Die aufrechte Hausfrau: Das Bohnerwachs Wichsmädel

Nein, darauf war ich nicht gefasst. Als ich eine Ausgabe der einst neuen, frisch-anstößigen Illustrierte „Das Magazin“ durchblätterte, erwartete ich die lebensdralle Ästhetik der 1920er Jahre, erwartete neue Frauen und smarte Männer, die Anbetung des Urbanen und einer neuen Freizeit- und Konsumkultur. Und dann das: Freundlich lächelnd hielt ein als Dienstmädchen verkleidetes Modell eine große Blechdose in die Kamera. Wichsmädel Bohnerwachs stand darauf, zeigte eine eifrig bohnernde Frau auf den Knien, mit kurzem Haarschnitt und durchaus modischen Absätzen. Und schon wandelte sich meine Irritation in Forscherdrang: Darauf musste ich mir einen Reim machen. Kommen Sie mit – oder klicken Sie rasch weiter.

Fußbodenreinigung im Wandel

Dreck ist ein Teil des Lebens, Putzen hält dagegen, sysiphoshaft, als Ringen um Sauberkeit und Alltagshygiene. In gängigen Darstellungen der Geschichte des Wohnens findet sich allerdings kaum etwas zu dieser Fron des Alltags (Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914, Münster 1985; Maren-Sophie Fünderich, Wohnen im Kaiserreich, Berlin und Boston 2019). Auch über die breite und wachsende Palette von Putz- und Reinigungsmitteln wissen wir wenig. Allgemeiner parlieren ist einfacher: Vom vermeintlichen Wandel der respektablen hauswirtschaftlichen Tätigkeit zur Hausarbeit. Von deren doppelter Marginalisierung als unbezahlten Liebesdienst an Mann und Familie einerseits, als einfache, nicht wirklich ernst zu nehmende Beschäftigung anderseits. Dabei belegt der seit Mitte des 19. Jahrhunderts immens wachsende Ratgebermarkt für das Kochen und die Haushaltsführung die vielfältigen und komplexen Aufgaben in einer häuslichen Welt, in der Convenience- oder Fertigprodukte fehlten, die wenigen Geräte Maschinen nicht ersetzen konnten, Kühlung und Konservierung zeitaufwändige Tagesaufgaben waren, das Schneidern und Reparieren der Kleidung und Textilien mit Blick auf die begrenzten Geldmittel erforderlich war, von der Kindererziehung und Gartenwirtschaft ganz zu schweigen (einseitig luftig-normativ hierzu Inga Wiedemann, Herrin im Hause […], Pfaffenweiler 1993; Evke Rulffes, Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung, Hamburg 2021). Und da war noch das Haus, das Heim selbst. Es musste gepflegt und in Ordnung gehalten, gekehrt, geputzt, von Unrat und Keimen befreit werden.

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Idealisiertes Bild des Hausputzes (Sydow (Hg.), 1884, 561)

Wie aber sah das Reinigungsumfeld aus, die zu reinigende Wohnung, der zu kehrende und zu bohnernde Fußboden? Dazu müssen wir uns wegbewegen von unseren heutigen einfach zu pflegenden, versiegelten, mit Kunststoff abgedichteten und auf trockenen Grundlagen ruhenden Fußböden. Das galt auch für die in der Hauswirtschaftsliteratur vorrangig behandelten bürgerlichen Haushalte. Sie standen im Mittelpunkt des Wandels, einerseits hin zu besseren Wohnungen und Fußböden, anderseits als Konsumenten einer wachsenden Zahl neuartiger Putz- und Reinigungsmittel, die eng mit dem Aufstieg der chemischen Industrie und insbesondere der Fettchemie seit den 1870er Jahren verbunden waren.

Damals bestanden Fußböden zumeist aus gestampftem und befestigtem Lehm, vielfach mit Brettern überbaut oder aus Holzböden. Die Böden waren teils behandelt, verschieden zusammengesetzte Firnisse aus Leinöl, Schellack oder Deckharzen schützten die Oberflächen. Diese mussten regelmäßig abgewischt werden, meist mit Wasser, kombiniert mit Kernseife oder Seifenlaugen. Putzen war wichtig, zumal in Zeiten unzureichender Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, angesichts der Gesundheitsgefahren der noch nicht wirklich bekämpfbaren Infektionskrankheiten. Das gefährdete nicht nur den Hausfrieden, bedeutete Putzen doch Umräumen, das Bewegen der Teppiche, der Truhen und Möbel. Nasses Putzen griff auch die Bodensubstanz an, denn den Böden fehlten vielfach konservierende Appreturen. Verbesserte Parkette sowie Steinböden waren leichter zu pflegen, waren aber auch teurer.

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Blanker Holzboden in einer oberbayerischen Bauernstube (Der Bazar 39, 1893, 429)

Zur Zeit der Reichsgründung verbreiteten sich daher neue Techniken der Bodenkonservierung. Zum einen erlaubte die Teerfarbenindustrie zahlreiche Farben und dann auch Glasuren, mit denen man die Oberflächen imprägnieren und damit gegen die Verdreckung schützen konnte. Zum anderen nutzte man vermehrt Wachse, um die Böden gleichsam zu versiegeln. Industrielle Wachse, teils auf Grundlage von Importgütern, waren billiger als tradierte Bienenwachse, zudem einfacher zu handhaben: „Das Einlassen oder Bohnen der gewöhnlichen, sowie der parquetirten Fußböden geschieht gewöhnlich mit einer Wachsseife, dem sogenannten Bohnerwachs, es wird aber auch mit reinem Wachs in Stücken gebohnt, eine Operation, die indessen Kraftanstrengung und Uebung erfordert und besser dem Zimmerputzer von Fach überlassen bleibt“ (Vom Fußboden, F. J. Singer’s Fünf-Kreuzer-Bibliothek 5, 1873, 30-31, hier 30). Gebohnerte Flächen durften nicht feucht gereinigt werden, doch man konnte sie einfach kehren.

Bohnerwachs wurde zu dieser Zeit noch vielfach in den Haushalten selbst hergestellt. Die Rohmaterialien, meist gelber Wachs und Pottasche, kauften die Hausfrauen in Drogerien, Gemischtwarenhandlungen und Apotheken. Das Wachs wurde dann auf dem heimischen Herd, im häuslichen Kessel angesetzt, dann auch gefärbt (Johanna von Sydow (Hg.), Das Buch der Hausfrau, 3. völlig umgearb. Aufl., Leipzig und Berlin 1884, 561-562; Illustrirte Welt 34, 1886, 72). Dazu nutzte frau anfangs meist naturale Farben, wie Orleans oder Katechu, oder aber Erdfarben, wie Oker oder Terra di Siena. Bohnerwachse dieser Art chargierten zwischen gelb und tiefrot, waren also noch nicht Basis weißer Reinlichkeit. Das Kochen derartiger Wachse war schwierig, denn die Temperaturführung auf offenem Feuer glich der Arbeit der Glasmacher und Schmiede, gründete auf Erfahrung, stellt die immer nur normativ behauptete Trennung der häuslichen und gewerblichen Sphäre in Frage. Doch ein gebohnerter Boden war schmutzabweisend und einfacher zu fegen. Angesichts kleiner, vollgestellter und vom Ruß und der Asche des Herdes stets umkränzter Zimmer war dies immer noch eine mühselige Arbeit, die möglichst an Dienstboten delegiert wurde. Doch deren Zahl ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch zurück, wenngleich sie um 1900 noch ca. fünf Prozent der großstädtischen Bevölkerung ausmachte. Bohnern war wiederkehrende Alltagstätigkeit: In größeren Abständen musste die Grundimprägnierung erneuert werden, Flecken aber erforderten gezielten und möglichst unmittelbaren Einsatz: „Gebohnte Fußböden, auch Parkettfußböden, werden täglich mit einem trocknen um die Bohnerbürste geschlungenen wollenen Lappen oder einem trocknen noch neuen Scheuerlappen aufgewischt. Einzelne Flecke wischt man mit einem feuchten Läppchen mit Terpentinöl ab oder man entfernt sie mittels abreiben mit Stahlspänen. Die Stellen müssen dann mit etwas Bohnermasse eingerieben und abgebürstet werden. Allwöchentlich reibe man den Fußboden mit Stahlspänen ab; durch dieselben wird Schmutz und das festgetretene Bohnerwachs entfernt, so daß der Boden seine klare Farbe wieder erhält“ (Wiesbadener General-Anzeiger 1894, Nr. 192 v. 19. August, Für’s Haus, 131).

Der Markt übernimmt: Wichsprodukte aus Drogerien und chemischen Fabriken

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Enthäuslichung der Bohnerwachsbereitung durch gewerbliche Fertigwachse (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1885, Nr. 65 v. 8. Februar, 26)

Bohnerwachs wurde anfangs häuslich hergestellt, doch die schon erwähnten „Zimmerputzer“ – noch ein qualifizierter männlicher Beruf – nutzten schon selbst produzierte Reinigungsmittel. Diese stammten zumeist von Drogisten, die analog zu den Haushalten, doch unter kontrollierteren Bedingungen größere Mengen produzierten und zunehmend unter eigenem Namen verkauften. Der Begriff „Bohnerwachs“ war jedoch noch nicht stofflich definiert und reguliert, sondern eine Ware, mit der man putzen, säubern, imprägnieren konnte. Die einschlägigen Handbücher benannten die Hauptgruppen: „Theils sind es Lösungen von Wachs oder wachsähnlichen Stoffen in Terpentinöl, theils eine Art von überfetteten Wachsseifen, entstanden durch theilweises Verseifen des Wachses durch Pottasche“ (Gustav-Adolf Buchheister, Handbuch der Drogistenpraxis, Bd. 2, 3. verm. Aufl., Berlin und Heidelberg 1898, 277; Karl Dieterich, Bohnerwachs, in: Ewald Geissler und Josef Moeller (Hg.), Real-Enzyclopädie der gesamten Pharmazie, 2. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 3, Berlin und Wien 1904, 115).

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Vor der allgemeinen Geltung des Begriffs Bohnerwachs: Die Parquetbohne (Berliner Tageblatt 1893, Nr. 565 v. 5. November, 16)

Wir haben es also schon im späten 19. Jahrhundert mit einem Markt zu tun, der geringe Zugangshürden hatte, denn die Produktion übernahm und verfeinerte häusliche Praktiken. Zudem wurden die Häuser der Jahrhundertwende immer häufiger mit einfacher zu pflegenden Stein-, Steinholz-, Linoleum- und Parkettböden versehen, die allesamt gewichst und gebohnert werden konnten und mussten. Während die Drogisten lediglich lokale, selten auch regionale Märkte mit ihren Angeboten versorgten, traten seit den späten 1890er Jahren vermehrt Lack- und Schuhwichseproduzenten in den Markt ein, bauten regionale, in selten Fällen auch schon nationale oder gar erste internationale Vertriebsstrukturen auf. War anfangs der Name des Produzenten Marker des Angebotes, so bedienten sie sich nunmehr vermehrt allgemeiner Markennamen, erst mit engen Bezug zur Pflege selbst – Parket-Rose –, dann auch solche mit chemisch-wissenschaftlichem Anspruch, etwa Cirine. Sie entwickelten also neue Markenidentitäten, gründeten sie auf einen niedrigen Preis oder aber auf besondere Eigenschaften: Parket-Rose sollte beispielsweise auch nass wischbar sein, Cirine war flüssig und daher gleichmäßiger aufzutragen.

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Markenartikel vor dem Ersten Weltkrieg (Kölner Local-Anzeiger 1905, Nr. 213 v. 6. August, 1 (l.); Der Bazar 59, 1913, 85)

Mit diesen kurzen Strichen ist der Boden skizziert, auf dem ein Produkt wie das Bohnerwachs Wichsmädel entwickelt und erfolgreich vermarktet werden konnte. Primär war, wie bei jedem Marktangebot, die Gewinnabsicht der Anbieter. Es war aber auch Quintessenz einer schon lange vor den 1920er Jahren begonnenen Haushaltsrationalisierung, in dem der Markt zuvor häusliche Tätigkeiten übernahm, in dem zugleich andere Baumaterialien und Wohnungskonstruktionen das Putzen schon erleichtert hatten. Die Fron der Hausarbeit wurde eben nicht nur von den betroffenen Frauen als Problem empfunden. Der Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933) fasste dieses Dilemma in prägnante Worte: „Unsere Frauen altern und verblühn, leisten eine Arbeitsmenge, die kein Mann zu leisten vermochte und erreichen doch nichts, als dass alle dieses, Kochwirtschaft, Hauswirtschaft, Kinderpflege ganz unrationell, unzweckmässig und dilettantisch geübt wird, als dass sie mit all ihrer undifferenzierten, planlosen Wirtschafterei sich und andern das Leben vergällen. Zumal der Vormittag und der frühe Morgen in den Familienhaushalten der ‚weniger Bemittelten‘ ist eine kleine Privathölle. Ein ewiges Schruppen, Kratzen, Bohnern, Umkramen und Umräumen. Ein Tollhaus knarrender, kreischender, wetzender Geräusche. Dazwischen Zurufe und Menschenstimmen. Wenn dann schliesslich die rasselnden Privatmaschinen der Familienhaushalte leidlich in Gang kamen, wenn genug geklopft, gewischt, geruckt und geschruppt ist, dann ist der halbe Tag herum. Die Sonne steht in Mittag; die Arbeitskraft ist verbraucht, die Seele müde und stumpf“ (Der Lärm, Wiesbaden 1908, 63).

Bohnern und Wichsen

Während die Mehrzahl der Bohnerwachse und Reinigungsmittel lediglich noch wenigen Spezialisten und Sammlern bekannt ist, besitzt Wichsmädel einen relativen Ausnahmestatus. Es gab bis vor einigen Jahren eine eigene Website resp. eine liebevoll gemachte Facebookseite. Einschlägige T-Shirts sind weiterhin zu kaufen. Original-Blechdosen, die in diesem Segment ansonsten für 10 bis 15 Euro zu haben sind, kosten mit Wichsmädel-Konterfei 60 Euro und mehr. Selbstverständlich werden derartige populärkulturelle Entwicklungen im offiziösen Kulturleben gespiegelt, dann aber mit Verweis auf die vermeintliche Frauenfeindlichkeit von Warenzeichen und Verpackung gebrochen (Reklame. Verführung in Blech, hg. v. GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig 2020, 102-103). In der Berichterstattung über eine Reklame-Ausstellung im Leipziger Grassi-Museum war Wichsmädel 2020 ein wichtiger Quell der Heiterkeit und Aufmerksamkeitsökonomie.

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Vermeintlicher Kult – T-Shirt-Angebote mit variiertem Wichsmädel-Warenzeichen (Ebay)

Das gängige Anspringen auf den vermeintlichen Kultartikel Wichsmädel sagt allerdings mehr über uns als unsere Vorfahren aus. Sprachwandel wird kaum mehr reflektiert, Bedeutungstransfers werden selten thematisiert. Beim Wichsen ergötzen sich viele an der Ziel-, nicht an der Ausgangsbedeutung. Das Adjektiv bezeichnete eine Bewegung, das Bohnern des Bodens, das schmückende Bürsten und Kämmen von Bart und Haar, das Auf und Ab der Bürste bei der Schuhpflege. Neben den Reinigungsartikeln wurden während und auch nach dem Kaiserreich Haar- und vor allem Schuhwichsen angepriesen. Das lag an einem Moment des Innehaltens, an dem Verteilen der Grundmasse, an dem Einziehen und Versteifen der Auftragsmasse. Bohnern war eng damit verbunden, dann aber vor allem beim beherzten Kampf mit dem Fleck, mit dem am Ende stehenden Resultat: „Die Bohnermassen werden ähnlich den Polituren mittelst eines weichen Ballens auf dem Fussboden, Leder oder Linoleum etc. vertheilt und dann so lange gerieben oder gebürstet, bis ein glänzender Wachsüberzeug entstanden ist“ (Buchheister, 1898, 278). Dass dabei auch Hilfsmittel wie die Bohnerbürste verwandt wurden, ist nicht nur jedem Putzenden geläufig.

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Schuhwichse als gängiges Angebot (Vorwärts 1902, Nr. 292 v. 14. Dezember, 15)

Wichsen und bohnern waren vor dem Ersten Weltkrieg gängige Alltagsworte, selbst das Reichspatentamt ließ Eintragungen im Warenverzeichnis „Wichse“ zu (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 232 v. 29. September, 9). Doch während des Krieges – also kurz vor der Etablierung des Markennamens Wichsmädel – wurde das lange bestehende Wortfeld auf die gängige Masturbation der Soldaten des Kaisers ausgeweitet (Sascha Bechmann, Sprachwandel – Bedeutungswandel. Eine Einführung, Tübingen 2016, 236). Hinzu kamen Dienstleistungen in Feldbordellen oder aber einschlägige Dienstleistungen in der Etappe oder der Heimatfront. Das erfolgte verschämt, in der Alltagssprache, erst in den 1920er Jahren in realistischen Schilderungen der Fronterfahrungen. Wichsen war negativ besetzt, entsprach es doch nicht dem gerne hochgehaltenen Bild des tapferen und sittenstrengen deutschen Soldaten.

Im Glucksen über Wichsmädel Bohnerwachs spiegeln sich nicht nur Restbestände spätpubertärer Unaufgeklärtheit, sondern auch Vorstellungen über Frauen als Objekt männlicher Sexualphantasien. Die Wichsmädel-T-Shirts unterstreichen, dass man daraus einen kleinen ironischen Nischenmarkt etablieren kann. Dem ging jedoch eine stete, meist unreflektierte Präsenz des Wichsmädels in populären Darstellungen zur Geschichte der Reklame voraus (Klaus Pressmann (Hg.), Email-Reklame-Schilder von 1900 bis 1960 […], Zürich 1986, 256; Eugen Leitherer und Hans Wichmann, Reiz und Hülle. Gestaltete Warenverpackungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Basel 1987, 216; Kuh von links, Der Spiegel 1994, Nr. 23, 190). Sprachwandel ist eben höchst ambivalent, werden bestimmte Alltagsworte nicht nur einfach vergessen, sondern auch gleichsam ausgegrenzt, weil man sich nicht dem Ruch der Sexualisierung resp. der Frauenfeindlichkeit aussetzen möchte. Das gilt ähnlich auch für das „Putzen“, wenngleich dessen sexuelle Aufladung seit dem späten 19. Jahrhundert eher zurückgetreten ist.

Die Lack- und Farbenfabrik Wilhelm Süring

Wichsmädel wurde seit Ende 1919 angeboten – und das als Folge der Konversion eines Rüstungsbetriebes in einen zivilen Markenartikelanbieter. Es handelte sich um die Dresdener Firma Wilhelm Süring, die sich als Lackproduzent schon vor dem Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht hatte. Die Firma entstand 1841 als Handwerksbetrieb, Carl Wilhelm Süring zeichnete noch ein Jahrzehnt später als „Wagenlackirer“ (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1851, Nr. 76 v. 17. März, 14), baute seinen Betrieb jedoch aus, stellte in den 1850er Jahren Lackierer auch für „Bau- und Möbel-Arbeit“ ein (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1856, Nr. 141 v. 20. Mai, 6). 1866 gründete Süring dann gemeinsam mit dem Kölner Kaufmann Ferdinand Funhoff eine „Lacksiederei“ (Dresdner Anzeiger 1866, Nr. 306 v. 2. November, 1; ebd. 1867, Nr. 12 v. 12. Januar, 2). Später trat an dessen statt Alfred Bruno Angermann in die Firma ein (Adressbuch und Warenverzeichnis der Chemischen Industrie des Deutschen Reiches Bd. 1, Berlin 1888, 220). Das Verhältnis der Partner scheint freundlich gewesen zu sein, denn er fungierte als Trauzeuge bei der zweiten Hochzeit von Sürings gleichnamigem Sohn 1896. Carl Wilhelm Süring (1851-1915) folgte seinem Vater als Firmenchef und gründete nach dem Ausscheiden Angermanns im April 1902 die „Lack- und Farbenfabrik mit Dampfbetrieb“ Wilhelm Süring in Dresden (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 94 v. 22. April, 18). Sein Sohn Karl Friedrich Wilhelm Süring (1883-1962) wurde damals technischer Leiter. All das war erfolgreich. 1909 errichtete Süring im Vorort Dresden-Reick neue, größere Produktionsstätten (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 223 v. 21. September, 12; Dresdner Nachrichten 1909, Nr. 37 v. 6. Februar, 9). Sein Sohn wurde Ende 1914 Teilhaber, nach dem Tode des Vaters im April 1915 dann Alleineigentümer der auf Lacke und Firnisse spezialisierten chemischen Firma (Farben-Zeitung 20, 1915, 371; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1915, Nr. 201 v. 22. April, 5; Farben-Zeitung 20, 1915, 830).

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Ein Rüstungsproduzent voller Tradition (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 601 v. 27. November, 4 (l.), ebd. 1918, Nr. 39 v. 22. Januar, 8)

Der neue Inhaber stellte Süring in den Dienst der deutschen Kriegsanstrengung, wollte die Firma „nach den bisherigen, bewährten Grundsätzen weiterführen“ (Farben-Zeitung 20, 1915, 914). Doch er wechselte zugleich den Prokuristen aus (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 115 v. 19. Mai, 8). Weiteres folgte. Zum einen errichtete Karl Friedrich Wilhelm Süring neben der bereits bestehenden Zweigniederlassung in Berlin weitere in München und dann auch Nürnberg (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 139 v. 18. März, 10; Deutscher Reichsanzeiger 1920, Nr. 180 v. 3. August, 9). Das bedeutete Nähe zu den Militärbehörden in Bayern und Preußen und eine Erweiterung des Vertriebsnetzes über die sächsische Kernregion hinaus. Zum anderen aber richtete der neue Firmeninhaber die Firma schon während des Krieges auf den zivilen Nachkriegsmarkt auf.

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Verbindende Dachmarke: Der SÜ-Ring (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 127 v. 31. Mai, 16 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1)

Seit 1915 etablierte Süring mit dem SÜ-Ring eine neue Dachmarke in unterschiedlichem Design, mit denen das sich durch Heereslieferungen und Rohstoffmangel rasch verändernde Angebot werblich verbunden werden konnte. Die Analyse der nicht zahlreichen Quellen spiegelt das Bemühen um eine einheitliche Außendarstellung, doch angesichts wiederholt veränderter Einzelelemente gelang dies nur ansatzweise (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 263 v. 7. November, 10; ebd. 1916, Nr. 295 v. 15. Dezember, 9; Dresdner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 271 v. 4. Oktober, 10).

Parallel sicherte sich Süring Warenzeichen für seine wichtigsten Zivilangebote. Der Emaillelack Ringolin machte den Anfang, gefolgt von der Bronzefarbe Ringos-Aluminium und weiteren Speziallacken wie Ringolit, Sürings-Wetterlack und -Wetterhart sowie einer Universalfarbe (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 97 v. 25. April, 18; ebd. 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 17; ebd. Nr. 284 v. 30. November, 18; ebd. 1919, Nr. 211 v. 16. September, 15; ebd. 1918, Nr. 151 v. 29. Juni, 26).

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Neue Markenprodukte mit Qualitätsimage (Das Echo 42, 1923, 4790 (l.), ebd., 4932)

Diese unternehmerische Strategie wurde ergänzt durch den Kauf neuer Patente (Kunststoffe 8, 1918, Nr. 23, Anzeigen, 2) und eine überraschend aktive Werbung für die in Haushaltsgrößen angebotenen Produkte. In den damaligen Dresdner Adressbüchern fällt seine Seitenrandwerbung unmittelbar auf. 1919 und dann 1923 wurden die Betriebsstätten in Dresden-Reick erweitert, zudem Häuser für die Beschäftigten erbaut.

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Ein breites Sortiment, inklusive Wichsmädel-Bohnerwachs, und die Produktionsstätten der Lackfabrik Wilhelm Süring (Adressbuch, 1921, IX (l.); Deutsche Luftfahrer-Zeitschrift 22, 1918, Nr. 11/12, 45)

Und Wichsmädel Bohnerwachs? Dieser war Teil der Diversifikationsbestrebungen Sürings nach dem Ende des Weltkrieges. Er wurde vorrangig als Einzelprodukt beworben, war jedoch immer auch Teil des Gesamtsortiments.

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Wichsmädel als Teil einer Markenstrategie mit Angeboten für den Kleinabsatz (Sport im Bild 27, 1921, 1245 (l.); Das Echo 42, 1923, 4789)

Etablierung der Marke Wichsmädel

Vor diesem unternehmerischen Hintergrund überrascht es kaum, dass auch die Markenetablierung im Umfeld des Süring-Rings erfolgte. Die kniende Frau begann ihr Bohnerwerbewerk zwar schon Ende 1919 (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 478 v. 25. November, 3), doch das Warenzeichen wurde erst 1922 warenrechtlich geschützt.

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Wichsmädel-Warenzeichen: Die kniende und bohnernde Frau (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1 (l.); Warenzeichenblatt 29, 1922, 645)

In der Sammler- und Museumsliteratur wird das Kernmotiv ohne verlässliche Belege auf den Graphiker Ludwig Hohlwein (1874-1949) zurückgeführt (etwa  Sylke Wunderlich, Das grosse Buch der Emailplakate, München 1997, 73; Margaret Horsfield, Der letzte Dreck. Von den Freuden der Hausarbeit, Berlin 1999, 231; Reklame, 2020, 103 sowie auch im entsprechenden Ausstellungsflyer des Grassi-Museums). Zudem wird um resp. ca. 1915 als Entstehungsjahr des Entwurfs angegeben. Beide Angaben scheinen mir hochgradig fraglich zu sein, sind eher Teil einer selbstreferentiellen Kulturszene, in der der spätere Nationalsozialist Hohlwein auch heute als Künstler mit einer lediglich „durchaus streitbaren politischen Orientierung“ präsentiert wird (Patrick Rössler, Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag, arthistoricum.net: Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag), in der Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit unzureichend beachtet werden.

Während des Ersten Weltkrieges waren Fettprodukte wie Bohnerwachs abseits des Militärbedarfs jedenfalls strikt rationiert, war Schuhwichse eine seltene Ausnahme mit Ersatzmittelqualität. Sürings zahlreiche Anzeigen zum Ankauf von Rohwaren für seine Lacke und Firnisse unterstreichen dies indirekt. Auch in der unmittelbaren Übergangszeit war Bohnerwachs selten, erst 1920 begann sich die Versorgungslage langsam zu entspannen (Wiener Illustrierte Zeitung 29, 1920, H. 20 v. 15. Februar, 20). Zahlreiche Hausfrauen waren  zwischenzeitlich wieder zur häuslichen Herstellung von Bohnenwachs übergegangen; vorausgesetzt, sie konnten sich entsprechende Rohmaterialien organisieren.

Für einen Lack- und Firnisproduzenten wie Wilhelm Süring war die Produktion von Bohnerwachs technisch unproblematisch. Das galt auch für den recht frühen Markteintritt. Man hatte zuvor gewiss umfangreiche Erfahrung im Umgang mit kriegsbedingten Ersatzmitteln machen können, denn insbesondere das Terpentin als wichtigstes Lösungsmittel wurde damals durch Benzol, Solventnaphtha oder hydrierte Naphtaline substituiert (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 60, 1920, 292; allgemein Carl Ebel, Die Fabrikation von Schuhcreme und Bohnerwachs, Halle a.d.S. 1930). Wichsmädel Bohnerwachs passte auch deshalb in Sürings Diversifikationsstrategie, weil die Zahl der Konkurrenten Anfang der 1920er Jahre noch klein war (Adressbuch der Farben-, Lack- und Firnis-Industrie […], IV. Ausg., Berlin 1921, 368). Die Eigenwerbung klang selbstbewusst: „Wichsmädel-Bohnerwachs in vornehmen dreifarbig bedruckten Dosen, anerkannt beste Qualitätsware, monatliche Leistungsfähigkeit 75.000 Dosen“ (Ebd., 452).

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Scherenschnitte als Mode der 1910er und frühen 1920er Jahre (Berliner Leben 26, 1923, Nr. 9, 19 (l.); ebd. Nr. 7, 20)

Der Scherenschnitt der knienden und bohnenden Frau passte auch in die neuerliche Mode dieses in Europa im späten 18. Jahrhundert künstlerisch entwickelten Genres, ebenso ihre nicht unmodische Erscheinung mit zurückgebundenem Haar und kurzen, breiten Absätzen. Wichtiger dürften für Süring ökonomische Aspekte gewesen sein – die in kulturwissenschaftlichen Museen ja nur selten beachtet werden. Werbung ist ein Mittel zur Erzielung von Gewinn – und man muss nicht Bazon Brocks emphatischen Kunstbegriff folgen, um zu verstehen, dass Ästhetik und Design vorrangig Mägde des Marktes sind und als solche auch analysiert werden müssen, um nicht in Ästhetizismus oder glucksende Fehleinschätzungen abzugleiten.

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Absicherung des semantischen Terrains durch Defensivzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 25 v. 30. Januar, 21 (l.); ebd., Nr. 107 v. 9. Mai, 1)

Erstens besetzte die Dresdener Firma mit „Wichsmädel“ nicht nur das semantische Feld, sondern sicherte es auch durch Defensivzeichen ab. „Wichsfrau“ und „Wichsdiener“ wurden als 1923 als Warenzeichen eingetragen, so dass es für Wettbewerber kaum möglich war, weitere Wichskomposita zu etablieren. Der 1922 eingetragene Bohnerwachs „Bohnerliesel“ der Märkischen Wachsschmelze Becher & Rechnitz unterstrich, dass solche Befürchtungen nicht unbegründet waren (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1002). Dieser semantischen Sicherung diente zudem die im Herbst 1921 erfolgte Umbenennung der einschlägigen Dresdener Produktionsstätten in Wichsmädelwerke (Wiesbadener Tagblatt 1921, Nr. 495 v. 30. Oktober, 4). Die Sicherung der Markenrechte dauerte auch danach an, denn das die Blechdosen zierende Warenzeichen wurde erst am 28. Juli 1923 beantragt und am 7. Januar 1924 dem Wichsmädelwerk Wilhelm Süring erteilt (Warenzeichenblatt 31, 1924, 196).

16_Deutscher Reichsanzeiger_1922_04_22_Nr094_p01_Das Echo_42_1923_p4816_Schuhcreme_Wilhelm-Suering_Dresden_Wichsmaedel

Ausweitung der Markenfamilie: Wichsmädel-Schuhglanz (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 94 v. 22. April, 1 (l.); Das Echo 42, 1923, 4816)

Zweitens erweiterte die Firma spätestens 1922 die Produktpalette der unter dem Warenzeichen Wichsmädel verkauften Waren. Wichsmädel Schuhglanz war eine Schuhcreme, die ebenfalls in drei verschiedenen Dosen angeboten wurde. Produktionstechnisch dürfte das keine Probleme bereitet haben, unterschied sich die Herstellung beider Produkte doch nur geringfügig. Das gewählte Warenzeichen zeigte abermals eine Frau in Bewegung, dieses Mal beim Schuhputzen. Das erfolgte in halb gebückter Haltung, teils mit angewinkelten Knien. Die auf Knien bohnernde Frau agierte auch hier wie im richtigen Leben, nämlich aufrecht (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1001).

Markteinführung mit begrenzten Mitteln

Wichsmädel Bohnerwachs war ein Drogerieartikel. Diese Selbstbegrenzung folgte der damaligen, vor der Raum- und Sortimentsentwicklung der Selbstbedienungsläden noch üblichen Spezialisierung des Fachhandels. Wie andere Angebote Sürings war Wichsmädel ein Qualitätsprodukt, dessen Vorzüge von ausgebildeten Drogisten gut präsentiert werden konnten – anders als vom Lebensmittelhändler mit seinen anderen Fertigkeiten. Feste Preise und wechselseitig verlässliche Gewinnspannen boten Ausgleich für die Mühewaltung. Der Absatz erfolgte anfangs parallel zum Vertrieb der Lacke und Farben, doch schon Anfang der 1920er Jahre baute Süring ein reichsweites Vertreternetz auf, um Wichsmädel in möglichst vielen Drogerien zu listen. Die Läden bildeten zugleich eine wichtige Werbesphäre, denn hier fand man Emailleschilder, wurde Proben und später Wertmarken verteilt und wieder eingelöst. Doch diese Vertriebsarten sind kaum mehr zu rekonstruieren.

17_Berliner Tageblatt_1921_02_26_Nr095_p10_Hamburger Anzeiger_1921_02_27_Nr048_p7_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Wilhelm-Suering_Vertreter_Drogerien

Aufbau eines reichsweiten Vertriebsnetzes für Wichsmädel-Bohnerwachs (Berliner Tageblatt 1921, Nr. 95 v. 26. Februar, 10 (l.); Hamburger Anzeiger 1921, Nr. 48 v. 27. Februar, 7)

Anders ist dies bei gedruckten Anzeigen. Sechs Aspekte kennzeichnen die Werbung von Wichsmädel Bohnerwachs vor der Hyperinflation 1923.

18_Muenchner Neueste Nachrichten_1919_12_27_Nr526_p11_Ebd_1920_10_18_Nr433_p10_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Arbeitserleichterung und Eigentumsbewahrung (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 526 v. 27. Dezember, 11; ebd. 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10)

Die Markteinführung erfolgte seit Herbst 1919 erstens im Bannstrahl des SÜ-Rings, also der Dachmarke Wilhelm Sürings. Sie war Teil der Erweiterung des Markenportfolios. Zweitens gab es abseits vom SÜ-Ring und der bohnernden Frau keine verbindliche Markenführung. Deutlich wird dies etwa an der Nutzung skurriler Werbefiguren, auf die aber in der Folgezeit nicht wieder zurückgegriffen wurde. Offenkundig bestand kein systematischer Werbeplan. Wichsmädel war ein beworbenes Produkt ohne eigentliche Markenidee.

19_DNN_1920_04_23_Nr106_p09_Ebd_04_18_Nr102_p12_DN_1921_05_01_Nr203_p17_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Gedicht

Warenzeichen, Gedicht und Bildelemente bei der Markteinführung (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 106, v. 23. April, 9 (l.); ebd., Nr. 102 v. 18. April, 12; Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 203 v. 1. Mai, 17 (r.))

Mit der Benennung und werblichen Ausgliederung der Wichsmädelwerke (parallel zum Bezug neu erbauter Produktionsstätten) emanzipierte sich die Marke drittens ab Herbst 1921 von den Werbemitteln Wilhelm Sürings. Der Produzent trat hinter das Produkt zurück, ermöglichte diesem eine virtuelle Eigenexistenz – wenngleich in vorrangig kleinen Anzeigen. Dabei setzte man vorrangig auf den Wiedererkennungseffekt der knienden und bohnernden Frau, während der SÜ-Ring verschwand (Duisburger General-Anzeiger 1921, Nr. 178 v. 9. Oktober, 7; Westfälische Zeitung 1921, Nr. 244 v. 29. Oktober, 5).

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Übergang zwischen SÜ-Ring und Wichsmädelwerk (Die Woche 23, 1921, Nr. 44 v. 5. November, s.p.)

Diese Emanzipation der Marke ging einher mit Variationen des Namenszuges und unterschiedlichen Größen der bohnernden Frau. Das Grundmotiv erschien stetig, doch die relative Langeweile des nur einen Motivs wurde ansatzweise aufgebrochen (Wiesbadener Tagblatt 1922, Nr. 247 v. 28. Mai, 4; General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1922, Nr. 11327 v. 27. Mai, 13).

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Experimente mit dem Warenzeichen (Die Woche 24, 1922, Nr. 24 v. 17. Juni, s.p.)

Parallel veränderte man die Position der Werbedame, spiegelte das Zeichen, veränderte moderat die Proportionen, auch die Haarpracht.

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Bohnern von links nach rechts, aber auch von rechts nach links (Der Welt-Spiegel 1922, Nr. 50 v. 10. Dezember, 5)

Viertens setzte man beim Vertrieb von Wichsmädel vielfach auf Werbelyrik, während appellative Slogans wie etwa „Für Möbel, hol Wichsmädel“ nicht weiterentwickelt wurden. Schon oben wurden erste Gedichte sichtbar. Sie chargierten zwischen versuchter Leichtigkeit und der Vermittlung zentraler Werbebotschaften, so etwa: „Kennen Sie Wichsmädel schon? / Das Bohnerwachs? Die Sensation? / Das Wachs, das hart und fest? / Das sich nachwischen läßt? / In Qualität sich immer gleicht / Und noch einmal so lange reicht, / Als wenn man weiches Kriegswachs nimmt? / Noch nicht? Versuchen Sie’s bestimmt!“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 102 v. 18. April, 12) In solchen lyrischen Ergüssen wurden männliche und weibliche Perspektiven eingenommen, die Friedensqualität hervorgehoben, die leichte Anwendung, der Beitrag des Bohnerwachses zu einem schönen Heim, zu einer sparsamen Haushaltsführung: „Wichsmädel ist die Bohnermasse, / die Friedensware erster Klasse. / Sehr leicht gib damit jeder / Linoleum und Leder, / Parkett und Möbeln Eleganz / Und lang anhaltend hohen Glanz. / Wer nun meint gescheit zu sein, / Kauft Wichsmädel-Wachs nur ein!“ (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 179 v. 4. Mai, 5)

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Deutsche Werbelyrik – bar jeder Kunst (Hamborner Volks-Zeitung 1922, Nr. 138 v. 21. Mai, 5 (l.); Kölnische Zeitung 1923, Nr. 302 v. 1. Mai, 7)

Obwohl diese Gedichte ungelenk und teils unfreiwillig komisch wirken, obwohl sie bar jedes Gefühls für die Möglichkeiten deutscher Sprache waren und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Erguss professioneller Werbetexter, wurden derartige Gedichte doch bis zur Weltwirtschaftskrise geschaltet, vielfach auch als Teil größere Anzeigen (Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 107 v. 7. Mai, 2; Mittelbadischer Courier 1928, Nr. 108 v. 8. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 79 v. 3. April, 5). Aus Sicht der Produzenten und Händler müssen sie also wirkmächtig gewesen sein.

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Werbung um die solventeren Kreise (Erzgebirgischer Volksfreund 1921, Nr. 131 v. 8. Juni, 3)

Fünftens kennzeichnete die Markeinführung schließlich eine doppelte Qualitätsorientierung. Einerseits verwiesen die Anzeigen vielfach auf die „besseren“ Hausfrauen und die „besseren“ Geschäfte. Die Kundinnen wurden in einfachen Textanzeigen entsprechend adressiert, die „gnädige Frau“ war auch zu Beginn der Weimarer Republik noch Zielpublikum (Leipziger Tageblatt 1921, Nr. 155 v. 1. April, 3; Badische Presse 1921, Nr. 161 v. 8. April, 3; Hamburger Nachrichten 1921, Nr. 247 v. 31. Mai, 5). Parallel kommunizierten die Anzeigen ein Qualitätsversprechen, priesen ein überlegenes Produkt „aus edelsten Rohfetten mit gutem Terpentinsalz“ in Vorkriegsqualität. Wichsmädel verwies auf die gute alte Zeit vor dem Weltenbrand, seine Werbung zielte in Zeiten der Mangelversorgung und politischen Unsicherheit auf Haltepunkte im eigenen Heim. Das Bohnerwachs war reine Ölware, hatte einen milden, angenehmen Geruch, verlieh dem Boden Glanz, doch immer noch Griffigkeit. Es schützte Boden und Möbel, frischte auf, war zugleich aber hart, konservierend und sparsam (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10; Gartenlaube 1922, Nr. 41 v. 12. Oktober, s.p.). Das klang wie ein Wunschzettel des verarmten und verarmenden Mittelstandes.

Weitet man den Blick über die Einzelanzeigen hinaus, fällt neben der im Vergleich zur Konkurrenz recht hohen Zahl von Annoncen deren saisonale Verteilung auf. Wichsmädel-Werbung begleitete die Kunden zwar durch das Jahr, doch die meisten Anzeigen finden sich zwischen März und Mai, also zu Zeiten des Frühjahrsputzes bzw. eines umfassenderen Hausputzes. Zugleich handelte es sich bei den Anzeigen der ersten Jahre um eine überraschend einseitige Flankierung des lokalen Verkaufs durch Werbemaßnahmen des Produzenten. Während bei vielen anderen Konsumgütern die Händler aktiv und an die lokalen Besonderheiten angepasst Werbung schalteten, dabei Klischees nutzen und variierten, fehlten solche dezentralen Bemühungen. Die Werbung für Wichsmädel wurde von Dresden aus bestimmt, dazu ergänzende Werbemittel geliefert, etwa Kassenblöcke mit Wichsmädel-Signet, Postkarten mit Eindrucken, selbst Rationierungskarten (s. die einschlägige Facebookseite resp. die Facebookseite von Christian Grobie Menz, der auch die Markenrechte von Wichsmädel besitzt).

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Abebbende Qualitätswerbung vor dem Werbestopp 1923/24 (Berliner Tageblatt 1923, Nr. 13 v. 9. Januar, 18)

Neue Facetten, späte Ordnung: Werbung für Wichsmädel nach der Hyperinflation

Die bisherige Analyse der Süringschen Werbung mag zu der Annahme verleiten, dass diese gleichsam nebenher, mit linker Hand betrieben wurde. Dem steht entgegen, dass Wichsmädel schon nach wenigen Jahren ein reichsweit etablierter Markenartikel war (Deutsches Markenartikel-Adressbuch 1932/33, Hamburg 1932, 319). Zudem steht bei der Analyse der Werbung der 1920er Jahre stets die zweite „goldene“ Hälfte des Jahrzehnts im Vordergrund, charakterisiert durch wirtschaftliches Wachstum, neue Visualisierungs- und Markentechniken und eine moderate Amerikanisierung, verkörpert etwa durch auch während der NS-Zeit erfolgreichen Vollagenturen wie Dorland. Doch die Veränderungen sind angemessen zu gewichten. Das mich im „Magazin“ anblickende Dienstmädel verkörpert den Übergangscharakter der Zeit besser als etwa avantgardistische Werbung amerikanischer Automobil- oder Elektrogerätehersteller, wie etwa Chrysler oder Frigidaire.

Wilhelm Süring war ein werbeaffines Unternehmen in einer Branche mit nur begrenzter Publikumswerbung. Die Wichsmädel-Werbung entwickelte sich vor dem Hintergrund steter Werbeanstrengungen auch abseits der Anzeigenwerbung. Wilhelm Süring unterstützte 1921 etwa Reklamewettbewerbe der Leipziger Messe, etablierte dadurch enge Kontakte zum Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1921, Nr. 310 v. 2. Juli, 5). Wichsmädel-Dekorationen zierten die sächsische Hauptstadt während eines umfassenden Schaufensterwettbewerbes von nicht weniger als 142 Drogisten, gewannen dort fünf Preise (Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 461 v. 30. September, 4). Nach der wirtschaftlichen Konsolidierung folgten erfolgreiche Teilnahmen an Geschäftswagenumzügen oder an hauswirtschaftlichen Ausstellungen (A. Dossmann, II. Dresdner Geschäftswagenschau, Seidels Reklame 9, 1925, 307). Dem heutigen Glucksen über Wichsmädelprodukte zum Trotz wurde das Bohnerwachs als modernes Produkt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Frankfurter oder aber Stuttgarter Küche präsentiert, also von Ikonen der damaligen Haushaltsrationalisierung („Der neuzeitliche Haushalt“, Münsterische Anzeiger 1927, Nr. 1073 v. 19. Oktober, 2).

Man kann also von einer Markenpräsentation auf der Höhe der damaligen Zeit ausgehen. Das wurde auch von dritter Seite bestätigt. Das Bohnerwachs war 1930 Teil der Anzeigenkampagne des Bamberger Tageblatts (Seidels Reklame 14, 1930, H. 6, 8). In München gewann er 1931 einen der Anzeigenpreise für gelungene Werbung in den Münchner Neuesten Nachrichten – der damals wichtigsten bayerischen Tageszeitung (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 5). Die Zeitungsredaktion selbst war stolz auf derartige Annoncen, zählte Wichsmädel zu „den wesentlichen Namen, die als Markenartikel in Deutschland überhaupt bekannt sind“ (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 9). Auch aus der Sicht hauswirtschaftlicher Expertinnen gab es Lob und Empfehlungen. Untersuchungen der Leipziger Versuchsstelle für Hauswirtschaft des Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine empfahlen Wichsmädel (wie auch Cirene, Perwachs und die Büdo-Waren) als gutes und erprobtes Produkt, klar besser als billige Hausiererware (Wittener Tageblatt 1931, Nr. 222 v. 22. September, 3).

In diesen Hintergrund ist die Wichselmädel-Werbung der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einzuordnen. Auch nach der Hyperinflation blieb das Warenzeichen der knieenden bohnernden Frau das zentrale Werbeelement. Doch nun wurde es über mehrere Jahre mit zahlreichen Bild- und Textelementen ergänzt und variiert. Dies ermöglichte auf verschiedene Zielgruppen einzugehen. Von einem organischen Wandel hin zu neuen Standards kann man nicht reden, vielmehr von vielfältigen, eher unkoordinierten Einzelmaßnahmen, in denen jeweils bestimmte werbliche Elemente hervorgehoben wurden. Die bohnernde Frau kniete zwar weiterhin, wurde aber in die Welt aufrecht agierender Frauen überführt.

Erstens warben die Wichsmädel-Werke ab 1924 in zahlreichen vorher nicht bedachten Zeitschriften, insbesondere in den neuartigen Magazinen nach meist amerikanischem Vorbild. Während altbekannte Karikaturzeitschriften noch mit eher traditioneller Werbung bestückt wurden, erforderten die neuen, durch ganzseitige Fotos geprägten Magazine neue Werbemotive, um aufzufallen.

26_Fliegende Blätter_161_1924_p583_K.E.-Magazin_1_1925_Nr02_p127_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmädel_Dienstmaedchen

Neues Werbeumfeld Karikaturzeitschriften bzw. Magazine (Fliegende Blätter 161, 1924, 583 (l.); K.E.-Magazin 1, 1925, Nr. 2, 127)

In den Anzeigen finden sich Warenzeichen, Grafiken und Texte zu einem neuen Ganzen verbunden. Das mich anfangs irritierende Dienstmädchenmodell präsentierte eben nicht nur die Blechdose, sondern lobte auch die Qualität des Bohnerwachses, appellierte an ihre das Magazin lesende gnädige Frau, „verlangen Sie aber ausdrücklich Wichsmädel!“ (Uhu 1, 1924/25, Nr. 8, XIII). Diese Vorteile wurden in anderen Anzeigen offensiv propagiert, der wachsende Marktdruck führte zu einer klareren und nachvollziehbareren Argumentation, die auch Hilfe für die Drogisten war.

27_Uhu_01_1924-25_Nr07_pXIII_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Argumente für den Kauf von Wichsmädel (Uhu 1, 1924/25, Nr. 7, XIII)

Es blieb jedoch bei Einzelmotiven. Das zeigt sich etwa an einer Werbegrafik von Paul Simmel (1887-1933), einem der bekanntesten deutschen Illustratoren und Karikaturisten, der auch andere Markenartikel propagierte, etwa Maizena oder Kukirol-Hühneraugenpflaster. Sein Blick in die Drogerie gibt einen Eindruck der verschiedenen Dosen und der Werbung im Inneren eines Ladens. Aber dies war nicht der Beginn einer größeren Kampagne, sondern blieb Einzelstück.

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Paul Simmel als Wichsmädel-Propagandist (Das Magazin 1, 1924/25, Nr. 9, 109)

Daneben lassen sich Mitte der 1920er Jahre zweitens eine Reihe von Anzeigen finden, in denen Bildelemente, Werbetexte und Warenzeichen in werbetechnisch professioneller Art verbunden wurden. Nach der erfolgreichen Markteinführung investierte Wilhelm Süring offenbar gezielt in neue Werbemotive. Die folgende Anzeige stammt beispielsweise vom Dresdener Reklameatelier Hannemann (Das Plakat 11, 1920, H. 7, XI; ebd. H. 11, VI).

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Zwischen Hausfrau und Dienstmädel (Weißeritz-Zeitung 1925, Nr. 292 v. 17. Dezember, 4)

Die Heterogenität der Wichselmädel-Werbung deutet allerdings auf Auftragsvergaben an unterschiedliche Graphiker sowie wohl auch an unterschiedliche Werbeagenturen. In diesen Motiven fand sich war die bohnernde Frau immer wieder, doch die Hauptfiguren, die Hausfrau und auch die Dienstmädchen, standen nun aufrecht, entsprachen den sich langsam emanzipierenden Frauen dieser Zeit.

30_Dresdner Nachrichten_1926_06_14_Nr275_p15_Badische Presse_1929_05_03_Nr204_p09_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Hausfrau_Dienstmaedchen

Qualitätsdiskurs und Warengespräch (Dresdner Nachrichten 1926, Nr. 275 v. 14. Juni, 15 (l.); Badische Presse 1929, Nr. 204 v. 3. Mai, 9)

Die unterschiedlichen Motive unterstrichen zugleich die zunehmende Abkehr von Dienstmädchen und den wachsenden Zwang auch vieler bürgerlicher Frauen ihr Heim selbst zu putzen. Gleichzeitig wurde das Ideal der Hausgehilfin hochgehalten, dabei zugleich auf das Produkt übertragen.

Aufrecht stehende Dienstmädchen präsentieren Wichsmädel (Hörder Volksblatt 1926, Nr. 217 v. 16. September, 4 (l.); Berliner Tageblatt 1926, Nr. 421 v. 6. September, 10)

Drittens wurden Mitte der 1920er Jahre die Verkaufsstätten Teil der Produktwerbung. Namen und Adressen der Drogerien fanden sich nun in den Anzeigen, gaben den Käufern klare Anlaufstellen, beugten Enttäuschungen vor, wenn Wichsmädel eben nicht in „allen“ Drogerien erhältlich war. Dabei handelt es sich aber nicht um dezentral geschaltete Anzeigen, denn diese Motive erschienen reichsweit zu den gleichen Terminen.

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Klischeeverwendung zur Stärkung des lokalen Absatzes (Badische Presse 1926, Nr. 451 v. 30. September, 9)

Diesen kleineren Anzeigen waren durch kräftige Schwärzung markant, koppelten Warenzeichen, Werbetext und Adressen, variierten diese Motive jedoch vielfältig. Die Nennung der Festpreise war wichtig, unterstrich die Verlässlichkeit des Markenartikels.

33_Badische Presse_1927_03_31_Nr152_p14_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Drogerie

Anderes Klischee, gleiche Verkäufer (Badische Presse 1927, Nr. 152 v. 31. März, 14)

Dennoch gelang es den Wichsmädelwerken nicht, eine einheitliche Werbesprache abseits des Warenzeichens zu etablieren. Modernere und jüngere Frauenbilder wurden ergänzt, sollten der Marke ein zeitgemäßeres Image verleihen, vor allem aber auch jüngere Hausfrauen ansprechen. Ob diese Wendung gegen die typische Alterung fast jeder Marke gelungen ist, ist unklar.

Die kokette Tochter wirbt für Wichsmädel in lokalen Drogerien (Generalanzeiger für Bonn und Umgebung 1926 v. 12660 v. 29. Oktober, 21)

Unterentwickelt: Lokale Werbung für Wichsmädel

Im Vergleich mit anderen Konsumgütern, etwa den frühen Backpulvern, den in Drogerien und Apotheken vertriebenen cannabishaltigen Asthmazigaretten oder Massenartikeln wie dem Eierkonservierungsmittel Garantol blieb die lokale Werbung der Drogisten unterentwickelt (Ausnahme Hörder Volksblatt 1922, Nr. 40 v. 16. Februar, 3). Sie verließen sich großenteils auf die vor allem gegen Mitte und Ende der 1920er Jahre breit gestreuten Werbevorlagen und Anzeigenkampagnen der Dresdener Wichsmädelwerke. Vor Ort, in den noch so zahlreichen kleinen, lokalen Blättern, warben lokale Anbieter erstens zu Zeiten, in denen der Werbeelan des Herstellers erlahmte, namentlich während der Inflationszeit.

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Dezentrale Werbung durch Drogeristen (Bramstedter Nachrichten 1923, Nr. 5208 v. 4. April, 4)

Zweitens integrierten Drogisten Wichsmädel vornehmlich bei saisonalen Anzeigen, zumeist beim Hausputz im Frühjahr. Einzelne Annoncen gab es, doch sie blieben seltene Ausnahmen.

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Werbung vor Ort durch eine lokale Drogerie (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 223 v. 23. September, 4 (l.); Godesberger Volkszeitung 1926, Nr. 46 v. 25. Februar, 4)

Drittens nutzen lokale Anbieter Wichsmädel, um den Bohnerwachs als Teil einer breiten, ja umfassenden Angebotspalette des eigenen Geschäftes zu präsentieren. Der Markenartikel diente dabei als Ensembleteil, im Mittelpunkt stand jedoch die Auswahl des Ladens. Die Einzelangebote dürften davon profitiert haben, doch im Sinne des Herstellers war die parallele Werbung für Konkurrenzprodukt nicht ideal.

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Bohnerwachs Wichsmädel als Teil der gängigen Angebotspalette für Fußbodenpflege (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 285 v. 4. Dezember, 5 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 121 v. 25. März, Landwirtschaftl. Beil., 6; ebd. 1928, Nr. 117 v. 19. Mai, Unterhaltungsbeil., 8 (r.))

Konsolidierte Marktstellung und langsames Verschwinden

Der Bohnerwachs Wichsmädel dürfte aufgrund seiner intensivierten und vielfältigeren Werbung seine Marktstellung bis in die späten 1920er Jahre gehoben haben. Doch dies ist eine begründete Annahme, keine sichere Quintessenz. Das gilt auch für die Annahme, dass die Marktstellung seit den späten 1920er Jahren tendenziell sank; auch wenn das Produkt bis weit in die DDR-Zeit weiter produziert wurde. Fünf Entwicklungen sind hervorzuheben.

Erstens wurde das Produkt selbst moderat modernisiert. Schon die Anzeigen verwiesen darauf, nannten sie doch mal französisches, später dann amerikanisches Terpentinöl als wichtiges, wohlriechendes Lösemittel. Die Reintegration des Deutschen Reiches in die globale Wirtschaft dürfte dann jedoch weitere Auswirkungen gehabt haben, denn damals nutzte man zunehmend billigere und teils mit anderen Verfahrenstechniken hergestellte Lösungsmittel. Ebenso nahm die Zahl preiswerter Importwachse zu (B. Edburg, Bohnermasse, bzw. Bohnerwachs, Drogisten-Zeitung 40, 1925, 344-347).

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Ein neuer flüssiger Bohnerwachs mit einer aufrechten Hausfrau © Christian Grobie Menz, Wichsmädel | Facebook

Wichsmädel dürfte davon betroffen gewesen sein, entweder durch den Einsatz entsprechender Rohware, sicher aber durch günstigere Angebote der Konkurrenz. Dass man in Dresden nicht beim Alten verharrte zeigte sich 1926, als die Wichsmädelwerke unter gleichem Namen einen flüssigen Bohnerwachs einführten, der von einer nun aufrecht stehenden Frau genutzt wurde. Das war eine Reminiszenz an die wachsende Zahl einfacher zu pflegender Stein- und Linoleumfußböden.

Die Preise blieben nach der Währungskonsolidierung erwartbar stabil, auch wenn man 1926 die anfangs gültigen Preise für die gängige ¼ Dose von 75 auf 85 Pfennig erhöhte. Während der Weltwirtschaftskrise reduzierte man den Preis erst sehr spät. Ab April 1931 wurde er auf 70 Pfennig gesenkt (Dortmunder Zeitung 1931, Nr. 154 v. 1. April, 15), wobei einzelne Drogerien weiter zu alten Preisen verkauften (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1931, Nr. 157 v. 15. Juni, 10). Eine weitere Preisreduktion auf 63 Pfennig erfolgte im März 1932; abermals zogen nicht alle Verkäufer mit – im klaren Gegensatz zu verbindlichen Regeln der Preisbindung (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1932, Nr. 148 v. 3. Juni, 10). Als gewisse Kompensation boten die Wichsmädelwerke spätestens seit 1930 Wertmarken an, also Zugaben, die während der NS-Zeit dann untersagt wurden (Solinger Tageblatt 1932, Nr. 65 v. 17. März, 11). Dies spiegelt den damals üblichen Preisdruck in der Abwärtsspirale der Deflationspolitik.

Zweitens intensivierte sich in dem späten 1920er Jahren die redaktionelle Textwerbung, also das Schalten von thematischen Kurztexten, um bestimmte Eigenschaften von Wichsmädel hervorzuheben. Diese begannen schon nach der Hyperinflation, die gefetteten Überschriften lauteten etwa: „Hausfrauen! Pflegt den Fußboden!“ oder „Hausfrauen! Der Geldbeutel merkt’s!“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1924, Nr. 424/5 v. 2. Oktober, 5; Castroper Zeitung 1925, Nr. 293 v. 17. Dezember, 6). Bemerkenswert war nicht nur die relative Abkehr von der gnädigen Frau, sondern auch der Kampagnencharakter derartiger Anzeigen. Die „kluge Hausfrau“ (Vorwärts 1926, Nr. 460 v. 30. September, 8) wurde beschworen, die „billige und minderwertige Wachse“ (Frankenberger Tageblatt 1926, Nr. 220 v. 1. Oktober, 3) zurückweisen würde, denn „Billig gekauft ist schlecht gekauft“ (Deutsche Allgemeine Zeitung 1927, Nr. 151 v. 31. März, 5).

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Transfer vom Dienstmädchen auf das Bohnerwachsprodukt (Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 126 v. 1. Juni, 4)

Die höhere Qualität wurde immer wieder beschworen, auch von unabhängigen Ratgebern geteilt (Die Umschau 33, 1929, 100). Wichtiger aber war einerseits der Einbezug des Urteils der Hausfrau, das durch den immer wieder betonten angenehmen Geruch des Terpentins sinnennah propagiert wurde (Frankenberger Tageblatt 1927, Nr. 77 v. 1. April, 7; Flörsheimer Zeitung 1929, Nr. 68 v. 13. Juni, 2; Bonner Zeitung 1929, Nr. 331 v. 5. Dezember, 10; Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 230 v. 17. Mai, 5). Andererseits schufen die Textanzeigen die Imagination des Produktes als Helfers im Alltag und beim „Großreinemachen“ (Badische Presse 1927, Nr. 245 v. 28. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 71 v. 23. März, 3), wurde das Dienstmädchen also zunehmend ersetzt. Textanzeigen waren flexibel, schufen neue Bezüge, präsentierten Wichsmädel als Vorreiter zukünftiger Arbeitserleichterung, banden auch das einkaufende Fritzchen in die Werbewelt mit ein (Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 58 v. 9. März, 4; Vorwärts 1930, Nr. 212 v. 8. Mai, 11).

Drittens nahmen die Wichsmädelwerke seit 1928 Abstand von bebilderten Anzeigen. Sie vertrauten auf Schlagzeilen, kurze Texte und dem weiterhin verwandten Warenzeichen. Der stets ähnliche und schon zuvor angelegte Aufbau – oben eine fette Schlagzeile, rechts die kniende Frau – bewirkte Aufmerksamkeit durch direkte Ansprache, lenkte dann auf die schon zuvor erwähnten Themen.

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Die imaginären Frauen Hausmann und Neumann (Dresdner Nachrichten 1928, Nr. 564 v. 30. November, 5 (l.); Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 57 v. 8. März, 4)

Hier war die ordnende Hand von Werbeprofis erkennbar, zumal derartige Anzeigen reichsweit parallel geschaltet wurden (Hausmann etwa auch in Riesaer Tageblatt 1928, Nr. 279 v. 30. November, 16; Badische Presse 1928, Nr. 562 v. 30. November, 4). Allerdings spiegelten auch diese Motive den wachsenden Preisdruck, denn die mit einem höheren Preis verbundene höhere Qualität des Wichsmädels musste immer wieder hervorgehoben werden.

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Sparsamkeit dank Qualität (Annener Zeitung 1928, Nr. 132 v. 1. November, 5; Dresdner Nachrichten 1929, Nr. 136 v. 21. März, 15)

Derartigen Anzeigen wurde schließlich durch variable Schrifttypen und durch immer wieder veränderte Texte eine gewisse Dynamik verliehen.

42_General-Anzeiger für Bonn und Umgebung_1928_03_30_Nr13085_p03_Durlacher Tagblatt_1930_05_08_Nr107_p6_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Bohnern

Feste Struktur mit variablen Elementen (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13085 v. 30. März, 3 (l.); Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 6)

Viertens war man sich der geringeren werblichen Kraft derartiger Anzeigen offenbar bewusst – und beantwortete sie mir der parallelen Schaltung unterschiedlicher Anzeigen. Zum einen redaktionelle Textanzeigen oder aber ein Werbegedicht, zum anderen eine der typischen schwarz unterlegten Anzeigen mit der knienden Frau, wie sie schon Mitte der 1920er Jahre verwandt wurde (Annener Zeitung 1927, Nr. 65 v. 2. Juni, 2; Rheinisches Volksblatt 1928, Nr. 105 v. 3. Mai, 6; ebd. 1929, Nr. 57 v. 8. März, 3: Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 4).

Fünftens endete 1930 die stete Innovation der Wichsmädel-Werbung. Das mag mit anderen Schwerpunkten in der Produktpalette von Wilhelm Süring zu tun gehabt haben, denn die Automobilbranche bot mit Poliermitteln und Autolacken neue Geschäftsfelder (Das Süring-Spritz-Lackierverfahren für Automobile, Dresden s.a. [1929]). Zugleich muss man aber von einem relativ gefestigten Absatz für Bohnerwachs ausgehen, der durch intensivierte Werbung nicht mehr wesentlich beeinflusst werden konnte. In diesem Fall war es einfacher, die bestehenden Motive als Erinnerung zu wiederholen und mit abnehmenden, aber immer noch gewinnträchtigen Umsätzen zu leben. Parallel nahm die absolut geschaltete Zahl von Anzeigen seit 1930 beträchtlich ab.

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Letzte Variationen des Grundmotivs (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13100 v. 19. April, 3; Wittener Tageblatt 1928, Nr. 104 v. 3. Mai, 4)

Entsprechend verwundert es nicht, dass Wichsmädel Bohnerwachs während der NS-Zeit mit zuvor entwickelten Formen und Themen beworben wurde. Die mit dem Fettplan 1933 einsetzende Bewirtschaftung vieler Rohstoffe und die Verteuerung von Importen durch schon zuvor massiv erhöhte Außenzölle führten dazu, dass Markterfolge nur durch Qualitätsänderungen und/oder Kämpfen um die Rohmaterialien möglich gewesen wären. Einfacher war gewiss, das ohne Anstrengung mögliche Bohnern mit Wichsmädel zu beschwören (Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12).

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Kontinuität während der NS-Zeit (Badische Presse 1938, Nr. 103 v. 14. April, 8; Schwerter Zeitung 1939, Nr. 65 v. 17. März, 12)

Wichsmädel blieb auch während der NS-Zeit eine führende Bohnerwachsmarke, deren Warenzeichen man nicht nur in Tageszeitungen und Drogerien, sondern auch in Adressbüchern und Telefonverzeichnissen finden konnte.

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Alltagspräsenz von Wichsmädel (Amtliches Fernsprechbuch für den Bezirk der Reichspostdirektion Leipzig 1938/39, Branchen, 37; Amtliches Fernsprechbuch für Berlin 1941, T. 2, 250)

Bei Süring trat mit Ernst Wilhelm Süring im 1939 ein weiterer Stammhalter als Prokurist in das Geschäft ein (Dresdner Nachrichten 1939, Nr. 359 v. 3. August, 5), die Hundertjahresfeier wurde nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion ruhig begangen (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1941, Nr. 181 v. 5. August, 3). Unter sowjetischer Besatzung, auch während der DDR-Zeit konnte sich Wilhelm Süring lange als Familienbetrieb behaupten, wurde erst 1972 verstaatlicht. Als VEB Lackfabrik Dresden wurde er dann Teil des Dresdner Kombinats Elaskon, dessen Nachfolger bis heute Schmierstoffe produziert.

Abschied von Wichsmädel

Der globale Markt für Haushaltsreiniger beträgt gegenwärtig knapp 41 Mrd. € und wird in Zukunft wohl weiter wachsen (Statistica.com). Multinationale Konzerne wie Proctor & Gamble, Unilever und Henkel prägen und bestimmen ihn – in enger Kooperation mit den führenden Handelskonzernen. Wichsmädel Bohnerwachs war ein frühes Produkt dieser insbesondere im Felde der Konsumgeschichte unterschätzten Branche. Über die Großkonzerne wissen wir einiges, wenig aber über die Vorgeschichte der heutigen oligopolistischen Märkte. Am Ende dieses kleinen, durch eine eigenartige Anzeige in einem Magazin der 1920er Jahre angeregten Beitrages, will ich deshalb mit Seitenblicken auf das Marktsegment enden, erklärt dies doch auch die abnehmende Bedeutung des Dresdner Bohnerwachses Wichsmädel.

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Wachsende Zahl von Konkurrenzprodukten (Warenzeichenblatt 31, 1924, 597 (l.); ebd., 766)

Bereits seit den frühen 1920er Jahren nahm die Zahl der Wettbewerber deutlich zu. Angesichts eines sich reetablierenden Marktes und der Abkehr von Wohnungen mit Lehm- oder Holzboden wuchs der Markt für Reinigungsmittel in der Zwischenkriegszeit deutlich an – und schuf angesichts der langen Nutzungsdauern von Wohnungen (und Fußböden) damit zugleich die Voraussetzungen für weitere Absatzsteigerungen von Bohnerwachs bis in die 1960er Jahre. Der vermehrte Wettbewerb prägte jedoch bereits das Marktumfeld von Wichsmädel in den 1920er und 1930 Jahren. Die Zahl lokaler Angebote von Drogerien nahm ab, die der Markenartikel zu. Sie hatten vermehrt einnehmende Warenzeichen, wie etwa der mit Welpen beworbene Bohnerwachs „Drilling“ oder der an die Legende von den Heinzelmännchen erinnernde „Gnom“ Bohnerwachs (Die Woche 24, 1922, Nr. 10 v. 11. März, III).

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Modernere Werbeansprachen (Westdeutsche Landeszeitung 1927, Nr. 89 v. 31. März, 8 (l.); Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12)

Die Werbung für Bohnerwachs wurde modernisiert, etwa durch Einsatz von gezeichneten Werbefiguren wie dem Raben der Loba-Beize oder aber die modernen Schrifttypen der „Gefest“-Reklame der dann von Henkel übernommenen Thompson-Werke. Henkel dominierte den Markt der Wasch- und Reinigungsmittel jedoch nicht nur ökonomisch und technologisch. Der Düsseldorfer Konzern prägte auch neue Werbebilder und Konsumnarrative, die das Bild der Hausfrauen und des Putzens deutlich veränderten.

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Kniend, doch adrett: Die moderne VIM-Hausfrau (Volksstimme 40, 1929, Nr. 68, 13 (l.); Der oberschlesische Wanderer 1929, Nr. 103 v. 3. Mai, 7)

Bohnerwachs verblieb im Schlagschatten derartiger Veränderungen. Preiswertere Produkte wie Wachseifen gewannen Marktanteile, doch Wachslösungen in Terpentin oder anderen nichtpflanzlichen Lösungsmitteln blieben dominant (Gustav A. Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, Bd. 2, 11. neubearb. Aufl., hg. v. Georg Ottersbach, Berlin 1933, 416). Zahlreiche Marken bestanden parallel, meist mit regionalen Schwerpunkten. Die Preisbindung ermöglichte überdurchschnittliche Gewinne, die langsame Aufteilung des Marktes zwischen Drogerien und vermehrt auch Lebensmittelhändlern milderte wirtschaftliche Kämpfe zwischen den Anbietern. Nationale Markenprodukte bestanden, neben Wichsmädel sei an Cirene, Sigella, Cefka oder Tunix erinnert (Marktüberblick bei Klockhaus, 1934, BV 46). Doch ihre Werbung konnte mit der Henkels weder in der Quantität noch in der werblichen Vielfalt konkurrieren. Sie blieb sekundär, unterschied sich strukturell kaum von der für Wichsmädel (vgl. für Globella Fliegende Blätter 163, 1925, Nr. 4170, II).

Bohnerwachs war ein stetig präsentes Reinigungsmittel, unambitiös, Beiklang zu einem Leben, in dem Putzen Alltagsfron blieb, doch keine Alltagspräsenz hatte. Das traf sich mit den Zielsetzungen der Haushaltsrationalisierung: „Der Ablauf des täglichen Lebens soll reibungslos erfolgen, ohne daß wir Hausfrauen, die wir uns Hilfskräfte nur noch in bescheidenstem Maße leisten können, in einem Springen und Rennen bleiben, in ewigem Staubwischen und Reinemachen, in ständigem Suchen und Hervorzerren nach verräumten oder ungünstig untergebrachten Gebrauchsgegenständen. Um das zu erreichen, brauchen wir Häuser und Wohnungen, bei deren Bau und Einrichtung von vorherein daran gedacht wird, daß hier Menschen täglich essen, schlafen, sich erholen – und daß wir Frauen hier arbeiten wollen, um das Essen, Schlafen und Sich-Erholen einer Anzahl von Menschen täglich von neuem zu ermöglichen“ (Erna Meyer, So wollen wir wohnen, Scherl’s Magazin 7, 1931, 466-470, 480).

49_Berliner Tageblatt_1928_09_22_Nr447_p11_Haushaltsgeraete_Parkettboden_Reinigungsgeraet_Fussbodenreinigung_Mascotte_Teilzahlung_Nover

Abkehr vom knienden Putzen (Berliner Tageblatt 1928, Nr. 447 v. 22. September, 11)

Boden- und Oberflächenpflege mutierten zu einem wichtigen Feld der Haushaltstechnisierung – obwohl der eigentliche Durchbruch erst ab Mitte der 1950er Jahre erfolgte, als neue Reinigungsmittel und Kunststoffe das Bohnern und den Einsatz der Bohnermaschinen zunehmend begrenzten. Mitte der 1920er Jahre war das noch anders, der Odem der Arbeitserleichterung beflügelte auch den maschinellen Einsatz von Bohnerwachs. Die Maschinen waren vielfach noch nicht ausgereift, noch war nicht klar, ob die Walzen parallel oder senkrecht zum Boden stehen sollten, ob Staubsauger und Bohnermaschinen zu koppeln waren, ob rotierende Drehköpfe oder einfache Walzenapparate sinnvoller seien (Mangold, Reinigungstechnik im Hause, Die Umschau 32, 1928, 403-405, 407, hier 405, 407). Allen Geräten gemein war – neben ihrem relativ hohen Preis –, dass sie der Arbeitserleichterung dienten, dass sie versprachen, das kniende Putzen zu beenden: Ziel war die aufrechte Frau – femina erecta! Die neuen Maschinen erlaubten Bohnern im Stehen, das weiterhin erforderliche Nachputzen wurde als einfach zu bewältigende Bagatelle verniedlicht.

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Die Suggestion der kinderleichten Hausarbeit: Eine Blockermaschine und der Protos-Bohnerapparat (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 22, IX (l.); ebd. 5, 1927, 413)

Hausarbeit wurde so – zumindest in der Werbung – zu dem Vergnügen, das auch schon in Wichsmädel-Werbung anklang. Nicht umsonst hieß eines der frühen Erfolgsmodelle „Hobby“ (Zeitbilder 1929, Nr. 4 v. 27. Januar, 8). Doch die Werbewelt dieser Bohnermaschinen war noch verhalten und ernst, vergleicht man sie mit den beschwingten Bildern der Wirtschaftswunderzeit.

51_Frankfurter Illustrierte_46_1958_Nr36_p21_Hamburger Abendblatt_1960_04_07_Nr083_p22_Putzmittel_Bohnerwachs_Kik_Plastikverpackung_Siegel_Sigella_Henkel

Fröhliche Hausfrauen, neue Verpackungen, alter Dreck (Frankfurter Illustrierte 1958, Nr. 36, 21 (l.); Hamburger Abendblatt 1960, Nr. 83 v. 7. April, 22)

Mit diesen wahrhaft aufrechten Frauen möchte ich mich verabschieden. Diese Frauen hatten sich vom Boden erhoben, tanzten spielerisch durch ihre Wohnung, bohnerten scheinbar mühelos im Handumdrehen. Nichts erinnerte mehr an die Alltagsfron des Wichsmädels, an die abhängige Lage eines Dienstmädchens. Die Irritation des Namens war gewichen, die Welt erschien glatt, gefällig und glänzend. Einzig der Dreck, der blieb und kam immer wieder. Und wir müssen uns ihm stellen, ob aufrecht oder auf den Knien.

Uwe Spiekermann, 3. Februar 2023

Deutscher Rum – Gestaltungsutopie, Importalternative, Billigangebot

Rum – das war ein Trank, der von Ferne und Abenteuer kündete, von der Karibik, den Kämpfen zwischen Briten, Franzosen und Spaniern; und natürlich von der Seefahrt und Piraten: Yo ho ho, und ne Buddel voll Rum… Rum stand aber auch für eine begehrte Kolonialware mit zuvor unbekanntem rauchig-süßen, scharf-milden Geschmack. Wie Zucker, Kaffee, Kakao, Tee und Arrak veränderte sie die europäische Esskultur seit dem 18. Jahrhundert. Rum verkörperte die koloniale Plantagenwirtschaft, war Anlass und Zahlungsmittel des Sklavenhandels. Adam Smith (1723-1790), Vater des modernen Wirtschaftsliberalismus, formulierte eindeutig: „Rum ist ein sehr wichtiger Artikel bey dem Handel, den die Amerikaner nach der afrikanischen Küste betreiben, von da sie Negersklaven zurück bringen“ (Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, 2. verb. Ausg., Bd. 2, Breslau und Leipzig 1799, 503).

Rum war jedoch auch ein Importgut des Ausschlusses: Die deutschen Lande mochten um 1800 bedeutende Dichter und Denker hervorbringen, sich langsam zu einer Großmacht der Wissenschaft und des Gewerbefleißes wandeln. Doch im Blick auf die beherrschte Welt der Ferne, auf die vom Westen okkupierten kolonialen Peripherien, sah man kränkende Defekte der eigenen Lebenswelten. Die Kolonialwaren waren nicht nur begehrte Ergänzungen. Sie verwiesen immer auch zurück auf die Enge des Eigenen – und seit dem späten 18. Jahrhundert setzte dies neue wissenschaftlich-industrielle Kräfte frei, um Importwaren durch Surrogate zu ersetzen.

Man begann mit der Kultivierung der Zichorie und anderer Pflanzen als Kaffeeersatz, verstärkte den heimischen Tabakanbau. Wichtiger noch war die Nutzung der gemeinen Rübe zur Zuckerproduktion. Die Extraktion war aufwändig und teuer, doch insbesondere die Kontinentalsperre 1806 – also die Wirtschaftsblockade Großbritanniens und seiner Kolonien durch die unter napoleonischer Herrschaft stehenden europäischen Staaten – intensivierte die staatliche Förderung des Rübenzuckers. Das „heimische“ Gewerbe bot eine Alternative zum britisch dominierten globalen Rohrzuckerhandel. Rübenzucker etablierte eine der ersten Industrien auf dem Lande: Die „rationale“ Landwirtschaft nutzte Wissenschaft und Technik. Geist, angewandtes Wissen über die Natur, erlaubte die Produktion moderner Süße auf eigener Scholle. Rübenzucker galt als Triumph des Menschen über die Natur, als Sieg der Agrarwissenschaft und des Maschinenbaus über die Widrigkeiten von Boden und Klima. Die Globalisierung führte eben nicht nur zur wirtschaftlichen Durchdringung und Ausbeutung kolonialer Regionen, sondern löste vielfältige Gegenreaktionen in den Zentren der westlichen Welt aus. Der Rübenzucker unterstrich, dass die klimatisch gemäßigten Länder die brutale und teure Kolonialherrschaft eigentlich nicht benötigten, dass es zumindest möglich war, viele der dortig kultivierten Produkte zu substituieren.

Rum aus Rübenzucker?

Rum war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in deutschen Landen nicht weit verbreitet. Er war teuer, passte nicht recht in eine Trinkkultur, in der das Bier dominierte, im Südwesten und der Mitte auch der Wein. Doch der für die Ernährungssicherheit so wichtige, im späten 18. Jahrhundert einsetzende Kartoffelanbau veränderte das Spirituosenangebot (Uwe Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 31-32). Am Ende der napoleonischen Zeit ging wachsende Ernährungssicherheit einher mit billigem „Branntwein“ aus Kartoffeln. Wegbereiter der rasch beklagten „Branntweinpest“ war der 1817 patentierte Pistoriussche Brennapparat (F[riedrich] Knapp, Lehrbuch der chemischen Technologie […], Bd. 2, Braunschweig 1847, 436-437). Billiger Kartoffelschnaps ermöglichte nicht nur einen massiv steigenden Alkoholkonsum, der sogar die heutigen Mengen übertraf. Hochprozentige Destillate wurden nun auch Kennzeichen und Kernproblem der deutschen Trinkkultur bis zum späten 19. Jahrhundert. Hochwertige und teure Trinkbranntweine wie der heimische Weinbrand/Kognak und die Importwaren Rum und Arrak profitierten von dieser Entwicklung indirekt, wurde ein „wärmender“ Trank doch allgemein üblich, waren die besseren Sorten bürgerliche Alternativen zum billigen Fusel der unteren Klassen.

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„Deutscher Rum“ für deutsche Bürger (Allgemeiner Anzeiger [Gotha] 1812, Nr. 117 v. 2. Mai, Sp. 1216)

„Deutscher Rum“, ein rumartiger Trinkbranntwein hergestellt aus heimischen Rohstoffen, entstand zur Zeit der Kontinentalsperre. Rumfabriken wurden schon vorher beantragt, bekannt die ablehnende Haltung Friedrich II. gegenüber dem Gesuch der Berliner Firma Krüger & Co. 1775: „Ich wünsche, daß das giftig garstigs Zeug gar nicht da wäre und getrunken würde“ (Friedrich der Große. Denkwürdigkeiten seines Lebens, Bd. 2, Leipzig 1886, 247). Doch was damals unter „Rum“ verstanden wurde, ist unklar. Das galt auch für die 1808 in Jena gegründete Deutsche Rum-Fabrik. Ziel „vaterländischen Kunstfleißes“ war jedoch, einheimische Rohstoffe so zu nutzen, dass am Ende ein dem westindischen Rum vergleichbares Getränk produziert werden konnte. Entsprechende Angebote gab es in „mehreren Gegenden Deutschlands“, doch es fehlte ihnen der charakteristische Geruch. Anders bei einem damals in Wiesbaden produzierten Trank: „Die mir zugeschickte Probe habe ich, zur Bereitung des Punsches verwendet, in Gesellschaft einiger Freunde versucht, und unser Urtheil fällt dahin aus, daß dieser vaterländische Rum dem westindischen sowohl pur, als im Punsch, an Stärke, Geschmack und Geruch ganz gleichkommt und keine Betäubung des Kopfes veranlaßt“ (J.S. Hennicke, Deutscher Rum, Allgemeiner Anzeiger (Gotha) 1813, Nr. 75 v. 17. März, Sp. 745-746). Für diesen deutschen Rum stand der Frankfurter Destillateur Johann Heinrich Rauch Pate: „Nach einer langen Reihe von Versuchen, die er mit großem Kostenaufwand viele Jahre hindurch angestellt hatte, gelang es ihm endlich, ein Verfahren zu entdecken, einen vollkommen guten Rum und Arac, welche dem Beyfall der Kenner erhalten haben, zu fabriciren“ (Berichtigungen und Streitigkeiten, Ebd., Nr. 191 v. 20. Juli, Sp. 1782). Sein Sohn Johann Carl Rauch betrieb erst mit einem Kompagnon in Wiesbaden, ab 1812 dann auf eigene Rechnung in Frankfurt a.M. die Herstellung und den Vertrieb dieses Kolonialwarensurrogats. Kontinuierlicher Erfolg blieb ihm jedoch versagt.

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Bezeichnung ohne Präzision (Mittheilungen des Gewerbevereins für das Königsreich Hannover 1834/35, Sp. 504)

„Deutscher Rum“ wurde auch in der Folgezeit aus Rübenzuckerbestandteilen hergestellt. Die seit 1828 rasch wachsende Zahl bilateraler Zollverbünde, die 1834 in den Deutschen Zollverein mündete, führte zu deutlichen Zollerhöhungen und entsprechenden Preissteigerungen des Importrums: „Seitdem man in Deutschland bemühet war, die einheimischen zuckerhaltigen Pflanzen auf Gewinnung des festen Zuckers zu behandeln, um den früherhin so hoch im Preise stehenden ausländischen zu entbehren, und in der weißen Runkelrübe ein vorzügliches Material dazu fand, war man bemüht, auch die Abgänge derselben auf Branntwein, Rum und Essig zu benutzen, und bereitete eine, wenngleich nicht dem Jamaika-Rum ganz gleichkommende, jedoch sehr ähnliche geistige Flüssigkeit“ (Albert Franz Jöcher, Vollständiges Lexikon der Waarenkunde in allen ihren Zweigen, 3. verb. u. verm. Aufl., Bd. 2, Quedlinburg und Leipzig 1840, 718-719). Derartiger „Rum“ wurde teils auch aus Rübenzucker hergestellt. Dieser wurde in Wasser aufgelöst, erhitzt, mit Hefe in Gärung versetzt. Die so hergestellte Zuckermaische destillierte man, gab reinen Alkohol hinzu, erhielt dadurch einen Branntwein. Doch nicht nur Fachleute warnten: „Dieser aus Zucker gewonnene Weingeist darf aber nicht mit dem Rum verwechselt werden“ (Wilhelm Keller, Die Branntwein-Brennerei nach ihrem gegenwärtigen Standpunkte, T. 2, Leipzig 1841, 93). Der Geschmack war deutlich anders, gehaltvoll, aber fade. „Rumfabriken“ variierten daher seit den 1830er Jahren die Grundstoffe: Teils nutzte man importierte Rohrzuckermelasse, teils Abfallprodukte der Rübenzuckerraffination. Deutsche Firmen übernahmen entsprechende Verfahren meist von Vorbildern in Großbritannien und den Niederlanden. Der in Frankreich propagierte Import von Zuckerrohr fand in deutschen Landen dagegen keinen Widerhall (Ueber die Errichtung von Baumwoll-, Kaffee- und Zukerpflanzungen in Frankreich, Polytechnisches Journal 42, 1832, 220-221, hier 221).

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Rumfabrikation aus Weingeist und mehr (Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Stralsund 1843, Nr. 31 v. 3. August, Oeffentlicher Anzeiger, 173)

Niedrige Preise waren zentral für die Vermarktung derartiger Alkoholika – und seit den 1830er Jahren nahm die Zahl sog. „Rumfabriken“ zu. Anfangs verschnitten sie importierten Rum mit Weingeist, koppelten also Rohrzucker- und Kartoffelprodukte (C[arl] F. W. Dieterici, Statistische Uebersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate […] 1831 bis 1836, Berlin, Posen und Bromberg 1838, 307). Doch seit den 1840er Jahren verzichteten sie zunehmend auf „echten“ Rum, setzten vielmehr auf aromatisierten und gefärbten Kartoffelsprit. Das Resultat war billiger als „Deutscher Rum“ aus Zucker, doch trotz aller Tricks und Zusätze „immer noch sehr schlecht“ (Rum, in: Allgemeine Encyclopädie für Kaufleute und Fabrikanten […], 3. Aufl., Leipzig 1838, 672-673, hier 673). Derartige „Rumfabriken“ entstanden zumeist im Osten Preußens, in der Nähe zur Kartoffelspritproduktion (Gewerbe-Tabelle der Fabrikations-Anstalten und Fabrik-Unternehmungen aller Art […], Beil. IV, Berlin 1847, 44). Sie nutzten die Bezeichnung „Deutscher Rum“ also nicht nur für Rübenzucker-, sondern auch für Kartoffelprodukte. Selten gebraucht, bezeichnete er in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Kunstprodukt, ein Billigangebot.

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Deutscher Rum als Chiffre für Kunstrum (Sächsischer Landes-Anzeiger 1891, Nr. 299 v. 24. Dezember, 4 (l.); Dresdner Nachrichten 1885, Nr. 26 v. 25. Januar, 5)

Dadurch geriet der teurere „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker ins Hintertreffen, verschwand gar vom Markte. Gleichwohl gab es ab und an weitere Versuche, Rum aus anderen heimischen Rohstoffen herzustellen. Während für Destillateure und Chemiker um die Jahrhundertmitte klar war, dass Importrum mit den vorhandenen Mitteln nicht herzustellen war, waberten die Hoffnungen auf ein mittels neuer Technik hergestelltes Rumsurrogat in der bürgerlichen Öffentlichkeit weiter. Der Aufstieg der organischen Chemie nährte solche Vorstellungen: Die Agrikulturchemie führte bereits zu höheren Erträgen, das 1856 entdeckte Mauvein öffnete die Tür zu einer neuartigen Welt künstlicher Farbstoffe, die mittelfristig auch koloniale Naturfarbstoffe ersetzen sollten. Dennoch verwundert die Geschichte der im Januar 1860 in Dresden gegründeten Sächsischen Rum-Fabrik.

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Rum aus Biertrebern: Anzeige für die Sächsische Rumfabrik (Leipziger Zeitung 1859, Nr. 252 v. 23. Oktober, 5171)

Der aus dem Landkreis Bautzen stammende Braumeister Peter Noack hatte Anfang 1859 ein Verfahren zur Herstellung von Porterbier, Arrak und insbesondere Rum vorgestellt. Ausgangsmaterial sollte Biertreber sein, ein Malzrückstand der Brauerei, die Gewinne alles Vorherige in den Schatten stellen (Dresdner Journal 1859, Nr. 32 v. 9. Februar, 127). Die anfangs für die neu zu gründende Aktiengesellschaft anvisierten 250.000 Taler ließen sich nicht realisieren, doch mit beträchtlicher Werbung und immensen Renditeversprechungen kamen stattliche 50.000 Taler zusammen. Dabei hatte es an Warnungen nicht gefehlt, „echter Jamaika-Rum werde eher aus der Erde hervorsprudeln, bevor eine Actie der besagten Rumfabrik die in Aussicht gestellten mir fabelhaften Procente bringt“ (H. Hollnack, Noch einen Nachricht wegen einer zu begründenden Rumfabrik, Ebd., Nr. 259 v. 9. November, 1044). Und so kam es: Die Produktion erbrachte gar klägliche Erträge, das Unternehmen wurde bereits Mitte März 1860 aufgelöst. Die Einlagen waren verloren, Maßregeln gegen den Patentinhaber verliefen im Sande (Dresdner Nachrichten 1860, Nr. 60 v. 29. Februar, 3; ebd., Nr. 71 v. 11. März, 2). Noack führte die Firma weiter, offerierte auch vermeintlichen Treberrum, doch dieser war wenig ansprechend (Ebd. 1860, Nr. 147 v. 26. Mai, 8). Die Regionalposse diente als Beleg für die auch nach der Weltwirtschaftskrise 1857/58 weiter bestehenden Gefahren unregulierter Aktiengesellschaften und einer zu starken Wirtschaftsliberalisierung (Th[eodor] Günther, Die Reform des Real-Credits, Dresden 1863, 69). Doch sie spiegelte zugleich eine weit verbreitete Gläubigkeit an die mythenlastigen Mächte von „Wissenschaft“ und „Technik“. An die Stelle der Alchimisten waren scheinbar großsprecherische Unternehmer getreten.

Ernüchternde Realität: Rumkonsum und Rummarkt in Deutschland im 19. Jahrhundert

Das Scheitern von Substituten des Importrums darf nun aber nicht zur Annahme verführen, dass sich im Alltag die bessere, echte Ware gegenüber den Surrogaten durchgesetzt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Gewiss, Rum wurde importiert, es gab durchaus „echten“ Rum zu kaufen. Doch er blieb eine seltene Ausnahme. Sein hoher Alkoholgehalt, ca. 72-75 % für den am höchsten geschätzten Jamaika-Rum, machte ihn zu scharf für den direkten Konsum. Echter Rum, original Rum – bei alldem handelte es sich fast durchweg um Verschnitte. Präzise Analysen fehlen, doch kann man bei den besten Sorten Trinkrum von einem Alkoholgehalt von ca. 52 bis 55 % ausgehen. Einstellen für den Verkauf hieß dann Zugabe von (destilliertem) Wasser. Das erfolgte vielfach schon in den Londoner Docks, teils in den deutschen Importhäfen, teils bei den Großhändlern, selten auch bei Gastwirten und Kolonialwarenhändlern. Was bei der Milch dank zahlloser Milchregulative im späten 19. Jahrhundert als Verfälschung galt, war bei Rum Handelsbrauch.

06_Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik_1875_12_01_Nr335_p6_Augsburger Neueste Nachrichten_1875_12_12_Nr295_p3424_Spirituosen_Delikatessenhandlung_Punsch_Rum_Likoer

Angebotspalette für den festlich-kalten Dezember (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 1875, Nr. 335 v. 1. Dezember, 6 (l.); Augsburger Neueste Nachrichten 1875, Nr. 295 v. 12. Dezember, 3424)

Rum wurde allerdings nur sehr selten pur getrunken. Er war vielmehr ein typisches Mischgetränk. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um die heute so modischen Cocktails. Diese kamen erst in den 1920er Jahren auf. Rum wurde ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts vielmehr erstens mit Essenzen und Wasser versetzt, war Alkohol- und Geschmacksträger zugleich. Obwohl ein „wärmendes“ Getränk, trank man ihn zumeist mit heißem Wasser, verdoppelte so den Energiewert. Neben der Verwendung in aromatisierten Punschen und Bowlen trat zweitens aber das für Deutschland typische Rumgetränk, der aus England übernommene Grog. Dabei handelte es sich um heißes Wasser, einen ordentlichen Schuss Rum und etwas Zucker. Verdünnter Rum verliert sein Aroma nur in Ansätzen, Hitze bringt die süßlichen, teils aber auch erfrischenden Geschmacksnuancen gar stärker zur Geltung. Grog wurde vor allem in Nord- und Ostdeutschland getrunken, doch Satirezeitschriften wie der „Münchener Grog“ belegen seine Präsenz auch im übrigen Deutschland. Grog stand dabei für den Übergang vom häufig privaten, häuslichen Verzehr aromatisierter Rumgetränke zum vermehrt öffentlichen und geselligen Konsum. Das traf auch für eine dritte Konsumart zu, die heute kaum mehr bekannt ist. „Korn mit Rum“ begann seinen zeitweiligen Siegeszug in den 1880er Jahren, war paradoxe Begleiterscheinung der Temperenzbewegung und der massiv erhöhten Branntweinsteuer 1887. Es handelte sich vornehmlich um verdünnten und aromatisierten Weingeist aus Kartoffelspiritus. Rum war Aromaträger, zumeist aber nur aufgrund zugefügter Rumessenzen (A[braham] Baer, Die Verunreinigungen des Trinkbranntweins insbesondere in hygienischer Beziehung, Bonn 1885, 71-72). Für die Präsenz von „Rum“ in der Öffentlichkeit war Korn mit Rum gleichwohl wichtig, denn es handelte sich um ein Billiggetränk für die breite Bevölkerung. Weitere modische Mischgetränke folgten, etwa die „Granate mit dem Schnellfeuer“ – eine Mixtur von Nordhäuser Korn mit Rum – oder der „Husarenkaffee“, ein Amalgam von Kümmel mit Rum (Berliner Schnäpse, Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 47), doch sie gewannen nur regionale Bedeutung. Viertens schließlich ging Rum auch eine Melange mit dem kolonialen Tee ein. Tee mit Schuss erlaubte auch Frauen eine kleine, doch merkliche Alkoholzufuhr im häuslichen Rahmen, aber auch in Teestuben und Cafés. Der für das späte Kaiserreich charakteristische Five-o-clock-Tea wäre ohne derartig unsichtbar-beschwingende Zusätze gewiss weniger beliebt gewesen.

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Grog als wärmendes Wintergetränk (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7717)

Der Rumkonsum war stark saisonal geprägt. Man trank ihn vornehmlich in der kalten Jahreszeit, die meisten Annoncen erschienen im Dezember. Dieser Saisonalität entzogen sich weitere haushaltsnahe Verwendungsformen ansatzweise. Rum wurde im 19. Jahrhundert nämlich erstens auch als Stärkungs- und Kräftigungsmittel, ja, als Heilmittel gereicht und getrunken (J[osef] Ruff, Schutz der Gesundheit für Jedermann, Straßburg i.E. 1893, 253-254). Schon die in der britischen Marine lang und intensiv geführten Debatten, ob Skorbut eher durch Zitronensaft oder aber durch Rum bekämpft werden könne, verwiesen in diese Richtung. Rum sollte beleben, gegen Bleichsucht und Schwäche helfen, einen ruhigen Schlaf einläuten. Zweitens war Rum aufgrund seines kräftigen Aromas ein gängiges Würzmittel in bürgerlichen Haushalten. Rumaromen gewannen seit dem späten 19. Jahrhundert zwar an Bedeutung, zumal beim Backen und bei Nachtischen, doch ihnen fehlte die beim Kochen und Backen immer auch wichtige Masse. Drittens schließlich diente Rum, wie auch andere Trinkbranntweine, dem Einmachen. Der Rumtopf rettete Obst vor dem Verderb, war ein Trank für eine gesellige Runde, diente als Kompott, für Nachtische, Mehlspeisen und süße Saucen.

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Rum als bewährte Einmachhilfe (Mayener Volkszeitung 1902, Nr. 156 v. 10. Juli, 3)

Rum war in deutschen Landen im 19. Jahrhundert demnach mehr Ahnung als Realität, mehr Geschmacksnuance denn pures Getränk. Rum war vielgestaltig, fluid, auch als „echtes“ Kolonialprodukt kaum zu fassen, zumal die westindischen oder (selten auch) ostindischen Produkte höchst unterschiedlich waren, abhängig von heterogenen Verfahren, Rohwaren, klimatischen Einflüssen und auch Lager- und Transportbedingungen. In deutschen Landen kannte man das importierte und bearbeitete Endprodukt, während das Wissen über die überseeische Herstellungstechnik vage blieb, lange Zeit nur auf allgemein gehaltenen Reiseberichten und Beschreibungen kolonialer Wirtschaftspraktiken gründete. Die Umwandlung des kolonialen Importrums in eine in Deutschland absetzbare alkoholische Ware setzte auch daher vor allem beim Getränk selbst an. Die Produktion von „Deutschem Rum“ aus Rübenzucker vermochte den charakteristischen Geschmack des Rums nicht nachzubilden. Daher ging man ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts zu direkten Produktmanipulationen über. Getragen von der Imagination eines „echten“ Importrums schuf und vermarktete man Produkte, die sich von Zeit und Raum der Herstellung emanzipiert hatten. „Rum“ war künstliche Kost, die mit dem „echten“ Importrum kaum mehr gemein hatte als den Namen. Und dieser half die vielfältigen Eingriffe und Veränderungen der Produktion zu überdecken, ja, vergessen zu machen.

Was genau aber war „Rum“ im langen 19. Jahrhundert? Vier nicht immer klar voneinander abgrenzbare Arten sind zu unterscheiden. Erstens gab es den „echten“ Rum. Dabei handelte es sich um nicht veränderten Importrum bzw. dessen Verschnitt auf einen Alkoholgehalt von ca. 50-55 %. Dieses obere Ende des Marktes war klein und erschien Zeitgenossen als Ausnahme.

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Grundstoffe für Kunstbranntweine, inklusive Kunstrum (Illustrierte Zeitung 1857, Nr. 743 v. 26. September, 216)

Mengenmäßig dominant dürfte stattdessen der Kunstrum gewesen sein: Rum wurde als ein stark alkoholhaltiges Getränk mit einem charakteristischen Geschmack verstanden; und dieses baute man durch Kartoffelsprit und aromatische Zusätze nach. Kunstrum war „deutscher Rum“ in charakteristischer Brechung. Es ging um ein als „Rum“ vermarktbares Getränk, nicht aber mehr um den Ersatz von Rohrzucker durch Rübenzucker. Kunstrum war ein Billigprodukt, mit Augenzwinkern als „Rum“, selten auch als „Deutscher Rum“ angeboten. Lässt man das Odium des Ersatzmittels aber beiseite, so handelte es sich bei ihm um eine preiswerte und massenkompatible heimische Alternative. Karibiksonne hatte ihn nie beschienen, doch er war Abglanz eines Zeitalters wissenschaftlicher Entdeckungen in der organischen Chemie. Der Liebig-Schüler Friedrich Knapp (1814-1903) präzisierte: „Der feine, dem Aroma des Rums sehr nahe kommende Geruch des Buttersäureäthers […] hat die Veranlassung gegeben, daß diese Verbindung gegenwärtig sehr häufig zur Nachahmung des Rums mittelst gewöhnlichen Branntweins benutzt wird“ (Knapp, 1847, 411). Und Hermann Klencke (1813-1881), der wohl auflagenstärkste Wissenschaftspopularisator der Jahrhundertmitte, benannte die Folgen dieser chemischen Entdeckung: „Der meiste Rum, der in Deutschland verkauft wird, ist künstlich fabricirt, indem man eine Portion echten Rum mit fuselfreiem Spiritus versetzt und durch gebrannten Zucker und Buttersäure-Aether Geruch, Geschmack und Farbe imitirt“ (Die Verfälschung der Nahrungsmittel und Getränke […], Leipzig 1858, 297-298). Buttersäureäther war Großchemie im Kleinen, entstand durch den Einsatz von Kalilauge und Schwefelsäure, erforderte eine Destillation. Während es der Grundlagenforschung vorrangig um die Erkundung der Materie ging, nutzen Unternehmer diese Kenntnisse für neue und preiswertere Produkte, angeleitet durch einen wachsenden Markt von Ratgebern. Seit den 1840er Jahren nahm die Zahl von Halbfertigäthern zu. Sie ermöglichten schon lange vor der Isolation natürlicher und der Synthese künstlicher Aromen die Kreation von Geschmacksprofilen.

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Deutscher Rum als billiger Kunstrum (Bensberg-Gladbacher Anzeiger 1887, Nr. 7 v. 22. Januar, 3 (l.); Märkisches Tageblatt 1888, Nr. 305 v. 29. Dezember, 4)

Die Entwicklung ging von Hautgeschmacksträgern zu nuancenreicheren Zusätzen: An der Seite des Buttersäuresäthers standen rasch Coccinsäure- oder Ameisensäureäther. Damit komponierter Kunstrum wurde mit Zuckercouleur, Sirup und/oder Eichenrinde abgerundet und braun gefärbt: “Die Leichtgläubigkeit des Publikums geht manchmal so weit, daß es einen gefärbten und mit etwas Essigsäure- oder Buttersäureäther versetzten fuselhaltigen Branntwein auch für Rum nimmt“ (Ferdinand Artmann, Die Lehre von den Nahrungsmitteln, ihrer Verfälschung und Conservirung […], Prag 1859, 456). In den Folgejahren wuchs die Zahl einsatzfähiger und fertig käuflicher Komponenten rasch an. Die Sprache der Zusätze mag uns fremd vorkommen, da wir uns vielfach kein Bild davon machen, welche (durchaus harmlosen) Chemikalien in gängigen Lebens- und Genussmitteln enthalten sind. Doch Essig- und Salpeteräther, auch Birkenöl, Glanzruss, Zimt, Veilchenwurz, Perubalsam oder Vanilleessenz, erlaubten die Produktion von durchaus ansprechendem Kunstrum (Wiederhold, Unterscheidung des echten Colonial-Rums vom unechten, sogenannten Facon-Rum, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 5, 1864, 11-12; Louis Pappenheim, Handbuch der Sanitäts-Polizei, Bd. 1, 2. neu bearb. Aufl., Berlin 1868, 360). Der Erfolg des Kunstrums basierte daher nicht nur auf dem niedrigen Preis, sondern auch auf einer dem Geschmack zusagenden und ansatzweise berechenbaren Aromatisierung mit Chemikalien und natürlichen Aromastoffen, deren Rohwaren teils aus kolonialen Kontexten stammen. In Österreich gilt entsprechender Inländerrum bis heute als geschützte Spezialität – mit Stroh-Rum als bekanntester Marke. Anders als die Parfümindustrie, deren Aufschwung seit den 1870er Jahren eng mit synthetischen Duftstoffen verbunden war, blieb die Kunstrumproduktion noch über Jahrzehnte den tradierten Zusätzen der Jahrhundertmitte verbunden. Deren allgemeine Verfügbarkeit über Apotheken und Drogerien ließ Kunstrum auch zu einem häuslich hergestellten Produkt werden. An die Seite der Fabrikanten, Destillateure und Budiker traten auch Hausfrauen, um dem Mann zu frommen oder Silvester punschig zu feiern.

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Verhäuslichung der Kunstrumproduktion (Wiener Hausfrauen-Zeitung 20, 1894, Nr. 5, 43)

Aromatisierter Kunstrum war ein künstliches Getränk eigenen Rechts, doch die Annäherung an das koloniale Referenzprodukt gelang nur unzureichend. Je nach Zusätzen dominierten einzelne Geschmackskomponenten, während andere fehlten. Kunstrum erlaubte aufgrund seines niedrigen Preises zudem keine hohe Wertschöpfung, stand unter dem Verdikt der Nahrungsmittelfälschung. Entsprechend entstand drittens mit dem Faconrum eine dritte Rumart, eine Mischung aus Verschnitt- und Kunstrum. Aromatisierung und der Einsatz von Kartoffelsprit wurden beibehalten, doch um einen mehr oder minder großen Anteil von Kolonialrum ergänzt. Gerade bei rumhaltigen Heißgetränken konnte mit überschaubarem Einsatz von fünf oder zehn Prozent „echtem“ Rum ein besseres Aroma erzielt, höhere Preise verlangt werden. Faconrum dokumentiert typische Pendelschläge bei der Entwicklung künstlicher Kost. Das teure Original wurde zuerst mittels heimischer Rohwaren versucht zu substituieren. Falls dies, wie im Falle des Rübenzuckerrums, zu keinem wettbewerbsfähigen Produkt führte, traten Kunstprodukte aus andersartigen Bestandteilen an dessen Stelle. Die offenkundigen Defizite wurden anschließend versucht abzubauen – zuerst durch verbesserte Aromatisierung mit chemischen oder natürlichen Geschmacksstoffen, dann mit einem nur begrenzten Einsatz des Originalproduktes. Lernprozesse dieser Art finden sich auch in anderen Konsumgüterindustrien dieser Zeit, etwa Fleischpulver, Kräftigungsmittel oder vegetarischer Fleischsubstitute. Sie prägen heute unser gesamtes Lebensmittelangebot, mögen uns Produktbezeichnungen und die allgemeine Ästhetisierung beworbener Nahrung auch anderes suggerieren.

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Preisdifferenzen beim Faconrum – je nach „Rum“-Gehalt (Vorwärts 1893, Nr. 214 v. 12. September, 8)

Faconrum und Kunstrum nutzten viertens vermehrt auch Rumessenzen, also Fertigprodukte der parallel zur pharmazeutischen und kosmetischen Industrie entstehenden Essenzenindustrie. Deren industriell gefertigte Angebote unterschieden sich deutlich von den Chemikalien der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie waren teils synthetisiert (wie Vanillin), vor allem aber stofflich standardisiert, waren also nicht nur in großer Menge (und damit billiger) herzustellen, sondern konnten gezielt als Vor- und Zwischenprodukte eingesetzt werden (August Gaber, Die Likör-Fabrikation, 9. verb. u. sehr verm. Aufl., Wien und Berlin 1913, 195-226, 290-324). Mit ihnen glaubte man damals, das „Reservatrecht der Natur“ (Emil Fischer, Die Chemie der Kohlenhydrate und ihre Bedeutung für die Physiologie, Berlin 1894, 23) durch Synthese durchbrechen und so zu einer neuen, vom Menschen gestalteten Welt gelangen zu können (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209).

Als Stoffkomposita hatten Rumessenzen zwar machen Makel – ihr Einsatz als Teerum und Grog scheiterte aufgrund der Hitze des Ausgusses, auch konnten sie analytisch erkannt werden (Theodor Koller, Die Ersatzstoffe der chemischen Industrie, Frankfurt a.M. 1894, 82-83). Doch sie erlaubten den Übergang von der gewerblichen in die häusliche Sphäre. Seit den 1890er Jahren ersparten sie den Käufern die lange Tüftlerphase der Produzenten, denn durch die Mischung von Wasser, Weingeist (also Kartoffelsprit) und Rumessenz konnte jeder „Rum“ zu Hause herstellten. Pointiert formuliert finden wir seither im Deutschen Reich strukturelle Analogien zur kolonialen Plantagenwirtschaft: Einerseits zahlreiche größere Produzenten, die für regionale, nationale und auch internationale Märkte produzierten, anderseits aber auch viele Kleinproduzenten, die auf Zuckerplantagen resp. in den heimischen Wänden Rum selbst bereiteten.

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Selbstbereiteter „Rum“ dank Rumessenzen (Vorwärts 1899, Nr. 230 v. 1. Oktober, 7 (l.), ebd. 1900, Nr. 303 v. 30. Dezember, 11)

Verschnitte, Kunstrum, Faconrum und Rumessenzen sind typisierende Abstraktionen, die unter diesen Begriffen im Rummarkt seit Mitte des 19. Jahrhundert vielfach nicht aufzufinden waren. Dort dominierte meist allein der lockende „Rum“, vielfach verbunden mit einer Herkunftsbezeichnung. Doch ohne derartige Ordnungsbegriffe wird man sich nicht zurechtfinden in einem Markt ohne Kennzeichnungspflichten, ohne klar definierte Produktbezeichnungen und Markenartikel. Wie bei vielen anderen Konsumgütern dieser Zeit wurde die allgemeine Marktunsicherheit vorrangig durch Händlervertrauen vermindert. Nicht umsonst stammen die meisten Anzeigen für Rum von Kolonialwaren- und Feinkosthändlern. Dies veränderte sich erst in den 1890er Jahren, mit den Herstellern von Rumextrakten als Trendsetter.

Zwei Punkte gilt es noch festzuhalten: Erstens war der deutsche Rummarkt im 19. Jahrhundert auch deshalb so vielgestaltig, weil eine leistungsfähige marktordnende Überwachung fehlte. Die damaligen Kontrollbehörden konnten einen gut gemachten Kunstrum kaum von einem Verschnitt oder einem Faconrum unterschieden. Marktvielfalt setzte den Käufer in sein Recht, barg aber immer die Gefahr der Übervorteilung. Zweitens wäre es verkürzt, würde man die unterschiedlichen Rumarten mit wertenden Kategorien belegen. Während der Importrum nicht zuletzt seit der Zollerhöhung 1889 kein Alltagsprodukt mehr sein konnte, erlaubten die billigeren Angebote den Konsum rumartiger Getränke in allen Teilen der Bevölkerung. Die Palette der Rumarten erlaubte konsumtive Teilhabe – durchaus in Analogie zum Wechselspiel von echtem Kaffee und den mengenmäßig dominierenden Surrogaten. Doch ebenso wenig wie ein Malzkaffee per se geringwertiger war als importierter Kolonialkaffee, so handelte es sich auch bei den verschiedenen Rumarten um Produkte eigenen Rechts. Surrogate hatten ihren Eigenwert: Rübenzucker war ein Ersatzmittel, setzte aber einen neuen Standard für Süße. Kolonialprodukte führten zu lokalen Aneignungsprozessen, die neue Realitäten schufen, die weit über das Ursprungsprodukt hinaus wiesen. Auch abseits der noch nicht möglichen chemischen Analyse und der Aufdeckung von Fälschung und Betrug wurde die Scheidung zwischen vermeintlich Echtem und vermeintlich Nachgemachten dadurch erschwert. Das Referenzgut Importrum konnte dafür kaum Ausgangsprodukt sein, sondern eher die Realitäten von Vermarktung und Konsumpraktiken in Deutschland selbst. Vor diesem Hintergrund war die ab 1890 wieder neu anlaufende Schaffung eines „Deutschen Rums“ aus heimischen Rübenzuckerprodukten eigentlich höchst traditionell, nicht mehr auf der Höhe des Marktgeschehens. Sie war eine typische Gestaltungsutopie von Ingenieuren und Chemikern, die auch um die Jahrhundertwende noch auf die Substitution eines „echten“ Ausgangsproduktes drängten, obwohl dieses im deutschen Rummarkt nicht dominierte und in den Importländern, ausgehend von den Standardisierungsbestrebungen in Jamaica, erst seit der Jahrhundertwende ansatzweise geschaffen wurde.

Auf der Suche nach Ordnung: Der deutsche Rummarkt um die Jahrhundertwende

Die wachsende Bedeutung von Kunst- und Faconrum im Deutschen Reich ging in den 1880er Jahren mit verstärkten Bestrebungen einher, die „normale“ Beschaffenheit aller Nahrungs- und Genussmittel zu bestimmen und quantitative Methoden ihrer Analyse zu entwickeln (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 43). Die aufstrebende Nahrungsmittelchemie zielte auf „objektives“ Wissen, grenzte sich strikt ab von regional heterogenen Handelsbräuchen und tradierten Sinnesproben. Und im Umfeld des 1879 erlassenen Nahrungsmittelgesetzes gab es zunehmend staatlichen Rückenwind, Verfälschungen systematisch zu bekämpfen und die Vielfalt der Angebote zu ordnen. Der Kunstbuttermarkt bot hierfür ein gutes Beispiel. Eine erste breit gefächerte Analyse aller Rumarten ergab allerdings, dass man mittels der gängigen Verfahren „nicht entscheiden [könne, US], ob ein Rum unverfälscht ist oder nicht“ (H[einrich] Beckurts, Mittheilungen über Untersuchungen von Rum, Monatsblatt für öffentliche Gesundheitspflege 1, 1878, 178-180, hier 180). Weitere Analysen benannten das grundsätzliche Dilemma: „Ob ein Rum eine ganz echte oder verschnittene Waare, oder gar ein reines Kunstproduct darstellt, darüber wird die Chemie heut zu Tage schwerlich Auskunft geben können, da dieselbe über wirklich brauchbare Methoden zur Erkennung solcher Zusätze oder Verfälschungen bislang nicht gebietet, ganz abgesehen davon, dass nicht einmal die Bestandtheile des echten Rums zur Zeit sammt und sonders definirbar sind“ (Heinrich Beckurts, Zur Zusammensetzung und Prüfung des Rums, Archiv der Pharmacie 60, 1881, 342-346, hier 344).

14_Kikeriki_23_1883_04_15_Nr30_p2_Chemiker_Nahrungsmittelkontrolle_Nahrungsmitteluntersuchung

Unerfüllte Versprechungen der chemischen Analyse (Kikeriki 23, 1883, Nr. 30 v. 15. April, 2)

Fachleute wussten, dass sich die Analytik aller Trinkbranntweine „nur in beschränktem Maaße brauchbar erwiesen“ hat (Carl Windisch, Ueber Methoden zum Nachweis und zur Bestimmung des Fuselöls in Trinkbranntweinen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt 5, 1889, 373-393, hier 373). Das lag auch daran, dass über die Rumproduktion in Westindien und über die Zusammensetzung des Importrums keine verlässlichen Daten vorlagen (Alexander Herzfeld, Bericht über die Versuche zur Darstellung Rum-artiger Produkte aus Rübensaft, Melasse und Rohzucker, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Rübenzucker-Industrie 40, 1890, 645-680, hier 645). Kein geringerer als Theodor Wilhelm Fresenius (1856-1936), Leiter des wichtigsten pharmazeutischen Laboratoriums im Deutschen Reich, zog daraus den drastischen und gut belegten Schluss, dass die Kontrolle des Rums „praktisch nicht durchführbar“ sei (Beiträge zur Untersuchung und Beurtheilung der Spirituosen, Zeitschrift für analytische Chemie 29, 1890, 283-317, hier 307). Die tradierte Sinnesprobe, also das Rumschnüffeln, -schmecken und -schauen, sei nach wie vor nicht zu ersetzen. Auch eine umfassende Studie des Reichsgesundheitsamtes über das Rumwissen und die einschlägigen Kontrollmethoden bestätigte, dass es unmöglich sei, „echte Waare von unechter auf chemischem Wege zu unterscheiden, […]. Auch hier wird solchen Sachverständigen der Vorzug zu geben sein, welche ihr Urtheil auf Grund der Geschmacks – und Geruchsprobe abgeben“ (Eugen Sell, Ueber Cognak, Rum und Arrak. 2. Mittheilung. Ueber Rum, das Material zu seiner Herstellung, seine Bereitung und nachherige Behandlung unter Berücksichtigung der im Handel üblichen Gebräuche sowie seiner Ersatzmittel und Nachahmungen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 7, 1891, 210-252, hier 240).

Für die Produktion von Kunst- und Faconrum sowie von Rumextrakten war dies zeitweilig eine Art Freifahrtschein. Dennoch begann damals ein zwei Jahrzehnte währender lokaler Kampf gegen „Rumverfälschungen“, der hier nicht nachzuzeichnen ist. Er wurde als gerichtlicher Nahkampf ausgefochten, bei dem immer wieder zur Debatte stand, was als „normaler“, als „handelsüblicher“ Rum zu verstehen war. Nicht Kunst- und Faconrum standen dabei im Mittelpunkt, sondern Verschnitte des echten Importrums. Er galt als Referenzobjekt, ein heterogenes Produkt wurde gleichsam naturalisiert. Das Hinzufügen von Wasser auch bei Premiumsorten – Original Jamaica-Rum – war schließlich einfach nachzuweisen. Doch als Gegenargument führten Händler immer wieder den Wunsch der Konsumenten nach handelsüblichen trinkbaren Rumsorten von mal 38, mal 45, mal 50, mal 55 % Alkohol an. Konsumentensouveränität wurde gegen das Ordnungsbestreben der Nahrungsmittelchemie ausgespielt. Die wiederholten Niederlagen von Nahrungsmittelchemikern vor Gericht galten nach der Jahrhundertwende zunehmend als Frage der Ehre, des Renommees und der Durchschlagskraft der akademischen Zunft.

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Handelsmarken für Jamaika-Rum (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 8 v. 10. Januar, 8 (l.); Fliegende Blätter 119, 1903, Nr. 3046, Beibl. 10, 7)

Die erbitterten Debatten boten eigentlich Markenrum große Marktchancen. Er war im Deutschen Reich lange Zeit unüblich, teils wegen des erst seit 1894 verlässlichen Markenschutzes, teils wegen der fehlenden inländischen Produktion abseits der Verschnitte. Den kleinen, aber wachsenden Markenartikelmarkt dominierten einheimische Handelsfirmen, meist Anbieter von Verschnittware. Hinzu kamen internationale Handelsfirmen, die Importrum abfüllten und vermarkteten. Während die deutschen Handelsfirmen ab und an brasilianischen und kubanischen, zumeist aber westindischen, „englischen“ Rum anboten, mehrere in Flensburg ansässige Firmen auch dänischen Importrum, wurde der Rum französischer Kolonien zumeist von französischen Handelsfirmen vermarktet. Durchweg dominierten die kolonialen Mutterländer und ihre europäischen Handelspartner, nicht aber die Rumproduzenten der kolonialen Periphere. Trotz dutzender Rumsorten mit Warenzeichen dominierte anonymer Kunst- und Faconrum weiterhin den deutschen Markt. Ähnliches galt beim Arrak. Innerhalb der Spirituosenbranche gab es eine Scherenbewegung: Während heimisch produzierte Liköre und Weinbrände seit den 1890er Jahren zunehmend als starke Marken mit ansprechender Werbung erschienen, fehlten diese bei Importrum und Rumverschnitten. Das sollte sich erst in den 1950er Jahren ändern.

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Rum als Angebot von Großhandelsfirmen: Warenzeichen der Bergedorfer Firma Heinrich von Have (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 25 v. 26. Januar, 18)

Markenartikel besaßen den Vorteil einer gewissen Berechenbarkeit von Preis und Zusammensetzung. Markenartikelproduzenten und Großhändler sicherten die Qualität ihrer Produkte zunehmend mit Betriebslaboratorien und freiwilligen Kontrollen durch Handelschemiker. Beim Rum war dies aber kaum möglich. Umso wichtiger waren Bemühungen um verbesserte Methoden der Trinkbranntweinanalyse, die Nahrungsmittelchemiker und die in schlagkräftigen Verbänden organisierten Spirituosenhersteller durchaus kooperativ betrieben. Marktordnung mittels verbindlicher Referenzwerte war im Sinne der größeren Unternehmen, da verlässliche Mindestanforderungen der gerade im Rummarkt dominierenden Billigkonkurrenz das Wasser abgraben konnten.

Die ersten rechtsverbindlichen Vereinbarungen über die Zusammensetzung von Spirituosen zielten mangels präziser Analysen Ende der 1890er Jahre auf die Gefahrenabwehr. Festgeschrieben wurde einerseits, welche gesundheitsgefährdenden Zusätze und Rückstände im Endprodukt nicht mehr enthalten sein durften, andererseits schuf man erste Obergrenzen für unerwünschte Stoffe, etwa die gängigen Fuselöle (W[ilhelm] Fresenius und K[arl] Windisch, Branntweine und Liköre, Vereinbarungen zur einheitlichen Untersuchung und Beurtheilung von Nahrungs- und Genussmittel sowie Gebrauchsgegenständen für das Deutsche Reich. Ein Entwurf, H. II, Berlin 1899, 123-133). Parallel bemühte sich insbesondere das Reichsgesundheitsamt um ein positives Wissen über Trinkbranntweine, darunter auch Rum. Da die kolonialen Produktionsverfahren zwar zumeist als „primitiv“ abgewertet wurden, im Detail aber unbekannt waren, analysierte man weiterhin Rumproben gängiger Importware, erhielt aufgrund der Variabilität dieser Angebote jedoch nur recht allgemeine Referenzdaten (Karl Windisch, Beiträge zur Kenntnis der Edelbranntweine, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 8, 1904, 465-505, hier 482-483). Die langsam beginnende Rationalisierung der Rumproduktion in Übersee mittels westlicher Maschinen begrüßte man, hoffte man doch auf stärker standardisierte Waren. Doch man ging nicht dazu über, Erkundigungen vor Ort einzuholen, etwa bei der 1862 gegründeten kubanischen Firma Bacardi oder der in Barbados seit 1892 mit deutschen Maschinen produzierenden West India Rum Refinery der aus Peine stammenden Brüder Hermann (1856-1916) und Georg Stade (1863-1922).

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Mechanisierung der kolonialen Rumproduktion durch deutsche Maschinen (Louisiana Planter and Sugar Manufactor 11, 1893, Nr. 6, XVII)

Der auf die angebotenen Waren gerichtete Fokus führte allerdings zur raschen Übernahme französischer Analysemethoden, die seit den 1890er Jahren das Aromenspektrum der Alkoholika genauer fassten; eine Konsequenz wachsender chemischer Kenntnisse über Ester, flüchtige Säuren, Aldehyde und natürlich höhere Alkoholverbindungen. Ebenso wichtig wurden Hefeanalysen, die vornehmlich von dänischen Spezialisten vorangetrieben wurden. Die wohl wichtigste methodische Innovation war jedoch die 1908 von dem Grazer Chemiker Karl Micko (1867-1948) entwickelte fraktionierte Destillation. Der Rum wurde in acht Fraktionen eingeteilt, die dann einzeln untersucht wurden. Insbesondere die höheren Fraktionen erlaubten, das Aromenspektrum recht genau zu erfassen (Karl Micko, Über die Untersuchung des Jamaika- und Kunst-Rums und zur Kenntnis des typischen Riechstoffes des Jamaika-Rums, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 16, 1908, 433-451, insb. 434-435). Damit waren quantitativ erfassbare Referenzdaten abseits von Alkohol- und Wassergehalt möglich, ergänzende Geruchsproben erlaubten eine Feinjustierung. Mickos Methode war ausgefeilt, praktikabel, schied gut zwischen Kunst-, Facon- und Importrum – und wurde rasch auch in der englischsprachigen Welt rezipiert (Karl Micko, Researches on Jamaica and Artificial Rum, International Sugar Journal 11, 1909, 225-232, 410-414, 446-451). Die Folge war, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg sensorische Verfahren durch quantitative Verfahren ergänzt wurden und Nahrungsmittelchemiker ihre Kontrollaufgaben besser versehen konnten (A[lbert] Jonscher, Zur Kenntnis und Beurteilung von Rum, Rumverschnitten und Kunstrum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 20, 1914, 329-336, 345-349, insb. 333, 346). Mickos Methode erlaubte aber zugleich eine Feineinstellung bei der Entwicklung neuer Produkte, so auch des „Deutschen Rums“.

18_Deutscher Reichsanzeiger_1921_03_21_Nr068_p16_Spirituosen_Rum_Rumverschnitt_Jacob-Schwersenz_Berlin

Neue Begrifflichkeiten: Rum-Verschnitt (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 68 v. 21. März, 16)

Parallel veränderten sich die amtlichen resp. von den Interessenten akzeptierten Bewertungsmaßstäbe des Rums. Die Nahrungsmittelchemiker mussten dabei eine bittere Niederlage einstecken: Verschnittrum (heute als „Echter Rum“ bezeichnet) wurde in festgesetzten Grenzen vom Odium der Verfälschung befreit (W[ilhelm] Bremer, Trinkbranntweine und Liköre, in: K[arl] v. Buchka, Das Lebensmittelgewerbe, Bd. I, Leipzig 1914, 701-901, hier 799). Grund hierfür waren auch die Debatten und Festsetzungen im Rahmen der Branntweinsteuergesetzesnovelle 1909. Für Kognak wurde damals ein Mindestalkoholgehalt von 38 % festgelegt – und an diesem Wert orientierten sich auch Rumanbieter und Gerichte (Gerichtsentscheidung über die Alkoholstärke von Jamaika-Rum, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 7, 1909, 196-197). Während des Ersten Weltkrieges sank der noch nicht rechtsverbindliche Alkoholgehalt jedoch auf deutlich niedrigere Werte (Alkoholgehalt von Rum u. Arrak im Krieg, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 16, 1918, 62). Das Branntweinmonopolgesetz fixierte daraufhin 1918 den Mindestalkoholgehalt für Rum und Arrak verbindlich auf 38 % (heute 37,5 %). Das war der Auftakt für eine weitergehende Regulierung durch das 1927 erlassene Lebensmittelgesetz (Bund Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikanten und Händler, Zeitschrift für angewandte Chemie 40, 1927, 628-630, hier 628). Festgeschrieben wurden neben dem Alkoholgehalt auch Herkunftsbezeichnungen und Kennzeichnungspflichten, entstanden zudem neue Begriffsdefinitionen für die unterschiedlichen Rumarten (Begriffsbestimmungen für Branntwein und Spirituosen, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1928, 143-145, 163-165, 173-174, hier 164; G[eorg] Büttner, Über die Bezeichnung von Trinkbranntweinen, ebd. 1931, 15-16, hier 16).

Die Regulierungsbemühungen schufen recht verlässliche Rahmenbedingungen im Rummarkt just weil sie sich an der deutschen Marktrealität orientierten. Der „echte“ Importrum galt als Referenz, auch wenn er im Absatz nach wie vor eine seltene Ausnahme war. Facon- und Kunstrum prägten weiter den Markt, mochte ersterer nun auch als Rum-Verschnitt bezeichnet werden. Die Sprachspiele der Chemiker und Regulierungsbehörden erlaubten aber zugleich die Neubelebung und Umsetzung der alten Idee vom „Deutschen Rum“ aus heimischen Rohstoffen, vorrangig aus Rübenzuckermaterialien.

Neue Anläufe: „Deutscher Rum“ aus Zuckerprodukten vor dem Ersten Weltkrieg

Allerdings stellt sich im späten 19. Jahrhundert zuvor die Frage, ob „Deutscher Rum“ nicht in den deutschen Kolonien produziert werden konnte. Das wurde in der Tat versucht, scheiterte aber wie so viele Kolonialunternehmungen. Das lag teils an den klimatischen Bedingungen, teils an anderen Zielsetzungen der überraschend wenigen Kolonialgesellschaften. In Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, wurde Zucker schon vor 1885, der deutschen Inbesitznahme der Kolonie, von arabischen Geschäftsleuten mit Hilfe von Sklaven und Kontraktarbeitern angebaut. Die Plantagenwirtschaft diente ebenso wie die Rumproduktion vornehmlich dem Eigenbedarf. Das wollten die deutschen Machthaber ändern, gelang aber nur ansatzweise: „Very little is exported; but a refinery has been built at Pangani, where rum is made for export. Plantations have been started in the Wilhelmstal and Kondon Irangi Districts“ (Handbook of German East Africa, hg. v. d. Admirality War Staff. Intelligence Division, London 1916, 237).

Die 1897 aus dem Zuckersyndikat für Deutsch-Ostafrika hervorgegangene Pangani-Gesellschaft zielte darauf, in die Fußstapfen der Araber Deutsch-Ostafrikas zu treten, Sirup und Zucker für die Kolonie und ihre Nachbarn zu produzieren (Ein neuer Kolonisationsplan für Deutsch-Ostafrika, Wochenblatt für Wilsdruff […] 1897, Nr. 104 v. 4. September, 5). Aus dem Rohrzucker sollte zudem Rum für den deutschen Markt produziert werden. Die von hochrangigen Publizisten, Staatsbeamten und Unternehmern getragene und mit einem Kapital von 500.000 M ausgestattete Gesellschaft konnte sich ein fünfzehnjähriges Produktionsmonopol sichern, zudem Zoll- und Steuerfreiheit für den deutschen Kolonialrum. Die Zielsetzung war ambitioniert: „Es bietet sich hier den deutschen Rum-Importeuren, welche schon lange von London, welches das Monopol für den kolonialen Rum hat, loskommen möchten, später eine günstige Gelegenheit für direkten Bezug“ (Die Pangani-Gesellschaft, Deutsche Kolonialzeitung 14, 1897, 214). Von Beginn an gab es Kritik an dem Unterfangen, mache es doch deutschen Rübenzuckerexporteuren unnötige Konkurrenz, nur um „feine Preise von den deutschen Konsumenten zu holen“ (Pangani-Cacao, Gordian 3, 1897/98, 1101-1102, hier 1101). Doch da die Zucker- und Rumfabrik von der renommierten Firma F. Hallström aus Nienburg a.d. Saale ausgestattet wurde, setzte man auf deren Expertise, auf die Qualität ihrer Maschinen (Leipziger Tageblatt 1898, Nr. 548 v. 28. Oktober, 8073).

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Gärstoffe für die koloniale Rumproduktion in Deutsch-Ostafrika: Die Rohrzuckerfabrik der Pangani-Gesellschaft im Bau (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Doch es gab unvorhergesehene Probleme, denn der Rohbau verzögerte sich aufgrund von Dürre und Hunger, so dass der Dampfer mit dem Maschinenpark nicht wie geplant entladen werden konnte, so dass der Rum, „welcher ja hochwillkommen zur Versorgung des Vaterlandes ist“ (Afrika 6, 1899, 128), noch nicht produziert werden konnte. Finanzierungsprobleme kamen hinzu, konnten aber überwunden werden (Frankenberger Tageblatt 1901, Nr. 12 v. 15. Januar, 3). Die britischen Kolonialkonkurrenten rechneten mit einem Produktionsbeginn 1901 (Germany. Report for the year 1900 on German East Africa, London 1901, 29). Doch es gab weitere Verzögerungen, so dass der frühere Siedler und Kolonialpropagandist August Seidel schließlich vermelden musste, die Pangani-Gesellschaft „fabrizierte Zucker und Rum, beide von guter Qualität, konnte sich aber nicht halten, da sie zu teuer gebaut und daher Mangel an Betriebskapital hatte“ (Unsere Kolonien, was sind sie wert, und wie können wir sie erschliessen?, 2. Ausg., Leipzig 1905, 53). Mitte 1903 trat sie in Liquidation. Deutscher Kolonialrum wurde in Deutsch-Ostafrika zwar produziert, doch gelangte er nicht nach Deutschland. Er wurde lokal verkauft, diente auch als Brennmaterial für Spirituskocher deutscher Naturforscher (A. Zimmermann, Zweiter Jahresbericht des Kaiserl. Biologisch-Landwirtschaftlichen Instituts Amani für das Jahr 1903/04, in: Berichte über Land- und Forstwirtschaft vom Kaiserlichen Gouvernement von Deutsch-Ostafrika […], Bd. 2, Heidelberg 1904-1906, 204-263, hier 253).

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Die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss kurz vor der Fertigstellung (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Gleichwohl war die Rumfabrik am Pangani-Fluss auch nach dem Konkurs ein Experimentierort für deutsche Zuckerexperten, wurde sie doch weniger ambitioniert fortgeführt (V[iktor] v. Lignitz (Hg.), Die deutschen Kolonien ein Teil des deutschen Vaterlandes, Berlin 1908, 35). Anfang der 1920er Jahre berichtete der Frankfurter Chemiker Georg Popp (1861-1943) über die schwierigen Versuche in der kolonialen Peripherie: „Wahrscheinlich waren die Gärungsorganismen nicht die gleichen“ ([Hugo] Haupt, Ueber Deutschen Rum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 27, 1921, 253-261 (inkl. Disk.), hier 260). Die klimatischen Unterschiede zur Karibik versuchte man aber durch den Einsatz von kubanischer Reinzuchthefe wettzumachen. Der Frankfurter Chemiker Heinrich Becker (1861-1931) berichtete später jedenfalls stolz, dass es dadurch vor Ort gelungen sei “die Herstellung eines vorzüglichen Rums zu ermöglichen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Bundesarchiv (= BA) R 86, Nr. 5340). Obwohl die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss ökonomisch scheiterte, gewannen deutsche Experten hier Wissen, das später helfen sollte, „Deutschen Rum“ aus heimischen Zuckerprodukten herzustellen.

Das Scheitern des deutschen Kolonialrums bedeutete zudem nicht, dass „Deutscher Rum“ nicht schon im späten 19. Jahrhundert ein Handelsprodukt war – allerdings nicht im Sinne eines rumgleichen heimischen Trinkbranntweins. Das Gegenteil war der Fall. Zum einen war „Deutscher Rum“ eine global recht erfolgreiche Handelsware. Dabei aber handelte es sich aber nicht um edle Tropfen, sondern um preiswerten Kunstrum. Hamburg allein exportierte Anfang der 1890er Jahre jährlich ca. 10.000 hl Kunstrum nach Westafrika, eine Zahl, die man ins Verhältnis zum gesamte Rumimport Deutschlands setzten muss. Dieser betrug 33.000 hl (inklusive Transfer) (Rum, in: Brockhaus‘ Konversations-Lexikon, 14. vollständig neu bearb. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1895, 13). Deutsche, aber auch französische Produzenten dominierten mit ihren Rumimitaten koloniale Peripherien, setzten dabei auf aromatische Zusätze und billigen Kartoffelspiritus, mochte die Qualität der Ware auch „of the worst description“ sein (Liberia 1896, Nr. 8, 54).

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Destillationsblase und Retorten zur Rumproduktion in einer Zuckerplantage in Jamaika 1904 (Library of Congress, LC-DIG-stereo-1s30276)

In derartigen Exporten waren auch beträchtliche Mengen „German Rum“ enthalten. Darunter verstand man eine vornehmlich von kleineren Anbietern in Jamaika hergestellte Rumvariante, die einen besonders hohen Gehalt an Aromastoffen besaß und daher hohe Preise erzielte. Die Bezeichnung spiegelte die Handelsströme – „‚German Rum’—because it all goes to Germany“ (The Sugar Cane 19, 1887, 262-263, hier 262). Diese Rumart war praktisch nicht trinkbar, sondern diente der massenhaften Produktion von Fassonrum in Deutschland (Percival H. Greg, Contribution to the Study of the Production of the Aroma in Rum. III., The Sugar Cane 28, 1896, 397-404, hier 402; Commercial Relations of the United States with Foreign Countries during the Years 1896 and 1897, Bd. 1, Washington 1898, 646-647). In der britischen Kolonie versuchte man die Produktion von „German Rum” einzudämmen, denn er wurde in traditioneller Weise gefertigt und beschädigte das Renommee des Jamaikanischen Rums: „‚German rum’ has prejudiced the sale-value and public estimation of Jamaica rum. It also makes it impossible to protect the valuable asset of the name possessed by Jamaica rum, since certain Jamaica rums are undrinkable as such and serve solely to flavour multiple puncheons of continental potato spirit” (West India Bulletin 8, 1902, 50). Auch auf deutscher Seite war Kritik am Export derartigen Faconrums zu vernehmen, entsprachen sie doch lang gehegten Vorurteilen von deutscher Imitations- und gewerblicher Epigonenkunst (Commercial Travelers in Foreign Countries […], T. 1, Salesmanship 2, 1904, 127-135, hier 127). Der jamaikanische „Imitation rum“ (British Medical Journal 1909, T. 2, 399-404, hier 403) war zugleich aber Anlass für jamaikanische Bemühungen um die Maschinisierung und Verwissenschaftlichung der Rumproduktion im wichtigsten Rumproduktionsland des Britischen Reiches (H.H. Cousins, Jamaica Rum, in: Minutes of Evidence taken by the Royal Commission on Whiskey and other potable Spirits with Appendices, Bd. 2, London 1909, 210-212, hier 211).

Deutscher Kolonialrum scheiterte, der „German Rum“ war Steigbügelhalter vermeintlicher deutscher Billigangebote und renommeeschädigend. Doch drittens setzten 1890 neuerliche Versuche ein, „Deutschen Rum“ aus heimischem Rübenzucker herzustellen – nicht als Abklatsch einer Kolonialware, sondern als gleichwertige Alternative. Der (Wieder-)Beginn entsprechender Forschung gründete auf zwei wichtigen Veränderungen: Zum einen setzte die US-Regierung 1890 mit dem McKinley-Zolltarif auf einen noch stärkeren Schutzzoll, verteuerte dadurch die deutschen Rübenzuckerimporte, gab zugleich den Startschuss für den Aufbau einer eigenen US-Rübenzuckerindustrie. Die hochsubventionierte deutsche Exportindustrie musste nach neuen Absatzmöglichkeiten Ausschau halten. Zum anderen hatten sich die wissenschaftlich-technischen Rahmenbedingungen deutlich gewandelt. Deutsche Zuckerexperten hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren französischen Kollegen den Rang abgelaufen, die deutsche Maschinenbauindustrie war innovationsstark, überholte auf den Weltmärkten die böhmische, belgische und französische Konkurrenz. Die Produktion höchst heterogener Rumarten mittels Zusätzen und Essenzen hatte das Wissen um die Vorgänge bei der Gärung und der Destillation deutlich erweitert. Man wusste auch – zumindest theoretisch – warum der „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker die Qualität des westindischen Kolonialrums nicht erreicht hatte (so schon Johannes Rudolf Wagner, Die chemische Technologie, 4. umgearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1859, 459).

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Alexander Herzfeld und die frühere Spritbrennerei in Alt-Ranft (Universitätsarchiv TU Berlin 601, Nr. 272: Wikipedia)

Alexander Herzfeld (1854-1928), Leiter des Laboratoriums des Vereins der deutschen Zuckerindustrie und späterer Professor an der TH Charlottenburg, versuchte 1889/90, konkrete Verfahren für die Produktion von „Deutschem Rum“ zu entwickeln. Anders als die Produzenten im frühen 19. Jahrhundert wusste er mehr über die alkoholische Gärung und die dabei entstehenden Geschmackstoffe. Obwohl die koloniale Produktion für ihn hoffnungslos überholt war, nutzte er doch deren Grundstruktur, zumal der in Jamaika. Dies bedeutete neben der Rohware den Einsatz von weiteren Gärmaterialien, des sog. Dunders, um dem Rum einen charakteristischen Geschmack zu geben. Dessen genaue Zusammensetzung war unklar, doch über die Vergärung der eingesetzten Abfallstoffe und des Abschaums der Zuckerproduktion wusste man einiges. Die Gärungstechnologie dieser Zeit hatte durch den Einsatz von (vornehmlich dänischer) Reinhefe bemerkenswerte Erfolge beim Bierbrauen und in der Milchwirtschaft erzielt. Das Scheitern des Liebig-Horsfordschen Backpulvers hatte zuvor gezeigt, dass im unspezifischen Sauerteig sich Stoffe befanden, die einem daraus bereiteten Brot ein wesentlich breiteres Aroma verliehen als chemisch berechenbare Treibstoffe.

Herzfeld initiierte drei Versuchsreihen mit unterschiedlichen Rohmaterialen. In der Weender Brennerei des Gutsbesitzers Georg Werner nutzte man Rübensaft aus der Zuckerfabrik Nörten. Diese Versuche erfolgten in enger Kooperation mit der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Weende (einem Vorort von Göttingen), die sich seit ihrer Gründung 1857 zu einem Wissens- und Technologiezentrum in Norddeutschland entwickelt hatte. Lange geprägt von dem chemischen Technologen und Zuckerexperten Friedrich Stohmann (1832-1897), erweiterte der Agrarwissenschaftler Wilhelm Henneberg (1825-1890) dessen Forschungsfeld auch auf die Tierernährung – also einem wichtigen Feld der Reststoffverwertung von Zuckerschnitzeln, Rübenschlempe und Rübenblättern. Im brandenburgischen Alt-Reft stand dagegen Zuckermelasse im Mittelpunkt. In dem nahe von Bad Freienwalde gelegenen Örtchen bestand seit Anfang der 1860er Jahre eine Brennerei und eine Zuckerfabrik im Besitz von Graf Edwin von Hacke (1821-1890), einem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten. Drittens ließ Herzfeld auch den Einsatz von Rohzucker testen. Die Versuche waren nicht wirklich erfolgreich, doch sie eröffneten einen klaren Blick auf die notwendigen Bedingungen der Produktion „Deutschen Rums“. Rübensaft und Melasse schieden aus Herzfelds Sicht als Grundstoffe aus, da ihre Gärung eine zu breite Palette von nicht kontrollierbaren Aromastoffen hervorrief. Rübenzucker aber schien eine vielversprechende Ausgangsbasis zu bilden, allerdings in deutlich reinerer Form als üblich. Dann aber könne man hoffen, „dass durch Anwendung geeigneten Dunders, der unter Zusatz ähnlicher Stoffe wie in Indien gebräuchlich sind […], sich durchaus ein Rum von guter Qualität wird erzielen lassen“ (Herzfeld, 1890, 679).

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Lernen von fernen Vorbildern: Die Karibik Anfang der 1880er Jahre (Petermanns Mitteilungen 27, 1881, 311)

Die Resonanz auf diese Versuche war nicht unbeträchtlich: Auf der einen Seite war klar, „daß auf dem eingeschlagenen Wege die Erreichung des vorgesteckten Zieles wohl möglich sei, wenn schon im Einzelnen noch viel zu thun übrig bleibt und manche Hindernisse zu überwinden seien“ (Sell, 1891, 227). Deutsche Wissenschaft wäre handlungsfähig, könne einen „Deutschen Rum“ in akzeptabler Qualität herstellen: „Würde auch dieser R[um] dem echten nicht gleichwertig sein, so spricht doch alles dafür, daß er die außerordentlich minderwertigen Nachahmungen des Rums, die sich bei uns im Verkehr befinden, leicht verdrängen würde“ (Rum, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 19, Jahres-Supplement 1891-1892, Leipzig und Wien, Leipzig und Wien 1891, 789-790, hier 790). „Deutscher Rum“ war aus dieser Perspektive eine Art materialisierte Sozialtechnologie, war ein typisches Besserungsangebot bürgerlicher Wissenschaftler an die unwissende und irrational agierende Bevölkerungsmehrheit. Ferner wusste man, dass „Deutscher Rum“ einen Markt nur dann finden würde, wenn das Produkt mit Billigangeboten konkurrieren konnte.

Angesichts der noch erforderlichen hohen Investitionen war es nicht verwunderlich, dass sich abseits der Laboratorien und Versuchsstätten keine Unternehmer fanden, die erforderliche Investitionen wagen wollten. Es gab auch keine weiteren Versuchsreihen durch die Zuckerindustrie oder im breiten Netzwerk der landwirtschaftlichen Versuchsstationen – ein Widerhall der gerade bei Nahrungsmittelchemikern verbreiteten Skepsis, ob Herzfelds Ideen wirklich umsetzbar waren (Paul Lohmann, Lebensmittelpolizei, Leipzig 1894, 146; Fritz Elsner, Die Praxis des Chemikers […], 7. durchaus umgearb. u. wesentl. verm. Aufl., Hamburg und Leipzig 1900, 444). Sie litten unter dem Makel von „nicht zum erfolgreichen Abschluß gebrachten Experimente[n]“ (Franz Lafar, Handbuch der Technischen Mykologie, Bd. 5, 2. wesentl. erw. Jena 1905-1914, 340). Hinzu kamen zwei allgemeinere Veränderungen: Einerseits war es derweil gelungen, die Nebenprodukte der Rübenzuckerindustrie als Teil von melassehaltigen Futtergemischen erfolgreich zu vermarkten (Chr[istian] Grotewold, Die Zuckerindustrie, Stuttgart 1907, 98-100). Zum anderen schloss sich die Spiritusbranche Ende der 1890er Jahre zu einem Syndikat zusammen, so dass von einem freien Marktgeschehen nicht mehr die Rede sein konnte. Um die stetig wachsenden Mengen von Weingeist abzusetzen, wurden immer größere Mengen des Alkohols technisch verwertet. Neue Trinkbranntweine waren in diesem Umfeld kaum erwünscht – und sie wären durch die hohe steuerlich Belastung gegenüber Kunst-, Fasson- und Rumessenzrum ohne Sonderregelungen auch nicht wettbewerbsfähig gewesen. „Deutscher Rum“ aus Rübenzucker blieb denkbar, doch auch angesichts des allgemein steigenden Lebensstandards schien ein solches Substitut nicht mehr zeitgemäß. In Satirebeilagen wurde er gar als Ausdruck überbürdenden Nationalismus charakterisiert: „Fahre hin, du stolzes Schiff, und trage deutschen Fleiß, deutsches Wesen und deutschen Rum an die fernen Gestade!“ (Aus dem Aufsatzhefte eines Schülers, Neues Wiener Journal 1900, Beilage Humor, Nr. 73, 9).

Spirituosen als überflüssiger Luxus

Der Erste Weltkrieg führte zu einem weiteren massiven Rückgang des Trinkalkoholkonsums. Alkohol diente nun vorrangig technischen Zwecken, war Teil der Sprengstoffproduktion und der chemischen Industrie, diente als Heiz- und Beleuchtungsmittel, zur Essigbereitung und für pharmazeutische Zwecke. Neue Verfahren, etwa Alkoholproduktion aus Holzabfällen oder Sulfitcellulose, schienen noch eine längere Anlaufphase zu benötigen (Protokoll einer Besprechung im Kriegsernährungsamt v. 7. Oktober 1916, BA R 86, Nr. 5339, I 2554). Trinkbranntweine wurden zwar weiter produziert, dienten aber vorrangig für Heereszwecke. Ersatzmittel drangen vor, auch für Rum, dessen Import größtenteils zum Erliegen kam.

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Liebesgabe aus „feinstem Rum“ – eine typische Irreführung im Jahre 1916 (BA R 86, Nr. 5539)

Damit versiegte erst der Nachschub für Verschnitt- und Faconrum, dann aber auch für den so weit verbreiteten Kunstrum. 1916 verbot man die Spiritusnutzung für die Trinkbranntweinversorgung der Zivilbevölkerung. Übrig blieben allein Essenzen und synthetische Aromen. In einem auf die Grundversorgung reduzierten Versorgungsalltag boten sie – zu weit überhöhten Preisen – noch ein wenig geschmackliche Abwechslung. Doch Rumersatz enthielt vielfach nicht nur keinen Rum, sondern mutierte zu dem „Surrogat eines Ersatzmittels“: „Der angebliche Rum bestand aus einer mit Saccharin versüßten Flüssigkeit, der ein wenig parfümierte Essenz beigemengt war“ (beide in Die Zeit 1918, Nr. 5681 v. 23. Juli, 5). Derartige Alkoholsubstitute waren alkoholfrei, dienten als eine überteuerte Würze für Tee, für einen virtuellen Grog (Arbeiterwille 1918, Nr. 1 v. 1. Januar, 7). Diese bedrückende Situation änderte sich auch 1919 nicht, 1920 nur langsam. Die Ersatzmittel waren Teil der Krisensituation der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu dem auch der wachsende Hass auf die Gegenwelt der Krisengewinnler gehörte: „Die wässerigen Käse, den Eiersatz, den Teeersatz, den Rumersatz, und all das andere Gemisch und Gepantsch, das unter Fluchen und Würgen als Nahrung betrachtet werden mußte, sollte jetzt ausschließlich zur Verpflegung der Schieber verwendet werden“ (Das interessante Blatt 39, 1920, Nr. 32 v. 5. August, 5). In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Importrum ein Getränk des Feindes, des inneren und äußeren. Auf der einen Seiten die Kolonialmächte der Entente, auf der anderen die vielbeschworenen Kriegsgewinnler und Schieber, die damit Geschäfte machte, ihn sich auch leisten konnten.

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Fehlender Trank bei der Truppe: Von der Liebesgabe zum Rauschersatz durch Rumersatz (BA R 86, Nr. 5539; Kriegszeitung der 1. Armee 1918, Nr. 153 v. 28. April, 7)

Die unmittelbare Nachkriegszeit bot der heimischen Spirituosenindustrie eigentlich ideale Rahmenbedingungen, gab es doch nach der faktischen Prohibition einen beträchtlichen Nachholbedarf. Zudem hatte die Kriegspropaganda immer wieder die Vorrangstellung der deutschen Wissenschaft, insbesondere der deutschen Chemie hervorgehoben: „Die Chemie ist die Wissenschaft der unbegrenzten Möglichkeiten; sie kann alles, man muß ihr nur Zeit lassen“ (Alfred Hasterlik, Von der Suppe in der Westentasche, Kosmos 10, 1913, 330-332, hier 332). Beides bot Marktchancen für eine Alternative zum kaum erschwinglichen Importrum, zum vielfach nicht verfügbaren und zudem deutlich verteuerten Kunstrum. Hinzu kam, dass im Jahrzehnt der Ernährungskrise die Anspruchshaltungen deutscher Konsumenten sanken, dass es um eine auskömmliche Grundversorgung ging und man der „Phrase von individuellem Geschmack“ (K[arl] B[ornstein], Hygienische Plauderei! Helfer der Hausfrau, Blätter für Volksgesundheitspflege 23, 1924, 84-86, hier 85) vielfach skeptisch gegenüberstand.

Nach dem Einschnitt des Ersten Weltkriegs verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der deutschen Spirituosenindustrie. Trotz hoher Abschöpfung schuf die mit dem Branntweinmonopol 1918 resp. 1922 einhergehende Regulierungsbehörde eine gewisse Rechtssicherheit. Parallel gewann der Außenhandel neue Bedeutung. Die begrenzten, durch die Auflösung der Heeresbestände noch unterstützten inländischen Spritbestände wurden durch Importe ergänzt. Zugleich konnten Markenprodukte insbesondere in neutralen Staaten zu attraktiven Preisen verkauft werden. Neuartige Produkte hatten daher beträchtliche Marktchancen (Die Lage der deutschen Spirituosenindustrie, Vorwärts 1920, Nr. 390 v. 6. August, 5). Die schon lange vor der Hyperinflation 1923 rasch steigenden Preise schränkten die Konsummöglichkeiten jedoch immer noch ein. Ende 1920 verzichtete man daher auf den vor Kriegsbeginn üblichen Silvesterpunsch. Verzicht blieb Bürgertugend: „So kroch mancher vorzeitig in die Federn und verschlief den Neujahrsbeginn recht gründlich“ (Amtliches Wittgensteiner Kreisblatt 1921, Nr. 1 v. 4. Januar, 3).

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Branntweinproduktion und -konsum im Deutschen Reich 1898-1918 (Goetz Briefs, Spiritusindustrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 4. gänzl. umgearb. Aufl., hg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber und Friedrich Wieser, Jena 1926, 713-724, hier 718)

Die Rahmenbedingungen für „Deutscher Rum“ verbesserten sich aber auch durch strikte öffentliche Kritik an unangemessenem Luxus zugunsten der siegreichen Kolonialmächte des Westens. Georg Heim (1865-1938), populistischer BVP-Politiker, wetterte in der Nationalversammlung gegen den „Aberwitz“ des Rum- und Arrakimportes: „Es ist doch heller Wahnsinn, wenn wir heute noch Luxuseinfuhr gestatten“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 331, Berlin 1920, Debatte v. 6. Dezember 1919, 3921). Angesichts von Zuckerimporten zur Weinstreckung und Schnapsbereitung und von weiteren Rum- und Arrakimporten in Höhe von 25 Millionen M forderte auch der SPD-Abgeordnete Lorenz Riedmiller (1880-1960): „diese Dinge müssen aufhören!“ (Ebd., Bd. 346, Berlin 1921, Debatte v. 10. Dezember 1920, 1611). Der Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung – die Rationierung dauerte fort – verwies entschuldigend darauf, dass das Importkontingent von 500.000 Litern Rum und Arrak vorrangig „für medizinische Zwecke“ diene, dass weitere Importe für die Versorgung der Handelsschiffe und der Exporthäuser der Hansestädte erforderlich seien (Ebd., Bd. 341, Berlin 1920, Nr. 2147, 3347; ebd., Bd. 365, Berlin 1920, Nr. 1268, 868). Doch die öffentliche Meinung repräsentierte eher der SPD-Abgeordnete Wilhelm Sollmann (1881-1951), Abstinenzler und Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Versailles, der den Import „solcher gänzlich überflüssigen Luxusgenußmittel“ für nicht mehr zeitgemäß hielt (Ebd., Bd. 364, Berlin 1920, Nr. 809, 575). Ein „Deutscher Rum“ entsprach also den Möglichkeiten und Erfordernissen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Und in der Tat präsentierte einer der führenden Spirituosenproduzenten Deutschlands, die Magdeburger und Stargarder Firma H.A. Winkelhausen, auf der Hannoveraner Anuga 1921 einen „Deutschen Rum“, hergestellt aus deutschen Rohstoffen. Das erschien als Durchbruch, als weitere Glanzleistung deutscher Wissenschaft und Technik.

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Zurückhaltende Werbung für „Deutschen Rum“ aus dem Hause Winkelhausen (Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 288 v. 24. Juni, 6)

Wissenschaftliche Präsentation eines vermeintlichen Durchbruchserfolges

Abseits dieser in zahlreichen Illustrierten und Zeitungen geschalteten redaktionellen Werbung (Jugend 26, 1921, 574; Illustrierte Zeitung 157, 1921, Nr. 4052 v. 14. Juli, 10; Münchner Neueste Nachrichten 1921, Nr. 394 v. 17. September, 21) erfuhr die Öffentlichkeit vom neuen „Deutschen Rum“ aus Rübenzucker seit Oktober 1921: „Zwei deutschen Firmen ist es gleichzeitig gelungen, nach langjährigen Versuchen unter Anwendung aller modernen Hilfsmittel und durch genauer Anpassung an die tropischen Verhältnisse in Jamaica, aus heimischen Zuckerrübenabfällen einen deutschen Rum herzustellen, der echten Auslandsrum an Güte mindestens gleichkommt, viele Importware sogar wesentlich übertrifft. Diesem Erfolg kommt eine hohe wirtschaftl. Bedeutung zu, denn die großen Vermögenswerte, die früher dem Ausland zuströmten, werden jetzt dem heimischen Gewerbe verbleiben“ (Deutscher Rum, Durlacher Tageblatt 1921, Nr. 247 v. 23. November, 4; zuvor schon Deutscher Rum, Kölnische Zeitung 1921, Nr. 737 v. 31. Oktober, 10). Derartige Artikel fassten die Ergebnisse erster nunmehr in der Fachöffentlichkeit publik werdender Informationen zusammen. Der Verband selbständiger öffentlicher Chemiker Deutschlands beschäftigte sich Mitte September mit dem Thema, präsentierte dabei die Wilthener C.T. Hünlich AG als Motor der Innovation. Diese habe bereits 1909, zwölf Jahre zuvor, mit entsprechenden Forschungen begonnen (Haupt, 1921, 253). Im Dezember 1921 wurde dies durch ein ausführliches Gutachten (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Zeitschrift für angewandte Chemie 34, 1921, 621-623, 629-634) nochmals unterstrichen. Die Forschungen der mit Hünlich eng kooperierenden Winkelhausen-Werke wurden kurz danach veröffentlicht (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, 185-186). Es folgten eine Reihe einschlägiger Berichte in Zeitungen im In- und Ausland (Deutscher Rum – eine neue Tat deutscher Technik, Meraner Tagblatt 1922, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Deutscher „Jamaika“-Rum, Niederrheinisches Tageblatt 1922, Nr. 123 v. 27. Mai, 6). Doch die Zahl enthusiastischer, preisender Artikel blieb gering. Stattdessen dominierten sachliche Wiedergaben einschlägiger Fachartikel (Jahresbericht für Agrikultur-Chemie 65, 1922, 365; Chemiker-Zeitung 46, 1922, 934, Zentralblatt für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 3, 1923, 370). Immerhin war „Deutscher Rum“ zumindest bis 1923 ein von unterschiedlichen Experten diskutiertes Thema (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Süddeutsche Apotheken-Zeitung 63, 1923, 329-330, 351-353).

28_Bundesarchiv R86_Nr5340_C-T-Huenlich_Briefkopf_Produktionsstaetten_Spirituosenindustrie_Deutscher-Rum

Produktionsstätten der C.T. Hünlich AG Anfang der 1920er Jahre (BA R 86, Nr. 5340)

Dabei ging es einerseits um die Produktionstechnik, also die eigentliche Innovation. Die C.T. Hünlich AG stand dabei im Mittelpunkt der Berichterstattung. Nähere Angaben zur Firmengeschichte übergehe ich, doch Hünlich war einer der führenden deutschen Weinbrandproduzenten des Deutschen Reiches, Carl-Albert Hünlich (1853-1916) von 1896 bis 1914 Vorsitzender des Verbandes der deutschen Cognac-Brennereien (Detaillierte Angaben enthält BA R 8127, Nr. 10823, Hünlich 1917-1930). Die Firma hatte ein breites Angebot, das weitere Spirituosen, eine Spritfabrik, aber auch Nichtalkoholika mit einschloss. Hünlich war kein Markenartikler. Tochterfirmen, wie die 1911 gegründete Oppauer E.L. Kempe & Co. bedienten diesen Markt. Im Zentrum stand die Belieferung des Großhandels mit Destillaten, die dann umgefüllt, weiterverarbeitet und unter anderen Namen vertreiben wurden. Das passte zur Struktur des Rummarktes. Versuche mit „Deutschem Rum“ begannen 1909, Fritz Hünlich (1885-1931) zeichnete hierfür verantwortlich. Auch sein Bruder Rudolf Hünlich (1883-1924), der ab 1916 die Geschicke der 1917 zur Aktiengesellschaft umgewandelten Firma leitete, unterstützte diese Forschungsarbeiten. C.T. Hünlich richtete schon vor dem Krieg eine Versuchs-Rumbrennerei ein (Erster Geschäfts-Bericht der Cognac-Brennerei C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das Geschäftsjahr 1916-1917, s.p., BA R 8127, Nr. 10823), diskutierte die Pläne eines „Deutschen Rums“ auch mit dem Reichsschatzamt. Auch innerhalb der Nahrungsmittelchemie war dies bekannt, die Begriffsbestimmungen definierten „Rum“ daher im Gegensatz zu den britischen Regeln 1912 als ein „zur Zeit“ aus Zuckerrohrmelasse hergestellten Trinkbranntwein (Bericht v. Alfred Heiduschka v. 7. März 1921, BA R 86, Nr. 5340). Anfangs gab es Misserfolge, doch schon 1914 gab es einen „echten“ Rum „nach den auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschen Gärmaterialien hergestellt“ (Mezger und Jessen, 1921, 623; Deutscher Rum, Die Glocke 1921, Nr. 268 v. 19. November, 3).

29_SLUB Dresden_Deutsche Fotothek_Nr33129766_C-T-Huenlich_Laboratorium_Spirituosenindustrie_Wilthen

Pröbeln und Testen: Laboratorium der C.T. Hünlich AG 1925 (SLUB Dresden und Deutsche Fotothek Nr. 33129766)

C.T. Hünlich bildeten die Karibik im Kunstrum der Brennerei nach: „Die Vergärung erfolgt in temperierten Räumen, bei den hohen in den Tropen üblichen Temperaturen mit spezifischen Gärungserregern in mehreren getrennten Gängen. Die Zuckerrübenmelasse wird für sich vergoren und aus den bei der Destillation vorbleibenden Schlempen unter Zusatz von Rohzucker, stickstoffhaltigen Rückständen und Früchten ein Dunder bereitet, indem man diese Mischung einer Bakteriengärung in hoch beheizten Räumen unterwirft. Hierbei bilden sich neben wohlriechenden aromatischen Substanzen auch unerwünschte Körper, deren Abtrennung nach einem besonderen Vorfahren vorgenommen wird. Dieser fertig präparierte Dunder wird nun in einem bestimmten Verhältnis der gärenden Melassemaische vor der Destillation zugesetzt. Es ist klar, daß die Art der Gärungsorganismen bei der Entwickelung des Rumaromas die grösste Rolle spielt, und es liegt nahe, dass man versucht hat, die Gärungserreger in Reinkulturen zu züchten und überzuimpfen, ähnlich wie es H. Becker s. Z. gelang, durch Einführung von Cubarumhefe in Deutsch-Ostafrika einen guten Rum zu erzeugen“ (Haupt, 1921, 253-254). Damit knüpfte Hünlich unmittelbar an die Vorarbeiten Alexander Herzfelds an ([Gustav] Dorfmüller, Ref. v. Hugo Haupt, Ueber deutschen Rum, 1921, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Zucker-Industrie 71, 1921, 813), legte aber deutlich größeren Wert auf die Gärungsmaterialien, die Prozessführung und die Koordination der Grundgärung, der Dunderproduktion und der Aromatisierung des Brenngutes.

30_Winkelhausen_Magdeburg_Produktionsstaetten_Spirituosenindustrie_Weinbrand

Die Magdeburger Betriebsstätten der H.A. Winkelhausen AG 1926

Parallele Entwicklungsarbeit gab es kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch bei H.A. Winkelhausen, 1846 als Kolonialwaren- und Destillationsgeschäft in Preußisch-Stargard gegründet und während des Kaiserreichs ebenfalls eine führende Weinbrennerei. Standorte gab es im In- und Ausland, Anfang der 1920er Jahre beschäftigte die mittlerweile nach Magdeburg verlagerte Firma ca. 1200 Beschäftige (Westfälische Zeitung 1921, Nr. 208 v. 31. August, 6). Winkelhausen produzierte erfolgreiche und breit beworbene Markenartikel, auch sie wurde Anfang der 1920er Jahre eine Aktiengesellschaft. Seither kooperierten Winkelhausen und Hünlich eng, 1930 übernahm sie dann Hünlich und siedelte nach Wilthen um, ehe die Firmen 1931 wieder getrennte Wege gingen; wobei Winkelhausen Teil der Stettiner Rückforth AG wurde (nähere Informationen finden sich in BA R 907, Nr. 4758 resp. BA R 907, Nr. 9119).

Auch bei Winkelhausen folgte man Herzfelds Anregungen. Der Direktor besuchte vor dem Weltkrieg Jamaika, um die dortigen Verfahren genauer zu studieren. Anders als Hünlich versuchte man mit Unterstützung des Reichsschatzamtes zunächst eine Rumproduktion aus importierten Rohmaterialien Westindiens, verfolgte also Ideen weiter, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert und verworfen wurden. Parallele Versuche mit deutscher Rübenzuckermelasse ergaben vorzeigbare Resultate, doch mit einen unangenehmen Geruch und Beigeschmack (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, hier 161). Der 1915 den staatlichen Behörden präsentierte Rum aus Rohrzucker überzeugte geschmacklich, konnte während des Weltkrieges aber nicht weiter hergestellt werden. Stattdessen konzentrierte man sich auf den Rum aus Rübenzuckermaterialien, verbesserte diesen, setzte nach Kriegsende allein auf dieses Verfahren, auch wenn er weiterhin einen „nicht angenehmen Beigeschmack“ (Ebd., 162) besaß. Vergleichende Verkostungen des „Deutschen Rums“ beider Produzenten ergaben jedoch bessere Werte für das Produkt des Hauses Winkelhausen (Kurt Brauer, Deutscher Rum. (Schluß.), Chemiker-Zeitung 46, 1922, 185-186, hier 186). Gleichwohl waren deutsche Experten zuversichtlich, dass das Destillat weiter zu verbessern sei; zumal durch eine längere Lagerung. Der Tenor war klar: „Sollte sich die neue Erfindung bewähren und sich deutscher Rum als Qualitätsmarke einbürgern, dann wäre unserer Volkswirtschaft wieder ein guter Dienst erwiesen“ (Deutscher Jamaika-Rum, Der Drogenhändler 1922, Nr. 6, 64, BA R 86, Nr. 5430).

31_Volksstimme_1914_12_30_Nr303_p4_Rheingauer Buergerfreund_1914_12_22_Nr153_p3_Spirituosen_Rum_Deutscher-Rum_Rumverschnitt_Faconrum_Latscha

Deutscher Rum als Handelsmarke 1914 (Volksstimme 1914, Nr. 303 v. 30 .Dezember, 4 (l.); Rheingauer Bürgerfreund 1914, Nr. 153 v. 22. Dezember, 3)

„Deutscher Rum“ als Teil deutschen Wiederaufstiegs nach dem Ersten Weltkrieg

„Deutscher Rum“ war ein wahrgewordener Wissenschaftstraum, Ausdruck beharrlicher Entwicklungsarbeit, Beleg für die Leistungsfähigkeit der deutschen Spirituosenindustrie. Das war Labsal für die durch die Niederlage gebeutelte deutsche Seele. Doch abseits schwer zu fassender Gefühle schien „Deutscher Rum“ ein volkswirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fortschritt zu sein. Mochten bisher auch vorwiegend Proben vorliegen, so war man doch schon sicher, dass „die beträchtlichen Vermögenswerte, die früher dem Ausland für Importware zugeströmt sind, […] künftig zum großen Teile im Land verbleiben, ja es steht sogar zu erwarten, daß Deutschland seine guten deutschen Rume in die benachbarten Oststaaten exportieren wird“ (Stadlinger, „Deutscher Rum“, Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 516 v. 4. November, 9). Stolzes Schulterklopfen war vernehmbar, der morgige Tag schien wieder der Deutschlands zu sein: „Wir stehen vor einer Glanzleistung der deutschen Industrie, einer Leistung, die besonders gerade in der Gegenwart allseitige Beachtung finden sollte. Es ist unbedenklich zuzugeben, daß die besten Sorten echten tropischen Rums besser sind als der deutsche Rum, aber die Industrie des deutschen Rums ist heute erst in ihren Anfängen und arbeitet, ermutigt durch den großen Erfolg, den sie errungen hat, unermüdlich an der Verbesserung ihres Erzeugnisses, und dann, wer kann heute noch die besseren Qualitäten echten Tropenrums bezahlen?“ (Werner Mecklenburg, Deutscher Rum, Berliner Tageblatt 1922, Nr. 3 v. 3. Januar, 5).

Die öffentliche Präsentation der Herstellungsverfahren sollte vor allem die in der technischen Simulation liegende Eigenleistung hervorheben. Nein, „Deutscher Rum“ sei kein Ersatzmittel, sondern ein deutsches Analogon, ähnlich, doch aus deutschen Rohmaterialien. Diese seien, das habe der Rübenzucker gezeigt, gleichwertig, doch angepasst an das so andere deutsche Klima. „Deutscher Rum“ erlaube zugleich die Reinigung des deutschen Marktes vom Kunstrum, denn das neue Produkt würde preiswert sein, zweieinhalb mal preiswerter als der Importrum. Mit Kunstrum sei es damit wettbewerbsfähig, zugleich aber aromatischer, abgerundeter. Es handele sich um „vollständige Wesensgleichheit“ (Mezger und Jesser, 1921, 634) mit Importrum, entsprechend wäre die Wahl für deutsche Konsumenten einfach. Im Reichsinnenministerium rechnete man mit verminderten Rumimporten, hoffte auf neue Exportchancen abseits des Kunstrums (Schreiben des Reichsministerium des Innern an das Reichsgesundheitsamtes v. 4. Juli 1923, BA R 86, Nr. 5430).

Begriffs- und Regulierungsprobleme

All das war aber immer noch eine Als-Ob-Diskussion. Nicht nur hatte die Massenproduktion noch nicht begonnen, sondern 1920 bis 1922 blieb offen, ob der Begriff „Deutscher Rum“ auch genehmigungsfähig war und wie er in das komplexe Rechtswerk der Branntweinregulierung zu integrieren sei. Die Debatte kann hier nicht ausgebreitet werden, obwohl sie bei vielen Bürokraten gewiss Zungenschnalzen auch abseits der Zungenprobe hervorrufen dürfte. „Deutscher Rum“ war umstritten, denn diesen konnte es eigentlich nicht geben in einer Welt, in der Rum aus der Ferne stammte, als Erzeugnis aus vergorenen Rohrzuckermaterialien galt. Hinzu kam der ausgeprägte Drang nach begrifflicher Präzision. In der ersten öffentlichen Diskussion sprach sich der langjährige Vorsitzende des Bund Deutscher Nahrungsmittelfabriken und -Händler August Ertheiler (1863-1959) dafür aus, einen Kunstbegriff (wie Weinbrand statt Kognak oder Sekt statt Champagner) zu entwickeln, parallel das Produkt zu verbessern, um dann erfolgreich zu sein (Haupt, 1921, 260-261). Albert Jonscher plädierte in einem Gutachten für „Echter Rum von C.T. Hünlich, Wilthen nach dem auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschem Gärmaterial hergestellt“ (Gutachten von A. Jonscher v. 2. März 1921, BA R 86, Nr. 5340), Heinrich Becker für „Deutscher Rum nach den für echten Jamaika-Rum üblichen Arbeitsverfahren aus Deutschem Rohstoff hergestellt von C.T. Hünlich, Aktiengesellschaft, Wilthen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Ebd.).

32_Dresdner Nachrichten_1923_12_16_Nr347_p21_Spirituosen_Deutscher-Rum_Deutscher-Arrak_C-T-Huenlich

Großhandel mit „echtem“ Deutschem Rum und Deutschem Arrak (Dresdner Nachrichten 1923, Nr. 347 v. 16. Dezember, 21)

Die C.T. Hünlich AG beharrte dagegen auf der eigenen Bezeichnung „Deutscher Rum“ (Aktennotiz v. 9. Mai 1921 betr. Deutschen Rum, Ebd.; Beschreibung der Fabrikation des Deutschen Rums, ebd.) und konnte damit die Mehrzahl der Experten für sich einnehmen. Dem Reichsgesundheitsamt wurden eine Reihe befürwortender Gutachten zugesandt, führende Gärungschemiker und Nahrungsmittelchemiker wie Karl Lintner (1855-1926) oder Alfred Heiduschka (1875-1957) leistenden Flankenschutz. Die Bezeichnung Rum war für den Hersteller als Kaufargument natürlich entscheidend, zudem wollte man nicht schlechter gestellt werden als Kunstrumhersteller. Den Ausweg bot die Vorstellung der Wesensgleichheit von Produkten, wie sie etwa bei Rohr- und Rübenzucker bestand, die chemisch beide Saccharose waren. Rum sollte auf zuckerhaltige Ausgangsprodukte begrenzt werden. Das aber bedeutete nicht zwingend Zuckerrohr, denn dies wäre „gleichbedeutend mit einer parteilichen Stellungnahme zu Gunsten der Auslandserzeugnisse, zum Nachteile jeder fortschrittlichen Arbeit in der deutschen Gärungsindustrie. Eine solche Einseitigkeit müßte für die Dauer dazu führen, daß die allergeringwertigsten, aus rohen Abfällen des Zuckerrohrs in primitiver Weise erzeugten, kaum trinkbaren Auslandsrums bei der Beurteilung besser gestellt werden, wie das einheimische, mit modernen gärungstechnischen Hilfsmitteln gewonnene, wohlschmeckende Erzeugnis aus deutschen zuckerhaltigen Pflanzenstoffen. Der deutsche Verbraucher und der deutsche Nahrungsmittelchemiker sollte sich dabei namentlich nicht zuletzt auch die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung einer solchen heimatlichen Rumerzeugung vor Augen halten und nicht sklavisch am altherkömmlichen Buchstaben des Schrifttums festkleben!“ (Laboratorium Dr. Huggenberg & Dr. Stadlinger über „Deutschen Rum“ v. 14. März 1921, BA R 86, Nr. 5340) Ohne begriffliche Flexibilität sei fortschrittliche deutsche Forschung durchweg benachteiligt. Die Experten des Reichsgesundheitsamtes pflichteten der Bezeichnung intern grundsätzlich bei, doch angesichts laufender Rechtsstreitigkeiten hielten sie sich öffentlich zurück. Ihre Analyse des „Deutschen Rums“ ergab jedoch, dass dessen Geruch und Geschmack dem guter Importrumwaren „sehr nahe“ kam (Bericht des Reichsgesundheitsamtes v. 5. Juli 1921, Ebd.).

Das Gewicht der Firmen Hünlich und Winkelhausen, die Wortmacht ihrer Gutachter und Fürsprecher und die mit dem neuen Produkt verbundenen volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Überlegungen führten dazu, dass „Deutscher Rum“ schon vor Ende der Rechtsstreitigkeiten von Regierungen und Parlamenten in geltendes Recht integriert wurde. Bei der Novelle des Branntweinmonopolgesetzes wurde eigens ein neuer § 27, Abs. 2 eingefügt, um ein Abbrennen auch aus Rübenzuckermaterialien erlauben zu können. Die Produktion des „Deutschen Rums“ aus Rüben- und auch Apfelschnitzen könne „die Einfuhr ausländischen Rums“ begrenzen. Man müsse begrifflich flexibel sein, wolle man „den Fortschritt nicht hindern“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 371, Berlin 1922, Nr. 3616, 3619). Im 1927 erlassenen Lebensmittelgesetz weitergehende finden sich weitere Begriffsbildungen, insbesondere „Deutscher Rum-Verschnitt“ (Bund, 1927, 628). Neben dem Importrum eröffnete sich eine deutsche Parallelwelt.

Juristische Fehden um „Deutschen Rum“

„Deutscher Rum“ scheint damit auch ein Beispiel für die hohe Bedeutung wirtschaftlicher Interessen in der Gesetzgebung der Weimarer Republik zu sein. Doch das wäre zu einfach, denn die wirksamste Kritik an dem Begriff kam aus der Wirtschaft selbst. Dem Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten ging es dabei vorrangig um die Verteidigung vorher allgemein akzeptierter Begrifflichkeiten – und entsprechend warnte er seine Mitglieder vor dem Kauf des neuen Produktes, eines „Kunstrums“. Hünlich verklagte daraufhin den Verband wegen Rufschädigung. Eine einstweilige Verfügung erging, wurde in Frage gestellt, vom Berliner Kammergericht dann aber bestätigt. Eine Entscheidung aber blieb weiter vakant – und sollte sich bis 1923 hinziehen. Für C.T. Hünlich ging es dabei um erhebliche Risiken. Der Spezialreservefonds wurde um 700.000 M aufgestockt, die Investitionen in Maschinen und Umbauten bezifferte die Firma auf 8 Mio. M (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 6. Geschäftsjahr 1921-1922, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Damals erwarb C.T. Hünlich unter anderem die aufgrund des Versailler Vertrages nicht mehr benötigte Zeppelin-Luftschiffhalle aus Dresden-Kaditz.

33_Saechsisches Wirtschaftsarchiv_BK 703_Spirituosenindustrie_Deutscher-Rum_C-T-Huenlich_Produktionsstaetten_Wilthen

Produktionsstätten von C.T. Hünlich Mitte der 1920er Jahre – links oben die neue Lagerhalle (Werbezettel 1928, Sächsisches Wirtschaftsarchiv BK 703)

Beide Kombattanten reüssierten in Ministerien und Reichsgesundheitsamt. Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten vertrat die Ansicht, „dass die Bezeichnung ‚Rum‘ ausschliesslich für einen aus Zuckerrohrmelasse gewonnenen Branntwein verwendet werden darf“ (Schreiben des Verbandes Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten an Dr. Günther v. 3. Juni 1921, BA R 86, Nr. 5340). Man bestritt nicht die Güte des neuen Getränks, doch müsse es präzise benannt werden, etwa als „Rum aus Rübenschnitzeln“. Es habe den Verband viel Überzeugungskraft gekostet, die vor dem Weltkrieg festgelegten Begriffe und Definitionen umzusetzen; nicht zuletzt gegen den Widerstand vieler Fasson- und Kunstrumproduzenten. „Deutscher Rum“ verkenne zudem die Macht des Auslandes, zumal der Franzosen und der Briten, die aufgrund des Versailler Vertrages erhebliche Vorbehaltsrechte besäßen. Im Reichsgesundheitsamt verteidigte man den Begriff „Deutscher Rum“ als einen Herkunftsbegriff – wie etwa Gouda oder Pilsener –, umging so die strittige Frage der Wesensgleichheit (Bericht über eine Besprechung von Reichsgesundheitsamt und Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten v. 18. Juli 1921, Ebd.)

34_Frankenberger Tageblatt_1922_01_03_Nr011_p4_Spirituosen_Rum_Deutscher-Rum

Deutscher Rum unklarer Herkunft und Zusammensetzung (Frankenberger Tageblatt 1922, Nr. 11 v. 3. Januar, 4)

Der Rechtsstreit gärte weiter, beschäftigte die Ministerialbürokratie. Doch die Frage wurde in der Schwebe gehalten (Aktennotiz v. 3. August 1921 Ebd.; Stellungnahme zur Frage „Deutschen Rums“ v. August 1921, BA R 86, Nr. 5340). Stattdessen verweis man auf das vom Kammergericht angeforderte Gutachten des Berliner Nahrungsmittelchemikers Adolf Juckenack (1870-1939). Er besichtigte im Oktober 1921 die Produktionsstätten in Wilthen, entnahm Proben und versprach ein Resultat bis Ende 1921 – und dann folgte eine Kaskade von Rückfragen, Ankündigungen und Vertröstungen, die bis Weihnachten 1922 währte.

35_Illustrierte Technik für Jedermann_06_1928_H28_pXVI_Nahrungsmittelchemiker_Adolf-Juckenack

Der Nahrungsmittelchemiker Adolf Juckenack (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 28, XVI)

Juckenack betonte, dass die karibische Rumproduktion höchst heterogen sein, auch Zutaten abseits der Rohrzuckerproduktion verwende. Entscheidend sei daher nicht das Gärungsmaterial, sondern das Aroma des Rums. Dieses nachzubilden sei Ziel der langjährigen wissenschaftlichen Versuche Hünlichs gewesen. Man habe sich an die karibische Produktionsweise angelehnt, diese aber nicht nachgemacht. Hünlichs Komposition aus einem gefilterten Rauhbrand aus Rübenzuckermelasse, einem Dunders als Rübenzuckernebenprodukten und einer späteren Aromatisierung durch besondere Zusätze, Skimmings, sei eine eigenständige Leistung. Das Ergebnis stehe dem Jamaika-Rum „noch recht erheblich“ nach, doch Verbesserungen seien möglich. Juckenack konstatierte „eine weitgehende Rumähnlichkeit“, schrieb Wesensähnlichkeit fest (Adolf Juckenack, Gutachten v. 25. Dezember 1922, BA R 86, Nr. 5430). Obwohl er sich damit nicht zur strittigen Frage des in der Reichsgesetzgebung bereits verwandten Begriff „Deutscher Rum“ äußerte, stärkte er doch die Position der Firma Hünlich so sehr, dass ein Vergleich geschlossen werden konnte (Deutscher Rum anerkannt, Pharmazeutische Zentralhalle 1923, Nr. 25, 299, BA R 86, Nr. 5430). Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten erkannte den Begriff „Deutscher Rum“ an und zog den Vorwurf eines „Kunstrums“ zurück. Hünlich verzichtete dafür auf Schadenersatz (Schreiben der Hünlich-Winkelhausen-Generaldirektion Ak. Ges. an das Reichsfinanzministerium v. 23. Mai 1923, BA R 86, Nr. 5430). „Deutscher Rum“ war im Deutsche Reiche anerkannt.

Eine neue Konkurrenz? Internationale Reaktionen auf „Deutschen Rum“

Während im Deutschen Reich die Rahmenbedingungen für die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ geschaffen wurden und schließlich auch die internen juristischen Fehden überwunden worden waren, fehlte im Ausland eine breit gefächerte Reaktion auf das neue deutsche Produkt. Sie war vielmehr sachbezogen, konzentrierte sich auf die von den deutschen Experten präsentierten Grundinformationen: „A German firm is producing a beverage similar to rum in composition and flavour from the products of beet sugar manufacture, without any addition of flavouring essences or esters. It is made by the fermentation of beet juice, molasses, raw sugars, and beet-factory-by-products. Undesirable aromatic substances produced at a certain stage in the manufacture are removed by a special process, and there is an addition of sugar, nitrogenous matter, and fruits. […] The analytical figures are within the limits found in the analysis of colonial rums. The flavour of the German product has been judged by various experts to be only slightly inferior to that of first-quality Jamaica rum” (German Rum, The Pharmaceutical Journal and Pharmacists 108, 1922, 117).

Das Interesse war gleichwohl groß, einzelne Arbeiten wurden zumindest teilweise übersetzt (Hugo Haupt, Manufacture of Rum from Beet Juice, International Sugar Journal 24, 1922, 33-35). Dabei traten insbesondere die in der deutschen Diskussion kaum erörterten internationalen Harmonisierungsprobleme in den Vordergrund. Westindische Repräsentanten unterstrichen, dass aus ihrer Sicht „Rum“ ein „spirit destilled direct from sugar-cane products in sugar-cane growing countries“ sei – so wie dies 1909 bereits festgeschrieben wurde. Aus ihrer Sicht war „Deutscher Rum“ ein jamaikanisches Ersatzmittel, „imitation rum“ (“Rum” from Beet Juice, Chronicle of the West India Committee 37, 1922, 93). Anderseits goutierte man sehr wohl das Bestreben der Deutschen, ein dem Vorbild Westindiens entsprechendes Produkt zu entwickeln. Und man bestätigte durchaus die Ähnlichkeit des „Deutschen Rums“ mit dem kolonialen Vorbild (Journal of the Society of Chemical Industry 41, 1922, 73A). Zugleich aber hoben einzelne Wissenschaftler die Unterschiede des Aromas hervor, setzten das neue Produkt dadurch an die Seite einschlägigen Kunstrums (Ebd., 912A). Annäherung war eben relativ. Entsprechend präsentierte man dem Fachpublikum auch die durchaus unterschiedlichen Einschätzungen deutscher Forscher zum Begriff „Deutscher Rum“. Zugleich hielt man es für durchaus möglich, dass die klimatischen Besonderheiten der Tropen chemisch und technisch simuliert werden konnten, so dass negative Auswirkungen auf den britischen und kubanischen Export nicht ausgeschlossen wurden (Germany Investigating Rum Manufacture, Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 68, 1922, 294-295). Letztlich aber waren die karibischen Rumproduzenten recht sicher, dass die deutsche Herausforderung nur begrenzte Folgen haben werde. Eine erste Degustation ergab jedenfalls ein für „Deutschen Rum“ enttäuschendes Resultat, hieß es doch „that these samples represented an inferior grade of rum; that they appeared to be highly flavoured (the odour of amyl acetate being particularly pronounced); and that they could not really be regarded as even equal to the lower grades of Jamaica or Demerara rum” (International Sugar Journal 24, 1922, 211).

Marktpräsenz ohne Werbung und offizielle Genehmigung

Welch ein Aufwand! Und nur wenige Jahre später hieß es, leider „haben die Resultate der deutschen Rumbrennerei den Erwartungen bisher nicht entsprochen“ (Georg Lebbin, Nahrungsmittelgesetze, Bd. 2: Getränkegesetze und Getränkesteuergesetze, Berlin und Leipzig 1926, 233). Um das zu verstehen, müssen wir in die Akten blicken: Der eigentliche Anstoß für die Intensivierung der Forschungen zu „Deutschem Rum“ lag 1920 demnach in zuvor unbekannten Marktchancen. Damals hatte die Brauerei zum Felsenkeller in Dresden-Plauen den Braubetrieb wieder aufgenommen, konnte ihre Kapazitäten aufgrund von Gerstenmangel auch nicht ansatzweise nutzen. Sie kaufte daher Zuckerrübenschnitzel auf, röstete diese, stellte daraus dann Substitute von Porter und Ale dar, zudem massenhaft sog. Paheiowein. Da dieser kaum Käufer fand, griffen Hünlich und Winkelhausen zu, kauften den „Wein“ auf, ließen die noch nicht verarbeiteten Schnitzel zusätzlich von anderen Brauereien verarbeiten – all das mit Sondergenehmigungen, da die Brauerei zum Felsenkeller ohne den Verkauf in Existenznot gekommen wäre. Aus den heimischen Vorprodukten brannten sie „Deutschen Rum“, Hünlich 1,17 Million Liter Weingeist, Winkelhausen 0,97 Million, insgesamt 2,14 Million Liter Weingeist. Das war die vielfache Menge des damaligen Importkontingents für Rum (Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, BA R 86, Nr. 5430). Es ist unklar, wie viel hiervon abgesetzt wurde, Hünlich sprach lediglich von einer „ständig steigende[n] Nachfrage nach deutschem Rum im Kreise der Konsumenten“ (Eingabe der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft v. 28. Oktober 1922, BA R 86, Nr. 5430).

1923 beantragte sie die Genehmigung für die Herstellung „Deutschen Rums“ aus 500.000 Liter Weingeist aus Zuckerrübenrohware, zog diesen Antrag aber zurück, als die Branntweinmonopolverwaltung darauf beharrte, dass das Brenngut ablieferungspflichtig sei (Schreiben von C.T. Hünlich an das Reichsfinanzministerium v. 16. April 1923, Ebd.; Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, ebd.; Aktennotiz von Förster v. 12. Januar 1925, ebd.). In den hier nicht in den Details auszuführenden Auseinandersetzungen ging es letztlich um die Höhe der Abgaben und Steuern für den „Deutschen Rum“. Während die Republik vor dem Kollaps stand, brachte das Reichsfinanzministerium am 30. Oktober 1923 noch eine Sonderverordnung über die Behandlung von Rummaische als Obststoff auf den Weg, doch C.T. Hünlich beschritt diesen eigens eröffneten Weg nicht mehr (Aktennotiz vom 13. Dezember 1923, Ebd.). Die Produktion weiteren „Deutschen Rums“ scheiterte zeitweilig an der Höhe der Abgaben und Steuern. Die Zerrüttung der Geldwirtschaft und die damit zwingend einher gehende Warenzurückhaltung waren weitere Gründe für den Produktionsstopp.

36_Geschäfts-Bericht 1927-1928_pIV_Dass_1928-29_pIV_C-T-Huenlich_Spirituosenindustrie_Warenzeichen

Warenzeichen von C.T. Hünlich (Geschäfts-Bericht 1927/28, IV (l.); ebd. 1928/29, IV)

C.T. Hünlich beantragte nach der Konsolidierung neuerlich Brennrechte für „Deutschen Rum“ aus der nun so bezeichneten „Rummaische“, konnte aus Sicht der Reichsmonopolverwaltung aber den Beweis nicht erbringen, „dass sie in der Lage ist, Erzeugnisse herzustellen, die den Anforderungen der Verordnung“ vom 30. Oktober 1923 entsprachen. Während der aus Paheiowein gefertigte „Deutsche Rum“ seine Abnehmer fand, gab es nun „erhebliche Zweifel darüber […], ob die bisher von der Firma hergestellten, von ihr als Deutscher Rum bezeichneten Erzeugnisse nach dem bei der Herstellung angewendeten Verfahren als ein dem echten Rum wesensähnliches Erzeugnis anzusehen ist“ (Schreiben des Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an den Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes v. 6. Januar 1925, Ebd.). Offenbar war das von so vielen Gutachtern bewertete Verfahren doch nicht wirklich ausgereift. Es ist unklar, wie diese Debatte endete, denn die Akte des Reichsgesundheitsamtes über „Kognak, Rum und Arrak“ von 1926 bis 1929 ist nicht mehr auffindbar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es zu keiner neuerlichen Massenfabrikation „Deutschen Rums“ bei C.T. Hünlich und auch bei den Winkelhausen-Werken gekommen ist. In den Geschäftsbericht 1922/23 berichtete Hünlich noch über „weitere Fortschritte“ beim Vertrieb und großen Fortschritten in der Fabrikation, „die allerdings die Festlegung beträchtlicher Kapitalien erfordern, teils für den weiteren Aufbau von Apparaten, teils für Umbauten in unserem Betriebe und für Versuche im Großen“ (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 7. Geschäftsjahr 1922-1923, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Spätere Geschäftsberichte sparten „Deutschen Rum“ aus. Das galt auch für die Winkelhausen-Werke. Weitere Firmen suchten um Brennrechte nach, einzelnen wurde die Genehmigung nicht erteilt (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 24. November 1924, BA R 86, Nr. 5430; Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an die Graubrüderhaus AG für Brennereierzeugnisse Dresden v. 6. Januar 1925, ebd.).

37_Hamburgische Börsen-Halle_1924_05_23_Nr239_p3_Spirituosen_Winkelhausen_Rum_Weinbrand_Deutscher-Rum_Auktionen

Auktion von deutschem Weinbrand und deutschem Rum Winkelhausen (Hamburgische Börsen-Halle 1924, Nr. 239 v. 23. Mai, 3)

Weitergehende Aussagen über die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ haben nur begrenzten Aussagewert. „Deutscher Rum“ der Winkelhausen-Werte erschienen Mitte der 1920er Jahre regelmäßig bei Auktionen, insbesondere aber in Werbeanzeigen. Die Preise lagen deutlich unter dem echten Importrums bzw. gängiger Verschnitte.

38_Badischer Beobachter_1925_12_30_Nr358_p10_Konsumgenossenschaften_Silvester_Rum_Deutscher-Rum_Winkelhausen_b

Winkelhausens Deutscher Rum: Teurer als Verschnitt, preiswerter als echter Jamaika-Rum (Badischer Beobachter 1925, Nr. 358 v. 30. Dezember 1925, 10)

 

39_Dresdner Neueste Nachrichten_1925_12_13_Nr291_p19_Spirituosen_Punsch_Verschnitt_Rum_Deutscher-Rum_Herzog-Weber

Deutscher Rum als Basis von Rumverschnitt (Dresdner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 291 v. 13. Dezember, 19)

Auch „Deutscher Rum-Verschnitt“ findet sich in Anzeigen insbesondere in Sachsen. Die Preise lagen unter den Angeboten mit Jamaika-Rum, so dass es nicht ausgeschlossen ist, dass er half, die Dominanz des nunmehr explizit kennzeichnungspflichten Kunstrums im deutschen Markt zu brechen.

40_Arbeiterstimme_1926_11_29_Nr266_p5_Rum_Deutscher-Rum_Verschnittrum

Deutscher Rum im Kücheneinsatz (Arbeiterstimme 1926, Nr. 266 v. 29. November, 5)

Beachtenswert ist jedoch, dass am Ende 1920er Jahre „Deutscher Rum“ bestimmten Herstellern nicht mehr zuzurechnen war. Mochte der Rechtsrahmen auch anderes vorsehen, so ist doch ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass es sich dabei doch um Kunstrum gehandelt hat.

41_Karlsruher Tagblatt_1926_04_01_Nr131_p16_Konsumgenossenschaften_Ostern_Wein_Spirituosen_Rum_Deutscher-Rum

Deutscher Rum im Angebotskranz feinster Spirituosen (Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 131 v. 1. April, 16)

Scheitern auch im zweiten Anlauf: Qualitätsprobleme des „Deutschen Rums“ bei Winkelhausen

Anhand der vorliegenden Informationen ist es demnach kaum möglich, die Marktstellung von „Deutschem Rum“ in den 1920er Jahren genauer auszuloten. Die Spirituosenindustrie erholte sich in der Zwischenkriegszeit zwar von den Tiefständen des Weltkrieges, doch während der Nachkriegszeit gab es eine nur begrenzte Erholung, erreichte der Konsum von Spirituosen nur mehr 1,5 Liter pro Kopf und Jahr (in reinem Alkohol), während er um 1900 noch bei ca. vier Litern gelegen hatte. Die hochprozentigen Getränke, die im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Temperenzbestrebungen standen, verloren ihre frühere Dominanz im Alkoholkonsum – auch aufgrund eines gegenüber der Vorkriegszeit etwa dreimal höheren Preises (Karner, Destillateuer-Gewerbe und Branntweinmonopol, Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 102 v. 13. April, 9). Mit vier bis fünf Liter reinem Alkohol wurde zugleich ein säkularer Tiefpunkt des Konsums erreicht. Zur Einordnung: 2019 trank jeder über 15 Jahre alte Bundesbürger ca. 10,6 Liter pro Jahr (Alkoholatlas Deutschland 2022, Heidelberg 2022, 46).

Die letztlich unterbliebene massive Markteinführung des „Deutschen Rum“ durch die C.T. Hünlich AG war Resultat längerer regulativer Debatten, der Warenzurückhaltung während der Hyperinflation und der offenkundigen Probleme, einheitliche Qualitätsstandards garantieren zu können. Das galt ähnlich für die Winkelhausen-Werke. Auch sie hatte die mögliche Genehmigung seitens der Reichsmonopolverwaltung 1922/23 nicht eingeholt. Doch Winkelhausen nahm seit 1929 einen zweiten Anlauf, bemühte sich um eine bessere Qualität seines „Deutschen Rum“, bat die Behörden um fachlichen Rat. Wiederholt sandte sie der Reichsmonopolverwaltung Proben ihres „Deutschen Rum“. Diese Behörde untersuchte die Branntweine, sandte sie anschließend zur unabhängigen Begutachtung auch an das Reichsgesundheitsamt, denn die Genehmigung war von beiden einmütig zu befürworten. Die staatlichen Instanzen walteten ihres Amtes und zeigten der Firma gegenüber ein beträchtliches Wohlwollen. Die Untersuchungen betonten die an sich geringe Qualität der Rumproben, kamen dann aber dennoch zu einer positiven Gesamtwertung: „Zusammenfassend ließe sich daher sagen, daß die beiden übersandten Proben rumartige Eigenschaften in zwar geringen, jedoch auch in solchem Maße besitzen, daß sie als ein dem Rum wesensähnlicher Branntwein und daher als deutscher Rum […] angesehen werden können“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 10. Dezember 1929, BA R 86, Nr. 5341).

Die Winkelhausen-Werke erhielten dadurch wichtige Hinweise für mögliche Verbesserungen (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 5. Februar 1930, Ebd.). Doch sie nutzten sie offenkundig nicht. Im Mai 1930 war die Geduld beider Behörden schließlich erschöpft – auch wenn insbesondere die Reichsmonopolverwaltung die wirtschaftlichen Konsequenzen möglichen Scheiterns wiederholt hervorhob (Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an das Reichsgesundheitsamt v. 8. Mai 1930, Ebd.). Dennoch stelle auch sie fest, dass sich der Geschmack und Geruch der Rumproben nicht mehr gebessert habe, das von einem typischen Rumaroma nicht zu reden war. Vernichtend dann das immer noch wohlwollend formulierte abschließende Gutachten des Reichsgesundheitsamtes: „Der für echten Rum typische, juchtenlederartige Geruch konnte in keinem Destillat wahrgenommen werden. Wenn auch die beiden Proben noch als einem echten Rum wesensähnlich angesehen werden können, so muß doch festgehalten werden, daß ihre Güte im Vergleich zu derjenigen der mit dem Schreiben vom 15. Januar 1930 […] übersandten Proben nicht nur keinen Fortschritt aufweist, sondern sich solcher als etwas minderwertiger darstellt“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 21. Mai 1930, BA R 86, Nr. 5341). Weitere Proben unterblieben.

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Deutscher Rum als neuerliches Billigangebot (Arbeiterstimme 1931, Nr. 201 v. 9. Dezember, 4)

Während der Weltwirtschaftskrise gewannen derweil Autarkieforderungen zunehmend Gewicht (Spiekermann, 2018, 359-365). Schon seit 1925 hatten die neuerlichen Zollerhöhungen Importe verteuert, das Agrarmarketing rief mit amerikanischen Werbemethoden für den Kauf einheimischer Waren auf. Seit 1925 propagierten DNVP und Reichslandbund „Nahrungsfreiheit“, forderten ein Ende von Luxusimporten, zu denen immer auch Rum gehörte. Das war nicht mehrheitsfähig, vor allem nicht realistisch. Doch Maßnahmen zur Steigerung der Selbstversorgung wurden von (fast) allen Parteien geteilt. Die Weltwirtschaftskrise ließ haushälterische Vernunft auch abseits der krisenverschärfenden Deflationspolitik der Brüning-Kabinette um sich greifen, das nicht-über-seine-Verhältnisse-leben. „Deutscher Rum“ gehörte hierzu, war Ausdruck rationaler Selbstbeschränkung – mochte das Angebot auch fehlen.

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Der Traum von Kolonialprodukten von deutscher Scholle – kritisch gewendet (Uhu 9, 1932/33, H. 3, 73)

Liberale und sozialdemokratische Ökonomen hielten dagegen, in der linken Publizistik verspottete man all die vielfältigen Bemühungen um heimische Ersatzstoffe – nicht nur deutschen Rum, sondern auch Buna, synthetischen Treibstoff oder Holzzucker. Sie sollten, wie auch viele Lebensmittel aus Molke oder Magermilch während des Vierjahresplans massiv gefördert werden. Doch es gab durchaus Gründe für diese deutsche „Flucht in den Käfig“ (Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig: Deutsche Wissenschafts- und Innovationskultur 1900-1960, in: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschafts­politik, Stuttgart 2002, 52-59). Die lang zurückreichende Kritik am Luxus, die Bereitschaft für ein Zurückstecken zugunsten vermeintlich höherer, zumal nationaler Ziele sind hier zu nennen, vor allem aber eine von Wissenschaftlern, Unternehmern und vielen Staatsbediensteten getragene Kultur der Neugestaltung des scheinbar Gegebenen. Kurt Tucholsky hat darüber gespottet: „Andere Nationen machen das so: Was sie besonders gut herstellen, das exportieren sie, und was ihnen fehlt, das importieren sie. Wenn den Deutschen etwas fehlt, dann machen sie es nach. Sie haben deutsches Pilsener und deutschen Whisky und deutschen Schippendehl und Germanika-Rum […] – sie haben überhaupt alles, weil eine Zollfestung ihr Ideal darin sieht, ‚vom Ausland unabhängig zu sein‘. Der nationalistische Wahnsinn verdirbt die Warenqualität“ (Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], Deutscher Whisky, Die Weltbühne 26, 1930, 330-331). Doch dies verkannte, dass Substitute wie der „Deutsche Rum“ (und auch der seit der Vorkriegszeit immer wieder angegangene „Deutsche Whisky“) aus Sicht der Gestaltungsaktivisten eben kein Schielen nach dem Fremden war, sondern eine Selbstbesinnung auf die eigenen Fertigkeiten.

„Deutscher Rum“ war Ausdruck einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden, in der Zwischenkriegszeit aber noch immer wirkmächtigen Gestaltungsutopie von Unternehmern und Wissenschaftlern. Der Pathos des Machbaren, der Wunsch an die Stelle einer nicht kontrollierbaren Realität der Halb- und Kunstprodukte etwas Neues, etwas Eigenes  zu setzten, führte ab 1890 zu neuen Anläufen auf alter Strecke, nicht zum Innehalten, zu einer pragmatischen Gegenwartsanalyse, die zu Kompromissen und dem Arrangement mit den Lieferungen der Anderen hätte führen können, vielleicht gar müssen. Die Desillusionierung, die am Ende der Utopie des „Deutschen Rums“ um 1930 stand, führte eben nicht zur rationalen Reflektion über die Aufgaben und die Grenzen von Wissenschaft und Wirtschaft. Stattdessen begannen parallel mit der scheiternden Utopie des „Deutschen Rums“ andere, durchaus nachvollziehbare Heilslehren ihren zeitweiligen Siegeslauf, die Naturheilkunde, die Vitaminlehre, der Kampf gegen Krebs, die Schaffung von Zucker aus Holz, von Kautschuk und Benzin aus Kohle. Bis heute kann man ihren kalten emphatischen Atem verspüren, in den zahllosen Verbesserungen der künstlichen Kost, in Hafermilch, veganen Würstchen oder anderen unseren Alltag prägenden Illusionsangeboten, die völlig zurecht darauf setzen, dass die Investitionskosten von Gläubigen schon wieder eingebracht werden.

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Selbstüberschätzung aus Tradition: Schlagzeile für Deutschen Rum (Playboy 2018, Nr. 5, 24)

Und natürlich gibt es weiterhin „Deutschen Rum“. Heute nicht mehr aus Rübenzucker hergestellt, nicht mehr Mittel zur Aromatisierung von Kartoffelsprit. Heute handelt es sich bei „Deutschem Rum“ um hierzulande destillierte Getränke aus Rohrzucker, also letztlich um Verfahren, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert wurden, die man damals angesichts bestehender Transportprobleme und fehlender Technik nicht genutzt hat. Heute scheint die Wertschöpfung zu stimmen, auch wenn dieser so alte und sehnende Begriff einzig die Irrationalität heutiger Herkunftsangaben unterstreicht (Uwe Spiekermann, Traditionsmythen: »Deutsche Küche« zwischen Nation, Region und Internationalisierung, in: Gunther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 24-49). Wohl bekomm’s!

Uwe Spiekermann, 11. Januar 2023

Heinzelmännchen in der Küche – Geschichte einer Kochkiste

Wer kennt sie nicht, die Heinzelmännchen? Diese freundlichen Hausgeister stehen in einer langen, bis in die Antike zurückreichenden Tradition. In deutschen Landen wurden sie aber erst durch den Berliner Maler und Schriftsteller August Kopisch (1799-1853) populär – und zugleich nach Köln verfrachtet (Gedichte, Berlin 1836, 98-102). Die Heinzelmännchen kamen des Nachts, vollbrachten der Menschen Tagwerk. Sie zimmerten, buken Brot, schlachteten und verwursteten Schweine, schönten den Wein, übernahmen die Schneiderarbeiten; kurzum, sie sorgen sich um die wichtigsten Konsumgüter dieser Zeit. Und man sah allein ihre Werke, nicht sie selbst. Doch dann kam des Schneiders neugieriges Weib, wollte die Heinzelmännchen sehen, sie necken. Sie streute Erbsen auf die Treppen ihres Hauses, die freundlichen Helfer kamen, doch sie stolperten, stürzten, fluchten, verschwanden – und kamen ob dieses Undankes nie wieder: „O weh nun sind sie alle fort / Und keines ist mehr hier am Ort! / Man kann nicht mehr wie sonsten ruh’n / Man muß nun Alles selber thun!“ (Kopisch, 1836, 101)

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Eine populäre Geschichte – nicht nur für Kinder (Illustrierte Welt 18, 1870, 24)

Kopischs Gedicht hatte beträchtlichen Erfolg, wurde ein fester Bestandteil der Kinderliteratur, fand Eingang in Schule und Theologie. Die Heinzelmännchengeschichte wurde vertont, Teil der Kunstmusik des Biedermeiers, eroberte in immer neuen Fassungen den Chorgesang, Konzertsäle und Bühnen, fand gleichermaßen Beifall bei Kindern und gesetzten Bürgern. Anders ausgedrückt: Die Heinzelmännchen wurden ein Konsumgut, mit ihnen wurden Märkte geschaffen, Verlage befördert, Musikalienhandlungen, Musiker und Sänger. Es gab weitere wachstumsfördernde Koppeleffekte, beispielsweise wurde Zwergwuchs marktgängig, Liliputaner Teil des Schaugeschäftes. Und schließlich nährten die kleinen Helfer auch Wissenschaftler, zumal Germanisten und Volkskundler, die Forschungen anstellten, eine frohe Erbsenzählerei auch abseits der angewandten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Ute Dettmar, Arbeit im Mythos. Heinzelmännchen-Figurationen in Märchen und Medien, in: Caroline Roeder und Christine Lötscher (Hg.), Das ganze Leben. Repräsentationen von Arbeit in Texten über Kindheit und Jugend, Berlin und Heidelberg 2022, 81-96; Werner Schäfke und Beatrix Alexander (Hg.), Heinzelmännchen. Beiträge zu einer Kölner Sage, Köln 2011; Marianne Rumpf, Wie war zu Cölln es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem, Fabula 17, 1976, 45-76; Lutz Mackensen, Heinzelmännchen (Name, Wesen, Herkunft), Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 2, 1924, 158-173).

Bei diesem emsigen und kaum beachteten Treiben fehlen wichtige Aspekte. Die Heinzelmännchen stehen eben nicht nur für eine wohlige Legende über den Zwang zur Arbeit, sind mehr als eine Mahnung angesichts gängigen Undanks. Die Heinzelmännchen markierten und symbolisierten eine Zeitenwende, eine wirkliche. Die idealisierte Welt der alten Stadt endete, das selbst begrenzte Handwerkshandeln wich langsam der Industrie und dem dynamischeren Handel. Die Gemächlichkeit der alten Zeit wurde zunehmend verdrängt durch eine neue Arbeitsethik, nicht nur der protestantischen. Das lässt sich an drei Beispielen einfach aufzeigen: Erstens der Schattenwelt der angewandten Naturwissenschaften, zweitens der Technisierung von Produktion und Haushalt sowie drittens dem Aufkommen neuer Bequemlichkeitsprodukte, propagiert als Helfer der Hausfrau.

Die seit den 1840er Jahre beschleunigte Erkundung der organischen Materie ergab ein bisher nur erahntes Binnenreich der Stoffe und stofflicher Reaktionen. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis diese in Ansätzen erforscht waren. Parallel begann die Erkundung der Kleinwelten der Bakterien, die mit dem Menschen eng verbunden waren, den Darm bevölkerten, der Verdauung halfen, doch auch Krankheiten verursachen konnten. Ähnliches galt für Pilze, insbesondere die zum Backen unabdingbare Hefe. Neue Industrien bauten auf diesen Erkenntnissen auf, die Bierbrauerei, die Brennerei, die Konservierung von Gurken. Dadurch entwickelte sich ein neues Verhältnis zur Natur, die nicht mehr vorrangig als Bedrohung, sondern zunehmend auch als Helfer verstanden wurde. Dankbar hieß es: „Die Heinzelmännchen der Gährungsgewerbe sind die Hefenpilze, welche für uns die Spaltung des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure besorgen, für eine zahlreiche Nachkommenschaft thätig sind, damit wir Preßhefe verkaufen können, und ihr Geschäft in staunenswerther Großartigkeit betreiben, wenn auch die Arbeitsleistung jedes Einzelnen nur eine sehr winzige ist“ (Unsere Heinzelmännchen, Brennerei-Zeitung 10, 1893, 1194). Ähnliches galt für neu entdeckte Stoffgruppen, wie etwa die Fermente resp. Enzyme, die Heinzelmännchen gleich die chemischen Stoffe aufspalteten, so wie einst in Köln die holzspaltenden Gnome (Bayerisches Brauer-Journal 22, 1912, 200). Wissenschaft erkundete die materielle Welt, machte sie nachvollziehbar und gestaltbar. Doch dazu bediente man sich weiterhin eines mythischen und mythologischen Überbaus. Die Heinzelmännchen waren eine Metapher für ablaufende Hintergrundprozesse, imaginierten eine Natur voller nützlicher Helfer. Gleich den nicht arbeitenden Lilien auf dem Felde wurde menschliches Leben von unsichtbaren Kräften und Abläufen bestimmt. Wissenschaftliche Forschung, sich ihres Stückwerkcharakters bewusst, mochte Gott nicht mehr beschwören, nutzte aber Zwischenfiguren wie die Heinzelmännchen. Das galt selbst für die belebte Natur, mutierten doch etwa die heute wieder zu Recht geschätzten Bienen zu Heinzelmännchen des Landmanns (Ferdinand Gerstung, Immenleben – Imkerlust, Bremen 1890, 5).

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Heinzelmännchen helfen der erschöpften Hausfrau nähen (Über Land und Meer 103, 1910, 34)

Auch die für das Maschinenzeitalter so zentrale Technik bediente sich analoger Vorstellungen, nutzte diese auch für die Vermarktung. Das galt vor allem für die wichtigste Haushaltsmaschine des 19. Jahrhunderts, für die Nähmaschine. Sie war noch per Fuß und Hand zu betreiben, erforderte stete Aufmerksamkeit und Kraft. Doch sie beschleunigte zugleich die noch mühseligere Näherei zumal im Hause. Die Nähmaschine war ein Helfer, ähnlich wie viele der Haushaltsmaschinen des späten 19. Jahrhunderts, wie Waschmaschinen und Herde, Petroleumkocher und Backöfen. Die Heinzelmännchen erschienen in neuen Formen, „als Scheuerteufelchen, als Backdämonen, sie tanzen zum Surren der rasselnden Nähmaschine und kümmern sich nicht groß um die bunte Blütenpracht, die sich draußen mit jedem werdenden Tage liebreizender entfaltet“ (An der Schwelle des Pfingstfestes, Wendelstein 1912, Nr. 118 v. 25. Mai, 2). Die Technik mochte nicht den Charme der kleinen Gesellen haben, doch die Idee des technisierten Haushalts entsprach immer auch einer Rückkehr zu den guten alten Zeiten: „Was man in Köln einst so geschätzt, / Wird durch die Technik uns ersetzt, / Als Heinzelmännchen dienen / Uns heute die Maschinen!“ (Ernst Heiter, „Moderne Heinzelmännchen!“, Bielefelder Volks-Zeitung 1907, Nr. 213 v. 14. September, 3).

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Heinzelmännchen als Alltagshelfer (Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 34, Beibl. 2, 4)

Seit der Jahrhundertwende wurden derartige Vorstellungen auch auf andere Konsummaschinen verbreitet, drangen Heinzelmännchen dadurch in nicht häusliche Sphären vor: Fahrräder erlaubten geschwinde Fahrten, ermöglichten ohne großen Eigenaufwand den grauen Wohnungen und Städten zu entfliehen. Schreibmaschinen eroberten die Büros und Verwaltungen, mochten private Briefe auch immer noch per Hand geschrieben werden. Die Heinzelmännchenmetapher ergriff gar Infrastrukturbeschreibungen der modernen Stadtmaschinen. Wasser wurde fließend, Heizung schon zentral, die Straßen waren nachts erleuchtet und morgens von Besenmännern gereinigt: „Wie die Heinzelmännchen machen sie sich unverzüglich an die Erledigung ihrer Arbeit, während der müde Bürger behaglich in seinen vier Wänden schlummert“ (Walpurgisnacht in Berlin 1907, Nr. 102 v. 2. Mai, 5). Auch die neue Welt war voller Wunder.

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Convenienceprodukte als Heinzelmännchen – Angebotspalette von Adolf Vogeley (Die Woche 3, 1901, 604)

Und doch, seit den 1890er Jahren wurden auch die Heinzelmännchen zunehmend käuflich, vorausgesetzt, man kaufte die richtigen Waren. Backpulver und Puddingpulver beschleunigten die Küchenarbeit, vermeintlich gelingsicher. Reisstärke half beim Bügeln, Maisstärke beim Verdicken der Saucen, Suppenpräparate erlaubten warme, nährende Speisen. Heinzelmännchen bevölkerten viele einschlägige Werbeanzeigen, wurden von Anbietern wie Maggi auch als Markenzeichen benutzt. Die Heinzelmännchen mochten verschwunden sein, doch moderne Produkte traten ihr Erbe an: „Wer hätte nicht schon tausendmal / Von Heinzelmännchen schon vernommen, / Wie diese Knirpse ohne Zahl / Dem Menschen einst zu Hilf‘ gekommen? / Wie sie, wenn sich die Müden legten, / Allüberall sich tüchtig regten? / Längst sind die Heinzelmännchen fort / Und keines ist mehr hier am Ort, / Doch eh‘ sie giengen [sic!], brauten sie, / Zu mildern der Hausfrau Plag‘ und Müh‘, / Die Wundertropfen, die heut‘ im Land / Als Maggiwürze sind bekannt“ (Bote für Tirol und Vorarlberg 1902, Nr. 1 v. 2. Januar, 5).

Die Kochkiste „Heinzelmännchen“

Die 1905 eingeführte Kochkiste „Heinzelmännchen“ verband diese drei Entwicklungslinien zu einem Angebot: Sie nutzte Grundkenntnisse der Naturwissenschaften, in diesem Falle einerseits der Physik, der Wärmeleitung, anderseits der chemischen Transformation der Nahrungsstoffe. Sie war eine Kochmaschine, auf externe Energie angewiesen, doch stetig den vorgesehenen Zweck erfüllend. Und sie war anscheinend Bequemlichkeit pur, befreite die Hausfrau von der Fron des langen Kochens auf dem stets zu beaufsichtigenden Herd: Ankochen, den Rest erledigte die Kochkiste, kochte durch, hielt warm, war anders als der Herd einfach zu transportieren.

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Neu und besser: Die Kochkiste Heinzelmännchen (Daheim Kalender für das Deutsche Reich 1907, Bielefeld und Leipzig 1906, Anzeiger, 61)

Doch was war eine Kochkiste? Und warum entstand das Heinzelmännchen just um diese Zeit? Dazu müssen wir uns die andere Art des Kochens um die Jahrhundertwende ins Gedächtnis rufen: Der Herd, meist Teil einer Wohnküche, zumeist mit Kohle, teils mit Holz, zunehmend aber auch mit Gas beheizt, lieferte Hitze zum Ankochen, doch dann köchelte, brutzelte, buk das Essen noch lange vor sich hin, ehe es schließlich verzehrs- und servierfertig war. Das war doppelt aufwändig, denn einerseits erforderte dies eine kontinuierliche Grundhitze, anderseits musste all das überwacht werden, denn eine präzise Hitzeführung gab es nicht, war der Augenschein am Herde daher zentral für ein gelungenes Mahl. Hinzu kam, dass in Deutschland das warme Mittagessen weiter hochgehalten wurde, während sich in England und anderen westlichen Staaten das Abendessen zunehmend als warmes Hauptmahl etablierte. Kochkisten, damals vielfach auch Selbstkocher genannt, waren gleichermaßen Garkocher und Wärmehalter. Kochkisten nutzten die Grundwärme des Herdes, boten Platz für die Töpfe mit dem angekochten Essen, schufen zugleich aber einen mit schlechten Wärmeleitern umgebenen Kunstraum, in dem die Wärmeverluste weitaus geringer waren als in dem ja vielfach auch zu Heizzwecken dienenden Herd. Die Eigenwärme von Topf und Speise wirkte so weiter, verlängerte die begonnene Tat am Herd – so lange, bis am Ende gargekochtes Essen stand, das in der Kiste zudem lange warm blieb.

Die Kochkiste hatte eine lange Vorgeschichte: Es gab sie bereits in der Antike (Die Kochkiste jüdischen Ursprungs, Jüdisches Volksblatt 7, 1905, Nr. 40, 5). Justus Liebig (1801-1873) hatte das Prinzip der Wärmeleitung in seinen Chemischen Briefen Mitte des 19. Jahrhunderts neuerlich popularisiert, selbstgebastelte „Heukisten“ wendeten es an (Wie wir zur Kochkiste kamen, Prometheus 24, 1912/13, 411-414). All das gründete auf Erfahrungswissen, doch die auf der Pariser Weltausstellung 1867 vorgestellte „Cuisine automatique norwégienne“ gab selbstbewusst vor, auf wissenschaftlichen Prinzipien zu beruhen. Sie wurde weltweit vertrieben, in Deutschland folgten genauere Untersuchungen, auch neu konstruierte Kisten ([Johann Heinrich] Meidinger, Kochkiste, Badische Gewerbezeitung 1902, 408-410). Wie bei so vielen anderen Innovationen war die Begeisterung anfangs beträchtlich, der große Erfolg aber blieb aus. Die Kochkisten waren teuer, sperrig, stellten zugleich auch das übliche routinierte Kochen in Frage. Technische und hygienische Probleme kamen hinzu. In den folgenden Jahrzehnten gab es vielfache Wiederentdeckungen, stets verbunden mit enthusiastischen Anpreisungen der vermeintlichen Wunderkisten. Die Wirkung schien unerklärlich, erinnerte an die Heinzelmännchen der guten alten Zeit.

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Hauswirtschaftliche und soziale Reform durch die Kochkiste (Karlsruher Tagblatt 1903, Nr. 242 v. 2. September, 5286 (l.); Badische Presse 1903, Nr. 286 v. 6. Dezember, 7)

Eine der vielen Revitalisierungen startete 1901 in Baden. Dort ging es bürgerlichen Sozialreformern mal wieder um die Verbesserung der Lage der Arbeiter in Stadt und Land, auch um die Entlastung der von Haus-, Erziehungs- und Erwerbsarbeit arg gebeutelten Frauen (Uwe Spiekermann, Die Ernährung städtischer Arbeiter in Baden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Monotone Einheit oder integrative Vielheit?, Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483). Es ging um ein ordentliches Mittagessen – und dabei kamen auch Reminiszenzen an die alten Heukisten auf. Der konservative Badische Frauenverein gewann Großherzogin Luise (1838-1923), die Tochter des früheren Kaisers Wilhelm I. (1797-1888), als Schirmherrin für diese Idee. Parallel konstruierten die Frauen eine hölzerne viereckige Kiste, die für 9 M verkauft wurde, die frau aber auch günstiger zu Hause herstellen und mit Papier, Holzwolle oder auch Lumpen füllen konnte. Sie war billig und transportabel, verringerte die Kochdauer und ermöglichte die Mitnahme oder den Transport an die Arbeitsstätte vor allem der Männer. All das wurde 1902/1903 durch reichsweite Kampagnen in Frauenvereinen und bürgerlichen Reformvereinigungen popularisiert, die nicht unbeträchtliche Resonanz erzielten ([Karl] Bittmann, Die Badische Kochkiste, Concordia 10, 1903, 15-17).

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Wettbewerb um verbesserte Kochkisten (Münchner Neueste Nachrichten 1904, Nr. 543 v. 20. November, 8)

Die neuen Kochkisten hatten die schon in den Jahrzehnten zuvor immer wieder kritisierten Probleme, doch angesichts des hehren Ziels einer einschneidenden Verbesserung der Volksernährung begann dieses Mal ein überraschend breiter Wettbewerb der Frauenvereine, Tischler und Tüftler, um durch verbesserte Kochleistungen, einfachere Handhabung und auch erschwingliche Preise die Kochkiste endlich zu etablieren. Unter diesen befand sich auch der zwischen Bad Nauheim und Berlin pendelnde Wilhelm Aletter (1867-1934). Er hatte sich vor allem als Musiker und Komponist der leichten Muse einen Namen gemacht und ging nun mit leichter Hand ans Werk. Ihm ging es um eine längere und sicherere Weise der Wärmeübertragung. Zwischen Herd, Topf und Kiste integrierte er, wie auch andere zuvor, zusätzliche Wärmespeicher. Aletter beantragte im April 1904 ein Patent für seine „Vorrichtung zum Schnellkochen mittels erhitzten Steines“, das ihm im November zugeteilt wurde (Deutscher Reichsanzeiger (= DRA) 1904, Nr. 263 v. 7. November, 24).

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Innenansicht der Kochkiste Heinzelmännchen (Witt, 1908, 567 (l.); Auszüge aus den Patentschriften 29, 1908, 984)

Aletters Verfahren brachte Bewegung in den Markt für Kochkisten. Ihm ging es nicht mehr um den alleinigen Wärmeschutz, sondern um einen lang währenden und mit hohen Temperaturen verbundenen Kochprozess. Er griff dabei auf Materialien zurück, die seit den 1860er Jahren die Feuerarbeit der Metall-, Stahl- und Glasindustrie verändert hatten. Schamottesteine waren feuerfest, bestanden aus einer Mischung von Ton, Steinscherben und Aluminiumoxid. Sie nahmen Hitze auf, strahlten diese lange Zeit ab, waren allerdings recht brüchig. Entsprechend sah Aletters Verfahren eine strikte Architektur innerhalb der Kochkiste vor: Die der Topfform angepassten Steine wurden unterhalb und oberhalb des Kochgutes fest eingefügt, eine Bodenplatte und die Fixierung durch Eisenstangen und einen Deckel garantierten Halt und sichere Wirkung (Auszüge aus den Patentschriften 29, 1908, 984). Die Anordnung ermöglichte höhere Temperaturen, so dass nicht nur Kochen, sondern auch Backen und Braten grundsätzlich möglich waren (G.A. Witt, „Kochkiste“ und „Thermophor“, Österreichische Wochenschrift für den öffentlichen Baudienst 14, 1908, 561-567, hier 567).

Der Weg vom Verfahren zum fertigen Produkt war allerdings lang. Die Kochkiste „Heinzelmännchen“ verband das Alettersche Verfahren mit einer passgenauen Kisten- und auch Topffunktion. Die viereckige, aus Buchenholz gefertigte Kiste war im Inneren mit Weißblech ausgestaltet, das einerseits die Dämmstoffe in Form hielt, anderseits aber auch als Brandschutz diente (Berliner Briefe. II. Die hauswirtschaftliche Ausstellung!, General-Anzeiger für Dortmund die Provinz Westfalen 1907, Nr. 59 v. 28. Februar, Unterhaltungsblatt, 4). Die aus Emaille gefertigten Töpfe besaßen keine Seitengriffe, so dass der Zwischenraum möglichst gering blieb. Die mit einem Griff versehenen Schamottesteine wurden im Herdfeuer oder auf den Herdplatten „bis zur Glut erhitzt“ (Verein Frauenbildung—Frauenerwerb, Dortmunder Zeitung 1908, Nr. 91 v. 19. Februar, 2), anschließend der Bodenstein versenkt, der Topf daraufgesetzt, dann folgte der zweite Stein, der Topfdeckel und schließlich der Deckel der Kochkiste. Das Heinzelmännchen wurde etwa ein Jahr nach der Patenterteilung als Kochkiste durch das Berliner Haushaltswarengeschäft P. Raddatz & Co. angeboten (Berliner Volks-Zeitung 1905, Nr. 561 v. 30. November, 8). Zuvor dürfte man mit einschlägigen Frauenvereinen zusammengearbeitet haben, denn schon im Dezember wurde die neue Kochkiste auch über den Vaterländischen Frauenverein vorgestellt (Dürener Zeitung 1905, Nr. 276 v. 4. Dezember, 2).

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Einführung durch das Haushaltswarengeschäft P. Raddatz Ende 1905 (Kölnische Zeitung 1905, Nr. 128 v. 28. November, 3)

Ausgliederung bei P. Raddatz & Co.: Der Weg zur Heinzelmännchen Compagnie

Das seit 1868 in Berlin tätige Manufakturwarengeschäft P. Raddatz wurde am 1. September 1873 von den Kaufleuten Peter Raddatz und Fritz Müntzel als Kommanditgesellschaft gegründet, 1891 dann in eine offene Handelsgesellschaft überführt (DRA 1873, Nr. 244 v. 16. Oktober, 5; Berliner Börsenzeitung 1883, Nr. 600 v. 22. Dezember, 6; DRA 1891, Nr. 8 v. 9. Januar, 6). Das Geschäft residierte zuerst in der Leipziger Straße 101, ehe es 1897 in ein Fritz Müntzel gehörendes Anwesen in der Leipziger Straße 123 zog. Das seit den 1880er Jahren zu den Vorzeigegeschäften der wilhelminischen Hauptstadt zählende Unternehmen konzentrierte sich von Beginn an auf den Handel mit Glas, Porzellan, Haus- und Küchengeräten, die es auch reichsweit bewarb und versandte. Erst 1903 gliederte P. Raddatz eine Produktionsstätte in der Alten Jakobsstraße 5 an, während das Verkaufsgeschäft dann auch auf die Leipziger Straße 122 ausgedehnt wurde (https://www.steinmarks.co.uk/page?id=564). Die Firma wurde 1906 in eine GmbH mit einem Stammkapital von 900.0000 M überführt. Der zuvor in das Geschäft eingestiegene Bankier Otto Ritter hatte im Vorgriff Firma und das neue Grundstück erworben. Mit einer Einlage von 540.000 M wurde er Haupteigner und allein vertretungsberechtigt, Fritz Müntzel brachte 160.000 M ein (DRA 1906, Nr. 210 v. 5. September, 7).

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Das Haushaltswarengeschäft P. Raddatz in den späten 1890er Jahren und dessen Vorläufer des „Heinzelmännchens“ (Postkarte; Die Woche 7, 1905, Nr. 14, VII)

P. Raddatz war ein Ausstattungs-Magazin, welches Haushaltsgeräte wie Eisschränke oder aber Küchenmöbel in Eigenregie fabrizierte, welches zudem eine Reihe eigener Patente hielt (Berliner Adreßbuch 1907, T. I, 1895). Die Firma war zugleich aber eine zentrale Bühne für neue Apparate, für alle Novitäten der Küche und des Haushaltes. An diesem Geschäft zeigt sich deutlich, dass der auf Kochbuchautorinnen, Frauenvereine und die meist auf die 1920er Jahre datierte Haushaltsrationalisierung fokussierte Blick der Küchenmodernisierung einseitig und zu eng ist. Der Handel machte vielfach den Unterschied. Raddatz war ein Innovationsensemble, dessen Anzeigen von den Verlockungen neuer Helfer kündeten (Berliner Tageblatt (= BT) 1906, Nr. 243 v. 17. Oktober, 17). Hier wurde nicht allein verkauft, hier war stets etwas los, wenngleich eher mit Blick auf solvente bürgerliche Kundinnen: „Der Koch-Apparat ‚Heinzelmännchen‘, die Waschmaschine ‚Weltwunder‘, Weck’s Konserven-Apparate, Eismaschinen usw. sollen in vollem Betriebe dem Publikum gezeigt werden“ (BT 1906, Nr. 530 v. 18. Oktober, 19).

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Das Spezialgeschäft als Erfahrungsort neuer Haushaltstechnik (Berliner Tageblatt 1913, Nr. 513 v. 9. Oktober, 16)

P. Raddatz & Co. hatte den Trend hin zur Kochkiste schon früh aufgegriffen. Seit Frühjahr 1905 präsentierte man einen eigenen „Selbstkocher“, der bereits einen Hitzestein oberhalb des seitengrifflosen Topfes aufwies. Es ist recht wahrscheinlich, dass zu dieser Zeit Wilhelm Aletter und Otto Richter bereits in geschäftlicher Verbindung standen, auch wenn es nicht klar ist, wann letzterer die Patentrechte gekauft hat. Raddatz bot jedenfalls für den in Berlin fest verankerten Komponisten und Musikverleger Aletter eine ideale und finanziell lukrative Multiplikationsdrehscheibe. Die Inhaber waren zudem gesellschaftlich wohl etabliert, Fritz Müntzel jr. hatte sich 1905 mit Clara Rosenthal verlobt, der Tochter des Selber Porzellanfabrikanten Philipp Rosenthal (1855-1937) (Kölnische Zeitung 1905, Nr. 281 v. 17. März, 3). Ritter griff zu, auch um sein neues Geschäft an der Berliner Spitze zu halten – die Konkurrenz der großen Warenhäuser in der Nachbarschaft war spürbar. Der Selbstkocher wurde fortentwickelt, wurde Teil eines Gesamtpaketes von Kisten, Töpfen und Steinen, das mit seinem soliden Äußeren und seiner hygienischen Metallauskleidung den Anspruch von Raddatz als führendes Haus und des neuen „Heinzelmännchens“ als führende Kochkiste des Deutschen Reiches auch visuell verkörperte.

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Eine entzückende Kochkiste (Münchner Neueste Nachrichten 1908, Nr. 577 v. 9. Dezember, General-Anzeiger, 4)

Die Berliner Heinzelmännchen GmbH

Der Anspruch zeigte sich aber nicht nur an der neuen Haushaltsmaschine selbst. Denn die seit Ende 1905 gemachten Erfahrungen mündeten in ein neues Unternehmen. Die Heinzelmännchen-Compagnie, Vertrieb selbsttätiger Koch- und Backapparate GmbH wurde am 17. April 1906 in das Handelsregister eingetragen, der Gesellschaftervertrag war bereits am 1. März unterzeichnet worden. Otto Ritter hatte in der Zwischenzeit Aletters Patent und das Gebrauchsmuster Heinzelmännchen erworben – und brachte diese in die neue GmbH mit ein (Patentblatt 20, 1906, 1055; DRA 1906, Nr. 94 v. 21. April, 11). Seine Stammeinlage betrug 15.000 M des Stammkapitals von 25.000 M (resp. 20.000 M n. BT 1906, Nr. 197 v. 19. April, 5), er agierte zugleich als Geschäftsführer (Berliner Adreßbuch 1907, T. I, 848). Der erste Firmensitz lag in der Berliner Krausenstraße 35/36, just unterhalb der Leipziger Straße, 500 Meter von Raddatz entfernt (Berliner Adreßbuch 1907, T. IV, 191). Seit 1908 residierte die Heinzelmännchen Compagnie dann in der Moabiter Heidestraße 52, gegenüber dem Invalidenfriedhof.

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Heinzelmännchen voran: Markenrechte und erste Anzeigen (Warenzeichenblatt 13, 1906, 1645 (l.); Berliner Tageblatt 1906, Nr. 385 v. 1. August, 12)

Bereits bestehende Auslandspatente wurden auf die neue GmbH übertragen, weitere in Frankreich (1906), Großbritannien (1906), USA (1906) und Österreich (1907) eingetragen (Witt, 1908, 567). Die Auslandsrepräsentation übernahmen die auch für Raddatz tätigen Gebrüder Riedel, Spezialisten in der Haushaltswarenbranche (Blom’s Engros- und Export-Adressbuch von Berlin und Vororten 3, 1907/08, 38). Die neue Firma hatte zudem schon kurz vor der Eintragung ein neues Warenzeichen beantragt – zwei Heinzelmännchen um eine heiße Kochkiste Heinzelmännchen –, das ab August auch genutzt werden konnte (DRA 1906, Nr. 209 v. 4. September, 8). „Heinzelmännchen“ wurde auch als Wortzeichen geschützt, allerdings nur für Haus- und Küchengeräte, Koch- und Back-Kisten (Warenzeichenblatt 13, 1906, 1645). Die operative Arbeit übertrug Ritter erst Wilhelm Moch, dann dem langjährigen Geschäftsführer Karl Holz (Berliner Adreßbuch 1908, T. I, 913; Berliner Börsen-Zeitung 1909, Nr. 106 v. 4. März, 30). Die Arbeit konnte beginnen, lediglich das Wortzeichen wurde nach kurzer Zeit noch erweitert (DRA 1909, Nr. 279 v. 26. November, 15).

Vermarktung eines Küchenwunders

Wie vermarktet man ein neues Haushaltsprodukt? Der Name Heinzelmännchen ließ träumen, doch vor dem Verkauf war Überzeugungsarbeit zu leisten. Es galt dabei rationale Argumente und eine gleichsam wundersame Arbeitserleichterung zu verbinden. Die Heinzelmännchen GmbH konnte auf der breiten, seit 1901 laufenden Kochkistenpropagierung aufbauen. Doch ihr Heinzelmännchen konnte mehr als eine simple Heukiste, erreichte es durch die integrierten Steine doch weit höhere Temperaturen. Kochen, aber auch Backen und Braten waren so möglich. Die neue Kochkiste ersparte Zubereitungs- und Aufsichtszeit, ebenso Brennmaterial. Sie war zudem mobil, konnte gefüllt mit zur Arbeit genommen werden, ersparte der Hausfrau eventuell den mittäglichen Gang zur Arbeitsstätte des Mannes, um diesen mit einem warmen Mahl zu versorgen. Angesichts des recht hohen Grundpreises von mehr als zehn Mark – Arbeiter besaßen damals ein Familienjahreseinkommen von ca. 1.200 bis 1.600 M – war die Mobilität der Kiste eher für die Freizeitkultur gedacht: „‚Heinzelmännchen‘ ist auch bei Ausflügen unentbehrlich und bietet den Beteiligten an besonders reizend gelegenen Raststellen im Walde ein erwünschtes ‚Tischlein deck‘ dich!“ Ebenso unersetzlich ist ‚Heinzelmännchen‘ auf der Jagd, im Manöver und auf Badereisen“ (H[ermann] Aurich, Die Industrie am Finowkanal, Bd. II, Eberswalde 1906, 60).

Rationale Nutzenargumente führen jedoch nicht zwingend zum Kauf oder gar zu einer anderen Küchenpraxis. Das war die Quintessenz der schon im späten 19. Jahrhundert immer wieder gescheiterten Belehrung der Arbeiter und ihrer Frauen durch bürgerliche Sozialreformer. Neue Produkte, neue Verfahren mussten nicht nur verstanden, sondern auch erfahrbar gemacht werden. Frauenvereine boten daher seit Jahrzehnten Kochkurse an, ländliche Wanderhaushaltungsschulen wurden um die Jahrhundertwende vermehrt gegründet. Wichtiger noch war der Direktverkauf durch Vertreter und speziell geschulte Kräfte: Suppen- und Backpräparate wurden dadurch popularisiert, ebenso das Einwecken. Am Ende stand meist die Probe, die gemeinsame Verkostung; nicht immer erfolgreich, wie etwa bei dem in den 1880er Jahren propagierten Carne pura-Fleischpulver. Doch vielfach war sie Auslöser für den Kauf und den Einsatz im eigenen Haushalt. Die Heinzelmännchen GmbH nutzte und unterstützte zwei unterschiedliche Formen derartigen Direktabsatzes: Erstens die Präsentation durch Kochschulen und Hausfrauenvereine, teils auch auf lokalen hauswirtschaftlichen Ausstellungen, zweitens Vorführungen in größeren Fachgeschäften. Daneben trat drittens die übliche Anzeigenwerbung.

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Praktische Angebote: Kochschule für das Heinzelmännchen (Münchner Neueste Nachrichten 1910, Nr. 199 v. 28. April, General-Anzeiger, 10)

Die lokalen Kochschulen, ein früher Ort auch selbständiger Frauenarbeit, wandten sich in der Regel an ein kochkundiges Publikum, vielfach an Köchinnen. Die Ankündigungen waren knapp und präzise gehalten, wie etwa die folgenden Münchener Beispiele: „Fast ohne Feuer kann gekocht, gebraten u. gebacken werden. In dieser Kochart wird Unterricht erteilt“ (Münchner Neueste Nachrichten (= MNN) 1907, Nr. 485 v. 14. Oktober, General-Anzeiger, 3). So wurde Neugier erweckt, zugleich aber auf verwertbare praktische Kenntnisse verwiesen: „Es wird gelehrt, wie Suppenfleisch, Geräuchertes mit Erbsen, Reis, Dürrobst und Knödel in der Kochkiste gekocht, wie Kalbsschnitzerl und Irishstew gedünstet werden, wie Kuchen gebacken und Braten im Heinzelmännchen ohne Feuerung gebraten werden“ (MNN 1907, Nr. 60 v. 5. Februar, General-Anzeiger, 10). Denn schließlich kostete dieses Angebot Geld, 1,25 M für vier Nachmittagstermine. In München wurden solche Kurse von sozial motivierten bürgerlichen Frauenvereinen getragen, doch auch von selbstständigen Hauswirtschaftlerinnen. Besonders rührig war dabei Katharina Micheler, die zuvor für die Heinzelmännchen GmbH ein „Heinzelmännchen-Kochbuch“ zusammengestellt und sich auch durch weitere Arbeiten zur schnellen Küche einen Namen gemacht hatte. Die Kochkistenkochkurse waren 1906/07 offenbar gut besucht, „wegen des großen Andrangs“ gab es zusätzliche Angebote (MNN 1907, Nr. 87 v. 20. Februar, General-Anzeiger, 1; ebd., Nr. 465 v. 4. Oktober, General-Anzeiger, 8). Auch in den Folgejahren wurden sie weiter angeboten (Ebd. 1909, Nr. 32 v. 21. Januar, 4). Ausstellungen ergänzten sie, in München etwa die des Frauenvereins Arbeiterinnenheim. Sie waren häufig bürgerliches Ausflugsziel, bei denen auch „der Selbst-Koch-, Brat- und Backapparat ‚Heinzelmännchen‘ […] ‚in Tätigkeit‘ vorgeführt wurde“ (Münchner Neuste Nachrichten 1906, Nr. 580 v. 12. Dezember, General-Anzeiger, 10).

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Vorführung des Neuen: Der Handel übernimmt (Münchner Neueste Nachrichten 1907, Nr. 120 v. 12. März, 9)

Ausstellungen und Kochkurse konzentrierten sich auf das jeweils Neue, ihr Angebot variierte stärker als das des Fachhandels: In München wurden auch fünf Jahre nach der Markteinführung des Heinzelmännchens weiterhin Kurse angeboten, nun aber auch die Konkurrenzkisten „Oekonom“ und „Sanogrés“ vorgestellt (MNN 1911, Nr. 173 v. 12. April, General-Anzeiger, 1). Neben den Kochkursen standen aber von Beginn an praktische Vorführungen im Fachhandel. In München fanden sie in regional bedeutsamen Geschäften wie Eduard Rau, Albert & Lindner, J.B. Däntl oder F. & R. Ehrlicher statt. Sie waren häufig mit Verkostungen verbunden. Blicken wir etwa nach Dortmund, wo sich „ca. 200 Hausfrauen aus allen Kreisen“ im Hause A.E. Decker eingefunden hatten: „Der erste Triumph war ein Kuchen. Vor den Augen der Zuschauer angerührt, dann kalt in die Backkiste gestellt, präsentierte sich derselbe pünktlich nach einer Stunde den Zuschauern fix und fertig als wohlschmeckende. Als zweites wurde ein 2 Pfund Schweinebraten in 1½ Stunden zart und gar gebraten und bot in seiner frischen braunen Farbe einen prächtigen Anblick. Dann brachte man noch eine Portion Reis zum kochen und wurde auch dieser wohlschmeckend zum Schluß verzehrt. Infolge dieses großen Erfolges waren sämtliche Damen enthusiasmiert und hielten es für kaum glaublich, daß die Heinzelmännchen-Kiste so etwas fertig brächte“ (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 95 v. 24. April, 9). Das war natürlich Werbeberichterstattung, zeigte aber doch den Lockreiz des Neuen, den Erlebnischarakter des Einkaufs. „Zutritt frei!“ hieß es in einzelne Annoncen, die Nähe von Schaustellerei und Verkauf war offenkundig (Hamburger Nachrichten 1907, Nr. 262 v. 16. April, 4).

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Präsentation des Heinzelmännchens in Berlins führendem Haushaltswarengeschäft P. Raddatz (Berliner Tageblatt 1906, Nr. 502 v. 3. Oktober, 22)

Zentrum des Absatzes blieb allerdings Berlin, wo P. Raddatz & Co. regelmäßig und über einen Zeitraum von zwanzig Jahren Heinzelmännchen präsentierte. Auch in Berlin fanden die Präsentationen anfangs vornehmlich im Fachhandel statt, in zentral gelegenen Haushaltswarengeschäften wie F.A. Schumann, C.F.W. Lademann (BT 1906, Nr. 593, v. 12. November, 34; ebd. 1907, Nr. 48 v. 27. Januar, 12), aber auch in den Vororten (Friedenauer Lokal-Anzeiger 1907, Nr. 292 v. 12. Dezember, 2). Nach einigen Jahren wurde die Kochkiste Heinzelmännchen dann auch regelmäßig in den großen Warenhäusern vorgeführt, etwa bei Hermann Tietz, Wertheim oder dem kurzlebigen Passage-Kaufhaus. Entsprechende Absatzstrukturen bestanden in den Großstädten des gesamten Deutschen Reiches (Badische Presse 1907, Nr. 103 v. 2. März, 3; Dresdner Nachrichten 1907, Nr. 112 v. 28. April, 18; Hamburger Nachrichten 1907, Nr. 262 v. 16. April, 4), wenngleich mit geringerer Werbepräsenz. Hinzu trat der Versandhandel. Die Heinzelmännchen GmbH stellte ihr Angebot in kostenlos versandten Preislisten vor, lieferte die gewünschten Kochkisten dann per Nachnahme.

Kochkurse und Ausstellungen sowie Produktvorführungen und Probeessen wurden umkränzt von direkt geschalteter Anzeigenwerbung. Sie erfolgte vor allen in Tageszeitungen, weniger in den bei Markenartikeln sonst üblichen Illustrierten und Zeitschriften. Die Heinzelmännchen GmbH setzte bei den seit Sommer 1906 geschalteten Anzeigen erst einmal auf das eigene Warenzeichen. Die kleinen Helfer sorgen für Aufmerksamkeit, wurden ergänzt durch groß tönende Anpreisungen. Abnehmer konnten das Motiv auch als Klischee in ihre eigenen Annoncen einbinden.

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Das Warenzeichen in eigenen Anzeigen und als Klischeewerbung eines Fachgeschäftes (Münchner Neueste Nachrichten 1906, Nr. 551 v. 25. November, 10 (l.); Berliner Tageblatt 1908, Nr. 168 v. 1. April, 11)

Das Heinzelmännchenmotiv trat jedoch nach ein, zwei Jahren zunehmend zurück. Als Erkennungszeichen war es weiterhin wichtig, doch die wundersame Wirkung lag in der Kiste selbst. Die Modernität der Kochmaschine und die traditionelle Figur des Küchenkobolds standen in gewisser Spannung zueinander.

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Das Produkt rückt in den Mittelpunkt der Werbung (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 41 v. 17. Februar, 4 (l.); Altonaer Nachrichten 1909, Nr. 481 v. 14. Oktober, 4)

Die Heinzelmännchen GmbH versorgte ihre Abnehmer daher mit Vorlagen für einfache resp. doppelte Kochkisten, die dann von den Händlern in Eigenregie verwandt wurden. In der eigenen Werbung aber wurde nicht allein der Nutzen der Kochkiste hervorgehoben. Im Markt etabliert, sehr wahrscheinlich die erfolgreichste Markenkochkiste dieser Zeit, wurde das Heinzelmännchen nun auch mit Beziehungsaspekten aufgeladen. Es erschien als ein großzügiges Geschenk des Bürgers an seine Frau. Deren haushälterische Sorge war immer auch Ausdruck ihrer Liebe, nun konnte sich der Ehemann mit einem praktischen Präsent revanchieren.

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Freude für die Hausfrau, Absolution für den Mann (Berliner Tageblatt 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12)

Hinzu traten vermehrt saisonale Anzeigen. Zu Weihnachten bewarb man die Kochkisten intensiv, die Pflicht zum Geschenk und der Liebeserweis durch das Geschenk bildeten eine kommerziell einfach nutzbare Beziehung (MNN 1907, Nr. 565 v. 3. Dezember, General-Anzeiger, 12; ebd. 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12). Auch Ostern geriet in diesen Fokus, die Backmöglichkeit erlaubte dies (BT 1907, Nr. 145a v. 21. März, 6). Schließlich wurden auch Anzeigen mit saisonalem Bezug geschaltet; im Sommer nahm man etwa die Hitze als Anlass, um die Hausfrauen dank der Kiste nicht der zusätzlichen Hitze am Herd auszusetzen (BT 1908, Nr. 279 v. 3. Juni, 16). Anders als in der Geheimmittelwerbung nutzte man keine Empfehlungsschreiben, verwies einzig auf bestehende Anerkennungen. Man glaubte offenbar an das eigene Produkt.

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Nützliche Weihnachtsgeschenke: Weihnachtsgeschenk Kochkiste (Berliner Tageblatt 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12)

All dies dokumentiert eine stete Interaktion mit dem im Absatz sichtbaren „Markt“. Die Heinzelmännchen GmbH ging auf Kundenwünsche ansatzweise ein, Beispiel hierfür war eine abgespeckte, aber besser transportable Variante, die als Reiseutensil für nur 8 M verkauft wurde (BT 1908, Nr. 320 v. 26. Juni, 17). Auch Schnäppchen waren möglich, die an sich preisgebundene Kochkiste gab es bei Ausverkäufen mit Rabatt (BT 1910, Nr. 8 v. 6. Januar, 24).

Die Kochkiste Heinzelmännchen im Wettbewerb

Der analytische Blick auf die Kochkiste liefert natürlich nur einen Teil der Unternehmensgeschichte der Heinzelmännchen Compagnie. Verlässliche Angaben über Umsätze und Beschäftigte der Heinzelmännchen GmbH fehlen. Indirekte Schlüsse sind jedoch durch den Vergleich der in den Anzeigen gemachten Angaben möglich. Demnach waren Ende 1909 über 25.000 Apparate im Gebrauch (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1909, Nr. 7076 v. 12. Dezember, 9; BT 1909, Nr. 644 v. 20. Dezember, 12). Diese Zahl stieg binnen Jahresfrist auf über 30.000 Ende 1910 und über 40.000 Ende 1911 (BT 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12; MNN 1911, Nr. 556 v. 28. November, 8). In den nächsten zwei Jahren wurden weitere 10.000 Kochkisten Heinzelmännchen abgesetzt (MNN 1913, Nr. 565 v. 5. November, 7). Diese recht stete Absatzbewegung von ca. 5.000 Geräten pro Jahr beschleunigte sich während und durch den Weltkrieg. Im Frühjahr 1915 waren nach Firmenangaben über 80.000 Apparate im Gebrauch, Mitte des Jahres dürfte die Marge von 100.000 verkauften Geräten überschritten worden sein (MNN 1915, Nr. 136 v. 16. März, 6; BT 1915, Nr. 312 v. 21. Mai, 6).

Markenartikel besaßen während des Kaiserreichs vielfach konstante Preise, doch beim Heinzelmännchen galt dies nicht. Die einfache Grundkiste kostete Ende 1905 10,50 M, 1910 dagegen 14 M, 1912 gar 16 M (BT 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12; ebd. 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12; ebd. 1913, Nr. 252 v. 21. Mai, 12). Diese Preissteigerung setzte sich zu Beginn des Krieges recht kontinuierlich fort: 1915 lag der Grundpreis bei 18,50 M, Anfang 1916 bei 19,50 M, am Ende dann bei 22 M (BT 1915, Nr. 136 v. 15. März, 8; ebd. 1916, Nr. 142 v. 17. März, 6; ebd. Nr. 637 v. 14. Dezember, 6). Zu beachten ist, dass parallel auch die Preisspreizung zunahm. In München gab es 1907 Heinzelmännchen Kochkisten in sechs Ausführungen zu 14, 16, 18, 24, 27 und 30 M (BT 1907, Nr. 163 v. 31. März, 33), die Palette des Passage-Kaufhauses rangierte 1909 von 7,25 und 8,50 für die Sondervariante über 14, 18, 20 bis hin zu 28 und 31 M (BT 1909, Nr. 346 v. 11. Juli, 48). Im Sommer 1915 variierten die nur noch drei Einzelkistentypen zwischen 18,50 und 23,50 M, die Doppelkisten kosteten dagegen 36,75 resp. 40,50 M (BT 1915, Nr. 427 v. 22. August, 7). Die Einnahmen der Heinzelmännchen GmbH dürften daher tendenziell gestiegen sein, vielleicht auch die Gewinne. Durch diese für einen Qualitätsführer nicht unübliche Preispolitik verschloss man sich jedoch Märkte abseits des bürgerlichen Publikums. In der wichtigsten Frauenzeitschrift der SPD hieß es entsprechend: „Die sogenannten Heinzelmännchen-Kochkisten gehören bekanntlich zu den besten Selbstkochern, die zurzeit im Handel sind. Leider sind sie zu teuer, als daß ihre Anschaffung im bescheidenen proletarischen Haushalt allgemein möglich wäre“ (Die Gleichheit 1915, Für unsere Mütter und Hausfrauen, Nr. 2, 7). Stattdessen empfahl man Selbstzimmerei und den Kauf gängiger, für 1,10 bis 1,60 M teure Schamotteplatten.

21_Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens_13_1913_pIII_Heinzelmaennchen_Kochkiste

Qualitätsführerschaft in der Werbung (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 13, 1913, III)

Diese Preispolitik erfolgte angesichts eines enorm heterogenen Marktes mit zahllosen Markenkochkisten, deren hohe Preise durch selbstgezimmerte Kisten unterboten wurden (vgl. den Überblick bei Witt, 1908). In einem der vielen Spezialkochbücher hieß es kurz vor dem Weltkrieg: „In allen Preislagen gibt es die verschiedensten Arten von ein- und mehrteiligen Kisten: leer, ausgepolstert, mit Isolierschicht und Blech ausgeschlagen, Selbstkocher in zylindrischer Form für 1-3 verschieden große Töpfe, Hartpapierkochkisten u.a.m. Namen wie: Küchenfee, Hausfreund, Phänomenal, Ideal u.a.m. reizen zum Kaufe an. Verschiedene Apparate sind auch für Backen eingerichtet. So das Heinzelmännchen der Firma Raddatz und Co., Berlin [sic!], der Freiburger zylindrische Apparat Ökonom u.a.“ (Marta Back, Die Kochkiste. Anleitung zur Herstellung und Verwertung nebst Kochvorschriften und einer Zusammenstellung von Gerichten, Leipzig o.J. [1913], 12).

Die meisten Anbieter scheiterten daran, überregionale Vertriebsnetze aufzubauen, kompensierten dies mit dem immer möglichen Versand gegen Nachnahme. Das Heinzelmännchen war anfangs technologischer Pionier, doch kurz vor dem Ersten Weltkrieg gab es zahlreiche ähnliche, vielfach preiswertere Angebote. Auch neue Technik wurden eingesetzt, anstelle der Schamottesteine verwandte die Kochkiste Oekonom Eisenplatten, die höhere Temperaturen ermöglichten, die Wärme allerdings auch früher abgaben (Wärme und Licht im Kriegswinter. II., MNN 1915, Nr. 607 v. 27. November, General-Anzeiger, 1; Franz Schacht, Die beste Kochkiste, Praktische Ratschläge für Haus und Hof 19, 1920, H. 3, 9-10).

Die Heinzelmännchen GmbH reagierte darauf einerseits mit Innovationen. Sie entwickelte eine Kochkiste mit elektrischer Heizung, die zwar „großes Interesse“ (Die erste Ausstellung der Geschäftsstelle für Elektrizitätsverwertung, Elektrotechnische Zeitschrift 32, 1911, 372) weckte, sich jedoch nicht etablieren konnte. Parallel verbesserte man die innere Struktur der Kochkiste. 1913 erhielt sie gleich vier neue Patente, für einen neuen Herdeinsatz der Steine, neue Anordnungen im Inneren der Kiste, neue Formen der Wärmeübertragung sowie neue Wärmespeicher (DRA 1913, Nr. 194 v. 18. August, 10; ebd. Nr. 218 v. 15. September, 13). Kritik am Durchrosten der Weißbleche griff man auf, verwandte Aluminiumeinsätze und bot Umrüstungen älterer Kisten an. Das Produkt wurde also verändert, auch wenn der Name gleich blieb.

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Blech versus Aluminium: Kochkistenverbesserung durch Reparatur (Berliner Tageblatt 1911, Nr. 334 v. 7. Juli, 30)

Das lag auch an den Tücken der eigenen Werbung. Die Qualitätsführerschaft wurde mit Begriffen wie dem einer „bewährten Kochkiste“ (BT 1914, Nr. 129 v. 12. März, 30) unterstrichen, bewarb das Heinzelmännchen als die „Uridee aller ähnlichen Apparate“ (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 120 v. 25. Mai, 7). Das erschwerte eine auf technische Innovation ausgerichtete Werbesprache. Anderseits änderte die Firma kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre Kundinnenansprache. Die Kochkiste wurde nun als „vollständigen Ersatz für den bisher üblichen Kochherd“ angepriesen, ferner behauptet, dass die Speisen aufgrund der kompakten indirekten Heizung einen besonders hohen Nährwert und Wohlgeschmack besäßen (Rosenheimer Anzeiger 1913, Nr. 292 v. 18. Dezember, 4). Während der Herd russig und klobig war, stand das Heinzelmännchen bereits für die weiße, reine Küche, die in der Zwischenkriegszeit zum Ideal werden sollte: „Nicht nur von außen elegant und einladend, auch von innen sieht er sich blitzblank an“ (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 121 v. 25. Mai, 3). Die Kochkiste war nützlich, gewiss, ersparte Brennmaterial und Zeit. Doch zugleich erlaubte sie die „Befreiung der Frau von den Mühsalen des täglichen Kochens“, ermöglichte nicht nur emsiges Weiterschaffen, sondern auch geistige und körperliche Erholung (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 122 v. 26. Mai, 6). Auch wenn der provokante Slogan „Die moderne Frau kocht nicht mehr“ in der Anzeige unterbrochen und umgebogen wurde, so verkörperte die Kochkiste schon vor dem Ersten Weltkrieg Rationalisierungs- und Emanzipationsideale, die erst in den 1920er Jahren allseitigen Widerhall fanden.

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Neudefinition der Hausarbeit (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 122 v. 26. Mai, 8)

Der Heinzelmännchen GmbH konsolidierte dadurch ihre Marktstellung, behauptete zugleich ihre Qualitätsführerschaft. Das war ein beträchtlicher Erfolg, denn die 1901 einsetzende Euphorie über die Kochkisten war ein Jahrzehnt später längst abgeebbt. Man „hat kein rechtes Vertrauen in die Sache gehabt“, hieß es selbstkritisch (R. Fabri de Fabris, Kleine Bilder aus großer Zeit. Die Kochkiste und anderes, Aachener Anzeiger 1915, Nr. 125 v. 30. Mai, 14): „Verlockend in ihrer blanken Frische und Neuheit schaut sie uns aus den Schaufenstern an; und in manchen Häusern begegnet man ihr und ihren billigeren Nachahmungen. In den Beratungsstellen des Nationalen Frauendienstes wurde sie unzählige Male vorgeführt; jede Frau interessierte sich für sie, jede lauschte aufmerksam, wenn man ihre Vorzüge pries, aber so recht durchzusetzen hat sie sich trotz ihrer unleugbaren Vorteile bei uns nicht vermocht“ (Die vier Heinzelmännchen in Hannoverschen Küchen, Hannoversche Hausfrau 13, 1915/16, Nr. 6, 1).

Parallel gelang es der Heinzelmännchen GmbH auch nicht, ihren Markenbegriff so zu etablieren, dass seine Nennung eindeutige Produktassoziationen mit sich brachte. Mercedes ist das um diese Zeit gelungen, denn darunter verstand man immer mehr ein Vorzeigeauto, einen kräftigen Lastwagen – während die gleichnamigen Schreibmaschinen, Schuhe, Zigaretten oder Rechenmaschinen in Nischen zurückgedrängt wurden. Dem Mercedes der Kochkisten gelang dies nicht. Die Legende der Kölner Heinzelmännchen blieb zu stark. Doch zugleich nutzten weiterhin andere Anbieter den Mythos der kleinen Helfer. Der Fensterfeststeller „Heinzelmännchen“ kam 1907 auf den Markt, gefolgt von einer gleichnamigen Möbelpolitur, einem Rasenmäher oder einem Sohlenschoner (DRA 1907, Nr. 144 v. 18. Juni, 12; 1912, Nr. 37, 14; ebd., Nr. 122 v. 22. Mai, 1; ebd. 1914, Nr. 30 v. 4. Februar, 13). Die Kochkiste Heinzelmännchen mochte zwar verbessert worden sein und sich im Markte weiter gut behaupten, doch die Unternehmensleitung vermochte ihrem Produkt kein Alleinstellungsmerkmal zu verleihen. Heinzelmännchen entwickelte sich im Gegenteil eher zu einem kaum definierbaren Gattungsbegriff.

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Heinzelmännchen als Gattungsbegriff für moderne Küchengeräte (Daheim 48, 1912, Nr. 26, 31)

Der Weltkrieg als neue Chance sparsamen Wirtschaftens

Der Weltkrieg veränderte derartige Überlegungen tiefgreifend. Einerseits führte er die Debatte um die Kochkiste wieder auf die Anfangszeit von 1901 zurück, denn nun wurden gerade einfachere Geräte wieder breit propagiert: „Nun kann man in der mit Heu oder Holzwolle gefüllten Kochkiste fast ebenso gut und schnell kochen wie in dem teuren Heinzelmännchen-Apparat“ (Die verbesserte Kochkiste, Die Gleichheit 1915/16, Für unsere Mütter und Hausfrauen, 7). Anderseits aber war Sparsamkeit seither mehr als eine Tugend, wurde mit fortschreitender Kriegsdauer ein Zwang auch für bürgerliche Haushalte.

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Das Heinzelmännchen als Hilfsmittel der sparsamen Hausfrau (Die Deutsche Frau 1, 1911, Nr. 47, 11)

Sparsames Wirtschaften war bereits vor dem Krieg ein zentrales Element der Werbung für das Heinzelmännchen (BT 1913, Nr. 550 v. 19. Oktober, 27). Dieses Mantra wurde weiter genutzt: „Unerreicht praktisch ist die Heinzelmännchen-Kochkiste durch bedeutende Ersparnis an Feuerungsmaterial und an Zeit“ (Ebd. 1914, Nr. 644 v. 19. Dezember, 12). Damit lag man im Trend, denn all das geschah nun für das Vaterland, für die Selbstbehauptung der kämpfenden, sich von einer Welt von Feinden eingekreist fühlenden Nation. Und in der Tat schnitt die völkerrechtswidrige britische Seeblockade die Deutschen von kaum ersetzbaren Nahrungs- und Futtermittelimporten ab. Die Frauenvereine und Militärbefehlshaber intensivierten die Haushaltsberatung, Kochkisten bildeten eine wichtige Waffe der Heimatfront. Im nationalen Überschwang führte dies auch zu vielfältig irrationalem Verhalten, wie man etwa an der Propagierung des vermeintlich nährstoffsparenden Fletscherns gut studieren kann. Auch die Heinzelmännchen GmbH behauptete verkaufsfördernd und wahrheitswidrig: „Die Speisen sind weit nahrhafter und ergiebiger, wie auf dem Herde zubereitete Gerichte“ (Militär-Wochenblatt 100, 1915, Anzeiger, 77). Doch die Kernargumente ihrer Werbung trafen zu, denn Brennmaterial konnte mit Hilfe des Heinzelmännchens durchaus gespart werden – im Herbst und Winter allerdings auf Kosten der Heizungswärme. Die Werbung hob zudem hervor, dass aufgrund des kaum möglichen Anbrennens der Speisen die Nahrung fast vollständig genutzt werden konnte (MNN 1915, Nr. 240 v. 12. Mai, 5).

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Hervorhebung der Vorteile, kontinuierliche Erhöhung der Preise (Haus Hof Garten 37, 1915, 231 (l.), Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 170 v. 2. April, 10)

Die Kochkiste Heinzelmännchen galt als „ein Spargeist“ (General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1915, Nr. 105 v. 6. Mai, 13). Ihr Kauf war Dienst an der Nation und würde sich angesichts der rasch steigenden Preise für Nahrung und Brennmaterialien gewiss ebenso rasch amortisieren. Das Heinzelmännchen war deutsche Wertarbeit, sein Geld wert, nicht „zu verwechseln mit wertlosen Nachahmungen“ (MNN 1917, Nr. 579 v. 15. November, 4). Entsprechend war es steter Bestandteil von Fachgeschäften und insbesondere den führenden Warenhäusern (Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 177 v. 8. April, 9; BT 1916, Nr. 493 v. 26. September).

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Die Kochkiste Heinzelmännchen als Kriegshelfer (Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 514 v. 9. Oktober, 3)

Die gerade zu Beginn des Krieges beträchtlich wachsende Nachfrage führte aber auch zu massiven Preissteigerungen. Der Preisabstand zwischen gängiger Tischlerware und dem Premiumprodukt stieg massiv an: Im Warenhaus Tietz wurden im Frühjahr 1918 einfache Kochkisten für 12,50 oder 20 M angeboten, dagegen kostete die Kochkiste Heinzelmännchen zwischen 53 und 111 M (Vorwärts 1918, Nr. 142 v. 26. Mai, 7). Die Heinzelmännchen GmbH verwies auf imaginäre Einsparungen von 70 bis 80 % Gas, sprach von der „altbewährten Heinzelmännchen-Kochkiste“ (Leipziger Tageblatt 1918, Nr. 113 v. 3. März, 24) als „Köchin ohne Lohn und Kost“ (MNN 1918, Nr. 94 v. 21. Februar, 4). Doch ist fraglich ob dies bei der Mehrzahl auch der bürgerlichen Kunden weiter verfing, zumal das Braten und Backen mangels Fett und Fleisch zunehmend in den Hintergrund trat. Viele Angehörige der Mittelschichten, insbesondere Rentner, wurden spätestens seit dem Hungerwinter 1916/17 in Mittelstandsküchen beköstigt, fielen als Käufer damit aus. Parallel gewannen sog. Kriegskochkisten an Bedeutung, „die, teils aus dem billigsten Material hergestellt, nur während der Kriegsdauer aushalten sollten, teils deswegen billig sein mußten, um bei kleinen Leuten Verwendung zu finden. Man ging sogar auf die Selbstanfertigung der Kochkiste und die Unterrichtung hierin zurück“ (Schacht, 1920, 9). Parallel aber entstand eine wachsende Palette weniger aufwändiger Kochhauben, -beutel und -glocken. Sie nutzten die gleichen physikalischen Grundprinzipien, waren aber deutlich preiswerter.

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Kriegsbedingte Alternative zur Kochkiste: Beispiel einer Kochglocke (Berliner Volks-Zeitung 1917, Nr. 541 v. 23. Oktober, 4)

Trotz dieser sich verschlechternden Rahmenbedingungen war die Heinzelmännchen GmbH zu dieser Zeit hochprofitabel. Dennoch entschieden sich die Verantwortlichem zu einer Umwandlung in eine andere Rechtsform. Anfang Januar 1916 wurde die Heinzelmännchen GmbH aufgelöst und binnen weniger Monate liquidiert (DRA 1916, Nr. 20 v. 25. Januar, 8; Berliner Börsen-Zeitung 1917, Nr. 116 v. 9. März, 21). Parallel gründete man im Januar 1916 die Heinzelmännchen Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 100.000 M (BT 1916, Nr. 27 v. 15. Januar, 8). Die Patente und Warenzeichen wurden übertragen, doch bei der im Oktober erfolgten Erhöhung des Grundkapitals auf 300.000 M knirschte es gewaltig. Otto Ritter trat kurzfristig zurück, konnte sich dann aber durchsetzten (Details in DRA 1917, Nr. 151 v. 28. Juni, 10; ebd., Nr. 238 v. 6. Oktober, 6; ebd., Nr. 260 v. 1. November, 4; ebd., Nr. 272 v. 15. November, 9; ebd., Nr. 290 v. 7. Dezember, 7).

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Ein altes neues Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 27 v. 31. Januar, 19)

Die Umstellung stärkte die Kapitalbasis des Unternehmens, wappnete es dadurch für neue Investitionen und die offenkundigen Marktprobleme. In der Bilanz war davon jedoch kaum etwas zu verspüren: 1916 schüttete die neue Aktiengesellschaft eine Dividende von 25 Prozent aus, 1917 waren es 15 Prozent. Der Gewinn lag 1916 bei 48.672 M und konnte 1917 auf 78.713 M gesteigert werden. Das Kassa- und Bankkonto war 1917 mit 157.924 M gut gefüllt (DRA 1918, Nr. 156 v. 5. Juli, 6; Berliner Börsen-Zeitung 1918, Nr. 311 v. 6. Juli, 10).

30_Berliner Tageblatt_1916_02_18_Nr090_p6_ebd_03_24_Nr154_p8_Heinzelmaennchen_Wunderglocke_Bratpfanne_Haushaltsgeraete_OBU_F-A-Schumann_Berlin

Ausdifferenzierung des Angebotes: Preiswertere Heinzelmännchen Kochglocke (Berliner Tageblatt 1916, Nr. 90 v. 18. Februar, 6 (l.); ebd. 1916, Nr. 154 v. 24. März, 8)

Die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft begünstigte die Einführung und Vermarktung einer neuen Heinzelmännchen Kochglocke, die auch als „Wunderglocke“ vermarktet wurde. Sie wurde bereits Ende 1915 von der Heinzelmännchen GmbH eingeführt und kostete je nach Ausstattung 4, 5 resp. 6 M (BT 1915, Nr. 626 v. 8. Dezember, 12; ebd. 1916, Nr. 43 v. 24. Januar, 6; ebd. 1916, Nr. 281 v. 8. April, 11). Die Werbung gründete auf dem Qualitätsimage der Heinzelmännchen Kochkisten, hob daneben aber Preis und Sparsamkeit hervor: „Original-Heinzelmännchen-Kochglocken bedeutend billiger als Heinzelmännchen-Kochkisten, glänzend begutachtet, Gas und Kohlen ersparend“ (MNN 1917, Nr. 214 v. 29. April, 9).

Die Kochglocke war eine von vielen neuen Hilfs- und Ersatzmitteln, mit denen Fett und Brennmaterial gespart werden sollte. Parallel kamen Grillpfannen mit Drahtaufsätzen auf, die von P. Raddatz, F.A. Schumann oder auch Warenhäusern angeboten wurden. Typisch war etwa eine kurzfristig intensiv beworbene Heissluftpfanne, die nur 1,60 M kostete und mit der man fettlos braten können sollte (BT 1916, Nr. 266 v. 25. Mai, 11). Auch Wilhelm Aletter, der „Erfinder“ der Kochkiste Heinzelmännchen, hatte im Dezember 1915 Pfannen-Patente erhalten (DRA 1915, Nr. 287 v. 6. Dezember, 10), die dann als OBU-Rostpfanne (Abkürzung für ohne Butter) vermarktet wurden (Eine neue Rostpfanne, Die Umschau 20, 1916, 580). Beide Produkte wurden jedoch nicht von der Heinzelmännchen GmbH resp. AG vertrieben. Aletters Vorwort für Hedwig Heyls (1850-1934) Werbebroschüre erinnerte zwar an seine „Erfindung“ der Kochkiste (Bratbüchlein für Rost- und Pfannengerichte zum Braten auf der ges. gesch. Rostpfanne „OBU“, Berlin 1917), doch OBU wurde von anderen Produzenten hergestellt. Karl Kraus (1874-1936) hat diese Vermengung anschließend allerdings sprachgewaltig in die Welt getragen (Es ist alles da, Die Fackel 18, 1917, Nr. 445-453, 54-56).

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Lieferschwierigkeiten und ein Blick auf die unterschiedlichen Topfgrößen (Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 165 v. 2. April, 6)

Zurück zu den Kochglocken. Sie waren offenkundig kein Erfolg. Sie verschwanden rasch vom Markte, ohne dass dafür belastbare Gründe bekannt wären. Für die Heinzelmännchen AG wohl noch gravierender waren massive Lieferschwierigkeiten. Aluminium wurde schon länger nicht mehr verbaut, Weißblech war kaum noch vorhanden, Buchenholz strikt kontingentiert. Dies dürfte den Absatz zur Jahreswende 1917/18 deutlich verringert haben. Erst ab März konnten Fachgeschäfte und Versandhändler wieder liefern (MNN 1918, Nr. 111 v. 3. März, General-Anzeiger, 8; ebd., Nr., 121 v. 7. März, 4). Auch danach blieben Lieferschwierigkeiten üblich (Ebd. 1919, Nr. 56 v. 2. Februar, 6).

32_Vorwaerts_1918_04_17_Nr105_p6_Heinzelmaennchen_Kochkiste_Frieden

Friedenssehnsucht und Heinzelmännchen-Verkauf (Vorwärts 1918, Nr. 105 v. 17. April, 7)

Dennoch hatte die Heinzelmännchen AG genügend Finanzkraft, um eine Reihe neugestalteter Werbeanzeigen in Auftrag zu geben (Reclams Universum 1918/19, Nr. 11, s.p.). Hatten zuvor reine Textannoncen dominiert, so wurde nun wieder mit Heinzelmännchen und dem Hauptprodukt gespielt. Dies knüpfte an die Vorkriegszeit an – und es ist nicht verwunderlich, dass die Firma 1918 auch die Friedensehnsucht der Zivilbevölkerung zumindest verbal aufgriff.

Gas- und Kohlennot als Absatzchancen

Die Mangelsituation nach 1914 war für die Heinzelmännchen AG eine unternehmerische Chance. Das galt aber weniger wegen des nun anbrechenden Jahrzehntes der Ernährungskrise, als aufgrund des Brennstoffmangels. Erst fehlte Kohle, dann zunehmend auch das daraus hergestellten Gas. Brennstoffe verteuerten sich erheblich, wurden rationiert, waren teils nicht mehr erhältlich, Sperrstunden für Gas folgten. Holzdiebstahl wurde üblich, teils unausgesprochen geduldet. Die Kochkiste, nicht nur das Heinzelmännchen, wurden ab spätestens 1916 in lauten Tönen gepriesen: „Die Tugenden der Kochkiste sind noch niemals so ins helle Licht getreten wie heute. Wie man den wahren Freund erst in der Not erkennt, hat die Hausfrau sie jetzt als Helferin in allen Verengungen und Nöten einzuschätzen gelernt und die Kochkiste hat sich heute in den meisten Haushaltungen Hausrecht erworben oder erwirbt es sich“ (Wirtschaftsprobleme, Rhein- und Ruhrzeitung 1916, Nr. 432 v. 25. August, 3).

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Energiesparen aus Vaterlandsliebe und Eigeninteresse (Reclams Universum 34, 1917/18, Nr. 7, s.p.)

Es dauerte noch geraume Zeit, ehe sich die Haushalte auf die neue Lage einstellten: „Eine mit Beginn des Krieges einsetzende Werbetätigkeit für den Feuerung sparenden Gebrauch von Kochhilfsmitteln, wie Kochkiste, Kochbeutel, Heinzelmännchen usw., denen sich die fettsparende Bratpfanne und die Kochtüte anschlossen – Einrichtungen, die Trotz der Teuerung immer neue Anschaffungen erforderlich machten – wurde erst von Erfolg gekrönt, als der eherne Zwang der Not dahinterstand“ (Martha Voß-Zietz, Praktische Hauswirtschaft im Kriege, in: Goetz Briefs, dies. und Maria Stegemann-Runk, Die Hauswirtschaft im Kriege, Berlin 1917, 39-64, hier 59-60).

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Heinzelmännchen für die Energiekrise (Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 435 v. 29. August, 5)

Die Werbung griff diese Notlage immer wieder auf, appellierte sowohl an den Patriotismus der Kundschaft als auch an simple Nutzenerwägungen. Zugleich aber versuchte die Heinzelmännchen AG ihre Kochkisten vom Odium des Notbehelfs zu befreien, handele es sich dabei doch auch um „in Friedenszeiten nützliche Wirtschaftsgegenstände“ (Haus Hof Garten 39, 1917, 265). Nach Kriegsende war Gas in vielen Städten nur zu vorher festgesetzten Zeiten am Morgen und zu Mittag verfügbar. Langes Kochen war nicht mehr möglich: „Ohne Kochkiste gibt es kein gutes Mittagessen mehr und mit ihr werden die Hausfrauen die Gas- und Kohlenknappheit in der Küche nicht so schmerzlich empfinden“ (Gassperre und Kochstunden, Badische Post 1919, Nr. 246 v. 22. Oktober, 7). Es ist anzunehmen, dass dies den Absatz der Heinzelmännchen beförderte, doch weiterhin waren diese für viele Kunden zu teuer. Die Gas- und Kohlennot mündete zwar in eine breite Nutzung der Brennstoffsparer, doch davon profitierten vor allem billige, vielfach selbstgezimmerte Kisten.

35_Reclams Universum_36_1920_H36_pV_Illustrirte Zeitung_157_1921_09_22_Nr4057_p249_Heinzelmaennchen_Kochkiste_Kohlennot_Gasnot

Heinzelmännchen als Universalpaket gegen Teuerung und Energieknappheit (Reclams Universum 36, 1920, H. 36, V (l.); Illustrirte Zeitung 157, 1921, Nr. 4057 v. 22. September, 249)

Die Brennstoffversorgung normalisierte sich erst 1921 wieder. Auch die Werbeaktivitäten der Heinzelmännchen AG verliefen nun wieder in Vorkriegsbahnen. Nicht nur bei P. Raddatz gab es neuerlich regelmäßige Präsentationen des Heinzelmännchens (BT 1921, Nr. 74 v. 14. Februar, 7; ebd., Nr. 121 v. 14. März, 8). Brennstoff sollte weiter gespart werden, doch neue alte Argumente tragen wieder hervor: „Den Haushalt vereinfachen, das Kochen einschränken. Das Heinzelmännchen, die Kochkiste, muß heran. Am Morgen setzt man den kochenden Topf hinein, am Abend nimmt man das fertige Gericht heraus. Die Hauptmahlzeit ist auf den Abend zu verlegen“ (Anna Plothow, Die zu Hause bleiben, Berliner Volks-Zeitung 1920, Nr. 298 v. 27. Juni, 5). Durchgesetzt hat sich das nicht. Und es ist ebenso unwahrscheinlich, dass die vermehrten Exportbestrebungen dieser Zeit (Das Echo 40, 1921, 3375) devisenträchtigen Erfolg hatten. Die vor dem Weltkrieg noch belieferten Kolonien – die Familie Raddatz besaß enge Verbindungen zu Deutsch-Ostafrika – waren schon längst weggebrochen (Briefe aus Damuka, Friedenauer Lokal-Anzeiger 1907, Nr. 133 v. 9. Juni, 5).

Niedergang während der Hyperinflation

1921 und 1922 waren für die Heinzelmännchen AG dennoch wirtschaftlich erfolgreiche Jahre. Die Dividende betrug 1921 8 Prozent, stieg aufgrund der galoppierenden Inflation 1922 gar auf 100 Prozent. Der Gewinn lag bei 61.918 resp. inflationsbedingten 818.188 M. Auch die Kassa- und Bankbestände explodierten von 176.678 auf 1,675 Mio. M (DRA 1922, Nr. 159 v. 21. Juli, 10; ebd. 1923, Nr. 255 v. 2. November, 4). Geld verlor langsam seine Ordnungs-, insbesondere aber seine Wertaufbewahrungsfunktion.

Die Heinzelmännchen AG war an sich für die Härten der Hyperinflation finanziell gut gewappnet. Otto Ritter und die Familie Müntzel waren weiterhin die bestimmenden Kräfte bei P. Raddatz. Nach dem Ausscheiden Fritz Müntzels übernahmen seine Nachfahren 1927 dessen Anteile (DRA 1927, Nr. 278 v. 29. November, 5). Ritter schied erst 1937 aus der Gesellschaft aus (Ebd. 1937, Nr. 5 v. 8. Januar, 7). Er hatte in der Zwischenzeit weitere unternehmerische Aktivitäten begonnen, etwa als Geschäftsführer der 1919 gegründeten Gesellschaft für Zellstoffveredelung oder als Miteigentümer der Max Kray & Co. Glasindustrie Schreiber AG (Berliner Handels-Register 57, 1921, Abt. B, 803; ebd. 67, 1931, Abt. B, 838). Dennoch brach während der Hyperinflation das Geschäft der Heinzelmännchen AG zusammen, wenngleich der Bankrott noch vermieden werden konnte. Nach der Währungskonsolidierung schrieb das Unternehmen 9.542 RM Verlust, weitete diesen 1925 auf 10.490 RM aus. Dividenden wurden keine mehr gezahlt, die Kassa- und Bankbestände lagen Ende 1925 bei ganzen 156 RM (DRA 1925, Nr. 248 v. 22. Oktober, 7; ebd. 1926, Nr. 171 v, 26. Juli, 10). Ende September gelang noch die Umstellung des Grundkapitals auf nunmehr 40.000 RM (Ebd. 1925, Nr. 262 v. 7. November, 10).

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Die Kochkiste Heinzelmännchen als Teil der modernen Küche (C.V.-Zeitung 3, 1924, 271)

Eine Geschäftsbelebung aber misslang. Die Heinzelmännchen AG musste ihre Werbeausgaben von 10.820 M 1921 über 24.489 M 1922 auf ganze 925 RM im Jahre 1924 reduzieren. Kochkisten wurden zwar weiterhin als Haushaltsmaschinen verwandt und empfohlen, waren Küchenbestandteil vieler Siedlungen des Neuen Bauens und auch der vor allem heute berühmten Frankfurter Küche. Doch ihre Defizite wurden von der nunmehr Bahn greifenden Vitaminforschung pointiert benannt. Das lange Kochen bei hohen Temperaturen zerstörte B- und C-Vitamine sicher. Für den Misserfolg entscheidend aber war der zu hohe Preis. Die Heinzelmännchen AG war anders als vor dem Weltkrieg nicht mehr in der Lage ihre Kochkisten zu verbessern. Andere Anbieter boten analoge Geräte zu günstigeren Preisen. Oder, um der mir unbekannten Hilde Koslowski das Wort zu erteilen: „Also: solche Kochkiste mußte ich haben. Nun mir etwa eine ‚Heinzelmännchen‘ einfach kaufen? Das litt mein Sinn für Sparsamkeit denn doch nicht“ (Wie ich statt zu einer Kochkiste zu einem Kochkorbe kam, Thüringer Imkerbote 7, 1927, 15).

Es folgte eine längere Abwicklung. Seit 1927 residierte das Einkaufsbüro der Heinzelmännchen AG in der Leipzigerstr. 122/123, am Stammsitz von P. Raddatz (Berliner Adreßbuch 1927, TI, 1208), wurde also nebenher betrieben, mochte der Firmensitz in Moabit auch weiterhin bestehen (Ebd., T. IV, 419). Zuvor konnten die Verluste auf 1926 1504 RM und 1927 201 RM verringert werden, doch 1928 steigen sie wieder auf 6574, 1929 auf 13.683 RM (DRA 1927, Nr. 115 v. 18. Mai., 4; ebd. 1928, Nr. 144 v. 22 Juni, 9; ebd. 1929, Nr. 225 v. 26. September, 11; ebd. 1930, Nr. 208 v. 6. September, 4). Zwar hatte man in der Zwischenzeit weiterhin Kochkisten verkauft, doch Gewinne waren nicht mehr zu erwarten. Die Heinzelmännchen AG wurde am 12. September 1929 aufgelöst, Otto Ritter betrieb die sich bis 1931 hinziehende Liquidation (DRA 1929, Nr. 226 v. 27. September, 5; ebd. 1929, Nr. 231 v. 3. Oktober, 7; Berliner Handels-Register 67, 1931, Abt. B, 780).

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Weiternutzung als Gebrauchtware (MNN 1925, Nr. 214 v. 4. August, , General-Anzeiger, 2 (l. oben), ebd. 1928, Nr. 102 v. 14. April, General-Anzeiger, 4 (l. unten); Westfälische Neueste Nachrichten 1933, Nr. 59 v. 10. März, 13 (Mitte unten); Westfälische Zeitung 1933, Nr. 124 v. 18. September, 8 (r. oben); Annener Zeitung 1941, Nr. 298 v. 19. Dezember 4)

Heinzelmännchen-Kochkisten wurden auch danach noch weiter gehandelt. Sie waren jetzt aber nur noch Teil des seit langem bestehenden Gebrauchtwarenhandels. Der Mercedes unter den Kochkisten bewahrte seinen Wiederverkaufswert bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein. Aus dem Alltag der vielen war das Heinzelmännchen damals aber schon längst verschwunden; allerdings nicht so jäh wie einst die Heinzelmännchen aus Köln.

Entkoppelung: Heinzelmännchens Emanzipation von der Kochkiste

Das lange Ende der Kochkiste Heinzelmännchen bedeutete das Ende einer aus der Mode gekommenen Haushaltsmaschine, die das Odium der Kriegsnot nicht abstreifen konnte, die mit neuen Narrativen wie Frisch– und Rohkost nur schwer zu verbinden war. Auch für die Heinzelmännchen war die Kochkiste nur eine Episode. Als imaginäre Helfer konnten sie sich nicht nur in der Musik und Literatur behaupten, sie gewannen in der Konsumsphäre sogar neue Bedeutung – wenngleich die neue Sachlichkeit eigentlich eine neue Produktsprache verlangte, etwa bei der 1927 erfolgten Umbenennung des von Dr. Thompson produzierten Waschmittels Heinzelmännchen in Ozonil (Dresdner Nachrichten 1927, Nr. 214 v. 8. Mai, 19; Arbeit, die sich von selbst erledigt!, Coburger Zeitung 1929, Nr. 204 v. 31. August, 4).

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Dr. Oetker-Werbung mit Heinzelmännchen (Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 340 v. 9. Dezember, 6)

Doch die Idee von Produkten, die wie die Kölner Helfer still und bedächtig im Hintergrund arbeiteten, blieb eine werbeträchtige Verheißung auch der vermeintlich goldenen 1920er Jahre. Schuhkrem (mit deutschem k) Heinzelmännchen versah noch bei Kriegsende seinen Ersatzdienst (BT 1918, Nr. 383 v. 29. Juli, 6), während das altbewährte US-Stärkeprodukt Mondamin nach der Überwindung der Hyperinflation zum „Heinzelmännchen im Teige“ agierte: „Es arbeitet verborgen und bringt den Teig zum Treiben, bis sich ein guter Kuchen ergibt“ (Berliner Volks-Zeitung 1924, Nr. 575 v. 4. Dezember, 8). Das ließ den Konkurrenten Dr. Oetker nicht ruhen. Das stets übernahmefreundliche Bielefelder Unternehmen pries die in „ihren“ Rezepten kondensierten Erfahrungen von Kochschule und Hausfrauen, mit deren Hilfe das Backen flugs von der Hand ging. Während in Anzeigen Dr. Oetkers die Heinzelmännchen speisenbewehrt aufmarschierten, nutzte man andernorts die traute Kölner Geschichte offensiv in der Backin-Werbung (Annener Zeitung 1929, Nr. 154 v. 8. November, 6).

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Heinzelmännchen im Haushalt (Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 318 v. 17. November, 6)

Abseits des schon um 1900 besetzten Terrains gewannen die immer wieder neu, immer wieder gleich gezeichneten Hausgeister weiter Terrain: Die seitdem rasch gestiegene Zahl der Putz- und Reinigungsmittel bildete eine Armee von Helfern, gewiss größer als die auf 115.000 Soldaten gedeckelte Reichswehr. In Berlin entstand die Steglitzer Teppichreinigung Heinzelmännchen, gleichnamige Putztücher, ein in München produzierter Metallreiniger oder ein entsprechendes Berliner Metallputztuch bildeten nur Vortrupps hygienisch agierender Saubermännchen (Friedenauer Lokal-Anzeiger 1918 v. 6. September, 4; Berliner Adreßbuch 1932, T. II, 457; MNN 1926, Nr. 238 v. 28. August, 12; Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 424 v. 8. September, 8).

Auch Dienstleistungen wurden im Vergleich mit 1900 nun häufiger mit Heinzelmännchenattributen versehen, zumal wenn sie Teil der surrenden Verkaufsmaschine Stadt waren. Bäcker konnten nach dem verlorenen Weltkrieg endlich wieder normal werkeln, „wieder waren freundliche Heinzelmännchen früh geschäftig, die leckeren Brötlein zu verfertigen, auf daß sie sich rechtzeitig auf dem Frühstückstisch einfänden.“ Doch die Rolle der boshaften Schneidersgattin übernahm nun die Obrigkeiten mit ihren restriktiven Vorgaben für das nächtliche Backen. Brötchen würden nicht verschwinden, doch müssten die Bäcker selbst die „freudig schaffenden Heinzelmännchen arbeitslos auf die Straße“ werfen (Das Rundstück. Ein Märchen aus verklungenen und aus neuen Tagen, Altonaer Nachrichten 1925, Nr. 253 v. 28. Oktober, 5). Derartige Schilderungen zeugten vom sich verändernden Arbeitsethos einer rationalisierten Arbeitsgesellschaft, in der man Heinzelmännchen nicht nur ahnend beschrieb, sondern sie zur Eigenbeschreibung nutzte, sich selbst also verzwergte. Das galt auch für andere Bereiche des Handwerks, dessen Technisierung zentrale Fertigkeiten an Maschinen delegierte, denn „die Maschinen, die Heinzelmännchen unserer Zeit, erwachen aus dem Schlaf und sie rühren und schlagen, kneten und schaffen“ (Beim Weihnachtsbäcker, Westfälische Zeitung 1927, Nr. 283 v. 3. Dezember, 5). Wichtiger noch wurde der Konsumentenblick: Heinzelmännchen praktizierten Dienst am Kunden, in den Kaufhäusern surrte es tagsüber wie einst im nächtlichen Köln: „Die Menschen brauchen überhaupt nichts zu tun. Die Heinzelmännchen bei Friedmann können sich richtig bewegen, sie backen das Brot in einer Backstube, sie nähen und bügeln beim Schneider, sie zapfen die Weinflaschen voll Wein beim Küfer, sie hauen die Kohlen im Bergwerk“ (Weihnachten in der Stadt, Volkswacht 1928, Nr. 293 v. 14. Dezember, 3). Die Kunden mussten nur zahlen.

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Bedeutungstransfer: Gas als Heinzelmännchen (Coburger Zeitung 1925, Nr. 58 v. 10. März, 4)

Das galt auch für neue technische Möglichkeiten, die eine zunehmend selbstverständliche Gas- und Elektrizitätsversorgung in der Zwischenkriegszeit eröffnete. Gasherde und Elektrogeräte erschienen als Heinzelmännchen. Sie würden die Fron der Alltagsarbeit durchbrechen, manches automatisieren, vieles leichter machen, Neuland erschließen. Das galt etwa für die Höhensonne Heinzelmännchen der Münchener Firma von Georg Heinzelmann, den gleichnamigen Berliner Staubsaugerverleih oder den in Bochum entwickelten und ebenso benannten elektrischen Waschkessel (MNN 1922, Nr. 454 v. 12. November, 9; BT 1924, Nr. 544 v. 15. November, 15; MNN 1924, Nr. 210 v. 4. August, 12). Abseits derartiger Einzelprodukte wurden in den späten 1920er Jahren Elektrogeräte zu Wiedergängern der alten Heinzelmännchen. In Amerika war ihr Wirken schon Alltag, Deutschland aber würde folgen (Die Heinzelmännchen der amerikanischen Hausfrau, Berliner Börsen-Zeitung 1926, Nr. 563 v. 3. Dezember, 14; C. Hermann, Elektrische Heinzelmännchen, Hannoversche Heinzelmännchen 23, 1925/26, Nr. 45, 3-4; Heinzelmännchen im Haushalt, ebd. 29, 1931-32, Nr. 8, (9)). Eine neue Zeit schien bevorzustehen: „Sie erwacht am Morgen, erwacht in einen scheinbar so nüchternen Alltag, und empfindet, verwöhnt von den neuen Errungenschaften, vielleicht gar nicht, daß die Märchen früherer Zeit – geradezu ‚über Nacht‘ – Wirklichkeit geworden sind. Heinzelmännchen, die wirken, während der Mensch schläft? Die elektrischen Stromgeister sind unsere Heinzelmännchen“ (Richard Rieß, Die elektrische Hausfrau, Berliner Börsen-Zeitung 1930, Nr. 349 v. 28. Juli, 6). Dieses Bild hielt sich bis zur Wirtschaftswunderzeit – und den Rest können Sie vielleicht aus eigenem Erleben ergänzen.

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Kontinuierliche Träume: Haushaltsgeräte als Heinzelmännchen (Hamburger Abendblatt 1968, Nr. 103 v. 3. Mai, 19)

Lässt man sich auf diese lange Perspektive ein, so wird aus der hier genauer untersuchten Kochkiste Heinzelmännchen ein recht typisches Produkt in einer langen und seit Beginn moderner Konsumgesellschaften nie wieder abgebrochenen Reihe von Konsummythen. Sie vermengten Kindheitsträume, Vorstellungen von Muße und freiem Leben mit Glück, Lebenssinn und Wohlstand. Sie nutzen diese aber zugleich für den Absatz immer neuer, strukturell ähnlicher Produkte. Sie mochten alle ihren Wert haben, Aufgaben erfüllen, Not wehren, den Einzelnen anderen gegenüber darstellen, ihm bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben helfen. Doch sie waren und sind immer auch Teil einer imaginären Traumwelt, mit der wir uns gerne umgeben, auch wenn wir wissen, dass sie letztlich nichts anderes als eine fromme Legende ist. Bleibt uns aber anderes?

Uwe Spiekermann, 10. Dezember 2022

Eine zerbrochene Heimat: Ruth Gröne auf den Spuren ihrer Kindheit in Boffzen

„Hüte Dich – Und bewahre Deine Seele gut, dass Du die Geschichte nicht vergisst, die Deine Augen gesehen haben. Und dass sie nicht aus Deinem Herzen komme, Dein Leben lang – und tue sie Deinen Kinder kund“ (Lesung: Sachor! – Erinnere Dich! Aus dem Leben der jüdischen Hannoveranerin Ruth Gröne – YouTube). Diese jüdische Weisheit stand am Ende eines Grußwortes der am 5. Juli 1933 in Hannover geborenen Ruth Ester Julie Gröne, geb. Kleeberg, anlässlich einer Lesung ihrer von Anja Schade verfassten Biographie „Sachor! – Erinnere Dich!“. Diese Erinnerung kreiste ihr Leben lang um den Ort der heutigen Gedenkstätte Ahlem, um die Erinnerung an ihren 1944 verhafteten und 1945 nach Internierung in Ahlem, Neuengamme und Sandbostel an Torturen und Typhus gestorbenen Vater Erich Kleeberg. Ruth Gröne lebte in der zu einem „Judenhaus“ umgewandelten früheren Israelitischen Gartenbauschule Ahlem seit der Ausbombung 1943 zuerst mit ihren Eltern, dann allein mit ihrer protestantischen Mutter Maria. Für ihr beherztes Engagement, ihre beharrlichen, bohrenden und vielfach erfolgreichen Rückfragen an Verwaltungen, Parlamente, Regierende und Firmen wie die Continental AG hat sie in den letzten Jahren zahlreiche Ehrungen erhalten, darunter 2017 den Theodor-Lessing-Preis. Dessen 1919 erschienenes Hauptwerk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ beinhaltet bis heute dringliche Rückfragen an unseren Umgang mit Vergangenheit, warnt vor der menschlichen Grundneigung des Umbiegens der eigenen Geschichte. Ruth Gröne hat ihre Geschichte immer wieder erzählt, mochte sie auch nicht kommod sein, gegen bequemes Vergessen stehen.

Ruth Grönes Erinnerung war immer eine des Verlustes, des unbegreiflichen und sinnlosen Verlustes ihres Vaters, ihrer in Riga ermordeten Großeltern Frieda und Hermann Kleeberg, ihrer Tante Martha Kleeberg, geb. Heimbach. Sie war immer auch die Geschichte einer zerbrochenen Kindheit, durchfurcht von nicht zu kontrollierenden, nicht einzuhegenden Mächten. Diese Kindheit ist eng mit dem kleinen Weserort Boffzen verbunden, bekannt durch Wilhelm Raabes Beschreibungen, bis heute geprägt von der dortigen Glasindustrie. In Boffzen wurde Erich Kleeberg geboren, hier stand das Haus der Großeltern, die dort eine Schlachterei, eine Viehhandlung betrieben. Dort traf sich die Verwandtschaft, dort erkundete auch die kleine Ruth das Haus, den Innenhof, die Nachbarschaft.

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Die kleine Ruth auf dem Schoß ihrer Großmutter, im Kreise der Familie Kleeberg, Boffzen 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Boffzen war und blieb ein wichtiger Teil der Erinnerung Ruth Grönes. Sie war geprägt von kindlichem Entdecken und Erkunden, von dem Grundvertrauen, dass die Welt gut sei, voller Wunder. Doch Boffzen stand auch für die Vertreibung dieser und anderer Familien, für den erzwungenen Verlust einer bis 18. Jahrhundert zurückreichenden jüdischen Gemeinschaft. 1939 kamen die Großeltern nach Hannover, fanden Herberge bei ihrem Sohn Erich, seiner Frau Maria und ihrer Tochter Ruth. Sie hatten zuvor ihr Geschäft in Boffzen schließen, Haus und Grundstück verkaufen müssen. Zu fünft lebten sie in einer 2-Zimmer-Wohnung, dann ab 1941 in einem „Judenhaus“, wurden dann getrennt, die Großeltern vor Weihnachten deportiert.

Ruth Gröne ist seit 1966 mehrfach nach Boffzen gefahren, an den Ort ihrer Kindheit, hat dort Kontakte geknüpft, sich entwickelnde Freundschaften gepflegt. 1988/89 wurde sie, aber auch ihre ins britische und US-amerikanische Exil gezwungenen Verwandten, Onkel Walter (Clay, geb. Kleeberg) und Tante Ruth (Kolb, geb. Kleeberg) von der Gemeinde Boffzen eingeladen, 2006 auf Ruth Grönes beharrliches Drängen hin ein Gedenkstein vor der Gemeindeverwaltung errichtet. Weitere Besuche folgten – und bei dem letzten fühlte sich die Hannoveranerin nicht mehr willkommen geheißen. Der Bürgermeister hatte für sie keine Zeit, der Verwaltungsvertreter war auf den Besuch nicht vorbereitet, nicht einmal auf den jüdischen Friedhof begleitete man den Gast.

Anja Schades Biographie „Sachor! – Erinnere Dich!“ veränderte dies. Ruth Gröne war häufiger Gast im Niedersächsischen Landtag, bei Landtagspräsidentin Gabriele Andretta. Deren persönliche Referentin, Stefanie Waske, stammte aus Boffzen, hatte das Buch gelesen, sprach nicht nur mit der Zeitzeugin, sondern auch mit ihrem Vater Walter Waske, früherer Landrat des Landkreises Holzminden, in Boffzen weiter kommunalpolitisch aktiv. Er nahm den Kontakt auf, Besuche folgten, Überzeugungsarbeit in Boffzen, schließlich erfolgte eine von allen Gemeindevertretern getragene Einladung. „Der erzwungene Verlust 1938. Boffzen erinnert sich seiner jüdischen Nachbarn“ war der Titel einer am 19. November 2022 durchgeführten Gedenkveranstaltung. Sie war wichtig, zumal für die Bürger Boffzens. Doch für Ruth Gröne war sie nur Teil einer neuerlichen Rückkehr an den Ort ihrer zerbrochenen Kindheit.

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Besuch im Jacob Pins Forum Höxter: Fritz Ostkämper erzählt von der Geschichte dieses Erinnerungsortes an die vertriebenen und ermordeten Höxteraner Juden (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Reise nach Boffzen und in die eigene Vergangenheit begann in Höxter. Dort besteht seit 2008 das Jacob Pins Forum, ein Ort der Erinnerung an den gleichnamigen, aus Höxter stammenden jüdischen Künstler. Das in einem alten umgestalteten Adelshof liegende Forum ist heute Veranstaltungsort für Konzerte, für Ausstellungen, dort kann man wichtige Werke von Pins sehen. Doch im Obergeschoss gibt es auch zwei kleine, erst jüngst umgestaltete Räume, die an die jüdische Geschichte in Höxter erinnern. Der langjährige Vorsitzende der Jacob Pins Gesellschaft, Fritz Ostkämper, der sich auch als Forscher zur jüdischen Geschichte Höxters und der Region einen Namen gemacht hat, präsentierte Ort und Ausstellungen, erzählte auch über Familien im Umfeld der Kleebergs.

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Letzter Testlauf: Walter Waske in der bereits von den Helferinnen der Arbeiterwohlfahrt und den Landfrauen eingedeckten Mehrzweckhalle (Foto: Uwe Spiekermann)

In Boffzen waren derweil die Vorbereitungen abgeschlossen. Die Mehrzweckhalle war geputzt, von Gemeindearbeitern bestuhlt worden, einhundert Bürger hatten sich zur Gedenkveranstaltung angemeldet. Die „üblichen Verdächtigen“, die verlässlichen Frauen der Arbeiterwohlfahrt und auch der Landfrauen, hatten dem Raum ein freundlicheres Ambiente gegeben, die Technik war aufgebaut und wurde nochmals überprüft. Boffzen war bereit für seine Gäste, Ruth Gröne übernachtete im Hotel „Alte Post“ in Boffzen – Anfang der 1930er Jahre ein Treffpunkt der lokalen NSDAP, heute von der Familie Winnefeld mit frischem Engagement betrieben. Angesprochen auf diese Geschichte, antwortete Ruth Gröne mit lapidar-ernstem Mutterwitz: „Die sind ja schon tot.“

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Aufbruch im Hotel „Alte Post“: Ruth Gröne mit Boffzens Bürgermeisterin Gudrun Raßmann (Foto: Stefanie Waske)

Der Rundgang durch Boffzen begann am Samstagmorgen. Dieses Mal nicht allein, sondern in einer großen Gruppe. Anja Schade war dabei, Bürgermeisterin Gudrun Raßmann begrüßte im Namen der Gemeinde Boffzen, ebenso als Gemeinderatsmitglieder Manfred Bues, Manuela Püttcher und Walter Waske. Nachbarn und alte Bekannte, wie Karl-Heinz Göhmann, waren zugegen, vertieften auch ihre Erinnerungen an Boffzen, an die bis heute bedrückende Verfolgungsgeschichte. Der Weg führte durch die U-förmige Straße „Im Winkel“, in deren Mitte einst die Gemeindeverwaltung und die Polizei lag. Im Ortsmund hieß sie nach dem Krieg „Judengasse“, denn hier hatte eine Reihe jüdischer Familien gelebt, nicht nur die dann während der NS-Zeit ins Exil vertriebene Familie Lebenbaum.

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Gang durch das Dorf: Walter Waske erzählt von der Ortsgeschichte (Foto: Stefanie Waske)

„Im Winkel“ lag auch das kleine Gebetshaus der jüdischen Gemeinschaft. Ruth Gröne hat dieses nicht mehr besucht. Doch die Runde stimmte ein auf das erste Ziel, das Haus ihrer Großeltern in der Oberen Dorfstraße, Teil der Hauptachse Boffzens. Ruth Gröne hatte frühere Fotos mitgebracht, Haus und Straße immer wieder festgehalten. Ihr 2016 verstorbener Mann Ludwig war Schmied, von ihm stammt das schiedeeiserne Geländer des Hauseingangs. Die Grönes standen auf guten Fuß mit den Kues, trotz all der Fährnisse um den Kauf des Hauses zu gedrücktem Preis 1939, trotz der Entschädigung in der Nachkriegszeit. Helmut Kues war für die Kleebergs einkaufen gegangen, als ihnen dies 1939 in Boffzen verboten war, ihnen, einer seit vielen Generationen in Boffzen ansässigen und geachteten Familie, tief verwurzelt in den lokalen Vereinen, deren Männer in den deutschen Einigungskriegen und im Ersten Weltkrieg gedient hatten.

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Abgleich mit alten Fotos: Ruth Gröne mit Bildern früherer Besuche (links Holger Kues, rechts Stefanie Waske) (Foto: Uwe Spiekermann)

Holger Kues öffnete der Gruppe das große Tor zum Innenhof, Ruth Gröne stand nun wieder an einem Kindheitsort: Dort war der Stall der Ziege, dort der knurrende Hund, vor dem sie immer ein wenig Angst gehabt habe. Erinnerung ist schwer zu teilen, doch man sah im Antlitz der alten Frau einen Widerschein einer immer wieder erinnerten und daher nicht vergessenen Zeit. Gewiss, der Hinterhof hatte sich in achtzig Jahren vielfach verändert, die alten Bodenplatten waren nicht mehr da, die Stallungen, das Plumpsklo, die Abwassergräben, der Brunnen lief nicht mehr. Das Haus hatte neue Türen, neue Fenster, doch sie waren immer noch am gleichen Platz, die alten Formen bewahrend.

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Geteilte Kindheiten: Ruth Gröne im Gespräch mit Bernd Kaussow, der in diesem Haus längere Zeit gelebt hat (Foto: Uwe Spiekermann)

Gesprochen wurde viel, über die Veränderungen, die mehr als achtzig Jahre seit der Vertreibung der Familie Kleeberg. Bernd Kaussow lebte später im Hause, doch seine Erinnerungen waren die der 1960er Jahre, einer Jugend im allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung.

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Hier gingen wir ein und aus: Ruth Gröne an der Tür zwischen Küche und Hof (Foto: Uwe Spiekermann)

Ruth Gröne leihte all dem ihr Ohr, doch ihr Eindruck war ein anderer. Sie war ergriffen. Doch nicht Trauer über den Verlust trat hervor, sondern Dankbarkeit ob der schönen Stunden im Kreise ihrer Großeltern. Hier im Innenhof hatte sie gespielt, durch diese Tür war sie ein und aus gegangen. Die Gruppe trat zurück, mochte mancher davon auch von Erinnerungen an die eigene Kindheit berührt worden sein.

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Ruth Gröne mit Anja Schade im Garten ihrer aus Boffzen vertriebenen Großeltern (Foto: Stefanie Waske)

Im Garten war alles verändert, eine neue Birke war gepflanzt worden. Doch Altes war noch da: Die Trittplatten hatten mehr als hundert Jahre überdauert. Die Futter- und Wassertröge der Stallungen bargen nun Blumen. Ruth Gröne schaute, sah, berührte Wände und Türen, greifbare Reste einer zerbrochenen Heimat. Berühren, Festhalten, wieder Loslassen, doch den Moment bewahren.

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Die Heimat der Kindheit: Ruth Gröne im Innenhof ihrer Großeltern, einem Jugendort ihres Vaters (Foto: Uwe Spiekermann)

Holger Kues verstand das, öffnete dann auch das Haus. Der Aufgang war beschwerlich, doch für Ruth Gröne ging das Festhalten am Geländer und manch stützender Hand über in das Umhergehen, in das Betasten von Wänden und Türrahmen. Das Haus war noch stärker verändert worden als der Innenhof, neue Wände waren eingezogen worden, die modernen Annehmlichkeiten von Wasserversorgung, Zentralheizung und Einbauküche.

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Holger Kues öffnet die Tür seines Hauses für Ruth Gröne und Anja Schade (Foto: Uwe Spiekermann)

Das alte Mobiliar fehlte, einiges war in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von Unbekannten zerschlagen, einiges vor dem erzwungenen Wegzug verkauft und verschenkt worden, größere Möbel wurden nach Hannover mitgenommen. Kein Klavier zierte die gute Stube. Eine Küche gab es, nicht wie ehedem zwei, die milchige und fleischige, wie in einem koscheren jüdischen Haushalt üblich. Doch Ruth Gröne hatte die alten Bilder in sich bewahrt, im Kopfe und im Herzen, sah hinter Verputz und Verkleidungen, wusste um den Ort der Spüle, um Tische, Schränke und Stühle.

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Erinnerungen an die alte(n) Küche(n) (Anja Schade, Ruth Gröne, Holger Kues, Uwe Spiekermann) (Foto: Stefanie Waske)

Man verließ diesen bitter-freudigen Ort, der Zeitplan war schon längst gesprengt, Erinnerung brach Ordnung. Noch aber gab es einen unverzichtbaren historischen Ort, den kleinen jüdischen Friedhof am nördlichen Ortsausgang. Er wurde „später“ wieder hergerichtet, doch alte Grabplatten fehlten, waren „damals“ von unheiligen Horden zum Straßenbau verwandt worden. Vierzehn Grabstätten gibt es noch, darunter die der Familie Kleeberg. Ruth Gröne war vorbereitet, natürlich. Sie hatte Steine mitgebracht, ein guter jüdischer Brauch, um die Gräber zu markieren, den Ahnen Ehre zu erweisen, um etwas von sich zurückzulassen. Und sie stellte sich selbstbewusst in die Reihe ihrer Vorfahren, beginnend mit Abraham Kleeberg, ihrem Ur-Urgroßvater, endend mit ihrer Großtante Helene Seligmann. Auch hier das Handauflegen, auch hier der handgreifliche Bezug zu den Verstorbenen, zu den Erinnerten. Berührend in einem Umfeld der Grabeinebnungen und Urnenfelder auf „christlichen“ Friedhöfen. Das Vergessen religiöser Traditionen zeigte sich auch in der Gruppe, denn nur zwei der Männer (darunter nicht der Autor, ein guter Katholik) trugen eine Kopfbedeckung, so wie es sich für einen jüdischen Friedhof geziemt.

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In der Reihe ihrer Vorfahren: Ruth Gröne am Grabstein ihres Ur-Urgroßvaters Abraham Kleeberg (1799-1856), dahinter die Gräber ihrer Urgroßeltern Moses (1829-1916) und Julie Kleeberg (1839-1918) sowie ihrer Großtante Helene Seligmann, geb. Kleeberg (1875-1932) (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Momente der Ruhe, des Eingedenkens währten nicht allzu lang. Denn es gab noch einen offiziellen Termin, den Eintrag in das „Goldene Buch“ der Samtgemeinde Boffzen. Deren Bürgermeister Tino Wenkel und der stellvertretende Gemeindedirektor Philip Becker begrüßten Ruth Gröne und die Gruppe. Schnittchen und Kaffee folgten.

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Eintragung in das „Goldene Buch“ der Samtgemeinde Boffzen (Foto: Uwe Spiekermann)

Der Rahmen war gesteckt, doch unbefangen war das Zusammensein nicht, die rechte Sprache fehlte. Holger Kues durchbrach die wortreiche Stille, indem er unbefangen fragte, warum denn die Juden so verhasst gewesen seien. Ruth Gröne verwies auf die bis weit in die Antike zurückreichende Judenfeindschaft, auf eine kleine Gruppe, die sich schlecht wehren konnte. Uwe Spiekermann ergänzte, verwies auf pseudowissenschaftliche Argumente der Andersartigkeit, auf Unsicherheit und Neid als Untugenden der Mehrheitsgesellschaft. Der Umgang mit Minderheiten, Vorstellungen von Fremdheit, sie standen im Raum, wurden besprochen, ein „Nie wieder“ beschworen.

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„Was Dir verhaßt ist – das tue Deinen Nachbarn nicht an“ (Foto: Uwe Spiekermann)

Der offizielle Termin ebbte ab. Zwei Nicht-Boffzener hatten vor dem Gedenkstein vor der Gemeindeverwaltung zuvor einen Blumenstrauß und eine Kerze gestellt – und Ruth Gröne ließ es sich nicht nehmen, ein Licht anzuzünden, ein Seelenlicht als Ausdruck der Verbundenheit mit den Toten, mit ihren ermordeten Großeltern, ihrer ermordeten Tante, ihrem ermordeten Vater.

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Stilles Gedenken vor der Gemeindeverwaltung: Der Gedenkstein für die vertriebenen jüdischen Nachbarn Boffzens, für die Ermordeten der Familie Kleeberg (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Gedenkveranstaltung schloss sich an. Die Mehrzweckhalle füllte sich, der Landrat traf ein, die Landtagsabgeordnete, der Bundestagsabgeordnete, Vertreter der Boffzener Vereine, der Kirchen, von Feuerwehr und Polizei. Hinzu kamen viele Boffzener, nicht nur ältere. Auch Freunde und Weggefährten Ruth Grönes waren gekommen, darunter Klaus Kieckbusch, der die jüdische Ortsgeschichte einst akribisch erforscht hatte.

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Alte Freunde: Ruth Gröne mit Klaus Kieckbusch, der die Geschichte der Juden in Boffzen umfassend aufgearbeitet hat (Foto: Stefanie Waske)

Nach jüdischen Weisen von Jean Goldenbaum folgten Ansprachen der Bürgermeisterin, dann ein langer Vortrag des Autors über „Boffzen und die NS-Zeit“, der durch begleitende zehn Quellentexte nochmals länger wurde. Und doch: Achtzig Minuten vergingen voller Konzentration, aufmerksam, ja gebannt verfolgten die hundert Gäste die Geschichte der jüdischen Nachbarn Boffzens, ihrer Verfolgung und Vertreibung; aber auch die der gelungener Nachbarschaft (bis 1930/33) und des langen abduckenden Schweigens nach 1939/45. Erinnerung braucht Ruhe, Abgeklärtheit, auch Zeit.

Danach trat Ruth Gröne ans Rednerpult. Sie begann stockend, begrüßte die vielen Würdenträger, bedankte sich bei denen, die diese Tage vorbereitet und mitgestaltet hatten. Sie schilderte ihre angesichts Boffzens ambivalenten Gefühle, die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie vor Ort gemacht hatte. Neben Hannover habe ihr Boffzen jedoch stets am Herzen gelegen – und nun fahre sie mit einem guten Gefühl zurück in ihre erste Heimatstadt. Walter Waske dankte dafür, sichtlich bewegt, hob aber auch hervor, dass es just nach diesem Besuch darum gehen müsste, die Erinnerung vor Ort weiter zu bewahren. Erinnerung sei kein Konsumgut, sondern eine stets auszugestaltende Aufgabe. So, wie sich der fliegende Vogel über das am Boden gefesselte Schlachtkalb erhebt. So wie die Erinnerung an die eigene Kindheit den Funken eines Grundvertrauens birgt, der trotz aller Gewalt und aller Schlechtigkeit doch daran festhalten lässt, dass die Welt gut ist und voller Wunder. Ruth Grönes Rückkehr nach Boffzen hob dies allen ins Gedächtnis.

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Ruth Gröne mit Fritz Ostkämper beim Rundgang in Boffzen (Foto: Stefanie Waske)

Uwe Spiekermann, 21. November 2022

Boffzen und die NS-Zeit

„Der erzwungene Verlust 1931-1938. Boffzen erinnert sich an seine jüdischen Nachbarn“ – so lautet der Titel der heutigen Gedenkveranstaltung. Ist das mehr als eine der üblichen Phrasen in guter Absicht? Erinnern ist Vergegenwärtigung, ein Akt direkter Auswahl. Sich erinnern heißt, etwas dem Vergessen zu entreißen, seine Bedeutsamkeit hervorzuheben. [1] Wenn wir uns heute an die jüdischen Nachbarn in Boffzen erinnern, so erst einmal aufgrund der Erinnerungen von Ruth Gröne, die Anja Schade in einem vor kurzem erschienenen Buch eindringlich festgehalten hat. [2] Sachor! – Erinnere Dich! ist der Titel; eine Selbstverpflichtung, eine Aufforderung, auch eine Bitte.

Eine bittende Aufforderung Ruth Grönes an die Bürger und Bürgerinnen Boffzens, des Geburtsortes ihres Vaters und ihrer Großeltern, ihre Erinnerung wahrzunehmen. 1933, in ihrem Geburtsjahr, lebten kaum mehr als hundert Meter von dieser Halle entfernt drei Familien jüdischen Glaubens, die Lebenbaums, die Seligmanns, die Kleebergs. Am 31. Oktober 1939 meldete Boffzens Bürgermeister Wilhelm Korte stolz, „ dass die Gemeinde Boffzen […] frei von Juden ist.“ [3] Das war das Ende einer langen Geschichte jüdischen Lebens in Boffzen – bis heute. Die insgesamt vierzehn jüdischen Nachbarn wanderten aus, nach Palästina, den USA, Shanghai, Großbritannien. Und sie wurden ermordet, starben aufgrund von Verfolgung, wohl in Riga, in Sandbostel, anderswo, fernab. „Und der Kummer von einem ist der Kummer der Welt“ [4] schrieb einst die Sängerin Bettina Wegner. So wollen wir es halten, uns erinnern, gemeinsam, unfeindlich, wenigstens heute.

In Boffzen, einem Ort der Vertreibung der eigenen Nachbarn, kann sich Erinnerung aber nicht allein auf die Opfer konzentrieren. Neben die Opfer treten Täter, treten zugleich all die „Bystanders“, die Zuschauer und scheinbar nicht Beteiligten. Die gelungene deutsch-jüdische Symbiose im langen 19. Jahrhundert ist Teil dieser Erinnerung, die rasche Nazifizierung des Ortes, aber auch die judenfreie Zeit nach 1939, geprägt durch Schweigen, fehlendes Schuldbewusstsein und von außen anzustoßende Erkundigungen. Erinnerung dieser Art bündelt Vorarbeiten auch aus der Gemeinde und der Region, ist verbunden mit Namen wie Ulrich Ammermann und Marlis Loges, Matthias Seeliger, Detlev Creydt und Fritz Ostkämper, und insbesondere mit Klaus Kieckbusch, von dessen Arbeit wir alle zehren. [5]

Boffzen vor der NS-Zeit

Jüdisches Leben in Boffzen lässt sich bis 1620 zurückverfolgen, ein Gemeindeleben begann jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert mit der Ansiedlung braunschweigischer „Schutzjuden“. [6] Juden waren damals auf herrschaftliche Sonderrechte angewiesen. Das änderte sich erst im Königreich Westfalen, einem französischen Kunststaat, der den Juden Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Boffzen kurzzeitig die „Emanzipation“, also gleiche Rechte brachte. Als Bürger hatten sie ihre alten Namen abzulegen, neue anzunehmen. Lebenbaum ist eine Eindeutschung des alttestamentarischen „ez hachajim“ (Genesis 2, 9), Kleeberg ist einer lokalen Flurbezeichnung nachempfunden. [7] Mit der napoleonischen Herrschaft endete auch die Emanzipation. [8] Doch sie blieb Programm liberaler Reformer; und die Verfassungen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches brachten seit 1867 eine fast vollständige Gleichberechtigung der Juden. Antisemiten bekämpften sie seither, wollten sie rückgängig machen. Das war zentral für die dann 1935 erlassenen Nürnberger Gesetze.

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Moses Kleeberg als Vorsteher einer kleinen jüdischen Gemeinschaft in Boffzen (Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes 4, 1889, 60)

In Boffzen gab es eine kleine jüdische Gemeinschaft, 1872 offiziell anerkannt. Das 1882 eingerichtete Gebetshaus stand aber schon für die schwindende Zahl der Boffzener Juden. [9] Die Entleerung des ländlichen Raumes kennzeichnete jüdisches Leben im 19. Jahrhundert. Die Zahl der „Landjuden“ verminderte sich einerseits durch Wegzug in größere Städte, anderseits durch die Auswanderung in die USA. Die Zahl der Boffzener Juden sank, ihre wirtschaftliche Lage verbesserte sich aber schneller als die ihrer Mitbürger. Die Gründe lagen in der ausgeprägten Schriftlichkeit der jüdischen Religion, einem weit stärkerem Bildungsdrang, ausgeprägterem Fleiß und der Spezialisierung auf wenige Boombranchen der entstehenden Industrie- und Konsumgesellschaft. [10] In Boffzen investierten Seligmanns, Lebenbaums und Kleebergs gezielt in die Bildung ihrer Kinder. Sie konzentrieren sich auf Handel und Verkauf. Sie erzielten gute, überdurchschnittliche Einkommen.

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Boffzen: Das Dorf und die industriellen Vororte mit den beiden Glashütten 1898 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Boffzen war zu dieser Zeit ein gespaltener Ort. Im alten an der Weser gelegenen Ortskern dominierten Bauern und Handwerker. [11] Eisenbahnbau und Industrialisierung veränderten den Ort seit Mitte der 1860er Jahre. Boffzen wurde an das nationale Verkehrsnetz angeschlossen, zwei Glashütten und die Ziegelei Brückfeld entstanden. [12] Die Karte zeigt die Gleise mitten durch den Ort, die abgetrennten Unternehmen und Arbeiterwohnungen im Brückfeld. Sie zeigt nicht die Unterschiede zwischen den Menschen in beiden Teilen des Ortes: Einerseits den Alteingesessenen an der Weser, anderseits die erst aus dem Solling, dann vor allem aus dem Siegerland angeworbenen und zugewanderten Glasmacher sowie die aus dem Solling und aus Lüdenscheid zugezogenen Kapitalisten. Arbeiter und Unternehmer im Brückfeld arbeiteten anders, lebten anders, erhielten regelmäßiger Geld, wählten sozialdemokratisch und liberal. Die jüdischen Mitbürger waren in Boffzen Alteingesessene. Ihre Handelsgeschäfte überbrückten, verkauften an beide Gruppen und darüber hinaus.

Eine deutsch-jüdische Symbiose

Die jüdischen Nachbarn unterschieden sich kaum von ihrem Umfeld. Ihre Religionspraxis war nach innen gewandt, stand zwischen konservativem und Reformjudentum. Sie kochten koscher, feierten die Feste des jüdischen Jahres gemeinsam mit den Glaubensbrüdern und -schwestern in Höxter, zu denen enge verwandtschaftliche Verbindungen bestanden. Hochzeiten erfolgten zumeist innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft. Ruth Grönes Eltern Erich und Maria Kleeberg – letztere war getaufte Protestantin – erhielten daher nicht den Hochzeitssegen ihrer Großeltern, heirateten 1931 standesamtlich. [13]

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Die drei Familien führten in der Tradition ihrer Vorfahren kleine Handelsunternehmen: Kleebergs seit 1899 eine Schlachterei und Viehhandlung, Lebenbaums seit den 1890er Jahren eine Kolonialwaren- und Getreidehandlung, Seligmanns eine von Moses Kleeberg übernommene Kolonialwaren- und Fellhandlung. Das entsprach den Bedürfnissen der meisten Boffzener, die in der Regel eigenes Garten- oder Ackerland bewirtschafteten, Eigenversorgung und Hausschlachtung betrieben, in den Läden eher ein Ergänzungssortiment kauften. Doch es gab vor Ort auch andere Einkaufsmöglichkeiten: Das Adressbuch nannte 1929/30 einen weiteren Schlachter, drei weitere Kolonialwarenhandlungen, zwei Bäckereien und den Konsumverein im Brückfeld. [14]

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Das Haus mit dem Laden der Familie Seligmann kurz vor dem Abriss 1988 (l.) und das heute noch bestehende Haus der Schlachterei Kleeberg, beide in der Oberen Dorfstraße (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Diesen Läden waren allesamt klein, ohne größere Reklame. Ruth Gröne hat den der Seligmanns anschaulich beschrieben: Hier „hat es eigentümlich gerochen. Und wenn ich darüber spreche, dann rieche ich das noch. Ja, da gab es also allerhand. Erstmal war das ein kleiner Laden. Da kam vielleicht alle halbe Stunde jemand. Wenn man die Tür aufmachte, dann klingelten mehrere Schellen. Dann kam die Tante, die sich in der Wohnung oder in der Nähe des Ladens aufhielt. Sie hat zwischendurch etwas anderes gemacht. Und da standen Säcke mit Bohnen und Erbsen – das wurde alles nicht verpackt. Dann gab es noch Zucker und Salz und Haferflocken und Gries. Das war alles in Schubladen und wurde mit der Schaufel in die Tüte getan. Ich war unwahrscheinlich fasziniert, wenn das abgewogen und dann auf dem Zettel die Preise zusammengezogen wurden. Das fand ich toll. Das war ein Gemischtwarenladen. Dort konnte man alles kaufen. Harken und Spaten, Nähzeug und Knöpfe und Garn und Wolle zum Stricken, Bindfaden und … , also alles. Die Frauen, die in dem Dorf wohnten, die konnten ja nicht eben mal mit der Straßenbahn in die Stadt fahren, nach Holzminden.“ [15]

Die jüdischen Geschäfte ermöglichten bürgerliches Leben. Familie Lebenbaum dürfte um 1930 ein Jahreseinkommen von brutto etwa 6.000 RM gehabt haben. [16] Die Schlachterei von Hermann Kleeberg war deutlich größer, im Schlachthof wurden wöchentlich zwei bis drei Schweine und zwei Rinder geschlachtet.

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Wohnhaus und Wirtschaftsanbauten der Familie Kleeberg 1903 (Stadtarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Hinzu kam ein überschaubarer Viehhandel, vornehmlich Ferkel für die Glasmacher, zudem Rinder und einige Schlachtschweine für die nichtjüdische Kundschaft. Die Tiere wurden auf einer Wirtschaftsweide gehalten. Kleebergs verkauften nicht nur in Boffzen, sondern lieferten ihre Ware per Kutsche, dann per Automobil auch an Kundschaft außerhalb. [17]

Eine jüdische Vereinskultur fehlte, entsprechend waren die Boffzener Juden in praktisch allen Vereinen aktiv, als Mitglieder, Vorstände, als Spendengeber. Das galt für den 1876 gegründeten „Sängerbund der vereinigten Glashütten“, der spätere Männergesangsverein „Brunonia“, zu dessen Mitbegründern der später in Ameluxen wohnende David Kleeberg gehörte, später Schriftführer und auch 1. Vorsitzender. [18] Mehrere Kleebergs folgten. Herrmann Kleeberg pflegte beim 1879 gegründeten Männergesangsverein „Germania“ Volkslieder und Geselligkeit. [19] Das galt auch für den 1892 gegründeten Männerturnverein, bei denen er von Beginn an aktiv war. Walter Kleeberg kickte in den 1920er Jahren für den FC 08 Boffzen.

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Die Mannschaft des FC 08 Boffzen mit Walter Kleeberg (obere Reihe, 2. v. r.) (Foto: Ruth Gröne)

Auch die Frauen trafen sich. Frieda Kleeberg war Mitglied der dörflichen Frauengemeinschaft, Ruth Kleeberg turnte Seit an Seit mit ihren Kameradinnen auf dem Gauturnfest 1931.

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Ruth Kleeberg beim Gauturnfest 1931 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Vielleicht wichtiger noch war der Kriegerverein. Hier ging es um nationale Belange, den Kampf für das gemeinsame Vaterland, die Erinnerung an Kriege und eigene Opfer, teils auch um Respekt vor dem Gegner. Der Kriegerverein, später Teil des Kyffhäuser-Bundes, wurde nach den deutschen Einigungskriegen gegründet, an denen etwa vierzig Boffzener teilnahmen. Seligmann Lebenbaum, Guidos Vater, wurde Vorstandsmitglied, ab 1904 Ehrenmitglied. [20] Im Ersten Weltkrieg starben fast hundert Boffzener Männer für „Kaiser und Vaterland“. Darunter als einer der ersten in der Schlacht an der Sambre im August 1914 Albert Kleeberg, Viehhändler und Schlachter, 1912 Großer König der Schützengemeinschaft Boffzen. Er war einer von 90.000 jüdischen Soldaten, einer der 12.000 jüdischen Gefallenen. Auch Herrmann Kleeberg, Guido Lebenbaum und Robert Seligmann waren Mitglieder des Kriegervereins, letzterer erst Kassenprüfer, dann zwölf Jahre Schriftführer. [21]

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Unter Adler und Eichenlaub: Gedenken an Albert Kleeberg auf dem Kriegerdenkmal in Boffzen (Foto: Uwe Spiekermann)

Die jüdischen Familien waren integriert. Und doch war Boffzen keine Idylle. Ruth Gröne berichtete von mehreren „Streichen“. [22] Die Hochzeit von Helene Kleeberg und Robert Seligmann wurde 1904 von Bauern gestört, die den Eingang zur Feststätte mit Jauche drapierten. Hermann Kleebergs Vater Moses wurde in hohem Alter in dem Außenabort seines Hofes eingesperrt und öffentlich zur Schau gestellt. Man mag dies auf Dummheit und Grobheit zurückführen. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens betonte stets, dass der Erbfeind des Judentums die Halbbildung sei. Er setzte dabei auf den Schutz des Rechtsstaates. Es ist eine Paradoxie der auch in Boffzen gelebten deutschen-jüdischen Symbiose, dass deutsche Juden vermeintlich deutsche Tugenden gegenüber Extremisten von rechts und links hochhielten. Den plärrenden Antisemitismus konnten Gebildete nur verachten. Ihren Vertretern ging man möglichst aus dem Weg, hielt die Kinder davon fern. Antisemitische Krawalle gab es immer wieder, sie begleiteten Revolution und Inflation. Doch das legte sich. Da waren schließlich die Deutschen, die vielen anständigen, die Politiker in linken und liberalen Parteien, in Teilen des Zentrums. Und da waren die Nachbarn, von denen man geachtet wurde, mit denen man respektvoll umging. All das änderte sich ab 1930, zerbrach dann 1933.

Machtzulassung, Machtergreifung und Selbstgleichschaltung

Die deutsche Erinnerungskultur an die NS-Zeit hat eigenartige Blindstellen. Sie konzentriert sich vor allem auf die Verfolgung der deutschen Juden ab Mitte der 1930er Jahre und die Ermordung der europäischen Juden im Holocaust ab 1941. Die Bedrängung der jüdischen Mitbürger schon seit Beginn der Präsidialdiktatur 1930, dem faktischen Bürgerkrieg 1931/32 und insbesondere die massiven Verbrechen nach der Machtübergabe 1933 werden öffentlich wenig diskutiert, denn es kam ja Schlimmeres. Zwei Punkte werden so ausgeblendet: Der erfolgreiche Kampf gegen die jüdische Emanzipation war erstens nur möglich durch den erfolgreichen Kampf gegen die Vertreter von Rechtsstaatlichkeit. Zweitens setzten die NSDAP und ihre konservativen Unterstützer nach der Reichstagswahl im März 1933 auf gewaltsame Verfolgung und öffentliche Diskriminierung. Das Stummprügeln der Verteidiger von Rechtsstaatlichkeit ging einher mit kaum gebremsten Übergriffen gegen jüdisches Eigentum in aller Öffentlichkeit.

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Demütigung des SPD-Reichstagsabgeordneten und früheren Präsidenden Oldenburgs Bernhardt Kuhnt (1876-1946) in Chemnitz am 9. März 1933 – parallel zu „wilden Boykotten“ gegen die jüdische und „marxistische“ Geschäftswelt (The Indianapolis Times 1933, Nr. 292 v. 17. April, 3)

Am Anfang stand der Kampf gegen die Vertreter erst der KPD, dann, nach dem Reichstagsbrand Ende Februar, auch der SPD. Landes- und dann Stadtregierungen fielen, implodieren, die Zinnen noch vorhandener Rechtsstaatlichkeit wurden mit Zwang geschliffen, vielfach aber auch willig geräumt. Das weltweit verbreitete Bild des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Bernhardt Kuhnt ließ die Richtung erahnen.

Analog in Boffzen: Am 10. März 1933 führten die Boffzener und die Holzmindener Hilfspolizei, größtenteils die lokalen SA-Trupps, eine Razzia bei „fast allen Angehörigen der KPD und einem Teil der SPD“ [23] durch. Sie erbeuteten vermeintliche Schußwaffen, Messer, Munition und auch „verbotene Druckschriften“, verhafteten mehrere Personen, zwei davon wurden nach Holzminden gebracht. Auch die Häuser der Boffzener Juden wurden durchsucht. Bei Guido Lebenbaum und Robert Seligmann fand man Erinnerungsstücke an ihren Militärdienst, die sie nicht mehr länger behalten durften. [24] Den rechtswidrigen Hausdurchsuchungen folgten in Boffzen weitere Streiche: Die Hochzeit von Irmgard Kleeberg wurde im März 1933 von Nationalsozialisten gestört. Rechtsfolgen hatte dies nicht, denn die Polizei war nicht mehr Vertreter des Normen-, sondern des Maßnahmenstaates.

Diese Orgie der Gewalt und des Rechtsbruchs erreichte am 1. April 1933 einen neuerlichen Höhepunkt. Der Tägliche Anzeiger gab in seiner propagandistisch-verlogenen Einseitigkeit einen schlagenden Eindruck des Geschehens in Holzminden: „Der Boykott der jüdischen Geschäfte, der am heutigen Sonnabend ab 10 Uhr im ganzen Reiche als Abwehrkampf gegen die jüdische Greuelpropaganda einsetzt, wurde in Holzminden bereits am gestrigen Tage durchgeführt. Morgens kurz nach 10 Uhr zog eine Kolonne von SS-Leuten im Gänsemarsch durch die Geschäftsstraßen unserer Stadt und verteilte sich zu Doppelposten vor den jüdischen Geschäftshäusern. Die Posten trugen ein weißes Schild umgehängt mit der Aufschrift: ‚Wer beim Juden kauft, kommt an den Pranger!‘ Schon die Aufstellung der Posten wurde von der Bevölkerung mit lebhafter Anteilnahme verfolgt. Später wurden die Schaufenster der jüdischen Geschäftshäuser mit Plakaten beklebt, die die Aufschrift trugen: ‚Deutscher, das Weltjudentum hat Dir den Krieg erklärt – wehr Dich! Kauf‘ nichts beim Juden!‘ Im Verlaufe des Mittags haben dann fast sämtliche jüdischen Geschäfte geschlossen, da die Inhaber wohl einsahen, daß bei derartigen Maßnahmen ‚kein Geschäft mehr zu machen‘ war. […] Die Aufstellung der Posten erfolgte nicht nur vor den Geschäftshäusern, sondern auch vor den Büros und Wohnungen jüdischer Aerzte und Rechtsanwälte. […] Die streng und mit größter Disziplin durchgeführte Boykottaktion hatte viele Menschen auf die Straßen gelockt. Das verschärfte sich noch mehr, als in den Abendstunden vom Martinsplatz aus der angekündigte Demonstrationszug veranstaltet werden sollte. Eine SA-Kapelle spielte einleitend das Horst-Wessel-Lied und danach Militärmärsche. Danach stellten sich die nationalsozialistischen Formationen zum Zuge durch die Straßen der Stadt auf. […] Ueberall in den Straßen stand die Bevölkerung Spalier, während der Zug unter Marschweisen und Gesang vorüberzog. Ueberall wurde ganz augenscheinlich, daß auch die hiesigen Maßnahmen zur Abwehr der ekelhaften Greuel- und Boykottpropaganda der ausländischen Juden begrüßt werden.“ [25]

Auch in Boffzen gab es entsprechende Übergriffe, das Schaufenster der Schlachterei Kleeberg wurde bereits am 27. März 1933 „von Unbekannten“ eingeworfen – ein Fanal, sichtbar für jeden. In einem Ort wie Boffzen gab es keine Anonymität. Anders als in Städten, wo die Schergen Schaufenster, Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien markierten, um den Mitbürger und sein Geschäft als jüdisch zu kennzeichnen, gab es hier kein Rückzugsfeld. Die Gewaltdrohung durchdrang den Alltag, gegen sie schützte keine Polizei.

Das zeigte sich auch in den ersten Beschlüssen des seit April 1933 nationalsozialistisch dominierten Gemeinderates. Er erließ einen Bann gegen den vermeintlich sozialdemokratischen Konsumverein, gegen die vermeintlich jüdischen Warenhäuser, gegen die Geschäfte der Familien Seligmann, Lebenbaum und Kleeberg. Die Gemeinderatsprotokolle lauten:

22. April 1933: „Antrag des Gemeindevorstehers Tappe: Der Gemeinderat wolle beschließen, daß die Gemeinde Boffzen in Zukunft mit dem Konsumverein und mit jüdischen Geschäften keinerlei Geschäfte mehr tätigt. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen.“

15. Mai 1933: „Antrag des Kampfbundleiters für Mittelstand und Gewerbe Korte: Der Gemeinderat wolle beschließen, daß der Gemeindevorsteher die ev[entuelle] Genehmigung zur Neueinrichtung eines Gewerbes nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Kampfbundleiter für M[ittelstand] und G[ewerbe] erteilen darf. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen.

Antrag des Kampfbundleiters Korte: Sämtliche von hiesiger Gemeinde besoldeten Angestellte wie Gemeindevorsteher, Steuereinnehmer, Dorfdiener, Standesbeamte, Trichinenschauer u[nd] a[ndere] mehr werden dringlichst ersucht, bei Konsumvereinen und Warenhäusern ihre Einkäufe zu unterlassen, einschl[ießlich] jüdische Geschäfte. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen; die Betreffenden sollen von dem Beschluß in Kenntnis gesetzt werden.“ [26]

Auch andere, an sich autonome Institutionen des Alltags schalteten sich selbst gleich. In Boffzen etwa die Schule: Lehrer Walter Neumann war ab 1933 SA-Mitglied, Führer des SA-Sturms, NSDAP-Ortsgruppenpropagandaleiter und Gemeinderatsmitglied. [27] Robert Lages, früheres DDP-Mitglied, trat 1933 in die NSDAP und dann in viele Parteiorganisationen ein. [28] Die lokale Volksschule unterrichtete die mehr als zweihundert Kinder seither strikt im Sinne des NS-Regimes. [29]

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Wahlwerbung der Deutschen Christen in Berlin anlässlich der Kirchenwahlen vom 24. Juli 1933 (Bundesarchiv, Bild 183-1985-0109-502)

In Boffzen galt das auch für die evangelisch-lutherische Kirche [30]: Pastor Julius Kellner verkündete hymnisch: „Die Gemeindechronik des Schicksalsjahres 1933 muß als Überschrift den Dank gegen Gott tragen für die wunderbare Errettung und Erneuerung unseres Volkes.“ [31] Die Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 ergaben in Boffzen für die Liste 2 „Deutsche Christen“ 320 Stimmen oder 96 %. [32] Diese „SA-Christi“ war strikt antisemitisch, schwärmte für die „Reinhaltung der deutschen Rasse“ und die Ausrottung des Marxismus. Die lutherischen Jungmänner- und Jungmädchenvereine wurden 1934 in die HJ bzw. BDM eingegliedert. [33] Von dieser Kirche hatten jüdische Familien keine Unterstützung zu erwarten. Aus alledem zog die Familie Lebenbaum als erste für sie schmerzliche Konsequenzen und wanderte im September 1934 nach Palästina aus.

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Die Belegschaft der Georgshütte am 1. Mai 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Gegen die Dynamik der „nationalen Erhebung“, des Vormarsches von Unrecht und Willkür gab es in Boffzen keinen direkten Widerstand. Sozialdemokratie und Gewerkschaften kapitulierten und paktierten. Gewalt und Neuheidentum drangen vor, umzuckert von einer dörflichen Festkultur, bei der fast alle mitmachten. [34] Mai- und Sonnenwendfeiern brachten „Sang und Klang“ in den Ort – doch die Gemeinschaft war brüchig, mochten sich nun auch viele Kommunisten und Sozialdemokraten unwillig und teils auch willig einreihen. Blicken wir auf die Vereine: Walter Kleeberg verließ Ende 1932 aus unbekannten Gründen den Gesangsverein „Brunonia“. 1933 schloss der MTV Boffzen seinen Mitbegründer Hermann Kleeberg aus. Auch der Boffzener Kriegerverein schritt willig mit: 1930 wurden Hermann Kleeberg und Guido Lebenbaum als Mitglied des Boffzener Kriegervereins erwähnt. Robert Seligmann war bereits am 22. Januar 1908 aufgenommen worden, war 1909 bis 1911 und 1913 bis 1916 Kassenführer. Als Schriftführer diente er dem Kriegerverein vom 2. Januar 1919 bis zum 6. Mai 1933. Am 6. Mai 1933 vermerkte das Protokollbuch: „Für den Schriftführer Robert Seligmann wurde der Kamerad Karl Grebe gewählt.“ Am 4. November folgte: „Es wurden vom Kyffhäuserbund bekannt gegeben, daß Juden den Kriegervereinen nicht beitreten dürfen. […] Die Bundesflagge soll in aller Kürze beschafft werden, auch Hakenkreuze.“ [35]

Die Vereine blieben ein wichtiger Bestandteil des geselligen Lebens, des Sports und der Feste Boffzens. Doch sie verloren ihre Autonomie, Vereinskultur und NSDAP-Herrschaft überlappten sich. Hierzu ein Auszug aus dem Täglichen Anzeiger: „Boffzen. Der Heldengedenktag wurde auch in unserer Gemeinde würdig begangen. SA, Hitler-Jugend und Kriegervereine beteiligten sich geschlossen am Gottesdienst. Anschließend fand dann eine Heldengedächtnisfeier am Gefallenendenkmal statt. Der ‚Gemischte Chor‘ und der Gesangverein ‚Germania‘ sangen einleitend ein Lied und dann gedachte Sturmführer Dr. Becker der gefallenen Helden des Krieges und der nationalen Befreiung. SA und Kriegerverein legten einen Kranz nieder. Das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied schlossen die Feierstunde.“ [36]

Die Durchdringung des Boffzener Alltags ging jedoch tiefer. Die Beflaggung der Häuser, die Teilnahme an Sammlungen und Eintopfessen, die Übernahme der vielgestaltigen NS-Parolen geschah aktiv. Man wollte dabei sein, gewöhnte sich an einen Alltag voller Zwang und Gängelung, denn in der Notstandsgemeinde Boffzen hoffte man auf den versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung.

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„Bauernnot ist Volkstod“ als Parole beim Boffzener Fest Mitte der 1930er Jahre (v.l. Karl Dietz, Rudi Sporleder, Heinrich Göbel, Willi Meier, Ernst Volger) (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Täter ohne Konturen

Unsere Erinnerungskultur blickt vorrangig auf die Opfer. Sie gilt den Ausgegrenzten, den Verfolgten. Nachträglich weiß man, auf wessen Seite man „damals“ hätte stehen müssen. Erinnerung setzt jedoch ein breiteres Bild voraus, eines in dem auch Zuschauer und insbesondere Täter ihren Platz haben. Über die genauen Täter-Verhältnisse vor Ort, im „normalen“ Leben, wissen wir allerdings wenig. Insbesondere wenn es sich um Täter in der Verwaltung oder aber der Wirtschaft handelt. Der Landkreis Holzminden lag während der Weltwirtschaftskrise am Boden, profitierte aber vom NS-System, von Aufrüstung und Kriegswirtschaft. Aromen wurden in Großküchen und Wehrmacht benötigt, die Glasindustrie nahm einen neuerlichen Aufschwung, eine Holzzuckerfabrik wurde aus dem Boden gestampft. Das prägte den Alltag, gab der Mehrzahl Zuversicht, förderte das Vertrauen in das Regime.

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Führender NSDAP-Funktionär des Weserberglandes seit 1925 – August Knop (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 180 Hildesheim, Nr. 46631)

Der wichtigste Funktionär der NSDAP im Landkreis Holzminden war der 1903 in Boffzen geborene August Knop. Sohn des wichtigsten Bauunternehmers, studiert, seit 1924 in der völkischen Bewegung aktiv, seit 1925 NSDAP-Mitglied, Agitator und Organisator, anfangs eher von Höxter aus, dann mit Macht von Holzminden. [37] In Boffzen verbindet man seinen Namen mit der Neugründung der Glashütte Noelle & von Campe 1933/34, doch er war auch Teil der Porzellanfabrik in Fürstenberg, brachte in der Holzzuckerfabrik Braunschweiger und Berliner Kapital nach Holzminden, war an vielen Infrastrukturprojekten beteiligt. [38]

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Hundestaffel der Holzmindener NSDAP beim Appell des SA-Sturmbanns III/164 in Holzminden 1932 (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 759)

Holzminden entwickelte sich schon früh zu einem Kraftzentrum der NSDAP und der SA. Die Landespolizeischule war früh auf Linie, im November 1932 errang die NSDAP 44 % der Stimmen. [39] Die SPD, der Reichsbanner, sie waren lange Zeit führend, doch ihre Bedeutung schwand während der Weltwirtschaftskrise, wurde zermahlen im faktischen Bürgerkrieg Anfang der 1930er Jahre, gegen Kommunisten und Nazis.

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Ein ganz normaler Schuhmacher: Willi Hansmann, NSDAP-Mitglied seit 1929 (Giel‘s Militaria, Nr. 165040)

In Boffzen entstand eine gesonderte NSDAP-Ortsgruppe im Oktober 1931. Boffzener waren schon früher Mitglied der NSDAP, August Knop natürlich, sein Bruder Walter Knop, später Reichstagsabgeordneter und Oberlandesgerichtsrat, aber auch der spätere Bürgermeister Wilhelm Korte oder das spätere Gemeinderatsmitglied August Dierkes. [40] Anfangs prägten vor allem Bauern und Handwerker die von Hans Bohnes, dann von Willi Tappe geleitete Ortsgruppe. Doch auch die zwei Söhne des Fabrikbesitzers der Georgshütte, des wichtigsten Arbeitgebers des Ortes, stießen hinzu. Sie machten die NSDAP vor Ort salonfähig.

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Wegbereiter der NS-Zeit: Karl August Becker, NSDAP-Mitglied seit 1. November 1931 (l.); Dr. Georg Wilhelm Becker, NSDAP-Mitglied seit 1. Oktober 1931 (Bundesarchiv Lichterfelde, NSDAP-Zentralkartei R 9361-VIII Kartei / 1450953 (l.); ebd. R 9361-II-31088)

Der Kernort Boffzens, das unmittelbare Umfeld der jüdischen Familien, war ab 1932 nationalsozialistisch geprägt. Im Brückfeld sah das noch anders aus, hier dominierten SPD und nun auch die KPD. Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 erreichte die NSDAP in Boffzen 513 (43,1 %), am 5. März dann 592 Stimmen (49,9%). [41] Das reichte für die vielbeschworene „Macht“, für die Entrechtung aller Gegner, aller Minderheiten.

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Boffzener NSDAP-Mitglieder Mitte der 1930er Jahre (Von l. nach r.: NN, Karl Thiemann, Friedrich Korte, Willi Tappe, Marie Grebe, NN, Guste Henke, Heini Henke; untere Reihe: Otto Kleine, Willi Hansmann) (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

In Boffzen gaben nun Täter wie Bürgermeister Wilhelm Korte den Takt an: Kriegsteilnehmer, Stahlhelmmitglied, dann seit 1928 SA- und NSDAP-Mitglied, ein Tischler mit einem Monatseinkommen von ganzen 100 RM. [42] Wie an anderen Orten auch, wissen wir wenig über diese Menschen. Wir kennen die Namen der führenden NSDAP-Funktionäre in Boffzen, Korte, Willi Tappe, Karl Mener, Heinrich Stapel, Fritz Tofaute, Karl Kempe, Georg Scheerer, Otto Wulf, viele mehr. [43] Wenn wir nachforschen, finden wir einige Personalbögen, ab und an Entnazifizierungsakten, Erinnerungsfetzen. Doch wie soll Erinnerung, eine breite, ehrliche und wohl auch schmerzende Erinnerung möglich sein, wenn man die Täter nur schemenhaft kennt?

Vom sichtbaren zum stillen Boykott

Womit wir zu den „Bystandern“, den Zuschauern, der großen Mehrzahl der Boffzener kommen. Es sind die, die später von Verführung redeten, von den Nöten und Härten der Zeit, von den zerbrochenen Hoffnungen. Die Gründe fanden, dass sie mitmachten, nur ein bisschen, die auf ihr eigenes Leid verwiesen. Zuschauer, die nun zu einem anderen Händler, einem anderen Schlachter wechselten, nicht mehr beim jüdischen Händler kauften. Dieser Kauf hätte mehr als Geld gekostet. Er hätte Konsequenzen haben können – für sie selbst.

Dabei gab es Widerstand in Boffzen. Neun Sektenangehörige, Zeugen Jehovas, ließen sich durch Gewalt in ihrem Umfeld nicht beirren [44] – trotz Verboten und Hausdurchsuchungen. [45] Am 7. Oktober 1934 verfasste die „Gruppe der Zeugen [Jehovas] in B[offzen]“ ein Schreiben an den „Führer“ Adolf Hitler. Der wohl von dem Glasmacher August Pöppe entworfene Brief wertete den Dienst gegenüber Gott höher als den gegenüber dem Staat: „Wir unterbreiten Ihnen folgendes: Daß wir um jeden Preis Gottes Geboten folgen werden, daß wir uns versammeln werden, um sein Wort zu erforschen, daß wir ihn anbeten und ihm dienen werden, wie er geboten hat. Wenn Ihre Regierung oder Regierungsbeamte uns Gewalt antun, weil wir Gott gehorchen, dann wird unser Blut auf Ihrem Haupte sein und Sie werden Gott, dem Allmächtigen Rechenschaft geben müssen.“ [46]

Welch ein Zeugnis von Gottvertrauen, von Bekennermut! Sein eigen Ding machen, den anderen in Frieden leben lassen – das war ein Verbrechen: Die vorrangig aus Glasarbeitern von Noelle & von Campe bestehende Gruppe wurde Anfang Februar 1935 verhaftet, in einem Schnellverfahren in Holzminden zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen in Braunschweig verurteilt, auch die Revision verworfen. Sie kehrten Ende 1935 und Anfang 1936 nach Boffzen zurück, mehrere davon gesundheitlich schwer gezeichnet. Solidarität abseits ihrer Gruppe erfuhren sie damals nicht.

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Familiennachrichten als Normalitätsanker (Israelitisches Familienblatt 34, 1932, Nr. 44, 6; ebd. 35, 1933, Nr. 18, 6; Der Israelit 76, 1935, Nr. 34, 11)

Auch die drei jüdischen Familien praktizieren ihren Glauben weiter, zunehmend privat. Diese kleinen Familienanzeigen zeugen davon. Doch ihr Alltag wurde enger, die Straße gehörte anderen, die Kontaktzonen bröckelten.

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Eindrücke vom „Judenboykott“ in Berlin am 1. April 1933 (Der Kuckuck 5, 1933, Nr. 15, 7)

Den „Judenboykott“ verbindet man gemeinhin mit Aktionen in Großstädten, mit dem 1. April 1933. Dabei vergisst man die am 9. März 1933 beginnende Fülle gewaltsamer Übergriffe nationalsozialistischer Aktivisten. [47] In Braunschweig erfolgte ein „Warenhaussturm“ am 11. März 1933. Die Boykotte sollten weitergehen, die Existenz jüdischer Geschäfte unterminieren. [48]

Boykotte sind ein vielgestaltiges Kampfmittel, sind auch heute beliebt bei Konsumenten mit Haltung. Sie entstanden als Kampfmittel der Land- und Fabrikarbeiter, wurden aber rasch von Antisemiten und Mittelstandsaktivisten übernommen. [49] Während der Weimarer Republik konnte man sich gegen Boykottaufrufe und damit verbundene Schmähungen allerdings wehren. [50] Das änderte sich seit Anfang März 1933 massiv.

In Boffzen betraf das nicht allein die drei jüdischen Geschäfte, von denen die Gemeinde nichts mehr kaufte, von denen die Gemeindebediensteten nichts mehr kaufen sollten. Es galt auch für die lokalen Glashütten – und man möchte fast sagen, ausgerechnet. Die Weltwirtschaftskrise traf die Boffzener Glasindustrie hart. Noelle & von Campe entließ 1931 seine Beschäftigten, der Glasoffen wurde kalt gelegt, die Gesellschaft im Februar 1933 aufgelöst. Die Georgshütte fuhr ihren Betrieb massiv herunter, beschäftigte zeitweilig nur noch 40 Personen. 1931/1932 war man froh, auch an das Warenhaus Hermann Tietz oder aber den Konsumverein München-Sendling liefern zu können. [51] Ihr wichtigster Kunde 1932/33 war die Mannheimer Glasgroßhandlung Hermann Gerngross. [52] Die beiden Söhne des Firmenchefs August Becker hätten sie wohl als „jüdisch“ bezeichnet. Diese Aufträge waren für den Geschäftsbetrieb in der Krise kaum verzichtbar. Doch nach Juni 1933 lieferte die Firma Becker kaum mehr. [53] Sie wusste, was sie tat. Im Entnazifizierungsverfahren betonten Karl August Beckers Rechtsanwälte, „dass der Beschwerdeführer bis zum Jahre 1938 ständig jüdische Geschäfte noch mit Glas beliefert hat“ [54]. Die Analyse ergab für die zweite Hälfte 1938, dass es damals just eine knapp 400 RM teure Lieferung an das noch vom jüdischen Besitzer geführte Münchner Kaufhaus Heinrich Uhlfelder gegeben hatte. [55] Man verkaufte, doch jeder Kauf und Verkauf war rassistisch unterlegt.

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Boykottaufrufe 1932 – umgesetzt auch in Boffzen (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 9 (links oben), 282 (links unten), 328)

Auch die Boffzener Bevölkerung wusste was sie tat: Seit 1933 gab es einen stillen Boykott der jüdischen Händler. 1960 hieß es anlässlich des Entschädigungsverfahrens von Guido Lebenbaum: „Es soll nicht bestritten werden, daß das Kolonialwarengeschäft in früheren Jahren einigen Gewinn abgeworfen hat, und daß es in den letzten Jahren vor und zu Beginn der Verfolgung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen völlig eingestellt werden mußte, weil keine Käufer mehr kamen.“ [56] Es kamen keine Käufer mehr. Das galt für 1933/34: Die Boffzener kauften zunehmend weniger, dann nur noch in Ausnahmefällen bei ihren früher hochgeschätzten jüdischen Händlern. Das galt auch, wenngleich mit Zeitverzögerung, für die Schlachterei von Hermann Kleeberg. Zu dem stillen Boykott, dem Nicht-mehr-kaufen, trat zudem ein passiver Boykott, also das Nicht-mehr-Verkaufen. Ab 1939 durften Kleebergs beispielsweise nicht mehr selbst einkaufen, dankenswerterweise erledigte das ein Junge für sie, wohl Helmut Kues.

Der stille Boykott unterminierte jüdisches Leben im Deutschen Reich und in Boffzen. Er war Teil immer weiterer Diskriminierungen und gewalttätiger Übergriffe nach dem Ende der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung 1935. Er stand im Einklang mit einer europaweiten antisemitischen Politik insbesondere in Osteuropa. [57] Doch dieser diskriminierende Gleichklang sollte 1938 enden: Die Verfolgung der österreichischen Juden gab den Takt vor, die Vertreibung der im Deutschen Reich lebenden staatenlosen Juden nach Polen die Richtung. Die Gewaltorgie der Novemberpogrome machte dann weltweit deutlich, dass Juden in Deutschland Freiwild waren. Ruth Kleeberg, die zwischenzeitlich in Peine gearbeitet hatte, emigrierte bereits im März 1938 in die USA. [58]

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Verhaftete Juden in Baden-Baden am 9. November 1938 (Yad Vashem, 102G01)

Der Bruch 1938/39

Die Novemberpogrome 1938 währten mehrere Tage, entstanden vor dem 9. November dezentral, wurden erst an diesem Tage zu einem nationalen Pogrom kanalisiert. Man denkt an SA und SS, doch vergisst man die vielen normalen Täter, insbesondere die vielen Jugendlichen. Das lange gängige Bild der „Kristallnacht“ war von den Zerstörungen zahlloser Geschäften und von mehr als 1400 Synagogen geprägt, doch daneben dominierten Plünderungen und Diebstahl, Vergewaltigungen und Morde. 31.000 jüdische Männer wurden bis zum 16. November inhaftiert und in Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen interniert. 300 Juden wurden in den Selbstmord gedrängt, etwa 400 erschlagen, erschossen, kamen in den Konzentrationslagern ums Leben. [59] Die drangsalierten Juden mussten die Schäden auf eigene Kosten beseitigen, hatten ein Fünftel ihres Vermögens abzugeben, mussten ab Jahresende ihre Geschäfte und ihren Grundbesitz verkaufen, konnten über Wertpapiere und auch private Wertgegenstände nicht mehr frei verfügen. Den deutschen Juden blieb nur noch die Wahl zwischen Auswanderung und perspektivloser Armut.

Der folgende Bericht über das Judenpogrom in Holzminden ist Teil der propagandistischen Untertreibung der NS-Propaganda: „Die von den Juden immer wieder genährte, in dem Hetzfeldzug der letzten Jahre gegen alle Deutsche gesteigerte Empörung des gesamten deutschen Volkes gegen das Judentum ist nach der verabscheuungswürdigen Mordtat des Juden Grünspan zum Ausbruch gekommen. Wir berichteten bereits gestern, daß sich in Holzminden diese wohlmotivierte Entrüstung in einem spontanen Ausbruch im Anschluß an die Kundgebung des 9. November in der Feierabendhalle Luft gemacht hat. Aehnlich wie im Reich sind dabei die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte in Trümmer gegangen, ebenso wie der Krimskrams in dem Judentempel auf dem Marktplatz in Flammen aufgegangen ist. Wie im ganzen Reich ist hierbei übrigens keinem einzigen Juden ein Haar gekrümmt worden. Wir haben bereits gestern berichtet, daß bei der Inhaftierung von Juden in ihren Wohnungen zwecks Schutzes gegen die berechtigte demonstrativ bewiesene Abscheu der Bevölkerung vor den Juden Beweise für das illegale Verhalten des Judentums gefunden wurden, u.a. Waffen in Holzminden und Boffzen (Gewehre) und Abtreibungsgeräte, wie auch Propaganda- und Aufklärungsmaterial für die Abtreibung im Kreis gefunden sein soll. In der Kreisstadt wie im Kreis sind bei diesen Zwischenfällen, die diszipliniert verliefen, Inneneinrichtungen jüdischer Geschäfte, Fensterscheiben zerstört worden. Das Judentum hat damit eine Warnung erhalten. Das deutsche Volk wird sich in Zukunft die fortgesetzte verbrecherische Tätigkeit Judas keinesfalls mehr gefallen lassen.“ [60]

In Boffzen hatte man Hermann Kleeberg und seinem Sohn bereits im Frühjahr 1938 nicht entrichtete Steuerrückstände von etwa 200 RM vorgeworfen, Walter Kleeberg wurde deswegen in Holzminden zwei Monate in Untersuchungshaft genommen. Der NS-Staat begnügte sich schließlich mit einer außergerichtlichen Einigung, mit einer Strafe von 5.100 RM. [61]

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Nächtlicher Überfall auf jüdische Bewohner in Nürnberg oder Fürth am 9. November 1938 (https://twitter.com/ElishevaAvital/status/1060914919258947584/photo/3)

Den Rest erledigte staatliche und private Gewalt: Am frühen Morgen des 10. November wurden Hermann und Walter Kleeberg sowie Robert und Arnold Seligmann verhaftet und am nächsten Tag nach Buchenwald gebracht. In Boffzen zertrümmerte ein unbenannter Mob die Schlachterei, das Kolonialwarengeschäft, auch Teile der Wohnungen. Kleebergs hatten ihr Geschäft schon im Juni 1938 eingestellt, Seligmanns folgten nun. Hören Sie seinen Bericht an Landrat August Knop vom 11. Januar 1939: „Auf Ihr Schreiben vom 9. Januar 1939 teile ich Ihnen er[gebends] mit, daß mein Fellhandel und Kolonialwarengeschäft seit dem 12. November 1938 durch den Herrn Bürgermeister (Boffzen) geschlossen und gleichzeitig von meiner Schwiegertochter abgemeldet worden ist. Derselben sind für die Felle RM 22,– ausgezahlt worden. Dieselben sind bereits am 10. November 1938 abgeholt worden. Betr. Kolonialwaren kann ich nur melden, daß mir alle Waren am 10. November 1938 beschlagnahmt und mitgenommen sind, ebenso meine Bücher. In meinem Laden befindet sich nichts mehr. Ich bemerke noch, daß ich ohne Verdienst bin und irgendwelche Kosten für einen Treuhändler nicht aufbringen kann.“ [62]

Die beiden Alten waren aufgrund ihres Kriegsdienstes Ende 1938 aus dem Konzentrationslager entlassen worden, die beiden Söhne folgten nach sechsmonatiger Haft im April 1939. Sie standen vor dem wirtschaftlichen Ruin. Kleebergs verkauften erst ihre Viehweide, dann ihr Haus. [63] Durch Intervention des Bürgermeisters Wilhelm Korte und des Finanzamtes Holzminden wurden die Preise gedrückt, der Ertrag diente nicht zuletzt zur Erstattung der Geldstrafe wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung und der den Juden auferlegten Sondersteuer. Der geringe Restwert kam auf ein Sperrkonto, war nur noch begrenzt verfügbar. Ab August hatten Frieda und Hermann Kleeberg Miete zu zahlen, im Dezember wäre ihr Bleiberecht abgelaufen. In dieser Drangsal holte sie ihr Sohn Erich im Oktober 1939 in seine 2-Zimmer-Wohnung nach Hannover. Sie verkauften Wagen und Pferde, einige Möbel und Reste des Schlachtereiinventars in Boffzen, verließen das Dorf mit Schlafzimmer, Eßzimmer, Küche und Kleidung. [64] Beim Abtransport erhielt Erich noch Hilfe von Dorfbewohnern, wohl der Familie Hinze, die Teile des Mobiliars zeitweilig bei sich unterstellten. Es war eine Geste der Menschlichkeit, doch sie blieb eine Ausnahme.

Hier könnten wir enden, denn 1939 endete jüdisches Leben in Boffzen. Doch so einfach können wir es uns nicht machen. Martha und Walter Kleeberg zogen nach seiner KZ-Entlassung in ihren Geburtsort Laer. Dort trennte sich das Ehepaar, Walter gelang die Emigration nach Großbritannien. Seligmanns erreichten, wie 20.000 weitere deutsche Juden, das international verwaltete Shanghai, überlebten die japanische Besetzung, fanden schließlich eine neue Heimat in den USA, die 1938/39 nicht bereit gewesen waren, ihre Zuwanderungskontingente zu erhöhen. Ihren Boffzener Besitz hatten sie zuvor deutlich unter Wert verkaufen müssen. [65]

23_Stadtarchiv Münster, Bestand Stadtregistratur Fach 36 Nr. 18f_Marta-Kleeberg_Deportationsliste_Riga

Deportation von Martha Kleeberg am 13. Dezember 1941 von Münster nach Riga (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur, Fach 36, Nr. 18f)

Martha Kleeberg, Walters Frau, wurde am 13. Dezember 1941 von Münster aus über Osnabrück und Bielefeld nach Riga deportiert. [66] Frieda und Hermann Kleeberg folgten in einem weiteren der jeweils etwa eintausend Menschen umfassenden Deportationszüge am 15. Dezember 1941 in ungeheizten Transportwaggons nach Riga. Zuvor waren sie in ein Hannoveraner „Judenhaus“ verfrachtet worden. Ihre Emigration in die USA stand bevor, doch am 23. Oktober wurde die Ausreise von Juden aus dem Deutschen Reich untersagt. [67]

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Deportation von Frieda und Hermann Kleeberg am 15. Dezember 1941 von Hannover nach Riga (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover Hann. 210 Acc. 160/98, Nr. 7)

Erich Kleeberg war an diesem Vorweihnachtstag am Hannoveraner Fischerbahnhof, geleitete Mitglieder der jüdischen Gemeinde in die Deportationszüge. Er ahnte den folgenden Mord an seinen Eltern, seiner Schwägerin. Kein Grab birgt ihre Körper, kein Todesdatum ist erhalten. Erich Kleeberg blieb durch seine Ehe mit einer „christlichen“ Frau von einer unmittelbaren Deportation ausgenommen. Er wurde im November 1944 von der Gestapo verhaftet, in Ahlem und Neuengamme interniert, gelangte bei einem der vielen Todestransporte schließlich nach Sandbostel. Er erlebte die Befreiung dieses Lagers, verstarb jedoch Anfang Mai 1945 an den Folgen von Typhus und Torturen. Im Januar hatte er seiner Frau und seiner Tochter noch eine in der Schmutzwäsche herausgeschmuggelte Nachricht geschrieben: „Die Sorge für euch jetzt und wer weiß, wie das Schicksal will, die Sorge für Euch in Zukunft vielleicht nicht mehr sorgen zu dürfen, oder gar nicht mehr zu können, ist meine größte Sorge. Was wird aus Euch, meine l[ie]b[en] beiden Kleinen werden wenn ich nicht mehr bin? Zu oft quälen mich die Gedanken. Zu gern möchte ich für Euch sorgen und Eure Lasten tragen. Oft sitze ich am Tag und in der Nacht an diesen Gedanken.“ [68]

Nach dem erzwungenen Verlust: Kriegs- und Nachkriegszeit

In Boffzen dürfte all das kaum jemanden mehr interessiert haben. Die Juden waren fort aus Boffzen, ihr Besitz verkauft und teils im Dorfe aufgeteilt. Die NSDAP-Ortsgruppe Boffzen sollte bald 450 Mitglieder betragen. [69] Hunderte Boffzener wurden seit 1939 zu den Waffen gerufen, folgten willig, waren Teil eines europäischen und globalen Hegemonial- und Vernichtungskrieges. Über ihre Taten ist wenig bekannt. Mehr als hundert von ihnen starben für „Führer und Vaterland“, für nichts und wieder nichts. Nein, falsch! Denn die Wehrmacht eroberte den Raum, in dem kein anderes Gesetz galt als das des Stärkeren. Auch Soldaten ermöglichten den Holocaust, bei dem der Anteil nicht-deutscher jüdischer Opfer bei 97 % lag. [70]

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Das 1938 erbaute Landjahrlager Boffzen – heute Gemeindeverwaltung, Polizei und Archiv (Postkarte, Privatbesitz)

Wirtschaftlich war auch die Kriegszeit eine des wirtschaftlichen Aufschwunges. Beide Boffzener Glashütten profitierten von Aufrüstung und Kriegsproduktion, wurden vor und während des Krieges beträchtlich modernisiert. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit in den 1950er Jahre gründete auf diesen Investitionen. Die Menschenlücken des Krieges wurden teils durch Zwangsarbeiter geschlossen. In Boffzen waren es 1943 mehr als einhundert [71], die Zahl stieg dann weiter an. [72] Insgesamt profitierten in Boffzen mehrere Dutzend Betriebe, Bauernhöfe und Haushalte von zwangspflichteten Arbeitskräften aus West- und Osteuropa. Im Landkreis Holzminden waren es über zehntausend.

Es ist fast ausgeschlossen, dass damals selbstkritische Rückfragen die Runde machten, wie sie etwa der 1945 ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer in seinem im Gefängnis Tegel verfassten Gedicht „Nächtliche Stimmen“ 1944 niedergeschrieben hat. Doch sie bringen vieles nicht Gesagtes an unsere Ohren: „Von Menschen gehetzt und gejagt, / wehrlos gemacht und verklagt, / unerträglicher Lasten Träger, / sind wir doch die Verkläger. / Wir verklagen, die uns in Sünde stießen, / die uns mitschuldig werden ließen, / die uns zu Zeugen des Unrechts machten, / um den Mitschuldigen zu verachten. / Unser Auge musste Frevel erblicken, / um uns in tiefe Schuld zu verstricken; / dann verschlossen sie uns den Mund, / wir wurden zum stummen Hund. / Wir lernten es, billig zu lügen, / Dem offenen Unrecht uns zu fügen. / Geschah dem Wehrlosen Gewalt / so blieb unser Auge kalt. / Und was uns im Herzen gebrannt, / blieb verschwiegen und ungenannt. / Wir dämpften das hitzige Blut / und zertraten die innere Glut. / Was Menschen einst heilig gebunden / das wurde zerfetzt und geschunden, / verraten Freundschaft und Treue, / verlacht waren Tränen und Reue. / Wir Söhne frommer Geschlechter, / einst des Rechts und der Wahrheit Verfechter, / wurden Gottes- und Menschenverächter / unter der Hölle Gelächter.“ [73]

Während des Krieges wandelte sich der Ort beträchtlich. 1946 hatte Boffzen 3.500 Einwohner, 1.500 mehr als 1939, stabilisierte sich dann bei etwa 3000. Kriegs- und Nachkriegszeit waren – Juden und andere Missliebige ausgenommen – Zeiten der Volks- und Notgemeinschaft. Das zu Beginn der NS-Zeit noch politisch und räumlich polarisierte Boffzen wuchs nun zusammen. War das „Dorf“ während der NS-Zeit immer auch Kulisse für die Ausgrenzung und Verfolgung, immer auch Tat- und Zuschauergemeinschaft, so mutierte das „Dorf“ nach 1945 auch zu einer Schweigegemeinschaft. Das schloss paradoxerweise auch die politisch zumeist dominierenden Sozialdemokraten mit ein, bei denen, wie bei anderen Parteien, auch ehemalige NS-Anhänger eine neue Heimstatt fanden.

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Unbedachte Wortwahl: Festwagen der Glashütte Noelle & von Campe beim Ortsjubiläum 1956 in Fortführung der NS-Parolen „Ehre die Arbeit und achte den Arbeiter“ (Maifeiertag 1933) resp. „Ehre die Arbeit – achte das Brot“ (Erntedank 1937) (Postkarte, Privatbesitz)

Die Verbrechen der NS-Zeit, des Krieges, sie wurden öffentlich nicht benannt, nicht erinnert. [74] In der Chronik von 1100 Jahren Boffzen wurde die NS-Zeit ausgeblendet, die jüdische Ortsgeschichte ignoriert. Bürgermeister Friedrich Knop und Gemeindedirektor Friedrich Böker beschworen im Vorwort „den alten Geist unseres Dorfes“ [75]. Verfasser dieser öffentlichen Erinnerungsschrift war der Lehrer Otto Ahrens, zuvor ein treuer Diener des NS-Regimes, 1945 von der Militärregierung entlassen, 1946 vom sozialdemokratisch dominierten Gemeinderat mit einer politisch tragbaren Bescheinigung versehen. [76]

Das galt in noch größerem Maße für die vielen, das Dorfgeschehen prägenden Nationalsozialisten. Die Militär-Regierung hatte anfangs zumindest einige Maßregeln erlassen, etwa gegen den Glashüttenbesitzer Karl August Becker. Sie endeten rasch. Die Entschädigungen der Verfolgten nach dem 1956 erlassenen Bundesentschädigungsgesetz kamen dagegen kaum voran. [77] Die Verfahren erst der Familie Lebenbaum, dann der Erbengemeinschaft Kleeberg zogen sich über viele Jahre hin, kamen erst Mitte der 1960er Jahre zu einem Abschluss. [78] Alle Angaben, alle Ansprüche wurden vor Ort penibel kontrolliert, vor allem aber nur schleppend bearbeitet. Im Entschädigungsfall Lebenbaum erfolgte auf ein Schreiben im Dezember 1959 fast vier Monate keine Antwort. [79]

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Schreiben des Regierungspräsidenten an die Gemeinde Boffzen vom 8. März 1960 zum Entschädigungsantrag des 89-jährigen Guido Lebenbaum (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“)

All dies erfolgte nach den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958, im Umfeld des Eichmann-Prozesses 1961, der 1963 einsetzenden Frankfurter Auschwitzprozesse. Selbst eine einfache Anfrage der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem über die Abmeldedaten wurde von der Gemeinde 1961 zuerst einmal nicht beantwortet. [80]

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1963 erstellte Liste der „Juden in der Gemeinde Boffzen“ – mit realen und später ergänzten Umzugsorten/-ländern (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“)

Für die Gemeindeverwaltung war der erzwungene Verlust Anlass für Arbeit und komplizierte Nachforschungen. In einem Schreiben an das Hannoveraner Landesrabbinat vom 13. Februar 1967 brachte Gemeindedirektor Friedrich Hansmann das Geschehen lapidar und grußlos auf den Punkt: „In der hiesigen Gemeinde waren bis zur Vertreibung der Juden 3 jüdische Familien ansässig. Der Judenfriedhof wurde nach dem Krieg aufgeräumt und wieder in Ordnung gebracht. Zur Zeit leben keine Juden in der Gemeinde Boffzen.“ [81] Erst auf nochmalige Rückfrage gab er weitere Informationen heraus, weniger aber als in obiger Liste. [82] Juden und ihre Rückfragen waren lästig, störten die Stille der Schweigegemeinschaft.

Zu dieser Zeit gab es allerdings schon private Kontakte: Ruth Gröne besuchte 1966 erstmals wieder das Haus ihrer Großeltern. [83] Doch erst unter Gemeindedirektor Ulrich Ammermann und Bürgermeisterin Marlis Loges begann in den 1980er Jahren ein auch öffentliches Interesse an der NS-Geschichte der Gemeinde, an dem erzwungenen Verlust der jüdischen Nachbarn.

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Frieda Volger (l.) trifft ihre frühere Mitschülerin Ruth Kolb, geb. Kleeberg, 1989 in Boffzen (Foto: Ruth Gröne)

Weitere Aufwendungen für den jüdischen Friedhof, offizielle Besuche von Walter Clay, geb. Kleeberg und Ruth Kolb, geb. Kleeberg, auch ein Gedenkstein folgten. Die lokalen Vereine, insbesondere der MTV und der Gesangsverein Brunonia, waren Teil all dessen. Auch die heutige Gedenkveranstaltung steht in dieser Tradition – und ich danke hierfür ausdrücklich.

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Gedenkstein der Gemeinde Boffzen von 2006 vor dem ehemaligen Landjahrlager, umrahmt mit Platten aus dem Toreingang zu Hermann Kleebergs Innenhof (Foto: Uwe Spiekermann)

Warum sich erinnern?

Können wir aus alledem etwas lernen? Als Historiker bin ich notorisch skeptisch. Krieg folgt auf Krieg, die Reden vom „Nie wieder“ ebben ab. Sieg tönt es, Kompromisse werden abgelehnt. Westliche gegen östliche Werte heißt es, wo doch mehr als die Hälfte der deutschen Juden Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion sind. Die Geschichte des Antisemitismus ist eine der steten Wiederkehr, der andauernden Gewalt und Vernichtungsdrohung. „Nie wieder“ tönt es, doch angesichts der Relativierungen antisemitischer Kunstwerke auf der diesjährigen Documenta, angesichts vielfach folgenloser Übergriffe auf Menschen mit Kippa und Davidstern, angesichts einer in breiten Bevölkerungsteilen hippen Israelkritik inklusive Boykottaufrufen reichen einfache Rückfragen nicht aus. Große Teile der Erinnerungskultur an den Holocaust dienen nicht der schmerzenden, der selbstkritischen Erinnerung, sondern dem wohligen Bewusstsein, nun endlich auf der richtigen Seite zu stehen. [84] Und ich kann Ihnen meine Erfahrungen hier in Boffzen nicht ersparen, wo die beiden Geschäftsführer des wichtigsten Arbeitgebers Noelle + von Campe eine an sich verbindliche Zusage an den Freundeskreis Glas schnöde brachen, als es um die Nennung der Herkunftsländer der von der Firma beschäftigen Zwangsarbeiter auf erinnernden Glasstelen vor ihrem Haupthaus ging – und zwar mit dem abstrusen Verweis auf die Befindlichkeiten möglicher Kunden aus Israel. Er wurde just in diesem Raum später nochmals wiederholt.

Skepsis ist angebracht, doch im Alltag geht es um praktisches Tun, um kleine Verbesserungen im überschaubaren Rahmen. Jean Goldenbaum, der diese Veranstaltung mit seiner Musik bereichert, bemüht sich von Neuhaus aus um die Revitalisierung jüdischen Lebens im Solling, im Landkreis Holzminden. Er kann sicher noch Unterstützung gebrauchen. Ruth Gröne hat immer wieder deutlich gemacht, dass Erinnern etwas anderes ist als folgenloses historisches Wissen. Es geht um die Aufgaben des Tages, des bürgerschaftlichen Miteinanders. Es geht – unausgesprochen und doch klar – um den heutigen Umgang mit Nachbarn, mit Menschen, die anders sind, nicht Teil der Mehrzahl, des konturenlosen „Dorfes“ oder gar des immer auch ausgrenzenden wohligen „Wir“.

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Familie Kleeberg, Boffzen 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Persönlich blicke ich abermals auf das Bild der Familie Kleeberg in ihrem Boffzener Innenhof: Ein kleines Kind im Kreis seiner Familie. Es ist Ruth Gröne, gewiss. Doch ich habe ähnliche Bilder vor Augen. Schauen Sie auf dieses Bild – und blicken Sie auf Sandra und Christian, auf Anna und Jan, auf Mia und Noah, auf die Lieben, für die Sie Sorge tragen. Und denken Sie vielleicht auch an Mohammed und Mara, an Wolodymyr und Wladimir. Ja, Träumen ist erlaubt, ist wichtig.

Erinnern aber erfordert mehr als Empathie mit den Opfern, als den Schutz des Eigenen. Die Boffzener haben die Last der Täter zu tragen, auch die der Zuschauer. Es gab viele nachvollziehbare Gründe, hier in Boffzen während der NS-Zeit mitzumachen, den jüdischen Nachbarn nicht beizustehen, sich abzuwenden, sich um seine eigenen Dinge zu kümmern. Zweifeln Sie bitte an derartigen Gründen, beharrlich und aus Prinzip. Und tragen sie diese Zweifel nicht nur im Herzen, sondern hinaus in ihren Alltag. Dann kann Erinnerung an einen erzwungenen Verlust vielleicht doch Frucht tragen.

Uwe Spiekermann, 19. November 2022

Dieser in der Manuskriptfassung belassene Vortrag wurde am 19. November 2022 bei einer von der Gemeinde Boffzen veranstalteten Gedenkveranstaltung gehalten. Mehrere Fotos wurden mir von Ruth Gröne zur Verfügung gestellt, wofür ich herzlich danke. Stefanie Waske und Hans Weike unterstützten dankenswerterweise die Sichtung der Quellen, Hilko Linnemann, Stefanie Waske, Walter Waske, Anja Schade und Ruth Gröne lasen den Text gegen und halfen Fehler zu tilgen. Die im Vortragstext enthaltenen Zeitdokumente wurden während der Veranstaltung von Manfred Bues, Hilko Linnemann, Marlies Linnemann, Manuela Püttcher und Stefanie Waske vorgetragen. Besonderer Dank für die Planung und Durchführung gilt Walter Waske.

Quellen- und Literaturhinweise

[1] Instruktiv hierzu Zygmunt Bauman, The Duty to Remember – But What? Afterword to the 2000 Edition, in: Ders., Modernity and the Holocaust, Ithaca und New York 2000, 222-250, 266-267; Sebastian Conrad, Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert, Merkur 75, 2021, 5-17
[2] Anja Schade, Sachor! – Erinnere Dich! Aus dem Leben der jüdischen Hannoveranerin Ruth Gröne, Hannover 2021.
[3] Landkreis Holzminden, Kreisarchiv, Bestand 1010, Nr. 232, Namentliches Verzeichnis der Juden.
[4] Bettina Wegner, Traurig bin ich sowieso. Lieder und Gedichte, Reinbek b. Hamburg 1982, 66.
[5] Ulrich Angermann (Hg.), Chronik der Gemeinde Boffzen, o.O. 2006; Fritz Ostkämper, Die Familien Kleeberg in Boffzen und Ameluxen (2017) (Die Familien Kleeberg in Boffzen und Amelunxen | Forum Jacob Pins Höxter (jacob-pins.de)).
[6] Hierzu – und auch für viele weitere Aussagen – die grundlegende Arbeit von Klaus Kieckbusch, Jüdisches Leben in Boffzen von 1620 bis 1945, Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 24, 2006, 45-140.
[7] Gustav Samuel, Die Namensgebung der westfälischen Landjudenschaft von 1808, Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 6, 1936, 47-51, hier 49-50.
[8] Hans-Heinrich Ebeling, Die Juden in Braunschweig. Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen der Jüdischen Gemeinde bis zur Emanzipation (1282-1848), Braunschweig 1987.
[9] Zu den Schwierigkeiten der Gemeindebildung und des Betraumes s. Kieckbusch, 2006, 89-94.
[10] Vgl. hierzu die allerdings nicht unumstrittenen Argumente in Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933, Frankfurt a.M. 2012, insb., 37-54, 93-96.
[11] Die in Boffzen und Höxter ansässige Firma beschäftigte 1928 80 bis 100 Personen (Volkswacht 1928, Nr. 168 v. 20. Juli, 8; Großfeuer in Boffzen, Westfälische Neueste Nachrichten 1928, Nr. 166 v. 18. Juli, 7). Zum Ortsbild s. Matthias Seeliger, Boffzen. Alte Häuser erzählen, Horb a.N. 1990.
[12] Uwe Spiekermann und Stefanie Waske, Wagemut und Kapital – Die Anfänge der Boffzener Glasindustrie 1866-1874 (2020) (https://glas-in-boffzen.com/2020/11/06/wagemut-und-kapitalmangel-die-anfange-der-boffzener-glasindustrie-1866-1874/), Uwe Spiekermann, Die Boffzener Glasindustrie offiziell – Auszüge aus dem Deutschen Reichsanzeiger 1874-1944 (https://glas-in-boffzen.com/2021/03/03/die-boffzener-glasindustrie-offiziell-auszuge-aus-dem-deutschen-reichsanzeiger-1874-1944/).
[13] Schade, 2021, 28-29.
[14] Einwohner-Adreßbuch des Kreises und der Stadt Holzminden, Ausgabe 1929/30, Stadtarchiv Holzminden, 4/E/1822.
[15] Schade, 2021, 17.
[16] Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 14. Dezember 1959, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[17] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Böker an das Landgericht Hannover, Entschädigungskammer v. 6. Juli 1963, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“. Vgl. auch Schreiben von Detlev Bronisch-Holtze an die Entschädigungskammer des Landgerichts Hannover v. 25. April 1963, Ebd.
[18] Chronik des Gemischten Chors Brunonia, Archiv der Samtgemeinde Boffzen.
[19] Schade, 2021, 23.
[20] Fritz Ostkämper, Die Häute- und Fellhändler Lebenbaum in Höxter und die Familie Lebenbaum in Boffzen (2017) (www.jacob-pins.de/?article_id=394&clang=0).
[21] Protokollbuch des Kriegervereins, 1900-1954.
[22] Schade, 2021, 18. Derartige Umgangsformen wurden reichsweit üblich, waren Teil eines seit dem Kaiserreich akuten antisemitisch grundierten Umgangs zwischen bäuerlicher Bevölkerung und jüdischen Viehhändlern, vgl. Stefanie Fischer, Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 1919-1939, Göttingen 2014; Werner Teuber, Jüdische Viehhändler in Ostfriesland und im nördlichen Emsland 1871-1942, Cloppenburg 1995.
[23] Täglicher Anzeiger Holzminden 1933, Ausgabe vom 13. März (auch für das folgende Zitat).
[24] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 130 Neu 3 Nr. 377.
[25] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[26] Archiv der Gemeinde Boffzen, Bestand A, Nr. 19 (alle drei Zeitate).
[27] Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 4 Nds. Zg. 2019/85 Nr. 75.
[28] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, 180 Hildesheim Nr. 13011.
[29] Davon findet sich nichts in Christina Becker, Die Boffzener Schule, in: Ammermann (Hg.), 2006, 180-186.
[30] Ein Aufarbeitung der in Boffzen zumindest bis 1937 im Gleichschritt mit der NSDAP agierenden evangelisch-lutherischen Gemeinde fehlt. In Christina Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, in: Ammermann (Hg.), 2006, 137-153, hier 137-146 findet sich hierzu leider nichts.
[31] Evangelische Kirchengemeinde Boffzen, Chronik.
[32] Täglicher Anzeiger Holzminden 1933, Ausg. v. 24. Juli. Zum Hintergrund s. Dietrich Kuessner (Hg.), Kirche und Nationalsozialismus in Braunschweig, Braunschweig 1980.
[33] https://kirchengemeindelexikon.de/einzelgemeinde/boffzen/.
[34] Täglicher Anzeiger 1933, Ausg. v. 4. Mai; ebd., Ausg. v. 25. Juni (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45).
[35] Protokollbuch des Kriegervereins, 1900-1954.
[36] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[37] Volkswacht 1924, Nr. 118 v. 21. Mai, 8; zur Karriere vgl. Gauleiterstellvertreter Knop im Amt, Sollinger Nachrichten 1941, Nr. 109 v. 12. Mai, 5.
[38] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 Neu 13 Nr. 3930.
[39] Vgl. Christoph Reichardt und Wolfgang Schäfer, Nationalsozialismus im Weserbergland. Aufstieg und Herrschaft 1921 bis 1936, Holzminden 2016; Klaus Kieckbusch, Von Juden und Christen in Holzminden 1557-1945. Ein Geschichts- und Gedenkbuch, Holzminden 1998. Zum benachbarten Höxter s. Ernst Würzburger, Höxter: Verdrängte Geschichte. Zur Geschichte des Nationalsozialismus einer ostwestfälischen Kreisstadt, durchgesehene u. aktualisierte Neuausgabe, Holzminden 2014, 35-42.
[40] Stadtarchiv Hannover, 310 I A 61 I (auch für die folgenden Angaben).
[41] Täglicher Anzeiger 1933, Ausgabe vom 6. März. SPD (41,9 %) , KPD (12,9 %) , Sonstige (2,0 %) (November 1932); SPD (36,1 %), KPD (11,0 %), Sonstige (3,0 %) (1933).
[42] Niedersächsisches Landesarchiv Hannover R 9361 R 9361-III-568378.
[43] Adreßbuch der Gemeinden des Landes Braunschweig, 7. Auflage, 1938, V/9.
[44] Klaus Kieckbusch, Außerhalb der „Volksgemeinschaft“. Formen der Verfolgung während des Nationalsozialismus im Kreis Holzminden, Holzminden 2020, 163-168.
[45] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 200866; ebd. , Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 204185.
[46] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 204185.
[47] Hierzu detailliert Bundesarchiv Lichterfelde DAF NS 5-16398, Bd. 4 (Warenhäuser-Einheitspreisgeschäfte 1933); ebd., Reichswirtschaftministerium R 3101 13860 (Judenboykott, Tumultschäden 1933).
[48] Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, 2. Aufl., Göttingen 2012; Zur internationalen Diskussion vgl. Tomás Jiránek, Zbynek Bydra und Blanka Zubáková, Zidovsky bojkot nacistického Nemeck 1933-1941 [Der jüdische Boykott Nazi-Deutschlands 1933-1941], Pardubice 2020.
[49] Umfassend hierzu Peter Longerich, Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte, Bonn 2021, insb. 205-266.
[50] Vgl. etwa Hans Lazarus, In erfolgreichem Kampf gegen den Boykott, C.V.-Zeitung 10, 1931, 396.
[51] Archiv Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., Lieferbuch 1931-1935, 3, 50, 55, 86.
[52] Die 1886 gegründete, später in eine GmbH überführte Firma Hermann Gerngross wurde im Gefolge der Reichspogromnacht aufgelöst (Deutscher Reichsanzeiger 1886, Nr. 299 v. 20. Dezember, 9; ebd. 1939, Nr. 12 v. 14. Januar, 8).
[53] Archiv Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., 100, 118, 144, 165, 167, 168, 183, 220, 312, 341.
[54] Schreiben von Hattenhauer und Botterbusch an den Entnazifizierungsausschuss Holzminden v. 18. August 1947, Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 171 Hildesheim, Nr. 44787.
[55] Die Lieferung am 1. Juli 1938 umfasste Becher im Wert von 392,98 RM (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., Lieferbuch 1938-1950, 3). Uhlfelder wurde kurz darauf „arisiert“, die Firma 1939 dann aufgelöst (Julia Schmideder, Das Kaufhaus Uhlfelder, in: Angelika Baumann und Andreas Heusler (Hg.), München arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, 127-175).
[56] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Böker vom 15. März 1960 an den Regierungspräsidenten in Hannover, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[57] Bernard Wasserstein, On the Eve. The Jews of Europe Before the Second World War, New York 2012.
[58] Kieckbusch, 2006, 125.
[59] Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011, insb. 12-16.
[60] Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[61] Kieckbusch, 2006, 117-118.
[62] Landkreis Holzminden: „Abwicklung der jüdischen Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe“.
[63] Das Folgende nach Kieckbusch, 2006, 122-124.
[64] Schreiben des Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 31. Mai 1961, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[65] Kreisarchiv Holzminden, Bestand 1010, Nr. 199.
[66] Vgl. zu den Deportationen Riga. Deportationen, Tatorte, Erinnerungskultur, o.O. o.J. (2020).
[67] Schade, 2021, 57. Vgl. zur Situation in Hannover Ruth Herskovits-Gutmann, Auswanderung vorläufig nicht möglich. Die Geschichte der Familie Herskovits aus Hannover, Göttingen 2002, insb. 93-104 sowie zu den Schwierigkeiten der Emigration Armin Schmidt und Renate Schmidt, Im Labyrinth der Paragraphen. Die Geschichte einer gescheiterten Emigration, durchges. Neuausgabe Frankfurt a.M. 2002.
[68] Schade, 2021, 84.
[69] Notiz von H. Riefkuhle an Bürgermeister Ernst Bues vom 27. Mai 1945 (Landkreis Holzminden, Kassenverwalter Boffzen). Die Ortsgruppe Boffzen bestand aus den Zellen Boffzen, Fürstenberg, Derental, Meinbrexen und Neuhaus Fohlenplacken.
[70] Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, Frankfurt a.M. 2017.
[71] ITS Arolsen, Nr. 117.
[72] Betriebsüberprüfung der Firma G. Becker & Co. v. 10. Juni 1943, Erfüllungsmeldung v. 7. Juni 1944, Erfüllungsmeldung vom 6. Februar 1945; Betriebsüberprüfung der Firma Noelle & von Campe v. 10. Juni 1943, Erfüllungsmeldung vom 8. Februar 1945 (alle Bundesarchiv Lichterfelde, R 13-X-193).
[73] Dietrich Bonhoeffer, Nächtliche Stimmen in Tegel, in: Ders. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, 2. Aufl., München 1977, 383-389, hier 386-387.
[74] Michael Wildt, NS-Eliten in der Bundesrepublik, in: Ders., Wer waren die Nationalsozialisten?, Bonn 2021, 241-261.
[75] Otto Ahrens, 1100 Jahre Boffzen, o.O. 1956.
[76] Gemeindebeirats-Sitzung am 5. April 1946, Archiv des Samtgemeinde Boffzen, Gemeinderatsprotokolle.
[77] Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.
{78] Vgl. etwa Schreiben der Entschädigungsbehörde Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 7. Februar 1962, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[79] Schreiben des Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 14. Dezember 1959, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[80] Schreiben von Yad Washem [sic!] an die Gemeinde Boffzen vom 12. September 1960; Schreiben von Yad Washem an die Gemeinde Boffzen vom 8. März 1961, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[81] Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[82] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Hansmann an das Landesrabbinat vom 14. April und 10. Juni 1967, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[83] Neue Westfälische 1988, Nr. 144.
[84] Ulrike Jureit, Womit wir alle nicht fertig werden. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, in: Magnus Brechtgen (Hg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Bonn 2021, 171-190.

Familie Pfundig meistert den Krieg – Alltagshilfe und NS-Propaganda

1940, zu Beginn der „Luftschlacht um England“, dem Angriff des Deutschen Reiches auf die britische Hauptinsel. Kriegsberichterstatter Hans-Herbert Basdorf berichtete begeistert von einem Fliegerhorst: „Immer wieder, wenn er dazu ansetzen will, wird die Tür seiner Stube aufgerissen. Ein braungebrannten Kopf guckt durch den Türspalt und ruft ihm das Wort ‚pfundig‘ zu. Was ist denn pfundig, erkundigt er sich verärgert. Na, hast Du es nicht gehört. Nein! Nun, wir fliegen nach London“ (Metropolis auf einem Vulkan. Londons Feuerschein über dem Kanal, Haaner Zeitung 1940, Nr. 217 v. 14. September, 6). Der Krieg, eine offenbar pfundige Sache. Nun ja, Kriege heißen heute militärische Spezialoperationen, Interventionen oder Friedensmissionen, Kriegsbeteiligungen gelten als Sanktionen oder Waffenlieferungen. Doch pfundig?

Fündig wird man doppelt: Zum einen sprachlich, im Worte „pfundig“ selbst. Zum anderen aber sachlich, denn nur wenige Monate vor dem Abnutzungskrieg der deutschen und britischen Luftwaffen hatte „Familie Pfundig“ vielen Deutschen freundliche Ratschläge für einen gedeihlichen Umgang mit den Problemen im Kriegsalltag gegeben. Die Anfang 1940 laufende Kampagne ist offenkundig nicht mehr bekannt, in der Fachliteratur fehlt sie in der langen Reihe der gern gestriffenen, selten näher behandelten NS-Propagandaaktionen. Nicht nur angesichts unserer heutigen Bemühungen um die Bewältigung von Kriegsfolgen scheint ein Blick in die Vergangenheit daher sinnvoll zu sein.

Der Weltkrieg verändert den Alltag

Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen angriffen, waren die wichtigsten Maßregeln für eine weiter leistungsfähige Heimatfront schon in Gang gesetzt worden. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte zu vielfältigen Planungen geführt, um die damaligen Fehler insbesondere bei der Rationierung zu vermeiden. Dazu gehörten nicht nur eine umfassende Vorratswirtschaft und die Entwicklung zahlreicher als „Austauschstoffe“ bezeichneter Ersatzmittel im Rahmen des seit 1936 laufenden Vierjahresplanes. Dazu gehörte insbesondere eine schon am 27. August 1939 beginnende Rationierung der meisten Lebensmittel und vieler Gebrauchsgüter. Der kriegerische Staat gab sich sorgend: „Um eine gerechte Verteilung lebenswichtiger Verbrauchsgüter an alle Verbraucher sicherzustellen, ist für gewisse Lebensmittel, ferner für Seife und Hausbrandkohle sowie lebenswichtige Spinnstoffwaren und Schuhwaren eine allgemeine Bezugsscheinpflicht eingeführt worden“ (Bezugsscheine garantieren Bedarfsdeckung für jedermann, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 240 v. 28. August, 7). Textil- und Schuhgeschäfte wurden zeitweilig „wegen Inventur“ geschlossen, Brot, Kartoffeln und Mehl waren dagegen noch frei käuflich. Obwohl Polen (im Einklang mit der UdSSR) rasch geschlagen werden konnte, stand der offenkundig verlustreichere Waffengang mit den Westmächten noch bevor. Diese hatten ihre anfangs massive Überlegenheit nicht genutzt, stattdessen gab es einen vielmonatigen „Sitzkrieg“ mit relativ begrenzten Kampfhandlungen vornehmlich von Marine und Luftwaffe. Er war begleitet von intensiven Luftschutzmaßnahmen, von Verdunkelung gemäß der schon im Mai 1939 erlassenen Verordnung. Allen Vorbereitungen zum Trotz veränderte sich der Alltagskonsum nicht unerheblich, denn die für den Kampf um die „Sicherheit des Reiches und seine Rechte“ (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 245 v. 2. September, 3) mobilisierten Männer fehlten: Die Werbung wurde langsam zurückgefahren, es mangelte an Gebrauchsgütern, auch die Qualität vieler Angebote ließ zu wünschen übrig. All das, so wurde versichert, wäre nur vorläufig – und wurde begleitet vom gängigen Arsenal der Kriegspropaganda: Wir wollen den Krieg nicht, die Gegner tragen dafür die Verantwortung, unsere Sache ist gerecht, die Mission heilig, unsere Berichterstattung ehrlich und nicht in Zweifel zu ziehen (Anne Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2004; Arthur Ponsonby, Falsehood in War-Time, London 1928). Zweifel und etwaige Kritik waren zu zerstreuen, Mut angesichts der kleinen Hürden des Alltags zu machen: Das war auch die Aufgabe der Pfundigs: „Die Familie Karl Pfundig / Ist fürwahr des Lebens kundig, / Weil sie innerlich begeistert, / Alle kleinen Sorgen meistert! Wie die Pfundig’s stets zufrieden, / Stolz an ihrem Glücke schmieden, / Ungestört von kleinen Dingen, / Wollen wir in Bildern bringen. Was die Pfundig’s noch erleben, / Gilt auch für dein eignes Streben!“ (Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 8 v. 6. Januar, 5). Der Tenor klang bekannt: Krisen seien Bewährungsproben, vielleicht gar Chancen. So nur zwei Jahre später auch der US-Schriftsteller Thornton Wilder (1897-1975) in seinem Drama „Wir sind noch einmal davongekommen“, hierzulande eines der wichtigsten Stücke nach der totalen Niederlage 1945.

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Die biedere Familie Pfundig (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 1 v. 5. Januar, 5)

Das Wortfeld „pfundig“

Familie Pfundig kam bieder daher, entsprach schon dadurch nicht der vermeintlichen Freude und Hochspannung von Kampffliegern vor dem Einsatz. Bei den fünf Familienmitgliedern – Vater Karl, den Kindern Inge, Fritz und Max sowie der vornamenlosen „Mutter Pfundig“ – handelte es sich offenbar um ganz normale Deutsche, um den idealisierten Bevölkerungsdurchschnitt. Mit ihnen konnte man sich identifizieren, in ihnen sich wiederfinden. Was aber besagte der Name „Pfundig“?

Das Wort ist süddeutschen, vorrangig südwestdeutschen Ursprungs, bedeutet „großartig, außergewöhnlich, außerordentlich“ (Bayerisches Wörterbuch, Bd. II, hg. v. d. Kommission für Mundartforschung, München 2021, 706). Es entstand aus der bis heute bekannten Gewichtsbezeichnung, die präzise daherkam, etwa beim 5-pfündigen Brot. Doch pfündig war auch ein auf schweres, auf ansprechendes hinweisendes Eigenschaftswort, etwa bei pfündige Forellen oder – und hieran sehen wir die einfache Verschiebung des einen Vokals – bei pfundigen Karpfen. Derartige Teichfische waren gewichtig, man freute sich sprachlich vorab schon auf ein gutes, weil mehr als auskömmliches Essen. Pfündig war lange auch Teil der Militärsprache, bezeichnete die Geschossgröße von Mörsern und Kanonen. Angesichts immer schwererer Munition lief diese Verwendung aber spätestens im Ersten Weltkrieg aus.

Pfündig wurde in der folgenden Zwischenkriegszeit inhaltlich neu aufgeladen und die Schwierigkeiten in Deutschland mit dem ü und dem u (Benutzer vs. Benützer…) ließen das Pfundige im Süden aufkommen, ehe es sich dann auch im Norden und Osten etablierte. Entsprechend habe ich vorrangig badische Zeitungen analysiert, in deren Verbreitungsraum das Wort Teil der Alltagssprache war: Pfündig wurde schon vor der NS-Zeit ein Begriff des Außeralltäglichen, des Ausfluges, des Erlebnisses: Natürlich durfte das Münchener Oktoberfest nicht fehlen, denn hier gab es auch mitten in der Weltwirtschaftskrise „eine wirkliche und ‚pfundige‘ Gaudi!“ (Badischer Beobachter 1932, Nr. 265 v. 25. September, 3). Ein alpines Studentenheim lud meist gutbürgerliche Skifahrer ein, die sich auf eine pfundige Abfahrt freuten (Badische Presse 1931, Nr. 112 v. 7. März, 7). Auch im Trendsport Kanufahren hoffte man auf eine „pfundige Strömung, heftiger Wellengang, ab und an einen annehmbaren Schwall, prächtige Floßgassen mit mehr oder weniger heimtückischen Widerwellen“, denn so „war immer etwas los“ (Badische Presse 1931, Nr. 270 v. 13. Juni, 6). Die von den Bergfilmen der späten 1920er Jahre näher gebrachten Gipfel wollten erklommen werden, Kletterer erzielten entsprechend pfundige Leistungen im Fels (Badische Presse 1933, Nr. 225 v. 16. Mai, 5).

Hier war das Beiwort aber noch abhängig von Äußerem, von einem besonderen Umfeld. Auch das legte sich in den frühen 1930er Jahren, denn pfundig mutierte zu einem zunehmend beliebigen Beiwort, mit dem man Schwere, Größe und Bedeutung von fast allem wabernd bezeichnen konnte. Es gab plötzlich pfundige Regierungskrisen, pfundigen Applaus, eine pfundige Überschrift (Der Führer 1931, Nr. 136 v. 20. Juni, 1; Karlsruher Zeitung 1931, Nr. 164 v. 17. Juli, 3; Der Führer 1931, Nr. 200 v. 20. September, 5). Der mächtig aufkommende Fußball kam ohne das Attribut kaum mehr aus, Schüsse, Lattentreffer, selbst Niederlagen waren nun „pfundig“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 78 v. 20. März, 7). Sollte aber die Verteidigung pfundig gestanden haben, so war auch eine „pfundige Ueberraschung“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 112 v. 2. Mai, 7; Badische Presse 1934, Nr. 341 v. 23. August, 7) möglich.

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Pfundiges Training, pfundige Cliquen (Badische Presse 1934, Nr. 403 v. 3. November (l.); ebd., Nr. 6 v. 8. Januar, 8)

Was sich freundlich, spielerisch anhörte hatte jedoch auch strikt politische Seiten. Pfundig wurde nämlich auch zu einem anklagenden Wort, das von der NSDAP Anfang der 1930er Jahre vielfach zur Denunziation des vermeintlich korrupten demokratischen „Systems“ genutzt wurde. Subventionsnehmer hatten ein vermeintlich „pfundiges“ Gehalt, lokale Politiker einen entsprechenden Vertrag, die Oberen nahmen sich einen pfundigen Happen aus den öffentlichen Kassen (Der Führer 1931, Nr. 284 v. 17. Dezember, 5; ebd., Nr. 293 v. 29. Dezember, 6; ebd. 1932, Nr. 61 v. 2. März, 6).

Nach der Machtzulassung wurden die öffentlichen Kassen noch stärker geplündert; und so verschwand das Adjektiv aus diesem Felde. Es wurde nun vermehrt mit Gemeinschaftshandeln im NS-Verbund verbunden, zumal in der Hitler-Jugend. Bei den Pimpfen war eine Keilerei Spaß, eine pfundige Angelegenheit, im Zeltlager herrschte pfundige Stimmung, selbst der Schlafsack wurde pfundig inmitten des Rudels (Badische Presse 1934, Nr. 301 v. 7. Juli, 13; Durlacher Wochenblatt 1934, Nr. 187 v. 13. August, 5; Der Führer 1934, Nr. 230 v. 22. August, 6). War pfundig zuvor ein Wort junger Erwachsener, so entwickelte es sich Mitte der 1930er Jahre auch zu einem der Jugend, der Bewegung. Die Jungen nahmen Elemente der bürgerlichen Freizeitkultur der späten 1920er Jahre auf, im Rahmen der zunehmend von der NSDAP dominierten Jugendverbände waren Sport und Reisen angesagt: Am Obersalzberg gab es nicht nur Hitlerplausch und Almenrausch, sondern man traf auch pfundige Mitstreiter (Ebd. 1933, Nr. 195 v. 17. Juli, 7). Eine pfundige Abfahrt lockte, den entsprechenden Sturz steckte man lachend weg (Mittelbadischer Kurier 1933, Nr. 288 v. 11. Dezember, 3; Badische Presse 1934, Nr. 19 v. 12. Januar, 7).

Pfundig war jugendbewegt, das Wort bezeichnete impulsives Leben ohne Intellekt, ohne größeren geistigen Überbau. Es stand für ein einfaches, simples Leben, ohne großes Nachdenken. Pfundig war kein Leben im Wallgraben seines Selbst, es war offen, dynamisch, stand für Teilhabe und Teilnahme, für ein Leben in Gemeinschaft, im völkischen Umfeld. So sollte das Leben sein, instinktiv. Leben als Wollen, Schaffen und Tun. Von Pfundskerlen umgeben glich das Leben einem Rausch, einem Wirbelwind: Im Augenblick leben, nur den nächsten Tag im Blick, die Vergangenheit vergessen, die Zukunft im Vertrauen auf sein Umfeld angehen. So machen das viele bis heute, das Bungeespringen steht dafür.

Der 1939 losgebrochene Krieg schien all dies zu beenden. Und doch dürften viele den Kampf als ultimativen Kick verstanden haben, mochte es einer großen Zahl Deutscher bei Kriegsbeginn auch mulmig gewesen sein. Mehr als zwei Millionen tote deutsche Soldaten waren nicht vergessen, amputierte Beine und Arme markierten Verletzungen, eine halbe Million Kriegsversehrte wurden anerkannt. Noch wusste man um die Nöte und Härten der „Heimatfront“, um die Abmagerung aller. Doch das innere Feuer löschen, die Träume vom pfundigen Leben stillstellen? Just hier setzte „Familie Pfundig“ an, denn sie bot ein anständiges Vorbild im Einklang mit den Erfordernissen der Zeit. Das innere Feuer konnte weiter brennen, die Träume der eigenen Jugend. Doch Krieg war keine Zeit der Ekstase, sondern des ruhigen, beharrlichen Handelns. Der Feind würde jede Unbedachtheit nutzen, es galt ihm zuvorzukommen – nicht in der Ferne, sondern auf dem Bewährungsgrund Heimat. Die Landser mochten in die Ferne ausschwärmen, bei Widerstand pfundig schimpfen (Der Führer 1939, Nr. 294 v. 24. Oktober, 3). Doch mit pfundiger Kameradschaft und ebensolchen Weisen auf den Lippen würde es schon gehen (Ebd., Nr. 320 v. 19. November, 5; ebd. 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 4). Der nationalsozialistische Reichsfußballtrainer Sepp Herberger (1897-1977) schrieb entsprechend an einen seiner Nationalspieler: „Sie haben ja eine schöne Irrfahrt durch ganz Frankreich gemacht. Aber pfundig muss die Sache gewesen sein“ (Gregor Hoffmann, Mitspieler der »Volksgemeinschaft«. Der FC Bayern und der Nationalsozialismus, Göttingen 2022, 246). Der Krieg war ein Spiel, mit manch pfundigem Schuss.

Anregungen und Vorbilder

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Herr Hase: Werbekampagnen für Zeitungsabonnements 1936/37 (Westfälische Neueste Nachrichten 1936, Nr. 235 v. 7. Oktober, 6 (l.); Schwerter Zeitung 1937, Nr. 73 v. 30. März, 3)

Die Anfang Januar 1940 einsetzende Kampagne mit „Familie Pfundig“ wurde vom Reichsverband der deutschen Zeitungsverlage in Kooperation mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda durchgeführt. Bezugspunkt und bedingt Vorbild war eine frühere Kampagne der Zeitungsverleger, die ebenfalls kaum mehr bekannte Herr Hase-Kampagne von 1936/37 (Herr Hase als Anzeigenwerber, Zeitungs-Verlag 37, 1936, 720; Herr Hase auf der Anklagebank, ebd. 36, 1937, 135). Dieser Herr, der von nichts wusste, weil er keine Zeitung las, wurde als Negativfigur des unbedarften, am Gemeinschaftsleben nicht teilnehmenden Sonderlings präsentiert, der am Ende zwingend mit dem Gesetz und der Gemeinschaft in Konflikt geriet und seine wirtschaftliche Existenz verlor (Gustav Lange, Schöne Grüße vom Schaefer-Ast (1890-1951). Postkarten und Geschichten für Werbekampagnen im Dritten Reich, Romerike Berge 72, 2022, H. 2, 12-31; unkritisch Werner Greiling, Werbegraphiker und Kunstprofessor in Weimar – Albert Schaefer-Ast (1890-1951), Das kulturhistorische Archiv von Weimar-Jena 1, 2008, 110-138, hier 120-125). Die Auftraggeber reagieren damit auf den massiven Auflagenrückgang der Tagespresse, einerseits Folge der Verbote der SPD- und KPD-Zeitungen und dem Ende auch liberaler Zeitungen, etwa der Vossischen Zeitung 1934. Sie war anderseits aber eine rationale Entscheidung der Leser, die ein zunehmend uniformes Nachrichten- und Propagandaangebot nicht auch noch finanzieren wollten, die sich fern hielten vom betreuten Denken in der vermeintlichen Volksgemeinschaft. Gleichwohl bemühten sich Verleger und Machthaber um höhere Abonnementzahlen, denn darauf gründete nicht nur eine einigermaßen erfolgreiche Verhaltens- und Verbrauchslenkung, sondern auch der Vertrieb zahlloser Angebote und Anzeigen (Norbert Frei und Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 1989, 36-38).

Herr Hase tauchte in zwei längeren Serien Ende 1936 und Anfang 1937 in deutschen Zeitungen auf, wurde nach der halbwilligen Besetzung Österreichs dann 1939 in der „Ostmark“ abermals aufgelegt, dabei mit neuen Motiven ergänzt. Künstlerisch war sie wenig ansprechend, inhaltlich teils peinlich. Die Gründe für das Zeitungslesen waren teils hanebüchen, konnten die strukturellen Defizite einer fast gänzlich gleichgeschalteten und von Presseanweisungen recht genau gesteuerten Zeitungslandschaft ja nicht angesprochen werden (Konrad Dussel, Wie erfolgreich war die nationalsozialistische Presselenkung?, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 543-561). Hinzu kam, dass der 1939 begonnene Krieg für die Presse fast wie ein Konjunkturprogramm wirkte, stiegen die Auflagen doch rasch an, war man durch die Rationierung und die Zivilverteidigung doch von behördlichen Informationen zunehmend abhängig. „Familie Pfundig“ knüpfte daran an. Hans Fritzsche (1900-1953), Leiter der Abteilung „Deutsche Presse“ im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, betonte, diese Serie, ähnlich wie zuvor die Serien über Herrn Hase, solle „generell von allen deutschen Zeitungen gebracht werden“ (Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970, 309). Doch sie würde positiv sein, keine Negativfiguren enthalten, Willigkeit hervorrufen. Und so geschah es…

Naja, nicht ganz. Offen bleibt die Frage, warum man den Namen „Familie Pfundig“ wählte. Die Antwort liegt wohl in der Person des Zeichners Emmerich Huber (1903-1979). Dieser, wir kommen darauf zurück, hatte sich seit Mitte der 1920er Jahren als Zeichner, Illustrator und Werbegraphiker einen Namen gemacht, versah er doch gleichermaßen Güter und Gebote mit dem Charme des Freundlichen. Seine Arbeit kombinierte – wie schon Paul Simmel (1887-1933) und Walter Trier (1890-1951) – unmittelbar eingängige Zeichnungen mit humorvollen, selten auch bissigen Kommentaren. Huber arbeitete allerdings stärker seriell, erzählte kleine Geschichten, versah sie oft mit Sprachblasen, eingefügten Textzeilen und gereimten Unterzeilen. Huber war populär und daher gleichermaßen wertvoll für das Regime und die Konsumgüterindustrie.

Einer seiner vielen Auftraggeber in den späten 1930er Jahren war der niederländische Handelskonzern C&A. Als Filialbetrieb anfangs nicht wohl gelitten, gar Boykotten ausgesetzt, passten sich die offiziell gut katholischen Besitzer dem NS-Regime rasch an, entließen 1933 jüdische Mitarbeiter, übernahmen in der Folge jüdische Konkurrenten (Kai Bosecker, Vom ‚unerwünschten Betrieb‘ zum Nutznießer des NS-Regimes […], in: C&A zieht an! Impressionen einer 100-jähigen Unternehmensgeschichte, Mettingen 2011, 94-105; Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911-1961, München 2016, insb. 132-175). Emmerich Huber war 1938 Teil einer breit gefächerten Werbekampagne für Konfektionsware und Barkauf (Dortmunder Zeitung 1938, Nr. 499 v. 26. Oktober, 9). Dabei wurde auch ein Herr Pfundig eingeführt. Den Kundinnen dürfte dies kaum im Gedächtnis haften geblieben sein, doch ein Graphiker erinnert sich solcher Namen, anregender und weiter verwertbarer Figuren.

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Ein Herr Pfundig taucht auf: rechts, sechste Zeile (Hamburger Neueste Nachrichten 1938, Nr. 298 v. 17. Dezember, 3)

Alltags- und Versorgungsprobleme zu Kriegsbeginn – Die Motive der Serie

Die NS-Propaganda hatte anfangs auf eindimensionale Identifikationsfiguren gesetzt, brachiale, biestige Figuren, kraftstrotzend und gesinnungsstark. Derart leblose Vorkämpfer waren nach der Konsolidierung der NS-Herrschaft zwar noch immer weit verbreitet, kamen im öffentlichen Raum als martialische Symbole von Sieg und Zukunft auch stetig vor. Doch in den Zeitungen dominierten eher freundliche Durchschnittspersonen, in der Werbung die schürzenbewerte Hausfrau. Gezeichnete Werbefiguren kamen schon lange vor dem Ersten Weltkrieg auf und etablierten sich seit den frühen 1920er Jahren. Das NS-Regime nutzte sie seit Mitte der 1930er Jahre. Dabei lernte man durchaus von angelsächsischen Werbegraphikern und den zahlreichen in Deutschland vertretenen US-Werbeagenturen. Doch diese waren dem deutschen Markt nicht wirklich angepasst, zudem meinte man Besseres bieten zu können. Die immer wichtigere Verbrauchslenkung nutzte vielfältige Graphiken, Schaubilder, zunehmend auch kampagnenfähige Zeichenfiguren. Im Rahmen der „Kampf dem Verderb“-Propaganda symbolisierten „Groschengrab“ und „Roderich das Leckermaul“ Gefahren und Fehlverhalten. Doch die Machthaber, die noch an die starke Wirkung von Medien glaubten, wussten, dass der erhobene Zeigefinger allein nicht ausreichte. Positive, durchaus alltägliche Gegenfiguren kamen auf, Vorbilder für ein Alltagsnudging. Auf Groschengrab folgte der allerdings wenig erfolgreiche „Übeltöter“, Roderich fand in seiner Gemahlin Garnichtfaul einen im Sinne des Volksganzen denkenden Gegenpol. Dadurch war Verhaltenslenkung möglich, ohne den Einzelnen direkt zu attackieren. „Familie Pfundig“ stand in dieser Linie hin zum zivilen Vorbild. Innerhalb der fünfköpfigen Familien konnte Fehlverhalten verdeutlicht und zugleich korrigiert werden. Durchaus konsequent folgte auf „Familie Pfundig“ Ende 1940 das ebenfalls positive „Flämmchen“, ein Helfer beim Energiesparen.

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Kiebitz: Pfundig als Modewort auch im Norden; Ankündigung einer Serie über die Familie Pfundig (Altonaer Nachrichten 1936, Nr. 53 v. 3. März, 5 (l.); Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 4 v. 5. Januar, 3)

All dieser Aufwand wurde betrieben, um letztlich den Einzelnen dazu zu bringen, seine Interessen zu Gunsten des kriegsführenden Staates zurückzustecken. Die Pfundigs machten das vor, machten voller Glauben mit, erfüllten alle an sie gestellten Anforderungen. „Familie Pfundig“ war personifizierte nationalsozialistische Moral (Lothar Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a.M. 2010). Während die Wehrmacht den Krieg gegen Frankreich und Großbritannien führte und vorbereitete, ging es an der Heimatfront um Zusammenhalt, Zurückstecken und Opferbereitschaft. Wie dies in kleiner Alltagsmünze möglich war, das zeigte „Familie Pfundig“.

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Pfundigs „verkohlen“ sich selbst (Murtaler Zeitung 1940, Nr. 2 v. 13. Januar, 5)

Blicken wir dazu auf die Einzelmotive der Serie. Sie bündelten drängende Alltagsprobleme der frühen Kriegszeit, gaben einen Widerschein der von Beginn an bestehenden Probleme in der Konsumgüterversorgung (Christoph Buchheim, Der Mythos vom „Wohlleben“. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 299-328). Nach der reichsweiten Vorstellung der Familie Pfundig am 5./6. Januar 1940 erschienen im Halbwochentakt – in manchen Fällen auch in längeren Intervallen, in Österreich später als im Norden – thematische Kleincomics. Huber verwandte in den Bildern nur selten Sprachzeilen, eigentlich sein Markenzeichen, stattdessen dominierten Unterzeilen. Die jeweils drei Bilder wurden durch eine zusammenfassende Merkspalte ergänzt, in der die Botschaft nochmals verdichtet gebündelt wurde.

Dass als erstes die Probleme des Transportwesens und der Heizstoffversorgung thematisiert wurden, war naheliegend, denn die Requirierungen für Wehrmachtszwecke hatten tiefe Lücken nicht nur bei Automobilen und Lastkraftwagen hinterlassen, sondern auch bei den nach wie vor dominierenden Pferden und Fuhrwerken. Zudem war der Winter 1939/40 besonders kalt, betrug die Durchschnittstemperatur im Januar 1940 -9 °C. Der durch die Kriegsanstrengungen und wachsende Lieferverpflichtungen an neutrale Staaten ohnehin gebeutelte Wasser- und Bahntransport der heimischen Kohle stockte. Die Antwort hierauf war Eigeninitiative, waren Aushilfen mit privaten Karren, war vor allem Verständnis für Lieferprobleme.

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„Reste-Tag“ bei Pfundig’s! (Salzburger Volksblatt 1940, Nr. 11 v. 13. Januar, 4)

Ähnlich drängend waren offenkundige, durch Transportprobleme ebenfalls verschärfte Versorgungsprobleme mit Lebensmitteln. Die Planer waren ohnehin von einem leichten Gewichtsverlust der Deutschen aufgrund der Rationierung ausgegangen. Nun aber griffen schon lange laufende Kampagnen für sparsame Haushaltsführung, praktische neue Convenienceprodukte und die vielbeschworene Resteküche (W. Plaetke, Lebensmitteleinkauf und Resteverwertung, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 92, 104-105, 119-121; Der durchdachte Haushalt. Kochplanung und Resteverwertung, Die Genossenschaftsfamilie 31, Nr. 1, 11; dass derartige Bestrebungen im letzten Jahrzehnt eine bemerkenswerte Renaissance erfuhren, sei nur am Rande vermerkt). Familie Pfundig beging nicht nur den zunehmend gängigen Reste-Tag, sondern fand das ungewohnte Essen so fabelhaft, dass sie das Rezept gleich mit den Volksgenossen teilte.

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Pfundigs „alltägliche“ Feldpostsendung (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 3 v. 18. Januar, 4)

Es folgte eine Reminiszenz Familie Pfundigs an die Herrn-Hase-Kampagne und die Interessen der auftragsgebenden Zeitungsverleger. Trotz wachsender Auflage warb man für die Tageszeitung im Felde. Wirtschaftliche Werbung und Kriegspropaganda gingen hierbei Hand in Hand, denn es ging hier nicht nur um Einnahmen, sondern auch um ein enges Band zwischen Front und Heimat. Anders als im Ersten Weltkrieg waren Liebesgaben 1939/40 zur Soldatenversorgung nicht wirklich erforderlich, wurde das enge Band zwischen Soldaten und den Zurückgeblieben vornehmlich durch einfache Feldpostbriefe gestärkt. Dass hierbei Inge Pfundig von einem wackeren Soldaten träumte, wird Uniformträger ebenso gefreut haben wie Vertreter einer pronatalistischen Politik, die immer auch an die demographischen Konsequenzen der Trennung gebärfreudiger Erwachsener dachten.

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Begleitkampagnen zu pfundigen Anregungen (Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 49 v. 27. Februar, 6)

„Familie Pfundig“ wurde von zahlreichen dezentralen Initiativen unterstützt, die die allgemeinen Zielsetzungen der Kampagne konkreter ummünzten. Das war bei der Werbung für zusätzliche Feldabonnements offenkundig, doch in den Folgewochen gab es zahlreiche ergänzende Hinweise und Angebote für fast alle Motive der Kampagne.

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Vater Pfundig wird im dunklen „Helle“! (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 4 v. 25. Januar, 5)

Moderne Kriege gründen auf einer leistungsfähigen Industrieproduktion, sind deshalb vielfach umkränzt von Sorge um Arbeiter und Angestellte. Es gilt Unfälle zu vermeiden, Vorsorge zu treffen, das Humankapital möglichst lange intakt zu halten. Nicht umsonst gewannen zu dieser Zeit Anzeigen für Heft- und Wundpflaster stark an Gewicht. Parallel aber schuf die mit Kriegsbeginn zwingend einsetzende Verdunkelung neue, bisher unbekannte Gefahren. Das betraf nicht ausgeleuchtete Gehwege, abgedunkelte Fahrrad- und Autoscheinwerfer. Herr Pfundig erlitt fast folgerichtig eine Beule als er mit jemand anderen zusammenstieß – was die Jungen gleich zu Spott veranlasste. Sie wussten nämlich um die neuen, auch in der Schule behandelten Alltagsregeln für Fußgänger. Hier galt es zu lernen, ansonsten würden die pfundigen Jungs die gebeutelten Älteren abhängen. Die Fußgänger wurden zwar faktisch belehrt und mit zehn Regeln vertraut gemacht. Doch es handelte sich um „Anregungen“, nicht um die zuvor stets tönenden „Gebote“ oder um die sprachlich schon weniger rigiden „Ratschläge“. Hier sprachen Volksgenossen miteinander, war Respekt und Freundlichkeit gewährleistet, mochte schadenfreudiges Schmunzeln über den hölzern-gutwilligen Karl Pfundig auch erlaubt sein.

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Vater Pfundig und „Minna von Barnhelm“: Auch mal im Hochformat (Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 4 (l.); spiegelverkehrt: Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4)

Diese nach innen gewandte Kameradschaftlichkeit war immer auch Ausdruck deutscher Bildung und deutscher Kultur (natürlich nur im „arteigenen“ Sinne). Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Schöpfer von „Nathan der Weise“, einem bis heute beeindruckenden Plädoyer für Toleranz und friedliches Miteinander, wäre gewiss vergrätzt gewesen, hätte er von der Aufnahme seines 1767 erschienenen Lustspiels „Minna von Barnhelm“ in die Familie-Pfundig-Kampagne erfahren. Dieses war ein Bühnenklassiker, blieb es auch während der NS-Zeit, wurde bis März 1945 wieder und wieder gespielt. Warum? Gewiss, weil es leicht und leidenschaftlich war, zu Herzen ging, einem dem Alltag entzog. Für die Kampagne aber wichtiger dürfte das Spiel gegen „den überspitzten Ehrbegriff“ gewesen sein, mit dem Ziel, „das lockende, reizende Werben aufgeschlossener Fröhlichkeit, den finsteren, verschlossenen, in Dogmen und Maximen erstarrten Ernst zu besiegen“ (Wilhelm Antropp, Akademietheater, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 287 v. 14. Oktober 1939, 4). Minna von Barnhelm war pfundig im Sinne des Begriffs; und Pfundigs zielten durch den Theaterbesuch nicht nur auf eine kriegsgemäße Work-Life-Balance, sondern sie nährten auch das pfundige Grundgefühl ihrer Jugend, das sich nun geläutert zu bewähren hatte.

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Pfundigs Kameradschaft immer guten Rat schafft! (Mittelrheinische Landes-Zeitung 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 4)

Wir könnten so fortfahren, Motiv für Motiv. Denn Entspannung war für die Pfundigs nicht nur selbstbezüglich, sondern war Nährboden für die organische Gemeinschaft, für Familie, Haus- und Volksgemeinschaft. Nachbarschaftshilfe war für sie selbstverständlich, die Sorge für den Nachwuchs weckte mütterliche Gefühle, ließ den Mann wieder zum Kinde, zum Spielkameraden werden. Dass dies die innere Seite der Hege eines nach außen aggressiven Regimes war, ist offenkundig.

Doch ebenso ermüdend wie das beigefügte Lob der Hilfsbereitschaft sein konnte – im Sommer 1942 folgte gar eine breit gefasste Kampagne des Reichspropagandaministeriums für Höflichkeit – ist eine Auflistung ohne wirklich fundiertes Eingehen auf den Inhalt der einzelnen Motive. Sie finden sie gleichwohl hier abgedruckt, denn sie spiegeln die Probleme des Deutschen Reichs schon zu Kriegsbeginn. Leder war knapp, musste geschont und gepflegt werden – entsprechend wurde für Schuhpflegemittel bis Kriegsende immer schlechterer Qualität zum Trotz geworben. Wie auf Humankapital war auch mit Sachkapital sorgfältig, achtsam umzugehen.

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Fritzen’s Schuhe stören Pfundigs Ruhe! (Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 6)

Auch die Textilproduktion diente immer stärker dem Militär, doch auch sie konnte dessen Bedarf nicht annähernd decken, wurde der Krieg gegen die UdSSR mit unzureichender Ausrüstung geführt. Während „Deutsche Mode“ zu einem devisenträchtigen Exportartikel wurde – Berlin überholte in der Folgezeit kurzfristig Paris als europäische Modehauptstadt – glich der Umgang mit Altkleidern denen mit Lebensmittelresten. Damit galt es hauszuhalten, daraus konnte aber auch Neues geschaffen werden – wenn denn die Frauen, wie Tochter Inge Pfundig, neben ihrer gewerblichen Arbeit noch Zeit fanden, selbst zu schneidern.

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Auch „alte“ Kleider machen Leute! (Briesetal-Bote 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3)

Angesichts der zu Kriegsbeginn nur sporadischen Luftangriffe auf Reichsziele ließ die Neigung zur steten Verdunkelung nach, beträchtlicher Kontrollen zum Trotz. Selbst Karl Pfundig wurde nachlässig, konnte aber wiederum mit Hilfe seines Jungen (und der ausgedünnten Polizei) auf den Pfad der Kriegsgemeinschaft zurückgebracht werden. Dass nun „Ratschläge“ erteilt wurden, verweist auf eine gewisse Renitenz zumal im ländlichen Bereich.

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Die Polizei kommt zu Pfundigs! (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1940, Nr. 16673 v. 7. Februar, 4)

Dieses Motiv war für viele Zeitungen in der Tat das letzte Motiv ihrer Familie-Pfundig-Kampagne; bereits die Streifen zur Schuhpflege und zum Kleiderschneiden waren nur noch selten gedruckt worden. Die folgenden drei Motive fanden sich nur selten – wobei immer zu berücksichtigen ist, dass die Zeitungsdigitalisierung in diesem Staate, trotz erfreulicher Fortschritte in NRW, auf dem Stand eines rückschrittlichen Landes liegt.

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Pfundigs Idee für’s Winterhilfswerk! (Baruther Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 9. Februar, 2)

Dieses Abebben und Ausfransen der Kampagne mochte auch daran liegen, dass die nun folgende Propaganda für das Winterhilfswerk und das Papiersparen ohnehin weit verbreitet war. Sammlungen waren längst der Freiwilligkeit enthoben, die aufgrund fehlenden devisenträchtigen Holzes akute Papiernot wurde durch staatliche Maßnahmen bereits zu mildern versucht (etwa die Reduktion des Zeitungsumfanges und der Größe und Ausstattung der Werbeanzeigen).

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Beim Papier sind Pfundigs „eisern“! (Fehrbelliner Zeitung 1940, Nr. 16 v. 16. Februar, 3)

Die Motive knüpften an die den NS-Alltag schon seit langem prägenden Sparsamkeitsappelle an – und der wachsende Zwang von Partei und Staat verwies schon auf die sich seither immer wieder verschärfende, nur selten sich wieder entspannende Versorgungssituation. Von einer „Wohlfühldiktatur“ kann man kaum sprechen. Obwohl sich Familie Pfundig durch die Themensetzung auch inhaltlich in die allgemeine NS-Kriegspropaganda einreihte, endete die Serie mit einem sowohl untypischen wie charakteristischen Motiv. Fritz hatte durch Unachtsamkeit seinen Anzug zerrissen, seine Mutter drängte auf eine tüchtige Tracht Prügel. Doch sein Vater beließ es bei einem eindringlichen Appell, künftig anders zu handeln. Leben war eben pfundig, nicht immer zu zügeln. Das drängende Dasein, es war durch Gewalt nicht zu einzudämmen. Ihm eine Richtung zu geben, Karl Pfundig hatte dies durch Selbstzucht erreicht. Sein Sohn würde auch ohne Prügel in seine Fußstapfen treten.

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Wie sagt’s Pfundig seinem Kinde? (Sauerländisches Volksblatt 1940, Nr. 53 v. 2. März, 4)

Die Familie-Pfundig-Kampagne ist aber – wie jede Kriegspropaganda – nicht nur spannend durch die darin enthaltenen Aussagen und Ratschläge. Historisch ebenso wichtig war, was in ihr nicht thematisiert wurde. Indem die kleinen handhabbaren Probleme des Alltags humoristisch angegangen wurden, konnte die große Frage nach dem Krieg als solchen, nach dessen Ursachen und dessen Sinn überdeckt werden. Die Einreihung in Familie, Haus- und Volksgemeinschaft, die kleinen Problembewältigungen, sie waren schon Bejahung, ein Nachjustieren, Teil der Kriegsanstrengung. Der gute Menschenverstand kam scheinbar zum Durchbruch, der Pragmatismus des Alltags; doch die Kampagne zielte zugleich auf dessen Ausschaltung zugunsten des Regimes, zugunsten eines möglichst reibungslosen Kriegsgeschehens. Bestehende Probleme des Kriegsalltages wurden in der Kampagne angerissen, doch die strukturellen Probleme der Rationierung, weiterhin bestehender Devianz, weit verbreiteter Korruption und Bereicherung, sie wurden bestenfalls angedeutet, nicht aber rückfragend aufgegriffen. Dafür gab es andernorts eine offiziöse NS-Härte, die Inklusion und Exklusion aus der Volks- und Kriegsgemeinschaft. Sie schwang immer mit: „Familie Pfundig“ stand in der Mitte, weil sie mitschwamm. Doch irgendwann wäre die Grenze überschritten gewesen, wäre eine ordentliche Tracht Prügel und mehr die Folge gewesen. Dem konnte jeder Vorbeugen, durch Handeln im Sinne des Regimes. Die unterschiedlichen Motive der Kampagne spiegeln begrenzte Sprach- und Handlungsräume innerhalb der NS-Diktatur, innerhalb der NS-Kriegspropaganda. Sie spiegeln zugleich auch die sich verengenden Sprach- und Handlungsräume innerhalb jeder Kriegssituation. „Familie Pfundig“ adelte das biedere Mitmachen, das Zähne-Zusammenbeißen, das bereitwillige Durchhalten. Aktives, freudiges, aufheiterndes und begeisterndes Handeln war weiter von Nöten – nun aber für die Volksgemeinschaft, unter Vernachlässigung der eigenen Interessen. So konnte auch der Krieg zu einer pfundigen Sache werden.

Emmerich Huber, NS-Humorist

Die NS-Propagandaserie „Familie Pfundig“ wurde ersonnen und umgesetzt vom wohl wichtigsten NS-Humoristen, von Emmerich Huber. Er ist heute nur noch wenigen bekannt, auch wenn er bis in die 1960er Jahre gut beschäftigt war (Eckart Sackmann, Emmerich Huber, Deutsche Comicforschung 2005, 56-71; Ders., Emmerich Huber – zum Zweiten, Deutsche Comicforschung 2010, 87-92). Er zog sein Ding durch, doch anders als in derart oberflächlicher Forschung suggeriert, war er während der NS-Zeit nicht allein der nette Zeichner von Nebenan, dessen kleine Episoden und Figuren kurze Freude in den tristen (Kriegs-)Alltag zeichneten, der sich nur ein wenig anpasste. Huber war ein Pendant zum Filmstar und Biedermann Heinz Rühmann (1902-1994), lieferte wie dieser bräsigen, massenkompatiblen Humor, der sich in jedem politischen System findet (Torsten Körner, Ein guter Freund Heinz Rühmann, Berlin 2003; eingängig populär: Hans Sarkowicz (Hg.), Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2004; nicht überzeugend, ja vielfach peinlich: Michael H. Kater, Kultur unterm Hakenkreuz, Darmstadt 2021). Täter wie Huber und Rühmann tönten vom Miteinander, vom Freund, dem guten Freund. Doch mit mehr Distanz erscheinen sie als Personen, denen es sich vorrangig um sich ging, um ihr Einkommen, ihre Sicherheit, ihre Uk-Stellung.

Huber wurde in den 1920er Jahren bekannt als Zeichner von Kindergeschichten, kleinen Comics in der Kundenzeitschrift Blauband-Woche, für die er neue Figuren schuf: „Das Neueste von Onkel Jup“ und „Hans und Lottchen“ waren nicht nur bei Kindern beliebt (einschlägige Digitalisate finden Sie unter Archive.org). Parallel arbeitete er schon früh für Werbekunden, etwa die Berliner Firma L.M. Baginski mit ihren Fitnessartikeln (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 50 v. 12. Dezember, 10). Man findet Hubers Zeichnungen in so herausragenden Zeitschriften wie „Sport im Bild“, vor allem aber in der Karikaturzeitschrift „Ulk“, dank der bissigen politischen Karikaturen von Rudolf Herrmann Anfang der 1930er Jahre ein wichtiges Kampfblatt für die Weimarer Republik, gegen die „Reaktion“ und die NSDAP. Huber selbst witzelte über die Enttäuschungen der Woche, zeichnete optimistisch (Ulk 61, 1932, Nr. 1, 1), half dem Ulk zu einer stärken Balance zwischen Unterhaltung und republikanischer Agitation. Auch durch Buchillustrationen gewann er den Ruf eines lustigen Zeichners, der für alles und jedes gut zu verwenden war (H[ermann] K[arl] Frenzel, Emmerich Huber. Ein lustiger Zeichner, Gebrauchsgraphik 9, 1932, Nr. 4, 4-11).

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Beispiel für Hubers Werbezeichnungen für Wybert (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1837)

Die Machtzulassung der NSDAP war für Huber kein wirklicher Bruch. Er arrangierte sich mit der neuen Lage, zeichnete Werbung etwa für die Radios von Saba (Sport im Bild 40, 1934, 1117), oder eine umfangreiche, bis 1941 fortgeführte Serie für Wyberts Pastillen. Einzelzeichnungen und Buchillustrationen festigen den Ruf, dass er „immer wieder mit seinen köstlichen Figuren die Schwächen der Menschen festzuhalten“ (Der Sächsische Erzähler 1936, Nr. 264 v. 11. November, 9) wisse. Huber prägte das, was Deutsche unter lustig verstanden, voller Schenkelklatschen, mittels strikter Geschlechtscharaktere, draller Damen und gutmütiger Kleinbürger. Heroisch war das alles nicht, ein Gegenbild zu Marschkolonnen und Arierertypen. Doch diese waren in der deutschen Unterhaltungskultur keineswegs so dominant, wie dies im Blick auf strikte NS-Propaganda erscheinen mochte. Hubers „lustigen Karikaturen“, seine Seiten „lustiger Zeichnungen“ (Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 155 v. 7. Juli, 5; Der Sächsische Erzähler 1938, Nr. 39 v. 16. Februar, 10) waren zeichnerisch gut gemacht, machten aus ihm eine Marke. Ab Mitte der 1930er Jahre etablierte er sich als einer im Graphikbereich wichtigsten, schließlich im Krieg zum wichtigsten NS-Humoristen. Er gestaltete anfangs ganze Seiten für die hochwertig gedruckte „Neue Illustrierte Zeitung“, die seine Werke in der Werbung stetig pries (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1936, Nr. 302 v. 19. Dezember, 2; Bergische Landes-Zeitung 1937, Nr. 228 v. 30. September, 3; Bergische Landes-Zeitung 1938, Nr. 35 v. 2. November, 3). Seine Zeichnungen brachen die offenkundigen Härten des NS-Regimes, der ubiquitären Verfolgung und Denunziation nicht nur von Minderheiten.

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Sparsamkeit und Zurückhaltung: Werbekampagne für Max Krause 1940 (Die Kunst für alle 56, 1940/41, H. 10, Anhang, 14 (l.); ebd. H. 3, Anhang, 27)

Die zunehmenden Werbeeinschränkungen seit Beginn des Zweiten Weltkrieges ließen Werbekunden seltener werden. Emmerich Huber konnte dies kompensieren, zeichnete und textete bis 1945 für führende NS-Illustrierten, für den parteieigenen „Illustrierten Beobachter“, die „Münchener Illustrierte“, für das Magazin der Deutschen Arbeitsfront „Arbeitertum“. Der Umfang der Zeitschriften schwand, doch Emmerichs letzte Seite blieb stehen, war kriegswichtig, nicht nur für die Stimmung an der Heimatfront und im Betrieb. Die „Emmerich-Huber-Seite“ (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 6 v. 6. Januar, 5) spornte freundlich an, zielte auf ein Es-geht-noch-was, auf ein stetes in-die-Hände-Spucken, zielte ohne Knute auf beschwingtes, pfundiges Handeln der Volksgemeinschaft. Emmerich Huber war ein Meister des Selbst- und Fremdbetruges, der auch dem Leben im Bombenkrieg manch heitere Seite abgewinnen konnte.

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Die Juden als gewissenlose Geschäftemacher, als Ausdruck des jüdischen Bolschewismus – Hubers Benennung der deutschen Hauptfeinde nach dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 38)

Der biedere Emmerich Huber war jedoch mehr als ein humoristischer Sorgenbrecher des Großdeutschen Reiches. Er war auch ein antisemitischer Hetzzeichner. Das betraf etwa eine antibritische und antisemitische Propaganda-Broschüre, die er 1941 zusammen mit dem geschätzten Kollegen Hans Herbert Schweitzer (1901-1980) verfasste (Die Plutokraten-Presse. Wie sie lebt und lügt, wer sie macht, wer sie bezahlt, Berlin 1941). Unter dem Pseudonym Mjölnir, dem Namen des durch Marvel-Comics ja allseits bekanntem Hammers des nordischen Donnergottes Thor, war letzterer nicht nur seit 1926 für die NSDAP agitatorisch tätig, sondern wurde 1933 auch zum „Zeichner der Bewegung“ ernannt (Carl-Eric Linsler, Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 7, Berlin 2015, 313-316).

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Der „ewige Jude“ im ausgebombten London – Zeichnung von Emmerich Huber (Illustrierter Beobachter 16, 1941, 248)

Doch Huber hat auch in seinen wöchentlichen „heiteren“ Serien wiederholt Ideen einer jüdisch-bolschewistischen Weltherrschaft in Szene gesetzt, hat zugleich den „ewigen Juden“ gezeichnet, dessen vermeintlich zerstörerische Natur immer wieder zum Ausdruck kam. Fast pfundig ist, dass dies im Gefolge der „Luftschlacht um England“ erfolgte, die mit einer empfindlichen Niederlage der deutschen Luftwaffe endete, die ihrem britischen Gegner in fast allen Belangen unterlegen war. Huber zeichnete das Hauptquartier der siegreichen Royal Air Force als Stelldichein exzentrischer Dummköpfe, regiert von Juda. Dem Mannheimer Medienwissenschaftler Konrad Dussel, der vorgab, die Huberschen Zeichnungen im Illustrierten Beobachter durchgesehen zu haben, sind diese Karikaturen offenbar entgangen (Bilder als Botschaft, Köln 2019, 239-241) – entsprechend freundlich seine Einschätzung des biederen Herrn Huber und seines NS-Werkes.

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Juda regiert – Hubers Einblicke in das Hauptquartier der Royal Air Force (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 45)

Familie Pfundig verschwindet

Familie Pfundig verschwand Anfang März 1940 ohne viel Aufhebens, wurde vergessen. Sie war Teil der nationalsozialistischen Kriegspropaganda, zeigte deren scheinbar freundliche, verständnisvolle, pfundige Seite. Sie handelte von den Sorgen und Aufgaben des Kriegsalltags, zielte auf das für jeden Krieg erforderliche Einvernehmen, Mitmachen und Dulden der Zivilbevölkerung. „Familie Pfundig“ personifizierte nationalsozialistische Moral, deutsche Zuversicht und deutschen Optimismus. Serien wie „Familie Pfundig“ appellierten an deutsche Werte, solche der Selbstleugnung und der Pflichterfüllung. Besser als repressive und warnende Propaganda, besser als die Kampagnen gegen Hamsterei und Wucher, besser als direkte Denunziationen der „plutokratischen“, der „jüdisch-bolschewistischen“ Feinde vermochte sie Zusammenhalt zu schaffen, Verständnis für die Härten der Zeit. Sie war typisch für die frühe Phase des Krieges, in dem die Fährnisse des Alltages noch überschaubar waren, in der noch nicht täglich zehntausend deutsche Soldaten verreckten, wie in der Endphase des Höllensturzes.

„Familie Pfundig“ knüpfte an die Werte einer antiintellektuellen Erwachsenen- und Jugendkultur an, geprägt von realem, vor allem aber virtuellem Leben und Abenteuer. Die Form der Comic-Zeichnung zielte auf die große Mehrzahl, auf einfache Problem-Lösung-Strukturen, auf Aufgabe und Erfüllung. Ihr Gestalter Emmerich Huber bettete all dies in humoristische Watte, doch andere seiner Zeichnungen präsentierten auch den rassistischen Grundtenor des Nationalsozialismus. Angesichts der breiten Klaviatur der NS-Propaganda war dies all denen klar, die lesen und sehen konnten und wollten.

„Familie Pfundig“ ist eine abgeschlossene, nicht wirklich bedeutsame Episode im breiten Kranz der NS-Kriegspropaganda – mochte sie auch abermillionenhaft gedruckt und verbreitet worden sein. Sie steht für die Wandlungsfähigkeit und Vielgestaltigkeit der Kriegspropaganda. Die steten Einseitigkeiten, Halbwahrheiten und offenen Irreführungen in der staatsnahen, vielfach staatsgleichen Presse waren einfacher zu erkennen als die nette Umrahmung, die freundliche Bitte zum Mitmachen, die Alltagshilfe. Und vielleicht kann der Blick auf „Familie Pfundig“ das Verständnis dafür schärfen, auf welch samten Pfoten sie uns bis heute umschleicht.

Uwe Spiekermann, 5. November 2022

Flämmchen hilft – Nationalsozialistische Propaganda für sparsames Heizen

Galoppierende Inflation, einbrechende Wachstumsprognosen, zunehmende Insolvenzen und wachsende Deindustrialisierung auch abseits der Automobilindustrie – zu alledem steht die Bundesrepublik Deutschland vor einer weit über den kommenden Winter hinausreichenden Energiekrise, genauer einer Energiepreiskrise. Sie ist vorrangig Ergebnis einer unausgegorenen, ökonomische Grundregeln verletzenden Energiewende und einer westlichen Sanktionspolitik gegen die russische Föderation, die deutsche Interessen schlicht hintanstellt – und damit zugleich eine vernünftige Klimaschutzpolitik unterminiert. Die wirtschaftlichen, sozialen und zunehmend auch politischen Folgen dieser Maßnahmen werden durch eine massive Verschuldung nur zeitweilig überdeckt. Der nicht nur für Marktwirtschaften essenzielle Preismechanismus kann langfristig nicht suspendiert werden. Es scheint, dass das politische Führungspersonal sich dieser Probleme nicht einmal ansatzweise bewusst ist.