshauses. Im Mittel-Saale befinden sich zwei Bilder: Wilhelm I. als Deutscher Kaiser und als Preußens König. Das berühmte große, von Weber in Berlin erbaute Faß befindet sich vorm am Eingang des Gartens, wo es die Blicke der sämmtlichen Besucher fesselt“ (Ebd. 1873, Nr. 23 v. 15. Januar, 9). Der an einen Restaurateur verpachtete Betrieb bot gängige Speisen und Platz für 500 Gästen. Im Ausschank waren Deutscher Porter und Hoffsches Kaiserbier (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577).

Folgt man der Hoffschen Werbung, so war die Eröffnung ein kolossaler Erfolg. 35.000 Flaschen Deutscher Porter seien während der ersten zwei Tage getrunken worden, die Räume waren überfüllt, Tausende fanden keinen Einlass mehr. Alle Stände waren vertreten, „da es sich um ein Nationalgetränk handelte und der Erfolg der deutschen Industrie gegenüber derjenigen Englands gesichert werden mußte. England hat uns lange genug sein Porter geschickt, wofür es unsere Millionen einsackte, nun haben wir eigenes Porterbier im eigenen Lande, und es ist eine That des deutschen Patriotismus, des deutschen Nationalgefühls, uns dessen zu freuen“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 152 v. 31. Dezember, 4 – auch für das Folgende). Doch der Appell an nationale Pflichten unterstrich, dass etwa schief gelaufen war. Das konnte man selbst zwischen den Zeilen der Anzeigen lesen. Deutscher Porter wurde günstig beurteilt, „namentlich“ von Kennern – und „mißgünstige Bemerkungen neidischer Konkurrenten“ wurden zumindest erwähnt. Das sei Teil erwartbarer und notwendiger Kämpfe gegen fremdländische Erzeugnisse, „aber wir Deutsche werden endlich doch siegen und in der Industrie das erste Volk der Erde werden“.

Ein realistisches Bild findet sich ausgerechnet in einer der mit Daueranzeigen Hoffs bedachten Presseorgane. Das lapidare Fazit zeugte von einem Fiasko, von Großtönerei und grauem Alltag: „Das Local in der Wilhelmstraße an der Weidendammerbrücke ist wenig geräumig und unansehnlich, dagegen ist der in der Louisenstraße 2 erbaute Saal der Residenz würdig. Namentlich fesselt dort die Besuchenden das große, prächtig ausgestattete Porterbierfaß. Für den Sommer wird der dort vorhandene kleine Garten aber schwerlich ausreichen. Das Porterbier traf auf eine sehr gemischte Stimmung der Gäste. Nicht der Preis des Glases mit 2½ Sgr., sondern die große Jugend des Bieres wurde übel bemerkt. Gewöhnliches bayerisches Bier, das dort auch geschenkt werden soll, wurde in den Feiertagen noch nicht verabreicht“ (Ebd., 3).

Das galt auch für das parallel anlaufende Liefergeschäft in Berlin. Schon lange zuvor hatte man von den für sechs Monate ausreichenden ausländischen Großaufträgen berichtet (Ebd., Nr. 127 v. 31. Oktober, 4), vom unausgesetzten Brauen (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 582 v. 12. Dezember, 7). Noch unmittelbar vor dem Ernstfall der Lieferung verwies man auf den in der Provinz seit Monaten laufenden Verkauf und die fehlenden eigenen Braukapazitäten. Das sei Ausdruck immenser Nachfrage, und man wüsse nicht „wo das hinausführen soll, wenn es nicht gelingt, noch eiligst einige Brauereien des Johann Hoff’schen Deutschen Porterbieres einzurichten, was allerdings lebhaft betrieben wird“ (Ebd., Nr. 596 v. 20. Dezember, 11).

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Notbremse angesichts von Qualitätsmängeln (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 4 v. 5. Januar, 32)

Schon kurz nach Beginn der Lieferungen stoppte man das Geschäft teilweise. Der mittlerweile zum „munteren Portersieder“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 2, 1) stilisierte Johann Hoff reagierte damit auf die mangelhafte Qualität seines Deutschen Porters. Er war bestenfalls nicht lange genug gelagert worden, erinnerte viele an einfaches Lagerbier mit Farbstoff und Geschmackszusätzen. In der Werbung klang dies gänzlich anders, denn der große Absatz in den Ausschanklokalen sei klein angesichts „der enormen Anzahl von Flaschen, welche in dem in der Neuen Wilhelmstraße 1 gelegenen Verkaufslocale abgesetzt werden, theils durch direkten Verkauf an solche Kunden, welche das Bier gleich abholen lassen, theils an Andere, welche mündlich oder brieflich Bestellungen auf Porter machen. So haben seit dem Beginn dieses Jahres allein in Berlin drei Wagen in Betrieb gesetzt werden müssen, welche unaufhörlich vom frühen Morgen bis zum späten Abend den Kunden das Johann Hoff’sche Deutsche Porterbier zufahren“ (Ebd. 1873, Nr. 15 v. 10. Januar, 8). Der Deutscher Porter sei ein Erfolg, habe sich als neues Nationalgetränk „bereits bei dem größten Theile der hauptstädtischen Familien so sehr eingebürgert, daß der Fabrikant bei Weitem nicht im Stande ist, selbst nachdem die doppelte und dreifache Anzahl von Wagen in Betrieb gesetzt worden sind, um das Bier nach den Haushaltungen zu fahren“ (Ebd., Nr. 33 v. 21. Januar, 10). Hoff versprach rasche Lieferungen, denn alle sollten sein Bier testen können, „sei es im Palast oder in der Hütte“ (Ebd., Nr. 15 v. 10. Januar, 8). Dies gelang in der Folgezeit – nicht zuletzt aufgrund der recht geringen Bestellungen. Da half es auch nicht, dass man das neue Bier zeitweilig wie den Malzextrakt anpries, indem man auf lobende Urteile von Kennern verwies – ohne sie aber zu veröffentlichen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 12 v. 30. Januar, 4).

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Preise für die lokale Zustellung aller neuen Biere Johann Hoffs (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 98 v. 27. April, 22)

Gegenwind: Verzögerungen, schlechter Geschmack und der Eindruck des Nepps

Die Bewertung des Geschmacks eines vor mehr als 160 Jahren ausgeschenkten Getränkes birgt natürlich Probleme, gab es damals doch noch keine Sensorik, keine einschlägig definierte Sprache, war der Sinneseindruck subjektiv. Beim Hoffschen Deutschen Porter waren sich die Zeitgenossen jedoch einig: Es schmeckte schlecht, reichte nicht ansatzweise an das englische Original an, erreichte auch nicht die damalige Qualität hierzulande produzierter Porterbiere englischer Art. Nüchtern bilanzierte der Mediziner Shephard Thomas Taylor (1840-1936): „Wenn es jemals eine gefälschte Imitation gab, dann war es zweifellos das englische Porter-Bier von Johann Hoff. Deutsche und Engländer waren gleichermaßen unzufrieden damit und kehrten der neuen Brauerei entschlossen den Rücken. Ich selbst trank ein Glas und bestellte nie wieder eines. Wenn ich mir eine Vermutung über die genaue Zusammensetzung erlauben darf, würde ich sagen, dass es sich um gewöhnliches deutsches Bier handelte, das mit Lakritz gesüßt war. Wie ein so kluger Mann annehmen konnte, dass die Berliner Öffentlichkeit ein solches Getränk durch noch so viel Werbung gut finden würde, ist schwer zu verstehen“ (Reminiscences of Berlin during the Franco-German War of 1870-71, London 1885, 224 – eigene Übersetzung).

Zeitgenössisch war der Deutsche Porter schon kurz nach dem ersten Ausschank gebrandmarkt, Ende des Frühlings fielen Hemmungen gegenüber dem wichtigen Anzeigenkunden zunehmend weg. In den Berliner Wespen kokettierte eine Bildgeschichte mit „Unwohlsein“ nach dem Genuss von deutschem Porter (6, 1873, Nr. 21, 4). Im Kladderadatsch sandte der just zum Besuch in Berlin weilende Schah von Persien einem nicht getöteten Verwandten eine Flasche Deutschen Porterbiers, denn das sei Mord im Schenkungsgewande (26, 1873, Nr. 266, Beibl. 2, 1). Und in der Tribüne bekam der Autor des damals verbrochenen Pressegesetzes kein Weißbier ausgeschenkt – und man mutmaßte, dass er sich jetzt aus „Verzweiflung […] dem deutschen Porterbier ergeben“ würde (Neues Fremden-Blatt 1873, Nr. 166 v. 18. Juni, 3).

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Schlechter Porter und Infektionsgefahren auf Schloß Ruhwald (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 32, 4)

Sarkastischer Spott dieser Art traf, muss jedoch auch vor dem Hintergrund des insgesamt schwindenden Geschmacks der Biere gesehen werden. Die Aktienbrauereien sicherten sich Braustätten und Ausschanklokale, verpflichteten Wirte zum Absatz allein ihrer Angebote: „Die Qualität des Bieres wird unter diesen Umständen immer erbärmlicher, wenn anders eine Verschlechterung der ‚Dividendenjauche‘ noch möglich ist“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 462 v. 4. Oktober, 8). Ökonomisch war dies ein nicht nur von Johann Hoff betriebenes zynisches Setzen auf das damals allgemein akzeptierte Saysche Gesetz. Jedes Angebot findet seine Nachfrage, schlechtes Bier war eben besser als kein Bier: „Der biedere Bürger sieht verwunderungsvoll / Und weiß nicht, was vom Bier er sagen soll, / Er nippt am Glas und seufzt voll tiefer Trauer; / Erst’s zweite Glas, schon packt mich tiefer Schauer! / Wer hätte das vor 20 Jahr’n gedacht, / Daß man aus solcher Schmier je ‚Biere‘ macht? / Da knallt der Spund; ein Geist ruft aus dem Loch: / ‚Warum so jammern Freund? / Du saufst es doch!“ (Echo der Gegenwart 1874, Nr. 223 v. 15. August, 6) Bezeichnend, dass Hoff seinen Porter als hochwertige Alternative zur „Mangelhaftigkeit der eingeführten fremden Biere“ bewarb (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 209 v. 6. Mai, 8).

Werbung für ein schlechtes Produkt

Wie wirbt man für ein schlecht schmeckendes Bier, dessen Produktion hohe Investitionen verschlungen hat, von dessen Erfolg die eigene wirtschaftliche Zukunft abhängt? Johann Hoff verfolgte ab Januar 1873 eine fünfteilige Strategie, da ein Produktionsstopp das Vertrauen auch zu seinen Malzprodukten weiter unterminiert hätte und Qualitätsverbesserungen Zeit brauchten.

Erstens gewann die nationale Note der Werbung an Bedeutung. Hoffs Unternehmerkarriere war eng mit einem offensiven Bekenntnis zu Herrscherhaus und Nation verbunden gewesen. Er war Patriot, unterstützte die preußischen Soldaten, vergaß aber die österreichischen nicht vollständig (Stettinger Zeitung 1866, Nr. 564 v. 4. Dezember, 3). Seine Malzpräparate präsentierte er stetig als Blätter im „Ehrenkranze deutscher Industrie“ (Kujawisches Wochenblatt 1867, Nr. 22 v. 18. März, 3). Deutscher Porter war nun Ausdruck deutscher Schaffenskraft, deutschen Genies: „Was wär’s, das Deutsche Industrie / Nicht auch zu Stand brächte? / Wo wär‘ das Wunder von Genie, / Das uns beneiden möchte? – / Was England lange, lange Zeit / Gehalten für Unmöglichkeit, / das sieht’s par excellence nun hier: / Ein Hoch dem Deutschen Porterbier! / Dem Reichen nur, wie Jeder weiß, / War Porter eine Labe, / Denn England hielt gar hoch den Preis / Für solche Wundergabe; / Doch heut ein jeder Deutscher Mann / Am Porter sich erquicken kann. / Der Wunderquell, er sprudelt hier: / Ein Hoch dem Deutschen Porterbier!“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 81 v. 18. Februar, 9) Bier wurde weiter historisiert, zum Nationalgetränk der „alten Deutschen“ stilisiert (Ebd., Nr. 75 v. 14. Februar, 9). Es galt als Kennzeichen der Völker germanischen Ursprungs, grenzte diese ab von den Weintrinkern des Südens und Westens. Bier war deutsche Mission, deutsche Kulturtat: „Und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag, überall, wo der Deutsche auf Erden hingekommen ist, hat er sein Bier mitgenommen und dort eingeführt und dadurch die Verbreitung dieses Getränkes unendlich gefördert“ (Ebd., Nr. 241 v. 27. Mai, 8). Und auch der Porter würde endlich deutsch werden – sein Konsum sei daher nationale Pflicht im In- und Ausland, denn er sei Bannerträger deutscher Industrie.

Zweitens veröffentlichte Johann Hoff erstmals chemische Analysen, um allen Kritikern die Güte des Porter vor Augen zu führen: Der Alkoholgehalt betrug 5,1%, Pflanzenfarbstoff war enthalten, 8% stickstoffhaltige Nährstoffe gaben ihm Nährwert. Deutscher Porter enthielt mehr Malzextrakt als sein englisches Pendant (Theobald Werner, Wissenschaftliches Gutachten über das Johann Hoff’sche ‚Deutsche Porterbier‘, Ebd. 1873, Nr. 85 v. 20. Februar, 9). Hoff behauptete, dass sein Deutscher Porter „mit ganz besonderer Sorgfalt gelagert“ werde und „weder zu jung noch überreif zum Ausschank“ gelange (Ebd., Nr. 109 v. 6. März, 9). Damit wurde indirekt eingestanden, dass die Markteinführung zu früh erfolgt war. Zweifelhaft, dass die Kunden ein „höchst liebliches Aroma“ schmeckten (Ebd., Nr. 169 v. 10. April, 9).

Drittens wurde der Tenor der Werbung beibehalten, Erfolgsmeldungen weiterhin verkündet. Doch es war schwierig, Hybris und Lobhudelei stetig und zugleich sensationsstark fortzuführen. Die Nachteile des englischen Porters wurden weiterhin hervorgehoben (Ebd., Nr. 43 v. 26. Januar, 10), die Weltgeltung des Deutschen eifrig beschworen. Erfolgsgeraune war allzeit präsent, so auch, dass sich das neue Getränk allseits verbreitet habe „wie niemals zuvor irgend ein anderes Product heimischer Industrie“, dass es „in fast allen Nachbarländern Deutschlands seinen siegreichen Einzug gehalten“ habe und große Sendungen nach Polen, Rußland und Österreich, ja auch nach Skandinavien versandt wurden“ (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 70 v. 23. März, 15). Der Porter sei feurig und milde zugleich, „das reinste gesündeste Gebräu der Welt“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 21 v. 20. Februar, 4). Die Werbung raunte vom neuen „Lieblingsgetränk ganzer Generationen“, „welches nur aus den besten Bestandtheilen, dem vorzüglichsten Malz, dem schönsten Hopfen stark eingebraut und in stets gleichbleibender Güte […] hergestellt“ werde (Ebd., Nr. 41 v. 8. April, 4). Dem öffentlichen Spott hielt man entgegen, dass ein Johann Hoff sich „nur mit ganz vorzüglichen Ideen“ beschäftige, er „dem Publikum nur das Beste vom Besten“ geben wolle. Ihm und seinem Porter müsse man einfach vertrauen (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 60 v. 11. Februar, 9). Werbung als Fortsetzungsroman der Eitelkeiten.

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Bestellungen nur am Stammsitz und ein neuer Konzertort (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 195 v. 27. April, 16 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 104 v. 4. Mai, 16)

Viertens veränderte man parallel das Angebot in der Louisenstraße, während das chinesische Ecklokal am Stammsitz nicht mehr weiter erwähnt wurde. Die seit langem angekündigte neue Porterbierbrauerei wurde nur nominell in Angriff genommen, der Lieferdienst auf den Stammsitz zurückgeführt. Neben den Deutschen Porter trat nun vermehrt Bayerisches Bier, auch Bockbier und Ale waren im Ausschank. Zugleich erweiterte man das Konzertangebot, glich sich damit der gängigen Praxis anderer Bierhallen an. Aus der Wiegestätte des Deutschen Porters wurde eine Bierhalle mit Chancen auf Amortisierung der Investitionskosten.

Fünftens aber verlagerte Johann Hoff die Werbung spätestens ab März zunehmend auf sein neues Ausflugslokal, das Schloß Ruhwald. Dort würde eine weitere Porterbrauerei, würde ein Vergnügungsort für Zehntausende entstehen, für die ganze Berliner Bevölkerung. Johann Hoff gab nicht klein bei, verfolgte seinen Geschäftsplan unbeirrt weiter. Zeitgenössischer Spott erreichte ihn nicht, etwa dass Deutscher Porter nicht schmecken wolle, wenn man in das Glas blicken würde (Vom bösen Blick, Berliner Wepsen 6, 1873, Nr. 5, 3). Er trug seinen Kopf oben, verfolgte weiterhin seine Mission.

Abseits von Berlin – Deutscher Porter als Versandware

Johann Hoff hatte seine Pläne eines neuen deutschen Nationalgetränks seit August 1872 reichsweit verbreitet. Geschehen aber war wenig, denn anders als verlautbart war sein Deutscher Porter abseits von Berlin kaum erhältlich. Mit dem Verkaufsbeginn, mit dem Ausschank in eigenen Lokalen änderte sich dies im Frühjahr 1873. Neuerlich wurde die Werbetrommel auch fern der Hauptstadt gerührt, etwa in Baden: „Was Ihr wollt! sagt Herr Johann Hoff in Berlin im neuen Jahr zu seinen Kunden. Er hat nämlich eine Bierhalle in der Louisenstraße gebaut, in welcher das beste bayerische Bier und englischer Porter geschenkt wird, so gut daß es manche Trinker sogar dem Malzextrakt vorziehen“ (Durlacher Wochenblatt 1873, Nr. 11 v. 25. Januar, 2). In der Ferne kannte man das Hoffsche Bier nur aus den Anzeigen, nicht aber spätere Warnungen Berliner Karikaturzeitschriften: „Hier schenkt man deutschen Porter! hieß ein Schild. / Das las ein kund’ger Trinker, ungeheuer / Vom Durst geplagt, allein er ganz wild: / Nein, auch geschenkt ist’s mir zu theuer!“ (Der Unbestechliche, Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 34, 3)

Insgesamt lief die Werbekampagne in der Ferne deutlich später an, mit etwa drei Monaten Abstand. Zugleich konzentrierte sich Hoff auf nur wenige Anzeigentexte, verzichtete auf den kommerziellen Fortsetzungsroman, der die hauptstädtischen Zeitungen füllte. Zugleich enthielten die Inserate wesentlich häufiger Preise. Das neue Bier wurde gemeinhin im noch nicht breit entwickelten Fachhandel angeboten, zudem konnte man es sich als Versandbier ins Haus liefern lassen. Doch auch abseits Berlins gab es Verzögerungen, so dass Hoff Ende Januar, Anfang Februar erst einmal Abbitte leisten musste – wie schon seit Anfang Januar in Berlin.

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Produktionsprobleme im Spiegel einer Massenanzeige (Zweibrücker Zeitung 1873, Nr. 29 v. 4. Februar, 4 (l.); Kölnische Zeitung 1873, Nr. 25 v. 25. Januar, 7)

Reichsweit bewarb man den Deutschen Porter und das eigene Lagerbier mit Verweis auf „massenhaft einlaufende Aufträge“. Die begehrten Bierinnovationen waren deshalb „nicht sofort lieferbar“ (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 27 v. 27. Januar, 2; Hannoverscher Courier 1873, Nr. 5928 v. 26. Januar, 4; Wittener Zeitung 1873, Nr. 12 v. 28. Januar, 4). Das Weltgeschäft wurde zwar beschworen, kam jedoch nicht recht ins Rollen.

Die Preise waren jedoch recht moderat, 12 Flaschen Porter oder Ale für einen Taler im bürgerlichen Milieu konkurrenzfähig. Und wahrlich: Ab Anfang März konnte grundsätzlich geliefert werden, wurde der Deutsche Porter auch abseits von Berlin vereinzelt ausgeschenkt.

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Hoffs Getränk in Essen (Essener Zeitung 1873, Nr. 56 v. 7. März, 4)

Hinzu trat ab spätestens April 1873 der Flaschenbierverkauf; wobei die Preise nun teils deutlich höher lagen. In Essen wurden beispielsweise 5 Sgr. für eine Flasche der knappen Ware gefordert (Essener Zeitung 1873, Nr. 115 v. 18. Mai, 4). Dennoch, der Verkauf schien offenbar anzurollen.

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Absatz in Aachen – fern von Berlin (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 95 v. 5. April, 3)

Der moderate Aufschwung wurde ab Februar durch Werbeanzeigen flankiert. Mittels der schon aus Berlin bekannten Anzeigen wurde dem englischen Porter der Kampf angesagt, der Deutsche Porter als friedliches Kampfmittel gegen den globalen Hegemon präsentiert (Bonner Zeitung 1873, Nr. 45 v. 14. Februar, Bl. 2, 2; Zweibrücker Zeitung 1873, Nr. 102 v. 2. Mai, 4). Der Porter erschien als „neues Nationalgetränk“, als Zukunftsbräu (Dresdner Journal 1873 v. 10. Mai, 648; Bonner Zeitung 1873, Nr. 127 v. 9. Mai, Bl. 1, 2). Dominant war der Lobpreis, die Präsentation des Deutschen Porter als „Perle aller Biere“: Von Februar bis April erschien wenigstens diese eine Anzeige reichsweit – und kündete von der laufenden Umwälzung im Braugewerbe (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 42 v. 11. Februar, 4 Wittener Zeitung 1873, Nr. 19 v. 13. Februar, 4; Karlsruhe Tagblatt 1873, Nr. 74 v. 16. März, 7; Jeversches Wochenblatt 1873, Nr. 60 v. 19. April, 7; Passauer Zeitung 1873, Nr. 49 v. 20. Februar, 3; Rosenheimer Anzeiger 1873, Nr. 51 v. 29. April, 4).

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Ausschank in Bielefeld (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 63 v. 29. Mai, 4)

Die Werbung fern der Reichshauptstadt war damit epigonenhaft, hofffolgsam. Doch es gab zugleich vereinzelt Annoncen mit eigenständigen Formulierungen (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577). Sie boten meist kondensierte Berichte über die großartigen Geschehnisse in Berlin, präsentierten den Deutschen Porter in vermeintlich hauptstädtischem Glanze. Das galt auch für Schloß Ruhwald, dessen gestaltete Natur gepriesen und als Muster großstädtischer Unterhaltungskunst präsentiert wurde, dass „das Publikum wie mit Zaubergewalt nach diesem Fundorte aller Vergnügungen“ hinzog (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 68 v. 10. Juni, 2). Und doch: Eine Analyse der Porter-Werbung abseits von Berlin unterstreicht, dass die Hoffschen Verweise auf seine Weltfirma schlicht haltlos waren. Es gab eine gewisse Vermarktung des Deutschen Porters, doch diese blieb weit hinter der des Malzextraktes und der weiterhin laufenden Offerten des Gesundheitsbieres Deutscher Porter durch andere Anbieter zurück. Das Hoffsche „Nationalgetränk“ scheiterte nicht nur in der Hauptstadt, es scheiterte parallel auch in den deutschen Landen.

Scheitern in Schloß Ruhwald

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Die heutige Schönheit Berlins: Blick auf den Volkspark Ruhwald (Uwe Spiekermann, 2019)

1872 hatte der Verleger der Modezeitschrift „Der Bazar“ sein Anwesen Schloß Ruhwald für 280.000 Taler an die Westend-Gesellschaft H. Quistorp verkauft, der dieses im gleichen Jahr an Johann Hoff weiterverkaufte (Hannoverscher Courier 1881, Nr. 11216 v. 27. Oktober, 6). Schloß Ruhwald war 1867/68 im neoklassizistischen Stil erbaut worden, bildete nun jedoch den attraktiven Rahmen einer umfassenden Transformation des Parks in eine Ausschankstätte des Deutschen Porters, in ein volksgartenhaftes Ausfluglokal. Hoff begann unmittelbar mit neuen Bauten, ließ dort 1873 ein Kavaliershaus mit einem heute noch bestehenden, jedoch verfallenden Arkadengang anlegen.

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Noch erhaltener Arkadengang des nach dem Zweiten Weltkrieges abgerissenen, 1873 von Johann Hoff erbauten Kavaliershaus (Uwe Spiekermann, 2019)

Schon im Januar 1873 begann Johann Hoff die Werbetrommel für seinen wichtigsten Grundstückskauf zu rühren – auch als Reaktion auf die nur schwache Resonanz auf seine beiden ersten Ausschankstätten für Deutschen Porter. Solche seien jedoch für ein Nationalgetränk nur ein Anfang. Schon am 20. Mai sollte Schloß Ruhwald öffnen, 10.000 Gäste sollten Platz finden: „Das himmlisch schön gelegene Etablissement wird wie ein Volksgarten eingerichtet werden und es besteht die Absicht, daselbst allwöchentlich regelmäßig prachtvolle Feuerwerke und Concerte abhalten zu lassen. [… Das] Deutsche Nationalgetränk wird alle Plätze füllen!“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 2 v. 3. Januar, 14) Mitte Februar folgte die nächste Prozession des großen Porterfasses, das „reich bekränzt, gefolgt von sämmtlichen Beamten und Arbeitern des Etablissements mit Musikbegleitung“ nach dem neuen Außenposten geleitet wurde (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 47 v. 16. Februar, 2). Dieser sollte ein Sommerlokal werden, größere Überdachungen abseits der Schankstätten waren nicht geplant (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577). Das Gelände wurde fotografiert, eine Ausstellung in Hoffs Ausschanklokalen ergänzte die lockende Werbung. Die Eröffnung wurde auf April vorverlegt, schließlich galt es Einnahmen zu generieren (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 33 v. 20. März, 4). Glaubt man den Inseraten, so schufen viele fleißige Hände einen neuen „Lieblingsort unserer hauptstädtischen Bevölkerung“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 17, Beibl. 2, 2).

Dieses Mal gab es keine weiteren Verzögerungen, zu Ostern eröffneten Hoff und sein Ökonom Schloß Ruhwald, den „Ausschank im Fichtenwalde“. Park und Schloß boten mit ihren Naturschönheiten die Kulisse für den Verkauf von Deutschem Porter und Märzen. Flankiert wurde das Vergnügen von Konzerten einer Militärkapelle und abendlichen Feuerwerken. Damit hob sich Johann Hoff deutlich ab von der Konkurrenz der hauptstädtischen Aktienbrauereien und ihren Bierhallen.

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Eröffnung von Johann Hoffs Ausflugslokal Schloß Ruhwald am Ostersonntag 1873 (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 86 v. 13. April, 20)

Hoff pries sein neues Etablissement als den „Tempel des Deutschen Porterbiers“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 48 v. 26. April, 4). Säle und Hallen mochten noch nicht fertiggestellt sein, doch „Tausende“ seien zu Gast gewesen, hätten Johann Hoffs Geschäftsplan bestätigt: „Und so geht denn von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde das reizende Etablissement seiner gänzlichen Vollendung entgegen und binnen wenigen Wochen werden wir es in einem Glanze und in einer Pracht dem Publikum übergeben sehen, daß wir mit Recht den Ausspruch machen dürfen: Hier finden wir das beste aller Biere im schönsten aller Locale“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 193 v. 26. April, 7).

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Mängel der Bewirtung und kontinuierliche Konzerte (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 90 v. 18. April, 16 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 185 v. 22. April, 16)

Auch dies war ein geschönter Bericht, denn dieses Mal musste pünktlich und rasch eröffnet werden – und der Ökonom sah sich genötigt, Abbitte für die noch vorhandenen baulichen Mängel zu leisten. Von den versprochenen „exquisiten Leistungen von Küche und Keller“ war noch wenig zu sehen (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 76 v. 30. März, 36). Doch Schloß Ruhwald lockte nun regelmäßig mit Konzerten – und die Anbindung des zehn Kilometer von der Stadtmitte gelegenen Parks sollte die Pferde-Eisenbahn spätestens ab 1. Juli gewährleisten. Das – zugegeben – „nur provisorisch eröffnete Etablissement“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 53 v. 10. Mai, 3) wurde parallel weiter ausgebaut, neben die regelmäßig aufspielende Militärkapelle traten auch andere Klänge, so die der serbischen Hof-Tambura-Kapelle, die sowohl in Schloß Ruhwald als auch in der Louisenstraße auftrat. Man bedauerte allerdings, dass das Ausschanklokal „nicht mehr im Mittelpunkt der Stadt“ liege, denn dann wäre es dank vorzüglichem Deutschen Porter und seiner exzellenten Küche wohl eines der besuchtesten Gaststätten der Hauptstadt (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 219 v. 13. Mai, 7).

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Serbische Tambura-Klänge in Schloß Ruhwald und der Louisenstraße (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 223 v. 15. Mai, 14 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 109 v. 11. Mai, 15)

Derweil trieb Johann Hoff die Verwandlung des früheren Herrensitzes zu einem Volksvergnügungsort konsequent voran. Er wollte „dieses für Berlin außergewöhnlich schöne Stückchen Erde aller Welt zum Beschauen und Mitgenießen“ öffnen: Plätze, Anlagen und Gastronomie sollten „von einer fröhlichen, der Sorge für diese Augenblicke enthobenen Menschenmenge“ bevölkert werden, die bis Ende Mai vollendeten Bauten gegen die Unbilden des Wetters schützen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 53 v. 10. Mai, 3). Die Pfingstfeiertage wurden zur eigentlichen Premiere, die nach Auskunft der Werbeberichte erfolgreich verlief. Fünfzehntausend Erwachsene zahlten Eintritt, Kinder mussten nichts bezahlen: “Doppelconcert, Theater, Beleuchtung durch bengalische Flammen, steigende Luftballons, die in einer gewissen Höhe allerlei niedliche Sächelchen über die Erdbewohner ausbreiten, belustigende Erscheinungen von Thieren, kurz, ein Leben, welches Vergnügen und freudige Ueberraschung auf den Gesichtern des Publikums erkennen ließ, war sowohl am ersten wie am zweiten Feiertage bei den Besuchern Ruhwalds sichtbar“ (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 68 v. 10. Juni, 2). Ebenso wichtig waren mehr als 100 Tonnen ausgeschenkten Bieres. Kein Wunder, dachte man, dass sich schon englische Investoren für den Platz interessierten – fast meinte man, die Anzeigen wären auf solche ausgerichtet (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 225 v. 3. Mai, 7; ebd., Nr. 225 v. 22. Mai, 7). Die Werbung sprach jedenfalls von hunderttausenden zukünftigen Besuchern auf dem 26 Morgen großen Areal. Schloß Ruhwald sei der „künftige Centralpunct des Deutschen Porterbieres, welches ja so richtig schnell das Englische Porter auf dem Continente besiegt hat“ – und auf dem Gelände sei eine Porterbrauerei „bereits in Angriff genommen, da die bisherige in Berlin nicht ausreicht, und sie wird, ehe man sich dessen versieht, in unausgesetzter Thätigkeit sein“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 25, Beibl. 1, 1).

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Großes Theater – nebst Konzerten und Volksbelustigung (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 126 v. 1. Juni, 12 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 261 v. 8. Juni, 14)

Die Transformation des Geländes ging derweil weiter, neben die Konzerte traten Theatervorstellungen mit populären Schwänken. Die Pferdebahn fuhr nun regelmäßig – und das bis spät in die Nacht. Die Werbung hob dies breit hervor, denn zuvor war Einkehr in Schloß Ruhwald meist mit einem längeren Fußweg verbunden (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 267 v. 12. Juni, 8; Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 67 v. 14. Juni, 4). Dreimal wöchentlich gab es nun Illuminationen, bengalische Feuer tauchten das Gelände in verfremdendes Licht (Ebd., Nr. 63 v. 5. Juni, 4). Johann Hoff hatte nach Eigenauskunft das „Privatvergnügen eines Millionairs“ demokratisiert, ein Plateau mit zehntausend Sitzplätzen geschaffen, eine erholsame Wunderwelt für bürgerliches Flanieren, Naturgenuss, eine gute Speise, einen kühlen und erfrischenden Trank (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 273 v. 15. Juni, 9).

Die betriebswirtschaftliche Realität sah jedoch anders aus. Ex post monierten Beobachter, dass Schloß Ruhwald „nur von den unteren Volksschichten besucht wird und keineswegs die Reklame rechtfertigt, welche dafür, in einzelnen Blättern sogar redaktionell, betrieben wird“ (Neues Fremden-Blatt 1873, Nr. 202 v. 24. Juli, 14-15, hier 14). Das alles sei nicht rentabler Humbug gewesen; und Johann Hoff trieb parallel die Gründung einer neuen Aktiengesellschaft voran, der Baubank Imperiale, der er das Etablissement für 2½ Millionen Taler verkaufen wollte. Das aber sollte nicht klappen.

Schon vor dem Scheitern solcher Verkaufspläne zog man intern die Reißleine und veränderte das Angebot. Zum einen nahm die Werbepräsenz des Deutschen Porters zunehmend ab. Hatten anfangs die Anzeigen die Hoffsche Hofbrauerei und ihr Leitprodukt immer prominent hervorgehoben, so traten diese im Laufe zunehmend in den Hintergrund. Parallel bewarb man verstärkt die Bierauswahl von Porter, Ale und Lagerbier. Wichtiger aber war zum andern die neuerliche Transformation des Vergnügungsprogramms. Die gestaltete Natur des Parks pries man, doch sie wurde zunehmend Beiwerk, Mittel zum Zweck. Schloß Ruhwald mutierte zum Veranstaltungsort, zum Stelldichein des Mittelstandes. Kapellmeister Gustav Roßberg präsentierte mit dem Musikkorps des 4. Garderegiments flott getaktete Weisen und eigene Kompositionen, die teils vor Ort uraufgeführt wurden. Der Park wurde konzertant genutzt, um „Tongemälde aufführen“, um dem Publikum neuartige Raumerlebnisse zu bieten (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 287 v. 24. Juni, 8).

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Possen, Patriotismus und Porterbier (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 289 v. 25. Juni, 14 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 149 v. 29. Juni, 15)

Parallel träumte Johann Hoff von weiterer Expansion: Die Porterbrauerei sollte im Herbst vollendet, in Berlin ca. 60 Ausschanklokale gegründet werden (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 72 v. 26. Juni, 4). Dies dürfte, wie auch weitere Angaben über den Export von einer Millionen Flaschen Porter und Ale, weniger auf potenzielle Besucher, eher auf potenzielle Investoren gerichtet gewesen sein. Das galt ebenso für die letzte Ausbaustufe von Schloß Ruhwald. Neben Konzerte und Schwänke traten nun auch nationale Weihefeste. Jahrestage der Schlachten von Königgrätz (3. Juli) und Gravelotte (18. August) wurden für Reenactments genutzt: „Bei hereinbrechender Dämmerung wird ein großartiges Schlachtfeuerwerk abgebrannt, welches die Einnahme von Königgrätz, das Defilée der Truppen durchs Gebirge und den Einzug der Sieger darstellt. Kanonendonnner und bengalische Beleuchtung nebst electrischem Licht werden den hierzu nothwendigen Effect hervorbringen. Das ganze Etablissement wird prachtvoll illuminirt und decorirt werden. Zum Schluß findet ein großartiger Zapfenstreich und Gebet statt“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 74 v. 1. Juli, 4). Wie schön doch der Krieg ist, wenn er sich auf Sieg reimt, und nicht mit Blut, ausquillenden Därmen und dem letzten Ruf zur Mutter verbunden ist. Der Park wurde zum Riesensandkasten, Sturmangriffe wurden nachgespielt, Preußens Gloria erschien nun auch in elektrischer Beleuchtung (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 309 v. 6. Juli, 7-8). Auf dem Gelände wurden Heerführerbilder ausgestellt, die Ruhwaldschen Felsen spielten die Gebirgspässe Böhmens: „Dazu Festtheater, Illumination, Ballons, Feuerwerk etc. etc.“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 297 v. 29. Juni, 7). Karl Kraus hätte auf Schloss Ruhwald schon lange vor seiner „Reklamefahrt in die Hölle“ entsprechendes Material gefunden.

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Gefahren der weiten Fahrt nach Schloß Ruhland (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 21, 4)

Doch selbst das nationale Spiel im Grünen konnte nicht alles überdecken. Betrunkene Gäste waren leichte Opfer für Diebe; und darüber wurde gerne berichtet. Bis in die USA verbreitete sich Schloss Ruhwalds Ruf als „Monstrum von Wirthshaus-Prellerei“, drang Kunde über „liederliche Wirthschaft und die systematische Prellerei auf Schloß Ruhwald“ (Aus des Deutschen Reiches Hauptstadt, Illinois Staats-Zeitung 1873, Nr. 37 v. 16. September, 2). Ein späteres Resümee klang weniger dramatisch: „Berliner Familien setzen sich an frisch gestrichene Tische und eilige Kellner schleppten gefüllte Seidel herbei. Aber der Name des Schlosses, so poetisch er klingt und so anheimelnd er dem Lyriker sein mag, schien das Verhängnis des öffentlichen Lokals zu werden. Es war in der Tat ein Ruhwald, das Leben erstarb, immer mehr und mehr, schließlich herrschte selbst an Sonntagen solche Ruhe, daß Johann Hoff die Thore wieder schließen ließ“ (Vorwärts 1891, Nr. 239 v. 13. Oktober, 8). An der Schließung im August hatte der Deutsche Porter beredten Anteil: „Trüb, übelriechend und schlammig fließt der Rest deutschen Porterbieres zum Orkus hinab: Johann Hoff […] macht die Bude zu, und Barklay und Perkins in London athmen erleichtert auf. Der gewichtige Spruch: ‚Ruhmvoll besiegt deutsches Porterbier englisch Porter hier‘ wird nicht mehr alle Zeitungsbeilagen zieren, Schloß Ruhwald wird nicht ferner von Leuten umlagert sein, deren Stoffwechsel Herr Hoff unbarmherzig beschleunigt hat“ (Erheiterungen. Belletristisches Beiblatt zur Aschaffenburger Zeitung 1873, Nr. 166 v. 23. Juli, 3-4, hier 3).

Zahlungseinstellungen und Bankrott

Der Gründerboom erreichte im Frühsommer 1873 Höhepunkt und Ende zugleich. Am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873, kollabierte in Wien die Börse, doch es schien einige Zeit, als könne ein weiteres Ausgreifen der Krise verhindert werden. Angesichts der internationalen Verflechtungen im Kredit- und Anleihegeschäft zerstoben diese Hoffnungen im Spätsommer. Zahlreiche Bankrotte an der New Yorker und schließlich auch der Berliner Börse läuteten den Beginn einer längeren Wirtschaftskrise ein. Die Vorzeichen waren jedoch schon im Sommer nicht zu übersehen. Am 17. Juli brach das Hypothekengeschäft Isidor Filehnes zusammen, am 18. konnte Johann Hoff anstehende Zahlungen nicht mehr leisten: „Dieser Vorfall macht hier [in Berlin, US] großes Aufsehen und es wird besorgt, Zahlungseinstellungen anderer Speculanten dürften nicht ausbleiben“ (Hallesches Tageblatt 1873, Nr. 153 v. 20. Juli, 713).

Die Wirtschaftspresse behandelte den Fall als eine zwar gravierende, dennoch zu handhabende Affäre. Sie schien eine nur „augenblickliche Zahlungsstockung“ (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 197 v. 19. Juli, 3) zu sein, hervorgerufen durch unglückliche „Terrainspeculationen“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 330 v. 18. Juli, 3). Doch Johann Hoff war reich, galt als der höchstbesteuerte Berliner (Der Beobachter 1873, Nr. 168 v. 22. Juli, 4). Und so war man am 18. Juli zuversichtlich, dass mit den Gläubigern ein Arrangement erzielt werden könne – auch, um weitere Dominoeffekte auf die beteiligten Kreditgeber zu verhindern. Am 19. Juli fand ein erstes Treffen „dreier Unbetheilgter“ (Fremden-Blatt 1873, Nr. 199 v. 21. Juli, 4) statt – und die von der Preussischen Hypotheken-Versicherungs AG erstellte Vermögensübersicht stimmte sanierungsfroh: Hoff besaß Häuser und Grundstücke im Werte von 1,944,633 Taler. Die Hypotheken lagen bei 360,811, die Wechselschulden bei etwa 900.000 Taler. Der Überschuss betrug demnach 683,822 Taler; wenngleich es warnend hieß, dass er „nicht sogleich flüssig gemacht werden kann“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 332 v. 19. Juli, 3).

Eine Gläubigerversammlung wählte am 20. Juli ein sechsköpfiges Komitee, das die Aktiva realisieren und alles erforderliche tun sollte, um die Schulden zu bedienen: „Die anwesenden Gläubiger waren sämmtlich mit den gemachten Vorschlägen einverstanden und cedirte Herr Joh. Hoff an dieselbe behufs Sicherstellung seine sämtlichen Grundstücke und Liegenschaften“ (Ebd., Nr. 334 v. 21. Juli, 4). Hoff verlor damit die Kontrolle über zentrale Bestandteile seines Geschäftes, doch die Zeitungen meldeten sanierungssicher, dass das Geschäft fortgeführt werden könne. Es gab eine temporäre Zahlungsstockung, eine formelle Zahlungseinstellung, eine Insolvenz gab es jedoch nicht (Die Presse 1873, Ausgabe v. 22. Juli, 11). Doch schon kurz darauf wuchsen die Zweifel: Hoff sah sich außerstande, die von ihm zuletzt geschalteten Anzeigen zu bezahlen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 84 v. 24. Juli, 3). Und das neugegründete Komitee konnte seine Arbeit noch nicht aufnehmen, weil rechtliche Zweifel bestanden, ob die von Hoff gewährten Zugriffsrechte auf „seine“ Aktiva rechtens seien (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 201 v. 23. Juli, 2). Der parallele Zusammenbruch der Berliner Hypotheken-, Credit- und Bau-Bank unterstrich den Unterschied von Werten und Buchwerten (Ebd., Nr. 204 v. 26. Juli, 2).

Johann Hoff hatte dem Comité gegenüber „sich der selbständigen Disposition über sein Vermögen zu enthalten verpflichtet“ (Wittener Zeitung 1873, Nr. 86 v. 26. Juli, 1). Die Gläubigerversammlung am 25. Juli ließ zu befürchten, „daß trotz aller dagegen gerichteten Bestrebungen die Anmeldung des Concurses werde erfolgen müssen“ (Kölnische Zeitung 1873, Nr. 204 v. 25. Juli, 6). Die Bücher schienen nun unsicher, die Angaben Hoffs zweifelhaft, so dass sich das Komitee weigerte, die Aktiva aufzunehmen und dafür die Schulden abzuwickeln (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 207 v. 26. Juli, 3724). Hoff hatte all dies wahrscheinlich kommen sehen. Mit der Gründung der Baubank Imperiale – nominell ausgestattet mit einem Kapital von 18 Mio. Talern – hatte er noch im Juni versucht, die Grundstücke seines Portergeschäftes an eine andere Firma gewinnträchtig zu verkaufen (Leipziger Tagblatt 1873, Nr. 184 v. 3. Juli, 16). Doch er hatte insbesondere für Schloss Ruhwald einen zu hohen Preis gefordert, so dass zwar ein Abschluss erzielt wurde, das Geschäft aber mangels Kapitals letztlich scheiterte (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 6182 v. 22. Juli, 2; Hamburger Nachrichten 1873, Nr. 177 v. 27. Juli, 4). Wahrscheinlich wäre die Imperiale aber ohnehin nicht in der Lage gewesen, die notwenigen Zahlungen zu leisten, denn es handelte sich vorrangig um eine Börsenfiktion. Johann Hoff war zudem gesundheitlich indisponiert. Bei der Besichtigung seines Besitzes am Louisenplatz hatte er sich – nach eigenem Bekunden – bei den Verkaufsverhandlungen im Eiskeller eine „Erkältung des Gehirns“ zugezogen, war anschließend auf einer Hintertreppe schwer gestürzt (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 179 v. 3. August, 18). Gleichwohl beharrte das Berliner Stadtgericht auf Hoffs Anwesenheit vor Gericht, um die sich häufenden Wechselklagen behandeln zu können (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 227 v. 15. August, 4050). Ende Juli 1873 war klar, dass Johann Hoff die Kontrolle über sein Geschäft verlieren würde.

Reaktionen auf den Abstieg

Die Zahlungsschwierigkeiten und der drohende Konkurs führten zu einer beträchtlichen Resonanz in der Öffentlichkeit. Unglauben und Häme begleiteten viele Meldungen: War er wirklich gescheitert, er, der „durch seine übertrieben großen, marktschreierischen Annoncen bekannte Malz-Extract-Fabrikant Johann Hoff in Berlin“ (Sächsische Dorfzeitung 1873, Nr. 56 v. 22. Juli, 7)? In den Wirtschaftsteilen wurde vorrangig distanziert-sachlich berichtet, standen die Rettungsversuche und die möglichen Auswirkungen auf die Börse im Mittelpunkt. Doch ohne Schadenfreude ging es nicht, zumal im Ausland. Aus dem gebeutelten Wien hieß es: „Die Berliner Börse wurde am 18. d. M. durch die Nachrichten von der Zahlungsstockung des bekannten Reclamehelden und Malzextract Fabrikaten Johann Hoff in sehr unangenehmer Weise deprimirt. Hoff’s Relation zur Börse leitet sich daher ab, daß der Mann über Hals und Kopf in Grundspeculationen steckt und sich momentan nicht flott machen konnte. […] An seinem Malzbier wäre Hoff, hätte er sich darauf beschränkt, sicherlich nicht zu Grunde gegangen. Vielleicht curirt es ihn auch wieder“ (Börse und Malzextract, Der Reporter 1873, Nr. 166 v. 22. Juli, 3).

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Ein Abgang in Reimen (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 34, Beibl. 1, 1 (l.); Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3)

Die lokalen Karikaturzeitschriften reagierten mit gewisser Trauer auf den möglichen Verlust einer öffentlichen Figur, die schon für viele Lacher gedient hatte: „Vater Hoff hat eingepackt / Und geschnürt sein Bündel? / Manchmal hilft doch Malz-Extract / Auch nicht gegen Schwindel! / Große Trauer dort und hier / In den Deutschen Gauen: / Wer wird Deutsches Porterbier / Uns in Zukunft brauen? / Deutschland, du wirst wieder klein! / Armes Deutschland, denke, / Jetzt hast du nun wieder kein / Nationalgetränke! / Einer nach dem Andern, der / Sonst und ließ genesen, […] / Vater Hoff, du bliebst allein / Treu uns gegenwärtig; / Aber jetzt – was kann da sein? – / Bist auch du schon fertig?“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 34, Beibl. 1, 1). Zugleich hieß es angesichts großtönenden Wagemutes, Hoff hätte doch weniger groß aufspielen sollen. Die virtuelle Dame Reklame klagte beredt: „Johann, mein Hoff, war das der Lohn? / Ich liebte, Dein Weib, Dich unendlich, / Da, mit der Andern, der Spekulation, / Hast Du mich verrathen schändlich. / Es ist heraus! Ich machte Dich groß, / Doch Alles, was ich Dir brachte, / Warfst Du der Anderen in den Schooß, / Die elend Dich dafür machte. / Du Ungetreuer! Sie zog Dich aus, / Die feilste aller Maitressen, / Hat abgeschmeichelt Dir Schloß und Haus, / Die Mitgift, die ich besessen. / Du warfst Dich verliebt an ihren Hals, / Sie hat Dir Treue geschworen, / Jetzt ist verloren so Hoff als Malz, / Ach, jetzt ist Alles verloren!“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3). Hoff schien „Ruhmvoll besiegt“, war doch das Leben „zu grausam gegen den Malz-Millionär“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3 resp. 4). Allerdings nicht so grausam, dass er selbst von seinem Deutschen Porter getrunken hätte, „um sich den Verfolgungen seiner Gläubiger zu entziehen“ (Berliner Wespen 7, 1873, Nr. 31, 2).

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Der Deutsche Porter entschuldigt sich (Kladderadatsch 26, 1873, 134)

Hoff wurde auch in der ausländischen Presse durch den Kakao oder andere braune Brühe gezogen, denn die Diskrepanz zwischen werblicher Selbstdarstellung und profanem Ende bedurfte einer Einordnung: „Ein fürchterliches Sterben wird stattfinden und die Welt verheeren, falls nicht die Schaar der Gläubiger eines großen Mannes sich zusammenthut, um uns vor diesem Unheil zu bewahren. Johann Hoff, der Retter der Menschen aus den Fährnissen aller möglichen Krankheiten, vom Tode und von der Gewalt des Doktors, – Johann Hoff ist insolvent, und hat, vom Geiste Banquo’s böse heimgesucht, seine Zahlungen eingestellt; sein Malzextrakt soll fürder nicht mehr als flüssige Gesundheit die Adern der Welt durchströmen und ‚Deutsch Porterbier‘ nicht mehr als Pelikan aus der Asche des seligen Stayl aufsteigen, um nicht nur ‚Englisch Porter‘, sondern auch ‚habituelle Leibesverstopfung‘ siegreich zu verdrängen, – falls eben, wie gesagt, nicht die Gläubiger des großen Propheten aller Gläubigen ein Einsehen haben und dem Wohl der Menschheit zu Liebe einen Accord schließen, der ihn und das Menschengeschlecht vor dem Untergang rettet“ (Tagblatt der Stadt Biel 1873, Ausg. v. 23. Juli, 4).

Im Lande des Porters, wo man die Herausforderung des Deutschen Porters nie ernst genommen hatte, hieß es ebenso süffisant: “Johann Hoff, called (by himself) the ‘benefactor of mankind.’ Yes, him have I found—but in the bankrupt list. The man whose miracles, by means of his ‘porter-beer,’ made those in the New Testament look very old-fashioned, and out of date, is discovered to be no better than his own Wunder-Trank—a humbug” (Letter from Berlin, The Scotsman 1873, Nr. 9378 v. 15. August, 2). Kurz darauf, als die Cholera sich in Danzig, Breslau, Dresden und auch in Berlin, am Schiffbauerdamm, gegenüber von Hoff, ausbreitete, spann man in Großbritannien eine vom Kladderadatsch erfundene Anekdote fort (The Evening Standard 1873, Nr. 15288 v. 27. September, 3): Der in Berlin weilende Schah nutzte den Hoffschen Porter, um heimische Rivalen mit Prösterchen aus dem Weg zu räumen. Bis Ende November wurde diese kleine Notiz in dutzenden Zeitungen übernommen:

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Häme über die Qualität des Deutschen Porters – auch international (Edinburgh Evening News 1873, Nr. 57 v. 31. Juli, 4)

Johann Hoffs Abgang machte also auch Spaß, zumindest den nicht Beteiligten. Parallel aber hatte sich auch Obergerichtsanwalt Dr. Georg Setzer, Verwaltungsrat der Ersten Ale- und Porterbrauerei in Hemelingen aus dem Staub gemacht. Zuvor hatte er inexistente Aktien der Firma in Höhe von 80.000 Talern verkauft, ferner Gelder verschiedener Privatanleger unterschlagen (Pfälzischer Kurier 1873, Feuilleton, Nr. 63, 252). Setzer setzte sich offenkundig ins Ausland ab, von der Türkei, von Holland war die Rede. Schon 1869 hatte er das beträchtliche Vermögen seiner Gattin verspekuliert, musste Privatbankrott anmelden. Doch die Spekulationswelle der frühen 1870er Jahren erlaubte ihm einen Neueinstieg (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 6145 v. 30. Juni, 3). Der Hype um Deutschen Porter boten ihm und den Aktienkäufern zeitweilig Träume vom raschen Gewinn (Leipziger Tagblatt 1873, Nr. 184 v. 3. Juli, 16). Anders als Setzer blieb Johann Hoff vor Ort, stand mit seinem Vermögen ein und stellte sich bis zur Liquidierung der Geschäfte zahlreichen Wechselklagen.

Liquidierung

Parallel lief die Schlachtmusik in Schloß Ruhwald aus, die Werbung für Hoffs Malzpräparate weiter. Das Gläubigerkomitee setzte seine Tätigkeit fort, um einerseits den Konkurs abzuwenden, anderseits aber die Ansprüche der Gläubiger zu bedienen.

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Fern der Schlachtmusik – Letzte Konzerte in Schloß Ruhwald und kontinuierliche Werbung für Johann Hoffs Malzextrakt (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 191 v. 17. August, 14 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 405 v. 31. August, 8)

Die Wirtschaftspresse veröffentlichte in den folgenden Wochen zahlreiche Details nicht nur zu Hoffs Geschäften, sondern zu den dahinterstehenden Firmen- und Personennetzwerken. Indirekt spiegelten sich diese auch in raschen Absetzbewegungen früherer Geschäftspartner Hoffs. Den Beginn machte die Deutsche Prämien-Credit- und Renten-Bank, für die Hoff als Direktor tätig war (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 340 v. 24. Juli, 2). Treibende Kraft der am 4. März 1873 mit einem Grundkapital von 2 Mio. Talern gegründeten Bank war der Lotterieveranstalter Siegfried Braun (Die Berliner Banken, bearb. v. Rudolph Meyer, Berlin 1873, Nr. XCIV, 1-7). Spielbanken wurden Ende 1872 reichsweit verboten, die neue Firma sollte dem Bürger eine Alternative bieten, indem sie Lotterien zwischenfinanzierte, die in kleinen Tranchen jedem den Traum vom großen Gewinn ermöglichten (Problematische Existenzen, Nachrichten für Stadt und Land 1873, Nr. 53 v. 8. März, 2). Die Geschäfte kamen nicht recht in Gang, im Dezember 1873 wurde die Liquidation der Bank beschlossen, die Verluste waren gering (Karl Wilhelm Kunis, Neueste Münz-, Maass- und Gewichtskunde, 5. neubearb. Aufl, Bd. 2, Leipzig 1879, 414). Das Beispiel zeigt, dass Hoff Investitionen deutlich über das Malz- und Biergeschäft hinaus getätigt hatte.

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Finanzierung bürgerlichen Glücksspiels (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 167 v. 20. Juli, 16)

Wichtiger noch war die Abkehr von Hoffs wichtigstem finanziellen Partner, der Vereinsbank Quistorp. Sie verweigerte im August einen außergerichtlichen Vergleich, forderte die vorrangige Bedienung ihrer Forderungen (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 234 v. 25. August, 4). Der Konkurs des Hoffschen Geschäftes schien dadurch zeitweilig unabwendbar (Die Presse 1873, Nr. 235 v. 26. August, 12). Solche Forderungen standen für die mittlerweile tiefgreifende Zerrüttung der Kreditverhältnisse in Berlin, für das von nahenden Zahlungsterminen geprägte Handeln vieler Unternehmer. Der Zusammenbruch der Vereinsbank markierte Anfang Oktober denn auch den Höhepunkt der Berliner Börsenkrise 1873.

Hoff, Braun und Quistorp standen öffentlich für den „Börsenschwindel“, der langwierige Auswirkungen auf den Finanzplatz Deutschland haben sollte: „Wie es möglich geworden ist, daß ein Crösus, wie Johann Hoff, der durch jahrelange fortgesetzte erfolgreiche Spekulation auf die Dummheit seiner Mitmenschen sich anerkannt so enorme Mittel erworben hat, jetzt seinen Verbindlichkeiten nicht nachkommen kann, wäre rätselhaft“, würde man nicht die allgemeine Spekulation betrachten (Nachrichten für Stadt und Land 1873, Nr. 85 v. 24. Juli, 1). Aus der Gier vieler Einzelner ergab sich ein Sittengemälde der Gründerzeit: „Die Corruption an der Börse […] ist so groß, daß man die Bestechlichkeit der Presse für selbstverständlich und jeden für einen Thoren hält, der allen Beeinflussungen sich unzugänglich zeigt und die Interessen des Publikums über einen schnöden Geldvortheil stellt“ (Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik 1, 1874, 196). Obwohl bei Otto Glagau (1834-1892), dem antisemitischen Investigationsschriftsteller, nicht genannt, galt Johann Hoff als typischer Schwindler und Spekulant: „Die Börsenleute zogen Porter und Ale vor oder vertieften sich in gewisse Weinkeller mit geheimen Gemächern, welche später von der Polizei ihres eindeutigen Charakters wegen verboten wurden“ (Die Biere Bayerns in Berlin, Münchener Gastwirths-Zeitung 3, 1892, Nr. 4, 1).

In Berlin gelang es den Gläubigern dennoch, die Hoffschen Geschäfte so weit zu stabilisieren, dass eine Auffanggesellschaft gegründet werden konnte. Ein außergerichtlicher Masseverwerter wurde eingesetzt, dem es nach Begleichung vorrangiger Ansprüche Anfang September gelang, die vorhandenen Aktiva in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien zu überführen: „Das Geschäft mit dem aus saurem Bier, Gummi, Syrup, Faulbaumwurzel etc. bestehenden Gebräu […] will man fortsetzen“ (Der Zeitgeist 1873, Nr. 46 v. 27. Juli, 2). Die neue Gesellschaft sollte ein Aktienkapital von 1,2 Mio. Talern haben, Johann Hoff davon ein Drittel halten (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 439 v. 20. September, 3). Dadurch konnten die Zahlungen wieder aufgenommen werden. Das öffentliche Fazit war ernüchternd: „Mit Ausnahme einiger einziehbarer Forderungen und Außenstände (ein großer Theil der letzteren ist muthmaßlich nicht beizutreiben), besteht die ganze, den Gläubigern überlassene Masse in Grundstücken, die sehr schwer zu realisiren sind, und die, wenn selbst realisirt, nach Abtragung der darauf haftenden hypothecarischen Lasten für die Gläubiger nur einen sehr geringfügigen Resterlös übrig lassen dürften. Die Ausnutzung der Bierfabrication und der übrigen Malzfabrikate erweist sich, wie sie sich schon im Hoff’schen Privatbesitz während der letzten Jahre erwiesen hat, als eine höchst unfruchtbare. Niemand beißt mehr auf Extract, Bonbons und Chocolade an, seitdem die Concurrenten Alles bei Weitem billiger und besser liefern“ (Kölnische Zeitung 1873, Nr. 291 v. 20. Oktober, 6).

Für Johann Hoff bedeutete all dies einen tiefen Einschnitt. Am 2. Oktober 1873 wurde in Berlin die „Johann Hoff, Commanditgesellschaft auf Actien“ gegründet. Sie übernahm das bisherige Geschäft und die Grundstücke, führte zugleich aber den Betrieb mit Malzpräparaten fort. Johann Hoff wurde zusammen mit dem Berliner Kaufmann Moses Blumenthal persönlich haftender Gesellschafter. Er verlor allerdings seine unternehmerische Handlungsfähigkeit, war alleine nicht mehr zeichnungsfähig (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 463 v. 4. Oktober, 11). Am 23. Oktober 1873 wurde die bisherige Firma Johann Hoff im Handelsregister gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 253 v. 27. Oktober, 5). Am 7. November schied Johann Hoff aus dem Vorstand der Neu-Friedrichsthaler Glashüttenwerke aus (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 533 v. 14. November, 12). Die Firma ging 1877 in Konkurs (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 101 v. 1. Mai, 8), überstand das Verfahren und etablierte sich als eine führende Glashütte in Posen. Am 18. November wurde Hoffs Filiale in Hamburg aufgehoben (Hamburgischer Correspondent 1873, Nr. 274 v. 20. November, 2).

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Verrottende Reste eines Schlossparks: Kopien der von Carl Cauer (1828-1885) gestalteten Büsten von Ludwig von Schaeffer-Voit (1819-1887) und seiner Gattin Margarethe Voit (1820-1894) im Ruhwaldpark (Uwe Spiekermann, 2019)

Fortsetzung des Geschäfts in altbewährter Weise

Nachdem Johann Hoff intern seine Macht- und Leitungspositionen verloren hatte, begann ab Mitte November 1873 abseits von Berlin der Abverkauf des noch vorhandenen Deutschen Porters (Bonner Zeitung 1873, Nr. 315 v. 15. November, 3). Dazu griff man auf das schon im Februar 1873 erstellte Gutachten des Breslauer Chemikers Theobald Werner zurück, strich dessen Prädikat „vorzüglich“ heraus, seine Einschätzung als „Nationalgetränk“: „Seine Ausführung hält die Ehre unserer vaterländ. Industrie aufrecht und räumt dem Deutschen Porterbier einen höheren Rang ein, als selbst dem besten Englischen Porter“ (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1873, Nr. 93 v. 19. November, 3; ebenso etwa Teltower Kreisblatt 1873, Nr. 95 v. 26. November, 379; Zeitung für Lothringen 1874, Nr. 22 v. 28. Januar, 4). Zugleich druckte man das Gutachten selbst auszugsweise ab (Iserlohner Kreisblatt 1873, Nr. 135 v. 15. November, 2).

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Konzessionen für den Abverkauf in der Ferne (Iserlohner Kreisblatt 1873, Nr. 134 v. 13. November, 4)

Zudem bemühte man sich um neue Großhändler, die den Deutschen Porter fern des Ortes seines Scheiterns verkaufen sollten (Karlsruher Zeitung 1873, Nr. 274 v. 21. November, 4; ebd., Nr. 281 v. 29. November, 4). Der Erfolg dürfte begrenzt gewesen sein, die Bemühungen zogen sich bis mindestens Januar 1874 hin (Zeitung für Lothringen 1874, Nr. 28 v. 28. Januar, 4). Auch das Versandgeschäft wurde zumindest bis zu diesem Zeitpunkt aufrechterhalten (Hannoverscher Courier 1874, Nr. 6472 v. 13. Januar, 4).

Weit wichtiger war jedoch die Fortführung des Kerngeschäftes. Spöttisch hieß es: „Deutscher Porter- und Malzextract müssen ohne Barmherzigkeit weiter getrunken werden, damit für die Gläubiger noch etwas herauskommt“ (Kladderadatsch 26, 1873, 162). In der Tat nahm die Werbung wieder Fahrt auf, schon Ende Oktober kündigten die neuen Besitzer an, die Brauerei und die Kelleranlagen aufgrund wachsender Bestellungen des Malzextraktes zu vergrößern (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 498 v. 25. Oktober, 8). In den Anzeigen schien die Position der Werbefigur Johann Hoff unangefochten, ebenso die des vorzüglichsten „Heilnahrungsmittel, […] jenes göttliche Geschenk, welches der leidenden Menschheit gegeben wurde“ (Ein enormer Consum, Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 548 v. 23. November, 8). Man druckte, wie in diesem Falle, einfach alte Anzeigen nach – doch neue sollten in großer Zahl folgen.

Hoff verließ nach dem Konkurs Berlin in Richtung St. Petersburg, wo er nicht nur Malzpräparate, sondern auch Porterbier produzierte und verkaufte. Warnungen begleiteten ihn: „Doch nun kommt aus Berlin der Hoff, / Nun, Russe, nimm Dich wohl in Acht! / Nun braut er seinen Porter Dir, / Der Jeden radikal kurirt / Vom Uebermuth, der dieses Bier / Mit durst’gen Lippen je berührt!“ (Unfehlbares Gebräu, Berliner Wespen 8, 1875, Nr. 2, 2) 1878 gründete er mit Hilfe seiner Frau in Berlin eine neue Handelsfirma, die 1880 die Kontrolle über die Malzpräparate wiedererlangte. 1881/82 folgte die Filiale in Hamburg. Zuvor, 1881 hatte Victor Schäffer-Voit Schloß Ruhwald zurückerworben. Die Kommanditgesellschaft auf Aktien bestand weiter, liquidierte ihre Aktiva bis 1888 und löste sich dann auf.

Johann Hoff starb als reicher Mann am 16. März 1887 in Berlin. Lapidar hieß es: „In der Gründerzeit ließ er sich zu Speculationen verleiten, die er mit schweren Verlusten büßen musste. Er konnte aber die finanziellen Schäden, die damals erwachsen waren, bald wieder verwinden“ (Prager Tageblatt 1887, Nr. 78 v. 19. März, 3). Seinem „Deutschen Porter“, „welcher eine Zeit lang in vielen Städten verkäuflich war“ (Carl Reclam und J. Ruff, Das Buch der vernünftigen Krankenpflege, Leipzig 1889, 179), wurde kaum mehr gedacht – auch wenn Hoffs frühere Wettbewerber weiterhin andere Biere unter diesem Namen verkauften. Derweil hatte sich das bayerische Lagerbier als deutsches Nationalgetränkt etabliert – und gewann die Weltgeltung, von der Johann Hoff so sehr geträumt hatte.

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Grabstätte von Johann Hoff und seiner Frau Johanna (1828-1894) auf dem Jüdischen Friedhof Weissensee (Uwe Spiekermann, 2019)

Uwe Spiekermann, 29. März 2024

Die neue Lust am Ersatz – Ein alternativer Blick

Im August 2021 wagte VW Wolfsburg eine interne Revolution. Der „Kraftriegel des Facharbeiters“, die Currywurst, wurde aus der Kantine im Markenhochhaus verdammt, pflanzliche Ersatzprodukte inklusive einer veganen Variante traten an ihre Stelle. Es ging um weniger Fleisch und mehr Gemüse, um „gutes“ Essen, bessere Gesundheit und ein erweitertes Angebot. Empörung folgte, zwei Jahre hielt die Kantine durch, doch angesichts der öffentlichen Kritik und der Abwanderung zu anderen Kantinen hisste sie im August letzten Jahres die weiße Flagge. Die Currywurst, die echte, war wieder erhältlich. Neuerlich keimte Kritik auf, denn wir wissen doch: „The future is vegan“. Das mag angesichts von höchstens ein Prozent Veganer wagemutig klingen, doch lustvolles Bekennertum übertönt das mit einem überzeugungsfrohen Lächeln.

Die Wolfsburger Posse ist einer von vielen Kämpfen um richtige, zeitgemäße, verantwortbare und gesunde Ernährung in einer Zeit der vermeintlichen Krisen, der allgemeinen Umbrüche. Ersatz, nicht nur veganer, gibt „uns“ seit mehr als einem Jahrzehnt endlich Hilfsmittel an die Hand, um die Gefahr für uns und unseren Planeten zu wenden, so heißt es. Unternehmer stellen Startups vor, Wissenschaftler versichern uns Machbarkeit – und auch Politiker begrüßen die neuen Ersatzmittel als Beitrag zu Nachhaltigkeit und gutem Leben. Die große Mehrzahl steht dem Geschehen eher skeptisch gegenüber. Weniger Fleisch? Vielleicht… Tofu-Schnitzel oder Proteinquelle Mehlwurm? Doch eher nicht…

Wo sich einreihen? Mit scheint Distanz zur neuen Lust am Ersatz erforderlich. Unsere heutigen Kämpfe sind nämlich keineswegs neu. Wir schlagen heutzutage lediglich ein neues Kapital einer Geschichte auf, die im späten 18. Jahrhundert begann. Damals zerbrachen langsam die ständischen Strukturen der vorindustriellen Welt, eines trans- und vornationalen bäuerlichen Universums, geprägt von steten Nahrungsmittelkrisen, von der elementaren Sorge um das tägliche Brot. Essen war grundlegend, denn es ging um das eigene Leben, das der Familie, der Gemeinschaft. Essen war noch nicht Wahlhandeln, denn die geringe Produktivität der Landwirtschaft ließ kaum mehr zu, selbst in Jahren mit guter Ernte. Ernährungssicherheit war damals immer bedroht, die Machtmittel der Herren konnten die Not aber wenden, mussten sie auch, wenn Gott die Gebete und Klagen nicht erhöhte.

Ersatz als Teilhabe

Ersatz war im späten 18. Jahrhundert noch nicht verengt auf bestimmte Produktgruppen. Der Begriff kam um 1780 auf, ergänzte das „Surrogat“, den seit ca. 1740 genutzten Begriff der Gelehrten. Für den gemeinen Mann war beides fern, ihm ging es um einen Anteil an der Welt, die Gott doch für alle geschaffen hatte. Das änderte sich als zunehmend Kolonialwaren aufkamen, erst im Adel, dann im Bürgertum: Rohrzucker, Schokolade, Tee, Tabak, neue Getränke wie Rum und Arrak. Rasch entstand eine Kultur der Aneignung dieser Genussmittel durch das Bürgertum – und eine nachholende Bewegung der breiten Bevölkerung, erst der ärmeren Bürger, dann auch der ländlichen Bevölkerung.

Die deutschen Lande waren damals jedoch relativ arm und ökonomisch vergleichsweise rückständig, zumindest im Vergleich zu Frankreich, dem aufstrebenden England, auch den niedergehenden Niederlanden. Das Land war von Kriegen zerfurcht, dem 30-jährigen-Krieg 1618-1648, dem Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688-1679, dem 7-jährigen-Krieg 1756-1763. Hunger gab es alle sieben Jahre, Hungerkrisen jede Generation, 1770/71, dann wieder 1816/17. Binnenmärkte fehlten, Zölle und Transportkosten waren hoch, merkantilistische Industriepolitik förderte Exporte, behinderte aber Importe.

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Werbung für Ersatzkaffee (Münsterisches Intelligenzblatt 1808, Nr. 22 v. 27. Mai, 266 (l.), Der Beobachter 1810, Nr. 2198 v. 26. November, 911)

Ersatz als Teilhabe bedeutete erst einmal den Ersatz der Kolonialprodukte. Die neuen Waren auf der Tafel der Begüterten umrahmten Geselligkeit und Feste: Kaffeerunden und Rauchkolloquien, Tee- und Kakaokränzchen, die feuchtfröhliche Runde mit aromatischen Spirituosen. Surrogate ersetzten nicht vorrangig Nährwert, sondern standen für ein wenig Wärme, für befreiende Trunkenheit, für Geschmack über den eigenen Acker hinaus. Die eigene Ernährung gab Sicherheit, die neue aber weitete die Welt. Kolonialprodukte waren jedoch viel zu teuer für die ländliche Bevölkerung, die oft noch nicht in den sich erst entwickelnden Geldkreislauf eingebunden war. Ersatz musste billig sein, auch weil der Konsum staatlich kritisch beäugt wurde, verschwenderisch schien, unschicklich. Man griff daher auf die Natur zurück: Man erprobte kaffeeähnliche Wurzeln und Pflanzen, Erdmandeln, Eicheln, Haferwurzeln, Bucheckern, Möhrensamen – doch am Ende zumeist Zichorie und Gerste. Doch sie wurden nicht nur zuhause angebaut und geröstet. Privilegierte Unternehmer begannen die Herstellung in kleinen Packungen (Ein schöner Mythenbrecher: Matthias Seeliger, Zichorienkaffee – eine Holzmindener Erfindung? Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 37/38, 2019/2020, 61–80). Rohrzuckeranpflanzungen scheiterten in Frankreich am Klima, doch bestimmte Rüben enthielten Zuckersaft, den man extrahieren konnte. Tabak, deutschen Tabak, konnte man in der Rheinebene anpflanzen. Das war Teilhabe, doch eine Teilhabe in kleiner Münze. Man wusste darum, nannte Ersatzkaffee Plämpel, Hutzelbrühe, Kaffeepantsch oder Lurke. Doch es war besser als das Einerlei oder aber nichts. Die neuen Surrogate unterstrichen, dass auch klimatisch gemäßigten Länder wie Deutschland die brutale und teure Kolonialherrschaft eigentlich nicht benötigten, denn diese konnten die Waren der Ferne nachmachen und dann stetig verbessern. Das galt selbst für Rum, der anfangs auch aus Rüben destilliert wurde, später als aromatisierter Kunstrum seine Abnehmer fand.

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Werbung für Kunstbutter (ab 1887: Margarine) (Würzburger Presse 1875, Nr. 10 v. 13. März, 3)

Ersatz war Teilhabe an den Gütern der Welt. Das galt auch für die Kartoffel, breiter genutzt erst seit der Hungerkrise 1770/71. Sie schuf Versorgungssicherheit, bot zugleich einen Ersatz für die Alkoholika der Tropen: Billiger Branntwein aus Kartoffeln veränderte die Alkoholkultur ebenso grundlegend wie die Knolle die Alltagskost in der Mitte Deutschlands. Ersatz bot demnach Teilhabe weit über die Genussmittel hinaus. Das unterstrichen auch exotische Angebote wie die von Fernhändlern feilgebotenen italienischen Makkaroni. Schon in den 1830er Jahren wurde sie mit Weichweizen heimisch produziert, seit den 1870er Jahren auch mit Hartweizen, dann mit Eiern. Weiteres wurde übernommen, an deutsche Geschmacksvorlieben angepasst, schließlich zu etwas Eigenem: Französische Kaninchen erweiterten das Fleischangebot just ärmerer Schichten. Das galt auch für Geflügel aus Frankreich und Italien, das zudem die kleinteilige Eierversorgung verbesserte. Der Ausbau der Milchwirtschaft seit den 1870er Jahren umfasste auch russisch-slawische Produkte wie Kumys, Kefir und seit 1906 auch Joghurt. Als Ersatzmittel wurden sie kaum mehr wahrgenommen.

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Surrogate als Mentekel für den Wandel der Welt – Klagegedicht (Abend-Zeitung 1824, Nr. 83 v. 6. April, 329)

Ersatz als Teilhabe war allerdings keineswegs herrschaftsfrei. Denn mit der Fortentwicklung der organischen Chemie trat seit den 1860er Jahren die angemessene Versorgung mit Eiweiß zunehmend in den Mittelpunkt der sozialen Frage, Lohnforderungen folgten. Arbeitgeber konterten mit Ersatzprodukten, die als billige Volksnahrungsmittel propagiert wurden. Die Rangoon-Bohne hatte einigen Erfolg, ebenso Maté-Tee. Dagegen scheiterten die Zuckerpflanze Sorghum und die hierzulande schon in den 1870er Jahren angepflanzten Sojabohnen. Halten wir kurz inne, so sehen wir ein Deutschland fern des Wilhelminischen Machtstaates. Inmitten Europas und fern der kolonialen Händel übernahm man hierzulande zahllose Anregungen von den Nachbarn und aus der Ferne. Im Rahmen der damaligen Agrartechnik gestaltete man sie um, machte sie zu deutschen Produkten, die teils wiederum – wie der Rübenzucker – zu wichtigen Exportgüter werden sollten. All das war Widerhall eines bürgerlichen-liberalen Zeitalters, in dem Austausch zum Nutzen aller herrschen sollte – fernab der ausbeuterischen Kolonialpolitik der großen Mächte.

Ersatz als wissenschaftliche und technische Neugestaltung der Natur

Seit der Mitte des 19. Jahrhundert veränderte sich die Stellung der Surrogate. Grund hierfür war der Aufstieg der organischen Chemie. Justus von Liebig bündelte französische, deutsche, niederländische und skandinavische Forschung um 1840 zu neuen wagenden Synthesen eines die Natur kennzeichnenden Stoffwechsels. Die chemischen Elemente erschienen als Schlüssel zu einer Mikrowelt, aus der sich Leben, Wachsen und Gedeihen ableiten ließ. Nutzanwendungen gab es zuerst in der Landwirtschaft, wo die Stoffzufuhr von Pflanzen und Tieren optimiert wurde. Ersatzstoffe wurden dem heimischen Dung gezielt zugesetzt, im Stoffverbund erhöhten sie die Erträge beträchtlich: Zuerst durch importierte organische Düngemittel wie Peru-Guano oder Chili-Salpeter, dann durch gewerblich produzierte Reststoffe wie das südamerikanische Fleischfuttermehl, schließlich mittels chemischer Kunstdünger wie Kali, Stickstoff und Phosphor.

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Gesunder Ersatz des Frischfleisches: Dr. Kochs Fleischpepton (Fliegende Blätter 85, 1886, Nr. 2139, 1. Beibl., 2)

Warum aber bei Tier und Pflanzen stehen bleiben? Schon Anfang des 19. Jahrhunderts hegte man Utopien einer neu gestalteten Menschenernährung: „Mit Einsicht angeordnete Reihen chemischer Versuche müssen zu Produkten führen, die nicht Surrogate, sondern jene Produkte selbst sind, denn einerley Produkt kann auf zweyfachem Wege erhalten werden, auf dem langsamen Weg der Natur, und auf dem schnellern (abkürzenden) Wege der Kunst“ (Vorschlag zu einem Surrogate aller Surrogate. Ein Wort an die Deutschen, Der Verkünder 1811, Nr. 90 v. 7. Mai, 361-363, hier 363). Chemiker, Ingenieure und Unternehmer bemächtigen sich seit den 1860er Jahren Branche nach Branche, um Kunstprodukte zu erstellen, um die Natur mit Geist zu überwinden. Kraftmehle und Milchpräparate bildeten die Muttermilch nach, halfen die Säuglingssterblichkeit zu reduzieren. Eiweiß war teuer, insbesondere das Fleisch. In den 1860er bis 1880er Jahren erschloss man mittels Fleischextraktes, Fleischpulvern und Peptonen daher die Fleischreste Südamerikas, dann auch der amerikanischen Schlachthöfe. Tierisches Eiweiß wurde durch pflanzliches ersetzt, Erbswurst und Suppenmehle Teil der Alltagskost. Die Kunstbutter Margarine etablierte sich seit den 1870er Jahren als Billigfett. Kohlenhydrate folgten mit gewissem Abstand, denn an ihnen herrschte kein Mangel. Doch ab den 1890er Jahren drangen Haferkakao, Kunsthonig und siruphaltige Marmelade vor.

Neben die Güter der gewerblichen Industrie traten nun auch Ersatzmittel aus Laboratorien: Holzessig und Essigessenzen waren billiger als natürlich vergorene Ware. Backpulver scheiterte lange vor Dr. Oetker beim Brotbacken, etablierte sich aber dann als Kuchentreibmittel. Chemische Gewürzextrakte oder das synthetische Vanillin ersetzten weitere Kolonialwaren. Das synthetische Ersatzmittel Saccharin veränderte gegen Ende des Jahrhunderts das Süßen, wurde als Rohrzuckerersatzersatz aber zeitweilig verboten. All diese Kunstprodukte sind für uns heute keine Ersatzmittel mehr, sind vielmehr Teil unseres Ernährungsalltags, ebenso wie andere Surrogate der Kaiserzeit, nämlich alkoholarmes Bier, entnikotinisierte Zigarren und entkoffeinierter Kaffee.

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Was ist echt, was unverfälscht? Werbung für Liebigs Fleischextrakt (Münchner Neueste Nachrichten 1908, Nr. 553 v. 25. November, 8)

Auf Basis wissenschaftlichen Wissens entwickelt sich das Deutsche Reich seit den 1870er Jahren zu einer industriellen Weltmacht, deren Stärken Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik bis heute Kernelemente unseres Wohlstandes sind. Die immensen Fortschritte der organischen Chemie erlaubten die Umwandlung von Reststoffen in preiswerte Massengüter, ermöglichten die Neugestaltung der Natur. Um die Jahrhundertwende schien die Schaffung einer neuen, gerechteren Welt mit Hilfe neuer Ersatzstoffe möglich. Der SPD-Vorsitzender August Bebel schrieb: „Was die Pflanzen bisher taten, werde die Industrie tun und vollkommener als die Natur“ (Die Frau und der Sozialismus, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1985, 435). Und die lieferte: Nähr- und Eiweißpräparate wie Aleuronat, Nutrose und Tropon offerierten zunehmend billiges Protein, zahllose Kräftigungsmittel folgten. Synthetische Nahrung – Fett aus Kohle – schien möglich, über eine Pillenernährung wurde öffentlich kontrovers diskutiert, nicht nur gewitzelt. Diese Träume sollten in eine bessere Welt für alle münden: Vegetarier boten nach der Jahrhundertwende nicht nur Nusspasten und Limonaden als Wegzehrung hin zu einer pflanzlichen und friedlichen Welt an, sondern auch zahlreiche Fleischersatzprodukte.

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Der Traum einer zu schaffenden Ersatzwelt: Der französische Chemiker Marcellin Berthelot (1827-1907) beim virtuellen Schöpfungsakt (Des Lahrer hinkenden Boten neuer historischer Kalender 1897, 45)

Wir sollten die Kosten dieses stets kritisch umkämpften Fortschritts allerdings im Blick behalten. Das neue, in Produkten materialisierte Wissen schuf nicht nur Märkte. Es entwertete zugleich tradiertes hauswirtschaftliches Wissen, war Kauf doch teils billiger als Selbermachen. Die Chemie schuf nicht nur Qualitätsware, sondern ermöglichte immer schwieriger zu entdeckende Fälschungen. Der Geschmack der Produkte änderte sich, nicht immer zum Guten. Das damals noch mit vielen Zusatzstoffen gebraute Bier hieß nicht umsonst „Surrogatenbrühe“ (Berliner Volksblatt 1886, Nr. 138 v. 17. Juni, 2). Das Ersatzmittelwesen schuf Träume, setzte Dynamik frei, schuf aber auch wachsende Wissensklüfte. Die Sprache wurde zunehmend brüchig, uneindeutig, denn Holzessig war etwas anderes als Weinessig. Moderate Regulierungen folgten, zuerst durch Wissenschaft und Industrie, dann auch vom Staat. Verbraucher spielten hierbei kaum eine Rolle. Ersatz bot neue Nahrungswelten, entmündigte aber zugleich.

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Übergriffige Wissenschaft (Kladderadatsch 65, 1912, Nr. 40, 6. Beibl, 1)

Ersatz in Kriegen und Krisen

Allem umkämpften Fortschritt zum Trotz behielt der Ersatz jedoch seinen dunklen Grund als eine letzte Barriere gegen Hunger und Hungertod. Notspeisen sollten akute Engpässe überbrücken, waren zumeist ein Rückgriff auf wenig einladende Naturprodukte wie Eicheln, konnten aber, wie die Rumfordsche Armensuppe, auch elaborierter sein. Hungerkrisen traten hierzulande bis 1846/47, dann nochmals 1867 in Ostpreußen auf – damals fehlte es an einer Transportinfrastruktur, war Kühltechnik nicht vorhanden. Das Arsenal der Notnahrung der vorindustriellen Gesellschaft blieb auch danach präsent, Bilder von grasfressenden „Irren“ im Ersten Weltkrieg verweisen auf die vielfach bewusst hingenommene „Übersterblichkeit“ von 42.000 Anstaltsinsassen in Preußen, die keine Ergänzung ihrer Mindestrationen erhielten. Nach den Wirren der napoleonischen Kriege, als insbesondere 1812 bis 1814 mögliche Ersatzmittel intensiv diskutiert wurden, waren es jedoch die Weltkriege und ihre Nachkriegszeiten, aber auch tiefgreifende Wirtschaftskrisen wie die Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise, die neuartige, notwendende Surrogate forderten. Sie versprachen elaboriertere wissenschaftlich-technisch Notnahrung.

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Stolze Präsentation deutscher Schaffenskraft (Vorwärts 1917, Nr. 8 v. 11. Januar, Unterhaltungsbl., 16)

Während des Ersten Weltkriegs sah sich das Deutsche Reich mit einer völkerrechtswidrigen Seeblockade der Entente konfrontiert. Schon 1914 wurde mit Kartoffeln gestrecktes K-Brot eingeführt. Seit 1915 folgten erstens freiwillige Versuche, Lebensmittel zu substituieren: Magermilch und Hülsenfrüchte sollten Fleisch ersetzen, Kartoffeln und Roggenbrot Weizenmehl und -brot. Zweitens sollte man wie in alten Zeiten Wildpflanzen wie Bucheckern und heimische Gewürze sammeln, Handlungsroutinen der vorindustriellen Zeit aufgreifen. Die moderne Zeit manifestierte sich drittens in der Resteerschließung, denn Blut und Tierkadaver, auch das den Abwässern abgerungene Fett oder Stroh sollte Menschen nähren. Hinzu kamen viertens verarbeitete Produkte, allesamt vor dem Krieg verfügbar, durch den Nahrungsmangel nun aber akzeptabel: Trockenmilch und -eier kamen auf, Nährhefe, Fischfleisch und Hefeextrakte, Presskaffee aus kaffeeähnlichen Substanzen.

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Werbung für Tee- und Ei-Ersatz (Anzeiger für Lebensmittelverteiler in Frankfurt a.M. 2, 1918, Nr. 1, 3 (l.) Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 636 v. 13. Dezember, 4)

Doch das „Zeitalter des Ersatzes“ verkörperten vorrangig die bis 1919 etwa 12.000 angemeldeten Ersatzmittel. Sie verdichteten Nähr- und Reststoffe zu Produkten mit wohlklingenden Namen: Fleisch- und Wurstersatz, Suppenwürfelsubstitute, künstliche Salatöle, Kunstlimonaden, etc. Der Markt wuchs rasch, 1917 wurde ein Siebtel der Nahrungsausgaben darauf verwandt. Diese Ersatzmittel waren zumeist überteuert, von fraglicher Qualität, teils gesundheitsschädlich. Neu eingerichtete Kontrollinstanzen konnten dem kaum Einhalt gebieten. Diese Ersatzmittel waren Ausgeburten wissenschaftlicher Vernunft, selten seriös, vielfach kriminell. Es handelte sich um eine Kommerzialisierung der Not, um ein perfides Spiel mit den Erinnerungen an früher erhältliche Lebensmittel gleichen Namens. Und doch, die Menschen in den Städten kauften, denn Schlechtes war besser als nichts. Am Ende der bis 1921, teils bis 1923 währenden Rationierungswirtschaft hatte der Begriff Ersatz seinen früher durchaus auch positiven Bedeutungsgehalt jedoch verloren. Anzeigen warben mit „Kein Ersatz!“ – der Begriff mutierte zur Ausgeburt des Schlechten.

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Ersatzmittelwerbung und resultierenden Alltagsprobleme (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 633 v. 13. Dezember, 10 (l.); Meggendorfer Blätter 114, 1918, 98)

Nie wieder! in der Bevölkerung, nicht aber bei den Funktionseliten in Wissenschaft, Industrie und Politik. Nicht nur hatte ein „Nährstoffausschuss“ seit 1917 im Auftrag des Kriegsamts an neuen Verfahren geforscht, von der Brotstreckung über die Getreideentkeimung bis hin zur Nutzung von Laub, Schilf und Quecken für Nahrungsmittel. Auch nach dem verlorenen Krieg, insbesondere aber nach dem als „Diktat“ verstandenen Friedensvertrag von Versailles war es bei den Funktionseliten kaum umstritten, dass nationale Selbstbehauptung auf erhöhte Resilienz durch Technik und Wissenschaft setzen müsse. Verbesserte Ersatzmittel seien ein wichtiges Mittel, sich der „Sklaverei des Lebensmittel-Weltmarktes“ (Carl von Noorden, Ernährungsfragen der Zukunft, Berlin 1918, 55) möglichst zu entziehen. Wachsender Förderung des Agrar- und Ernährungssektor zum Trotz, lagen die Schwerpunkte der neuen Ersatzmittelwirtschaft bei Großchemie und Schwerindustrie, beim Rohstoff Kohle und der chemischen Synthese. Diese „Flucht in den Käfig“ (Ulrich Wengenroth) mochte teuer sein, doch sie könne einen neuerlichen Zusammenbruch der „Heimatfront“ verhindern helfen.

Die Ergebnisse dieser Forschung waren wissenschaftlich ansprechend, allerdings zu teuer, teils auch qualitativ zweitklassig. Neue Faserstoffe wie Kunstseide, die Indanthrenfärbung, das Verpackungsmaterial Cellophan und der im Versuchsstadium stehende Holzzucker zeugten von einem Wandel der Forschungsrichtung, weg von End-, hin zu Zwischenprodukten. Ersatzmittel verschwanden begrifflich, Rübenzuckerrum mutierte zu „Deutschem Rum“, von dem Anfang der 1920er Jahre weit über eine Millionen Liter produziert wurden. Ein höherer Selbstversorgungsgrad wurde parteiübergreifend gefördert, zunehmend „Nahrungsfreiheit“ (Kölnische Zeitung 1924, Nr. 450 v. 28. Juni, 6) gefordert, Ernährung von deutscher Scholle, Verzicht auf allzu viele Südfrüchte, Kakao oder Kaffee. Die Züchtungsforschung etablierte parallel deutschen Hartweizen, Süßlupinen, verschob den Weizenanbau nach Norden. All das waren Grundlagen für qualitativ hochwertigen Ersatz. Autarkie wurde wieder denkbar.

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Autarkieträume (Uhu 9, 1932/33, H. 3, 73)

Seit 1934 trat an die Stelle des verschlissenen Begriffs des Ersatzes dann der „Austauschstoff“, von Wirtschaft und Staat geadelt. Er stammte aus dem Grenzgebiet zwischen Ingenieurswissenschaft und Planungssprache, war Teil der Sprachpflege des NS-Regimes. Künstliche Werkstoffe seien „hochwertige heimische Austauschstoffe“ (Tag der deutschen Technik in Breslau, Wittener Tagblatt 1935, Nr. 129 v. 5. Juni, 2). Im Rahmen der 1936 einsetzenden „Kampf dem Verderb“-Kampagnen wurde dieser Ersatzbegriff auch auf den Lebensmittelsektor übertragen, wenngleich im Rahmen der forcierten Aufrüstung seit dem Vierjahresplan Gebrauchsgüter wie Buna (künstlicher Kautschuk), synthetischer Treibstoff, Kunstseide, Kunstharz oder Zellwolle dominierten, allesamt Zeugnisse der schaffenden Kraft der Großchemie. Doch die Virtuosen der Lebensmittelverarbeitung standen dem kaum nach: Die Gemeinschafts- und Wehrmachtsverpflegung war ihre Spielwiese, hier wurden neue Stoffe, Vitamine, Aromen, Mineralstoffe in neue Dauerwaren integriert, eine männliche, außerhäuslich produzierte Kost. Einfach zu handhaben, meist aus heimischen Rohstoffen, haltbar, abwechslungsreich, die zahllosen Sojabohneneinsprengsel nicht sichtbar.

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Bis zum bitteren Ende: Sonderrationen mit Schokakola und Nahrungskonzentraten (Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 1, 1)

Das Bewährungsfeld der neuen Ersatzwaren blieb jedoch die Alltagskost, die unter gesundheitlichen, wehrwirtschaftlichen und rassistischen Aspekten umgestaltet wurde. „Normale“ Produkte waren reflektierter Ersatz, etwa bestrahlte Milch, vitaminisierte Margarine, Puddingpulver aus deutscher Kartoffelstärke, Hefeextrakte und Würzpräparate. Es ging um die Abkehr von Importware, eine fettärmere Kost, mehr pflanzliches Eiweiß, mehr Frischkost. Der neue Ersatz war teils besser als vorherige Produkte, so der nun aufkommende Fruchtsaft oder das Vollkornbrot von deutschem Boden. Staat und Partei griffen schon vor dem Krieg systematisch ein, veränderten Kennzeichnungspflichten, lenkten den Verbrauch: Seefisch statt Fleisch, Walfettmargarine, pflanzliche Bratlinge. All das war ernährungswissenschaftlich optimiert, leitet bis heute die Gesundheitspolitik; auch wenn es schon damals die Mehrzahl nicht überzeugte.

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Glaube an Führer und Wissenschaft (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 432 v. 18. September, 155)

Während des Weltkrieges zeigte sich nochmals eine neue Palette von Ersatzwaren, die durch verbesserte Technologie und Konservierungsverfahren auch Grundlagen für die Wirtschaftswunderzeit legten. Zwischenprodukte veränderten das Backhandwerk, Eiweißpulver wie Plenora und Wiking-Eiweiß wurden Standard, Kunstpfeffer und Käsepulver etablierten sich, Volksgetränke aus Hefe, Molke und Magermilch verwerteten Reststoffe. Ab 1939, mit der vor Kriegsbeginn einsetzenden Rationierung, wurde viele dieser Produkte obligatorisch. Sie waren durchaus leistungsfähig und kostengünstig: Das Magermilchprodukt Milei ersetzte noch 1944 1,3 Mrd. Eier – das entsprach den Eierimporten des Jahres 1936. Das topffertige, biologisch vollwertige Migetti bestand aus Molke und Stärkemehl, substituierte die ab Anfang 1940 nicht mehr produzierten Eiernudeln. 1944 wurden 16 Millionen Packungen verkauft.

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Austauschgeräte im zuvor bekannten Markenkleid (Die Kunst für Alle 56, 1940/41, H. 1, Anhang, 11)

Die Ersatzstoffwirtschaft der NS-Zeit knüpfte an die gestalterische Fantasie (auch Fanta war ein Ersatzgetränk dieser Zeit) des Kaiserreichs und des Ersten Weltkrieges an. Tierfutter wurde optimiert, um Lebensmittel für Menschen freizumachen. Synthetische Fette oder Biosyn-Wurst führen in die Lagerwelten des NS-Regimes, denn sie wurden auch in Menschenversuchen erprobt, verursachten Hunderte von Toten in Konzentrationslagern. Die verantwortlichen Wissenschaftler sind kaum belangt worden, fanden sich nach dem Krieg eher in internationalen Gremien wieder, wurde außerhalb des Reichs doch an ähnlichen Austauschprodukten geforscht.

Ersatz als kontinuierlicher, kaum sichtbarer und anders benannter Fortschritt

Ersatzmittel blieben auch nach dem Krieg unverzichtbar, waren während der Besatzungszeit Teil des Überlebens. Sie etablierten sich als Zwischenprodukte, wurden in Kantinen, Menagen, Krankenhäusern und Lagern gereicht, in Produkten, unsichtbar. Kritik an den Auswüchsen der Ersatzmittelwirtschaft war allgegenwärtig, doch die bezog sich auf Qualitätsverschlechterungen, schlechten Geschmack, grelle Färbung. Mit der langsamen Aufhebung der Rationierung verschwanden viele dieser Produkte vom Markt, im Westen schneller als im Osten. Doch die Substitution der Produkte begann von neuem, schneller gar als zuvor, denn ausländische Technik erweiterte die Fertigkeiten der Lebensmittelproduktion.

Ersatzmittel prägten auch und gerade die Nachkriegszeit. Doch Begriffe wie Surrogat, Ersatz, Austauschprodukt wurden durch neue positive Begriffe ersetzt, wurden Teil einer ästhetischen Inszenierung, im Westen stärker und früher als im Osten. Über Ersatzkaffee, dem bis Mitte der 1950er Jahre wichtigsten Heißgetränk, hieß es nun: „Er ist so frisch, so rein und mild, so bekömmlich. Vor allem aber: er schmeckt immer wieder so gut“ (Kristall 14, 1959, 131). Margarine wurde, nun „gesund“, zum wichtigsten Streichfett, verlor seine Stellung in der Küche aber bald an raffinierte Pflanzenöle, die später ergänzt und ersetzt wurden durch kalt gepresste Olivenöle. Die Veränderung tradierter Genussmittel wurde durch starke Marken überdeckt, denn natürlich waren Nescafe und Kafix, Kaba und Nesquik keine Ersatzmittel, sondern innovative Instantprodukte. Sprache und Produkte wandelten sich parallel mit der seit Ende der 1950er Jahre gängigen Selbstbedienung, dem rapidem Wachstum der Läden. Waren und Verpackungen veränderten sich, mussten für sich selbst sprechen, sich nach den Kundenwünschen richten. Die Härten der Lebensmittelproduktion, die schwierige Arbeit die Ware haltbar, schmackhaft und ansehnlich zu gestalten, sie entglitt dem Augenschein der Konsumenten – parallel zum massiven Abschmelzen der Landwirtschaft, die 1933 noch mehr Beschäftigte als die Industrie aufwies. Die Warenwelt war eine der Technik, der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, der Absatzwissenschaften, richtete sich zunehmend an den Forderungen des erstarkenden Handels aus.

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Linde Kaffee als Garant eines bescheidenen, glücklichen Lebens (Kristall 16, 1961, Nr. 17, 47)

Die Experten knüpfen an die Vorarbeiten der Kriege und Kriegszeiten an, doch nicht mehr Not und Enge, sondern zunehmend Fülle und die Freude am Neuen bestimmte das Angebot. Die Konservierungstechnik wurde verbessert, Kühltechnik setzte sich durch, ebenso neue Verpackungen, Kunsträume der Haltbarkeit. Verbesserte Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung, der Stoffprofile machten Ersatz einfacher, konnte man doch Einzelelemente verändern, während das Produkt scheinbar gleich blieb. Nicht Milch wurde nun in den Blick genommen, sondern Milcheiweiß und Milchfett, dann die in der Milch befindlichen Amino- und Fettsäuren – und jede dieser Komponenten konnte gesondert gewonnen, verändert und weiterverwertet werden.

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„Kraft“ aus der Verpackung: Knorrprodukte ersetzten Frischwaren und Kochen (Der Markenartikel 30, 1968, 255)

Diese Veränderungen ermöglichten neuerlich Teilhabe, eine Demokratisierung des Konsums. Die alten Utopien, sie kamen in anderem Gewande daher, die durch die EWG und GATT ermöglichte neuerliche Weitung bot dazu eine zuvor unbekannte Rohstoffgrundlage. Exotik drang vor, erst in Dosen, dann im Kühlregal. Essen wurde vielgestaltiger, Teil des Suchens nach Erlebnissen, nach dem kleinen Urlaub auf dem Teller. Die Lebensmittel änderten sich, doch von Ersatz war nicht mehr die Rede, mochten auch jährlich tausende, ja bald zehntausende Produkte ausgetauscht werden.

Und doch, auch in diesem Umfeld gab es Angebote von Ersatz, genauer von „synthetischer Kost“. Zahllose Formen von „Space Food“ begleiteten das Rennen der Supermächte zum Mond, wurden Teil der Populärkultur. Synthetische Nahrungsmittel erschienen in den 1960er und 1970er Jahren als probates Mittel der Eindämmung des Hungers in der Dritten Welt (Magnus Pyke, Synthetic Food, London 1970; Aaron M. Altschul (Hg.), New Protein Foods, New York et al. 1976). Auf dem eigenen Teller aber wollte man derartigen Ersatz nicht haben: Das 1968 aus entfettetem Sojabohnenmehl hergestellte Kunstfleisch TVP (Texturized Vegetable Protein) kam hierzulande über neugierig begleitete Testverkäufe nicht hinaus. Das „Kunstschwein“ verblieb in den USA in der Nische des Vegetarier und Prepper (James Talmange Stevens, Making the Best of Basics. Family Prepardness Handbuch, 5. Aufl., Salt Lake City 1976, 131-142).

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Scheitern im Massenmarkt: TVP-Kunstfleisch bei einer Verkostung in Hamburg – und ästhetisch aufbereitet (Der Verbraucher 23, 1969, Nr. 7, 29 (l.); Dorothy R. Bates, The TVP-Cookbook, Summertown 1991, 1)

Lebensmittel waren immer weniger einfach verarbeitet, Vorstufe zum häuslichen Kochen. Convenienceprodukte drangen vor, erforderten neue Haushaltstechnik, verlängerten die Kühlkette bis in den Haushalt, förderten Schnellkochtöpfe, Schnellherde, Mikrowellen. Fertiggerichte ersetzten die einzeln kaufbaren Rezeptbestandteile. Der Geschmack war anfangs gewöhnungsbedürftig, doch Alupackungen und Plastikabdeckungen wurden verbessert, dann durch „Chilled Food“ und „Frische to go“ ersetzt. Geschmack war auch Folge der Aromatisierung, anfangs mit künstlichen, dann mit natürlichen Aromen: Bereits Mitte der 1990er Jahre ein Fünftel des Angebots. Lightprodukte besaßen weniger Fett, zugleich aber noch das so wichtige Mundgefühl. Entkoffeinierte, alkoholarme und kalorienarme, dennoch süße Produkte waren seit den 1970er Jahren gängig, gewannen Marktanteile. Der Markt war leistungsfähig, Zukunftsgarant und Problemlöser, mochten um jede Phase des Ersatzes auch Kämpfe um das Neue ausgefochten werden.

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Ersatz des Alten: Fertigkroketten und Instantgetränke (Chic 1973, Nr. 11, 175 (l.); Hamburger Abendblatt 1972, Nr. 154 v. 6. Juli, 10)

Die Hauptwirkung all des Neuen war eine massive Veränderung der alten, auf eine überschaubare Zahl heimischer Produkte gründenden Ernährungsweise. Kartoffeln, um 1900 mit 300 kg pro Kopf und Jahr Kernbestand deutscher Ernährung, wurden nicht nur seltener verzehrt, sondern erschienen in neuer verarbeiteter Form. 54 kg sind es gegenwärtig, doch nurmehr 16 kg davon sind Frischware, der Rest wird als vorgefertigte Pommes, als Chips oder fertigem Kartoffelsalat gegessen. Getreide wird zu drei Fünfteln verfüttert, zu einem Fünftel verfeuert und 80 kg vorwiegend verarbeitet gegessen. Auch die relative Konstanz des Fleischkonsums ging einher mit einem großenteils verarbeiteten Angebot, darunter auch die erst seit 1949 verbreitete Currywurst, die als Kantinenbockwurst seit 1973 die Facharbeiter bei Volkswagen nährte. Die neuen Ersatzwaren sind schmackhaft, werden allseits konsumiert: 400.000 Tonnen Tiefkühlpizza verkörpern den Wandel plakativ, dreizehn pro Kopf und Jahr; ein ästhetisch dargebotenes Mischgericht, über dessen Einzelbestandteile der Kunde kaum etwas wissen dürfte.

Wer im Lebensmittelhandel einkauft, weiß häufig nicht, was er schließlich mit nach Hause trägt. Gewiss, Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch jedes Produkt ist doppelbödig, stofflich und rechtlich definiert, Ausdruck eines vorgelagerten Expertenwissens, ohne das der Einkauf gar nicht möglich wäre. Das hat große Vorteile, erlaubt der Mehrzahl sich dem Leben abseits der Mühen um die tägliche Kost zu widmen. Doch es führt zu Unschärfen, zu Ängsten um Selbstbestimmung und Gesundheit, um Identität und moralische Integrität.

Ersatz in einer Welt ohne Zukunft

Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Die neuen Ersatzmittel verkörpern neue Wahlmöglichkeiten, verkaufen Weltverbesserung in kleiner Münze. Neu ist an diesen vielfach als „vegan“ ausgelobten Ersatzmitteln nicht viel, denn Fleisch- oder Milchersatz gab es seit den 1890er Jahren, Ersatz des tierischen Eiweißes seit den 1860er Jahren: Ideenhort waren liberale Ideen einer Weltgesellschaft des Austausches und der Teilhabe – und Bemühungen um billige Substitute für die Arbeiterschaft. Weltverbesserung war auch damals Ziel vieler Forscher.

Doch die Unterschiede sind ebenfalls beträchtlich. Da ist erstens das offensive Werben und lustvolle Eintreten für einen reflektierten Ersatz. Ersatz wird wieder sagbar, gar modisch. Der drohende Untergang erfordert andere Konsummuster. Globale Gerechtigkeit steht auf den Fahnen, wichtiger noch erscheint die Gefahr des manifesten Klimawandels. Vegane und vegetarische Produkte werden als weltwendend und weltrettend angeboten – und das obwohl die Selbstversorgungsraten bei Gemüse bei 38 Prozent, bei Obst bei lediglich 20 Prozent liegen und Frischwarenimporte offenkundig nicht klimaneutral sind. Doch angesichts der mit der Fleischproduktion verbundenen Emissionen scheint das kaum von Belang.

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Geschmacksrevolution mit veganen Bratwürsten (Eve 2023, Nr. 3, 43)

Der neue Ersatz ist zweitens marktfromm. Gewiss, man sieht sich in der Tradition der Warnungen des Club of Rome und der seither allgemein bewussten Welthungerproblematik. Doch die damaligen sozialen Bewegungen versuchten noch eine konsum- und kapitalismuskritische ökologische Kultur zu etablieren. Sie gründete auf eigenem Handeln, auf das Gegenbild von Kommunen, Genossenschaften, einer anderen Land- und Hauswirtschaft. Die neuen Ersetzer fordern die große Umkehr, kaufen sie jedoch als Ware oder Dienstleistung. Es geht um Retro durch Technik, um Erbsen oder Hanföl, beides gängig im frühen 19. Jahrhundert. Es geht um neue Eiweißträger, meist pflanzlich, teils tierisch durch Insekten oder aber Laborfleisch. Die Ackerarbeit wird in die Stadt einpflanzt, „Clean Gardening“ propagiert, von grünen Städten als Orten des Ausgleichs, des multiethnischen Zusammenlebens und gesunder Nahversorgung geträumt. Man selbst aber tut wenig, ersetzt hier und da seine Einkaufskomponenten, denn die sind ja bequem aufzuwärmen, nähren, gelten als schmackhaft, ja Genuss.

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Knusprig und gut für unseren Planeten: Paniertes Ersatzschnitzel (Mit Liebe 2024, Nr. 1, 21)

Die neuen Anbieter sind drittens geschichtsvergessen, zeichnen ihre eigene Zukunft aber in rosigen, unrealistischen Farben. Mandelmilch, seit ca. 2000 als gesunde und klimaschonende Alternative in aseptischer Verpackung von kalifornischen Produzenten in den Markt gedrückt, zielt vorrangig auf den asiatischen Markt, wo Tee durch Kaffee verdrängt wird, ein Kaffeeweißer für die großenteils laktoseintolerante Kundschaft ökonomisch höchst attraktiv ist. Mandelmilch war hierzulande im 19. Jahrhundert ein Erfrischungsgetränk bürgerlicher Frauen, auch Zwischenprodukt in der Säuglingsernährung und der Margarineproduktion, dann gängige Reformware. Erst die Marketingmacht der Weltmarktführer änderte dies. Fleischersatz wird von global tätigen Firmen erforscht und vermarktet, das nicht erfolgreiche Pionierprodukt Beyond Meat gewann auch durch Finanzspritzen des weltgrößten Fleischproduzenten Tyson Food seine zeitweilige Marktführung. Nerdige Startups dominieren das Marketing, doch der Markt wird von finanzkräftigen Firmen mit weit reichenden Absatzketten dominiert. Irreale Wachstumsszenarien schleifen sich im Markt ab und brechen. In Schrot & Korn, Eve, Vegan World, etc. dominieren derweil spannende Mischungen aus Weltuntergangsszenarien, Gestaltungsoptimismus und Werbung für zukunftserhaltende Produkte, vielfach eingebettet in eine bäuerliche Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Arbeit und Fron fehlen, der urbane Kunde scheint eher an einer fiktiven Ersatzwelt interessiert.

Ersatz heute – eine fehlgeleitete Debatte

Die heutigen lustvoll beworbenen Ersatzmittel sind Teil einer alternativlosen Marktvergesellschaftung, der damit verbundenen Arbeitsteilung, der Befreiung von eigener kulinarischer Arbeit. Sie sind eingebettet in Szenarien bestehender Probleme, die apokalyptisch erhöht werden, denn so ist höhere Wertschöpfung möglich, sind die meist hochverarbeiteten Produkte voller Zusatzstoffe als natürlich und nachhaltig, gar als Alternative zum Bestehenden zu bewerben: „Mit Ei-Ersatz die Welt retten“ (Kronenbach 2023, Nr. 3, 74).

Der neue Ersatz ist ein faszinierendes Beispiel des nimmer versiegenden Spieltriebs und Gestaltungswillen vieler Lebensmitteltechnologen und Marketingspezialisten. Sie vermögen es, künstliche Ersatzprodukte zu naturalisieren, ihren altbackenen Ersatzcharakter mit Sprachspielen zu übertönen. Seit der Gründerzeit wurde derartiger „Materialschwindel“ (Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins 21, 1871, 17) kritisch verdammt, wetterten Vertreter des Echten öffentlich gegen den Ersatz. Heute ergötzt es uns wieder.

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Convenienceprodukte, Ersatz und hochverarbeitet: Bestes Bio 2024 (Schrot & Korn 2024, Nr. 1, 34)

Derweil sucht die Mehrzahl der Bevölkerung Trittfestigkeit in einer fluiden, krisenhaften Welt voller Wohlstand. Die eigene Nahrung ist hochwertig und vielgestaltig, doch 1,5 Mrd. € werden jährlich für Nahrungsmittelergänzungsmittel ausgegeben. Allüberall dröhnt es, dass man sein Leben ändern müsse. So hält man sich fest an vertrauten Symbolen wie der Currywurst, mag diese bei VW ab 1973 auch andere Speisen ersetzt haben, allerdings keine veganen. In den heutigen Kulturkämpfen stehen die verunsicherten Alten jungen, akademisch gebildeten, wirtschaftlich und medial präsenten Gruppen gegenüber, vermeintlichen Gipfelmenschen. Sie betreiben Planspiele mit der Welt, ohne Rückfrage, ohne Mitwirken der Betroffenen. Körper sind ihnen auf Biofunktionalität getrimmte Gestaltungsmasse, sie deuten Genuss in Form reflektierter Kasteiung mit neuen Ersatzmitteln, hegen zugleich Heilserwartungen an Technik und Wissenschaft, an die Arbeit der anderen. Unsere heutigen Kulturkämpfe um eine zeitgemäße Ernährung erschöpfen sich in Spiegelfechtereien, die in Zeiten echter Krisen nicht durchzuhalten wären. Allseitige Unsicherheit prägt die polaren Debatten, der imaginierte Feind hilft die Reihen zu schließen.

Die Lust am Ersatz ist spannend durch das, was nicht diskutiert wird. Es geht um den Kauf von Produkten, um nicht mehr und nicht weniger. Die Kulturkämpfe um den Ersatz ignorieren den steten, in einer modernen Gesellschaft nicht stillzustellenden Wandel der Alltagsangebote, des als solchen nicht benannten Ersatzes. Sie werden geführt ohne genauere Kenntnisse unserer kulinarischen Vergangenheit, von Menschen, die von Ackerbau und Viehzucht kaum etwas verstehen, die nicht mehr täglich kochen und vielfach nicht mehr kochen können. Vegane und andere Ersatzmittel werden ihre Nische finden, doch ihre Bedeutung weit hinter den Verheißungen zurückbleiben. Sie werden veralten, durch neue ergänzt und ersetzt werden. Für die Zukunft unserer Welt dürften andere Probleme vorrangig sein.

Uwe Spiekermann, 24. Februar 2024

Spätzle – Werden und Wandel einer Regionalspeise

„Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimath besitzen.“ Dies Eingangszitat von Theodor Fontanes (1819-1898) Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Berlin 1862, VI) ist ein Schlüssel für die Erkundung der damals durchbrechenden Moderne, auch der heutigen Zeit. Lange zuvor waren die engen Bande der ständischen Gesellschaft zerbrochen, stellten sich Fragen nach Herkunft, nach landsmannschaftlicher und nationaler Identität. Der heute fast vergessene schwäbische Freiheitsdichter Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) wetterte bereits 1775 gegen den schneekalten Weltmann, den Kosmopoliten: „Was Vaterland? Haha, ha, ha! / Mir ist, weil ich erfahrner bin, / Die ganze Welt mein Vaterland, / Wo für mich Brot und Ehre ist, / Da ist mein Vaterland!“ (Sämmtliche Gedichte, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1825, 26) Für Schubart war Heimat dagegen Urgrund, Herzblut, der Ort des ersten Odems, der tränkenden Mutter. Fontane unterminierte derart festen Boden: Heimat ist nicht, sondern sie entsteht erst in der Interaktion mit Fremdem. Dadurch aber wandelt sie sich, wird brüchig, fluid, ist bedroht, wird verloren, muss bewahrt und gerettet werden. Dem jagen wir nach, erbauen uns eine Welt mit Heimatbezug. Doch das sind zumeist Substitute – so wie das Pressglas und die Furniermöbel von Fontanes bürgerlichen Zeitgenossen. Machen wir uns also, wie Fontane, auf die Reise, blicken wir in die Ferne. Nehmen wir eine regional scheinbar eindeutig zuschreibbare Speise in den Blick, die Spätzle.

Drei Aspekte sind dabei stets im Auge zu behalten: Erstens sind schwäbische Spätzle (resp. Knöpfle) seit 2012 eine von der EU normierte regionale Spezialität mit geschützter geographischer Angabe. Demnach handelt es sich „um eine Eierteigware aus Frischei mit Hausmachercharakter, unregelmäßiger Form und raurer, poriger Oberfläche, bei welcher der zähe Teig direkt in kochendes Wasser/Wasserdampf eingebracht wird“ (Amtsblatt der Europäischen Union v. 1. Juli 2011, C 191, 20-23, hier 20). Solche Spätzle müssen aus Weizen- oder Dinkelmehl bestehen und Frischei enthalten, als Frischware mindestens acht Eier pro Kilogramm Mehl resp. Grieß, als Trockenware lediglich zwei. Die EU-Verordnung dient der Vermarktung und der Marktsicherung. Die historische Herleitung ist dürr, vielfach fraglich, ja fehlerhaft. Die Spätzleherstellung wird bis ins frühe 18. Jahrhundert, bis 1725, zurückgeführt (so schon Spätzle, in: Deutschlands kulinarisches Erbe. Traditionelle regionale Lebensmittel und Agrarerzeugnisse, Cadolzburg 1998, 168-169, hier 168), doch nähere Angaben fehlen, bleiben vage – auch wenn die Zuschreibung weniger abenteuerlich ist als bei anderen „regionalen Spezialitäten“ dieses Landes, etwa dem Baumkuchen. Allerdings ist sicher, dass die häusliche Spätzleherstellung im 19. und frühen 20. Jahrhundert den EU-Regularien häufig nicht entsprach. Die Schwaben waren keine Eierprotzer, Spätzle eine Mehl-, keine Eierspeise.

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Relative Nennungen des Wortfeldes „Spätzle“ im Gesamtkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache 1700-1999 (DWDS.de)

Zweitens erlaubt der Wortfundus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache historisch spannende, zugleich aber irritierende Einsichten. Das Wort „Spätzle“ findet man seit den späten 1770er Jahren, doch im folgenden Jahrhundert nahm seine Häufigkeit nicht sonderlich zu. Erst seit den 1890er Jahren stieg die Trefferzahl. Der relative Höhepunkt der „Spätzle“-Nennungen lag jedoch in der Zwischenkriegszeit, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Relativzahlen verringerten sich in der langen Nachkriegszeit deutlich, auch wenn „Spätzle“ bis zur Jahrtausendwende immer noch häufiger benutzt wurde als im langen 19. Jahrhundert. Gewiss, der Wortfundus ist begrenzt und einseitig, lässt nur grobe Rückschlüsse auf die Alltagssprache zu. Zudem war das Wortfeld breiter. Wichtige Rezeptbegriffe fehlen, etwa „Spatzen“ oder „Wasserspatzen“. Zudem nannte man „Spätzle“ insbesondere in Baden, dem Elsass und dem bayerischen Schwaben auch „Knöpfle“, ein scheckiger Begriff, der leider auch als Eigenname so häufig verwandt wurde, dass Verlaufskurven nicht aussagefähig wären. Halten wir aber fest, dass „Spätzle“ im 20. Jahrhundert offenbar weit häufiger verwendet wurde als während der guten, alten Zeit der heutzutage vielbeschworenen schwäbischen Spätzlekultur im 19. Jahrhundert.

Der deutlich engere Wortfundus der Zeitungsnennungen setzt erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein: „Spätzle“ fristeten darin bis in die 1980er Jahre ein eher marginales Dasein. Dann aber findet man das Wort immer häufiger. Das kann auf eine Revitalisierung der Speise hinweisen, dürfte aber eher an der Selbst- und Fremdbezeichnung der Schwaben, der Südwestdeutschen liegen. Die immens angestiegene Zahl der Buchtitel mit „Spätzle“-Bezug legt jedenfalls nahe, dass die symbolische Bedeutung des Begriffs die der Speisenbezeichnung längst in den Schatten gestellt hat. Die PR-Maßnahmen der baden-württembergischen Regierungen und die vielfach beklagten „Spätzle-Connections“ in Politik, Wirtschaft und Fußball weisen zudem auf Bedeutungen fern der Mehlspeise.

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Relative Nennungen des Wortfeldes „Spätzle“ im Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache nach 1945 (DWDS.de)

Drittens ist es für unsere kleine Reise zum Werden und Wandel der Spätzle unabdingbar, über Stellung und Bedeutung regionaler Küchen insgesamt nachzudenken (vgl., auch für weitere Literatur, Uwe Spiekermann, Deutsche Küche – eine Fiktion. Regionale Verzehrsunterschiede im 20. Jahrhundert, in: Kurt Gedrich und Ulrich Oltersdorf (Hg.), Ernährung und Raum, Karlsruhe 2002, 47-73; ders. Europäische Küchen. Eine Bestandsaufnahme, in: Wulf Köpke und Bernd Schmelz (Hg.), Das gemeinsame Haus Europa, München 1999, 801-817). Insbesondere Tübinger Volkskundler (resp. Kulturanthropologen) haben hierzu grundlegende Vorarbeiten geleistet.

Utz Jeggle (1941-2009) verwies auf die Grundkriterien einer gelebten regionalen Ernährungskultur: Für sie sei charakteristisch, dass die Nahrungsmittel überwiegend selbst produziert werden, die Zubereitung wenig aufwendig ist, auffällig viele Wiederholungen bestehen, zudem eine gewisse zeitliche Rhythmik nachweisbar ist. Ferner gruppiert sich das Essen immer auch um den Verzehr von Fleisch, der wenigen Tagen und bestimmten sozialen Gruppen vorbehalten ist (Essen in Südwestdeutschland. Kostproben der schwäbischen Küche, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 82, 1986, 167-186, hier 172). Diese Kriterien bildeten in Schwaben und anderswo ein gelebtes Ensemble, einen inneren Zusammenhang, geprägt durch und eingebettet in die wirtschaftliche und soziale Lage. Einzelne Punkte herauszubrechen, einzelne Speisen hervorzuheben, verkenne demnach die Grundkriterien einer regionalen Küche: „Die Verfügbarkeit über einzelne Mosaiksteine des traditionellen Systems ist also ein untrügliches Zeichen für dessen Auflösung“ (Ebd., 178). So gedacht, fand Jeggle bei der Auswertung von Preisausschreiben zur schwäbischen Küche „keine Einheit und keine klaren Grenzlinien“ (Ebd., 171) mehr. Vor vier Jahrzehnten bereits wies er die schwäbische Küche in das Reich des nicht mehr Praktizierten: „Es gibt kein regionales Repertoire mehr, es gibt keine statistisch relevanten Häufigkeiten von Speisen an einzelnen Wochentagen, es gibt keine Regelmässigkeiten in den Relationen gebraten/gekocht, kalt/warm, süss/salzig“ (Ebd. 182). Wer über Einzelspeisen wie Spätzle redet, hat offenbar die regionale Ernährungskultur schon verloren.

Konrad Köstlin wollte es beim Läuten des Todesglöckchens nicht bewenden lassen, verwies stattdessen – schon mit Bezug auf das Fontane-Zitat – auf die Vielgestaltigkeit von regionalen Speisen, regionaler Küche. Letztere habe zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Ebenen, „eine weitgehend nicht thematisierte, aber verwirklichte Küche des Alltags, die bei aller Nivellierung auch regionale Einschübe zeigt, und eine nach außen gerichtete, vor allem in den Situationen des Zelebrierens von Identität realisierte Küche; in ihr firmieren die ‚typischen Gerichte‘ als regionale Kultspeisen“ (Heimat geht durch den Magen. Oder: Das Maultaschensyndrom – Soul-Food in der Moderne, Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg 4, 1991, 147-164, hier 153). Eine nicht mehr gelebte regionale Ernährungskultur kann demnach symbolisch weiterexistieren, ja an Bedeutung gewinnen. Dazu müssen Einzelbestandteile, insbesondere Speisen, verständlich nach innen und außen kommunizierbar sein: Wer von Spätzlen redet, muss also von Besonderheiten der schwäbischen Küche nicht reden. Die symbolische Küchenkultur ist geglättet, durch diese Verallgemeinerung jedoch anschlussfähig. Sie diene als materiell fiktive, gleichwohl vorhandene „Stimmungsheimat“ (Ebd., 156). Sie entwickele zugleich eine eigene Realität, eine teils gewählte Einheit, ermögliche Identität. Diese zweite Realität ignoriert wesentliche Elemente der von Max Weber (1864-1920) beschworenen Entzauberung der Welt. Stattdessen verzaubert sie die Welt neuerlich, macht sie erträglich, bietet Orientierung und (virtuelle) Bewahrung.

Derartige philosophisch-ästhetische Überlegungen verweisen auf eine kompensatorische Aufgabe von Alltagskultur und Kulturwissenschaften, der strikt zu widersprechen ist. Eine sich selbst reflektierende und kritische Wissenschaft bedarf allerdings einer Rückbindung an wirtschaftliche und soziale Lebensrealitäten und Konfigurationen, an die Deutungskulturen und Empfindungen der Verstorbenen. Andernfalls analysiert man nicht, sondern wabert verdoppelnd umher – so schon in der damaligen Diskussion Martin Scharfe (Die groben Unterschiede. Not und Sinnesorganisation: Zur historisch-gesellschaftlichen Relativität des Genießens beim Essen, in Utz Jeggle u.a. (Hg.), Tübinger Beiträge zur Volkskultur, Tübingen 1986, 13-28). Er antizipierte damit die heutige Realität eines ästhetischen Kapitalismus und einer Bereicherungsökonomie, in der Einzelbestandteile regionaler Ernährungskultur systematisch hervorgehoben, ästhetisiert und vermarktet werden. Es geht eben nicht voranging um Identität(en) und die damit immer einhergehende Ausgrenzung anderer, sondern es geht um die Kommerzialisierung und Instrumentalisierung regionaler Besonderheiten und um die stete Umdeutung historischer Sachverhalte. Mit derartigem Gepäck im Rucksack können wir uns auf die Reise machen; wohl wissend dass „Spätzle“ viel mehr waren als eine ehedem in Schwaben häufig und gern gegessene Alltagsspeise.

Eigen- und Fremdbilder der Schwaben im 19. Jahrhundert

Auf die Reise hatten sich einst auch die sieben Schwaben gemacht, deren Streiche seit dem 16. Jahrhundert bekannt waren und erzählt wurden. Sie prägten die Wahrnehmung eines „Volksstammes“ und dessen Sitten und Eigenarten (Albrecht Keller, Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors, Freiburg i.Br. 1907). Hervorzuheben ist hier die Figur des Knöpfleschwaben, der die enge Verbindung von Land und Speise unterstrich. Im frühen 19. Jahrhundert wurden die sieben Schwaben revitalisiert, nicht zuletzt durch die Aufnahme der Geschichte in die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm. Schwaben griffen dies auf, variierten und glätteten die „Sage“, machten sie zeitgemäß. Das gilt für Ludwig Aurbacher (1784-1847) und sein breit gelesenes „Volksbüchlein“ (1827/29) oder das Badische Sagenbuch (1846) von August Schnelzer (1809-1853): „Knöpfleschwab war ein Mann, der verstand, gute Knöpfle oder Spätzle zu kochen, das ist im bayerischen Deutsch Knödel, und im sächsischen Deutsch Klöse“ (Das Mährchen von den sieben Schwaben, Wochenblatt fuer die Aemter Rastatt, Ettlingen und Gernsbach 1846, Nr. 57 v. 18. Juli, 5-7, hier 5). Zahllose „Volksbücher“ folgten, Stuttgarter Verlagshäuser köchelten diese und andere Schwabengeschichten stetig weiter. Es ging um einen bildungsbürgerlichen Geschichtsrahmen für eine Kulturnation, in der die Stammeseigenschaften der Bevölkerung Wert für das Ganze hatten: „Deutsche sind wir, wir woll’n Spätzle mit sauerem Kraut!“ (Düsseldorfer Journal und Kreis-Blatt 1848, Nr. 273 v. 15. Oktober, 3)

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Die sieben Schwaben stärken sich mit Spätzlen (Geschichte von den sieben Schwaben, Leipzig 1838, 47)

Wir können auf unserer kleinen Reise nicht länger verweilen, Eindrücke müssen genügen. Doch das Schwabenbild veränderte sich im frühen 19. Jahrhundert, verlor Elemente seiner für die frühe Neuzeit charakteristischen Ambivalenz. In Schubarts Schwabenlied ist die virile Tradition noch präsent: „Die Männer dorten haben / Noch deutsches Knochenmark“ (Christian Friedrich Daniel Schubart’s Gedichte, hg. v. Ludwig Schubart, T. 2, Frankfurt a.M. 1802, 350-351, hier 350). Das erinnerte an die zahllosen Kämpfe in den Grenzgebieten, in denen Schwaben fochten und starben: „Kennt ihr das Land im deutschen Süden, / so oft bewährt im Kampf und Streit“ hieß es in J.G. Fischers Schwabenlied, das seither Männergesangsvereine, Wehrmachtssoldaten und die Fischerchöre inbrünstig anstimmten. Schubart verglich mehrfach die deutschen Stämme, hob ihre Charakteristika hervor: „Doch übertrifft sie alle weit / Der gute Schwab‘ an – Herzlichkeit“ (Deutscher Provinzialwerth, in: Schubart, 1802, 253).

„Schwaben“, eine räumlich unklare, in Württemberg, Baden, Hohenzollern, Bayern und anderen Regionen angesiedelte und bis in die Stämme des Mittelalters zurückzuführende Kategorie (Hermann Bausinger, Kulturelle Raumstruktur und Kommunikation in Baden-Württemberg, Stuttgart 1996, insb. 58), mutierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Raum des Bürgersinns, zufriedener Selbstbezüglichkeit und einer immer wieder besungenen Küche: „Spargele, Margele, / Spätzle und Salat; / Schwabeland, lustig’s Land, / Ulm, du schöne Stadt! / Mädle nett, und Bier und Wei – / s ist prächtig gau und stau! / Wer uns des net glauba will, / Der ka’s ja bleibe lau“ (Ulmer Spatzenlied, Lindauer Tagblatt für Stadt und Land 1861, Nr. 174 v. 25. April, 717).

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Schwäbische Populärkultur des 19. Jahrhunderts im Druck (Gustav Seuffer und Richard Weitbrecht (Hg.), S Schobaland in Lied und Wort, Ulm 1886, III (l.); Friedrich Greiner, A Sträußle für Di!, Schwäb. Hall 1897, 3)

Der Schwabe, einst deutscher Recke, gewann dadurch Hänselqualität, wurde seicht, kitschig, häuslich, geschwätzig – und die Schwarzwaldmythologie des 20. Jahrhunderts sollte erst noch kommen. Der Schwabe, das zeigten ja die Streiche, war ein wenig einfältig, doch gemütlich, war naiv und tölpelhaft, Ausgeburt des Provinziellen. Doch er war zugleich sinnenfroh und feierlustig: „Was hent die Schaba am liebste, / A Liedle und a Schätzle, / A Weible und a Spätzle“ (Nürnberger Abendzeitung 1863, Nr. 214 v. 4. August, 3). Derartige Fremd- und Selbstzuschreibungen waren nicht folgenlos – zumal nicht für regionale Kost. Der zeitgleiche Aufstieg der organischen Chemie war nämlich prononciert materialistisch, sah deutungsmächtig eine enge Beziehung zwischen Nahrung und Kulturstand. Sage mir, was Du isst, und ich sage Dir, wo Du auf der „Stufenleiter der Civilisation“ stehst (Eduard Reich, Die Nahrungs- und Genussmittelkunde […], Bd. 1, Göttingen 1860, 22).

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Hanswurstiade: Schwaben als Repräsentanten ihrer Spätzlekost (Münchener Bilderbogen 21, 1868, 504)

Dieser Gleichtakt von Land und Leuten, von Speisen und Charakter war fiktiv, wollte (und will) Einheit schaffen in der Moderne – einer Zeit, die durch Wahl und Unterschiede gekennzeichnet ist. Die damals entstehende Ernährungswissenschaft verwies zwar auf die Nahrungsstoffe als verbindendes Element der Natur, verstand Speisen aber als Ausdruck der offenkundigen Unterschiede der Menschen untereinander. Der populäre Sachschriftsteller und liberaler Politiker Otto Ule (1820-1876) gab dem beredten Ausdruck: „Wir sind einmal aus Stoffen geformt, wir können uns dem Boden, dem wir angehören, nicht entziehen; seine stofflichen Einflüsse dringen mit jedem Bissen, den wir genießen, unerbittlich durch Darm und Blutgefäße in alle Organe, in alle Nerven ein“ (Die Chemie der Küche, Halle a.d.S. 1865, 245).

Was aber bedeutete das für die Schwaben? Ihre vermeintliche Hauptmahlzeit Spätzle erschien in Rezepten, in Geschichte(n), bald in den Gasthöfen und Restaurants. Doch um was handelte es sich? Reisende berichteten Widersprüchliches: Spätzle seien zubereitet aus „Mehl und Wasser“ (Der Beobachter 1840, Nr. 2 v. 3. Januar, 8) – also etwas gänzlich anderes als die EU-Spezialität heutiger Zeiten. Dagegen fühlte der österreichische Publizist und Schachkomponist Hieronymus Lorm (1821-1902), der sein späteres Schicksal mit dem Lorm-Alphabet für Taubblinde allgemeinfördernd milderte, nach einem Besuch in einem Göppinger Wirtshaus Dankbarkeit, „denn ich habe im ‚Apostel‘ die ersten ‚Spätzle‘ gegessen, ein schwäbische Mehlspeise, deren Erwähnung mitten in der Poesie des Naturgenusses Niemand zu prosaisch finden wird, der sie jemals gekostet hat […], denn sie erhebt sich an Wohlgeschmack 1200 Fuß über die Fläche der bairischen Dampfnudeln und wenn sie ihre ausgekochte Vollendung erreicht hat, kann sie – ich bekenne es mit einem patriotischen Seufzer – selbst unsern österreichischen ‚Schmarn‘ und hätte er auch in Gaden das Licht der Welt erblick, dahin bringen, Zucker auf sein Haupt zu streuen. Man mag Europa in seinen vorzüglichsten Nationalspeisen durchgeschmeckt haben und man wird an ‚Spätzle‘ noch immer etwas finden, das sich nicht beschreiben, sondern blos essen läßt, etwas Gemüthliches, Urgermanisches und doch recht Dorfgeschichtliches, […]“ (Schwäbische Fahrten, Unterhaltungen am häuslichen Herd 2, 1856/57, 340-343, hier 341).

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Werbung für Carl Millöckers Volksoper „Die sieben Schwaben“ (Hamburgischer Correspondent 1888, Nr. 128 v. 8. Mai, 6 (o. l.); Schwäbischer Merkur 1887, Nr. 274 v. 18. November, 2006)

An letzteres knüpfte dann auch Carl Millöckers (1842-1899) 1887 uraufgeführte Volksoper „Die sieben Schwaben“ an. Der Wiener Erfolgskomponist nutzte die Streiche und Märchen, wob zudem ein wenig Faustkolorit ein (Die sieben Schwaben, Münchner Neueste Nachrichten 1888, Nr. 21 v. 14. Januar, 4): Hervorgehoben wurde jedoch vorrangig die Liebesaffäre des Famulus und Trompeters Spätzle mit der Magd Hannele; sowie die Ränke der Stuttgarter Stadtwache, der „sieben Schwaben“ – all das mit gebührender Präsenz des schwäbischen Dialektes. Der Erfolg war beträchtlich, unterstrich die Vorstellung der wackeren, ein wenig schlichten Schwaben. Man meinte fast, die Zeit sei stehen geblieben: Ein „Product und Bild echt schwäbischen Lebens. Das ist immer wieder frisch und saftig wie Sauerkraut und ‚Spätzle‘, das Leibessen des Schwaben, das wöchentlich zwei Mal selbst auf den gebildetsten Tisch kommt; und wie dieses ‚schwäbische Kraut,‘ so lebt der ‚Allgäuer und Knöpfles-Schwab‘ fort ins späteste Geschlecht“ (Briefe über Schwaben und Franken. (Beschluß.), Zeitung für die elegante Welt 38, 1838, 229-230, hier 230). Dieses Schwabenbild war wirkmächtig, war nicht nur Fremdbild, sondern formte auch das Selbstbild: „Am Tag, da spoist me Spätzle, bei Nacht, da küßt me ‘s Schätzle“ (Der Nebelspalter 16, 1890, Nr. 40, 2). So stellten sich Schwaben zunehmend auch nach außen hin dar.

Wer dem nicht entsprach, wurde marginalisiert, konnte auch ausreisen; so wie etwa eine halbe Million badische und württembergische Staatsbürger seit der Mitte des 19. Jahrhundert. Selbst Kritik perlte daran häufig ab: Beredtes Beispiel dafür war der 1894 von der Berliner Karikaturzeitschrift Kladderadatsch als „Spätzle“ bezeichnete Stuttgarter Diplomat Alfred von Kiderlen-Waechter (1852-1912). Lanciert aus dem Umfeld des geschassten Reichskanzlers Otto von Bismarck wurde die nicht nach modernen Complianceregeln durchgeführte Personal- und dann Pressepolitik des Auswärtigen Amtes kritisiert (Kladderadatsch 47, 1894, 3, 6, 36, 80, 206). Damals ein Skandal, der zu einem Ehrenduell und Festungshaft für den verantwortlichen Redakteur führte. Kiderlen-Wächter – Spätzle war von 1910 bis zu seinem Tode zum Stolz vieler Württemberger Leiter des Auswärtigen Amtes.

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„Spätzle“ – Ausdruck für Affären in der Reichspolitik und auf dem Bänkle im Ländle (Hamburger Fremdenblatt 1911, Nr. 183 v. 6. August, 17 (l.); Lippischer Hausfreund 1900, Nr. 31, 4)

Spätzlerezepte innerhalb und außerhalb Schwabens

Will man mehr über Spätzle und Spätzlekonsum erfahren, so steht man vor Quellenproblemen. Alltagskost wurde gegessen, die große Mehrzahl der Bevölkerung schrieb nicht über ihr Leben. Seriöse Berichte über Verzehrsgewohnheiten setzten erst in der Mitte des Jahrhunderts ein, sozialstatistische Daten und Haushaltsrechnungen erst im späten 19. Jahrhundert. Auch Tages- und Wochenzeitschriften enthalten nur Annotate, dort publizierte Reiseberichte sind oberflächlich. Spätzle wurden erwähnt, als Alltagsspeise benannt, nicht aber näher beschrieben. Kochbücher können dies ansatzweise durchbrechen, doch gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass es sich um normative Quellen handelt. Rezepte berichten vom Sollen, nicht vom Tun. Die Kochbuchliteratur des 19. Jahrhundert kann gewisse regionale Küchenmuster widerspiegeln, entwickelte sich jedoch vielfach zum Rezeptcontainer. Es ging um ein Küchenarsenal für gehobene und für bürgerliche Haushalte, um die Sammlung interessanter und praktikabler Rezepte mit repräsentativer Absicht, nicht aber um die Widerspiegelung realer Küchen. Die Ernährung der bäuerlichen Bevölkerung fand kaum Widerhall, Arbeiterkochbücher zielten auf paternalistische Optimierung, nicht auf die Nachzeichnung einer von Enge geprägten Küchenpraxis.

Die Kochbücher des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts enthielten vielfach keine Spätzlegerichte, wohl aber zahlreiche andere Mehlspeisen ([Friedrike Luise Löffler], Oekonomisches Handbuch für Frauenzimmer, Bd. 1, Stuttgart 1791). Das lag nicht an der fehlenden Alltagspraxis, eher an deren Stellung als einfaches Mahl von Bauern und Bürgern. Entsprechend wiesen frühe Rezepte nur wenige, teils keine Eier auf. Auch in der Folgejahrzehnten waren Spätzle nur eine von vielen Mehlspeisen. Sie wurden allerdings nicht gebacken oder gebraten, sondern der Teig mittels Brett und Messer in kochendes Wasser geschnitten und anschließend verfeinert. Festzuhalten ist, dass öffentliche Feiern im Schwabenlande noch keineswegs von Spätzlen geprägt waren. Als 1845 in Tübingen ein neues Universitätsgebäude eingeweiht wurde, trugen die Speisen fast durchweg französische Namen, fehlten zugleich Mehlspeisen (Der Beobachter 1845, Nr. 311 v. 11. April, 1246). Kritik an der „Verwelschung“ der schwäbischen, insbesondere der Stuttgarter Speisen war Mitte des Jahrhunderts weit verbreitet (Intelligenz-Blatt für die Kreise Euskirchen, Rheinbach und Ahrweiler 1845, Nr. 66 v. 16. August, 4).

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Variable Rezeptnahmen ([Margaretha Spörlin], Oberrheinisches Kochbuch […], T. 1, 3. verb. Aufl., Mülhausen 1819, 51)

Zu dieser Zeit waren Spätzle jedoch integraler Bestandteil süddeutscher Kochbücher. Allerdings war ihr Eiergehalt nun recht hoch, erreichte teils gar die heutigen EU-Mindeststandards. Spätzlebretter kamen weiter vor, doch ebenso andere Haushaltsgeräte wie Spätzletrichter oder -pressen. Der Aufwand war dennoch hoch; und so blieb es auch bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus (Magdalena Trieb, Neues Praktisches Kochbuch […], 3. verm. u. verb. Aufl., Karlsruhe 1860, 84).

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Eierspätzle resp. Trichternudeln ([Friederike Luise Löffler], Neues Kochbuch, 5. verb. u. verm. Aufl., Stuttgart 1840, 134 (l.); Neues practisches Badisches Kochbuch, 3. verb. Aufl., Karlsruhe 1845, 103)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Menge der zugesetzten Eier tendenziell ab, auch in der herrschaftlichen Küche wurden höchstens 3 Eier pro Pfund Mehl zugesetzt (Rudolf Karg, Herrschaftliche Back- und Speisenküche, Berlin 1902, 330). Zugleich wurden die Rezepte teils explizit mit Regionalzuschreibungen versehen – ein Teil der reichsweiten Fixierung auf scheinbar typische landsmannschaftliche Gerichte, Teil auch des damaligen Regionalismus in Malerei und Schriftkultur. Nun kam in den Rezepten auch das Spätzlebrett wieder zu Ehren. Parallel aber wurde auch für Spätzlepressen geworben, um sich die Arbeit zu erleichtern oder fehlende Geschicklichkeit auszugleichen (Fried[erike] Luise Löffler, Neues elsäßisches Kochbuch, Straßburg s.a. [1906], 19). Kochbücher waren ja Rezept- und Werbebücher.

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Benennung des Regionalen: Schwäbische Spätzle (Emma Rohr, Süddeutsches Kochbuch, 3. Aufl., Mannheim 1888, 83)

Seit dem späten 19. Jahrhundert stieg zudem die Zahl der Varianten: Neben Wasser- und Milchspätzlen standen die schon früher teils präsentierten Spätzlesuppen, zudem häufig geröstete und mit Käse zubereitete Speisen (Luise Schäfer, Neues Kochbuch für die bürgerliche und die feine Küche, Stuttgart s.a. [1900], 19). Der Rhythmus der Alltagskost hatte sich verändert, Stetigkeit und Einfachheit wurden von vielen Bürgern für ihre eigene Küche abgelehnt, zumal sie parallel in der Gaststätte Festessen mit Spätzlen zelebrierten.

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Standardrezepte der Spätzle (Schwäbische Kochrecepte zur Bereitung einfacher, bürgerlicher Kost, Stuttgart 1905, 53)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das Standardrezept der Spätzle ausgereift: Ein Pfund Mehl, Salz und Wasser, 2 bis 3 Eier, auf einem Brett abgeschabt, anschließend mit Butter und Bröseln verfeinert, dann frisch aufgetragen. Größere Variationen finden sich seit der Jahrhundertwende allerdings in den nun erst regelmäßig gedruckten Spätzle-Rezepten in Haushaltszeitschriften, Illustrierten und Tageszeitungen. Sie verbreiteten küchentechnisches Wissen vorrangig außerhalb des Südwestens, propagierten diese „Art Klöße“ aufgrund ihrer „lockeren, leicht verdaulichen Beschaffenheit“, machten mit Schwaben und Schaben vertraut (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1895, Nr. 2137 v. 23. Dezember, 6). Die regionale Herkunft wurde konsequent benannt, wirkte lockend auf wagefrohe Köchinnen auf der Suche nach einem neuen Geschmack: Nicht schnöde Spätzle gab es da, sondern Württemberger Spätzle, süddeutsche Spätzle, Schwäbisch Spätzle oder Spätzle (schwäbisch) (Praktischer Rathgeber für Land- und Hauswirthschaft 1898, Nr. 4, 29-30; Düsseldorfer Sonntagsblatt 1908, Nr. 24 v. 14. Juni, 191; Schwerter Zeitung 1909, Nr. 252 v. 27. Oktober, Unterhaltungsbeil., 4).

Zugleich wurden den Leserinnen auch Rezepte fern des Standards angeboten: Das galt für Kartoffelspätzle oder aber Varianten mit weniger Eiern und Milch anstelle des Wassers (Nelly Karsten, Kartoffel-Gerichte, Praktischer Ratgeber. Wochenblatt für Land- und Hauswirtschaft, Gewerbe und Handel 1906, Nr. 13 v. 26. März, 52-53, hier 53; Bazar 59, 1913, Nr. 18, 2). Auch das Schaben der Schwäbinnen wurde küchennah ersetzt, etwa durch Teigausstechen mit dem Stiel eines Blechlöffels oder dem Einsatz des in Westfalen gängigen Durchschlags (Hannoverscher Courier 1913, Nr. 30787 v. 19. Oktober, 19; Für die Frauen [Hörder Volksblatt] 1914, Nr. 11 v. 17. März, 4). Ähnliche Tendenzen finden sich auch in Spätzle-Rezepten in der deutschsprachigen US-Presse, in denen die Mehlspeise als „Nudel der Süddeutschen“ galt und als „echte schwäbische Spätzle“ reüssierte (Sonntagspost [Chicago] 1910, Nr. 18 v. 1. Mai, 13; ebd. 1911, Nr. 22 v. 28. Mai, 13). In der Ferne entstanden zudem neue Variationen, etwa ein Mischgericht aus gerösteter Leber mit Spätzlen (Ebd. 1913, Nr. 43 v. 26. Oktober, 13). Die Rezepte in Kochbüchern, Zeitschriften und Zeitschriften trugen zur Verbreitung der Spätzle auch über die Grenzen Schwabens wesentlich bei. Doch wir sollten stets bedenken, dass all diese Rezepte aus der weit breiteren schwäbischen Mehlspeisenküche ein Element herausnahmen, das sie dann verbraucher- und marktnah umgestalteten und neu arrangierten.

Spätzle als schwäbisches Gericht – in Schwaben

Das Wort Spätzle lässt sich seit dem 16. Jahrhundert nachweisen, allerdings in der Bedeutung eines Schmutzwortes (Josua Maaler, Die Teütsch spraache, Tiguri [Zürich] 1561, Doppelseite 378). Als Mehlspeise tauchten sie im 18. Jahrhundert auf, jedoch als Alltagsspeise bei „Unbemittelten“: „Montags Nudele, Dienstags Hotzele (gebackenes Obst), Mittwochs Knöpfle (eine Art von Pudding), Donnerstags Spätzle (Mehlklümpe), Freytags gedämpfte Grundbirn (gekochte Kartoffeln), Samstags Pfannkuchen, Sonntags Brätle und Salätle“ (Tischzettel in Schwaben, Der Wanderer 1814, Nr. v. 4. August, 850-851). Derartige Zuschreibungen spiegelten noch die repetitive Stetigkeit einer ländlich-kleinstädtischen Gesellschaft, die Ausdruck gesuchter Sicherheit in einem Umfeld regelmäßiger Nahrungskrisen war – durch Missernten und auch Preissteigerungen. Dennoch darf man sie nicht als Widerspiegelungen eines just so erfolgten Ernährungsalltags missverstehen. Die Mehlspeisenküche spiegelte saisonale Verfügbarkeit wider, Getreide war ein haltbares Nahrungsmittel, wichtig vor allem im Winter. Der bürgerliche Blick der Schriftkultur gab ahnende Eindrücke von einer fremden, nicht gelebten, sondern beobachteten Alltagskost: „Bekanntlich machen in unserem Haushalt die Mehlklöse, Spätzle oder Mehlknöpflen eine Hauptspeise aus, welche in vielen Gegenden auf dem Tische des Landmanns fast täglich erscheint“ (Der Ortenauer Bote 1853, Nr. 103 v. 30. Dezember, 846). Bekanntlich, fast… Bei derartigen, später immer wieder als wahre Abbilder des Alltags zitierten Speisefolgen vermischten sich regelmäßig Sage, An- und Wahrgenommenes: Wenn der Knöpfleschwabe als ein täglich fünf Mahlzeiten verspeisender Landsmann geschildert wird – „fünfmal Suppe, und zwei Mal dazu Knöpfle oder Spätzle“ (Sagen und Mährchen, Morgenblatt für gebildete Stände 1832, 526), so spiegelte das nicht zuletzt Vorstellungen einer Stabilität des Landes, der bürgerlichen Gesellschaft, der Rollen einzelner Stände.

Doch Stadt und Land waren, trotz deutlich anderer Rechtsbedingungen, im Südwesten eng verwoben. Klein- und Mittelstädte dominierten. Der Ackerbürger, der Handwerker, auch viele Arbeitsmännern, sie bewirtschafteten häufig noch ein meist gepachtetes Stück Land. Entsprechend waren Spätzle auch „ein gewöhnlich‘ Essen“ der Kleinbürger (Berthold Auerbach, Florian und Creszent. Eine Dorfgeschichte. (Fortsetzung.), Oesterreichisches Volksblatt für Verstand, Herz und gute Laune 31, 1849, 661-663, hier 662). Und es wurde in Gaststätten angeboten, wo die Fremden es kosteten: „Hausmannskost – geräuchertes Fleisch, Mehlspeisen (Krazzette, im Osten Knöpfle oder Spätzle in Fleischbrühe oder ‚gebraten‘), treffliche Kartoffeln, Kalbsbraten“ ([Carl Borromäus Alois], Der Schwarzwald, der Odenwald, Bodensee und die Rheinebene. Handbuch für Reisende, Heidelberg 1858, XIX).

Gaststätten boten heimische Gerichte an – auch wenn es sich um Sonntagsspeisen handelte, umrahmt mit Fleisch und selten Fisch. Sie waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch häufig Raststätten für (Post-)Kutschenreisende (materialreich: Friedrich Rauers, Kulturgeschichte der Gaststätte, T. 1, 2. Aufl., Berlin 1942, 448-488). Im Ort gab es vornehmlich Schenken, in denen Speisen nur als Beikost gereicht wurden. Unsere heutige Gastronomie, also abgegrenzte Orte des Essens und Trinkens gegen Entgelt, entwickelten sich in deutschen Landen deutlich später als in Westeuropa, verbanden noch lange Bewirtung und Herberge. Ein spürbarer Aufschwung setzte erst in den 1860er Jahren ein, ein sich in den Anzeigenteilen der Zeitungen niederschlagender Wettbewerb um den Kunden erst im Folgejahrzehnt – natürlich gefördert von der Konkurrenz kapitalkräftiger Brauereien.

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Gaststättenstandard: Wild mit Spätzlen und Bier (Neues Tagblatt 1874, Nr. 262a v. 8. November, 2265 (l.); ebd. 1881, Nr. 188 v. 14. August, 5)

Bier, Wein und Versprechungen von Gediegenheit und Gemütlichkeit prägten die Anzeigen. Sie stellten anfangs gängige Speisen in den Mittelpunkt, einen gehobenen Sonntagsstandard. Entsprechend dominierten Fleischspeisen, doch die wurden erst mit Beilagen zum Wahlmahl. Spätzle traten an der Seite von Wild auf, also einer tradierten Herrenspeise. Das adelte das Angebot, begrenzte es aber auch. Spätzle waren vielfach saisonale Marker, abhängig von den Jagdzeiten und der dadurch bedingten Verfügbarkeit frischen Wildprets.

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Spätzle als Marker auch badischer Gemütlichkeit (Links: Karlsruher Tagblatt 1880, Nr. 99 v. 11. April, 834 (o.); ebd. 1885, Nr. 333 v. 6. Dezember, 4097; rechts: ebd. 1884, Nr. 254 v. 16. September, 2729 (o.); ebd., Nr. 247 v. 8. September, 2635)

Gaststätten-Spätzle finden sich in Württemberg und Baden in den 1880er Jahren als Speise des gesetzten Bürgertums, einer zahlungskräftigen Klientel aus lokalen Notablen und durchreisenden Fremden. Sie bildeten ein Vorzeigestück des Eigenen, gedachtes Zentrum einer seit langem als regionaltypisch präsentierten Küche. Die Einheimischen aßen dies als Ausdruck ihrer selbst, die Geschäftsreisenden und Touristen aus Notwendigkeit und Abenteuerlust. Zugleich aber wurde das regionale Angebot auch als Teil einer internationalen Küche präsentiert, zeitgemäß mit französischem Einschlag. Spätzle war „unser“, zugleich aber Ausdruck der wachsenden Fülle einer prosperierenden Gesellschaft, die das Eigene im Kontext erweiterter Angebote bewusst wählte.

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Soul-Food für den Schwaben (Neues Tagblatt 1892, Nr. 285 v. 4. Dezember, 5)

Spätestens seit den 1890er Jahren etablierten sich Standardspeisen mit Spätzlen: Rehbraten und Rehragout erforderten sie gleichsam, dann auch vermehrt (Feld-)Hasen. Parallel nahmen viele Gaststätten wettbewerbsgetrieben tradierte Vorstellungen von den Schwaben auf, vermarkteten diese leutselig. Dass dabei der heimische Wein oder der in Gaststätten und Restaurants noch seltene Most vielfach durch (vornehmlich bayerische) Export- und Bockbiere ersetzt wurde, wurde offenbar als Erweiterung wahrgenommen, nicht aber als Abkehr vom typisch Schwäbischen. Das Aufkommen konkurrenzfähiger heimischer Biere, begünstigt durch eine zunehmend standardisierte Produktionstechnik, ermöglichte dann auch neue Offerten, in der „lokal“ gebrautes Bier den schwäbischen Grundtenor wieder unterstrich.

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Spätzle als austauschbare Sättigungsbeilage (Neues Tagblatt 1886, Nr. 255 v. 31. Oktober, 5 (l.); ebd. 1885, Nr. 185 v. 11. August, 8)

Und doch, die Anzeigen belegen auch, dass in der Gaststätten- und Restaurantküche Spätzle nicht wirklich im Mittelpunkt standen. Sie waren keine Hauptspeisen, sondern Beilagen des kräftigen Fleischzentrums. Als solche konnten sie auch ausgetauscht werden. In den 1880er Jahren boten Kartoffeln eine Alternative, teils als Klöße, teils als Bratkartoffeln. Auch Nudeln und Makkaroni finden sich immer häufiger. Spätzle waren zwar Heimatspeise, Ausdruck von Zugehörigkeit und Eigenart – doch als nährende Speise konnten sie ersetzt werden, wenn das Ambiente der Gaststätten selbst das Schwäbische, das Gemütliche, das Heimische widerspiegelte.

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Deutsche Gemütlichkeit mit bayerischen und schwäbischen Ingredienzien (Neues Tagblatt 1885, Nr. 173 v. 28. Juli, 8 (l.); Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1899, Nr. 265 v. 11. November, 5)

Gemütlichkeit wurde schon am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend arrangiert, trat als Sentiment vor die Speisen. Regionales wurde offeriert, doch es musste nicht immer das Schwäbische sein. Zunehmend finden sich in den Anzeigen auch „bayerische“ Speisen, die den beliebten Münchener Standardbieren aus Großproduktion folgten. Spätzle mit Reh und Hasen waren Teil eines Erlebnisses, einer Feierkultur, die zunehmend mit Musik und Humor umrahmt wurde. Die Fremdbilder des Schwaben wurden in der Mitte des Schwabenlandes reproduziert, der fremden Welt zugleich Einlass geboten. Schließlich gab es auch übergeordnete Identitätsanker, etwa der süddeutschen Küche und des deutschen Vaterlandes.

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Spätzle als Teil eines Angebotes internationaler Spezialitäten (Neues Tagblatt 1895, Nr. 301 v. 23. Dezember, 7 (l.), Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1898, Nr. 2 v. 4. Januar, 7; ebd. 1900, Nr. 127 v. 2. Juni, 6 (r.))

Spätestens seit der Jahrhundertwende wurden Spätzle – in Schwaben – aber auch als Teil der internationalen Küche vermarktet. Das Regionale gewann Flair und Ausstrahlung. Spätzle ließen sich durchaus mit Wiener Küche und burgundischem Boeuf Braisé kombinieren, wurden exportfähige Weltspeise. Außer Haus essen wurde zur kulinarischen Reise, in der vielleicht der Herr den Rehschlegel mit Spätzlen wählte, die Dame dagegen beim Roastbraten à la Russe eine Geschmacksexkursion unternahm, die beim nächsten Kränzchen beredt erörtert werden konnte.

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Vegetarisch, schwäbisch und auch zum Mitnehmen (Neues Tagblatt 1892, Nr. 251 v. 26. Oktober, 8 (l.); ebd. 1893, Nr. 20 v. 25. Januar, 7)

Wie sehen bei unserer Reise in den Angeboten der Gaststätten zeittypische Entwicklungen der damaligen Konsumgesellschaften. Märkte wurden ausdifferenziert, Sortimente breiter und tiefer. Spätzle hatten in diesem kommerziellen Spiel eine erdende Rolle, waren Entrée in ästhetisierte Welten, die weit über die schwäbische Alb hinauswiesen. Auch vegetarische Restaurants waren Teil davon, mochten sie auch eher weltumspannend auftreten, in der natürlichen Pflanzenkost auch Schwäbisches präsentieren: Eine Menschheitsvision, verankert in jeweils heimischer Erde, doch ohne die Fleischeslust am Sonntag. Auch Traditionalisten wurden bedient. Dafür entstanden explizit regionale Heimatgaststätten, in denen schwäbische Kost echt und authentisch aufgetragen wurde, erwartbar wie die Trias Vorsuppe, Hauptspeise und Nachtisch. Wir Durchreisenden würden vielleicht gewisse Unterschiede zur ländlich-kleinbürgerlichen Kost bemerken, die innerregionalen Unterschiede des Südwestens betonen, uns am Fassadenklamauk stoßen. Denn in der Gaststättenkultur des 19. Jahrhunderts finden wir schon eine Virtuosität beim Umgang mit Regionalem, Nationalem und Internationalem, die in der Forschung gemeinhin erst der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zugeschrieben wird.

Spätzle als schwäbisches Gericht – im Deutschen Reich

Nehmen wir stattdessen Hut und Recken und beäugen auch die weitere Bühne. Der Schwabe galt ja Mitte des 19. Jahrhunderts nicht umsonst als naives, schlichtes und geschwätziges Gemüt. Die schwäbische Küche, so missmutige Zeitgenossen, könne mit ihren Eigenarten und Defiziten gar keine anderen Menschen hervorbringen. Wie anders doch die anderen deutschen Küchen: „Was sind die Mehlspeisen anderer Völker gegen unsere österreichischen Mehlspeisen, was sind schwäbische Spätzle gegen unsere Greiszweckeln! Der Schwab muß 40 Jahre Spätzle essen bis er gescheidt wird, wenn er schon ein gescheidter Schwab ist, unsere Grieszweckeln schwaben ihn weg“ (M.G. Saphir, Ueber den Status quo der österreichischen Mehlspeisen, Der liberale Alpenbote 1854, Nr. 144 v. 2. Dezember, 1-3, hier 3). Selbst aus dem rückständigen Bayern kam Despektierliches, denn auch dort beanspruchte man die Suprematie der Mehlspeisenküche: „Ein bayerischer Knödel ist das Haupt der starken Knödelfamilie. Er blickt mit Gleichgiltigkeit auf das schwäbische Knöpfle, auf die Spätzle des Schwarzwaldes, sie sind ihm zu winzig; er sieht mit Verachtung auf die steinharten norddeutschen Klöse; mit Geringschätzung auf die österreichischen Knödel, weil ihm dieser zu batzig ist“ (Oberbayerische Wirthshausgenüsse. (Fortsetzung.), Der Grenzbote 1872, Nr. 34 v. 25. August, 297-301, hier 299). Entsprechend geringschätzig wurden die Spätzle in der Ferne bezeichnet. Unverstanden sprach man von ihnen als „Mehlklöschen von der kleinsten Art“, als „Mehlklümpchen“ (Ludwig Aurbacher, Ein Volksbüchlein, hg. v. Joseph Sarreiter, Leipzig 1878, 213; Rosenthal-Bonin, Das Mittagsschläfchen, Der Bazar 2, 1876, 93-94, hier 93). Schmähgesänge, elende – fast so wie schwäbische Verdammungen des westfälischen Pumpernickels oder guter Dicke Bohnen.

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Heimat für die einen, Exotik für die anderen – Schwäbisches in Hamburg (Hamburger Echo 1900, Nr. 198 v. 26. August, 4 (l.): ebd. 1911, Nr. 274 v. 22. November, 8)

Und doch waren Spätzle auch in der Ferne Bannerträger schwäbischer Gemütlichkeit, schmackhafter Gerichte. In Hamburg gab es spätestens seit der Jahrhundertwende vielfältige Gelegenheiten in Gaststätten und Restaurants schwäbisch zu essen. Wein und Bier waren häufig die Entrées in der Fremde, Weinrestaurants und Bierhallen lockten mit regionalem Angebot. Speisen flankierten den gewinnträchtigeren Ausschank der Getränke. Dort präsentierte man andere Speisekombinationen: Spätzle mit Eisbein oder Sauerbraten – das war im Südwesten nicht gängig, auf Hamburger Kunden zugeschnitten; doch es wirkte auch zurück.

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Deutsche Küche als Amalgam regionaler „Nationalgerichte“ (Aachener Anzeiger 1903, Nr. 257 v. 1. November, 7)

Restaurateure koppelten die Einzelelemente des Regionalen. „Deutsche Küche“ entstand als Gemenge zahlreicher regionaler Spezialitäten. Himmel und Erde, Königsberger Klopse, Reibekuchen – da konnten Spätzle kaum fehlen. Der bürgerliche Restaurantbesucher wurde als Kenner von Vielfalt, als entdeckungsfreudiger Deutscher adressiert. Das vermeintlich Beste wurde wählbar, jeden Tag eine neue regionale Spezialität.

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Spätzle als gewöhnungsbedürftige Speise in Westfalen (Dortmunder Lustige Blätter 1901, Nr. 31, 5)

Spätzle wurden so Teil einer hybriden, vielgestaltigen deutschen Küche, deren Vielfalt zu einer Stärke umgedeutet wurde. Die deutsche Küche war eben bunt, kein Einerlei mit festen Regeln – so wie die Haute Cuisine in der Spitzengastronomie, in führenden Hotels auch des Deutschen Reiches. Leben und leben lassen, ein wenig Frohsinn, fünfe gerade sein lassen, so stellte sich Gemütlichkeit ein. All das war nicht immer erfolgreich, denn mit den Gerichten der anderen Regionen fremdelten viele Bürger. Doch im Widerspruch zu engstirnigem Nationalismus gab man sich kulinarisch offen, wusste um die Vielfalt eigener, teils auch ausländischer Küche. Das war wichtig für eine Wirtschaftsnation, deren Exportraten anzogen, die erst nach Großbritannien, dann nach den USA Vizeexportweltmeister war.

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Wurst und Spätzle – Kulturpluralismus in einer Kölner Stehbierhalle (Kölner Local-Anzeiger 1902, Nr. 340 v. 14. Dezember, 13)

In den Groß- und Mittelstädten – noch nicht in den Kleinstädten, gar auf dem Lande – gab es also schon während des Kaiserreichs ein recht plurales Speisen- und Küchenangebot, bei dem die Spätzle als Teil eines schmackhaften Ganzen galten. Sie traten an die Seite von Schweinebraten, umkränzten auch die so vielfältigen deutschen Würste. Hier müssen wir aber schon wieder weiterwandern, denn Spätzle etablierten sich nicht allein im Deutschen Reich als Sinnbild des Schwabens und seiner Küche.

Spätzle als Heimatsanker für Auslandsschwaben und Auslandsdeutsche

Schwabentum wurde nicht nur in der Literatur, bei Sängerfesten und in Gaststätten zelebriert. Seit 1818 wurden auf dem Cannstatter Wasen ein Volksfest gefeiert. Wie das Münchner Oktoberfest entwickelte es sich von einer landwirtschaftlichen Ausstellung und Messe zu einem Volksfest mit Rennsport, Zirkus, Schaustellerei, Musik und – natürlich Spätzlen. Berichterstatter verwiesen auf „vergnügungssüchtige Residenzler, Männer und Frauen aus der Provinz mit verschollenen Gewändern und eigentlich unmöglichen Toiletten […die] bei einer colossalen Kneiperei, bei Sauerkraut und ‚Spätzle‘, Blutwurst, Schweinefleisch, neuem Bier und neuem Wein […] sich den Magen in geahnter Weise“ verdarben (Das Kannstatter Volksfest, Rhein- und Ruhrzeitung 1876, Nr. 227 v. 28. September, 1).

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Schwäbische Festkultur in den USA (Puck [deutsche Ausgabe] 5, 1880/81, 830 (l.); Echo [Cleveland] 1912, Nr. 18 v. 28. August, 4)

Feste dieser Art gab es nicht nur nordöstlich von Stuttgart. 1861 fand das erste Cannstatter Volksfest in New York statt, Philadelphia folgte 1873, Chicago 1878. Schwäbische Migranten feierten dort ein Stelldichein, gedachten ihrer Heimat, pflegten ihre Sprache, labten sich an Wein und Spätzle, zunehmend auch an amerikanischen Spezialitäten. Ihnen ging es um Stolz auf die Herkunft, um Stolz auch auf das bessere, das demokratische Umfeld, was 48er und die noch starken schwäbischen Sozialisten mit geschaffen hatten.

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Migrantische Parallelgesellschaft mit schwäbischen Delikatessen (Washington Journal 1896, Nr. 42 v. 17. Oktober, 4 (l.); ebd., 1902, Ausg. v. 13. September, 8)

Unterhalb der Festkultur gab es in den USA, zumindest in den Metropolen und im Mittleren Westen, ein dichtes Netzwerk schwäbischer Vereine, bei dem auch Badener mitmachen durften: Schwäbische Frauenvereine luden zum Kegeln, zum Picknick mit den Nationalgerichten „Spätzle und Sauerkraut und Zwiebelkuchen“, versprachen Geschenke für alle trachttragenden Kinder (Abendpost [Chicago] 1908, Nr. 156 v. 30. Juni, 7). Sie waren vielfach verwoben mit Vereinen und Einzelpersonen, vielfach wurden Nahrungsmittel und Wein importiert (Neues Tagblatt […] 1907, Nr. 207 v. 4. September, 3). Essen und ein „extra feines Tröpfle“ materialisierten Heimat, eine bessere gar, denn bei den Feiern, so das Versprechen, werde es „noch lustiger hergehen, als an der Kirbe im alten Schwabenländle.“ (ebd. 1901, Nr. 257 v. 29. Oktober, 2). Selbstbewusstsein gepaart mit Heimatliebe – Spätzle konnten mehr sein als Alltagsspeise in einer bedrückenden Enge.

Stärker traditionalistisch, gewiss auch widersprüchlicher war der Heimatbezug in der Weltdiaspora der Schwaben, die im Deutschen Reich kurzerhand als Teil „deutschen Lebens“ wahrgenommen wurden. Am Schwarzen Meer, bei den im 18. Jahrhundert angeworbenen Odessa-Deutschen, freuten sich deutsche Besucher über den „Kreis von biederen Bauersleuten, deren Kinder uns mit blanken Blauaugen und Blondköpfen entgegenspringen […] und an einen gastlichen Tisch, auf die Flädlesuppe und die Spätzle so wenig fehlen wie der Krug roten Landweins“ (Alfred Geiser, Von der Schelde zum Schwarzen Meer, Westfälische Zeitung 1908, Nr. 119 v. 21. Mai, 7). Völkisch gesinnte Besucher, wie der hier zitierte Geschäftsführer des Alldeutschen Verbandes, sahen in den Spätzlen ein Bekenntnis zum Deutschen Volk, sahen nicht die vielfach anderen Identitäten der Auslandsdeutschen. Der Schriftsteller Otto Schmelzer fand bei den Wolgadeutschen dagegen eher ein am Kochtopf erkennbares Festhalten der Gruppenidentität. Die „alten Leibgerichte der Heimat“ hatten sich schon längst von denen der Heimat entfernt, denn Spätzle, Strudel und Schupfnudeln standen hier neben Krummbierstampf, Kartoffelbrei, Sauerkraut und Schweinefleisch (Deutsches Kolonistenleben in Rußland, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 58 v. 9. März, 3). Deutsch-schwäbische Küche war in derartigen Siedlungskolonien weniger Bekenntnis, denn ein Mittel der Abgrenzung zur Hauptgesellschaft. In den deutschen Kolonien war das ähnlich, doch hier standen Spätzle, auch bayerisches Kraut, für eine überlegende, höherwertige Küche (Ein Landsmann in Westafrika, Neues Tagblatt 1883, Nr. 13 v. 18. Januar, 3). Nationale Feste, wie der Sedantag, Kaisergeburtstag, aber auch der Geburtstag des schwäbischen Königs und des badischen Großherzogs, wurden ebenfalls mit heimatlichen Speisen unterfüttert (Die Feier des Kgl. Geburtstagsfestes in Cannes, Neues Tagblatt 1881, Nr. 58 v. 11. März, 2; Königs Geburtstag in Tsingtau, Neues Tagblatt […] 1907, Nr. 70 v. 23. März, 3). Teils dienten Spätzle in der Ferne jedoch einfach als Willkommensgruß an Landsleute, sei es bei Festen, sei es bei Besuchen (Schwaben in Brasilien 1908, Nr. 88 v. 14. April, 6).

Hinzu kamen Treffen der süddeutschen Vereine in der k. u. k.-Monarchie und in den deutschen Landen. Dort nutzten Schwaben die vorhandene und von ihnen teils mit aufgebaute gastronomische Infrastruktur, um sich fern der Heimat um Heimatspeisen herum zu versammeln (Stuttgart in Wien, Neues Tagblatt 1879, Nr. 174 v. 29. Juli, 2). Bei all dieser Spätzleseligkeit darf man jedoch zweierlei nicht vergessen: Zum einen blieben die heimischen Gerichte vielfach ein letztes Residual einer längst verlorenen Heimat. In der Türkei waren die dortigen Siedler vielfach angepasst, trugen dortige Kleidung, banden Spätzle und anderes an die noch gefeierten religiösen Feste (Ella Triebnigg, Die schwäbische Türkei, Schwäbischer Merkur 1910, Nr. 269 v. 11. August, 1). Zum andern dürften die freudig gereichten und verzehrten Spätzle nicht denen der damaligen Heimat entsprochen haben. So einfach das Grundrezept auch sein mochte, so waren die Zutaten doch andere, dürfte auch die Verfeinerung neue Wege gefunden haben. Die Auslandsschwaben besaßen eine interpretative Freiheit über die eigene Herkunftsküche, die im Schwabenland so nicht wahrgenommen wurde, die aber darauf verwies, dass schon um die Jahrhundertwende der Regionalismus der schwäbischen Küche auch verengende Wirkungen hatte. Das galt zumal vor dem Hintergrund des damaligen Maschinenzeitalters, von dem auch die Spätzleherstellung nicht unberührt blieb.

Teigwaren, Nudeln und gewerblich produzierte Spätzle

Spätzle waren im 19. Jahrhundert eine vorrangig häuslich gekochte Mehlspeise. Sie wurden allerdings auch gewerblich hergestellt, insbesondere in den noch nicht allzu zahlreichen Gaststätten. Bäcker und Melber lieferten einschlägige Ware für Feiern oder den Gebrauch im bürgerlichen Umfeld. Auch wenn sie vielfach noch in zünftigem Umfeld arbeiteten, ihre Sortimente also nicht einfach ausweiten konnten, handelte es sich doch teils schon um marktnah agierende Handwerker und Händler. Die von ihnen seit den 1830er Jahren begonnene Herstellung von Makkaroni zeigt sie als teils innovationsfähig, teils innovationswillig. Das galt trotz eines im Vergleich zu Preußen und vielen Mittelstaaten eher rückständigen Gewerberechtes. In Württemberg und Baden wurde Gewerbefreiheit erst mit den Gewerbeordnungen von 1862 gewährt.

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Angst vor der Gewerbefreiheit: Ein Schuster backt plötzlich Brötchen, vielleicht bald auch Nudeln (Fliegende Blätter 36, 1862, 128)

Größere Quantitäten versandfähiger Nudeln wurden zu dieser Zeit eher in den nördlicheren deutschen Staaten produziert. Dort gab es nicht nur veritable Gewerbefreiheit, dort gab es auch leistungsfähige Metallverarbeitung und Maschinenbau. Vorbild waren auch hier die italienischen Makkaroni, die im Süden und Südwesten seit Anfang des 19. Jahrhunderts von italienischen Händlern insbesondere auf Jahrmärkten, teils aber auch schon in Feinkosthandlungen verkauft wurden. In Karlsruhe wurden heimisch produzierte Hohlnudeln 1840 in einer Ausstellung des Gewerbevereins präsentiert, wenngleich hessische Firmen offenbar leistungsfähiger waren (Allgemeine Polytechnische Zeitung und Handlungs-Zeitung 1840, 199). Im Norden war die lokale Nachfrage allerdings geringer, so dass die Unternehmen größere Märkte anvisieren mussten, um erfolgreich zu sein. Ab Mitte des Jahrhunderts entwickelten sich Firmen wie Wittekop aus Braunschweig und Teichmann aus Erfurt zu leistungsfähigen, maschinell fabrizierenden Anbietern für regionale, teils auch überregionale Märkte. Allerdings machte die Rohware Probleme, denn der aus Sizilien und dann auch der Schwarzmeerregion nach Neapel und Genua importierte Hartweizen wurde in deutschen Landen kaum verwandt. Den heimischen Weichweizennudeln fehlte jedoch Festigkeit und Haltbarkeit.

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Lokale Ergänzungen der heimischen Mehlspeisen (Schwäbischer Merkur 1848, Nr. 67 v. 8. März, 297)

Das wandelte sich erst seit den 1860er Jahren. Einerseits nahm im Gefolge der zunehmend leistungsfähigeren Hochmüllerei der Maschineneinsatz zu, so dass heimische Nudeln deutlich billiger angeboten werden konnten als italienische Ware. Parallel importierten die deutschen Hersteller nun erstens zunehmend Hartweizen. „Deutsche“ Makkaroni wurden eine zunehmend ansprechendere Ware, die als Beilage auch in südwestdeutschen Gaststätten Eingang fand. Im Rheinland begann zweitens der Kölner Stärkefabrikant Carl August Guilleaume (1820-1894) ab 1877 seinen Makkaroni Weizenstärke zuzusetzen, so dass ihr Nährwert den des italienischen Vorbildes weit übertraf. Der erhoffte Erfolg blieb allerdings aus, denn das Produkt war dunkel, sah wenig ansprechend aus. Drittens begannen Teigwarenfabriken seit den frühen 1880er Jahren neuartige Eier-Makkaroni herzustellen. Das entsprach nicht mehr dem italienischen Vorbild, doch es war eine erfolgreiche Adaption süddeutscher Geschmacksvorlieben. Nahrhafter und preiswerter als italienische Importware standen deutsche Eier-Makkaroni für den vermeintlich überlegenen Intellekt deutscher Wissenschaftler und Unternehmer. Sie etablierten sich erst in bürgerlichen Kreisen, nach der Jahrhundertwende auch innerhalb der Arbeiterschaft.

Makkaroni waren Marktalternativen zu den schwäbischen Spätzlen, wenngleich von Puristen strikt diskreditiert. Fabrikware anstelle des hingebungsvollen Teigschlagens und Schabens? Standardisierte Angebote als Billigersatz der vielgestaltigen und nuancenreichen Formen der heimischen Küche? Und doch, spätestens seit den 1880er Jahren finden sich erste Anzeigen gewerblich produzierter Spätzle, genauer von Eier-Spätzlen. Es waren vorrangig südwestdeutsche Unternehmer, die Chancen auf eine weitere Enthäuslichung des Spätzlekonsums witterten. Anfangs zielten sie jedoch noch nicht auf eine tellerfüllende Hauptmahlzeit. Stattdessen boten sie ab den 1890er Jahren Eier-Spätzle als kleine Suppennudeln an. Anders als die wachsende Palette der Convenienceprodukte, als frühe Suppenpräparate, als Würzen, Back– und Fleischpulver stand in der Werbung nicht die Arbeitsersparnis im Vordergrund. Stattdessen lobten die Anbieter die bessere Verdaulichkeit, den höheren Nährwert und die verlässliche Qualität der neuen Sternnudeln.

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Frühe Angebote von gewerblich produzierten Spätzlen als Suppeneinlagen (Karlsruher Tagblatt 1888, Nr. 163 v. 16. Juni, 2268 (l.); ebd. 1890, Nr. 130 v. 13. Mai, 2021 (r. u.); Riesaer Volksblatt 1892, Nr. 68 v. 7. Mai, 270)

Das Geschäft mit den Spätzlen wurde seit den 1890er Jahren zunehmend auch von größeren Firmen aufgenommen. Am bekanntesten dürften wohl die Angebote der Heilbronner Firma C.H. Knorr gewesen sein. Carl Heinrich Theodor Knorr (1800-1875) hatte 1838 eine Spezereiwarenhandlung und eine Zichorienfabrik gegründet, sattelte nach Fehlschlägen auf den Großhandel von Landesprodukten um und begann in den 1870er Jahren mit der Produktion von Suppenpräparaten. Seine Söhne verbreiterten das Sortiment um Müllereiprodukte sowie ab 1892 um eine Teigwarenproduktion. Neben verschiedenen Makkaronisorten waren auch Eierspätzle von Beginn an Teil der wachsenden Sortimente. C.H. Knorr war reichsweit präsent und verbreitete die Spätzle-Produkte auch international.

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Export der Spätzle: Spätzle-Suppennudeln von Knorr aus Heilbronn (Wittener Tageblatt 1893, Nr. 294 v. 15. Dezember, 4 (l.); Kölner Local-Anzeiger 1905, Nr. 12 v. 12. Januar, 3; Wittener Tageblatt 1913, Nr. 302 v. 3. November, 6)

Mittelfristig wichtiger waren jedoch kochfertige Spätzle. Wie die Makkaroni mussten sie nur noch in Wasser erhitzt werden: ein billiges, nahrhaftes und leicht zu verfeinerndes Nahrungsmittel. Von einem Durchbruch mit rasch steigenden Konsumdaten lässt sich allerdings nicht reden. Das belegt das Teigwarengeschäft des 1864 gegründeten Stuttgarter Spar- und Consumverein, der mit seinen 1890 mehr als 7000, 1900 mehr als 18.000 Mitglieder ein bestimmender Faktor im Einzelhandel der württembergischen Landeshauptstadt war. Aus der 1878 gegründeten Bäckerei wurde 1901 ein gesondertes Teigwarengeschäft ausgegliedert (Denkschrift zum Vierzigjährigen Bestehen des Spar- und Consum-Vereins Stuttgart, Stuttgart 1905, 16). Fabriziert wurden Eiernudeln, Hartweizenmakkaroni und verschiedene Suppennudeln. Die Genossenschaftler bauten ihr Angebot stetig aus, ab 1907 boten sie auch kochfertige Eier-Spätzle an. Erfolgreich, so die Selbstbewertung: 1913 wurden 1425 kg, 1914 1635 kg dieser Fabrikware abgesetzt (Spar- und Consum-Verein Stuttgart. Jahres-Bericht, Stuttgart 1914, 11; ebd., Stuttgart 1915, 16). Doch es wäre verfehlt, allein auf die Neuware zu blicken: Nicht Eier-Spätzle verdrängten die heimisch hergestellten Mehlspeisen, diese gerieten durch alternative Angebote vielmehr indirekt unter Druck. Der Stuttgarter Konsumverein verkaufte 1900 14.208 kg Makkaroni und 8.460 kg Nudeln, 1913 dann 40.585 kg resp. 44.188 kg (Ebd., Stuttgart 1901, 19; ebd., Stuttgart 1914, 11). Gewerbliche Fertigwaren traten langsam aber stetig an die Stelle tradierter Mehlspeisen. Die Eier-Spätzle wurden zwar gekauft, doch konnten sie im unmittelbaren Vergleich mit selbstgemachten Spätzlen noch nicht überzeugen.

Abseits des Südwestens war das anders, zumindest wenn man der höheren Anzeigenfrequenz Glauben schenken kann. Spätzle waren dort eine Nudel wie andere, eine Alternative zu Kartoffeln, eine Variante bei den Teigwaren. Blicken wir nach Wiesbaden, damals Hauptstadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Dort begann die Firma C. Weiner 1878 mit der Produktion von nicht gefärbten Hausmachernudeln aus frischen Eiern (Wiesbadener Tagblatt 1904, Nr. 124 v. 14. März, 8). Kurz nach der Jahrhundertwende erweiterte der mittlerweile von Helene Weiner geführte Betrieb das Geschäft, ließ dazu ein eigenes Markenzeichen eintragen (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 76 v. 1. April, 39). Seit 1904 kündeten zahlreiche Anzeigen von neuartigen „Wiesbadener Spätzle“.

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Gewerbliche Nachbildung nördlich des Schwabenlandes (Wiesbadener Tagblatt 1904, Nr., 389 v. 21. August, 20)

Die „nahrhafte und schmackhafte Speise“ (Wiesbadener Tagblatt 1904, Nr. 2 v. 2. Januar) wurde jedoch nicht als Ersatz für häuslich hergestellte Teigwaren angepriesen, sondern erstens als Beilage, zweitens als Substitut für die allseits verwandten Makkaroni. Weiners Manufaktur offerierte „selbstgemachte“ Gewerbeware. Das Sortiment zielte nicht nur auf Einzelhaushalte, vielmehr umwarb Helene Weiner gezielt Gaststätten. Ihre Spätzle konnten rasch erwärmt werden, waren daher einfacher handhabbar als frisch in den Gaststätten geschabte Spätzle. Die Werbung zeigte zugleich, dass gängige Regionalspeisen sich verändern konnten, ohne dass sich die Speisenbezeichnungen änderten.

30_Wiesbadener General-Anzeiger_1902_21_11_p6_Wiesbadener Tagblatt_1905_10_31_Abend_p8_Nudeln_Suppennudeln_Hausmacher_Eiernudeln_Spaetzle_C-Weiner_Wiesbaden

Gewerbliche Spätzle in Haushalt und Gaststätten (Wiesbadener General-Anzeiger 1902, Nr. 272 v. 21. November, 6 (l.); Wiesbadener Tagblatt 1905, Nr. 510 v. 31. Oktober, Abendausg., 8)

Auch hier sind Rückwirkungen auf das Schwabenland zu bedenken. Was in Wiesbaden erfolgreich möglich war, war auch in der Stammregion der Spätzle nicht ausgeschlossen. Die offenkundige Zurückhaltung des schwäbischen Kleinhandels – Suppenspätzle und Eierspätzle fanden sich vorrangig in größeren Einzelhandelsbetrieben – wurde durch die damals allseits präsenten Versandgeschäfte gebrochen. Solcher Marktdruck wurde im vermeintlichen Land der Tüftler aufgegriffen und durch regionale Fabrikware substituiert.

31_Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Wuerttemberg_1910_03_17_Nr063_p11_Versandgeschäft_Teigwaren_Eiernudeln_Makkaroni_Spaetzle_Koenig_Eisenach

Marktdruck von außerhalb: Eiernudeln per Versandgeschäft (Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1910, Nr. 63 v. 17. März, 11)

Haushaltsgeräte für die Spätzlebereitung

Welch ein Hin und Her. Bei der kurzen Rast fallen einem Rainer Maria Rilkes Zeilen ein: „Denn, wen ängstigsts nicht: wo ist ein Bleiben, / wo ein endlich Sein in alledem?“ (Gedichte 1910 bis 1926, hg. v. Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Leipzig 1996, 177) Diese Haltung entsprach dem Fin de siècle-Gefühl der Jahrhundertwende, dürfte für die Bevölkerungsmehrheit aber kaum prägend gewesen sein. Das späte Kaiserreich war schließlich immer auch eine optimistische Zeit, eine des Fortschritts, der Reallohnverbesserungen, der sicheren Alltagskost. Der deutsche Platz an der Sonne war überspitzer Ausdruck einer Zeit, die von alltäglichen Verbesserungen geprägt war, in der Erfindungen vielfach noch Freude hervorriefen, nicht aber Ängste und Ethikkommissionen. Das galt auch für die Küchentechnik, mit der die Fron der tradierten Hausarbeit überwunden werden konnte, vielleicht auch würde. Während heutige Spätzlebrettenthusiasten das Messer noch (virtuell) auf Holz schwingen, war das im 19. Jahrhundert anders. Schwäbische Frauen sollten, ja mussten durchaus gute, schmackhafte Spätzle kochen können – doch schon die Rezepte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts verwiesen auf andere Hilfsmittel, auf Haushaltsgeräte. In den Eisenwaren- und Haushaltsgerätegeschäften der Zeit finden sich durchaus Spätzlemaschinen. Knöpflepressen wurden früh auf Ausstellungen präsentiert (Zur Schwarzwälder Industrieausstellung, Der Landbote 1858, Nr. 108 v. 11. September, 424-426, hier 425). Die Zahl der vor der Jahrhundertwende patentierten Maschinen blieb allerdings gering.

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Urbaner Haushaltskomfort: Spätzlemaschinen (Karlsruher Tagblatt 1869, Nr. 163 v. 17. Juni, 1254 (l.); Der Landbote 1904, Nr. 146 v. 13. Dezember, 4)

Das Spätzlebrett war damals noch gängig, denn es war billig, ein im bäuerlichen und handwerklichen Haushalt einfach selbst herzustellendes Hilfsmittel. Das änderte sich mit der 1904 von der Stuttgart Firma R. v. Hünersdorff Nachfolger präsentierten Spätzle-Mühle. Sie war Teil einer zunehmend auch die Hauswirtschaft betreffenden Innovationskultur, wie man zeitgleich etwa an der Einführung der badischen Kochkiste sehen konnte, die schließlich in das Leitprodukt des arbeitssparenden Selbstkochers „Heinzelmännchen“ mündete. Damals nahm die Zahl patentierter Spätzlemühlen rasch zu, so von Marie Keck aus Mannheim, Otto Maier aus Sulzbach, Emil Triebel und Erhard Schlenker aus Schwenningen und eben von Hünersdorff, der sich zudem ein Warenzeichen sicherte (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 297 v. 18. Dezember, 12; ebd. 1912, Nr. 27 v. 29. Januar, 15; ebd. 1914, Nr. 34 v. 9. Februar, 18; ebd. 1904, Nr. 135 v. 10. Juni, 11), dennoch aber später in Patenthändel verwickelt war (Schwäbischer Merkur 1911, Nr. 558 v. 29. November, 2. S. n. 8).

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Innovative Haushaltstechnik zur Stütze und dem Export des schwäbischen Nationalgerichtes (Schwäbischer Merkur 1904, Nr. 563 v. 2. Dezember, nach 4)

Hünersdorff war ein gutes Beispiel für die vom Handel ausgehende Innovationskraft, denn die 1893 vom Kaufmann Carl Lang gegründete Firma kooperierte mit dem lokalen Metallverarbeiter und Auftragsfertiger Wilhelm Grünenwald sowie einer größeren Zahl von Entwicklern und Erfindern. Eine Schnellbuttermaschine setzte sich rasch im Ländle und auch reichsweit durch, weitere Küchenhelfer wie der ein amerikanischer Quirltopf und eine Blitzrührschüssel folgten (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 288 v. 6. Dezember, n. 20; Fliegende Blätter 123, 1905, Nr. 3146; Beibl. 8, 4). Auch durch die Spätzle-Mühle sollte die Küchenarbeit schneller und einfacher werden: „Jedes Kind kann in 5 Minuten mehr und schönere Spätzle einlegen als seither die gewandteste Köchin in ¾ Stunden.“

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Zeitersparnis als Verkaufsargument: Werbung für Hünersdorffs Spätzle-Mühle in Haushalt und Großküche (Schwäbischer Merkur 1907, Nr. 589 v. 16. Dezember, 2. S. n. 8 (l.); ebd. 1910, Nr. 555 v. 29. November, 2. S. n. 8)

Hünersdorff stand für Massenproduktion, dafür rührte er die Werbetrommel. Die Stuttgarter Firma verkaufte vor Ort, vorwiegend aber per Versandgeschäft. In lokalen und überregionalen Zeitungen finden sich meist vierseitige mit Abbildungen versehene Beilagen, Anzeigen ebenso in Kalendern, Frauenzeitschriften und Kochbüchern. 1910 waren mehr als hunderttausend Spätzle-Mühlen verkauft. Die Firma unterstützte und förderte auch die Spätzleherstellung abseits des Südwestens (General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1905, Nr. 302 v. 2. November, 3; Kölnische Zeitung 1907, Nr. 1231 v. 26. November, 2).

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Spätzlemühlen per Versand: Werbung in der Reichshauptstadt (Haus Hof Garten 45, 1905, 433)

Ebenso wichtig wie der Versand war die Kooperation mit den großen Warenhäusern im Südwesten. Diese ermöglichten Großabsatz, zugleich aber günstige Preise. Während die Spätzle-Mühlen per Versand 3 bis 6 M kosteten, konnte man die einfachste Version bei Hermann Tietz zeitgleich für 2,65 M, im Angebot auch für 2,45 M erstehen (Badische Presse 1907, Nr. 132 v. 20. März, 12; ebd., Nr. 196 v. 29. April, 8). Gebrüder Knopf bot später die Hünersdorffsche Mühle auch preiswerter an (Der Volksfreund 1912, Nr. 54 v. 4. März, 8). Hermann Tietz hatte derweil eigene Spätzlemaschinen im Angebot, die für nur 1,95 M zu haben waren (Badische Presse 1909, Nr. 247 v. 1. Juni, 8), einige Jahre später gar mit Brett für 1,85 M (Badische Presse 1912, Nr. 124 v. 14. März, 12). Auch Knopf senkte die Preise weiter, verkaufte die Hünersdorffsche Spätzle-Mühle im Ausverkauf für nur 1,95 M (Der Volksfreund 1912, Nr. 102 v. 2. Mai, 8). 1914 waren die günstigsten Mühlen im Tietzschen Ausverkauf für lediglich 1,60 M zu haben (Badische Presse 1914, Nr. 252 v. 3. Juni, 5). Zum Vergleich: Ein Spätzlebrett mit Griff kostete damals 18 Pfg. (Karlsruher Tagblatt 1912, Nr. 133 v. 14. Mai, 4).

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Warenhäuser als Vertriebsplattformen: Spätzlebretter und -messer bei Hermann Tietz, Karlsruhe (Badische Presse 1908, Nr. 264 v. 10. Juni, 8)

Gewiss, der Preis blieb ein Argument für das Brett, gegen die Mühle – und nicht nur Sparsamkeit, sondern auch Fragen der Textur, der Form und des Geschmacks sprachen nach Ansicht vieler für die bewährte Brett-Messer-Technik. Doch angesichts derartig niedriger Preise, angesichts der Hünersdorffschen Absatzzahlen, neuartiger Passiermaschinen und Angeboten weiterer Anbieter waren Spätzlemühlen bereits vor dem Ersten Weltkrieg allgemein verbreitet. Das galt für die Städte, das galt auch für die häusliche Praxis jenseits von Schwaben.

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Haushaltstechnik für unterschiedliche Nudeln fern von Schwaben: Passiermaschine der Wiener Firma Johann Schmetz und eine Spätzlemühle des Ravensburger Versandgeschäftes Maier Landauer (Das Buch für Alle 41, 1906, n. 564 (l.); Der Volksfreund 1912, Nr. 283 v. 3. Dezember, 15)

Der Erste Weltkrieg als Bruch

Der Erste Weltkrieg bildete einen drastischen Bruch mit der tradierten Ernährungskultur. Die zunehmend schwierigere Nahrungsmittelversorgung traf allerdings vorrangig die städtischen Verbraucher. Die völkerrechtswidrige Seeblockade der Alliierten führte zu einer Übersterblichkeit von mehr als 400.000 Menschen und zu einer massiven Abmagerung der Bevölkerung. Die Sorge um die tägliche Kost war allgegenwärtig (naja, sicher nicht bei den Etappengelagen des Kronprinzen), Essen wurde zugleich ein Sehnsuchtsraum. Das war zu Beginn des Weltenbrandes noch nicht absehbar, erwartete man auf deutscher Seite doch nicht nur den Sieg, sondern auch einen nur kurzen Krieg. Die deutschen Armeen waren zwar regional organisiert, für eine regionale Kost der Kampftruppen war jedoch keine wirkliche Vorsorge getroffen. Schon während der Mobilisierungsphase vermissten die Soldaten daher vielfach ihre angestammten Speisen, die „Mehlspeisen, als da sind Spätzle, Nudel u.a. mehr“ (Badische Soldaten in Westfalen, Badischer Beobachter 1914, Nr. 283 v. 15. Oktober, 2). Vor lauter Erbsen, Graupen und Speck hatten Frontsoldaten, so hieß es, schon am Jahresende fast vergessen, „was Kässpätzle oder Rohklöße für himmlische Genüsse sind“ (W. Scheuermann, Kleine Kriegsbilder, Karlsruher Tagblatt 1914, Nr. 335 v. 3. Dezember, 7). Gängige Liebesgaben konnten diesen Mangel nicht ausgleichen, zumal die meisten Soldaten nicht kochen konnten. Was blieb, war „eine große Sehnsucht nach Dampfnudeln und Spätzle“ (Badische Landeszeitung 1915, Nr. 350 v. 30. Juli, Abendbl., 3). Die symbolische Bedeutung der Heimatspeisen nahm zu, Ehrungen verwundeter Soldaten wurden anfangs regelmäßig von gewaltigen „Portionen von köstlich duftendem Goulasch m. Spätzle“ umkränzt (Vorarlberger Volksfreund 1915, Nr. 17 v. 9. Februar, 4). Nach fast einem Jahr Massenschlachten konnte man daher fast erwartungsgemäß eine Anekdote um Kaiserin Auguste Viktoria (1858-1921) lesen, nach der diese in einem Lazarett Schwaben besucht habe, denen sie dann huldvoll Eierspätzle sandte: “Herrlich haben sie geschmeckt! So lange hatten wir keine mehr gegessen. Ich machte nach dem Schmaus ein Gedicht: ‚Die kaiserlichen Spätzle‘, und ließ es der Kaiserin übergeben“ (Die Kaiserin und die Schwaben im Lazarett, Wiesbadener Zeitung 1915, Nr. 293 v. 12. Juni, 5). Entsprechende Nahrungsgaben der Untertanen Ihrer Majestät erfolgten während des gesamten Weltkrieges, teils in der schwäbischen Heimat, durch schwäbische Vereine teils aber auch im gesamten Reich (Stuttgarter Neues Tagblatt 1918, Nr. 248 v. 18. Mai, 2).

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Einfach mit regionalen Einsprengseln: Kriegsküchenzettel vor den Hungerwintern (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 448 v. 4. September, 2)

Der symbolische Wert der Spätzle nahm während des Krieges zu – und das nicht nur auf Seiten der Soldaten. Sie malten sich aus, dass die Versorgung in der Heimat noch so sei wie früher. Ein schwäbischer Soldat fragte poemend seinen Neffen: „Doch hast Du auch unterdessen / Deine Suppe stets gegessen, / Das Gemüse und die Spätzle, / Hintendrein noch gute Plätzle“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 458 v. 10. September, 5). Mit gewissem Befremden nahm man zuvor Mehlsendungen emigrierter US-Schwaben zur Kenntnis, damit ihre früheren Landsleute auch weiterhin Spätzle essen konnten (Schwäbischer Merkur 1915, Nr. 250 v. 1. Juni, 14). Die globale Spätzlegemeinschaft war offenbar gefährdet. Feindschaft zeigte sich auch an kleinen Ereignissen: Wie roh etwa die Franzosen, die einem deutschen Kriegsgefangenen zehn Jahre Gefängnis aufbürdeten, weil dieser einen kleinen Posten Mehl gestohlen hatte, „um sich am Weihnachtstage Spätzle zu bereiten“ (Der Volksfreund 1922, Nr. 115 v. 18. Mai, 3).

Während die symbolische Bedeutung der Heimatkost, der Spätzle, während des Krieges wuchs, verschwand das schwäbische Nationalgericht zunehmend vom Tisch der städtischen, teils auch der ländlichen Verbraucher. Weizen und Dinkel bildeten dessen Hauptbestandteil, und Getreide war 1914 das nach den Kartoffeln wichtigste Nahrungsmittel. Während Teile der deutschen Roggenernten vor dem Krieg noch exportiert wurden, lag der Einfuhrüberschuss beim Weizen damals bei über 40 Prozent (Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan, Braunschweig 1915, 34-35). Um die Getreidevorräte zu strecken, wurden Ende Oktober 1914 dem K-Brot Kartoffeln zugemengt, zudem die Ausmahlung erhöht. Ein höherer Roggenkonsum sollte die Grundversorgung sichern. Ab dem 5. Januar 1915 musste Weizenmehl mindestens 30 Prozent Roggenmehl beigemischt werden, nur noch 10 Prozent des Weizenmehls blieb als Auszugsmehl „weiß“ (Christian Weiß, Die Versorgung der Stadt Nürnberg mit Getreide, Mehl und Brot im Weltkriege, Bd. 1, Nürnberg 1918, 13). Am 25. Januar 1915 begann schließlich die Brot- und Mehlrationierung. Es galt, „sein kleines Ich und seine eigenen Vorteile und Profitchen in dem großen Gefühl der Volkszusammengehörigkeit untergehen“ zu lassen (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 44 v. 26. Januar, 2). Das traf die „allzu sorglos in ihren seitherigen Konsumgewohnheiten dahinlebende“ städtische Bevölkerung hart ([Sigmund Schott], Der Verbrauch von Brot, Mehl und mehlhaltigen Speisen in 416 Mannheimer Familien, in: Beiträge zur Statistik der Stadt Mannheim 1915, Sdrnr. 3, 21-35, hier 21). Die Masse der Backwaren wurde nämlich fertig gekauft. In Mannheim lag damals die Relation zwischen dem Kauf von Backmehl und Brot, Brötchen und Brezeln bei eins zu sieben. Gewerblich hergestellte Teigwaren umfassten bereits ein Drittel der eingekauften Mehlmengen und waren vor allem als Sonntagsgericht beliebt (Ebd., 27, 34).

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Fehlende Eier 1918 (Lustige Blätter 33, 1918, Nr. 43, 1)

Die Getreidebewirtschaftung verschlechterte die Qualität und die Menge möglicher Spätzle. Parallel explodierten trotz offizieller Höchstsätze die Eierpreise. Die Ware verschwand vom Markt, graue Märkte und Hamstern waren die Folge. Kommunale Vorkaufsrechte folgten, am 12. August 1916 setzte die Eierrationierung ein. Dadurch konnte eine Grundversorgung sichergestellt werden, nicht aber der weitere Rückgang des stark saisonalen Eierangebotes. Abseits der Zeit von März bis Juli fehlten Eier fast gänzlich – und damit auch Spätzle. Schon 1915 galt eine eiserne Sparpflicht – und erste Kriegskochbücher verzichteten auf Spätzlerezepte zugunsten solcher von Haferflocken, Maisgries und Quark (Rezepte für kriegsgemäßes Kochen, hg. v. Nationalen Frauendienst Tübingen, Tübingen 1915).

Es war allseits klar, dass man zumindest in den Städten auf „Spätzle, Nudeln und Makkaroni […] verzichten“ musste ([Frau] Philipp, Zweckmäßige Ernährung während der Kriegszeit, Pforzheimer Anzeiger 1915, Nr. 42 v. 19. Februar, 5). Spöttisch-verachtend hieß es über die Traditionalistinnen am Herd: „Können denn die Frauen nichts kochen wie Spätzle, Dampfnudeln und Mehlklöße? Und wenn die Frauen so ganz unfähig sind, sich den Verhältnissen anzupassen, so mögen die Männer ein Machtwort sprechen. Keine Mehlspeisen mehr auf den Tisch, bevor die Friedensglocken läuten!“ (Badische Presse 1915, Nr. 122 v. 13. März, 4) Es galt anderes anders zu kochen und hauszuhalten. Als Anfang 1916 die tägliche Mehlmenge auf 200 Gramm reduziert wurde, standen viele Haushalte am Ende der vierwöchigen Markenperioden ohne Mehlspeisen da, da sie Zugeteiltes nicht einteilen konnten (Donatus Weber (Hg.), Pforzheim im Weltkrieg, seine Söhne und Helden, Pforzheim 1915-1920, 258-259). Selbst an Hochfesten fehlten seither die tradierten Mehlspeisen (Feldkirchner Anzeiger 1916, Nr. 203 v. 23. Dezember, 2). Insoweit war es folgerichtig, dass im März 1917 auch die aus Aluminium gefertigten Spätzlemaschinen und Spätzleseiher beschlagnahmt und eingezogen wurden (Wiesbadener Zeitung 1917, Nr. 110 v. 1. März, 4).

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Mit dem Charme des preiswerten Ersatzgerichts: Rezept und Küchenzettel nördlich des Schwabenlandes (Mayener Volkszeitung 1916, Nr. 169 v. 25. Juli, 3 (l.); Dortmunder Zeitung 1922, Nr. 5 v. 5. Januar, 3)

An die Stelle der tradierten Speisen traten Substitute: „Die eiserne Zeit, in der wir leben, zwingt zu ernstem Nachdenken über Dinge, die man bisher gewohnheitsmäßig hinnahm“ (Oberschwäbisches Kriegskochbuch, Riedlingen 1915, 3). Die anfangs des Krieges herausgegeben Kriegskochbücher wurden entsprechend ergänzt: Mehl war nicht mehr länger ein Getreideprodukt, sondern auch Kartoffelwalzmehl, Reis- und Kartoffelstärkemehl, gar Bananenmehl. Wichtiger aber war das Beimengen: „Auch unser Nationalgericht brauchen wir in der Kriegszeit nicht zu missen, wenn man einen Teil gekochte, geriebene Kartoffeln unter den Teig mengt, und zwar zu 250 Gramm Mehl, Wasser, Salz, 1 Ei, 150 Gramm Kartoffeln. Letztere werden erst dem fertiggeschlagenen Teig zuzugeben“ (Vier Wochenspeisezettel. Nachtrag zum Kriegskochbuch, hg. v. d. Stadtverwaltung Stuttgart, Stuttgart s.a. [1915], 22). „Spätzle“ entstanden nun auch aus Kartoffelbrei, dem man ein Ei und soviel Mehl beigab, dass der Teig hielt (Prager Abendblatt 1915, Nr. 158 v. 12. Juli, 5). Auch andere Spätzlegerichte änderten sich: Kartoffeln wurden Grundstoffe der Spätzlesuppe, sauren Spätzlen wurden übrig gebliebene Erdfrüchte beigemengt und der Dialekt – „Kartoffelspätzlein“ – ummäntelte bitter die Enge (Betty Roß, Kriegsküche, Lorch s.a. [1916], 11, 24, 36). In vielen Kriegsbüchern wurde bis Kriegsende von Eierzugaben geredet – ein Ei auf ein Pfund Mehl (Luise Hainlen, Schwäbisches Kriegskochbuch, 7. Aufl., Stuttgart 1918, 47). Doch ab 1917 tauchten in vielen dieser Hilfsbücher Spätzle nicht mehr auf, wohl aber „Kartoffelnudeln“ (Kriegsküche 1917. Von den Haushaltslehrerinnen des Schulkreises Schopfheim, Waldshut 1917, 38). Sie wurden ergänzt durch Empfehlung für „Spätzle ohne Eier“ aus einem glatt und luftig geschlagenen Wasser-Mehl-Teig (Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus 20, 1916/17, H. 124 [H. 20], 25). Gedörrte Apfel- und Birnenschnitzen oder aber selbst gesuchte Pilze traten an deren Seite, schon war die Mahlzeit, die Hauptmahlzeit fertig (Schwäbische Kronik 1917, Nr. 497 v. 23. Oktober, 10; Bonner Zeitung 1918, Nr. 42 v. 11. Februar, 3).

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Ei-Ersatz zur Herstellung tradierter Mehlspeisen (Stuttgarter Neues Tagblatt 1916, Nr. 246 v. 17. Mai, 5 (l.); ebd., Nr. 131 v. 13. März, 10)

Spätzle wurden schon ab 1915 ein Ersatzmittel. Zum einen finden wir sie als billige Beilage in Küchenzetteln auch abseits des Südwestens. Dort sollten die Mehlrationen verstärkt zum Selbstbacken und -kochen verwandt werden, um dadurch Fleisch- und Fettwaren zu substituieren (Mülheimer Volkszeitung 1916, Nr. 218 v. 20. 7, 1). Häusliche Spätzle wurden so auch im Norden gängiger. Allerdings in anderer Zusammensetzung, denn das vorhandene Mehl wurde zunehmend mit Kartoffelstärkemehl gestreckt (Wittener Tageblatt 1916, Nr. 162 v. 16. Juni, 5). Parallel gab es Werbung für zahllose Ei-Ersatzprodukte. Hunderte wurden auf den Markt geworfen, die Mehrzahl wegen falscher Anpreisungen ab 1917 immer wieder verboten. Doch hoffnungsfroh und hungrig griffen die Verbraucher zu. Mehlspeisenimitate boten ebenfalls die seit 1915 zunehmend etablierten Volksküchen (Pforzheimer Anzeiger 1915, Nr. 194 v. 21. August, 10; Vorarlberger Landes-Zeitung 1916, Nr. 297 v. 29. Dezember, 2).

Kriegsrecht und Pflichtgefühl, Niedergeschlagenheit und die Einsicht in eine strukturell verfahrene Versorgungslage hielten den Unmut bis Anfang 1917 in überschaubaren Grenzen, führten eher zu Selbsthilfe und Rechtsbruch. Spätzle mutierten zu einem Symbol des verlorenen Friedens: „Ach wenn es nur etwas mehr Weißmehl gäbe, denn feldgrau sind nicht nur unsere Krieger, sondern es werdens durch Zuschuß von Brotmehl auch unsere Spätzle!“ (Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger 1915, Nr. 239 v. 15. Oktober, 3) Kritik an der Obrigkeit begleitete die Rationierungswirtschaft, denn diese dekretierte, konfrontierte die Versorgten mit Entscheidungen, ohne dass der Verbraucher „doch sein ‚Wörtle‘ reden“ durfte (Der Krieg und die schwäbische Kost, Ostdeutsche Rundschau 1916, Nr. 24 v. 30. Januar, 9-10, hier 9). Offizielle Ratschläge wurden selbst in der zensierten Presse mit Kopfschütteln entgegengenommen: „Die paar Gramm Weizenmehl, die jedem zugeteilt sind, reichen kaum dazu aus, alle acht Wochen einmal Spätzle oder Knöpfle auf den Tisch zu bringen“ (Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger 1916, Nr. 113 v. 16. Mai, 2). Ab 1916 wurde die Mehl- und Spätzleversorgung auch im Württembergischen Landtag kritisiert, denn offenkundig berücksichtige sie nicht die Küchengewohnheiten im Ländle (Schwäbische Kronik 1916, Nr. 356 v. 2. August, 3-4). Partikularistische und antipreußische Gefühle machten sich Luft, da „gar keine Rücksicht auf die süddeutsche Eigenart im Kochen genommen“ (Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger 1918, Nr. 51 v. 1. März, 2) werde. Verdruss und Renitenz waren die Folge.

Das galt auch für die unmittelbaren Nachkriegsjahre, zog sich die Rationierung doch teils bis 1923 hin. Die weiterhin veröffentlichten Küchenratschläge trafen vermehrt auf Kritik: „Ja, der Hausfrauenbund soll mir doch einmal Spätzle ohne Eier vormachen, ich habe seit 6 Wochen kein Ei mehr bekommen! Und ich bitte den Hausfrauenbund, zu verraten, wie man Spätzle ohne Eier macht“ (Badische Presse 1919, Nr. 426 v. 13. September, 5). Das taten die Hausfrauen schon seit längerem, wiederholten es wieder und wieder. Spätzle ohne Eier konnten mit Mehl, Wasser und Salz gelingen, gab man ein wenig Natron hinzu (Münchner Neueste Nachrichten 1922, Nr. 251 v. 17. Juni, 23). Doch es war nicht allein der einfache Bürger, der nach der Monarchie nun auch die Republik kritisierte. In dem Beleidigungsprozess zwischen Finanzminister Mathias Erzberger (1875-1921) und dem deutschnationalen Spitzenpolitiker Karl Helfferich (1872-1924) wurde letzterer zwar symbolisch verurteilt, konnte den früheren Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission aber moralisch brandmarken: Frau Erzberger hatte 1918 ihre Beziehungen spielen lassen, um Weizenmehl zu erhalten und jubelte dann freudig: „Seit längerer Zeit konnte unser schwäbisches Nationalgericht (Spätzle) auf den Tisch kommen“ (Hannoverscher Kurier 1920, Nr. 34881 v. 16. Februar, 2). Herr Erzberger wurde ein Jahr nach dem Prozess von Freikorpsangehörigen ermordet.

Hinweise fern der Allgemeingültigkeit: Empirische Untersuchungen

Nun müssen wir auf unserer Reise neuerlich innehalten. Was wissen wir denn nun über die Spätzlekost der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Leute im 19. Jahrhundert? Zuschreibungen fanden wir zur Genüge, doch was wurde „real“ gegessen? Auch nur kurzes Nachdenken stellt die Ubiquität der Spätzle nicht nur während des Weltkrieges, sondern auch zuvor infrage. Die häuslichen Konservierungsmöglichkeiten waren begrenzt, die saisonale Abhängigkeit hoch. Getreide war haltbar, Mehl daher auch im Winter und Frühjahr verfügbar. Und die Eier? Hennen beendeten ihre Legetätigkeit damals gemeinhin im Herbst. Ab September und Oktober waren frische Eier daher selten, im November und Dezember sehr selten. Erst Anfang des Jahres nahm dann die Legetätigkeit der Hühner langsam wieder zu, „Eierschwemmen“ von März bis Mai folgten. Gewiss, es gab tradierte Konservierungsformen, etwas das Einlegen der Eier in Kalk. Bruch war die häufige Folge, ebenso ein dumpfer Geschmack. Leinöl war ein Alternative, doch solche Eier hielten nur einige Monate. Erst seit den 1880er Jahren bot Wasserglas eine bessere „chemische“ Alternative. Wann aber wurden denn die Spätzle bereitet, wenn die vor unseren Augen immer wieder hervorgehobene Frische nur selten zu gewährleisten war? Hinter „Spätzle“ verbargen sich demnach häufig Wasser-, nicht Eierspätzle.

Blicken wir nun auf zeitgenössische Erhebungen der württembergischen Ernährungsweisen. Im Königreich wurden statistische Oberamtsberichte mehrfach zu Staatskunden verdichtet, die der Ernährung langsam wachsende Bedeutung beimaßen, ohne aber mehr als Hinweise zu liefern. Was hieß denn: „Die Lebensweises des Volks ist im Allgemeinen einfach, Nahrung, Kleidung und Wohnung beschränken sich auf das nothwendige Bedürfniß, das freilich von dem Einen mehr, von dem Andern weniger befriedigt wird“? (Johann Daniel Georg v. Memminger, Beschreibung von Württemberg, Stuttgart und Tübingen 1841, 343) Auch Anfang der 1860er Jahre schrieb man nicht von einer schwäbischen Küche, sondern präsentierte unterschiedlich akzentuierte Ernährungsweisen der Ober- und Niederschwaben, auf der Alb, im Schwarzwald und in Franken. Mehlspeisen bildeten mit Ausnahme des Schwarzwaldes eine Konstante der Alltagskost, Spätzle wurden aber nur für Niederschwaben vermerkt (Das Königreich Württemberg. Eine Beschreibung von Land, Volk und Staat, Stuttgart 1863, 370). Mitte des 19. Jahrhunderts gab es also beträchtliche Verzehrsunterschiede innerhalb des Landes, die teils auf die unterschiedliche Nahrungsmittelproduktion, teils aber auch auf das unterschiedliche Wohlstandsniveau zurückgeführt wurden. Im Anfang der 1880er Jahre herausgegebenen Nachfolgewerk grenzten die Beamten die schwäbische Ernährung zwar von der der „vermeintlich hungerleidenden, schlechttrinkenden Mittel- und Norddeutschen“ ab, unterschieden nun jedoch sechs Landesteile, deren relative Einheit sich in unterschiedlichen Nahrungsweisen niederschlage. Die ausführlicheren Teilberichte verwiesen nun durchweg auf Spätzle resp. Knöpfle, hoben aber zugleich deutliche Veränderungen bei Mahlzeiten und Getränken hervor. Fleisch wurde überall häufiger verzehrt, ebenso Kaffee und seine Substitute, die Marktanbindung hatte deutlich zugenommen. Spätzle und Knöpfle standen dabei jedoch nicht für sich, sondern als summarische Platzhalter für Mehlspeisen insgesamt. Die Einzelberichte enthielten vornehmlich moralische Bewertungen über die Kommerzialisierung des Landes, über die wachsenden sozialen Unterschiede. Das Beschriebene wurde gleich bewertet, Kategorien wie einfach und sparsam nutzte man ohne Definition (Das Königreich Württemberg. Eine Beschreibung von Land, Volk und Staat, Bd. 2, T. 1, Stuttgart 1884, 113-116).

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Trügerische Idylle: Sonntag in Württemberger Kleinstädten (Über Land und Meer 40, 1878, 692 (l.); Illustrirte Welt 26, 1878, 12)

Statistische Untersuchungen hatten vorrangig die Aufgabe, Not- und Problemlagen zu erkunden, staatliches Handeln grundzulegen, die seit den 1870er Jahren reichsweit steigende Zahl von Analysen der Lage auf dem Lande unterstrich dies. Lokale Einzeluntersuchungen dominierten, subjektive Eindrücke mutierten vielfach zu allgemeinen Aussagen. Dann hieß es rasch: „Die Nahrung besteht bei 80 pCt. der Bevölkerung das ganze Jahr in Suppen, Kaffee, Kartoffeln, Milch und Mehlspeisen und Brot. […Spätzle] werden aus Mehl mit Zugabe von Eiern bereitet und bilden das ganze Jahr zu allen Zeiten eine Hauptspeise, die selten auf dem Tische fehlt“ (Aufnahme über die allgemeine Lage der Landwirthschaft der Gemeinde Bisingen und des Bezirks Hechingen, in: Ermittelungen über die allgemeine Lage der Landwirthschaft in Preussen, T. 1, Berlin 1890, 617-648, hier 643). Anderseits finden sich detaillierte Beschreibungen einzelner Haushalte. Demnach bestanden Spätzle im späten 19. Jahrhundert auf dem Lande aus Wasser, 1-2 Eiern und einem Pfund Mehl. Der Teig wurde geschlagen, weggestellt, am Mittag dann „durch einen groblöcherigen Model in reichlich kochendes, gesalzenes Wasser geschlagen. […] Man brachte sie sofort aus dem Wasser auf den Tisch, bald mit Brot-, bald mit Zwiebelschnitze, das einemal mit, das anderemal ohne geriebenen Käse oder Grünzieger. Sauerkraut, Bohnen oder Obst waren beliebt dazu“ (Susanne Müller, Die Hausfrau auf dem Lande, 3. Aufl., Stuttgart 1896, 101). Spätzle waren demnach Hauptmahlzeit, keine Beilage wie in der fleischlastigen Gaststättenküche. Ähnliche Aussagen enthalten die zahlreichen Enqueten der badischen Fabrikinspektion (Uwe Spiekermann, Die Ernährung städtischer Arbeiter in Baden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert […], Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483, hier 468-470). Spätzle waren eine werktägliche Hauptspeise, allerdings traten bei Heimarbeitern Kartoffeln, Nudeln und natürlich andere Mehlspeisen gleichrangig an ihre Seite (Karl Bittmann, Hausindustrie und Heimarbeit im Großherzogtum Baden zu Anfang des XX Jahrhunderts, Karlsruhe 1907, 235, 843). Das Land wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg kommerzialisiert, der „Einfluß der neuen, alles nivellierenden Zeit“ am Kaffeekonsum, am Milchverkauf, an der verschwindenden Tracht festgemacht (Hans Seufert, Arbeits- und Lebensverhältnisse der Frauen in der Landwirtschaft in Württemberg, Baden, Elsass-Lothringen und Rheinpfalz, Jena 1914, 64). All das sind Hinweise, nicht aber präzise Analysen. Und die zahlreichen Haushaltsrechnungen dieser Zeit enthielten nur allgemeine Kategorien, um die soziale Lage vornehmlich der Arbeiter zu erkunden. Einzelne Speisen wurden bestenfalls erwähnt, nicht aber genauer untersucht.

Das gilt selbst für die eindringliche Studie der Nationalökonomin Maria Bidlingmaier (1882-1917). Ihre 1914 durchgeführte Untersuchung zweier nördlich von Heilbronn gelegener Dörfer unterstrich die allerdings noch sehr unterschiedlich ausgeprägte Kommerzialisierung der ländlichen Ernährung. Sie war durch eine regelmäßige Speisefolge und eine Vielzahl von Mehlspeisen geprägt, ebenso aber durch Kartoffeln und die vordringenden gewerblich produzierten Nudeln. Im Bidlingmaiers stärker kommerzialisierter Heimatstadt Lauffen forderte „der Bauer die berühmten Spätzle […] ein paarmal wöchentlich“, zugleich aber war dies im arbeitsreichen Sommer oftmals nicht möglich, „weil die Herstellung der meisten Mehlspeisen zeitraubend ist“ (Die Bäuerin in zwei Gemeinden Württembergs, Stuttgart und Leipzig 1918, 89, 98). Entsprechend waren Haushaltsmaschinen vor dem Ersten Weltkrieg bereits Allgemeingut, besaßen von den 113 Haushalten doch 26 Nudel- und 5 Spätzlemaschinen (Ebd., 98). Ende der 1920er Jahre durchgeführte Betriebsuntersuchungen einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Agrarökonomen Adolf Münzinger (1876-1962) belegten dann einerseits die kontinuierliche Präsenz von Spätzlegerichten auf dem Lande, unterstrichen aber zugleich deren langsames Wegbrechen. In den Monatsspeisezetteln tauchten in sechs der Betriebe Spätzle ein bis viermal auf, während sie in zwei Betrieben nicht erwähnt wurden (Adolf Münzinger, Der Arbeitsertrag der bäuerlichen Familienwirtschaft, 2 Bde., Berlin 1929, Bd. 1, 54, 121-122, 192-193, 261-264, 343-344, 422; Bd. 2, 479-480, 629). Hinzu kamen grundlegende Veränderungen des Spätzlemehls: Nicht nur ging der Getreideanbau in Württemberg insgesamt deutlich zurück, so dass die Abhängigkeit von Importen zunahm. Zugleich verlor der Dinkel seine bis in frühe 20. Jahrhundert dominante Stellung an Weizen (Eugen Arnold, Der Menggetreidebau in Württemberg und Hohenzollern, Landwirtschaftliche Jahrbücher 93, 1944, 350-400, hier 369). In einzelnen Regionen hatte sich dieser schon weit früher als Standardmehl durchgesetzt, so etwa auf der Alb, wo vor der Aufnahme des Weizenanbaus in den 1870er Jahren Roggen, „Korn“ und „Einkürn“ angebaut und verspätzelt wurden ([Schwester] M. Alfreda, National- und Hausmannsgerichte auf der Schwäbischen Alb, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 43-45, hier 44). Parallel waren Eier durch neuartige Konservierungsmittel, verstärkte Auslandszufuhren von Kühlware und deutsche Bemühungen um sog. „Frischeier“ häufiger und in teils besserer Qualität zu erhalten. Beide Entwicklungen veränderten die Zusammensetzung der schwäbischen Nationalspeise, nicht aber die dafür verwandten Begriffe.

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Vom Dinkel zum Weizen. Getreideanbau in Württemberg 1900 und 1938 (Arnold, 1944, 369)

Folgeuntersuchungen in den 1930er und 1940er Jahren spiegelten dann gleichermaßen eine relativ ärmliche ländliche Ernährung und die Optimierungsvorstellungen der Wissenschaftler. Dem Lamento des niedergehenden Bauerntums und der zerbröselnden Küchentraditionen folgten einerseits Bekenntnisse zur wendenden Agrarpolitik des NS-Regimes (Alberta, 1934, 45) oder aber Bildungsforderungen angesichts der „Unwissenheit und Unvernunft der Landbevölkerung“ (Hans Weisser, Die Ernährungsverhältnisse der ländlichen Bevölkerung, dargestellt unter Zugrundelegung der Verhältnisse in der Gemeinde Gültstein des Oberamtes Herrenberg, Med. Diss. Tübingen, Ochsenfurt 1934, 22). Experten optimierten, veränderten damit Alltagsroutinen. Spätzle waren weiterhin werktägliche Alltagsspeisen, doch dem Vordringen von Makkaroni, Kartoffeln, Brot und Kuchen konnten sie kaum mehr Einhalt gebieten (Ebd., 14, 18). Dies bestätigten auch weitere Untersuchungen (Georg Clemm, Der Lebensstandard der Bauersfamilie im Kreise Künzelsau (Wttbg.), Landw. Diss. Tübingen 1941, 10).

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Materieller Niederschlag einer recht einheitlichen süddeutschen Küche: Aggregierte Haushaltsrechnungsdaten 1927/28 und 1937 (Spiekermann, 1997, 254)

Der Wandel der regionalen Ernährungsweisen und der reale Bedeutungsverlust des Spätzleessens auf dem Lande ist daher unstrittig. Man darf zugleich aber nicht übersehen, dass Mehlspeisen und insbesondere Teigwaren in der Zwischenkriegszeit nicht nur die schwäbische, sondern insgesamt die süddeutsche Küche von der anderer Regionen deutlich abhob. Mehr noch: Durch den überdurchschnittlich zunehmenden Konsum gewerblicher produzierter Teigwaren konnten die Mengenverluste bei Spätzlen und anderen häuslich hergestellten Speisen wahrscheinlich überkompensiert werden: Der Süden wurde in der Zwischenkriegszeit teigwarenlastiger, denn gewerbliche Teigware setzte sich hier schneller durch als im Norden und insbesondere im Osten des Reiches (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg u.a. (Hg.), Essen und kulturelle Identität, Berlin 1997, 247-282, hier 250).

Nationales Vordringen, neuartige Konsumformen im Südwesten: Spätzle in der Zwischenkriegszeit

Der Bruch des Ersten Weltkriegs unterminierte erstens viele zuvor übliche Konsumgewohnheiten. Ein wachsendes und sich weiter ausdifferenzierendes gewerbliches Angebot bot häusliche und außerhäusliche Alternativen, auf die man vermehrt zugriff, obwohl wieder verfügbares Mehl und Eier auch eine Revitalisierung der häuslichen Mehlspeisenküche ermöglicht hätten. Die vor dem Weltkrieg breit propagierten Vorstellungen einer Rationalisierung der Hausarbeit wurden nun modisch und vermehrt umgesetzt. Wir können dies nicht im Detail nachzeichnen, zu lang wäre die Reise. Thesenhafte Verdichtungen müssen genügen.

45_Stuttgarter Neues Tagblatt_1930_09_06_Nr418_p04_ebd_11_08_Nr524_p20_Gaststaette_Spaetzle_Wild_Regionale-Kueche

Schwäbische Speisen wie erwartet (Stuttgarter Neues Tagblatt 1930, Nr. 418 v. 6. September, 4 (l.); ebd. 1930, Nr. 524 v. 8. November, 20)

Zum einen reetablierte sich die schwäbische Gastronomie nach der Stabilisierung 1924 rasch. Spätzle mit Reh und Hasen waren vielfach unverzichtbar, wollte man pfundig essen, wollte man die Region erfahren, sich ins alte Recht setzen. Zugleich aber gelang es vielen Gaststätten, diesen Traditionalismus mit neuen Elementen aufzufüllen. Jazz, Wein und Spätzle konnten zusammenfinden, denn gerade in der Angestelltenschaft erschien das Alte morsch und verbesserungswürdig. Das im 19. Jahrhundert entstandene und gelebte Schwabenbild wurde selbst vom Mundartdichter und späteren NS-Propagandisten August Lämmle (1876-1962) in Frage gestellt (Schwäbische Kronik 1926, Nr. 78 v. 15. Februar, 5). Spätzle gehörten dazu, gewiss, blieben unverzichtbar. Doch angesichts der wachsenden industriellen Stärke des Südwestens im Maschinenbau, der Elektrotechnik und auch im Exporthandel war mehr Offenheit Teil des gastronomischen Geschäfts. Das bedeutete auch ein breiteres Angebot regionaler Spezialitäten – durchaus zu Lasten der Spätzle. Insbesondere Maultaschen drangen vor, denn sie waren variantenreicher und besser zu verfeinern, bedienten die Klaviatur vom einfachen Mahl bis zur feinen Spezialität (Stuttgarter Neues Tagblatt 1925, Nr. 508 v. 31. Oktober, 8). Generell wurde die „schwäbische Küche“ in den Gaststätten vielgestaltiger, erlaubten Fisch- und insbesondere Lammgerichte neue Nuancierungen (Schwäbischer Merkur 1928, Nr. 162 v. 5. April, 18). Spätzle wurden dagegen sowohl in der Restaurantküche als auch in großen gastronomischen Betrieben vornehmlich als Beilage eingesetzt, gerieten dadurch aber in eine Kipplage. Prototypisch etwa die Anzeige des Karlsruher Speiserestaurants Friedrichshof: Auf dessen Karte waren Spätzle nur noch eine von 19 frei wählbaren Beilagen, die mit preiswerten Eierspeisen oder mit 17 verschiedenen Fleischgerichten kombiniert werden konnten (Der Führer 1931, Nr. 272 v. 5. Dezember, 11). Eierspätzle? Oder doch lieber Pommes frites, Kroketten oder einen kleinen Salat? Das Angebot wurde umkränzt vom doppelt lockenden Slogan: „Wer seine Frau lieb hat – erspart ihr die Arbeit…“ Und versprach zugleich „Mittagessen wie zu Friedenszeiten“.

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Jazz, Schwarzwald und Spätzle (D’r Alt Offenburger 1925, Nr. 1379 v. 27. Dezember, 3)

Die südwestdeutschen Gaststätten waren allerdings recht zögerlich beim Angebot anderer deutscher Regionalspeisen. Norddeutsche, gar ostdeutsche Gerichte finden sich fast nur in der Spezialitätenküche gehobener Restaurants. Das Zusammenwachsen der Regionalspeisen erfolgte eher in den Metropolen, im Norden und Westen der Republik. Immer wieder wurde damals die Beharrungskraft des schwäbischen Magens erörtert (Ludwig Finckh, Schwäbische Familiengeschichte, Schwäbischer Merkur 1929, Ausg. v. 11. Oktober, 9). Doch offenkundigem Traditionalismus zum Trotz waren auch Schwaben bereit, auf Reisen zu kosten: „Ist die erste neue Gewöhnung überwunden, dann rutscht das landesübliche Essen von selbst herunter, und es schmeckt auch“ (Das Essen unterwegs, Hörder Volksblatt 1925, Nr. 197 v. 24. August, 6).

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Vordringen der süddeutschen Küche, inklusive Spätzle, in Westdeutschland (Dortmunder Zeitung 1924, Nr. 520 v. 5. November, 10 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1935, Nr. 477 v. 17. Oktober, 10)

Gleichwohl war die schwäbische Küche innerhalb Deutschlands ein Exportgut – wenngleich die bayerische Küche dabei eilends voranschritt (C. Heinrich, Berlin—Kosmopolis, Berliner Börsen-Zeitung 1929, Nr. 73 v. 13. Februar, 5). Schwäbischer Erfolg hing dabei nicht nur mit den Speisen, sondern auch mit schwäbischer Gruppenidentität zusammen: „Wenn sie stark genug sind, bilden sie in einer Stadt einen schwäbischen Verein oder sind Stammgäste im Restaurant ‚Schwabia‘, wo es Spätzle und andere Spezialitäten bei ungezwungener schwäbischer Unterhaltung gibt“ (Aldinger, Schwaben im Strom der neuen Zeit, Stuttgarter Neues Tagblatt 1925, Nr. 304 v. 4. Juli, 1-2, hier 2). Herkunft schuf auswärtige Märkte: „Und wenn man die Kartoffeln vor mich stellt, / Gäb ich für Spätzle eine halbe Welt“ (Jedermann, Heimweh, Württemberger Zeitung 1929, Nr. 222 v. 21. September, 15).

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Heimattreffen in der Fremde (Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1920, Nr. 10775 v. 31. Juni, 8)

Schwäbische Spätzle waren in der Ferne – und dann auch im Südwesten – häufig auch gewerblich hergestellte Eierteigwaren. Teigwaren hatten aufgrund ihres günstigen Preises sowohl während des Weltkrieges als auch in der Nachkriegszeit an Akzeptanz gewonnen. Das war nicht zuletzt ein Erfolg der schwäbischen Anbieter, in deren Werbung es übertreibend hieß: „Die Eiernudel, oder besser die Eierteigwaren schlechthin […] ist nun im Laufe der Jahrzehnte vom schwäbischen Volksgericht zum unentbehrlichen deutschen Volksnahrungsmittel geworden“ (Die Eierteigwarenindustrie im Remstal, Schwäbischer Merkur 1928, Nr. 196 v. 27. April, Sonderbeilage, 11-12, hier 12). Großunternehmen wie Wilhelm Hensel (Drei Glocken) oder Birkel konzentrierten sich vornehmlich auf innerdeutschen Export, nur ein Siebtel der Produktion wurde in Baden oder Württemberg verkauft (Riebele und Hörnle, Wirtschafts-Zeitung 2, 1947, Nr. 9, 1).

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Das Schwabenmädchen repräsentiert Nudeln und Makkaroni, keine Spätzle (Stuttgarter Neues Tagblatt 1932, Nr. 579 v. 10. Dezember, 27)

Anfangs handelte es sich vornehmlich um Eiernudeln, inklusive der nun schon wohlbekannten Suppenspätzle (Neuzeitliche Nudelbereitung, Bonner Zeitung 1929, Nr. 344 v. 16. Dezember, 3). Aber in den späten 1920er Jahren finden sich auch zunehmend Fertigspätzle als Standardware in großen Warenhäusern und Feinkostgeschäften (Berliner Volks-Zeitung 1927, Nr. 232 v. 17. Juni, 4).

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Spätzle als anonyme Handelsware im Warenhaus (Der Volksfreund 1928, Nr. 174 v. 27. Juli, 11)

In Warenhäusern und Fachgeschäften wurden nun auch wieder neuartige Spätzlepressen, -mühlen und -maschinen angeboten. Anfangs handelte es sich vielfach um einfache Aufsätze, die halfen, die durch die Metallsammlungen des Krieges gerissenen Lücken zu schließen.

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Einfach drücken – Eine billige, bereits vor dem Weltkrieg eingeführte Spätzlepresse (Stuttgarter Neues Tagblatt 1920, Nr. 536 v. 10. November, 4)

Doch das Angebot stieg beträchtlich, blieb zugleich billig. Es gab nun keine dominante Marke mehr, der Preisdruck begünstigte Handelsmarken, teils anonym, teils vom Fachhandel selbst beworben. Die Stuttgarter Firma Tritschler bot etwa „Fix-Fix“ für Spätzle „so gut wie von Hand“ an (Schwäbischer Merkur 1931, Nr. 103 v. 5. Mai, 4). Die häusliche Spätzleherstellung erfolgte in den Städten zunehmend mechanisiert. Derartige Haushaltstechnik stabilisierte die Präsenz einer langsam seltener werdenden Speise.

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Spielende Leichtigkeit beim Eintauchen ins Salzwasser: Neue Maschinen für ein altes Gericht (Gemeindeblatt Lustenau 1930, Nr. 39 v. 28. September, 586 (l.); Vobachs Frauenzeitung 35, 1932, H. 5, 31)

Nationalgerichte während des Nationalsozialismus –Spätzle als Ausdruck völkischer Identität

Die Zeit der Weimarer Republik haben wir rasch durchschritten, trotz einer großen und wachsenden Zahl von Quellen. Bei der NS-Zeit müssen wir etwas länger verweilen. Auch wenn die Bedeutung der Spätzle in der ländlichen Alltagskost weiter abnahm, stieg nämlich ihre Bedeutung in der Öffentlichkeit, bei Festen und in der Gemeinschaftsverpflegung neuerlich an. Der Grund war einfach, denn Spätzle drangen spätestens während der Weltwirtschaftskrise als billige und sättigende Hauptmahlzeit vor. Wie schon während des Kriegs veränderte sich parallel allerdings die Qualität der Mehlspeise. Außenwirtschaftliche und agrarpolitische Überlegungen führten 1930 zu einem neuerlichen Beimischungszwang von 30 Prozent Roggen zum Weizenmehl. Stärker noch als im Ersten Weltkrieg rief dies Proteste von Verbrauchern und auch gewerblichen Produzenten hervor: „Es sei für den Fachmann einfach unverständlich, wie man aus einem solchen Mehlgemisch unsere guten bayerischen Nudeln aller Art, schwäbische Spätzle, überhaupt gute und bekömmliche Mehlspeisen […] herstellen solle“ (Beimischungszwang von Roggen- zum Weizenmehl, Coburger Zeitung 1930, Nr. 83 v. 3. April, 3). Fertigspätzle dürften davon profitiert haben, denn der Abstand zur häuslichen Ware schwand.

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Spätzle als billiges Hauptgericht während der Weltwirtschaftskrise (Vobachs Frauenzeitung 35, 1932, H. 5, 31 (l.); Westfälischer Beobachter 1934, Nr. 61 v. 13. März, 10)

Während der NS-Zeit wurden billige Spätzle bis zum Kriegsende als Hauptmahlzeit bei Großereignissen eingesetzt. Die neuen Machthaber knüpften einerseits an das bäuerliche Erbe an, das manche im Rahmen einer völkischen Bauerntumsideologie durch ein Zurückdrängen der Moderne wiedergewinnen wollten: „Diese selben Bäuerinnen hatten und haben heute noch keinen Glauben an das ‚Künstliche‘ und ‚Käufliche‘!“ (Frieda Offinger, Gedanken und Anregungen aus der bäuerlichen Ernährung für den ländlichen Kochunterricht, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 243-245, hier 244). Zugleich aber profitierten Spätzle von ihrer Stellung als symbolisch wichtigster Speise der schwäbischen Küche. Regionalgerichte galten als Ausdruck eines vielgestaltigen Volkes, zugleich als Garant für die Kreativität und Schollengebundenheit der germanischen Rasse. Regionalspeisen und regionale Ernährung wurden Thema einer völkischen Volkskunde und der umfassend geförderten Ernährungswissenschaft. Ihnen sollte weitestgehende Beachtung geschenkt werden, sie müssten auch weiterhin bestehen bleiben (J. Schwanke, Von der Diät zur richtigen Volksernährung, Solinger Tageblatt 1936, Nr. 3 v. 4. Januar, 13) – so das Ziel etwa der Ende 1935 gegründeten Deutsche Gesellschaft für Ernährungsforschung – Vorgängerin der heutigen Gesellschaft für Ernährung. Spätzle waren Ausdruck von Blut und Boden der Schwaben.

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Ein Volk, viele Stämme, noch mehr Regionalspeisen (Bürener Zeitung 1934, Nr. 60 v. 13. März, 7)

Dieses völkische Denken prägte auch Großveranstaltungen des NS-Regimes. Beim Deutschen Turnfest im Juli 1933 in Stuttgart bildeten Spätzle die Grundverpflegung. Die Schwaben fanden so „Geschmack am eigenen Geschmack“ (Utz Jeggle, Eßgewohnheit und Familienordnung. Was beim Essen alles mitgegessen wird, Zeitschrift für Volkskunde 84, 1988, 189-205, hier 195), während viele Besucher stöhnten: „Immer Spätzle und Spätzle. Schwierigkeiten macht es schon, wenn man sich eine Knackwurst mit Kartoffelsalat kaufen will“ (Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 173 v. 27. Juli, 13). Doch schon bald mehrten sich in der gleichgeschalteten Presse Verweise auf wachsende Akzeptanz etwa durch Besuchergruppen der Kraft-durch-Freude-Organisation: „Spätzle, das Leibgericht der Schwaben, gibt’s allerwegen. Manchem mundete es nicht recht, anderen dagegen wieder besser“ (Mit „Kraft durch Freude“ in Heidelberg, Siegerländer National-Zeitung 1934, Nr. 183 v. 7. August, 15). Andere begrüßten die Alternative zur Kartoffel: „Spätzle gab’s. Was ist denn das? wird sicher mancher fragen. Spätzle ist etwas ganz besonderes. So etwas muß man gegessen haben“ (Eine Woche am Bodensee, Bünder Generalanzeiger 1934, Nr. 171 v. 25. Juli, 5).

Die Präsentation der vielfältigen „Nationalgerichte“ ließen das Deutsche Reich zu einer kulinarischen Erlebniswelt werden, in dem es überall Gutes gab, in dem das Eigene aber dennoch das Beste sein durfte. Das war touristisch wichtig („Nationalgericht“ gesucht!, Buersche Zeitung 1934, Nr. 218 v. 12. August, 9). Und es war Teil einer wahren Durchdringung der Volksgemeinschaft, sollten Deutsche einander doch kennen und schätzen lernen (Meyer-Scharten, Bürgergespräche, Schwäbischer Merkur 1936, Nr. 148 v. 28. Juni, 3). Doch verordnen ließ sich das nicht, Ferienkinder mussten sich an die Spätzle gewöhnen, Schwaben vermissten in der Heide dagegen ihre Spätzle (National-Zeitung 1936, Nr. 69 v. 21. März, 6; Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 247 v. 6. September, 5). Für das NS-Regime spiegelte all das deutsche Eigenart und deutschen Individualismus, zugleich aber auch Empfindsamkeit angesichts des Rückbezugs auf Mutter, Kindheit und Heimat (H. Kaeser-Zander, Landkarte der Leibgerichte, Bürer Zeitung 1934, Nr. 60 v. 13. März, 7).

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Selbstbewusste Präsentation der schwäbischer Spätzleesser (Schwäbischer Merkur 1937, Nr. 36 v. 29. August, 5 (l.); Stuttgarter Neues Tagblatt 1937, Nr. 402 v. 28. August, 17)

All das sollten auch die Eintopfessen fördern, die am 1. September 1933, dem Erntedankfest einsetzten. Dabei handelte es sich um gemeinsame Opferessen, bei dem die vermeintlich eingesparten Kosten anschließend an das Winterhilfswerk gespendet werden sollten, ja mussten. Eintöpfe und NS-Gesellschaft waren bunt, denn jede Region hatte andere Traditionen, tischte offiziell anderes auf.

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Eintopfessen im Innenhof des Heidelberger Marstalls: Linsen mit Spätzle und Speck (Heidelberger Neueste Nachrichten 1936, Nr. 239 v. 12. Oktober, 3)

In Baden galten Spätzle als das erste Eintopfgericht, es folgte Gaisburger Marsch (Heimatliche Eintopf-Essen, Durlacher Tagblatt 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 3; Hamburger Tageblatt 1934, Nr. 3 v. 4. Januar, 10). Wieder und wieder weitete sich das öffentlich propagierte Eintopfangebot, etwa auf Heilbronner Böckinger Feldgeschrei oder Kartoffelschnitz mit Spätzlen („Der Knöpflesschwab“ zum Eintopfsonntag, Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 579 v. 11. Dezember, 4). Eintopfessen wurden aber nicht nur öffentlich, sondern zumeist privat, auch in Gaststätten durchgeführt. Die Zutaten dieser staatlich verordneten und häufig nicht praktizierten Zwangsessen fand sich in den Angeboten des Handels, darunter vermehrt auch Fertigspätzle. Offenbar wurde nicht nur das Verständnis für regionale Ernährungsweisen geweckt, für das gemeinsame Essen aus einer Schüssel wie im Bauernhaus Anfang des 19. Jahrhunderts.

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Spätzleangebot für Eintöpfe wie Gaisburger Marsch – Hermann Tietz war zuvor zu Union „arisiert“ worden (Badische Presse 1938, Nr. 310 v. 10. November, 16)

Parallel machten all diese Gerichte auch in der Gemeinschaftsverpflegung Karriere, deren Bedeutung insbesondere mit der forcierten Aufrüstung massiv zunahm (Theod[or] Diesch, Nationalgerichte für die Großküche, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 187-188). Einfache regionale Gerichte, billige, ab und an auch rein pflanzliche Gerichte waren ein wichtiges Element der Verbrauchslenkung und praktizierter Sparsamkeit in der Küche. Dafür diente auch der Rundfunk, in dem für die heimischen Spätzle geworben wurde: „Frankfurter Werscht und Stuttgarter Spätzle!“ „Spätzle und Knöpfle“, „Bayerische Knödel – Schwäbische Spätzle“, „Knödel oder Spätzle“, „Was ist besser als Spätzle?“ waren Titel von NS-Kochsendungen, die eine Revitalisierung der Kernspeise der schwäbischen Küche propagierten (Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 43 v. 20. Februar, 4; ebd., Nr. 190 v. 17. August, 7; Essener Volks-Zeitung 1936, Nr. 94 v. 3. April, 8; Der Albtalbote 1937, Nr. 25 v. 30. Januar, 5; Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 46 v. 23. Februar, 6). Auch die Auslandsschwaben stimmten hierbei ein – und Spätzle wurde im Ausland nun vielfach als deutscher Kulturmarker aufgeladen („Spätzle“ im Urwald Brasiliens, General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1934, Nr. 15675 v. 27. Oktober, 11). Schließlich war Stuttgart damals die Stadt der Auslandsdeutschen und die Spätzlekultur im Ausland wurde auch als Teil einer deutschen Irredenta verstanden.

Der Zweite Weltkrieg oder weiteres Abebben regionalen Ernährungskultur

Während des Zweiten Weltkriegs veränderte sich die Alltagsernährung neuerlich – auch wenn die Machthaber bestrebt waren, die Rationierung an die regionalen Verzehrsgewohnheiten anzupassen: Dennoch hieß es warnend-vorbereitend: „Der landesübliche Speisezettel beginnt, in seinen entscheidenden Stücken keine Gültigkeit mehr zu haben; der neue Speisezettel ist nicht landesüblich oder landsmannschaftlich bedingt, er empfängt mehr und mehr Form und Inhalt von den dem ganzen deutschen Reichsgebiet gegebenen Verbrauchsmöglichkeiten“ (Wandel in der Ernährungsweise, Die Rundschau 37, 1940, 150-152, hier 150). In Württemberg bedeutete dies mehr Kartoffeln, mehr fertige und hausgemachte Teigwaren, auch Spätzle als fleischloses Hauptgericht. Die Rationierung von Mehl und Eier, Milch und Fett begann schon kurz vor dem Überfall auf Polen am 1. September 1939. Die verfügbaren Mengen sanken, erlaubten aber weiterhin eine Mehlspeisenküche (ebd., 151-152).

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Regional, einfach und schollengebunden: Schwäbischer Kriegsküchenzettel in der ersten Kriegsphase (Stuttgarter Neues Tagblatt 1940, Nr. 309 v. 9. November, 16)

Verglichen mit dem Ersten Weltkrieg war der Übergang in die Rationierungswirtschaft relativ moderat. Seit 1936 hatten Küchenzettel eine einfache „schwäbische“ Kost mit wenig Fleisch und mehr Fisch, mit Haferflocken, Quark, viel Gemüse und kaum Genussmitteln propagiert. Daran knüpfte man an, nutzte Spätzle als fleischloses Hauptgericht bzw. als geröstete Restespeise nach einem Fleisch-Spätzle-Mittagsmahl. Neben Kartoffelspätzlen traten insbesondere Krautspätzle ohne Eier (Auch im Kriege gut gekocht, Das kleine Volksblatt 1944, Nr. v. 13. August, 9). Eier durften schon ab dem 1. Januar 1940 nicht mehr für die Produktion von Teigwaren verwandt werden (Zur Teigwaren-Marktordnung, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 52, 1940, 137-138). Eierspätzle konnten daher nurmehr häuslich, in Gaststätten oder in der Gemeinschaftsverpflegung zubereitet werden.

Die Kriegsplaner hatten für diesen Fall allerdings vorgesorgt, denn mit den in Stuttgart entwickelten Magermilchaustauschstoff Milei gab es seit Ende 1938 ein Eiersatzmittel, das während des Krieges Milliarden von Eiern substituierte. Bis zur totalen Niederlage waren „Spätzle“ daher verfügbar – wenngleich mit deutlich veränderter Textur. Auch in der Alltagspropaganda bediente man sich immer wieder der Spätzle als „Soulfood“, als virtuellem Schmierstoff des Durchhaltens: „Es gibt ‚Spätzle‘ zu Abend, die so geraten sind, wie es nicht anders sein kann in einer Stadt in Schwaben“ (Unter dem höchsten Kirchturm der Erde, Hamburger Fremdenblatt 1944, Nr. 111 v. 22. April, 3). Und selbst als im April 1945 die 94prozentige Ausmahlung des Weizenmehls dekretiert wurde, versicherten die Zeitungen beruhigend: Auch „Spätzle, Nockeln, Knödel und Klöße […] lassen sich aus diesem Weizenmehl herstellen“ (Schwerter Zeitung 1945, Nr. 76 v. 7. April, 2).

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Spätzle bis zur totalen Niederlage – dank des Ei-Austauschstoffes Milei (Der oberschlesische Wanderer 1943, Nr. 217 v. 9. August, 4 (l.); Völkischer Beobachter 1945, Nr. 22 v. 26. Januar, 3)

Gebrochene Erinnerungskultur – Sehnsuchtsspeise und Heimat im Kühlregal

Wir könnten hier enden – doch angesichts der Wortzählungen in den Tageszeitungen steht uns beim letzten Stück des Weges ja noch ein weiterer Wiederaufstieg zumindest der benannten Spätzlekultur bevor. Die Alltagsernährung war in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings entbehrungsreicher als während des Weltkrieges. Nun fielen die Entnahmen aus den besetzten Gebieten weg, mit deren Hilfe die Rationierung bis Ende 1944, teils bis Anfang 1945 grundsätzlich stabilisiert wurde. Ganz spätzlelos war diese Zeit allerdings nicht. Warum sonst hätte sich die Rüstungsschmiede Luftschiffbau-Zeppelin G.m.b.H. in Friedrichshafen nun wohl auch „auf ‚Spätzle‘-Pressen spezialisiert“? (Bote vom Untersee 1945, Nr. 87 v. 30. Oktober, 3)

Während der Alltag von Hunger und den schon während der NS-Zeit gängigen grauen und schwarzen Märkten geprägt war, bemühten sich die Besatzungsmächte, durchaus zu Lasten ihrer eigenen Bürger, eine Hungerkatastrophe zu verhindern. Regionale Ernährungsweisen behielt man dabei durchaus im Blick, warum sonst hätten Badener und Württemberger 1946 über das jeweilige Mehl streiten sollen? Die Württemberger erhielten nämlich Type 1050, um „weiterhin ihre altgewohnten ‚Spätzle‘ essen können“, während den Badener hochausgemahlenes Mehl Type 1950 zugemutet wurde (Für Baden nur Schwarzmehl?, Badische Volksstimme 1946, Nr. 21 v. 21. September, 4; Was wir nicht verstehen, ebd., Nr. 30 v. 21. November, 3 [Zitat]). Spätzle waren seltene Ausnahme, ein Abklatsch des früheren Gaststättenmahles. Nun dominierten Nährmittel, wurde gegen den Hunger gar Mais ausgegeben. Spätzle gewannen dadurch im brüchigen Nachkriegsfrieden eine neuerliche Aufladung als Erinnerung und Sehnsuchtsraum. Die Speise als solche trat zurück, deren Herkunft, deren Einbindung in vergangenes Leben. So konnte ein Vater vom Vorkriegs-Freiburg erzählen, vom dortigen Überfluss an Schmalzküchle, Krapfen und Spätzle – und „dann sagen die Kinder oft ungläubigen Blicks: Ja, Papa, hat es das wirklich einmal gegeben?“ (Das gabs einmal, Südkurier 1948, Nr. 33 v. 30. April, 3). Ähnliches bei den Flüchtlingen, den Vertriebenen, nun den deutschen. „Ostflüchtlinge“ wurden im Remstal in der „Väter Heimat“ begrüßt, Sauerkraut mit Kesselfleisch und Spätzle als Festessen gereicht (Adam Heller, Empfang der Heimkehrer, Südwestdeutsche Volkszeitung, 1946 v. 2. Oktober, 4). Spätzle waren rar, zugleich aber auch Teil erster Festessen (Eustachius Deindemüller, Karlsruher Gschwätzgebabbel, Badische Neueste Nachrichten 1947, Nr. 117 v. 4. Oktober, 3).

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Spätzle als Hoffnungsanker der Nachkriegszeit – Anzeige von Schüle-Hohenlohe und ein Rezept mit Milei oder Eiern (Stuttgarter Rundschau 1, 1947, H. 5, 29 (l.); Lina Trunk-Kälble, Einfach und Gut. Ein zeitgemäßes Kochbuch, Karlsruhe 1947, 47)

Über deren Qualität, deren Zusammensitzung wissen wir wenig. Den heutigen EU-Richtlinien entsprachen sie sicher nicht, denn noch 1947 hieß es ohne Ironie: „Man nehme: Mehl, Wasser und mache daraus […] Spätzle“ (Rezepte für die Küche, Das Neue Baden 1947, Nr. 20 v. 4. Juli, 5). Doch besseres war möglich, vorausgesetzt man krempelte die Ärmel hoch, vergaß die unselige NS-Zeit, verbrüderte sich mit den neuen Herrschern. Gebrochen, gewiss, denn natürlich finden sich nun wieder Geschichten von den schwäbischen Migranten in den USA, der hilfreichen Besatzungsmacht. Da las man vom altschwäbischen Brauereimillionär, dessen Tochter ihn mittäglich mit den „alten Leibspeisen“ versorgt: „Spätzle und Sauerkraut, Blut- und Leberwürste, Bohnen und Knöpfle, und der ‚Amerikaner‘ läßt sie sich schmecken“ (Schwarzwald wieder Reiseland, Badische Tagblatt 1948, Nr. 121 v. 25. Dezember, 8). Schwoab bleibt Schwoab, so die dahinterstehende Denkweise, Blut- und Bodenmystik mit Spätzlen und Blutwurst, herübergetragen in die neue Zeit, Demokratie geheißen.

Die Normalisierung der Verhältnisse erfolgte langsam, doch bekanntermaßen lag der Kapitalstock des neuen deutschen Staates höher als vor dem Weltkrieg, allen Verwüstungen, all dem Schlachten zum Trotz. Die Teigwarenindustrie des Südwestens nutzte schon ab spätestens 1946 ihre Kapazitäten wieder voll aus, auch wenn die vermeintliche Qualitätsware der Vorkriegszeit noch auf sich warten ließ: „Trotzdem erreicht der Verzehr im Südwesten in den Haushalten nicht die alte Höhe, denn mit dem bitter entbehrten Weißmehl fehlt in die Familie, wie am Stammtisch, die Hausmacherware. […] Die Kundschaft des Augenblicks ist eine Kundschaft des Mangels in den Haushalten. Wenn die Verhältnisse sich normalisieren, wird wohl der größere Teil der Haushalte für seinen Hauptverbrauch zur hausgemachten Ware, in anderen Gegenden zur Kartoffel zurückkehren“ (Riebele, 1947). Derartige Vorhersagen erfüllten sich nur zum Teil, auch wenn spätestens ab 1950 wieder Spätzlerezepte mit drei Eiern pro Pfund gedruckt wurden – und auch Hartkäse für die Käsespätzle verfügbar war (Offenburger Tageblatt 1950, Nr. 126 v. 14. September, 5).

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Lastzüge für den urbanen Haushalt, inklusive Suppen- und Fertigspätzle (Badische Neueste Nachrichten 1952, Nr. 260 v. 7. November, 6)

Während nun wieder die alte schwäbische Küche gepriesen wurde und man sich des von Weizen größtenteils ersetzten Dinkels volkskundlich erinnerte, stabilisierten sich die regionalen Besonderheiten auf allerdings niedrigerem Niveau (M. Schmidt-Thiele, So ißt man in Schwaben!, Natur und Nahrung 4, 1950, Nr. 7/8, 19-20; Gerhard Endriss, Speis und Trank in Ulm an der Donau, Alemannisches Jahrbuch 1953, 349-375, hier 350-351). 1950/51 lag der Mehl- und Nährmittelkonsum in der bäuerlichen Bevölkerung mit 57 kg pro Kopf und Jahr zwei bis dreimal höher als im Bundesgebiet, hatte sich aber gegenüber der Vorkriegszeit deutlich reduziert. Zudem variierte er zwischen den Landesteilen um den Faktor Fünf. Kartoffeln (107 kg), Brot (136), Milch (199) und Most (über 25) prägten die Kost, auch Eier (209) erreichten Werte, die nur leicht unter dem heutigen Durchschnittskonsum lagen (Angaben n. E[lfriede] Stübler und G[ertrud] Posega, Beiträge zur Ernährung in der Landwirtschaft, T. I: Der Nahrungsmittelverbrauch in 84 Betrieben Württembergs im Jahre 1950/51, Frankfurt a.M. 1954, 23-38).

Normalisierung war angesagt, Wiederaufbau, neuerliche Weinseligkeit und Spätzleglück (Karl Lerch, Spätzle-Brevier, Tübingen 1962). Das war wahrlich nicht unlauter, doch es war begleitet von irrealen Kontinuitätsvorstellungen aus pseudwissenschaftlichem Munde: „Auch wenn unsere großen Restaurants längst internationale Speisekarten haben, wenn Paprika und Oliven, Schaschlik und Fondue auch in die schwäbischen Haushalte vorgedrungen sind – im Grunde genommen hat sich die schwäbische Küche in den vergangenen Jahrzehnten jedoch nur wenig verändert“ (Irmgard Hampp, Proben aus der schwäbischen Küche, in: Peter Assion (Hg.), Ländliche Kulturformen im deutschen Südwesten, Stuttgart 1971, 95-105, hier 95). Spätzle blieben Teil der Gaststätten- und Feierkultur, wurden verspeist, umrahmt von immer mehr Fleisch. Daten über die häusliche Herstellung von Spätzlen sind mir nicht bekannt, doch es ist realistisch anzunehmen, dass sie seltener wurden, ihre Hauptspeisefunktion größtenteils verloren – und all das ohne tiefgreifende Veränderungen auf der symbolischen Ebene.

Das wurde durch Unterschiede zwischen verschiedenen Bundesländern auch gestützt. Eine Sonderauswertung der Einkommens- und Vermögensstichprobe verglich 1969 die Mengeneinkäufe von NRW einerseits, Baden-Württemberg und Bayern anderseits: Im Süden kaufte man 1,8-mal mehr Teigwaren und 2,3-mal mehr Weizenmehl und -grieß (Regionale Aspekte der Aufwendungen für Nahrungs- und Genußmittel, Wirtschaft und Statistik 1972, 595-597, hier 595). Spätere, leider nicht wirklich vergleichbare Untersuchungen in den späten 1980er Jahren bezifferten die Unterschiede im Mengenverzehr von Nährmitteln zwischen West und Süd auf ca. 1:1,5 (H[elmut] Heseker u.a., Lebensmittel- und Nährstoffaufnahme Erwachsener in der Bundesrepublik Deutschland, Niederkleen s.a., 100-101). Untersuchungen Mitte der 1970er Jahren bezifferten den Teigwaren- und Mehlspeisenkonsum in Baden-Württemberg bei jährlich etwa mehr als 15 kg pro Kopf und Jahr, etwa 45 Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt (Karl Lersch, Spätzle – eine schwäbische Delikatesse, Der Verbraucher 1977, Nr. 8, 26-27, hier 27).

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Gewerbliche Spätzlenudeln, präsentiert im nostalgischen Kleiderstaat (Der Verbraucher 1977, H. 8, 27)

Spätzle als Delikatesse? Aus der Alltagskost einfachen Bauern und Kleinbürger im frühen 19. Jahrhundert war Mitte der 1970er Jahre ein gut zu vermarktendes Produkt geworden. Als käufliche Teigware, als häuslich bereitetes Resultat neuer Kennerschaft und als unverzichtbarer Bestandteil einer gleichermaßen frischen wie gesetzten Fest- und Freizeitkultur behaupteten sich die Spätzle, bauten ihre symbolische Bedeutung als schwäbische Speise nochmals auch – neben den Maultauschen, der Flädlesupp, den Schupfnudeln und anderen längst gewerblich produzierten Convenienceprodukten und Fertigwaren. Die einschlägige Vermarktung verstärkte sich mit der 1972 einsetzenden Nostalgiewelle, zielte auf den Kauf dieser Produkte, auf den Verzehr im Rahmen der Gemeinschaft. Das ging einher mit einer langfristig sinkenden Zahl erst von Verwandten, dann von Arbeitskollegen, der dadurch naheliegenden Integration in virtuelle und kommerzielle Gemeinschaften. Spätzle als Soulfood stand dabei Seit an Seit mit vielen anderen regionalen Delikatessen, die eben nicht mehr nur zuhause gekocht oder im Gasthaus verspeist wurden, sondern die in gehobener Großküchenqualität und als Fertigwaren konsumiert wurden. Es ging, wie schon vielfach zuvor, um ein Gefühl, um einen Heimatsanker. Nicht umsonst präsentierte Birkel zum hundertjährigen Jubiläum 1974 das „Nudel-Jubiläum“, eine Schallplatte mit den schönsten Schwabenliedern „neu arrangiert“.

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Einführung von „urschwäbischen“ Spätzlen bei Denner (Aldi) und „Frischeei-Spätzle“ bei Migros in der Schweiz (Thuner Tagblatt 1975, Nr. 60 v. 13. März, 15 (l.), Wir Brückenbauer 1975, Ausg. v. 14. November, 17)

Parallel begannen hierzulande, aber auch in der Schweiz, umfangreiche Marketingbemühungen, um lebensmitteltechnisch verbesserte Spätzle als Discountware zu etablieren. Einfache Nudeln waren halt schon recht fad, den so lange dominierenden Band- und Suppennudeln, den simplen Makkaroni und Spaghetti konnte daher „Hausmacherart“ urschwäbisch an die Seite gestellt werden. Das passte zum wachsenden Angebot, zum Verkaufsflächenwachstum großer Filialbetriebe und SB-Supermärkte.

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Erwärmen statt Schaben: Tüten- und Kühlwaren in der Schweiz (Brückenbauer 1995, Nr. 41 v. 11. Oktober, 42 (l.); Walliser Bote 2018, Nr. 209 v. 11. September, 7)

In deren Verkaufsensembles konnte man Waren aber nicht allein kundennah aufstellen, sondern im Rahmen vielfältiger Sonderveranstaltungen gezielt vermarkten. Frische wurde durch Kühltechnik und schonende Verarbeitung garantiert, die Tradition war vergessen bei Spätzle nach traditioneller Art. In den letzten zwei Jahrzehnten differenzierte sich auch dieses Untersegment immer mehr aus, schwand der Anteil der Trockenware, stieg der vorgekochter Kost, die schließlich als gekühltes Fertiggericht in einer Minute in eine schwäbisch-ländliche Mehlspeise umzuwandeln war.

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Fix & fertig in ca. 1 Minute: Landfreude-Fertigspätzle im Kühlregal eines Aldi-Marktes 2024 (Foto: Stefanie Waske)

Selbstverständlich blieb es nicht allein beim Billigsegment. Denn ausgehend von Naturkostläden, Reformhäusern und zunehmend auch dem Feinkostsegment entwickelte sich parallel eine Bewegung hin (oder auch zurück) zu echten Spätzle, zu Handarbeit, zum Widerstand gegen die Billigware. Regionale Speisen unterstützen vermeintliche Kennerschaft, demonstrieren auch heute noch bürgerliche Identität. Und davon will ich mich nicht völlig ausnehmen…

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Spätzlerealität 2024: Ein Blick in meinen Haushalt (Fotos: Uwe Spiekermann)

Selbstbeschreibungen heute

Wir haben unsere Reise quellennah angelegt, uns nicht abgearbeitet an den gängigen Aussagen einer „Fachliteratur“, die das Schwäbische preist und Aussagen über Spätzle und ihre Geschichte darbietet. Ich füge lediglich drei fast beliebig herausgezogenen Aussagen an:

  • „Die Rezepte und Fertigungsmethoden werden jeweils von der Mutter auf die Tochter überliefert, und keine schwäbische Hausfrau würde je die Spätzle für ihre Lieben fertig kaufen. Selbst die vielen modernen Spätzlemaschinen akzeptiert sie häufig nicht“ (Gisela Allkemper, Schwäbische Küchenschätze, Münster 1982, 48).
  • „So wie es aussieht, sind sie [schwäbische Spätzle, US] das einzige Produkt, das die Schwaben im 21. Jahrhundert noch genau so machen werden wie vor 700 Jahren“ (Josef Thaller und Bruno Hausch, Original schwäbisch, Weil der Stadt 1996, 6).
  • „Es ist nicht vermessen zu sagen, dass sich still und leise »Spätzle« zu der deutschen Nudel schlechthin entwickelt hat. Auch wenn andere Nudelsorten hergestellt und verzehrt werden, haftet ihnen wie »Spätzle« kein »Aushängeschild« an, sprich ein Oberbegriff, der typischerweise nur aus Deutschland kommt“ (Christoph Sonntag, Schwäbische populäre Irrtümer. Ein Lexikon, Berlin 2006, 205).

Ich erspare Ihnen den Kommentar, denn Sie selbst sind durch die gemeinsame Reise urteilsfähiger geworden. Derartige Aussagen charakterisieren unsere Lebenswelt genauso präzise wie Fertigspätzle aus dem Tiefkühlregal, die Spätzle- und Kartoffelpresse für 49,90 € von Manufactum und das schenkelklopfende Spätzle-Brevier von Karl Lerch, in dem ein Schwaben gefeiert wurde, in dem es den Nationalsozialismus nie gegeben hat. Wozu nachdenken, ergötzen wir uns doch lieber im Hier und Jetzt an einer fast beliebig aufladbaren Regionalspeise, erzählen uns wechselseitig Geschichte(n), deren Wahrheit ohnehin niemand kennt oder kennen will.

Heimat und neue Heimaten

Der Volkskundler Konrad Köstlin sprach einst vom „Maultaschen-Syndrom“, einer Form der Umdeutung und Neuformierung unserer Vorstellungen über die kulinarische Vergangenheit. Er tat dies ohne rechten Sinn für die treibenden Kräfte einer kapitalistischen Gesellschaft, für die kommerziell motivierten Neudefinitionen aller Bereiche „unseres“ Lebens. Am Beispiel der Spätzle kann man nachvollziehen, wie eine in ein bäuerlich-ländliches Lebens- und Arbeitsgefüge integrierte Speise herausgezogen, isoliert und symbolisch aufgeladen wurde. Aus uns kaum mehr nachvollziehbaren Lebenssituationen voller Arbeit und Armut, Lebensfreude und Verausgaben stammend, boten Spätzle einerseits einen Identitätsmarker für Menschen aus relativ rückständigen agrarischen Regionen, der ihnen kulturellen Wert in einer ganz anders urteilenden Welt zuschrieb. Anderseits wurde die innere Dynamik der spezifisch schwäbischen Mischung aus Enge und Erfindergeist, aus protestantischem Eiferertum und wachsendem wirtschaftlichen Erfolg, aus dem Verlust hunderttausender Migranten und dem adaptiven Leben im Grenzland des Südwestens durch dieses Symbol besser handhabbar. Schwaben wurde(n) so berechenbar und friedlich, ein Raum gemütlichen Schwelgens und spießbürgerlicher Begrenztheit.

Zugleich aber bot das symbolische Kapital der Spätzle neue Möglichkeiten der Marktbildung: Spätzle dienten als Sprungbrett für neue Haushaltstechnik, für neue Angebote in Gaststätten und Restaurants, für neue gewerbliche Lebensmittel. All dies veränderte den Alltagskonsum der Spätzle. Doch das minderte ihre Bedeutung nicht, im Gegenteil. Die Schwaben hielten fest an ihrer zunehmend nur noch symbolischen Tradition, beschworen eine Vergangenheit, die es so nur selten gegeben hat. Die Fremden ließen sich darauf ein, zumal sie selbst sich in ähnlichen Häutungen befanden. Der Höhepunkt des Spätzlekultes lag in den 1930er Jahren, als die nationalsozialistische Geschichtspolitik Schwaben und Spätzle in einen nicht nur kommerziellen, sondern eminent völkischen Kontext stellte – getragen vom Selbstbild der Region, vom Fremdbild der Volksgemeinschaft. Zugleich aber wurde die Tradition, wie schon im Ersten Weltkrieg, sozial geadelt. Armut und Enge mutierten zu schollengebundener Einfachheit, wurden Teil der Bereitschaft und Fähigkeit zum Opfer für Sieg und Nation. Dass dabei die Spätzle zeitweilig abhanden kamen, im Ersten Weltkrieg mangels Mehls und Eiern, im Zweiten Weltkrieg aufgrund substituierender Kartoffeln und neuer Ersatzmittel, irritierte nur wenig, denn die echten Spätzle, sie würden wiederkommen als Teil des Sieges, als Lohn zeitweiligen Verzichtes.

Schwaben entwickelte sich nach der totalen Niederlage zu einer in der Tat prosperierenden Region, in der die Spätzle Teil der Festkultur blieben. Während selbstbereitete Spätzle als Teil des gelebten Ernährungsalltags zunehmend verschwanden, gewannen sie als Teil der Festkultur, als fertiges Convenienceprodukt und als stets möglicher Gesprächsgegenstand neue Kraft – mehr als je in der historisch nachweisbaren Vergangenheit. Als integrales Element moderner Bereicherungsökonomie und als Identitätsanker in einem überdurchschnittlich von Zuwanderung geprägten Land sind Spätzle heute nicht nur im Südwesten unverzichtbar.

Heimat ist käuflich geworden, denn im Schwabenland, wie anderswo, ist deren öffentliche Kontur kommerznah reduziert. In den schwäbischen Communities in Berlin, Köln und New York zelebriert man bis heute Spätzle und (teils) Braten, trinkt Tannenzäpfle, feiert Fasnacht. Fremde können sich dabei einreihen, zeitweilig Teil einer freudig agierenden Gemeinschaft werden. Das Spätzle-Syndrom kann morgen jedoch schon wieder abgeworfen werden, hebt nur, belastet nicht. Es kann neu aufgeladen werden beim Besuch auf dem Oktoberfest um die Ecke, beim Türken oder Chinesen, in sensiblen Veganergruppen oder neuen Bowl-Gemeinschaften. Jeden Tag eine neue Heimat, Teilhabe allüberall: „Was Vaterland? Haha, ha, ha! / Mir ist, weil ich erfahrner bin, / Die ganze Welt mein Vaterland. / Wo für mich Brod und Ehre ist, / Da ist mein Vaterland!“

Uwe Spiekermann, 31. Januar 2024

Die gebrochene Macht der Tradition. „Deutsche Küche“ zwischen Nation, Region und Internationalisierung

Vor 200 Jahren konnten und mussten sich die meisten Menschen noch selbst versorgen. Sie aber, werter Leser, werte Leserin, können dies heute nicht mehr. Ihr Leben ist elementar abhängig von der Arbeit anderer, von Versorgungsstrukturen, in denen Sie als Käufer, als Konsumentin agieren. Sie sind befreit von der Fron des Anbaus, der Produktion, oft gar des Kochens – Essen ist für Sie in der Tat nur noch Essen, sieht man einmal vom Einkaufen, Spülen, Wegwerfen ab; und natürlich vom steten Nachdenken über das, was Sie essen wollen und dürfen.

Anfang des 19. Jahrhunderts aßen fast 90 Prozent der Bevölkerung in deutschen Landen eine lokale, teils regional eingrenzbare Kost. Sie gründete auf den dort angebauten Agrarprodukten, ergänzt vorrangig durch einige Gewürze, darunter das so wichtige Salz. Die bäuerliche Hauswirtschaft verarbeitete vorrangig Getreide. Breie, Mus und Brot, Wasser und der Haustrunk dominierten die Alltagsernährung; Kartoffeln kamen wenige Jahrzehnte vorher auf und verbreiterten vorrangig im Norden den Speisezettel. Fleisch, Milch, Honig traten hinzu, ergänzt durch saisonal verfügbares Obst und Gemüse. Aus alldem wurden Speisen bereitet, die einer von Brauch, Religion, Geschlecht, Alter und Stand geprägten Ordnung folgten, von Jahreszeit und Ernteausfall. Die Speisen waren Ergebnis einer klaren Arbeitsteilung innerhalb der bäuerlichen Wirtschaft: Zubereitung, Konservierung und Würzung waren Teil der Hauswirtschaft, Aufgabe der Frauen, teils der Kinder. Es gab aber auch regelmäßige Ausbrüche aus dieser Welt eintöniger und wenig abwechslungsreicher Grundversorgung: Am Ende der Erntezeit, bei christlichen Hochfesten, Jahrmärkten und Messen, und der geselligen Festkultur von Heirat, Taufe und Beerdigungen.

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Imaginiertes Fest während der frühen Neuzeit (Illustrirte Zeitung 60, 1873, 52)

Ihr Essen sieht anders aus, denn es ist durch die Wahl des Käufers gekennzeichnet, nicht durch die Enge des Agrarproduzenten. Ihr Lebensrhythmus ist geprägt von vielen kleinen Festen, meist privater, nicht öffentlicher Natur. Auf Ihrer Tafel findet sich eine wesentlich größere Zahl von Lebensmitteln und Speisen, mit vielfältigen Geschmacksnuancen, meist stetig verfügbar. Sie sind fast durchweg präpariert und konserviert, doch Sie schmecken derartige Eingriffe kaum mehr. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es einen Zwang zu einer lokalen und regionalen Kost, heute ist sie eine Option neben anderen. Sie können aus dem Füllhorn unterschiedlicher regionaler Küchen wählen, können abseits einer deutschen Küche aber auch Lebensmittel und Speisen zahlreicher anderer Nationalküchen wählen, teils durch importierte Lebensmittel, teils durch Fertiggerichte oder „ausländische“ Restaurants, die Ihnen zugleich ein Stück Ferne, eine Prise Exotik beimengen. Man könnte es dabei belassen, sich wohlig einrichten in einer Welt, in der selbst die nicht wenigen Armen weit mehr haben als der gemeine Mann vor zwei Jahrhunderten, in der Fülle und Vielfalt als Probleme erscheinen, nicht aber als ein lange Zeit erträumtes Ideal.

Lassen Sie uns im Folgenden einigen Gründen für diesen Wandel nachgehen. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage nach dem Ort, dem Verfügungs- und Bezugsraum des Essens stehen, real und virtuell. Damit ist der Platz des Einzelnen immer mitgedacht, seine Identität, sein Bezug zu einer schwer zu fassenden Tradition. Diese erscheint als etwas vollständig Vergangenes, etwas uns nur mehr versatzstückhaft Berührendes. Blicken wir näher hin, so ergibt sich ein recht anders Bild: Tradition, das war vor 200 Jahren erst einmal Überlieferung, meist von Person zu Person, von Generation zu Generation. Wissen wurde weitergegeben, ein Wissen um das Wie der Alltagsbewältigung, um Landwirtschaft und Handwerk, um Gartenarbeit und Küchenfertigkeit. Wissen berührte immer auch Fragen der Herkunft und Identität, der Weltdeutung und der Abgrenzung von Fremden. Tradition war eingebrannt in die Rhythmen des Essens, der Ernährung. Sie ordnete das Leben, war zugleich aber offen für Ergänzungen und Verbesserungen. Tradition stand daher nicht für etwas gleichsam natürlich Bestehendes, für etwas Organisches, Originäres. Der Wandel mochte langsam sein, doch in der Kette der Überlieferung dominierte Bewegung, gab es keinen Stillstand. Vor 200 Jahren übernahmen auch einfache Menschen völlig neuartige Lebensmittel, etwa die Kartoffel, den Rübenzucker oder den Zichorienkaffee, ließen ab von der damals noch vielfach üblichen Hirse oder aber den damals weitaus üblicheren Erbsen, Bohnen und Linsen.

Deutsche Nation und „Deutsche Küche“

Wichtiger aber war, dass seit dem späten 18. Jahrhundert neue Ordnungssysteme aufkamen, die das lokale und regionale Essen in einen neuen Rahmen stellten. „Deutsch“, dieser Begriff lässt sich bis weit ins Mittelalter zurückverfolgen, war aber noch nicht staatlich verengt. Das geschah erst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert – und war ein Elitenprodukt einer neuen teils dienstfertigen, teils unabhängigen Elite, nämlich des aufkommenden Bürgertums. Sie emanzipierte sich von der Hochsprache des Adels, dem Französischen, schrieb und dichtete in deutscher Sprache, schuf zugleich ein einigendes Band für die im Alltag üblichen Dialekte. „Deutsch“ entstand als Dachbegriff für eine neue, erst zu erringende Sprach- und Kulturgemeinschaft, aus der dann, ähnlich wie in Frankreich, England oder Spanien ein Nationalstaat hervorgehen konnte, ja sollte.

Eine „Deutsche Küche“ gab es nicht, sie war eine Kopfgeburt, eine Sprachspielerei. Im herrschaftlich zersplitterten Mitteleuropa gab es, anders als in Frankreich, den Niederlanden oder England, nie eine klar konturierte Leitküche. Die Trennungslinien zwischen römischen, germanischen und slawischen Herrschaftsgebieten wirkten noch, Weizen im Süden, Roggen im Norden und Osten. Reformation und der 30-jährige Krieg hatten die Grenzen zwischen protestantischen und katholischen Gebieten auch kulinarisch vertieft. Die deutschen Lande waren vielfältig gespalten: Das 1788 erschienene Buch „Über den Umgang mit Menschen“ des Adolph Freiherrn zu Knigge (1752-1796) war eben kein moderner Ratgeber, sondern eine Handreichung, um die historische-kulturelle Vielfalt der Regionen und Menschen unterschiedlicher Stände zu überbrücken.

Das Ringen um die „Deutsche Küche“ wurde durch die Expansion Frankreichs entscheidend geprägt. 1813 fragte der Dichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860) kurz vor der Leipziger Völkerschlacht, die das Ende der französischen Herrschaft in deutschen Landen einleitete: Was ist des Deutschen Vaterland? Die Verteidigung des Eigenen hatte lange vorher eingesetzt, mündete in eine breite und kontroverse Debatte über die Identität der Deutschen. Sie setzte im Alltag an, schied strikt zwischen deutsch und nicht deutsch. Typisch war die Sprachreinigung, der erbitterte Kampf um die Tilgung französischer, englischer oder slawischer Speisebezeichnungen. Eine „Deutsche Küche“ – ein zuvor nicht gebräuchlicher Begriff – entstand damals in Abwehrhaltung, als Küche der Abgrenzung gegenüber der „Verwelschung“ und dem ungebührlichen Tafelluxus im reicheren europäischen Westen. Für den Schriftsteller Karl Julius Weber (1767-1832) war sie „stets ehrlicher, einfacher, kräftiger, wie deutscher Charakter“ (Dymocritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen, Bd. 5, Stuttgart 1835, 212), für das 1835 erschienene Damen-Conversations-Lexicon „eine Mischung und Nachahmung fremder Kost, jedoch ohne Ausartung“ (Bd. 4, Leipzig 1835, 327). „Deutsche Küche“ war Ausdruck eines breit beschworenen Volksgeistes, der auf der Tafel Gestalt annahm. Sie ließ sich daher nicht auf Räume und eine größere Zahl von Speisen reduzieren. „Deutsche Küche“ war anfangs eine Haltung, eine Stellung zur Welt. Sie war sparsam, stand für Skepsis gegenüber dem Materiellen, lenkte das wahre Sein auf Bildung von Geist und Herz, auf gemeinsamen Geschmack und eine Praxis des gelungenen Miteinanders von Menschen gleicher Sprache, Herkunft und Tradition.

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Eine Kochzeitschrift, keine Zustandsbeschreibung: Anzeige für das Wiener Periodikum „Die Deutsche Küche“ (Die deutsche Küche 1, 1864, 162)

„Deutsche Küche“ war ein Artefakt, eine erfundene Einheit, und im Schielen nach dem Fremden lag Unsicherheit. Anfangs berief man sich auf frühe Formen der Völkerpsychologie. Während die vielgestaltigen, mit Saucen und Würzen immer wieder variierten französischen und italienischen Küchen Ausdruck ihrer temperamentvollen und geistreichen Bewohner seien, müsste ein tiefsinniges, stetig reflektierendes Volk wie das Deutsche zu neutralen Lebensmittel ohne starken, reizenden Geschmack und ohne starke Belastung der Verdauung greifen, um seine besonderen Fertigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Kennerschaft und nationaler Sinn waren dafür erforderlich – und dann könne etwas Neues entstehen, so wie die deutsche Hochsprache aus den Dialekten der Alltagssprache. Doch der kulinarische Alltag war schwerer zu verändern als die Gewohnheiten der nur wenigen Hunderttausend Bürger. Die „Deutsche Küche“ blieb ein Flickenteppich: Der Naturkundler Otto Ule (1820-1876) vermerkte lapidar: „Die deutsche Küche ist so bunt, wie die deutsche Landkarte, und ebenso von fremden Einflüssen beherrscht, wie die deutsche Sitte und Politik. Im Westen ist die Küche französisch, im Norden englisch, im Osten slavisch“ (Die Chemie der Küche, Halle a.d.S. 1865, 254).

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Fusion französischer, englischer und deutscher Küchen – ein bürgerliches „Pariser“ Kochbuch (Kölnischer Zeitung 1829, Nr. 255 v. 22. November, 4)

Derartige Vorstellungen von Rückständigkeit und Abhängigkeit ebbten Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Die Frage nach der Identität der Deutschen verengte sich auf ein neues Umfeld, einen deutsch-preußischen National- und Machtstaat, der die Sprachnation verleugnete und sich mit einer kleindeutschen Lösung zufrieden gab. Nachdem aber die Einheit von oben kam, verstärkte sich im neuen Deutschen Reich eine Bewegung hin zu einer nationalen Küche. Sie ging von liberalen Bürgern aus, ging einher mit deren Streben nach einem einheitlichen deutschen Binnenmarkt, der mit dem Deutschen Zollverein seit 1832 seinen Anfang nahm, mit der Gewerbeordnung von 1871 seinen Durchbruch und mit der Integration Hamburgs ins deutsche Zollgebiet 1888 seinen vorläufigen Abschluss fand. Der nationalliberale Spitzenpolitiker Karl Braun (1822-1893) plädierte beispielsweise 1870 für ein Ende der kulinarischen Fremdherrschaft – an den meisten deutschen Höfen wurde noch französisch gekocht – und forderte eine gesellschaftpolitische Initiative, nämlich einen deutschen Küchen-Kongress (Aus der Mappe eines deutschen Reichsbürgers, Bd. 2, Hannover 1874, 83-87). Vor dem Hintergrund einer Geschichtsschreibung, die Germanen zu Deutschen machte und die moderne Geschichte auf Preußens Mission zur Gründung Deutschlands reduzierte, galt es an die eigene große Geschichte anzuknüpfen, die Stammeseigentümlichkeiten aufzugreifen, das Beste aus ihnen zu extrahieren und zu einem einheitlichen Ganzen, zu einer deutschen Küche zusammenzufassen.

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Nach der Reichsgründung: „Deutsche“ Kochbücher mit Rezepten aus ganz Europa (Der Bayerische Landbote 1871, Nr. 269 v. 7. November, 4 (o.); Kemptner Zeitung 1874, Nr. 35 v. 12. Februar, 3)

Solche Pläne fanden Widerhall, und doch blieb die „Deutsche Küche“ eine liberale bildungsbürgerliche Planungs- und Gestaltungsutopie, die in Festreden beschworen wurde, die mit der Alltagsrealität jedoch wenig gemein hatte. Hier ging es um die lokal und regional verfügbaren Speisen, um die Realität der Konsumtion, nicht das Ideal einer national korrekten Ernährung. Eines der ersten Kochbücher für „Deutsche Küche“, 1870 von Johann Nepomuk Niggl veröffentlicht, bot vornehmlich Rezepte aus anderen Ländern, entsprach dem Ideal einer kosmopolitischen Elite, die sich an der Grand Cuisine orientierte. Die Kochbuchliteratur schien dennoch ein wichtiges Erziehungsmittel, um „deutsch“ zu kochen und zu einer „Deutschen Küche“ zu kommen; ähnlich wie zuvor die Literatur der Klassik und der Romantik für die Ausprägung einer deutschen Nationalbewegung. Sie entwickelte sich aus höfischen Anfängen, stand seit dem frühen 19. Jahrhundert jedoch für die kulturelle Etablierung des städtischen Bürgertums. Die Kochbücher boten Rezepte vorrangig dieser sozialen Klasse, ließen die Alltagskost bäuerlicher und unterbürgerlicher Schichten meist außen vor. Anfangs häufig an einzelne Entstehungsorte gebunden, nahm die Zahl der Titel mit regionalem Bezug seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts rasch zu. Die in fünf-, ja auch sechsstelligen Auflagen verbreiteten Kochbücher bündelten gängige und repräsentative Rezepte einzelner Regionen und Landschaften. Sie waren jedoch kein Abbild regionaler, gar nationaler Küchen, denn sie bemühten sich um Ergänzung der am Entstehungsort üblichen Rezepte, zielten auf eine vollständige Handreichung für alle Herausforderungen des Haushalts und der Gastlichkeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verbunden mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, orientieren sich die Autorinnen und Autoren zunehmend an Großräumen, also an norddeutschen, süddeutschen, böhmischen oder mitteldeutschen Küchen. Die Kochbücher boten zunehmend einen Kanon von Rezepten mit regionaler Herkunft, die dadurch als Spezialitäten reichsweit bekannt wurden. Der böhmische Schriftsteller Julius Walter deutete das Scheitern des nationalen Elitenprojektes jedoch positiv: Diese „ganze deutsche Küche ist nur ein schlechte Uebersetzung, eine plumpe Uebertragung im Norden Deutschlands mehr aus dem Englischen, in der Mitte aus dem Französischen, im Süden aus dem Oesterreichisch-Italienischen. Ein schlechte wörtliche Uebersetzung, wobei der Geist verloren geht, aber keine freie, anempfindende Bearbeitung; was im Original süß, ist hier leckrig, was dort gewürzt, hier ätzend, hier frivol. Der Deutsche – und das ist seine schönste Eigenschaft! ist Kosmopolit, er nimmt das Gute und Schöne, wo er es findet, ohne erst nach dem Heimatschein zu fragen“ (Deutsche Table d’hote und Deutsche Tunke, Neues Wiener Tageblatt 1884, Nr. 43 v. 13. Februar, 1-2, hier 2).

Internationalisierung I: Traditionsbrüche abseits des Ernährungsalltags

Die im Vergleich zu den westlichen Nachbarstaaten spät einsetzende und kaum ertragreiche Debatte um die „Deutsche Küche“ – das Deutsche Reich blieb trotz der Vielfalt regionaler Küchen für viele Ausländer ein Wurst- und Durstland ohne Hochküche – verkannte, dass der Wandel der Nahrungsmittelversorgung und dann der Ernährung von anderen als nationalen Kräften ausging. Die langsamen Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft setzten einerseits Arbeitskräfte für die gewerbliche und industrielle Entwicklung frei, ermöglichten anderseits rasch wachsende Handels-, Handwerks- und auch Industriebetriebe. Nahrung wurde Teil eines Geldkreislaufs, Teil regionaler, nationaler und zunehmend globaler Märkte. All dies war nur möglich durch den Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, deren neuartiges, sich von Brauch und Religion emanzipierendes Wissen eine zuvor unbekannte Verfügungsmacht über Nahrung ermöglichte. Dadurch zerfielen nach und nach die Grundlagen der tradierten Ernährungsweisen, begann eine sich über viele Jahrzehnte, in Teilbereichen über ein Jahrhundert hinziehende Neudefinition der täglichen Kost und ihrer Herkunft. Der konzeptionelle Bruch mit der Tradition der vorindustriellen Zeit erfolgte bereits im späten 19., nicht erst im späten 20. Jahrhundert.

Dieser Bruch erfolgte international, die „westlichen“ Staaten waren Vorreiter und Taktgeber. Eine reale „Deutsche Küche“ konnte es vor diesem Hintergrund kaum geben, denn die Veränderungen in Wissenschaft und Wirtschaft waren tiefgreifender und prägender als gesellschaftliche und kulturelle Gegenkräfte. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann in deutschen Landen ein in England schon viel früher einsetzender Abschied von der Selbstversorgung. In England war dies durch den kolonialen Ausgriff begünstigt worden, denn die Nahrungsimporte aus Nordamerika, der Karibik und – mit deutlichen Abstrichen – Indien und Afrika vergrößerten die verfügbare Nahrungsmittelmenge, erweiterten die Palette anregender Getränke und Speisen. Die deutschen Länder besaßen keine Kolonien, ihr Weg hin zu wachsenden Nahrungsmengen erfolgte über landwirtschaftliche Reformen, eine in England und Frankreich bereits vorangeschrittene Rationalisierung und Intensivierung der Agrarwirtschaft. An die Stelle dominant für die Eigenwirtschaft arbeitender Höfe und Güter traten zunehmend bäuerliche Wirtschaften, die mittels Futterwirtschaft und Naturdüngung Marktüberschüsse produzierten. Kolonialprodukte wie Rohrzucker, Kaffee, Kakao und Tee besaßen quantitativ nur geringe Bedeutung, doch billige Surrogate wie Zuckerrüben, Zichorien (für Ersatzkaffee) und heimischer Tabak etablierten sich als erfolgreiche Handelsprodukte. Sie boten die Rohstoffgrundlage für eine verstärkt seit den 1830er Jahren einsetzende Industrialisierung, die auch die Nahrungsproduktion veränderte. Leitsektor war die Rückenzuckerindustrie, es folgten Getreide- und Ölmüllerei, dann die Tabak- und Zichorienfabrikation. Der Nahrungssektor wurde zunehmend kommerzialisiert, der Geldwert der Nahrungsprodukte zunehmend wichtiger.

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Importware aus den USA (Berliner Tageblatt 1878, Nr. 11 v. 13. Januar, 17)

Diese noch begrenzten Anfänge einer Umgestaltung der täglichen Kost wurden durch neuartiges Verfügungswissen forciert. Galt die Natur ehedem als gottgegeben, war man ihren Wechselspielen ausgeliefert, so etablierte sich spätestens seit den 1840er Jahren ein naturwissenschaftliches Wissen, das Menschen reflektierte Eingriffe in die Natur erlaubte, ja eine Neugestaltung denkbar werden ließ. Der Blick auf die Nahrung änderte sich grundlegend mit der chemisch-physiologischen Erkundung ihrer Tiefenstruktur. Nahrungsmittel waren nicht mehr Gott- und ortsgegeben, sondern Resultate universell geltender Naturgesetze. Die Chemie kannte keine Küchen. Ihre global geltenden Parameter waren Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate und Nährsalze sowie der kalorische Brennwert. Der Mensch benötigte nicht Sauerkraut oder Kartoffelknödel, Makkaroni oder Roggenbrot, sondern 2.000 bis 3.000 Kilokalorien pro Tag und eine richtige Mischung der Makronährstoffe. Der kulinarische Wert der Nahrung trat zugunsten des kalorischen zurück. Dieses chemisch-physiologische Wissen erlaubte eine neue Ordnung der Nahrung auf Basis von Nährwerten. Ungleiches konnte so gleich gemacht werden, Bewertungsmaßstäbe verschoben sich, traditionelles, ortsgebundenes Wissen wurde entwertet.

Das chemische Wissen blieb nicht auf die Nahrung begrenzt, sondern erlaubte eine neue Erklärung des Lebens – ganz ohne Schöpfergeist. Menschen, Tiere und Pflanzen waren durch einen umfassenden Stoffwechsel elementar miteinander verbunden, Nahrungsstoffe die Betriebsstoffe des Lebens. Der Agrarwirtschaft erlaubte dieses Wissen effizienteres Wirtschaften, gezielte Düngung mit Mineralstoffen und weitere Produktivitätssteigerungen. Boden, Pflanzen und Tiere wurden mittels einer neuen wissenschaftlichen Optik analysiert und optimiert, Tier- und Pflanzenzucht konnten beträchtlich verbessert werden. Die Anwendung des neuen chemischen Wissens erlaubte die gewerbliche und langsam auch maschinelle Produktion neuartiger Nahrungsmittel: Das betraf um 1850 Mineralwasser, Sekt, Konserven, Schokolade und Marmelade, die allesamt teuer blieben. Doch seit den 1860er Jahren trat die Bierproduktion hinzu, dann die Milch-, langsam auch die Fleischwirtschaft. Neue Fette, wie die später Margarine genannte Kunstbutter, traten seit den 1870er Jahren hinzu. All dies zernierte den traditionellen Zuschnitt der bäuerlichen Wirtschaft, erzwang weiteren Marktbezug, intensivierte die Geldwirtschaft und damit den Kauf anderer, zunehmend nicht aus der eigenen Region stammender Nahrungsmittel. Nestlés Kindermehl konnte beispielsweise reichsweit gekauft werden, war hygienischer und nährender als die tradierten Breie der bäuerlichen Wirtschaften.

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Nahrung fern der Mutterbrust: Werbung für Nestlés Kindermehl (Apotheker-Zeitung 14, 1879, 84 (l.); Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 17 v. 11. Januar, 8)

Während Preußen und viele Einzelstaaten bis die 1860er Jahre Nettoexporteure von Agrarprodukten waren, wurde das Deutsche Reich seither von Nahrungs- und insbesondere Futtermitteln abhängig. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges lag der Selbstversorgungsgrad nur noch bei 80 %, sank Mitte der 1920er Jahre unter 70 %, erhöhte sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg dann wieder auf über 80 % (und liegt heute bei ca. 90 %). Der Abschied von der Selbstversorgung, der durch hohe Schutzzölle seit 1878/79 gebremst wurde, mündete also in relative Abhängigkeiten von internationalen Agrarprodukten, neben Kolonialprodukten und Pflanzenfetten zunehmend billige Futtermittel, Getreide und Fleisch. Die heimische Nahrungsmittelproduktion war vielfach von ausländischen Vorprodukten abhängig, ebenso breite Teile der Ernährungsindustrie. Das galt selbst für Marktsegmente, die sich ihrer Urtümlichkeit und Natürlichkeit rühmten, wie Reformhäuser und Naturkostanbieter. Insgesamt nahm die Variabilität der gehandelten Güter ab, denn Handelsklassen und international geltende Standards prägten seit der Zwischenkriegszeit den internationalen Nahrungsmittelhandel.

Die traditionelle Art der Ernährung zerbrach dabei kleinteilig, in immer mehr Marktsegmenten. Die Säuglingsernährung war ein Paradebeispiel für neuartige Angebote auf Grundlage chemisch-physiologischen Wissens. Der stetig billigere Rückenzucker veränderte den Geschmack der Speisen, ebenso zahlreiche Würzpräparate, von denen Maggis Würze gewiss herausragte. Synthetische Aromen wie das Vanillin sowie Süßstoffe wie Saccharin und Dulcin vereinfachten und verbilligten Hauswirtschaft und Nahrungsproduktion. Die lange Zeit üblichen nährenden Morgenbreie und -suppen wurden durch (Ersatz-)Kaffee, später auch Kakao, zurückgedrängt. Suppenpräparate gewannen seit den 1870er Jahren an Bedeutung, waren zugleich Wegbereiter für eine breiten Palette von Bequemlichkeitsprodukten wie Fleischextrakten, Back– oder Puddingpulvern sowie konservierten Fertiggerichten und Backmassen. Hinzu kamen frühe Lightprodukte, etwa entnikotinisierte Zigarren, alkoholfreie Biere und entkoffeinierter Kaffee. Auch zahllose Diätpräparate ließen den Markt anschwellen, ohne aber die Korpulenz im Bürgertum reduzieren zu können. Sie verdeutlichen zugleich die in all diesen neuen Angeboten einprogrammierte Botschaft, dass die tradierte Ernährung vielfach einseitig und überholt gewesen sei. Essen, so die implizite Botschaft der wachsenden Zahl von Nahrungsmitteln, war nichts anderes als ein Stoffwechsel, der Verzehr und die Umwandlung von Nahrungsstoffen, von Eiweiß, Fett und Kohlehydraten. Kochen vereinfache diesen Prozess, machte Nahrung verdaulicher, helfe Magen und Darm bei ihrer Arbeit – und hier sei die Industrie effizienter und kostengünstiger. Gewiss, Geschmack sei wichtig, doch eher, weil damit die Verdauungssäfte angeregt werden. Moderne Menschen würden mit industriell gefertigten Angeboten besser fahren, denn diese seien beliebig zu kombinieren, hygienisch hergestellt und flexibel handhabbar. Der moderne Mensch sei nicht mehr an einzelne Orte oder Regionen gebunden, er könne sich frei bewegen, von der Scholle emanzipieren, ein freies, ungebundenes Leben führen. Was fehle, könne übernommen werden, so die aus dem eurasischen Raum stammenden Milchprodukte Kumys, Kefir und – seit 1907/08 – Joghurt.

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Ersatzmittel und Verbilligung: „Edelwürze“ Vanillin (General-Anzeiger der Stadt Mannheim 1888, Nr. 101 v. 29. April, 3 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1902, Nr. 589 v. 19. Dezember, 9)

Viele Bürger, eine wachsende Zahl von Angestellten und vermehrt auch Facharbeiter teilten derartige Vorstellungen, kauften gewerblich produzierte Nahrung in den Städten, ließen sich in Kleinstädten oder dem nach wie vor dominierenden Lande per Post beliefern. Doch obwohl der konzeptionelle Bruch mit der traditionellen Produktions- und Ernährungsweise bäuerlicher Selbstversorger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schwerpunktmäßig um 1880 lag, so hatten die neuen Angebote doch ihre Mängel. Ihre Haltbarkeit war teils begrenzt, ihr Geschmack teils gewöhnungsbedürftig, die Kosten lagen vielfach höher. Doch für die Verfechter des Neuen waren das behebbare Kinderkrankheiten einer neuen Zeit. Die Ernährung werde sich im gesamten Westen rasch verbessern, die soziale Frage befrieden, die Arbeiter als Bürger gleicher Kost integrieren, die Deutschen auf das Wohlstandsniveau der Briten heben. Veränderte Nahrungsmittel seien die Konsequenz des wirtschaftlichen und sozialen Wandels. Die Ortsbindung habe abgenommen, die Verbraucher befänden sich häufig an den falschen Plätzen für eine tradierte Kost. Sie müssten daher aus ihren Routinen ausbrechen. Und doch blieb die räumliche Rückbindung der Ernährung hoch, höher jedenfalls als dies Unternehmer und Wissenschaftler erwarteten.

„Regionale Küchen“ zwischen Ernährungsrealität und imaginiertem Marktsegment

Die Frage bleibt, warum diese Entwicklung der Nahrung hin zum internationalen Handelsgut nicht rascher erfolgte, sondern warum parallel zum Scheitern einer „Deutschen Küche“ seit dem späten 19. Jahrhundert die Bedeutung der Region und regionaler Speisen hoch blieb, dass sie gar zum Kennzeichen für die Küche in Deutschland werden konnte. Die Antwort ist zweigeteilt: Auf der einen Seite vollzog sich die Internationalisierung von Produktion, Handel und Konsum nur relativ langsam. Wissenschaftliche Träume einer Ernährung allein mit Eiweiß- und Nährpräparaten oder aber Versuche einer synthetisierten Kost scheiterten, obwohl es an Präparaten und Forschung um 1900 nicht fehlte. Die regionalen Küchen gründeten eben nicht nur auf Herkunft, einem gewohnten Geschmack und regionaler Produktion – sie waren vielfach auch preiswerter. Raschere Veränderungen hätten den Auf- und Umbau umfassender Versorgungsketten erfordert, was an die Grenzen der damaligen Konservierungs-, Lager- und Verpackungstechnik stieß. Die regionalen Verzehrsunterschiede waren im 19. Jahrhundert noch beträchtlich, blieben es im 20. Jahrhundert, prägen auch heute noch den Ernährungsalltag. Zweitens aber wurde die regionale Herkunft zu einem Teil des Marktes, denn Spezialitäten erlaubten Wertsteigerungen und eine lukrative Verbreiterung der Angebotspalette.

Blicken wir zuerst auf die „Ernährungsrealität“, also den Nahrungsmittelkonsum. Vergleichbares Datenmaterial hierzu ist für das 19. Jahrhundert selten, denn eine Konsumstatistik der Haushalte unterschiedlicher Klassen entwickelte sich erst langsam, konzentrierte sich anfangs lediglich auf einzelne Haushalte, dann Berufe, weitete sich erst nach 1900 auf die gesamte Reichsbevölkerung aus. Betrachten wir die 1920er Jahre, so waren die Unterschiede beim Brot-, Fleisch-, Ersatzkaffee-, Eier- und Milchkonsum (in dieser Reihenfolge) am geringsten, also bei gängigen landwirtschaftlich produzierten Handels- und Handwerkswaren mit geringem Verarbeitungsgrad. Doch der Konsum in den Großregionen variierte beim Brot immerhin um 28 %, bei Eiern bereits um mehr als 100 %. Kartoffeln wurden in Pommern mehr als zweieinhalb Mal so häufig verzehrt wie in Bayern, deutlich größer waren die Unterschiede bei Butter, Kolonialkaffee oder aber Käse. Fisch variierte um mehr als das Dreifache, Teigwaren wurden im Süden fünfmal häufiger als in Ostdeutschland verwandt. Allgemein gesprochen lag der Konsum der Hauptnahrungsmittel auf relativ ähnlicher Höhe, während die Unterschiede bei seltener verzehrten Nahrungsmitteln stärker ausgeprägt waren. Regionale Unterschiede waren trotz einer insgesamt beachtlichen Integration in den Welthandel und trotz eines deutlich über 50 % liegenden Anteils gewerblich verarbeiteter Lebensmittel beträchtlich, prägten die Speisen und Mahlzeiten stärker als Schicht und Geschlecht. Die Besonderheiten regionaler Küchen zeigten sich daher weniger bei den Hauptnahrungsmitteln als bei einzelnen Produktgruppen. Fleisch wurde in recht ähnlicher Menge verzehrt, bei Wurst waren die Unterschiede schon deutlich größer, variierten dann noch stärker bei Schweine- bzw. Rindfleisch. Tierische Fette, insbesondere Speck und Schmalz, waren dagegen nicht für das Deutsche Reich, sondern nur für einzelne Regionen üblich. Anders ausgedrückt: Je differenzierter man Nahrungsmittel betrachtet, desto größer werden die regionalen Unterschiede. Das dürfte noch stärker bei den hier nicht berührten Speisen oder gar Mahlzeiten gelten.

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Regionale Speisen – eine kulinarische Landkarte Mitteldeutschlands in den 1950er Jahren (Hans W. Fischer, Das Leibgericht, Hamburg 1955, 234)

Auch für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg galt, dass regionale Unterschiede in Deutschland bedeutsam blieben – auch wenn wir über das Ausmaß mangels belastbarer Statistiken wenig Genaues sagen können. Bei Fisch, Milch und Kartoffeln bestand noch in den 1980er Jahren ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Alkohol, Nährmittel (wie Nudeln) und Fleisch wurden im Süden wesentlich häufiger genossen als im Norden. Die Unterschiede zwischen Ost und West waren demgegenüber geringer: Im Osten wurde insgesamt fetter gegessen, mehr und vor allem hochprozentiger Alkohol getrunken, mehr Kartoffeln, Schweinefleisch und Brot sowie weniger Gemüse gegessen. Regionale Verzehrsunterschiede schliffen sich allerdings weiter ab, nicht zuletzt durch eine rasch wachsende Zahl von Migranten. Doch sie sind nicht verschwunden, denn sie werden nicht nur von Gewohnheit und Geschmack getragen, sondern auch vom Handel und der Gastronomie. Die meist einfachen, auf regionalem Anbau gründenden regionalen Küchen wurden durch allseits verfügbare Industrieprodukte nicht einfach nivelliert, vielmehr fand parallel eine wechselseitige Diffusion regionaler Küchen statt. Deutsche Einheitskost gab es nie, gibt es nicht, wird es nicht geben. Die Globalisierung zerstört(e) regionale Besonderheiten eben nur bedingt. In Marktgesellschaften werden sie vielmehr gepflegt, dienen der Vermarktung und Wertschöpfung, verbreiten sich überregional.

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„Regionale Küche“ als ein historisch neuartiges Phänomen: Worthäufigkeiten auf Basis des Textkorpus des Digitalen Wörterbuches der deutschen Sprache 1800-2019 (DWDS.de)

Damit kommen wir zur zweiten Ebene der regionalen Küche, die sich weniger im Bauch als vielmehr im Kopf findet. Regionale Küche wurde von etwas Normalem zu etwas Besonderem, zur vermarktbaren Spezialität. Regionale Nahrungsmittel und Speisen etablierten sich als solche seit dem späten 19. Jahrhundert in der Gastronomie und im Versandhandel, seit der Zwischenkriegszeit auch im ladengebundenen Handel, wurden mit dem Massentourismus dann ein zentrales Werbeargument. Während heutzutage die Region demnach Teil der Werbesprache und des Urlaubserlebnisses ist, uns ein Gefühl der Nähe und des Vertrauen bietet, von Frische und Eigenem kündet, ist der Wortstamm „Region“ relativ neu; im Gegensatz zu „Provinz“, „Landschaft“ oder „Landsmannschaft“. Er tauchte vermehrt erst in den 1930er Jahren auf, war paradoxerweise Ausdruck der Zentralisierungsbestrebungen des Nationalsozialismus. Vor dem Hintergrund einer strikten, auf Wehrfähigkeit ausgerichteten Ernährungspolitik wurden regionale Küchen systematisch erforscht, denn nur so glaubten Ökonomen und Verwaltungsbeamte eine effiziente Versorgung in Frieden und Krieg sicherstellen zu können. Nationalsozialistische Volkskundler verbanden regionale Ernährungsweisen mit völkischen Charakteristika, koppelten empirische Forschung mit rassistischen Deutungsmustern, ergänzten und vertieften das kulinarische Wissen in Gastronomie und Kochbuchliteratur. Wirklich bedeutsam wurde „Region“ jedoch erst in den 1950er Jahren; nicht zuletzt mit dem Verweis auf die verlorenen Regionalküchen des Ostens und die neu zu gewinnenden Nationalküchen der nicht deutschen Welt. Von „Deutscher Küche“ war längst nicht mehr die Rede angesichts der geteilten und zerstückelten Nation. „Region“ wurde dagegen seit den 1960er Jahren zu einem Modebegriff, beherrschte damals vor allem die Planungssprache. Abseits solcher Kopfgeburten erfuhr „Region“ seit Anfang der 1970er Jahre eine neue Renaissance als Ausdruck von Heimat und Herkunft. Nostalgie und Ökologie, später Ostalgie und Bio-Boom mögen als Stichworte genügen. Sie boten ideale Anknüpfungspunkte für die Vermarktung von Lebensmitteln, ermöglichten Nischenanbietern und Direktvermarktern den Markteintritt. Seit den 1990er Jahren wurden solche Initiativen staatlich systematisch gefördert. Sie kennen gewiss einige der zahlreichen geographischen Herkunftsbezeichnungen, die seitens der EWG seit 1962 geregelt und seither von der EU vielfach präzisiert und erweitert wurden. Die meisten sind – wie etwa beim Salzwedeler Baumkuchen – historisch luftig.

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Herkunft als Produktinformation im Feinkosthandel (Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878/79, 20)

Herkunft bezeichnete im späten 19. Jahrhundert jedoch die vielfältigen Verbindungen von Produkten und Orten bzw. Regionen – und vielfach nicht mehr. Braunschweiger, Göttinger, Gothaer, Frankfurter oder Regensburger Würste mochten unterschiedlich sein, bezeichneten aber just Würste aus unterschiedlichen Städten. Während zahlreiche regionale Spezialitäten kamen und gingen – Cuxhavener Sprotten oder Weimarer Lebkuchen verschwanden einfach vom Markt – etablierten sich andere regional auch im stationären Ladenhandel, etwa Bremer Kladen, Dresdner Stollen, Paderborner Brot oder Harzer Roller (Weichkäse, nicht Kanarienvögel). Parallel drangen regionale Speisen in der Gastronomie vor, wurden um 1900 dann auch zunehmend normiert. Wirtshäuser und Gaststätten haben eine bis weit in die frühe Neuzeit zurückreichende Geschichte, doch Restaurants, Speiserestaurants mit Wahlmöglichkeiten, entstanden im Deutschen Reich in größerer Zahl erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie standen, das Fremdwort ist sprechend, vielfach noch ganz im Bann der Grand Cuisine, boten einer zahlungskräftigen Kundschaft erwartbare Speisen der internationalen Hotelküche. Allerdings ergänzten sie diese um regionale Spezialitäten. Hamburger Aalsuppe und Teltower Rübchen, Königsberger Klopse oder das Wiener Schnitzel traten als Stellvertreter einer nur imaginierten regionalen Küche auf die Speisekarten, erlaubten dem Touristen ein Kosten des Fremden. Parallel zu dem wachsenden Binnentourismus vieler Bürger entstanden Restaurants auch abseits der Herrschaftssitze und Verkehrszentren. Sie boten gängige, ehedem häuslich zubereitete Speisen, vermarkteten sie jedoch als regionale Spezialitäten. Pfefferpotthast, Himmel und Erde, Stielmus mit Pökelfleisch hieß es dann in westfälischen Restaurants und dann auch Gaststätten, während man in Hamburg gebratene Scholle, Labskaus und gefüllten grünen Hering essen konnte. Solche Speisen fanden sich zunehmend auch an anderen Orten und Regionen, teils leicht variiert, teils anderen Regionen zugeschrieben.

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Hamburger Aalsuppe als regionale Speisenmarke (Das Magazin 9, 1932/33, Nr. 98, 78)

Nachdem wachsende Märkte im 19. Jahrhundert die in Agrargesellschaften zwingende Begrenzung auf lokale und regionale Nahrungsmittel aufbrachen, erlaubten Versandgeschäfte und Restaurants deren Neudefinition. Sie erfolgte auf der Ebene von Produkten und Speisen, riss diese aber aus den Alltagszusammenhängen einer Küche heraus. Regionale Küchen wurden in „regionale Küchen“ umgewandelt, die durch recht beliebige Isolate charakterisiert wurden. Diese Neudefinition war nicht beliebig, sondern stand ansatzweise gegen den realen Bedeutungsverlust regionaler Küchen und das noch moderate Abschleifen regionaler Verzehrsunterschiede. Regional rückgebundene Produkte und Speisen standen für Urtümlichkeit und Authentizität, für Gemeinschaft und erwartbaren Genuss. Sie standen scheinbar gegen die Trends der Internationalisierung, gegen die Dominanz nationaler und internationaler Gütermärkte, gegen die entzauberte, säkulare Welt, gegen die im Restaurant sich widerspiegelnde Mobilität und den Bedeutungsverlust der heimischen Familienküche. Zugleich aber waren derartige „regionale Küchen“ Bestandteile der Zernierung just der regionalen Küchen, denn Herkunft wurde konsumierbar, war Teil eines ortsunabhängigen genüsslichen Pickens und Probierens ganz unterschiedlicher Angebote.

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Ein Zukunftsbild 1923: Ausländische Küchen als Problem (Ulk 52, 1923, Nr. 31, 4)

Die regionalen Speisen fanden ab einem gewissen Bekanntheitsgrad Eingang in die allgemeinen Kochbücher. Das betraf sowohl Klassiker der internationalen Hochküche, als auch der „regionalen Küchen“ des deutschen Raums. Kochbücher wurden so Stätten stereotyper Völker- und Stammeskunden. All dies wiederholte und intensivierte sich seit den 1950er Jahren, als der Massentourismus die gängigen Angebote der ausländischen Restaurants immer stärker integrierte und so nachholende Urlaubserlebnisse oder aber ein einfaches Schwelgen in Träumen über ferne Köstlichkeiten erlaubte. Dass es sich dabei nur selten um originäre Rezepte handelte, zeigten schon die regionalen Angebote aus deutschen Landen. Herkunftsregionen und Lebensorte bildeten dadurch immer weniger den Rahmen für das eigene Essen. Stattdessen erhöhte sich die Zahl der Länder, Regionen und Orte, von deren Eigenarten man kosten konnte. Das war dienlich, nicht nur für Bewohner kulinarisch weniger verwöhnter Gegenden. Umfassende Kommerzialisierung und Verwissenschaftlichung führten zu einem wachsenden Angebot voller Wahlmöglichkeiten.

Internationalisierung II: Die Durchdringung der Angebote und Haushalte

Die Vermarktung von Herkunft und zerbrochenen regionalen Traditionen ist Teil eines „ästhetischen Kapitalismus“ (Gernot Böhme). Verwissenschaftlichung und wirtschaftliche Homogenisierung gehen dabei einher mit ästhetischer und symbolischer Differenzierung, sei es bei Produkten und Speisen, sei es bei Küchen. Diese haben ihre Funktion, auch ihren kulturellen Sinn. Doch während sich im Kopfe vieler Konsumenten immer neue kulinarische Regionen und Nationen etablierten, war die Produktion von Lebensmitteln vornehmlich von wissenschaftlichem, technischem und ökonomischem Wissen geprägt. Dieses gründete auf den Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts, differenzierte und erweiterte sie, schuf damit ein Lebensmittelangebot bisher unbekannter Vielfalt.

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Urbane Schnellküche in der Zwischenkriegszeit (Die Damen Illustrierte 30, 1927, H. 14, 20)

Hauptlinien müssen genügen: In der Zwischenkriegszeit wurde das chemisch-physiologische Wissen durch die Entdeckung der Vitamine und die physiologische Erkundung der Mineralstoffe beträchtlich ergänzt. Dies führte nicht nur zu einer wachsenden Bedeutung von Obst, Gemüse und Frischkost für eine gesunde Ernährung, sondern hatte beträchtliche Auswirkungen auf die Konservierung von Lebensmittel. Die Hitzeführung bei der Konservenproduktion, aber auch bei der Pasteurisierung von Milch wurde schonender, erlaubte schmackhaftere Produkte. Lebensmittel wurden zunehmend sensorisch getestet, Marktforschung erkundete seit den späten 1920er Jahren ansatzweise Interessen der Konsumenten. Wichtiger noch waren neue, im Ersten Weltkrieg mit hohem Forschungsaufwand geförderte Konservierungstechniken, insbesondere die Trocknung, die Kühlung und das Tiefgefrieren. Das erlaubte neuartige Lebensmittel, etwa den gefriergetrockneten Nescafé. Tiefkühlkost etablierte sich in Deutschland in den späten 1930er Jahren, mochte die Zahl der Kühlaggregate in den Läden auch noch gering sein und der Militärbedarf vorrangig befriedigt werden. Dies ging einher mit immer stärker in Pappe, Papier und Bleche verpackten Markenartikeln (fast 50 % des Edeka-Umsatzes in den 1930er Jahren) sowie ersten Kunststoffverpackungen wie Cellophan. Wichtiger noch waren Veränderungen in der Lebensmittelindustrie selbst, wo Zwischenprodukte für Gebäcke, Suppen, Saucen und die Gemeinschaftsverpflegung das Lebensmittelangebot länger haltbar und preiswerter machten. Die Distanz zwischen Herstellung und Verzehr wuchs beträchtlich, das Wissen um Gehalt und Qualität des Angebotes wurde zu einem wachsenden Problem, das sich seither in immer neuen Debatten über die Verschlechterung der Alltagskost und die „Entwertung“ der Nahrung niederschlug.

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Trockengemüse für Großküchen (Fritz Bein, Der Feldkochunteroffizier, Berlin 1943, 274)

Während des Zweiten Weltkriegs beschleunigten sich diese Tendenzen, denn die Millionenheere waren vielfach auf verarbeitete Lebensmittel angewiesen. „Austauschstoffe“ wie Eipulver, Molkepräparate oder neue sojabasierte Konserven wurden üblich, Kartoffelflocken und Trockengemüse, ebenso – als Ausgleich – Vitamin- und Mineralstoffpräparate. Einige Erfolgsprodukte der Wirtschaftswunderzeit, etwa die Pfanni-Grundmasse für Klöße und Reibekuchen, standen in dieser wissenschaftlichen Tradition.

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Blick in einen großen Selbstbedienungsladen (So baut man heute. Ruhr, Rheydt 1960, s.p.)

In der Nachkriegszeit verstärkte sich die gewerbliche Lebensmittelproduktion beträchtlich. 1958 lag ihr Anteil bereits mehr als drei Viertel des Gesamtmarktes. Unverarbeitet waren noch vorrangig Kartoffeln und Eier, gering verarbeitet Obst, Gemüse und Fleisch. Der Trend hin zu stetig verfügbaren Lebensmitteln wurde durch die in den späten 1950er Jahren sich in West- und Ostdeutschland rasch durchsetzende Selbstbedienung beschleunigt. Sichtverkauf ersetzte die Bedienungstheke, der Käufer übernahm frühere Aufgaben der Verkäufer. Dadurch änderten sich die Waren selbst, lose Angebote nahmen rapide ab. Die Läden wurden stetig größer, die sich in den 1960er Jahren etablierenden Super- und Verbrauchermärkte bildeten neuartige und zunehmend ästhetisierte Kunstwelten des Verkaufs. Kunststoffverpackungen setzten sich durch, Glas- und Verbundverpackungen machten die Angebote attraktiver. Die angebotene Warenzahl stieg von wenigen Hundert Anfang der 1950er Jahre auf fast 3.000 um 1970 und ca. 6.000 um 1990. Zugleich änderte sich die Struktur der Sortimente: Getränke und Trockenprodukte legten stark zu, Tiefkühlkost wurde, ebenso wie Konserven, Alltagsware. Mit der Technisierung der Läden und der Lieferwagen konnten dann aber auch zunehmend Frischwaren, insbesondere Obst und Gemüse, integriert werden. Diese kamen zunehmend aus dem europäischen Ausland, obwohl für einheimische Waren massiv geworben wurde („Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch“).

All dies waren internationale Trends, Teil einer Verwestlichung (in der DDR auch einer Veröstlichung) des Lebensmittelangebotes. Parallel nahm die Bedeutung der Außer-Haus-Verpflegung deutlich zu. Anfang der 1960er Jahre flossen etwa 10 % der Nahrungsaufwendungen in dieses Segment, in den 1970er Jahren waren es dann mehr als 20 %. Während anfangs Kantinen und Gaststätten dominierten, gewann seit den 1960er Jahren die Systemgastronomie an Bedeutung („Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald“), seit Anfang der 1970er Jahre auch Fast-Food-Ketten wie McDonald’s. Parallel entstand erst ein Gaststätten-, dann auch ein Fast-Food-Angebot ausländischer Speisen. Getragen von Urlaubsreisen und „Gastarbeitern“ erweiterten sie die Wahlmöglichkeiten um „authentische“ italienische, jugoslawische, spanische und dann auch türkische Angebote. Lieferdienste und vom Lebensmittelhandel betriebene Stehcafés, Backshops und Grillcenter ergänzten in den 1980er Jahren dieses Angebot um schwerpunktmäßig „heimische“ Produkte. Nicht Burger und Pizza, Döner und Sushi dominierten den deutschen Fast-Food-Markt, sondern belegte Brötchen, Würstchen aller Art, Suppen oder Pommes frites.

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Norwegische Cremesuppe: Exotik aus Tüte und Konserve (Spezialitätenküche, Köln 1973, n. 16)

Wichtig ist es, die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen all dieses Innovationen nicht deshalb zu vergessen, weil es sich um lange zuvor angelegte Veränderungen handelte. Die landwirtschaftliche Produktion wurde chemisiert, maschinisiert und kapitalisiert. Seit Mitte der 1950er Jahre zunehmend durch Zollschranken abgesichert und mit massiven Subventionen auf europäische Plangrößen gelenkt, wurden Bauern zunehmend reine Rohstofflieferanten. Ihre Produktion war von abstrakten Parametern wie Bodenzusammensetzung, Klimazonen, Zuchtzielen und Handelsklassen stärker geprägt als von Herkunft oder Region. (Futter-)Mais wurde um 1960 in Deutschland kaum angebaut, vierzig Jahre später schon 400.000 Hektar damit bepflanzt. Die gewerbliche Lebensmittelproduktion konzentrierte sich zunehmend auf Angebote mit hoher Nährstoffdichte, schmackhaft und vor allem einfach zu handhaben. Dies spiegelte eine sich veränderte Arbeitswelt, längere Fahrtwege, vor allem aber die verstärkte Integration der bürgerlichen Frauen in den gewerblichen Arbeitsmarkt. Instantprodukte beschleunigten die Getränke- und Speisenzubereitung seit den späten 1950er Jahren. Die damaligen Fertiggerichte – anfangs vor allem eingedost – wurden in den 1960er Jahren durch tiefgekühlte und vorgekochte Speisen in Aluminiumschalen und Kunststoffbeuteln abgelöst, die teils nur noch erhitzt werden mussten. Tiefgekühlte Hähnchen konnten schnell gebacken werden, standen zugleich für massive Veränderungen in der Tierhaltung. Komplettmenüs wurden ergänzt durch vorgeputzte und unmittelbar kochfertige Teilkomponenten, etwa Spinat oder Mischgemüse. Diese Convenienceprodukte – man sprach in den 1960er Jahren von der „Bequemlichkeitswelle“ – prägten zunehmend den Küchenalltag und die Rezepte der Kochbücher. Massive Wachstumsraten gab es dann wieder in den 1980er Jahren mit dem Angebot preiswerter Tiefkühlpizzen und gefrorenen Komplettmenüs fern der Aluminiumverpackung.

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Verfügbarkeit und Sicherheit: Fertiggerichte in Kunststoffverpackungen der Folienfabrik Forchheim (Absatzwirtschaft 9, 1966, 521)

Dazwischen standen zwei bis heute prägende Veränderungen, nämlich die zunehmende Aromatisierung und die wachsende Bedeutung von Lightprodukten. Mittels Gaschromatographen wurde es seit den 1950er Jahren relativ einfach, Aromenspektren zu analysieren und synthetisch nachzubilden. 1970 gab es etwa 1.100 künstliche Aromastoffe, mit denen es möglich war, Geschmacksdefizite im Angebot ansatzweise zu korrigieren, zugleich aber neuartig schmeckende Waren, etwa Kaugummi, Limonaden oder Speiseeis anzubieten. Um 1980 waren ein Achtel, um 2000 ein Fünftel aller Lebensmittel aromatisiert. Dazwischen lag ein weiterer technologischer Schub, nämlich die Verdrängung künstlicher Aromastoffe durch „natürliche“ und „naturidentische“ Substitute. Auch Lightprodukte profitierten von dem dahinter sichtbaren Trend hin zu „gesünderen“ Angeboten, der in den 1990er Jahren mit den „Functional Food“ nochmals eine paradoxe Steigerung erfuhr. Anders als im späten Kaiserreich wurden nun jedoch nicht allein Genussmittel entgiftet, wenngleich sich „leichtere“ nikotinarme Zigaretten in den 1960er Jahren, „nikotinfreie“ ab 1974 und „alkoholfreie“ Biere ab 1979 etablieren konnten. Die neuartigen Lightprodukte waren dagegen zucker- und fettreduziert. Süßstoffe gewannen an Bedeutung, Halbfettmargarine erlaubte kalorienreduzierte Ernährung ohne Reduktion des Streichfetts. Die virtuose Steuerung des Fettgehaltes erlaubte zudem zahlreiche neue Diätprodukte und eine sich ausweitende Palette von Käsearten.

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Kalorienarm und körperformend: Reformwaren Anfang der 1970er Jahre (Hamburger Abendblatt 1972, Nr. 150 v. 1. Juli, WJ2)

Hier bis zur Gegenwart fortzusetzen wäre einfach. Doch just diese teils schon wieder mit Patina versehenen Lebensmittel einer kaum vergangenen Vergangenheit verdeutlichen die Härte des Bruchs mit der Tradition. Dies gilt auch, weil die massive Technisierung der Haushalte seit den 1960er Jahren die zuvor noch beim Handel und der Gastronomie endenden Versorgungsketten nun bis in den Haushalt verlängert hat. Kühlschränke, Tiefkühlgeräte, Elektroquirle, Küchenmaschinen und Mikrowellen waren Vorleistungen, ohne die ein beträchtlicher Teil des Lebensmittelangebotes heute gar nicht mehr zu nutzen wäre. Die Wahlmöglichkeiten gründeten zugleich auf die seit dem 19. Jahrhundert etablierten, sich im 20. Jahrhundert dann durchsetzenden Versorgungsgüter Wasser, Gas, Elektrizität inklusive deren Abfuhr – all dies war vor 200 Jahren kaum denkbar, mochte man Brunnen und Quellen auch romantisch besungen haben.

Bestimmen Sie über Ihr Essen, Ihre Ernährung?

Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin, bestimmen selbstverständlich darüber, was sie essen. Doch Ihre Freiheit folgt zugleich dem bekannten Bonmot Friedrich Engels (1820-1895), dass Freiheit „Einsicht in die Notwendigkeit“ ist. Sie können sich heute nur noch unter immensen Kosten „selbst“ versorgen, würden als eremitischer Sonderling gelten, würden Sie dies tun. Und dafür gibt es Gründe, die der Publizist Wolfgang Pauser vor zwei Jahrzehnten provokant zuspitzte: „Traditionelle Ernährung ist nicht gesund, Natürlichkeit hat keine Tradition, Regionalität ist nicht natürlich und Kochen überhaupt der Inbegriff der Künstlichkeit“ (Die ›regionale Küche‹. Anatomie eines modernen Phantasmas, Voyage 5, 2002, 10-16, hier 10).

Als Historiker scheint es mir daher sinnvoll, das heutige Angebot mit gebührender Distanz zu betrachten, nicht aber einer schon im späten 19. Jahrhundert gebrochenen Tradition nachzujagen. Abseits der vielen zuvor ausgebreiteten Entwicklungen möchte ich Sie abschließend daher auf zwei Aspekte unseres heutigen Essens hinweisen, die Ihnen vielleicht als Rüstzeug für selbstbestimmte Distanz und reflektierte Wahl dienen können.

Erstens ist die moderne Ernährung durch semantische Illusionen gekennzeichnet. Hinter diesem sperrigen Begriff verstehe ich all die vielfältigen und stets widersprüchlichen Aussagen über den Wert des Essens, der Ernährung. Es scheint paradox, doch während wir völlig andere Lebensmittel, völlig andere Lebenszuschnitte als die Menschen vor 200 Jahren haben, nutzen wir vielfach noch die Sprache dieser Zeit. So als wären Kartoffeln um 1800 mit heutigen Kartoffeln gleich zu setzen. Wissenschaft und Wirtschaft haben mit der Tradition der vorindustriellen Zeit gebrochen, doch sie nutzen vielfach noch die Sprache der Alltagsernährung, um ihr Wissen und ihre Angebote marktgängig und nachvollziehbar anbieten zu können. Dies steht quer zu den ebenfalls bestehenden Fachsprachen der Wissenschaften und auch der Wirtschaft. Sprache wurde und ist heute Teil einer kommerziellen Inszenierung, während Forschung und Marketing nicht nur die vielfältigen Nahrungsstoffe anders benennen, sondern gar von so bekannten Begriffen wie „Vitaminen“ längst abgekommen sind. Ein stetig verfügbares, sich von „Küchen“, von Raum und Zeit längst emanzipiertes Lebensmittelangebot bedarf der kontinuierlichen Sinngebung und Ästhetisierung, um in den Märkten des Wissens und der Produkte bestehen zu können. Wir sahen, dass das Attribut „deutsch“ sich für die Küche des 19. Jahrhunderts nicht hat durchsetzen können. Wir sahen, dass der Wortstamm „Region“ erst im 20. Jahrhundert aufkam, doch in völlig verkürzter Form weiter fleißig Urstände feiert. Fragen wir weiter, nach dem Gehalt von anderen mit Ernährung und Essen stets verbundenen abstrakten Begriffen wie „Kraft“, „Qualität“, „Frische“, „Gesundheit“, „Genuss“ oder gar „Natur“. Unsere wahrlich schwere Aufgabe wäre dann, die den Lebensmitteln und Speisen verloren gegangenen Kontexte genauer zu benennen, ihnen Geschichte, Ernst und Wahrheit zu verleihen. Um selber wählen zu können, wäre eine Sprache zu entwickeln, die mehr enthält als ahnende Sehnsucht nach dem „Guten“, „Echten“, „Urtümlichen“, nach „Bio“, „klimaneutral“ oder „vegan“.

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Heutige „Naturkost“, „bio“ und „vegan“ (Schrot & Korn 2023, Nr. 1, 34)

Zweitens steht auch dieses Nachsinnen über die gebrochene Macht der Tradition in ähnlichen Verwendungszusammenhängen, denen in einer wissenschaftlichen, kommerzialisierten Welt und einer auf Enthäuslichung ehedem umfassend häuslicher Praktiken gründenden Alltagspraxis kaum mehr zu entkommen ist. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre haben dazu vor wenigen Jahren den Begriff einer „Bereicherungsökonomie“ geprägt, der uns abschließend helfen kann, die Beharrungskraft traditioneller und räumlicher Vorstellungen in unserem Kauf- und Essalltag zu verstehen. Demnach ist ein nicht unwichtiger Teil der heutigen Wirtschaft nicht mehr mit der Produktion von Gütern oder einschlägigen Dienstleistungen beschäftigt. Nicht allein Massenproduktion bestimmt unser Wirtschaften, Leben und Essen, sondern zugleich die Schaffung von Exklusivität. Lokale, regionale, vielfach auch nationale Traditionen werden neu belebt, revitalisiert, um dadurch Wertschöpfung zu ermöglichen. Aus altem stinkendem Käse wird ein Produkt voller Charakter, aus der Härte der handwerklichen Fron das vorbildhafte Schaffen des einfachen Könners. Dies ist ein Geschäft mit Vergangenheit, bei dem unter Verweis auf die verlorenen Welten der vorindustriellen, teils auch der hochindustriellen Zeit Besonderheiten der Alltagskultur, der Speisen und der Nahrungsmittel hervorgehoben werden, die es dann zu kultivieren und zu verfeinern gilt, um sie zu retten, zu Marken aufzubauen, auf Festivals zu präsentieren, sie landlüstig zu beschreiben und als Ziel eines kultivierten Tourismus anzuempfehlen. Vergangene, nicht mehr existierende Küchen werden so zu Habitaten, zu Verfügungsräumen einer wissenden und zahlungskräftigen Elite. In der gesellschaftlichen Breite führt dies zu bemerkenswerten Wandlungen, zum Spielen mit längst zerbrochenen Traditionen: Vor 200 Jahren knappe und begehrte Nahrungsmittel wie Fleisch werden heute von den höheren Schichten verstärkt gemieden, scheinen Kennzeichen fehlender Moral unaufgeklärter Unterschichten. Biokost und Slow Food-Aktivisten knüpfen an ein vielfach imaginäres lokales, bäuerliches Erbe an, während die Oberschicht sich vor 200 Jahren an transportintensiven kolonialen Produkten und den Angeboten der französischen Hochküche labte (also an internationalen Kostformen). Auch diese ist heute in Form von Fast Food Bestandteil der Billigkost der Unterschichten (Curry, Burger, Pizza).

Tradition ist, so hieß es anfangs, nichts Organisches, Originäres, sondern ein steter Überlieferungsfluss, die Weitergabe von Wissen um Alltagsbewältigung, um Herkunft und Identität. Neues mit Rückgriff auf eine einseitig gedeutete Vergangenheit zu schaffen, scheint mir nicht sinnvoll zu sein. Weder semantische Illusionen, noch eine wie immer artikulierte Bereichungsökonomie werden uns helfen, die Aufgaben des Tages zu bewältigen, gar selbst mitzubestimmen, was wir essen. Dazu sind einfache Frage wissend und bohrend zu stellen: Wer setzt die Strukturen unseres Essens, unserer Ernährung? Wer besitzt dabei Entscheidungsmacht? Wem nutzt dies? Und schließlich: Ist das in Ihrem, in meinem Sinne? Finden wir hierauf Antworten, so könnten an die Stelle von Trauerarbeit über gebrochene Traditionen vielleicht neue Traditionen treten.

Uwe Spiekermann, 30. Dezember 2023

Der Text ist eine überarbeitete, erweiterte und mit zusätzlichen Abbildungen versehene Version von Uwe Spiekermann, Traditionsmythen: »Deutsche Küche« zwischen Nation, Region und Internationalisierung, in: Gunther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 24-49.

Das Thema des Beitrages wurde unlängst auch von der Spiegel-Redakteurin Katja Iken aufgegriffen. Unter dem Titel „»Nationalpudding« mit Schildlaus und Schokolade“ finden sich zudem Einschätzungen der Erfurter Köchin Maria Groß, des Volkskundlers Gunther Hirschfelder und meiner Wenigkeit (Spiegel Geschichte 2024, Ausg. 1, 38-44).

Großbritanniens Vorbild und Deutschlands Beitrag: Der Deutsche Vereins-Hundekuchen aus Hannover

Hundekuchen bündelten zentrale Errungenschaften des 19. Jahrhundert, verbanden Physiologie und Enthäuslichung, Globalisierung und Kapitalismus in einem neuen, standardisierten Produkt. Es wurde in den 1860er Jahren in Großbritannien entwickelt, und das viele Monate haltbare Universalfuttermittel verbreitete sich seit den 1870er Jahren rasch in der westlichen Welt, in den USA, in Russland, in Österreich-Ungarn – und dem neu entstandenen Deutschen Reich. Dort ansässige Unternehmer übernahmen Konzept und Herstellungstechnik vom britischen Vorbilde, allüberall stand der in London produzierte Sprattsche Hundekuchen Pate. Vor Ort versuchte man dessen Qualität zu erreichen, den heimischen Markt gegen Importe zu verteidigen, ihn zugleich zu erweitern. Hierzulande entstand rasch eine größere Zahl von Hundekuchenfabriken, die aus Getreide, Gemüse und Importfleisch neue und doch gegenüber Spratt’s „Meat Fibrine Dog Cakes“ wenig veränderte Ware produzierten.

Der Hundekuchen vereinfachte die an sich aufwändige Fütterung von Tieren, die in ihrer Mehrzahl noch Funktionen und Aufgaben hatten, bei der Jagd, dem Bewachen des Eigentums, der Suche nach Verdächtigen, der Hege von Schafherden und nicht zuletzt beim Gütertransport. Die Hunde dieser Zeit waren nicht vorrangig Haustiere, vermeintliche Freunde und Gefährten, wie die ca. 12 Millionen vierbeinigen Steuermarkenträger heutzutage. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wurden Hunde vorrangig nach ihren Aufgaben und Funktionen in der bäuerlichen, bürgerlichen und adeligen Gesellschaft bewertet. Es ging nicht um Dobermann und Schäferhund, um Teckel und Spitz, sondern um Jagd- und Wachhund, um Karrenzieher und Hegehunde. Entsprechend bestand eine Trennung zwischen den edlen Hunden, die immer auch den Status ihrer Besitzer repräsentierten und den einfachen Helfern der gemeinen Leute. Folgerichtig gab es deutlich weniger Hunde, absolut und relativ: Kommt heute ein Hund auf sieben Staatsbürger, so waren es beim Aufkommen des Hundekuchens einer pro zwanzig Einwohner – etwas mehr als zwei Millionen.

Die moderne Physiologie beendete diese tradierten funktionalen Zuschreibungen nicht, doch entwickelte sie ein anderes, wissenschaftlich begründetes Bild des Tieres: Ihr Ausgangspunkt war die stoffliche Gleichheit aller Kreaturen. Mit Menschen und Pflanzen waren sie durch einen weltumspannenden und weltprägenden Stoffwechsel verbunden. Die domestizierten Hunde waren Allesfresser, hatten sich im Umfeld des Menschen vor allem mit pflanzlicher Kost und Fleischresten zu begnügen. Ihre Nahrungsbedürfnisse entsprachen in etwa denen des Menschen, die Art ihres Futters war jedoch anders, vor allem billiger, stand weit unter der Nahrung des Menschen. Hundekuchen waren demgegenüber etwas Besonders, nicht von ungefähr stammten die ersten Käufer aus dem englischen Landadel. Das neue Futter war anfangs nicht für Haustiere, für städtische „Luxushunde“ gedacht, schon dessen schiere Größe barg für kleine, schwach bezahnte Hunde massive Probleme. Hundekuchen waren vielmehr eine Fertigspeise für die Leistungsträger unter den Vierbeinern. Sie markierten zugleich aber eine Futtergrenze zum Menschen, denn Hundekuchen wurden von Beginn an mit einem Verzehrstabu belegt, mochten sie rein physiologisch auch durchaus essbar gewesen sein. Gegenüber unserer Gegenwart gab es weitere Unterschiede: Als Konsumgut waren sie eher ländlich, eher kleinstädtisch, noch nicht Kennzeichen einer urbanen Versorgungsinfrastruktur für gehätschelte Kleingefährten. Ihre Käufer waren die vermeintlich staatstragenden Eliten und der alte Mittelstand, nicht aber die Arbeiterschaft, die sich schon den Aufwand für einen Hund kaum leisten konnte. Gehen wir nun daran, diese Thesen auszufächern und empirisch an einem Beispiel zu überprüfen: Der Geschichte der Deutschen Hundekuchen-Fabrik, die erst in Hannover, dann in Berlin produzierte.

Die englische Herausforderung: Spratt’s und mehr

In den 1870er Jahren, nach der Gründung des Deutschen Reiches, erfolgte die Fütterung der Hunde hierzulande noch in tradierten Bahnen. Sie war ein abgesonderter, zugleich aber integraler Teil der häuslichen Nahrungsmittelproduktion: „Die gute Ernährung des Hundes bietet um so weniger Schwierigkeiten, als derselbe ja bekanntlich Alles frißt, was Menschen genießen. Brod, Fleisch, Knochen, Gemüse und Milch, gekocht sowohl wie roh, sind ihm die natürlichste und die ihm zusagendste Nahrung; Fett, obwohl sehr gern gefressen, ist ihm schädlich, ebenso viel Salz. Von gekochten Speisen zieht er die mehl- und zuckerhaltigen vor, und nimmt auch sehr gern süßes Obst. Nur sorge man, daß Alles, was dem Hunde vorgesetzt wird, rein, frisch und niemals zu heiß, sondern nur lau sei, versorge ihn mit reichlichem Wasser in stets reinen Geschirren und achte auch in Bezug auf sein Lager, daß dies immer reinlich und trocken sei und häufig erneuert werde“ (Otto Friedrich, Aufzucht und Pflege des edlen Hundes, 3. Aufl., Zahna 1876, 8). Hundefütterung war Aufgabe der Dienstboten, meist aber der Frauen als Teil ihrer Hausarbeit (Hermann Kaiser, Ein Hundeleben, Cloppenburg 1993, 43-46).

Während sich das Futter selbst wenig änderte, veränderte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dessen Herkunft: „Hundebrot“ war seit der frühen Neuzeit eine regelmäßige bäuerliche Abgabe an den Gutsherrn, Grundlage der Fütterung von Jagdmeuten, Abschlagszahlung für herrschaftlichen Schutz. Abzugeben war zumeist Getreide, „Hundekorn“ – und es ist nachvollziehbar, dass die Bauern versuchten, die besseren Qualitäten für sich zu behalten. „Hundebrot“ hatte daher eine weitere Bedeutung, handelte es sich doch auch um das dunkle, elende Brot der Armen, des Gesindes, gebacken aus Gerste, Buchweizen, Roggen und dem Unrat, der Spreu, der Kleie, – die Brotreform mit ihrem Lob des vollen Korns begann erst in den 1890er Jahren (vgl. etwa Johann Georg Krünitz, Das Gesindewesen, nach Grundsätzen der Oekonomie und Polizeywissenschaft abgehandelt, Berlin 1779, 92). Verstädterung und Frühindustrialisierung trugen Hundebrot vermehrt in städtische Gefilde: „Ein Art Brod, Hundebrod genannt, welches zur Fütterung von Thieren bei einigen Bäckern bereitet wird, kaufen auch arme Familien zu eigenem Verbrauch“ (Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin 48, 1845, 95). Diese Strukturen zerbrachen Mitte des Jahrhunderts, waren als „Bauernbefreiung“ Teil der Integration der bäuerlichen Wirtschaft in den modernen Steuerstaat, in die Versorgungsstrukturen arbeitsteiliger Marktgesellschaften: Die Aufhebung der preußischen Jagd-Dienste und -Gebühren bildete 1850 einen wichtigen Einschnitt, mochten sich auch Abgaben wie das „Hundebrot“ im Süden der deutschen Lande noch länger halten. Damit waren einem marktgängigen Fertigprodukt wie Hundekuchen die Wege grundsätzlich geebnet.

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Frühe Anzeigen für Spratt‘s Hundekuchen (The Field 1866, Ausg. v. 3. November, 31 (l.); The Norfolk News 1867, Nr. 1174 v. 22. Juni, 1)

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass der Begriff „Hundekuchen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon in deutschen Übersetzungen von Aristophanes, Juvenal oder aber Boccaccio auftauchte; allerdings als Gebäck der Armen. Als Hundefutter handelt es sich jedoch um eine Übersetzung des englischen Begriffs „Dog Cakes“, den der im englischen Devon geborene Erfinder James Spratt (1809-1880) für seine seit 1862 in London hergestellten „Meat Fibrine Dog Cakes“ nutzte. Die Firma entwickelte sich anfangs nur langsam, auch wenn nach der Einstellung des jungen Buchhalters und Assistenten Charles Cruft (1852-1938) das neue Produkt offensiver beworben wurde. Spratt verkaufte sein Unternehmen 1870 an eine Investorengruppe, die sich zunehmend auf den Vertrieb und Absatz der Hundekuchen konzentrierte und dadurch den Umsatz im Inland und dann auch auf dem europäischen Festland rasch erhöhen konnte (für eine detaillierte Geschichte der Firma Spratt’s in Großbritannien und dem Deutschen Reich verweise ich auf einen bald erscheinenden weiteren Artikel).

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Frühe Präsenz in Hannover (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 5992 v. v. 5. März, 1 (l.); Der Sporn 16, 1878, 336)

Nach der Gründung des Deutschen Reiches finden sich hierzulande ab spätestens 1873 Anzeigen für den Sprattschen „Hunde-Zwieback“ – auch dies eine Übersetzung des englischen Begriffes „Biscuit“, den vor allem englische Wettbewerber Spratt‘s für ihre Produkte verwandten. Deren deutsche Großhändler nutzten und prägten den Begriff „Hundekuchen“ jedoch seit 1875. Er verwies nicht auf das süße, für Menschen bestimmte Backwerk, insbesondere die hochgeschätzten Leb-, Honig- und Baumkuchen, sondern war eine Übernahme aus dem Futtermittelgewerbe. Dort ummantelten Begriffe wie Ölkuchen die Herkunft der Angebote, bei denen es sich zumeist um nutzbare Abfallstoffe handelte, die als Tierfutter und Düngemittel gleichwohl marktgängig waren. Knochenmehle dienten als Dünger, Fleischfuttermehl nährte Schweine, Rinder und auch Hunde.

03_Dresdner Journal_1877_08_22_Nr193_p904_Hamburgischer Correspondent_1879_06_15_Nr64_p18_Hundefutter_Hundekuchen_Fleischbiscuits_Buffalo_Clarke_Barr

Clarke und Barr: Weitere Londoner Hundekuchen im deutschen Markt (Dresdner Journal 1877, Nr. 193 v. 22. August, 904 (l.); Hamburgischer Correspondent 1879, Nr. 64 v. 15. Juni, 18)

Hannover war für Spratt’s ein doppelt nahegelegener Markt: Zum einen von der Entfernung her, denn die Exporte gingen anfangs nach Hamburg, von dort per Bahn in Städte mit Großhandelsdepots. Dieses Netz knüpfte an bereits bestehende Großhandelsstrukturen an, nutzte die Absatzwege vornehmlich im Futtermittelsektor. Hundekuchen waren ein Ergänzungsprodukt, traten neben das Kraftfutter für Schweine und Rinder. Und trotz des Namens konnte das neue englische Produkt in gemahlener, mund- und schnabelgängiger Form auch an Geflügel und Fische verfüttert werden. Entsprechend gab es auch seitens der noch nicht allzu zahlreichen zoologischen und Vogelhandlungen ein Grundinteresse an der Importware. In Hannover orderte man sie zuerst in Hamburg, dann auch im näher gelegenen Kassel, ab spätestens 1878 auch vor Ort, in der nahe des Güterbahnhofs gelegenen Handelsgesellschaft von James Plant. Diese 1876 gegründete Firma hatte sich auf den Vertrieb von Lederwaren und Reitartikeln spezialisiert (Hannoverscher Courier 1876, Nr. 7845 v. 12. April, 3; ebd. 1881, Nr. 11063 v. 28. Juli, 5). Hochwertige Ware aus England spiegelte ein gehobenes Sortiment, aber auch die Stellung der britischen Monarchie als global führender Wirtschaftsmacht. Zweitens gab es zwischen dem 1814 zum Königreich aufgestiegenem Hannover und der britischen Krone enge dynastische Beziehungen, bestand doch seit 1714 eine Personalunion, die erst 1837 aufgelöst wurde, als Königin Victoria (1819-1901) den britischen Thron bestieg, während die hannoversche Königswürde von ihrem Onkel, dem reaktionären Ernst August I. (1771-1851) übernommen wurde. Hannover besaß weiterhin enge Beziehungen zum aufstrebenden Inselreich, die auch durch die preußische Annexion 1866 nicht unterbrochen wurde. Die frühe Übernahme des Hundekuchens stand in der Tradition dieser besonderen Beziehungen.

Spratt’s nutzte dies, förderte insbesondere die von der Firma erst in Großbritannien, dann in den Niederlanden, Belgien und Frankreich angestoßenen Hundeausstellungen. Diese zielten nicht nur auf eine Adelung der Hundezucht, der Förderung der Jagd und der Ausbildung eines rasch wachsenden Marktes von Hundeartikeln und Tiermedikamenten. Ausstellungen dienten zugleich als zentraler Werbeort für das neuartige Hundefutter. Spratt’s wurde auch im Deutschen Reich zum Förderer der Haltung leistungsfähiger Funktionshunde und rassereiner Zuchttiere. Zugleich stellten sich die Aussteller einem begrenzten Wettbewerb, an dessen Ende sie regelmäßig mit werbeträchtigen Auszeichnungen geehrt wurden. Spratt‘s & Co. erhielt auf der ersten Hannoveraner Hundeausstellung 1879 ein Diplom für „hervorragende Leistungen“ und eine „goldene Medaille“ (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9751 v. 31. Mai, 2), die als Qualitätsgarant gleich wieder in der Anzeigenwerbung hervorgehoben wurden.

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Die Hannoversche Hundeausstellung als Werbeargument (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9768 v. 12. Juni, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1880, Nr. 138 v. 25. Mai, 5)

Hundezuchtvereine und der Hannoveraner „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“

Hundekuchen standen in den 1870er Jahren für Globalisierung – und in Abwandlung einer bekannten Sentenz des just verstorbenen Henry Kissingers kann man sagen, dass Globalisierung damals nur ein anderes Wort für britische Herrschaft war. Doch insbesondere in den USA und im Deutschen Reich begannen Hundehalter und Unternehmer nach wirtschaftlichen Alternativen zu suchen, nationale Angebote zu entwickeln. Neben der 1880 gegründeten Deutsche Hundekuchen-Fabrik in Hannover gab es andere, früher gegründete Firmen, die sich teils aus Hundezuchtanstalten (Caesar & Minka, Zahna), teils aus Getreide- und Futterhandlungen (Gebrüder Herbst, Magdeburg), teils aus Mühlen- und Bäckereibetrieben (Krietsch, Wurzen) entwickelten. Hundekuchen war für sie ein neues Nebenprodukt, das sich harmonisch in die bisherige Angebotspalette integrieren ließ. Das Besondere in Hannover war, dass dort der 1878 gegründete „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“ den entscheidenden Anstoß zur lokalen Produktion gab. Er war 1839 als Hannoverscher Jagdverein gegründet worden. Das englische Vorbild einer gezielten Hundezucht stand bei der Umbenennung im Mittelpunkt, die Führung von Stammbüchern wurde zum wichtigsten Ziel (Chronik des deutschen Hundewesens – Eckdaten zur Geschichte des VDH, Dortmund 2006, 4).

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Hunde als Passion: Versammlung des Berliner Hundeliebhabervereins „Hector“ (Über Land und Meer 40, 1878, 689)

Der Hannoveraner „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“ war Teil einer sich langsam ausdifferenzierenden Vereinskultur, die eine sich langsam verändernde Beziehung von Mensch und Tier spiegelte. Moderne Hundehaltung resultierte aus einer modernen Haltung zu Hunden. Tierschutzvereine entstanden in größeren Städten in den späten 1850er Jahren, etablierten sich in den Folgejahrzehnten als bürgerliche Institutionen. Sie wurden begleitet und gefördert von zeitgenössischen Erfolgstiteln, etwa dem seit 1863 erscheinenden „Illustrirten Thierleben“ des Zoologen Alfred Brehm (1829-1884), das Tiere vermenschlichte und dem bis heute währenden Anthropomorphismus Bahn brach. Die ethisch begründete Wendung gegen Tierleid und Tierquälerei enthielt allerdings immer auch eugenische Elemente, zumal in Diskussionen über humanere Tötungsformen kranker Pferde und Hunde. Spezielle Hundezuchtvereine boten vor dem Hintergrund der „Origins of Species“, des 1859 veröffentlichten Hauptwerk Charles Darwins (1809-1882), eine positive Eugenik. In Hannover hieß dies: „Der […] Verein zur Veredelung der Hunderacen hat es sich nun unter Anderem auch zum Ziele gesetzt, die Reinhaltung aller Hunderacen zu fördern, namentlich aber für diejenigen Racen einzutreten, deren Untergang nahe scheint, also besonders für die deutschen“. Ziel war Förderung der „Racenreinheit“, der Kampf gegen „Bastardhunde“ und damit auch ein Ende des steten Imports teurer „edler Hunde“ zumal aus England (Zitate n. Internationale Ausstellung von Hunden, Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9611 v. 7. März, 2).

Die Hundezuchtvereine waren jedoch immer auch gesellige, in die Öffentlichkeit drängende Institutionen. Auch diesbezüglich war England Vorreiter gewesen, denn Hundeausstellungen gab es dort seit den späten 1850er Jahren, der 1873 gegründete Londoner Kennel Club förderte sie dann gezielt. In deutschen Landen fanden erste Hundeausstellungen in den 1860er Jahren statt, in Hamburg und Altona. In den 1870er Jahren wurden sie dann bereits durch Hundefutterproduzenten gefördert, so etwa in Cannstatt 1871 und Stuttgart 1873. Ende der 1870er Jahre entstand zudem ein breiter Kranz von Fachzeitschriften, die nicht nur die Tier- und Hundezucht förderten, sondern zugleich auch das Renommee guter Zuchthunde und ihrer Besitzer erhöhten (Wolfgang G. Theilemann, Adel im grünen Rock. Adeliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866-1914, Berlin 2004, insb. 88-120).

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Hundefutterprobe als Teil des Vereinslebens im Leipziger Hundeverein Diana (Leipziger Tageblatt 1878, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6698)

Im Deutschen Reich setzte ab 1876 der Berliner Hundeliebhaberverein „Hektor“ erste Akzente, doch der Hannoveraner Verein durchbrach von Beginn an lokale Begrenztheit, indem er eine nationale Aufgabe vorantrieb: Das Allgemeine deutschen Hundestammbuch sowie die nationale Vernetzung im Dachverband der 1888 gegründeten „Delegiertenkommission“ waren unmittelbare Folgen (Margot Klages-Stange, Der Wert unserer Hunde, Hannoverscher Kurier 1926, Nr. 41 v. 26. Januar, 6). Hundezuchtvereine verbanden öffentlich besoldete Jäger, eine adelige, der Jagd frönende Oberschicht, aufstiegswillige und erfolgreiche Bürger sowie Zoologen und Veterinärmediziner. In Hannover agierte der im deutsch-französischen Krieg bewährte Graf Alfred von Waldersee (1832-1904) als Präsident. Der Kommandeur des X. Armeekorps verkörperte zugleich die Interessen der Armee an leistungsfähigen Hunden. Präsidiumsmitglied Albrecht Prinz zu Solms-Braunfels (1841-1901) war Teil des europäischen Hochadels und ein Kenner der englischen Hundezucht. Jäger, Züchter und Veterinärärzte der Kgl. Tierarzneischule bildeten den Kern der 1879 bereits 160 Mitglieder (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9570 v. 11. Februar, 2), zu denen aber auch Vertreter des gehobenen Bürgertums gehörten, etwa der jüdische Bankier Emil Meyer (1841-1899).

Seit seiner Gründung plante der Hannoveraner Verein auch eine Hundeausstellung: Es galt den Engländern und auch den Berlinern mit ihrer 1878 veranstalteten „Elite-Ausstellung von Racehunden“ etwas mindestens Gleichwertiges an die Seite zu stellen (Hannoverscher Courier 1878, Nr. 9380 v. 18. Oktober, 2). Die beträchtlichen Kosten wurden durch eine publikumswirksame Lotterie aufgebracht (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9502 v. 2. Januar, 3; ebd., Nr. 9644 v. 26. März, 2). Hinzu traten Sachspenden für Preise, die Unterbringung und Fütterung der Hunde – wodurch sich die Beziehungen zum englischen Hundekuchenproduzenten Spratt’s und seiner Hannoveraner Niederlage vertieften.

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Kooperation des Hannoveraner Hundevereins und der Londoner Firma Spratt’s (Der Sporn 17, 1879, 56)

Für den Verein war diese erste Hundeausstellung erfolg- und lehrreich zugleich. Das Vereinsziel einer an klare Merkmale gebundenen Hundezucht wurde weiter popularisiert, damit aber zugleich die Trennung zwischen Rassehunden und der Mehrzahl der Straßen- und Gebrauchshunde vertieft. Hundesteuer und Maulkorbzwang sollten dies unterstützten, zugleich die Zahl unnützer Hunde verringern helfen (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10659 v. 26. November, 3). Die Schwierigkeiten bei der Organisation und Finanzierung der Ende Mai 1879 durchgeführten Hundeausstellung ließen es jedoch auch ratsam erscheinen, eine lokale Infrastruktur aufzubauen, mit deren Unterstützung die Vereinsziele einfacher zu erreichen waren. Dazu gehörte nicht zuletzt die 1880 umgesetzte Gründung einer vereinsnahen Hundekuchenproduktion.

Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in Hannover

Am 15. Juni 1880 wurde die „Deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl“ ins Hannoversche Handelsregister eingetragen. Inhaber war der „Kaufmann und Fabrikant“ Johannes Kühl (Berliner Börsen-Zeitung 1880, Nr. 305 v. 19. Juni, 16; Deutscher Reichsanzeiger 1880, Nr. 144 v. 22. Juni, 8).

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Reichsweite Präsenz der Werbung kurz nach der Gründung (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10400 v. 6. Juni, 4 (l.); Neueste Nachrichten 1880, Nr. 127 v. 1. Juni, 10)

Schon Wochen zuvor hatte die Werbung für das neue Produkt eingesetzt, den „Deutschen Vereins-Hundekuchen“. Der gestempelte Kuchen gab einen ersten visuellen Eindruck des Tierfutters, benannte zugleich den zentralen Unterschied zu den verschiedenen im Deutschen Reich produzierten Konkurrenzprodukten: Es handelte sich um einen vom „Verein zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“ empfohlenen und kontrollierten Futterartikel. Dazu hatte man eine gemischte Kommission eingerichtet, die soziales Prestige, finanzielle Sekurität und wissenschaftliches Renommee verkörperte. Die Hundekuchen und Rohmaterialien sollten durch einen Chemiker der lokalen Tierarzneischule ständig kontrolliert werden, so dass es sich um ein standardisiertes Nahrungskomprimat von hoher Qualität handeln würde. Zugleich war der Vereinshundekuchen relativ preiswert; günstiger jedenfalls als die meisten deutschen und die englischen Konkurrenzprodukte. Jedem Zeitgenossen war klar, dass die Markenpräsentation an zwei Londoner Vorbilder anknüpfte: Als Qualitätsprodukt erinnerte sie einerseits an den seit 1863 im uruguayischen Fray Bentos produzierten Liebigschen Fleischextrakt. Die Londoner Liebig’s Extract of Meat Company nutzte nicht nur das Renommee des Namensgebers, sondern verpflichtete mit dem Hygieniker Max von Pettenkofer (1818-1901) und dem Physiologen Carl von Voit (1831-1908) zwei führende Wissenschaftler als Kontrolleure. Andererseits spiegelte der gestempelte und perforierte Kuchen das seit 1875 reichsweit geschützte Markenzeichen von Spratt’s & Co. in London.

Der Hannoveraner Verein hatte Johannes Kühl mit der Herstellung beauftragt, weil dieser „am hiesigen Orte eine mit den besten maschinellen Einrichtungen versehene Fabrik für Hundekuchen errichtet und seinen ganzen Betrieb zur Sicherung der Consumenten unter Controle des ‚Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland‘ gestellt“ habe. Mehr noch: „Der Fabrikant ist bezüglich der Zusammensetzung der Kuchen und des Preises derselben an die Anordnungen der Commission gebunden, so daß eine die Interessen der Consumenten wahrende Garantie besteht“ (Deutsche Hundekuchenfabrik von J. Kühl in Hannover, Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4). Kühl erschien entsprechend in der Generalversammlung des Vereins, diskutierte den gemeinsamen Vertrag mit Präsidium und Mitgliedern und verwies auf „eine größere Anzahl Zuschriften hervorragender Züchter, welche sich über die Qualität der Hundekuchen lobend aussprachen“ (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10617 v. 2. November, 3).

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Kontrollierte Qualität (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4)

Offenkundig handelte es sich bei der Deutschen Hundekuchen-Fabrik um eine für beide Seiten attraktive Zusammenarbeit: Der Verein erhielt reichsweite Publizität und zudem ein preiswertes vor Ort hergestelltes Futtermittel. Der Fabrikant konnte schon bei Beginn das soziale Kapital des Vereins nutzen, gewann dadurch einen Vertrauensvorschuss insbesondere bei Adligen, Jägern und Hundezüchtern. Vor diesem Hintergrund ist auch der Name von Firma und Produkt zu verstehen. Im – wie so häufig – irreführenden Wikipediaartikel zur Firma wird ohne Quellenbelege von einem nationalistischen und antienglischen Ressentiment gesprochen. Und in der Tat handelte es sich bei den Vereinsmitgliedern zumeist um patriotisch donnernde Zeitgenossen, Vereinssekretär Emil Meyer betonte etwa: „‚Englische Hunde, und zwar recht schlechte englische Hunde, haben wir leider schon zu viele in Deutschland!“ (zit. n. Hegewald, Den Hühnerhund […], Leipzig 1881, 49). Angesichts des Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Hundezuchtvereinen zielte das doppelte Adjektiv „Deutsch“ jedoch vorrangig auf die innerdeutsche Hegemonie des Hannoverschen Vereins. England blieb, das unterstrich die frühe Werbung, ein Vorbild. Dieses zu erreichen, gar zu überholen, war Aufgabe eines beherzten Wettbewerbs. „Deutsch“ war damals Ausdruck nachholenden Bemühens, noch nicht wilhelministischer Hybris.

Wer war nun der Fabrikant Johannes Kühl? Der verdienstvolle Stadtsuperintendent Hans Werner Dannowski (1933-2016) berichtete nach Gesprächen mit dessen Nachfahren, dass dieser 1852 in Burg auf der Ostseeinsel Fehmarn geboren wurde, dann in Lübeck eine Kaufmannslehre absolvierte. Er gründete eine Familie, drei Kinder wurden geboren, seine Frau starb jedoch im Kindbett (Hans Werner Dannowski, Hannover – weit von nah, Hannover 2002, 172). 1876 übernahm er die Firma Kellinghusen & Kühl in Bergedorf, die er unmittelbar nach der Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik auflöste (Deutscher Reichsanzeiger 1876, Nr. 130 v. 3. Juni, 6; ebd. 1880, Nr. 152 v. 1. Juli, 9). Hannover, 1880 eine Großstadt mit 120.000 Einwohnern, war für ihn Chance und Herausforderung zugleich. Das Hannoveraner Adreßbuch verzeichnete für 1880 weder einen Johannes Kühl noch eine in der Glockseestraße 7A gelegene Dampfbrotbäckerei (Adreßbuch Hannover 1880, T. I, 158, 350, 354, 482). Das legt nahe, dass er die von 1881 bis 1883 erwähnte „Dampf-Brod-Bäckerei“ neben der ebenfalls ab 1881 vermerkten „Deutschen Hundekuchen-Fabrik“ betrieb (Ebd. 1881, T. I, 357; ebd. 1882, T. I, 362; ebd. 1883, T. I, 367). Die Fabrik lag im Parterre, der Unternehmer lebte als Mieter in dem eingeschossigen Haus (Ebd. 1882, T. I, 158).

Johannes Kühl heiratete am 22. Dezember 1883 in einer Ziviltrauung Anna Elise Henriette Schmidt (Evangelisches Kirchenbuchamt Hannover, Film Nr. 185137, Nr. 86, 662-663) und kaufte dann, wohl im Januar 1884, das Anwesen Füsilierstraße 30 (Amtsblatt für Hannover 1886, St. 6 v. 8. Februar, 208). Dieses lag nahe am damaligen Güterbahnhof. Der Hauskauf dürfte Folge einer erfolgreichen Geschäftstätigkeit sein. Familie Kühl wohnte in dem dreistöckigen Haus in bürgerlich-mittelständischem Umfeld im Parterre mit sieben weiteren Parteien (Adreßbuch Hannover, 1884, T. I, 157). Zugleich wurde der Sitz der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und der Dampf-Brod-Bäckerei in die Füsilierstraße verlegt, die Produktionskapazität zugleich vergrößert (Ebd. 1884, T. I, 374).

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Idealisierte Darstellung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in der Füsilierstraße 30 (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132)

Die bauliche Struktur der Hundekuchenfabrik und der weiterhin annotierten „Cakes- u. Bisquitfabrik“ ist unklar, ein Hinterhofausbau wahrscheinlich. Johannes Kühl lebte 1888 weiterhin im Parterre, gemeinsam mit sechs weiteren Hausparteien (Adreßbuch Hannover 1888, T. I, 171). Im Hinterhof war zudem die Großhandlung Wisser & Co. angesiedelt, die auch Spratt’s Hundekuchen vertrieb. Die Firma besaß eine damals noch nicht übliche Fernsprechleitung (Ebd. 1888, T. I, 414). Nach dem Verkauf der Firma im Jahre 1889 an Spratt’s Generalbevollmächtigten Erwin Stahlecker änderte sich am Firmensitz erst einmal nichts (Ebd. 1889, T. I, 158, 412). Johannes Kühl zog allerdings in eine neue Wohnung, erst in die Herschelstr. 33, im Folgejahr dann in die Höltystr. 11 (Ebd. 1889, T. I, 535; ebd. 1890, T. I, 548). Er firmiert nun als Grubenbesitzer resp. als Kiesgrubenbesitzer (Ebd. 1892, T. I, 604). Kühl zog anschließend in eine repräsentative Unternehmensvilla in die Kolonie Kühlshausen des Villenviertels Kirchrode. Er machte eine erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann, u.a. im Aufsichtsrat der 1899 gegründeten Hannoverschen Landesbank oder als Mitgründer der Hannoverschen Terraingesellschaft AG (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 20 v. 23. Januar, 15; ebd. 1901, Nr. 239 v. 8. Oktober, 10).

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen als standardisiertes wissenschaftliches Produkt

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen war ein wissenschaftlich kontrolliertes und standardisiertes Futtermittel. Es war möglich durch einen neuen Referenzrahmen, dem von der modernen organischen Chemie entwickelten Lebensmodell eines allgemeinen Stoffwechsels. Dieses veränderte nicht nur die Landwirtschaft, in der gezielte Stoffsubstitution mit mineralischen Düngemitteln zunehmend höhere Erträge ermöglichte. Davon profitierte die gewerbliche Herstellung von Nahrungsmitteln und eine von den stofflichen Erfordernissen ausgehende Ernährung der Menschen. Und dies veränderte auch die Ernährung von Nutz- und Haustieren: „Die Aufgabe lief also darauf hinaus, die eigentlichen Nährstoffe in dem Futter zu ermitteln und die Rolle festzustellen, welche sie in der Verdauung, im Stoffwechsel, in der Ernährung zu übernehmen haben“ (H[ermann] Settegast, Die landwirthschaftliche Fütterungslehre, Breslau 1872, 12). Hundekuchen waren nicht irgendein Futtermittel, sondern dienten dem „Ersatz der durch die Lebensverrichtungen umgesetzten Körperbestandtheile des Thieres“ (Martin Wilkens, Der gegenwärtige Stand der Fütterungslehre, in: Ders., Beiträge zur landwirthschaftlichen Thierzucht, Leipzig 1871, 153-174, hier 160).

Das neue Futtermittel war ein Kompaktnährmittel, das durch das Verbacken von Getreide, Gemüse und Fleischresten als Dauernahrung diente und zugleich die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Hunde garantierte. Die Fabrikanten zielten auf ein stofflich ausgewogenes Produkt, das zugleich aber relativ preiswert war. Dazu diente ein globaler Rohwareneinkauf. Weizen (und Mais) wurden zumeist aus Kanada, den USA und Russland importiert, preiswertere Getreide wie Gerste, Hafer oder Roggen stammten vielfach aus heimischem Anbau; ebenso die eingebackenen Gemüse, etwa Rüben oder Möhren. Importiert wurde meist auch der für den Eiweiß- und Fettgehalt zentrale Fleischanteil. Er stammte aus Fleischabfällen, etwa der südamerikanischen Fleischextraktproduktion in Uruguay und Argentinien oder den Schlachtereien in Cincinnati oder Chicago. Hundekuchen waren ein globales Produkt, das je nach Rohware recht unterschiedlich zusammengesetzt sein konnte.

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Stickstoff und Eiweiß: Fleischmehle als Dünger und als Futtermittel (Gladbacher Volkszeitung 1873, Nr. 96 v. 30. August, 4)

Hundekuchen hatten zahlreiche Vorläufer im Felde gewerblich hergestellter Lebensmittel. Fleischmehl und Fleischzwiebäcke wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder als Kraftspeise und Konserve für Soldaten, Reisende und Arme propagiert. Sie scheiterten zumeist an fehlendem Nährwert bzw. begrenzter Haltbarkeit. Das galt auch für bis heute bekannte Klassiker dieser Zeit, etwa des Fleischextraktes, der Erbswurst oder des Fleischpulvers Carne pura. Mangelnde Kenntnisse der Stoffzersetzung und fehlende Würzung mündeten regelmäßig in einseitigem und schlechtem Geschmack. Menschen konnte sich dem verweigern, kaum aber Tiere. Hunde würden schon fressen, sei es mangels Futteralternative, sei es nach einer gewissen Gewöhnung. Die Durchsetzung des Hundekuchens war ein Erfolg stofflichen Denkens, war Teil einer wesentlich breiter gedachten Rationalisierung der modernen Welt. Sicherheitstechniken wie die Trichinenbeschau, die Nahrungsmittelkontrolle oder der Schlachthofzwang machten das Alltagsleben berechenbarer – der Central-Schlacht- und Vieh-Hof in Hannover wurde 1879 eröffnet (Centralblatt der Bauverwaltung 1, 1881, 290-291). Auch Hunde profitierten davon.

In Hannover wurde das neue stoffliche Denken nicht zuletzt von den Mitgliedern der Kgl. Tierarzneischule getragen, die 1887 zur tierärztlichen Hochschule aufstieg (Eindrücke, aber nicht mehr, liefert Wolfgang von Engelhardt und Gerhard Breves, Die Physiologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover seit der Gründung 1778, Hannover und Gießen 2011). In Versammlungen des „Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“ waren Vorträge von Mitgliedern des Lehrkörpers, etwa des Regimentspferdearztes und Lehrbeauftragen Paul Brücher (1826-1908) oder des Direktors Karl Günther (1822-1896) stete Programmpunkte (Hannoverscher Courier 1878, Nr. 9465 v. 8. Dezember, 2 (l.); ebd. 1880, Nr. 10262 v. 4. April, 6). Letzterer gehörte, zusammen mit seinem Nachfolger Karl Dammann (1839-1914), der Kontrollkommission des Vereins an, die neben der Analyse der Rohware und des fertigen Hundekuchens auch „zweckmäßige Verbesserungen durch Versuche“ (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4) ermöglichen sollte.

Mit den Hundekuchenuntersuchungen betraut wurde Carl Arnold (1853-1929), der nach dem Studium der Pharmazie, Physik und Chemie in München, Tübingen und Heidelberg ab 1880 als Repitor an der Tierarzneischule begann und dort 1890 zum Professor für Chemie reüssierte. Sein schon vor der Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik erstellter erster Bericht machte die Zusammensetzung der Deutschen Vereins-Hundekuchen publik: „Die Kuchen werden aus Fleischmehl, Roggenmehl, Weizenkleie, etwas Kochsalz und reinem basischen Calciumphosphat dargestellt.“ Die maschinelle Mischung führte zu einem gleichmäßig zusammengesetzten Produkt, „so dass jede Abweichung von der vom Verein genehmigten Rezeptur auffallen musste.“ Zugleich verglich Arnold dessen stoffliche Zusammensetzung mit denen der Sprattschen Hundekuchen und kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis: „Die Kuchen werden von den Thieren mit grosser Begierde angenommen, und sind durch ihren höheren Phosphorsäure- und Stickstoffgehalt dem englischen Fabrikate entschieden vorzuziehen“ (beide Zitate n. C[arl] Arnold, Vergleichende Untersuchungen deutscher und englischer Hundekuchen, Jahresbericht der Königlichen Thierarzneischule zu Hannover 13, 1879/80, Hannover 1881, 27-28, hier 27). Dieses Resultat fand seinen Weg in die wissenschaftliche Literatur, vor allem aber in die Fachpresse (Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 1, 1881, 79). In der Generalversammlung des Hannoverschen Vereins wurde dagegen allein der höhere Nährwert des eigenen Produktes hervorgehoben (Hannoverscher Courier 1881, Nr. 10812 v. 26. Februar, 3; Hamburgischer Correspondent 1881, Nr. 58 v. 26. Februar, 3). Öffentlich betonte der Verein sogar nur, dass die Hannoveraner Hundekuchen „mit den besten auf gleicher Stufe“ ständen (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4). In der Werbung tönte Kühl dagegen von dem „gesundestes Hundefutter“ (Kladderadatsch 33, 1880, Nr. 38/39, 3).

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Wissenschaftliche Analysedaten mit begrenztem Aussagewert (Chemisch-technisches Repertorium 23, 1884, 147)

Weitere vergleichende Analysen folgten und wurden von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik irreführend verdichtet, betonte sie doch, dass ihre Produkte einen 20-25 Prozent höheren Nährwert wie die Konkurrenzprodukte besäßen und sie das beste „Futter zur ausschließlichen Ernährung der Hunde“ seien (Hannoverscher Courier 1885, Nr. 13697 v. 25. November, 6). „Wissenschaft“ wurde dadurch zum Argument im Kampf um den Käufer, Wissenschaftler zu Zuträgern des Güterabsatzes. Carl Arnold sollte 1894 zum Kontrolleur von Spratt’s aufsteigen und in den Folgejahren zur Gewährsperson für die vermeintlich überlegene Qualität der einst von ihm selbst verfemten englischen Hundekuchen.

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Vermeintlich höherer Nährwert als Verkaufsargument (Hannoverscher Courier 1886, Nr. 13780 v. 15. Januar, 4)

Wirtschaftlicher Flankenschutz durch Schutzzölle

Das seit den späten 1870er Jahre beträchtliche Wachstum der deutschen Hundekuchenproduzenten war allerdings nicht allein auf die immer wieder mit nationalem Pathos verbundenen Aktivitäten der deutschen Hundevereine und der wissenschaftlichen Förderung des Kompaktfutters zurückzuführen. Es war vielmehr auch Folge der vielbeschworenen zweiten Reichsgründung 1879/80, also der konservativen Wende in der deutschen Innenpolitik und dem Übergang zum Schutzzoll. Der junge deutsche Staat geriet damals durch billige Agrarimporte aus den USA und Russland unter Druck. Die teils deutlich höheren Zölle sollten vorrangig die ostelbische Agrarwirtschaft schützen, hinzu kam der Schutz (noch) nicht wettbewerbsfähiger Industriebranchen, zumal der Schwer- und der Textilindustrie.

Hundekuchen konnte von den englischen Anbietern bis Ende 1879 kostenlos ins Deutsche Reich eingeführt werden. Seit dem 1. Januar 1880 wurden sie im Zolltarif dann als „gewöhnliches Backwerk“ eingruppiert, so dass pro Zentner eine Mark Zoll anfiel. Im Mai 1880 aber versechsfachte sich dieser Wert, lag nun bei 6 Mark pro Zentner (Kölnische Zeitung 1880, Nr. 150 v. 31. Mai, 5). Hundekuchen wurde nicht mehr länger als Backwerk, sondern als Fleischware eingruppiert; oder, wie Spötter meinten, als „‚feine Fleischwaaren‘, und nicht vielmehr als ‚Conditorwaaren‘“ (Kladderadatsch 35, 1882, 107). Die Behörden waren sich zwar bewusst, dass die Kuchen vorrangig aus Mehl bestanden, doch erschienen ihnen die „beigemischten Fleischfasern“ ein weder nach der Menge, noch dem Verwendungszweck „unwesentlicher Bestandtheil“ des Futterkomprimats zu sein (Central-Blatt der Abgaben, Gewerbe- und Handels-Gesetzgebung und Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 1880, 252). Spratt’s Eingabe an den Bundestag „betr. die Zollbefreiung von Fleischfaser-Hundekuchen (§. 512 der Protokolle von 1880)“ wurde abschlägig beschieden. Damit besaßen die deutschen Anbieter einen 30%igen Preisvorteil gegenüber den leistungsfähigeren englischen Betrieben, die mit einem weit größeren Maschinenpark preiswerter arbeiteten. Ludwig Bamberger (1823-1899), liberaler Oppositionsführer und Bankier, ordnete all dies unter dem Dachbegriff Zollkuriosa ein, war der verwaltungstechnische Aufwand für eine angemessene Eingruppierung verarbeiteter Produkte doch beträchtlich. Zugleich aber schien ihm damit die Einfuhr englischen Hundekuchens unmöglich gemacht worden (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 131 v. 11. Mai, Außerordentl. Beil, 3).

14_Adressbuch aller Länder der Erde der Kaufleute_Bd7a_Westfalen_Ausg9_1884-1886_Nürnberg_sa_pI_Großhandlung_Homberg_Barmen_Hundekuchen_Spratt_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Preisnachteil durch Zollbelastung: Spratt’s versus Deutscher Vereins-Hundekuchen (Adressbuch der Kaufleute aller Länder Erde, Bd. 7a: Westfalen, Ausg. 9, 1884-86, Nürnberg s.a., I)

Bundesrat, Reichstag und Reichskanzler befassten sich mit der Affäre, war eine weitere Petition des Sprattschen Repräsentanten in Berlin doch gut begründet: Der Vorsitzende des Berliner Hundevereins „Hektor“ bezeichnete die Kuchen als „für Menschen ganz ungenießbar“, während ein chemisches Gutachten feststellte, dass „die Hundekuchen lediglich aus dem Mehle von Cerealien und Fragmenten von Leguminosen unter Zusatz von 3 Prozent Fleischfasern (Fleischabfällen, Leimbildnern, Flechsen, Sehnen etc., d.h. solchen Stoffen, die als Nahrungsmittel für Menschen nicht verwendbar sind) hergestellt seien“ (Sammlung sämmtlicher Drucksachen des Deutschen Reichstags, 5. Leg., Sess. II, Berlin 1882/83, Bd. I, Berlin 1883, Nr. 70, 1). Der Reichstag befürwortete eine zollmindernde Eingruppierung als Backwerk, doch der Bundesrat entschied negativ (Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 68 v. 21. März, 5; Amtliches Waarenverzeichniß zum Zolltarife, Berlin 1888, 162). Spratt’s zog sich allerdings nicht vom deutschen Markt zurück, sondern lieferte weiterhin mit deutlich verminderten Gewinnspannen und höheren Preisen. 1884 kosteten 50 Kg im Rheinland 23 M, während für den Deutsche Vereins-Hundekuchen dort nur 20,50 M zu zahlen waren (Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins für Rheinpreußen 52, 1884, 39). Schon vorher betonte man in Hannover offensiv, dass der Deutsche Vereins-Hundekuchen englischen Fabrikaten „entschieden vorzuziehen sei […], da durch den neuerdings erfolgten Einfuhrzoll die englischen Kuchen im Preise höher stehen wie die deutschen“ (Arnold, 1881; Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 2, 1882, 79). Doch 1885 errichtete die multinationale englische Firma eine neue Produktionsstätte in Berlin. Ohne die Zollbelastung pendelte sich der Preis anschließend auf ca. 18,50 Mark pro Zentner ein. Das setzte auch für die deutschen Anbieter einen neuen, niedrigeren Richtpreis – bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges.

Aufbau eines leistungsfähigen Vertriebsnetzes

Wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Flankenschutz beförderte den offenkundigen, leider aber nicht zu quantifizierenden Erfolg der Deutschen Hundekuchen-Fabrik. Doch die rasche Etablierung eines leistungsfähigen Vertriebsnetzes war eine bemerkenswerte Eigenleistung. Johannes Kühl gelang es binnen weniger Jahre, den Deutschen Vereins-Hundekuchen zu einer reichsweit präsenten Marke zu machen, ihn gar über die Grenzen des Reiches hinaus zu vermarkten. Das galt nicht zuletzt im Vergleich zu den deutschen Wettbewerbern: Caesar & Minka blieben auf die Nische der Hundezüchter beschränkt, die Gebrüder Herbst und Krietsch dürften trotz reichsweiter Werbung vornehmlich Regionalanbieter in Mittel- und Ostdeutschland geblieben sein. Einzig die 1883 von Julius Kayser in Tempelhof gegründete Berliner Hundekuchen-Fabrik konnte mittels zahlloser kleiner Anzeigen in Zeitungen und vor allem Zeitschriften eine ähnliche Präsenz erreichen wie die Hannoveraner Fabrik. Deren Vertriebsnetz gründete auf vier verschiedenen Säulen.

Erstens nutzte Kühl mit dem etablierten Großhandel die damals gängigste Form des Güterabsatzes. Leistungsfähige Handelsfirmen wurden vertraglich an die Hundekuchenfabrik gebunden, bezogen deren Produkte direkt aus Hannover, verkauften sie dann an Händler und auch Einzelkunden. Hundekuchen wurden zwar auch in kleineren Mengen an einzelne Hundehalter verkauft, jedoch blieb der Absatz von größeren Abnehmern geprägt: Hundezüchter, Pikeure, Heeres- und Polizeivertreter kauften das mehrere Monate haltbare Produkt nicht nur in den gängigen Zentnersäcken, sondern vielfach in weit größeren Mengen. Neben Hannover besaß die Deutsche Hundekuchen-Fabrik Mitte der 1880er Jahre einschlägige Depots in Berlin, Frankfurt a.M., Hamburg, Köln, Leipzig (Duisburger Tageblatt 1886, Nr. 195 v. 24. August, 3). Kühl vergab zudem Verkaufsrechte an dezentrale Niederlagen, die meist in Groß- und Mittelstädten residierten. Dabei handelte es sich häufig um kombinierte Groß- und Einzelhandelsgeschäfte, meist aus dem Futtermittelsektor. Sie erhielten ihre Ware mit dem üblichen Händlerrabatt von den Depots. Festzuhalten ist, dass Hundekuchen preisgebundene Artikel waren. Dies bedeutete gesicherte Margen, gab aber auch Spielraum für Mengenrabatte.

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Annoncierung des Alleinverkaufs der Bielefelder Niederlage (Bielefelder Tageblatt 1882, Nr. 303 v. 28. Dezember, 4)

Präsenz vor Ort war nicht zuletzt für die wachsende Zahl der Halter von „Luxushunden“ wichtig, denn Haustiere oder studentische Renommierhunde erforderten nur kleine Mengen, zumal Hundekuchen in diesem Falle eher Beifutter waren. Solche Kundennähe wurde eigens beworben: „Obige deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl in Hannover hat schon in größeren Städten Niederlagen errichtet, ebenso in Halle beim Kaufmann Herrn Julius Kegel“ (Saale-Zeitung 1880, Nr. 209 v. 7. September, 10). Gleichwohl hatte der Vertrieb über die ständische Kette Produzent-Großhändler-Einzelhändler einen gravierenden Nachteil. Großhändler vertraten meist Hundekuchen verschiedener Firmen. Einer produktspezifischen Werbung allein für die Deutschen Vereins-Hundekuchen und daran anschließende Markenbindung wurden so erschwert. Da Hundekuchen trotz der frühzeitigen Markenbildung grundsätzlich ein homogenes, einfach zu substituierendes Produkt waren, kam es zudem zu relativ häufigen Wechseln bei Großhändlern und Niederlagen (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1884, Nr. 131 v. 10. Mai, 6).

16_Koelnische Zeitung_1883_05_26_Nr144_p4_Hundekuchen_Spratt_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Produktdominanz, keine Exklusivvertretungen (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 144 v. 26. Mai, 4)

Zweitens nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik von Beginn an auch lokale Fachgeschäfte. Hundekuchen waren ein neuartiges Produkt, das noch nicht eindeutig von bestimmten Fachgeschäften bezogen wurde – wie etwa Fleisch vom Metzger oder Charcutier. Hundekuchen war sowohl in Tier- und Futterhandlungen, in zoologischen und Mehlhandlungen als auch in Drogerien und Gemischtwarenhandlungen zu kaufen. Die Unsicherheit über das Sortiment bewirkte eine überdurchschnittliche Werbeaktivität durch Einzelhändler vor Ort – wobei dann die Marke im Mittelpunkt stand.

17_Leipziger Tageblatt_1880_07_27_Nr234_p4452_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover

Absatz per Drogerie in Leipzig (Leipziger Tageblatt 1880, Nr. 234 v. 27. Juli, 4452)

Ladengeschäfte dieser Art verankerten Hundekuchen lokal, popularisierten insbesondere deren Kauf in Städten. Im Gegensatz zum institutionellen Großabsatz war der Vertriebsaufwand jedoch höher, zumal die Verpackungsfrage anfangs kaum gelöst war. Die Ladeninhaber kauften gemeinhin Zentnersäcke und verkauften die Hundekuchen dann lose nach Gewicht, staffelten den Preis dabei nach der Verkaufsmenge. Dadurch wurden Hundekuchen für den städtischen Einzelkonsumenten nochmals teurer; und es verwundert daher kaum, dass in den Haushalten traditionelles, im Haus gekochtes Hundefutter bis weit ins 20. Jahrhundert dominierte. Die kleinteilige Struktur des Ladenabsatzes unterstützte daher grundsätzlich regionale Anbieter – die typisch waren für die deutschen Konsumgütermärkte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie konnten, auch über Vertreter, in engerem Kontakt zu den vielgestaltigen Händlern stehen.

18_Neues Tagblatt_1883_06_24_Nr144_p5_Heidelberger Anzeiger_1883_09_29_Nr228_p2_Hundekuchen_J-Kuehl_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Händlerwerbung in Stuttgart und Heidelberg (Neues Tagblatt 1883, Nr. 144 v. 24. Juni, 5 (l.); Heidelberger Anzeiger 1883, Nr. 228 v. 29. September, 2)

Drittens bildeten Hundevereine und Hundeausstellungen einen wichtigen Bestandteil des Vertriebs für Hundekuchen und die Entwicklung der Märkte für Hundeartikel, inklusive Tiermedizin. Ähnlich wie das Wachstum der Konfektionswarenbranche durch den Vergleich der Kleidung bei geselligen Ereignissen, in der Oper oder auf Bällen institutionell gefördert wurde, etablierte die noch sportliche Wettbewerbssituation der Hundeausstellungen eine neuartige Ästhetisierung, wie man sie von Tier- oder Landwirtschaftsausstellungen so nicht kannte: „Die Ausstellung soll nämlich zunächst dem Kenner und Interessenten nach dieser oder jener Richtung hin zeigen, was durch rationelle Zucht und Pflege erreicht werden kann, bezw. erreicht worden ist; […]. Die zweite Aufgabe, der für den Augenblick noch eine erhöhte Bedeutung beigelegt werden muß, besteht darin, den Sinn des Publicums für schöne Gestalten , edle Formen und intelligente Köpfe zu stärken, seinen Geist mit Bildern und zu erstrebenden Zielen zu füllen und es so indirect zu einem treibenden Momente auf der Bahn des Fortschritts und der Vervollkommnung machen“ (Berliner Börsen-Zeitung 1880, Nr. 255 v. 24. Mai, 2). Hundekuchen waren ein wichtiges Formmittel, galt doch, dass der Hund ist, was er frisst.

Hundeausstellungen waren und blieben die Domäne von Spratt’s. Doch auch die Deutsche Hundekuchen-Fabrik wurde aktiv. Blicken wir etwa ins niederrheinische Kleve: Auch „auf die rationelle Ernährung des Hundes ist man bedacht und in der Dianahalle finden wir Fleischfuttermehl, vorzugsweise aber Hundekuchen, sowohl englisches wie deutsches Fabrikat. Kühl-Hannover hat ein Postament aus Hundekuchen, einem festen braunen Gebäck in kleinen Täfelchen zum Preise von M. 37 pro 100 Kg., errichtet und einen ausgestopften Hund darauf gestellt“ (Die Clever Jagd-Ausstellung, Rhein- und Ruhrzeitung 1881, Nr. 229 v. 1. Oktober, 1-2, hier 1). Entsprechende Präsenz gab es natürlich insbesondere im lokalen Markt, denn in Hannover fand 1882 eine zweite Ausstellung des Hannoverschen Vereins statt (Hannoverscher Courier 1883, Nr. 11945 v. 9. Januar, 3). Sie ermöglichte Kühl den direkten Kontakt mit Großkunden, die entweder direkte Lieferverträge abschlossen oder aber später in den Depots oder Niederlagen orderten.

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Verweis auf das Versandgeschäft (Westfälisches Volksblatt 1883, Nr. 266 v. 3. Oktober, 4)

Viertens schließlich entwickelte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik – wie fast alle ihre Konkurrenten – ein umfangreiches, auf Markenartikelwerbung gründendes Versandgeschäft. Der Versandhandel war Folge umfassender Postreformen Anfang der 1870er Jahre (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft, München 1999, 296-298). Insbesondere die seit 1875 breit eingeführte Nachnahme ermöglichte neue reichsweite Absatzchancen für standardisierte Konsumgüter. Eine Postkarte genügte, dann wurde der Hundekuchen sowohl in größeren Mengen als auch in der von Beginn an offerierten 5-Kilogramm-Probepackung versandt. Die Post lieferte derartige Kleinpakete für 50 Pfg. Porto in alle Orte des Deutschen Reiches.

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Probepackung per Nachnahme – für nur zwei Mark (Kölnische Zeitung 1880, Nr. 181 v. 1. Juli, 8)

Die hohe Bedeutung des Versandgeschäftes hatte für die Produzenten aber auch Nachteile. Es gab grundsätzlich keine gesicherten lokalen Märkte mehr, denn mittels Werbung konnten auch andere Hundefutteranbieter ihre Produkte anbieten. In Hannover betraf das etwa Liebigs Fleischfuttermehl, das ab spätestens 1881 von den Gebrüdern Herbst in Magdeburg angeboten wurde, ab 1883 auch von Paul Rosendorf aus Stolzenau a.d. Weser (Hannoverscher Courier 1883, Nr. 12412 v. 13. Oktober, 8). Der Kunde war umkämpft, erforderte stete Anstrengungen.

Vertrieb Deutscher Vereins-Hundekuchen im Ausland

Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik konzentrierte ihre Absatzbemühungen vorrangig auf das Deutsche Reich. Gleichwohl exportierte sie ihre Produkte zumindest auch in die Schweiz und in das cisleithanische Österreich. Das Vertriebsnetz wurde ab spätestens 1882 durch Depots in Wien und später in Zürich ergänzt. Dies war auch Folge der beiden am 23. Mai 1881 abgeschlossenen Handelsverträge zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn einerseits, der Schweiz anderseits. Ersterer beseitigte fast alle Einfuhr-, Ausfuhr- oder Durchfuhrverbote. Mit der Schweiz wurde ein Meistbegünstigungsvertrag abgeschlossen, so dass (mit etwas mehr Restriktionen) der Export von deutschen Hundekuchen aus Hannover zollfrei erfolgen konnte. Fracht- und Nachnahmegebühren lagen aber höher.

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Versandgeschäft nach Österreich-Ungarn (Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 2, 1882, 16)

Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik konzentrierte sich anfangs vor allem auf Werbung in der sich in der K.u.K.-Monarchie damals rasch entwickelnden Fachpresse. Vertrauenswerbung dominierte, entsprechend wichtig waren Verweise auf das Kontrollregimes des „Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“. Kühl zielte damit auf den Absatz größerer Mengen, denn grenzüberschreitender Versandhandel von kleineren Probepakten war deutlich teurer. Neben dem üblichen Zentner-Sack bot er gegen moderaten Rabatt auch eine halbe resp. ganze Tonne Hundekuchen an (Oesterreichische Forst-Zeitung 1, 1883, 14).

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Niederlage in Wien (Das Vaterland 1884, Nr. 315 v. 15. November, 12 (l.); Oesterreichische Forst-Zeitung 2, 1884, 298)

Das änderte sich 1884 mit der Vertriebsübernahme durch eine Hauptniederlage in Wien. Nun konnte man die Deutschen Hundekuchen auch per Kilo kaufen, auch 5-Kilo-Pakete wurden angeboten (Neue Freie Presse 1885, Nr. 7538 v. 24. August, 8). Angesichts der dort elaborierteren Werbung nutzte der Wiener Repräsentant vielfach visuelle Elemente, meist Hundebilder (Allgemeine Sport-Zeitung 5, 1884, 968). Die Anzeigen erläuterten das Produkt nicht, denn auch in Österreich hatte Spratt’s das Produkt schon früher eingeführt (Spratt’s Patent Fleischfaserkuchen, Illustrirte Sport-Zeitung 2, 1879, 182-183; F. Konhäuser, Futterkuchen für Hunde, Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 30, 1880, 81).

Auch in Österreich-Ungarn nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik Hundeausstellungen zur Markterschließung. Im böhmischen Badeort Teplitz-Schönau übernahm sie die werbeträchtige Fütterung der Tiere (Teplitz-Schönauer Anzeiger 1884, Nr. 65 v. 23. August, 3). Johannes Kühl präsentierte jedoch nicht allein seinen mit dem 1. Preis ausgezeichneten Hundekuchen, sondern auch seinen eigenen Bernhardiner (Die internationale Hunde-Ausstellung zu Teplitz in Böhmen, Allgemeine Sport-Zeitung 1884, 808-809, hier 809). Auch in Wien wurden die Deutschen Hundekuchen 1884 und 1885 prämiert. Gleichwohl endeten die Exportbemühungen im cisleithanischen Österreich kurz danach. Das lag wahrscheinlich an der dort insgesamt größeren Zurückhaltung gegenüber dem neuen Kompaktfutter. Österreichische Markenanbieter gab es kaum, die 1888 aus dem Zuchtgeschäft entstandene „Erste Oesterreichische Hundekuchen- und Geflügelfutter-Fabrik“ von Wilhelm Nitsche im östlich von Aussig gelegenen Großpriesen blieb von geringer Bedeutung. Erst die seit 1893 in enger Abstimmung mit Spratt’s in Wien produzierten „Patent-Fleischfaser-Hundekuchen“ der neu gegründeten Firma Fattinger etablierten einen starken österreichischen Markenartikel.

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Marktpräsenz auch in der Schweiz (Züricherische Freitagszeitung 1883, Nr. 27 v. 6. Juli, 4)

Noch geringere Bedeutung hatte der zeitweilige Vertrieb der Deutschen Hundekuchen in der Schweiz. Die Hundeausstellung in Zürich 1882 stand am Beginn intensivierter Exportbemühungen. 1883 etablierte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik dort ein Generaldepot, das in der deutschsprachigen Schweiz die Werbetrommel rührte (Der Bund 1883, Nr. 180 v. 2. Juli, 4).

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Etablierung von lokalen Niederlagen in der Schweiz (Die Ostschweiz 1884, Nr. 56 v. 7. März, 3)

Obwohl es dem Kühlschen Repräsentanten gelang, weitere Niederlagen einzurichten, endeten die Werbebemühungen wahrscheinlich Ende 1884 (Zürcherische Freitagszeitung 1884, Nr. 8 v. 22. Februar, 4). Der in der Schweiz enge Markt für Hundefutter konnte neben Spratt’s kaum weitere Anbieter nähren. Einheimische Marken, wie etwa die Ende der 1880er Jahre zeitweilig aufkommenden „Basler Hundekuchen“, blieben ohne größere Bedeutung.

Werbung für Deutsche Vereins-Hundekuchen

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen wurde in den 1880er Jahren überraschend breit und mit einer überdurchschnittlichen Variationsbreite von Reklamemotiven beworben. Von einer einheitlichen Werbestrategie kann allerdings nicht die Rede sein, denn Werbeabteilungen etablierten sich in deutschen Unternehmen erst in den 1890er Jahren. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik warb bis 1886 vorrangig mit einfachen Textanzeigen, die das Produkt, die Firma, den Preis und lobende Worte über den Deutschen Vereins-Hundekuchen enthielten. Auch Verweise auf den Hannoveraner Hundezuchtverein finden sich regelmäßig in den Anzeigen. Im Mittelpunkt stand das Produkt – und beworben wurden allein Hundekuchen.

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Zugelieferter Werbetext für einen Einzelhändler (Gummersbacher Zeitung 1880, Nr. 108 v. 14. September, 4)

Johannes Kühl warb vorrangig unter eigenem Namen und auf eigene Rechnung: Derartige Markenartikelwerbung diente dem Einkauf per Versand. Seine Werbetexte wurden jedoch auch von vielen Großhändlern genutzt, die einzig ihren Namen ergänzten, um Hundekuchen so direkt zu verkaufen. Überraschenderweise nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik das anfangs offensiv präsentierte Bild des perforierten und gestempelten Produktes nur noch selten – die Nähe zur Werbung von Spratt’s war wohl zu groß. Als Klischee, als Werbevorlage für Großhändler, wurde es jedoch weiterhin verwandt.

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Bildliche Werbung für ein etabliertes und zollgeschütztes Produkt (Hamburger Fremdenblatt 1884, Nr. 270 v. 16. November, 16)

Redaktionelle Werbung findet sich nur selten. Die abseits des eigentlichen Reklameteils erscheinenden „Zusendungen“ priesen über Gebühr, starteten beim Wohl der Tieren, endeten bei kaum haltbaren Werbestanzen für die Hundekuchen: „Man hat dieses reinliche Futter stets zur Hand; es kann trocken, aufgeweicht und gekocht, in Verbindung mit Küchenabfällen und Ueberresten gefüttert werden. Alle Hunde fressen diese Kuchen mit Vorliebe und – was die Hauptsache ist – eine große Anzahl von Krankheiten wird mit dieser Fütterung entschieden vermieden. Die Engländer haben schon längst von diesem Fortschritt profitirt, aber die englischen Kuchen sind noch sehr theuer. Da ist unlängst auf Veranlassung des deutschen Hundevereins in Hannover eine deutsche Hundekuchen-Fabrik entstanden, in welcher die Fabrikation unter steter Kontrole vor sich geht“ (Saale-Zeitung 1880, Nr. 209 v. 7. September, 10). Wichtig bei derartigen Texten war die behauptete Erfahrung im Umgang mit Hunden: „Was mir an den Deutschen Vereins-Hundekuchen, gegenüber den bisher gefütterten Fabrikaten gefällt, das ist der Umstand, daß sie sich leicht mit der Hand zerbröckeln lassen, während man bei den sonstigen Fabrikaten das Messer und den Hammer tüchtig gebrauchen muß, um sie klein zu kriegen […], und diese Arbeit kann Einem die Fütterung des Hundes mit Kuchen sehr verleiden – und dann scheint mir, daß in den Kühl’schen Deutschen Vereins-Hundekuchen der Stickstoff, d.h. der wesentliche Bestandtheil aller thierischen Nahrung, in einem größeren Procentsatz enthalten sei, wie in den sonstigen Kuchen“ (Hermann Haché, Etwas über den Deutschen Vereins-Hundekuchen, Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 166). Mochte der Lobessermon derartiger Werbetexte auch frappieren, so knüpfte er doch immer auch ein Band zur praktischen Verwendung der Hundekuchen, hob deren Bequemlichkeit hervor, sprach von freudig fressenden Tieren, nutzte dabei auch vermeintlich wissenschaftliche Ergebnisse, lobte Bekömmlichkeit und Billigkeit der Deutschen Vereins-Hundekuchen (Hamburger Nachrichten 1884, Nr. 257 v. 28. Oktober, 11).

Anders als spätere Werbung dieser Art informierte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik allerdings nicht über die Zusammensetzung ihres Produktes, gewährte keinen näheren Einblick in die Produktion. Arbeitsunfälle, wie die vollständige Zermahlung der rechten Hand eines Arbeiters bei der Bestückung einer Teigwalze, blieben außen vor (Hannoverscher Courier 1885, Nr. 13582 v. 17. September, 2). Kühl nutzte auch den Umzug des Unternehmens von der Glocksee- in die Füsilierstraße 1884 nicht für Werbezwecke. Werbemittel gab es kaum, nur ein Futternapf ließe sich aufführen (Deutscher Reichsanzeiger 1886, Nr. 106 v. 5. Mai, 12). Neben den Anzeigen gab es Preiskurante und Werbezettel.

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Werbung mit Erfolg auf Hundeausstellungen (Leipziger Tageblatt 1886, Nr. 255 v. 12. September, 5131)

Widerhall fanden allerdings die Ehrungen auf den insgesamt nicht allzu zahlreichen von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik besuchten Hundeausstellungen (Heidelberger Anzeiger 1886, Nr. 142 v. 20. Juni, 2). Diese suggerierten eine hohe Qualität und eine gewisse Weltläufigkeit. Die gewonnen Medaillen zierten zwar Werbeblätter, blieben aber schon zahlenmäßig weit hinter denen vieler Wettbewerber zurück.

28_Neueste Nachrichten und Muenchner Anzeiger_1887_02_12_Nr043_p06_Hundefutter_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_Kuehl_Hannover

Deutsches Produkt, präsent auch im Ausland (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1887, Nr. 43 v. 12. Februar, 6)

Erst 1887 wandelte sich die Werbung. Sie wurde einerseits vielgestaltiger, integrierte zugleich wieder Bildelemente. Vorangegangen war seit 1885 eine deutlich höhere Taktung der Anzeigenfrequenz. Dies dürfte eine Antwort auf die Gründung von Spratt’s Patent (Germany) Limited in Berlin gewesen sein, mit der die Zollbelastungen des importierten englischen Hundekuchens beseitigt wurden.

29_General-Anzeiger Mannheim_1887_12_23_Nr303_Bl2_3_Westend-Zeitung_2_1887_Nr148_4_Augsburger Abendztg_1887_11_05_Nr305_p11_Hundekuchen_J-Kuehl

Irreführende Präsentation als größte und älteste Fabrik Deutschlands (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1887, Nr. 303 v. 23. Dezember, Bl. 2, 3 (l.o.); Westend-Zeitung 2, 1887, Nr. 148, 4 (l.u.); Augsburger Abendzeitung 1887, Nr. 305 v. 5. November, 11)

Die Werbung spiegelte seither den wachsenden Wettbewerbsdruck. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik setzte auf Superlative, faktisch auf die Irreführung des Publikums. Entgegen der eigenen Aussagen war sie weder die älteste noch die größte Fabrik Deutschlands; auch wenn präzise Daten zur Größe der damaligen Unternehmen fehlen. Auch die Aussage, dass der Deutsche Vereins-Hundekuchen „fast auf allen Ausstellungen mit ersten Preisen prämirt“ (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 192) und verfüttert worden sei, ist sachlich falsch.

30_Neue Jagd-Zeitung_01_1888_p132_Hundekuchen_Deutscher-Veriens-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Produktionsstaetten

Erweitertes Sortiment und (idealisierte) Betriebsstätte (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132)

Parallel veränderte sich 1888 das Angebot: Neben den bisher allein angebotenen Hundekuchen traten nun Hundekuchen für Puppies, also Welpen, fand sich billiger Hafermehlkuchen sowie mit Lebertran fortifizierter Hundekuchen für schwächliche und kranke Tiere. Zudem lieferte Kühl Geflügelfutter, Präriefleisch für Fasane, Fleischfaser-Fasanenfutter, Präriefleisch für Fische, Fleischfaser-Fischfutter sowie Taubenfutter (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132). Was aussieht wie eine massive Investition in das eigene Angebot spiegelt jedoch den wirtschaftlichen Niedergang der Hannoverschen Hundekuchenfabrik. Es scheint, dass sie seit 1888 nicht mehr selbstbestimmt produzierte, sondern schon vor dem Verkauf zu einem Lohnproduzenten der Spratt’s Patent (Germany) Ltd. abgesunken war.

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Das so ähnliche Sortiment der überlegenen englischen Konkurrenz (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2225, Beibl. 3, 3)

Zergen mit dem Marktführer Spratt’s Patent (Germany) Ltd.

Der relative Niedergang mag überraschend erscheinen, hatte sich spätestens 1887 jedoch deutlich abgezeichnet. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik war 1880 als Gegenentwurf zur Londoner Spratt‘s & Co. gegründet worden. Bis 1886 wurde die damit verbundene wirtschaftliche Rivalität einigermaßen fair ausgetragen – sieht man einmal von verfehlten „wissenschaftlichen“ Vergleichen ab. Im Großhandel wurden beide Hundekuchen teils parallel nebeneinander angeboten.

32_Koelnische Zeitung_1884_11_30_Nr333_p8_Bielefelder Zeitung_1886_09_02_Nr204_p4_Hundekuchen_Spratt_J-Kuehl

Gedeihlicher Absatz (Kölnische Zeitung 1884, Nr. 333 v. 30. November, 8 (l.); Bielefelder Zeitung 1886, Nr. 204 v. 2. September, 4)

Ab 1887 begann Johannes Kühl jedoch mit Täuschungsvorwürfen; auch weil er sich von Spratt’s seinerseits angegriffen fühlte, als diese in Annoncen vor „werthlosen Nachahmungen“ warnte. Auf Werbezetteln stichelte er gegen den Weltmarktführer: „Prämiirt wurde der Deutsche Vereins-Hundekuchen […] nicht etwa für Gratis-Fütterung auf Hunde- und Geflügel-Ausstellungen, womit sich eine englische Firma die grösste Zahl der goldenen Medaillen erwirbt, resp. erkauft, sondern für die Qualität der Waare.“ Neuerlich bemühte er die Kontrollkommission des Hannoverschen Hundezuchtvereins als Garantie, „dass demselben vor sämmtlichen Concurrenzprodukten der Vorzug zu geben ist“ (Werbefaltblatt Deutsche Hundekuchen-Fabrik 1887, Wikipedia.de). Damit legte er gewiss die Finger in die Wunde eines sich stetig schulterklopfenden und begünstigenden Oberschichtenmilieus, doch vergaß er dabei, dass er seine eigene wirtschaftliche Existenz just diesem Milieu verdankte. Spratt’s verwies damals auf „90 höchste Auszeichnungen“ (Kölnische Zeitung 1887, Nr. 29 v. 29. Januar, 4), die trotz berechtigter Skepsis gegenüber dem kommerzialisierten „Medaillenschwindel“ ein Beleg für eine gewisse Solidität dieser Hundekuchen war.

33_Hannoverscher Courier_1887_04_10_Nr14532_p06_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Patent

Attacke auf Spratt’s: Täuschungsvorwurf gegen den Marktführer (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14532 v. 10. April, 6)

Während Spratt’s schwieg, legte Johannes Kühl nach. In einer wiederholt geschalteten Anzeige verwies er nicht nur auf die Verfütterung des Deutschen Vereins-Hundekuchen auf der vom „Verein der Veredelung für die Veredlung der Hunderassen für Deutschland“ in Hannover 1887 organisierten Hundeausstellung. Er gab ferner öffentlich zu Protokoll: „Da es in Deutschland kein Patent für Hundekuchen giebt, so ist jedes Fabrikat, wenn ‚Patent‘ gezeichnet, eine Täuschung des Publikums.“ (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14547 v. 20. April, 4)

34_Hannoverscher Courier_1887_04_29_Nr14562_p08_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Spratt_Patent

Aggressives Einlenken mit nationalistischen Untertönen (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14562 v. 29. April, 8)

Dieses Mal reagierte Spratt’s Patent (Germany) Ltd.: Erwin Stahlecker, der Generalbevollmächtige der Firma, hob in einem an Kühl gerichteten Schreiben hervor, dass ein Eigenname keine Täuschung sein könne. Kühl solle in Zukunft solche Aussagen unterlassen, andernfalls werde man den eigenen Einfluss und das Firmenkapital nutzen, um dieser Bitte Nachdruck zu verleihen. Und süffisant legte er nach: „Ueberhaupt muss es mit demjenigen Fabrikanten wohl nicht allzu gut stehen, der durch derartige, von Jedermann für lächerlich gehaltene Annoncen nach Luft zu schnappen scheint.“ Zudem würden Spratt’s Hundekuchen selbst von den Vorstandsmitgliedern des Hannoverschen Hundezuchtvereins häufiger verfüttert als der Deutsche Vereins-Hundekuchen. Kühl veröffentlichte dieses Schreiben, versah es mit gekränkten Anmerkungen, verbat sich jede Kritik und verwies nochmals stolz auf den guten Ruf seines „Deutschen“ Erzeugnisses. Auch 1888 enthielten seine Anzeigen teils den Hinweis: „Jedes Zeichen ‚Patent‘ ist eine Täuschung“ (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 192). Zu diesem Zeitpunkt hatte Spratt’s jedoch in Hannover bereit die faktische Kontrolle übernommen, im Mai 1889 wurde dies auch öffentlich exekutiert.

Eine genaue Bewertung dieses Zergens zwischen der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und Spratt’s Patent (Germany) Ltd. ist angesichts der höchst lückenhaften Quellenlage kaum möglich. Kühl ließ Souveränität vermissen, fühlte sich durch wirtschaftlichen Wettbewerb in seiner Ehre bedroht und reagierte ähnlich wie zehntausende Mitglieder der damals massiv an Bedeutung gewinnenden Mittelstandsbewegung, etwa des von Hermann Schulze-Gifhorn geleiteten „Centralverbands deutscher Kaufleute und Gewerbetreibender“. Diese Mannen attackierten die kapitalistische Konkurrenz neuer Betriebsformen des Handels wie Konsumgenossenschaften, Filialbetriebe und Warenhäuser, forderten staatlichen Schutz durch Steuern und Verbote. Hetze und Verleumdung, Fehlinformationen und kruder Antisemitismus schienen ihnen berechtigt, um den Mittelstand gegen das Großkapital zu stützen, um die Grundfesten der Monarchie und des Deutschtums zu bewahren. Kühl war einer von vielen, die sich als Modernisierungsverlierer verstanden, obwohl sie in den folgenden Wachstumsphasen zu den Gewinnern gehören sollten.

Nachzutragen gilt jedoch, dass Kühls Patent-Rückfragen in veränderter Form auch vor Gericht ausgefochten wurden. Spratt’s hatte in Anzeigen seine Hundekuchen nämlich als „patentirte“ Produkte bezeichnet. Das mochte für Großbritannien zutreffen: James Spratt erhielt im November 1861 ein Patent für sein „Meat Fibrine Dog Cakes“, weitere Patente datierten von 1868 und 1881 (Maurice Baren, How Household Names Began, London 1997, 119; Spratt’s Dog Biscuits, The Chemist and Druggist 28, 1886, 299). Doch im Deutschen Reich galten diese nicht. Spratt’s wurde in einem über drei Instanzen geführten Prozess 1888 zu einer Geldstrafe wegen Vergehens gegen das deutsche Patentgesetz verurteilt und unterließ weitere Aussagen dieser Art (Berliner Tageblatt 1888, Nr. 282 v. 6. Juni, 5).

Die Übernahme und Fortführung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik durch Spratt’s

Am 27. Mai 1889 wurde die Deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl im Hannoveraner Handelsregister gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1889, Nr. 129 v. 1. Juni, 13). Sechs Tage zuvor war die „Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker“ eingetragen worden. Sie übernahm die Fabrik in Hannover, der Firmensitz aber lag nun in Berlin, im 1885 umgestalteten Alten Viehhof, am Stammsitz der Spratt’s Patent (Limited) Germany in der Usedomstraße 28 (Ebd. 1889, Nr. 123 v. 24. Mai, 11; Adreßbuch Berlin 1891, T. II, 504). Die vertraglichen Kautelen sind unklar, die in der Literatur genannte Kaufsumme von 100.000 Goldmark hochgradig unwahrscheinlich (Dannowski, 2002, 173). Trotz der veränderten Besitzverhältnisse gingen Produktion und Absatz der Deutschen Vereins-Hundekuchen in der Zweigniederlassung Hannover aber weiter.

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Markenkontinuität ohne Hersteller (Lippisches Volksblatt 1889, Nr. 118 v. 3. Oktober, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1891, Nr. 81 v. 5. April, 7)

Im lokalen Adreßbuch wurde 1890 in der Füsilierstraße 30 die Spratt‘s Patent Limited AG, London, der Kaufmann Stahlecker sowie – im Hinterhof – die Großhändler Wisser & Co. verzeichnet (Adreßbuch Hannover 1890, T. I, 160). Obwohl die Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker mit ihrem Inhaber im damaligen Geschäftsanzeiger vermerkt war, lebte der Inhaber weiterhin in Berlin. Vor Ort wohnte allerdings Wilhelm Stahlecker, Erwins Bruder (Adreßbuch Hannover 1890, T. I, 419, 689). Das blieb auch 1891 und 1892 so (Adreßbuch Hannover 1891, T. 1, 166, 441, 723; ebd. 1892, T. I, 175, 757), obwohl die Hannoveraner Firma 1892 bereits unter dem Namen von Robert Baelz firmierte.

Neuer Besitzer der Hannoverschen Fabrik war aber der schon mehrfach erwähnte Erwin Stahlecker. Er wurde am 6. September 1863 als Sohn des Mühlenbesitzers Wilhelm und Maria Stahlecker im württembergischen Bietigheim geboren und am 11. Oktober evangelisch getauft (Lutherische Kirchenbücher 1500-1985, Württemberg, Dekanat Besigheim, Pfarrei Bietigheim, Taufen 1823-1875, 1863, Bl. 14, Nr. 73). Wichtiger als die persönliche Herkunft war jedoch das familiäre Umfeld. Sein Onkel Wilhelm Heinrich Stahlecker (1837-1873) hatte 1862 die ebenfalls in Bietigheim geborene Marie Caroline Friedericke Baelz (1845-1886) geheiratet. Einer ihrer Brüder war Robert Baelz (1854-1912), der seit den späten 1870er Jahren zuerst Spratt’s Produkte in Kontinentaleuropa vertrieb und 1887 zum Direktor von Spratt’s Patent Ltd. in London ernannt wurde. Es ist anzunehmen, dass er ein wichtiger Fürsprecher seines Verwandten war, der am 15. Juni 1887 zum Generalbevollmächtigten von Spratt‘s Patent (Germany) Limited ernannt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1887, Nr. 138 v. v. 16. Juni, 9).

36_Westfaelisches Volksblatt_1890_04_12_Nr099_p8_Tierartikel_Pferdestriegel_Spratt_Erwin-Stahlecker

Innovation vor dem Ausscheiden (Westfälisches Volksblatt 1890, Nr. 99 v. 12. April, 8)

Stahlecker war innerhalb Spratt’s nicht nur Manager. 1891 erhielt er ein Patent für einen seit 1890 von Spratt’s vermarkteten Patent-Pferde-Striegel (Leipziger Tageblatt 1890, Nr. 293 v. 20. Oktober, 6757; Patentblatt 16, 1892, 220), verkörperte also den Übergang vom Futtermittel- zum Tierproduktehersteller. Stahlecker erhielt Patente in den USA, in Großbritannien und weiteren Staaten, in denen das neue Gerät seit 1890 erfolgreich vermarktet wurde (Official Gazette of the United States Patent Office 66, 1891, 78; Saddlery and Harness 1, 1891/92, 24).

Für die Deutsche Hundekuchen-Fabrik war Stahlecker nur eine Übergangsfigur. Er übertrug sie am 26. November an Robert Baelz (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 281 v. 28. November, 11). Formal erlosch die Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker am 1. Dezember 1891, die dann von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik Robert Baelz fortgesetzt wurde (Ebd., Nr. 287 v. 5. Dezember, 10; Hannoverscher Courier 1891, Nr. 17374 v. 5. Dezember, 6). Stahleckers Prokura wurde am 16. Januar 1892 gelöscht (Berliner Tageblatt 1892, Nr. 282 v. 20. Januar, 5).

Stahlecker arbeitete nach dem Ausscheiden bei der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und Spratt’s zuerst als Redakteur der Jagdzeitung „St. Hubertus“ (Der Sammler 63, 1894, Nr. 74, 8), ab 1894 als Redakteur und später, bis 1937, als Chefredakteur der heute noch erscheinenden Zeitschrift „Wild und Hund“ (Heiko Hornung, Die Chefredakteursbüchse, Wild und Hund 120, 2014, H. 20, 130-135, hier 132). Nach seinem Ausscheiden organisierte er mehrere von Spratt’s unterstützte Hundeausstellungen (Hannoverscher Courier 1893, Nr. 18411 v. 17. August, 6; Berliner Börsen-Zeitung 1896, Nr. 397 v. 28. August, 4). Ähnlich wie Johannes Kühl etablierte sich auch Stahlecker in der Großindustrie. Der “Redacteur Erwin Stahlecker“ gehörte 1898 zu den Gründern der in Berlin ansässigen R. Stock’schen Kabelwerke AG (Berliner Börsen-Zeitung 1898, Nr. 600 v. 23. Dezember, 30). Er heiratete am 27. März 1902 in Berlin schließlich die 32-jährige Werkmeistertochter Anna Pauline Friederike Leese (Landesarchiv Berlin, Heiratsregister 1874-1936, Berlin V A, 1902, Nr. 202).

37_Neue Augsburger Zeitung_1889_06_16_Nr139_p11_Velberter Zeitung_1890_01_23_Nr010_p3_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Kontinuität und Ausweitung des Vertriebsnetzes (Neue Augsburger Zeitung 1889, Nr. 139 v. 16. Juni, 11 (l.); Velberter Zeitung 1890, Nr. 10 v. 23. Januar, 3)

Nach dem Verkauf ging das Geschäft mit Deutschen Vereins-Hundekuchen erst einmal weiter – auch wenn unklar ist, ob entsprechend vermarktete Produkte bereits auch in Berlin hergestellt wurden. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik weitete währenddessen ihr Vertriebsnetz aus. Die Hundeausstellung etwa in Frankfurt a.M. 1891 wurde besucht, ein Preis gewonnen (Allgemeine Sport-Zeitung 12, 1891, 0868). Der Firmenverkauf an Stahleckers Förderer und Verwandten Robert Baelz erfolgte 1891 eher unbemerkt. Das operative Geschäft übernahm Anfang 1892 Arthur Metzdorf, der zuvor schon zum Generalbevollmächtigten von Spratt’s ernannt worden war. Er sollte in den folgenden Jahrzehnten die prägende Kraft in der Firma werden (Deutscher Reichsanzeiger 1892, Nr. 17 v. 20. Januar, 9; ebd., Nr. 34 v. 8. Februar, 14).

Die Abwicklung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in Hannover

Die Übernahme der Deutschen Hundekuchen-Fabrik durch Robert Baelz läutete das Ende des Produktionsstandortes Hannover ein. Die Produktion der Deutschen Vereins-Hundekuchen wurde dort anfangs weitergeführt, 1894/95 jedoch in die neue Spratt’s-Fabrik in Berlin-Rummelsburg verlagert. Parallel harmonisierte man die Absatzwege beider Hundekuchenmarken (Augsburger Abendzeitung 1892, Nr. 64 v. 4. März, 13). Die damalige Werbung spielte zwar weiterhin mit den Kühlschen Vorlagen, doch die Standorthierarchie war eindeutig: „Alle Bestellungen nach Berlin erbeten.“

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Kontinuität der Kühlschen Werbung unter Sprattschem Vorzeichen (Deutsche Jäger-Zeitung 22, 1893-94, Nr. 1, Anhang, VI)

Der Kauf der Deutschen Vereins-Hundekuchen-Fabrik durch Robert Baelz gibt zugleich Einblicke in die Chancen von Einwanderungsunternehmern im Zeichen der „Pax Britannica“. Baelz wurde am 20. Oktober 1854 in Bietigheim geboren. 1879 heiratete er Maria Finckh (1854-1937), mit der zwei Kinder hatte. 1881 wanderten sie nach Großbritannien aus, wo Robert Baelz 1883 britischer Staatsbürger wurde. Im Rahmen der Ende der 1870er Jahre gegründeten Handelsfirma Hemans & Baelz hatte er den Absatz von Spratt’s-Produkten in Kontinentaleuropa organisiert, ehe er 1887 Direktor in der Londoner Zentrale wurde (Daily News 1887, Nr. 12751 v. 21. Februar, 2). Der Einwanderer stand für die 1884/85 erfolgten Direktinvestitionen in den USA, Russland und dem Deutschen Reich, wo allesamt leistungsfähige Produktionsstätten erreichtet wurden. Respektvoll hieß es: “He was a man of great experience and an English merchant, and possessed a very great tact and ability. He possessed a very great insight into the business” (Spratts Patent, Limited, Railway News 1887, Nr. 1209 v. 5. März, suppl., 415-416, hier 415).

Baelz war Teil einer kosmopolitischen Elite, sein Bruder Erwin (1849-1913) baute Brücken zur japanischen Medizin. Er selbst wurde einer der führenden Repräsentanten der deutschen Kolonie in London, der als „Vater der Schwaben“ (Neues Tagblatt 1908, Nr. 47 v. 26. Februar, 9) zugleich Heimatverbundenheit und Weltoffenheit verkörperte. Auch nach seinem Eintritt bei Spratt’s unterstützte er mit seiner Handelsfirma Robert Baelz & Co. die Exporterfolge der deutschen Industrie in Großbritannien, etwa des Stuttgarter Produzenten von Malzprodukten und Säuglingsernährung Eduard Loeflund (1835-1920). 1893 wurde er Direktor Co-Direktor der britischen Dependance der Stollwerckschen Verkaufsautomaten (Liverpool Journal of Commerce 1893, Nr. 9764 v. 13. Februar, 4; Gabriele Oepen-Domschky, Kölner Wirtschaftsbürger im deutschen Kaiserreich, Köln 2003, 125, 130, 247). Baelz blieb auch in der Ferne eng mit Deutschland verbunden, war langjähriger Vorsitzende des deutschen Liederkranzes in London (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1904, Nr. 299 v. 21. Dezember, 6). Kaum ein Fest der Auslandsdeutschen, auf dem er nicht den doppelten Wilhelm II. (den Kaiser und den König von Württemberg) hochleben ließ, ebenso aber Bismarck, Wilhelm I. und deutsche Künstler und Wissenschaftler. Kaum ein Empfang deutscher Monarchen, Politiker und Unternehmer, bei dem nicht auch Robert Baelz anwesend war. Er wurde 1906 Präsident von Spratt’s Patent Ltd. und starb 1912 in Stuttgart (Morning Leader 1906, Ausg. v. 9. April, 2; Schwäbischer Merkur 1912, Nr. 78 v. 16. Februar, 15). Er hinterließ ein Vermögen von fast 40.000 £, war also vielfacher Multimillionär. Seine Witwe kehrte nach Stuttgart zurück, wo sie stetig für patriotische Zwecke spendete. Dies alles zu wissen hilft die antienglische Spratt’s-Hetze des Hundekuchenherstellers Albert Latz (1855-1923) zu Kriegsbeginn einzuordnen (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1914, Nr. 8755 v. 11. September, 5), bis hin zu Enteignung der britischen Kapitaleigner und die Überführung der Firma in den Scheidemandel-Konzern 1917: Deutsche Treue…

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Übernahme der Produktion der Vereins-Hundekuchen: Die 1894 erbaute Fabrik von Spratt’s Patent (Germany) Ltd. in Berlin-Rummelsburg (Bayerische Forst- und Jagd-Zeitung 2, 1895, Nr. 9, 7)

Das lange Ende des Deutschen Vereins-Hundekuchens

Robert Baelz verlegte im Januar 1895 seine Deutsche Hundekuchenfabrik von Berlin nach dem damals noch eigenständigen Rummelsburg, der deutschen Spratt’s-Zentrale (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 27 v. 30. Januar, 12). Die Firma blieb weiterhin bestehen, das Hannoveraner Adreßbuch verzeichnete in der Füsilierstraße 30 Spratt’s und die Deutsche Hundekuchenfabrik Robert Baelz Seit an Seit (Adreßbuch 1895, T. 1, 196; ebd. 1897, T. I, 212; ebd. 1899, T. I, 223; ebd. 1901, T. I, 231). Es ist unwahrscheinlich, dass vor Ort aber 1895 weiter Hundekuchen hergestellt wurden. Stattdessen dienten die Liegenschaften seither wohl als „Versandlager“ (Ebd. 1904, T. I, 690) sowohl des Deutschen Vereins-Hundekuchens als auch der Sprattschen Produkte. Federführend hierfür war die Großhandlung Wisser & Co. Seit 1905 residierten alle nach der Neuvergabe der Straßennummern am gleichen Standort unter der Adresse Füsilierstraße 16 (Ebd. 1905, T. I, 223).

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Deutsche Vereins-Hundekuchen wurden weiter produziert und vertrieben, jedoch kaum noch beworben. Allerdings fehlte spätestens ab der Jahrhundertwende das Adjektiv „Deutsch“. Es ist anzunehmen, dass vornehmlich an Vertragskunden geliefert wurde, denn hier galt der Markenname noch etwas. Die Deutsche Hundekuchenfabrik Robert Baelz behielt ihren Namen auch nach dem Tode ihres Eigentümers 1912. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Firma selbst von der 1901 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Spratt’s Patent A.-G. übernommen wurde. 1921 tauchte der „Vereins-Hundekuchen“ jedenfalls als „Spratt’s Ersatz“ nochmals auf, jedoch nur in einer der Not geschuldeten Billigvariante aus Gramineenmehl, Hafermehl, Mastfuttermehl und kohlsaurem Kalk. Auch ein „Vereinsgeflügel- und Kükenfutter (Spratt’s Ersatz)“ wurde vom damals zuständigen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft genehmigt (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 53 v. 4. März, 1). Im November 1921 wurde die Genehmigung wieder aufgehoben, denn die Rohstoffversorgung hatte sich verbessert, so dass nun auch wieder weizenhaltige Hundekuchen produziert werden konnten, deren Herstellung zum 1. Januar 1915 eingestellt werden musste (Ebd. 1921, Nr. 269 v. 17. November, 1).

Es ist wahrscheinlich, dass Vereins-Hundekuchen anschließend nicht mehr produziert wurden. Im Mai 1928 wurde jedenfalls die Löschung der Deutschen Hundekuchenfabrik Robert Baelz aufgrund von Vermögenslosigkeit und Untätigkeit amtlich angekündigt und am 17. Oktober 1928 vollzogen (Ebd. 1928, Nr. 125 v. 31. Mai, 18; ebd., Nr. 251 v. 26. Oktober, 7). Am 8. März 1929 hieß es schließlich auch offiziell: „Die Firma ist erloschen“ (Ebd. 1929, Nr. 62 v. 14. März, 14; Hannoverscher Kurier 1929, Nr. 117 v. 10. März, 28). Am alten Fabrikationsort arbeitete „A. Wisser & Co., Spratts-Hundekuchen u. Geflügelfutter“ weiter (Adreßbuch Hannover 1927/28, 526).

Damit endete diese kleine deutsch-britische Unternehmens- und Beziehungsgeschichte. Die Deutschen Hundekuchenfabriken und der Deutsche Vereins-Hundekuchen zeugen von Wettbewerb, von Rivalität, von nationalistischem Übereifer, von Rache. Am früheren Firmensitz findet man heute keine Überbleibsel, ganz normal. Das Grundstück wurde 1956 neu bebaut. Die Liegenschaften vor Ort gingen wohl bei den verheerenden britischen Luftangriffen im September 1943 in Schutt und Asche auf.

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Keine Überbleibsel – 1956 erbautes Haus in Hannovers Bronsartstraße 30 – wohl ehedem Füsilierstraße 30 resp. 16 (Uwe Spiekermann, 26. Dezember 2020)

Uwe Spiekermann, 9. Dezember 2023

Kinder und Süßwaren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Seit Januar 2023 kämpft der grüne Ernährungsminister Cem Özdemir publikumswirksam gegen die Dickmacher der Industrie. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, soll die an Kinder gerichtete Werbung für zu süße, zu fette und zu salzige Waren eingeschränkt werden, da sie zu einem ungesunden Lebens- und Ernährungsstil verführt. [1] Im Februar folgte ein Gesetzentwurf, der mittlerweile völlig verwässert ist – und als solcher wohl irgendwann vom Bundestag verabschiedet werden wird. [2] Derartige Werbeeinschränkungen für Süßwaren & Co. stehen in einer weit zurückreichenden Tradition von Jugendschutz und Kindererziehung. Schon Özdemirs Vorgänger haben sich an ähnlichen Schutzmaßnahmen versucht, sind gescheitert, mussten Kompromisse eingehen. [3] Und weit länger zurück reichen staatliche und insbesondere familiäre Debatten über das Schickliche, Gebotene und Erforderliche im Umgang der Kinder und Jugendlichen mit den süßen Verlockungen, mit den nicht immer klaren Erfordernissen einer gesunden Ernährung.

Für einen Historiker klingen diese stets engagiert geführten Debatten altvertraut: Schon Johann Peter Frank, Fackelträger der „medizinischen Polizei“ und der Sozialhygiene, fragte vor mehr als zwei Jahrhunderten: „Wäre es nicht besser den Verkauf solcher Naschwaaren besonders durch Fremde, gänzlich zu untersagen, und das ungesunde Zeug, wenn es von jemanden feil getragen würde, wegzunehmen?“ [4] Selbstverständlich, war die wohlmeinende Antwort – und das zu einer Zeit, in der das „Süße“ eine seltene Ausnahme war: Zucker war damals ein adeliges und bürgerliches Privileg, Honig ein aufwändiges und teures Hilfsmittel für die Bürger- und die Bauernfrau, für den Lebzelter. Um 1800 wurde hierzulande pro Kopf jährlich ein Kilogramm Zucker verzehrt, ein Wert, der sich in den folgenden fünfzig Jahren verdoppeln und bis 1913 verzwanzigfachen sollte. [5] Die Debatte über den rechten Umgang der Kinder (und der Erwachsenen) mit der durch die heimische Rübenzuckerindustrie kaum beworbenen und (in Preußen) von 1841 bis 1993 vernehmlich besteuerten Süße nahm daher schon im 19. Jahrhundert breiten Raum ein. Doch erst mit der Entwicklung sowohl einer modernen Ernährungswissenschaft, der Reformpädagogik als auch der Verbreiterung der Süßwarenangebote entstand im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Konsumwelt, deren Konturen denen unserer Gegenwart entsprechen.

Süßwaren werden hierzulande von 60.000 Industriebeschäftigten produziert, das Inlandsangebot betrug 2022 2,64 Mio. Tonnen. [6] Handwerkliche Produkte kommen hinzu. Die Produzenten verstehen ihr Angebot als Ausdruck der Wünsche der Käufer. Sie verweisen auf eine Produktpalette mit zahlreichen zucker-, fett- oder salzreduzierten Angeboten. Süßwaren gäbe es mit Eiweiß und Ballaststoffen angereichert, gluten- oder laktosefrei, auch als vegetarische und vegane Optionen. [7] Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche, könnten demnach selbstbestimmt wählen. Werbeverbote würden nicht nur keinen Beitrag zu einer gesunden Ernährung leisten und Arbeitsplätze gefährden, sondern letztlich Informationen über die breite Palette „guter“ Süßwaren unterdrücken.

Die folgenden Ausführungen werden sich nicht in das Getümmel ritualisierter Gegenwartsdebatten begeben. Sie werden sich stattdessen mit deren historischen Wurzeln beschäftigen. Das ist wichtig, denn in modernen, stets auf „Zukunft“, auf die „Verbesserung“ gerichteten Gesellschaften gelten Herkunft und Entwicklungspfade wenig. Sie gilt es gemeinhin zu brechen, zu nutzen oder zu bewahren – nicht aber in ihrer Bedeutung zu reflektieren.

Das Erbe des langen 19. Jahrhunderts: Kinderernährung und Naschwaren

Kinder galten teils bis ins 20. Jahrhundert hinein als kleine, unfertige Erwachsene. Die „Kindheit“ war ein möglichst rasch zu überwindendes Zwischenstadium, voller Launen und Irrungen. Eltern hatten die Aufgabe, ihre Kinder auf diesem Weg anzuleiten, sie mit Grundfertigkeiten auszustatten, sie arbeitsam und fleißig, fromm und sparsam zu machen, sie zugleich einzubinden in die bäuerliche Ökonomie und die Alltagszwänge einer Subsistenzwirtschaft. Kindheit setzt ein gewisses Wohlstandsniveau voraus, Zeit und materielle Mittel für einen Freiraum kindlichen Daseins abseits der Fron des Alltags. Dies war eng verwoben mit bürgerlicher Existenz – einem auf Produktion und Dienstleistungen basierenden Daseins – und aufklärerischem Gedankengut, das erst die Selbstständigkeit des Individuums propagierte, dann auch Sonderrechte der Frauen, der Kinder, später auch der Jugendlichen beschwor. [8] Ebenso wie Kindheit und Jugend historische Konstrukte sind, ist dies auch die Vorstellung einer engen, quasi anthropologisch determinierten Beziehung zwischen Kindern und Süßwaren.

Naschen oder der Umgang mit Gelüsten im familiären Umfeld

Naschen materialisierte zu Beginn der Neuzeit negative Selbständigkeit, unangemessenes Begehren. „Naschen war ein höchst ambivalentes Tun, ein Gradmesser der Tugend, ein Ausdruck von Erziehung und Charakter. Naschen war nah der Abirrung, der Vertierung des Menschen und der Sünde.“ [9] Es war keineswegs typisch für Kinder oder aber Frauen, sondern spiegelte auch unbürgerliches Erwachsensein, mangelnden (männlichen) Ernst und Leichtsinn im Umgang mit Besitz, mit der Ehre der Frauen. Umso wichtiger war aber die Erziehung im jungen, vermeintlich gut formbaren Kindesalter. Vor dem Hintergrund einer recht eintönigen Alltagskost waren Leckereien, falls verfügbar, von Beginn an umkämpft, nicht nur Zuckerwerk, sondern auch breiter verstandenes Naschwerk, etwa Obst oder Speisereste. Naschen bedeutete einen Übergriff, war Abkehr von Ideal der Ehrlichkeit: „Dem Naschen reicht brüderlich die Hand das Stehlen; in reiferem Alter eines trägen Menschen gesellt sich dazu Raub und Mord. Daher sei alles Naschen strenge untersagt, und bei öfterer Wiederholung mit unnachsichtlicher Strenge bestraft. Was die Eltern dem Kinde geben, soll es mit Dank annehmen; alles Uebrige betrachte es als ein unantastbares Heiligthum.“ [10]

Der Kampf gegen das Naschen war zudem immer ein Kampf um die Hierarchie innerhalb der Familie, um die Ordnung an der bürgerlichen Tafel. Naschen zerstörte den geregelten Ablauf der familiären Mahlzeiten: Das naschende Kind „Aufblät beym Tische sitzt, fast nichts mehr essen kann, / Glaub’s gerne, weil’s schon eh den Bauch gefüllet an.“ [11] Kinder sollten geregelt essen, geregelt wachsen, nicht außer der Zeit: „Daher lasse man sie reichlich essen, wenn es Zeit ist und sie Hunger haben, aber man wehre dem Naschen!“ [12] Das war Elternpflicht, Ausdruck von Sorge um das rechte Gedeihen.

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Das Naschen der Kleinen – gutbürgerlich und zunehmend geduldet (Das Buch für Alle 23, 1888, 108)

Neben Ehrlichkeit und Ordnung trat seit der Biedermeierzeit immer stärker auch die Erziehung zur Sparsamkeit, zur innengeleiteten Moderation. Kindern wurde zwar zunehmend zugestanden, einer „Naschpassion“ [13] frönen zu dürfen, doch gerade in einem Umfeld langsam wachsenden Wohlstandes schien es wichtig, recht zu haushalten, nur selten über die Stränge zu schlagen. Triebunterdrückung sei wichtig, denn stetes Naschen sei sowohl Raubbau am Körper als auch Verschwendung von materiellem Kapital. Recht eingesetzt könne es aber auch eine Investition sein, etwa bei verschenkten Süßwaren oder zur Repräsentation der gesellschaftlichen Stellung der Zöglinge.

Die Pädagogik hielt an diesen Idealen fest, obwohl sie um die soziale Bedeutung kleiner süßer Geschenke wusste, zumal für Freundschaft und Verwandtschaft. Kinder sollten solche Gaben abgeben, die Mutter sie ihnen dann geregelt, nach der verzehrten Mahlzeit, zubilligen. [14] Triebe seien zu lenken, ansonsten drohe Entartung und Verweichlichung. [15] Die süßen Gelüste der Kinder wurden durchaus ernstgenommen, aber zugleich als Erziehungsmittel genutzt. Es ging im frühen 20. Jahrhundert nicht mehr um die einseitige und strikte Verdammung vermeintlicher Sünden, sondern um einen vernünftigen, standes- und altersgemäßen Umgang mit dem Süßen.

Säuglings- und Kinderernährung als naturwissenschaftliche Intervention

Die sich wandelnden, in ihren Rahmensetzungen aber doch recht konstanten Erziehungsideale bezogen sich stets auf die Autorität der Wissenschaft. Das betraf anfangs die Humoralpathologie antiker Tradition mit ihren Vorstellungen von Säftefluss, innerer Balance, klar zu charakterisierenden Nahrungsmitteln. Zu viel Süßes war ein Faktor innerhalb einer breiteren diätetischen Gemengelage: Übermaß veränderte das Gemüt, bewirkte Unpässlichkeiten, dann Krankheiten. Die sich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts langsam entwickelnde organische Chemie und Physiologie verengte den Blick auf die nun stofflich definierte Nahrung, auf die im Zucker vorhandenen Kohlenhydrate, auf deren Stellung im Stoffwechsel von Mensch und Kind. Süßwaren wurden dadurch von überbordenden Moralisierungen befreit, galten als wichtiger Betriebsstoff der menschlichen Körpermaschine. Sie waren notwendig, zugleich aber eher zweitklassig, denn Eiweiß schien damals der eigentliche Baustoff der Muskelbildung und des Wachstums zu sein.

Ähnlich wie viele Pädagogen zielten die frühen Ernährungswissenschaftler auf die Ordnung des Lebens, stärker noch auf die des Überlebens. Kindersterblichkeit war damals alltäglich, stieg seit den 1820er Jahren stetig an, erreichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedrückende Höhen: Jedes fünfte Kind verstarb vor seinem ersten Geburtstag, Interventionen waren daher unabdingbar – zum Schutz der Säuglinge, zur Erziehung der Eltern, zumal der Mutter. Kinder besaßen offenbar eine andere Physiologie als Erwachsene, zugleich aber war ihr Nahrungsbedarf einfacher, entsprach den biologischen Zielen von Wachstum und Kraftbildung, folgte noch nicht individuellen Vorlieben. Tier- und Kinderernährung schienen unmittelbar vergleichbar. [16]

Richtige Säuglings- und Kinderernährung konnte – so das Versprechen vieler Wissenschaftler – Aufzucht und Nährerfolg garantieren. Die markant unterschiedlichen Sterblichkeitsziffern von gestillten und ungestillten Kindern unterstrichen zugleich, dass das Stillen, die „natürliche“ Ernährung mit Muttermilch, der beste Garant für das Überleben war. Gestillt wurden damals nur zwei Drittel bis drei Viertel aller Säuglinge. Kuhmilch war die gängige Alternative, doch die sich damals rasch entwickelnde Bakteriologie wies nach, dass deren Gärung für den „Sommergipfel“ der Todesfälle mit verantwortlich war. Die Folge war eine rasch wachsende Zahl von künstlichen, möglichst sterilen Nährpräparaten. Sie entsprachen dem Ideal der Muttermilch, bauten diese gleichsam nach. Milchpräparate stellten das Eiweiß in den Mittelpunkt, Mehlpräparate die Kohlenhydrate. Fast alle erfolgreichen Angebote aber nutzten Zucker, um einerseits der eingedickten milchigen Flüssigkeit Textur zu verleihen, um anderseits die pulverartigen Mehle geschmacklich zu verbessern.

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Nestlés Kindermehl – eine gesüßte Nährspeise (Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus 13, 1909/10, H. 1, 9)

In den 1890er Jahren waren diese Kindernährmittel alltäglich – die wachsende Stillpropaganda dieser Zeit war eine Reaktion auf den Erfolg einer neuen süßen Industrie. Sie standen für den hohen Gesundheitswert industriell gefertigter Kinderprodukte, für eine lebensrettende und zugleich relativ bequeme (wenngleich teure) Alltagshilfe. Sie prägten nicht nur den Geschmack vieler Säuglinge und Kleinkinder, sondern standen zugleich auch für den Gesundheitswert vieler anderer Süßwaren. Schokolade wurde im späten 19. Jahrhundert eben nicht nur als wohlschmeckendes Kräftigungs- und Nährmittel beworben, sondern galt auch als gesundes Functional Food. Entsprechend empfahlen Pädiater damals Kekse und Schokolade als Teil der Übergangskost – solange es nicht das regelmäßige Nährgeschäft unterminierte. [17] Anderseits begann seit der zunehmenden Akzeptanz der Millerschen Säuretheorie – Karies als Folge der Verstoffwechselung von Kohlenhydraten in der Mundhöhle – eine Bewegung gegen diese wachsende Wertschätzung von Zuckerwaren in der Kinderernährung. [18] Das Süße blieb also medizinisch ambivalent: „Iß nicht, was du nicht kennst, / Wenn’s noch so süße schmeckt, / Weil oft der bittre Tod / In süßen Dingen steckt.“ [19]

Verkaufsautomaten zwischen Verführung und Regulierung

Solche Warnungen kamen auch auf, weil Süßwaren zunehmend außerhäuslich verfügbar waren. Kolonialwarenhändler verkauften Zucker und Zuckerwerk, Konditoreien Backwerk und Speiseeis, Jahrmärkte und Rummelplätze lockten mit Bonbons, kandierten Früchten, Brausen und Schokostücken. Diese außerhäuslichen Räume kindlichen Süßwarenkonsums standen unter dem kontrollierenden Blick der Erwachsenen und der restriktiven Wirkung fehlender Geldmittel. Doch 1887 wurde ein neues Zeitalter des Süßwarenkonsums eingeläutet: In Düsseldorf hieß es erwartungsfroh: „Die rühmlichst bekannte Firma Stollwerck hat in der Stadt an mehreren Stellen Automaten aufstellen lassen, welche beim Einwurf von 10 Pfennigen ein Täfelchen Schokolade oder auch auf Wunsch eine Düte Bonbons von sich geben.“ [20] Verkaufsautomaten waren die wohl revolutionärste Innovation des Einzelhandels in der wilhelminischen Zeit: Der Händler wurde ersetzt durch einen Mechanismus, der Käufer nicht nach Alter, Geschlecht und Klasse taxierte, sondern der einzig durch eine Geldmünze in Bewegung gesetzt wurde. [21] Das schuf Freiräume für selbstbestimmten Konsum: „Die Häuser, an denen diese Reklamekasten angebracht sind, bilden eine Zugkraft für die Jugend“ [22]. Die Folgen waren beträchtlich, die Warnungen schrill: Die Automaten schienen offenkundig die Naschhaftigkeit der Kinder zu reizen, erlaubten Verschwendung auch bei Kindern armer Leute. [23] Rasch begann die Substitution der Geldmünze durch den Knopf, dann – nach verbesserter Sicherheitstechnik – durch speziell für diesen Zweck angefertigte Metallscheiben. Nachsucht und zunehmend auch das Zigarettenrauchen führten offenbar zu Kriminalität und Sittenverfall. Seit Anfang der 1890er Jahre gab es Verbotsgesuche nicht nur vieler Einzelhändler, sondern insbesondere von Pädagogen und Lehrern. [24] Verkaufsautomaten untergruben demnach die Erziehungsbemühungen von Eltern, Schule und Kirche, unterminierten die bürgerliche Ordnung: Die Süßwaren enthielten zunehmend beigepackte Sammelbilder, förderten Eskapismus und Unsittlichkeit: „Es ist unglaublich in welchen Mengen dieses Naschwerk verkauft wird. Die auf den Straßen aufgestellten Verkaufs-Automaten werden vor Beginn und nach Schluß der Schulen förmlich belagert.“ [25]

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Süße Angebote für einen Groschen: Angebot von Stollwerks Verkaufsautomaten (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2565, s.p.)

Ökonomisch waren die Verkaufsautomaten anfangs ein immenser Erfolg, schon 1891 erzielte Stollwerck, die mit Abstand größte Schokoladenfabrik des Deutschen Reiches, ein Fünftel ihres Umsatzes mit dem Naschwerk der Automaten. 1893 waren 15.000 Automaten aufgestellt, zumeist mit Schokolade, Bonbons oder Mandeln bestückt. [26] Doch Widerstände bremsten die Expansion, führten dann zum Zurückdrängen der neuen Verkaufsform. Am Anfang standen lokale Polizeimaßnahmen, Resultat der Intervention besorgter Bürger, häufig von Lehrern und Pfarrern. In Hamburg wurden die Verkaufsautomaten im August 1891 an den öffentlichen Straßen verboten, im November waren sie verschwunden. Zweitens gab es nationale Regulierungen. Die ab 1891 geltende begrenzte Sonntagsruhe war zwar sozialpolitisch begründet, doch Mittelstandsvertreter erreichten, dass Automaten als „offene Verkaufsstellen“ galten. Damit waren sie einerseits an die Ladenverkaufszeiten gekoppelt, parallel gab es eine Art Residenzpflicht. Durften die Automaten anfangs außerhalb von Läden und Gaststätten angebracht werden, so rückten sie nun vielfach zurück in überwachte Räume. Bahnhöfe eröffneten länger Zugangsmöglichkeiten, trotz Bahnsteigkarten und Bahnhofssperre. Dennoch hieß es noch vor dem Ersten Weltkrieg: „Die leichte Art, sich unbeaufsichtigt Genüsse verschiedener Art zu beschaffen, und der hierin liegende starke Anreiz, Geld für diese Genüsse in den Besitz zu bekommen und es rasch der Befriedigung kindlicher Wünsche zuzuführen, läßt Verkaufseinrichtungen der Großstädte, die für den Allgemeinbetrieb ganz einwandfrei sein mögen, für die Kinder bedenklich erscheinen.“ [27] Doch verboten wurden die Süßwaren-Automaten nicht, ermöglichten weiterhin einen allerdings regulierten Zugang zu Schleckereien und Naschwerk. Einzelne Bundesstaaten, etwa das Königreich Württemberg, schlossen sich den restriktiven Maßnahmen zudem nicht an, so dass der Zugang zur süßen Ware regional sehr unterschiedlich war. Das lag aber auch an der wenig aufgeschlossenen Haltung der Lebensmittelhändler. Insgesamt nahm der Automatenverkauf weiter zu: Briefmarken, Fahrkarten, Getränke und auch Bücher konnten zunehmend automatisch gekauft werden. Hinzu kamen die vielfach vehement bekämpften Glücksspielautomaten. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es reichsweit 35-40.000 Verkaufsautomaten. [28] Süßwaren bilden weiterhin deren wichtigste Ware.

Speiseeis zwischen Haus, Konditor und Straßenhändler

Die Verkaufsautomaten waren – so die Kritiker – nicht nur Vehikel der Verschwendung und des Betrugs, sondern schufen vor allem Räume unbeaufsichtigten kindlichen Süßwarenkonsums. Das war auch ein zentraler Vorwurf in den teils erbittert geführten Debatten über den Eisverkauf im Deutschen Reich. [29] Speiseeis war seit Ende des 18. Jahrhunderts eine adelige Repräsentationsspeise, die zunehmend auch im Bürgertum kredenzt wurde. [30] Anfangs lag die Herstellung in der Hand von Zuckerbäckern und Konditoren, doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts übernahmen diese Aufgabe vielfach auch Köchinnen und Hausfrauen. Kinder profitierten davon, denn Speiseeis wurde nun Teil häuslicher Festspeisen. Seit den 1880er Jahren wurden die zuvor üblichen Gefrierbüchsen durch manuell betriebene Eismaschinen ersetzt, die Zutaten Zucker, Kakao, Gewürze und Früchte gehobene Alltagswaren. Der dadurch wachsende Markt für „Gefrorenes“ wurde seither aber auch von Konditoren bedient, die Desserts, Eisbomben und auch kleiner Portionen Speiseeis herstellten und an bürgerliche Haushalte verkauften. Die Qualität war hoch, Sahne und Eier üblich.

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Alltagsfreude nicht nur für Kinder: Ambulanter Speiseeisverkäufer in Berlin (Berliner Leben 10, 1907, Nr. 3, 14)

Das galt nur bedingt für die mobilen Straßenhändler, die seit den 1860er Jahren in den größeren Städten selbstgemachtes Eis verkauften. Es waren anfangs Spanier und Osmanen, später dann zunehmend Italiener. Milcheis war bei ihnen selten, Fruchteis die Regel. Die gebackene Waffel übernahmen sie aus den Niederlanden, machten das Speiseeis so händig. Sie zogen ihre vielfach bunten, teils messingbewehrten Eiskarren mit lautem, einladenden Ruf auch in die Außenbezirke: „Wenn an heißen Sommertagen der Fruchteishändler mit seiner Karre erscheint […], so umringt ihn alsbald die genäschige Jugend, um die ersparten oder dem guten Mutterherzen abgebettelten Nickel schleunigst in Vanille- oder Erdbeereis anzulegen.“ [31] Zu dieser Zeit hatte der Kampf um den Kunden allerdings schon beträchtliche Qualitätseinbußen zur Folge. Bei den Straßenhändlern wurde vielfach nicht Rohware, sondern Essenzen und Fruchtsirup eingesetzt. Mehl diente als Verdickungsmittel, künstliche Färbung war vielfach üblich. Das war auch eine Folge der Qualitätsminderung des Konditoreneises, bei dem Zitronensäure die Zitrone ersetzte, Konservierungsmittel für Haltbarkeit sorgten. [32] Zeitgenossen klagten, dass „die Chemie über die Natur den Sieg davongetragen hat“ [33]. Gekauft wurde dennoch.

Die Gegenreaktion ließ nicht auch sich warten. Verschwendung und öffentliche Zusammenrottungen wurden beklagt, doch die Qualitätsminderung und offenkundige hygienische Gefährdungen führten den Jugendschutz zu neuen Höhen. Speiseeis war immer wieder Bakterienhort, die niedrigen Temperaturen gefährdeten Zähne und die zarten Magenschleimhäute der Kinder. [34] Die Kontrollen wurden intensiviert, vor Ort Polizeiverordnungen erlassen, die den Verkauf der Süßwaren beschränkten. [35] Zum einen durfte Speiseeis an vielen Orten nicht an Kinder unter 14 Jahren verkauft werden, zum anderen gab es Sperrzonen um Schulen. Zudem ermahnten Experten die Eltern an ihre Aufsichts- und Sorgepflicht. [36] Dass man dabei auch die vermeintlichen Verführungskünste der südländischen Verkäufer im Sinn hatte, war offenkundig. [37]

Die Debatten über das Naschen, die Säuglingsernährung, die Verkaufsautomaten und den Speiseeisverzehr belegen die wachsende Bedeutung von Süßwaren für Kinder in der Vorkriegszeit. Sie trafen auf vermehrten Widerstand vor allem bürgerlicher Respektspersonen, die über die wachsende Libertinage der Jugend zunehmend besorgt waren – und das mit durchaus nachvollziehbaren Gründen. Unter dem Banner des Jugendschutzes wurden manche öffentlichen Freiräume beschränkt, zugleich vermehrt an die familiäre Sorgepflicht appelliert. Gleichwohl waren Süßwaren schon vor dem Ersten Weltkrieg für viele Kinder grundsätzlich erlaubt, ja gängig; allerdings noch eingebunden in feste Rituale, im häuslichen Rahmen und an klar definierten Orten.

Langsame Marktbildung: Kinder in der Werbung vor dem Ersten Weltkrieg

Kinder waren schon um die Jahrhundertwende eine wichtige Zielgruppe der seit den 1890er Jahren zunehmend intensivierten Werbung für Konsumgüter, nicht nur der einschlägigen Spielwaren. Zugleich etablierten sich neue Märkte für Kinderwaren. In Berlin gab es seit spätestens den 1880er Jahren Spezialgeschäfte für Kinderkleidung. [38] Spezialfabriken hatten ab den 1890er Jahren größeren Erfolg, so etwa der 1889 gegründete Stuttgarter Strickwarenhersteller Wilhelm Beyle, dessen Matrosenanzüge die Flottenaufrüstung spiegelten. Um die Jahrhundertwende besaßen die größeren Kauf- und Warenhäuser große Spezialabteilungen für Kinder. Die Kleinen dürften beim Kauf Mitspracherechte gehabt haben, doch die Entscheidung traf zumeist die Mutter. Konfektionswaren verdrängten langsam die Hausschneiderei, die durch die vielen Mode- und Frauenzeitungen beigelegten Schnittbögen und die weite Verbreitung von Nähmaschinen in mittleren und auch Arbeiterhaushalten jedoch erfolgreich gestützt wurde. Andere unmittelbar auf Kinderbedarf ausgerichtete Angebote, etwa beim Schul- und Schreibbedarf, nahmen Kinder vor dem Ersten Weltkrieg kaum in den Blick. [39] Hier trafen die Schulen und die Lehrer eine Vorauswahl, während die Eltern nur ergänzten.

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Kinder als Kunden: Auszug aus dem Sortiment des Versandgeschäftes Mey & Edlich (Über Land und Meer 86, 1901, Nr. 30, s.p.)

Kinder wurden vor dem Ersten Weltkrieg zwar immer stärker in das Marketing großer Anbieter und Händler integriert, doch als Kunden wurden sie noch nicht wirklich ernst genommen. Den Kleinen fehlte schlicht die Kaufkraft. Dennoch findet man Kinder als Werbeelemente: Teils als Appell an die sorgende Mutter, so etwa bei der Kakao-Werbung von Bensdorp oder van Houten. Teils aber nur als Blickfang, etwa in der Zigaretten-, Likör- oder Seifenwerbung. Und teils schließlich als symbolisches Element für die Einfachheit neuer Geräte wie Photokameras oder dem selbsttätigen Waschmittel Persil. Die nicht sonderlich elaborierte Süßwarenwerbung – allein die Schokoladeproduzenten nutzten Plakate, Emailleschilder und Anzeigen mit Bildelementen – präsentierte ebenfalls Kinder. Doch sie waren nicht Käufer, sondern Blickfang, verkörperten die häusliche Szenerie eines familiären Konsums. [40]

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Das Kind als Blickfang, nicht als Käufer der Schokolade (Lustige Blätter 25, 1910, Nr. 40, 19)

Die kommerzielle Ansprache der Kinder erfolgte vor dem Ersten Weltkrieg meist direkt. Kindgerechte Feste, Kasperletheater oder kleine Geschenke wie Ballons und illustrierte Broschüren wurden zumeist von Einzelhändlern veranstaltet und ausgegeben, um die Eltern selbst für die Angebote zu interessieren, um sie Hand in Hand mit ihren Zöglingen in ihre Geschäfte zu locken. Für die Kinder waren sie Erlebnisorte – und daran konnte man später anknüpfen, wenn Kaufkraft vorhanden war. Großen Widerhall bei Kindern gewannen Sammelbilder, die Stollwerck bereits seinen Automaten-Schokoladen beigelegt hatte, um so die Sammelleidenschaft anzufachen und den Kauf zu verstetigen. Diesem Beispiel folgten jedoch nur wenige Süßwarenanbieter, sie wurden eher zu einer Spezialität der Speisefett- und Margarineindustrie. Drängende Kinder sollten ihre Eltern zum Kauf bewegen, konnten teils auch selbst Einfluss nehmen, falls es sich um Einkäufe im Auftrag der Mutter handelte. Diese Praxis stieß aber auf teils erbitterten Widerstand insbesondere protestantischer Kreise, da derartige Sammelbilder nicht nur Einblicke in die weite Welt boten und die Phantasie anregten, sondern die Kinder aus dem engen Horizont einer behüteten Lebenswelt hinausführten. [41]

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Erweiterung der Kinderinteressen: Sammelmarken als Kinderplaisir (Lustige Blätter 29, 1914, Nr. 3, 18)

Weltkriegsentbehrungen und Nachkriegswirren

Neue Wertigkeiten: Süßwaren als Alltagssehnsucht und Nährmittel

Diese behütete Welt war eine Imagination, ein Kindheitstraum. Der Weltkrieg machte dies brachial deutlich: „Das zwanzigste Jahrhundert hat man ‚das Jahrhundert des Kindes‘ genannt. […] Da ging der Krieg durch das Land und grinste höhnisch. ‚Das Jahrhundert des Kindes‘ starb als eines der ersten Kriegstoten. ‚Das Jahrhundert des Hungers‘ erstand an seiner Stelle. Wohl darbten die Mütter und litten, um ihren Kindern die Entbehrungen zu ersparen. Aber die Not wuchs schnell und riesenschneller. Die Mütter fanden bald nichts mehr, daß sie sich abdarben konnten. Der Hunger griff mit gierigen Klauen auch nach den roten Kindermündern. […] Eier und Fett, Fleisch und Obst wurden Märchen, Süßigkeiten ein Weihnachtstraum.“ [42]

Das klang anfangs anders, nicht nur weil die Illusion verfing, dass Krieg und Sieg verbunden sein würden. Sparsamkeit war zu Beginn eine patriotische Tugend. Kuchen, Schokolade und Süßigkeiten mutierten zu Liebesgaben an die Soldaten – und zeitweilig verzichteten junge Mädchen bewusst für andere. [43] Welsche Pralinés mutierten zu deutschen Pralinen. Kritiker des Naschens begrüßten das langsame Verschwinden der Zuckerwaren als Rückkehr zur geordneten Ernährung. [44] Zahnärzte feierten das knappe Ernährungsregime anfangs als Gesundbrunnen, denn ohne Schleckereien würden die Kinderzähne kräftig bleiben. [45] Aus kindlicher Perspektive war dies anders, denn das seit 1916 offenkundige Verschwinden der als unzeitgemäßer Luxus denunzierten Süßwaren war eine Abkehr von einer vertrauten guten Welt: „Ich habe heute vor einem Schokoladen-Geschäft gestanden. Ich habe Süßigkeiten eigentlich nie sehr gemocht – nur ein wenig. Jetzt aber habe ich kaum von dem Fenster weggekonnt. […] Ich habe mich schließlich losgerissen. Ich muß ja sparen.“ [46]

Süßwaren gewannen just in der Mangelzeit an symbolischer Bedeutung. Sie verkörperten Frieden. Und sie waren begehrt, eine wichtige Ware des Schleich- und Tauschhandels. Die „Sehnsucht nach süßem Zeug“ [47] stieg, während die Kinder massiv abmagerten und am Ende des Krieges zwei bis vier Zentimeter kleiner waren als ihre Altersgenossen der Vorkriegszeit. Süßwaren erinnerten aber nicht allein an eine vermeintlich heile Vergangenheit. Sie waren kalorienreich, voller Nährwert: „Heute sucht das Auge sehnsuchtsvoll in den Schaufenstern der Konditorläden und Delikatessenhandlungen irgendwelche ‚kompakte‘ Näschereien, die – den Magen verlegen sollen. Und zwar gründlich, daß aller Hunger vergehe. […] Die Leute ‚naschen‘, weil sie hungern. Naschwerk ist Nährmittelersatz geworden.“ [48] In Zeiten existenzieller Knappheit waren Süßwaren zugleich Marker der sozialen und wirtschaftlichen Hierarchien, teils neuer, durch Hamstern, Schleichhandel und Wucher geprägter: Nur „Kriegsgewinnerkinder oder die Sprößlinge der Reichen sind so glücklich, als Naschwerk diese so nahrhaften Zuckerwaren genießen zu dürfen. […] Die Zuckerwaren sind Luxus geworden, weil betriebsame Erzeuger und Händler es verstanden haben, den ihnen zur Verfügung stehenden Zucker so zu verschwenden, daß Luxusartikel aus den hergestellten Produkten wurden, deren Erzeugung sich natürlich nicht höher stellt, als wenn weniger luxuriös aussehende Zuckerwaren daraus gemacht worden wären. Die Zuckerwarenerzeuger verdienen 200 bis 300 Prozent an den Erzeugnissen. Und auch die Händler erzielen hohe Gewinne. Der Zucker aber (natürlich im Schleichhandel erworben und so dem allgemeinen Konsum entzogen) wird verschwenderischen Zwecken zugeführt, anstatt daß er den armen, unterernährten Kindern zugute kommt, die, abgesehen von dem Nährwert der Zuckerwaren, sich nach den lange, lange entbehrten Näschereien sehen.“ [49]

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Zucker als nährender Bestandteil der Rationen der Quäker-Speisung 1922 (Amerikanische Kinderhilfsmission der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker). Bericht 10. – 31. Juli 1922, Berlin 1922, 9)

Die monarchische Ordnung stürzte, doch auch die neu errungene republikanische konnte die Alltagsversorgung kaum sicherstellen. Internationale Hilfswerke leisteten Liebeswerke, dämmten ab 1919 den Hunger mit Kinderspeisungen ein. Das wichtigste, das der amerikanischen Quäker, verabreichte bis 1922 290 Millionen warme Mahlzeiten, bis 1925 waren es 700 Millionen. Sie alle enthielten warmen Kakao, mit Zucker gesüßt. Die Bedürfnisse der Kleinen gingen über Kalorien hinaus.

Süßwaren in einer aus den Fugen geratenen Welt

Die neue Wertigkeit der Süßwaren führte zu Debatten, die uns heute fremd vorkommen mögen, doch zugleich unterstreichen, dass Konsumgüter nur dann angemessen verstanden werden können, wenn sie historisch konkret in das jeweilige Hier und Jetzt eingebettet werden können. Das gilt etwa für die Anfang der 1920er Jahre grell aufwallende Debatte über Importe und ihre volkswirtschaftlichen Konsequenzen: „Nach wie vor strömen aber große Mengen überflüssiger Luxuswaren in das Land, englische Zigaretten, ausländische Schokolade, Süßigkeiten u.a. und finden in allen Kreisen des Volkes Käufer. Solche Käufe sind Torheit, denn sie verschlechtern fortgesetzt den Geldbestand, vergeuden unsere schwindende Kaufkraft und entziehen sie dem Einkauf von Lebensmitteln, Bekleidungsstoffen und anderem dringenden Bedarf.“ [50] Sparsamkeit und Selbstzucht wurden gefordert, die Vorteile globalen Güteraustausches ignoriert. Während der Weltwirtschaftskrise sollten diese Debatten wieder aufkommen und die Süßwarenindustrie hart treffen. Gravierender aber waren konkrete Beobachtungen vor Ort. Zucker war teuer und rationiert, Süßwaren dennoch zu hohen Preisen erhältlich: „In diesen Schaufenstern gibt es Marzipansachen, Bonbons, Drapees, Fondants, Pralines, überzuckerte Mandel- und Nußkern, Schokoladen in zwölf Sorten und Kecks [sic!]. Die Herstellung mancher dieser Süßigkeiten ist zwar verboten, aber wer kehrt sich daran? Niemand. Die Regierung erläßt zwar Verbote, ist aber zu schwach, denselben Geltung zu verschaffen und sieht deshalb dem Treiben mit verschränkten Armen zu. […] Zucker und Brot muß das Volk haben, denn auch das Entbehren hat seine Grenzen.“ [51]

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Jugend ohne Aufsicht (Simplicissimus 24, 1919/20, 691)

Vor diesem Hintergrund unterminierter Rechtsstaatlichkeit nahmen sich auch Kinder und Jugendliche ihren Teil – und dies mündete in eine breite Debatte über die Verwahrlosung und Krise der Jugend. Der Krieg hatte sie ohne Väter aufwachsen lassen, hatte die soziale Kontrolle der geordneten Vorkriegszeit erodiert. Nun aber mehrte sich die Zahl der Diebstähle, sei es direkt in den Läden oder Lagerhallen, sei es indirekt durch Diebstahl, Unterschlagung und Betrug. Kinder bestahlen ihre Eltern, um sich Süßwaren zu kaufen. [52] Minderjährige Lehrlinge stahlen Briefmarken, Hausgehilfinnen vergingen sich am Besitz ihrer Herrschaft, um ins Kino gehen zu können, um einzeln oder in Gemeinschaft zu naschen. [53] Vielen Kindern ging es um Teilhabe: Eine 15-Jährige rechtfertigte den Diebstahl von Schmuck, „sie habe so viel Taschengeld haben wollen wie ihre Freundinnen, die in einem Monat für viele hundert Mark in Konditorwaren und für Naschwerk verausgabten.“ [54] All das war kriminell, zugleich aber Ausdruck einer erwünschten und ganz anderen Normalität: In Gelsenkirchen kauften sich 1922 mehrere Jugendliche in einem Café von eigenem Geld Süßwaren – und starteten dann vor den Augen der Gäste ein Kuchenschlacht. [55] Verausgabung als Form des unlenken Protestes, als Provokation derer, die auf Sparsamkeit setzten. Parallel hielt man, wenn möglich, fest an der kleinen süßen Gabe als Geschenk, als Beziehungspflege, zum Ruhigstellen der Kinder.

Während der Hyperinflation brachen die Dämme des Gebotenen neuerlich. Jugendliche – ein Begriff der damals langsam aufkam und vor allem Kinder im arbeitsfähigen Alter (also ab 14 Jahren) bezeichnete – nahmen damals die Geldbeschaffung neuerlich in die Hand, um Süßwaren, „Tand“ und „Naschwerk“, zunehmend auch Zigaretten, Kinokarten und „schlüpferische Literatur“ zu kaufen. Darauf wollten sie “auch heute nicht darauf verzichten, und so macht man eben Geschäfte. Zunächst: Man verkauft.“ [56] Kinder besorgten sich Altmaterialien und verkauften diese, stahlen Metall und andere Wertgüter. [57] Und sie bettelten – verschämt, aber drängend, so wie dann wieder während der Weltwirtschaftskrise.

Für die Erwachsenen war dies Ausdruck einer aus den Fugen geratenen Welt, denn Kinder verwendeten mit ihrem Drang zum Süßen die kargen Geldmittel eben nicht vernünftig, sondern vernaschten sie. Dieses generationelle Unverständnis betraf aber zunehmend Jugendliche, zumal Mädchen, die in den Cafés und Konditoreien demonstrativ konsumierten. Die Jungen huldigten dort „ihren männlichen Helden und weiblichen Hulden in Naschwerk und leicht verwelklichen Blumen und Rauchwerk.“ [58] Der generationelle Bruch manifestierte sich in einer anderen Stellung zu den Verlockungen der Konsumsphären. Jugendliche blendeten die Not der Vielen scheinbar aus, brachen zugleich mit der haushälterischen Vernunft der Alten. Die wetterten über Jugendliche, „für die es den Begriff ‚Geld‘ anscheinend nicht mehr gibt, die das, was sie erhält oder verdient, nur ausgibt für Putz und Tand und Amüsement. Unsere Vergnügungsstätten, unsere Tanzsäle, Kinos, Cafés und Konditoreien sind voll von jungem Volk, das das Geld mit vollen Händen ausstreut. Die jungen Mädchen, die jungen Burschen entwickeln eine Eleganz, wie man sie früher nie gekannt hat. Naschwerk, Zigaretten werden in ihren Händen niemals alle.“ [59]

Das Amüsement der Jungen, ihre Nachsucht, erfolgte nicht mehr länger heimlich und häuslich, sondern offen und öffentlich. Entsprechend kamen alte Elemente der Debatten über das Naschen wieder auf, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts seltener geworden waren. Süßwaren wurden seit der Inflationszeit vermehrt in den Kontext der sexuellen Verführung und des sexuellen Mißbrauchs gestellt. „Zuwendung von Naschwerk“ [60] war probates Mittel für Pädophile, um sich Kindern zu nähern. Parallel zu öffentlichen Debatten über „Entartete“ und negative Eugenik wurde immer wieder über die Anbändelqualität der Süßwaren berichtet: Die Täter freundeten sich in Parks und auf Spielplätzen „allmählich mit den Kindern an, locken sie mit Versprechungen oder Süßigkeiten an sich. In kleinen Mädchen steckt schon der Evatrieb zu gefallen, es schmeichelt ihnen, wenn sie auf einen Erwachsenen Eindruck zu machen scheinen. Und so viel Kinder plappern, so tief können sie auch schweigen, wenn ihr neuer Freund, der sie mit Süßigkeiten beschenkt, ihnen einschärft, daß sie zu Hause nichts erzählen dürfen.“ [61] Der öffentliche Raum wurde zur Gefahr, die Großstadt zum verzehrenden Moloch, die Sittlichkeit untergrub und die Bande des Schicklichen auflöste. Das galt aber nicht nur für Triebtäter, die sich mangels eigener Qualitäten der Offerten der Konsumgesellschaft bedienten. Das galt auch für junge, zumal arme Mädchen, „die die Sehnsucht nach hübschen Kleidern oder nur nach einem Kinobesuch oder Naschwerk dazu trieb […] sich zu perversen Handlungen herzugeben“ [62].

All das sind Momentaufnahmen, geschürt von einer zunehmend sensationell aufmachenden Presse. Sie sind einzubetten in allgemeinere Strukturveränderungen. Zum einen nahm der Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Bevölkerung trotz Geburtenrückgangs zu. Der Arbeitsmarkt war darauf kaum vorbereitet, Jugendarbeitslosigkeit wurde zu einem strukturellen Problem. Die Jungen wurden in den Betrieben häufig diskriminiert, Schläge gehörten noch zur häuslichen aber auch betrieblichen Erziehung. Der Staat strich Jugendlichen 1931 gar den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, band sie so an die elterliche Unterstützung. Dennoch büßten insbesondere Väter ihre Autoritätsstellung in der Familie ein, während sich parallel in vielen Großstädten Jugendcliquen, ja Jugendgangs bildeten. Sie bildeten Subkulturen im halböffentlichen Raum, Arbeitszeitverkürzungen und Arbeitslosigkeit ließen dafür auch Zeit. Neben derartigen Kleingruppen entstanden innerhalb der noch bestehenden religiösen, politischen und sozialen Milieus relativ autonome Jugendkulturen, in denen Alter und altersgerechter Konsum zentrale Rollen spielten.

Abstrakte Gefahren: Süßwaren und Gesundheitsschädigungen

Diese wachsende Selbstorganisation und Eigenständigkeit ließen auch viele an sich begründete Mahnungen von Erwachsenen und speziell Wissenschaftlern vor zu viel Süßwaren ohne Widerhall verebben. Das galt etwa für die schon vor dem Ersten Weltkrieg intensiv geführte Debatte über Zahnpflege und Zahnkaries. Schon damals war es Gemeinwissen, dass klebrige und schwerlösliche Süßwaren das Zähneputzen zwingend geboten, da ansonsten die Säurebildung bei der Vorverdauung im Mund Karies und mehr verursachen würde. [63] Süßwarenproduzenten nutzten diesen Zusammenhang, um Karies nicht als Krankheit von Zuckerwarenkonsumenten, sondern von Zahnpflegeverweigerern zu präsentieren. [64]

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Zahnpflege als Freifahrtschein für Süßwarenverzehr (Kladderadatsch 82, 1929, 159)

Eltern konnten demnach wählen, ob sie ihr Kind vom Naschen fernhalten oder zu regelmäßiger Zahnpflege anhalten sollten. Generell milderten sie ihre rigide Ablehnung des Süßwarenverzehrs, drangen aber auf tägliches Zähneputzen. Das Ritual der Entsagung wurde immer häufiger zugunsten der Routine der Zahnpflege aufgegeben. Die Zahnpastahersteller griffen dies in den späten 1920er Jahren auf und warben offensiv um Käufer. Der Konsum von Süßwaren ging also Mund in Mund mit dem Konsum pharmazeutischer Präparate. Ähnlich warb man für den Kauf des im Kriege wieder zugelassenen Saccharins, um Süßwarenkonsum und die Mitte der 1920er Jahre breit propagierte schlanke Linie in Einklang bringen zu können. [65] Marktbildung zog weitere Marktbildung nach sich, ein gängiger Mechanismus moderner Konsumgesellschaften.

Ernährungswissenschaftler empfahlen dagegen Zurückhaltung beim Süßwarenverzehr. Vor dem Hintergrund der sich etablierenden Vitaminlehre erschien ihnen Obst als gesunde Süße, Süßmost als Alternative zu gezuckerten Limonaden. Das Haushaltsgeld solle man in eine gesunde und frische Mischkost investieren, nicht aber für Näschereien ausgeben. [66] Zahnpflege verstand sich aus ihrer Sicht von selbst. [67] Rigider urteilten Vertreter der Naturheilkunde, die Süßwaren möglichst umfassend aus dem Ernährungsalltag verbannen wollten. Dagegen verwahrten sich Vertreter der Süßwarenindustrie, die Zahnschäden bei Schulkindern etwa durch Schokolade schlicht in Abrede stellten – zumal die Ursachen der Zahnkaries „noch nicht geklärt“ seien. [68] In der Tat nahmen in der Folge insbesondere Zahnärzte von einer monokausalen Beziehung zwischen Süßwaren und Karies Abstand, sahen vielmehr in der Ernährung mit hochverarbeiteten Nahrungsmitteln ein größeres Problem, dem sie eine frische, vitamin- und mineralstoffreiche Kost entgegensetzten. [69]

Von diesen Debatten drang kaum etwas in den Alltag der Kinder und Jugendlichen. Das Für und Wider wissenschaftlicher Debatten war kaum nachzuvollziehen, allein einfache Regeln blieben bei ihnen haften, wurden über die Erziehung teils auch eingeübt. Die abstrakte und keineswegs gesicherte Verbindung von Süßwarenkonsum und Krankheiten wie Adipositas oder Diabetes hatte für sie keine Alltagsrelevanz – zumal die Folgen nicht unmittelbar erfahrbar waren.

Marktbildung und Marketing der Süßwaren in den 1920er Jahren

Die Süßwarenindustrie im staatlich-konjunkturellen Wechselspiel

Der bisher verwandte Begriff „Süßwaren“ wurde mit Bedacht gewählt. Er handelt sich einerseits um eine seit dem Ersten Weltkrieg verwandte Sammelbezeichnung für eine an sich recht heterogene Branche der Lebensmittelindustrie. Zucker war das wertbestimmende und geschmacksprägende Element der vier Hauptbranchen, der Produktion von Backwaren, Schokolade und Kakao, Zuckerwaren und Konfekten. Die zumeist mittelständischen Unternehmen deckten aber zumeist mehrere dieser Branchen ab. Zur Süßwarenindustrie hinzuzurechnen ist das zuckerverarbeitende Handwerk, also die Konditorei, und eine in den 1920er Jahren rasch wachsende Zahl von Bäckereien. Die Herstellung zuckerhaltiger Getränke müsste hinzugerechnet werden, wurde statistisch jedoch anders verortet. Auch die eigentliche Zuckerindustrie führte nicht nur statistisch ein Eigenleben, wurde als gesonderte Industrie gezählt und verstanden. Die Süßwarenindustrie ist also statistisch nicht präzise zu fassen, nur Größenordnungen sind möglich.

Der Begriff „Süßwaren“ zielt zweitens auf die gewerbliche Herstellung von Süßwaren in einer kapitalistischen Marktgesellschaft. Über die Bedeutung der häuslich hergestellten Plätzchen, Kuchen, Süßspeisen, Desserts etc. sind keine verlässlichen Informationen verfügbar. Doch das Wachstum der Backartikelanbieter war während der 1920er Jahre beträchtlich, entsprechend dürfte nicht nur der Kauf, sondern auch die häusliche Herstellung von Süßem zugenommen haben. Schließlich stieg der Zuckerkonsum nach dem Einbruch während des Weltkrieges nochmals deutlich an, übertraf 1925 wieder die Vorkriegswerte, lag 1929 und 1930 bei mehr als 23 Kilogramm pro Kopf, erreichte nach einem deutlichen Rückgang während der Weltwirtschaftskrise ab 1936 neuerliche Höchstwerte zwischen 24 und 25 Kilogramm. Zu beachten ist, dass dieses neuerliche Wachstum anfangs durch hohe Zuckersteuern begrenzt, durch die zwischen 1926 und 1928 erfolgte Herabsetzung der Steuersätze auf die Hälfe aber begünstigt wurde. [70]

Die Süßwarenindustrie umgriff vor dem Kriege mehr als 800 Betriebe mit 50.000 bis 60.000 Beschäftigten, in der Mehrzahl Frauen. Dresden, Berlin, Magdeburg, Köln und Herford bildeten die regionalen Schwerpunkte. [71] Sie war eine Boombranche der zweiten Industrialisierung: „Die Zahl der Betriebe hat sich seit 1875 nahezu um das Zehnfache, die Zahl der beschäftigten Personen um mehr als das Fünffache gesteigert.“ [72] Die Gewerbezählung des Jahres 1925 unterstrich eine weitere Aufwärtsentwicklung: Die Schokoladenindustrie wies 677 Betriebe und 51.200 Beschäftigte auf, die Zuckerwarenindustrie 1.889 Betriebe und 23.900 Beschäftigte. Hinzu kamen 9.089 Konditorenbetriebe mit 47.042 Beschäftigten, zudem ein Teil des Bäckerhandwerks (94.061 Betriebe, 314.484 Beschäftigte). [73]

Einen genaueren Überblick ergeben die Daten der Gewerbeaufsichtsbehörden, die allerdings nur Mittel- (> 5 Beschäftigte) und Großbetriebe (> 50) umfassen. Nach der Stabilisierung stieg die Zahl letzterer von 238 1926 auf 256 1927, die der Beschäftigten von 48.667 auf 53.901. [74] Danach stagnierte die Industrie auch aufgrund einer verstärkten Konzentrationsbewegung, die allerdings zugleich zu einer erhöhten Produktivität führte. 1929 gab es in der Kakao- und Schokoladenindustrie 867 Mittel- und Großbetriebe (61.427 Beschäftigte) resp. 238 Großbetriebe (51.699 Beschäftigte). [75] Die Weltwirtschaftskrise lichtete die Reihen der Branche erheblich, die Einfuhrbeschränkungen und Zollerhöhungen der Präsidialkabinette und des NS-Staates machten eine substanzielle Erholung unmöglich. 1936 gab es in der Kakao- und Schokoladenindustrie 571 Mittel- und Großbetriebe (49.333 Beschäftigte) resp. 175 Großbetriebe mit 43.246 Beschäftigten. [76]

Diese Zahlen sind Ausdruck beträchtlicher Wandlungen der Süßwarenbranche, vor allem aber ihrer Abhängigkeit vom staatlich-regulativen Rahmen. Freie Wahl, freie Angebote sind Chimären. Süßwaren galten trotz ihres hohen Nährwertes während des Ersten Weltkrieges rasch als Luxus. Ende 1915 wurde ihr nur noch die Hälfte der vor dem Kriege verarbeiteten Zuckermengen zugestanden, parallel ebbten die Kakaolieferungen durch die britische Seeblockade ab. Süßwaren waren daher knapp, verteuerten sich massiv, wurden zugleich zu einer begehrten Rarität. Die Preise wurden staatlich festgesetzt, doch Süßwaren mutierten zu einer prototypischen Schwarzmarktware. Die Branche schloss sich in dieser Situation zum Reichsbund der Deutschen Süßwaren-Industrie zusammen, doch die 1921 aufkommenden Hoffnungen auf ein Ende der Zwangswirtschaft, der administrierten Preise und kontingentierten Rohstofflieferungen währten nur kurz. [77] Erst nach der Hyperinflation, im April 1924, gewann die Branche wieder Dispositionsfreiheit. [78] Dies bedeutete auch eine Abkehr von den vielfältigen Ersatzmitteln der Kriegszeit, die das öffentliche Angebot lange Jahre prägten, während die besseren Sorten ihren Weg in den Schwarzmarkt und Schleichhandel fanden.

11_Die Kunst_26_1924-25_H11_pXI_Die Woche_26_1924_Nr2_pVIII_Suesswaren_Pralinen_Tell-Desserts_Hartwig-Vogel_Gebaeck_Keks_Langnese_Kinder

Rückkehr zu tradierten Angeboten nach Ende der Zwangswirtschaft (Die Kunst 26, 1924/25, H. 11, XI (l.); Die Woche 26, 1924, Nr. 2, VIII)

Konsolidierung und neuerliches Wachstum dürfen allerdings nicht überdecken, dass die Süßwarenbranche ihre Produkte deutlich anders absetzte und bewarb als dies uns Nachgeborenen normal erscheint. Die Schokoladenproduktion stieg in den 1920er Jahren beträchtlich, von 21.000 Tonnen 1907, auf 92.300 Tonnen 1926 und 105.800 Tonnen 1927. [79] Diese Mengen konnten in den 1920er Jahren zwar Herstellern zugeordnet werden, doch sie wurden vornehmlich als loses Angebot schnell umgeschlagen. Die großen Markenartikelhersteller, die sich zu einer Markenkonvention zusammengeschlossen hatten, machten nur ein Viertel des Gesamtabsatzes aus. Schokolade stammte zumeist von Anbietern mit nur regionaler Bedeutung. Der Absatz erfolgte nicht vorrangig über die große Zahl der kleinen inhabergeführten Ladengeschäfte, sondern zumeist über Spezialanbieter, insbesondere große Filialunternehmen. Sie verkauften Süßwaren anonym, kaum als Markenware.

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Süßwaren als anonyme, teils lose verkaufte Ware 1927 (Münchner Neueste Nachrichten 1927, Nr. 321 v. 25. November, General-Anzeiger, 6)

Auch Zucker- und Dauerbackwaren wurden zumeist anonym verkauft, als Bonbon oder Plätzchen, verborgen hinter lockendem Glas, verkauft per Stück oder nach Gewicht. Höhere Qualitäten waren Spezialgeschäften und Konditoreien vorbehalten, kleine Läden offerierten meist billige (und regional recht unterschiedliche) Standardware, die sie vielfach direkt von den Produzenten bezogen. Das war Ausdruck eines wachsenden Marktes, eines wachsenden Anteils am Handelsumsatz. Das Angebot wurde in den späten 1920er Jahren vielfältiger, die Fülle der Spezialitäten war von Grossisten vielfach nicht mehr zu bewältigen, Direktabsatz üblich. [80]

Taschengeld zwischen Verschwendung und Kontrolle

Kinder und Jugendliche besaßen in den 1920er Jahren nur begrenzte Geldmittel. Lehrlinge erzielten teils sehr moderate Einkommen, das ab dem Alter von siebzehn mögliche Erwerbseinkommen ging großenteils als Kostgeld an die Eltern. Übrig blieb ein Taschengeld. Kinder erhielten dieses deutlich früher. Es verstetigte und monetarisierte den Geschenkefluss der Eltern und Verwandten. Taschengeld wurde seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts üblich, doch zu Beginn war es ein frei disponierbarer, regelmäßig bezahlter Geldbetrag an Dienstboten, an die Hausfrau und schließlich auch an den Hausherrn. Die nominelle Setzungsgewalt lag beim Hausherrn, beim Vater. Taschengeld trat neben das Haushaltsgeld, neben Erspartem. Seine Zahlung setzte ein regelmäßiges Einkommen und einen gewissen Wohlstand voraus. Es war daher im 19. Jahrhundert typisch bürgerlich.

Taschengeld für Kinder wurde seit dem späten 19. Jahrhundert üblich. Anders als das der Erwachsenen war es keine reine Gabe, sondern sollte auf kleiner Flamme in die Zwänge der Geldwirtschaft, die Regeln des modernen Kapitalismus einführen. [81] Erziehungsideale wie Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Demut traten demgegenüber zurück. [82] Taschengeld setzte Vertrauen in den verantwortungsvollen Umgang mit Geld voraus. Skeptiker fragten allerdings: „Wird dadurch nicht der Naschsucht und der Verschwendung Tür und Tor geöffnet?“ Kinder neigten schließlich zum situativen Kauf, gaben dem „Gelüst des Augenblicks“ nach. [83] Aus diesem Grund knüpften die bürgerlichen Eltern vielfältige Bedingungen an die Zahlung des Taschengeldes. [84] Erstens legten sie teils fest, wofür die Kinder aufzukommen hatten. Das galt insbesondere für den Schulbedarf, Papier, Tinte, auch die Schreibfedern. Pfleglicher Umgang damit eröffnete kindliche Dispositionsräume, unterstützte also Ordnungssinn und Reinlichkeit. Zweitens hatten viele Kinder Rechnung über ihre Ausgaben zu führen. Die Eltern kontrollierten die Buchführung, intervenierten bei Verschwendung für Tand und Naschzeug. Gedacht als Mittel der Selbsterkenntnis und der Sparsamkeit, führte diese Art der Verschriftlichung jedoch oft zu falschen Angaben. Aus diesem Grunde wurde den Kindern schon kurz vor dem Weltkrieg ein gewisser Freiraum eingeräumt, also Ausgaben toleriert, die nicht näher spezifiziert werden mussten. Das gab dem Drang der Kinder nach, sollte ihnen aber auch den Wert des Geldes deutlich machen. Viertens zielte dieses frei verfügbare Taschengeld auch auf die Tugend der Sparsamkeit. Größere Käufe erforderten Moderation, zielgerichteten Verzicht, selbst wenn die in bürgerlichen Haushalten häufig schon vorhandene Sparbüchse ebenfalls hinzugezogen wurde. [85]

Taschengeld wurde um die Jahrhundertwende ab dem Alter von 14 vergeben, dann rasch ab 12, Anfang der 1920er ab 10, teils gar ab 8. [86] Mädchen bekamen es später als Jungen, erst in den 1920er Jahren gab es vermehrt Parität. [87] Die Höhe variierte, je nach Einkommen, je nach Wirtschaftslage. Taschengeld war dennoch immer wieder umstritten, insbesondere um die Härte der Kontrolle wurde gerungen. Angesichts des Anfangs der 1920er Jahren wachsenden „Lustbarkeitsunfugs unter den Jugendlichen“ hieß es: „Die Eltern sollen sich mehr darum kümmern, wo die Kinder sind und was sie mit dem Taschengelde machen.“ [88] Während der Inflation wurde Sparsamkeit, also temporärer Konsumverzicht, entwertet. Kinder erfassten dies, sprangen nach Erhalt des Taschengeldes „vergnügt davon, um im nächsten Kramladen das erquälte Taschengeld in Leckereien oder wertlosem Unfug umzusetzen.“ [89]

Die Inflationserfahrung veränderte auch die Funktion und Stellung des Taschengeldes: Zuvor diente es zum Erkunden des kindlichen Charakters, dem dann begründeten Gegensteuern gegen die Naschhaftigkeit, Verträumtheit, Liederlichkeit. Taschengeld blieb ein Erziehungs- und Kontrollmittel. Doch es galt nun zunehmend als Recht der Kinder und insbesondere der Jugendlichen in einer kommerzialisierten Umwelt. Geld regierte die Welt und daher mussten Eltern ihre Kinder lehren „mit dem Gelde umzugehen“ [90]. Das schien wichtig, da Kino und Illustrierte neue Konsumformen plakativ vor Augen führten und die „Dollarjugend“ [91] in den USA Träume hervorrief, die in Mitteleuropa nicht umsetzbar waren. Wichtiger noch wurde seit 1925 die von den Sparkassen ausgehende und im seither jährlich zelebrierten Weltspartag kulminierende Sparbewegung. [92] Sparen eröffnete insbesondere Jugendlichen neue Konsumhorizonte, Fahrräder, Radios, gar Motorräder – Ratenzahlung und eine Arbeitsstelle vorausgesetzt. Naschen wurde zunehmend als kindlich abqualiziert: „Als kleiner Junge war ich aus auf’s Naschen, / Sah ich Süßigkeiten, war ich sehr ergötzt, / Und den letzten Groschen hab‘ ich eingesetzt, / Mit Bonbons zu füllen meine Taschen. / Niemals schämt‘ ich mich, / Denn ich dacht‘ nicht mitten in der Näscherei, / Daß ein Junge so wie ich / Doch ein richtig dummer Junge sei. / […] Und ich folgte seinem guten Rate, / Tat Verzicht auf Zuckerzeug, Sch[…] / Legte jeden Groschen in die Heimsparkasse / Nimmer nasch‘ ich mehr, / Denn ich weiß jetzt, wie man‘ macht. / Alle Taschen sind leer, / Aber – – – – meine Sparkasse ist voll!“ [93]

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Abbitte eines einstmals naschenden jungen Sparers (Sparkassen-Rundschau 1928, Nr. 20, 8)

Taschengeld ermöglichte in den 1920er Jahren Kindern und Jugendlichen eine begrenzte eigenständige Teilhabe am Alltagskonsum. Süßwaren standen dabei hoch im Kurs, doch je älter die Kinder wurden, um so breiter gefächert wurden ihre Wünsche. Süßwaren blieben insbesondere bei Mädchen und Backfischen weiterhin hoch geschätzt, doch Kleidung, Schönheitsprodukte und Kosmetika traten hinzu. Der Trend hin zu anderen Produkten schon im Kindesalter war nicht zu übersehen.

Wachstum der Begehrlichkeiten: Die Weitung der Kinderinteressen

Die Debatte über das Taschengeld der Kinder wurde immer auch mit Einblicken in die Konsumwelt der Kleinen gewürzt. Verschwendungen wurden beklagt, auch nicht standesgemäße Geldverwendung: „Schon das Kleinste, das noch kaum den Groschen kennt, läuft zum Automat, um den gefundenen Knopf oder ein Steinchen hineinzuwerfen und sich Bonbons dafür zu holen. Mit der Semmel als Frühstücksbrot ist der Schüler von heutzutage nicht zufrieden; Bonbons- und Konditorläden in der Nähe der Schulen machen stets das beste Geschäft. Diese Bemerkungen kann man besonders bei den Volksschülern machen. Im zerrissenen Kleidchen und verrissenen Schuhen schnullt man Bonbons und Schokolade; halberwachsene Knaben, denen die Armut aus dem Gesicht und Anzug spricht, stoßen stolz den Qualm der Zigaretten aus dem Mund. Und dabei ist man immer unzufrieden, weil das Taschengeld nie zur Befriedigung der vielen Wünsche ausreicht.“ [94] Neben die in jungen Jahren dominierenden Süßwaren trat früh die „männliche“ Zigaretten. Auch die Ausgabebücher des Taschengeldes wurden variabler: „20 Groschen für Schokolade, 50 Groschen Kino, ‚Der Cowboy-König‘, 10 Groschen für Schokolade“ [95].

Neue Medien drangen in den 1920er Jahren vor, das Kino lockte, ebenso die grellen „Riesenplakate an den Warenhäusern. Tausende und Abertausende von kleinen Kinderballons dienen, in der Hand freudig strahlender Kinder, diesen Geschäften als ‚wandernde‘ Reklame.“ [96] Kinder durchblätterten Zeitungen, prägten sich auch ohne Lesefertigkeiten „die Inserate und Reklame-Anzeigen mit ihren in die Augen fallenden charakteristischen Figuren und Bildern“ [97] ein. Diese frühe Marktsozialisierung rief scharfe Kritik hervor, führte im Rahmen der Schmutz- und Schund-Debatten zu Bücherverbrennungen. Es ging um Konsumresilienz: „Unsere Kinder: das ist unsere Hoffnung und Freude, Glück und Sorge, alles in einem. […] Niemals war unsere Jugend so sehr gefährdet und umlauert, wie in der Gegenwart. Gefahren für Seele und Leid, Gefahren der Umwelt und der Öffentlichkeit, der Straße und der Gesellschaft, der schreienden und verführerischen Reklame, Gefahren für die Unschuld und Reinheit unserer Kinder. Gefahren für ihren Glauben.“ [98] Billige Fabrikware schien auf dem Vormarsch, Kitsch nahm das Hirn der Kinder in Besitz, Billigspielwaren verdrängten die gediegenen Angebote der Vorkriegszeit: „Daß Kinder Süßigkeiten lieben, ist nachgewiesenermaßen in ihrem Organismus begründet, aber müssen das Gummischlangen und auf ein Stöckchen gespießte farbige Zuckerkleckse sein?“ [99] Derartig kulturkritische Einwürfe hatten ihre Berechtigung, waren aber zugleich Rückfragen aus einer den Kindern kaum bewussten Vergangenheit.

Sie spiegelten jedoch die neuartige Bilderwelt des Alltags, die Vielgestaltigkeit der Reklame, die Sinnesreizung durch Anpreisung und Angebot. Das Interesse der Kinder wurde weiterhin auf Süß- und Spielwaren gelenkt: „Wie anders als damals die Kleinstadt bietet die Großstadt jetzt durch die viel bunteren und kunstgerecht ausgeschmückten Auslagen der Schaufenster und durch allerlei andere Schaustellungen der Reklame der bildhungrigen Phantasie der Kinder eine üppige Fülle von Bildern, wenn auch freilich nicht immer in einer für die frühe Jugend passenden Auswahl.“ [100] Konsumgüter gewannen eine neue soziale Bedeutung. Sport und Freizeit waren von ihnen geprägt, waren Erfordernisse für Spiel und Spaß. Mobilität gewann an Bedeutung, prägte den Sonntagsausflug und die Freizeit: Bildreportagen konturierten Erwartungen, Faltboote und Segelflug ließen sie jugendnah und abenteuerlich erscheinen. Die Grenzen des Schicklichen verflüssigten sich, Groschenromane präsentierten prickelnde Kriminalität, schräge Typen und den Reiz des Unerlaubten. Comics drangen vor, einfach gezeichnet, mit plumpem Witz; doch auch schon verfeinert, mit Raffinesse, künstlerischem Geschick und Hintersinn. Bildserien wie die der Stosch-Sarrasani-Hefte führten weltweite Abenteuer augenscheinlich vor. Markenartikelanbieter nutzten diese für ihre Zwecke, boten Reklamekinderzeitschriften an, „frei von jeder Reklame […] und pädagogisch in jeder Hinsicht einwandfrei.“ [101] Gewiss, die Reklame konzentrierte sich auf Erwachsene, doch auch die Kinder wurden zunehmend umworben. Süßwaren blieben ein wichtiges Kinderprodukt, doch der konsumtive Horizont weitete sich auch für sie: „Nicht umsonst ist ein Großteil der Reklame der großen Markenartikelfirmen und Konsumentenorganisationen bemüht, einen beträchtlichen Teil ihrer Reklame auf das Gefühlsempfinden des Kindes einzustellen, um auf diese Art suggestiv auf das Kind einzuwirken. Schon den Kindern soll dieser jener Name eines Artikels oder einer Ware von jenem Zeitpunkte an in die Ohren gehämmert werden, von dem an es zu begreifen beginnt. Unwiderstehlich wird der Zwang dann, wenn das Kind die Schulbank zu drücken beginnt und der kleine ABC-Schütze schreiben und lesen lernt und mit Interesse all die Flugzettel und deren fettgedruckten Stellen zu entziffern sucht.“ [102]

Der neue Lockreiz des Süßen: Marketing, Angebote, Konsumumfeld

Jugend als Markt: Wachsende Marktsegmentierung

Kinder und Jugendliche waren nicht nur Teil und Adressaten von Werbung und Waren. Seit den späten 1920er Jahren segmentierte sich auch ein Jugendmarkt, der ökonomisch reflektiert und dann mit Hilfe spezieller Produkte etabliert und erweitert wurde. Jugend wurde zum Mittel der Wertschöpfung: „Um die Jugend zu werben, bedeutet eine neue Käuferschaft gründen! Denn rasch wächst sie heran und wer die Jugend gewinnt, baut für die Zukunft vor. Das Kind beeinflußt aber auch die Entschlüsse der Eltern in besonderem Maße. Mancher Kauf oder auch zusätzliche Verkauf kommt dort zustande, wo man das Kind im Mittelpunkt des Interesses macht. Der Einfluß des Kindes auf den Wareneinkauf tritt nicht immer offen in Erscheinung, um so bedeutender ist er. Deshalb ist es wesentlich, die Anhänglichkeit der Jugend zu gewinnen.“ [103] Dies war nicht zuletzt Folge des amerikanischen Marketings der späten 1920er Jahre. Auch wenn amerikanische Firmen im deutschen Markt vielfach nicht erfolgreich waren – Wrigley gründete zwar 1926 in Frankfurt a.M. eine Kaugummifabrik, schrieb aber hohe Verluste – fanden Ideen von Massenproduktion und Massenbeeinflussung, von Sozialtechnologie und Geschmacksstandardisierung doch insbesondere bei den Markenartikelherstellern beträchtlichen Widerhall: „Wer als Markenartikelhersteller die Jugend von heute gewinnt, hat Markenartikelkunden von morgen.“ [104] Jugendliche kannten einschlägige Markenartikel der Süßwarenbranche, in Umfragen lag Stollwerck vorn, gefolgt von Dr. Hillers (Pfefferminzbonbons) und Sarotti. Doch die oben analysierte großenteils mittelständisch und von anonymer Ware geprägte deutsche Süßwarenindustrie hatte nicht die Kapitalkraft für regelmäßige Reklamefeldzüge, setzte zudem auf die Attraktivität einer breiten Angebotspalette.

14_Wolff_1928_pI_Jugend_Marketing_Marktsegmentierung_Kommerzialisierung

Jugend als neues Marktsegment: Titelbild eines Marketing-Ratgebers (W[alter] H[ans] Wolff, Jugend. Wege zu einer neuen Käuferschaft, Stuttgart 1928, I)

Das Wachstum der Jugendmärkte fand zwar auch bei Süßwaren statt, prägte aber andere Branchen stärker: „Früher beschränkte sich die Jugend auf Bäcker- und Zuckerbäckerläden, in denen die zehn Pfennige Taschengeld vernascht wurden. Heute bildet die Jugend – und das ist vielleicht eines der hervorragendsten Kennzeichen der ‚neuen‘ Zeit – eine neue Käuferschaft. Zigarette – Radio – Kino – Sport – Lektüre sind die fünf Hauptinteressen der modernen, entromantisierten, entsentimentalisierten, materialistisch (Technik und Geld!) gesonnenen Jugend von heute.“ [105] Dies spiegelte dann auch die kommerzielle Wiederentdeckung von Jugendmärkten seit den späten 1950er Jahren. [106] Damals kauften „Teenager“ ca. 11% aller Süßwaren, dagegen knapp 20% aller Schuhe und Textilien, knapp 40% der Fahr- und Motorräder sowie mehr als 40% der Schallplatten und Plattenspieler. [107] Dieser Prozess begann in den 1920er Jahren, auch wenn Süßwaren insbesondere für Kinder noch an der Spitze ihrer Wünsche und Ausgaben rangierten.

15_Der Welt-Spiegel_1930_06_29_Nr26_p07_Haarpflege_Haarwasser_Birkenwasser_Dr-Dralle_Teenager_Jugend

Neue Konsumfelder: Haarpflege für junge Mädchen (Der Welt-Spiegel 1930, Nr. 26 v. 29. Juni, 7)

Neue und billige Süßwaren

Der Süßwarenmarkt entwickelte sich in den 1920er Jahren nicht „amerikanisch“, also in Richtung auf einige massiv beworbene und überall erhältliche Markenartikel, die mit regionalen Spezialitäten ergänzt wurden. Die große Masse wurde noch unter ihrer Warenbezeichnung verkauft, also als Bonbon oder Marzipankartoffel, als Rumkugel oder Mürbegebäck. Große Bedeutung hatten auch Mischungen von Handelsfirmen. Es galt, etwas Süßes, etwas nicht Alltägliches zu genießen. Markentreue war eher etwas für die Erwachsenen.

16_Badische Presse_1930_05_05_Nr206_p12_Mittelbadischer Kurier_1927_09_01_Nr202_p4_Pfefferminzbonbons_Vivil_Sport_Kaugummi_Wrigley_Jugend

Produktinnovationen Vivil (Pfefferminzbonbons) und Wrigley (Kaugummi) (Badische Presse 1930, Nr. 206 v. 5. Mai, 12 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 202 v. 1. September, 4)

Gleichwohl entstanden in den 1920er Jahren auch heute noch bekannte Markensüßwaren: Haribos Gummibärchen wurden seit 1922 verkauft. Nappo, ein mit Schokolade überzogenes Nougatkonfekt folgte 1925, das Kaubonbon Maoam 1931. Derartige Markenartikel etablierten sich meist neben anonymer Ware. Pfefferminzbonbons wie Vivil oder Dr. Hillers wurden seit den späten 1920er Jahren massiv beworben, wurden eingewoben in neue Freizeitaktivitäten, zugleich als gesund und erfrischend positioniert. Kaugummi gab es vereinzelt schon vor dem Ersten Weltkrieg, doch erst die amerikanischen Anbieter initiierten seit Mitte der 1920er Jahre eine kurze Mode. Längerfristigen Erfolg hatten die ebenfalls schon vor dem Weltkrieg bekannten Kolagetränke, bei denen Coca-Cola den Takt angab, doch die „deutsche“ Afri-Cola seit 1931 dagegenhielt. Ergänzt wurde dieser Reigen von Markenprodukten, bei denen der Firmenname als Dachmarke genutzt wurde. Konfitüren von Schwartau oder Zentis standen für solide, zugleich aber um immer neue Geschmacknuancen ergänzte Süßwaren.

17_Hoerder Volksblatt_1921_07_23_Nr170_p8_Illustrierter Beobachter_07_1932_p830_Drogerie_Suesswaren_Lakritz_Konfekt_Schwartau_Mablo_Toffee_Bonbon

Neue Geschmacksrichtungen: Lakritze und Rahmkonfekt (Hörder Volksblatt 1921, Nr. 170 v. 23. Juli, 8 (l.); Illustrierter Beobachter 7, 1932, 830)

Hinzu kamen sozial differenzierte Süßwaren ganz unterschiedlichen Geschmacks, teils nur mit regionaler Verbreitung. Das galt etwa für die im Westen häufig genossenen Lakritze, die in anderen Teilen der Republik eher als Medizin bekannt waren. Das teure Rahmkonfekt war dagegen Teil bürgerlicher Konsums. Beide Segmente verwiesen zugleich auf die für Süßwaren zunehmend wichtigeren transnationalen Übernahmen von Produktideen.

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Süße Woche oder Die billige Angebotspalette der Süßwaren (Badischer Beobachter 1928, Nr. 298 v. 28. Oktober, 10)

Süßwaren boten Kindern aber nicht nur höchst unterschiedliche Geschmacksrichtungen, eine süße Einführung in die Vielfalt möglicher Gaumenfreuden. Sie waren zugleich billig, zugeschnitten auf das karge Taschengeld, klein portioniert, ein Lutsch- und Schluckprodukt, das sofort genossen, aber auch aufbewahrt werden konnte. Typisch für die zweite Hälfte der 1920er Jahre waren zahllose „Süße Wochen“, in denen zumeist anonyme Ware zu Ausnahmepreisen angeboten wurden. Hauptanbieter waren Filialbetriebe, freiwillige Ketten und lokale Spezialanbieter. Auch Warenhäuser nutzten diese Absatzmethode, die an die seit der Jahrhundertwende üblichen „Weißen Wochen“ anknüpfte.

Zeitgenössisch wurde auch Obst und auch Süßmost als Alternativen zu Zuckerwaren angeboten. Doch ihr Nährwert war vielfach gering, die Qualität insbesondere deutscher Ware schwankend, ihr Angebot stark saisonal geprägt und zudem relativ teuer. Trotz wissenschaftlicher Empfehlungen galten sie daher vielfach als „überflüssiges Naschwerk“ [108]. Die Konsumraten stagnierten in dieser Zeit, auch wenn insbesondere die Banane als süße und nährende Frucht an Bedeutung gewann – und sich Äpfel und Pflaumen süß umrahmt als Kuchen im Kindesmagen wiederfanden.

Das relative Scheitern von Obst als Zuckerwarensubstitut hing allerdings auch damit zusammen, dass insbesondere während der Weltwirtschaftskrise der Nährwert neuerlich in den Vordergrund trat: „Es hat sich nun erwiesen, daß der Genuß von allerhand kleinen Süßigkeiten treffliche Kräfte zu verleihen vermag.“ [109] Immer wieder wurde in den Zeitungen und Illustrierten darauf verwiesen, „daß Süßigkeiten für Kinder notwendig sind und daß eine wirklich gute Gesundheit ohne sie nicht erlangt werden kann.“ [110] Dabei handelte es sich nicht nur um die weit verbreitete, bei Anzeigenkunden gern aufgenommene redaktionelle Reklame. Chemisch war es durchaus richtig, dass Konditorwaren „vollwertige und vitaminreiche Nahrungsmittel sind, deren Nährwert bei gleichem Gewicht den vieler Fleischgerichte und Beilagen“ überstieg. [111] Zucker bot rasch resorbierbare Kohlenhydrate, half bei Erschöpfung und Mattigkeit. Die Ambivalenz jedes Lebensmittels erlaubt weder Verdammung, noch hymnische Begeisterung, sondern erfordert eine ausbalancierte Bewertung.

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Geselligkeit und Nährkraft: Mädchen im Café (Illustriertes Unterhaltungsblatt 1932, 55)

Neue Kundenkreise

Für die 1920er Jahre typisch war aber nicht nur ein zunehmend breiteres und preislich abgestuftes Angebot. Süßwaren wurden damals auch zu einer gängigen nährenden und schmackhaften Alltagskost für Arbeiterkinder. [112] Die deutschen Konsumgenossenschaften, die Ende der 1920er Jahre etwa zehn Millionen Menschen mit preiswerten industriell gefertigten Lebensmitteln versorgten, weiteten ihr Angebote nicht nur allgemein auf Süßwaren aus. Sie richteten ihre Offerenten zudem gezielt an die Kleinen resp. die einkaufende Mutter.

20_Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen_21_1928_p158_Ebd_20_1927_p166_Konsumgenossenschaften_GEG_Kinder_Suesswaren_Pralinen_Gebaeck_Keks_Bonbons_Waffeln_Schokolade_Katzenzungen

Süßwaren als Teilhabe an den Errungenschaften der industriellen Welt (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 21, 1928, 158 (l.); ebd. 20, 1927, 166)

Süßwaren, wenngleich in „den niedrigeren Preislagen“ wurden als Ausbruch aus Alltagstrott verstanden, aus der Enge einer von Arbeitslosigkeit geprägten Zeit. Und sie waren zugleich Soul Food, denn im Angesicht der naschenden Kinder dachte der Erwachsenen wohl „an jene Zeit zurück, wo ihm diese Süßigkeiten ebenfalls der Inbegriff aller Seligkeit waren.“ Sparsam sollten sie gegeben werden, nicht hemmungslos: „Aber ein paar Bonbons zur rechten Zeit, das heißt nach der Mahlzeit […] sind gut.“ [113] Die Konsumgenossenschaften produzierten als Handelsmarken Schokolade und Waffeln, Drops und Kekse, Malzbonbons und Karamellen, Pralinen und Konfekt. Hinzu kamen süße Getränke und eine breite Palette von Backartikeln und Puddingpulvern für häusliche bereitete Süßspeisen. Diese Angebote waren Teil einer „distributiven Gegenwelt“, die fair, hygienisch, effizient, bedürfnisorientiert und mit guten Arbeitsbedingungen verbunden war. [114]

21_Konsumgenossenschaftliches Volksblatt_25_1932_Nr15_p16_Ebd_p12_GEG_Konsumgenossenschaften_Suesswaren_Himbeersirup_Kinder_Limonade_Schokolade

Erfrischungen und Stärkungen für auch für Genossenschaftskinder (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 15, 16 (l.); ebd., 12)

Neue Orte

Süßwarenkonsum fand in den 1920er Jahren zunehmend an neuen, außerhäuslichen Orten statt. Sie traten an die Stelle tradierter Erfahrungsräume. Da war das „Schaufenster voll Süßigkeiten“ [115], da war vor allem der Laden. Während der großen Schulpause „kommen in höchster Eile hintereinander vier oder fünf Kinder hereingestützt, Knaben oder Mädchen jeder Altersstufe, zwischen sechs bis vierzehn, die ihren Fünfer oder Zehner auf den Ladentisch legen und dafür Süßigkeiten verlangen.“ Darüber kam eine Käuferin mit der Verkäuferin ins Gespräch: „Während wir uns noch unterhielten, kam eine Frau herein mit ihrem kleinen Mädchen auf dem Arm. Ehe die Mutter noch ihre Bestellungen machen konnte, hatte die Kleine die ihr offenbar wohlbekannten bunten Zuckersteine in der Glasbüchse entdeckt und streckte verlangend beide Hände danach aus.“ [116] Das Begehrte, es war sichtbar – nur die Mutter war noch zu überzeugen. Doch auch die Folgen waren sichtbar, fanden sich doch vielfach „zahllose Orangen-, Kastanien-, Nuß- und Obstschalen, dann Papier- und Staniolhüllen von Schokolade, Zuckerwerk usw. von den vielen Straßenmahlzeiten, die da gehalten werden“ auf der Straße. [117] Abfalleimer gab es halt nurmehr selten, auch nicht für Streichhölzer und Zigarettenkippen. Als Konsumraum für Süßwaren blieb die Straße jedoch von eher geringer Bedeutung: Eiskarren waren seltener geworden, Automaten spien weiterhin Schokoriegel und Bonbons, dafür vermehrt Kaugummi und Pfefferminzbonbons. Doch stattdessen etablierten sich zunehmend neue Orte, in denen Kinder und Jugendliche nicht nur Süßwaren kaufen konnten, sondern an denen sie diese auch verspeisen konnten.

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Veränderungen im Straßenhandel: Eisgekühler Kakao to go sowie Kaugummiautomat (Illustriertes Unterhaltungsblatt 1931, 1334 (l.); Westdeutsche Landeszeitung 1927, Nr. 20 v. 21. Januar, 10)

In den frühen 1920er Jahren galt das vor allem für die Konditoreien. Lustbarkeiten und Verausgabungen fanden in der Nachkriegszeit hier einen neu definierten, verjüngten Raum, der auf zuvor „ungeahnte Höhe“ gebracht wurde. [118] Die Folge war ein beträchtliches Wachstum – Ende der 1920er Jahre gab es fast so viele Konditoreien wie heute Bäckereien. Der außerhäusliche Backwarenmarkt wuchs in den 1920er Jahren auch durch die Abkehr der Bäckereien von Brot und Brötchen, durch ein wachsendes Angebot von einfachen Teilchen, von Hefe- und Plundergebäck, von Streusel- und einfachem Napfkuchen. Speiseeis blieb eine wichtige Konditorware, doch die Konkurrenz insbesondere der Erfrischungsräume von Waren- und auch Kaufhäusern sowie der modischen Konzertkaffees wurde härter. Ausgeweitet wurde das Sortiment von Sahne- und Cremegebäck, von Torten und aufwändigerer Kuchenware: „Allgemein haben sich aber die Ansprüche des Publikums im Vergleich zur Vorkriegszeit erhöht. Die Kunden verlangen heute für ihr Geld allerbeste Ware. Der Hunger der Kriegsjahre ist vergessen. Wir müssen ferner immer neue Sachen bringen.“ [119] Sozialpolitische Maßnahmen, wie das Sonntagsbackverbot oder die moderate Arbeitszeitverkürzung führten zu stetigerer Arbeit und damit zur Produktion von Spitz- und Baumkuchen oder aber von Konfitüren. Schlagsahne blieb ein wichtiger Artikel, wenngleich diese zunehmend zuhause frisch geschlagen wurde. Die Konditoren verloren zugleich ihre Dominanz bei Kleingebäck. Teekuchen, Mürbegebäck und Keks boten nun auch Bäcker an, Konsumvereine, insbesondere aber die Süßwarenindustrie. Das galt auch für Marzipan, Konfekt und Pralinen.

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Lockreiz der Cremeschnittchen (J.M. Erich Weber, Schule und Praxis des Konditors, 2. Aufl., Radebeul 1927, Taf. 30)

Auch Bäckereien gewannen an Bedeutung, nicht zuletzt durch die zunehmende Verwendung von Weizenmehl. Sie profitierten vom schwindenden häuslichen Brotbacken, auch durch das wachsende Angebot von Feingebäck. Wie bei den Konditoreien nahmen die Ansprüche an Ladenausstattung und Verpackung zu: „Die Kundschaft wünscht das Pergamentpapier oder bei Konditoreiartikeln und beim Stollenversand die Cellophanpackung. Früher mußte ein Bäckerladen nur sauber sein. Heute muß dagegen eine gewisse Eleganz aufgewendet werden, um die Kundschaft zu halten oder heranzulocken.“ [120] Im ästhetischen Kapitalismus folgten nicht nur Jugendliche den ehedem verfemten Anforderungen der Inflationszeit.

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Eine moderne Feinbäckerei (Innen-Dekoration 45, 1934, 277)

Noch stärker als die Zahl der Konditoreien wuchs die Zahl der Eisdielen. Italienische Straßenhändler mieteten vielfach im Sommer Ladenlokale an, deutsche Konkurrenten folgten, auch manche dem scharfen Wettbewerb nicht mehr gewachsene Konditoren. Sie waren zugleich Nutznießer der Weltwirtschaftskrise. 1934 gab es im Deutschen Reiche etwa 2.000 Eisdielen. [121] Danach intensivierte sich der Wettbewerb mit den Konditoreien. Letztere sanken auf etwa 8.000 Betriebe, während die 3.500 bis 4000 Eisdielen mehr Speiseeis umsetzen als ihre handwerklichen Konkurrenten. [122] Sie entwickelten sich zum Tummelplatz von Kindern und Jugendlichen – und sahen sich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt wie ehedem die Straßenhändler: „Die Verbreitung von sogenannten ‚Eisdielen‘ in den Vorstadtgegenden der Großstädte bedeutet eine hygienische Gefahr, weil dadurch Appetitlosigkeit und Magendarmstörungen bei Kindern begünstigt und die Grundlage zu den Erscheinungen der Fehlernährung gelegt wird.“ [123] Entsprechende Regulierungen folgten, nun allerdings auf Reichsebene. [124]

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Weiterhin flexibel: Eisdielen in Berlin als Sommergewerbe (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 20, 10 (l.); ebd. 1932, Nr. 38, 9)

Konditoreien und Eisdielen standen nicht nur für neue Orte des Süßwarenkonsums, sondern auch für – selbstverständlich kritisch beäugte – Freiräume von Kindern und Jugendlichen. Das galt ansatzweise auch für die große Zahl von Kinos. Dort erfolgte der Süßwarenverkauf über den Bauchladen. Nüsse, Bonbons und Knabberzeug ermöglichten Zerstreuung bei der Zerstreuung, Gaumengenuss begleitete Konsumgenuss. Vielfach wurden Süßwaren auch ins Kino mitgenommen – nicht nur von Jugendlichen und Kindern. [125] Erwachsene aber besuchten nach der Vorstellung häufig noch ein Café, eine Bar – doch diese waren Jungen nicht mehr zugänglich, das Gaststättengesetz wurde 1930 verschärft. Tradierte Konsumorte wie Jahrmärkte, Rummelplätze und Schützenfeste waren dagegen offener. Ihre Vielgestaltigkeit und fehlende valide Statistiken erlauben aber keine fundierten Aussagen zum Süßwarenkonsum. Sicher ist allerdings, dass es sich bei ihnen immer auch um herbeigesehnte Feste mit einem ansonsten nur selten erhältlichen Sortiment handelte. Das ging weit über kandierte Früchte, gebrannte Mandeln, Liebesperlen und umzuckerte Herzen hinaus.

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Exotische Angebote auf dem Coburger Schützenfest 1924 (Coburger Zeitung 1924, Nr. 184 v. 7. August, 4)

Säkularisierung und Kommerzialisierung? Die Versüßung der christlichen Festkultur

Eduard Hamm, liberaler bayerischer Handelsminister, beschwor 1921 auf der ersten großen Konditoren-Ausstellung nach dem Weltkrieg, dass es „ein Verlust an unserer Kultur und unseren geistigen Werten [… wäre, US], wenn die traditionellen Erzeugnisse der Zuckerbäcker zu Weihnachten, Ostern und Allerseelen verschwinden würden. […] Wohl könne die Frage aufgeworfen werden, ob es schon an der Zeit sei, unserem Volke ein solches Paradies von Süßigkeiten zu zeigen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir einen langen mühevollen Weg über Sparsamkeit und Arbeit gehen müssen und daß erst unsere Kinder und Kindeskinder vielleicht ein sorgenfreieres Leben führen können.“ [126] Es ist offenkundig, dass Hamm dem schon wieder boomenden Gewerbe Mut machen wollte. Doch er irrte in zweierlei Richtungen. Zum einen waren die christlichen Hochfeste trotz Feingebäck und Hausbäckerei keineswegs eine Domäne der Zuckerbäcker. Ostern und Weihnachten waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine wirklich süßen Feste, trotz vielgestaltiger Gebildbrote und Weihnachtsbäckereien. Das lag nicht nur am fehlenden Zucker und den teuren Gewürzen, sondern auch daran, dass diese christlichen Feste in ihrer Form erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „traditionelle“ Gestalt annahmen. Zum anderen aber setzte in den 1920er Jahren eine neuerliche Versüßung der christlichen Festkultur an, die eng mit dem Aufschwung der Süßwarenindustrie verbunden war, die aber auch durch eine intensivierte Hausbäckerei gestützt wurde.

Beginnen wir mit Ostern. Im Berlin galt noch im frühen 19. Jahrhundert: „Kuchen wurde damals nur an den Festtagen gegessen, und Rosinen gab es nur in der Weihnachtsstolle und im Osterkringel. Die Kinder liebten Ostern besonders darum, weil es das einzige Fest war, an dem es Süßigkeiten gab.“ [127] Damals wurden Zuckerstücken verteilt, teils auch Kalmus. In der Werbung der frühen 1920er Jahre feierte man dagegen „Ostern, das Fest der Süßigkeiten, der Osterhasen und Ostereier“ [128]. Ostern wurde im späten 19. Jahrhundert zunehmend mit süßen Eiern umrahmt, aus Marzipan und Schokolade. Das war Mitte der 1920er Jahre Standard, wurde von bürgerlichen Kindern erwartet. [129] In den Folgejahren nahm der Aufwand, der Umfang und die Art der Geschenke zu: „Ostereier, Schokolade, Zuckerstangen und nicht zu vergessen die reichlichen Ostermahlzeiten mit den herrlichen süßen Nachspeisen werden prächtig munden.“ [130] Die gewachsene Zahl der Konditoren bestückte ihre Schaufenster mit zuvor nicht bekannter süßer Pracht: „Kleine Eier und große, verschiedenfarbig, in reizenden Aufmachungen, in blinkendes, schimmerndes Stanniol gehüllt, mit luftigen, farbigen Schleifen, und ganz hinten, da steht auch ein großes Ei, von dessen brauner Schokoladenfärbung ‚Frohe Ostern‘ weiß aufleuchtet. Seiner meisterhaften handwerklichen Kunst hat dort der Osterhase in der Verzierung Ausdruck gegeben in dem zarten Rosengebinde, das sich unter der Schrift wie ein lächelnder Gruß an das Ei schmiegt. Aus Marzipan […] hat der Meister die keuschen Kelche geformt, die zarten Blätter, so zierlich und fein, daß einen ihre Vernichtung zwischen den Zähnen reuen möchte. Ihr Anblick ist herrlicher fast denn ihr Genuß.“ [131] Geschenkkörbe traten hinzu, Ostereier in verschiedenen Größen und aus verschiedenen Materialien, Schokolämmer und Zuckerhäschen. Doch diese Nestgelege waren zumeist industriell hergestellt, preiswerte Massenware. Die süße Osterware wurde umkränzt von gängigen Alltagsprodukten. All das wurde mit Werbung und Sonderangeboten gezielt vorbereitet, gezielt forciert. Ostern, bekanntermaßen das Fest der Auferstehung Christi, wurde dadurch weiter kommerzialisiert und säkularisiert. Die Wiederauferstehung der süßen Ware erlaubte nach dem Massenschlachten des Weltkrieges eine neue Aufladung des Hochfestes, dessen Kerngehalt immer weniger Menschen teilten. Die Form der christlichen Hochfeste wurde hochgehalten, doch sie waren häufig ihres transzendentalen Gehaltes entkleidet. Die Freude am kleinen süßen Geschenk war Flankenschutz und integraler Bestandteil eines wonnenfrohen konsumtiven Miteinanders.

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Ostern als Süßwarenfest (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 15, 32 (l.); Mittelbadischer Kurier 1929, Nr. 70 v. 23. März, 8)

Ähnlich die Entwicklung beim Fest des Heiligen St. Nikolaus am 6. Dezember. Es fand einst im kirchlichen Rahmen statt, als Weihefest, gab aber auch den Anlass für Nikolausmärkte, die auf Weihnachten hinführten. Dort gab es Naschwerk zu kaufen, doch wichtiger waren Krampuss-Puppen, Ruten und Dekorationsartikel. [132] Vielerorts gab es Umzüge zu Nikolaus, die mit Gaben endeten, Weißgebäck, einem Stutenkerl. Doch aus dem religiösen Gemeinschaftserlebnis wurde später immer stärker ein häusliches Fest. St. Nikolaus zog mit Sack und seinem rutenbewerten Wiederpart, dem Knecht Rupprecht herum, besuchte die Familien mit ihren Kindern. Sie hatten Rechenschaft abzulegen ob ihrer Taten, ihrem Fleiß, ihrem Gehorsam, ihrem Charakter. Ähnliches galt auch für Dienstboten. Böse Taten wurden nicht nur symbolisch vom rutenschwingenden Knecht verurteilt, während der Heilige im Sack Geschenke barg, die er zumeist auch übertrug. Feinbrot, Honig, Äpfel, kaum Süßes – zu Beginn. Seit den 1860er Jahren traten vermehrt Nüsse hinzu – billig importiert aus den USA. Erst dann kam Schokolade hinzu, auch preiswertere Süßwaren. Das Ritual der Jahresbeichte, der Jahresbewertung blieb auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vielfach erhalten: [133] „Was hat der Mann ein gut‘ Gemüt; Denn wo er art’ge Kinder sieht, / Da greift er in die Taschen. / Da greift er in den Sack hinein, / Daß sich die artigen Kinder freu’n / Da gibt es was zu naschen. […] Doch sind die Kinder bös‘ im Haus, / Da zieht er gleich die Rute raus, / Die Kinder zu erschrecken. / O, lieber Nikolaus, halte ein, / Ich will auch immer artig sein, / Laß nur die Rute stecken!“ [134]

Das Nikolausfest wurde rationalisiert und weiter versüßt. Anfangs erfolgte dies durch Teller und Körbchen, die vom Nikolaus – wem sonst? – in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember mit Nüssen, Äpfeln und Süßwaren angefüllt wurden. Zunehmend aber traten Schuhe an deren Stelle. [135] Der Nikolaus und sein dunkler Knecht verschwanden langsam, doch die „Tradition“ der zu füllenden Schuhe blieb bestehen. Weniger Aufwand, etwas mehr Kauf. Spielwaren traten hinzu, die Dienstboten erhielten Geld oder eine andere Aufmerksamkeit. Das Fest wurde versüßt, zugleich stärker auf die Kinder zugeschnitten. Davon profitierte abermals die Süßwarenindustrie. Händler boten in den 1920er Jahren vielfach „schwarze Knechte“ an, Lieferboten süßer Gaben. [136] Auch der Martinszug erfuhr Neuerungen, zumindest in Bernburg: „Am Montag, den 5. ds. erschienen vor 6 Uhr abends plötzlich am hiesigen Bahnhofplatz drei einspurige und drei doppelspurige Motorräder mit maskierten Fahrern und Insassen, welche während der langsamen Fahrt Naschwerk für die Kinder abwarfen. Eine große Menschenmenge bestaunte diese neue Bescherungswelle. […] Am meisten Freude hatten die Kinder, denen nicht nur eine Seltenheit, sondern auch etwas fürs Leckermäulchen geboten wurde.“ [137]

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Säkularisierung und Kommerzialisierung des Festes von St. Nikolaus (Rosenheimer Anzeiger 1924, Nr. 283 v. 5. Dezember, 9 (l.); Bochumer Anzeiger 1930, Nr. 282 v. 2. Dezember, 13)

Weihnachten hatte und hat ein anderes Festgewicht als Ostern und St. Nikolaus. Der Weihnachtsbaum, entstanden und verbreitet in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war anfangs nur moderat geschmückt. Kerzen waren teuer, erst die Erfindung der Milly- und dann der Paraffinkerzen führten Mitte des Jahrhunderts zum festlichen Kerzenbaum. Er wurde zunehmend mit Naschwerk dekoriert, mit Äpfeln, Nüssen, Gebildbroten und Weihnachtsgebäck. Die Süßwaren für die Kinder entstammten im 19. Jahrhundert vornehmlich der Hausbäckerei, die teils Wochen vor dem Hochfest einsetzte und deren Vorräte teils bis weit in den Januar reichte. [138] Schokolade trat hinzu, doch der Kauf industriell hergestellter Süßwaren blieb auch vor dem Ersten Weltkrieg noch begrenzt. Die Geschenke selbst waren wertvoller, praktischer, das Festessen am Weihnachtstag war üppig und reichhaltig (nicht am Heiligabend mit einer gewissen Fastentradition). Während des Krieges gewann das Weihnachtsfest weiter an Bedeutung, als Symbol der deutschen Kultur, als Verknüpfung der Lieben im Graben und an der Heimatfront. Auch in der Hochzeit der Ernährungskrise gab es Sonderrationen zu Weihnachten: „Denn Weihnachten ohne Naschwerk? Das ist doch zu traurig! […] Außerdem aber sind Kuchen durchaus kein ‚Luxus‘, denn sie enthalten wirkliches Nahrhaftes in konzentrierter Form: Mehl, Fett und Zucker.“ [139]

Diese Aufladung als Besinnungsfest der deutschen Nation mag auch dazu geführt haben, dass es in den frühen 1920er Jahren deutlichere Widerstände gegen die Versüßung gab als etwa beim Osterfest. Bücher wurden als Weihnachtsgabe empfohlen, bleibende Geisteswerte. [140] Für gekaufte süße Teller fehlte Geld, beim Selbstgebackenem wurden wieder Abstriche gemacht: „Die Kinder, auf die es in der Weihnachtszeit wohl hauptsächlich ankommt, sind aber nicht so wählerisch, als daß sie nicht leicht zu befriedigen wären, wenn das Gebotene nur süß ist und dem Charakter der gewohnten Weihnachtsbäckereien entspricht.“ [141] Und doch, auch die zwischen Krieg und Hyperinflation allgemein üblichen Weihnachtsspeisungen armer Kinder verzichteten nie auf etwa Süßes; neben den Eßwaren, neben der warmen Kleidung. [142] Auch Süßwarenfabriken steuerten ihr Scherflein bei. [143]

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Weihnachten familiär: Hausbäckerei und nur begrenzter Zukauf (Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 50, 31 (l.); Bergische Landes-Zeitung 1933, Nr. 298 v. 21. Dezember, 4)

Gleichwohl blieb Weihnachten auch nach der Stabilisierung und trotz gezielter Werbung von Markenartikelfirmen und Filialbetrieben weniger stark durch industriell gefertigte Süßwaren geprägt. Ausnahmen gab es bei Dauergebäck, bei Leb- und Honigkuchen, bei Printen und Spekulatius. Auch Schokomänner waren seltene Gäste, während teurere Konfitüren, Konfekt und Pralinen an Bedeutung gewannen. Gegentendenzen zur Versüßung gab es jedoch auch, denn das Naschwerk am Baum, das am Ende des Festes von den Kleinen verzehrt wurde, fiel vielfach weg; die neue Sachlichkeit ließ grüßen. [144] So blieb Weihnachten, trotz massiver Kommerzialisierung durch zunehmend teurere Geschenke nicht zuletzt an die Kinder doch zugleich ein Familienfest: „Es darf nichts fehlen von den althergebrachten Dingen, [… denn, US] ein Fest ohne das althergebrachte Naschwerk, das in jedem Hause selbst bereitet wird, gibt es nicht.“ [145] Angesichts der unbezahlten Hausfrauenarbeit war selbstgemachtes Backwerk preiswerter und zugleich Ausdruck der Liebe der Mutter zum Kind, zum Mann. Ähnliches galt auch für Kindergeburtstage, wo das von der Mutter bereitete Backwerk nur selten durch Konditorware ersetzt wurde.

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Torte im Mittelpunkt des Kindergeburtstages (Die Frau und Mutter 21, 1932, H. 11, 15)

Hochfeste waren im ersten Drittel des 20. Jahrhundert ohne Süßes nicht zu denken. Doch während für Kinder und Jugendliche Ostern und St. Nikolaus zunehmend von Süßwaren dominiert wurde, blieb das Weihnachtsfest ein Beziehungshort, der Zeit band, in dem die Kinder auch eingebunden wurden. Zu Weihnachten konsumierte man nicht einfach Süßes, sondern man vergewisserte sich der eigenen Herkunft, der engen Beziehung zu seinen Lieben. Das konnte mit billiger Standardware (noch) nicht nachgebildet werden.

 Der rudimentäre Blick auf Kinder und Jugendliche

All diese Aussagen zum Beziehungsfeld von Süßwaren und Kindern sind notgedrungen oberflächlich. Historische Forschung ist rar, denn die Konsumgeschichte ist jugend-, die Sozialgeschichte dagegen konsumvergessen. [146] Gleichwohl sollten am Ende Kinder und Jugendliche nochmals breiter betrachtet werden, denn das hilft, die vorgelegten Ergebnisse und Hypothesen präziser einzuordnen. Dabei ist zu beachten, dass dabei durchweg Erwachsene über Jüngere reden – und die vielgestaltigen Bewertungen von deren Süßwarenkonsum lassen Zweifel an der „Objektivität“ der Erwachsenen keimen. Die historische Familien- und Jugendforschung ist zudem stark auf die Krisenerfahrung der Zwischenkriegszeit fokussiert. [147] Ihr Fokus richtet sich zudem stark auf das vermeintlich Neue der Zeit, auf den „Schein von einer demokratischen Massengesellschaft“ [148], auf das Wechselspiel von „Verdienen und Vergnügen“ [149] im Leben vornehmlich der Jugendlichen. Das Vergnügen wird meist außerhalb der Familie, in den zunehmend wichtigeren Cliquen und Freundeskreisen verortet, auch in der organisierten Freizeit innerhalb der jeweiligen Milieus. Letztere begrenzten das Aufgehen in der neuen kommerziellen Kultur. Limitierend war zudem die letztlich frei verfügbare Zeit, denn ein erwerbstätiger Jugendlicher hatte eine durchschnittliche tägliche Arbeitszeit von 11 Stunden und 15 Minuten. Zeit für Süßwaren war begrenzt, bestand am Abend, am freien Samstagnachmittag, am Sonntag, am kargen Urlaub und – typisch für die Jüngeren und das Süße – im Zwischendurch des Konsums. Generell aber galt, dass Jugendfreizeit „eine Knappheitsökonomie in einer vom Angebot auf Konsumrausch orientierten Freizeitwelt“ [150] blieb. Obwohl ein Drittel der 17-Jährigen Mädchen bereits einen Freund hatte, obwohl Kino eine wichtige Rolle spielte, blieb die Kleinfamilie und das Milieu für die Freizeit – und damit auch für den Konsum – zentral. Deren Bedeutung schwand, blieb aber erst einmal bestimmend. Größere Freiräume hatten bzw. nahmen sich eher ungelernte und arbeitslose Jugendliche, die häufiger auf dem Rummelplatz, aber auch bei Sport, Ausflügen und Wandern anzufinden waren.

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Großstadtkinder im öffentlichen Gefährdungsraum (Volkswille 1926, Nr. 197 v. 24. August, 6)

Die hier dargelegten Veränderungen bei den Süßwaren waren „real“, doch sie waren zugleich Brüche im recht geregelten Alltag, Besonderheit, nicht Regel. Das unterstreichen auch die zahlreichen Jugendstudien Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Junge Mädchen waren erst einmal Beobachter der Straßen und Schaufenster, der Cafés und Kinos, der Auslagen und Angebote. Erst ältere Mädchen nutzten diese Konsumkultur, zumal mit einem Freund. [151] Untersuchungen der Lebenswelt junger Arbeiterinnen unterstrichen die zentrale Bedeutung der eigenen Familie, zumal der Mutter. Geld war bewegendes Element, doch auch zentraler Grund von Streitigkeiten. Entsprechend groß war die Bedeutung von Erwerbsarbeit. Konsum war demnach scheinbar ein Randthema: „‚Das Leben ist ein kummervoller Kampf mit einer stillen Hoffnung im Herzen.‘“ [152]

All dies unterstrich die langsame Erosion tradierter Milieus, des familiären Zusammenhalts: Alice Salomon formulierte prägnant: Charakteristisch sei „die Beengtheit und Eingeschränktheit des durchschnittlichen Lebens, des Lebens der Massen, nicht nur in Arbeiterkreisen, sondern in den Schichten des ländlichen und städtischen Mittelstandes. Eine Beengtheit in wirtschaftlicher und geistiger Beziehung, in Lebensraum und Lebensmöglichkeit – beide Worte in wahrstem Sinne verstanden: in Entspannung und Erholung, in Fortbildung und Erlebnisbreite.“ [153] Süßwaren besaßen daher eine eskapistische und konformistische, potenziell aber auch eine eigensinnige und selbstbestimmte Funktion. Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen, unterstrichen die Dominanz außerhäuslicher Arbeiten gleichermaßen für Erwachsene und Jugendliche. [154] Die Mehrzahl der Jugendlichen verbrachte ihre karge Freizeit im Familienrahmen, war damit grundsätzlich auch zufrieden. Spaziergänge, Fahrten, der Schrebergarten und Gesellschaftsspiele waren wichtiger als Theater, Konzerte, Kino und Radio. [155] Doch zugleich bestand eine spürbare Spannung zwischen dieser Normalität und dem immensen, durch die kindliche und jugendliche Phantasie nochmals verstärkten Möglichkeitsraum der Unterhaltungsindustrie, des Alltagskonsums. [156]

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Jugendlicher Konsum und die Abscheu der Alten (Fliegende Blätter 185, 1936, 152)

Ausnahmen gab es vornehmlich bei der unterbürgerlichen Jugend, bei Arbeitslosen und Ungelernten. Sie lebten – glaubt man den zeitgenössischen Analysen – in einer Kultur der Zerstreuung: „Mit dumpfen Glücksverlangen oder vielmehr mit ganz unkritischem Drang nach Triebbefriedigung will er sein monotones Arbeitsdasein durch Sensationen und Abwechslungen übertäuben.“ [157] Sie rebellierten häufiger gegen den autoritären Vater, schlossen sich in Cliquen zusammen, konsumierten gesellig Alkohol und Schokolade, verschenkten Süßwaren an Freunde und Freundinnen, griffen zu und amüsierten sich, wann immer sich die Möglichkeit bot. Sie kapselten sich verstärkt ab von ihren Eltern, kappten Bezüge, während Arbeiter- und Bürgerkinder meist realisierten, dass sie von ihren Eltern abhängig waren. Kinder waren nämlich auch damals teuer, erforderten 1927/28, abhängig vom Alter der Eltern, etwa ein Viertel bis ein Drittel der Familiennettoausgaben. [158] Die Auseinandersetzungen um Süßwaren und Taschengeld waren daher nur ein kleiner Teil gesellschaftlich hochgradig relevanter Auseinandersetzungen um familiäre Mittelverwendungen.

Chancen eines historischen aufgeklärten kulinaristischen Blicks auf Kinder und Süßwaren

Am Beginn des Beitrages stand Cem Özdemirs an sich unterstützungswürdiges Bestreben, heutige Kinder vor den Dickmachern der Industrie zu schützen, sie auf ihrem Lebensweg dadurch zu stärken, dass man sie vor der Werbung für zu süße, zu fette, zu salzige Lebensmittel bewahrt – anfangs in allen visuellen Medien zwischen 6 und 23 Uhr, derweil lediglich im Fernsehen werktags zwischen 17 bis 22 Uhr, samstags zusätzlich von 8 bis 11 Uhr und sonntags von 8 bis 22 Uhr. Flankierende Maßnahmen sollen ergänzen, sollen in Gänze Kinder gesünder, stärker, glücklicher machen. Sie werden angesichts der hier vorgelegten historischen Analyse der historischen Wurzeln dieser Debatte um den Stellenwert von Süßwaren für Kinder und Jugendliche vielleicht mit mir übereinstimmen, dass derartige politischen Maßnahmen unterkomplex sind. Es handelt sich um mikroautoritäre Steuerungsphantasien, die von der vielgestaltigen und widersprüchlichen Realität einer Konsumgesellschaft abstrahieren und zudem geschichtliche Erfahrungen ignorieren. Der Gesetzentwurf wird am selbstgesetzten Ziel scheitern, so wie die wohlmeinenden Klagen gegen das sündige Naschen, gegen verführerische Automaten, südländische Eisverkäufer, gegen die Verschwendungssucht der Jugend und die Profitgier von Industrie und Handel.

Dem engen, röhrenartigen Regelwerk fehlt es an historischen und pädagogischen Kenntnissen, an einer basalen Reflektion über Essen und Ernährung, über die Stellung von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft, über die Gestaltungschancen staatlicher Interventionen: „Die Kinder als Verkörperung der ungesellschaftlichen, reinen, aber rohen, ungeschliffenen Natur werden zu Objekten pädagogischer Maßnahmen, damit sie bürgerliche Eßstandards, seine räumlichen, zeitlichen und sozialen Arrangements, mithin Wertmaßstäbe erlernten.“ [159] Jugendliche und Kinder sind nicht arme verführte Wesen, sondern sie haben Eigensinn, gehen selbstbewusst mit Rahmenbedingungen um, die in staatlichen Regelwerken ausgewählter Experten ausgeblendet werden. Eltern und Vorbilder sind dabei zentral. Die Sorgen der 1920er Jahre vor Verschwendung, Krankheit, Ausbeutung und Verführung spiegeln sich auch in staatlichen Maßnahmen ein Jahrhundert später. Sie erfordern aber andere Antworten als die der Vergangenheit.

Beim Konsum von Süßwaren geht es nicht nur um einen speziellen Geschmack, um einen kurzen Kick abseits des Einerlei des Alltags. Es geht um Vertrautes und Angenehmes in einer fremden, indifferenten, ja feindlich wahrgenommenen und existierenden Welt. Der Konsum ist ein paradoxer Widerspruch gegen Langeweile und für Sinn und Sinnlichkeit. [160] Es geht um Eigenerfahrung, um Freiräume, mögen sie auch gesundheitlich nicht förderlich sein, mögen sie auch nicht frommen. Es geht um einen Rest von Freiheit in einer Gesellschaft wachsender Fremdbestimmung, die auch durch die tägliche Wahl im Laden oder am Tresen nicht wirklich durchbrochen werden kann. Die realen Risiken der zu süßen, zu fettigen und zu salzigen Lebensmittel sind wahrlich nicht gering zu bewerten. Doch sie sind überschaubare Risiken im Vergleich mit fehlender Bildung, fehlender Liebe, fehlender Perspektiven in einer Gesellschaft, die schon Kinder und Jugendliche überwachen und strafen will, weil Zuwendung zu aufwändig oder zu mühselig, weil Sozialtechnologie billiger ist und willige Claqueure finden wird.

Uwe Spiekermann, 7. Oktober 2023

Quellen- und Literaturnachweise

[1] Constanze von Bullion, Özdemirs Kraftprobe. Kinderwerbung für Dickmacher, Süddeutsche Zeitung v. 26. Januar 2023 [www.sz.de.1.5739924].
[2] Mehr Kinderschutz in der Werbung: Pläne für klare Regeln zu an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung (25. Juli 2023) [https://www.bmel.de./goto/87044]; Özdemir schränkt Werbeverbot-Pläne für Süßigkeiten ein, rnd.de v. 24. Juni 2023.
[3] Renate Künast, Die Dickmacher. Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen, München 2004.
[4] Johann Peter Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizei, Bd. 2, Neue Aufl., Mannheim 1804, 234.
[5] Günter Wiegelmann, Zucker und Süßwaren im Zivilisationsprozeß der Neuzeit, in: Hans J. Teuteberg und Ders. (Hg.), Unsere tägliche Kost, Münster 1986, 135-152.
[6] Bdsi.de.
[7] Süßwaren und Knabberartikel. Eine bunte, vielfältige, genussbringende Lebensmittelgruppe mit Angeboten für alle Ernährungsbedürfnisse, hg. v. Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie, Bonn 2023.
[8] Vgl. Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, 9. Aufl., München 1990; Harry Hendrick, The Evolution of Childhood in Western Europe c.1400-c.1750, in: Jens Qvortrup, William A. Corsaro und Michael-Sebastian Honig (Hg.), The Palgrave Handbook of Childhood Studies, Houndsmill und New York 2009, 99-113; Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017.
[9] Uwe Spiekermann, Verengte Horizonte. Naschen im Wandel (2023).
[10] J[oseph] G[abriel], Kurze, praktische, sittliche Erziehungslehre […], Abt. 1, München 1841, 41.
[11] Augustin Hoffer, Samlung Aus den Kriegsquartieren […], Innsbruck 1770, s.p. [§ 48].
[12] Karl Georg Neumann, Beiträge zur Natur- und Heilkunde, Bd. 1, Erlangen 1845, 10.
[13] Morgen-Post 1866, Nr. 97 v. 10. April, 1; ähnlich H[ermann] Emminghaus, Die psychischen Störungen im Kindesalter, Tübingen 1887, 122.
[14] Th[eodor] Goerges, Das Kind im ersten Lebensjahr, Berlin s.a. [1902], 107.
[15] Gertrud Moldzio, Mein Kind, Leipzig 1900, 76.
[16] Zur Säuglingsernährung s. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 87-106.
[17] Arthur Keller, Die Lehre von der Säuglingsernährung, Leipzig und Wien 1911, 52-53.
[18] Otto Hauser, Grundriss der Kinderheilkunde, mit besonderer Berücksichtigung der Diätetik, Berlin 1894, 69; Gebt den Kindern keinen Zucker!, Monika 22, 1890, 158-159.
[19] Peter Koch, Die Gesundheitslehre und Gesetzeskunde in der Volksschule, 2. verm. u. verb. Aufl., Dortmund 1878, 15.
[20] Düsseldorfer Volksblatt 1887, Nr. 246 v. 14. September, 2.
[21] Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 354-363.
[22] Rhein- und Ruhrzeitung 1887, Nr. 247 v. 22. Oktober, 2.
[23] G.A. Weiß, Die moderne Erziehung und ihre Folgen in körperlicher und sittlicher Beziehung. Ein Weck- und Mahnwort, Berlin 1890, 21; Bergischer Sonntags-Anzeiger 1891, Nr. 26 v. 28. Juni, 6-7.
[24] 7. Westfälische Provinzial-Versammlung des ‚Katholischen Lehrerverbandes‘ in Rheine, Westfälischer Merkur 1897, Nr. 194 v. 21. April, 1-2, hier 2.
[25] Solinger Kreis-Intelligenzblatt 1899, Nr. 245 v. 18. Oktober, 3.
[26] Gustav Wilhelm Pohle, Probleme aus dem Leben eines industriellen Großbetriebs, Phil. Diss. Rostock, Naumburg 1905, 6-7.
[27] Jugendfürsorge und Gesellschaftsschutz, Münchner Neueste Nachrichten 1912, Nr. 472 v. 15. September, 1.
[28] Angaben n. Otto Suhr, Die stummen Verkäufer, Die Wirtschaftskurve 16, 1937, 40-52, hier 42; Hans Riepen, Sonderformen, in: Rudolf Seyffert (Hg.), Handbuch des Einzelhandels, Stuttgart 1932, 104.
[29] Uwe Spiekermann, Die verfehlte Amerikanisierung. Speiseeis und Speiseeisindustrie in Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: Hermann Heidrich und Sigune Kussek (Hg.), Süße Verlockung. Von Zucker, Schokolade und anderen Genüssen, Molfsee b. Kiel 2007, 31-38.
[30] Günter Wiegelmann, Speiseeis in volkstümlichen Festmahlzeiten, in: Teuteberg und Wiegelmann (Hg.), 1986, 217-223, hier 217-218.
[31] Walter Tiedemann, Die Italiener in Berlin, Die Woche 8, 1906, 1492-1495, hier 1494.
[32] Gefrorenes, Die Gesundheit in Wort und Bild 5, 1908, 198.
[33] Andrea Cantalupi, Gefrorenes, Die Woche 7, 1905, 1237-1238, hier 1238.
[34] Speiseeis im Sommer, Blätter für Volksgesundheitspflege, 5, 1905, 156-157.
[35] Vom Straßenhandel, Arbeiterzeitung 1910, Nr. 142 v. 21. Juni, 8.
[36] Sollen Kinder Süßigkeiten essen?, Die Gesundheit in Wort und Bild 4, 1907, Sp. 161.
[37] Kontrolle der Strassenhändler mit Speiseis, Zeitschrift für öffentliche Chemie 9, 1903, 293-294.
[38] Etwa Louis Levins Magazin eleganter Kinder-Garderoben (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1882, Nr. 506 v. 29. Oktober, 24).
[39] Die Werbung für Leonhardi-Tinte oder Klio-Füllfederhalter waren Ausnahmen.
[40] Vgl. für den Berliner Anbieter Hildebrand etwa Fliegende Blätter 124, 1906, Nr. 3173, Beibl., 5; Sport im Bild 19, 1913, Nr. 19, IV; ebd., Nr. 33, III; Illustrirte Zeitung 142, 1914, 140.
[41] Warnung, Bonner Volkszeitung, 1903, Nr. 387 v. 4. Dezember, 1; Die Ausbeute der Kinder durch Reklame, General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1907, Nr. 53 v. 22. Februar, Unterhaltungsblatt, 3.
[42] Kindernot, Velberter Zeitung 1921, Nr. 24 v. 29. Januar, 3.
[43] Emma Sauerland, Kleine Mädchen und deutsche Soldaten, Daheim 51, 1914/15, Nr. 24, 28.
[44] Die Appetitlosigkeit der Großstadtkinder, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 9, 1916, 89.
[45] Friedrich Lorenzen, Das Gute an der Kriegskost, Daheim 53, 1916/17, Nr. 28, 20-21, hier 20.
[46] Hans Friedrich, Hunger, Jugend 20, 1915, 181-182, hier 182.
[47] Das süße Geheimnis, Sport und Salon 22, 1918, Nr. 7, 9-10, hier 10.
[48] Näscherei, Die Zeit 1919, Nr. 5934 v. 4. April, 5.
[49] Zuckerwarenwucher, Die Zeit 1919, Nr. 5903 v. 4. März, 3.
[50] Coburger Zeitung 1920, Nr. 27 v. 2. Februar, 1.
[51] Die Zuckerschieber obenauf, Münchner Stadtanzeiger 1920, Nr. 8 v. 21. Februar, 3.
[52] O[skar] Pfister, Die Behandlung schwer Erziehbarer und abnormer Kinder, Bern und Leipzig 1921, 67-68.
[53] Jugend von heute, Coburger Zeitung 1923, Nr. 140 v. 18. Juni, 3.
[54] Die Gefahren der Jugendlichen, Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1922, Nr. 212 v. 9. September, 2.
[55] Alf Lüdtke, Feingebäck und Heißhunger auf Backwaren. Bemerkungen zum süßen Geschmack im deutschen Faschismus, in: Zuckerhistorische Beiträge aus der Alten und Neuen Welt, Berlin (W) 1988, 399-426, hier 406-407.
[56] Wie unsere Jugend Geld verdient, Niederrheinisches Tageblatt 1923, Nr. 126 v. 5. Juni, 2.
[57] Jugend in Gefahr!, Duisburger General-Anzeiger 1923, Nr. 317 v. 19. November, 9-10, hier 9; Streiflichter, Ratinger Zeitung 1922, Nr. 144 v. 2. Dezember, 2.
[58] Ein Bonner Sittenbild, Bonner Zeitung 1922, Nr. 246 v. 9. November, 6.
[59] Dorothee Goebeler, Mitleidslose Jugend, Lippstädter Zeitung 1923, Nr. 16 v. 20. Januar, 2.
[60] Hütet eure Kinder, Triestingtaler und Piestingtaler Wochen-Blatt 1925, Nr. 1 v. 7. November, 7.
[61] Von Liebermann, Wer kann der Mutter Nachricht geben?, Das Buch für Alle 59, 1927, 448-450, hier 449.
[62] Kinderprostitution in Wien, Vorarlberger Wacht 1928, Nr. 16 v. 7. Februar, 4.
[63] Otto Hauser, Grundriss der Kinderheilkunde, mit besonderer Berücksichtigung der Diätetik, Berlin 1894, 69; Otto Horrwitz, Die Pflege der Zähne im Kindesalter, Vorwärts 1899, Nr. 233 v. 29. November, Unterhaltungsbeil., 930-931.
[64] Zucker ein Nährstoff. Eine allgemeinverständliche Darstellung der neuesten Forschungsergebnisse, Berlin 1898, 14-15.
[65] Medicus, Die schlanke Linie, Dortmunder Zeitung 1925, Nr. 252 v. 3. Juni, 9.
[66] H[einrich] Finkelstein, Bemerkungen zur Ernährung der Kinder im Spielalter, Blätter für Volksgesundheitspflege 22, 1922, 39-41, hier 41.
[67] Ernst Jessen, Die Zähne des Kindes und ihre Pflege, Das Buch für Alle 58, 1926, 43-44; Martin Vogel, Ein Kulturübel, Borken-Bocholter Anzeiger 1931, Nr. 86 v. 8. Mai, 2.
[68] H[einrich] Fincke und Zilkens, Zahnschädigungen und Schokolade, Die Volksernährung 6, 1931, 268-271, hier 271.
[69] Ilse Wille, Zahnverhältnisse und Ernährung bei Berliner Kindern, Zahnmed. Diss. Berlin 1938.
[70] Deutsche Wirtschaftskunde, 21.-40. Tausend, Berlin 1930, 326: Pro Kopf und Jahr lag die Zuckersteuer im Deutschen Reich 1913 bei 2,59 M, 1925 bei 3,85 RM, 1926 bei 4,62 RM, 1927 bei 3,69 RM und 1928 bei schließlich 2,69 RM.
[71] Die Arbeitslosigkeit in der Süßwarenindustrie, Arbeiter-Zeitung 1916, Nr. 124 v. 27. Mai, 6.
[72] Wirtschaftskunde, 1930, 161 (auch für die folgenden Angaben).
[73] Das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der gewerblichen Betriebszählung 1925, Wirtschaft und Statistik 8, 1928, 262-272, hier 264.
[74] Die industriellen Mittel- und Großbetriebe in den Jahren 1926 und 1927 nach der Statistik der Gewerbeaufsichtsbehörden, Wirtschaft und Statistik 8, 1928, 570-575, hier 572.
[75] Die gewerblichen Mittel- und Großbetriebe im Jahre 1929 nach der Statistik der Gewerbeaufsichtsbehörden, Wirtschaft und Statistik 10, 1930, 734-737, hier 736.
[76] Die Entwicklung der gewerblichen Betriebe von 1932 bis 1936 nach der Statistik der Gewerbeaufsichtsbehörden, Wirtschaft und Statistik 18, 1938, 310-313, hier 311. Die gleichwohl hohe Bedeutung des Süßen während der NS-Zeit unterstreicht Lüdtke, 1988.
[77] Zusammenschluß in der deutschen Süßwaren-Industrie, Echo der Gegenwart 1919, Nr. 267 v. 15. November, 2; Neue Preise für Süßigkeiten, Coburger Zeitung 1920, Nr. v. 24. April, 3; Die Abwehr der Teuerung, Rosenheimer Anzeiger 1922, Nr. 212 v. 13. September, 1.
[78] Kölnische Zeitung 1924, Nr. 233 v. 1. April, 3.
[79] Walter Herzberger, Der Markenartikel in der Kolonialwarenbranche, Stuttgart 1931, 35 (danach auch die folgenden Ausführungen).
[80] Alle Angaben n. Herzberger, 1931, 38. Der Anteil der Zucker- und Backwaren am Gesamtumsatz betrug 1929 etwas mehr als zwei Prozent, lag in der umsatzstärkeren Stadt niedriger als auf dem Lande.
[81] Hermine Wedel, Taschengeld, Kindergarderobe 9, 1902, Nr. 1, 10.
[82] Eine Ursache der Verwilderung der Jugend, Vorarlberger Volksblatt 1897, Nr. 296 v. 28. Dezember, 3-4.
[83] Beide Zitate n. Das Taschengeld der Kinder, Freie Stimmen 1911, Nr. 55 v. 10. Mai, 1-2, hier 1.
[84] M. Schmerler, Sollen wir Kindern Taschengeld geben?, Das Blatt der Hausfrau 20, 1909/10, H. 46, 9; Ernst Friedrich, Soll das Kind Taschengeld erhalten?, Deutsche Reichs-Zeitung 1924, Nr. 247 v. 20. Oktober, 2.
[85] Karl Meisner, Taschengeld für Kinder, Österreichs Illustrierte Zeitung 27, 1917, 137; Kinder zur Sparsamkeit zu erziehen, Castroper Zeitung 1923, Nr. 74 v. 29. März, 3-4; Taschengeld, Oberkasseler Zeitung 1925, Nr. 19 v. 14. Februar, 5.
[86] B. Hoche, Das Taschengeld unserer Kinder, Kindergarderobe 26, 1918/19, Nr. 11, 11; Taschengeld, Neues Wiener Journal 1921, Nr. 9849 v. 1. April, 6.
[87] Unsere Töchter und das Taschengeld, Wiener Hausfrau 11, 1913/14, Nr. 19, 7; Das Taschengeld der Mädchen, Alpenländische Rundschau 1927, Nr. 213 v. 5. November, 27.
[88] Beide Zitate n. Das Taschengeld und der Vergnügungstaumel, Rheinische Volkswacht 1921, Nr. 185 v. 30. April, Nr. 185, 5.
[89] Das Taschengeld der Kinder, Schwerter Zeitung 1923, Nr. 59 v. 10. März, 5.
[90] Der erzieherische Wert des Taschengeldes, Essener Anzeiger 1926, Nr. 42 v. 19. Februar, 3; H. Knapp, Taschengeld als Erziehungsmittel, Schwäbischer Merkur 1927, Nr. 589 v. 17. Dezember, Frauen-Zeitung, Nr. 1, 1.
[91] Zwischen siebzehn und zwanzig, Arbeiter-Zeitung 1929, Nr. 190 v. 12. Juli, 8-9, hier 8. Der Bestseller von Elizabeth Benson, Zwischen siebzehn und zwanzig. Junge Menschen von heute – gesehen von einer Dreizehnjährigen, Zürich 1929 zeichnete eine sorgenfreie Jugend in einer Welt des relativen Luxus nach; und ließ auch deutscher Kinder träumen und fordern.
[92] B. Hoche, Kind und Geld, Sparkassen-Rundschau 1928, Nr. 20, 3; Sidonie Rosenberg, Die Jugend sparen lehren!, Kölnische Zeitung 1929, Nr. 181 v. 3. April, 12.
[93] Sparkassen-Rundschau 1928, Nr. 20, 8.
[94] Dina Ernstberger, Taschengeld, B. Gladbacher Volkszeitung 1925, Nr. 272 v. 23. November, Aus dem Reich der Frau, 1.
[95] Karl Eschner, Das Taschengeld, Ullsteins Blatt der Hausfrau 45, 1927/28, H. 3, 7-8, hier 8.
[96] General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1925, Nr. 12122 v. 20. Januar, 2.
[97] A. Rothert, Zeitung und Kind, Münsterischer Anzeiger 1925, Nr. 111 v. 5. Februar, 5.
[98] Ein ernstes Wort an unsere kath. Eltern!, Westdeutsche Landeszeitung 1926, Nr. 292 v. 15. Dezember, 5.
[99] Anna Maria Renner, Kunsterziehung in der Volkserziehung?, Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 12 v. 8. Januar, 2.
[100] Kind und Großstadt, Hamborner Volks-Zeitung 1927, Nr. 16 v. 17. Januar, 7.
[101] Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 292 v. 13. Dezember, 4.
[102] Der Haushalt 1, 1929, Nr. 3, 8.
[103] C.L. Frischholz, Jugend und Zukunft, Werben und Verkaufen 25, 1941, 20.
[104] Leder, Wie steht die Jugend zum Markenartikel?, Der Markenartikel 9, 1942, 104-108, hier 104 (auch für die folgende Angabe).
[105] W[alter] H[ans] Wolff, Jugend. Wege zu einer neuen Käuferschaft, Stuttgart 1928, 69.
[106] Ruth Münster, geld in nietenhosen. jugendliche als verbraucher, Stuttgart 1961, insb. 59-60.
[107] Die Teenager als Verbraucher, Der Verbraucher 17, 1963, 56-57, hier 56. Vgl. auch Dorothea-Luise Scharmann, Konsumverhalten von Jugendlichen, München 1965.
[108] Grazer Volksblatt 1926, Nr. 192 v. 28. August, 4.
[109] Süßigkeiten als Stärkungsmittel, Die Unzufriedene 8, 1930, Nr. 26, 6.
[110] Dora Rathke, Nahrung und Zähne, Freiheit! 1931, Nr. 1203 v. 31. Juli, 5.
[111] Nährwert des Zuckers, Medizinische und pharmazeutische Rundschau 8, 1932, Nr. 165, 10.
[112] Zur Dekonstruktion „des“ Kindes vgl. Meike Sophia Baader, Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt a.M. 2014.
[113] Zitate n. Eine süße Sache, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 15, 12.
[114] Zum Anspruch vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 150-189.
[115] Jutta auf Entdeckungsreise, Illustriertes Unterhaltungsblatt 1932, 131-132, hier 132.
[116] Vom Naschen, Vobachs Frauenzeitung 38, 1935, H. 29, 15.
[117] Etwas zum Abgewöhnen, Vorarlberger Tagblatt 1925, Nr. 44 v. 24. Februar, 6.
[118] München im Zeichen der Süßigkeiten, Bayern-Warte und Münchner Stadtanzeiger 1921, Nr. 28 v. 9. Juli, 1.
[119] Das Konditorhandwerk, in: Das deutsche Handwerk. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Gewerbe: Industrie, Handel und Handwerk (III. Unterausschuß) 8. Arbeitsgruppe (Handwerk), Bd. 3, Berlin 1930, 97-136, hier 114 (hieraus auch die anderen Angaben).
[120] Das Bäckerhandwerk, in: Ebd., XI-95, hier 45 (auch für alle anderen Angaben dieses Absatzes).
[121] Der Verbrauch von Speiseies, Die Kälte-Industrie 31, 1934, 58.
[122] Eisdielen, ein typisches Saisongewerbe, Die Deutsche Volkswirtschaft 6, 1937, 534-535.
[123] Th[eodor] Fürst, Die Beurteilung des Entwicklungs- und Ernährungszustandes von Schulneulingen, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 100-102, hier 101.
[124] E[rnst] Merres, Verordnung über Speiseeis, 2. umgearb. u. erg. Aufl., Berlin 1939.
[125] Vergnügter Kinobesuch, Wiener Tag 1937, Nr. 4977 v. 22. April, 9.
[126] Deutsche Konditoren-Fachausstellung, Münchner Neueste Nachrichten 1921, Nr. 264 v. 27. Juni, 13-14, hier 13.
[127] Alt-Berliner Ostern, Solinger Tageblatt 1921, Nr. 71 v. 26. März, Unterhaltungsbeil, 2.
[128] Coburger Zeitung 1922, Nr. 82 v. 6. April, 4.
[129] Margarte Hodt, Ostereier, Duisburger General-Anzeiger 1925, Nr. 160 v. 12. April, 14.
[130] Herta Hagen, Unsere kleinen Leckermäulchen, Hildener Rundschau 1927, Nr. 86 v. 12. April, 8.
[131] Der Osterhas, Fürstenfelder Blatt 1929, Nr. 69 v. 23. März, 4.
[132] Innsbrucker Nachrichten 1921, Nr. 278 v. 6. Dezember, 3.
[133] St. Nikolaus, Der Westfale 1920, Nr. 236 v. 6. Dezember, 3.
[134] Dora Ritter, Kindestraum im Dezember, Essener Anzeiger 1924, Nr. 315 v. 25. Dezember, 10.
[135] St. Niklas kommt, Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1921, Nr. 282 v. 2. Dezember, 5.
[136] Bräuche am Nikolaustag, Coburger Zeitung 1932, Nr. v. 3. Dezember, 5.
[137] Badener Zeitung 1927, Nr. 99 v. 10. Dezember, 5.
[138] Dorothee Goebeler, Vor fünfzig Jahren in der Kleinstadt, Schwerter Zeitung 1924, Nr. 302 v. 24. Dezember, Weihnachtsbeil., 3-4.
[139] Haltbare Weihnachtsbäckereien, Das Blatt der Hausfrau 30, 1919/20, H. 8, 8.
[140] Berg.-Gladbacher Volks-Zeitung, 1920, Nr. 270 v. 23. November, 3; Was verschenke ich zu Weihnachten?, Volkswille 1924, Nr. 296 v. 18. Dezember, 3.
[141] Wilhelmine Bird, Ullsteins Blatt der Hausfrau 38, 1922/23, H. 4, 1, 19, hier 1.
[142] Ein Freudentag, Rosenheimer Anzeiger 1922, Nr. 269 v. 20. Dezember, 2.
[143] Beglückte Kinder, Münchner Neueste Nachrichten 1923, Nr. 7 v. 9. Januar, General-Anzeiger, 1.
[144] Der Weihnachtsbaum, Ruhrwacht 1922, Nr. 333 v. 9. Dezember, 3; E. Gebhart, Vom Christbaumschmuck, Der Modenwechsel des Christbaumes, Velberter Zeitung 1924, Nr. 299 v. 20. Dezember, 10.
[145] Weihnachtssitten und -gebräuche, Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 50, 28.
[146] Barbara Stambolis, Jugend und Jugendbewegungen. Erfahrungen und Deutungen, in: Nadine Rossol und Benjamin Ziemann (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Bonn 2022, 677-696; Dies., Aufgewachsen in „eiserner Zeit“. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise, Gießen 2014.
[147] Vgl. Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt (Hg.), Familienleben im Schatten der Krise, Düsseldorf 1988, 171-179 (Kinder), 187-198 (Jugend).
[148] Richard Birkefeld, Jugend zwischen Vergnügungssucht und politischer Mobilisierung in den ‚Wilden Zwanzigern‘, in: „Mit 17 …“ Jugendliche in Hannover von 1900 bis heute, Hannover 1997, 43-54, hier 49.
[149] Detlev J.K. Peukert, Das Mädchen mit dem »wahrlich metaphysikfreien Bubikopf«. Jugend und Freizeit im Berlin der zwanziger Jahre, in: Peter Alter (Hg.), Im Banne der Metropolen, Göttingen und Zürich 1993, 157-175, hier 157. Ähnlich: Detlev J.K. Peukert, Jugend zwischen Krieg und Krise, Köln 1987.
[150] Peukert, 1993, 162.
[151] Hildegard Jüngst, Die jugendliche Fabrikarbeiterin, Paderborn 1929, 53.
[152] Mathilde Kelchner, Kummer und Trost jugendlicher Arbeiterinnen, Leipzig 1929, 85.
[153] Alice Salomon und Marie Baum (Hg.), Das Familienleben in der Gegenwart, Berlin 1930, 374 (Nachwort).
[154] Marie Baum und Alix Westerkamp, Rhythmus des Familienlebens, Berlin 1931.
[155] Günter Krolzig, Der Jugendliche in der Großstadtfamilie, Berlin 1930. 125-126.
[156] Ähnlich auch Robert Dinse, Das Freizeitleben der Großstadtjugend, Eberswalde und Berlin 1932.
[157] Gertrud Staewen-Ordemann, Menschen in Unordnung. Die proletarische Wirklichkeit im Arbeitsschicksal der ungelernten Großstadtjugend, Berlin 1933, 97.
[158] Helga Schmucker, Der Lebenszyklus in Erwerbstätigkeit, Einkommensbildung und Einkommensverwendung, Allgemeines Statistisches Archiv 40, 1956, 1-18, hier 11.
[159] Jens-Uwe Rogge, Von Pommes, Mayo und Wundertüten – Näherungen an eine Kultur zum Essen, Lutschen und Schmecken, Zeitschrift für Kulturaustausch 36, 1986, 23-30, hier 25.
[160] Vgl. Mark Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, Hamburg 2020.

Coca-Colas Anfänge im Deutschen Reich – Erste Werbekampagnen und mehr

Coca-Cola war lange die wertvollste Marke der Welt. Das braune Getränk stand und steht für den American Way of Life, für die Koppelung von Massenproduktion, Massenkonsum und Markenartikelwerbung. Coca-Cola steht aber auch für globale Probleme des Kapitalismus, für Wasser- und Ressourcenverschwendung, für Steueroptimierung und Lobbyismus (Bartow J. Elmore, Citizen Coke. The Making of Coca-Cola Capitalism, New York und London 2015 (lesenswert!); Amanda Ciafone, Counter-Cola. A Multinational History of the Global Corporation, Oakland 2019; Robert Crawford, Linda Brennan und Susie Khamis (Hg.), Decoding Coca-Cola. A Biography of a Global Brand, London und New York 2021). Das gilt auch für Deutschland. Gleichwohl wird Coca-Cola hier immer auch mit dem Lebensgefühl der „Wirtschaftswunderzeit“ verbunden, also der außergewöhnlichen Wachstumsphase der 1950er und frühen 1960er Jahre und der Reintegration Westdeutschlands in die globale Wirtschaft (Jeff R. Schutts, Coca-Cola History: A “Refreshing” Look at German-American Relations, GHI Bulletin 40, 2007, 127-142; Milena Veenis, Cola in the German Democratic Republic. East German Fantasies on Western Consumption, Enterprise & Society 12, 2011, 489-524). Dies ist überraschend, denn Coca-Cola wurde seit 1900 – wenn auch in kleinen Mengen – ins Deutsche Reich exportiert, und seit 1929 übernahmen zwei deutsche Ableger Produktion und Vertrieb vor Ort. Coca-Cola war Teil und zugleich später Widerhall der Amerikanisierung der späten 1920er Jahre, wurde dann auch integraler Teil der NS-Konsumgüterindustrie. Über die Verbindung von Coca-Cola und NS-Regime ist bereits einiges veröffentlicht worden, während über die Anfänge in Deutschland nur wenig bekannt ist. Dank der unlängst erfolgten Digitalisierung einschlägiger Essener Tageszeitungen ist es nun jedoch möglich, ein genaueres Bild der Anfänge der Coca-Cola GmbH zu zeichnen und diese zugleich in die Konsum- und Wirtschaftsgeschichte der Zeit breiter einzubetten (Dank an Michael Herkenhoff und die Mitarbeiter von https://zeitpunkt.nrw).

Ein kaum bekannter Trank im fernen Amerika

Coca-Cola war im Deutschen Reich schon während des Kaiserreiches bekannt. Doch verglichen mit anderen Besonderheiten der amerikanischen Konsumkultur, etwa dem Kaugummi, blieb die Zahl der Nennungen überraschend gering (Philipp Berges, Welt-Ausstellungs-Fahrt nach St. Louis. XV., Hamburger Fremdenblatt 1904, 154 v. 3. Juli 1904, 13; Lene Haase, In Bluffland, Württemberger Zeitung 1912, Nr. 131 v. 7. Juni, 17-18, hier 18 und Nr. 143 v. 22. Juni, 34, hier 34). Coca-Cola war in den USA anfangs eines der vielen Geheimmittel, mit denen man dort – so die Anpreisung – Alltagskrankheiten erfolgreich bekämpfen konnte, ohne den Arzt konsultieren zu müssen. John S. Pembertons (1831-1888) 1887 geschützte Rezeptur wäre jedoch ohne die Marketingkompetenz von Asa G. Candler (1851-1929) nur noch Kennern bekannt. Der Methodist und Abstinenzler wurde zum eigentlichen Promoter des ungewöhnlichen und von vielen Mythen umrahmten Getränkes. Er propagierte Coca-Cola erst in den Südstaaten, dann in der ganzen Union erfolgreich als schmackhafte Alternative zu den von ihm bekämpften Alkoholika – und als Trank der US-Prohibition wurde es dann während den frühen 1920er Jahren auch in Deutschland immer stärker wahrgenommen (Mark Pendergrast, Für Gott, Vaterland und Coca-Cola. Die unautorisierte Geschichte der Coca-Cola-Company, München 1995; Christa Murken-Altrogge, Coca-Cola art. Konsum, Kult, Kunst, München 1991).

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Das gute Produkt verkauft sich: Die Masse der Konsumenten im frühen Coca-Cola Marketing (American Food Journal 15, 1920, Nr. 12, 34)

Auch wenn die gespaltene deutsche Temperenzbewegung nicht zuletzt vor dem Hintergrund von eugenischen und gesundheitspolitischen Debatten damals durchaus wichtig war, waren es vor allem der ökonomische Erfolg und die massive Werbung, die deutsche Berichterstatter an Coca-Cola interessierten (Amerikanische Reklame-Etats, Der Zeitungs-Verlag 26, 1925, Sp. 547-548, hier 548). Werbefachleute bewunderten beispielsweise die „Ideenverbindung von charakteristischen Merkmalen“ (Ernst Schmidt, Der rote Faden in der Reklame, Seidels Reklame 11, 1927, 153-155, hier 153). Die Anzeigenmotive mochten kommen und gehen, doch die Verankerung des Coca-Cola-Namenszuges und der erst seit 1915 in der „klassischen“ Form entstandenen Glasflasche hatten die Marke als Alltagsbegriff und Marktführer etabliert. Zudem erwähnten seit Mitte der 1920er Jahre zahlreiche Reiseberichte dieses vermeintlich typisch amerikanische Getränk (Mexikanische Abenteuer, Kölnische Zeitung 1928, Nr. 212b v. 17. April, 1; Arnold Höllriegel, Abenteuer im Wilden Westen, Berliner Tageblatt 1928, Nr. 343 v. 22. Juli, 21). Das fremde Produkt schmeckte allerdings nur den wenigsten Besuchern. Aus Kalifornien hieß es entsprechend: „Auf den Tischen sieht man alle möglichen Fruchtsäfte, Limonaden, Orangeaden, Coca Cola und endlich als Erträgliches die Flasche Ginger Ale aus Kalifornien – alles eisgekühlt, aber wässerig, Wasser mit verstohlenem Fruchtgeschmack, nur nicht das, wonach der Europäergaumen lechzt, besonders im Sommer: Bier!“ (Maximilian Hartwich, Im ‚Apollo‘ in der 86. Straße, Neues Wiener Tagblatt 1930, Nr. 156 v. 7. Juni, 2-3) An einen Erfolg von Coca-Cola in Deutschland glaubten nur wenige. Lieber ließ man sich in seinen Vorurteilen über die USA bestätigen, indem man über den vermeintlich letzten Schrei, die Mischung aus Coca-Cola und Aspirin in Studentenkreisen berichtete (Amerikanisches Allerlei, Badische Presse 1927, Nr. 508 v. 1. November, 3).

Internationalisierung: Coca-Colas moderate Expansion in Europa

Die ersten Exporte von Coca-Cola ins Deutsche Reich zielten vornehmlich auf die Versorgung der dort lebenden amerikanischen Staatsbürger. Sie waren noch nicht Bestandteile einer unternehmerischen Expansionsstrategie. Die Coca-Cola Company konzentrierte sich vorrangig auf die systematische Durchdringung des heimatlichen Marktes, die erst Ende der 1920er Jahre erreicht war (Robert W. Woodruff, After National Distribution-What?, Nation’s Business 17, 1929, Nr. 9, 125-127, hier 126-127). Erste ausländische Abfülllizenzen wurden im Gefolge des Einsatzes des amerikanischen Expeditionskorps – mehr als einer Million Soldaten – im Ersten Weltkrieg 1919 in Frankreich vergeben. Eine Ausweitung über die auch als Besatzungs- und Interventionstruppen im Deutschen Reich eingesetzten US-Soldaten scheiterte 1922 allerdings an massiven Hygieneproblemen, die den Coca-Cola-Absatz in Frankreich fast zum Erliegen brachten – die Kronkorken waren nicht sachgemäß desinfiziert worden (Pendergast, 1995, 260).

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Eintragung des Warenzeichens „Coca-Cola“ in der Schweiz 1923 (Schweizerisches Handelsamtsblatt 41, 1923, 564)

Die während der 1920er Jahre dennoch vorangetriebene multinationale Expansion war Folge der nach dem Weltkrieg günstigen Investitionsbedingungen in Europa, dessen Kapitalarmut und der während des Krieges nochmals intensivierten Massenproduktion in den USA. Sie war zugleich Folge des Verkaufs von Coca-Cola durch Asa Candlers Erben an eine von Ernest Woodruff (1863-1944) angeführte Investorengruppe. Sein Sohn Robert W. Woodruff (1889-1985) übernahm 1923 die Präsidentschaft der in Atlanta ansässigen Coca-Cola-Company, die im Gefolge der Nachkriegsrezession und massiv gestiegener Zuckerpreise kränkelte (August W. Giebelhaus, The pause that refreshed the world. The evolution of Coca-Cola’s global marketing strategy, in: Geoffrey Jones und Nicholas J. Morgan (Hg.), Adding Value. Brands and Marketing in Food and Drink, London und New York 1994, 191-214, hier 195-196). Er führte das Unternehmen wieder auf eine höchst profitable Erfolgsspur und vergab bis Ende der 1920er Jahre Abfüllkonzessionen in mehr als 20 Ländern – mit allerdings sehr unterschiedlichem Erfolg (Jeff R. Schutts, Born Again in the Gospel of Refreshment? Coca-Colonization and the Re-Making of Postwar German Identity, in: David F. Crew (Hg.), Consuming Germany in the Cold War, Oxford und New York 2003, 121-150, hier 122).

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Weiße und wohlhabende Kunden: Coca-Cola-Werbung 1929 (The American Girl 1929, Juli-Nr., 43)

Coca-Cola war eben ein Getränk für weiße Konsumenten der amerikanischen Mittelschicht. Ihre Lebens- und Konsumwelt wurde in der Werbung der Firma gefeiert – und damit die Alltagsrealität nicht nur vieler Amerikaner, sondern mehr noch vieler Europäer schlicht ignoriert. Sie entsprach gleichwohl idealisierten Vorstellungen des aufwändigen, ja verschwenderischen Lebens in den USA, das in Hollywood-Filmen und zahlreichen US-Illustrierten präsentiert und auch zelebriert wurde (die beste Analyse dieser Interaktion bietet Mary Nolan, The Transatlantic Century: Europe and America, 1890-2010, Cambridge und New York 2012).

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Transport von Coca-Cola in Barcelona und in den Niederlanden (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 112 v. 23. April, 10)

Die Firmengründungen im Ausland galten den US-Muttergesellschaften – einmal der Firmenzentrale in Atlanta, Georgia, zum anderen der Exportzentrale im steuerbegünstigen Wilmington, New Jersey – als weitere Belege für die Einzigartigkeit ihres Getränks. Doch Coca-Cola war nur als Werbeimagination einzigartig und einheitlich. Die Konzessionsvergabe erfolgte an formal unabhängige Lizenznehmer, deren vorrangige Aufgabe es war, das Franchisesystem mit jeweils nationalen Konzessionären zu etablieren. Diese mussten sich verpflichten, „den Coca-Cola-Sirup zu kaufen und mit Wasser und Kohlensäure auf Flaschen aufzufüllen. Außerdem haben sie sich zur Hälfte an den Kosten der Werbung zu beteiligen. Vor allem aber haben die Abfüller – im eigenen Interesse – dafür zu sorgen, daß die Ware an den Mann gebracht wird.“ (Willi Bongard, Coca-Cola. Das große Geschäft mit der kleinen Pause. Vom Aufstieg und Niedergang eines großen Slogans, in: Ders., Fetische des Konsums. Portraits klassischer Markenartikel, Hamburg 1964, 80-89, hier 87; ähnlich Seidels Reklame 14, 1930, 299). Die Dezentralisierung der Produktion war aufgrund der Transportkosten des Massengutes sachlich geboten. Die Konsequenz war aber auch, dass es abseits des einheitlichen Marketingdaches kein einheitliches Produkt geben konnte. Die Zusammensetzung von Wasser variierte nicht unerheblich, ebenso die des Zuckers. Coca-Cola war zudem in vielen Ländern nicht preisgebunden, die Preisgestaltung also nicht nur national, sondern auch regional unterschiedlich.

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Amerikanischen Ursprungs, doch zugleich ein Weltgetränk (The City Builder 1929, Nr. 8, II)

Die wachsende Präsenz von Coca-Cola war spürbar, zugleich aber kaum vergleichbar mit den Folgen massiver Direktinvestitionen führender US-Unternehmen in Deutschland, etwa dem Kauf der Adam Opel AG in Rüsselsheim durch General Motors 1929 oder aber der Gründung des 1925 in Berlin etablierten, 1929/30 dann nach Köln übergesiedelten Ford-Werkes. Auch die Gründung der Wrigley-Kaugummiwerke in Frankfurt a.M. 1925 und die ein Jahr später in Berlin begonnene Fabrikation von Frigidaire-Kühlschränken entsprachen dem Standardmuster multinationaler Auslandspräsenz. Coca-Cola nutzte eine gänzlich andere ökonomische Strategie, wurde aber gleichwohl im allgemeinen Umfeld der kontrovers diskutierten Amerikanisierung der deutschen Wirtschaft bewertet: „Eine Überschwemmung mit amerikanischer Limonade droht allmählich Europa, nachdem die größte Fabrikantin alkoholfreier Getränke in Amerika, die Coca Cola Company, für den Ausbau ihrer europäischen Interessen eine Dachgesellschaft in Luxemburg gegründet hat“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1931, Nr. 159 v. 4. August, 11). Frühere Konzessionsvergaben in der Schweiz und auch in Österreich waren allerdings wenig erfolgreich gewesen (Irene Bandhauer-Schöffmann, Die Amerikanisierung des Geschmacks: Coca-Cola in Österreich, Historicum 1995, Herbstnr., 22-28; Georg Kreis, Coca-Cola erobert den Schweizer Markt, Schweizer Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 70, 2020, 369-390). Im Deutschen Reich sollte dies anders werden – so jedenfalls die Hoffnung der amerikanischen Repräsentanten von Coca-Cola.

Amerikanisierung im Widerstreit

Die Amerikanisierung während der späten 1920er Jahre war begrenzt und widersprüchlich. Sie machte sich vor allem an den Kulturimporten fest, am Jazz, an schwarzen Unterhaltungskünstlern, an neuen Tänzen, neuen Filmen, vor allem auch an einer neuen Frauenrolle. Der Zuschauersport mit seinen neuen Heroen war amerikanisch angehaucht, das Boxen zumal. Und die Girls der Revuen verwiesen nicht nur indirekt auf Florence Ziegfelds Broadway-Shows. Sie alle gewannen Aufmerksamkeit, prägten zahlreiche Zeitgeistillustrierte, wurden belebt durch die immer stärkere Sichtbarkeit des Amerikanischen durch die Fotopresse. Doch man sollte dies nicht gar zu sehr zum Kennzeichen der Epoche machen, zumal es sich ja vielfach – Hollywood ist dafür ein beredtes Beispiel – um Reimporte europäischer und insbesondere auch deutscher Einwandererunternehmer handelte. Hinter „Amerikanisierung“ verbarg sich nämlich eine schon während des Kaiserreichs immer wieder neu, immer wieder engagiert geführte Debatte um die Identität des aufstrebenden Deutschen Reiches und den Stellenwert von Hoch- und Konsumkultur. Seit den 1870er Jahren gab es immer wieder neue Konsumgüter aus den USA, die teils übernommen und verbessert wurden, die teils aber auch schlicht scheiterten. Man denke nur an das Liebig-Horsfordsche Backpulver, Edisons Phonograph, Gillettes Rasierapparate, Wilsons Rasierseife, Potter-Braces Hosenträger, eine wachsende Palette von Automobilen, Autoreifen, Fahrradnaben, Uhren, Kosmetika, Gartengeräten, Füllfederhaltern, Korsetts, Schuhen usw. Und was wäre Deutsche Weihnacht ohne die amerikanischen Nüsse gewesen…

Die Deutschen kannten und schätzten die standardisierten und zumeist praktischen Angebote aus dem Westen, waren sich zumeist jedoch sicher, Besseres bieten zu können. Nach dem verlorenen Weltkrieg schwand diese Zuversicht. Zugleich aber waren immer mehr Deutsche fasziniert von dem deutlich höheren Lebensstandard in den USA, der sich nicht nur am Dollar festmachte, dieser Bezugsgröße des inflationären Niedergangs 1922/23, sondern auch im Kaufrausch der US-Touristen nach Ende des Weltkriegs. Man war zurückgefallen, man war relativ arm: „Für etwa die gleiche Arbeitszeit wie hier kann der amerikanische Arbeitnehmer die gleiche Lebenshaltung wie sein deutscher Kollege genießen und hat darüber hinaus mindestens den gleichen Betrag wie für diese deutsche Lebenshaltung an Kaufkraft noch einmal frei für höheren Lebensgenuß, für Ersparnis oder Anschaffung – oft auch einen noch erheblich größeren Betrag“ (Julius Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, 36-37). Amerikanisierung bedeutete daher Lernen, Übernehmen, aber immer auch ein Adaptieren, Verbessern und Überholen – so wie man dies mit den überlegenen Angeboten Großbritanniens im 19. Jahrhundert getan hatte.

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Der Kampf gegen die kulturelle Amerikanisierung und die Faszination des Fortschrittsversprechens des Fordismus (Fliegende Blätter 168, 1928, 1 (l.); BZ am Mittag 1929, Nr. 122 v. 6. Mai, 16)

Die Amerikanisierung war daher in den späten 1920er Jahren immer ambivalent, zielte auf ein neues Erfolgsrezept für die geschundene Nation (zur Ambivalenz dieser Zeit vgl. Harald Jähner, Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, Bonn 2023). Mögen in den üblichen Gesamtdarstellungen auch die kulturellen Aspekte im Mittelpunkt stehen, so waren für die politischen, wissenschaftlichen und insbesondere wirtschaftlichen Eliten doch Fragen einer betrieblichen Rationalisierung, verbesserter Massenproduktion und Marktforschung wichtiger (Adelheid v. Saldern und Rüdiger Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert: Eine Einleitung, Zeithistorische Forschungen 6, 2009, 174-185; Stefan Link, Rethinking the Ford-Nazi Connection, Bulletin of the German Historical Institute Washington 49, 2011, 136-150). Das galt auch für die Konsumgütermärkte: „An oberster Stelle steht heute der schlagfertige, straff geleitete Vertriebsapparat, der wie ein feinmaschiges Netz den ganzen Markt bedeckt, dessen weite Verästelungen wie die eines Nervensystems alle Beobachten an die Zentrale weitergeben und doch auch selbständig mit geschickten Reflexbewegungen auf jede Einwirkung von außen so reagieren, wie es die Zentrale nachträglich als allein richtig bestätigt“ (Victor Vogt, Absatzprobleme, Bd. 1, Stuttgart und Wien 1929, 7).

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Importierte Coca-Cola im Amerikanischen Restaurant Roberts in Berlin (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 20 v. 13. Mai, 14)

Das zeigte sich auch im direkten Umgang mit amerikanischer Konsumkultur. Im April 1928 wurde am Berliner Kurfürstendamm beispielsweise das Amerikanische Restaurant Roberts eröffnet, dessen Eröffnung viele Monate von Geheimnissen umrankt war. Ein deutscher Architekt und amerikanische Geldgeber hatten dort einen kulinarischen Kunstraum geschaffen, der nicht nur eigenartige Speisen, sondern in einer fast echten Soda-Fountain auch Getränke am Bartisch bot: „Limonaden aus frischen Früchten, Coca Cola, Ice Creames mit Sodawasser, Frappes mit allerlei Früchten, Milchfrappees, Malzmilchfrappees, Frappees mit Milch und Ei und viele andere geheimnisvolle Drinks“ (Wir essen amerikanisch, Deutsche Allgemeine Zeitung 1928, Nr. 163 v. 5. April, 8). Andere Städte waren vorausgegangen, doch erst die Berliner Gründung machte qua Presseagenturen die Deutschlandrunde (Ein amerikanisches Restaurant in Berlin, Jeversches Wochenblatt 1928, Nr. 86 v. 12. April, 8). Das Fremde wurde beim Namen genannt, konnte ausprobiert und einverleibt werden. Und es wurde zeitweilig ein großer Erfolg, denn schon im August hieß es resümierend: „Es ist in Mode gekommen, und an den schönen Sommertagen ist die Terrasse draußen vor der Tür immer voll. […] So sieht man denn schon am Nachmittag viele Kurfürstendamm-Jünglinge mit ihren Begleiterinnen hier sitzen, sie bevölkern die niedrigen Barstühlchen, die zum Aufklappen eingerichtet sind, radebrachen Englisch und kommen sich ganz international vor.“ (Oskar Mysing, Gewitter am Kurfürstendamm, Kölnische Zeitung 1928, Nr. 428b v. 6. August, 2). Coca-Cola gehörte dazu. Es schien Zeit zu sein für „dieses vom Europäer zunächst mit besonderer Verachtung gestraften Getränkes“ (Max R. Kaufmann, Dollarmillionen aus Wasser und Zucker, Münchner Neueste Nachrichten 1932, Nr. 100 v. 13. April, 3).

Zwischen Atlanta, Köln und Essen: Konturen der Firmengeschichte

Die Gründung der deutschen Coca-Cola-Ableger erfolgte knirschend, war anfangs von persönlichen Rivalitäten und einem doch recht bescheidenen Ertrag überschattet. Und doch sollte es sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zur wichtigsten europäischen Coca-Cola-Dependance entwickeln (Giebelhaus, 1994, 199). Am 13. April 1929 wurde ins Handelsregister der Ruhrgebietsmetropole Essen die „Essener Vertriebsgesellschaft mit beschränkter Haftung für Naturgetränke“ gegründet (Essener Anzeiger 1929, Nr. 92 v. 21. April, 20). Sie war mit einem Stammkapital von 20.000 RM ausgestattet, Geschäftsführer wurde der aus Atlanta stammende Ray Rivington Powers (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 96 v. 25. April, 22). Coca-Cola-Präsident Robert W. Woodruff hatte dafür persönlich grünes Licht gegeben – und diese neue Firma lancierte auch die ersten Werbekampagnen für Coca-Cola in Deutschland 1929/30. Anfang Juni folgte dann die von der Export-Abteilung in Wilmington initiierte „Coca-Cola GmbH“ mit Sitz in Köln und einem Stammkapital von 300.000 RM. Sie sollte die weitere Herstellung und den Vertrieb von Coca-Cola im Deutschen Reich, in Danzig und im Saargebiet flankieren, geleitet von dem in Brüssel ansässigen Repräsentanten Donald Shaw Hawkes (Kölnische Zeitung 1930, Nr. 2302 v. 3. Juni, 3). Nur eine Woche später folgte eine weitere Gründung, abermals in Köln, dieses Mal die „Deutsche Vertriebs-Gesellschaft mit beschränkter Haftung für Naturgetränke“. Powers war abermals Geschäftsführer, doch dank Krediten Woodruffs verfügte er nun über ein Stammkapital von 470.000 RM, mit dem er den gleichen Zweck wie die Coca-Cola GmbH verfolgen sollte (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 137 v. 16. Juni, 18). Reibereien und Zuständigkeitsprobleme waren die Folge, das schwache Wachstum der Anfangsphase hatte auch hierin ihre Ursache.

Die Coca-Cola GmbH wurde im Juni 1931 nach Essen verlegt, Geschäftsführer Hawkes musste dem neuen Brüsseler Repräsentanten Albert Hammond Staton weichen (Deutscher Reichsanzeiger 1931, Nr. 131 v. 12. Juni, 21). An der doppelten Unternehmensstruktur änderte sich jedoch erst einmal nichts (Deutscher Reichsanzeiger 1931, Nr. 146 v. 26. Juni, 32). Immerhin siedelte im Oktober auch die „Deutsche Vertriebsgesellschaft mbH. für Naturgetränke“ nach Essen über, so dass die Entscheidungen nun einem Ort gebündelt waren (Bergisch-Märkische Zeitung 1931, Nr. 282 v. 17. Oktober, 16; Deutscher Reichsanzeiger 1931, Nr. 244 v. 19. Oktober, 5). Doch erst im Jahre 1937 etablierte sich eine einheitliche Zentrale. Im März wurde Geschäftsführer Staton durch den Deutschen Max Keith (1903-1987) ersetzt, zugleich das Stammkapital auf ein Drittel gesenkt (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 66 v. 20. März, 25). Anschließend erfolgte im April die Zusammenlegung der Deutschen Vertriebsgesellschaft mbH für Naturgetränke und der Coca-Cola GmbH – als Name beließ man es bei der Coca-Cola GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 79 v. 8. April, 12). Die Export-Abteilung behauptete ihren Einfluss, mit ihren Einlagen wurde das Stammkapital wieder erhöht. Powers, der 1938 tödlich verunglückte, wurde angemessen entschädigt (Giebelhaus, 1994, 199). Die weitere Unternehmensgeschichte während der Ära Keith ist für unsere Fragestellung nicht mehr von Belang, auch wenn sie den institutionellen Behauptungswillen der Coca-Cola GmbH unter Beweis stellt. Gleichwohl waren die Anfangsjahre kein Glanzstück unternehmerischer Führungskultur.

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Präsenz zeigen: Coca-Cola-Wagen im Korso der Essener Rosenfahrt 1929 (Essener Anzeiger 1929, Nr. 170 v. 23. Juli, 9)

Die ersten Werbekampagnen 1929/30 waren demnach Ausdruck des Gestaltungswillens der von Powers geleiteten Essener Vertriebsgesellschaft. Sie standen für die Leistungsfähigkeit und die Gestaltungsmöglichkeiten regionaler Repräsentanten. Weiteren Lizenznehmern sollte dadurch ein Beispiel für ihre regional begrenzte Arbeit gegeben werden. Atlanta und Wilmington waren fern, mochten helfen. Doch – so hieß es in den USA „die Vertriebssorgen haben sie auf die Schultern der ‚Abzieher‘ und des Zwischenhandels abgeschoben. Die Abzieher verdünnen den Syrup mit Sodawasser, füllen das fertige Getränk in Flaschen ab und verkaufen es an die Erfrischungsstände in den Städten und an den Autostraßen sowie an die Spezereiwarenhändler“ (Kaufmann, 1932). Über die Anfänge in Essen gibt es mehrere retrospektive Berichte, die allerdings immer von der späteren Wachstumsgeschichte eingefärbt waren.

Der aus Essen stammende Marketing-Experte Hubert Strauf (1904-1993), der mit seiner Firma „Werbe-Strauf“ die Coca-Cola-Werbung seit den 1930er Jahren mitbestimmte und in den 1950er Jahren zu einem der führenden westdeutschen Werbetexter werden sollte, berichte in einem späteren Interview: „‚Ich begegnete Coca-Cola zuerst in amerikanischen Prospekten, die damals in Essen ins Deutsche übersetzt werden sollten. Das waren ganz billige kleine Prospekte, wo vorne drauf ein großes Wort stand: ‚Was ist Coca-Cola‘, Fragezeichen. Und dann machte man das auf und da lag da quer die Flasche und drunter stand: ‚Coca-Cola ist das eingetragene Warenzeichen für das einzigartige Getränk der Coca-Cola-Gesellschaft‘. Cé tout (lacht). Auf der Rückseite waren solche amerikanischen Beschäftigungsspiele, Quiz, Rätsel, das wurde dann auf der Straße, in den Gaststätten und bei Sportveranstaltungen verteilt. Die erste Coca-Cola-Flasche wurde damals in Essen 1929 abgefüllt, in einer winzigen Baracke von Krupp aus der Kriegszeit.‘ Essen war von den Amerikanern ausgewählt worden, weil es als Zentrum der Arbeit die nötige Gewähr für den großen Durst zu bieten schien – zum Freizeitgetränk sollte Coca-Cola erst später werden. Außerdem hoffte man unter den dort ansässigen Brauereien die ersten Cola-Konzessionäre zu finden: ‚Die Leute, die dafür in Frage kamen, die Selterswasserfabrikanten, die Bierverleger, die probierten das und sagten dann auf gut Ruhrdeutsch: ‚Dat tüch, dat süpt hier nemmes!‘ Das Zeug, das trinkt hier keiner. Schließlich hat er [Powers, US] sich die ersten Flaschen selbst abgefüllt – mit einem einzigen Arbeiter. Mit dem ist er dann mit einer Blechkarre und der ersten Produktion von drei oder vier Kisten an die Ruhr gefahren, zur sog. Hügelregatta und hat die ersten Flaschen Coca-Cola selbst verkauft, der Amerikaner in einem schönen Marengo-Überzieher und steifem Hut, ein Mann wie ein Schrank, der rief: Trinken sie Coaca-Coala, eiskalt, koöstlich und erfrischt…‘“ (sämtlich zit. n. Helmut Fritz, Das Evangelium der Erfrischung. Coca-Cola – Die Geschichte eines Markenartikels, Siegen 1980, 21).

Ein zweiter Bericht entstammt der PR-Abteilung von Coca-Cola, beschrieb die kargen Anfänge vor dem Hintergrund einer sich seit 1949 rasch zu neuen Höhen aufschwingenden Absatzbewegung: „Der erste Essener und der erste deutsche Abfüllbetrieb für COCA-COLA in der Essener Hammerstraße, mit selbstverständlichem Sinn für tadellose Sauberkeit und Hygiene errichtet, und am 8. April 1929 in Betrieb genommen, war alles andere als ein moderner Großbetrieb. Damals bediente ein junger Essener, Josef Ignasiak, eine automatische 6-Flaschen-Abfüllmaschine und schickte die ersten Sendungen COCA-COLA mit einem Pferdefuhrwerk auf die Reise. Heute ist der kleine Angestellte von damals Fabrikmeister in der Essener Fabrik auf dem Kaninchenberg. An einem Tage füllen die von ihm betreuten Maschinen heute mehr Flaschen ab, als während des ganzen Jahres 1929“ (Die Idee der erfrischenden Pause, Deutscher Kantinen-Anzeiger 29, 1954, H. 9, 6-8, hier 7). Das PR-Narrativ des Aufstiegs aus kleinsten Anfängen hin zu späterer Größe charakterisierte auch eine spätere Jubiläumsschrift, die alle negativen Aspekte dieses Genres peinlich bündelte: „‚Es war ein bescheidener Anfang. Wir hatten einen halbautomatischen Füller, und mit viel Geschick gelang es uns, bis zu 35 Kisten Coca-Cola pro Stunde abzufüllen,‘ erinnert sich Josef Ignasiak, Mann der ersten Stunde von Cola-Cola in Deutschland. Der Absatz entwickelt sich langsam. Die Deutschen müssen erst auf den Geschmack kommen. […] Die Wirte sind skeptisch. Sie kaufen nur zwei, höchstens einmal sechs Flaschen. Probeweise wollen sie Coca-Cola, die als ‚köstlich – erfrischend‘ beworben wird, an ihre Gäste ausschenken. Der Verkauf von 24 Flaschen am Tag ist absoluter Rekord. Die Ware wird in der legendären ‚Seufzertasche‘ transportiert. Eine Art Aktentasche, mit Zink ausgeschlagen und mit Eiswasser gefüllt, sorgt für die richtige Trinktemperatur. Ihr Gewicht und die mageren Umsätze sind noch Anlass für Stoßseufzer. Doch die Pioniere halten durch“ (75 Jahre Coca-Cola in Deutschland, hg. v.d. Coca-Cola GmbH, Essen 2004, 8-9).

Derartige Beschreibungen sind natürlich nicht als Abbild der Anfänge in Essen zu verstehen, sondern sind wichtige Ergänzungen zu den dokumentierbaren Werbeaussagen 1929/1930. Die Berichte erinnern in ihrem einseitigen Blick auf die Widrigkeiten zugleich an die vielgestaltigen Erzählungen von Missionaren und Entdeckern im Umgang mit Ungläubigen und Eingeborenen. Konsum hat eben auch etwas mit Glauben und Bekehrung zu tun.

Essen, nirgendwo sonst: Die Anfänge der Coca-Cola-Werbung

Kommen wir nun endlich zu den ersten deutschen Werbekampagnen für Coca-Cola. Es handelte sich dabei um Zeitungsanzeigen, also nur ein Element der oben schon angerissenen Werbeanstrengungen der „Pioniere“. Coca-Cola wurde zudem mittels Direktwerbung, also Broschüren und Werbezetteln, mittels Plakaten und Giebelwerbung, Proben und Ausstellungen angepriesen: Das verbindende Element war dabei nicht nur das Getränk, sondern immer auch die zwei stetig präsentierten Hauptelemente der Werbeanstrengungen, nämlich der Namenszug und die seit 1915 nicht veränderte Glasflasche mit einem Inhalt von 0,192 Liter, also 6,5 Unzen (Norman L. Dean, The Man behind the Bottle, s.l. 2010). „Flaschenform wie Warenzeichen zeigen: Das ist »Coca-Cola«!“ (Wiener Illustrierte 61, 1942, Nr. 21, 12) – so hieß es bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein.

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Start des anvisierten Siegeszuges (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 115 v. 26. April, 5)

Die Anzeigen stammen aus drei lokalen Tageszeitungen: Der zentrumsnahen „Essener Volks-Zeitung“ des Verlages Fredebeul & Koenen, dem „Essener Anzeiger“ des Reismann-Grone-Verlags, dessen Besitzer Theodor Reismann-Grone (1863-1949) 1933 NSDAP-Oberbürgermeister Essens werden sollte, und der nationalen „Essener Allgemeine Zeitung“ des Giradet-Verlages. Die im Verlag Franz Gemoll erscheinende sozialdemokratische „Volkswacht“ wurde nicht mit Coca-Cola-Anzeigen bedacht. Arbeiter bildeten eben nicht die Zielgruppe des neuen, relativ teuren Getränks. Coca-Cola war ein Angebot für die urbanen Mittelschichten. Die Firmenleitung hielt engen Kontakt mit den Presseorganen, die wiederum an potenten Anzeigenkunden interessiert waren. Und mehr als das: Kurz vor der Produkteinführung betonte der Dokumentarfilmer Dietrich W. Dreyer (1887-1961) in einem in Essen gehaltenen Vortrag einige Hintergedanken: „Wenn wir Amerika in seiner ganzen Größe und Kraft gesehen haben, müssen wir fast unser gutes, altes Europa bedauern, doch eins haben wir, was die Amerikaner nicht einfach importieren und dreimal vergrößern können, Kultur und Tradition. Dennoch wollen wir lernen von Amerika, was uns in Wirtschaft und Weltgeltung helfen kann“ („Das schaffende Amerika.“, Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 97 v. 8. April, 3).

Lernen konnte man gewiss die gängigen Abläufe einer Werbekampagne: „Seit Wochen prangen nämlich tiefgroße Plakate an den Anschlagsäulen mit den geheimnisvollen zwei Worten Coca-Cola. Man blieb davor stehen, schüttelte den Kopf und glaubte wohl, daß eine neue Zigarette im Anmarsch sei. […] Neue Plakate tauchten in diesen Tagen auf; sie lüfteten das Geheimnis: ‚Coca-Cola ist ein herrliches Getränk‘“ (Mister Powers erklärt: „Coca-Cola ist ein herrliches Getränk“, Essener Anzeiger 1929, Nr. 92 v. 20. April, 7 – auch für die folgenden Zitate). Powers stand im Mittelpunkt der lokalen Presseberichterstattung: „Er hat einen Stab von sehr smarten Amerikanern um sich, die die Fabrikation leiten und die Organisation des Verkaufes durchführen. Ihre Zelte haben sie an der Hammerstraße aufgeschlagen, und zwar dort, wo die Firma Alfred Paas ihre riesigen Niederlassungen hat. Die Amerikaner sind sehr praktische Geschäftsleute; sie fangen klein an und bauen den Betrieb nach den Bedürfnissen der Konsumenten aus. Einstweilen produzieren drei Maschinen täglich 7000 Flaschen. Mister Powers will es dabei aber nicht bewenden lassen“. Er wollte den Markt auch in Deutschland erobern – das Produkt sei überlegen, die für den deutschen Geschmack viel zu kleinen Flaschen seien Teil eines für die Konsumenten notwendigen Lernprozesses: „‚Das Trinken ist eine Frage der Erziehung. Nicht die großen Mengen erfrischen, sondern das richtige Quantum zur richtigen Zeit.‘“ Rückfragen nach einer vermeintlich amerikanischen „Invasion“ wies Powers jedoch zurück. Er wolle Geld in Deutschland anlegen – und dieses werde vor allem Deutschen zugutekommen.

Neben derartigen Selbstdarstellungen gab es auch gängige Produktpräsentationen: Unter dem Mantel der Information wurde das neue Getränk den Lesern in Form eines redaktionellen Artikels präsentiert. Coca-Cola erschien – wie in der Werbebroschüre – als eine „raffinierte Mischung von Frucht-, Blätter- und Nußsäften (vierzehn an der Zahl), die aus den verschiedensten Ländern stammen […], als ein reines Naturprodukt, das keinerlei chemische oder künstliche Produkte enthält. Nur die besten Materialien werden zur Fabrikation benutzt, bester Kristallzucker, eiskaltes, klares, filtriertes, kohlensäurehaltiges Wasser und der mit größter Sorgfalt behandelte Sirup, die Seele des Getränkes“ (Was ist Coca-Cola?, Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 112 v. 23. April, 10; auch für die weiteren Zitate). Die von Struff benannte winzige Baracke mutierte zur „blitzsauberen Fabrik“, die Essener Bürger fanden sich auf Augenhöhe mit den Bewohnern Shanghais, San Franciscos und Roms. Essen war auserwählt als „Ausgangspunkt für Deutschland“ – und zugleich vergewisserte man, dass „nur ein ganz winziger Teil des Ertrages […] durch die Einfuhr von verschiedenen Fruchtsäften ins Ausland“ fließe. Der werbefrohe Artikel schloss mit der hoffnungsfrohen Kunde: „Coca-Cola wird sich in Kürze wegen seiner naturreinen Qualität in Deutschland derselben Beliebtheit erfreuen, die es über die ganze Welt besitzt, es ist der Champagner der alkoholfreien Getränke.“

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Coca-Cola als Genussmittel (Essener Anzeiger 1929, Nr. 101 v. 1. Mai, 9)

Entsprechend hochwertig präsentierten die Anzeigen das braune Zuckerwasser: Nicht Erfrischung stand im Vordergrund, sondern „Genuß“. Die zweite Anzeige war mit „Eine Neuigkeit für Feinschmecker“ überschrieben, erlaubte einen Blick in ein gehobenes Café mit gut gewandten „modernen“ Menschen und durchweg „neuen“ Frauen (Essener Anzeiger 1929, Nr. 99 v. 28. April, 7; auch für das folgende Zitat). Gleichwohl war dieser naturreine Wonnennektar auch in Essen überall erhältlich: „Nach Spaziergängen, im Büro, im Café, bei Ihrem Kolonialwarenhändler – verlangen Sie Coca-Cola“ – so könne man 14 verschiedene Fruchtarten aus neun Ländern in nur einem Getränk genießen.

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Das Lieblingsgetränk von vielen Tausenden? Ein neues Getränk sorgt für virtuelle Furore (Essener Anzeiger 1929, Nr. 104 v. 4. Mai, 5)

Die ersten Anzeigen verbeugten sich verbal vor den potenziellen Kunden der Ruhrmetropole, hießen sie willkommen in einem exklusiven internationalen Kreis der Millionen: „Ganz Essen spricht von Coca-Cola“ (Essener Volkszeitung 1929, Nr. 126 v. 7. Mai, 4). Die Anzeigen selbst hatten eine klare, gut wiedererkennbare Struktur: Neben Flasche und Namenszug traten einfache Graphiken von Menschen, die zumeist im freudigen Miteinander präsentiert wurden. Die Schriftart war einheitlich, klare Überschriften korrespondierten mit der aus der Rolle fallenden und daher besonders hervorgehobenen Spencerian Script-Typographie des 1886 geschaffenen Namenszuges.

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Das deutsche Publikum klar verfehlt (Essener Volks-Zeitung, Nr. 140 v. 22. Mai, 7 (l.); ebd., Nr. 144 v. 26. Mai, 11)

Der Verbeugung vor den Essener Bürgern folgten Einblicke in die imaginierte Lebenswelt der amerikanischen Coca-Cola-Trinker. Schicke Wagen, schicke Kleidung, Club und Ober – die Bildsprache der Folgeanzeigen war fern vom Alltag im industriellen Herzen des Deutschen Reiches, in einer von Stahl, Maschinen und Energiewirtschaft geprägten Stadt, die zugleich die reichsweit wohl modernste Einzelhandelsstruktur aufwies: Zwei große Konsumgenossenschaften, katholisch und sozialdemokratisch, Krupps Konsumanstalt, leistungsfähige Filialbetriebe wie Tengelmann, Kaisers Kaffeegeschäft oder Hill. Die lokalen Berater wussten um das Schielen derartiger Werbung, rangen mit dem Sendungsbewusstsein der amerikanischen Markteroberer: „The Americans always told us to only translate the ads” (zit. n. Jeff R. Schutts, „Die erfrischende Pause“: Marketing Coca-Cola in Hitler’s Germany, EBHA paper 2005 (Ms.), 7. Erschienen in: Pamela E. Swett, S. Jonathan Wiesen und Jonathan R. Zatlin (Hg.), Selling Modernity. Advertising in Twentieth Century Germany, Durham 2007, 151-181), so Hubert Struff. Er hob zugleich lokale Bemühungen des Umpolens derartiger Anzeigen hervor. Es ging um die Lokalisierung des US-Getränks, um einen glaubhaften Bezug zu den nominellen Zielsubjekten derartiger Werbung. Dafür zentral wurde ein im Mai 1929 ausgelobtes Preisausschreiben: „Trinken Sie 2 bis 3 Glas Coca-Cola, und sagen Sie uns, was Sie davon halten – Ihr Urteil interessiert uns! Bedingungen: Schreiben Sie in höchstens 20 Worten, warum Sie Coca-Cola mögen / Es sind 12 Preise ausgesetzt: 1. Preis: Mk 500,- für das beste Urteil / 2. Preis: Mk. 250,- für das nächstbeste Urteil / 10 Preise à Mk 100,- / Ferner erhalten die Einsender der 20 weiteren besten Beurteilungen je 6 Flaschen Coca-Cola“ (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 142 v. 24. Mai, 3).

Preisausschreiben waren keineswegs neu, sie kamen im Deutschen Reich kurz nach der Jahrhundertwende auf. Schwerpunkte waren Markenartikel, zumeist des Lebensmittelsektors, optische Instrumente und auch Druckwaren. In den 1920er Jahren nahm ihre Bedeutung leicht ab, doch gerade bei Innovationen blieben sie ein wichtiges Werbemittel – allerdings auch eine vorrangig kleinbürgerliche Passion (Preisausschreiben der modernen Welt, Moderne Welt 14, 1932/33, H. 1, 7). Bei den amerikanischen Firmen ragten die regelmäßigen Preisausschreiben von Kodak hervor.

Während eine Reihe Essener Bürger ihre Reime schmiedeten und die Coca-Cola-Repräsentanten auf die Ergebnisse warteten, waberte die Anzeigenwerbung ohne rechte Richtung dahin: Zum einen wurden Anzeigen geschaltet, die abermals die Cola-Flasche in den Mittelpunkt rückten, die nun „abends im Familienkreise“ getrunken werden sollte. Entsprechend erweiterte sich der Verkaufskreis: „Ihr Kolonialwarenhändler führt es“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 132 v. 8. Juni, 7). Zum anderen präsentierte man weiterhin mondäne US-Anzeigen, deren Bildmotive Verzehrssituationen der gehobenen Mittelschicht präsentierten, die sich im Straßen- oder Strandcafé erfrischten, die zugleich aber nur sich selbst gertenschlank oder männlich-durchtrainiert repräsentierten (Essener Anzeiger 1929, Nr. 109 v. 11. Mai, 11; Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 172 v. 22. Juni, 3; ebd., Nr. 175 v. 25. Juni, 3; Essener Anzeiger 1929, Nr. 156 v. 6. Juli, 9). Parallel veränderte sich die Periodizität der Anzeigen. Gab es anfangs alle drei Tage eine Annonce, so schaltete man seit Juli nurmehr alle sechs Tage eine Beschwörung des Erfrischungskaufes. Einzelne Motive wurden mehrfach gedruckt, schon bekannte Bild- und Textelement neu rekombiniert. Doch mit ca. 30 Einzelanzeigen handelte es sich um eine elaborierte Werbekampagne, deren Umfang und Ausstattung viele andere dieser Zeit in den Schatten stellte.

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Das Preisausschreiben als lokales Ereignis (Essener Allgemeine Zeitung 1929, Nr. 273 v. 15. Juni, 4 (l.); ebd., Nr. 334 v. 18. Juli, 12)

Das Preisausschreiben ermöglichte zudem eine neuerliche Lokalisierung der Werbung: Frau Antonie Zierau, Inhaberin eines Essener Schönheitssalons, präsentierte sich zwar in etwas rüschiger Bluse: Doch mit einem Bubikopf nebst angedeuteten Herrenwinkern machte sie Louise Brooks (1906-1985) durchaus Ehre, der Hollywoodbelle, die 1929 für zwei Filme nach Deutschland gekommen war. Präzise hatte sie die Wortgrenze ausgenutzt – und strich 500 RM Preisgeld ein, die sie gleich in eine Reise an die Ostsee investierte: „Coca-Cola, Trank der Götter, / Jedem Sportler Siegesretter, / Jedem Wandrer unentbehrlich, / Jeder Hausfrau zugehörig, / Labetrunk der neuen Zeit, / Herzlichster Bekömmlichkeit.“ Nun gut, es ging um ein Lebensgefühl, auf dessen Wellen die Produkteinführung gelingen sollte. Und das Gedicht besaß eine gewisse Eigenständigkeit, anders als das Reimwerk des Zweitplatzierten, eines Essener Buchhändlers, der die Werbeattribute der Coca-Cola-Macher nur leicht variierte, diesen damit aber Selbstbestätigung ermöglichte. Weitere Einsendungen posaunten werbeträchtig: Siegreich dringst in alle Zonen, / Du Getränk der Millionen, / Herb, erfrischend, ohnegleichen, / Wirst Dein Ziel bestimmt erreichen“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 143 v. 21. Juni, 17). Entsprechende Auszüge mixten die Werbeverantwortlichen in die visuell weiterhin fremd-amerikanisch geprägt Anzeigen, boten so kreolisierende Anreize für Essener Bürger – nicht unbedingt für den Durchschnittsmalocher (Essener Anzeiger 1929, Nr. 145 v. 23. Juni, 17; Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 179 v. 29. Juni, 3; ebd., Nr. 184 v. 4. Juli, 3). Wie wichtig den Machern diese lokale Erdung war, unterstricht die Wiederholung einzelner Anzeigen (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 194 v. 14. Juli, 5). Damit konnte man zugleich die relative Erfolglosigkeit der Anfangsphase überspielen. Am Ende blieben Slogans übrig: „Erfrischend… gibt geistigen Schwung!“, „Erfrischend, stärkend und pikant“, „Was Millionen heut erfrischt“ und natürlich „Labetrunk der neuen Zeit…“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 171 v. 24. Juli, 7; Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 203 v. 23. Juli, 3; Essener Anzeiger 1929, Nr. 174 v. 27. Juli, 9; ebd. 1929, Nr. 182 v. 6. August, 15). So verging in Essen der Sommer, begleitet von nunmehr schon bekannten Bildern und Appellen.

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Zielgruppendifferenzierung in der Coca-Cola-Werbung: Golfer (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 263 v. 26. September, 3)

Erst im September änderte man die Strategie – und griff dabei wiederum auf vermeintlich bewährte Vorlagen aus den USA zurück. Außergewöhnlicher war jedoch, dass man am Ende des Sommers nicht auch die Werbeanstrengungen einstellte. Im Deutschen Reich war das nur bei Heilwassern üblich, zudem vor Weihnachten und Ostern. Doch optimistisch erklang nun: „Früchte schmecken und erfrischen zu jeder Jahreszeit. […] Coca-Cola ist das ideale Erfrischungsgetränk zu jeder Jahreszeit“ oder „Im Wechsel der Jahreszeiten gleichbleibender Genuss“ (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 277 v. 5. Oktober, 13; Essener Allgemeine Zeitung 1929, Nr. 441 v. 1. Oktober, 13). Neben die Naturmystik des eigenen „naturreinen“ Getränkes trat in der dunkleren Jahreszeit zudem eine Art Sonnenkult, der auch die Essener erwärmen sollte: „Die Naturkraft der Sonne in jeder Flasche dieses köstlichen Getränks!“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 238 v. 10. Oktober, 7). Sprachlich baute man durchaus Brücken zum Alltagsleben, sprach von „Feierabend“ nach „anstrengender Tagesarbeit“, präsentierte zugleich aber weiter Werbebilder fern dieser Massenrealität (Essener Allgemeine Zeitung 1929, Nr. 455 v. 15. Oktober, 6).

Die Differenz zwischen Alltag und Traumwelt schien durch das mit 30 Pfennig pro Glas resp. Flasche recht teure Getränk überbrückt werden können – doch diese Diskrepanz war nicht unbedingt erwünscht, spiegelte die für viele US-Unternehmen (und auch deutsche) typische Ignoranz der formal adressierten Konsumenten. Und so wurde im November von der „Erhitzung des Tanzes“ gesprochen, garniert mit Armbändern für die Upper Class, vor Weihnachten dagegen von der Ermüdung durch Weihnachtsbesorgungen (Essener Anzeiger 1929, Nr. 275 v. 23. November, 7; ebd. 1929, Nr. 293 v. 14. Dezember, 11). Ebenso unpassend dürfte die stete Gleichsetzung von Coca-Cola mit einem Fruchtgetränk gewesen sein – da erschien die langsam einsetzende Werbung für deutschen Süßmost doch glaubwürdiger (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 535-543). Das Konzentrat sollte aus 14 verschiedenen „Früchten“ komponiert worden sein, Coca-Cola sei „Gesund – wie frische Früchte“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 264 v. 9. November, 11), ja im Getränk seien „Aufgespeicherte Sonnenstrahlen“ (Ebd, Nr. 303 v. 28. Dezember, 15) enthalten. Heutzutage wäre das wohl irreführend.

Insgesamt haben die Essener „Pioniere“ massiv in die Anzeigenwerbung investiert, nutzten den Lockreiz ferner US-amerikanischer Lebenswelten, führten ein gut dotiertes Preisausschreiben durch, verbeugten sich immer mal wieder vor den Essener Konsumenten, warben für den Coca-Cola-Genuss bis zum Jahresende. Danach endete die Werbekampagne. Und das Resultat? Im ersten Jahr wurden 5.840 Kisten des braunen Nasses verkauft. Für knapp 650.000 Einwohner war das nicht gerade viel. Es ist nachvollziehbar, dass die Export-Abteilung in Wilmington nun auf die Ausweitung der Lizenzvergabe drängte – und dem mit der Gründung der Coca-Cola GmbH in Köln auch Nachdruck verlieh.

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Erweiterung des Vertriebsnetzes (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1930, Nr. 322 v. 12. Juli, 9; Remscheider General-Anzeiger 1930, Nr. 161 v. 12. Dezember, 13)

Die Folgen spiegeln sich in einer zweiten, deutlich kleineren Werbekampagne, die in Essen, aber auch vom neuen Lizenznehmer am Niederrhein durchgeführt wurde. Neuerlich wurde die lokale Bevölkerung direkt angesprochen. Flasche und Namenszug traten noch stärker hervor, wurden neu umrahmt. Die Mischung von Bild und Text wurde beibehalten, doch nun auf Fotos gesetzt. Anders ausgedrückt: Die „Pioniere“ lernten aus dem Desaster der ersten Werbekampagne. Die Anzeigen erhielten kräftigere, durch Großschreibung unterstrichene Schlagzeilen. Vor allem aber versuchte man, andere Lebenswelten anzusprechen, solche, mit denen deutsche Käufer ansatzweise Verbindung hatten. Die Anzeigen propagierten Coca-Cola nun kaum mehr als Genussmittel, sondern als Erfrischungsgetränk. Nicht mehr die mondäne Welt der sich seit dem Börsenkrach in New York in freiem Fall befindlichen USA wurde beschworenen, sondern ehrliche Sportler, von denen man mit realen Leistungen in der Presse lesen konnte.

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Werbung mit nationalen Sportgrößen: Hans Wichmann (1905-1981), Victor Rausch (1904-1985) und Gottfried Hürtgen (1905-?) (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1930, Nr. 370 v. 9. August, 5 (l.); ebd. 1930, Nr. 406 v. 30. August, 9)

Den Anspruch relativer Exklusivität bediente man mit schönen Frauen aus Hollywood, aber auch aus Deutschland. Diese Frauen mochten zwar in einer Traumwelt leben, doch sie waren nahbarer als die seelenlosen Bleistiftfiguren, die 1929 für Coca-Cola warben.

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Weiblichen Pendants aus der Welt des Glamours: Filmschauspielerin Lisa Lee (1902/7-2001) und die spätere Miss Germany Ruth Ingrid Richard (Essener Volks-Zeitung 1930, Nr. 232 v. 22. August, 9 (l.), ebd., Nr. 239 v. 29. August, 6)

Es wäre dennoch verfehlt, die in dieser zweiten Werbekampagne sichtbar werdenden Lernprozesse zu stark zu gewichten. 1930 verkaufte Coca-Cola in Deutschland lediglich 9.439 Kisten (Schutts, 2005, 5), so dass angesichts des gewachsenen Absatzgebietes von einer Trendwende nicht gesprochen werden konnte. Wichtiger als verbesserte Werbung – und das war der eigentliche Lernprozess – waren massive Verbesserungen der Vertriebsstruktur. Entsprechend stellte die Firma weitere Anzeigenkampagnen ein – und nahm diese erst 1936 wieder auf. Die ersten Werbekampagnen 1929/30 spiegelten demnach ein überbordendes Vertrauen in die Kraft der Werbung – doch dies war in Deutschland nicht nur während der Weltwirtschaftskriese eine Chimäre.

Abseits der Werbung: Die nur langsame Verankerung vor Ort

Der Fehlschlag von Coca-Cola war nicht allein Folge der eigenen innerorganisatorischen Probleme, der zu stark an US-Vorlagen orientierten Anzeigenwerbung und dem fremden Geschmack eines recht teuren Getränkes. Es gab eine Reihe weiterer Ursachen, die allesamt außerhalb der Kontrolle der Amerikaner waren, die eine mehr als oberflächliche Marktanalyse jedoch hätte vorab kennen müssen.

Erstens war es für Coca-Cola recht schwierig, ihr Produkt als eisgekühltes Getränk anzubieten – und warme Coca-Cola ist in der Tat eine geschmackliche Herausforderung. Das Deutsche Reich war zwar im Felde der Großkältemaschinen auf Augenhöhe mit den amerikanischen Konkurrenten, doch bei der häuslichen und auch kleingewerblichen Kühlung lag es weit, weit zurück. In ganz Berlin, einer voll elektrifizierten Weltmetropole, gab es Anfang 1929 erst 1.126 Kühlschränke – trotz der Präsenz des weltgrößten Herstellers Frigidaire vor Ort (Elektrizitätswirtschaft 28, 1929, 528-529). In den USA gab es 1929 dagegen bereits 840.000 elektrische Kühlschränke, 1934 dann 1,39 Mio. (Helios 11, 1935, 698). Bis 1939 sollte die Zahl in Deutschland auf ca. 250.000 steigen, ergänzt durch deutlich mehr mit Kunsteis betriebenen Eisschränken. Während Ausfluglokale und Gaststätten seit den späten 1920er Jahren langsam in Kühlräume investierten, waren diese, ebenso wie kleinere Kühltruhen, im Einzelhandel und bei den meisten Gaststätten unüblich. Eine Kühlkette bestand nicht. Entsprechend hatte Coca-Cola beträchtliche Probleme, ihr Produkt durchweg kühl anzubieten. Damit entfielen auch gängige Vertriebsmöglichkeiten über den Einzelhandel, denn für die in den USA schon üblichen Six-Packs fehlte schlicht die Kühlinfrastruktur. Entsprechend konzentrierte sich der Absatz auf Gaststätten, wurde in der frühen Werbekampagne nur mit Erfrischung, kaum aber mit „eisgekühlt“ oder aber „eiskalt“ geworben (Pendergast, 1995, 329-331).

Zweitens hatte man in den USA die deutsche Getränkekultur nur unzureichend studiert. Neben Wasser bildeten (Ersatz-)Kaffee, Bier und Milch die wichtigsten Getränke. Nicht alkoholische Getränke besaßen – auch mangels Prohibition – eine deutlich geringere Bedeutung als in den USA. Der Tafel- und Heilwasserkonsum lag 1928 bei mehr als 2,5 Liter pro Kopf. Limonaden galten lange als Kinder- und Frauengetränke, doch während des Ersten Weltkrieges stieg ihr Konsum auf bis zu 10 Liter pro Kopf. Es handelte sich vielfach um Ersatzmittel mit schlechtem Geschmack – und dieses Negativimage war entscheidend für den raschen Niedergang der Branche nach dem Kriege (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur. Ein historischer Rückblick, Aktuelle Ernährungsmedizin 21, 1996, 29-39, hier insb. 32-34). Gleichwohl gab es immer wieder neue Brausen, Erfrischungsgetränke, die als Saisonangebote jedoch nur selten wirklich lukrativ waren. Der heutzutage wichtige Fruchtsaftkonsum setzte erst langsam ein. Insgesamt lag der Konsum nichtalkoholischer Kaltgetränke 1937 bei 8 Liter pro Kopf – so dass die Wachstumsmöglichkeiten auch für Neuentwicklungen strukturell begrenzt waren (Helmut Cron, Wandlungen im Genußmittelverbrauch, Stuttgarter Neues Tagblatt 1940, Nr. 302 v. 2. November, 15).

Drittens war der Konsum noch stark regional geprägt. Die bei Powers deutlich hervortretende Attitüde, dass man den Konsumenten über belehrende Reklame an ein neues, national vertriebenes Produkt heranbilden könne, war daher ignorant (H.F. Simon, Amerikas Industriesystem, Der deutsche Volkswirt 6, 1931/32, 187-190, 220-222, 251-254, hier 189).

Die weitere Entwicklung lag daher in der grundsätzlichen intellektuellen Abkehr von der Leistungskraft amerikanischer Vertriebssysteme, der Gewinnung neuer Konzessionäre und Absatzmöglichkeiten sowie einer teils deutlich anderen Marktpositionierung von Coca-Cola. Dies bedeutete eine begrenzte De-Amerikanisierung und Nationalisierung von Coca-Cola. All das kann hier nicht im Detail diskutiert werden, doch auf einige Besonderheiten ist hinzuweisen.

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Deutsche Besonderheit: Coca-Cola als Katermittel (Iserlohner Kreisanzeiger 1938, Nr. 306 v. 31. Dezember, 12)

Erstens wurde Coca-Cola im Deutschen Reich stets auch als Katermittel vermarktet. Das war in den „trockenen“ USA kaum opportun – obwohl ja der Alkoholkonsum während der Prohibition kaum gesunken war (Thomas Welskopp. Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010, 125-159). Coca-Cola galt als Mittel gegen „Spitz und Kater“, gegen den „Affen“, war „Katervertilgungsmittel“ (Grenzwarte 1930, Nr. 315 v. 18. November, 3; ebd., Nr. 354 v. 31. Dezember, 3; ebd., Nr. 353 v. 30. Dezember, 3). Coca-Cola war ein Präventivmittel gegen die Wirkungen des Alkoholkonsums, unterstützte diesen also indirekt: „Deshalb trinken wir zum Appetitanregen vor dem Abendbrot etwas Asbach-Uralt, anschließend Coca-Cola“ (Grenzwarte 1931, Nr. 5 v. 7. Januar, 3). Und nach durchgezechter Nacht galt es als Heil- und Linderungsmittel: „Da habe ich ihm zunächst mal zärtlich sein pupperndes Pulschen gefühlt, ihm einen Eisbeutel aufs Kahle Asten-Haupt gelegt […] dann habe ich eisgekühltes Coca Cola eingeflözt (!). So kam er denn langsam, aber sicher wieder zu sich“ (Grenzwarte 1930 v. 16. Dezember 1930, 3). Die Fremdbezeichnung als „Gesundheitsgetränk“ (Volkswacht 1931, Nr. 207 v. 5. September, 6) gewann so auch abseits der Temperenzbewegung an Kontur. Coca-Cola war in Deutschland eben kein Mittel der Enthaltsamkeit.

Zweitens findet man Anfang der 1930er Jahre eine verstärkte Integration in die Freizeitkultur – teils durchaus im Einklang mit den US-Konsummustern. So wurde – Kühlung vorausgesetzt – Coca-Cola etwa in Kinos angeboten, halfen Gutscheine und Proben bei der Gewinnung von Kunden.

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Coca-Cola als Getränk im Kino (Ohligser Anzeiger 1932, Nr. 256 v. 31. Oktober, 12 (l.); Essener Anzeiger 1934, Nr. 82 v. 23. März, 16)

Auch im alkoholschwangeren Karneval fand es einen Platz: „In diesem Lokal herrscht nur Frohsinn und Heiterkeit. / Vergiß die Alltagssorgen, fühl dich als Mensch. / Trinke, lache und lebe! / Coca-Cola, der Sekt der alkoholfreien Getränke regt zu neuen Taten an“ (Essener Anzeiger 1932, Nr. 38 v. 14. Februar, 11). Das war ein Appell an relative Nüchternheit, an Feiern mit Verweis auf die Folgen eines Rausches.

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Marktausweitung: Coca-Cola als Angebot eines Konzertcafés (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1930, Nr. 471 v. 12. Oktober, 14)

Drittens investierte die Coca-Cola GmbH vermehrt in Ausstellungen. Hier konnten sowohl Konsumenten, zugleich aber auch potenzielle Konzessionäre und Großhändler mit Proben versorgt werden. Coca-Cola war dabei ein gern gesehener Gast, etwa auf der Braunen Messe in Solingen, wo der Stand sich „regsten Besuches“ erfreute und „dieses dunkle Getränk mit Behagen“ vertilgt wurde („Braune Messe“ in Solingen, Bergische Post 1934, Nr. 230 v. 3. Oktober, 3). Der Erfolg derartigen Direktmarketings war groß, so dass später sogar die Größe der Werbeflaschen auf 100 ccm begrenzt wurden, um Werbeexzesse einzudämmen (Weihnachtstagung des Gaststättengewerbes, Ohligser Anzeiger 1938, Nr. 292 v. 14. Dezember, 4).

Viertens weitete die Coca-Cola GmbH langsam – während der Weltwirtschaftskrise sehr langsam – ihr Vertriebsnetz aus. Sie nutzte dazu den Anfang der 1930er Jahre stark gesunkenen Bier- und Mineralwasserkonsum, bot sich insbesondere Großhändlern als langfristig volumenträchtiger Lückenfüller an. Entscheidend war die Expansion über das Rhein-Ruhrgebiet hinaus, wobei die Gründung eines zweiten Abfüllbetriebes in Frankfurt a.M. 1934 entscheidend war. Weitere folgten einige Jahre später in Breslau und dann – im Anschluss an den Anschluss Österreichs – auch in Wien.

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Andockstelle für Gaststätten, dann auch Einzelhändler: Werbung der Konzessionäre (Niederrheinisches Tageblatt 1933, Nr. 212 v. 9. September, (l.); Dorstener Volkszeitung 1933, Nr. 291 v. 21. Oktober, 14)

Fünftens spiegelte sich der relative Erfolg Coca-Colas in wachsender Konkurrenz. Afri-Cola wurde seit 1931 angeboten, 1934 erweiterte der Marktführer Sinalco sein Angebot um Sinalco-Cola. Sie waren Konkurrenten, gewiss, ebneten der Verbreitung von Cola-Getränken jedoch ebenfalls den Weg.

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Der Erfolg all dieser inkrementalen Veränderungen war beträchtlich: 1933 wurden im Deutschen Reich 111.720 Kisten abgesetzt (Schutts, 2005, 5). Zur Erfolgsgeschichte wurde Coca-Cola jedoch erst den Folgejahren. Sie war Folge einer strikten Anpassung der Coca-Cola GmbH und ihrer Konzessionäre an die Spielregeln des NS-Regimes.

Erfrischung für die Volksgenossen: Anpassung und wirtschaftlicher Erfolg während der NS-Zeit

Über die NS-Zeit liegen einige genauere Analysen vor, die gleichwohl große blinde Flecken aufweisen. Anfangs herrschte in der Forschung gar Erstaunen über den relativen Erfolg der „amerikanischen“ Coca-Cola während der NS-Zeit (Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945, München 1983). Andere behaupteten – leider ohne unmittelbaren Quellenbezug – eine weitgehende „Germanisierung“ des Getränkes, die dann nach 1945 in eine Re-Amerikanisierung gemündet sei (Silke Horstkotte und Olaf Jürgen Schmidt, Heil Coca-Cola! – Zwischen Germanisierung und Re-Amerikanisierung. Coke im Dritten Reich, in: Heike Paul und Katja Kanzler (Hg.), Amerikanische Populärkultur in Deutschland, Leipzig 2002, 73-86). Dabei zeigen genauere Analysen, etwa des Haarfärbemittels Nurblond, dass hybride nationale (und bedingt auch ideologische) Zuschreibungen integraler Bestandteil der Bedeutungsproduktion und Ästhetisierungen moderner Konsumgesellschaften sind.

Fünf Punkte gilt es abschließend anzusprechen, wohl wissend, dass diese sämtlich genauer und quellengesättigter diskutiert und breiter eingebettet werden müssten. Erstens stand Coca-Cola während der NS-Zeit unter beträchtlichem ideologischem Druck. Die antikapitalistischen und antiamerikanischen Kräfte in der NSDAP fanden nach der Machtkonsolidierung weiterhin Gefallen an Denunziationen in der Tradition des Amerikanisierungsdebatten der späten Weimarer Republik. Auch in Essen hieß es 1933: „Die Firma Coca-Cola behauptet immer, daß sie ganz und gar deutsch sei. Die Kundenwerbung, die sie losläßt, ist aber bestimmt amerikanisch!“ (Essener Anzeiger 1933, Nr. 319 v. 24. Dezember, 11) Gravierender waren die 1935 aufkommenden Denunziationen in der wöchentlich erscheinenden antisemitischen Zeitung „Der Stürmer“. Über Stürmerkästen in einer wachsenden Zahl deutscher Städte prangerhaft präsentiert, hatte die 1935 in einer Auflage von fast einer halben Millionen Exemplare gedruckte Zeitschrift Coca-Cola als eine „jüdisch-amerikanische“ Firma gebrandmarkt. Dagegen wurde lokal protestiert, wurde lokal das „Deutschtum“ der Firma und ihrer Konzessionäre betont. Dabei vermeldete man, dass es innerhalb der Firmen „keinerlei jüdischen Einfluß“ gäbe. Zugleich umgarnte man die Denunziatoren, schaltete man doch in der Folge Anzeigen im Stürmer. All das führte wiederum zu kritischen Rückfragen in den USA: Der Aufbau, eine deutsch-jüdische Exilzeitschrift, betonte angesichts dieser relativen Liaison: „Unsere Leser werden daraus die nötige Konsequenz ziehen“ (Zur Beachtung!, Aufbau 1935, Nr. 10 v. 1. September, 5). Das erfolgte 1935, also vor den in der Literatur vielfach erwähnten Denunziationen des Kölner Afri-Cola-Produzenten Karl Flach (1905-1997). Coca-Cola-Konzessionäre erwirkten insbesondere 1936 mehrere einstweilige Verfügungen, die gegen Haftstrafen Behauptungen untersagten, „das Coca-Cola-Getränke sei ein jüdisches Erzeugnis“ (Der Führer 1936, Nr. 261 v. 20. September, 8; Badische Presse 1936, Nr. 225 v. 19. September, 15).

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Ein deutsches Unternehmen ohne jeglichen jüdischen Einfluss: Stellungnahme und Beschwichtigungswerbung (National-Zeitung 1935, Nr. 108 v. 8. Mai, 12 (l.); Der Stürmer 13, 1935, Nr. 28, 11)

Zweitens – und dies müsste gewiss weiter aufgefächert werden – führten diese vor Gericht fast durchweg erfolgreichen Abwehrerfolge gleichwohl zu einer tendenziellen Überkompensation. Selbstbehauptung ging einher mit einer bewusst regimetreuen Außenkommunikation. Coca-Cola bezeichnete sich vielfach als ein „rein arisches Unternehmer“ (gleich doppelt etwa in Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 439 v. 22. September, 3), ließ damit wohlwollende Akzeptanz der antijüdischen Politik des NS-Regimes erkennen. Entsprechend finden sich in den führenden NSDAP-Zeitschriften – etwa dem „Illustriertem Beobachter“ oder dem „Völkischen Beobachter“ – Werbeanzeigen von und für Coca-Cola. Auch die Aufrüstung bot Marktchancen, die Anzeigen in der Zeitschrift „Die Wehrmacht“ belegen dies.

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„Rein arisches Unternehmen“: Coca-Cola als Unterstützer der NS-Judenpolitik (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 439 v. 22. September, 7)

Drittens unterstützte Coca-Cola die für die Akzeptanz des NS-Regimes recht wichtigen sportlichen Großereignisse: „In Berlin wurden bei den Olympischen Spielen Unmengen Coca-Cola getrunken, bei den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen gab es einen Rekordumsatz, auf dem Nürburgring, bei den Schmeling-Kämpfen“ (Der Führer 1939, Nr. 193 v. 15. Juli, 14). Insbesondere die beiden Olympiaden waren für die Coca-Cola GmbH entscheidende Wegmarken für die Akzeptanz der Marke im Deutschen Reich und für die Entwicklung hin zur wichtigsten europäischen Auslandsdependance des amerikanischen Mutterunternehmens. Die nun wieder einsetzenden Werbekampagnen nutzten dies, gingen mit der Sportpolitik des Regimes Hand in Hand. Dies fand zunehmend bei Kindern und Jugendlichen Widerhall. Eine 1939 durchgeführte Befragung Braunschweiger Jugendlicher ergab, dass die große Mehrzahl Selterswasser, Brause und Sprudel an die Spitze der ihnen bekannten antialkoholischen Getränke stellte, doch mehr als ein Viertel nannte Coca-Cola, mehr Nennungen als Limonade, Apfelsaft, Milch und Traubensaft (W[alter] Hermannsen, Erzieher und Erzieherinnen! Ein Wort an Euch!, in: Ders. und Heinz Lübke, Erzieher, Erzieherinnen, ein Wort an Euch!, Berlin-Dahlem 1940, 3-19, hier 14).

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Arbeit, Pause, Arbeit – nicht nur in der Welt des Sports (Essener Anzeiger 1936, Nr. 188 v. 10. Juli, 11 (l.); Essener Volks-Zeitung 1936, Nr. 181 v. 3. Juli, 11)

Viertens konnte sich Coca-Cola ab 1936 langsam von dem zuvor dominanten Geschäft mit Gaststätten und dem Außer-Haus-Konsum emanzipieren. Bis daher zierten die meisten Anzeigen Verweise wie: „In Gaststätten und Cafés erhältlich“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 306 v. 3. Juli, 14; ebd., Nr. 330 v. 17. Juli, 14). Die Werbung verwies nun immer stärker auf „Eisgekühltes Coca-Cola“, „immer eisgekühlt“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 354 v. 31. Juli, 8; ebd., Nr. 404 v. 29. August, 8; Der Führer 1937, Nr. 255 v. 16. September, 7). Wachsende Bedeutung gewann zudem eines von Hitlers Lieblingsadjektiven, war Coca-Cola doch „stets eiskalt resp. „Immer eiskalt!“ (Riesaer Tageblatt 1937, Nr. 104 v. 7. Mai, 4; Essener Anzeiger 1939, Nr. 197 v. 22. Juli, 10). Ab 1938 finden sich jedoch zunehmend Hinweise auf die „bekannten Schilder“ für das Erfrischungsgetränk (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1820). Sie verwiesen immer häufiger auf Einzelhandelsgeschäfte: 1937 übertraf der Flaschenabsatz im Einzelhandel erstmals den in der Gastronomie (Schutts, 2005, 6). Dies war Folge einer wachsenden Zahl von Kühlanlagen insbesondere in Filialbetrieben, teils Vorläufer der im Rahmen des Vierjahresplanes vorangetriebenen Tiefkühlkost. Es war aber auch Folge staatlich erzwungener Preisreduktionen: 1938 wurden Höchstpreise für Coca-Cola eingeführt. Der Einstandspreis pro Flasche lag seither bei 15 Pfennig – eine Halbierung gegenüber den 1929 ursprünglich geforderten Preisen, die sich anschließend weiter reduziert hatten (Anordnung über die Festsetzung von Höchst-Preisen für Coca-Cola, Der Führer 1938, Nr. 173 v. 26. Juni, 5). Eingehalten wurden sie vielfach jedoch nicht (Oberbergischer Bote 1940, Nr. 206 v. 31. August, 7). Trotz des beträchtlich gestiegenen Absatzes – 1939 wurden erstmals mehr als eine Million Flaschen Coca-Cola im Deutschen Reich abgesetzt (Schutts, 2005, 6) – darf man die Resultate jedoch nicht überschätzen. Coca-Cola war vor Kriegsbeginn das erfolgreichste nichtalkoholische Markenprodukt im Deutschen Reich; doch es hatte nur einen Marktanteil von 15% in diesem weiter von Mineralwasser dominierten Segment erobert können (Schutts, 2003, 125).

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Grundlage steigenden Konsums: Kühltechnik erlaubt die Verbreitung in Filialbetrieben (Bochumer Anzeiger 1938, Nr. 188 v. 13. August, 25 (l.); Badische Presse 1936, Nr. 167 v. 20. Juli, 12)

Fünftens blieb Coca-Cola während der NS-Zeit trotz aller Erfolge umstritten. 1939/40 dominierten die Kritik allerdings schon zuvor artikulierte gesundheitliche Argumente gegen das koffeinhaltige „Genußgift“ (Coca-Cola und Jugendliche, Zahnärztliche Mitteilungen 30, 1939, 834). Schon während der Olympiade hatte man für einschlägige Getränke eine Kennzeichnungspflicht – koffeinhaltig – eingeführt (Anordnung des Werberates der Deutschen Wirtschaft über die Kennzeichnungspflicht koffeinhaltiger Erfischungsgetränke [sic!]. Vom 17. Juli 1936, Reichs-Gesundheitsblatt 11, 1936, 684). 1938 wurde sie reichsweit verpflichtend (vgl. Essener Anzeiger 1939, Nr. 197 v. 22. Juli, 10). Die Coca-Cola GmbH halbierte parallel den durchschnittlichen Koffeingehalt des Getränkes, ohne dadurch aber Verbotsforderungen für Jugendliche unterbinden zu können (Constant Griebel, Der Koffeingehalt von „Coca-Cola“, Die Ernährung 5, 1940, 260-262; Wiener Pharmazeutische Wochenschrift 73, 1940, 117; Kurt Oxenius, Gegen Koffeinmißbrauch Jugendlicher, Münchener Medizinische Wochenschrift 86, 1939, 1586-1587). Die NS-Gesundheitsaktivisten nahmen für sich in Anspruch, dass der Konsum nach Kriegsbeginn aufgrund einschlägiger Propaganda „erheblich“ zurückgegangen sei ([Hanns] D[erstro]ff, Ein neues kohlensäurehaltiges Fruchtsaft-Milch-Mischgetränk und seine Beurteilung, Zahnärztliche Mitteilungen 33, 1942, 155-156, hier 155), doch das dürfte ein unbegründetes Selbstlob gewesen sein. Den Coca-Cola-Produzenten machten vielmehr erst abnehmende Zuckerkontingente zu schaffen, dann auch wachsende Probleme, das Konzentrat zu importieren. Coca-Cola wurde jedoch bis Oktober 1942 aktiv beworben (Hamburger Tageblatt 1942, Nr. 279 v. 10. Oktober, 8). An seine Stelle trat seit 1941 die in Essen entwickelte Kriegslimonade Fanta, die bis Anfang 1945 erfolgreich angeboten wurde (Werben und Verkaufen 25, 1941, 237; Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 322).

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Pausengetränk der Volksgemeinschaft: Beispiel für die regelmäßige Coca-Cola-Werbung in der führenden NSDAP-Illustrierten (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1429)

Seit 1929 hatte sich Coca-Cola als Pausengetränk der Volksgemeinschaft etabliert, hatten die „Pioniere“ Lernfähigkeit, Selbstbehauptungswillen und Systemnähe demonstriert. Ab 1949 sollten diese Eigenschaften zu neuen, zuvor undenkbaren Absatzrekorden führen – und sich das Getränk zu einem Symbol des Wiederaufbaus und der westdeutschen Demokratie wandeln.

Uwe Spiekermann, 11. September 2023

Eingehegter Wunderpilz: Die Kombucha-Mode in den späten 1920er Jahren

Zwischen 1926 und 1930 machte sich in Mitteleuropa ein Wunderpilz breit, den wir heute als Kombucha kennen. Hunderttausende, wahrscheinlich deutlich mehr, nutzten den Pilz, um sich ein heilkräftiges Getränk, einen vergorenen Tee zu bereiten. Gesundheit stand nach den Verheerungen des Weltkrieges hoch im Kurs, ein neues starkes Geschlecht sollte entstehen – und der Wunderpilz sollte dabei helfen. Er war, glaubt man zeitgenössischen Beschreibungen, ein Hausgenosse, ein Alltagsbegleiter: „Sein Reiz liegt nicht in äußerer Schönheit, denn er besteht aus einer unappetitlichen gallertartigen Masse, aber vermutlich ist es das Geheimnisvolle, das ihn umgibt, was ihn so verlockend macht. Irgendwie ist er lebendig, wird am warmen Ofen gehegt, mit Zucker und schwarzem Teeaufguß gefüttert und schwimmt wie eine Qualle in seinem Glasgefäß. Die entstehende Flüssigkeit soll wie leichter Moselwein schmecken und nach den überschwenglichen Anpreisungen die sein Auftreten begleiten ein unfehlbares Mittel sein gegen Gicht und Rheumatismus, gegen Magen- und Darmbeschwerden und Zuckerkrankheit, gegen Verkalkung und vermutlich auch gegen einige bis dato noch unbekannte Krankheiten. Da er sich teilen läßt und jedes Teil wie ein Regenwurm selbständig weiterwächst, so geht er von Hand zu Hand“ (Jedermann sein eigener Arzt, Alpen-Zeitung 1929, Nr. 106 v. 2. Mai, 7).

Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre ist heute vergessen. Die Nachfolgemoden – moderat in den späten 1950er Jahren, breit präsent dann wieder in den späten 1990er Jahren – wiederholten vielfach nur, was nach dem Ersten Weltkrieg passierte. Vergessen ist schließlich ein Grundmodus moderner Konsumgesellschaften, wiederholende selbstbezügliche Begeisterung Ausdruck fehlenden historischen Wissens. Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre war originär. Die folgenden Moden spiegelten schon Werner Sombarts berühmtes Diktum: „Mode ist des Capitalismus liebstes Kind“ (Wirthschaft und Mode, Wiesbaden 1902, 23). Am Ende der ersten Mode waren denn auch die Rahmenbedingungen geklärt, unter denen eine Revitalisierung in den nächsten Generationen möglich werden konnte. Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre drehte sich daher nicht allein um einen vermeintlichen Wunderpilz und neue gesunde Getränke. Es ging um Auseinandersetzungen zwischen Alltagswissen und Alltagshoffen einerseits, dem Wissen der Wissenschaft, der Apotheker und Drogisten anderseits. Es ging um die Abwägung zwischen einer Kombuchahege zu Hause, abseits des Marktes der Präparate und Arzneien, und den bequemeren käuflichen Angeboten „reiner“ Pilze, „trinkfertiger“ Sommergetränke. Es ging ferner darum, wie man diesen Wunderpilz benennen sollte, also welche Rolle Sprache in Alltags- und Marktdebatten spielte. Denn anfangs war da nur ein „Pilz“, ein Phänomen, das unsere Vorfahren begrifflich fassen und einhegen mussten, um das Neue zu ordnen und einzuordnen.

Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre war daher ein Übergangsphänomen. Sie führt uns die verstärkte Bedeutung von Moden abseits von Textilien, Möbeln und Gebrauchsgegenständen vor Augen. Das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immens anwachsende Güterangebot war erforderlich, um den Bedarf einer neuen, erst einmal bürgerlichen Zeit abzudecken. Doch durch ihre wachsende Zahl wurden die Güter zugleich ihrer Stabilität beraubt. Das Neue, der dritte, vierte Mantel, das fünfte, sechste Kostüm, war vielfach Ergänzung, machte das Leben angenehmer, vielgestaltiger. Doch es war zugleich einfacher auszutauschen, besaß als Einzelstück weniger Dauer (W[erner] Sombart, Die Bedeutung der Mode für das moderne Wirtschaftsleben, Die Woche 6, 1904, 1709-1712). Absatzbeschleunigung und wirtschaftliches Wachstum waren die Folgen. Die Gestaltungsarbeit wurde wichtiger, die Anpreisungen nahmen neue Formen an. Moden waren herrschsüchtig, doch ihnen wohnten zugleich egalisierende und individualisierende Tendenzen inne: Nachahmung und dynamisierende Übertreibungen gingen parallel, Mode folgte auf Mode, wurde erwartbar, gleichwohl neugierig erwartet, unsicher befolgt (Georg Simmel, Die Mode, in: Ders., Philosophische Kultur, Berlin-W 1986, 38-63).

Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es solche Moden auch im weiten Feld pharmazeutischer Produkte, von Anregungsmitteln oder nährender Innovationen wie Nährsalzkaffee oder Fleischersatzprodukten. Kefir und Joghurt kennzeichneten den Übergang hin zu Nahrungsmitteln, denen eine Gesundheitswirkung zugeschrieben wurde. Nach dem Krieg wurden die Moden breiter, zeitgenössische Stichworte wie „Vitaminrummel“ oder „Rohkostfimmel“ spiegelten auch modische Beschleunigungen. Sie wurden zunehmend Teil des Alltagsgeschäfts, mussten von Produzenten und Händlern beachtet und genutzt werden, galt doch, „daß die Mode sich mehr und mehr auch im Nahrungs- und Genußmittelverkehr einnistet, so daß Geschmackswandlungen jetzt und in Zukunft viel häufiger sind als früher“ (J[osef] B. Kittel, Die Mode im Nahrungs- u. Genußmittelverkehr, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1926, 177-178, hier 178). Ernährungsmoden wurden öffentlich propagiert, führten während der 1920er Jahre zu kontroversen Debatten, in denen die tradierte Wissenschaft vielfach in die Defensive geriet (R[ené] O[tto] Neumann, Der Einfluß der Mode auf die Ernährungsgewohnheiten, Blätter für Volksgesundheitspflege 32, 1932, 146-149).

Der Wunderpilz als Teil einer Begriffskaskade

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Erste Abbildung des merkwürdigen Organismus (Lindau, 1913, Taf. XI, Fig. 1)

Der Wunderpilz wurde in Deutschland von Botanikern und Chemikern bereits vor dem Weltkrieg untersucht. Ihnen ging es dabei um die Einordnung des neuen wundersamen Gesellen in die bestehenden Ordnungssysteme der Lebewesen bzw. der chemischen Stoffe. Die Ambivalenz des Natürlichen, eines eben nicht rein und einheitlich vorliegenden Organismus und seiner Stoffwechselprodukte warf dabei gängige Probleme der Unterscheidung auf.

Trotz einschlägiger Forschung nahm die begriffliche Unschärfe in den 1920er Jahren eher zu als ab: Der Wunderpilz wurde mit zahllosen Begriffen bezeichnet, die anfangs vor allem aus den Ursprungsländern übernommen wurden oder die sich auf sie bezogen, die zugleich aber auch der wissenschaftlichen Nomenklatur folgten. Hinzu kamen dann Produktbezeichnungen und Markennamen, also begriffliche Ausdifferenzierungen im kommerziellen Wettbewerb. Wunderpilz war eine simple Übersetzung slawischer Bezeichnungen wie Brinum-Ssene, während Wolgaqualle, Olinka, Karagasok-Schamm, russische Blume oder russischer Schwamm auf die Herkunft aus dem russischen Zarenreich verwiesen. Die Teilbarkeit des Wunderpilzes mündete schon vor dem Weltkrieg in Medusenbegriffe, etwa Medusen- oder aber Wolgapilz, während in Abgrenzung zu dem aus Brot vergorenen russischen Kwaß abgrenzende Begriffe wie Teekwaß, Teekwaßpilz sowie insbesondere Teepilz verwandt wurden. Die Form des Neulings fand ebenfalls begrifflichen Widerhall, etwa durch Worte wie Schwamm, Teeschwamm und dann Kombuchaschwamm. Erst Mitte der 1920er Jahre, zu Beginn der eigentlichen Modewelle, entstanden zahlreiche Wortgeschöpfe, die an vermeintliche asiatische Anfänge anknüpften. Diese ergänzten gängige Bezeichnungen zumeist durch simple geographische Attribute, etwa den japanischen, indischen, chinesischen oder mandschurischen Pilz resp. weit häufiger Teepilz. Schließlich wurde das Begriffsfeld durch Marken- und Produktbezeichnungen erweitert, die teils – wie Kombucha – Ausdruck simpler Verwechselungen waren, die teils aber das exotische Flair asiatischer Heilkunst und Widerstandsfähigkeit nutzten. Dafür standen Begriffe wie Mo-Gû, Combucha, Chombucha, Chamboucho, Kombekka, Japange oder Japonge. Ergänzt wurde all dies durch ironisierende Begriffe angesichts der grassierenden Kombucha-Mode, etwa Heldenpilz, Weinpilz oder aber Gichtqualle resp. Zauberpilz.

Wir werden auf mehrere Begriffe resp. Produkte zurückkommen, lenkten und prägten sie doch die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre. Die zahlreichen Begriffe spiegelten aber vornehmlich die beträchtlichen begrifflichen Schwierigkeiten, das Phänomen des Wunderpilzes angemessen zu erfassen. Es war und blieb vielfach unklar, worüber man sprach, wenn man sich über den Teepilz austauschte. Diese begriffliche Unklarheit erschwerte klare, zumal wissenschaftliche Aussagen, grenzte den Wunderpilz aber auch strikt ab von klar definierten Massengütern wie etwa Reemtsmas 1921 auf den Markt gebrachte R6-Zigarette oder aber Opels Erfolgsauto 4 PS von 1924. Es verwundert daher nicht, dass Zeitgenossen begriffliche Erörterungen rasch hinter sich ließen und vorrangig beschrieben, was denn dieser Zauberpilz war, wie er aussah und zubereitet werden sollte.

Der Teepilz: Aussehen und Zubereitung

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Der schwimmende Pilz (Lindau, 1913, Taf. XI, Fig. 2)

Den Zeitgenossen musste der Teepilz erst einmal vorgestellt wer, handelte es sich doch um einen neuen pflanzlichen Organismus, dessen rasches Wachstum Grundlage für das an sich begehrte Getränk war: „Im trockenen Zustande hat der Teepilz eine große Aehnlichkeit mit einem Stück Leber oder einer Hautschwarte. Er wird aber meistens in seiner Nährflüssigkeit ‚lebend‘ in den Handel gebracht. Dieser Pilz wächst sehr schnell, stark und kräftig und hat ein gallertartiges Aussehen, wobei die Luftseite der Masse sehr zähe ist und wie eine dicke Haut erscheint; dagegen die Unterseite, die in die Nährflüssigkeit hineintaucht, besitzt große Ähnlichkeit mit den Fangarmen einer Qualle, weshalb dieser Pilz auch den Namen ‚Wolgaqualle‘ führt“ (F.A. Ekkehard, Der indische oder japanische Teepilz, Neuigkeits-Welt-Blatt 1928, Nr. 9 v. 12. Januar, 9). Es ging nicht um die simple Abfolge Kauf und Verzehr, vielmehr war Haushaltshandeln erforderlich, ein Einlassen auf ein sich nach eigenen Gesetzen entwickelndes Lebewesen: „Der käufliche kleine Teepilz sieht auf der Oberseite weißlich und schimmlig aus, die Unterseite dagegen zeigt gelbe Färbung. Von Zeit zu Zeit erhält der sogenannte Mutterpilz auf der unteren Seite einen neuen Sprößling, der sich bei eigener Lebensfähigkeit von seiner Anhaftungsstelle löst“ (Selbstbereitung herrlicher Getränke durch Teepilzgärung, Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 11, 3).

Die Nutzer des Teepilzes mussten sich Regeln unterwerfen, um diesen Pilz zur Getränkeproduktion, genauer zur Verstoffwechselung einer Nährflüssigkeit zu nutzen. Diese lenkten, ließen aber vielfältige Variationen offen. Immer wieder galt: „Für die Zubereitung des japanischen Schwammes gibt es verschiedene Rezepte“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1928, Nr. 10301 v. 25. September, 4). Das folgende Standardrezept gab die Richtung vor: „Es sind zunächst 5 Liter Wasser abzukochen. In einem anderen kleinen Kochgefäß wird ein Eßlöffel voll schwarzer Tee gebrüht, durchgeseiht und die klare, dunkelgelbe Teeflüssigkeit zu den abgekochten 5 Liter Wasser zugegossen. Das Ganze kommt nun in einem Steintopf. Metallgefäße sind auf keinen Fall zu benutzen. Dazu gibt man etwas Zitronensaft (eine halbe bzw. ganze Zitrone) und etwa 250 bis 375 g Zucker, je nach Geschmack. Zucker darf auf keinen Fall fehlen“ (Selbstbereitung, 1929). Wichtig war, den Pilz auf der Nährflüssigkeit schwimmen zu lassen, für stete Sauerstoffzufuhr und seine gewisse Wärme zu sorgen, um so die Gärung zu fördern. Dann wuchs der Tee in die Breite. Es blieb dem Nutzer überlassen, wann er die veränderte Flüssigkeit kostete und abgoss. Manche taten dies bereits nach drei Tagen, manche warteten mehr als doppelt so lange. Je länger die Wartezeit, desto saurer das Getränk. Griff man nicht ein, so stand am Ende Essig. Die fertige Teeflüssigkeit wurde teils direkt getrunken, häufiger noch auf Flaschen gezogen. Von diesem Vorrat konnte man ein, zwei Wochen zehren. Auf diese Weise stand der trinkfertige Teekwaß bequem und gleichsam ununterbrochen zur Verfügung: „Auf Flaschen abgefüllten Teekwas stellt man kalt, denn kühl aus Weingläsern getrunken ist dies Getränk am wohlschmeckendsten und wirkt besonders im Sommer angenehm erfrischend“ (Andreas Knauth, Nochmals Teepilz, Berliner Volks-Zeitung, Nr. 31 v. 18. Januar, 9).

Das Ergebnis der Gärung und der Mühen schien der Anstrengung wert zu sein: „Das so hergestellte Getränk ist von mildsäuerlichem Geschmack, besitzt ein angenehmes Aroma und läßt in den ersten Tagen der Gärung gleichzeitig den Teegeruch und -geschmack noch deutlich wahrnehmen“ (E[duard] Dinslage und W[alter] Ludorff, Der ‚indische Teepilz“, Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 53, 1927, 458-467, hier 464). Zumeist war Tee Grundlage der Getränke, doch Variationen waren möglich, ja nach Geschmack, je nach Absicht. Den vielfältigen Vorgaben zum Trotz waren für das am Ende stehende Getränk der jeweilige Umgang mit dem Wunderpilz, die Zusammensetzung der Nährmaterialien, die äußeren Umstände und die häusliche Bearbeitung entscheidend. Kombucha war damit vielgestaltig und selbstbestimmt: Seine Attraktion lag nicht allein in den vielfältigen Heilszuschreibungen, sondern in dem mit einer Selbstbereitung verbundenen Lockreiz eigenbestimmter Getränke- und (vermeintlicher) Heilmittelproduktion. Austesten war möglich, die Neugierde wurde wieder und wieder gereizt, das Wachstum des Pilzes Erlebnis und Resultat eigenen Tuns. Hinzu kam die gesellige Komponente, der Austausch mit Freunden, das Teilen des Pilzes. Der Wunderpilz war Zeitvertreib, die Selbstbereitung ging noch nicht in der kommerziellen Umrahmung von Do-it-Yourself-Angeboten auf, wie etwa bei den seit den 1890er Jahren üblichen Spirituosenessenzen. Der Wunderpilz war Alltagsbegleiter, er belohnte steten Aufwand, war für Finessen und Varianten offen. Freizeit konnte so sinnvoll und preiswert gefüllt werden. Und manche Beschreibungen erinnerten an ein Haustier: „Er schwimmt in durchsichtigem Glasgefäß, dessen Umfang er sich rasch anpaßt, in teeduftendem Bad. Er sieht wie eine graubraune Gallertscheibe aus, begehrt täglich nur eine Tasse Tee und ein wenig Zucker. Mithin ein bedürfnisloses Wesen. Aber er hat eine Seele, die fordert viel: nämlich den liebevollen beobachtenden Blick seines Besitzers, dem es klar werden muß, ob er sich behaglich fühlt in seiner jeweiligen Umgebung. Staub haßt er, deshalb muß ein dünnes sauberes Läppchen sein Schwimmbassin bedecken, doch so, daß ein wenig frische Luft eindringen kann. Der schattige oder zugige Fensterplatz erschreckt ihn geradezu, und er sinkt verdrießlich in seine Tiefe. Die heiße Ofennähe ängstigt ihn, und durch große Luftblasen, die über seine Oberfläche zittern, gibt er seinen Unmut kund“ (R. Kaulitz-Niedeck, Der Teepilz, Hamburger Nachrichten 1927, Nr. 273 v. 15. Juni, 5).

Zu heimelig sollten wir diese Beziehung allerdings nicht deuten. Denn der Umgang mit dem Wunderpilz bedeutete immer auch eine aktive Auseinandersetzung mit Fragen moderner Hygiene und Sauberkeit, mit Aspekten wissenschaftlicher Kausalität, den Auswirkungen moderner Werkstoffe und der präzisen Taktung des eigenen Tuns hin auf ein abstraktes Ziel. Der Alltagsbegleiter erzog zu modernem Handeln und Verhalten, Indolenz führte zu Wucherungen, Fehlwuchs oder gar den vielbeschworenen Pilzleichen.

Von Russland nach Mitteleuropa: Die Vorgeschichte der Kombucha-Mode

Die Zeitgenossen waren vom Wunderpilz in Beschlag genommen, doch es fehlte an einer präzisen Analyse seiner Herkunft. Asien wurde zum mythischen Bezugsrahmen, greifbar war jedoch allein das westliche Russland. Der Pilz war vorrangig Hausmittel – und als solches wahrscheinlich schon seit den frühen 1890er Jahren auch in Deutschland bekannt (Die Teepilz-Kombucha-Frage, Schwerter Zeitung 1929, Nr. 81 v. 8. April, 7). Vor dem Weltkrieg galt das etwa für Gebiete um Halle/S., Merseburg und Quedlinburg (Dinslage und Ludorff, 1927, 460). Es fehlte allerdings der klare identifizierende Begriff. Das Phänomen war bekannt, behandelt wurde es jedoch unter heterogenen Dachbegriffen, etwa dem in den 1890er Jahren intensiver beachteten Kwaß ([Rudolf] Kobert, Teekwaß, Mikrokosmos 11, 1917/18, 159; Ders., Ueber den Kwass und dessen Bereitung, Halle a.d.S. 1896).

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Der geimpfte Teeaufguß des lettischen Pilzes (Lindner, 1913, Taf. XV, Fig. 7)

Die wissenschaftliche Erkundung des „merkwürdigen Organismus“ (G[ustav] Lindau, Über Medusomyces Gisevii, eine neue Gattung und Art der Hefepilze, Berichte der deutschen botanischen Gesellschaft 31, 1913, 243-248, Taf. XI, hier 243) begann 1912. Sie erfolgte doppelgleisig, zum einen in der russischen Herkunftsregion, zum anderen aber in der deutschen Reichshauptstadt. Dort gab es renommierte Fachleute, den botanischen Garten mit seinen Sammlungen, Institute in Dahlem, zudem das 1874 grundgelegte Institut für Gärungsgewerbe, damals eine der größten Forschungsstätten im Deutschen Reich. In Berlin ging es erst einmal um die Beschreibung und Benennung des Pilzes, den der Botaniker Gustav Lindau (1866-1923) als „Typus einer neuen Gattung“ verstand. Der aus Ostpreußen stammende und längere Zeit in Königsberg lehrende Agrarwissenschaftler Paul Gisevius (1858-1935) hatte von Kollegen im kurländischen Mitau (heute das lettische Jelgava) ein Exemplar erhalten, das in der dortigen Gegend als Hausmittel verwandt wurde. Lindau beschrieb es, propagierte eine ehrende Benennung der Pflanze nach Gisevius, doch dem folgte niemand. Zugleich spekulierte er über deren Herkunft, hatten doch Schiffer es nach Mitau gebracht. Lindau ging von einem südlicheren Land aus: „Meine Nachfragen für Java, Neu-Guinea, Samoainseln, Marianen, tropisch Deutsch-Afrika, Südafrika, Argentinien sind aber erfolglos gewesen; ob überhaupt ein tropisches Land in Frage kommt, scheint mir fraglich, möglich, daß vielleicht die südlicheren Teile von Nordamerika in Betracht gezogen werden müssen“ (Lindau, 1913, 244).

Auch der Berliner Mikrobiologie Paul Lindau (1861-1945) ging von einem tropischen Hintergrund aus. Als Gärungsspezialist hatte er jedoch einen anderen Fokus – und verwies auf Beobachtungen aus Ost- und Westpreußen, wo ähnliche Pflanzen zur Essigbereitung genutzt wurden (P[aul] Lindner, Die vermeintliche neue Hefe Medusomyces Gisevii, Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft 31, 1913, 364-368, Taf. XV, hier 366). Als neuen Dachbegriff schlug er „Medusentee“ von, der sich aber ebenfalls nicht durchsetzen konnte.

Erweitern wir unseren Blick in die damals russischen baltischen Staaten, in denen die Wissenschaftler noch vorrangig in deutscher Sprache publizierten. Der 1906 in Göttingen promovierte Agrarwissenschaftler Stephan von Bazarewski berichtete 1915 über einschlägige Untersuchungen im Polytechnikum in Riga (Über den sogenannten „Wunderpilz“ in den baltischen Provinzen, Korrespondenzblatt des Naturforscher-Vereins zu Riga 57, 1915, 61-69). Dort standen die gesundheitlichen Wirkungen des in Lettland „Brinum-Ssene“ – Wunderpilz – genannten Pilzes im Mittelpunkt: „Der Glaube an die Heilkraft dieses Pilzes ist unter dem Volk so stark verbreitet, dass man ihn sogar künstlich zu Hause züchtet, Freunden und Bekannten verschenkt und, wie man mir sagt, auch auf dem Markt von Riga verkauft“ (Ebd., 61). Bazarewski beschrieb die Gärung und das daraus resultierende Getränk, doch Heilkraft wollte er dem Ganzen nicht zubilligen. Ein billiger Essig konnte mit Hilfe des Pilzes aber häuslich einfach hergestellt werden. Regional grenzte er dessen Vorkommen auf Livland und Lettland ein. Deutlich breiter angelegt war die vergleichende Studie der am Botanischen Laboratorium der Frauenhochschule für Medizin in St. Petersburg tätigen Anna Batschinski (A[nna] A. Batschinski, Russischer Tee-Essig. Über den sogenannten mandschurisch-japanischen Pilz und Teekwaß, Die deutsche Essigindustrie 18, 1914, 330-331; Ref. von Zamkow). Sie schrieb über „das zurzeit in vielen Gegenden Rußlands stark verbreitete eigenartige Getränk, das man aus einer mit Zucker versüßten Teeabkochung bereitet. Es ist sowohl in der Stadt, als auch auf dem Lande anzutreffen und wird als Genuß- und Erfrischungsmittel, aber auch als ein Volksheilmittel gegen Kopfschmerzen, bei Magen- und Darmerkrankungen, sowie bei allen möglichen anderen Störungen benutzt. Zur Bereitung dieses Getränks wird als Gärungserreger ein Stoff benutzt, der in verschiedenen Gegenden verschiedene Bezeichnungen trägt, z.B.: japanischer oder mandschurischer Pilz, japanisches Mütterchen, oder einfach Pilz“ (Ebd., 330). Russland erschien ihr als das Mutterland des Getränks, doch dieses sei auch in West- und Osteuropa sowie in Ostasien weit verbreitet (Ebd.).

Der Weltkrieg und die folgenden Bürgerkriege unterbrachen derartige Forschungen, doch tröpfelten nach dessen Ende weitere Informationen über die Vorgeschichte der Kombucha-Mode bzw. die Herkunft des Wunderpilzes in die öffentliche Debatte ein. Der dänische Botaniker Jens Lind (1874-1939) hatte ebenfalls vor dem Weltkrieg über einen in Russland und auch Skandinavien verbreiteten „indischen Weinpilz“ bzw. die „Wolgaqualle“ berichtet, die „in den russischen Flußläufen lebt und von den Bauern als Hausmittel gegen verschiedene Krankheiten gebraucht wird“ (Apotheker-Zeitung 41, 1928, 771). Auch der Prager Mikrobiologie Siegwart Hermann (1886-1956) erhielt 1914 aus Russisch-Polen einen einschlägigen „Pilz“, ließ diesen jedoch eingehen (Siegwart Hermann, Die sogenannte ‚Kombucha‘, Die Umschau 33, 1929, 841-844, hier 841). Er raunte zudem von Züchtungen in tschechoslowakischen Klöstern, die den dort „Olinka“ genannten Pilz vor dem Krieg an einige Adelsfamilien abgegeben hätten (Ebd.).

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Der Pilz an der Arbeit oder der Gärprozess materialisiert (Lindner, 1917/18, 98, Abb. 10)

All diese Mutmaßungen, all diese Untersuchungen und Definitionsversuche erfolgten im weiten Kranz der damaligen Wissenschaft. Ihre Auswirkungen waren begrenzt, drangen kaum über die engen Welten der Sammlungen und Laboratorien hinaus. Anders jedoch das Geschehen im Weltkrieg selbst. Erstens lernten deutsche (und auch österreichisch-ungarische) Soldaten bei ihren verlustreichen Vormärschen und während der Besatzungsherrschaft den Wunderpilz praktisch kennen. Einem deutschen Apotheker wurde er 1915 als abführendes „Wundertränkchen“ geschenkt (H. Waldeck, Der Teepilz, Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 68, 1927, 789-790). Ähnliches galt für die Verwaltung in Ober-Ost, wo im kurländischen Goldingen das Teegetränk anfangs weit verbreitet war, seine Nutzung durch den Mangel an chinesischem Tee und Zucker dann aber zum Erliegen kam (L. Winteler, Anfrage, Unsere Welt 14, 1922, 46). Auch der Heidelberger Mikrobiologie Rudolf Lieske (1886-1950) erhielt während des Krieges Teepilze, die er Anfang der 1920er Jahre auf Heilwirkungen untersuchte ([Rudolf] Lieske, Antwort, Unsere Welt 14, 1922, 46).

Eine zweite Scharnierfunktion besaßen russische Kriegsgefangene, deren Zahl allein auf deutscher Seite bei knapp 1,5 Millionen lag. Aussagen wie: „Erst mit den russischen Kriegsgefangenen kam der ‚Teepilz‘ nach Mitteleuropa“ ([Gerhard Venzmer], Ein erfrischendes Hausgetränk, Stolzenauer Wochenblatt 1929, Nr. 205 v. 31. August, 6-7, hier 6) waren übertrieben, enthielten aber einen wahren Kern. Ein österreichischer Apotheker bekam einen Teepilz von einem gefangenen Russen, der erzählte, dass er diesen während des russischen-japanischen Krieges 1904/05 von den Japanern übernommen haben (Ladislaus R. v. Popiel, Zur Selbstherstellung von Essig, Pharmazeutische Post 50, 1917, 757-758). Es mag überraschend klingen, dass russische Soldaten derartige Pilze mit sich führten. Doch es handelte sich um „Normalität im Ausnahmezustand“, vergleichbar mit der Mitnahme einer Schmetterlingssammlung ins Minsker Ghetto 1941 durch eine russische Jüdin (Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, Bonn 2016, 23). Während der Kombucha-Mode wurde jedenfalls wiederholt hervorgehoben, dass der Wunderpilz eine „der wenigen Bereicherungen [sei, US], die der große Krieg den Völkern Europas eingetragen hat“ (Der Kombucha- oder Teepilz, Wittgensteiner Kreisblatt 1932, Nr. 167 v. 19. Juli, 6).

Drittens verkaufte das Berliner Institut für Gärungsgewerbe seit spätestens 1917 „Teekwaß“ zur Essigbereitung an die Bevölkerung ([Max] Glaubitz, Teepilz, Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 304). Die Haut des Pilzes diente damals als Ersatzmittel, als Material für Ballonhüllen und Ledersubstitute (Lakowitz, Teepilz und Teekwaß, Apotheker-Zeitung 43, 1928, 298-300, hier 298).

Viertens schließlich gab es einen begrenzten öffentlichen Widerhall, denn auch in der (zensierten) Presse wurde der Wunderpilz ab und an vorgestellt (Japanischer Schwamm, Illustrierte Kronen-Zeitung 1917, Nr. 6243 v. 18. Mai, 6). Der Pilz galt als lettisches Hausmittel, der „Wunder […] gegen alle möglichen Krankheiten wirken“ sollte (Der Wunderpilz der Letten, Bonner Zeitung 1917, Nr. 159 v. 12. Juni, 4; auch Der lettische Wunderpilz, Bofzner Nachrichten 1922, Nr. 114 v. 19. Mai, 7).

Nach dem Krieg verebbten diese Erwähnungen, verschwand der Wunderpilz zeitweilig aus der öffentlichen Sphäre (die als Resonanzsphäre des Historikers entscheidend für jede allgemeinere Rekonstruktion ist). Einige wenige Hinweise ließen sich auflisten (Der lettische Wunderpilz, Neuigkeits-Welt-Blatt 1922, Nr. 121 v. 28. Mai, 3), doch Aussagen über eine häufige Benutzung in den Haushalten während der Inflationszeit sind nicht zu überprüfen (Hans Valentin, Ueber die Verwendbarkeit des indischen Teepilzes und seine Gewinnung in trockener Form, Apotheker-Zeitung 43, 1928, 1533-1536, hier 1534). Das gilt auch für andere Transferwege, etwa Zusendungen des Pilzes an ukrainische Flüchtlinge in Mitteleuropa durch ihre zuvor in die USA ausgewanderten Verwandten (Ullsteins Blatt der Hausfrau 42, 1926/27, H. 25, 29).

Bei all diesem Hin und Her, bei all diesen heterogenen Begriffen mag der Kopf rauchen. Festzuhalten ist, dass der Wunderpilz aus den russischen Gebieten Osteuropas nach Mitteleuropa eingeführt wurde. Festzuhalten ist auch, dass es damals nur vereinzelte Hinweise auf Ostasien, insbesondere auf Japan gab. Festzuhalten ist schließlich, dass der Begriff Kombucha anfangs nicht verwandt wurde. „Kombucha“ ist eine westliche, genauer eine böhmische Begriffsschöpfung. Der Begriff entstand 1925/26 in Prag, wurde dort zur Vermarktung eines Teepilzpräparates etabliert und mit erfundenen Zuschreibungen popularisiert.

Kombu-cha war ein japanischer Algentee. Kombu war „eine Art Seegras, ein langblättriger Tang, 5 bis 6 Zentimeter breit und ¾ bis 1 Meter lang. […] Was man als Kombucha bezeichnet, ist das einnudlig geschnittene Seegras, das mit kochendem Wasser übergossen wird und dann etwa 10 Minuten lang ziehen muß. Das Ergebnis ist eine grünliche, etwas salzig schmeckende Flüssigkeit, eben eine Kombu-cha (sprich: tscha). Ein von den Japanern überaus geschätztes Getränk, stark jodhaltig und außerordentlich gesund!“ (Kombucha, Die Umschau 33, 1929, 118). Der neue Begriff Kombucha verwechselte und vermengte zwei unterschiedliche Präparate. Auf der einen Seite der Teepilz und das daraus gewonnene Gärungsgetränk. Von einem entsprechenden „Volksheilmittel“ war den damals in Zentraleuropa weilenden japanischen Ärzten „gar nichts bekannt“ (W[ilhelm] Wiechowski, Welche Stellung soll der Arzt zur Kombuchafrage einnehmen?, Beiträge zur ärztlichen Fortbildung 6, 1928, 2-10, hier 3). Auf der anderen Seite ein Algenpräparat, dem man aufgrund völlig anderer Wirkstoffe Gesundheitswirkungen nachsagte. Der Begriff Kombucha war Ausdruck mangelnder wissenschaftlicher Differenzierungsfähigkeit, wie sie schon 1925 anlässlich der Karzinommittels Carcinolysin feststellbar war (F. Rintel, Japanischer Teeschwamm gegen Karzinom, Ars Medici 15, 1925, 256). Zeitgenossen führten diese irreführende Vermengung zweier Präparate auf tschechoslowakische Legionäre zurück, die auf russischer Seite im Krieg von 1904/05 gekämpft hatten und später über einen „Kombucha-Schwamm“ berichteten, der dann von Wissenschaftlern mit dem Teepilzschwamm verwechselte wurde (Kombucha, 1929).

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Ausdruck und Grundlage des Begriffs „Kombucha“: Patentschrift von 1927 (Happy Herbalist.com)

Entscheidend war aus meiner Sicht jedoch die bewusste Nutzung des exotischen Kombucha-Begriffes durch Siegwart Hermann und die Norgine AG. Kombucha wurde seit spätestens 1925 in Prag verwandt. Das am 20. Februar 1927 angemeldete „Verfahren zur Herstellung von therapeutisch wirksamen Präparaten mit Hilfe von Kombucha“ nutzte den Begriff für kommerzielle Zwecke, zur Abgrenzung von den vielen anderen Bezeichnungen des Wunderpilzes. Hermann selbst kannte Batschinskis Arbeit aus Referaten, knüpfte an ihre Begriffe mit Ostasienbezug direkt an (Hermann, 1929, 841). Die Sprachschöpfung Kombucha wurde – wie wir unten sehen werden – zum zentralen Begriff der erste Modewelle in Böhmen. Hermann sprach ab 1929 vom „sogenannten“ Kombucha, korrigierte dadurch seinen fachlichen Irrtum (S[iegwart] Hermann, Bacterium gluconicum, ein in der sogenannten Kombucha (japanischer oder indischer Teepilz) vorkommender Spaltpilz, Biochemische Zeitung 205, 1929, 297-305; Ders., Pharmakologische Untersuchungen über die sogenannte Kombucha und deren Einfluss auf die toxische Vigantolwirkung, Klinische Wochenschrift 8, 1929, 1752-1757). Doch der Begriff war in der Welt – und landete auch in Ihrem Sprachschatz.

Böhmen und die erste Welle der Kombucha-Mode 1926 bis 1928

Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre begann 1925/26 in Böhmen, schwappte 1927 nach Österreich und erreichte 1928 das Deutsche Reich. Die jeweiligen Moden währten jeweils etwa zwei Jahre, ebbten dann langsam ab. Dieses Muster unterschied sich deutlichen von gängigen Moden, etwa bei Kleidung, Schuhen oder auch Parfüm. Sie begannen zu gleichsam festgesetzten Zeiten, im Herbst und im Frühling, mit regelmäßigem und vorhersehbarem Ablauf. Es unterschied sich auch von dem wirklicher Novitäten, etwa bei dem sich 1932 binnen weniger Monate über ganz Europa verbreitende Jo-Jo. Jo-Jo verdrängte kurzzeitig andere Spiele, bot beschwingten Halt in einer tiefgreifenden Krisenzeit. Auch Kombucha verdrängte andere Getränke, doch hier handelte es sich um einen längerfristig einsetzbaren Organismus, dessen Ableger eine noch längere Nutzung ermöglichten. Das spielerische Moment, das Ausprobieren unterschiedlicher Nährlösungen und Zubereitungsweisen, erlaubte immer wieder Neuerungen, die zudem in einem sozialen Feld des Austausches und des Miteinanders stattfanden.

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Geplante Frühlingsmoden: Schuhe, Textilien, Haarpflege (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 11 v. 14. März, 12 (l.); Volksstimme 1929, Nr. 59, 24; Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 14 v. 1. April, 13 (r.))

Diese soziale Komponente übersahen Beobachter, die Kombucha als ein vorrangig wirtschaftliches Phänomen deuteten: „Im Jahre 1925 begann man in Prag einen sogenannten ‚Pilz‘ zu züchten, den man Kombucha […] nannte, der aus Japan stammen solle. […] Diesem Kombuchatee schrieb man fabelhafte Wirkungen zu. Auf gewöhnliche Weise konnte zwar die Richtigkeit der Behauptungen nicht festgestellt werden, aber das Geschäft der erfolgreichsten Glückspilze, das der Schwindler, blühte“ (Die Kleinsten als Wohltäter der Größten, Sozialdemokrat 1935, Nr. 87 v. 25. April, 5). Die soziale Dynamik gründete auf Heilserwartungen: „Kombucha, vor einiger Zeit in irgendeine Familie aus Asien eingeschleppt, ist die neue Seuche, mit der eine andere: die des Alters! geheilt werden soll. Mancher Segen kam schon aus dem Orient. Und wenn Kombuach [sic!] auch kein Heiland, kein indischer Apostel ist, so ist es doch ein Erlöser von Krankheit und Alter: ein Heilmittel gegen Arterienverkalkung, ein Lebensverlängerer. So behaupten wenigstens seine Anhänger. […] Ob wir Europäer einander jemals langes Leben wünschen? Jedenfalls uns selbst. Sonst könnte die Gemeinde der Kombucha-Fanatiker nicht so wachsen. Plötzlich tauchten Gerüchte auf von verschiedenen Seiten, es zirkulierte eine Kostprobe, Kulturen werden angelegt, getrunken, ein schwungvoller Handel entsteht… Die Aerzte schütteln die Köpfe, zucken die Achseln, hie und da versucht einer heimlich sich die Sache zu verschaffen, bekommt sie vielleicht von einem Patienten geschenkt. Nun beginnt der Meinungsaustausch, die Aufschneiderei, die Kränkung über Mißerfolge. Skeptiker geraten hart an Gläubige“ (Ilse Wiener, Sie trinken noch nicht Kombucha?, Prager Tagblatt 1926, Nr. 97 v. 23. April, 3).

Deutlich erkennbar ist die Selbstermächtigung im Felde der Gesundheit, die Selbstbehauptung gegenüber dem Arzt, die behauptete Eigenverantwortung für Leib und Leben. In Prag standen wohl nicht nur Naturheilkundevereine, sondern auch eine „Dame der Prager Gesellschaft“ am Anfang der Mode, wahrscheinlich die Arztwitwe Frau Weber, die in Prag auch Vorträge über Kombucha hielt (Prager Tagblatt 1926, Nr. 106 v. 5. Mai, 5). Gemeinsam mit Freunden und Bekannten stellte sie zu Hause und dann auch im Freundeskreis „systematisch angeordnete Versuche bezüglich Aufzucht und Wirkung der Pflanze“ an und wusste „Prager Aerzte für die Sache zu interessieren“ (Trinken Sie schon Kombucha?, Prager Tagblatt 1926, Nr. 102 v. 29. April, 2). Wahrheitswidrig sah man sich in der Nachfolge japanischer Züchter, gründete gar einen eng mit einer führenden Apotheke verbundenen „Wohltätigkeitsverband der Züchter japanischer Kombucha“.

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Anschein einer zivilgesellschaftlichen Bürgerbewegung (Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 113, 18 (l.); Prager Tagblatt 1928, Nr. 48 v. 25. Februar, 15)

Diese Gruppe hob sich mit ihrem Anspruch an reine und leistungsfähige Pilze deutlich von einfachen Nutzern ab, die zu Hause mit ihren Ablegern billig wirtschafteten, die damit verbundene Qualitätsverschlechterung aber in Kauf nahmen (Prager Tagblatt 1927, Nr. 192 v. 13. August, 11). In Prag, aber zunehmend auch in anderen tschechischen Städten begann daraufhin einerseits eine Diskussion über die richtige Hege und Zubereitung, anderseits über gesundheitliche Vorteile und auch Risiken des Pilzes. Ausprobieren war das eine, doch nun „kamen mir über ‚Kombucha‘ schon viele Reden zu Ohren, die verschieden lauteten, so daß ich wirklich nicht weiß, was ich davon halten soll“ (Frauenfreude – Mädchenglück 1927, Nr. 89, 13). Die Befürworter waren in klarer Mehrzahl, während sich Skeptiker schlicht außen vor hielten („Kombucha“, Frauenfreude – Mädchenglück 1927, Nr. 92, 19; Prager Tageblatt 1928, Nr. 49 v. 25. Februar, 15). Die nun zunehmend einsetzenden Anzeigen für die Reinzuchtpilze und dann auch Getränke nährten die Mode: „Alles spricht heute von Kombucha“ (Sozialdemokrat 1928, Nr. 25 v. 19. Januar, 11). Beobachter sprachen von einem seit Monaten blühenden „Kombucharummel“, von einem Interesse „wie selten eine Sache zuvor“ (Sozialdemokrat 1928, Nr. 18 v. 21. Januar, 5; ebd., Nr. 24 v. 28. Januar, 9).

Die Mode wurde jedoch nicht nur kommentiert, sondern auch Wissenschaftler sahen sich in der Pflicht, Stellung zu beziehen. Charakteristisch waren dabei enge Personengeflechte zwischen Naturwissenschaftlern und den pharmazeutischen Anbietern. Siegwart Hermann propagierte eigene Präparate, der Pharmakologe Wilhelm Wiechowski (1873-1928) war geschäftlich mit dem Produzenten, der Norgine AG, verbunden (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 209 v. 18. September, 6). Letzter räumte mit einigen Mythen auf, etwa dem japanischen Ursprung des „Schwamms“. Milchsäure konnte er im Getränk nicht finden, Anpreisungen a la Kefir und Joghurt waren also unsinnig. Jod – wichtig angesichts der damals intensiven Debatten über verpflichtendes Jodsalz – war kaum enthalten. Doch Wiechowskis grundsätzliche Bewertung war positiv: „Die von allen Seiten gerühmten subjektiven Besserungen, von welchem im Verlaufe einer regelmäßigen Aufnahme von durch die Kombuchakultur gesäuerten Teeinfus berichtet wird, dürften daher nicht auf einer Suggestion, sondern auf einer tatsächlichen therapeutischen Einwirkung auf den erkrankten Organismus beruhen“ (Wiechowski, 1928, 7). Die öffentlichen Anpreisungen mochten irreführend, doch der gute Kern der Sache schien ihm klar zu sein. Insbesondere bei der damals zunehmend beachteten Arteriosklerose sei Kombucha hilfreich. Zugleich verteidigte Wiechowski aber die Hegemonie der Expertenkultur gegenüber dem freudigen Treiben der Laien: In den Apotheken erhältliche Reinzuchtpilze seien schon aus hygienischen Gründen erforderlich, ansonsten bestände die Gefahr, dass Kombucha wie ein „Modeartikel“ „in Kürze wieder verschwinden würde“ (Ebd., 9).

Dieser Tenor fand sich dann auch in der pharmazeutischen Fachpresse wieder. Die vermeintlichen Heilswirkungen der Kombucha wurden geschäftsfreudig aufgelistet, dann aber auf ein kleineres Einsatzfeld begrenzt: „Diese vergorene Abkochung soll sich nach einer alten Tradition sehr gut als Heilmittel bei Tuberkulose, Bleichsucht, Arteriosklerose, bei verschiedenen Magen- und Darmkrankheiten usw. bewähren, besonders bei Kindern. Nach den Gerüchten soll sie sogar auch verjüngende Eigenschaften besitzen“ (Kombucha. Der japanische Teepilz (Japanschwamm), Drogisten-Zeitung 43, 1928, 294-296, hier 294). Parallel begann nun eine vermehrte Rezeption der böhmischen Mode in Österreich und dem Deutschen Reich (S. Rywosch, Kombucha, ein neues Getränk, Die Umschau 32, 1928, 612, 614). Damit wurde weiteres Interesse geschürt, waren die Wirkungen des Wunderpilzes doch gleichsam wissenschaftlich bestätigt: „Die medizinische Wissenschaft steht diesem nun mit viel Kraft sich einführenden, schwach alkoholischen Getränk freundlich gegenüber, von vielen Aerzten werden gute Erfolge bei Hämorrhoiden, Verdauungsstörungen, Arterienverkalkung, Gicht und Rheumatismus berichtet“ (Der japanische Teepilz, Tagblatt 1929, Nr. 198 v. 28. August, 5). Paradoxerweise hielten die Berichterstatter faktenwidrig an der Vorstellung eines uralten asiatischen Volksheilmittels fest. Zugleich begannen auch erste ironisierende Kommentare zur Kombucha-Mode um sich zu greifen: „Man hört viel davon. Man kennt es bei uns schon etliche Monate. Vielleicht scheint es sogar ‚die große Mode‘ zu werden: Dieses Lebenselixier, das man hier eingeführt hat, anscheinend um den kranken Mann Europa ein wenig auf die Beine zu helfen“ (Was ist Kombucha?, Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 131 v. 12. Mai, 2).

Kombucha-Jobra: Vermarktung und Aufheizung einer Mode

Zu all den öffentlichen und wissenschaftlichen Beiträgen kam dann ein wachsendes Angebot von Kombuchapräparaten. Am bekanntesten und für die Durchsetzung des Begriffs auch am wichtigsten war Kumbucha-Jobra, ein seit Anfang 1928 von der Prager Apotheke Zum weißen Löwen angebotenes Markenprodukt (Pharmazeutische Post 61, 1928, 22).

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Frauenphantasien von Liebreiz und innerer Schönheitspflege (Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 121, 17 (l.); Prager Tagblatt 1928, Nr. 54 v. 3. März, 13)

Dort wurden im Gefolge des Wohltätigkeitsverbandes der Züchter japanischer Kombucha einerseits „Schwämme“, also frische Teepilze verkauft. Anderseits lieferte man Apotheken und Drogerien nun einen „Jobra-Extrakt“, also ein gebrauchsfertiges Fertiggetränk. Damit bediente man den tradierten Markt der Selbstbereiter, erschloss aber auch neue Zielgruppen vornehmlich urbaner Konsumenten, die sich der Mühe der häuslichen Produktion nicht aussetzen, sondern das heilsame Präparat unmittelbar konsumieren wollten. Das Marktangebot stützte häusliche Aktivitäten, enthäuslichte sie zugleich aber auch.

Kombucha-Jobra war als Heilmittel nicht zugelassen, durfte daher auch nicht als Mittel gegen einzelne Krankheiten angepriesen werden. Entsprechend beschritten die Anbieter indirekte Wege, priesen ihre Ware als gesundheitsfördernd, gaben ein Spektrum möglicher Einsatzgebiete an. Das war gängig für zahllose Geheimmittel vor dem Ersten Weltkrieg, bei Kräftigungsmitteln, Nährsalzkaffee oder Schlankheitspräparaten. Kombucha-Jobra unterstützte demnach die natürliche Schönheit der Frauen, dienten die Präparate doch der inneren Schönheitspflege in Magen und Darm, verjüngte ihr Konsum doch Körper und Erscheinungsformen. Die Werbung ging ein auf den vermeintlichen Stress der Zeit, die Hetze des Alltags, die Ängste vor dem Wettbewerb der Körper im Berufsalltag. Sie sprach gezielt unterschiedliche Zielgruppen an, Frauen zumal, aber auch Männer; Ältere und Gebrechliche, jüngere und gesetztere Damen. Die Klammer bildete die Wortmarke Jorba, übersetzt als „die Heilsame“. Kombucha ließ am Modetrend teilhaben, befeuerte ihn zugleich auch.

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Vermarktung eines imaginierten Japans (Prager Tagblatt 1928, Nr. 7 v. 8. Januar, 9 (l.); Frauenfreude – Mädchenglück, 1928, Nr. 104, 15)

Die positiven Gesundheitswirkungen der eigenen Präparate wurden allgemein umschrieben, doch am Beispiel eines völlig irrealen Japans präzisiert. Das japanische Volk besaß demnach das „Wunder ewiger Jugendfrische, strotzender Gesundheit“ (Prager Tagblatt 1928, Nr. 60 v. 10. März, 13). Dort würde Kombucha „seit Jahrhunderten“ (Ebd., Nr. 72 v. 24. März, 13) angewendet, die Jugendlichkeit und Widerstandskraft der Japaner seien dessen Resultat. Behauptet wurde auch, „Kombucha-Jobra […] macht die Japanerin zur reizendsten, die stets blühend aussieht, hat das japanische Volk von Sklerose, Nieren- und inneren Erkrankungen fast gänzlich befreit“ (Ebd., Nr. 78 v. 31. März, VII; ähnlich ebd., Nr. 67 v. 18. März, VIII). All das diente natürlich nicht primär dem eigenen Absatz, sondern der Gesundheit aller. Galt es doch „hierzulande zu beweisen, was ein Schwamm alles imstande ist“ (Ebd. 1928, Nr. 90 v. 14. April, 16).

Mittels historischer Phantastereien wurden die Konsumenten nicht nur systematisch belogen, sondern mit diesem Kunstgriff auch Maßregeln gegen unlauteren Wettbewerb umgangen. Wettbewerber übernahmen dies vielfach nicht, doch sie erweiterten ihr Angebot ebenfalls auf Pilze und Getränke. Damit besaßen die Konsumenten eine neuartige Wahl.

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Anzeige eines breiter gelagerten Angebots von Teepilz und Teeextrakt (Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 57 v. 26. Februar, 2)

Die Mischung aus inhaltlichen haltlosen Heilsversprechen und irreführenden Verbindungen von Teepilz, Japan und dem dortigen Leben traf auf Gegenwind. In Königgrätz war bereits im November 1927 „Kombucha-Saltrattes“ verboten worden „weil sie auf marktschreierische Art angeboten wird und deren Preis außerdem übertrieben hoch ist“ (Medizinische und Pharmazeutische Rundschau 4, 1928, Nr. 62, 6). Im Januar 1928 folgte aus ähnlichen Gründen das in dem einst von Wallenstein (1583-1634) ausgebauten Jetschin produzierte „Kombucha Sakura“ (Pharmazeutische Post 61, 1928, 162). Kombucha-Jobra stellte sich ab April 1928 auf diesen Gegenwind ein, modifizierte die eigene Werbung. Auch „Kombucha-Saltrattes“ durfte ab Dezember 1928 wieder in Apotheken verkauft werden, falls „die Zubereitung in der Tagespresse nicht auf marktschreierische Art angekündigt und nicht gegen verschiedene Krankheiten empfohlen“ wurde (Ebd. 62, 1929, 173). Staatliche Instanzen und Anbieter näherten sich einander an, mochten die Heilserwartungen auch weiter befeuert werden.

Diese regulativen Eingriffe hatten auch Einfluss auf die Vermarktung einschlägiger Kombuchaprodukte in Österreich. Dort setzte die Mode etwas später ein, so dass sich die Irreführung der Öffentlichkeit in engeren Grenzen bewegte. Bezeichnend dafür war die Zulassung der Teeschwammextrakte „Chambucho“ und „Fungojapon“. Sie wurden Mitte 1929 erlaubt, vorausgesetzt, „daß das Präparat nicht als Heilmittel gegen Krankheiten oder Krankheitssymptome empfohlen oder angekündigt wird“ (Pharmazeutische Post 62, 1929, 617). Der Produzent ließ daraufhin die „Ankündigung als Heilmittel aus der Packung entfernen“, während die empfehlende Gebrauchsanweisung weiter genutzt wurde (Fungojapon frei verkäuflich, Drogisten-Zeitung 44, 1929, 400).

Schon zuvor wurden in der Tschechoslowakei aber auch erste Pharmazeutika angeboten. Das von Siegwart Herrmann entwickelte und gemeinsam mit der Norgine AG im März 1928 auf den Markt gebrachte Präparat „Kombuchal“ war ein sauer schmeckendes, zuckrig eingedicktes und in Sirupform überführtes Kochbuchagetränk (Pharmazeutische Post 61, 1928, 116; Wissenswertes vom Teepilz, Österreichische Apotheker-Zeitung 11, 1957, 580, 582-583, hier 582, Wiener Medizinische Wochenschrift 78, 1928, 1246). Es sollte die beim Tee vermeintlich nachgewiesenen therapeutischen Wirkungen in die ärztliche Praxis überführen (Patent Nr. 538028, Kl. 30h, Gr. 2, erteilt am 29. Oktober 1931, angemeldet am 20. Februar 1927, Happy Herbalist.com), doch ein größerer kommerzieller Erfolg blieb aus. Die Norgine war ein 1897 zur wirtschaftlichen Verwertung des gleichnamigen Appretur- und Klebestoffes gegründetes Unternehmen (L. Melzer, Norgine, in: Fritz Ullmann (Hg.), Enzyklopädie der technischen Chemie, 2. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 8, Berlin und Wien 1931, 141-142). Die Patente des norwegischen Ingenieurs Axel Krefting erlaubten eine neuartige Nutzung des Seetangs. Die Produktion erfolgte erst in der französischen Bretagne, nach finanziellen Schwierigkeiten wurde 1906 im cisleithanischen Aussig die Chemische Fabrik „Norgine“ Dr. Viktor Stein gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 164 v. 15. Juli, 8; Oesterreichische Chemiker-Zeitung 9, 1906, 295; Die Verwendung von Seetang in der Textil-Industrie, Leipziger Monatsschrift für Textil-Industrie 31, 1916, 505). Versuche, 1905 eine deutsche Dependance zu etablieren, scheiterten (Berliner Börsen-Zeitung 1905, Nr. 85 v. 19. Februar, 20). Der Naturstoffproduzent Norgine diversifizierte in den Folgejahren, war im deutschen Markt mit zahlreichen Hilfsprodukten der Textilindustrie präsent und konstituierte sich 1926 als Aktiengesellschaft (Österreichische Chemiker-Zeitung 29, 1926, 121). 1928 wurde schließlich in Berlin eine deutsche Zweigniederlassung gegründet – sicher auch zur Vermarktung des Präparates Kombuchal (Berliner Börsen-Zeitung 1928, Nr. 480 v. 12. Oktober, 8). Die Norgine wurde nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei rasch arisiert, Nutznießer war die Berliner Schering AG (Deutscher Reichsanzeiger 1939, Nr. 285 v. 6. Dezember, 3; ebd. 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 3; ebd. 1944, Nr. 100 v. 3. Mai, 2). Siegwart Hermann musste in die USA fliehen (Helmut Maier, Chemiker im „Dritten Reich“, Weinheim 2015, 359). Auf der heutigen Website der Firma (Geschichte – Norgine Deutschland) wird ein Zerrbild der eigenen Geschichte gezeichnet, werden die Arisierungen nicht erwähnt.

Wissenschaftliche Forschung über die Wirkungen des Wunderpilzes

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Die Palette der vermeintlich freundlichen Bakterien (Ullsteins Blatt der Hausfrau 48, 1932/33, 589)

Auch wenn es in den 1920er Jahren noch eine breite Naturheilkunde- resp. Volksmedizinbewegung gab, war für die Akzeptanz eines Präparates wissenschaftliche Forschung doch unabdingbar. Das unterstrichen auch zahlreiche Übernahmen aus der Erfahrungswelt der Laien durch die pharmazeutische Industrie, etwa Chinin resp. Sauermilch, Kefir, Molke, Joghurt und Traubenkuren. Auch der Teepilz und seine Getränke wurden auf ihre Heilwirkungen untersucht. Doch überraschenderweise blieb die Zahl einschlägiger Untersuchungen gering, blieb zudem vorrangig auf das Gebiet der früheren K.u.K.-Monarchie begrenzt (einen recht lückenhaften Überblick enthält Eduard Stadelmann, Der Teepilz. Eine Literaturzusammenstellung, Sydowia 11, 1957/58, 380-388).

Eine detaillierte Darstellung der wissenschaftlichen Forschung ist für unsere Fragestellung nicht erforderlich. Zwei Richtungen sind allerdings zu unterscheiden, nämlich einerseits die mikrobiologische Essenz der Teepilzgärung und der resultierenden Getränke, anderseits der Nachweis kausaler Heilwirkungen. Dabei fand der japanische Algentee, der eigentliche Kombucha, kaum Interesse, auch wenn er damals als Laminaria-Tee durchaus zu kaufen war (Ueber den Japanischen Pilz (Japan-Schwamm), Pharmazeutische Post 60, 1927, 500-502, hier 501-502).

Die mikrobiologische Analyse konzentrierte sich lange auf die schon von Lindner 1913 behandelte Interaktion des für die Essigsäuregärung und die Celluloseproduktion zentralen Bacteriums xylinum mit Hefen (ebd., 501; Der japanische Teepilz (Kombucha), Pharmazeutische Post 61, 1928, 114-116). Siegwart Hermanns Arbeiten konzentrierten sich dagegen vornehmlich auf die Rolle der Glukonsäure, einer heute unter dem Kürzel E 574 wohlbekannten Fruchtsäure (Siegwart Hermann, Zur Pharmakologie der Glukonsäure, Archiv für experimentelle Pharmazie und Pathologie 154, 1930, 143-160). Kombucha war für ihn „eine Pilzgenossenschaft aus Hefen und Bakterien, welche gezuckertes Teeinfus zu säuern vermag. Sie bestand aus „zwei torulaartigen Hefen, dem Bacterium gluconicum, dem Bacterium xylinum und dem Bacterium xylinoides. Das Teeinfus dient der Pilzgenossenschaft als stickstoffhaltiges Nährsubstrat. Der zugesetzte Rohrzucker wird durch die in einer Hefeart und im Bacterium gluconicum enthaltene Invertase in Lävulose und Dextrose gespalten, die Dextrose dann vom Bacterium gluconicum in d-Gluconsäure übergeführt. Aus dem durch die Hefegärung entstandenen Alkohol wird von allen vorhandenen Bakterien durch Oxydation Essigsäure gebildet“ (Hermann, 1929, 1752). Dies wurde in der zeitgenössischen Forschung stetig wiederholt, galt als Grundlage fast aller Marktangebote und auch als Bewertungsmaßstab für Fragen der chemischen Echtheit sowie der Reinheit der Präparate (Medizinische Klinik 25, 1929, 1508; Fortschritte der Medizin 47, 1929, 993-994; Kombucha und toxische Vigantolwirkung, Die Volksernährung 5, 1930, 81).

Die Heilwirkungen der Präparate hielten sich rein wissenschaftlich in engen Grenzen. Eine rückblickende Analyse ergab Wirkungen „auf die Verdauung, […] bei Arteriosklerose und die spezifische Wirkung der Gluconsäure. Am häufigsten erwähnt wird die leicht abführende Wirkung des Pilztees, die aber am wenigsten spezifisch ist […]. Diese widersprechenden Ergebnisse beweisen jedenfalls, daß die beobachten Heilerfolge, soferne sie überhaupt als solche zu bezeichnen sind, keine Begründung zur Anpreisung des Teepilzes als ‚Wundermittel‘, wie er in der Presse neuerdings bezeichnet wird, bieten“ (Teepilz, 1957, 582 resp. 583; analog E[rich] Soos, Ref. v. Steiger u. Steinegger, Teepilz, Scientia Pharmaceutica 25, 1957, 129). An diesem Ergebnis hatte sich auch bei Beginn der 1990er Kombucha-Mode kaum etwas geändert (Hagers Handbuch der Pharmazeutischen Praxis, vollst. 4. Neuausgabe, hg. v. P[aul] H[einz] List und L[udwig] Hörhammer, Bd. 4, Berlin-W, Heidelberg und New York 1973, 254-256; DGE: Ist Kombucha ein Gesundheitselixier?, DGE-Info 2000, 165-166). Aus historischer Perspektive stand neben anderen Naturstoffen, wie etwa Cannabis. Deren komplexe Wirkstoffmechanismen waren auf die Kausalverbindung Stoff und Wirkung nicht einfach herunterzubrechen. Dadurch wurde die Analyse von Heilwirkungen und die Entwicklung von Pharmazeutika wesentlich erschwert.

Wachsende Kommerzialisierung und viel Schmäh: Die Kombucha-Mode in Österreich 1927 bis 1929

Die böhmische Kombucha-Mode schwappte 1927 über die Grenzen. Eine einfache Notiz über ein „japanisches Volksheilmittel“ des Budapester Naturheilkundearztes Lederer verwies auf die „erstaunliche Wirkung“ des Teegetränks, das „von medizinischen Fachleuten als eine ernste und beachtenswerte Heilmethode angesehen“ wurde (Ein Pilz gegen Arteriosklerose, Tagblatt 1927, Nr. 168 v. 23. Juli, 6; auch in Salzburger Volksblatt 1927, Nr. 178 v. 5. August, 6; Remscheider General-Anzeiger 1927, Nr. 165 v. 18. Juli, 7; Schwäbischer Merkur 1927, Nr. 323 v. 15. Juli, 1). Die meisten österreichischen und deutschen Zeitung druckten sie unkritisch ab, nur einmal wurde „Vorbehalt“ angemeldet (Münchner Neueste Nachrichten 1927, Nr. 188 v. 13. Juli, 2). Kombucha-Tee wurde auf der Wiener Herbstmesse präsentiert, das Interesse war groß, schon Ende 1927 hieß es in Wien, dass der Wunderpilz sich „in der Bevölkerung eines großen Vertrauens“ erfreue und „gegen alle möglichen Krankheiten benützt“ wird (Kombucha, Tagblatt 1927, Nr. 277 v. 2. Dezember, 6). Wieder waren die Laien schneller als die Experten.

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Unbehagen an Wundermitteln (Landfrau 1930, Nr. 50, 2)

Sie ließen der Begeisterung recht freien Lauf: Der Teepilz sei ein „Naturerzeugnis“ mit möglichen gesundheitsfördernden Eigenschaften, schädliche Wirkungen kaum zu erwarten (Dinslage und Ludorff, 1927, 458). Das wurde öffentlich als Bestätigung des Heilwertes verstanden. Nur selten wurden diese Hoffnungen öffentlich als „ein frommer Glaube“ (Neues Wiener Journal 1928, Nr. 12997 v. 27. Januar, 6; ähnlich Teepilz, Deutschösterreichische Tages-Zeitung 1927, Nr. 298 v. 25. Dezember, 19) benannt. Einzig die Antialkoholbewegung ging zunehmend auf Distanz, da das Gärgetränk knapp ein Prozent Alkohol enthielt, mehr also als die Selbstverpflichtungen etwa der Guttempler (Teepilz und Enthaltsamkeitsverpflichtung, Neuland 39, 1930, Sp. 196-197, hier 196) erlaubten. Die Naturheilkunde begrüßte die Neuerung, förderte sie, sah sie als Teil „der Ur-Apotheke Gottes“ in der noch „viele, zum Großteil ungehobene Heilschätze zu finden“ seien (Ekkehard, 1928).

Die Begeisterung schlug etwaige Bedenken in den Wind. Die Pilznutzer pochten auf das Recht der eigenen Beurteilung des Neuen, „beobachten an sich selbst eine deutliche Hebung des Allgemeinbefindens, fühlen sich widerstandfähiger, heiterer“ (Kombucha, Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 104, 20). Warum also auf wissenschaftliche Bestätigungen warten? Diese Spannung zwischen unterschiedlichen Wissensformen wurde durch Begriffe wie „Volksheilmittel“ oder „Volksmittel“ gemildert („Japanischer Schwamm.“, Frauen-Briefe 1928, Folge 36, 10). In den 1920er Jahren spiegelte sich in der „Volksmedizin“ eine weit verbreitete Skepsis gegenüber einer dominant pharmazeutisch ausgerichteten Medizin, gegenüber Verschreibungsärzten. Selbstmedikamentierung war noch weit verbreitet. Alternative Heilverfahren, etwa die Biochemie oder auch die Homöopathie besaßen eine breite Anhängerschar: Der 1926 gegründete „Reichsausschuß der gemeinnützigen Verbände für Lebens- und Heilreform“ hatte etwa 5 Millionen (korporative) Mitglieder (125 Jahre Deutscher Naturheilbund. Digitalausgabe, o.O. 2016, 17), Rohkost und Vitamine standen hoch im Kurs, ebenso Sport und Gymnastik zur Abwehr „zivilisatorischer“ Bedrohungen. Noch aber waren diese Alternativen davon überzeugt, dass sich die guten Volksmittel – und dazu gehörte auch der Teepilz – mit der Zeit in den Kanon der wissenschaftlichen Medizin einreihen würden.

Vor diesem Hintergrund hatte die Kombucha-Mode in Österreich (und dann auch in Deutschland) deutlich andere Akzente. Während in Böhmen die soziale Dimension einer Bürgerbewegung und die Interaktion zwischen medialer Öffentlichkeit, wissenschaftlicher Forschung und dann auch einseitig präsentierten Marktprodukten dominierten, wurde dies alles in Österreich wesentlich stärker ironisiert, als Ausdruck einer aus dem Tritt geratenen, gleichwohl aber unverzichtbaren Moderne gedeutet. In Wiener Gazetten dominierte vielfach Schmäh: „Kombucha ist sein Name. Er ist ein Glückpilz, dieser Wunderpilz, von Damenkreisen viel begehrt, gerne weitergegeben und als das ‚derzeit Beste‘ allgemein empfohlen. […] Die Damen wollen ewig jung sein, sie trinken den Wunderpilztee mit Begeisterung, ‚vielleicht ist doch etwas daran.‘ Zudem ist er ein Mittel, das ausgezeichnet schmeckt und das Genußgift Alkohol unter der Maske eines Heilmittels – und wenn schon alles versagt, mit der Ausrede auf das Abführmittel – in die Kehle einschleichen läßt“ (Juvenal, Der Damen Wunderpilz, Der Tag 1928, Nr. 1824 v. 1. Januar, 24). Es blieb 1928 nicht bei den auch in Prag am Anfang stehenden Damen, also den Repräsentantinnen des Juste Milieu. Doch es verging in Österreich ebenfalls Zeit, bis die Mode auch Angestellte und Arbeiter erreichte. Im Hochsommer 1928 aber hieße es: „Wien ist überschwemmt – um nicht zu sagen ‚überschwämmt‘ von einem Gewächs. Die einen sagen, es käme aus Indien, die andern aus Japan, und alle heißen es einen Schwamm und fragen den Volksarzt, ob es wahr sei, daß man gesund bleibe oder seine Krankheiten kurieren könne, wenn man einen Auszug trinke, der aus diesem Wunderschwamm hergestellt sei. Der Volksarzt, sonst immer so gerne bereit, allen Fragen Antwort zu geben, vor den Schwammerlfragen wird er schon ganz schwach“ (Schwamm drüber, Das Kleine Blatt 1928, Nr. 224 v. 13. August, 8). Auch in Wien war die Kombucha-Mode Teil des sozialen Miteinanders: „Holte einst der Jüngling seiner Dame den Handschuh aus der Löwenarena, so hat er heute ein zwar ungefährlicheres, aber weitaus verläßlicheres Mittel, die Gunst einer Schönen zu erringen. Nicht Schätze, nicht Geldeswert, nein, er verspricht ihr ein Stückchen Kombucha. Kombucha, das Wunderding, mit dem man die Sympathien aller erringt, wenn man ihnen ein Stückchen davon überläßt. Plötzlich, unangesagt wie die Seuche oder eine Modeerneuerung, war der Kombucharummel da. Jede Hausfrau hält es für ihre Pflicht, Kombucha anzusetzen, in jedem Haushalt über ganz Europa ist Kombucha zu finden. […] Es ist der Stein der Weisen, ein elixirum longae vitae, es reinigt das Blut, vertreibt Seuchen, Schlacken und Krankheiten; die einen trinken den Wundersaft, weil er so ein glänzendes Mittel gegen die Arterienverkalkung und gegen den hohen Blutdruck sein soll; die anderen, alternde Damen, schwören auf ihn, er könne die lästigen Wallungen im Wechsel verscheuchen, die anderen wieder züchten den Teeschwamm, weil er eben ‚gesund‘ ist, viele, weil er – ein alkoholfreier Champagner – gut mundet und zart prickelnd moussiert, der Rest endlich macht den Kombucharummel mit, weil es die anderen auch tun und eben, weil sie ein Stückchen zum Ansetzen geschenkt erhalten haben“ (Die Kombucha-Mode, Neues Wiener Journal 1928, Nr. 12521 v. 30. September, 18).

Kombucha wurde damals durchaus historisiert, wurde als Nachgänger der früheren Mode-Allheilmittel Joghurt, Knoblauch und zuletzt Lukutate präsentiert. Entscheidend aber war das quirlige Ergebnis: Der „japanische Schwamm ist Tagesgespräch. Beim Rummy und bei ähnlichen Anlässen, die die Menschen zusammenführen, wird Kombucha weitergegeben. Bei der weiblichen Bevölkerung erfreut sich der japanische Schwamm unbegrenzten Zutrauens und wird als Allheilmittel bei allen möglichen Zuständen bemützt. […] In Damenkreisen – allerdings naschen auch schon Männer von diesem Trankerl – wird der japanische Schwamm als ‚Verjüngungsmittel‘, namentlich als Mittel gegen die gefürchtete Arterienverkalkung gepriesen“ (Juvenal, Das jüngste Allheilmittel, Der Tag 1928, Nr. 2088 v. 23. September, 21-22, hier 22). Nüchternere Zeitgenossen sahen eine Gesellschaft im irrealen Rausch: „Der Schwammglaube drang in zahllose Hirne, um sich unerschütterlich darin festzusetzen. […] Aber der Ruhm des Gewächses ist zu groß geworden. Er ist in Wien eine Autorität geworden, der Schwamm, die jeder Skepsis und Kritik standzuhalten vermag“ (Paul Stein, Des Japanischen Schwammes Glück und Ende, Arbeiter-Zeitung 1928, Nr. 286 v. 14. Oktober, 7). Ein Jahr nach dem Aufkommen ergab man sich augenzwinkernd der Mode: „‚Hab’n S‘ a schon an Schwamm?‘ Ueberall kann man jetzt diese Frage vernehmen: Auf der Straßenbahn, beim Greißler, im Versatzamt, beim Heurigen und auch am Zentralfriedhof. […] Und je weniger die Menschen über den Schwamm wissen, desto nachdrücklicher ist die Verehrung, die sie ihm zollen. Der seuchenartigen Verbreitung des Wunderschwamms liegt eine ‚Sympathie‘ zugrunde: Soll er wirken, so muß er verschenkt werden.“ Grotesk-johlend stimmte man ein in die Parole der Zeit: „‚Es gibt ka Krankheit, dö er nöt heilt‘“ (beide J. Vinzenz, Der Schwamm, Kleine Volks-Zeitung 1928, Nr. 357 v. 27. Dezember, 8-9).

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Grundlagen für die Kombuchabereitung (Ullsteins Blatt der Hausfrau 44, 1928/29, 812)

Im Frühjahr war ganz Österreich angefixt, zumindest aber die städtische Bevölkerung: „Cambucho ist eine Modekrankheit, eine Volksseuche der Autosuggestion, ein Lebenselixir, Cambucho ist eben ‚der japanische Schwamm‘, den heute kaum eine Hausfrau in Wien, Graz oder Linz nicht kennt, Cambucho ist es, den sie einer armen, nicht unwissenden Freundin mit beschwörenden Gebärden dringendst empfiehlt, für den sie sogleich zwei oder drei verschiedene Arten der Zubereitung angeben kann. […] Die Wissenschaft steht diesem Modegesundheitspilz noch fassungslos, erfahrungslos gegenüber. […] Aber wer glaubt heute noch der Wissenschaft?“ Gewiss, die praktische Arbeit mit dem glitschigen, sich stets wandelnden Pilz war nicht jedermanns Sache, bedurfte der Erfahrung. Doch Hoffnung bestimmte dank des Wunderpilzes den Alltag vieler: „Er hilft gegen einfach alles! Gegen alles! So man gläubig ist! Denn der Glaube ist ja bekanntlich imstande, Berge zu versetzen, warum soll er also keine Linderung der Schmerzen bringen können?“ (Zitate n. Trinken Sie Cambucho?, Tages-Post 1929, Nr. 87 v. 13. April, 1). Gab es schönere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben? Auch im Radio war Kombucha ein Thema (Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 250 v. 11. September, 5; Radio Wien 7, 1931, Nr. 48, 53), selbst in Küchenzetteln der Zeit fand er Eingang, ebenso in Rezepte (Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 37, 2; ebd., H. 43, 31; ebd., H. 46, 30; ebd. 33, 1930, H. 1, 28; B. Gladbacher Volkszeitung 1929, Nr. 127 v. 3. Juni, 9; Altenaer Kreisblatt 1929, Nr. 128 v. 4. Juni, Frauenzeitung, Nr. 19, 4). So half man sich selbst, war zugleich aber auch Teil eines imaginierten globalen Lernprozesses.

Japan als imaginierte Heimat des Kombuchas

Der Erfolg der Kombucha war begleitet von Vorstellungen einer Welt der Übernahmen und des Ausgleichs nach dem (vorläufigen) Ende der Großmachtpolitik der beiden mitteleuropäischen Reiche. Ohne den Bezug auf Asien, insbesondere auf die aufsteigende, doch unbekannte Macht Japan wäre die Mode deutlich schwächer ausgeprägt gewesen. Schon in Böhmen wurden Versatzstücke von Geisha und Samurai, von Drill und Selbstverleugnung in ein Fremdbild einer gesunden, aufstrebenden Nation verdichtet. Das galt auch in Österreich, während im Deutschen Reich der von Japan okkupierte deutsche Kolonialbesitz in China Teil der Wendung gegen Versailles war. Die imaginierte Heimat des Kombuchas abstrahierte von dem mit dem Übergang zur Showa-Zeit 1926 einsetzenden aggressiven Imperialismus Japans, war eher gespeist von Vorstellungen einer einfachen, duld- und arbeitsamen Bevölkerung, die sich auch durch Katastrophen wie dem Erdbeben und Stadtbrand in Tokio 1923 nicht aus der Balance bringen ließ.

Kitsch und Agrarromantizismus bestimmten das Bild der Kombucha: „Zu uns kam er erst vor einigen Jahren aus Japan. Dort, auf zwergenniedlichen Bambustischen, neben knospenden Pflaumenzweigen oder einer großen Kirschblüte an sonnigem Zimmerplatz freut er sich seines stummen Pilzlebens.“ Ihm galt es auch in Mitteleuropa einen Platz zu gewähren, „wo ihn die Finger der Sonne durch die gläsernen Wände seiner engen Heimstätte kosen können, [denn, US] dann söhnt er sich aus mit dem neuen Aufenthalt. Dann träumt er von seiner Urheimat in fernen blaugrünen klaren Bächen Japans, wo er immer am Wurzelfuß friedlicher, blühender und wohlriechender Büsche gedeiht und manchmal zu riesigen Exemplaren sich auswächst, in exotischer märchenschöner Üppigkeit“ (beide Kaulitz-Niedeck, 1927). Faktenwidrig wurde das Narrativ des in Japan seit jeher benutzten Volksheilmittels verbreitet (Salzburger Volksblatt 1927, Nr. 294 v. 24. Dezember, 13), faktenwidrig verband man es mit niedrigen Arterioskleroseraten, mit Erfolgen im Kampf gegen Alterskrankheiten, Gicht, Rheuma und vielem mehr (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1927, Nr. 159 v. 7. November, 3; Neuigkeits-Welt-Blatt 1928, Nr. 236 v. 11. Oktober, 11). Japanischer Gleichmut? Ergebnis des Teepilzes! Innere Hygiene! Ergebnis des Teepilzes! Kombucha-Mode? Seit langem Alltag in Japan, in Ostasien (Etwas über den Teepilz, Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 172 v. 30. Juli, 5).

Gängige Versatzstücke eines exotisierten Japans ergänzten diese Phantasmen: Deutsche Missionare hätten den „japanischen Teepilz“ mit nach Europa gebracht (Der japanische Teepilz, Illustrierte Nützliche Blätter 44, 1928, 177). Der wachsende wissenschaftliche Austausch habe dem „immer noch geheimnisvollen Asien Heilmittel“ abgerungen, „die auch für uns Europäer eine ganz hervorragende Wirkung zeigen“ (Der Teepilz ein Volksheilmittel, Die Neue Zeitung 1929, Nr. 269 v. 28. Juli, Unterhaltungsbeil., 4). Auch der „vulkanische Boden“ Japans durfte nicht fehlen, denn dort habe man den Schwamm „bereits vor einigen hundert Jahren“ gefunden (Sozialdemokrat 1928, Nr. 25 v. 29. Januar, 11). Auch die „berühmte graziöse Japanerin schiebt ihre schlanke Linie dem Gebrauch von Kombucha zu“ (Der japanische Teepilz, Lippspringer Anzeiger 1931, Nr. 79/80 v. 5. April, 8).

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Exotisierung Asiens in der zeitgenössischen Teewerbung (Der Welt-Spiegel 1924, Nr. 3 v. 20. Januar, 4 (l.); Der Haushalt 1, 1929, Nr. 4, 14; Vorwärts 1926, Nr. 10 v. 7. Januar, 4 (r.))

Festzuhalten ist nicht nur, dass derartige Lügen ein unverzichtbarer Bestandteil der Kombucha-Mode waren, dass damit insbesondere Kombucha-Präparate beworben wurden. Festzuhalten ist auch, dass derartige Versatzstücke bis heute wirken, bis heute bespielt werden. Die Kombucha-Mode markiert nicht nur den öffentlichen Raum als einen Möglichkeitsraum für Wunder, sondern auch als einen Raum haltloser, doch gerne geglaubter Lügen. In Österreich wurde dieses mit selbstironischem Schmäh, mit Augenzwinkern beantwortet – nicht aber mit dem Realismus einer ideal gedachten offenen Gesellschaft.

Markenartikel auch in Österreich: Ein Eindruck

Die Kombucha-Mode in Österreich wurde seit 1928 von zahlreichen Marktangeboten mit geprägt. Kombucha-Präparate waren „in jeder Drogerie zu haben“, in jeder Apotheke erhältlich (Die Frau und Mutter 17, 1928, H. 11, 34; Kleine Volks-Zeitung 1928, Nr. 196 v. 16. Juli, 7). „Eine geschäftstüchtige Industrie hat sich dieses Artikels bereits bemächtigt“ (Der Teepilz als Handverkaufsartikel der Apotheke, Pharmazeutische Post 62, 1929, 175-177, hier 175). Von Böhmen übernahm man den Begriff „Kombucha“, der dann zunehmend variiert, 1928 neben den Begriff des (Tee-)Schwamms trat, um 1929 hinter dem allgemeineren Begriff des „Teepilzes“ zurückzufallen (Gustav A. Kellers, Kombucha-Honig (Teepilz-Honig), Illustrierte Nützliche Blätter 45, 1929, 36-37, 56-57).

Angesichts der Erfahrungen in Böhmen achteten die österreichischen Zulassungsinstanzen auf eine zurückhaltendere Werbung. Gleichwohl war weiter die Rede von der „wunderbaren Heilwirkung“ des Pilzes. Die Marke „Kambekka“ war Teil der Grundversorgung der Selbstbereiter mit einer Reinkultur – und demnach kaum bedeutend. Doch das vom Wiener Milchwissenschaftler und Bakteriologen Willibald Winkler (1854-1941) hergestellte Produkt verkörperte den damaligen Wirtschaftsnationalismus – selbst bei vermeintlich japanischen Produkten. Winklers Standardprodukt war offenkundig nicht sehr erfolgreich, doch das war seiner Ansicht nach Folge der noch dominierenden ausländischen – tschechoslowakischen – Konkurrenz: „Es ist nun schade, daß noch immer ausländische Ware in Oesterreich verkauft wird, obwohl man in Oesterreich selbst Institute hat, die wissenschaftlich und wirtschaftlich unter Kontrolle hervorragender Fachmänner der Gärungsindustrie dieselbe Ware erzeugen. Leider können diese Institute infolge Geldmangels mit der ausländischen Industrie nicht konkurrieren, die ja ungeheure Geldmittel aufbringen kann“ (Der japanische Teeschwamm, Illustrierte Kronen-Zeitung 1929, Nr. 10588 v. 15. Juli, 3). Solche Autarkieträume spiegelten nicht nur die wirtschaftlichen Probleme der Zeit, sondern vor allem eine wachsende Bedeutung von offensiv beworbenen Markenprodukten.

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Reine Pilze aus dem Laboratorium (Neuigkeits-Welt-Blatt 1928, Nr. 242 v. 18. Oktober, 15)

Dennoch war der österreichische Kombucha-Markt noch nicht von Markenprodukten dominiert. Pilzableger dürften die Mode befeuert haben, ebenso nicht nähere benannte Pilzkulturen aus Drogerien und Apotheke. Gleichwohl begannen erst Anbieter sich allein auf das Kombucha-Getränk zu konzentrieren. „Chambucho“ war ein Zwischenprodukt, ein „japanischer Teeschwammextrakt“, den man in zuckerhaltige Nährflüssigkeiten schütten konnte, um so eine Gärung in Gang zu setzen, an deren Ende „ein schwach alkoholhältiges (zirka 1%) moussierendes Getränk entsteht, das nach einigen Angaben auch vitaminähnliche Gärungsprodukte enthalten soll“ (Chambucho, Drogisten-Zeitung 44, 1929, 402). Damit war Selbstbereitung ohne Pilz möglich. Das seit Ende 1927 angebotene Chambucho bot neue Vermarktungs- und Wertschöpfungsmöglichkeiten (Freie Stimmen 1927, Nr. 254 v. 6. November, 11). Es erinnerte an die vielfältige Zahl gelingsicherer Spirituosenessenzen, die suggerierten, mit einem Zwischenprodukt, Weingeist und einigen Flaschen echten Likörs, echten Rum erstellen zu können. Das Heim war nicht mehr länger Probierstube und Experimentierort, sondern mutierte zum Endpunkt einer vom Produzenten großenteils vorgegebenen Handlungsroutine, an deren Ende ein Kombucha-Getränk stehen würde. Damit trat zugleich die Nährlösung in den Blickpunkt der Anbieter. Sie war anfangs in das Belieben der Selbstbereiter gestellt, mochten sich auch aromatische Teesorten am besten eignen. Das Zwischenprodukt „Chambucho“ erforderten nun solche Zutaten (Der indische oder japanische Teepilz und seine Wirkung, Neue Freie Presse 1929, Nr. 23380 v. 16. Oktober, 6). Damit intensivierte sich auch der Wettbewerb der Ansatztees, der Ansatzmassen.

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Chambucho, ein Kombucha-Getränk (Grazer Tagblatt 1929, Nr. 577 v. 15. Dezember, 19 (l.); Österreichs Frauenzeitung 1930, Nr. 28, 8)

Abgeklärter, kürzer, kommerzieller: Die Kombucha-Mode im Deutschen Reich 1928 bis 1930

Im Deutschen Reich war der Teepilz schon vor dem Ersten Weltkrieg bekannt. Seine Bedeutung nahm nach Hyperinflation langsam zu, Rückfragen aus verschiedenen Regionen lassen eine frühe Verbreitung in München, im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und in Westpreußen vermuten (Ars Medici 15, 1925, 194; Apotheker-Zeitung 41, 1926, 741; H. Löwenheim, Ueber den indischen Teepilz, ebd. 42, 1927, 148-149; Dinslage und Ludorff, 1927, 459; Lakowitz, 1928, 299). Trendsetter waren auch hier Anhänger der Naturheilkunde (Sprinkmeyer, Ueber den indischen Teepilz, Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1927, Nr. 168 v. 21. Juli, 4).

Breite Belege für eine Kombucha-Mode im Deutschen Reich finden sich jedoch erst im der zweiten Hälfte 1928: „Seit einigen Monaten ist das Interesse für das Gewächs besonders groß“ hieß es beispielsweise aus Hamburg ([C.] Hahmann, Der indische Teepilz, Hamburger Anzeiger 1928, Nr. 219 v. 18. September, 6). Allgemeiner gehaltene Beiträge unterstützen diese Periodisierung (P. Tollmann, Kombucha oder der japanische Teepilz und seine Bedeutung als Heilmittel, Die Volksernährung 4, 1929, 90-91, hier 90). Der Wunderpilz verbreitete sich nicht überall, Berlin folgte der Mode erst 1929 und trottete bestenfalls dem allgemeinen Trend hinterher (A[ndreas] K[nauth], Teekwas, das moderne vergorene Teegetränk, Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 18 v. 11. Januar, 9). All das steht aber unter dem generellen Vorbehalt dieses Aufsatzes, dass nämlich Selbstbereitung vor der Ausbildung eines dann bemerkenswert breiten Marktangebotes weit verbreitet war, ja dominierte ([Julius] Kochs, Ein neuartiges Essiggetränk, Hildener Rundschau 1929, Nr. 86 v. 13. April, 6). Die Quellen lassen einen jedoch im Stich. Auch im Deutschen Reich sprach man von einem 1928 einsetzenden „Kombucha-Rummel“ – aber zugleich, dass viele „sich dieses neueste Volksheilmittel im Hause“ herstellen (Teepilz-Kombucha-Frage, 1929).

Die Kombucha-Mode des Auslandes wurden aufgegriffen und als Werbeargument verwandt (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 64 v. 5. März, 4). Gleichwohl verlief sie ruhiger, wurden jedenfalls weniger in den Fachzeitschriften, in Zeitschriften und Zeitungen kommentiert. Nüchternere Berichte dominierten, kurze Hinweise. Doch wie in Österreich dienten zahlreiche Tageszeitungen auch dazu, akute Fragen über die Pflege des Pilzes, die Zubereitung des Teegetränks und zu dessen Zuträglichkeit zu beantworten. Die Reaktionen und Kommentare waren insgesamt weniger enthusiastisch, deutlich skeptischer angesichts der „Uebertreibungssucht“ der Kombucha-Werbung. Sie sei so unglaubwürdig und übertrieben, „daß dadurch auch seinen wirklichen, guten Eigenschaften gegenüber Mißtrauen entstehen muß.“ Das galt nicht allein und nicht primär der kommerziellen Reklame, „denn die meisten Teepilze dürften verschenkt werden“ (sämtlich Der saure Pilz, Lengericher Zeitung 1929, Nr. 66 v. 19. März, 7).

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Der Teepilz als modisches Allheilmittel (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 14)

Trotz dieser Unterschiede folgte die deutsche Kombucha-Mode den Grundmustern Böhmens und Österreichs: „Eines Tages war er da, der Teepilz, der alle Krankheiten kurieren soll. Mit beispiellosem Siegeslauf eroberte er ganz Europa und auch in Deutschland fand er zahllose begeisterte Anhänger. Ja, man kann geradezu von einer Teepilzpsychose sprechen, die noch keineswegs abgeflaut ist. Noch immer berichtet man sich von wunderbaren Heilungen, die der Teepilz vollbrachte und selbst in die Reihen skeptischer Wissenschaftler drang sein Ruf (Walter Finkler, Der Teepilz – ein neues Volksheilmittel, Hamburgischer Correspondent 1930, Nr. 709 v. 16. Februar, 5). Die Reklameschreie setzten zugleich selbstbestimmtes Austesten in Gang: „Bevor dieser indische Teepilz Japos noch weiten Kreisen bekannt gemacht worden ist, haben wir auf eigene Faust Versuche mit ‚Japos‘ angestellt“ (Ja-posiere Dich gesund, Schwerter Zeitung 1929, Nr. 22 v. 26. Januar, 7).

Die beträchtliche Alltagsbedeutung des Teepilzes im Deutschen Reich manifestierte sich auch in vielfach humoristisch und im Dialekt gehaltenen Kolumnen. Hier ein Beispiel aus Friesland: „Hier hett körts ‘n gefahrde Mann ‘n Vördrag over ‚indische Teepilz‘ holln, de ok Wolga-Qualle un russische Blume nömt wordt. Van dat ‚Gewächs‘ makt man ‘n ‚säuerliche Flüssigkeit‘, de man drinkt un ditt Husmiddel sall tegen allerhand Leiden, so as Gicht, Stoffwechselstörungen un anner Krankheiten helpen. De Pilz gifft alle veertin Dage ‘n Offlegger un nu kannst di denken, wat de ‚leidende Menschheit‘ Jagd up ‘n Teepilz makt“ (Trintje van Ollersum, Breef ut de Grootstadt, Jeversches Wochenblatt 1928, Nr. 238 v. 9. Oktober, 6). Und analog tönte es aus Bayern: „Aber g’lobt wird er sehr, der Teepilz. Probiern Sie ‘s halt a’mal damit, Frau Schlibinger. De fremd’n Völker, de ham schon vui‘ so Mittel erfund’n, wo ‘s bei uns net gibt. – Mei‘ Schwager, der war selbige Zeit beim China-Feldzug, vor s‘ geheiratet ham. Der sagt, in bezug auf G’sundheit fehlt si‘ nix bei de Chinesn‘, kloa aber zaach! Des kann scho‘ sei, daß da der Pilz wos ausmacht. De ess’n ‘an ja mittags zur Supp’n, wia mir an Maggi. De fress’n ja überhaupts alles mögliche nei‘, sagt mei Schwager, Eidachsln und bachane Vogelnester und Hund‘ – pfui Deifl übera’nand…! Probier’n S‘ amal den Pilz, Frau Schleibinger. Wern S‘ sehng: der tuat Eahna guat!“ (Der Teepilz, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 17 v. 18. Januar, General-Anzeiger, 1)

Kombucha-Mode unter kommerziellen Vorzeichen: Markenprodukte im Deutschen Reich

Das Deutsche Reich, gemeinsam mit den USA damals führender Anbieter von Pharmazeutika, entwickelte deutlich mehr Kombucha-Präparate als die böhmische und österreichische Konkurrenz, vermarktete diese jedoch zunehmend unter dem Begriff „Teepilz“, der auch die öffentliche Debatte dominierte. Die Präparate waren aber keineswegs neu, sondern man griff die seit 1928 bestehende Trias von Reinzuchtpilzen, Kumbucha-Extrakten und -Getränke auf. Neu war im Deutschen Reich allerdings ein Koppelangebot, entstand doch für die Pilzgärung „eine neue Industrie […], die eigens hierzu geeignete Gläser fabrikmäßig herstellt“ (Teepilz-Kombucha-Frage, 1929; vgl. auch Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 191 v. 16. Juli, 12). Angesichts der hohen Leistungsfähigkeit der tschechischen Glasindustrie dürfte es entsprechende Angebote jedoch auch im benachbarten Ausland gegeben haben.

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Koppeleffekte der Mode: Teepilzgläser im Warenhaus Hermann Tietz (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 181 v. 6. Juli, 16)

Der wichtigste Teepilz-Markenartikel im Deutschen Reich war der vom Münchner Sagitta-Werk GmbH hergestellte „Mo-Gû“. Dabei handelte es sich an sich um eine Dachmarke für Pilz, Extrakt und Getränk. Die Sagitta-Werk GmbH war im Oktober 1920 gegründet worden und konzentrierte sich auf die Produktion und den Vertrieb einfacher Drogerieartikel (Deutscher Reichsanzeiger 1920, Nr. 261 v. 16. November, 16). Das galt für Sagitta-Hustenbonbons oder -Balsam (Münchner Neueste Nachrichten 1922, Nr. 492 v. 20. Dezember, 4; AZ am Abend 1925, Nr. 310 v. 25. November, 3; Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 92 v. 4. April, 6), ebenso für Haarwuchsmitteln oder Lebertran. Das Sagitta-Werk wurde anfangs von Mitgliedern der Familie Fasching geleitet, die auch Inhaber der Münchner Schützen-Apotheke waren (Münchner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 343 v. 12. Dezember, 3; Deutscher Reichsanzeiger 1926, Nr. 91 v. 20. April, 7). Der zuvor im Haarhandel tätige Münchner Kaufmann Max Linnbrunner war seit Oktober 1928 Geschäftsführer des Sagitta-Werks und treibende Kraft bei der Teepilzvermarktung (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 195 v. 24. August, 11; ebd. 1928, Nr. 244 v. 18. Oktober, 9).

19_Muenchner Neueste Nachrichten_1928_10_03_Nr270_p14_Salzburger Chronik_1929_09_21_Nr218_p10_Kombucha_Teepilz_Mo-Gu_Getraenke_Heilmittel

Grenzüberschreitender Verkauf des Teepilzes Mo-Gû (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 270 v. 3. Oktober, 14 (l.); Salzburger Chronik 1929, Nr. 218 v. 21. September, 10)

War die Vermarkung der Kombucha-Präparate zuvor eher anonym, eine von Gebrauchsgütern, Marken und Firmen, so präsentierte sich Linnbrunner als aktiver Propagandist der Mo-Gû-Waren. In zahllosen, meist ein wenig variierten PR-Artikeln, stellte er einerseits die Heilwirkungen, anderseits die Bequemlichkeit des „japanischen Teepilzes“ vor: „Nach den vielseitigsten Erfahrungen wird dieser Extrakt als wirksames Heilmittel zur milden, jedoch sicheren Darmregulierung, gegen Verdauungsbeschwerden, bei Arterienverkalkung (Gefäßerkrankungen), gichtischen und rheumatischen Erkrankungen sowie verschiedenen Stoffwechselstörungen mit zweifellos günstigem Erfolg angewandt“ (Max Linnbrunner, Vom Teepilz, Freie Stimmen 1930, Nr. 150 v. 3. Juli, 3). Eine kostenlos verteilte Broschüre pries ebenso vorsichtig wie bestimmt das wissenschaftlich nicht sicher belegte Gesundheitsprofil. Zunehmend wichtiger, weil neuer als die durch die Mode ohnehin bekannten Anwendungsgebiete, wurde die einfache und bequeme Handhabung. Selbstbereiter konnten einen hochwertig-reinen Pilz erstehen, dann ihr eigenes Ding machen. Das fertige Getränk war teuer, sollte jedoch die gleichen Wirkungen haben wie ein über mehrere Tage zuhause vergorenes Getränk. Hinzu trat ein Konzentrat, der Mo-Gû-Extrakt, der alle Wirkstoffe enthielt und wie Medizin zu nehmen war. Linnbrunner verwies zudem regelmäßig auf die vielfältig variablen Teeansätze: Neben schwarzem Tee oder Mate empfahl er heimische Kräuter, Erdbeer- und Brombeerblätter, Lindenblütentee, aber auch fertig käufliche Mischungen „von Huflattich, Lindenblüten, Scharfgarbe, Pfefferminze und Waldmeister“ (Max Linnbrunner, Vom Teepilz, Fürstenfelder Zeitung 1930, Nr. 80 v. 6. April, 6). Das Sagitta-Werk bzw. die Münchner Schützenapotheke hatten das käufliche Angebot erweitert, deckten zugleich die gesamte Wertschöpfungskette ab (Pharmazeutische Post 63, 1930, 64). Ab Ende 1930 bot man zudem Mo-Gû-Extrakt-Tabletten an, „die gleichfalls alle wirksamen Bestanteile des Teepilzes enthalten wie Encyme, Hormone, Vitamine und vor allem auch Gluconsäure“ (Max Linnbrunner, Was sagt die Wissenschaft über die Wirkung des Teepilz-Getränkes?, Fürstenfeldbrucker Zeitung 1931, Nr. 35 v. 12. Februar, 6). Innerhalb weniger Jahre war aus dem häuslich zu pflegenden Pilz ein Pharmazeutikum geworden: Einnehmen und schlucken reichte, die vermeintliche Fron des eigenen Tuns nahm man dem Käufer ab.

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Reichsweite Präsenz: Werbung für Mo-Gû (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 14, v. 7. Juli, 4 (l.); Jugend 35, 1930, 318; Hamburger Anzeiger 1929, Nr. 196 v. 23. August, 5)

Mo-Gû wurde reichsweit über Apotheken, Drogerien und Reformhäuser vertrieben. Es wurde als Vorbeugemittel beworben, so konnte man die Einsatzfelder benennen, ohne kausale Wirkungen zu behaupten. Die Anzeigen zielten zumeist auf das allgemeine Publikum, einzelne konzentrierten sich jedoch auf spezielle Krankheiten, etwa die Gichtprävention (Berliner Tageblatt 1928, Nr. 600 v. 20. Dezember, 7). Bei der Vermarktung orientierte sich das Sagitta-Werk an gängigen Drogenartikeln, so dass man durchaus Kostproben verteilte, um den Absatz anzukurbeln.

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Kostenlose Kostproben zur Ankurbelung des Absatzes (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 302 v. 6. November, 16)

Neben Dachmarken wie Mo-Gû etablierten sich im Deutschen Reich auch zahlreiche spezialisierte Angebote. Die Münchener Firma Dr. König konzentrierte sich etwa auf eine „Japanische Trinkkur“ also nach Rezept einzunehmende Convenienceprodukte (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 64 v. 5. März, 4). Da die Herstellung der Teepilz-Präparate recht einfach war, gab es rasch weitere Adaptionen. Die Hefezuchtanstalt Kitzingen liefert beispielsweise den echten indisch-japanischen Teepilz Fungojapon in Reinzucht – nannte ihn gar ein gutes Mittel gegen „Melancholie“ (Etwas über den Teepilz, Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 172 v. 30. Juli, 5). Hinzu kam ein gleichnamiger Tee-Extrakt für „an Arterienverkalkung, Furunkeln, hohem Blutdruck, Gicht u. anderen Alterserscheinung. Leidende“ (Godesberger Volkszeitung 1931, Nr. 1 v. 2. Januar, 10).

22_Muenchner Neueste Nachrichten_1928_12_30_Nr355_p23_Ebd_02_10_p15_Kombucha_Teepilz_Fungojapon_Getraenke_Ripo_Chermose_Kitzingen

Spezialisierte Angebote: Fungojapon und Ripo Chermose (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 355 v. 30. Dezember, 23 (l.); ebd., Nr. 40 v. 10. Februar, 15)

Andere Anbieter emanzipierten ihr Angebot von dem geregelten Verkauf über Apotheken, indem sie allein Fertigprodukte anboten. So etwa die in München produzierte ‚Ripo Chermose“. Sie wurde als Heilmittel, also als trinkfertiger Extrakt, aber auch als reines Tischgetränk angeboten (AZ am Abend 1928, Nr. 267 v. 16. November, 5). Kurz vor Weihnachten 1928 eingeführt, wurde es als „gesundheitsförderndes“ Getränk in einer mostartigen und einer filtrierten, glanzhellen Variante offeriert (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 343 v. 16. Dezember, 10). In dieser Form konnte es auch im Kolonialwarenhandel abgesetzt werden, fand seinen Weg auch in die Lebensmittelabteilungen von Warenhäusern (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 84 v. 27. März, 12).

23_Die neue Buecherschau_07_1929_H05_sp_Ebd_H06_sp_Kombucha_Teepilz_Kara_Berlin

Karna-Teepilze aus Berlin (Die neue Bücherschau 7, 1929, H. 5, s.p. (l.), H. 6., s.p.)

Spezialisierungen gab es jedoch auch bei der Reinkulturproduktion von Pilzen, etwa in Form der Indischen Teepilzzucht in Berlin. Die Mehrzahl der meist für einen regionalen Markt produzierenden Betriebe boten jedoch Pilze und Extrakte an, so etwa die Münchner Teepilz-Züchterei und Extraktbereitung A. Kröll oder das Dresdner Laboratorium Gerner (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 120 v. 2. Mai., 19; Dresdner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 97 v. 26. April, 18).

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Minutenwerk und Glanzleistungen: Conti-Kombucha (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1928, Nr. 13271 v. 10. November, 1928, 20)

Das Münchner Sagitta-Werk war eine Ausnahme, weil es ein breites und wachsendes Angebot reichsweit anbot. Doch das übliche Teepilz-Angebot war 1928/29 regional ausgerichtet. Gutes Beispiel hierfür war die Bonner Continentale Kombucha Extraktion, deren sloganhafte Werbung im November 1928 einsetzte: „Kombucha ist Ihr Lebenselixier, Kombucha schützt Sie und verjüngt Ihr Herz“ (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1928, Nr. 13282 v. 24. November, 3). Die Conti konzentrierte sich anfangs auf den Selbstbereiter, offerierte neben dem Pilz auch Gärkübel und Ansatztee zum Paketpreis von erst 6, dann 4 Mark (Bonner Zeitung 1928, Nr. 382 v. 18. November, 4). Dieses Angebot wurde rasch um ein Getränk, die „Kombucha-Moussade“ ergänzt. Die Werbung suggerierte Wirkungen, geredet wurde über „Verblüff. Erfolge b. Nervosität, Müdigkeit, Abgespanntheit, Arterienverkalkung, Gicht, Rheuma, Darmträgheit“ (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1928, Nr. 13300 v. 15. Dezember, 6). Die Conti investierte zudem in die Verpackung ihrer Pilze, bot die „neue asiatische Droge“ im schicken „Flakon mit Purpurkappe“ an (Ebd. 1929, Nr. 13393 v. 12. April, 8). Während der Pilz dem Apothekenvertrieb vorbehalten blieb, wurde „Conti-Kombucha-Edel-Moussade“ über Drogerien und auch Kolonialwarenläden abgesetzt. Proben und Broschüren gab es kostenlos.

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Suggestive Vermarktung im Bonner Umfeld (Godesberger Volkszeitung 1928, Nr. 52 v. 2. März, 12)

Alle diese Produkte waren mit Heilsversprechen verbunden, dienten offensiv der Prävention, aber auch als Kräftigungsmittel (DGA illustriert 1929, Nr. 151 v. 31. März, 23). Dennoch blieb der Verkauf auf Bonn begrenzt. Erst im Mai 1929 investierte der kleine Betrieb in Markterweiterungen, erweiterte den Absatz bis nach Duisburg (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1929, Nr. 13430 v. 25. Mai, 19; DGA 1929, Nr. 294 v. 26. Juni, 10). Doch das reichte nicht, um im Markt bestehen zu können. Im November fand in Bonn die Zwangsversteigerung statt (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1929, Nr. 13572 v. 9. November, 16). Die Gründe sind unklar, doch Wettbewerber wie die auf ein Kombucha-Getränk spezialisierte Oberkasseler Firma Wesseling trafen mit ihren frei Haus gelieferten Angeboten die Kundenwünsche offenbar besser (Oberkasseler Zeitung 1929, Nr. 152 v. 14. Dezember, 3 (l.); ebd. 1930, Nr. 16 v. 6. Februar, 4).

Die Kombucha-Mode gebar eben nicht nur ein hohes Interesse, sondern lockte auch eine wachsende Zahl von Anbietern. Das 1907 gegründete Joghurtwerk des Münchner Bakteriologen Ernst Klebs war Marktführer im Versandhandel von Joghurt- und Kefirfermenten und Brütapparaten. Seit 1929 nutze er seine reichsweite Vertriebsstruktur auch zum Absatz von Teepilzen, setzte damit kleinere lokale Anbieter unter Druck.

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Versandhandel des Teepilzes (C.V.-Zeitung 1929, 212)

Am Ende dieses kurzen Überblicks steht mit dem Extraktionswerk Neschitz resp. Schöna/Krippen (heute Bad Schandau) ein besonderer Fall. Sein Inhaber Paul Propfe, bot seit 1928 Teepilze im Versandgeschäft an – zu Beginn in der Tschechoslowakei, im gleichen Jahr aber auch im Deutschen Reich.

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Kombucha von Propfe, Neschwitz (Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 104, 18 (l.); Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 99 v. 8. April, 5)

Die reichsweit geschalteten Anzeigen enthielten die gängigen Heilsversprechen, bewarben aber zunehmend auch nicht näher definierten Ansatztee. Pfropfe vertrieb die Pilze unter dem Namen „Yaponge“ (Westfälische Zeitung 1928, Nr. 288 v. 8. Dezember, 20; Altonaer Nachrichten 1929, Nr. 93 v. 22. April, 3), doch sein kommerzielles Interesse galt der anonymen Teeware. Er plädierte für Spezialansatztees, „welche für die einzelnen Leiden besonders zusammengesetzt sind“ (Hamburgischer Correspondent 1928, Nr. 183 v. 20. April, 10) und lehnte „gewöhnlichen“ schwarzen Tee „wegen seiner schädlichen Alkaloide“ als Nährflüssigkeit ab (Badische Presse 1929, Nr. 333 v. 21. Juli, 11).

28_Sueddeutsche Monatshefte_25_1927-28_H03_pV_Versandgeschaeft_Teepilz_Yaponge_Propfe_Neschwitz_Heilmittel_Krippen

Reichsweites Angebot per Versandgeschäft (Süddeutsche Monatshefte 25, 1927/28, H. 3, V (l.); Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 448 v. 22. September, 3)

Teepilze wurden rasch zur Nebenware, ab 1929 konnte man sie bei Kauf von Ansatztee vermeintlich gratis erhalten. Die Preise waren hoch, doch das Versprechen war, durch „für die einzelnen Krankheiten speziell zusammengesetzten Ansatztees […] einen auffallend gesteigerten Kurerfolg [… zu] bewirken“ (Echo der Gegenwart 1929, Nr. 75 v. 29. März, 13).

29_Muenchner Neueste Nachrichten_1929_08_11_Nr217_p09_Duesseldorfer Stadt-Anzeiger_1929_10_17_Nr288_p10_Versandgeschaeft_Teepilz_Tee_Propfe_Krippen

Ansatztee als attraktives Geschäftsfeld (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 217 v. 11. August, 9; Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 1929, Nr. 288 v. 17. Oktober, 10)

Die Geschichte des Extraktionswerkes endete 1930 vor dem Schöffengericht Dresden. Pfropfe hatte spätestens ab Ende 1929 die Teemischungen manipuliert, hatte sie unter falschem Namen in den Handel gebracht. Da die genaue Zusammensetzung den Käufern vielfach nicht bekannt war, entsponnen sich kontroverse Debatten über die Essenz lauteren Wettbewerbs. Pfropfe wurde schließlich zu einer recht moderaten Geldstrafe verurteilt, sein Unternehmen schied jedoch aus dem Markt aus (Unlauterer Wettbewerb mit Tee, Sächsische Staatszeitung 1930, Nr. 196 v. 23. August, 7).

30_Ingolstaedter Anzeiger_1929_07_30_Nr172_p6_Remscheider General-Anzeiger_1929_06_20_Nr143_p12_Kombucha_Teepilz_Fungojapon_Reformhaus

Reformhausangebote (Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 172 v. 30. Juli, 6 (l.); Remscheider General-Anzeiger 1929, Nr. 143 v. 20. Juni, 12)

Die nicht kleine Zahl von Markenangeboten belegt eine durch die Kombucha-Mode zwischen 1928 und 1930 in Gang gesetzte Marktdynamik. Festzuhalten ist jedoch, dass parallel die Bedeutung der Vertriebsstruktur Reformhaus, Drogerie und Apotheke weiterhin hoch war. Sie verkauften teils Markenartikel, vielfach aber auch anonyme Ware.

31_Murtaler Zeitung_1929_04_20_Nr16_p12_Bonner Zeitung_1930_02_16_Nr046_p3_Teepilz_Kombucha_Drogerie

Anonyme Ware aus der Drogerie (Murtaler Zeitung 1929, Nr. 16 v. 20. April, 12 (l.); Bonner Zeitung 1930, Nr. 46 v. 16. Februar, 3)

Sie waren zugleich – abseits der allgemein unterrichtenden Zeitungen – die eigentlichen Ratgeber für alle mit dem Wunderpilz verbundenen Fragen (Godesberger Volkszeitung 1930, Nr. 62 v. 15. März, 10). Dies wurde durch Hinweise und Gemeinschaftswerbung immer wieder unterstrichen (Ullsteins Blatt der Hausfrau 43, 1927/28, H. 2, 34-35, hier 34; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1930, Nr. 104 v. 5. Mai, 7). Trotz der rasch wachsenden Bedeutung der Markenartikel hatte der Handel mit Teepilz-Präparaten immer noch ein Gesicht, nämlich das der Fachleute vor Ort.

32_Hamburger Anzeiger_1929_02_13_Nr037_p12_Ebd_09_13_Nr214_p6_Essener Anzeiger_1929_09_17_Nr218_p14_Teepilz_Kombucha_Kleinanzeigen

Kleinanzeigen (Hamburger Anzeiger 1929, Nr. 37 v. 13. Februar, 12 (l.); ebd., Nr. 214 v. 13. September, 6; Essener Anzeiger 1929, Nr. 218 v. 17. September, 14 (r.))

Der Anteil reiner Geschenke bzw. von Nachbarschaftsangeboten ist unklar, dürfte aber die Marktangebote (mit abnehmender Tendenz) übertroffen haben. Kleinanzeigen offerierten Teepilze schon ab 50 Pfennigen (Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 489 v. 16. Oktober, 4). Neben Ablegern konnte dergestalt auch Kombuchatee günstig erworben werden (Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 410 v. 31. August, 4). Zugleich waren die Anpreisungen ungeschnörkelt: „Indischer Teepilz gegen Arterienverkalkung“ (Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 188 v. 21. April, 11). Geringe Kosten und Heilsversprechen waren abseits der Selbstaktivierung wichtige Gründe für den temporären Erfolg.

Das Ende der Kombucha-Mode

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Spott über das rasche Wachstum des Teepilzes und dessen Folgen (Fliegende Blätter 170, 1929, 173)

Die Kombucha-Moden in Böhmen, Österreich und dem Deutschen Reich dauerten jeweils zwei Jahre lang, kamen dann aber an ein rasches Ende: „Merkwürdig schnell war der Zauber aus. Versunken und vergessen ist der japanische Schwamm“ (Abschied vom japanischen Schwamm, Der Wiener Tag 1932, Nr. 3095 v. 1. Januar, 14). Die Gründe dafür waren vielfältig, sind zugleich nur zu umreißen, kaum sicher zu benennen.

Erstens wurde die häusliche Hege des Pilzes, die stete Beschäftigung mit dem Teepilz, die indirekte Konsumpflicht des frischen oder kurzfristig auf Flaschen gezogenen Kombucha-Tees irgendwann langweilig. Die soziale Dynamik dünnte aus, es verblieben Arbeit, Mühsal, der nicht immer appetitliche Umgang mit dem Pilz machte keine rechte Freude mehr.

Zweitens veränderte sich die Einschätzung der gesundheitlichen Wirkungen des Teepilzes – und zwar ohne neuartige Forschungsergebnisse. Setzte man zu Beginn der Moden eher auf die Chancen, vergegenwärtigen nun auch immer mehr Journalisten: „Besondere arzneiliche Wirkungen kommen dem Teepilz nicht zu“ (Ostdeutsche Morgenpost 1930, Nr. 160 v. 11. Juni, 7). Ebenso schwand die zuvor tendenziell positive wissenschaftliche Grundhaltung zum Kombucha, der – so in einem Standardwerk – „durch zahlreiche Publikationen zu unverdienter Berühmtheit gelangt“ sei (C[arl] Wehmer, Mykologie, technische, in: Fritz Ullmann (Hg.), Enzyklopädie der technischen Chemie, 2. völlig neubearb. Aufl., Bd. 7, Berlin und Wien 1931, 751-775, hier 761).

34_Frankenberger Tageblatt_1931_07_02_Nr151_p6_Kombucha_Teepilz_Zubereitung

Überbleibsel bei Unentwegten (Frankenberger Tageblatt 1931, Nr. 151 v. 2. Juli, 6)

Drittens nahm die Zahl der Rückfragen zu möglichen Gesundheitsgefährdungen beträchtlich zu. Inmitten der Mode wurden sie nonchalant weggedrückt: „Wer vor dem heilkräftigen Teepilz zittert, der mag ihn meiden – – – und leiden!“ (Teepilz, Neuigkeits-Welt-Blatt 56, 1929, Nr. 32 v. 7. Februar, 11). Nun aber wurde von Todesfällen durch unsachgemäßen Umgang mit Teepilzgetränken berichtet (Pilzteevergiftungen, Mittelbadischer Kurier 1930, Nr. 118 v. 21. Mai, 5; Durch Teepilz vergiftet, Salzburger Wacht 1932, Nr. 196 v. 26. August, 5). Waren anfangs die Heilserwartungen überbürdend, so waren es nun objektiv unbegründete Ängste.

35_Linzer Volksblatt_1930_03_23_Nr069_p12_Teepilz_Heilmittel

Pointierte Einschätzung des Teepilzes in einer Tageszeitung (Linzer Volksblatt 1930, Nr. 69 v. 23. März, 12)

Viertens schwankte die Qualität der Markenartikel bzw. Marktangebote beträchtlich. Nahrungsmittelchemiker monierten vielfältige Verschmutzungen bei der Aufzucht der Pilzkulturen auch in Apotheken und Drogerien. Ebenso ließ die Qualität der Ansatztees immer wieder zu wünschen übrig, wurde teurer russischer oder chinesischer Schwarztee doch durch mindere Qualitäten oder aber Kräutertee ersetzt. Hinzu kamen Verunreinigungen bei Tee-Extrakten und Kombucha-Getränken, so dass die Heil- und Erfrischungsgetränke immer mal wieder zersetzt waren (Maxim Bing, Zur „Kombuchafrage“, Die Umschau 33, 1929, 118-119, hier 188). Doch auch zu Hause gab es vielfältige Probleme: „Daß der Anblick eines solchen verwucherten Pilzes, der von den abgestorbenen Pilzteilen, der sogenannten Pilzleiche, eingehüllt wird, nicht gerade ästhetisch, ja sogar ekelerregend wirkt, sollten schon eine Warnung sein, solche Pilzableger zur Herstellung eines medizinalen Tees zu verwerten“ (Teepilz-Kombucha-Frage, 1929). Ableger verlören rasch ihre Wirkung, die Nährlösungen würden unterschiedlich vergoren, der Ertrag vielfach wertlos (Knauth, Der Teepilz, Deutscher Garten 1935, 29). Das entmutigte, wollte man nicht Reinkulturen kaufen.

Fünftens entfalteten auch die zunehmend verfügbaren Convenienceprodukte ihre Wirkung. Extrakte und Tablettenkonzentrate boten eine einfache Alternative. Angesichts der Fixkosten für Pilz, Zucker und Nährflüssigkeit erschienen die Preise nicht gar zu hoch. Die neuen Angebote gruben zumindest Teilen der Selbstbereiter das Wasser ab, enthäuslichte Teile der Kombuchabereitung. Die soziale Dynamik der Mode schwand, die Branche konnte wirtschaftlich nicht gegenhalten. Die ab 1930 rasch wegbrechende Anzeigenwerbung spiegelte die finanzielle Schwäche der kurzzeitigen Wachstumsbranche.

Das Ende der Kombucha-Moden führte nicht zum sofortigen Ende der Teepilzverwendung. Selbst während der Krise entstanden weitere neue Marken, wie etwa der kurzfristig erfolgreiche Japos-Teepilz. Doch die große Mehrzahl der Markenartikelanbieter reduzierte ihr Angebot, stellte den Betrieb dann ein.

36_Der Fuehrer_1931_01_11_Nr009_p08_Westfaelische Zeitung_1930_10_04_Nr242_p4_Kombucha_Teepilz_Japos_Drogerie

Spätes, doch neues Angebot in Apotheken, Drogerien und Reformhäusern (Der Führer 1931, Nr. 9 v. 11. Januar, 8 (l.); Westfälische Zeitung 1930, Nr. 242 v. 4. Oktober, 4)

An die Stelle der Spezialisten traten nun zeitweilig Apotheken, Drogerien, wohl auch Reformhäuser. Kombucha konnte als Handverkaufsmittel das Sortiment abrunden, die Kleinproduktion sorgte während der Krise für eine bessere Auslastung der kleinen Laboratorien (Teepilz, 1929, 175-176). Als Verkäufer und Hersteller standardisierter Pharmazeutika, Drogerieartikeln und Reformwaren standen sie für verlässliche Qualität, angesichts vielfach gebundener Preise schien bei ihnen die Gefahr übersteigerter Preise geringer zu sein. Hinzu kamen Qualitätssicherungsmaßnahmen, etwa die nun zunehmend übliche Gebrauchsanweisung für verpackte Pilze und Pilzpräparate (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1931, Nr. 45 v. 23. Februar, 9; Ohligser Anzeiger 1931, Nr. 144 v. 23. Juni, 4).

37_Das Kleine Volksblatt_1938_04_17_Nr106_p32_Westfaelische Zeitung_02_01_Nr027_p13_Teepilz_Kleinanzeigen

Ein kleiner Markt von Unbewegten, gespiegelt in Kleinanzeigen (Das Kleine Volksblatt 1938, Nr. 106 v. 17. April, 32 (l.); Westfälische Zeitung 1936, Nr. 27 v. 1. Februar, 13)

Auch eine zunehmend kleinere Gruppe von Selbstbereitern machte unverdrossen weiter. In den Kleinanzeigen der 1930er Jahre findet man immer wieder Angebote von Teepilzen, ebenso Kaufgesuche. Doch angesichts gescheiterter Heilserwartungen dominierte Ernüchterung (Hamburger Anzeiger 1937, Nr. 127 v. 4. Juni, 11). Und zugleich trat die Kombucha-Mode in die lange Reihe vergangener Moden, die die Zeit überlebt hatte (Welt am Sonnabend 1941, Nr. 26 v. 28. Juni, 1).

Insgesamt hatten im Laufe der Kombucha-Moden Fachleute ihren Stellenwert ausgebaut – als Wissenschaftler, Produzenten und Händler. Sie hatten das von den Laien mit Freude befeuerte Phänomen anfangs kaum bestimmen können, doch sie gewannen zunehmend Einfluss auf das Geschehen. Sie waren in der Lage, Ratschläge für eine hygienische und ertragreiche Selbstbereitung zu geben. Sie etablierten zahlreiche Reinkulturen und bequem zu nutzende Extrakte, Getränke, Konzentraten, auch Bonbons und Infusionen. Sie machten dadurch den Pilz berechenbarer, sicherer, nahmen ihm aber auch das Geheimnisvolle, das Aufregende, das Selbstbestimmte. Auch dadurch verlor das Phänomen an Charme und Lockreiz. Und es brauchte Vergessen und je eine ganze Generation, ehe Ende der 1950er Jahre und der 1990er neue, gleichwohl anders geprägte Kombucha-Moden einsetzten.

Epilog: Die gelangweilte Konsumgesellschaft

38_Burgenlaendische Freiheit_1997_07_02_Nr27_p070_Ebd_1998_05_06_Nr19_p63_Ebd_2000_02_02_Nr05_p31_Kombucha_Heilmittel_Ratgeber

Neue Wunder alten Typs (Burgenländische Freiheit 1997, Nr. 27 v. 2. Juli, 70 (l.); ebd. 1998, Nr. 19 v. 6. Mai, 63; ebd. 2000, Nr. 5 v. 2. Februar, 31)

Die Unterschiede lagen vornehmlich in einer anderen kommerziellen Grundlegung und Flankierung. An die Stelle der Selbstbereitung der Vielen war das Vorbild der Wenigen getreten, die ihr Wissen, ihre Kniffe in vielfältigen Ratgebern gut verkauften (Helmut Golz, Kombucha. Ein altes Teeheilmittel schenkt neue Gesundheit, 4. Aufl., Genf und München 1992; Günther W. Frank, Kombucha. Healthy beverage and natural remedy from the Far East, 5. Aufl., Steyr 1994). Deutlich anders war auch der regulative Rahmen, war Kombucha doch ein Lebens-, kein Heilmittel, mochten angesichts neuer Kombuchajoghurte, -tabletten und -kapseln auch Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung gewesen sein (Johanna Tüntsch, Essen 2000: Was geht, was bleibt, was kommt?, AID-Verbraucherdienst 45, 2000, 489-490). Deutlich anderes war auch die Stellung der Wissenschaft. Sie wurde Ende der 1990er Jahre zwar wieder auf dem falschen Fuß erwischt, musste auf die Forschungsergebnisse der 1920er und 1930er Jahre zurückgreifen. Doch eine therapeutische oder gesundheitsfördernde Wirkung wurde auch von rasch einsetzender Forschung „wissenschaftlich nicht nachgewiesen“. Kombucha sei ein „ein angenehmes, säuerlich-fruchtiges und erfrischendes Getränk“ – nicht mehr und nicht weniger (Georg Schön, Pilze. Lebewesen zwischen Pflanze und Tier, München 2005, 53). Das galt auch abseits der deutschen Grenzen: „In conclusion, none of the numerous health claims for Kombucha is supported by clinical evidence. The consumption of Kombucha tea has been associated with serious adverse events. Its therapeutic use can therefore not be recommended” (E[dzard] Ernst, Kombucha: A Systematic Review of the Clinical Evidence, Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde 10, 2003, 85-87, hier 87).

Dennoch sind die Heilserwartungen und Heilverheißungen fast unverändert geblieben, werden allerdings in andere Sprachbilder gepackt. Weiterhin wird vom Wunderpilz gesprochen, vom „Lebenselixier“, von „Licht und Lebenskraft“. Akademische Bildung schützt nicht davor, Kombucha als „orientalisches Getränk“ zu präsentieren, aus dem ostasiatischen Raum stammend, „wo der Teepilz seit Jahrhunderten als Naturheilmittel im Gebrauch ist“ (Ulrike Berges, Getränke mit heilender Kraft?, UGB-Forum 11, 1994, 155-158, hier 157). Kaum ein Ratgeber, kaum eine Webseite verzichtet auf haltlose „Anekdoten“ wie die über den vermeintlichen koreanischen Arzt Kombu, der im 5. Jahrhundert den Teepilz von Japan nach Korea gebracht haben soll (C. Dufresne und E. Farnworth, Tea, Kombucha, and health: a review, Food Research International 33, 2000, 409-421, hier 409). Naturwissenschaftler betätigen sich als Mythenerzähler, unbehelligt von nominell kompetenten Gutachtern.

Gewiss, die Bewertung der dritten Kombucha-Mode ist damit nur angerissen, nicht mehr. Doch dies reicht vielleicht aus, um Vorstellungen steten Lernens und fortschreitender Aufklärung in Frage zu stellen. Die Kombucha-Mode der 1920er Jahre war vergessen, musste vergessen werden. Denn nur so, ohne den Blick in den Spiegel der eigenen Geschichte, konnte der Wunderpilz neu imaginiert und kommerziell aufgeladen werden. Kombucha war schon in den 1920er Jahren Künstliche Kost, ein Phänomen, ein Getränk ohne Zeit, ohne Ort.

Heute wird es als natürliches, immer noch Heil bringendes Lebensmittel gefeiert. Es dient als Projektionsfläche und Container unserer Wünsche. Angesichts fehlender empirischer Kenntnisse über seine Herkunft und seine Nutzung ist es zugleich ein typisches Beispiel der Bereicherungsökonomie (Luc Boltanski und Arnaud Esquere, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018). So behaupten Vertreter des Kopenhagener Nobel-Restaurants Noma unverfroren, dass noch vor zehn Jahren „kaum jemand in Dänemark Kombucha“ trank (René Redzepi und David Zilber, Das Noma-Handbuch Fermentation, 3. Aufl., München 2020, 110). So als habe man dort nicht schon vor hundert Jahre ähnliche Erfahrungen gemacht wie in Mitteleuropa. So als habe die dritte Kombuchawelle Dänemark ausgespart. Doch nur so kann Kombucha für etwas Neues stehen. Dabei hilft natürlich wieder Freund Kombu, dort zum Physiker mutiert, gleichwohl nutzbar. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird ausgegrenzt, doch Ostasien und Ostrussland bilden wiederum den verkitschten Hintergrund des eigenen Tuns. Der meisten historisch-empirischen Kenntnisse abhold, widmet man sich dann der Fermentation von Kombucha im Noma, baut so kulturelles Kapital auf, um es in materielles Kapital umzumünzen.

Doch wer wollte die immer neuen, zumeist alten Moden verdammen? Auch in gelangweilten Konsumgesellschaften unserer Breiten ist Respekt angebracht vor der mit der steten Neuentdeckung der Kombucha einhergehenden Spielfreude und Probierwilligkeit. Nährflüssigkeiten wechseln, Tee wird geschätzt, doch auch Cola und Bier vergoren. Wie sonst sollte man den Dingen auf den Grund kommen? Neugier auf den Wunderpilz und seine Heilwirkungen ist eben ein konstitutives Element des Menschseins. Ebenso wie es „Räume der Gewalt“ (Baberowski, 2016) gibt, in denen nicht gezähmte Teile unser „Natur“ weiterhin freigesetzt werden, gibt es auch „Räume des Wunders“. Im Falle der Kombucha spiegelt das einen alltagspraktischen und kommerziell unterfütterten Glauben an die Allmacht der Natur, an die Weisheit alter Kulturen. Das ist zu kurz gegriffen, kann regressiv sein, zumal von Kulturwesen. Doch solcher Wunderglaube verweist zurück auf die engen Grenzen unseres rationalen Lebens, unserer gleisengen Vorstellungen von Fortschritt und Wohlleben. Der Wunderglaube wird nicht vergehen, sollte als Teil einer über den Menschen hinaus weisenden Sehnsucht verstanden werden. Was wäre das Leben schließlich ohne einen Wunderpilz?

Uwe Spiekermann, 12. August 2023

Fortschrittlicher Ersatzkaffee? Zur Geschichte von Quieta

Fast zweihundert Jahre war Ersatzkaffee das mit Abstand wichtigste Heißgetränk in deutschen Landen. Noch vor achtzig Jahren stand er für die Hälfte des hiesigen Getränkekonsums – während heutzutage die jährlichen Prokopfausgaben bei ganzen 42 Cent liegen und die laufenden Wirtschaftsrechnungen keine Mengenangaben mehr enthalten (Wirtschaftsrechnungen 2018, o.O. 2021 (Fachserie 15, H. 3), 18). Ersatzkaffee ist damit das Lebensmittel mit den größten Veränderungen in der Ernährungsgeschichte der Neuzeit.

Gewiss, so der gängige Einwand, das war doch ein Fortschritt, ist Ausdruck unseres Wohllebens. „Wir“ trinken heutzutage knapp fünf Kilogramm Kaffee pro Kopf: 2022 bezifferte der Deutsche Kaffeeverband den jährlichen Konsum auf ca. 167 Liter – „echten“ Kaffee wohlgemerkt. Ersatzkaffee entstand im 18. Jahrhundert eben als Surrogat eines teuren kolonialen Genussmittels, blieb ein billiges Substitut, konnte sich nur so behaupten und durchsetzen. Die Sprache unterstrich dies. Kaffee – Bohnenkaffee – blieb stets Referenzprodukt: Man kochte sich im 19. Jahrhundert auch dann einen Kaffee, wenn es sich um Zichorien- oder aber Malzkaffee handelte (Heinrich Trillich, Ueber Ersetzen, Ersatz, Ersatzmittel und Einschlägiges, Zeitschrift für öffentliche Chemie 24, 1918, 191-194, hier 192). Offen bleibt dabei jedoch die Frage, warum sich der Ersatzkaffee eben nicht hat behaupten können; anders als etwa die Kunstbutter Margarine, die wir trotz billiger und allseits verfügbarer Butter weiterhin als preiswertes, gar gesundes Streich- und Backfett nutzen, mögen die Rohstoffe dafür auch aus aller Welt beschafft werden müssen. Eine mögliche Antwort darauf findet man vielleicht in der Art, wie die neuen Kaffeeprodukte werblich präsentiert wurden. Margarine wurde seit der Jahrhundertwende ein neuartiges Produkt, mutierte vom animalischen zum pflanzlichen Fett. Sie galt nicht länger als Billigfett, sondern als modern und verlässlich, eine hygienische und standardisierte Industrieware für alle. Just das traf – zur gleichen Zeit – aber auch für Ersatzkaffee zu (Nicolai, Der Kaffee und seine Ersatzmittel. Hygienische Studie, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 33, 1901, 294-346, 502-538: Erwin Franke, Kaffee, Kaffeekonserven und Kaffeesurrogate, Wien und Leipzig 1907).

01_Dresdner Nachrichten_1906_03_25_Nr025_p18_Wiesbadener Tageblatt_1912_07_01_Nr301_p10_Ersatzkaffee_Malzkaffee_Kathreiner_Kornfranck

Marktführer im Wachstumsmarkt: Kathreiners Kneipp-Malzkaffee und Francks Kornfranck (Dresdner Nachrichten 1906, Nr. 82 v. 25. März, Frühausgabe, 18 (l.); Wiesbadener Tageblatt 1912, Nr. 301 v. 1. Juli, 10)

Seit den 1890er Jahren hatte sich der Markt deutlich verändert: Malzkaffee war ein ambitioniertes chemisch-technisches Produkt, mochte es auch als ländlich und natürlich beworben werden. Kathreiners Malzkaffee wurde nicht nur rasch Marktführer im neuen Segment, sondern war Endprodukt patentierter Verfahrenstechnik, war standardisiert, verpackt und wurde ästhetisch beworben. Ersatzkaffee war damals ein modernes Produkt – im Gegensatz zu dem vielfach noch lose ausgewogenem und anonym verkauften Bohnenkaffee. Zunehmend dominierten mittlere und große Markenartikelanbieter, neben Kathreiner etwa Ernst Seelig (Heilbronn) und vor allem der wichtigste Zichorienkaffeeproduzent Heinrich Franck Söhne (Ludwigsburg). Letzterer beschäftigte, auch aufgrund von Übernahmen, 1913 ca. 3.450 Personen, 1928 dann 4.130 (Hans Kalscheuer, Technologischer Fortschritt und die Entwicklung der Märkte am Beispiel der Franck Produkte, in: »Die Hauptstadt der Cichoria«. Ludwigsburg und die Kaffeemittel-Firma Franck, Ludwigsburg s.a., 63-73, hier 72). Ersatzkaffee stand für eine breite und zugleich wachsende Palette unterschiedlicher Geschmacknuancen: Das galt für Kaffeezusätze („Kaffeegewürze“) von Weber (Radebeul) oder Pfeiffer & Diller (Horchheim), auch für den vornehmlich in Österreich-Ungarn konsumierten Feigenkaffee von Imperial, Titze oder Andreas Hofer. Parallel gewannen Handelsmarken langsam an Bedeutung, etwa Malzkaffee der Massenfilialisten Kaisers Kaffeegeschäft (Viersen), Emil Tengelmann (Mülheim a.d. Ruhr), dann auch der GEG, der Hamburger Zentrale der sozialdemokratischen Konsumgenossenschaften.

Ersatzkaffee war ein urbanes, zunehmend in Mittel- und Großbetrieben produziertes Konsumgut. Hinter dem Dachbegriff verbargen sich zudem immer neue Mischungen. Das galt für Kornkaffees, die aus geröstetem Roggen, Weizen und Gerste bestanden. Ähnlich wie Margarine, die Container für eine wachsende Palette von Pflanzenfetten wurde, stand Ersatzkaffee um die Jahrhundertwende nicht mehr länger für Pures, Eindimensionales, für Zichorien- oder Malzkaffee: Tradierte Inhaltsstoffe wie Eicheln oder Erbsen verloren zwar an Bedeutung, exotische, etwa Sojabohnen oder Mandeln, kamen aber verstärkt auf. Neue Kenntnisse über Aromastoffe und Röstprozesse ermöglichten geschmackliche Verbesserungen und Nuancierungen. Für die wachsende Zahl der Anbieter stellte Ersatzkaffee eben kein Ersatzprodukt her, sondern eine Ware eigenen Rechts. Sie war zeitgemäß, gesünder und preiswerter als Bohnenkaffee. Sie war eine überlegene Offerte. Ersatzkaffee, so die Hoffnung, stand für eine Umgestaltung der täglichen Kost, international, doch auf vorrangig deutscher Rohstoffgrundlage. Auch der Rübenzucker hatte den Rohrzucker verdrängt.

02_Volksstimme_1904_08_24_Nr198_p06_General-Anzeiger fuer Dortmund und die Provinz Westfalen_1897_05_25_Nr143_p1_Filialbetriebe_Kaisers-Kaffeegeschaeft_Tengelmann_Kaffee_Ersatzkaffee_Malzkaffee_Handelsmarken

Heißgetränke als Handelsmarken (Volksstimme 1904, Nr. 198 v. 24. August, 6 (l.); General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1897, Nr. 143 v. 25. Mai, 1)

Dies schlug sich auch in der damaligen Sprache nieder: Bezeichnungen wie Kaffeesurrogate traten zurück, zugleich fächerte sich das Feld weiter aus. Einerseits traten „Ersatz“-Komposita hervor. Das war nicht allein defensiv angesichts des langsam wachsenden Konsums von Bohnenkaffee. Ersatz stand auch für eine neue Anspruchshaltung, für Kaffeeersatz als wirklichen, ja besseren Ersatz für Bohnenkaffee. Anderseits etablieren sich seither vermehrt umschreibende Bezeichnungen: Kaffeemittel war ein eher technisch-analytischer Begriff, während im Markt von Malzkaffee oder Kornkaffee gesprochen wurde. Andere, etwa „Gesundheitskaffee“, verloren an Bedeutung, so wie ehedem der „Bauernkaffee“. Diese untergründige Vielfalt ging einher mit verstärkter Regulierung bzw. einer genaueren begrifflichen Definition der einzelnen Angebote (Beschlüsse der bayrischen Chemiker über die Kaffeesorten und Kaffeesurrogate des Handels, Zeitschrift für Nahrungsmittel-Untersuchungen, Hygiene und Waarenkunde 9, 1895, 385-286). Der Sprachwandel unterstrich die wachsende Eigenständigkeit der Branche, ihre Abkehr von tradierten Formen der Billigsurrogatproduktion. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden schließlich jährlich rund 200 Liter Ersatzkaffee pro Kopf getrunken – und zwar aus sehr unterschiedlichen Rohstoffen. 1912 dominierten Gerste (100.000 t), Zichorien (60.000 t) und Roggen (23.000 t), doch auch Zuckerstoffe (3.000 t), Feigen (1.700 t) und Eicheln (1.500 t) waren Teil der Gesamtproduktion von 193.000 t (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 36).

03_Das Blatt der Hausfrau_18_1907-08_p1230_Kaffee-HAG_Koffeinfrei_Surrogat

Ein neues Produkt in einem dynamischen Markt: Kaffee HAG (Das Blatt der Hausfrau 18, 1907/08, 1230)

Hinzu kamen neue Produkte, mit denen die tradierten Vorstellungen vom Kaffee aufgebrochen wurden. Das galt etwa für Kaffee HAG, einem seit 1906 produzierten koffeinarmen Gesundheitsprodukt, das sich in den Folgejahrzehnten weltweit durchsetzen sollte. Das galt scheinbar auch für die neuen von der Lebensreform getragenen Nährsalzpräparate. Quieta war anfangs deren wichtigster Exponent – und auch hier dürfte die Hoffnung bestanden haben, einen Markenartikel mit nationaler Strahlkraft zu etablieren.

Die Vermarktung der Lebensreform: Quieta als Functional Food

Als im Februar 1913 die ersten Anzeigen „Quieta“ bewarben, bewarben sie eben nicht einen weiteren ordinären Kaffeeersatz. Im Mittelpunkt standen vielmehr ein neuartiger Nährsalzkaffee, ferner ein aus Kakao, Bananen und Nährsalzen bestehender Krafttrunk, zudem ein Malzpräparat. Letzteres wurde über Reformhäuser, Apotheken und Drogerien vertrieben, erstere auch über den gängigen Kolonialwarenhandel. Quieta war ein Nahrungsmittel, doch vermarktet wurde es anfangs als Gesundheitsprodukt, als Functional Food.

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Quieta, ein Jungbrunnen für Körper und Geist (Badische Presse 1913, Nr. 87 v. 21. Februar, 6)

Der Begriff „Nährsalz“ war vor dem Ersten Weltkrieg ein teils gekaperter Begriff, Kennzeichen für eine stärker pflanzliche und gesunde Reformkost. Eingeführt hatten ihn in den 1860er Jahren führende Vertreter der organischen Chemie, die ihr neues Stoffwechselmodell des Lebens eben nicht auf die Nährstoffgruppen Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate begrenzten. Nährsalze waren für sie die anfangs auch Asche genannten Mineralstoffe. Sie galten als anorganische Bau- und Hilfsstoffe der Körpermaschine (etwa Justus v. Liebig, Ueber den Ernährungswerth der Speisen, in: Ders., Reden und Abhandlungen, Leipzig und Heidelberg 1874, 115-147; [Carl v.] Voit, Ueber die Unterschiede der animalischen und vegetabilischen Nahrung, die Bedeutung der Nährsalze und der Genussmittel, München 1869, insb. 498-499). Populär wurde der Begriff „Nährsalze“ jedoch durch die Übernahme und Verdichtung in frühe Reformwaren: Heinrich Lahmann (1860-1905), Julius Hensel (1833-1903) und Friedrich Eduard Bilz (1842-1922) sprachen von der Entlaugung der Böden durch die moderne Agrikultur und der Entwertung der Lebensmittel durch industrielle Verarbeitung. Makroelemente wie Eisen, Kalk und Phosphor seien entscheidende Bausteine eines gesunden Lebens. Der Mensch erhielt sie durch neuartige Produkte, so konnte eine neue natürliche Balance geschaffen werden. Zahlreiche fortifizierte „Präparate“ fanden eine zahlungskräftige bürgerliche Kundschaft, etwa bei Säuglingsnahrung, Kakao und Kräftigungsmitteln. Kaffee, pardon, Kaffeeersatz folgte als Nährsalzkaffee kurz nach der Jahrhundertwende. Anfangs meist dezentral in Apotheken, Drogerien oder Reformhäusern angefertigt, nahm die Zahl standardisierter Markenangebote langsam zu. Zeitgenossen kannten Dr. Pragers, Schmidts oder aber Felkes Nährsalzkaffee. Parallel aber sprach die öffentliche Gesundheitsaufklärung weiterhin von „Nährsalzen“, verstand darunter aber wie zuvor die auch „Mineralsalze“ genannten Mineralstoffe (C[arl] Virchow, Die Bedeutung der Nährsalze, Die Gesundheit in Wort und Bild 5, 1908, 246-249). Ihre Vertreter wetterten zugleich gegen den überbürdenden Wunderglauben und die missbräuchliche kommerzielle Anwendung der wohl lebensnotwendigen, damals aber erst ansatzweise analysierten Stoffgruppe. 1918 wurde der Begriff „Nährsalze“ schließlich offiziell als irreführend eingestuft und verschwand anschließend aus dem Massenmarkt (Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 16, 1918, 40).

05_Velberter Anzeiger_1904_08_19_Nr194_p4_Rhein- und Ruhrzeitung_1905_09_30_Nr230, 4_Reformwaren_Naehrsalzkaffee_Ersatzkaffee_Dr-Prager_Aug-Schmidt_Naehrsalze

Werbung für frühe Nährsalzkaffees (Velberter Anzeiger 1904, Nr. 194 v. 19. August, 4 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1905, Nr. 230 v. 30. September, 4)

„Quieta“ war eine Dachmarke, der so bezeichnete Ersatzkaffee Bestandteil eines Angebotes, dessen Konsum für alle Familienmitglieder heilsame Wirkungen besitzen sollte. Dieser Ansatz war weder neu, noch originell, eine typische Drogistenphantasie der Vorkriegszeit. Dutzende von Kräftigungsmitteln wurden zeitgleich mit ähnlichen Botschaften beworben. Für einen Eindruck reicht der gängige Klang der kleinen redaktionellen Textbeiträge der Quieta: Darin fand sich zum einen die für die Vorkriegszeit übliche Zivilisationskritik (sie sollte angesichts des sinnlosen Verreckens an den Fronten in den Folgejahren bald weniger fanfarenhaft tönen): Laster, vor allem aber „eine verkehrte Lebensweise vieler, ja der meisten Menschen“ seien lebensverkürzend. Zu wenig Schlaf, überbürdender Genussmittel- und vor allem Kaffeekonsum führten nicht nur bei Kindern zur „Entartung des Herzens“. Quieta-Kaffee-Ersatz könne dem einen Riegel vorschieben, bewirkten die darin enthaltenen Nährsalze doch „wahre Wunder“. Zudem schmecke er selbst dem Feinschmecker, sowohl pur als auch als schadenwendender Zusatz zum Bohnenkaffee (Zitate n. Was verkürzt unser Leben?, Der Volksfreund 1913, Nr. 217 v. 17. September, 2). Doch Quieta-Präparate sollten nicht nur die Gesundheit stärken, sondern zugleich den Menschen verjüngen und verschönern. Nährsalze würden die „Bildung von frischem gesundem Blut“ fördern: „Schwächliche Kinder blühen auf, Blutarme werden rotwangig, Magere erzielen gefällige Formen, Nervöse und Neurastheniker gesunden in kürzester Zeit.“ Quieta-Malz bewirke gar mehr: „Es gibt blühendes, gesundes Aussehen, kräftig intensiv und macht leistungsfähiger“ (Zitate n. „Sie sehen glänzend aus!“, Der Volksfreund 1913, Nr. 197 v. 25. August, 7). Quieta stand mit derartigen Wirkversprechen in einer langen Reihe zeitgenössischer Geheimmittel, Lifestylepräparate und Performance Food, etwa von Biomalz, Kola Dallmann oder auch Vollkornbrot. Gesunder Menschenverstand und suggestives Großsprechertum waren innig verbunden, markierten den Fortschrittsglauben dieser Zeit.

Redaktionelle Texte dieser Art waren lediglich Ergänzungen einer dominierenden Anzeigenwerbung mit eingängigen und einladenden Bildern. Das entsprach dem allgemeinen Wandel der Drucktechnik seit den späten 19. Jahrhundert. Die Werbung für die Quieta-Präparate war zugleich ansprechend und konventionell. Vor dem Ersten Weltkrieg lassen sich vier unterschiedliche Kampagnen unterscheiden, die eine stets ähnliche Werbebotschaft in veränderten Formen an die zu gewinnenden und zu verstetigenden Käufer brachten. Dies entsprach nicht nur dem seit Mitte der 1900er Jahre zunehmend unverzichtbaren Zwang zum Motivwandel. Dies verdeutlichte auch, dass sich die Quieta-Werke noch auf der Suche nach einer einheitlichen Formsprache befanden. Es gab weder einen durchweg beauftragten Werbegraphiker (wie etwa Henry van der Velde 1897/98 beim Eiweißpräparat Tropon) oder eine unternehmensinterne Werbeabteilung (wie etwa beim Mundwasser Odol seit der Jahrhundertwende). Die unterschiedlichen Motive spiegelten demnach ein Unternehmen und ein Dachmarke auf der Suche nach Kontur.

06_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1913_04_08_Nr8247_p3_Fliegende Blaetter_140_1914_Nr3577_Beibl5_p7_Ersatzkaffee_Malzextrakt_Naehrsalze_Quieta_Krafttrunk_Functional-Food_Bad-Duerkheim

Bilder mit Botschaft und Bezugsquellen (Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1913, Nr. 8247 v. 8. April, 3 (l.); Fliegende Blätter 140, 1914, Nr. 3577, Beibl. 5, 7)

Erstens finden sich von Beginn an einfache, regelmäßig wiederholte Bildanzeigen. Sie enthielten bereits Slogans, allerdings recht austauschbare. Beschworen wurde der Zusatznutzen der Quieta-Nährpräparate: Gesundheit und Schönheit als Folge des Kaufs relativ hochpreisiger Artikel. Adressanten waren bürgerliche Kunden. Der Schwerpunkt lag auf Zeitungsannoncen, wenngleich auch in reichsweit gelesenen Illustrierten und Karikaturzeitschriften inseriert wurde. Regional konzentrierten sich die Anzeigen auf den badischen, hessischen und rheinisch-westfälischen Raum.

07_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1913_11_28_Nr8476_p05_Naehrmittel_Quieta_Kraeftigungsmittel_Malzextrakt_Krafttrunk_Kinder

Elterliche Sorge und positive Eugenik (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1913, Nr. 8476 v. 28. November, 5)

Die Einzelbildanzeigen zielten unmittelbar auf Leser und potenzielle Käufer. Seit Oktober 1913 wurden sie durch Doppelbilder ergänzt, temporär auch ersetzt. Einfache Gegensatzpaare dominierten, etwa Vorher und Nachher, Jung und Alt, Mann und Frau (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1913, Nr. 8466 v. 20. November, 8; ebd., Nr. 8436 v. 17. Oktober, 12; Volksmund 1913, Nr. 84 v. 22. Oktober, 4). Damit wurden im Leben stehende und Sorge für ihre Familie tragende Konsumenten angesprochen, wurde an die individuelle Verantwortung für sich selbst und seine Lieben erinnert. Fürsorgehandeln mutierte zu Kaufhandlungen. Charakteristisch waren ferner die selten fehlenden Hinweise auf die Verkaufsstätten. Drogerien dominierten eindeutig, doch Kolonialwarenhandlungen gewannen rasch an Bedeutung. Der die Quieta leitende Alfred Kasper knüpfte also an die ihm von seinem Drogeriegeschäft bekannten Vertriebsstrukturen über den Großhandel an, erschloss aber zunehmend neue Absatzkanäle für Krafttrunk und Kaffee-Ersatz.

08_Badische Presse_1913_12_05_Nr568_p14_Ersatzkaffee_Krafttrunk_Malzextrakt_Quieta_Nervositaet_Vertriebsnetz

Experten raten, Käufer sollen folgen (Badische Presse 1913, Nr. 568 v. 5. Dezember, 14)

Gegen Jahresende 1913 folgten neue Motive: Das Querformat wurde beibehalten, die Bildelemente zurückgefahren, zugleich die Ware altbekannt beworben. An die Stelle der Alltagswelt des Konsumenten trat die Autorität des ärztlichen Experten. Sie fächerten die Gesundheitsversprechen auf, die zugleich aber allgemein genug gehalten waren, um breite Kreise zu adressieren: Nervosität, Schlafprobleme, Verdauungsbeschwerden und Blutarmut wurden angesprochen, Quieta-Präparate als Hilfe und Lösung anempfohlen. Am Ende dieser Kampagne stand schließlich eine Frontalansicht des zuvor nur seitlich gezeigten Experten, verbunden mit der Einsicht: „Sie haben keine Wahl“ (Honnefer Volkszeitung 1914, Nr. 16 v. 21. Januar, 4). Die Sorge für sich selbst und seine Lieben wandelte sich in die Verpflichtung zum Kauf der Produkte.

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Wunderglaube Seit an Seit mit ärztlichen Empfehlungen (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1913, Nr. 8489 v. 12. Dezember)

Die Ansätze einer klaren Kampagnenführung zerfransten jedoch angesichts einer wachsenden Motivfülle. Schon die Doppelbilder umgriffen nicht nur Alltagssituation und Familienmitglieder, sondern boten heterogen gezeichnete Ehepaare, hochherrschaftliche Diener, aber auch Zauberer (Mittelbadischer Courier 1913, Nr. 244 v. 21. Oktober, 4; Badische Neueste Nachrichten 1913, Nr. 315 v. 11. Juli, 13). Sie verwiesen aufeinander und auf die Produkte, enthielten zugleich appellativ gedoppelte Aussagen wie „Sie schlafen ruhig“, „Mütter können stillen“, „Das Herz bleibt gesund“ oder „Schwächlinge blühen auf“. Dieses Wechselspiel entsprach dem werblichen Modezwang kaleidoskopartiger Motivwechsel. Entsprechend wurde der Experte teils durch andere Personen ersetzt, oben durch einen Zauberer, doch ebenso durch einen Diener, eine bürgerliche Frau, die Dame am Jungbrunnen, auch einen antikisierenden Meisterschaftsgeher (Mittelbadischer Courier 1913, Nr. 226 v. 30. September, 4; Badische Presse 1913, Nr. 283 v. 21. Juli, 6; Aachener Anzeiger 1913, Nr. 255 v. 30. Oktober, 1; Volksmund 1913, Nr. 98 v. 10. Dezember, 4).

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Familienidyll in den ersten eingetragenen Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1914, Nr. 96 v. 24. April, 17 (l.); ebd., Nr. 241 v. 13. Oktober, 13)

Eine stärkere Markenführung baute dem 1914 vor – und für den katholischen Familienmenschen Kasper spielte die imaginierte Durchschnittsfamilie dabei eine zentrale Rolle. Erste Warenzeichen wurden mit diesem Motiv verbunden, als Rahmen zudem das verbindende Q rechtlich gesichert. Die Familienmitglieder waren Rollenträger, bündelten zugleich Altersbeschwerden, Schönheitsfragen und Erziehungsaufgaben.

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Fokus auf nurmehr ein Produkt (Badische Presse 1914, Nr. 201 v. 1. Mai, 7)

Dies erlaubte unterschiedliche Perspektiven trotz einheitlicher Motivwahl. Zugleich emanzipierte sich die Quieta-Werbung von ihrem Fokus auf die gesamte Präparatepalette. Nunmehr stand jeweils ein Produkt im Mittelpunkt, nicht mehr mehrere. Obige Anzeige zeigt den damit verbundenen Wandel im Angebot: Nährsalze traten zurück, neue Gemische mit Bohnenkaffee traten in den Vordergrund: Quieta Gelbsiegel enthielt 25% Bohnenkaffee, Rotsiegel 10%, Grünsiegel dagegen keinen. Anfang 1913 hatte Quieta mit einer fortifizierten Nährsalzmischung von Gerste, Roggen und Feigen begonnen, nun wurde auch der zuvor so eifrig bekämpfte Bohnenkaffee hinzugefügt. Das verbesserte den Geschmack, führte zugleich zu einer preislichen Abstufung des Angebotes. Dies sollte sich als ein Erfolgsrezept herausstellen – und besiegelte zugleich den Bruch mit der einseitigen Fokussierung auf ein Nischenprodukt wie Nährsalzkaffee.

Die Werbepalette der Quieta umfasste vor dem Ersten Weltkrieg mehr als die hier vorgestellten vier Kampagnen. Das galt nicht allein für weitere Motive, etwa handschriftlich gehaltene Anzeigen (Mittelbadischer Courier 1914, Nr. 144 v. 25. Juni, 4; Badische Presse 1914, Nr. 318 v. 13. Juli, 8). Dies galt insbesondere für den Direktabsatz vor Ort. Wie schon zuvor Suppenpräparate, Konservierungsgeräte oder Kochkisten wurden auch Quieta-Präparate vor Ort präsentiert – mit einem „wissenschaftlichen“ Vortrag – und dann gemeinsam verkostet. Derartige Verkaufsveranstaltungen nutzte die Firma zugleich, um anschließend darüber sachlich-preisend zu berichten (Badische Presse 1914, Nr. 243 v. 27. Mai, 19; Der Volksfreund 1914, Nr. 126 v. 3. Juni, 4). Die Trennung von redaktionellem und Werbeteil wurde so perforiert, denn, oh Wunder, „die Besucher zeigten großes Interesse und waren besonders von dem vorzüglichen Geschmack des Quieta-Kaffees überrascht“ (Der Volksfreund 1914, Nr. 123 v. 19. Mai, 6). Weitere Anzeigen waren der Dank für diese PR-Artikel.

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Proben und Produktpropaganda 1914 (Mittelbadischer Courier 1914, Nr. 20 v. 30. Mai, 4)

Daneben traten die damals üblichen Werbemittel, nämlich kleine Broschüren, farbig gehaltene Werbeflugblätter, Sammelmarken, Aufsteller und Plakate für die Läden. Sie sind vereinzelt erhalten, waren zugleich markante und flüchtige Begleiter des damaligen Alltagskonsums.

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Slogan und Bild zur Kundenansprache in einem Flugblatt (Mittelbadischer Courier 1914, Nr. 80 v. 6. April, Beilage)

Nicht vergessen werden sollte schließlich, dass neben dieser Konsumentenwerbung von Beginn an auch Institutionen umworben wurden, etwa Krankenhäuser und Gefängnisse, Kasernen und Pensionen. Sie erforderten eine gesonderte, häufig sachlicher gehaltene Sprache. Die aufgrund von Rabatten niedrigeren Preise wurden durch große Bestellmengen mehr als wettgemacht.

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Seriöse Werbeansprache der Herren Ärzte (Münchener Medizinische Wochenschrift 60, 1913, Nr. 47, Anzeigen, 25)

Ein letzter Punkt: Die beträchtliche Arbeit für die Präsentation und die Vermarktung eines Produktes wird häufig unterschätzt, geht unter im Rauschen der Röstapparate, im Rascheln in der Packabteilung. Die Quieta etablierte von Beginn an eigenständige Werbung mit eigenständigen Werbefiguren. Doch die grundlegenden Ideen hatten andere Anbieter zuvor bereits entwickelt und präsentiert. Quieta griff sie auf und variierte sie. Die Firma übernahm von anderen Anbietern, die Anlehnung an Kaffee HAG war nur eines von vielen Beispielen.

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Kaffeeinnovationen und ihre Verpackungen (Über Land und Meer 103, 1910, 635 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 76 v. 30. März, 24)

Halten wir also fest, dass die Quieta-Präparate anfangs als Functional Food beworben wurden. Diese Ausrichtung hatte ihre Tücken, da die Werbeaussagen für „Geheimmittel“ einer steten öffentlichen Kritik unterworfen waren. Ihr Reiz lag allerdings in hohen Gewinnspannen, mit denen man in wenigen Jahren sein Säckel füllen könne. Zwei Elemente unterschieden die Quieta-Werke jedoch von derartiger Konkurrenz: Zum einen versuchte Alfred Kasper aus einem billigen Ersatzprodukt ein modernes Lifestyleprodukt zu machen. Nicht mehr länger die Nische, sondern der Massenmarkt war sein Ziel. Dieses Ziel scheiterte bereits im ersten Jahr, der Übergang vom Nährsalzkaffee zur Mischung von Ersatz- und Bohnenkaffee unterstrich dies. Die Quieta-Werke meisterten zweitens diese Phase, anders als viele ähnliche Unternehmen dieser Zeit. Die gescheiterten fortschrittlichen Reformpräparate setzten die Suche nach neuen fortschrittlichen Angeboten frei. Kasper war dazu in der Lage, denn bereits vor, vor allem aber nach dem Weltkrieg präsentierte er Quieta als eine wirkliche Alternative in einem den Gegensatz von Bohnen- und Ersatzkaffee pflegenden Markt. Doch bevor wir dies genauer untersuchen, sind einige Informationen zum Unternehmen und dem bereits erwähnten Unternehmer erforderlich.

Ein Drogist auf dem Weg nach oben: Alfred Kasper und Grundkonturen der frühen Firmengeschichte

Die Geschichte der Quieta-Werke war bisher keine Thema wissenschaftlicher Analyse; doch sie bildete bereits den Resonanzboden für einen Roman (Karin Tempel, Mandeljahre, München 2015): Geschichte wurden darin als Steinbruch genutzt, als Hintergrund für eine imaginierte Liebesgeschichte (Kultur Bad Dürkheim Digital 2020 | Mandeljahre – YouTube). Das mag (abseits zahlreicher sachlicher Fehler, Verkürzungen und der Fehlzeichnung einzelner Akteure) legitim sein, widerspricht jedoch dem Grundimpetus wissenschaftlicher Arbeit. Deren Lektüre mag weniger unterhaltsam sein. Doch sie hat den Charme empirisch nachvollziehbarer „Wahrheit“. Sie ist zugleich Ausdruck einer wissenschaftlichen Entdeckerfreude, die dem Roman fern liegt, da in diesem Genre Sperriges und Widerständiges stets „phantasievoll“ beiseite gewischt werden kann und wird. Romane haben ihren eigenen Wert, doch sie sind häufig nicht mehr als Ersatzmittel für den klaren, ungeschminkten Blick auf die (historische) „Realität“.

Die Geschichte der Quieta war immer auch die Geschichte des 1880 im sächsischen Hainichen geborenen [Karl] Alfred Kasper (NARA Washington, DC, Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at and Departing from Ogdenburg, New York, Microfilm Serial T715). Sein Vater Max Kasper hatte die 1895 vom Chemiker Ernst Stutzmann (1864-1927) in Dürkheim gegründete „Medizinal-Drogerie zum rothen Kreuz“ übernommen (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 51 v. 28. Februar, 14). Dürkheim, ab 1904 Bad, war eine westlich von Mannheim gelegene Mittelstadt in der Pfalz, Teil des Königreichs Bayern. Stutzmann war dagegen in Hessen, Baden und Bayern aktiv. Gut vernetzt, führte er, nicht immer erfolgreich, das Farbwerk Birkenau, die Vereinigten Farbenfabriken Weinheim, eine 1906 in Konkurs gegangene Mannheimer Handelsfirma, nach der Konsolidierung dort auch eine Seifenfabrik. Seine dann von Max Kasper übernommene Drogerie war mit einem chemischen Laboratorium verbunden (Bayerische Handelszeitung 25, 1895, 397). Nach dessen Tod ging sie im Februar 1907 an seine Frau Klara Elisabeth Kasper über (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 46 v. 19. Februar, 16). Schon im Juni trat ihr Sohn Alfred an ihre Stelle (Ebd., Nr. 143 v. 21. Juni, 12). Er hatte seine Ausbildung in Wien abgeschlossen, wo er 1902 Mitglied der dortigen Drogistenvereinigung wurde (Drogisten-Zeitung 17: 1902, 51; ebd. 22, 1907, 207).

Dem jungen Drogisten wurde Anfang 1908 das Warenzeichen „Quieta“ zugestanden, das er wahrscheinlich nutzte, um Eigenprodukte vor Ort zu entwickeln und zu verkaufen (Apotheker-Zeitung 23, 1908, 247). Der vom lateinischen „quies“ abgeleitete Begriff stand für „Ruhe“ resp. „Erholung“. Zeitgenössisch war er ein viel verwandter Bestandteil des von Otto von Bismarck (1815-1898) in seiner Friedrichsruher Ansprache vom 14. April 1891 ins politische Gedächtnis gerufene Sallust-Zitats „quieta non movere“. Etwas, was ruhig liegt nicht zu stören, es erst dann anzugehen, wenn es notwendig war – das erschien dem kurz zuvor entlassenen Reichskanzler als Grundprinzip konservativer Gesinnung. Zugleich aber war der Begriff modisch, stand in der langen, langen Reihe von Kunstworten lateinisch-griechischen Ursprungs, mit denen damals zahllose medizinische und pharmazeutische Präparate benannt wurden. Diese Spannung von Tradition und Innovation dürfte Teil der Lebensphilosophie des Katholiken Alfred Kasper gewesen sein, der den Kommerzienrat-Titel erstrebte und erhielt, dem 1922 aber auch das goldene Ehrenkreuz pro Ecclesia et Pontifice von Papst Pius XI. verliehen wurde (Sächsische Volkszeitung 1922, Nr. 251 v. 14. Dezember, 3).

Die von Kasper geleitete, in der Kurgartenstraße 1 gelegene „Medizinal-Drogerie Dr. E. Stutzmann“ ging 1922, also vor Kaspers Umzug nach Leipzig, schließlich auf seinen Schwager Kurt Opitz über (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 154 v. 22. Juli, 23). Die operative Leitung hatte schon in der Dekade zuvor in dessen und Curt Otto Fischers Händen gelegen. 1912 schied Kaspers Mutter aus der Drogerie aus, Alfred Kasper übernahm sie als alleiniger Gesellschafter (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 143 v. 21. Juni, 12). Anfang November 1912 gründete er schließlich in der Friedelsheimer Straße die „Quietawerke Alfred Kasper“ in Bad Dürkheim zwecks „Herstellung von diätetischen Nährmitteln und pharmazeutischen Präparaten“ (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 271 v. 13. November, 13). Auch wenn in der Werbung später mehrfach auf den Eintritts Kaspers in die elterliche Drogerie im Jahre 1907 verwiesen wurde (Riesaer Tagblatt 1932, Nr. 135 v. 11. Juni,, 2), um der Firma dadurch eine weiter zurückreichende Tradition zuzuweisen, so galt innerhalb der Firma doch 1912 als der eigentliche Beginn der Nähr- und Kaffeemittelproduktion (Volksfreund 1922, Nr. 275 v. 24. November, 5; Badische Neueste Nachrichten 1949, Nr. 239 v. 3. Dezember, 11).

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Mitglieder der Familie Opitz bei der Arbeit in den Quieta-Werken Bad Dürkheim 1919. Rechts Kurt Opitz, davor seine Schwester Käthe Kasper, Gattin von Alfred Kasper (Stadtmuseum Bad Dürkheim, Foto-Sammlung Adolf Krapp, Ordner 8; Museumsgesellschaft Bad Dürkheim e.V. [CC BY-NC-SA])

Die Quieta war ein Familienunternehmen: 1914 erhielt Kaspers Gattin Käthe, geb. Opitz, Prokura sowohl für die Drogerie als auch die Quieta (Deutscher Reichsanzeiger 1914, Nr. 197 v. 22. August, 10). Dennoch unterminierten die Folgen des Ersten Weltkrieges die wirtschaftlichen Grundlagen der Bad Dürkheimer Firma. Die Pfalz wurde 1919 von französischen Truppen besetzt, der Versailler Vertrag sah eine Räumung erst im Jahre 1935 vor. Dies bedeutete Zollprobleme und Rechtsunsicherheit, zudem die Gefahr möglicher Zwangsverwaltung, galten die dortigen Unternehmen doch als produktive Pfänder zur Sicherstellung der dem Deutschen Reich auferlegten Reparationszahlungen. Noch 1924 musste die Produktion in Bad Dürkheim aufgrund fehlender Ausfuhrgenehmigungen zeitweilig eingeschränkt werden (Sächsische Volkszeitung 1924, Nr. 173 v. 27. Juli, 4). Parallel unterstützte die französische Besatzungsmacht separatistische Kräfte. Alfred Kasper, dessen Werk der größte industrielle Arbeitgeber in Bad Dürkheim war, wurde denunziert und sah sich zu öffentlichen Erklärungen genötigt.

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Loyalitätserklärung für das Deutsche Reich 1919 (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 234 v. 17. Juni, 7 (l.); Kölnische Zeitung 1919, Nr. 486 v. 13. Juni, 2)

Die betrieblichen Konsequenzen waren einschneidend. Kasper errichtete 1919 eine zweite Produktionsstätte im bayerischen Augsburg, in der Holzbachstraße 2 am dortigen Fabrikkanal. 1921 begann dann die Verlagerung des Firmensitzes nach Leipzig, wo die dritte Fabrikationsstätte 1922 in der Wittenberger Straße 5 ihren Betrieb aufnahm (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 132 v. 9. Juni, 15; ebd. Nr. 159 v. 21. Juli, 21). Auch in Altona wurde von 1923 bis 1925 eine Zweigniederlassung für den Vertrieb betrieben (Hamburger Correspondent 1923, Nr. 74 v. 14. Februar, 7; Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 14 v. 17. Januar). Eine weitere Dependance gab es zwischen 1925 und 1934 in Berlin-Charlottenburg (Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 31 v. 26. Februar, 12; ebd. 1934, Nr. 267 v. 14. November, 5). Bad Dürkheim stand nicht mehr im Mittelpunkt der Quieta-Aktivitäten, Alfred Kasper zog nach Leipzig, in die Karl-Tauchnitz-Straße 15 (Leipziger Adreß-Buch 101, 1922, 434).

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Die Belegschaft der Quieta in Bad Dürkheim 1920: Alfred Kasper in der Mitte der ersten Reihe, daneben seine Gattin Käthe, vor beiden die Söhne Fred und Helmut (Stadtmuseum Bad Dürkheim, Foto-Sammlung Adolf Krapp, Ordner 8; Museumsgesellschaft Bad Dürkheim e.V. [CC BY-NC-SA])

Weltkrieg als Wegmarke: Billiger und guter Ersatzkaffee als Ziel

Die Verlagerung des Firmensitzes war mehr als eine Folge der französischen Besatzungsherrschaft. Sie war zugleich eine Neuerfindung der Quieta-Werke, die eben nicht an die anfänglichen Ideen eines Nährsalzkaffees anknüpften, sondern sich in einen Massenproduzenten neuartigen, fortschrittlichen Ersatzkaffees wandelten. Eine Million Hausfrauen nutzten nach eigenen Angaben 1923 täglich ihre Produkte (Vorwärts 1923, Nr. 126 v. 16. März, 8). Quieta stand zwischen Bohnen- und Ersatzkaffee: „Quieta ist eigentlich nicht als Kaffeeersatz zu bezeichnen, sondern es ist gemahlener Bohnenkaffee, der mit Malzkaffeepulver verdünnt ist. Die einzelnen Sorten enthalten 10, 20 und 50 v.H. Bohnenkaffee und können auch zur Streckung von Bohnenkaffee im Haushalte empfohlen werden“ (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 62, 1921, 660). Wie schon 1914/15 besetzte Quieta eine nun allerdings breite Nische innerhalb der weiten Palette von Bohnenkaffee und Kaffeemitteln. Festzuhalten ist, dass sich die Zusammensetzung von Quieta während des Krieges, der Nachkriegszeit und wahrscheinlich auch während der Inflation wiederholt änderte. Chemiker bezeichneten Quieta Grün zu dieser Zeit als eine Mischung aus Gerste und Zichorie, ein „braunes, ungleichmäßiges Pulver“, „nach Zichorie“ riechend, geschmacklich von Zichorien dominiert, mit Nuancen von Getreide (Wilhelm Meyer, Aguma-Gerstenkaffee und andere Kaffee-Ersatzstoffe (Ein Vergleich), Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 64, 1923, 477-480, hier 479). Dem damit zubereiteten Getränk billigten sie ein „angenehmes Aroma und guten Geschmack“ zu. Auch mit süßlich anmutenden Feigenzusätzen wurde experimentiert.

Die Frage ist, warum und wie dieser Wandel erfolgte: Offenkundig geriet der Absatz der anfangs angebotenen Nährsalzpräparate rasch an seine Grenzen. Das galt geschmacklich aber auch preislich. Erste Konsequenzen hieraus wurden bereits 1914 gezogen. Alfred Kasper passte sich der Marktlage und dem Verbrauchergeschmack an – und entwickelte daraus während des Krieges eine Produktstrategie, die auch abseits seines Heimatortes Bad Dürkheim tragen konnte. Dieser Wandel wurde durch die tiefgreifenden Veränderungen der Kaffee- und Kaffeemittelversorgung während des Ersten Weltkrieges entscheidend beeinflusst.

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Verhaltene, aber doch neue Werbemotive zu Beginn des Weltkrieges (Aachener Anzeiger 1915, Nr. 94 v. 22. April, 3 (l.); ebd., Nr. 91 v. 18. April, 3)

Die Quieta hatte ihre Anzeigenwerbung schon Mitte 1914 deutlich reduziert, stellte sie Anfang des Krieges dann ein. Quieta wurde nicht als „Liebesgabe“ beworben, das geschah durch die Händler (Karlsruher Tagblatt 1915, Nr. 42 v. 11. Februar, 4). Der Anzeigenstopp endete erst 1921 – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Solche bewarben Quieta im alten Schema mit neuen Motiven und dem Quieta-Q. Produktwerbung wurde allein noch von Einzelhändlern betrieben, die anfangs den Abverkauf des verbleibenden Nährsalzkaffees, dann auch die neuen Bohnenkaffeemischungen bewarben (Pforzheimer Anzeiger 1915, Nr. 26 v. 1. Februar, 3; ebd., Nr. 82 v. 9. April, 4).

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Bemühen um Rohware 1916 (Kölnische Zeitung 1916, Nr. 894 v. 2. September, 4 (l.); ebd., Nr. 626 v. 22. Juni, 3)

Die schon in den ersten Kriegswochen offenkundigen Versorgungsprobleme veränderten die unternehmerischen Aufgaben tiefgreifend. Es bildete sich ein Verkäufermarkt, bei dem Ware auch ohne Werbung einfach und zu attraktiven Preisen abzusetzen war. Knapp wurden dagegen erst Arbeitskräfte, dann Betriebsstoffe und schließlich die Rohware. Die völkerrechtswidrige britische Seeblockade unterband einen Großteil der Kaffeeimporte, ab 1915 wurden aber auch Gerste, Roggen, Weizen und Zichorien kontingentiert. Schon 1916 waren die Vorräte praktisch erschöpft, so dass die Quieta-Werke ihre Bohnenkaffeemischungen kaum mehr produzieren konnten.

Hinzu kamen die Fährnisse der Kriegsernährungswirtschaft, darunter nicht nur die massiven Eingriffe in die Preisgestaltung. Malz- und Kornkaffee waren etablierte Produkte, daher nicht zulassungspflichtig. Die neuen Mischprodukte der Quieta mussten dagegen ein während des Krieges zur Überwachung des Wildwuchses der Ersatzmittelwirtschaft etabliertes Genehmigungsverfahren durchlaufen. Dies war in jedem Einzelstaat erforderlich. Quieta-Rot- und Gelbsiegel wurden in Bayern am 19. März 1917 zugelassen, in Sachsen Rot-, Gelb- und Grünsiegel dagegen erst am 9. Juni (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 180 v. 11. April, 6; Sächsische Staatszeitung 1917, Nr. 133 v. 12. Juni, 5). Der neu ins Sortiment aufgenommene Quieta-Tee folgte, in Baden am 8. Dezember 1917 (Karlsruher Zeitung 1917, Nr. 336 v. 9. Dezember, 4). Hinzu kamen neuartige Kennzeichnungs- und Verpackungsvorgaben durch die Verordnung über Kaffee-Ersatzmittel vom 16. November 1917 – und auch eine wachsende Konkurrenz im schmaler werdenden Markt. Obwohl die ca. 250 vor dem Krieg bestehenden Ersatzkaffeefabriken beträchtliche freie Kapazitäten hatten, nahm deren Zahl bis 1916 auf 560 zu (Fritz Bürstner, Die Kaffee-Ersatzmittel vor und während der Kriegszeit, Berlin 1918, 29). Insgesamt wuchsen die bürokratischen Lasten der Quieta. Paradox war, dass ihre Angebote erst während des Krieges den staatlichen Stempel der Ersatzmittel aufgedrückt bekamen – wodurch diese neuen Kaffeemittelangebote nun erst zu geringwertigem Ersatz sowohl für Bohnenkaffee als auch für den gängigen Ersatzkaffee der Vorkriegszeit wurden.

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Rechtssicherheit für die Ersatzkaffeepackungen: Rotsiegel als Beispiel (Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 13)

Ein weiteres Paradoxon lässt sich anfügen: Erst während des Krieges ging Alfred Kasper die zeichenrechtlichen Maßnahmen an, die erforderlich waren, um Quieta als starke Marke im Massenmarkt zu etablieren. Den Bedrückungen des Krieges zum Trotz antizipierte er 1917/18 die künftige Dachmarke Quieta, deren Konturen dann nochmals Anfang der 1920er Jahre ergänzt wurden. Drei Schritte waren dabei zu unterschieden: Erstens sicherte Kasper das Wortzeichen Quieta. Das aber nicht nur direkt, sondern insbesondere durch sog. Defensivzeichen wie etwa Guida, Kwitta, Kwieta, Quitin, Quitol, Quitur, Quitesa, Quit, Quinta, Kwieta oder Quietsch (Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 308 v. 31. Dezember, 14; ebd., Nr. 207 v. 31. August, 12 und 13; ebd., Nr. 180 v. 31. Juli, 13; ebd. 1918, Nr. 51 v. 28. Februar, 20). Konkurrenten schreckte Kasper zweitens auch durch die zuvor vor allem in der Margarineindustrie üblichen zeichenrechtliche Sicherung der einzelnen Verpackungen ab. Dies betraf die Gesamtausstattung. Drittens wurden aber auch Einzelelemente gesondert eingetragen, etwa die Slogans „In der Tat! Delikat“ oder auch „In der Tat Frau Rat delikat!“ (Ebd. 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 14; ebd., Nr. 53 v. 2. März, 14). Sie konnten damit gefahrlos auch einzeln eingesetzt werden. Ähnliches galt für Varianten des Quieta-Q, die einerseits das Hauptzeichen sicherten, anderseits mögliche Alternativen in der Hinterhand beließen. Auch Produktbezeichnungen fielen darunter, denn neben den etablierten Siegel-Begriffen wurden auch Warenzeichen wie Gold-, Rot-, Grünpunkt usw. geschützt (Ebd. 1918, Nr. 151 v. 29. Juni, 29).

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Varianten des Quieta-Warenzeichens (Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 207 v. 31. August, 14 (l.); ebd., Nr. 284 v. 30. November, 16; ebd. 1918, Nr. 51 v. 28. Februar, 20 (r.))

In alledem zeigte sich die unternehmerische Weitsicht Alfred Kaspers, der die weitere Entwicklung seines Unternehmens möglichst präzise planen wollte, mochten sich die verändernden Rahmenbedingungen auch letztlich als stärker erweisen. Dies ging allerdings auch in Pedanterie und Gängelei von Geschäftspartnern und Zeitungen über. Als sich beispielsweise Ende 1917 ein Münchner Kolumnist über die unklare Zusammensetzung der Quieta-Ersatzmittel mokierte, forderte die Firma gleich eine Richtigstellung. Die launige Reposte ließ nicht auf sich warten: Quieta wurde gelobt als besänftigendes Getränk für das Warten in den Lebensmittelpolonaisen und als „Gegenmittel gegen den echten Bohnenkaffee, den man ohnehin nicht haben kann“ (Quieta (-Kaffee) – non movere, Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 23 v. 14. Januar, General-Anzeiger, 1 resp. Das tägliche Brot, ebd. 1917, Nr. 634 v. 15. Dezember, General-Anzeiger, 1). Das entsprach nicht Kaspers Bild von seinem Kaffeeprodukt, wohl aber der Realität unzureichender Alltagsversorgung.

Moderne Werbung auf der Höhe der Zeit: Tiere, Kannen und Familiengespräche

Die Verlagerung des Firmensitzes nach Leipzig brachte 1921 beträchtliche Änderungen mit sich. Obwohl Kasper die vollständige Kontrolle über seine Unternehmen behielt, erweiterte sich erstens der Kranz verantwortlicher Manager. Hans Evers und Georg Laskowski wurden Prokuristen, ebenso Kaspers Gattin Helene Katharine („Käthe“) (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 159 v. 21. Juli, 21). Die Quieta-Werke blieben ein Familienbetrieb, doch zugleich begann die Integration qualifizierten Führungspersonals (Ebd. 1923, Nr. 9 v. 11. Januar, 16). Zweitens wurde die Betriebsstruktur optimiert. Es gab künftig zwei von Alfred Kasper geleitete Gesellschaften, die eine in Bad Dürkheim, die andere in Leipzig. Augsburg war lediglich noch Fabrikationsort. Zudem trennte man Produktion und Vertrieb, etablierte eigenständige Verkaufszentralen, die großenteils in Personalunion geführt wurden (Ebd., Nr. 132 v. 9. Juni, 15). Betriebliche Risiken wurden so minimiert, auch steuerliche Überlegungen dürften eine Rolle gespielt haben. Zugleich schuf man dadurch Rahmenbedingungen für weiteres Wachstum. Bis in die späten 1930er Jahre sollte der Ersatzkaffeekonsum im Deutschen Reiche trotz der Bevölkerungsverluste um 30 % steigen (Spiekermann, 1996, 36).

23_Deutscher Reichsanzeiger_1923_03_16_Nr064_p21_Ebd_01_09_Nr021_p07_Ebd_06_22_Nr143_p17_Ersatzkaffee_Quieta_Alfred-Kasper_Leipzig_Warenzeichen

Beispiele für warenrechtlich geschützte Logos der Quieta-Werke (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 64 v. 16. März, 21 (l.); ebd., Nr. 21 v. 9. Januar, 7; ebd. 1923, Nr. 143 v. 22. Juni, 17 (r.))

Drittens gab es eine weitere Umgestaltung der Warenzeichen, also der Grundlagen für das Marketing der Quieta-Werke. Neue Logos wurden rechtlich abgesichert, zumeist gruppiert um verschiedene Variationen des Firmen-Q. Hinzu kamen neue Slogans, etwa „Quieta ist Qualität“ oder „Quieta Etwas für Feinschmecker“ (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 87 v. 15. April, 25; ebd., Nr. 127 v. 3. Juni, 22), aber auch neue Verpackungen für Quieta Gold (40 % Bohnenkaffee), Gelb (25 %) und Rot (10 %) (ebd., Nr. 130 v. 7. Juni, 19), ferner erste Kaffeekannen als Warenzeichen (ebd. 1921, Nr. 100 v. 30. April, 1). Viertens intensivierte man ab Mitte 1921 die Quieta-Werbung. Zum einen wurde mit Ivo Puhonny (1876-1940) einer der damals führenden deutschen Werbegraphiker gewonnen. Er war bekannt für seine Vorkriegsentwürfe für Sunlicht, Meßmer, Kupferberg, Dallmann, vor allem aber für die Palmin- und Palmona-Plakate für Heinrich Schlinck (1840-1909). In den 1920er Jahren gestaltete er den Markenauftritt der Batschari-Zigaretten. Mit Puhonnys Engagement trat Quieta in die erste Liga der Markenartikelproduzenten ein.

24_Remscheider General-Anzeiger_1921_07_23_Nr199_p10_Solinger Tageblatt_1921_08_21_Nr188_p10_Ersatzkaffee_Quieta_Sortiment_Ivo-Puhonny_Kaffeeservice

Puhonnys Leitentwurf und Familienreminiszenzen auf dem Kaffeetisch (Remscheider General-Anzeiger 1921, Nr. 199 v. 23. Juli, 10 (l.); Solinger Tageblatt 1921, Nr. 188 v. 21. August, 10)

Zum anderen investierte die Firma ab 1922 in erste Werbefilme: Bei der Leipziger Dux-Film wurden einfache Bildstreifen in Auftrag gegeben: „Quieta gibt guten Kaffee“ hieß es nun auf der Leinwand, oder auch „Quieta Gold, die Qualitätsmarke für Feinschmecker“ (Bundesarchiv Berlin R 9346 I 4182; ebd. 4183). Wichtiger noch war der 1923 entstandene Industriefilm „Ein Blick in die Quieta-Werke“, der über siebzehn Stationen die Produktion der Quieta-Mischungen in Leipzig dokumentierte (Ebd., 4593). Kasper schuf damit Rahmenbedingungen für einen modernen Markenartikel. Doch die Härten dieser Zeit sollten nicht vergessen werden. Die Quieta-Werke in Bad Dürkheim waren durch eine Zollgrenze von den rechtsrheinischen Gebieten getrennt. Man bat „die schwerkämpfende Industrie“ beim Einkauf zu bevorzugen (Badische Presse 1921, Nr. 341 v. 26. Juli, 3). Auch das zehnjährige Firmenjubiläum wurde 1922 nicht groß gefeiert (Der Volksfreund 1922, Nr. 275 v. 24. November 1922, 5). Dennoch hatten Kaspers Strukturentscheidungen die Quieta-Werke kampagnenfähig gemacht. Vier Werbekampagnen seien hervorgehoben.

25_Badischer Beobachter_1922_07_11_Nr156_p4_Echo der Gegenwart_1922_07_07_Nr156_p08_Ersatzkaffee_Quieta_Ente_Maus_Huhn

Tiere als Menschen (Badischer Beobachter 1922, Nr. 156 v. 11. Juli, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1922, Nr. 156 v. 7. Juli, 8)

Den Anfang machte eine zehnteilige Kampagne, die 1922/23 Tiere nutzte, um Aufmerksamkeit auf Quieta-Produkte zu lenken. Hahn und Huhn, Maus und Gans, ferner Rabe, Fuchs, Papagei, sowie Hund und Katze repräsentierten nicht nur Vierbeiner, sondern auch die bürgerliche Familie und ihr Umfeld. Quieta wurde präsentiert als Übergangsware, als Näherung an die vermeintliche Bohnenkaffeezeit der Vorkriegsjahre. Die Quieta-Mischungen waren billiger, bewahrten aber doch den Geschmack der guten, alten Zeit. Zugleich waren sie gesunder als die reine Dröhnung voller Koffein. Quieta hob sich damit deutlich von der Werbung unmittelbarer Konkurrenten ab. Die Mischung war ein Fortschritt etwa gegenüber Kathreiners Malzkaffee, den Hausfrauen damals mit etwas Bohnenkaffee verbessern sollten (Karlsruher Zeitung 1922, Nr. 245 v. 20. Oktober, 3). Quieta war bequemer handhabbar.

Mit ihren Werbeaktivitäten gewannen die Quieta-Werke zugleich Macht über die Inserenten. Illustrierte wurden von Kasper nur selten genutzt, Quietas Bühne waren eher Tageszeitungen. Ihre kleinteilige Macht wusste die Firma reichsweit zu nutzen: Die Quieta-Werke befanden sich schon 1921 auf einer Art schwarzen Liste von Firmen, die ihre Anzeigenmacht nutzten, um Zeitungen für ihre geschäftlichen Zwecke einzuspannen (Zeitungs-Verlag 1921, Nr. 29 v. 22. Juni, Sp. 962). Die Vorgaben waren harsch (Ungehörige Zumutungen eines Inserenten, Zeitungs-Verlag 1924, Nr. 11 v. 14. März, Sp. 378-379): Anzeigenkunden mussten die Anzeigen sichtbar in den Ecken platzieren, zudem kostenlose redaktionelle Notizen kostenlos schalten. Das gilt es auch bei den folgenden Kampagnen zu bedenken.

26_Muensterische Zeitung_1923_03_05_Nr087_p2_Badischer Beobachter_1923_03_16_Nr063_p4_Vorwaerts_1923_04_14_Nr178_p8_Ersatzkaffee_Quieta

Beispiele für den Einsatz der menschelnden Kaffeekanne (Münsterische Zeitung 1923, Nr. 87 v. 5. März, 2 (l.); Badischer Beobachter 1923, Nr. 63 v. 16. März, 4; Vorwärts 1923, Nr. 178 v. 14. April, 8 (r.))

Nach den Tiermotiven folgten menschelnde Kaffeekannen. Sie entsprachen dem Produkt, überbrückten zugleich die Spannung zwischen Ersatz- und Bohnenkaffe, denn sie alle wurden in Kannen mit heißem Wasser gekocht. Eine erste Serie repetierte immer wieder sechs Motive, konzentrierte sich dabei auf einfache Slogans. Die Mischungen von Quieta wurden von simplem Kaffeeersatz abgehoben, zugleich dessen Preiswürdigkeit hervorgehoben.

27_Hannoversche Hausfrau_21_1923-24_Nr20_pIII_Muenchener Neueste Nachrichten_1923_12_15_Nr340_p11_Sieg-Post_1924_02_05_Nr030_p4_Ersatzkaffee_Quieta_Kaffeekanne_Gemuetlichkeit

Die menschelnde Kaffeekanne in unterschiedlichen Teilkampagnen im Winter 1923/24 (Hannoversche Hausfrau 21, 1923/24, Nr. 20, III (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1923, Nr. 340 v. 15. Dezember, 11; Sieg-Post 1924, Nr. 30 v. 5. Februar, 4 (r.))

Das Motiv bot Humor, Alltagsfreuden in einem Umfeld von Hyperinflation und Ermächtigungsgesetz, von Ruhrbesetzung und nahendem Staatsbankrott. Die Kaffeekanne war Rückzugssymbol, verteidigte immer auch das deutsche Heim, die deutsche Eigenart. Eine weitere Serie folgte 1924/25, ließ typenhaft Hausherr, Hausfrau, Kind, Köchin und Feinschmecker zu Worte kommen – wenngleich aus dem Inneren von Kaffeekannen. Und zwischendurch trieben die Kannen Sport, deutschen Wintersport, ließen sich durch die Zeitläufte nicht verdrießen. Mochte die Zeit auch aus den Fugen fliegen, das Kaffeemittel erlaubt Einkehr und Neubesinnung. Diese Art der Werbung war populär, spiegelte zugleich die wachsende Akzeptanz und wohl auch den wachsenden Markterfolg der Quieta-Angebote. Nicht nur Großbetriebe wie Maggi und Knorr, sondern auch die Quieta-Werke repräsentierten damals „die deutsche Leistungsfähigkeit auf dem Gebiete des Ernährungswesens“ (Karlsruher Tagblatt 1924, Nr. 179 v. 11. Mai, 15).

Es hätte so weitergehen können. Doch Anfang 1927 wurde die weitere Verwendung dieser bauchigen Kanne, „aus der sich mit dem Deckel auf dem Kopf ein ganz markantes Gesicht“ hervorhob, vom Reichsgericht untersagt. Die Quieta-Werke hatten zuvor in mehreren Instanzen obsiegt, unterlagen letztlich aber dem größten deutschen Massenfilialisten und Malzkaffeeproduzenten Kaiser’s Kaffeegeschäft, dessen lachende Kaffeekanne eine stärkere warenrechtliche Stellung besaß (Nachrichten für Naunhof und Umgebung 1927, Nr. 13 v. 27. Januar, 2). Der 1923 einsetzende Stillstand an der Warenzeichenfront machte sich negativ bemerkbar.

28_Erzgebirgischer Volksfreund_1926_04_04_Nr079_p3_Saechsische Volkszeitung_1926_04_11_Nr079_p5_Durlacher Tagblatt_1926_03_13_Nr611_p4_Ersatzkaffee_Quieta_Ruhe_Sparsamkeit_Wien_Vetter-Waldemar

Vetter Waldemar im Einsatz (Erzgebirgischer Volksfreund 1926, Nr. 79 v. 4. April, 3 (l.); Sächsische Volkszeitung 1926, Nr. 79 v. 11. April, 5; Durlacher Tagblatt 1926, Nr. 611 v. 13. März, 4 (r.))

Zugleich aber erlaubte diese juristische Niederlage den Auftritt von Vetter Waldemar. Die vorherigen Kampagnen hatten zwar gewiss Aufmerksamkeit hervorgerufen, doch die vielgestaltige Tierschar und die vielfältigen Aussagen und Abenteuer der menschelnden Kannen mochten zwar die Breite des Quieta-Angebotes spiegeln, doch es fehlte an einer mit der Marke verbundenen Kernfigur. Die Chancen und Risiken solchen Marketings zeigte 1924/25 Kukirols Dr. Unblutig. Seine Abenteuer belebten den Markt der Hühneraugenmittel, doch die Kukirol-Fabrik hatte Schwierigkeiten, ihre eigentlichen Produkte neben der zunehmend dominanten Werbefigur hervorzuheben. Vetter Waldemar, Quieta-Propagandist mit einem Kaffeekannendeckel als Kopfbedeckung, war präsent, ansprechend, zugleich nicht ganz so exaltiert wie das 1927/28 aktive Vivil-Werbemännchen. Vetter Waldemar wurde seit 1926 eingesetzt. Er hatte die schwierige Aufgabe, standardisierte Massenprodukte zu heterogenisieren. Die verschiedenen Quieta-Mischungen boten dafür an sich eine gute Grundlage, doch vermarktet wurden sie vorwiegend durch ihre unterschiedlichen Preise. Vetter Waldemar war „der kleine Herr, der große Freude in jedes Haus bringt. […] Seine Aufgabe besteht darin, durch sein Erscheinen oder seine Handlungen das Publikum auf das intensivste zu fesseln“ (Toddy, Kaffee unter Trommelfeuer, Seidels Reklame 14, 1930, 194-195, hier 195). Die Botschaften waren vorhersehbar, nämlich Quieta als billiges, gesundes, zugleich schmackhaftes und nahe am Bohnenkaffe anzusiedelndes Produkt zu materialisieren. Doch man ließ den Vetter nicht recht von der Kette. Stattdessen war die von anfangs sechs Motiven geprägte Werbung 1926/27 eingehegt durch eine einfachere Werbung mittels wiedererkennbarer, graphisch unterstützter Schriftzüge. Sie konnten, wohl auch weil billiger, die Bandbreite der Werbebotschaft einfacher vermitteln: Quieta als ein fortschrittlicher und neuartiger Ersatz für reinen Bohnenkaffee, als preiswerte Alternative und zugleich – die Ideen der Functional Food-Periode kehrten angesichts der Fitness- und Schlankheitsbewegung Mitte der 1920er Jahre wieder – als Mittel gegen mehr oder minder akute Alltagsbeschwerden.

29_Mittelbadischer Kurier_1926_09_18_Nr216_p4_Ebd_11_11_Nr261_p3_Ebd_10_16_Nr240_p7_Ersatzkaffee_Quieta_Magen_Feinschmecker

Die Bandbreite der Quieta-Produkte (Mittelbadischer Kurier 1926, Nr. 216 v. 18. September, 4 (l.); ebd. 1926, Nr. 261 v. 11. November, 3; ebd. 1926, Nr. 41 v. 17. Oktober, 7 (r.))

1927 folgte dann eine vierte klar benennbare Kampagne. Sie war eng verbunden mit einer neuen graphischen Figur, Dr. Sorgsam. Er stand ebenfalls in der Nachfolge von Dr. Unblutig, knüpfte an die Expertenwerbung 1913/14 an, zugleich aber an die damals intensivierte Herz-und-Nerven-Reklame für Kaffee HAG (Amerikafahrt des Zeppelins, Der Welt-Spiegel 1924, Nr. 43 v. 26. Oktober, 15; Jugend 34, 1929, 587). Das stets präsente Herz war Augenfang, verkörperte zugleich aber die schonende Wirkung des Produktes (Sport im Bild 32, 1926, 999). Damit hoben sich sowohl Kaffee HAG als auch die Quieta-Produkte vom wieder erschwinglichen Bohnenkaffeekonsum ab, standen gegen dessen potenziell herzschädigende Wirkung. Mischkaffees waren billiger und gesunder, bildeten einen Kompromiss zwischen Wohlgeschmack und begrenzten Einkommen, für moderne gesundheitsbewusste Ernährung.

30_ Riesaer Tageblatt_1926_03_03_Nr052_p04_Mittelbadischer Kurier_1927_10_29_Nr252_p6_Saechsische Volkszeitung_1927_04_21_Nr091_p8_Ersatzkaffee_Quieta_Herz_Aerztlicher-Rat_Sorgsam

Der Doktor als Blickfang (Riesaer Tageblatt 1927, Nr. 52 v. 3. März, 4 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 252 v. 29. Oktober, 6; Sächsische Volkszeitung 1927, Nr. 91 v. 21. April, 8 (r.))

In den Folgejahren zerfaserte die Werbung für Quieta-Produkte allerdings – so wie schon vor dem Ersten Weltkrieg. Abermals wurde Quieta als Functional Food präsentiert, mochten die engeren Grenzen staatlicher Regulierung von Werbeaussagen auch eine Rückkehr zu den großtönenden Behauptungen der Vorkriegszeit nicht mehr zulassen.

31_Saechsische Volkszeitung_1928_03_11_Nr060_p16_Mittelbadischer Kurier_1928_03_19_Nr067_p3_Functional-Food_Ersatzkaffee_Quieta_Gesundheit

Quieta-Kaffee als Grundlage eines gesunden, den Körper bewahrenden Lebens (Sächsische Volkszeitung 1928, Nr. 60 v. 11. März, 16 (l.); Mittelbadischer Kurier 1928, Nr. 67 v. 19. März, 3)

Verjüngung aber blieb ein Thema, ebenso das gute Aussehen, die Konkurrenzfähigkeit in einer die inneren Werte und Fähigkeiten des Einzelnen kaum mehr berücksichtigenden kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft. Quieta mutierte zu einem Produkt der Selbstbehauptung insbesondere im Angestelltenmilieu, im abschmelzenden Segment des alten Mittelstandes. Doch die Quieta-Werke zielten auch auf die Facharbeiterschaft, inserierten auch in deren Zeitschriften. Der gegenüber Bohnenkaffee weitaus niedrigere Preis war immer ein Argument, ebenso die Ergiebigkeit. Das die Preise für Kaffeemittel de facto durch das Kartell der Kaffeemittelproduzenten bestimmt wurde, änderte nichts an der Werbeaussage. Quieta-Mischungen hatten beim Preisvergleich Vorteile, da die Marktpreise sowohl der Standardersatzware als auch der preiswerteren Bohnenkaffeesorten nur selten präsent waren.

32_Karlsruher Tagblatt_1929_03_07_Nr066_p5_Mittelbadischer Kurier_1929_02_16_Nr040_p5_Ersatzkaffee_Quieta_Sparsamkeit_Ergiebigkeit

Mehr als Malzkaffe, gleichwohl billig (Karlsruher Tagblatt 1929, Nr. 66 v. 7. März, 5 (l.); Mittelbadischer Kurier 1929, Nr. 40 v. 16. Februar, 5)

Diese dynamische Werbewelt der Quieta-Produkte war, wie schon vor dem Ersten Weltkrieg, nur ein Teil der breiter angelegten Reklamebemühungen von Kasper und seinen Leipziger Managern. Mitte der 1920er Jahre schaltete man erste Werbekampagnen mit eigenständigen Werbefiguren auch für Einzelhändler. Sie wurden vor allem auf die attraktiven Handelsspannen hingewiesen, später auch auf die Sonderzahlungen bei höherem Verkauf. Obwohl die Werbung damit vielgestaltiger wurde, änderte Kasper doch nichts an ihrer Struktur. Der Vertrieb lief wie in der Vorkriegszeit über den Großhandel, entsprach also der ständischen Kette Produktion, Groß- und Einzelhandel. Die neuen Betriebsformen, Warenhäuser, Filialbetriebe und auch Konsumgenossenschaften, führten Quieta, doch es war dort eine Ergänzungsware, kein Preisbrecher. Die Quieta-Werbung orientierte sich an einer kommerziell zunehmend unterminierten Absatzkette, bei der jeder Marktakteur feste und relativ hohe Gewinnspannen besaß – aller Billigwerbung zum Trotz.

33_Konsumgenossenschaftliche Praxis_12_1923_vorp261_Der Materialist_45_1924_Nr04_p01_Ersatzkaffee_Quieta_Leipzig_Bad-Duerkheim_Einzelhaendler

Veränderte Werbeansprache der Händler, hier der christlichen Konsumgenossenschaften und des Facheinzelhandels (Konsumgenossenschaftliche Praxis 12, 1923, vor 261 (l.); Der Materialist 45, 1924, Nr. 4, 1)

Das galt auch für die vielfältigen Formen der Direktwerbung, die allerdings mit dem vorliegenden Quellenmaterial nur ansatzweise nachzuzeichnen sind. Generell folgten die Quieta-Werke den Pfaden der Vorkriegszeit, modernisierten allerdings im Einklang mit den jeweils akuten Kampagnen.

34_Paul-Gregor_Schmissige Reklame_Leipzig_1924_p47_Quieta_Leipziger-Messe_Ersatzkaffee_Reklamewagen

Quieta-Werbewagen auf der Leipziger Messe 1923 (Paul Gregor, Schmissige Reklame, Leipzig 1924, 47)

Das mag nicht sonderlich umwälzend klingen. Doch die nahezu jährlich veränderten Kampagnen mussten in vordigitalen Zeiten erst einmal umgesetzt werden. Nicht zu vergessen sind die vielgestaltigen Herausforderungen der Inflationszeit. Die Verkaufspreise der führenden Sorte Quieta-Gold – Ersatzkaffee mit 40 % Bohnenkaffee – lagen im Bonner Delikatessenhaus Braunschweig im März 1923 noch bei 2000 Mark pro Pfund, ehe sie bis auf 1,2 Mrd. Mark im Dezember anstiegen. Danach erst trat die preisbewahrende Aufgabe von Markenartikeln wieder in ihr Recht, sanken die Preise doch von Februar bis April 1924 von 80 auf 65 Pfennig (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1923, Nr. 11376 v. 28. März, 4; ebd., Nr. 11789 v. 12. Dezember, 4; ebd. 1924, Nr. 11830 v. 1. Februar, 4; Nr. 11903 v. 29. April, 8).

Fasst man die Werbeaktivitäten in den 1920er Jahren zusammen, so stand die Quieta 1928/29 auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ihres öffentlichen Renommees. Nur führende Firmen präsentierten Werbefilme (Seidels Reklame 16, 1932, H. 3, Beilage) und waren in der Lage Direktvermarktung und Anzeigenkampagnen öffentlichkeitswirksam und ansprechend aufeinander abzustimmen. Zugleich aber vermochte die Quieta ihre Kaffeemittel zu dieser Zeit als fortschrittliche Produkte zu präsentieren. Ersatzkaffee war eben nicht länger Ersatz, sondern ein eigenständiges Produkt mit Zukunft.

Amerikanisierung? Die Idee einer modernen Fertigmischung

Die große Bedeutung der Werbung für den Aufstieg der Quieta zu einem Großunternehmen mit mehreren Fabrikationsstätten entsprach amerikanischen Idealen des Erfinderunternehmers, des durchsetzungsstarken Firmengründers – mochte dies in den 1920er Jahren in den USA auch längst nicht mehr der Realität der dortigen oligopolistisch organisierten Industriewirtschaft entsprechen (Julius Hirsch, das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, 30-68). Gleichwohl war ihre industrielle Organisation nicht nur durch Fließfertigung und hochgradige Arbeitsteilung Vorbild für viele, aber wahrlich nicht alle deutschen Unternehmer. Das Aufkaufen, Integrieren und Optimieren kleinerer Fabriken und die dadurch möglichen Rationalisierungseffekte hatten während der Inflation schon Männer wie Hugo Stinnes (1870-1924) oder Jakob Michael (1894-1979) aufgezeigt. Auch Alfred Kasper sah darin eine Chance für weiteres Wachstum.

1925 kaufte er die in Schönebeck ansässigen Albingia Keks-Werke. Südlich von Magdeburg gelegen hatte die Mittelstadt seit Einweihung der dortigen Elbbrücke einen beträchtlichen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Die Albingia war 1921 als GmbH und Hauptniederlassung einer Hamburger Firma gegründet worden. In den Folgejahren gab es Besitzwechsel und 1923 die Umwandlung zur Aktiengesellschaft (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 36 v. 12. Februar, 13; ebd., Nr. 299 v. 22. Dezember, 15). Der Betrieb war solide, litt aber an Kapitalmangel (Ebd. 1928, Nr. 106 v. 7. Mai, 1). Kaspers Leipziger Quieta-Werke übernahmen (Leipziger Tageblatt 1925, Nr. 44 v. 13. Februar, 8), firmierten sie in Lessing AG um. Warum nun diese Diversifizierung? Das Schönebecker Unternehmen konnte von den etablierten Absatzwegen der Quieta profitieren, eröffneten diese doch nationale Vertriebsstrukturen. Neben Gebäck und Süßwaren stellte die Lessing AG Kakao, Schokolade und Tee her, bot also eine konsumnahe Ergänzung zu den Kaffeesorten der Quieta. Neue Marken wurden etabliert, Suleika für Tee, Lessing für das sonstige Angebot. Für Kasper war wichtig, dass er damit zugleich eine breitere Grundlage für die Wertreklame gewann. Rasch setzte eine gemeinsame Werbung ein, vielfach in Form einer Ergänzung der Quieta-Anzeigen, auch durch gemeinsame Auftritte bei Ausstellungen (Neue Mannheimer Zeitung 1925, Nr. 536 v. 18. November, 8; Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 295 v. 24. Oktober, 4).

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Die Produktionsstätten der Quieta-Werke – inklusive der Lessing AG (undatierte Postkarte, Ende der 1920er Jahre)

Die Akquise der Lessing AG war durchaus erfolgreich, auch wenn die Kapitalkosten unklar waren. Die Firma konnte in den späten 1920er Jahren ihren Gewinn steigern, ebenso den Fabrikationsertrag. Der hohe Warenbestand unterstrich jedoch, dass die Produktionskapazitäten mehr ermöglicht hätten. Zu Beginn der Weltwirtschaftskrise behauptete sich die Lessing AG, folgte dann aber dem allgemeinen Abwärtstrend.

Betriebsergebnisse der Lessing AG, Schönebeck a.E. 1925/26-1933/34 (RM)

35a_Betriebsgebnisse der Lessing AG 1925-1934

(Deutscher Reichsanzeiger 1927, Nr. 107 v. 9. Mai, 6, ebd. 1928, Nr. 9. v. 11. Januar, 4; ebd. 1929, Nr. 301 v. 27. Dezember, 5; ebd. 1932, Nr. 145 v. 23. Juni, 7; ebd. 1934, Nr. 271 v. 19. November, 7; ebd. 1934, Nr. 271 v. 19. November, 7)

Ansatzweise gelang es, die Werbung zu intensivieren, wenngleich sie weit hinter den Kampagnen für die Quieta-Produkte zurückblieb. Immerhin gelang ein gemeinsames Preisausschreiben für Werbeslogans. Ähnliches hatte es im Deutschen Reich schon vor dem Weltkrieg gegeben, entsprach aber zugleich dem Stil der urbanen Konsumkultur der 1920er Jahre: „Niemand kann heutzutage erfolgreich sein, wenn man keinen besonderen Kaufreiz bieten kann. Man muß Außergewöhnliches anbieten, um Hausfrauen dahin zu bringen, von einer vertrauten Marke auf eine unbekannte, unerprobte Marke übergeben“ (Toddy, Die Packung – Ein wichtiger Verkaufsfaktor, Die Reklame 23, 1930, 141-143, hier 141).

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Preisausschreiben für Werbeslogans (Grafinger Zeitung 1928, Nr. 55 v. 6. März, 5)

Der Quieta gelang das Außergewöhnliche Ende der 1920er Jahre. Als einzige führende Kaffeemittelfirma öffnete sie sich für kurze Zeit Trends, mit denen eine innovative Positionierung ihrer Produkte möglich war. Die besondere Zwischenstellung der Mischprodukte – nicht reiner Ersatzkaffee, nicht Kaffeezusatz, nicht Bohnenkaffee – wurde nun genutzt, um Quieta als praktische Fertigmischung zu präsentieren. Ähnliches gelang zu dieser Zeit mit Ovomaltine, das bereits seit 1904 verkauft wurde.

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Quieta als fortschrittliche „gebrauchsfertige“ Mischung (Remscheider General-Anzeiger 1928, Nr. 111 v. 10. Mai, 5)

1928 war die Hochzeit der Amerikanisierungsdebatten. Das gelobte Land im Westen, aufgebaut nicht zuletzt durch die mehr als fünf Millionen deutschstämmigen Einwanderer, war damals Modell einer Konsumwelt, in der es für (fast) jedes Alltagsproblem ein passgenaues Markenprodukt gab. Quieta stilisierte seine gebrauchsfertigen Mischungen als Teil dieser auch ins Deutsche Reich kommenden Zukunft.

38_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1927_03_03_Nr12760_p4_Die Reklame_23_1930_p142_Ersatzkaffee_Quieta_Fortschritt_Amerikanisierung_Fertigmischung

Quieta als „Mischung der Neuzeit“ (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1927, Nr. 12760 v. 3. März, 4 (l.); Die Reklame 23, 1930, 142)

Amerika stand für praktisch denkende Menschen, die ihren Lebensweg selbstbestimmt beschritten, die wählten und dann bei den auserwählten fertigen Mischungen blieben. Die Quieta-Packungen erhielten zeitweilig neue Aufdrucke, die „Mischung der Neuzeit“ wurde offensiv beworben. Werbegestalter applaudierten: „Diese Art der Kaufanreizung ist einzigartig in Deutschland!“ (Toddy, 1930, 141). Zugleich spielte man mit dem neuen Gegensatzpaar Alt und Neu: „Zieht die Hausfrau die Petroleumlampe dem elektrischen Licht vor? Gewiß nicht! Ebenso gern wird sie auch andere Vorteile bemühen, die ihr die Neuzeit bietet, zumal wenn sie Geld und Zeit dabei spart. Sie setzt darum ihrem gewohnten Kaffee Quieta zu und ist immer wieder überrascht, wie vollkommen dann der Kaffee schmeckt!“ (Badischer Beobachter 1928, Nr. 301 v. 31. Oktober, 11).

39_Essener Anzeiger_1929_03_14_Nr062_p7_Castrop-Rauxeler Volkszeitung_1929_02_14_Nr045_p4_Ersatzkaffee_Quieta_Fortschritt_Modernitaet

Quieta als eine Alternative zwischen Kaffee und Kaffee-Ersatz (Essener Anzeiger 1929, Nr. 62 v. 14. März, 7 (l.), Castrop-Rauxeler Volkszeitung 1929, Nr. 45 v. 14. Februar, 4)

All dies wurde begleitet von einer klaren und verständlichen Kundenansprache. Die Fähigkeit zum Kaffeekochen wurde nicht mehr vorausgesetzt, sondern als Fertigkeit, als Kompetenz präsentiert: „Immer frisches Wasser nehmen! Nur ein kleiner Esslöffel auf einen Liter. Bei Beginn des Kochens zusetzen. Sofort vom Feuer nehmen, drei Minuten ziehen lassen, dann durchseihen. Auch Überbrühen genügt“ (Zeit. n. Toddy, 1930, 142). Fehlende Kochfertigkeiten: Kein Problem! Fehlende Vertrautheit mit dem Produkt: Kein Problem! Wichtig war allein das Ergebnis, der Kauf für den Produzenten, das Heißgetränk für den Kunden. Einfache Sprache war eben nicht gönnerisch, sondern reagierte auf die vielfältigen Qualitätsunterschiede der Produkte: Bohnenkaffee und Kaffeemittel waren nur selten frisch geröstet, waren in den gängigen Pappschachteln Umwelteinflüssen vielfach ausgesetzt. Mit diesen wenigen neu gestalteten Anzeigen und Verpackungen beschritt die Quieta einen Weg der Neudefinition ihres Produktes. Heinrich Franck folgte ab 1929 mit dem gewürfelten Karo-Franck, der jedoch im Deutschen Reich nicht verkauft wurde.

Allerdings brachen diese Werbeanstrengungen rasch ab. 1929 liefen die Anzeigenwerbungen für Quieta-Produkte großenteils aus. An deren Stelle traten Direktwerbung und eine intensivierte Wertreklame. Die Chance einer Neupositionierung der eigenen Produkte wurde damit vertan. So sehr auch Geschmack und Preiswürdigkeit hervorgehoben wurden, so blieb man dem Verdikt des Zweitklassigen, des Surrogates doch stets verbunden, präsentierte den Bohnenkaffeezusatz als die eigentliche Wertsteigerung, die Verbilligung „echten“ Bohnenkaffeearomas als die eigentliche Leistung der eigenen Mischungen. Sie als praktische Alternativen zum Bohnenkaffee zu vermarkten vermochten die Quieta-Werke nur kurzfristig. Dabei waren noch hundert Jahre zuvor Suppen das wichtigste Morgengericht gewesen, nicht der dann erst aufkommende „Kaffee“. Seit spätestens der Jahrhundertwende versuchten Kakao und Cerealienanbieter diesen Platz zu übernehmen. Die Kaffeemittelhersteller nahmen diesen Kampf um die historische Nachfolge nicht auf. Sie waren und blieben im Dualismus von Bohnenkaffee und Ersatz gefangen.

Direktwerbung und Wertreklame

40_Muenchner Neueste Nachrichten_1931_12_04_Nr330_p18_Ebd_09_27_Nr262_p11_Ersatzkaffee_Quieta_Malzkaffee_Verpackung_Gutscheine

Reste früherer Werbepräsenz (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 330 v. 4. Dezember, 18 (l.); ebd., Nr. 262 v. 27. September, 11)

Statt die eigenen Produkte fortschrittlich zu positionieren, erweiterte man die Produktpalette. Ein gesonderter Malzkaffee war schon länger im Angebot, ebenso Turka-Mischungen. Anfang der 1930er kam mit dem Diäta-Bohnenkaffee ein innovativ nachgeahmtes Produkt hinzu. Es handelte sich dabei um eine Reaktion auf den seit 1927 von der Hamburger Kaffeerösterei Darboven angebotenen Idee-Kaffee, entwickelt vom Hamburger Lebensmittelchemiker Karl Lendrich (1862-1930). Wie das Vorbild wurde er „durch eine künstliche Nachreife veredelt und durch Verminderung gewisser Röststoffe bekömmlicher gemacht“ (Sächsische Volkszeitung 1933, Nr. 44 v. 21. Februar, 7).

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Werbeveranstaltung der Quieta-Werke in Pfaffenhofen im Dezember 1930: Verteilung von Ersatzkaffee, Tee, Keksen, Kakao und Schokolade (Facebook Hauptplatz Pfaffenhofen)

Während der nun verschärft einsetzenden Wirtschaftskrise trat weiter Direktwerbung hervor. In Zeiten der Enge und Not war die Lockwirkung von Werbepaketen mit Essbarem hoch – auch wenn sie nicht zu Käufen führte. Neue Werbefiguren wurden geschaffen, etwa die Kaffee-Königin Frau Meta, die mit ihren Rezepten die ganze Palette von Diäta-Bohnenkaffee bis Quieta-Zichorienkaffee abdeckte (Sächsische Volkszeitung 1933, Nr. 46 v. 23. Februar, 8). Alltagsflucht wurde so unterstützt. Der akuten Sorge um das tägliche Mahl begegnete man mit Preisreduktionen.

Allerdings konnte die Quieta ihre Verkaufspreise zu dieser Zeit nicht selbst festsetzen. Wie in vielen anderen Branchen gab es bei Ersatzkaffee ein Preiskartell. Das sicherte Gewinne bei Produzenten, sicherte auch die Handelsspannen von Einzel- und Großhändlern. In den späten 1920er Jahren wurde Ersatzkaffee zu vier Fünfteln über den Großhandel vertrieben. Einkaufgenossenschaften wie die Edeka verkauften ungefähr 10 % des Angebotes, preisbrechende Konsumvereine und Filialbetriebe je 5 % (Walter Herzberger, Der Markenartikel in der Kolonialwarenbranche, Stuttgart 1931, 32). Die gebundenen Preise wurden seit 1930 mehrfach gesenkt, erst freiwillig im Kartellrahmen, dann auch staatlich erzwungen im Rahmen der Notverordnungen der Präsidialregierungen. Der billigste Zichorienkaffee kostete bei Quieta ab 1930 25 Pfg. pro halbes Pfund, die billigste Mischung Quieta Grün lag bei 55 Pfg. das Pfund (Ingolstädter Anzeiger 1930, Nr. 196 v. 29. August, 7; Badischer Beobachter 1930, Nr. 312 v. 4. November, 4). Damit konnte der Preisabstand zu Handelsmarken der Filialbetriebe und Konsumgenossenschaften zwar reduziert werden, doch im Vergleich zu den Markenanbietern von Kathreiner, Kornfranck und Seelig gewann man dadurch nicht, reduzierten sie ihre Preise doch zeitgleich und in gleichem Umfang (Schreiben des Deutschen Gewerkschaftsbundes a. Frank Glatzel, MdB v. 13. März 1931, Anlage, BA Berlin NS 5 VI 9832, Unlauterer Wettbewerb 1929-1931, 53).

Der Preisabbau untergrub Bestrebungen einer qualitativen Differenzierung der einzelnen Marken, reduzierte die Rentabilität der Firmen. Anfangs profitierte die Branche von der Krise, vom Übergang auf das billigere Heißgetränk. 1928 hatte die Ersatzkaffeeindustrie ca. 2,5 kg pro Kopf produziert, 1931 wurde mit 2,7 kg ein Spitzenwert erzielt. 1932 brach der Absatz jedoch auf 2,1 kg ein, stabilisierte sich 1934 dann bei 2,6 kg (Neue Berechnungen über den Verbrauch an Nahrungs- und Genußmitteln, Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs 47, 1938, IV. 93-IV. 105, hier IV. 103). Dieses Auf und Ab war begleitet von deutlich reduzierten Werbebudgets. Manche Slogans klangen halt wie Hohn, etwa die Zeile „Es gibt nichts Besseres heutzutage!“ für Quieta-Malzkaffee (Sächsische Volkszeitung 1933, Nr. 23 v. 8. Februar, 4). Doch, es gab Besseres.

42_Karlsruher Tagblatt_1926_09_26_Nr306_p09_Badische Presse_1931_10_18_Nr485_p15_Ersatzkaffee_Quieta_Zugaben_Gutscheine_Suleika_Tee_Verpackungen

Werbung für Quieta-Produkte mit Gutscheinen (Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 306 v. 26. September, 9 (l.); Badische Presse 1931, Nr. 485 v. 18. Oktober, 15)

Entsprechend offerierten die Quieta-Werke seit 1926 vermehrt Zugaben. Den Packungen eigener Kaffeemittel und der Lessing AG wurden Gutscheine beigegeben, die man ab einer gewissen Menge in wertvolles Rosenthal-Porzellan, später auch in KPM-Ware umtauschen konnte. Diese „Wertreklame“ verbreitete sich schon kurz nach der Jahrhundertwende, war damals Gegenstand intensiver Debatten über die Lockkraft unlauterer Angebote, die Verführung oder aber Erziehung durch Sammelmarken, die Solidität von Produzenten und Händlern. Sie war typisch für Branchen mit recht homogenen Gütern, etwa Zigaretten oder aber Margarine. Zugaben banden die Käufer fest an ein Produkt, verstetigten den Kauf, wollte man die Serie mit Sammelbildern vollständig haben oder aber ein Figurenset.

Alfred Kasper, der auch Vorstandsmitglied des Schutzverbandes für Wertreklame wurde, ging allerdings einen Schritt weiter. Während Zugaben zuvor meist geringen materiellen Wert hatten, stellten seine Firmen hochwertige Waren in Aussicht. Auch das hatte es vorher schon gegeben, die Keramik- und Porzellanindustrie hatte schon vor dem Weltkrieg einfache Teller, Tassen und Kannen just für diesen Zweck produziert. Doch Kasper erhöhte den Einsatz, die Attraktivität der Zugabe. Rosenthal und KPM waren Luxusmarken, Traum vieler Kleinbürger. Kasper zielte aber auch darauf, die Händler für seine Verkaufszwecke einzuspannen, denn seit dem 1. Dezember 1927 erhielten sie ein Rosenthal-Kaffeeservice, wenn der Umsatz bestimmte Höhen überschritt. Betriebswirtschaftlich bedeuteten derartige Zugaben eine gewisse Preisreduktion, also ein moderates Ausscheren aus dem Preiskartell der Ersatzkaffeebranche. Quietas Hauptkonkurrenten lehnten diese Werbung daher ab: Zugaben aller Anbieter würden die Kosten erhöhen. Die Kundenbindung sollte durch die Ware selbst erfolgen, durch die Stärke der Marken. Zugleich waren die Kosten der Wertreklame an sich überschaubar, denn bei wertvolleren Zugaben verfielen die meisten Gutscheine.

Die Quieta-Werke hatten dafür auch vorgesorgt, denn die Gültigkeit war befristet und mit dem steten Kauf von Billigprodukten war selbst eine Kaffeetasse nur schwer zu erreichen. Für sie waren 75 grüne Gutscheine erforderlich, mussten also 75 Halbpfundpakete Quieta Grün gekauft wurden. Bei den teureren Mischungen waren es weniger. Für ein vollständiges Service benötigen die Käufer etwa sieben Zentner Kaffeemittel. Entsprechend spotteten Zeitgenossen: „Da muß sich aber ein Mädchen, das jetzt unter die Haube kommt, beeilen, damit sie noch als Großmutter alle Einzelteile des köstlichen Geschenks glücklich beisammen hat. Manche erlebt es freilich nie. Mütter werden gut tun, ihre Kinder in Kornkaffee oder noch besser in Suleika-Tee zu baden (Teebäder sollen die Haut schön braun färben), um schneller in den Besitz der kostbaren Gabe zu gelangen. Die meisten Hausfrauen werden sich aber leider nicht die Zeit nehmen, zu berechnen, wie viel gelbe, rote oder grüne Gutscheine erforderlich sind, um das Service zu erhalten, und die meisten dürften es im besten Falle zu einer einsamen Kaffeetasse bringen“ (Wie es gemacht wird, Castrop-Rauxeler Volkszeitung 1927, Nr. 133 v. 16. Mai, 3).

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Der Reiz der Weltmarke: Werbung für ein preiswerteres Rosenthal-Service (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 43 v. 21. Oktober, 15)

Eine überraschende Insolvenz

Die Insolvenz der Quieta-Werke, genauer der Konkurs über das Vermögen Alfred Kaspers im März 1934 kam überraschend. Noch im Januar und Februar 1934 hatte er zusammen mit seiner Gattin Käthe und dem jungen Chemiker Fritz Artur Vorsatz die USA besucht, um dort dem in der Zigarren- und Kaffeeindustrie wohlbekannten Chemiker Eduard Adolph Closmann Patente zur Extraktion ungerösteter Kaffeebohnen abzukaufen (NARA Washington, DC, Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at and Departing from Ogdenburg, New York, Microfilm Serial T715; Index of Patents issued from the United States Patent Office 1934, 141). Etwa ein Jahr zuvor war Kasper in den Verwaltungsrat der 1931 im schweizerischen Glarus gegründeten Beteiligungsfirma Commerzinag AG eingetreten; und auch für sie erwarb er ein neues Patent, nachdem er zuvor schon die Patente für den wohl von Closmann entwickelten Diäta-Kaffee eingebracht hatte (Schweizerisches Handelsamtsblatt 50, 1932, 2802-2803; ebd. 52, 1934, 2925; Food Industries 6, 1934, 530).

Mangels fundierter Quellen kann man über die Gründe für Insolvenz und Konkurs kaum Sicheres aussagen. Politische Gründe dürften auszuschließen sein. Kasper war ein national gesinnter Zentrumsmann. In der Leipziger Diaspora unterstützte er die lokale Caritasarbeit des Elisabethvereins und die katholische Presse (Sächsische Volkszeitung 1932, Nr. 48 v. 26. Februar, 6). Er war Mitglied des Kuratoriums für den Bau des 1932 eröffneten katholischen St. Elisabeth-Krankenhaus, einer Zinne katholischer Sozialpolitik in Sachsen (Jakob Stranz, Katholisches Schaffen im Bistum Meißen, Sächsische Volkszeitung 1932, Nr. 153 v. 3. Juli, 25-26, hier 26). Im November 1933 geriet Kasper allerdings unter Druck mittelständischer Aktivisten, die ihn als Inflations-Ehrendoktor denunzierten. Diesen Doktor honoris causa hatte er 1923 von der Universität Marburg verliehen bekommen, „wegen seiner Verdienste um die Förderung der deutschen Volkswirtschaft […] durch die Beschaffung preiswerter und wohlschmeckender Nährmittel für die Massenversorgung des Volkes aus überwiegend heimischen Rohstoffen […], sowie wegen seiner warmherzigen Fürsorge für die Wissenschaft und für die Wohlfahrt seiner Arbeiter und ihrer Familien“ (Sächsische Volkszeitung 1923, Nr. Nr. 53 v. 20. April, 4). Diese Gründe wogen stärker als die wohl gezahlten Spenden. Erkundigungen u. a. bei der Leipziger NSDAP bestätigten nur die Haltlosigkeit der Anschuldigungen (Anne Christine Nagel (Hg.), Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus, Stuttgart 2000, 66, FN 166 (auch zuvor)). Generell passte sich das Unternehmen an die Vorgaben der nationalsozialistischen Machthaber an. Schon lange vor der Machtzulassung der NSDAP und ihrer deutschnationalen Bündnispartner bezeichnete sich die Firma als ein „rein deutsches Unternehmen“ (Riesaer Tagblatt 1932, Nr. 135 v. 11. Juni, 2).

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Katholische Sozialarbeit in der Diaspora: Blick auf das Leipziger St. Elisabeth-Krankenhaus (Sächsische Volkszeitung 1932, Nr. 153 v. 3. Juli, 26)

Gleichwohl unterminierten staatliche Maßnahmen die Rentabilität der Quieta-Werke. Die Mittelstandspolitik während der Präsidialdiktatur und der frühen NS-Zeit schlugen nun durch, denn sie bedeuteten hohe Kosten für die Wertreklametreibenden. Das am 1. September 1933 in Kraft getretene Gesetz über das Zugabewesen bedeutete gegenüber der Notverordnung „zum Schutze der Wirtschaft“ vom 9. März 1932 eine beträchtliche Verschärfung. Die von der Quieta vor dem 1. September 1933 ausgegebenen Gutscheine wurden in Sachwerten ausgegeben, in Form des Rosenthal-Geschirrs. Nach dem 31. Dezember 1933 musste stattdessen der Barbetrag zurückgezahlt werden (Die Neuregelung des Zugabewesens, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 30, 1933, 478). Gutscheine wurden nun nicht mehr nur von Käufern gesammelt, vielmehr bildeten sich vereinzelt Sammelpools, um die geldwerten Gutscheine aufzukaufen und den Geldwert zu realisieren. Doch eine direkte Kausalität zu Insolvenz und Konkurs ist nicht zu ziehen. 1933 waren alle Beteiligten nämlich bemüht, die Folgen des teilweisen Zugabeverbotes bei Händlern, Zugabenproduzenten und auch der werbetreibenden Industrie zu minimieren. Angesichts der langjährigen, spätestens 1927 intensiv geführten öffentlichen Debatte über entsprechende Wettbewerbsregulierungen hatten die Quieta-Werke mehr als genügend Zeit für Risikomanagement (vgl. Das Zugabewesen, Leipzig 1930; Claudius Torp, Konsum und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, 304-313; mit Bezug auf die Quieta: Toddy, Der Kampf um die Zugabe, Seidels Reklame 15, 1931, 412-413). Man bezahlte zudem nicht den Verkaufspreis der Geschirre, sondern den deutlich niedrigeren Einkaufspreis. Alfred Kasper war als Vorstand des Schutzverbandes für Wertreklame über die politischen Risiken genau informiert, zeichnete als solcher Eingaben an die Reichsregierung (BA Berlin, NS 5 VI 9833 Unlauterer Wettbewerb 1931-1932). Seitens des Deutschen Industrie- und Handelstages wurde ein Ausschuss zur Vermeidung wirtschaftlicher Härten gegründet. Gewiss, die Auswirkungen des Zugabeverbotes waren insbesondere für die Porzellanindustrie spürbar, doch konnten „größere Arbeiterentlassungen vermieden werden“ (Berliner Börsen-Zeitung 1933, Nr. 552 v. 25. November; BA Berlin, NS 5-VI 9834, Bd. 4: Unlauterer Wettbewerb 1933-1934).

Wichtiger dürften die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewesen sein. Die Kaffeepreise waren seit Ende Oktober 1929 weltweit eingebrochen, doch die Zölle für Kaffeeimporte wurden 1930 deutlich erhöht (Toddy, Kaffee unter Trommelfeuer, Seidels Reklame 14, 1930, 194-195, hier 194). Das traf die Quieta-Werke stärker als ihre Konkurrenten. Insbesondere der massive Konsumrückgang der Kaffeemittel 1932 zehrte an den Reserven, denn die Fixkosten konnten durch Entlassungen nicht genügend gedrückt werden. Kasper war zudem offenkundig nicht bereit, einzelne Standorte, zumal das einstige Stammwerk in Bad Dürkheim ganz zu schließen.

Hinzu kam wohl Wirtschaftskriminalität, die in der gelenkten Presse kaum diskutiert wurde. Mehrere Direktoren hatten dem Betrieb Barvorschüsse entzogen (Quieta-Werke – Keine Fortführung des Werkes Bad Dürkheim?, Hakenkreuzbanner 1934, Nr. 195 v. 27. April, 11). Alfred Kasper und der seit 1921 in Leipzig und Berlin tätige Georg Laskowski stellten Selbstanzeige „wegen Prüfung des Verdachtes betr. Bilanzfälschung und Kreditbetrug“ (Um die Erhaltung der Quieta-Werke, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 88 v. 17. April, 8). Schon 1933 waren Leitungspersonen ausgetauscht worden; in Bad Dürkheim traf dies Georg Opitz, in der Berliner Verkaufszentrale die langjährige Führungskraft Hans Evers (Deutscher Reichsanzeiger 1933, Nr. 119 v. 23. Mai, 9; ebd., Nr. 225 v. 26. September, 9 ebd., Nr. 252 v. 27. Oktober, 7).

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Kampf um den Fortbestand: Briefkopf der Quieta-Werke 1930 (Sächsisches Wirtschaftsarchiv, BK 1786 [CC BY-SA 4.0])

Die Insolvenz selbst war weniger einschneidend als anfangs befürchtet, denn es gelang den Produktionsbetrieb der Leipziger und Augsburger Quieta-Werke aufrechtzuerhalten. Kaspers Firmen mit ihren 700 bis 750 Beschäftigten stellten am 26. März 1934 ihre Zahlungen ein, danach begann ein hier im Detail nicht nachzuzeichnendes Bemühen um Konsolidierung und Folgenminimierung (Quieta-Werke insolvent, Hamburger Nachrichten 1934, Nr. 146 v. 28. März, 5). Ein Gläubigerausschuss wurde etabliert, eine Vermögensübersicht angefertigt. Demnach besaßen die Kasper gehörigen Leipziger Quieta-Werke Verbindlichkeiten von 3,87 Mio. RM. Sein Privatvermögen wurde auf 2,74 Mio. RM geschätzt, von dem allerdings 1,96 Mill. RM belastet waren. Hinzu kamen moderate Schulden der Leipziger Verkaufszentrale (Kölnische Zeitung 1934, Nr. 206 v. 24. April, 10).

Sie diente daher als Auffanggesellschaft (20 Proz. Gläubigerquote bei den Quieta-Werken, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 96 v. 26. April, 7). Ihr Konkurs konnte vermieden werden, da eine einstweilige Verfügung der Londoner Bank Goschens & Cunliffe gerichtlich abgewehrt werden konnte. Sie war ein wichtiger Kreditgeber im globalen Zucker- und Kaffeehandel, wurde durch die ausfallenden Zahlungen ihrerseits hart getroffen, so dass sie 1940 ihre Unabhängigkeit verlor (John Orbell und Alison Truton, British banking, London und New York 2017, 234). Die Rosenthal AG nahm Abschreibungen vor, entsandte zugleich aber Vertreter erst in die Gläubigerausschüsse, dann in die Leitungsgremien der Verkaufszentrale und auch der Lessing AG. Direkt betroffen war Alfred Kasper, über dessen Vermögen am 14. Mai 1934 das Konkursverfahren eröffnet wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1934, Nr. 119 v. 25. Mai, 1).

Es folgte eine lange Phase der Konsolidierung. Rasch ergab sich, dass die Produktion in Bad Dürkheim stillgelegt werden musste, während die beiden anderen Standorte weiter produzieren konnten. Die Marke war demnach gerettet. Der Fortbestand wurde durch den NS-Wirtschaftsaufschwung möglich. Die Erträge wurden genutzt, um die unterschiedlichen Ansprüche gestuft zu bedienen. Geplant war, bis 1935 die Vorrechte erster Klasse vollständig auszuzahlen, nachrangige sollten sich anschließen (Neuer Mannheimer Morgen 1935, Nr. 197 v. 30. April, 7). Der Konkurs endete jedoch erst im Dezember 1939 mit einem Zwangsvergleich. Bevorrechtigte Gläubiger wurden voll bedient, nachrangige erhielten etwas mehr als 50 % (Konkurs Alfred Kasper, Leipzig, Dresdner Nachrichten 1940 v. 7. Februar, 4). Die konsolidierten Quieta-Werke wurden Alfred Kasper dann am 1. Januar 1940 von einer „Kapitalgruppe“ abgekauft (Quieta-Werke GmbH, Leipzig, Ebd., Nr. 34 v. 4. Februar, 8). Darunter befand sich auch die Rosenthal AG (Ebd. 1941, Nr. 111 v. 22. Februar, 6). In den Folgemonaten wurde das Stammkapital und die Investitionen deutlich erhöht (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 167 v. 19. Juli, 23; ebd., Nr. 277 v. 25. November, 9).

Die Lessing AG bot an sich deutlich bessere Rettungsmöglichkeiten, denn Verbindlichkeiten von 197.000 RM standen einem größtenteils freien Vermögen von 345.000 RM gegenüber (Kölnische Zeitung 1934, Nr. 206 v. 24. April, 10). Auch hier wurde das Führungspersonal, inklusive Alfred Kasper, ausgetauscht (Deutscher Reichsanzeiger 1934, Nr. 257 v. 2. November, 4). Sein Sohn Friedrich erhielt im Januar 1935 Prokura, der neu besetzte Aufsichtsrat begleitete das am 14. März 1935 eröffnete Konkursverfahren (Ebd. 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 9; ebd., Nr. 28 v. 2. Februar, 6; Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 76 v. 14. Februar, 12). Es zog sich bis September 1940 hin (Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1943, 6373). Die Lessing AG konnte ihren Betrieb ebenfalls fortführen. Am Ende der Konsolidierungskette stand der Unternehmer und Einzelkaufmann Alfred Kasper. Durch den Verkauf seiner Betriebe hatte er einen gewissen Ersatz erhalten. Das Konkursverfahren wurde offiziell am 28. Dezember 1943 aufgehoben (Deutscher Reichsanzeiger 1944, Nr. 11 v. 14. Januar, 1).

Werbeaskese, Standardware und Kriegsdienst

Seit 1934 besaßen die Quieta-Werke weder die Finanzkraft für fortschrittliche Kaffeemittel, noch einen kreativen Manager, der neue Wege beschritt. Das hing gewiss mit den strikten Kontrollen und Vorgaben im Rahmen des Reichsnährstandes zusammen. Kaffeemittel waren ein Grundnahrungsmittel, wurden staatlich propagiert, auch wenn es nicht gelang, den Wiederanstieg des Bohnenkaffeekonsums nach Ende der Weltwirtschaftskrise zu verhindern.

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Simple Werbeparolen für Quieta (Badischer Beobachter 1935, Nr. 34 v. 3. Februar, 7 (l.); ebd., Nr. 41 v. 10. Februar, 7)

Die Insolvenz führte nicht nur zum Ausscheiden von Alfred Kasper aus der operativen Leitung. Sie führte vor allem zu einem Rückzug aus dem werblichen Wettbewerb um den Kunden. Die wenigen Anzeigen blieben aussagearm, präsentierten Banalitäten, dienten eher der Bestätigung, der Erinnerung, rangen nicht mehr um die Gunst der Käufer. Das Ergebnis war entsprechend: Ökonomisch blieben die Quieta-Werke profitabel, konnten die Schulden stetig abgebaut werden, so dass die Gläubiger letztlich recht erfolgreich bedient werden konnten. Frühe Marktuntersuchungen zu den bekanntesten Kaffeemittelmarken ergaben jedoch ernüchternde Resultate: 1935 kannten 85 % der Befragten Kathreiner, 55 % Kornfranck, 25 % Seeligs Kornkaffee, während Quieta lediglich vereinzelt genannt wurde. Ähnliches galt für die Quieta-Haferflocken, die angesichts der Werbepräsenz von Knorr, Hohenlohe und Quäker ebenfalls unter ferner liefen (Angaben n. Werben und Verkaufen 20, 1936, 169).

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Volksgemeinschaft und Quieta-Kaffeemittel (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 109 v. 11. Mai, 10 (l.); ebd., Nr. 126 v. 1. Juni, 21; ebd., Nr. 132 v. 8. Juni, 9 (r.))

Die Quieta konzentrierte sich damals immer stärker auf die einfachen Angebote, auf Malz- und Zichorienkaffee, auf die preiswerte Mischung Quieta Grün, kaum aber mehr auf die Mischungen mit höheren Bohnenkaffeeanteilen. Zugleich dürfte man das Geschäft mit institutionellen Kunden ausgebaut haben, war Ersatzkaffee in Lagern und Gefängnissen, in Krankenhäusern und Kantinen, vielfach auch in Cafés und Gaststätten doch üblich, teils verpflichtend. Erst nach der Kapitalspritze 1940 investierten die Quieta-Werke wieder stärker in neue Anzeigenmotive. Sie waren jedoch alten Ansätzen verpflichtet, koppelten das übliche Q mit Werbeköpfen, die der Breite der Volksgemeinschaft entsprachen.

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Ein Kriegsgetränk, sparsam und schmackhaft (Der Markenartikel 9, 1942, 135 (l.); Wirtschaftswerbung 9, 1942, H. 2, II)

Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges dürfte die Ausrichtung auf staatliche Abnehmer, insbesondere die Wehrmacht, immer größeren Umfang eingenommen haben. Sparsamkeit wurde propagiert, zugleich der kaffeeähnliche „Wohlgeschmack“ hervorgehoben.

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Kontinuierliche Lieferungen für Wehrmacht und Kriegswirtschaft (Militär-Wochenblatt 126, 1941/42, Sp. 743-744)

Dies währte bis Mitte, Ende 1942. Die neuerlich versiegenden Bohnenkaffeevorräte wurden kaum mehr zu Mischungen genutzt, und Soldaten, Arbeitsmänner und Rekonvaleszenten erhielten Standardware. Die breite Mehrzahl erhielt seither ein Ersatzprodukt des Ersatzkaffees: Röstperle „in bester Beschaffenheit“ bot etwas Geschmack, etwas Warmes.

50_Pulsnitzer Anzeiger_1942_12_12_Nr292_p3_Der Markenartikel_09_1942_p225_Zweiter-Weltkrieg_Ersatzkaffee_Quieta_Roestperle

Abschied von Quieta – Ersatz durch Röstperle (Pulsnitzer Anzeiger 1942, Nr. 292 v. 12. Dezember, 3 (l.); Der Markenartikel 9, 1942, 225)

Angesichts der Frage nach einem fortschrittlichen Ersatzkaffee muss die Nachkriegszeit nicht weiter untersucht werden. In der sowjetisch besetzten Zone nahm die Quieta ihren Betrieb nach Kriegsende wieder auf: Röstperle sollte ein bekanntes Markenprodukt auch der DDR werden (Dieter Zimmer, Für’n Groschen Brause, Bern 1984, 23). In Augsburg, in der US-Besatzungszone wurde das 1944 schwer zerstörte Zweigwerk weitergeführt. 1952 baute man dort eine neue Fabrik, erweiterte diese noch 1955. Hier produzierte man spätestens seit 1950 auch wieder Bohnenkaffeemischungen. Die dortige Quieta wurde 1997 zur heute noch bestehenden Carl Moll Landkaffee GmbH umfirmiert (Gerhard Stumpf, Quieta-Werke GmbH, in: Stadtlexikon Augsburg, 2. Aufl., 1998, Alle Lexikonartikel (wissner.com)). Auch die Quieta Vertriebsgesellschaft mbH in Bad Heilbrunn vertreibt einschlägige Produkte.

Parallel veränderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Relationen zwischen Kaffee- und Ersatzkaffeekonsum: Wurde 1950 noch mehr als fünfmal so viel Ersatzkaffee wie Bohnenkaffee getrunken, so neigte sich die Wage 1957 erstmals zugunsten des Importproduktes. 1961 übertrafen dessen Konsumwerte die des Konkurrenten um mehr als das Doppelte (Bärbel Heinicke, Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Berlin-West und München 1964, 108).

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Marktpräsenz in Ost und West (Die Versorgung 4, 1949/50, n. 32 (l.); Südkurier 1950, Nr. 127 v. 18. Oktober, 3; ebd., Nr. 262 v. 18. Dezember, 6 (r.))

Die Leipziger und Augsburger Quieta-Werke stritten vor Gericht über die weitere Verwendung der Warenzeichen, entsprechende Verfahren zogen sich bis 1960 hin (Bundesarchiv Berlin DF 3/22541, Bd. 2; ebd., DF 3/22544, Bd. 5). Für unsere Fragestellung ist all dies unerheblich, denn beide Unternehmen hatten keine Antwort auf den Niedergang ihrer Branche, ihrer Produkte. Fortschrittlicher Ersatzkaffee wurde in den späten 1920er Jahre bei Quieta und wenigen anderen Firmen beworben, fertige, gar vorportionierte Mischungen als Alternative zum einfachem Ersatzkaffee und einfachem Bohnenkaffee offeriert. Die Sonderkonjunktur während der NS-Zeit sollte nur überdecken, dass die Anbieter ihre Produkte seither letztlich nur verwalteten, nicht aber fortentwickeln konnten.

Uwe Spiekermann, 24. Juli 2023

Wie die Makkaroni deutsch wurden – Eine Skizze, 1800-1930

Seit mindestens 250 Jahren fabulieren gelehrte Geister über nationale Küchen, klar definierbar, klar abgrenzbar: „Der Deutsche, der Britte, der Franzose, der Spanier, der Italiener, ein jeder hat seine Lieblingsspeisen, die man mit größtem Rechte Nationalschüsseln nennen könnte. […] Der Deutsche zumal mit seinem unwiderstehlichen Hange, sich in allem nach seinen Nachbarn umformen zu wollen, gehet hierin am weitesten, und scheint nicht selten seine Gastmahle für alle Nationen aufgetischet zu haben“ (Das Wohlleben der Alten, bis auf die Zeiten der Römer, Allgemeines Intelligenz- oder Wochenblatt für sämtliche Hochfürstlich Badische Lande 1779, Nr. 2 v. 14. Januar, 2-3, hier 3). Der Deutsche langte demnach zu, labte sich am britischen Roastbeef, den französischen Ragouts, kostete die spanische Olla podrida und auch die Lieblingsspeise der Italiener, die Makkaroni (Ch[ristian] F[riedrich] v. Bonin, Hofmeister Amor, s.l. s.a. [1785], 82; Der baierische Landbote 1790, Nr. 40, 2; allgemeiner und unspezifischer: Silvano Serventi und Francoise Sabban, Pasta: The Story of a Universal Food, New York 2002; Kantha Shelke, Pasta and Noodles. A Global History, London 2016; Massimo Montanari, A Short History of Spaghetti with Tomato Sauce, s.l. 2021).

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Makkaroni im späten 18. Jahrhundert (Friederike Luise Löffler, Neues Kochbuch […], Stuttgart 1791, 139)

In der Tat: Makkaroni-Rezepte finden sich im späten 18. Jahrhundert in weit verbreiteten Kochbüchern der Hof-, dann auch der bürgerlichen Küche (Peter Neubauer, Wienerisches Kochbuch, Wien 1791, 408-409). Eine Nudel stand symbolisch für das Ganze, obwohl es sich bei Italien keineswegs um eine Nation, sondern ein Flickenwerk regionaler Herrschaften handelte, zerfranst an den heutigen Grenzen, Teil anderer Reiche. Die Küchen Italiens waren vielgestaltig und kontrastreich – ähnlich wie die der deutschen Lande. Die Makkaroni, das wusste um 1800 der Gebildete, war eine Speise des Südens, zumal der Gegend um Neapel. Man kannte sie im Norden auch deshalb, weil die spanischen Bourbonen dort herrschten, Teil des europäischen Hochadels, eng verbunden auch mit den Habsburgern. Hinzu kam die antike, die römische Tradition, kamen der Vesuv und Herculaneum, Pompeji und Goethes Italienreise.

Ein Jahrhundert später war das radikal anders – zumindest aus Sicht derer nördlich der Alpen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren die Makkaroni deutsch geworden, eine Hohlnudel, teils aus Hartweizen, teils aber auch mit Eiern produziert – und zwar von surrenden Maschinen, ohne die im Süden zuvor bewunderte Handarbeit. Mit dem italienischen Ursprung wurde weiter werbeträchtig kokettiert, doch nur um zu unterstreichen, dass deutsche Makkaroni besser seien als die des Ursprungslandes. Gilt dies, so stellen sich viele Fragen neu, die in der Forschung so gerne auf das 20. Jahrhundert, meist gar auf die 1950er Jahre projiziert werden. Regionale und nationale Zuschreibungen von Lebensmitteln und Speisen bedürfen einer auch langfristigen historischen Perspektive, will man nicht im freudigen Erinnerungshorizont der wortmächtigen Großelterngeneration verharren.

Makkaroni und Neapel: Unbeschwertes Leben (und Essen) im Süden

Makkaroni symbolisierten im frühen 19. Jahrhundert die Fremdheit und den Lockreiz der italienischen Küchen. Ihre Anfänge reichen zurück bis in die frühe Neuzeit, die Sprache der Teigwaren bis in die Antike: Pasta stammt aus dem Griechischen, Lasagne aus dem Lateinischen (Makkaroni auf italienische Art, Damals 26, 1994, Nr. 9, 54). Der für die Makkaroni konstitutive Hartweizen wurde von Arabern eingeführt, die das zuvor byzantinische Sizilien im 9. Jahrhundert eroberten. Im Hochmittelalter noch verspotteten die Neapolitaner die Sizilianer als „Makkaronifresser“ (Ebd.). Später aber übernahmen sie die Teigwaren, konnte die Handelsstadt doch die regionale Hartweizenproduktion durch Importe aus der Levante, aus Nordafrika und der Schwarzmeerregion (Taganrog-Weizen) ganz wesentlich erweitern (Franz Schindler, Der Getreidebau auf wissenschaftlicher und praktischer Grundlage, Berlin 1909, 147). Im 19. Jahrhundert verbreiterte sich die Rohstoffgrundlage durch frühe Züchtungsforschung, einerseits durch den russischen Kubanweizen, anderseits durch den später vordringenden „Maccaroni-Weizen“ in den USA wesentlich (Maccaroni-Weizen, Bukowinaer Landwirtschaftlicher Blätter 7, 1903, Nr. 20, 153).

Derartige Entwicklungen standen nicht im Blickfeld der seit dem späten 18. Jahrhundert immer zahlreicheren Besucher von Stadt und Königreich Neapel, die dort nicht nur die antiken Stätten und Capri besuchen wollten, sondern im Nachzug Goethes eine Art Paradies zu finden hofften, in dem die Menschen in „einer Art von trunkner Selbstvergessenheit“ (Goethe’s Werke, T. 24: Italiänische Reise, hg. v. Heinrich Düntzer, Berlin 1828, 827 [1787 geschrieben, US]) lebten. Und sie fanden, was sie finden wollten: „Maccaroni seh‘ ich dampfen; / In der Pfanne schmort der Fisch; / Durch die Straßen, auf den Plätzen / Ist gedeckt ein ew’ger Tisch“ (Neapel, in: Karl August Mayer, Neapel und die Neapolitaner oder Briefe aus Neapel in die Heimat, Bd. 1, Oldenburg 1840, 246-248, hier 248; auch in Amalie Winter, Die kleinen Lazzaroni von Neapel, 2. Aufl., Berlin 1846, 141).

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Makkaronistand in Neapel (Das Pfennig-Magazin 1, 1833/34, 297)

Reiseberichte geben keine getreuen Abbilder des Alltagslebens. Stattdessen finden wir in ihnen Spiegelungen des Selbst, Bilder des gesuchten und gewollten Fremden: „Denn beschrieben wird vor allem das, was als andersartig, als ‚exotisch‘ empfunden wird, was dem Schreibenden als nicht zu seiner eigenen Lebenswelt, zu seiner Identität zugehörig erscheint“ (Ulrike Thoms, Sehnsucht nach dem guten Leben. Italienische Küche in Deutschland, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Essen und Trinken in der Moderne, Münster et al. 2006, 23-61, hier 25).

Am Anfang standen zumeist Beschreibungen einer andersartigen auf Weizen basierenden Esskultur – und das zu einer Zeit als die Getreidefixiertheit der deutschen Kost durch den zunehmenden Anbau von Kartoffeln in Mittel-, Nord- und Ostdeutschland abnahm: „Neapel und Genua sind die beiden Städte, wo alle Arten von Nudeln und Maccaroni in großer Menge verfertiget werden, weil sie eine Hauptspeise in ganz Italien sind. Genua ist mehr der kleinen Nudeln und Neapel wegen der großen, oder sogenannten Maccaroni, berühmt. Man nimmt eine Art Getreide (saragolla), vermuthlich Spelt, dazu, welches sehr harte Körner hat, röthliches Mehl und teigichtes oder festes Brot giebt“ (Neapel und die Lazzaroni, Frankfurt a.M. und Leipzig 1799, 45). „Die Größe der Nudeln hängt von dem Durchmesser dieser Löcher ab, und sie bekommen davon ihre verschiedenen Namen und Figuren. Es giebt über dreißig verschiedenen Sorten; die feinsten heißen: Permicelli, Fedelini, Sementelle, Punte d’Aghi, Stelluce, Stellette, Ochi di parnici, Acini di pepe; die größeren: Maccaroni, Trenete, Lazagnette, Pater noster, Ricci die Foretana u.s.w.“ (Ebd., 46). Derartige Sachbeschreibungen gingen stetig über in die Deutung der Einheimischen: „Der gemeine Mann in Neapel nährt sich halb von Maccaroni, daher eine unglaubliche Menge davon verzehrt wird. Sie können nicht ohne Maccaroni leben, und daher ist es kein Wunder, wenn der Spaß des Harlekins in der italiaenischen Komoedie, und zumal in Neapel, so oft auf Maccaronen hinausläuft“ (Ebd., 47). Spaß, Alltagsfreuden, Leichtigkeit, eingebettet in eine üppige Natur, umrahmt von ertragreicher Landwirtschaft und ergiebigen Fischgründen. Wer wollte da nicht jauchzen, denn „singen müssen wir alle von der Nation lernen, die die Natur zur singenden schuf, und die ohne Gesang so wenig leben kann, als ohne Makkaroni“ (Allgemeine Musikalische Zeitung 6, 1803, 143).

Die Reisenden betrachteten die Einheimischen als Naturkinder, Makkaroni erschienen als Substitut des göttlichen Manna. Das ist bemerkenswert, war Neapel 1800 mit seinen 430.000 Einwohnern doch die drittgrößte Stadt Europas, beherbergte mehr Einwohner als Wien und Berlin zusammen. Entsprechend blickten Besucher vor allem auf die städtischen Unterschichten, deren Ort- und Wohnlosigkeit ihnen als Ausdruck der Lebenslust im vermeintlich warmen Süden galt – die Reisen erfolgten ja meist nicht von Dezember bis März, wenn die Ortstemperaturen nur wenig über 10° C lagen. Die Makkaroni wurden als solche beschrieben und bewundert, insbesondere ob ihrer Formenvielfalt. Bei der anfangs liebevollen Schilderung stand das barocke Realienkabinett nicht fern (Reise-Skizzen aus Italien. Die Toledostraße in Neapel (Fortsetzung.), Wiener Zeitschrift für Kunst, Theater und Mode 22, 1837, 741-743, hier 742). Wichtiger aber als der Unterschied zu Klößen, Broten und Kartoffeln war die Präsentation der Einheimischen beim Mahl bzw. beim Verschlingen: „Es ist unglaublich, auf welch eine unanständige Art diese Maccaroni gegessen werden, sowohl an table d‘hote, als auch in Familien und bei Gastmahlen. Man legt zuerst einen aufgehäuften Teller davon vor, worüber man in Deutschland erstaunen würde, und auch in Neapel muß man es für das einzige zu erwartende Gericht halten; so groß sind die Portionen. Der echte Neapolitaner wikkelt sich dann dies mehr als ellenlange Gewürm um seine Gabel, neigt den Kopf über den Teller, füllt den Mund mit dem einen Ende der Maccaroni an, und zieht das übrige, ohne Hülfe der Gabel, immer nach, so daß, wenn nun der erste Bissen genommen ist, die andern von selber folgen. Es muß sehr oft der Fall seyn, daß das eine Ende noch auf dem Teller ist, wenn das andere schon den Magen erreicht hat. Der gemeine Mann braucht dazu überdies keine Gabel, sondern er bedient sich der Finger“ (C[arl] F[riedrich] Benkowitz, Das italienische Kabinet oder Merkwürdigkeiten aus Rom und Neapel, Leipzig 1804, 93-100, hier 94-95). Das berühmte Gericht der Italiener, diese Hauptspeise der Nation (Ebd., 93) konnte in Neapel offen studiert werden, zumal es nach Auskunft der Besucher auch die recht sparsame Tafel der Reichen prägte: „Etwas Fleisch und Fisch kommt noch hinzu, und einige Früchte – und das ist das Gewöhnliche“ (P[hilipp] J[oseph] Rehfues, Gemählde von Neapel und seinen Umgebungen, T. 1, Zürich 1808, 78). Immerhin, die höheren Schichten benutzten durchweg eine Gabel, mochte die Schüssel mit den Makkaroni auch die Tischgemeinschaft aller verkörpern (Justus Tommasini [d.i. Johannes Heinrich Christoph Westphal], Spatziergang durch Kalabrien und Apulien, Konstanz 1828, 144). Hierin spiegelte sich die Auseinandersetzung um die gemeinsame Schüssel bei deutschen Bauern und Landarbeitern, die Bürger durch eine stärker individuelle Tischkultur mit Schüsseln für die einzelnen Gerichte, Tellern und Besteck ersetzten.

Makkaroni waren in diesen Berichten ein Sammelbegriff, der zwar immer wieder aufgefächert wurde, letztlich aber nur Anlass war, um Lokalkolorit nachzuzeichnen, farbige Bilder anderer Menschen, anderer Essgewohnheiten darzustellen. Diese waren öffentlich, erfolgten in der gedrängten Dichte einer Großstadt: „Eine Schar von Lazzaroni, Fachini, Marinari etc. umlagert einen ungeheuren Kessel, in dem die Lieblingsspeise der Italiener, die Maccaroni, bereitet werden. Die Gäste nähern sich mit ihren Schüsseln, der Verkäufer streicht von einem quer über den Kessel liegenden hölzernen Stabe die schon fertigen Maccaroni in die Schüsseln, giebt etwas Brühe darauf, und streut geriebenen Käs dazu“ (Der Bayer’sche Landbote 6, 1830, 601; ähnlich Die neapolitianischen Maccaroniesser, Das Pfennig-Magazin 1, 1833/34, 297-299; Die Maccaroni in Neapel, Echo 2, 1834, 43-44). Aus dem Verzehr einer Alltagsspeise wurde eine Lust, bei der die Wirte als Zeremonienmeister agierten, auf deren Kesselspeise die Gäste sehnsüchtig warteten, die sie dann gleich Ambrosia genüsslich schlürften (Die religiösen Feste der Neapolitaner. 2. Das Fest der Madonna dell‘ Arco. (Schluß.), Das Ausland 7, 1834, 710-712, hier 711). Die Besucher konzentrierten sich aber nicht nur auf Speisen und Ambiente. Auch die Menschen selbst versuchten sie einzufangen, allerdings klischeehaft fremd: Die „weißen Schlangen“ verspeiste dann ein „braungebrannter Mann mit starkem Barte“ (Reise-Skizzen, 1837, 742), immer umgeben von Kindern, seltener von Frauen.

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Präsentation und Rückfrage: Spottblatt auf die Makkaroni, ca. 1850 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg HB 21034/1231)

All das war nicht mehr edle Einfalt, stille Größe. Geschildert wurde ein Leben ohne überbürdende Bedürfnisse, ohne Aufbegehren. Die italienischen Makkaroniesser warteten geduldig auf eine zugeworfene Münze, auf den kargen Ertrag einer Gelegenheitsarbeit (Neapel und die Neapolitaner. […], in: Meyer’s Volksbibliothek für Länder-, Völker- und Naturkunde, Bd. 48, Hildburghausen und New York o.J., 122-151, hier 137-140; Rapsodie eines Neapolitaners, Echo 3, 1835, 524; Reise- und Lebensbilder, (Fortsetzung.), Morgenblatt für gebildete Leser 33, 1839, 246-247; Maccheroni. E[duard] M[aria] Oettinger, Onkel Zebra. Memoiren eines Epicuräers, T. 3, Leipzig 1842, 277-280). Halbnackt und lumpengewandet erschienen die Neapolitaner, doch immer wieder unglaublich zufrieden (Donau-Zeitung 1847, Nr. 179 v. 1. Juli, 2). Damit ignorierte man natürlich die revolutionären Traditionen vor Ort, die Parthenopäische Republik von 1799. Und man unterschätzte das soziale Konfliktpotenzial im Königreich, das sich 1848/49 und 1860 in verschiedenen Volksaufständen niederschlug. Guiseppe Garibaldis (1807-1882) Vormarsch im zweiten Unabhängigkeitskrieg, an dessen Ende 1861 das Königreich Italien entstand, wurde dadurch begünstigt.

Makkaroni aber wurden schon zuvor als Nationalspeise beschrieben, waren ein einigendes Band während des Risorgimento: „‚Maccaroni!‘ Lieber Gott, was läßt sich bei diesen vier Sylben nicht alles denken! Welche Thaten haben zahllose Tausende, es hörend, im Geiste schon vollbracht!“ (Genrebilder aus dem neapolitanischen Volksleben. II. Maccaroni, Der Sammler 15, 1846, 289-291, hier 290). Auch das war ein Gegenentwurf zum nicht geeinigten Deutschland: „‚Grützwurst‘ mag für den Haisewenden ein melodisch klingendes Wert seyn, wenn er hungrig vom Felde heimkehrt; ‚Sauerkraut und Schweinefleisch‘ essen Schlesier und Lausitzer mit anerkennender Ausdauer und meine aufopfernden Hingebung, die einer besseren Sache werth wäre; bei ‚Schweineknöchelchen und Klößen‘ kann der eingefleischte Leipziger eben so leicht zum Schwärmer werden, als der Hamburger bei seiner ‚Rothen Grütze‘; in Gefahr und Tod, zu Kampf und Sieg lockt sie damit kein Mensch und kein Gott.“ (Friedrich Heinzelmann, Die Weltkunde […] auf Grund des Reisewerkes von Dr. Wilhelm Harnisch, Bd. 9, Leipzig 1852, 287-290, hier 288). Der deutschen Bürger Schilderung der Makkaronikultur ergötzte sich an der Leichtlebigkeit der Neapolitaner und Italiener, bewunderte ihren zielgerichteten Heißhunger. Doch sie taugten nur als Sehnsucht, nicht als Vorbild: „Bei uns legt eine rauhere Natur uns die Pflicht auf, ängstlich für unser Dach und Fach zu sorgen, uns zu schützen, und auf den Kampf mit feindlichen Elementen vorzubereiten. Die Erde schenkt uns nichts; wir müssen ihre Gaben ihr abringen. Der Winter nöthigt uns, den Körper zu wahren. Alles ringsum mahnt uns, die Hände nie in den Schooß zu legen. Alles treibt und spornt uns zu steter, rastloser Arbeit. Das Leben im Norden ist ein Kämpfen. Im Süden ist es ein Genießen“ (Bilder aus Neapel, Neue Illustrirte Zeitung 1875, Nr. 14, 10).

Gewiss, die Besucher wussten vielfach um den fiktionalen Gehalt ihrer Berichte. Selbst im Süden konnte der Besuch einer alten Makkaroni-Verkäuferin literarische Phantasien jäh zerplatzen lassen (M.G. Saphir, Die unterbrochene Phantasie. Eine burleske Skizze, Der deutsche Horizont 2, 1832, Sp. 1627-1629, hier 1629). Das rechte Menschentum war nordisch, die dortigen Gebräuche zielführend – so der immer auch auf Deutsch schreibende dänische Romantiker Adam Gottlob Oehlenschläger (1779-1850): „Ich bin der Maccaroni überdrüssig, / Mag sie nicht länger essen“ (Dramatische Dichtungen, T. 2, Hamburg 1835, 51) hieß es in seinem Stück Die italienischen Räuber: „Fleisch muß ich essen; – denn der Mensch, das ist / Ein Carnifex, wie die Gelehrten sagen; / ‚S ist ein gebornes Raubthier, wie man’s an / Den Zähnen sehen kann, / das sich durchaus nicht / Mit Maccaroni nur abspeisen läßt“ (Ebd., 52). In den Reiseberichten dieser Zeit tönte auch schon Ambivalentes an, die vermeintlich fehlende Treue des Neapolitaners, sein Hang zum Verrat (Die Maccaroni-Esser in Neapel, Augsburger Anzeigblatt 1847, Nr. 354 v. 26. Dezember, 7-8, hier 8). Aller Begeisterung über das Makkaronifestival auf den Straßen zum Trotz, wollte man sich doch darüber erheben, roch es dort und auch in den Häusern doch stets nach Käse, stach die „Unreinlichkeit“ negativ hervor. Wohltuend, dass wenigstens im Haus des Herrn von Rothschild „der Maccaroni-Geruch nicht über die Schwelle des Eßzimmers“ drang (Italien und die Italiener. (Schluß.), Münchener Unterhaltungsblatt 1840, Sp. 399-400, auch für das erste Zitat).

Kulinarische Akkulturation: Makkaroni in den deutschen Küchen

Die Reisebeschreibungen begleiteten die langsame Akkulturation der italienischen Nationalspeise in die deutschen Küchen. Im späten 18. Jahrhundert wussten Kochkundige bereits Bescheid, mochte die Begeisterung am heimischen Herd auch geringer ausfallen als in den Gassen Neapels: „Maccaroni, sind eine Art italienischer getrockneter Nudeln, welche man zu Mehlspeisen und Suppen gebrauchet“ (Neues Kochbuch, Gotha 1797, 330).

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Makkaroni als Speise aus der Fremde (Maria Klara Messenbeck, Baier‘sches Kochbuch, Augsburg und Regensburg 1810, 319-320)

Analysiert man Kochbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so tauchen Makkaroni anfangs nur vereinzelt auf. Die Autorinnen machten ihre Leserinnen mit der südlichen Speise grundsätzlich bekannt, präsentierten sie im Umfeld der im Süden Deutschlands wohlbekannten Mehlspeisenküche. Festzuhalten ist, das Nudeln bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorrangig in Bayern, Baden, Württemberg und dem Elsass gegessen wurden. Noch 1927/28 wurden dort fünfeinhalbmal mehr Nudeln verzehrt als in Ostpreußen oder Schlesien (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialge­schichte. Räume und Struk­turen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jür­gen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.), Es­sen und kulturelle Identi­tät, Berlin 1997, 247-282, hier 252-253).

Es ging in den Rezepten auch nicht um original neapolitanische resp. italienische Speisen, die Würzung mit „Zimt“ im oben angeführten Rezept macht das deutlich. Makkaroni galten damals nicht als volle Mahlzeit, als Hauptgericht. Sie hatten sich einzuordnen, etwa in eine Schinkenspeise, zumeist aber als Suppeneinlage (S[ophie] J[uliane] W[eiler], Augsburgisches Kochbuch, 2. verm. u. verb. Aufl., Augsburg 1788, 377 (Schinkenspeis); identisch in der 11., 20. und 21. Auflage 1810, 1836 und 1836; als Suppeneinlage dann ab der 25. Aufl. 1860, 353). Man darf diese Rezepte auch nicht überschätzen, denn häuslich zubereitete Makkaroni waren (anders als bei einfachen Nudeln) Ausnahmen. Viele Kochbücher erwähnten sie nicht (Ernst Meyfeld und Johann Georg Enners, Hannoverisches Kochbuch, Bd. 1, Hannover 1792; [Theodor] v. Hallberg, Deutsches Kochbuch, 2. Aufl., T. 2, Düsseldorf 1819; Neuvermehrtes Kochbuch, neue ganz umgearb. Aufl., Nürnberg 1831; Gründliches Kochbuch, 7. Aufl., München 1835; Margaretha Elisabetha Klotsch, Praktisches Kochbuch, 4. verb. u. verm. Aufl., Nürnberg 1835; Neuestes vollständiges Kochbuch für alle Stände, 2. verb. u. verm. Aufl., Nürnberg 1841). Ansonsten findet man bis zur Jahrhundertmitte nur wenige Rezepte (Maria Katharina Daisenberger, Bayer’sches Kochbuch, T. 1, München, Paßau und Regensburg 1833, 245; Dass., 14. viel verb. u. verm. Aufl., München, Paßau und Regensburg 1837, 222-223). Erst um 1850 nahm deren Zahl und damit auch die Variationsbreite zu (Anna Berger, Pfälzer Kochbuch, Mannheim 1858, 39, 144 (Makkaronisuppen, Makkaroni) sowie 603, 607, 610 (als Beilagen in Menüs)).

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Makkaroni als Auflauf (Koller, 1851, 143-144)

Zur Jahrhundertmitte standen Makkaroni noch nicht für sich, wurden in Anlehnung an eigenes Essen als eine Art Knödel des Südens vorgestellt (Allgemeine Militär-Zeitung 28, 1853, Sp. 1205). Und doch erschienen sie seither vermehrt als „ein auf jeder Tafel sehr gern gesehenes Gericht“ (Die echten Maccaroni, Regensburger Conversations-Blatt 1859, Nr. 136 v. 13. November, 4). Nun erst galten Makkaroni auch als Hauptgericht mit Schinken oder Parmesankäse. Sie wurden vermehrt in Aufläufen verwendet (Anna Koller, Neuestes vollständiges Kochbuch, München 1851). Als Beilage zum Rindfleisch ersetzten sie nun Knödel. Zugleich nutzte man sie als Bestandteil süßer Speisen, als Substitut von Reis oder mit Milch (Christine Charlotte Riedl, Lindauer Kochbuch […], Lindau 1852; Dass., 4. vielverb. u. verm. Aufl., Lindau 1865).

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Makkaroni als Suppennudeln und mit süddeutscher Würzung (Riedl, 1852, 6 (l.); ebd. 168)

Seit der Jahrhundertmitte waren Makkaroni in süddeutschen Kochbüchern unverzichtbar, drangen auch in Speisezettel vor (Obermeier et al., Sailer’sches Familien-Handbuch, München 1865, 271ff.). Doch spätestens seit den 1860er Jahren galt das auch für die gängigen Kochbücher oberhalb des früheren Limes. Henriette Davidis (1801-1876) präsentierte in ihrem Kochbuch nach der Reichsgründung bereits ein knappes Dutzend Makkaronirezepte (Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, 19. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1874, 122, 203, 257, 274-276).

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Deutsche Rekombinationen: Makkaroni mit Backobst (Rhein- und Ruhrzeitung 1886, Nr. 94 v. 21. April, 6 (l.); Solinger Zeitung 1881, Nr. 35 v. 4. März, 3)

Diese langsame Diffusion gen Norden war begleitet vom Vordringen gedörrten Obstes, insbesondere den vielfach aus den USA stammenden Apfelringen, Trockenpflaumen und einer wachsenden Palette anderen Backobstes. Das war ein schnelles, einfaches und billiges, ein deutsches Mahl. Die häusliche Verbreitung der Makkaroni ging einher mit frühen Haushaltsgeräten. Nudelmaschinen waren seit spätestens den 1880er Jahren auch mit Makkaroniaufsätzen verbunden.

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Neue Haushaltsgeräte für den bürgerlichen Haushalt: Nudelmaschine mit Makkaroniaufsatz (Wiener Caricaturen 1884, Nr. 29 v. 20. Juli, 7)

Ein sich weitendes Angebot: Makkaroni im Handel und lokalem Handwerk

Die Analyse von Kochbüchern hat ihre engen Grenzen, gibt sie doch über die Küchenpraxis und auch den Alltagskonsum nur höchst indirekt Auskunft. Makkaroni waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch präsent – und zwar als Handelsgut und gewerblich hergestellte Fertigwaren. Während die Reiseberichte immer wieder den frischen Verzehr der Nudeln hervorhoben, wurden sie in deutschen Landen als lang haltbare und käufliche Trockenware heimisch.

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Direkt vom Italiener: Jahrmarktangebote südlicher Luxuswaren (Karlsruher Zeitung 1810, Nr. 169 v. 22. Oktober, 678)

Im frühen 18. Jahrhundert gab es jedoch nur vereinzelte „Makkaronifabriken“, also kleine Handwerksbetriebe. Der schon zitierte Schriftsteller Karl Friedrich Benkowitz (1764-1807) verwies in seinem Reisebericht auf nur auf zwei Orte in deutschen Landen, nämlich Wien und Dresden (Benkowitz, 1804, 100). Auch in Prag wurden Makkaroni gewerblich hergestellt (C. Kjärböll, Kulinarische Plauderei, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 71 v. 17. Februar, 7).

Weit wichtiger waren Jahrmarkthändler meist italienischen Ursprungs, die Kostbarkeiten ihrer Heimat auf den Messen an eine zahlungskräftige Kundschaft verkauften. Ihre Zahl war im 18. Jahrhundert deutlich gewachsen, in vielen rheinischen und bayerischen Städten repräsentierten sie den Fernhandel nach Italien (Anton Schindling, Bei Hofe und als Pomeranzenhändler: Italiener in Deutschland in der Frühen Neuzeit, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, München 1992, 287-294; Christiane Reves, Von Kaufleuten, Stuckateuren und Perückenmachern. Die Präsenz von Italienern in Mainz im 17. und 18. Jahrhundert, in: http://www.regionalgeschichte.net, urn:nbn:de:0291-rzd-006468-20202212-6). Dabei findet man die üblichen Spezialisierungseffekte: Während anfangs italienische Händler wie der oben annoncierenden J. Cesar Grandi Groß- und Einzelhandel miteinander kombinierten, übernahmen in der Folge vermehrt spezialisierte Luxus- und Kolonialwarenhändler die Geschäfte (Fürstlich Lippisches Intelligenz Blatt 1812, Nr. 17 v. 25. April, 132).

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Verstetigtes Südwarenangebot im Umfeld des Rastatter Hofes (Karlsruher Zeitung 1816, Nr. 22 v. 22. Juli, 202)

Während anfangs „Parmesankäs und Makkaroni“ (Karlsruher Zeitung 1814, Nr. 30 v. 30. Januar, 120) eine gleichsam naschbare Spezialität war, bot der Rastatter Händler Blasius Bauer schon ein breites Sortiment dauerhaft verfügbarer Feinkost aus ganz Europa. Auch Grandi folgte diesem Trend, denn in den 1820er Jahren bot er neben Käse und Makkaroni auch italienischen Reis, Maroni und Suppennudeln an (Karlsruher Zeitung 1822, Nr. 318 v. 15. November, 1476).

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Spezialitäten aus Italien – alljährlich auf der Messe (Würzburger Stadt- und Landbote 1858, Nr. 261 v. 2. November, 5)

Diese Jahrmarktpräsenz der Makkaroni lässt sich bis mindestens in die 1860er Jahre nachzeichnen (Ingolstädter Tagblatt 1863, Nr. 342 v. 9. Dezember, 1417). Sie stand im Einklang mit der wachsenden Bedeutung dieser regelmäßigen Verkaufsveranstaltungen bis zur Mitte des Jahrhunderts (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 35-36). Doch schon zuvor ging der Handel mit haltbaren Lebensmitteln aus fernen Landen an den stetig wachsenden stationären Ladenhandel über.

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Direktbezug aus Italien: Südwaren im Kolonialwarenhandel (Augsburger Tagblatt 1859, Nr. 308 v. 9. November, 6621)

Parallel konnten Interessenten spätestens seit den 1830er Jahren, wahrscheinlich aber schon deutlich früher, lokal hergestellte Makkaroni kaufen. Melber und Bäcker waren hierfür prädestiniert, nutzten die teils schon gelockerten Zunftrechte für die Herstellung auch von Makkaroni.

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Innovationen im engen Gestrüpp des Zunftwesens (Augsburger Tagblatt 1839, Nr. 334 v. 5. Dezember, 1518)

Entsprechende Absatzmärkte gab es einzig in den stetig wachsenden Städten. Als der Passauer Bäckermeister Rößl Ende der 1830er Jahre mit der Makkaronifabrikation begann, hieß es folgerichtig: „Da indeß der Absatz hier noch gering sein mag, so ist sein Fabrikat desto mehr auswärts zu empfehlen“ (Maccaroni-Fabrikation des Hrn. Rößl in Passau, Bayerische National-Zeitung 6, 1839, 106). Dabei hatte er sein junges Unternehmen echt italienisch ausgestattet, mit zwei dem eingangs gezeigten Makkaronistand nachempfundenen Werbeschildern. Noch aber waren die Preise zu hoch und/oder zu wenige bürgerliche Kunden vorhanden.

Doch die Zahl deutscher Produktionsstätten nahm seither langsam zu. Eine Ausstellung im Karlsruher Gewerbeverein präsentierte 1840 bereits heimische Makkaroni und verwies auf das Vorbild der Nachbarn: „Hessen besitzt von diesen Artikeln bereits mehrere bedeutende Fabriken“ (Allgemeine Polytechnische Zeitung und Handlungs-Zeitung 1840, 199). Ein Jahrzehnt später gewann dann gar ein fern im Norden ansässiger Fabrikant, Wittekop aus Braunschweig, Preise auf internationalen Ausstellungen. Ähnliches galt für die Firma Teichmann in Erfurt (Mittheilungen des Gewerbe-Verein für das Königreich Hannover NF 1853, Sp. 133). Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die deutlich größere Nachfrage in Süddeutschland von lokalen Produzenten befriedigt wurde.

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Deutsch und italienisch: Doppelangebot von Makkaroni in Sachsen und dem Rheinland (Wochenblatt für Pulsnitz 1867, Nr. 50 v. 22. Juni, 201 (l.); Solinger Kreis-Intelligenzblatt 1866, Nr. 21 v. 14. März, 3)

Wurden diese Angebote anfangs unter dem allgemeinen Begriff „Makkaroni“ angeboten, ihre Güte mit der italienischer Makkaroni verglichen, so findet man spätestens ab den 1850er Jahren Annoncen „deutscher“ Makkaroni (Rhein- und Ruhrzeitung 1853, Nr. 127 v. 1. Juni, 4). Sie sollten ein Vorbote sein, denn die Durchsetzung der Makkaroni in deutschen Landen wurde von heimischen Produkten getragen, lediglich ergänzt durch die Importware aus Italien.

Risse im deutschen Italienbild

Die italienische Makkaronikultur wurde auch nach der Jahrhundertmitte weiter beschrieben, teils weiter gefeiert. Doch die Schilderungen waren nicht mehr neu, wurden teils gar als peinlich empfunden. Die Reisenden erkannten, dass auch sie beobachtet wurden, dass die Einheimischen für sie posierten: „Wer kennt nicht die entsetzlichen Aufschneidereien über das Maccheroni-Essen“ (Reisebilder auf der Heimkehr. (Fortsetzung.), Carinthia 37, 1847, 135-136).

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Der kontinuierliche Charme des Straßenverkaufs in Neapel (Neue Illustrirte Zeitung 33, 1875, Nr. 14, 9)

Das heißt nicht, dass sich in den auch weiterhin zahlreichen Berichten nicht immer noch die alten Themen wiederfinden lassen: „Nur immer allegro! O glückliches südliches, sanguinisches Temperament!“ (Ebd.; Aus den Abruzzen. I., Das Ausland 23, 1850, 29-31) galt weiterhin als passable Charakterisierung der Szenerie Neapels; und wie beim Affeneinsatz in Zirkus und bei Drehorgelmusik hieß es: „Neapel besitzt das lustigste Bettelvolk von der Welt“ (Regensburger Conversations-Blatt 1857, Nr. 50 v. 26. April, 4).

Und doch änderten sich seither mindestens vier Aspekte. Erstens beschrieben die Beobachter auch die neapolitanischen Verhältnisse verstärkt unter nationalen Aspekten, spiegelten damit den Nationalismus dieser Zeit und die wachsende Mächterivalität nach der staatlichen Einigung Italiens und der kleindeutschen Neuordnung Deutschlands unter preußischer Dominanz. Makkaroni trat als Schlachtruf an die Seite des französischen „Honneur et Patrie“ oder des polnischen „Wolnose i Niepodleglosc“ (Arthur Mueller (Hg.), Franz Freiherr Gaudy’s praktische und prosaische Werke. Neue Ausgab., Bd. 7, Berlin 1854, 47-56, hier 50). Makkaroni galt vorher schon als italienische Nationalspeise, doch nun wurde diese Zuschreibung weiter zementiert und durch die Staatsgründung unterfüttert: „Maccaroni! jedem echten Italiener von jenseits des Rubicon pocht das Herz bei diesem Namen“ (Ludwig Goldhahn, Aesthetische Wanderungen in Sicilien, Leipzig 1855, 255). Das lässt sich auch in der europäischen Populärkultur wiederfinden: Während Gioachino Rossini (1792-1868) im 1816 uraufgeführten Barbier von Sevilla die Makkaroni als Speise des Südens, als „Labsal in diesem Jammerthal“ feierte (L[eopold] K[arl] von Kohlenegg, Il Barbiere di Seviglia, in: Ders., Gesammelte Dramatische Bluetten, Stuttgart 1872, 212), stellte Jakob „Jacques“ Offenbach (1819-1880) die Makkaroni in den Kontext des Risorgimento. Seine komische Operette Coccoletto oder Die vergiftete Nudel endete mit dem Schlussgesang „Blühe, blühe und gedeihe / Maccaroni, immerdar!“ (Ed[uard] Bote und G[ustav] Bock, Coscoletto, der Lazzarone. Komische Operette in 2 Acten. Musik von J. Offenbach, Berlin 1868, 63), feierte den Frohsinn der neapolitanischen Unterschicht und schuf ein ironisches Abbild des neuen Italiens.

Zweitens weitete sich der deutsche Makkaroniblick zunehmend in das Kraftzentrum des neuen Staates. Im Norden aber untersuchte man nicht mehr die Lazzaroni, sondern das Bürgertum: „Ihr Anzug war untadelhaft: neuer Hut, schwarze Kleider, goldene Ketten, Handschuhe, Ringe an den Fingern, nichts fehlte. Die Speisekarte lag neben ihnen“ – und natürlich aßen sie ihre Makkaroni mit Gewandtheit, Gabeln und im Restaurant (Turiner Eindrücke, Ost-Deutsche Post 1864, Nr. 86 v. 26. März, 1). Makkaroni wurden eine zunehmend respektable Speise für kultivierte Menschen.

Drittens nahm man angesichts der seit den 1870er Jahren intensivierten deutschen Debatten über die soziale Frage zunehmend die Armut und das Elend der süditalienischen Bevölkerung wahr (W[ilhelm] v. Wymetal, Spaziergänge in Neapel […], Zürich 1877, 56-57). Armut war nicht anheimelnd, Lumpen dem Menschen unwürdig, die relative Armut selbst etablierter Familien erschien in Deutschland zunehmend problematisch (Neapel und seine Zustände. II, Die Gartenlaube 1857, 85-87, hier 86). Man erinnerte sich auch daran, dass Garibaldi, der als Seemann mehrere Fahrten in die Hartweizenregion Taganrog unternommen hatte, als Sozialrevolutionär die Beichtstühle in Stück schlagen wollte, um „die Makkaroni der armen Leute zu kochen“ (Der Bayerische Landbote 45, 1869, Nr. 302 v. 29. Oktober, 3). Armut bedroht(e) tendenziell bürgerliche Herrschaft.

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Der Skandal der Armut: Straßenkinder in Neapel, ca. 1890 (Foto der Gebrüder Alinari, Florenz, Wikipedia)

Viertens schließlich wurde der Süden zunehmend seiner Romantik entkleidet, erschien die dortige Makkaroniproduktion als rückständig und gesundheitsgefährdend (Genrebilder, 1846, 290). Die Trocknung glich nicht mehr länger einem auf Stangen ausgebreitetem Engelshaar, sondern als „wimmelndes Meeting lüsterner Fliegen auf […] gelben Teppichen“ (Goldhahn, 1855, 52). Im anbrechenden Zeitalter der Bakteriologie gab es neue Sensibilitäten angesichts der schwarzen Fliegenscharen: „Der Leser, welcher nebenbei ein Maccaronifreund ist – soll sich durch diese auffälligen Fliegen nicht im mindesten um seine Freude bringen lassen, denn es sind recht schöne, große, dicke, staatliche [sic!] Fliegen, und zudem genügsam, denn sie fressen ja nicht alles auf, sondern lassen immer noch soviel zurück, daß die Maccaronifreunde der ganzen Welt vollkommen genug bekommen können“ (Sebastian Brunner, Heiterte Studien in und über Italien, Bd. 1, Wien 1866, 255). Hinzu kamen die hygienischen Probleme durch die Hersteller, wurde der Teig doch auf offener Straße „von halbnackten Bengeln mit viel Mühe geschlagen, […] von grösseren fast unbekleideten Männern gepresst und mit wundersam altertümlichen Maschinen in die verlangte Form gebracht“ (F. Adler, Reisebriefe aus Italien. IV., Wochenblatt-Architekten-Verein zu Berlin 1, 1867, 114-117, hier 116). Dreck und fehlende Körperhygiene traten als gängige Marker der Unterschichten hervor, trennten die Erlebniswelt der Besucher von der Alltagswelt der Einheimischen. Da war der Weg zu anderen Imaginationen des Südens nicht mehr weit, war die „Lazzaroni- und Makkaronistadt“ doch auch eine „der Messerhelden und Kamoristen“ (Kölner Sonntags Anzeiger 1888, Nr. 613 v. 22. Juli, 2).

Trotz derartige Risse im deutschen Italienbild blieb die Faszination des Fremden aber weiterhin bestehen: Ein wenig geläutert blickte man auf die „Schooßkinder der Natur“, die „nur mitleidig auf jene nordischen Brüder sehen, die sich mit harter Arbeit, mit eisernem Fleiße im Kampfe um das Dasein bewähren müssen“ (Bilder, 1875). Das fremde Volk, es tanzte weiterhin durch die Straßen, um die Makkaronikessel: „Das Gewühl, der Oelgeruch, der Lärm, die Musik von Drehklavieren, Guitarren und Mandolinen, die Ausgelassenheit ist unbeschreiblich. Und das geht Tag für Tag, Abend für Abend so“ (Julius Stinde, Buchholzens in Italien, 27. Aufl., Berlin 1885, 115).

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Maschineneinsatz in einer mittelständischen italienischen Makkaronifabrik (Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239)

Die Kritik der Besucher lag im Trend der Zeit. Und ihr weiter dominant auf Neapel gerichteter Blick übersah viele Veränderungen just im Land der Makkaroni (Verfahren bei der Nudelfabrication in Italien, Dinglers Polytechnisches Journal 90, 1843, 80). Seit der Mitte des Jahrhunderts modernisierte sich die italienische Nudelindustrie, ermöglichten Eisenbahnen und Dampfschiffe Exporte in ganz anderen Größenordnungen, erforderte die zunehmende Urbanisierung des Nordens industriell gefertigte Angebote (Giancarla Gonizzi, La Pasta: un po’ di storia, in: Ders. (Hg.), Barilla. Centoventicinque anni di pubblicità e communicazione, Parma 2003, 1-18, hier 10-12; Giancarla Gonizzi, La technolgia del pastificio, in: ebd., 19-34). Aus lokalen handwerklichen Anfängen entwickelte sich eine exportfähige Großindustrie: Buitoni wurde 1872 gegründet, Barilla 1877, De Cecco 1886, Divella 1890, allesamt abseits von Neapel. Von den großen italienischen Herstellern reicht einzig Rummo weiter, bis 1846, zurück. Diese Firmen trugen und beschleunigten einen generellen Wandel der italienischen Kost, die immer weniger durch ländliche Märkte und handwerkliche Kleinproduktion gekennzeichnet war, sondern durch anonyme Absatzstrukturen für urbane Massenmärkte (John Dickie, Delizia! The Epic History of the Italians and their Food, London 2007, 197-232; Emanuela Scarpellini, Food and Foodways in Italy from 1861 to the Present, Houndmills 2016, 1-51). Die Makkaroni blieben dennoch italienisch, blieben Nationalspeise, mochte der Hartweizen auch zunehmend aus Russland stammen und die Maschinen vornehmlich aus der Schweiz, England, Österreich und auch Deutschland importiert werden.

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Maschinen für die Teigarbeit: Hydraulische Pressen englischer und deutscher Hersteller (Dinglers Polytechnisches Journal 159, 1861, Taf. VII (l.); Kick, 1873, p. II)

Deutsche Makkaroni – Vielgestaltige Substitute des italienischen Originals

Die neuen italienischen Firmen exportierten ihre Waren auch ins Deutschen Reich. Doch sie erlangten hier keine dominante Stellung, denn deutsche Makkaroni waren billiger, entsprachen eher den lokalen Speisegewohnheiten, mundeten der Mehrzahl offenbar besser: Um die Jahrhundertwende hieß es, „wer keine italienischen Maccaroni mag, für den gibt es deutsche Makkaroni“ (Münchner Neueste Nachrichten 1902, Nr. 190 v. 24. April, General-Anzeiger, 8).

Anders als etwa beim deutschen Rum, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Rübenzucker destilliert wurde und sich trotz niedriger Preise beim Publikum nicht durchsetzen konnte, versuchten die Hersteller hierzulange bei den Makkaroni keine ähnlichen Substitute. Bemühungen, sie aus einer Kartoffelgrundmasse herzustellen, blieben auf Frankreich begrenzt (Herrn Ternauxs Trokenstuben zu Maccaroni aus Erdäpfeln, Dinglers Polytechnisches Journal 10, 1823, 114). In Deutschland schritt man stattdessen zur Eigenproduktion aus heimischen Weichweizen. Dieser stand in der Tradition von Einkorn, Emmer und Dinkel, sein Anbau war im 19. Jahrhundert noch auf die südlichen Regionen Deutschlands begrenzt. Deutsche Makkaroni hatten anfangs daher deutlich andere küchentechnische Eigenschaften. Ihnen fehlte die für das italienische Referenzprodukt typische Festigkeit und Bissstärke.

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Makkaroni aus Standardmehl lokal hergestellt (Bayerische Landbötin 1841, Nr. 142 v. 27. November, 1242)

Die lokale Produktion konnte – wie in Neapel auch – eine größere Nachfrage bedienen. Im Münchner Konsum-Verein von 1864 wurden 1867 4949 Pfund, 1868 dann 9328 Pfund bezogen (Consum-Verein München. Rechenschaftsbericht über das IV. Quartal des Jahres 1867 und Jahresbericht für 1868, München 1868, 4). Gleichwohl blieben die frühen Makkaroni-„Fabriken“ klein. 1882 gab es in München derer siebzehn, doch in ihnen arbeiteten (inklusive der Besitzer) lediglich 30 Personen (Mittheilungen des Statistischen Bureaus der Stadt München 7, 1884, 234). Zugleich muss man sich vor Augen führen, dass diese kleinen Anbieter Makkaroni als Dachbegriff für eine breitere Formenpalette nutzten: „Sie bestehen in einer Art von Nudeln aus dem feinsten Weizenmehle, die in röhren- oder stengelartiger Form, in viereckigen, gewundenen, flachen u.s.w. Gebilden auf eigenen Maschinen bereitet werden“ (Karl Ruß, Waarenkunde für die Frauenwelt, T. 1, Breslau 1868, 318).

Wie in Italien begann eine breitere Maschinisierung der Produktion deutscher Makkaroni in den 1860er Jahren. Sie erst erlaubte billige Produkte (Prämirte Ausstellungs-Objecte, Wiener Weltausstellungs-Zeitung 3, 1873, Nr. 281, 1-2, hier 1). Schon auf der Londoner Industrie- und Kunst-Ausstellung 1862 gewannen drei deutsche Makkaroni-Fabrikanten – Bassermann, Herrschel und Dieffenbacher (Mannheim), Wittekop & Co. (Braunschweig) und C.L. Brede, Hannover – Medaillen (Amtlicher Bericht über die Industrie- und Kunst-Ausstellung zu London im Jahre 1862, H. III, Berlin 1864, 249). Das waren noch Ausnahmen. Doch auf der Wiener Weltausstellung 1873 wurde genau registriert, dass nach der Hochmüllerei nun auch die Teigwarenfabrikation Deutschlands international konkurrenzfähig zu sein schien (Friedrich Kick, Mehl, Mehlfabricate und die Maschinen und Apparate der Müllerei und Bäckerei (Gruppe IV, Section I.), Wien 1873, 4; Wilhelm Stäuber, Die Teigwarenindustrie, 3. verb. u. verm. Aufl., Wien und Leipzig 1925, 1). Das galt vor allem preislich: Gängige, aus heimischem Weizen hergestellte Faden-, Band- und auch Hohlnudeln kosteten weniger als die italienische Importware. In München hatte man für ein Pfund 1870 20 Kreuzer zu zahlen, für die deutschen Angebote dagegen nur 12½ Kreuzer (Consum-Verein München. Waaren-Preise März 1871, München 1871, 2; 1872 18 Kreuzer vers. 13 resp. 14 Kreuzer (Dass. April 1872, 2)).

20_Der Ortenauer Bote_1865_12_16_Nr123_p3_Leipziger Tageblatt 1883_03_15_Nr074_p7_Nudeln_Makkaroni_Deutsche-Makkaroni_Sauerkraut

Zwei Herkunftsländer – zwei Makkaroniarten (Der Ortenauer Bote 1865, Nr. 123 v. 16. Dezember, 3 (l.); Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 74 v. 15. März, 7)

Diese höhere Preise wurde jedoch noch gezahlt, da sich die italienischen Waren „infolge der Verwendung kleberreichen Weizens […] beim Kochen weniger leicht auflösen und breiig werden“ (Kjärböll, 1907). Daher begannen die deutschen Hersteller in den 1870er Jahren ihre Rohstoffgrundlage zu erweitern und vermehrt Hartweizengrieß einzuführen – parallel zum damals intensiv diskutierten Wandel Deutschlands vom Getreideexport- zum Getreideimportland. Die neu gegründete hessische „Fabrik deutscher Maccaroni“ von August Frommel annoncierte selbstbewusst: „Unsere Maccaroni sind aus demselben Rohmaterial und auf gleiche Weise wie in Neapel bereitet; bei großer Nahrhaftigkeit haben sie den der ächten Maccaroni eigenthümlichen fleischartigen Wohlgeschmack“ (Der Bazar 21, 1875, 102). Der Hartweizen sei eben „kein italienisches Bodenerzeugnis“, entsprechend müsste man sie im Deutschen Reich in mindestens gleicher Qualität produzieren können (Ein Volksnahrungsmittel, Illustrirte Welt 29, 1881, 311).

Es sollte allerdings noch etwas dauern, bis Hartweizengrieß allgemein für deutsche Makkaroni verwandt wurden – aufgrund der dafür notwendigen leistungsfähigeren Maschinen, aber auch der andersartigen, nicht allen Konsumenten zusagenden Textur. Ein weiterer Grund lag in einer zeittypischen Innovationskultur. Fortifizierung, also die Wertsteigerung eines Produktes durch Zusatz von Nahrungsstoffen, war trotz der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten seit Mitte des Jahrhunderts zunehmend üblich. Das galt für Schokoladen, die mit Mineralstoffen und Milcheiweiß versetzt wurden. Das galt in noch stärkerem Maße für die Säuglingsnahrung und die vielgestaltigen Suppenpräparate. Eiweißzusätze, meist getrocknet und zermahlen, waren dabei besonderes wichtig. Die neuere organische Chemie pries sie als Muskelbildner, als wichtigste Nährstoffgruppe. Im Vorfeld der Pariser Weltausstellung griffen französische Hersteller dies auf, die Reststoffe der Weizenstärkeproduktion nutzten (C. v. Salviati (Hg.), Berichte über den landwirthschaftlichen Theil der Pariser Welt-Ausstellung von 1867, Bd. 1, 37). In deutschen Landen trat ab 1869 die Hammer Stärkefabrik Robert Hundhausen hervor, die ihren Kleber anfangs als Viehfutter verkaufte. Neue Absatzmöglichkeiten wurden getestet, darunter später fortifizierte Brote und Diabetikernahrung. Doch die Konkurrenz schlief nicht: Der Kölner Stärkefabrikant Carl August Guilleaume (1820-1894) nutzte seine Kleberreste seit 1877 zur Herstellung von Makkaroni von – aus ihrer Sicht – nie geahnter Vollkommenheit.

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Stolze Beschwörung überlegener Qualität: Guilleaumes mit Klebereiweiß angereicherte Makkaroni (Kölnische Zeitung 1877, Nr. 191 v. 11. Juni, 8)

Diese Makkaroni seien dem italienischen Vorbild mindestens ebenbürtig, an sich aber überlegen. Durch den Zusatz hänge deren Zusammensetzung „nicht mehr von der Beschaffenheit der Weizensorte ab […], sondern es [stehe, US] dem Fabrikanten frei[…], den Klebergehalt der Maccaroni etc. und also deren Güte zu erhöhen“ (Jahresbericht über die Leistungen der chemischen Technologie […] für das Jahr 1877 23, 1878, 645). Anders als die italienischen Makkaroni seien diese Produkte von überlegender Reinlichkeit, da durch saubere Maschinen erstellt und nicht länger auf der Straße getrocknet. Auch „an Reinheit des Geschmackes“ überträfen sie das frühere Vorbild (Volksnahrungsmittel, 1881).

Die fortifizierten Makkaroni waren allerdings dunkel, dunkler jedenfalls als gängige Nudeln und aus heimischem Weizen produzierte Makkaroni. Entsprechend testete Guilleaume weiter: Zum einen nutzte er seit Anfang der 1880er Jahre auch das Fleischpulver Carne Pura, das damals als preiswerter Ersatz des frischen Fleisches propagiert wurde. Zum anderen aber verwandte er zunehmend auch importierten Hartweizen. Er wollte seine Makkaroni dadurch zu einem Volksnahrungsmittel machen, zu einem Substitut für die so dominante Kartoffel. Deutscher Erfindergeist und deutsche Technik schienen eine neue Ernährungskultur zu ermöglichen: „Alle Kennzeichen vorzüglicher Maccaroni, Schwere, gerader, glänzender, horniger Bruch, helle durchscheinende Farbe, Elastizität, das Behalten der Röhrenform beim Kochen, unter Aufquellen bis zu ihrem dreifachen Durchmesser, ohne dabei kleisterartig zu werden, der bouillonartige Geschmack finden sich bei den Guilleaume‘schen Maccaroni wie bei den allerbesten Italienischen“ (J[ulius] Stinde, Special-Catalog für den Pavillon Carne Pura […], Berlin 1882, XVIII). Der Eiweißgehalt stieg auf bis zu 21 %, während die italienischen Makkaroni bei etwa 13 % lagen.

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Deutscher Sieg im internationalen Makkaroniwettstreit (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 359 v. 28. Dezember, 8)

Doch Guilleaumes technisch-wissenschaftliche Utopie scheiterte, „weil die Farbe der Nudeln etwas dunkler und das Vorurtheil der Käufer in diesem Punkte nicht zu überwinden war“ (Marie Ernst, Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker, Bd. 1, Leipzig 1886, 297). Hinzu kam die aus heutiger Sicht kaum ausgefeilte Werbung, die von den Vorteilen der Ware sprach, die Interessen der Käufer aber ignorierte. Noch war die Vorstellung verbreitet, dass sich ein überlegenes Produkt auch einen Markt erobern würde. Das war irrig, schon das technisch durchaus versierte Liebig-Horsfordsche Backpulver war daran gescheitert. Guilleaume schaltete zudem massenhaft Anzeigen über sein aus Makkaroni- und Nudelresten gefertigtes Tierfutter, unterminierte so Vertrauen in den Absatz und die Qualität seiner Angebote (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 65 v. 6. März, 3; ebd. 1888, Nr. 60 v. 29. Februar, 8). Aufgelöst wurde die Firma im Juli 1887, doch die Geschäfte dürften schon seit Anfang der 1880er Jahre schlecht gelaufen sein (Kölnische Zeitung 1887, Nr. 186 v. 7. Juli, 8).

Fortifizierte Makkaroni mit Klebereiweiß standen für die wachsende Bedeutung der Wissenschaft, insbesondere von Physiologie und Chemie. Gesunde, stofflich optimierte Nahrung sollte die natürlichen Vorteile der „guten Luft“ des Südens ausgleichen – und bestätigte zugleich, dass Makkaroni, diese „gebenedeite Speise“, „Gesundheit und Kraft“ gäben (Zitate n. Karl August Mayer, Neapel und die Neapolitaner oder Briefe aus Neapel in die Heimat, Bd. 2, Oldenburg 1842, 378). Das war jedenfalls das Ergebnis erster Ausnutzungsversuche im Münchener physiologischen Institut, damals das Innovationszentrum der frühen Ernährungswissenschaft. Max Rubner (1854-1932) – der bis heute für den Nobelpreis meistnominierte Wissenschaftler, der ihn nie erhalten hat – bestätigte Guilleaumes Werbetexte. Durch seine deutschen Makkaroni sei es möglich „viel Eiweiss zuzuführen und den Eiweissgehalt des Körpers zu erhalten, was mit den gewöhnlichen Maccaroni nicht möglich war“ (Ueber die Ausnützung einiger Nahrungsmittel im Darmcanale des Menschen, Zeitschrift für Biologie 15, 1879, 115-202, hier 166). Er empfahl sie daher als billigen Eiweißträger für Volksküchen, Waisenhäuser und der Militärkost (so auch Aug[ust] Guckeisen, Die modernen Principien der Ernährung nach v. Pettenkofer und Voit, Köln 1880, 47-48). Das war ein Ritterschlag für deutsche Technik, spiegelte zugleich aber die innere Rationalität der italienischen Alltagskost.

Diese Untersuchungen unterstrichen aber zugleich den Bruch, den das naturwissenschaftliche Stoffmodell sowohl für die Alltagskost, als auch die Bewertung der Makkaroni mit sich brachte. Speisen waren nicht mehr Ausdruck von Kultur, verankert im Leben und Arbeiten klar benennbarer Gruppen. Italienische Makkaroni wurden als Eiweißträger gewürdigt, konnten als Eiweißträger aber nachgemacht, substituiert und übertroffen werden. Die Folge waren die seither gängigen Vorstellungen einer wissenschaftlichen Optimierung einer Alltagskost, deren innere Rationalität nicht länger interessierte – es sei denn, sie wäre kommerziell und medial nutzbar. Man hoffte im Deutschen Reich, dass die neue deutsche Makkaroniindustrie, „namentlich wenn sich die Ansichten über rationelle Ernährung mehr Bahn brechen und der Werth ihrer Erzeugnisse als Ersatz für die oft gar zu massenhafte, inhaltslose und darum theure Kartoffelnahrung mehr erkannt wird, von nicht geringer Bedeutung werden kann“ (Die chemische Industrie 3, 1880, 327). Die oberhalb des Mains dominante Ernährung mit „unnahrhaften Kartoffeln“ (Volksnahrungsmittel, 1881) stand für Produzenten und Wissenschaftler zur Disposition. Doch selbst Italienreisende zogen da nicht mit, denn trotz ihres Lobpreises der dortigen Makkaroni finden sich in den Reiseberichten immer wieder Verweise auf „die nordischen Kartoffeln“ und auch der Sehnsucht nach “einer vernünftigen Salzkartoffel“ (Von der Saale zur Tiber. (Schluß.), Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1886, Nr. 12 v. 8. Januar, 1).

Die wachsende Bedeutung derart reduktionistischen stofflichen Denkens ermöglichte aber auch den Bedeutungsgewinn der deutschen Eier-Makkaroni. Eiernudeln waren bereits im späten 18. Jahrhundert eine Nürnberger Spezialität (Meyfeld und Enners, 1792, 32), doch dominierte die häusliche Herstellung des Suppenteigs aus heimischem Weizen, Butter und Eiern (Joseph König, Geist der Kochkunst, ueberarb. u. hg. v. C[arl] F[riedrich] von Rumohr, Stuttgart und Tübingen 1822, 59). Als gewerbliche Ware finden sie sich um 1830 beidseitig am Oberrhein und in der Schweiz (Zürcherisches Wochen-Blatt 1831/32, Nr. 41 v. 23. Mai, 3; Wochenblatt für die Amtsbezirke Offenburg […] 1840, Nr. 9 v. 28. Februar, 61). Nordbaden und das Rheinland folgten mit gebührendem zeitlichem Abstand (Karlsruher Tagblatt 1850, Nr. 141 v. 26. Mai, 729; Bonner Zeitung 1851, Nr. 302 v. 23. Dezember, 3).

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Eiernudeln als regionale Spezialität (Allgemeines Intelligenz-Blatt der Stadt Nürnberg 1826, Nr. 35 v. 22. März, 349)

Der Zusatz von Eiern zum Weizenteig – zwei bis drei Eier pro Pfund – ergab eine geschmacklich ansprechende, gelbliche Ware mit einem relativ hohen Eiweißgehalt; in gewisser Weise ersetzten die Eier den höheren Eiweißgehalt des Hartweizens italienischer Nudeln. Angesichts der ja auch öffentlich geführten Debatten über den Nährwert der Makkaroni ist es nicht verwunderlich, dass Eier-Makkaroni in den 1880er Jahren in den Anzeigen der Tageszeitungen auftauchten.

24_Duesseldorfer Volksblatt_1882_03_31_Nr088_p3_Kolonialwarenhandlung_Makkaroni_Eier-Makkaroni_Nudeln_Pflaumen_Backobst_Heinrich-Jürgens

Zwei bis drei Eier für das Pfund Makkaroni (Düsseldorfer Volksblatt 1882, Nr. 88 v. 31. März, 3)

„Deutsche Eier-Maccaroni“ (Kölner Sonntags-Anzeiger 1888, Nr. 592 v. 26. Februar, 10) waren anfangs wohl eher ein Marketingbegriff, Ausdruck überlegener heimischer Ware. Man verwandte die Hohlform, verkaufte die Langform, verarbeitete aber heimisches Mehl. Schon bald galten sie als die eigentliche „Deutsche Makkaroni“ (Eduard Baltzer, Vegetarianisches Kochbuch […], 10. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1891, 66). In den Anzeigen wurde jedoch weniger die nationale Karte gespielt als vielmehr der Hinweis auf den wertgebenden Eierzusatz. Schließlich waren Eier-Makkaroni deutlich teurer als deutsche Makkaroni sowohl aus Weich- als auch aus Hartweizen.

25_Karlsruher Tagblatt_1887_06_16_Nr162_p2109_Makkaroni_Eier-Makkaroni_Konsumgenossenschaften

Zwischen Italien und Deutschland: Eier-Makkaroni (Karlsruher Tagblatt 1887, Nr. 162 v. 16. Juni, 2109)

Die wachsende Auffächerung des Angebots deutscher Makkaroni – aus heimischem Weich- oder importiertem Hartweizen, mit Klebereiweiß oder Eiern – ging allerdings zu Lasten der Marktsicherheit. Makkaroni war nie ein klar definiertes Produkt gewesen, variierte in Form, Länge und Zusammensetzung. Angesichts fehlender Kennzeichnungspflichten mussten die Konsumenten ihren Sinnen und ihren Händlern trauen – oder aber der wachsenden Zahl regional präsenter Fabrikanten: Magdeburg, Halle a.S., Berlin, Dresden, Harzburg oder Köln waren deren Firmensitze (Brockhaus‘ Conversations-Lexikon, 13. vollst. umgearb. Aufl., Bd. 11, Leipzig 1885, 302). Makkaroni waren zwar Vorreiter verpackter Ware, wurden aber noch vielfach lose verkauft. Im Handel schied man zudem zwischen unbeschädigter Ware und sog. Bruch-Makkaroni – weniger ansehnlich, billiger, aber von gleichem Nährwert. Frühe Händlermarken bestanden, nicht aber überregional erfolgreiche Markenartikel (Chocolade- und Cacao-Fabrik von Lobeck & Co., Illustrirte Curorte-Zeitung 1893, Nr. 14 v. 20. August, 9).

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Visuelle Rückständigkeit: Neapolitanischer Makkaronistand im späten 19. Jahrhundert (Gartenlaube 1898, 852)

Hinzu kamen die Errungenschaften der modernen Teerchemie. Die gelbe Farbe der Eiernudeln wurde schon früh mit natürlichen Farbstoffen unterstützt. Teerfarben waren billig, aber giftig. Sie wurden durch Farbengesetz von 1887 teils verboten, doch für Eier-Makkaroni gab es gewichtige Ausnahmen. Erst nach der Jahrhundertwende wuchs sich das Ringen um die Gelbfärbung der Nudeln zu einem Grundsatzkampf zwischen Nahrungsmittelkontrolle und der Teigwarenindustrie aus (A[dolf] Juckenack, Ueber die Untersuchung und Beurtheilung der Teigwaren […], Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 3, 1900, 1-17). Die Konsumenten konnten nie sicher sein, was sich hinter dem schillernden Begriff der Eiernudel, der Eier-Makkaroni verbarg (Fred Hood, Maccaroni und Konsorten, Kochkunst 6, 1904, 341-344, hier 341). Die Händler behalfen sich mit Hinweisen wie „nicht gefärbt“ oder aber „echt“ (Sächsischer Landes-Anzeiger 1889, Nr. 102 v. 3. Mai, 4), doch diese waren nicht immer glaubwürdig. Deutsche Makkaroni waren wahrlich vielgestaltig.

Diese Unsicherheit begrenzte die Verbreitung der deutschen Makkaroni, doch die wachsende Produktion führte dennoch zu einer immer breiteren Akzeptanz. Kochbücher enthielten nicht mehr länger eine Handvoll Rezepte, stattdessen konnte man durchaus zwanzig verschiedene Zubereitungsformen finden (Anna Oppre, Das neue Kochbuch für das deutsche Haus, Augsburg 1879). Weiterhin wichtig waren Suppenrezepte, nun nicht nur in Fleischbrühsuppen, sondern auch in Eintöpfen aus Erbsen oder Pastinaken. Neben den Nudeln etablierten sich die Makkaroni immer stärker als Beilage zu verschiedenen Fleischarten, aber auch Ragouts. Aufläufe blieben wichtig, ebenso Süßspeisen. Entsprechende Rezepte erschienen seither auch in den nun entstehenden hauswirtschaftlichen Zeitschriften (Die Hausfrau 3, 1879, Nr. 12, 2-3). Doch das Wirken der Frauen wurde natürlich überstrahlt von der Tafel der Allerhöchsten Majestäten.

Friedrich III. aß trotz Kehlkopfkrebs Beefsteak mit Makkaroni (Das Befinden des Kaisers, Rheinischer Merkur 1888, Nr. 97 v. 30. April, 1). Sein Nachfolger Wilhelm II. speiste kurz darauf bei seinem geliebten Frühstück „nach englischer Sitte“ Makkaroni mit Leber-Haschee, erfreute sich an deutschen Makkaroni in den von Ihm geschätzten klaren Suppen (Bensberg-Gladbacher Anzeiger 1890, Nr. 20 v. 8. März, 2). Wen wundert es da, dass die Makkaroni auch vom gehobenen Bürgertum verspeist wurden: gefüllt natürlich, gemeinsam mit Kaviar, Flusskrebsen oder Hummer (Paul von Schön[xxx], Aus der deutschen Reichshauptstadt, Münchner Neueste Nachrichten 1889, Nr. 11 v. 8. Januar, 1-2, hier 2). Die Makkaroni hatten sich in Deutschland – wie schon zuvor in Italien – abseits der Unter- und Mittelschichten etabliert; allerdings nicht als lange, schwer zu handhabende Röhren, sondern kleiner vorportioniert.

Parallel etablierten sie sich nun auch in der Krankenkost. Sie galten als „eine ganz nahrhafte, leichtverdauliche Speise, wenn sie gut durchgekocht werden“ ([Ludwig] Disque, Die diätetische Küche, Leipzig 1894, 40). Weich mussten die Makkaroni sein, sehr weich. Das bedeutete wahrlich eine ganze Stunde Kochzeit (Max Jahn, Häusliche Krankenpflege, Stuttgart 1887, 51). Zudem fanden sie sich in der Militärkost; als Menagespeise, nicht aber in den Verpflegungsvorgaben bzw. der Eisernen Portion. Da konnten, zumindest im Süden, Bäckereien kaum nachstehen. Makkaroni-Plätzchen galten als regionale Spezialitäten, auch Makkaroni-Torten und -Gebäck wurden angeboten (Peppi Bierhuber, Ein Tag in Regensburg, Regensburg s.a. [1880]; Rosenheimer Anzeiger 1907, Nr. 30 v. 6. Februar, 4). Im späten 19. Jahrhundert hatten sich die Makkaroni im Deutschen Reich allgemein durchgesetzt, wenngleich sie weder an Reis, noch gar an die Kartoffeln heranreichten (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20). Verlässliche Zahlen fehlen, da die Weizenverwendung nicht zurechenbar ist und Produktionsziffern nicht vorliegen.

Italien als armes und rückständiges Land

Italien war zu dieser Zeit ein Bundesgenosse des Deutschen Reichs, mochte der 1882 geschlossene Dreibund (mit Österreich-Ungarn, dann auch mit Rumänien) auch nicht sehr eng gewesen sein. Die Rückdeckung dieser Mächte ermöglichte dem industriell rückständigen Land eine nicht sehr erfolgreiche Kolonialpolitik in Nord-, vor allem aber in Ostafrika. Eine Großmacht wurde Italien nicht, trotz der sich im Norden langsam entwickelnden Industrie.

27_Gartenlaube_1898_p0852_Fastfood_Nudeln_Makkaroni_Straßenverkaeufer_Neapel

Visuelle Rückständigkeit: Neapolitanischer Makkaronistand im späten 19. Jahrhundert (Gartenlaube 1898, 852)

Nach wie vor bildeten die Makkaroni ein wichtiges Symbol für die deutsche Vorstellung des südlichen Landes. Die Veränderungen in der Fabrikation wurden dabei kaum berücksichtigt. Stattdessen würzte man Reiseberichte immer noch mit den alten Vorstellungen der „lüstern auf die langen gelben Makkaronischlangen“ wartenden Neapolitaner. Doch abseits des Straßenspektakels wurde die mangelnde Hygiene stetig beklagt, neben „das emsige, summende Umherschwirren und das behagliche Naschen des lieblichen Fliegengeschlechts“ traten nun auch verdreckte, unbeaufsichtigte Straßenkinder, die sich an der Trockenware labten (Neapolitanische Makkaroni, Mußestunden 2, 1905, Nr. 7, 27). Die offenkundige Armut trat immer stärker hervor, das Vertilgen der Makkaroni wurde auch als Konsequenz menschenunwürdiger Arbeits- und Lohnverhältnisse gedeutet (Die deutsche Frau im Urteil eines Italieners, Coburger Zeitung 1907, Nr. 53 v. 3. März, 5). Makkaroni, das war auch eine regionale Speise des armen agrarisch geprägten und rückständigen italienischen Südens, der damals wichtigsten Auswanderregion Italiens.

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Einzelportionen und Gabeleinsatz: Gutbürgerliche Mittagstafel (Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239)

Doch das Bild der Fremde weitete sich, einerseits durch den Aufstieg eines kultivierten Bürgertums im Norden Italiens, anderseits durch die zunehmende Präsenz von Arbeitsmigranten und ihrer Küche im Deutschen Reich. Ersteres war kultiviert, wurden ob seiner Gewandtheit im Umgang mit den glitschigen Teigwaren immer wieder gerühmt. Dagegen trat nun der für Italien konstitutive Nord-Süd-Gegensatz immer stärker hervor. Die Fotografien Wilhelm von Gloedens (1856-1931) verbanden Antikenverehrung und Homosexualität, standen für eine im deutschen Bürgertum weit verbreitete Sehnsucht nach einem längst vergangenen Arkadien. Die Einheimischen wurden Objekte, näherten sich den Eingeborenen insbesondere afrikanischer Kolonien, die eingefangen und ausgestellt wurde – in Reiseberichten, Fotografien und Völkerschauen. Das Treiben in den Straßen Neapels wurde weiter exotisiert, stand in immer deutlicherem Gegensatz zum eigenen zivilisatorischen Standard: „‚Höher geht es nicht hinauf, / Mehr erfindet Keiner drauf, / Als die grosse Herzeswonn‘ / Einer Schüssel Maccaron‘“ (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20).

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Rückzugsort für Wanderarbeiter: Italienische Gaststätte in Berlin – mit Makkaroni und Berliner Weiße (Das Buch für Alle 30, 1895, 537)

Das Treiben in Neapel gewann im späten 19. Jahrhundert jedoch eine neue Anschaulichkeit durch die wachsende Zahl von italienischen Arbeitsmigranten im Deutschen Reich. Dabei handelte es sich zunehmend um Land- und Bauarbeiter, sichtbar aber waren vor allen die zahlreichen Straßenhändler. Italienisches Speiseeis trat neben die Konditorenware der Etablierten, Südfrüchte fanden so raschen Absatz. Der Absatz war zufriedenstellend, die öffentliche Debatte aber folgte vielen Tropen der Makkaroniherstellung, insbesondere fehlender Reinlichkeit. Und doch bürgerten sich die fremden Speisen langsam ein. Für unseren Blick auf die Makkaroni sind die Koppeleffekte wichtig: Denn in den Großstädten etablierten sich ab den 1890er Jahren erste „italienische“ Restaurants, anfangs als Begegnungsorte der Wanderarbeiter, dann auch als Speiseort für interessierte Kundschaft (Eine italienische Volkskneipe in Berlin, Das Buch für Alle 30, 1895, 535; Stefano de Michielis, Osteria Italiana. Wo die Liebe zur italienischen Küche begann, München 1998). Makkaroni konnten hier vermeintlich original gegessen werden. All das war getragen durch ein Netzwerk italienischer Groß- und Einzelhändler, die Produkte aus dem Süden auch versandten. Dabei dominierten klar benennbare Weine und Spirituosen, doch neben Makkaroni (und zunehmend den zu höheren Preisen verkauften Spaghetti) traten vermehrt Parmesankäse, Olivenöl und auch Tomatenmark.

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Die Indolenz des Südländers (Lustige Blätter 25, 1910, Nr. 35, 8)

In der deutschen Öffentlichkeit verschwammen parallel Bilder des rückständigen Italiens mit denen der eher armen Arbeitsmigranten. Sie wurden denunziert, der Begriff „Makkaronifresser“ kam auf. Trotz Billiglöhnen gab es immer wieder Vorwürfe der Faulheit, der geringen Arbeitsproduktivität. Dies wurde zurückgeführt auf die vermeintlich billige Grundkost, die italienischen Makkaroni. Parallel aber wurden die deutschen Makkaroni fortentwickelt. Noch mochte man sie importieren, doch es sei nur eine Frage der Zeit, bis die billigere und bessere deutsche Ware das veraltete Original würde verdrängt haben (Wilhelmine Bird, Die Reis- und Makkaroninahrung, Die Woche 14, 1912, 1710-1711, hier 1711).

Deutschland als Makkaroniland

Aller kulinarischen Akzeptanz der Makkaroni zum Trotz fremdelten viele Deutsche mit den Makkaroni: „Der Nordeuropäer wird wohl kaum ein schwärmerischer Liebhaber der Maccaroni werden“ (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20).

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Wir bleiben lieber hier – Kulinarische und sonstige Vorbehalte (Lustige Blätter 29, 1914, Nr. 29, 9)

In Deutschland war man sich jedoch einerseits sicher, dass man eine billigere Ware gleicher Güte produzierte (Hood, 1904, 344). Die Bilder Italiens waren allerdings eng verbunden mit Naturnähe und frischer Kost, so dass sich deutsche Hausfrauen – wie auch bei Konserven – eine innere Reserve gegenüber den anonymen Teigwaren bewahrten (Fred Hood, Die Industrie der Nudeln, Kochkunst 4, 1902, 49-50, 65-66, hier 50). Frau war sich bewusst, dass es sich um ein „künstlich hergestelltes Nahrungsmittel“ (Maccaroni, die Nationalspeise der Italiener, Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239-240, hier 239) handelte, dass die einfache „Mehlware“ Nährmittel fern des Südens war. Allerdings wusste man um deren küchentechnischen und zeitökonomischen Vorteile, denn die Fertignudeln waren Teil der Verlagerung häuslicher Tätigkeiten auf das Gewerbe, ermöglichten so eine schnellere Küche. Das war wichtig, zunehmend auch in Arbeiterhaushaltungen (Fleisch-Maccaroni, Frauen-Genossenschaftsblatt 6, 1907, 55): „Wo man ein schnelles, billiges, nahrhaftes Gericht bereiten will, sind Maccaroni das beste Aushilfsmittel“ (Maccaroni, 1905/06, 239).

Hauswirtschaftlerinnen wussten anderseits, dass ein Einzelprodukt immer in einem breiteren kulinarischen und gesellschaftlichen Rahmen verstanden werden muss. Denn auch in Italien veränderte sich die Pasta-Produktion, veränderten sich Nudelvorlieben und Qualitätsansprüche: „Der Italiener zieht die dünneren Röhren den stärkeren vor. Er besitzt auch einen ausgebildeteren Geschmack für die Qualität als wir. Während wir anstandslos oft schon sehr lang gelagerte Makkaroni verwenden, sucht der Italiener sie so frisch gemacht wie möglich zu erhalten, und 8 Tage alte scheinen ihm schon kaum mehr annehmbar“ (Bird, 1912, 1711). Hinzu kam der Aufstieg der Spaghetti, anfangs deutlich dünnerer Hohlnudeln, die nun als durchgängige Teigschnürchen massenhaft produziert wurden. Im Deutschen Reich gab es sie vereinzelt schon in den 1870er Jahren (Augsburger Neueste Nachrichten 1874, Nr. 24 v. 28. Januar, 299), doch setzten sie sich abseits der Spezialitätengeschäfte hierzulande erst in den 1920er Jahren durch – parallel zu sinkenden Preisen und vermehrter gewerblicher Produktion in Deutschland. Spaghetti galten zuvor als feiner „als die dicken Makkaroni, die immer etwas Teigiges behalten. Auch die kürzere Kochdauer der Spaghetti ist ein nicht zu unterschätzender Vorzug. Brauchen die dicken Makkaroni mindestens ¾ Stunden zum Garwerden, so sind die Spaghetti in dem dritten Teil der Zeit fertig“ (Makkaroni, Für unsere Mütter und Hausfrauen 1913, Nr. 15, 58). Die Fokussierung der deutschen Anbieter auf eine gleichwertig-verbesserte Makkaroni bedeutete damit eine neuerliche Entfernung vom italienischen Markt, barg aber auch neuerliche Chancen für ein neuerliches Nachahmen und Verbessern. Das galt auch für neue Beikost, denn Ketchup wurde damals noch mit Essig haltbar gemacht, mit Nelken und Muskatnuss verfeinert (H. Roßmann, Moderne Zubereitungsweisen von Tomaten-Mus, Die deutsche Essigindustrie 18, 1914, 500-501).

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Ein breit gefächertes Makkaroni-Angebot (Karlsruher Tagblatt 1904, Nr. 281 v. 9. Oktober, 6373)

Abseits dieser transkulturellen kulinarischen Debatten gewannen Makkaroni vor allen während der Teuerungsphasen im Vorkriegsjahrzehnt an Bedeutung. Makkaroni waren eine flexibel zu ergänzende Grundspeise, deren Soße mit und ohne Fleisch, mit und ohne Käse, Butter und Gemüsen zubereitet werden konnte (Rosenheimer Anzeiger 1911, Nr. 233 v. 12. Oktober, 4). Das passte zur deutschen Restküche, das erlaubte marktsensiblen Einkauf angesichts grassierender und – wie heute – politisch durchaus gewollter Inflation. Zudem etablierte sich die Makkaroni-Fabrikware als eine saisonale Übergangskost, die im Frühjahr bereits keimende eingelagerte Kartoffeln ersetzen konnten, ehe Frischware wieder verfügbar war.

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Billige deutsche Makkaroni: Anzeige des Berliner Warenhauses A. Wertheim (Vorwärts 1907, Nr. 6 v. 21. März, 8)

Nudeln und Makkaroni waren um die Jahrhundertware zumeist noch anonyme Produkte. Einzig die nationale Herkunft wurde ausgelobt, ebenso die Art der Zusätze. Deutsche Makkaroni kosteten durchweg weniger, das Attribut „italienisch“ verteuerte die Ware. Für die deutschen Hersteller war dies unbefriedigend, konkurrierten sie doch mit Angeboten eines armen Landes mit niedrigen Löhnen. Das deutsche Markenrecht wurde durch das 1894 erlassende Gesetz zum Schutz der Warenbezeichnungen modernisiert – und die Teigwarenindustrie nutzte den Markenschutz seither zur Ausbildung neuer Markenidentitäten und erhöhter Wertschöpfung.

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Eiernudeln als Standardprodukte: Nationale und regionale Ernährungszuschreibungen (Deutscher Reichsanzeiger 1914, Nr. 89 v. 16. April, 18 (l.), ebd. 1913, Nr. 191 v. 15. August, 15)

Vorreiter waren hierbei die Eiernudelfabrikanten, deren Preise ohnehin an der Spitze lagen. Sie etablierten seit den späten 1890er Jahren zahlreichen Marken, die entweder national ausgerichtet waren, häufiger aber die regionale Nudelkultur des deutschen Südens spiegelten und stärkten. Für die Makkaroniindustrie war die Aufgabe schwieriger, war der Bezug zum italienischen Original doch ein kommunikativer Kraftakt.

35_Deutscher Reichsanzeiger_1899_09_01_Nr206_p09_Ebd_11_17_Nr273_p11_Makkaroni_Hartweißengriess_Gottfried-Niemoeller_Guetersloh_Vater_Lockwitz_Globus

Markenartikelanbieter in Nord- und Mitteldeutschland: Gottfried Niemöller, Gütersloh und Vatersche Maccaroni- und Eierwarenfabrik, Lockwitz (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 206 v. 1. September, 9 (l.); ebd., Nr. 273 v. 17. November, 11)

Die deutschen Hersteller kokettierten dabei nur selten mit den aus der Reiseliteratur bekannten Versatzstücken Italiens. Stattdessen positionierten sie ihre Makkaroni als kosmopolitische, als globale Waren. Die Hausfrau war Endpunkt einer langen Beschaffungskette, just für sie geeigneten Hartweizens. Deutsche Makkaroni hatten demnach Weltgeltung, waren moderne Produkte in einer zunehmend globalisierten Welt.

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Hahn im italienischen Ambiente: Knorr-Markenzeichen 1891 (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 148 v. 26. Juni, 9)

Eine andere Markenstrategie bestand in abstrakten Markenbildern. Die 1838 in Heilbronn von Carl Heinrich Knorr (1800-1875) gegründete Firma entwickelte sich aus dem Kolonialwarenhandel, stieg in das Ersatzkaffeegeschäft ein, handelte mit Landesprodukten, insbesondere mit Mühlenfabrikaten. Knorr war einer der frühen deutschen Hersteller von Nährmitteln und Suppenpräparaten, dessen Absatz seit den 1880er Jahren durch erst regionale, dann zunehmend nationale Werbepräsenz gefördert wurde. Als Knorr 1891 auch die Teigwarenproduktion aufnahm, nutzte die Firma das bereits etablierte Dachmarkenzeichen des Hahns, bettete es jedoch noch in ein italienisches Ambiente ein. Diese „Maccheroni“ waren durchaus erfolgreich, blieben aber hinter dem Absatz anderer Präparate zurück.

37_Deutscher Reichsanzeiger_1905_02_28_Nr081_p14_Makkaroni_Kaethchen_C-H-Knorr_Heilbronn_Verpackung

Makkaroni-Verpackung von Knorr 1905 mit dem Markenbild Käthchen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 81 v. 28. Februar, 14)

Das änderte sich erst, nachdem Knorr im frühen 20. Jahrhundert in die großbetriebliche Fertigung einstieg. Von französischen Ingenieuren erwarb man neue Trocknungsverfahren (Erfolge der deutschen Maccaroni-Industrie, Kochkunst und Tafelwesen 9, 1907, 198). Damit konnte man die Makkaroni nicht nur schneller verkaufsfertig machen, sondern besaß auch ein Alleinstellungsmerkmal: „Knorrs Makkaroni […] werden aus dem besten Rohmaterial hergestellt und zwar nach besonderem, durch zwei D. R.-Patente geschütztes Verfahren. Hierbei geschieht die Anfertigung ganz automatisch, also nicht durch Händearbeit, was im Gegensatz zu den früheren Methoden ein unschätzbarer Vorteil ist“ (Unsere Nährmittel, Großer Volkskalender des Lahrer hinkenden Boten 1906, Anzeigenanhang). Die Werbung bediente damit Kernpunkte des deutschen Italienbildes: „‚Gekaufte Mehlspeisen darf meine Frau nicht kochen‘ hörte man früher allgemein und war dieser Standpunkt nicht ganz unberechtigt, wenn man bedenkt, in welcher primitiven Weise die Mehlspeisen früher erzeugt wurden. Heute gibt es jedoch modern eingerichtete Teigwarenfabriken, deren Fabrikate gegenüber das frühere Mißtrauen nicht mehr am Platze ist. So werden z.B. in der bekannten Nahrungsmittelfabrik von C.H. Knorr […] mit frischer Luft getrocknet, so daß der Teig weder mit der Hand des Arbeiters, noch mit Pappdeckeln in Berührung kommt“ (Arbeiter-Zeitung 1908, Nr. 59 v. 29. Februar, 9).

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Reichsweite Präsenz: Werbung für Knorrs Makkaroni (Der Welt-Spiegel 1912, Nr. 6 v. 11. Februar, 6)

Anfangs vor allem in Form von kleinen Werbetexten propagiert, bündelte Knorr seine zunehmend ausdifferenzierte Palette von Teigwaren unter dem Bild des Hahns, der natürlich eine Reminiszenz an die deutsche Eiernudelkultur war. Doch als Vollsortimenter bot die Firma gleichermaßen Weich-, Hartweizen- und Eier-Makkaroni an. Anders als die neapolitanischen Köche sang Knorr von der „Vervollkommnung der Maschinen“, von vollwertigen und schnell zuzubereitenden Nährmitteln (Moderne Teigwaren, Kochkunst und Tafelwesen 12, 1910, 300-302, hier 301). Auf Grundlage der schon für die Suppenpräparate etablierten Vertriebsnetze wurde Knorr zum wohl wichtigsten nationalen Makkaronianbieter im späten Kaiserreich: „Knorr-Suppen und Auto-Maccaroni nähren am besten und billigsten“ (E. Zilka, Die Schmiere. Humoreske, Der Volksfreund 1913, Nr. 34 v. 17. April, 1-2, hier 1) hieß es nun, Ausdruck auch des Größenwachstums der Nahrungsmittelindustrie: „Die Herstellung von Teigwaren oder Nudeln, die ursprünglich nur im Haushalt und mit der Hand erfolgte, ist im Laufe der letzten 25 Jahre zum Großbetrieb herangewachsen“ (Neues Verfahren zur Herstellung von Maccaroni, Kochkunst 8, 1906, 79-80, hier 80).

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Storch-Markenartikel als Qualitätsprodukt (Straßburger Neueste Nachrichten 1913, Nr. 106 v. 8. Mai, s.p.)

Knorrs Wettbewerber folgten, doch bedienten sie zumeist regionale Märkte. Das galt besonders für die Eier-Makkaroni. All diese marketingorientierten Firmen etablierten nicht nur Markenbilder (allerdings noch nicht abstrakte Markennamen), sondern setzten auch klar identifizierbare Verkaufspackungen durch.

Die Entzauberung der Makkaroni im Ersten Weltkrieg

War schon die Sprache der Markenartikelproduzenten sachlich, auf hauswirtschaftliche Vorteile ausgerichtet, so entzauberte der Weltkrieg die Makkaroni nochmals. Italien trat nicht an der Seite seiner früheren Bundesgenossen in den Krieg ein, wechselte gegen territoriale Zusagen vielmehr die Seiten und erklärte im Mai 1915 den Mittelmächten den Krieg.

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Makkaronisierung des Gegners (Wieland 1, 1915/16, Nr. 11, 9)

Dieser „Verrat“ „von landgierigen Makkaronifressern“ (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1917, Nr.282 v. 6. Dezember, 1) führte zu einer allgemeinen Schmähung des Kriegsgegners. Trotz beträchtlicher Unterstützung der Entente unterstrich der Krieg die militärisch-industrielle Rückständigkeit Italiens und mündete in sinnlose Gemetzel. Als mit massiver Unterstützung deutscher Truppen die zwölfte Isonzoschlacht 1917 mit einer fast verheerenden Niederlage der Italiener endete, wurde der Vormarsch in die Piaveebene auch im Medium des Essens zelebriert.

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Deutsche Truppen als Vorläufer der deutschen Touristen der 1950er Jahre (Ulk 46, 1917, Nr. 46, 3)

Die (virtuelle) Einverleibung der Makkaroni in eroberten italienischen Territorien war jedoch nur Teil eines breiteren Kulturkampfes. Es ging um Sprachreinigung, also nicht nur um die Tilgung der Pasta-Begriffe zugunsten edler deutscher Namen, sondern auch um die Abkehr vom nachäffenden „Makkaroni-Deutsch“ vieler Auslandsdeutscher (Eduard Engel, Weltsprachen nach dem Kriege, Daheim 52, 1915-16, Nr. 43, 10-11, hier 11). Deutsche weigerten sich „Makkaroniesser“ genannt zu werden, zumal von den als „Makkaronifressern“ attribuierten Italienern (Curt Bauer, Italienische Lebensmittel-Fata Morgana, General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1920, Nr. 10884 v. 9. Dezember, 5). Dabei ging es auch handgreiflich zu, etwa als 1919 Unter den Linden vier italienische Offiziere als „Maccaroni“ beschimpft wurden, einer davon dem Schmäher eine Ohrfeige erteilte und es nur Schutzleuten zu verdanken war, dass der folgende Auflauf nicht eskalierte (Ein neuer peinlicher Zwischenfall in Berlin, Deutsche Reichszeitung 1919, Nr. 220 v. 14. August, 2).

Die Sprachpflege zielte aber auch auf die Tilgung des Begriffs „Makkaroni“, auf dessen Ersatz etwa durch „Verrat- oder Hohlnudeln“ (J.B. Krauß, Orientfahrt im Weltkrieg. 2. Wiens wirtschaftliche Verhältnisse, Badischer Beobachter 1915, Nr. 528 v. 23. November, 2). Zahlreiche Kriegskochbücher verzichteten auf den italienischen Begriff (etwa Käthe Birke, Die fleischlose Küche in der Kriegszeit […], Karlsruhe s.a. [1917]), auch im Rahmen der Rationierungswirtschaft wurden vielfach „Hohlnudeln“ ausgegeben (Badischer Beobachter 1919, Nr. 174 v. 12. April, 4). Der Begriff fand sich zwar schon lange zuvor, begleitete die Akkulturation der Makkaroni (Tag-Blatt der Stadt Bamberg 1846, Nr. 130 v. 12. Mai, 566; Straubinger Tagblatt 1866, Nr. 220 v. 20. September, 939, Ingolstädter Tagblatt 1874, Nr. 54 v. 3. März, 216). Doch der abgrenzte Begriff der „Hohlnudel“ hielt sich bis weit in die 1920er Jahre, wurde auch von einigen Herstellern konsequent benutzt.

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Temporäre Sprachreinigung: Hohlnudel-Angebote (Karlsruher Tagblatt 1924, Nr. 382 v. 11. September, Beil., 3 (l.); ebd. Nr. 376 v. 7. September, 3)

Doch nicht nur diese Ideologisierung entzauberte die Makkaroni. Als nahrhaftes und lagerfähiges Produkt waren sie nämlich auch ein integraler Bestandteil der Rationierungswirtschaft. Dazu trugen verstärkte italienische Lieferungen 1914/15 bei (Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 185 v. 12. April, 4; Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 345 v. 17. Juli, General-Anzeiger, 1). Doch zumeist handelte es sich um deutsche Makkaroni, immer weniger aus Hart-, immer mehr aus Weichweizen. Als Mitte 1915 die deutschen Makkaroniproduzenten von der Zentralen Einkaufs-Gesellschaft Weizenkontingente zugewiesen bekamen, unterstricht dies, ebenso wie der Einbezug in die seit Oktober 1915 geltenden Höchstpreisregeln, die nicht unbedeutende Stellung des Nährmittels als Alltagsspeise (Nudeln und Makkaroni, Berliner Börsen-Zeitung 1915, Nr. 345 v. 27. Juli, 4; Preisregelung für Teigwaren, Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 556 v. 30. Oktober, 3).

Makkaroni wurden vor allem als Beikost und Suppenbestandteile verwendet, im Haushalt wohl auch als Hauptmahlzeit (Die neuen Volksküchen, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 182 v. 3. Juni, General-Anzeiger, 1). In den seit Mitte 1916 eingerichteten Volksküchen waren sie Ausdruck sowohl nationalen Durchhaltewillens als auch der schwindenden Nahrungsmittelreserven: „Wenn der Teufel in der Not auch Fliegen frißt, dann dürfte man wohl auch erwarten, daß der Münchner Fleischesser in der Not auch Makkaroni, Reis und Gemüse essen kann“ (Decker, Zentralisierung der Volksernährung, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 299 v. 14. Juni, General-Anzeiger, 1). Weizen wurde jedoch immer knapper, so dass sich die Makkaroni-Qualität massiv verschlechterte (Makkaroni in Gefahr!, Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 59 v. 19. Februar, 3). Ersatzmittel aber gab es nicht, im Gegensatz zu Eiernudeln.

Deutsche Makkaroni als billige Alltagsspeise in den 1920er Jahre

Es dauerte bis 1922, ehe die Teigwarenproduktion wieder an alte Höhen anknüpfen konnte. Die völkerrechtswidrige Seeblockade Deutschlands wurde bis 1919 beibehalten, der Bürgerkrieg in Russland unterminierte Hartweizenimporte. Danach aber setzte eine reichsweite Gemeinschaftswerbung der Hersteller ein: Makkaroni aus Hartweizen galten dabei als „Helfer in der Not“ (C.V.-Zeitung 1, 1922, 157), als „Deutsche Ware“, der „besten Auslandsware überlegen“.

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Gemeinschaftswerbung für deutsche Teigwaren – inklusive deutscher Makkaroni (C.V.-Zeitung 1, 1922, 206 (l.); ebd., 147)

Trotz weiterer Rückschläge während der Hyperinflation boten insbesondere die großen Markenartikelproduzenten seit Mitte der 1920er das bekannt breite Sortiment deutscher Makkaroni an. Mehr schien möglich, entsprechend finden sich zu dieser Zeit vermehrte Rezeptangebote, um die Teigwaren vielfältiger einzusetzen (Gerichte von Makkaroni, Haus Hof Garten 46, 1924, 113)

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Ausbreitung starker, reichsweit präsenter Markennudeln (Vorwärts 1926, Nr. 462 v. 1. Oktober, 4)

Die deutschen Herstellen waren seit Mitte der 1920er Jahre jedenfalls mit sich im Reinen: „Die in Deutschland hergestellten Makkaroni werden selbst von den Italienern als qualitativ vorzüglich anerkannt“ (Die italienische Küche, Lippspringer Anzeiger 1933, Nr. 35 v. 11. Februar, 8). Die lange Akkulturation und die vielfältigen gewerblichen Bestrebungen hatten die italienischen Makkaroni aus ihrer Sicht letztlich überflüssig gemacht. Das zeigte sich beispielhaft in der Selbstdarstellung des damals größten deutschen Makkaroni- und Nudelproduzenten, der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Konsumvereine (GEG), die zwei Großbetriebe in Riesa und Mannheim unterhielt und ca. zehn Millionen Verbraucher versorgte. In dieser Säule der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung waren Teigwaren und Makkaroni Belege für sozialpolitischen Fortschritt sowohl durch erschwingliche Qualitätsnahrung als auch durch vorbildliche Arbeitsbedingungen: „Während wir die großen, luftigen Arbeitssäle durchschreiten, fällt uns die peinliche Sauberkeit auf, die überall herrscht. Durch hohe Fenster flutet das Licht; es mag ruhig bis in die äußerste Ecke dringen, Staub wird es nirgends finden. Alle Beschäftigten tragen weiße Arbeitskleidung, die ihnen vom Betrieb geliefert wird. Angesichts dieser bewußt und mit modernen Mitteln angewandten Hygiene erscheint es sonderbar, daß es heute noch Hausfrauen gibt, die da meinen, die Makkaroni müßten italienischen Ursprungs sein, wenn sie munden sollen“ (Der Werbegang der Makkaroni, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 8, 14).

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Massenmarkt und Sortimentsspreizung: Angebote der Konsumgenossenschaften (Vorwärts 1928, Nr. 249 v. 11. September, 10)

Der Stolz der Konsumgenossenschaften war eingebettet in die gängigen Stufentheorien der damaligen Nationalökonomie und des Marxismus. Makkaroni waren ein Beispiel für „die Vorteile hygienisch einwandfreier, maschineller Großproduktion von Nahrungsmitteln gegenüber der handwerksmäßigen Erzeugung“ (Herstellung von Makkaroni durch die GEG und – in Italien, Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 113-114).

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Hygiene und Maschinensaal: Einblick in die konsumgenossenschaftliche Teigwarenfabrik in Riesa (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 113)

Der Fortschritt im Deutschen Reich wurde durch den Gegensatz zur italienischen Originalware nochmals unterstrichen: „Vergleicht man hiermit die Bilder, welche die Herstellung der italienischen Makkaroni zeigen, dann steigt unwillkürlich ein Widerwillen gegen die sogenannten ‚echten‘ Makkaroni auf, die leider auch heutzutage immer noch gefordert werden. Straßen, Hof und Marktplätze, düstere schmutziggraue Räume ohne Licht und Luft sind die Arbeitsstätten, in denen die Nudeln noch genau so wie vor 100 Jahren produziert werden, nur daß die benutzten Werkzeuge, besonders die Stäbe zur Herstellung des Hohlraumes der Makkaroni nicht mehr aus Holz, sondern aus Eisen bestehen. Auch heute noch wird der Teig mit den Füßen geknetet, und noch immer hängt man die fertigen langen Nudeln auf Leinen zum Trocknen an die Sonne, während man die kleineren Suppennudeln auf Zeitungspaper am Boden dürr werden läßt“ (Herstellung, 1926, 114; zur Technik s. Helmut Emmerling, Die deutsche Teigwarenindustrie, Phil. Diss. Leipzig 1929).

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Überwundene Zustände: Pasta-Trocknung in den Straßen Neapels (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 115)

Damit übersah man die Modernisierung auch der italienischen Großbetriebe. Doch man nutzte die bestehenden kulturellen Vorstellungen über Italien – im Falle der Konsumgenossenschaften sicher vor dem Hintergrund eines faschistischen Regimes, das als reaktionär gedeutet wurde, als Unterdrückungsregime von Landbesitzern und Industriellen. Zugleich erlaubten die nicht unbeträchtlichen Investitionen der Konsumgenossenschaften und auch der Markenartikelproduzenten einen höheren Makkaronikonsum während der Weltwirtschaftskrise. Wie schon zur Zeit der Lebensmittelteuerung vor dem Ersten Weltkrieg wurden deutsche Makkaroni neuerlich zu einer Krisenspeise.

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Nahrhaft mit und ohne Fleisch (Vobachs Frauenzeitung 38, 1935, H. 7, 16)

Sie standen neuerlich für eine varianten- und nährstoffreiche Grundversorgung, eiweißreich, leicht verdaulich, mit hohem Sättigungswert. Ergänzt durch Pflaumen, Backobst und Gemüse konnte man sich trotz Armut und Arbeitslosigkeit vitamin- und mineralstoffreich ernähren (Die Küche im Januar, Westfälische Neueste Nachrichten 1933, Nr. 15 v. 18. Januar, 11). Das blieb auch nach der Machtzulassung des „deutschen Mussolinis“ so. 1938 konsumierten die Deutschen immerhin 1,73 kg pro Kopf und Jahr gewerblich hergestellter deutscher Makkaroni (Rudolf Drescher, Die Teigware, Die Ernährungswirtschaft 2, 1955, 208-209, hier 209).

Auftakt eines neuen Sehnsuchtslandes Italien

Damit könnten wir gesättigt und ernüchtert enden. Doch um zu erklären, warum die italienische Küche weiterhin als Sehnsuchtsküche fungierte, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Touristen erobert und in Restaurants von Migranten hierzulande zunehmend „original italienisch“ dargeboten wurde, sollten wir abschließend noch auf die neuerliche Verzauberung der Makkaroni und Italiens blicken.

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Dampfende Makkaroni, dampfender Vesuv: Neapel als Reiseliteraturidylle (Agnes Harder, Capri und der Golf von Neapel, Bielefeld und Leipzig 1911, 1 (l.), 3)

Diese setzte nie wirklich aus, mochte sie auch in den Hintergrund treten und immer weniger geglaubt werden. Der Massenmarkt des bürgerlichen Tourismus unterstützte diese, ebenso die langsam wachsende Zahl von italienischen Feinkostgeschäften (Münchner Neueste Nachrichten 1911, Nr. 466 v. 5. Oktober, General-Anzeiger, 2) und italienischen Eisdielen in der Zwischenkriegszeit. Die Schönheit des Landes, der Reichtum seines kulturellen Erbes, gewiss auch die reflektierte Freundlichkeit der Einheimischen gegenüber zahlungskräftigen Gästen setzten sich immer wieder durch gegen die Überlegenheitsgelüste der deutschen Makkaroniesser: „Also wohl nach Italien. Und mit einem F-D-Zug, um möglichst schnell in das von der deutschen Seele gesuchte, heißgeliebte Land der Makkaroni zu gelangen“ (Ingolstädter Anzeiger 1927, Nr. 219 v. 24. September, 3).

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Spiel mit den widerspenstigen Makkaroni: Italiens Wendung gegen die dickmachenden und devisenträchtigen Hartweizenprodukte sowie der Kampf mit dem Objekt im Restaurant (Jugend 35, 1930, 252 (l.); Das interessante Blatt 55, 1936, Nr. 49 v. 3. Dezember, 14)

Trotz des Bedeutungsgewinns der Spaghetti und der breiteren Rezeption „italienischer“ Speisen wie etwa Olivenöl und Tomaten kreiste die Reästhetisierung Italiens allerdings immer noch um die Makkaroni. Dies unterstreicht die Langlebigkeit kultureller Vorstellungen, ihre virtuelle Kraft. Menschen leben in Träumen und Albträumen, sehen Hexen und Ufos, imaginieren die Kost der Anderen, lassen davon nicht ab, weil sie wissen, dass Traumwelten helfen, den Alltag zu bestehen. Wissenschaftliche Aufklärung steht daher in struktureller Defensive.

Der Zeitpunkt der neuerlichen Verzauberung der Makkaroni überrascht, denn in Italien standen sie unter wachsendem Druck. Das galt nicht nur für den allgemeinen Bedeutungsrückgang kohlenhydrathaltiger Lebensmittel im 20. Jahrhundert, den wir gemeinhin als Verbreiterung der Ernährungsvielfalt deuten. Das gilt insbesondere für die 1928 von Mussolini mit Spatenstich in der Po-Ebene eingeleiteten Kampagne „Reis gegen Makkaroni“ (Mussolini, der Reformator des Küchenzettels, Bergische Post 1928, Nr. 47 v. 24. Februar, 1). Der heimische Reis kostete schließlich weniger Devisen als das Importgut Hartweizen. Breite Wellen schlug der Kampf des faschistischen Künstlers Fillippo Marinetti (1876-1944), der im Umfeld der immer wieder neu aufgewärmten futuristische Küche bis heute Kulturwissenschaftler*innen in den Bann schlägt. 1930 rief der Berufsprovo jedenfalls zum Kampf gegen die Makkaroni auf: „‚Passati!‘, rief er in den Saal, ‚ihr Trottel von vorgestern! Die Makkaroni schwemmen auf: sie schaffen Spitzbäuche. Nieder mit den Spitzbäuchen!‘“ (Marinettis Kampf gegen die Makkaroni. Ein Manifest der ‚Futuristischen Küche‘, Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 319 v. 22. November, 5). Die schlichte Logik dahinter war, dass Makkaroni dick machen sollten, also träge, dass ein träges Volk aber anderen unterlegen sei. Andere Kost sei erforderlich, etwa die „wehrhafte Beweglichkeit“ der Minestrone, deren Gemüse die Vielfalt Italiens in sich vereinige (Futuristisch-faschistische Speisen, Salzburger Wacht 1931, Nr. 184 v. 13. August, 3). Die italienische Exportindustrie protestierte pflichtgemäß, eine Breitenwirkung derartiger Provokationen blieb aus.

Auch die nach der wirtschaftlichen Stabilisierung wieder einsetzende „germanische Völkerwanderung dem Süden zu“ blieb pastaumkränzt (Pasta asciutto. Ein kulinarischer Wegweiser für Italien-Reisende, Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 78 v. 22. März, 3). Die Makkaroni waren eine billige Nationalspeise, ihr Verzehr erlaubte den temporären Eintritt in die fremde Lebensweise. Die Besucher waren nicht mehr länger unbeteiligte Berichterstatter: „Fremdling, der du über die Alpen gen Süden wanderst, stecke deine Nase nicht nur in den Baedeker und laufe in den zahllosen Kirchen und Museen herum, sondern betrachte dir auch gelegentlich die Landschaft, aus der diese Kunst gewachsen ist, und, wenn du es ganz gescheit anstellen willst, dann probiere auch ihre Früchte, ihre Weine, ihre Artischocken und ihre Fischsuppen. Du versetzt dich dadurch in gehobene Stimmung und bist noch mal so aufnahmefähig für all das Schöne und Unvergeßliche, was dich umgibt“ (Karl Kornicker, Italienisches Küchenlatein, Badische Presse 1931, Nr. 198 v. 29. April, 3). Die immer wieder beschriebene Art (ja, Kunst!) des Makkaroni-Essens wurde nun Teil eines Erlebnisses, eines Erlebnisurlaubs.

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Der Zauber der italienischen Speisen – und der richtige Dreh beim Essen: Franzose, Italiener und Österreicher beim Makkaroniverzehr (Österreichische Illustrierte Zeitung 35, 1925, 404)

Die Vielfalt der Makkaroniformen wurde nicht mehr kategorisiert und weitergegeben, sondern sie war nun Teil der Entdeckerfreude, des Abenteuers. Essen wurde zur Selbsterkenntnis, die Gewandtheit mit Löffel und Gabel zeigte dem Besucher, wer er war: Sage mir, wie Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist: „Diese endlos langen, glatten Dinger wollen dir immer wieder von der Gabel entwischen. Verliere nicht die Geduld. Das will alles gelernt sein. […] Versuche es einmal mit Gabel und Löffel, so wie es die Italiener machen. Nimm erst ganz wenig, führe die Gabel senkrecht mit der Spitze nach unten auf deinen Teller und versuche dann durch Drehen der Gabel die Makkaroni elegant herumzuwickeln und festzuhalten. Mache es nicht zu schwunghaft, da sonst die schöne Soße in weitem Bogen herumspritzt und unter Umständen dein neuer Anzug […] Schaden nimmt“ (Kornicker, 1931, hier: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 228 v. 24. August, 3). Ja, „das Spaghetti-Essen ist ein Sport, der gelernt sein will. Der richtige Schlangenfraß! Glaubt man sie richtig auf der Gabel zu haben, dann rollt die ganze Spule regelmäßig wieder ab! Man muß den Löffel und den richtigen Handgriff dazu haben. Ich möchte einmal eine Schönheitskonkurrenz im Spaghetti-Essen erleben!… Es ist inzwischen Abend geworden. Die blaue Abendstunde am kleinen Hasen. Der freundlich-familiäre Feierabend im alten Fischerstädtchen. Ganz silbern glänzt die Adria und rings um mein gesättigtes Sein erwacht vor allen Türen die fröhliche Geselligkeit dieser letzten südlichen Tagesstunde. Mit Lichterglanz und Sirenenpfiff naht der abendliche Dampfer. Der kleine Platz belebt sich. Im weinumrankten Fenster über mir erscheint eine junge Mutter mit ihrem Säugling im Arm: Madonna im grünen Kranz. Die Hafenglocke läutet eiligst die Hoteldiener und Portiers herbei. In Hemdärmeln die einen, die andern mit dem gekreuzten Schlüsselpaar, dem Symbol ihrer Würde, auf dem Uniformkragen. Sie bilden in verträglichem Wettstreit Spalier, während die vollzählige Jugend des Städtchens die fremden Ankömmlinge wertkundig beäugt. Es sind meist Deutsche, und alle werden Makkaroni essen wollen!“ (R[ené] Prévot, Makkaroni im kleinen Hafen, Münchner Neueste Nachrichten 1932, Nr. 109 v. 22. April, 3) Italienische Makkaroni, wohlgemerkt.

So wandelten die Deutschen schon 1930 zwischen der Billigspeise, ihrer deutschen Makkaroni, und der Urlaubsspeise, dem einfachen Mahl in der Ferne. Auf die italienische Küche konnte man sich einigen: Ein Abglanz des Paradieses, des Menschen im friedvollen Naturzustand, in einer Umgebung der Fülle. Wen kümmert(e) es, dass solche Bilder wie Seifenblasen zerplatzen, wenn wir auch nur ein wenig nachdenken. Wir wollen nicht nachdenken. Und so essen wir bis heute lange, al dente gekochte Weizenteigware in Soße getunkt – im Kopfe schwelgend, im Magen verdauend.

Uwe Spiekermann, 20. Juni 2023