Deutscher Rum – Gestaltungsutopie, Importalternative, Billigangebot

Rum – das war ein Trank, der von Ferne und Abenteuer kündete, von der Karibik, den Kämpfen zwischen Briten, Franzosen und Spaniern; und natürlich von der Seefahrt und Piraten: Yo ho ho, und ne Buddel voll Rum… Rum stand aber auch für eine begehrte Kolonialware mit zuvor unbekanntem rauchig-süßen, scharf-milden Geschmack. Wie Zucker, Kaffee, Kakao, Tee und Arrak veränderte sie die europäische Esskultur seit dem 18. Jahrhundert. Rum verkörperte die koloniale Plantagenwirtschaft, war Anlass und Zahlungsmittel des Sklavenhandels. Adam Smith (1723-1790), Vater des modernen Wirtschaftsliberalismus, formulierte eindeutig: „Rum ist ein sehr wichtiger Artikel bey dem Handel, den die Amerikaner nach der afrikanischen Küste betreiben, von da sie Negersklaven zurück bringen“ (Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, 2. verb. Ausg., Bd. 2, Breslau und Leipzig 1799, 503).

Rum war jedoch auch ein Importgut des Ausschlusses: Die deutschen Lande mochten um 1800 bedeutende Dichter und Denker hervorbringen, sich langsam zu einer Großmacht der Wissenschaft und des Gewerbefleißes wandeln. Doch im Blick auf die beherrschte Welt der Ferne, auf die vom Westen okkupierten kolonialen Peripherien, sah man kränkende Defekte der eigenen Lebenswelten. Die Kolonialwaren waren nicht nur begehrte Ergänzungen. Sie verwiesen immer auch zurück auf die Enge des Eigenen – und seit dem späten 18. Jahrhundert setzte dies neue wissenschaftlich-industrielle Kräfte frei, um Importwaren durch Surrogate zu ersetzen.

Man begann mit der Kultivierung der Zichorie und anderer Pflanzen als Kaffeeersatz, verstärkte den heimischen Tabakanbau. Wichtiger noch war die Nutzung der gemeinen Rübe zur Zuckerproduktion. Die Extraktion war aufwändig und teuer, doch insbesondere die Kontinentalsperre 1806 – also die Wirtschaftsblockade Großbritanniens und seiner Kolonien durch die unter napoleonischer Herrschaft stehenden europäischen Staaten – intensivierte die staatliche Förderung des Rübenzuckers. Das „heimische“ Gewerbe bot eine Alternative zum britisch dominierten globalen Rohrzuckerhandel. Rübenzucker etablierte eine der ersten Industrien auf dem Lande: Die „rationale“ Landwirtschaft nutzte Wissenschaft und Technik. Geist, angewandtes Wissen über die Natur, erlaubte die Produktion moderner Süße auf eigener Scholle. Rübenzucker galt als Triumph des Menschen über die Natur, als Sieg der Agrarwissenschaft und des Maschinenbaus über die Widrigkeiten von Boden und Klima. Die Globalisierung führte eben nicht nur zur wirtschaftlichen Durchdringung und Ausbeutung kolonialer Regionen, sondern löste vielfältige Gegenreaktionen in den Zentren der westlichen Welt aus. Der Rübenzucker unterstrich, dass die klimatisch gemäßigten Länder die brutale und teure Kolonialherrschaft eigentlich nicht benötigten, dass es zumindest möglich war, viele der dortig kultivierten Produkte zu substituieren.

Rum aus Rübenzucker?

Rum war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in deutschen Landen nicht weit verbreitet. Er war teuer, passte nicht recht in eine Trinkkultur, in der das Bier dominierte, im Südwesten und der Mitte auch der Wein. Doch der für die Ernährungssicherheit so wichtige, im späten 18. Jahrhundert einsetzende Kartoffelanbau veränderte das Spirituosenangebot (Uwe Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 31-32). Am Ende der napoleonischen Zeit ging wachsende Ernährungssicherheit einher mit billigem „Branntwein“ aus Kartoffeln. Wegbereiter der rasch beklagten „Branntweinpest“ war der 1817 patentierte Pistoriussche Brennapparat (F[riedrich] Knapp, Lehrbuch der chemischen Technologie […], Bd. 2, Braunschweig 1847, 436-437). Billiger Kartoffelschnaps ermöglichte nicht nur einen massiv steigenden Alkoholkonsum, der sogar die heutigen Mengen übertraf. Hochprozentige Destillate wurden nun auch Kennzeichen und Kernproblem der deutschen Trinkkultur bis zum späten 19. Jahrhundert. Hochwertige und teure Trinkbranntweine wie der heimische Weinbrand/Kognak und die Importwaren Rum und Arrak profitierten von dieser Entwicklung indirekt, wurde ein „wärmender“ Trank doch allgemein üblich, waren die besseren Sorten bürgerliche Alternativen zum billigen Fusel der unteren Klassen.

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„Deutscher Rum“ für deutsche Bürger (Allgemeiner Anzeiger [Gotha] 1812, Nr. 117 v. 2. Mai, Sp. 1216)

„Deutscher Rum“, ein rumartiger Trinkbranntwein hergestellt aus heimischen Rohstoffen, entstand zur Zeit der Kontinentalsperre. Rumfabriken wurden schon vorher beantragt, bekannt die ablehnende Haltung Friedrich II. gegenüber dem Gesuch der Berliner Firma Krüger & Co. 1775: „Ich wünsche, daß das giftig garstigs Zeug gar nicht da wäre und getrunken würde“ (Friedrich der Große. Denkwürdigkeiten seines Lebens, Bd. 2, Leipzig 1886, 247). Doch was damals unter „Rum“ verstanden wurde, ist unklar. Das galt auch für die 1808 in Jena gegründete Deutsche Rum-Fabrik. Ziel „vaterländischen Kunstfleißes“ war jedoch, einheimische Rohstoffe so zu nutzen, dass am Ende ein dem westindischen Rum vergleichbares Getränk produziert werden konnte. Entsprechende Angebote gab es in „mehreren Gegenden Deutschlands“, doch es fehlte ihnen der charakteristische Geruch. Anders bei einem damals in Wiesbaden produzierten Trank: „Die mir zugeschickte Probe habe ich, zur Bereitung des Punsches verwendet, in Gesellschaft einiger Freunde versucht, und unser Urtheil fällt dahin aus, daß dieser vaterländische Rum dem westindischen sowohl pur, als im Punsch, an Stärke, Geschmack und Geruch ganz gleichkommt und keine Betäubung des Kopfes veranlaßt“ (J.S. Hennicke, Deutscher Rum, Allgemeiner Anzeiger (Gotha) 1813, Nr. 75 v. 17. März, Sp. 745-746). Für diesen deutschen Rum stand der Frankfurter Destillateur Johann Heinrich Rauch Pate: „Nach einer langen Reihe von Versuchen, die er mit großem Kostenaufwand viele Jahre hindurch angestellt hatte, gelang es ihm endlich, ein Verfahren zu entdecken, einen vollkommen guten Rum und Arac, welche dem Beyfall der Kenner erhalten haben, zu fabriciren“ (Berichtigungen und Streitigkeiten, Ebd., Nr. 191 v. 20. Juli, Sp. 1782). Sein Sohn Johann Carl Rauch betrieb erst mit einem Kompagnon in Wiesbaden, ab 1812 dann auf eigene Rechnung in Frankfurt a.M. die Herstellung und den Vertrieb dieses Kolonialwarensurrogats. Kontinuierlicher Erfolg blieb ihm jedoch versagt.

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Bezeichnung ohne Präzision (Mittheilungen des Gewerbevereins für das Königsreich Hannover 1834/35, Sp. 504)

„Deutscher Rum“ wurde auch in der Folgezeit aus Rübenzuckerbestandteilen hergestellt. Die seit 1828 rasch wachsende Zahl bilateraler Zollverbünde, die 1834 in den Deutschen Zollverein mündete, führte zu deutlichen Zollerhöhungen und entsprechenden Preissteigerungen des Importrums: „Seitdem man in Deutschland bemühet war, die einheimischen zuckerhaltigen Pflanzen auf Gewinnung des festen Zuckers zu behandeln, um den früherhin so hoch im Preise stehenden ausländischen zu entbehren, und in der weißen Runkelrübe ein vorzügliches Material dazu fand, war man bemüht, auch die Abgänge derselben auf Branntwein, Rum und Essig zu benutzen, und bereitete eine, wenngleich nicht dem Jamaika-Rum ganz gleichkommende, jedoch sehr ähnliche geistige Flüssigkeit“ (Albert Franz Jöcher, Vollständiges Lexikon der Waarenkunde in allen ihren Zweigen, 3. verb. u. verm. Aufl., Bd. 2, Quedlinburg und Leipzig 1840, 718-719). Derartiger „Rum“ wurde teils auch aus Rübenzucker hergestellt. Dieser wurde in Wasser aufgelöst, erhitzt, mit Hefe in Gärung versetzt. Die so hergestellte Zuckermaische destillierte man, gab reinen Alkohol hinzu, erhielt dadurch einen Branntwein. Doch nicht nur Fachleute warnten: „Dieser aus Zucker gewonnene Weingeist darf aber nicht mit dem Rum verwechselt werden“ (Wilhelm Keller, Die Branntwein-Brennerei nach ihrem gegenwärtigen Standpunkte, T. 2, Leipzig 1841, 93). Der Geschmack war deutlich anders, gehaltvoll, aber fade. „Rumfabriken“ variierten daher seit den 1830er Jahren die Grundstoffe: Teils nutzte man importierte Rohrzuckermelasse, teils Abfallprodukte der Rübenzuckerraffination. Deutsche Firmen übernahmen entsprechende Verfahren meist von Vorbildern in Großbritannien und den Niederlanden. Der in Frankreich propagierte Import von Zuckerrohr fand in deutschen Landen dagegen keinen Widerhall (Ueber die Errichtung von Baumwoll-, Kaffee- und Zukerpflanzungen in Frankreich, Polytechnisches Journal 42, 1832, 220-221, hier 221).

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Rumfabrikation aus Weingeist und mehr (Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Stralsund 1843, Nr. 31 v. 3. August, Oeffentlicher Anzeiger, 173)

Niedrige Preise waren zentral für die Vermarktung derartiger Alkoholika – und seit den 1830er Jahren nahm die Zahl sog. „Rumfabriken“ zu. Anfangs verschnitten sie importierten Rum mit Weingeist, koppelten also Rohrzucker- und Kartoffelprodukte (C[arl] F. W. Dieterici, Statistische Uebersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate […] 1831 bis 1836, Berlin, Posen und Bromberg 1838, 307). Doch seit den 1840er Jahren verzichteten sie zunehmend auf „echten“ Rum, setzten vielmehr auf aromatisierten und gefärbten Kartoffelsprit. Das Resultat war billiger als „Deutscher Rum“ aus Zucker, doch trotz aller Tricks und Zusätze „immer noch sehr schlecht“ (Rum, in: Allgemeine Encyclopädie für Kaufleute und Fabrikanten […], 3. Aufl., Leipzig 1838, 672-673, hier 673). Derartige „Rumfabriken“ entstanden zumeist im Osten Preußens, in der Nähe zur Kartoffelspritproduktion (Gewerbe-Tabelle der Fabrikations-Anstalten und Fabrik-Unternehmungen aller Art […], Beil. IV, Berlin 1847, 44). Sie nutzten die Bezeichnung „Deutscher Rum“ also nicht nur für Rübenzucker-, sondern auch für Kartoffelprodukte. Selten gebraucht, bezeichnete er in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Kunstprodukt, ein Billigangebot.

04_Saechsischer Landes-Anzeiger_1891_12_24_Nr299_p4_Dresdner Nachrichten_1885_01_25_Nr026_p5_Punsch_Rum_Deutscher-Rum_Kunstrum

Deutscher Rum als Chiffre für Kunstrum (Sächsischer Landes-Anzeiger 1891, Nr. 299 v. 24. Dezember, 4 (l.); Dresdner Nachrichten 1885, Nr. 26 v. 25. Januar, 5)

Dadurch geriet der teurere „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker ins Hintertreffen, verschwand gar vom Markte. Gleichwohl gab es ab und an weitere Versuche, Rum aus anderen heimischen Rohstoffen herzustellen. Während für Destillateure und Chemiker um die Jahrhundertmitte klar war, dass Importrum mit den vorhandenen Mitteln nicht herzustellen war, waberten die Hoffnungen auf ein mittels neuer Technik hergestelltes Rumsurrogat in der bürgerlichen Öffentlichkeit weiter. Der Aufstieg der organischen Chemie nährte solche Vorstellungen: Die Agrikulturchemie führte bereits zu höheren Erträgen, das 1856 entdeckte Mauvein öffnete die Tür zu einer neuartigen Welt künstlicher Farbstoffe, die mittelfristig auch koloniale Naturfarbstoffe ersetzen sollten. Dennoch verwundert die Geschichte der im Januar 1860 in Dresden gegründeten Sächsischen Rum-Fabrik.

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Rum aus Biertrebern: Anzeige für die Sächsische Rumfabrik (Leipziger Zeitung 1859, Nr. 252 v. 23. Oktober, 5171)

Der aus dem Landkreis Bautzen stammende Braumeister Peter Noack hatte Anfang 1859 ein Verfahren zur Herstellung von Porterbier, Arrak und insbesondere Rum vorgestellt. Ausgangsmaterial sollte Biertreber sein, ein Malzrückstand der Brauerei, die Gewinne alles Vorherige in den Schatten stellen (Dresdner Journal 1859, Nr. 32 v. 9. Februar, 127). Die anfangs für die neu zu gründende Aktiengesellschaft anvisierten 250.000 Taler ließen sich nicht realisieren, doch mit beträchtlicher Werbung und immensen Renditeversprechungen kamen stattliche 50.000 Taler zusammen. Dabei hatte es an Warnungen nicht gefehlt, „echter Jamaika-Rum werde eher aus der Erde hervorsprudeln, bevor eine Actie der besagten Rumfabrik die in Aussicht gestellten mir fabelhaften Procente bringt“ (H. Hollnack, Noch einen Nachricht wegen einer zu begründenden Rumfabrik, Ebd., Nr. 259 v. 9. November, 1044). Und so kam es: Die Produktion erbrachte gar klägliche Erträge, das Unternehmen wurde bereits Mitte März 1860 aufgelöst. Die Einlagen waren verloren, Maßregeln gegen den Patentinhaber verliefen im Sande (Dresdner Nachrichten 1860, Nr. 60 v. 29. Februar, 3; ebd., Nr. 71 v. 11. März, 2). Noack führte die Firma weiter, offerierte auch vermeintlichen Treberrum, doch dieser war wenig ansprechend (Ebd. 1860, Nr. 147 v. 26. Mai, 8). Die Regionalposse diente als Beleg für die auch nach der Weltwirtschaftskrise 1857/58 weiter bestehenden Gefahren unregulierter Aktiengesellschaften und einer zu starken Wirtschaftsliberalisierung (Th[eodor] Günther, Die Reform des Real-Credits, Dresden 1863, 69). Doch sie spiegelte zugleich eine weit verbreitete Gläubigkeit an die mythenlastigen Mächte von „Wissenschaft“ und „Technik“. An die Stelle der Alchimisten waren scheinbar großsprecherische Unternehmer getreten.

Ernüchternde Realität: Rumkonsum und Rummarkt in Deutschland im 19. Jahrhundert

Das Scheitern von Substituten des Importrums darf nun aber nicht zur Annahme verführen, dass sich im Alltag die bessere, echte Ware gegenüber den Surrogaten durchgesetzt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Gewiss, Rum wurde importiert, es gab durchaus „echten“ Rum zu kaufen. Doch er blieb eine seltene Ausnahme. Sein hoher Alkoholgehalt, ca. 72-75 % für den am höchsten geschätzten Jamaika-Rum, machte ihn zu scharf für den direkten Konsum. Echter Rum, original Rum – bei alldem handelte es sich fast durchweg um Verschnitte. Präzise Analysen fehlen, doch kann man bei den besten Sorten Trinkrum von einem Alkoholgehalt von ca. 52 bis 55 % ausgehen. Einstellen für den Verkauf hieß dann Zugabe von (destilliertem) Wasser. Das erfolgte vielfach schon in den Londoner Docks, teils in den deutschen Importhäfen, teils bei den Großhändlern, selten auch bei Gastwirten und Kolonialwarenhändlern. Was bei der Milch dank zahlloser Milchregulative im späten 19. Jahrhundert als Verfälschung galt, war bei Rum Handelsbrauch.

06_Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik_1875_12_01_Nr335_p6_Augsburger Neueste Nachrichten_1875_12_12_Nr295_p3424_Spirituosen_Delikatessenhandlung_Punsch_Rum_Likoer

Angebotspalette für den festlich-kalten Dezember (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 1875, Nr. 335 v. 1. Dezember, 6 (l.); Augsburger Neueste Nachrichten 1875, Nr. 295 v. 12. Dezember, 3424)

Rum wurde allerdings nur sehr selten pur getrunken. Er war vielmehr ein typisches Mischgetränk. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um die heute so modischen Cocktails. Diese kamen erst in den 1920er Jahren auf. Rum wurde ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts vielmehr erstens mit Essenzen und Wasser versetzt, war Alkohol- und Geschmacksträger zugleich. Obwohl ein „wärmendes“ Getränk, trank man ihn zumeist mit heißem Wasser, verdoppelte so den Energiewert. Neben der Verwendung in aromatisierten Punschen und Bowlen trat zweitens aber das für Deutschland typische Rumgetränk, der aus England übernommene Grog. Dabei handelte es sich um heißes Wasser, einen ordentlichen Schuss Rum und etwas Zucker. Verdünnter Rum verliert sein Aroma nur in Ansätzen, Hitze bringt die süßlichen, teils aber auch erfrischenden Geschmacksnuancen gar stärker zur Geltung. Grog wurde vor allem in Nord- und Ostdeutschland getrunken, doch Satirezeitschriften wie der „Münchener Grog“ belegen seine Präsenz auch im übrigen Deutschland. Grog stand dabei für den Übergang vom häufig privaten, häuslichen Verzehr aromatisierter Rumgetränke zum vermehrt öffentlichen und geselligen Konsum. Das traf auch für eine dritte Konsumart zu, die heute kaum mehr bekannt ist. „Korn mit Rum“ begann seinen zeitweiligen Siegeszug in den 1880er Jahren, war paradoxe Begleiterscheinung der Temperenzbewegung und der massiv erhöhten Branntweinsteuer 1887. Es handelte sich vornehmlich um verdünnten und aromatisierten Weingeist aus Kartoffelspiritus. Rum war Aromaträger, zumeist aber nur aufgrund zugefügter Rumessenzen (A[braham] Baer, Die Verunreinigungen des Trinkbranntweins insbesondere in hygienischer Beziehung, Bonn 1885, 71-72). Für die Präsenz von „Rum“ in der Öffentlichkeit war Korn mit Rum gleichwohl wichtig, denn es handelte sich um ein Billiggetränk für die breite Bevölkerung. Weitere modische Mischgetränke folgten, etwa die „Granate mit dem Schnellfeuer“ – eine Mixtur von Nordhäuser Korn mit Rum – oder der „Husarenkaffee“, ein Amalgam von Kümmel mit Rum (Berliner Schnäpse, Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 47), doch sie gewannen nur regionale Bedeutung. Viertens schließlich ging Rum auch eine Melange mit dem kolonialen Tee ein. Tee mit Schuss erlaubte auch Frauen eine kleine, doch merkliche Alkoholzufuhr im häuslichen Rahmen, aber auch in Teestuben und Cafés. Der für das späte Kaiserreich charakteristische Five-o-clock-Tea wäre ohne derartig unsichtbar-beschwingende Zusätze gewiss weniger beliebt gewesen.

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Grog als wärmendes Wintergetränk (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7717)

Der Rumkonsum war stark saisonal geprägt. Man trank ihn vornehmlich in der kalten Jahreszeit, die meisten Annoncen erschienen im Dezember. Dieser Saisonalität entzogen sich weitere haushaltsnahe Verwendungsformen ansatzweise. Rum wurde im 19. Jahrhundert nämlich erstens auch als Stärkungs- und Kräftigungsmittel, ja, als Heilmittel gereicht und getrunken (J[osef] Ruff, Schutz der Gesundheit für Jedermann, Straßburg i.E. 1893, 253-254). Schon die in der britischen Marine lang und intensiv geführten Debatten, ob Skorbut eher durch Zitronensaft oder aber durch Rum bekämpft werden könne, verwiesen in diese Richtung. Rum sollte beleben, gegen Bleichsucht und Schwäche helfen, einen ruhigen Schlaf einläuten. Zweitens war Rum aufgrund seines kräftigen Aromas ein gängiges Würzmittel in bürgerlichen Haushalten. Rumaromen gewannen seit dem späten 19. Jahrhundert zwar an Bedeutung, zumal beim Backen und bei Nachtischen, doch ihnen fehlte die beim Kochen und Backen immer auch wichtige Masse. Drittens schließlich diente Rum, wie auch andere Trinkbranntweine, dem Einmachen. Der Rumtopf rettete Obst vor dem Verderb, war ein Trank für eine gesellige Runde, diente als Kompott, für Nachtische, Mehlspeisen und süße Saucen.

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Rum als bewährte Einmachhilfe (Mayener Volkszeitung 1902, Nr. 156 v. 10. Juli, 3)

Rum war in deutschen Landen im 19. Jahrhundert demnach mehr Ahnung als Realität, mehr Geschmacksnuance denn pures Getränk. Rum war vielgestaltig, fluid, auch als „echtes“ Kolonialprodukt kaum zu fassen, zumal die westindischen oder (selten auch) ostindischen Produkte höchst unterschiedlich waren, abhängig von heterogenen Verfahren, Rohwaren, klimatischen Einflüssen und auch Lager- und Transportbedingungen. In deutschen Landen kannte man das importierte und bearbeitete Endprodukt, während das Wissen über die überseeische Herstellungstechnik vage blieb, lange Zeit nur auf allgemein gehaltenen Reiseberichten und Beschreibungen kolonialer Wirtschaftspraktiken gründete. Die Umwandlung des kolonialen Importrums in eine in Deutschland absetzbare alkoholische Ware setzte auch daher vor allem beim Getränk selbst an. Die Produktion von „Deutschem Rum“ aus Rübenzucker vermochte den charakteristischen Geschmack des Rums nicht nachzubilden. Daher ging man ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts zu direkten Produktmanipulationen über. Getragen von der Imagination eines „echten“ Importrums schuf und vermarktete man Produkte, die sich von Zeit und Raum der Herstellung emanzipiert hatten. „Rum“ war künstliche Kost, die mit dem „echten“ Importrum kaum mehr gemein hatte als den Namen. Und dieser half die vielfältigen Eingriffe und Veränderungen der Produktion zu überdecken, ja, vergessen zu machen.

Was genau aber war „Rum“ im langen 19. Jahrhundert? Vier nicht immer klar voneinander abgrenzbare Arten sind zu unterscheiden. Erstens gab es den „echten“ Rum. Dabei handelte es sich um nicht veränderten Importrum bzw. dessen Verschnitt auf einen Alkoholgehalt von ca. 50-55 %. Dieses obere Ende des Marktes war klein und erschien Zeitgenossen als Ausnahme.

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Grundstoffe für Kunstbranntweine, inklusive Kunstrum (Illustrierte Zeitung 1857, Nr. 743 v. 26. September, 216)

Mengenmäßig dominant dürfte stattdessen der Kunstrum gewesen sein: Rum wurde als ein stark alkoholhaltiges Getränk mit einem charakteristischen Geschmack verstanden; und dieses baute man durch Kartoffelsprit und aromatische Zusätze nach. Kunstrum war „deutscher Rum“ in charakteristischer Brechung. Es ging um ein als „Rum“ vermarktbares Getränk, nicht aber mehr um den Ersatz von Rohrzucker durch Rübenzucker. Kunstrum war ein Billigprodukt, mit Augenzwinkern als „Rum“, selten auch als „Deutscher Rum“ angeboten. Lässt man das Odium des Ersatzmittels aber beiseite, so handelte es sich bei ihm um eine preiswerte und massenkompatible heimische Alternative. Karibiksonne hatte ihn nie beschienen, doch er war Abglanz eines Zeitalters wissenschaftlicher Entdeckungen in der organischen Chemie. Der Liebig-Schüler Friedrich Knapp (1814-1903) präzisierte: „Der feine, dem Aroma des Rums sehr nahe kommende Geruch des Buttersäureäthers […] hat die Veranlassung gegeben, daß diese Verbindung gegenwärtig sehr häufig zur Nachahmung des Rums mittelst gewöhnlichen Branntweins benutzt wird“ (Knapp, 1847, 411). Und Hermann Klencke (1813-1881), der wohl auflagenstärkste Wissenschaftspopularisator der Jahrhundertmitte, benannte die Folgen dieser chemischen Entdeckung: „Der meiste Rum, der in Deutschland verkauft wird, ist künstlich fabricirt, indem man eine Portion echten Rum mit fuselfreiem Spiritus versetzt und durch gebrannten Zucker und Buttersäure-Aether Geruch, Geschmack und Farbe imitirt“ (Die Verfälschung der Nahrungsmittel und Getränke […], Leipzig 1858, 297-298). Buttersäureäther war Großchemie im Kleinen, entstand durch den Einsatz von Kalilauge und Schwefelsäure, erforderte eine Destillation. Während es der Grundlagenforschung vorrangig um die Erkundung der Materie ging, nutzen Unternehmer diese Kenntnisse für neue und preiswertere Produkte, angeleitet durch einen wachsenden Markt von Ratgebern. Seit den 1840er Jahren nahm die Zahl von Halbfertigäthern zu. Sie ermöglichten schon lange vor der Isolation natürlicher und der Synthese künstlicher Aromen die Kreation von Geschmacksprofilen.

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Deutscher Rum als billiger Kunstrum (Bensberg-Gladbacher Anzeiger 1887, Nr. 7 v. 22. Januar, 3 (l.); Märkisches Tageblatt 1888, Nr. 305 v. 29. Dezember, 4)

Die Entwicklung ging von Hautgeschmacksträgern zu nuancenreicheren Zusätzen: An der Seite des Buttersäuresäthers standen rasch Coccinsäure- oder Ameisensäureäther. Damit komponierter Kunstrum wurde mit Zuckercouleur, Sirup und/oder Eichenrinde abgerundet und braun gefärbt: “Die Leichtgläubigkeit des Publikums geht manchmal so weit, daß es einen gefärbten und mit etwas Essigsäure- oder Buttersäureäther versetzten fuselhaltigen Branntwein auch für Rum nimmt“ (Ferdinand Artmann, Die Lehre von den Nahrungsmitteln, ihrer Verfälschung und Conservirung […], Prag 1859, 456). In den Folgejahren wuchs die Zahl einsatzfähiger und fertig käuflicher Komponenten rasch an. Die Sprache der Zusätze mag uns fremd vorkommen, da wir uns vielfach kein Bild davon machen, welche (durchaus harmlosen) Chemikalien in gängigen Lebens- und Genussmitteln enthalten sind. Doch Essig- und Salpeteräther, auch Birkenöl, Glanzruss, Zimt, Veilchenwurz, Perubalsam oder Vanilleessenz, erlaubten die Produktion von durchaus ansprechendem Kunstrum (Wiederhold, Unterscheidung des echten Colonial-Rums vom unechten, sogenannten Facon-Rum, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 5, 1864, 11-12; Louis Pappenheim, Handbuch der Sanitäts-Polizei, Bd. 1, 2. neu bearb. Aufl., Berlin 1868, 360). Der Erfolg des Kunstrums basierte daher nicht nur auf dem niedrigen Preis, sondern auch auf einer dem Geschmack zusagenden und ansatzweise berechenbaren Aromatisierung mit Chemikalien und natürlichen Aromastoffen, deren Rohwaren teils aus kolonialen Kontexten stammen. In Österreich gilt entsprechender Inländerrum bis heute als geschützte Spezialität – mit Stroh-Rum als bekanntester Marke. Anders als die Parfümindustrie, deren Aufschwung seit den 1870er Jahren eng mit synthetischen Duftstoffen verbunden war, blieb die Kunstrumproduktion noch über Jahrzehnte den tradierten Zusätzen der Jahrhundertmitte verbunden. Deren allgemeine Verfügbarkeit über Apotheken und Drogerien ließ Kunstrum auch zu einem häuslich hergestellten Produkt werden. An die Seite der Fabrikanten, Destillateure und Budiker traten auch Hausfrauen, um dem Mann zu frommen oder Silvester punschig zu feiern.

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Verhäuslichung der Kunstrumproduktion (Wiener Hausfrauen-Zeitung 20, 1894, Nr. 5, 43)

Aromatisierter Kunstrum war ein künstliches Getränk eigenen Rechts, doch die Annäherung an das koloniale Referenzprodukt gelang nur unzureichend. Je nach Zusätzen dominierten einzelne Geschmackskomponenten, während andere fehlten. Kunstrum erlaubte aufgrund seines niedrigen Preises zudem keine hohe Wertschöpfung, stand unter dem Verdikt der Nahrungsmittelfälschung. Entsprechend entstand drittens mit dem Faconrum eine dritte Rumart, eine Mischung aus Verschnitt- und Kunstrum. Aromatisierung und der Einsatz von Kartoffelsprit wurden beibehalten, doch um einen mehr oder minder großen Anteil von Kolonialrum ergänzt. Gerade bei rumhaltigen Heißgetränken konnte mit überschaubarem Einsatz von fünf oder zehn Prozent „echtem“ Rum ein besseres Aroma erzielt, höhere Preise verlangt werden. Faconrum dokumentiert typische Pendelschläge bei der Entwicklung künstlicher Kost. Das teure Original wurde zuerst mittels heimischer Rohwaren versucht zu substituieren. Falls dies, wie im Falle des Rübenzuckerrums, zu keinem wettbewerbsfähigen Produkt führte, traten Kunstprodukte aus andersartigen Bestandteilen an dessen Stelle. Die offenkundigen Defizite wurden anschließend versucht abzubauen – zuerst durch verbesserte Aromatisierung mit chemischen oder natürlichen Geschmacksstoffen, dann mit einem nur begrenzten Einsatz des Originalproduktes. Lernprozesse dieser Art finden sich auch in anderen Konsumgüterindustrien dieser Zeit, etwa Fleischpulver, Kräftigungsmittel oder vegetarischer Fleischsubstitute. Sie prägen heute unser gesamtes Lebensmittelangebot, mögen uns Produktbezeichnungen und die allgemeine Ästhetisierung beworbener Nahrung auch anderes suggerieren.

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Preisdifferenzen beim Faconrum – je nach „Rum“-Gehalt (Vorwärts 1893, Nr. 214 v. 12. September, 8)

Faconrum und Kunstrum nutzten viertens vermehrt auch Rumessenzen, also Fertigprodukte der parallel zur pharmazeutischen und kosmetischen Industrie entstehenden Essenzenindustrie. Deren industriell gefertigte Angebote unterschieden sich deutlich von den Chemikalien der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie waren teils synthetisiert (wie Vanillin), vor allem aber stofflich standardisiert, waren also nicht nur in großer Menge (und damit billiger) herzustellen, sondern konnten gezielt als Vor- und Zwischenprodukte eingesetzt werden (August Gaber, Die Likör-Fabrikation, 9. verb. u. sehr verm. Aufl., Wien und Berlin 1913, 195-226, 290-324). Mit ihnen glaubte man damals, das „Reservatrecht der Natur“ (Emil Fischer, Die Chemie der Kohlenhydrate und ihre Bedeutung für die Physiologie, Berlin 1894, 23) durch Synthese durchbrechen und so zu einer neuen, vom Menschen gestalteten Welt gelangen zu können (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209).

Als Stoffkomposita hatten Rumessenzen zwar machen Makel – ihr Einsatz als Teerum und Grog scheiterte aufgrund der Hitze des Ausgusses, auch konnten sie analytisch erkannt werden (Theodor Koller, Die Ersatzstoffe der chemischen Industrie, Frankfurt a.M. 1894, 82-83). Doch sie erlaubten den Übergang von der gewerblichen in die häusliche Sphäre. Seit den 1890er Jahren ersparten sie den Käufern die lange Tüftlerphase der Produzenten, denn durch die Mischung von Wasser, Weingeist (also Kartoffelsprit) und Rumessenz konnte jeder „Rum“ zu Hause herstellten. Pointiert formuliert finden wir seither im Deutschen Reich strukturelle Analogien zur kolonialen Plantagenwirtschaft: Einerseits zahlreiche größere Produzenten, die für regionale, nationale und auch internationale Märkte produzierten, anderseits aber auch viele Kleinproduzenten, die auf Zuckerplantagen resp. in den heimischen Wänden Rum selbst bereiteten.

13_Vorwaerts_1899_10_01_Nr230_p07_Ebd_1900_12_30_Nr303_p11_Spirituosen_Rum_Essenzen_DIY_Albert-Marquardt_Otto-Reichel

Selbstbereiteter „Rum“ dank Rumessenzen (Vorwärts 1899, Nr. 230 v. 1. Oktober, 7 (l.), ebd. 1900, Nr. 303 v. 30. Dezember, 11)

Verschnitte, Kunstrum, Faconrum und Rumessenzen sind typisierende Abstraktionen, die unter diesen Begriffen im Rummarkt seit Mitte des 19. Jahrhundert vielfach nicht aufzufinden waren. Dort dominierte meist allein der lockende „Rum“, vielfach verbunden mit einer Herkunftsbezeichnung. Doch ohne derartige Ordnungsbegriffe wird man sich nicht zurechtfinden in einem Markt ohne Kennzeichnungspflichten, ohne klar definierte Produktbezeichnungen und Markenartikel. Wie bei vielen anderen Konsumgütern dieser Zeit wurde die allgemeine Marktunsicherheit vorrangig durch Händlervertrauen vermindert. Nicht umsonst stammen die meisten Anzeigen für Rum von Kolonialwaren- und Feinkosthändlern. Dies veränderte sich erst in den 1890er Jahren, mit den Herstellern von Rumextrakten als Trendsetter.

Zwei Punkte gilt es noch festzuhalten: Erstens war der deutsche Rummarkt im 19. Jahrhundert auch deshalb so vielgestaltig, weil eine leistungsfähige marktordnende Überwachung fehlte. Die damaligen Kontrollbehörden konnten einen gut gemachten Kunstrum kaum von einem Verschnitt oder einem Faconrum unterschieden. Marktvielfalt setzte den Käufer in sein Recht, barg aber immer die Gefahr der Übervorteilung. Zweitens wäre es verkürzt, würde man die unterschiedlichen Rumarten mit wertenden Kategorien belegen. Während der Importrum nicht zuletzt seit der Zollerhöhung 1889 kein Alltagsprodukt mehr sein konnte, erlaubten die billigeren Angebote den Konsum rumartiger Getränke in allen Teilen der Bevölkerung. Die Palette der Rumarten erlaubte konsumtive Teilhabe – durchaus in Analogie zum Wechselspiel von echtem Kaffee und den mengenmäßig dominierenden Surrogaten. Doch ebenso wenig wie ein Malzkaffee per se geringwertiger war als importierter Kolonialkaffee, so handelte es sich auch bei den verschiedenen Rumarten um Produkte eigenen Rechts. Surrogate hatten ihren Eigenwert: Rübenzucker war ein Ersatzmittel, setzte aber einen neuen Standard für Süße. Kolonialprodukte führten zu lokalen Aneignungsprozessen, die neue Realitäten schufen, die weit über das Ursprungsprodukt hinaus wiesen. Auch abseits der noch nicht möglichen chemischen Analyse und der Aufdeckung von Fälschung und Betrug wurde die Scheidung zwischen vermeintlich Echtem und vermeintlich Nachgemachten dadurch erschwert. Das Referenzgut Importrum konnte dafür kaum Ausgangsprodukt sein, sondern eher die Realitäten von Vermarktung und Konsumpraktiken in Deutschland selbst. Vor diesem Hintergrund war die ab 1890 wieder neu anlaufende Schaffung eines „Deutschen Rums“ aus heimischen Rübenzuckerprodukten eigentlich höchst traditionell, nicht mehr auf der Höhe des Marktgeschehens. Sie war eine typische Gestaltungsutopie von Ingenieuren und Chemikern, die auch um die Jahrhundertwende noch auf die Substitution eines „echten“ Ausgangsproduktes drängten, obwohl dieses im deutschen Rummarkt nicht dominierte und in den Importländern, ausgehend von den Standardisierungsbestrebungen in Jamaica, erst seit der Jahrhundertwende ansatzweise geschaffen wurde.

Auf der Suche nach Ordnung: Der deutsche Rummarkt um die Jahrhundertwende

Die wachsende Bedeutung von Kunst- und Faconrum im Deutschen Reich ging in den 1880er Jahren mit verstärkten Bestrebungen einher, die „normale“ Beschaffenheit aller Nahrungs- und Genussmittel zu bestimmen und quantitative Methoden ihrer Analyse zu entwickeln (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 43). Die aufstrebende Nahrungsmittelchemie zielte auf „objektives“ Wissen, grenzte sich strikt ab von regional heterogenen Handelsbräuchen und tradierten Sinnesproben. Und im Umfeld des 1879 erlassenen Nahrungsmittelgesetzes gab es zunehmend staatlichen Rückenwind, Verfälschungen systematisch zu bekämpfen und die Vielfalt der Angebote zu ordnen. Der Kunstbuttermarkt bot hierfür ein gutes Beispiel. Eine erste breit gefächerte Analyse aller Rumarten ergab allerdings, dass man mittels der gängigen Verfahren „nicht entscheiden [könne, US], ob ein Rum unverfälscht ist oder nicht“ (H[einrich] Beckurts, Mittheilungen über Untersuchungen von Rum, Monatsblatt für öffentliche Gesundheitspflege 1, 1878, 178-180, hier 180). Weitere Analysen benannten das grundsätzliche Dilemma: „Ob ein Rum eine ganz echte oder verschnittene Waare, oder gar ein reines Kunstproduct darstellt, darüber wird die Chemie heut zu Tage schwerlich Auskunft geben können, da dieselbe über wirklich brauchbare Methoden zur Erkennung solcher Zusätze oder Verfälschungen bislang nicht gebietet, ganz abgesehen davon, dass nicht einmal die Bestandtheile des echten Rums zur Zeit sammt und sonders definirbar sind“ (Heinrich Beckurts, Zur Zusammensetzung und Prüfung des Rums, Archiv der Pharmacie 60, 1881, 342-346, hier 344).

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Unerfüllte Versprechungen der chemischen Analyse (Kikeriki 23, 1883, Nr. 30 v. 15. April, 2)

Fachleute wussten, dass sich die Analytik aller Trinkbranntweine „nur in beschränktem Maaße brauchbar erwiesen“ hat (Carl Windisch, Ueber Methoden zum Nachweis und zur Bestimmung des Fuselöls in Trinkbranntweinen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt 5, 1889, 373-393, hier 373). Das lag auch daran, dass über die Rumproduktion in Westindien und über die Zusammensetzung des Importrums keine verlässlichen Daten vorlagen (Alexander Herzfeld, Bericht über die Versuche zur Darstellung Rum-artiger Produkte aus Rübensaft, Melasse und Rohzucker, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Rübenzucker-Industrie 40, 1890, 645-680, hier 645). Kein geringerer als Theodor Wilhelm Fresenius (1856-1936), Leiter des wichtigsten pharmazeutischen Laboratoriums im Deutschen Reich, zog daraus den drastischen und gut belegten Schluss, dass die Kontrolle des Rums „praktisch nicht durchführbar“ sei (Beiträge zur Untersuchung und Beurtheilung der Spirituosen, Zeitschrift für analytische Chemie 29, 1890, 283-317, hier 307). Die tradierte Sinnesprobe, also das Rumschnüffeln, -schmecken und -schauen, sei nach wie vor nicht zu ersetzen. Auch eine umfassende Studie des Reichsgesundheitsamtes über das Rumwissen und die einschlägigen Kontrollmethoden bestätigte, dass es unmöglich sei, „echte Waare von unechter auf chemischem Wege zu unterscheiden, […]. Auch hier wird solchen Sachverständigen der Vorzug zu geben sein, welche ihr Urtheil auf Grund der Geschmacks – und Geruchsprobe abgeben“ (Eugen Sell, Ueber Cognak, Rum und Arrak. 2. Mittheilung. Ueber Rum, das Material zu seiner Herstellung, seine Bereitung und nachherige Behandlung unter Berücksichtigung der im Handel üblichen Gebräuche sowie seiner Ersatzmittel und Nachahmungen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 7, 1891, 210-252, hier 240).

Für die Produktion von Kunst- und Faconrum sowie von Rumextrakten war dies zeitweilig eine Art Freifahrtschein. Dennoch begann damals ein zwei Jahrzehnte währender lokaler Kampf gegen „Rumverfälschungen“, der hier nicht nachzuzeichnen ist. Er wurde als gerichtlicher Nahkampf ausgefochten, bei dem immer wieder zur Debatte stand, was als „normaler“, als „handelsüblicher“ Rum zu verstehen war. Nicht Kunst- und Faconrum standen dabei im Mittelpunkt, sondern Verschnitte des echten Importrums. Er galt als Referenzobjekt, ein heterogenes Produkt wurde gleichsam naturalisiert. Das Hinzufügen von Wasser auch bei Premiumsorten – Original Jamaica-Rum – war schließlich einfach nachzuweisen. Doch als Gegenargument führten Händler immer wieder den Wunsch der Konsumenten nach handelsüblichen trinkbaren Rumsorten von mal 38, mal 45, mal 50, mal 55 % Alkohol an. Konsumentensouveränität wurde gegen das Ordnungsbestreben der Nahrungsmittelchemie ausgespielt. Die wiederholten Niederlagen von Nahrungsmittelchemikern vor Gericht galten nach der Jahrhundertwende zunehmend als Frage der Ehre, des Renommees und der Durchschlagskraft der akademischen Zunft.

15_Deutscher Reichsanzeiger_1896_01_10_Nr008_p08_Fliegende Blaetter_119_1903_Nr3046_Beibl10_p7_Spirituosen_Rum_Jamaikarum_Aug-Kramer_Koeln_Kingston_Pekarek_Wien

Handelsmarken für Jamaika-Rum (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 8 v. 10. Januar, 8 (l.); Fliegende Blätter 119, 1903, Nr. 3046, Beibl. 10, 7)

Die erbitterten Debatten boten eigentlich Markenrum große Marktchancen. Er war im Deutschen Reich lange Zeit unüblich, teils wegen des erst seit 1894 verlässlichen Markenschutzes, teils wegen der fehlenden inländischen Produktion abseits der Verschnitte. Den kleinen, aber wachsenden Markenartikelmarkt dominierten einheimische Handelsfirmen, meist Anbieter von Verschnittware. Hinzu kamen internationale Handelsfirmen, die Importrum abfüllten und vermarkteten. Während die deutschen Handelsfirmen ab und an brasilianischen und kubanischen, zumeist aber westindischen, „englischen“ Rum anboten, mehrere in Flensburg ansässige Firmen auch dänischen Importrum, wurde der Rum französischer Kolonien zumeist von französischen Handelsfirmen vermarktet. Durchweg dominierten die kolonialen Mutterländer und ihre europäischen Handelspartner, nicht aber die Rumproduzenten der kolonialen Periphere. Trotz dutzender Rumsorten mit Warenzeichen dominierte anonymer Kunst- und Faconrum weiterhin den deutschen Markt. Ähnliches galt beim Arrak. Innerhalb der Spirituosenbranche gab es eine Scherenbewegung: Während heimisch produzierte Liköre und Weinbrände seit den 1890er Jahren zunehmend als starke Marken mit ansprechender Werbung erschienen, fehlten diese bei Importrum und Rumverschnitten. Das sollte sich erst in den 1950er Jahren ändern.

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Rum als Angebot von Großhandelsfirmen: Warenzeichen der Bergedorfer Firma Heinrich von Have (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 25 v. 26. Januar, 18)

Markenartikel besaßen den Vorteil einer gewissen Berechenbarkeit von Preis und Zusammensetzung. Markenartikelproduzenten und Großhändler sicherten die Qualität ihrer Produkte zunehmend mit Betriebslaboratorien und freiwilligen Kontrollen durch Handelschemiker. Beim Rum war dies aber kaum möglich. Umso wichtiger waren Bemühungen um verbesserte Methoden der Trinkbranntweinanalyse, die Nahrungsmittelchemiker und die in schlagkräftigen Verbänden organisierten Spirituosenhersteller durchaus kooperativ betrieben. Marktordnung mittels verbindlicher Referenzwerte war im Sinne der größeren Unternehmen, da verlässliche Mindestanforderungen der gerade im Rummarkt dominierenden Billigkonkurrenz das Wasser abgraben konnten.

Die ersten rechtsverbindlichen Vereinbarungen über die Zusammensetzung von Spirituosen zielten mangels präziser Analysen Ende der 1890er Jahre auf die Gefahrenabwehr. Festgeschrieben wurde einerseits, welche gesundheitsgefährdenden Zusätze und Rückstände im Endprodukt nicht mehr enthalten sein durften, andererseits schuf man erste Obergrenzen für unerwünschte Stoffe, etwa die gängigen Fuselöle (W[ilhelm] Fresenius und K[arl] Windisch, Branntweine und Liköre, Vereinbarungen zur einheitlichen Untersuchung und Beurtheilung von Nahrungs- und Genussmittel sowie Gebrauchsgegenständen für das Deutsche Reich. Ein Entwurf, H. II, Berlin 1899, 123-133). Parallel bemühte sich insbesondere das Reichsgesundheitsamt um ein positives Wissen über Trinkbranntweine, darunter auch Rum. Da die kolonialen Produktionsverfahren zwar zumeist als „primitiv“ abgewertet wurden, im Detail aber unbekannt waren, analysierte man weiterhin Rumproben gängiger Importware, erhielt aufgrund der Variabilität dieser Angebote jedoch nur recht allgemeine Referenzdaten (Karl Windisch, Beiträge zur Kenntnis der Edelbranntweine, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 8, 1904, 465-505, hier 482-483). Die langsam beginnende Rationalisierung der Rumproduktion in Übersee mittels westlicher Maschinen begrüßte man, hoffte man doch auf stärker standardisierte Waren. Doch man ging nicht dazu über, Erkundigungen vor Ort einzuholen, etwa bei der 1862 gegründeten kubanischen Firma Bacardi oder der in Barbados seit 1892 mit deutschen Maschinen produzierenden West India Rum Refinery der aus Peine stammenden Brüder Hermann (1856-1916) und Georg Stade (1863-1922).

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Mechanisierung der kolonialen Rumproduktion durch deutsche Maschinen (Louisiana Planter and Sugar Manufactor 11, 1893, Nr. 6, XVII)

Der auf die angebotenen Waren gerichtete Fokus führte allerdings zur raschen Übernahme französischer Analysemethoden, die seit den 1890er Jahren das Aromenspektrum der Alkoholika genauer fassten; eine Konsequenz wachsender chemischer Kenntnisse über Ester, flüchtige Säuren, Aldehyde und natürlich höhere Alkoholverbindungen. Ebenso wichtig wurden Hefeanalysen, die vornehmlich von dänischen Spezialisten vorangetrieben wurden. Die wohl wichtigste methodische Innovation war jedoch die 1908 von dem Grazer Chemiker Karl Micko (1867-1948) entwickelte fraktionierte Destillation. Der Rum wurde in acht Fraktionen eingeteilt, die dann einzeln untersucht wurden. Insbesondere die höheren Fraktionen erlaubten, das Aromenspektrum recht genau zu erfassen (Karl Micko, Über die Untersuchung des Jamaika- und Kunst-Rums und zur Kenntnis des typischen Riechstoffes des Jamaika-Rums, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 16, 1908, 433-451, insb. 434-435). Damit waren quantitativ erfassbare Referenzdaten abseits von Alkohol- und Wassergehalt möglich, ergänzende Geruchsproben erlaubten eine Feinjustierung. Mickos Methode war ausgefeilt, praktikabel, schied gut zwischen Kunst-, Facon- und Importrum – und wurde rasch auch in der englischsprachigen Welt rezipiert (Karl Micko, Researches on Jamaica and Artificial Rum, International Sugar Journal 11, 1909, 225-232, 410-414, 446-451). Die Folge war, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg sensorische Verfahren durch quantitative Verfahren ergänzt wurden und Nahrungsmittelchemiker ihre Kontrollaufgaben besser versehen konnten (A[lbert] Jonscher, Zur Kenntnis und Beurteilung von Rum, Rumverschnitten und Kunstrum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 20, 1914, 329-336, 345-349, insb. 333, 346). Mickos Methode erlaubte aber zugleich eine Feineinstellung bei der Entwicklung neuer Produkte, so auch des „Deutschen Rums“.

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Neue Begrifflichkeiten: Rum-Verschnitt (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 68 v. 21. März, 16)

Parallel veränderten sich die amtlichen resp. von den Interessenten akzeptierten Bewertungsmaßstäbe des Rums. Die Nahrungsmittelchemiker mussten dabei eine bittere Niederlage einstecken: Verschnittrum (heute als „Echter Rum“ bezeichnet) wurde in festgesetzten Grenzen vom Odium der Verfälschung befreit (W[ilhelm] Bremer, Trinkbranntweine und Liköre, in: K[arl] v. Buchka, Das Lebensmittelgewerbe, Bd. I, Leipzig 1914, 701-901, hier 799). Grund hierfür waren auch die Debatten und Festsetzungen im Rahmen der Branntweinsteuergesetzesnovelle 1909. Für Kognak wurde damals ein Mindestalkoholgehalt von 38 % festgelegt – und an diesem Wert orientierten sich auch Rumanbieter und Gerichte (Gerichtsentscheidung über die Alkoholstärke von Jamaika-Rum, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 7, 1909, 196-197). Während des Ersten Weltkrieges sank der noch nicht rechtsverbindliche Alkoholgehalt jedoch auf deutlich niedrigere Werte (Alkoholgehalt von Rum u. Arrak im Krieg, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 16, 1918, 62). Das Branntweinmonopolgesetz fixierte daraufhin 1918 den Mindestalkoholgehalt für Rum und Arrak verbindlich auf 38 % (heute 37,5 %). Das war der Auftakt für eine weitergehende Regulierung durch das 1927 erlassene Lebensmittelgesetz (Bund Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikanten und Händler, Zeitschrift für angewandte Chemie 40, 1927, 628-630, hier 628). Festgeschrieben wurden neben dem Alkoholgehalt auch Herkunftsbezeichnungen und Kennzeichnungspflichten, entstanden zudem neue Begriffsdefinitionen für die unterschiedlichen Rumarten (Begriffsbestimmungen für Branntwein und Spirituosen, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1928, 143-145, 163-165, 173-174, hier 164; G[eorg] Büttner, Über die Bezeichnung von Trinkbranntweinen, ebd. 1931, 15-16, hier 16).

Die Regulierungsbemühungen schufen recht verlässliche Rahmenbedingungen im Rummarkt just weil sie sich an der deutschen Marktrealität orientierten. Der „echte“ Importrum galt als Referenz, auch wenn er im Absatz nach wie vor eine seltene Ausnahme war. Facon- und Kunstrum prägten weiter den Markt, mochte ersterer nun auch als Rum-Verschnitt bezeichnet werden. Die Sprachspiele der Chemiker und Regulierungsbehörden erlaubten aber zugleich die Neubelebung und Umsetzung der alten Idee vom „Deutschen Rum“ aus heimischen Rohstoffen, vorrangig aus Rübenzuckermaterialien.

Neue Anläufe: „Deutscher Rum“ aus Zuckerprodukten vor dem Ersten Weltkrieg

Allerdings stellt sich im späten 19. Jahrhundert zuvor die Frage, ob „Deutscher Rum“ nicht in den deutschen Kolonien produziert werden konnte. Das wurde in der Tat versucht, scheiterte aber wie so viele Kolonialunternehmungen. Das lag teils an den klimatischen Bedingungen, teils an anderen Zielsetzungen der überraschend wenigen Kolonialgesellschaften. In Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, wurde Zucker schon vor 1885, der deutschen Inbesitznahme der Kolonie, von arabischen Geschäftsleuten mit Hilfe von Sklaven und Kontraktarbeitern angebaut. Die Plantagenwirtschaft diente ebenso wie die Rumproduktion vornehmlich dem Eigenbedarf. Das wollten die deutschen Machthaber ändern, gelang aber nur ansatzweise: „Very little is exported; but a refinery has been built at Pangani, where rum is made for export. Plantations have been started in the Wilhelmstal and Kondon Irangi Districts“ (Handbook of German East Africa, hg. v. d. Admirality War Staff. Intelligence Division, London 1916, 237).

Die 1897 aus dem Zuckersyndikat für Deutsch-Ostafrika hervorgegangene Pangani-Gesellschaft zielte darauf, in die Fußstapfen der Araber Deutsch-Ostafrikas zu treten, Sirup und Zucker für die Kolonie und ihre Nachbarn zu produzieren (Ein neuer Kolonisationsplan für Deutsch-Ostafrika, Wochenblatt für Wilsdruff […] 1897, Nr. 104 v. 4. September, 5). Aus dem Rohrzucker sollte zudem Rum für den deutschen Markt produziert werden. Die von hochrangigen Publizisten, Staatsbeamten und Unternehmern getragene und mit einem Kapital von 500.000 M ausgestattete Gesellschaft konnte sich ein fünfzehnjähriges Produktionsmonopol sichern, zudem Zoll- und Steuerfreiheit für den deutschen Kolonialrum. Die Zielsetzung war ambitioniert: „Es bietet sich hier den deutschen Rum-Importeuren, welche schon lange von London, welches das Monopol für den kolonialen Rum hat, loskommen möchten, später eine günstige Gelegenheit für direkten Bezug“ (Die Pangani-Gesellschaft, Deutsche Kolonialzeitung 14, 1897, 214). Von Beginn an gab es Kritik an dem Unterfangen, mache es doch deutschen Rübenzuckerexporteuren unnötige Konkurrenz, nur um „feine Preise von den deutschen Konsumenten zu holen“ (Pangani-Cacao, Gordian 3, 1897/98, 1101-1102, hier 1101). Doch da die Zucker- und Rumfabrik von der renommierten Firma F. Hallström aus Nienburg a.d. Saale ausgestattet wurde, setzte man auf deren Expertise, auf die Qualität ihrer Maschinen (Leipziger Tageblatt 1898, Nr. 548 v. 28. Oktober, 8073).

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Gärstoffe für die koloniale Rumproduktion in Deutsch-Ostafrika: Die Rohrzuckerfabrik der Pangani-Gesellschaft im Bau (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Doch es gab unvorhergesehene Probleme, denn der Rohbau verzögerte sich aufgrund von Dürre und Hunger, so dass der Dampfer mit dem Maschinenpark nicht wie geplant entladen werden konnte, so dass der Rum, „welcher ja hochwillkommen zur Versorgung des Vaterlandes ist“ (Afrika 6, 1899, 128), noch nicht produziert werden konnte. Finanzierungsprobleme kamen hinzu, konnten aber überwunden werden (Frankenberger Tageblatt 1901, Nr. 12 v. 15. Januar, 3). Die britischen Kolonialkonkurrenten rechneten mit einem Produktionsbeginn 1901 (Germany. Report for the year 1900 on German East Africa, London 1901, 29). Doch es gab weitere Verzögerungen, so dass der frühere Siedler und Kolonialpropagandist August Seidel schließlich vermelden musste, die Pangani-Gesellschaft „fabrizierte Zucker und Rum, beide von guter Qualität, konnte sich aber nicht halten, da sie zu teuer gebaut und daher Mangel an Betriebskapital hatte“ (Unsere Kolonien, was sind sie wert, und wie können wir sie erschliessen?, 2. Ausg., Leipzig 1905, 53). Mitte 1903 trat sie in Liquidation. Deutscher Kolonialrum wurde in Deutsch-Ostafrika zwar produziert, doch gelangte er nicht nach Deutschland. Er wurde lokal verkauft, diente auch als Brennmaterial für Spirituskocher deutscher Naturforscher (A. Zimmermann, Zweiter Jahresbericht des Kaiserl. Biologisch-Landwirtschaftlichen Instituts Amani für das Jahr 1903/04, in: Berichte über Land- und Forstwirtschaft vom Kaiserlichen Gouvernement von Deutsch-Ostafrika […], Bd. 2, Heidelberg 1904-1906, 204-263, hier 253).

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Die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss kurz vor der Fertigstellung (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Gleichwohl war die Rumfabrik am Pangani-Fluss auch nach dem Konkurs ein Experimentierort für deutsche Zuckerexperten, wurde sie doch weniger ambitioniert fortgeführt (V[iktor] v. Lignitz (Hg.), Die deutschen Kolonien ein Teil des deutschen Vaterlandes, Berlin 1908, 35). Anfang der 1920er Jahre berichtete der Frankfurter Chemiker Georg Popp (1861-1943) über die schwierigen Versuche in der kolonialen Peripherie: „Wahrscheinlich waren die Gärungsorganismen nicht die gleichen“ ([Hugo] Haupt, Ueber Deutschen Rum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 27, 1921, 253-261 (inkl. Disk.), hier 260). Die klimatischen Unterschiede zur Karibik versuchte man aber durch den Einsatz von kubanischer Reinzuchthefe wettzumachen. Der Frankfurter Chemiker Heinrich Becker (1861-1931) berichtete später jedenfalls stolz, dass es dadurch vor Ort gelungen sei “die Herstellung eines vorzüglichen Rums zu ermöglichen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Bundesarchiv (= BA) R 86, Nr. 5340). Obwohl die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss ökonomisch scheiterte, gewannen deutsche Experten hier Wissen, das später helfen sollte, „Deutschen Rum“ aus heimischen Zuckerprodukten herzustellen.

Das Scheitern des deutschen Kolonialrums bedeutete zudem nicht, dass „Deutscher Rum“ nicht schon im späten 19. Jahrhundert ein Handelsprodukt war – allerdings nicht im Sinne eines rumgleichen heimischen Trinkbranntweins. Das Gegenteil war der Fall. Zum einen war „Deutscher Rum“ eine global recht erfolgreiche Handelsware. Dabei aber handelte es sich aber nicht um edle Tropfen, sondern um preiswerten Kunstrum. Hamburg allein exportierte Anfang der 1890er Jahre jährlich ca. 10.000 hl Kunstrum nach Westafrika, eine Zahl, die man ins Verhältnis zum gesamte Rumimport Deutschlands setzten muss. Dieser betrug 33.000 hl (inklusive Transfer) (Rum, in: Brockhaus‘ Konversations-Lexikon, 14. vollständig neu bearb. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1895, 13). Deutsche, aber auch französische Produzenten dominierten mit ihren Rumimitaten koloniale Peripherien, setzten dabei auf aromatische Zusätze und billigen Kartoffelspiritus, mochte die Qualität der Ware auch „of the worst description“ sein (Liberia 1896, Nr. 8, 54).

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Destillationsblase und Retorten zur Rumproduktion in einer Zuckerplantage in Jamaika 1904 (Library of Congress, LC-DIG-stereo-1s30276)

In derartigen Exporten waren auch beträchtliche Mengen „German Rum“ enthalten. Darunter verstand man eine vornehmlich von kleineren Anbietern in Jamaika hergestellte Rumvariante, die einen besonders hohen Gehalt an Aromastoffen besaß und daher hohe Preise erzielte. Die Bezeichnung spiegelte die Handelsströme – „‚German Rum’—because it all goes to Germany“ (The Sugar Cane 19, 1887, 262-263, hier 262). Diese Rumart war praktisch nicht trinkbar, sondern diente der massenhaften Produktion von Fassonrum in Deutschland (Percival H. Greg, Contribution to the Study of the Production of the Aroma in Rum. III., The Sugar Cane 28, 1896, 397-404, hier 402; Commercial Relations of the United States with Foreign Countries during the Years 1896 and 1897, Bd. 1, Washington 1898, 646-647). In der britischen Kolonie versuchte man die Produktion von „German Rum” einzudämmen, denn er wurde in traditioneller Weise gefertigt und beschädigte das Renommee des Jamaikanischen Rums: „‚German rum’ has prejudiced the sale-value and public estimation of Jamaica rum. It also makes it impossible to protect the valuable asset of the name possessed by Jamaica rum, since certain Jamaica rums are undrinkable as such and serve solely to flavour multiple puncheons of continental potato spirit” (West India Bulletin 8, 1902, 50). Auch auf deutscher Seite war Kritik am Export derartigen Faconrums zu vernehmen, entsprachen sie doch lang gehegten Vorurteilen von deutscher Imitations- und gewerblicher Epigonenkunst (Commercial Travelers in Foreign Countries […], T. 1, Salesmanship 2, 1904, 127-135, hier 127). Der jamaikanische „Imitation rum“ (British Medical Journal 1909, T. 2, 399-404, hier 403) war zugleich aber Anlass für jamaikanische Bemühungen um die Maschinisierung und Verwissenschaftlichung der Rumproduktion im wichtigsten Rumproduktionsland des Britischen Reiches (H.H. Cousins, Jamaica Rum, in: Minutes of Evidence taken by the Royal Commission on Whiskey and other potable Spirits with Appendices, Bd. 2, London 1909, 210-212, hier 211).

Deutscher Kolonialrum scheiterte, der „German Rum“ war Steigbügelhalter vermeintlicher deutscher Billigangebote und renommeeschädigend. Doch drittens setzten 1890 neuerliche Versuche ein, „Deutschen Rum“ aus heimischem Rübenzucker herzustellen – nicht als Abklatsch einer Kolonialware, sondern als gleichwertige Alternative. Der (Wieder-)Beginn entsprechender Forschung gründete auf zwei wichtigen Veränderungen: Zum einen setzte die US-Regierung 1890 mit dem McKinley-Zolltarif auf einen noch stärkeren Schutzzoll, verteuerte dadurch die deutschen Rübenzuckerimporte, gab zugleich den Startschuss für den Aufbau einer eigenen US-Rübenzuckerindustrie. Die hochsubventionierte deutsche Exportindustrie musste nach neuen Absatzmöglichkeiten Ausschau halten. Zum anderen hatten sich die wissenschaftlich-technischen Rahmenbedingungen deutlich gewandelt. Deutsche Zuckerexperten hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren französischen Kollegen den Rang abgelaufen, die deutsche Maschinenbauindustrie war innovationsstark, überholte auf den Weltmärkten die böhmische, belgische und französische Konkurrenz. Die Produktion höchst heterogener Rumarten mittels Zusätzen und Essenzen hatte das Wissen um die Vorgänge bei der Gärung und der Destillation deutlich erweitert. Man wusste auch – zumindest theoretisch – warum der „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker die Qualität des westindischen Kolonialrums nicht erreicht hatte (so schon Johannes Rudolf Wagner, Die chemische Technologie, 4. umgearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1859, 459).

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Alexander Herzfeld und die frühere Spritbrennerei in Alt-Ranft (Universitätsarchiv TU Berlin 601, Nr. 272: Wikipedia)

Alexander Herzfeld (1854-1928), Leiter des Laboratoriums des Vereins der deutschen Zuckerindustrie und späterer Professor an der TH Charlottenburg, versuchte 1889/90, konkrete Verfahren für die Produktion von „Deutschem Rum“ zu entwickeln. Anders als die Produzenten im frühen 19. Jahrhundert wusste er mehr über die alkoholische Gärung und die dabei entstehenden Geschmackstoffe. Obwohl die koloniale Produktion für ihn hoffnungslos überholt war, nutzte er doch deren Grundstruktur, zumal der in Jamaika. Dies bedeutete neben der Rohware den Einsatz von weiteren Gärmaterialien, des sog. Dunders, um dem Rum einen charakteristischen Geschmack zu geben. Dessen genaue Zusammensetzung war unklar, doch über die Vergärung der eingesetzten Abfallstoffe und des Abschaums der Zuckerproduktion wusste man einiges. Die Gärungstechnologie dieser Zeit hatte durch den Einsatz von (vornehmlich dänischer) Reinhefe bemerkenswerte Erfolge beim Bierbrauen und in der Milchwirtschaft erzielt. Das Scheitern des Liebig-Horsfordschen Backpulvers hatte zuvor gezeigt, dass im unspezifischen Sauerteig sich Stoffe befanden, die einem daraus bereiteten Brot ein wesentlich breiteres Aroma verliehen als chemisch berechenbare Treibstoffe.

Herzfeld initiierte drei Versuchsreihen mit unterschiedlichen Rohmaterialen. In der Weender Brennerei des Gutsbesitzers Georg Werner nutzte man Rübensaft aus der Zuckerfabrik Nörten. Diese Versuche erfolgten in enger Kooperation mit der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Weende (einem Vorort von Göttingen), die sich seit ihrer Gründung 1857 zu einem Wissens- und Technologiezentrum in Norddeutschland entwickelt hatte. Lange geprägt von dem chemischen Technologen und Zuckerexperten Friedrich Stohmann (1832-1897), erweiterte der Agrarwissenschaftler Wilhelm Henneberg (1825-1890) dessen Forschungsfeld auch auf die Tierernährung – also einem wichtigen Feld der Reststoffverwertung von Zuckerschnitzeln, Rübenschlempe und Rübenblättern. Im brandenburgischen Alt-Reft stand dagegen Zuckermelasse im Mittelpunkt. In dem nahe von Bad Freienwalde gelegenen Örtchen bestand seit Anfang der 1860er Jahre eine Brennerei und eine Zuckerfabrik im Besitz von Graf Edwin von Hacke (1821-1890), einem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten. Drittens ließ Herzfeld auch den Einsatz von Rohzucker testen. Die Versuche waren nicht wirklich erfolgreich, doch sie eröffneten einen klaren Blick auf die notwendigen Bedingungen der Produktion „Deutschen Rums“. Rübensaft und Melasse schieden aus Herzfelds Sicht als Grundstoffe aus, da ihre Gärung eine zu breite Palette von nicht kontrollierbaren Aromastoffen hervorrief. Rübenzucker aber schien eine vielversprechende Ausgangsbasis zu bilden, allerdings in deutlich reinerer Form als üblich. Dann aber könne man hoffen, „dass durch Anwendung geeigneten Dunders, der unter Zusatz ähnlicher Stoffe wie in Indien gebräuchlich sind […], sich durchaus ein Rum von guter Qualität wird erzielen lassen“ (Herzfeld, 1890, 679).

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Lernen von fernen Vorbildern: Die Karibik Anfang der 1880er Jahre (Petermanns Mitteilungen 27, 1881, 311)

Die Resonanz auf diese Versuche war nicht unbeträchtlich: Auf der einen Seite war klar, „daß auf dem eingeschlagenen Wege die Erreichung des vorgesteckten Zieles wohl möglich sei, wenn schon im Einzelnen noch viel zu thun übrig bleibt und manche Hindernisse zu überwinden seien“ (Sell, 1891, 227). Deutsche Wissenschaft wäre handlungsfähig, könne einen „Deutschen Rum“ in akzeptabler Qualität herstellen: „Würde auch dieser R[um] dem echten nicht gleichwertig sein, so spricht doch alles dafür, daß er die außerordentlich minderwertigen Nachahmungen des Rums, die sich bei uns im Verkehr befinden, leicht verdrängen würde“ (Rum, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 19, Jahres-Supplement 1891-1892, Leipzig und Wien, Leipzig und Wien 1891, 789-790, hier 790). „Deutscher Rum“ war aus dieser Perspektive eine Art materialisierte Sozialtechnologie, war ein typisches Besserungsangebot bürgerlicher Wissenschaftler an die unwissende und irrational agierende Bevölkerungsmehrheit. Ferner wusste man, dass „Deutscher Rum“ einen Markt nur dann finden würde, wenn das Produkt mit Billigangeboten konkurrieren konnte.

Angesichts der noch erforderlichen hohen Investitionen war es nicht verwunderlich, dass sich abseits der Laboratorien und Versuchsstätten keine Unternehmer fanden, die erforderliche Investitionen wagen wollten. Es gab auch keine weiteren Versuchsreihen durch die Zuckerindustrie oder im breiten Netzwerk der landwirtschaftlichen Versuchsstationen – ein Widerhall der gerade bei Nahrungsmittelchemikern verbreiteten Skepsis, ob Herzfelds Ideen wirklich umsetzbar waren (Paul Lohmann, Lebensmittelpolizei, Leipzig 1894, 146; Fritz Elsner, Die Praxis des Chemikers […], 7. durchaus umgearb. u. wesentl. verm. Aufl., Hamburg und Leipzig 1900, 444). Sie litten unter dem Makel von „nicht zum erfolgreichen Abschluß gebrachten Experimente[n]“ (Franz Lafar, Handbuch der Technischen Mykologie, Bd. 5, 2. wesentl. erw. Jena 1905-1914, 340). Hinzu kamen zwei allgemeinere Veränderungen: Einerseits war es derweil gelungen, die Nebenprodukte der Rübenzuckerindustrie als Teil von melassehaltigen Futtergemischen erfolgreich zu vermarkten (Chr[istian] Grotewold, Die Zuckerindustrie, Stuttgart 1907, 98-100). Zum anderen schloss sich die Spiritusbranche Ende der 1890er Jahre zu einem Syndikat zusammen, so dass von einem freien Marktgeschehen nicht mehr die Rede sein konnte. Um die stetig wachsenden Mengen von Weingeist abzusetzen, wurden immer größere Mengen des Alkohols technisch verwertet. Neue Trinkbranntweine waren in diesem Umfeld kaum erwünscht – und sie wären durch die hohe steuerlich Belastung gegenüber Kunst-, Fasson- und Rumessenzrum ohne Sonderregelungen auch nicht wettbewerbsfähig gewesen. „Deutscher Rum“ aus Rübenzucker blieb denkbar, doch auch angesichts des allgemein steigenden Lebensstandards schien ein solches Substitut nicht mehr zeitgemäß. In Satirebeilagen wurde er gar als Ausdruck überbürdenden Nationalismus charakterisiert: „Fahre hin, du stolzes Schiff, und trage deutschen Fleiß, deutsches Wesen und deutschen Rum an die fernen Gestade!“ (Aus dem Aufsatzhefte eines Schülers, Neues Wiener Journal 1900, Beilage Humor, Nr. 73, 9).

Spirituosen als überflüssiger Luxus

Der Erste Weltkrieg führte zu einem weiteren massiven Rückgang des Trinkalkoholkonsums. Alkohol diente nun vorrangig technischen Zwecken, war Teil der Sprengstoffproduktion und der chemischen Industrie, diente als Heiz- und Beleuchtungsmittel, zur Essigbereitung und für pharmazeutische Zwecke. Neue Verfahren, etwa Alkoholproduktion aus Holzabfällen oder Sulfitcellulose, schienen noch eine längere Anlaufphase zu benötigen (Protokoll einer Besprechung im Kriegsernährungsamt v. 7. Oktober 1916, BA R 86, Nr. 5339, I 2554). Trinkbranntweine wurden zwar weiter produziert, dienten aber vorrangig für Heereszwecke. Ersatzmittel drangen vor, auch für Rum, dessen Import größtenteils zum Erliegen kam.

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Liebesgabe aus „feinstem Rum“ – eine typische Irreführung im Jahre 1916 (BA R 86, Nr. 5539)

Damit versiegte erst der Nachschub für Verschnitt- und Faconrum, dann aber auch für den so weit verbreiteten Kunstrum. 1916 verbot man die Spiritusnutzung für die Trinkbranntweinversorgung der Zivilbevölkerung. Übrig blieben allein Essenzen und synthetische Aromen. In einem auf die Grundversorgung reduzierten Versorgungsalltag boten sie – zu weit überhöhten Preisen – noch ein wenig geschmackliche Abwechslung. Doch Rumersatz enthielt vielfach nicht nur keinen Rum, sondern mutierte zu dem „Surrogat eines Ersatzmittels“: „Der angebliche Rum bestand aus einer mit Saccharin versüßten Flüssigkeit, der ein wenig parfümierte Essenz beigemengt war“ (beide in Die Zeit 1918, Nr. 5681 v. 23. Juli, 5). Derartige Alkoholsubstitute waren alkoholfrei, dienten als eine überteuerte Würze für Tee, für einen virtuellen Grog (Arbeiterwille 1918, Nr. 1 v. 1. Januar, 7). Diese bedrückende Situation änderte sich auch 1919 nicht, 1920 nur langsam. Die Ersatzmittel waren Teil der Krisensituation der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu dem auch der wachsende Hass auf die Gegenwelt der Krisengewinnler gehörte: „Die wässerigen Käse, den Eiersatz, den Teeersatz, den Rumersatz, und all das andere Gemisch und Gepantsch, das unter Fluchen und Würgen als Nahrung betrachtet werden mußte, sollte jetzt ausschließlich zur Verpflegung der Schieber verwendet werden“ (Das interessante Blatt 39, 1920, Nr. 32 v. 5. August, 5). In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Importrum ein Getränk des Feindes, des inneren und äußeren. Auf der einen Seiten die Kolonialmächte der Entente, auf der anderen die vielbeschworenen Kriegsgewinnler und Schieber, die damit Geschäfte machte, ihn sich auch leisten konnten.

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Fehlender Trank bei der Truppe: Von der Liebesgabe zum Rauschersatz durch Rumersatz (BA R 86, Nr. 5539; Kriegszeitung der 1. Armee 1918, Nr. 153 v. 28. April, 7)

Die unmittelbare Nachkriegszeit bot der heimischen Spirituosenindustrie eigentlich ideale Rahmenbedingungen, gab es doch nach der faktischen Prohibition einen beträchtlichen Nachholbedarf. Zudem hatte die Kriegspropaganda immer wieder die Vorrangstellung der deutschen Wissenschaft, insbesondere der deutschen Chemie hervorgehoben: „Die Chemie ist die Wissenschaft der unbegrenzten Möglichkeiten; sie kann alles, man muß ihr nur Zeit lassen“ (Alfred Hasterlik, Von der Suppe in der Westentasche, Kosmos 10, 1913, 330-332, hier 332). Beides bot Marktchancen für eine Alternative zum kaum erschwinglichen Importrum, zum vielfach nicht verfügbaren und zudem deutlich verteuerten Kunstrum. Hinzu kam, dass im Jahrzehnt der Ernährungskrise die Anspruchshaltungen deutscher Konsumenten sanken, dass es um eine auskömmliche Grundversorgung ging und man der „Phrase von individuellem Geschmack“ (K[arl] B[ornstein], Hygienische Plauderei! Helfer der Hausfrau, Blätter für Volksgesundheitspflege 23, 1924, 84-86, hier 85) vielfach skeptisch gegenüberstand.

Nach dem Einschnitt des Ersten Weltkriegs verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der deutschen Spirituosenindustrie. Trotz hoher Abschöpfung schuf die mit dem Branntweinmonopol 1918 resp. 1922 einhergehende Regulierungsbehörde eine gewisse Rechtssicherheit. Parallel gewann der Außenhandel neue Bedeutung. Die begrenzten, durch die Auflösung der Heeresbestände noch unterstützten inländischen Spritbestände wurden durch Importe ergänzt. Zugleich konnten Markenprodukte insbesondere in neutralen Staaten zu attraktiven Preisen verkauft werden. Neuartige Produkte hatten daher beträchtliche Marktchancen (Die Lage der deutschen Spirituosenindustrie, Vorwärts 1920, Nr. 390 v. 6. August, 5). Die schon lange vor der Hyperinflation 1923 rasch steigenden Preise schränkten die Konsummöglichkeiten jedoch immer noch ein. Ende 1920 verzichtete man daher auf den vor Kriegsbeginn üblichen Silvesterpunsch. Verzicht blieb Bürgertugend: „So kroch mancher vorzeitig in die Federn und verschlief den Neujahrsbeginn recht gründlich“ (Amtliches Wittgensteiner Kreisblatt 1921, Nr. 1 v. 4. Januar, 3).

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Branntweinproduktion und -konsum im Deutschen Reich 1898-1918 (Goetz Briefs, Spiritusindustrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 4. gänzl. umgearb. Aufl., hg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber und Friedrich Wieser, Jena 1926, 713-724, hier 718)

Die Rahmenbedingungen für „Deutscher Rum“ verbesserten sich aber auch durch strikte öffentliche Kritik an unangemessenem Luxus zugunsten der siegreichen Kolonialmächte des Westens. Georg Heim (1865-1938), populistischer BVP-Politiker, wetterte in der Nationalversammlung gegen den „Aberwitz“ des Rum- und Arrakimportes: „Es ist doch heller Wahnsinn, wenn wir heute noch Luxuseinfuhr gestatten“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 331, Berlin 1920, Debatte v. 6. Dezember 1919, 3921). Angesichts von Zuckerimporten zur Weinstreckung und Schnapsbereitung und von weiteren Rum- und Arrakimporten in Höhe von 25 Millionen M forderte auch der SPD-Abgeordnete Lorenz Riedmiller (1880-1960): „diese Dinge müssen aufhören!“ (Ebd., Bd. 346, Berlin 1921, Debatte v. 10. Dezember 1920, 1611). Der Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung – die Rationierung dauerte fort – verwies entschuldigend darauf, dass das Importkontingent von 500.000 Litern Rum und Arrak vorrangig „für medizinische Zwecke“ diene, dass weitere Importe für die Versorgung der Handelsschiffe und der Exporthäuser der Hansestädte erforderlich seien (Ebd., Bd. 341, Berlin 1920, Nr. 2147, 3347; ebd., Bd. 365, Berlin 1920, Nr. 1268, 868). Doch die öffentliche Meinung repräsentierte eher der SPD-Abgeordnete Wilhelm Sollmann (1881-1951), Abstinenzler und Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Versailles, der den Import „solcher gänzlich überflüssigen Luxusgenußmittel“ für nicht mehr zeitgemäß hielt (Ebd., Bd. 364, Berlin 1920, Nr. 809, 575). Ein „Deutscher Rum“ entsprach also den Möglichkeiten und Erfordernissen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Und in der Tat präsentierte einer der führenden Spirituosenproduzenten Deutschlands, die Magdeburger und Stargarder Firma H.A. Winkelhausen, auf der Hannoveraner Anuga 1921 einen „Deutschen Rum“, hergestellt aus deutschen Rohstoffen. Das erschien als Durchbruch, als weitere Glanzleistung deutscher Wissenschaft und Technik.

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Zurückhaltende Werbung für „Deutschen Rum“ aus dem Hause Winkelhausen (Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 288 v. 24. Juni, 6)

Wissenschaftliche Präsentation eines vermeintlichen Durchbruchserfolges

Abseits dieser in zahlreichen Illustrierten und Zeitungen geschalteten redaktionellen Werbung (Jugend 26, 1921, 574; Illustrierte Zeitung 157, 1921, Nr. 4052 v. 14. Juli, 10; Münchner Neueste Nachrichten 1921, Nr. 394 v. 17. September, 21) erfuhr die Öffentlichkeit vom neuen „Deutschen Rum“ aus Rübenzucker seit Oktober 1921: „Zwei deutschen Firmen ist es gleichzeitig gelungen, nach langjährigen Versuchen unter Anwendung aller modernen Hilfsmittel und durch genauer Anpassung an die tropischen Verhältnisse in Jamaica, aus heimischen Zuckerrübenabfällen einen deutschen Rum herzustellen, der echten Auslandsrum an Güte mindestens gleichkommt, viele Importware sogar wesentlich übertrifft. Diesem Erfolg kommt eine hohe wirtschaftl. Bedeutung zu, denn die großen Vermögenswerte, die früher dem Ausland zuströmten, werden jetzt dem heimischen Gewerbe verbleiben“ (Deutscher Rum, Durlacher Tageblatt 1921, Nr. 247 v. 23. November, 4; zuvor schon Deutscher Rum, Kölnische Zeitung 1921, Nr. 737 v. 31. Oktober, 10). Derartige Artikel fassten die Ergebnisse erster nunmehr in der Fachöffentlichkeit publik werdender Informationen zusammen. Der Verband selbständiger öffentlicher Chemiker Deutschlands beschäftigte sich Mitte September mit dem Thema, präsentierte dabei die Wilthener C.T. Hünlich AG als Motor der Innovation. Diese habe bereits 1909, zwölf Jahre zuvor, mit entsprechenden Forschungen begonnen (Haupt, 1921, 253). Im Dezember 1921 wurde dies durch ein ausführliches Gutachten (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Zeitschrift für angewandte Chemie 34, 1921, 621-623, 629-634) nochmals unterstrichen. Die Forschungen der mit Hünlich eng kooperierenden Winkelhausen-Werke wurden kurz danach veröffentlicht (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, 185-186). Es folgten eine Reihe einschlägiger Berichte in Zeitungen im In- und Ausland (Deutscher Rum – eine neue Tat deutscher Technik, Meraner Tagblatt 1922, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Deutscher „Jamaika“-Rum, Niederrheinisches Tageblatt 1922, Nr. 123 v. 27. Mai, 6). Doch die Zahl enthusiastischer, preisender Artikel blieb gering. Stattdessen dominierten sachliche Wiedergaben einschlägiger Fachartikel (Jahresbericht für Agrikultur-Chemie 65, 1922, 365; Chemiker-Zeitung 46, 1922, 934, Zentralblatt für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 3, 1923, 370). Immerhin war „Deutscher Rum“ zumindest bis 1923 ein von unterschiedlichen Experten diskutiertes Thema (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Süddeutsche Apotheken-Zeitung 63, 1923, 329-330, 351-353).

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Produktionsstätten der C.T. Hünlich AG Anfang der 1920er Jahre (BA R 86, Nr. 5340)

Dabei ging es einerseits um die Produktionstechnik, also die eigentliche Innovation. Die C.T. Hünlich AG stand dabei im Mittelpunkt der Berichterstattung. Nähere Angaben zur Firmengeschichte übergehe ich, doch Hünlich war einer der führenden deutschen Weinbrandproduzenten des Deutschen Reiches, Carl-Albert Hünlich (1853-1916) von 1896 bis 1914 Vorsitzender des Verbandes der deutschen Cognac-Brennereien (Detaillierte Angaben enthält BA R 8127, Nr. 10823, Hünlich 1917-1930). Die Firma hatte ein breites Angebot, das weitere Spirituosen, eine Spritfabrik, aber auch Nichtalkoholika mit einschloss. Hünlich war kein Markenartikler. Tochterfirmen, wie die 1911 gegründete Oppauer E.L. Kempe & Co. bedienten diesen Markt. Im Zentrum stand die Belieferung des Großhandels mit Destillaten, die dann umgefüllt, weiterverarbeitet und unter anderen Namen vertreiben wurden. Das passte zur Struktur des Rummarktes. Versuche mit „Deutschem Rum“ begannen 1909, Fritz Hünlich (1885-1931) zeichnete hierfür verantwortlich. Auch sein Bruder Rudolf Hünlich (1883-1924), der ab 1916 die Geschicke der 1917 zur Aktiengesellschaft umgewandelten Firma leitete, unterstützte diese Forschungsarbeiten. C.T. Hünlich richtete schon vor dem Krieg eine Versuchs-Rumbrennerei ein (Erster Geschäfts-Bericht der Cognac-Brennerei C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das Geschäftsjahr 1916-1917, s.p., BA R 8127, Nr. 10823), diskutierte die Pläne eines „Deutschen Rums“ auch mit dem Reichsschatzamt. Auch innerhalb der Nahrungsmittelchemie war dies bekannt, die Begriffsbestimmungen definierten „Rum“ daher im Gegensatz zu den britischen Regeln 1912 als ein „zur Zeit“ aus Zuckerrohrmelasse hergestellten Trinkbranntwein (Bericht v. Alfred Heiduschka v. 7. März 1921, BA R 86, Nr. 5340). Anfangs gab es Misserfolge, doch schon 1914 gab es einen „echten“ Rum „nach den auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschen Gärmaterialien hergestellt“ (Mezger und Jessen, 1921, 623; Deutscher Rum, Die Glocke 1921, Nr. 268 v. 19. November, 3).

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Pröbeln und Testen: Laboratorium der C.T. Hünlich AG 1925 (SLUB Dresden und Deutsche Fotothek Nr. 33129766)

C.T. Hünlich bildeten die Karibik im Kunstrum der Brennerei nach: „Die Vergärung erfolgt in temperierten Räumen, bei den hohen in den Tropen üblichen Temperaturen mit spezifischen Gärungserregern in mehreren getrennten Gängen. Die Zuckerrübenmelasse wird für sich vergoren und aus den bei der Destillation vorbleibenden Schlempen unter Zusatz von Rohzucker, stickstoffhaltigen Rückständen und Früchten ein Dunder bereitet, indem man diese Mischung einer Bakteriengärung in hoch beheizten Räumen unterwirft. Hierbei bilden sich neben wohlriechenden aromatischen Substanzen auch unerwünschte Körper, deren Abtrennung nach einem besonderen Vorfahren vorgenommen wird. Dieser fertig präparierte Dunder wird nun in einem bestimmten Verhältnis der gärenden Melassemaische vor der Destillation zugesetzt. Es ist klar, daß die Art der Gärungsorganismen bei der Entwickelung des Rumaromas die grösste Rolle spielt, und es liegt nahe, dass man versucht hat, die Gärungserreger in Reinkulturen zu züchten und überzuimpfen, ähnlich wie es H. Becker s. Z. gelang, durch Einführung von Cubarumhefe in Deutsch-Ostafrika einen guten Rum zu erzeugen“ (Haupt, 1921, 253-254). Damit knüpfte Hünlich unmittelbar an die Vorarbeiten Alexander Herzfelds an ([Gustav] Dorfmüller, Ref. v. Hugo Haupt, Ueber deutschen Rum, 1921, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Zucker-Industrie 71, 1921, 813), legte aber deutlich größeren Wert auf die Gärungsmaterialien, die Prozessführung und die Koordination der Grundgärung, der Dunderproduktion und der Aromatisierung des Brenngutes.

30_Winkelhausen_Magdeburg_Produktionsstaetten_Spirituosenindustrie_Weinbrand

Die Magdeburger Betriebsstätten der H.A. Winkelhausen AG 1926

Parallele Entwicklungsarbeit gab es kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch bei H.A. Winkelhausen, 1846 als Kolonialwaren- und Destillationsgeschäft in Preußisch-Stargard gegründet und während des Kaiserreichs ebenfalls eine führende Weinbrennerei. Standorte gab es im In- und Ausland, Anfang der 1920er Jahre beschäftigte die mittlerweile nach Magdeburg verlagerte Firma ca. 1200 Beschäftige (Westfälische Zeitung 1921, Nr. 208 v. 31. August, 6). Winkelhausen produzierte erfolgreiche und breit beworbene Markenartikel, auch sie wurde Anfang der 1920er Jahre eine Aktiengesellschaft. Seither kooperierten Winkelhausen und Hünlich eng, 1930 übernahm sie dann Hünlich und siedelte nach Wilthen um, ehe die Firmen 1931 wieder getrennte Wege gingen; wobei Winkelhausen Teil der Stettiner Rückforth AG wurde (nähere Informationen finden sich in BA R 907, Nr. 4758 resp. BA R 907, Nr. 9119).

Auch bei Winkelhausen folgte man Herzfelds Anregungen. Der Direktor besuchte vor dem Weltkrieg Jamaika, um die dortigen Verfahren genauer zu studieren. Anders als Hünlich versuchte man mit Unterstützung des Reichsschatzamtes zunächst eine Rumproduktion aus importierten Rohmaterialien Westindiens, verfolgte also Ideen weiter, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert und verworfen wurden. Parallele Versuche mit deutscher Rübenzuckermelasse ergaben vorzeigbare Resultate, doch mit einen unangenehmen Geruch und Beigeschmack (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, hier 161). Der 1915 den staatlichen Behörden präsentierte Rum aus Rohrzucker überzeugte geschmacklich, konnte während des Weltkrieges aber nicht weiter hergestellt werden. Stattdessen konzentrierte man sich auf den Rum aus Rübenzuckermaterialien, verbesserte diesen, setzte nach Kriegsende allein auf dieses Verfahren, auch wenn er weiterhin einen „nicht angenehmen Beigeschmack“ (Ebd., 162) besaß. Vergleichende Verkostungen des „Deutschen Rums“ beider Produzenten ergaben jedoch bessere Werte für das Produkt des Hauses Winkelhausen (Kurt Brauer, Deutscher Rum. (Schluß.), Chemiker-Zeitung 46, 1922, 185-186, hier 186). Gleichwohl waren deutsche Experten zuversichtlich, dass das Destillat weiter zu verbessern sei; zumal durch eine längere Lagerung. Der Tenor war klar: „Sollte sich die neue Erfindung bewähren und sich deutscher Rum als Qualitätsmarke einbürgern, dann wäre unserer Volkswirtschaft wieder ein guter Dienst erwiesen“ (Deutscher Jamaika-Rum, Der Drogenhändler 1922, Nr. 6, 64, BA R 86, Nr. 5430).

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Deutscher Rum als Handelsmarke 1914 (Volksstimme 1914, Nr. 303 v. 30 .Dezember, 4 (l.); Rheingauer Bürgerfreund 1914, Nr. 153 v. 22. Dezember, 3)

„Deutscher Rum“ als Teil deutschen Wiederaufstiegs nach dem Ersten Weltkrieg

„Deutscher Rum“ war ein wahrgewordener Wissenschaftstraum, Ausdruck beharrlicher Entwicklungsarbeit, Beleg für die Leistungsfähigkeit der deutschen Spirituosenindustrie. Das war Labsal für die durch die Niederlage gebeutelte deutsche Seele. Doch abseits schwer zu fassender Gefühle schien „Deutscher Rum“ ein volkswirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fortschritt zu sein. Mochten bisher auch vorwiegend Proben vorliegen, so war man doch schon sicher, dass „die beträchtlichen Vermögenswerte, die früher dem Ausland für Importware zugeströmt sind, […] künftig zum großen Teile im Land verbleiben, ja es steht sogar zu erwarten, daß Deutschland seine guten deutschen Rume in die benachbarten Oststaaten exportieren wird“ (Stadlinger, „Deutscher Rum“, Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 516 v. 4. November, 9). Stolzes Schulterklopfen war vernehmbar, der morgige Tag schien wieder der Deutschlands zu sein: „Wir stehen vor einer Glanzleistung der deutschen Industrie, einer Leistung, die besonders gerade in der Gegenwart allseitige Beachtung finden sollte. Es ist unbedenklich zuzugeben, daß die besten Sorten echten tropischen Rums besser sind als der deutsche Rum, aber die Industrie des deutschen Rums ist heute erst in ihren Anfängen und arbeitet, ermutigt durch den großen Erfolg, den sie errungen hat, unermüdlich an der Verbesserung ihres Erzeugnisses, und dann, wer kann heute noch die besseren Qualitäten echten Tropenrums bezahlen?“ (Werner Mecklenburg, Deutscher Rum, Berliner Tageblatt 1922, Nr. 3 v. 3. Januar, 5).

Die öffentliche Präsentation der Herstellungsverfahren sollte vor allem die in der technischen Simulation liegende Eigenleistung hervorheben. Nein, „Deutscher Rum“ sei kein Ersatzmittel, sondern ein deutsches Analogon, ähnlich, doch aus deutschen Rohmaterialien. Diese seien, das habe der Rübenzucker gezeigt, gleichwertig, doch angepasst an das so andere deutsche Klima. „Deutscher Rum“ erlaube zugleich die Reinigung des deutschen Marktes vom Kunstrum, denn das neue Produkt würde preiswert sein, zweieinhalb mal preiswerter als der Importrum. Mit Kunstrum sei es damit wettbewerbsfähig, zugleich aber aromatischer, abgerundeter. Es handele sich um „vollständige Wesensgleichheit“ (Mezger und Jesser, 1921, 634) mit Importrum, entsprechend wäre die Wahl für deutsche Konsumenten einfach. Im Reichsinnenministerium rechnete man mit verminderten Rumimporten, hoffte auf neue Exportchancen abseits des Kunstrums (Schreiben des Reichsministerium des Innern an das Reichsgesundheitsamtes v. 4. Juli 1923, BA R 86, Nr. 5430).

Begriffs- und Regulierungsprobleme

All das war aber immer noch eine Als-Ob-Diskussion. Nicht nur hatte die Massenproduktion noch nicht begonnen, sondern 1920 bis 1922 blieb offen, ob der Begriff „Deutscher Rum“ auch genehmigungsfähig war und wie er in das komplexe Rechtswerk der Branntweinregulierung zu integrieren sei. Die Debatte kann hier nicht ausgebreitet werden, obwohl sie bei vielen Bürokraten gewiss Zungenschnalzen auch abseits der Zungenprobe hervorrufen dürfte. „Deutscher Rum“ war umstritten, denn diesen konnte es eigentlich nicht geben in einer Welt, in der Rum aus der Ferne stammte, als Erzeugnis aus vergorenen Rohrzuckermaterialien galt. Hinzu kam der ausgeprägte Drang nach begrifflicher Präzision. In der ersten öffentlichen Diskussion sprach sich der langjährige Vorsitzende des Bund Deutscher Nahrungsmittelfabriken und -Händler August Ertheiler (1863-1959) dafür aus, einen Kunstbegriff (wie Weinbrand statt Kognak oder Sekt statt Champagner) zu entwickeln, parallel das Produkt zu verbessern, um dann erfolgreich zu sein (Haupt, 1921, 260-261). Albert Jonscher plädierte in einem Gutachten für „Echter Rum von C.T. Hünlich, Wilthen nach dem auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschem Gärmaterial hergestellt“ (Gutachten von A. Jonscher v. 2. März 1921, BA R 86, Nr. 5340), Heinrich Becker für „Deutscher Rum nach den für echten Jamaika-Rum üblichen Arbeitsverfahren aus Deutschem Rohstoff hergestellt von C.T. Hünlich, Aktiengesellschaft, Wilthen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Ebd.).

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Großhandel mit „echtem“ Deutschem Rum und Deutschem Arrak (Dresdner Nachrichten 1923, Nr. 347 v. 16. Dezember, 21)

Die C.T. Hünlich AG beharrte dagegen auf der eigenen Bezeichnung „Deutscher Rum“ (Aktennotiz v. 9. Mai 1921 betr. Deutschen Rum, Ebd.; Beschreibung der Fabrikation des Deutschen Rums, ebd.) und konnte damit die Mehrzahl der Experten für sich einnehmen. Dem Reichsgesundheitsamt wurden eine Reihe befürwortender Gutachten zugesandt, führende Gärungschemiker und Nahrungsmittelchemiker wie Karl Lintner (1855-1926) oder Alfred Heiduschka (1875-1957) leistenden Flankenschutz. Die Bezeichnung Rum war für den Hersteller als Kaufargument natürlich entscheidend, zudem wollte man nicht schlechter gestellt werden als Kunstrumhersteller. Den Ausweg bot die Vorstellung der Wesensgleichheit von Produkten, wie sie etwa bei Rohr- und Rübenzucker bestand, die chemisch beide Saccharose waren. Rum sollte auf zuckerhaltige Ausgangsprodukte begrenzt werden. Das aber bedeutete nicht zwingend Zuckerrohr, denn dies wäre „gleichbedeutend mit einer parteilichen Stellungnahme zu Gunsten der Auslandserzeugnisse, zum Nachteile jeder fortschrittlichen Arbeit in der deutschen Gärungsindustrie. Eine solche Einseitigkeit müßte für die Dauer dazu führen, daß die allergeringwertigsten, aus rohen Abfällen des Zuckerrohrs in primitiver Weise erzeugten, kaum trinkbaren Auslandsrums bei der Beurteilung besser gestellt werden, wie das einheimische, mit modernen gärungstechnischen Hilfsmitteln gewonnene, wohlschmeckende Erzeugnis aus deutschen zuckerhaltigen Pflanzenstoffen. Der deutsche Verbraucher und der deutsche Nahrungsmittelchemiker sollte sich dabei namentlich nicht zuletzt auch die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung einer solchen heimatlichen Rumerzeugung vor Augen halten und nicht sklavisch am altherkömmlichen Buchstaben des Schrifttums festkleben!“ (Laboratorium Dr. Huggenberg & Dr. Stadlinger über „Deutschen Rum“ v. 14. März 1921, BA R 86, Nr. 5340) Ohne begriffliche Flexibilität sei fortschrittliche deutsche Forschung durchweg benachteiligt. Die Experten des Reichsgesundheitsamtes pflichteten der Bezeichnung intern grundsätzlich bei, doch angesichts laufender Rechtsstreitigkeiten hielten sie sich öffentlich zurück. Ihre Analyse des „Deutschen Rums“ ergab jedoch, dass dessen Geruch und Geschmack dem guter Importrumwaren „sehr nahe“ kam (Bericht des Reichsgesundheitsamtes v. 5. Juli 1921, Ebd.).

Das Gewicht der Firmen Hünlich und Winkelhausen, die Wortmacht ihrer Gutachter und Fürsprecher und die mit dem neuen Produkt verbundenen volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Überlegungen führten dazu, dass „Deutscher Rum“ schon vor Ende der Rechtsstreitigkeiten von Regierungen und Parlamenten in geltendes Recht integriert wurde. Bei der Novelle des Branntweinmonopolgesetzes wurde eigens ein neuer § 27, Abs. 2 eingefügt, um ein Abbrennen auch aus Rübenzuckermaterialien erlauben zu können. Die Produktion des „Deutschen Rums“ aus Rüben- und auch Apfelschnitzen könne „die Einfuhr ausländischen Rums“ begrenzen. Man müsse begrifflich flexibel sein, wolle man „den Fortschritt nicht hindern“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 371, Berlin 1922, Nr. 3616, 3619). Im 1927 erlassenen Lebensmittelgesetz weitergehende finden sich weitere Begriffsbildungen, insbesondere „Deutscher Rum-Verschnitt“ (Bund, 1927, 628). Neben dem Importrum eröffnete sich eine deutsche Parallelwelt.

Juristische Fehden um „Deutschen Rum“

„Deutscher Rum“ scheint damit auch ein Beispiel für die hohe Bedeutung wirtschaftlicher Interessen in der Gesetzgebung der Weimarer Republik zu sein. Doch das wäre zu einfach, denn die wirksamste Kritik an dem Begriff kam aus der Wirtschaft selbst. Dem Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten ging es dabei vorrangig um die Verteidigung vorher allgemein akzeptierter Begrifflichkeiten – und entsprechend warnte er seine Mitglieder vor dem Kauf des neuen Produktes, eines „Kunstrums“. Hünlich verklagte daraufhin den Verband wegen Rufschädigung. Eine einstweilige Verfügung erging, wurde in Frage gestellt, vom Berliner Kammergericht dann aber bestätigt. Eine Entscheidung aber blieb weiter vakant – und sollte sich bis 1923 hinziehen. Für C.T. Hünlich ging es dabei um erhebliche Risiken. Der Spezialreservefonds wurde um 700.000 M aufgestockt, die Investitionen in Maschinen und Umbauten bezifferte die Firma auf 8 Mio. M (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 6. Geschäftsjahr 1921-1922, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Damals erwarb C.T. Hünlich unter anderem die aufgrund des Versailler Vertrages nicht mehr benötigte Zeppelin-Luftschiffhalle aus Dresden-Kaditz.

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Produktionsstätten von C.T. Hünlich Mitte der 1920er Jahre – links oben die neue Lagerhalle (Werbezettel 1928, Sächsisches Wirtschaftsarchiv BK 703)

Beide Kombattanten reüssierten in Ministerien und Reichsgesundheitsamt. Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten vertrat die Ansicht, „dass die Bezeichnung ‚Rum‘ ausschliesslich für einen aus Zuckerrohrmelasse gewonnenen Branntwein verwendet werden darf“ (Schreiben des Verbandes Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten an Dr. Günther v. 3. Juni 1921, BA R 86, Nr. 5340). Man bestritt nicht die Güte des neuen Getränks, doch müsse es präzise benannt werden, etwa als „Rum aus Rübenschnitzeln“. Es habe den Verband viel Überzeugungskraft gekostet, die vor dem Weltkrieg festgelegten Begriffe und Definitionen umzusetzen; nicht zuletzt gegen den Widerstand vieler Fasson- und Kunstrumproduzenten. „Deutscher Rum“ verkenne zudem die Macht des Auslandes, zumal der Franzosen und der Briten, die aufgrund des Versailler Vertrages erhebliche Vorbehaltsrechte besäßen. Im Reichsgesundheitsamt verteidigte man den Begriff „Deutscher Rum“ als einen Herkunftsbegriff – wie etwa Gouda oder Pilsener –, umging so die strittige Frage der Wesensgleichheit (Bericht über eine Besprechung von Reichsgesundheitsamt und Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten v. 18. Juli 1921, Ebd.)

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Deutscher Rum unklarer Herkunft und Zusammensetzung (Frankenberger Tageblatt 1922, Nr. 11 v. 3. Januar, 4)

Der Rechtsstreit gärte weiter, beschäftigte die Ministerialbürokratie. Doch die Frage wurde in der Schwebe gehalten (Aktennotiz v. 3. August 1921 Ebd.; Stellungnahme zur Frage „Deutschen Rums“ v. August 1921, BA R 86, Nr. 5340). Stattdessen verweis man auf das vom Kammergericht angeforderte Gutachten des Berliner Nahrungsmittelchemikers Adolf Juckenack (1870-1939). Er besichtigte im Oktober 1921 die Produktionsstätten in Wilthen, entnahm Proben und versprach ein Resultat bis Ende 1921 – und dann folgte eine Kaskade von Rückfragen, Ankündigungen und Vertröstungen, die bis Weihnachten 1922 währte.

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Der Nahrungsmittelchemiker Adolf Juckenack (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 28, XVI)

Juckenack betonte, dass die karibische Rumproduktion höchst heterogen sein, auch Zutaten abseits der Rohrzuckerproduktion verwende. Entscheidend sei daher nicht das Gärungsmaterial, sondern das Aroma des Rums. Dieses nachzubilden sei Ziel der langjährigen wissenschaftlichen Versuche Hünlichs gewesen. Man habe sich an die karibische Produktionsweise angelehnt, diese aber nicht nachgemacht. Hünlichs Komposition aus einem gefilterten Rauhbrand aus Rübenzuckermelasse, einem Dunders als Rübenzuckernebenprodukten und einer späteren Aromatisierung durch besondere Zusätze, Skimmings, sei eine eigenständige Leistung. Das Ergebnis stehe dem Jamaika-Rum „noch recht erheblich“ nach, doch Verbesserungen seien möglich. Juckenack konstatierte „eine weitgehende Rumähnlichkeit“, schrieb Wesensähnlichkeit fest (Adolf Juckenack, Gutachten v. 25. Dezember 1922, BA R 86, Nr. 5430). Obwohl er sich damit nicht zur strittigen Frage des in der Reichsgesetzgebung bereits verwandten Begriff „Deutscher Rum“ äußerte, stärkte er doch die Position der Firma Hünlich so sehr, dass ein Vergleich geschlossen werden konnte (Deutscher Rum anerkannt, Pharmazeutische Zentralhalle 1923, Nr. 25, 299, BA R 86, Nr. 5430). Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten erkannte den Begriff „Deutscher Rum“ an und zog den Vorwurf eines „Kunstrums“ zurück. Hünlich verzichtete dafür auf Schadenersatz (Schreiben der Hünlich-Winkelhausen-Generaldirektion Ak. Ges. an das Reichsfinanzministerium v. 23. Mai 1923, BA R 86, Nr. 5430). „Deutscher Rum“ war im Deutsche Reiche anerkannt.

Eine neue Konkurrenz? Internationale Reaktionen auf „Deutschen Rum“

Während im Deutschen Reich die Rahmenbedingungen für die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ geschaffen wurden und schließlich auch die internen juristischen Fehden überwunden worden waren, fehlte im Ausland eine breit gefächerte Reaktion auf das neue deutsche Produkt. Sie war vielmehr sachbezogen, konzentrierte sich auf die von den deutschen Experten präsentierten Grundinformationen: „A German firm is producing a beverage similar to rum in composition and flavour from the products of beet sugar manufacture, without any addition of flavouring essences or esters. It is made by the fermentation of beet juice, molasses, raw sugars, and beet-factory-by-products. Undesirable aromatic substances produced at a certain stage in the manufacture are removed by a special process, and there is an addition of sugar, nitrogenous matter, and fruits. […] The analytical figures are within the limits found in the analysis of colonial rums. The flavour of the German product has been judged by various experts to be only slightly inferior to that of first-quality Jamaica rum” (German Rum, The Pharmaceutical Journal and Pharmacists 108, 1922, 117).

Das Interesse war gleichwohl groß, einzelne Arbeiten wurden zumindest teilweise übersetzt (Hugo Haupt, Manufacture of Rum from Beet Juice, International Sugar Journal 24, 1922, 33-35). Dabei traten insbesondere die in der deutschen Diskussion kaum erörterten internationalen Harmonisierungsprobleme in den Vordergrund. Westindische Repräsentanten unterstrichen, dass aus ihrer Sicht „Rum“ ein „spirit destilled direct from sugar-cane products in sugar-cane growing countries“ sei – so wie dies 1909 bereits festgeschrieben wurde. Aus ihrer Sicht war „Deutscher Rum“ ein jamaikanisches Ersatzmittel, „imitation rum“ (“Rum” from Beet Juice, Chronicle of the West India Committee 37, 1922, 93). Anderseits goutierte man sehr wohl das Bestreben der Deutschen, ein dem Vorbild Westindiens entsprechendes Produkt zu entwickeln. Und man bestätigte durchaus die Ähnlichkeit des „Deutschen Rums“ mit dem kolonialen Vorbild (Journal of the Society of Chemical Industry 41, 1922, 73A). Zugleich aber hoben einzelne Wissenschaftler die Unterschiede des Aromas hervor, setzten das neue Produkt dadurch an die Seite einschlägigen Kunstrums (Ebd., 912A). Annäherung war eben relativ. Entsprechend präsentierte man dem Fachpublikum auch die durchaus unterschiedlichen Einschätzungen deutscher Forscher zum Begriff „Deutscher Rum“. Zugleich hielt man es für durchaus möglich, dass die klimatischen Besonderheiten der Tropen chemisch und technisch simuliert werden konnten, so dass negative Auswirkungen auf den britischen und kubanischen Export nicht ausgeschlossen wurden (Germany Investigating Rum Manufacture, Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 68, 1922, 294-295). Letztlich aber waren die karibischen Rumproduzenten recht sicher, dass die deutsche Herausforderung nur begrenzte Folgen haben werde. Eine erste Degustation ergab jedenfalls ein für „Deutschen Rum“ enttäuschendes Resultat, hieß es doch „that these samples represented an inferior grade of rum; that they appeared to be highly flavoured (the odour of amyl acetate being particularly pronounced); and that they could not really be regarded as even equal to the lower grades of Jamaica or Demerara rum” (International Sugar Journal 24, 1922, 211).

Marktpräsenz ohne Werbung und offizielle Genehmigung

Welch ein Aufwand! Und nur wenige Jahre später hieß es, leider „haben die Resultate der deutschen Rumbrennerei den Erwartungen bisher nicht entsprochen“ (Georg Lebbin, Nahrungsmittelgesetze, Bd. 2: Getränkegesetze und Getränkesteuergesetze, Berlin und Leipzig 1926, 233). Um das zu verstehen, müssen wir in die Akten blicken: Der eigentliche Anstoß für die Intensivierung der Forschungen zu „Deutschem Rum“ lag 1920 demnach in zuvor unbekannten Marktchancen. Damals hatte die Brauerei zum Felsenkeller in Dresden-Plauen den Braubetrieb wieder aufgenommen, konnte ihre Kapazitäten aufgrund von Gerstenmangel auch nicht ansatzweise nutzen. Sie kaufte daher Zuckerrübenschnitzel auf, röstete diese, stellte daraus dann Substitute von Porter und Ale dar, zudem massenhaft sog. Paheiowein. Da dieser kaum Käufer fand, griffen Hünlich und Winkelhausen zu, kauften den „Wein“ auf, ließen die noch nicht verarbeiteten Schnitzel zusätzlich von anderen Brauereien verarbeiten – all das mit Sondergenehmigungen, da die Brauerei zum Felsenkeller ohne den Verkauf in Existenznot gekommen wäre. Aus den heimischen Vorprodukten brannten sie „Deutschen Rum“, Hünlich 1,17 Million Liter Weingeist, Winkelhausen 0,97 Million, insgesamt 2,14 Million Liter Weingeist. Das war die vielfache Menge des damaligen Importkontingents für Rum (Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, BA R 86, Nr. 5430). Es ist unklar, wie viel hiervon abgesetzt wurde, Hünlich sprach lediglich von einer „ständig steigende[n] Nachfrage nach deutschem Rum im Kreise der Konsumenten“ (Eingabe der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft v. 28. Oktober 1922, BA R 86, Nr. 5430).

1923 beantragte sie die Genehmigung für die Herstellung „Deutschen Rums“ aus 500.000 Liter Weingeist aus Zuckerrübenrohware, zog diesen Antrag aber zurück, als die Branntweinmonopolverwaltung darauf beharrte, dass das Brenngut ablieferungspflichtig sei (Schreiben von C.T. Hünlich an das Reichsfinanzministerium v. 16. April 1923, Ebd.; Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, ebd.; Aktennotiz von Förster v. 12. Januar 1925, ebd.). In den hier nicht in den Details auszuführenden Auseinandersetzungen ging es letztlich um die Höhe der Abgaben und Steuern für den „Deutschen Rum“. Während die Republik vor dem Kollaps stand, brachte das Reichsfinanzministerium am 30. Oktober 1923 noch eine Sonderverordnung über die Behandlung von Rummaische als Obststoff auf den Weg, doch C.T. Hünlich beschritt diesen eigens eröffneten Weg nicht mehr (Aktennotiz vom 13. Dezember 1923, Ebd.). Die Produktion weiteren „Deutschen Rums“ scheiterte zeitweilig an der Höhe der Abgaben und Steuern. Die Zerrüttung der Geldwirtschaft und die damit zwingend einher gehende Warenzurückhaltung waren weitere Gründe für den Produktionsstopp.

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Warenzeichen von C.T. Hünlich (Geschäfts-Bericht 1927/28, IV (l.); ebd. 1928/29, IV)

C.T. Hünlich beantragte nach der Konsolidierung neuerlich Brennrechte für „Deutschen Rum“ aus der nun so bezeichneten „Rummaische“, konnte aus Sicht der Reichsmonopolverwaltung aber den Beweis nicht erbringen, „dass sie in der Lage ist, Erzeugnisse herzustellen, die den Anforderungen der Verordnung“ vom 30. Oktober 1923 entsprachen. Während der aus Paheiowein gefertigte „Deutsche Rum“ seine Abnehmer fand, gab es nun „erhebliche Zweifel darüber […], ob die bisher von der Firma hergestellten, von ihr als Deutscher Rum bezeichneten Erzeugnisse nach dem bei der Herstellung angewendeten Verfahren als ein dem echten Rum wesensähnliches Erzeugnis anzusehen ist“ (Schreiben des Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an den Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes v. 6. Januar 1925, Ebd.). Offenbar war das von so vielen Gutachtern bewertete Verfahren doch nicht wirklich ausgereift. Es ist unklar, wie diese Debatte endete, denn die Akte des Reichsgesundheitsamtes über „Kognak, Rum und Arrak“ von 1926 bis 1929 ist nicht mehr auffindbar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es zu keiner neuerlichen Massenfabrikation „Deutschen Rums“ bei C.T. Hünlich und auch bei den Winkelhausen-Werken gekommen ist. In den Geschäftsbericht 1922/23 berichtete Hünlich noch über „weitere Fortschritte“ beim Vertrieb und großen Fortschritten in der Fabrikation, „die allerdings die Festlegung beträchtlicher Kapitalien erfordern, teils für den weiteren Aufbau von Apparaten, teils für Umbauten in unserem Betriebe und für Versuche im Großen“ (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 7. Geschäftsjahr 1922-1923, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Spätere Geschäftsberichte sparten „Deutschen Rum“ aus. Das galt auch für die Winkelhausen-Werke. Weitere Firmen suchten um Brennrechte nach, einzelnen wurde die Genehmigung nicht erteilt (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 24. November 1924, BA R 86, Nr. 5430; Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an die Graubrüderhaus AG für Brennereierzeugnisse Dresden v. 6. Januar 1925, ebd.).

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Auktion von deutschem Weinbrand und deutschem Rum Winkelhausen (Hamburgische Börsen-Halle 1924, Nr. 239 v. 23. Mai, 3)

Weitergehende Aussagen über die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ haben nur begrenzten Aussagewert. „Deutscher Rum“ der Winkelhausen-Werte erschienen Mitte der 1920er Jahre regelmäßig bei Auktionen, insbesondere aber in Werbeanzeigen. Die Preise lagen deutlich unter dem echten Importrums bzw. gängiger Verschnitte.

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Winkelhausens Deutscher Rum: Teurer als Verschnitt, preiswerter als echter Jamaika-Rum (Badischer Beobachter 1925, Nr. 358 v. 30. Dezember 1925, 10)

 

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Deutscher Rum als Basis von Rumverschnitt (Dresdner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 291 v. 13. Dezember, 19)

Auch „Deutscher Rum-Verschnitt“ findet sich in Anzeigen insbesondere in Sachsen. Die Preise lagen unter den Angeboten mit Jamaika-Rum, so dass es nicht ausgeschlossen ist, dass er half, die Dominanz des nunmehr explizit kennzeichnungspflichten Kunstrums im deutschen Markt zu brechen.

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Deutscher Rum im Kücheneinsatz (Arbeiterstimme 1926, Nr. 266 v. 29. November, 5)

Beachtenswert ist jedoch, dass am Ende 1920er Jahre „Deutscher Rum“ bestimmten Herstellern nicht mehr zuzurechnen war. Mochte der Rechtsrahmen auch anderes vorsehen, so ist doch ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass es sich dabei doch um Kunstrum gehandelt hat.

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Deutscher Rum im Angebotskranz feinster Spirituosen (Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 131 v. 1. April, 16)

Scheitern auch im zweiten Anlauf: Qualitätsprobleme des „Deutschen Rums“ bei Winkelhausen

Anhand der vorliegenden Informationen ist es demnach kaum möglich, die Marktstellung von „Deutschem Rum“ in den 1920er Jahren genauer auszuloten. Die Spirituosenindustrie erholte sich in der Zwischenkriegszeit zwar von den Tiefständen des Weltkrieges, doch während der Nachkriegszeit gab es eine nur begrenzte Erholung, erreichte der Konsum von Spirituosen nur mehr 1,5 Liter pro Kopf und Jahr (in reinem Alkohol), während er um 1900 noch bei ca. vier Litern gelegen hatte. Die hochprozentigen Getränke, die im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Temperenzbestrebungen standen, verloren ihre frühere Dominanz im Alkoholkonsum – auch aufgrund eines gegenüber der Vorkriegszeit etwa dreimal höheren Preises (Karner, Destillateuer-Gewerbe und Branntweinmonopol, Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 102 v. 13. April, 9). Mit vier bis fünf Liter reinem Alkohol wurde zugleich ein säkularer Tiefpunkt des Konsums erreicht. Zur Einordnung: 2019 trank jeder über 15 Jahre alte Bundesbürger ca. 10,6 Liter pro Jahr (Alkoholatlas Deutschland 2022, Heidelberg 2022, 46).

Die letztlich unterbliebene massive Markteinführung des „Deutschen Rum“ durch die C.T. Hünlich AG war Resultat längerer regulativer Debatten, der Warenzurückhaltung während der Hyperinflation und der offenkundigen Probleme, einheitliche Qualitätsstandards garantieren zu können. Das galt ähnlich für die Winkelhausen-Werke. Auch sie hatte die mögliche Genehmigung seitens der Reichsmonopolverwaltung 1922/23 nicht eingeholt. Doch Winkelhausen nahm seit 1929 einen zweiten Anlauf, bemühte sich um eine bessere Qualität seines „Deutschen Rum“, bat die Behörden um fachlichen Rat. Wiederholt sandte sie der Reichsmonopolverwaltung Proben ihres „Deutschen Rum“. Diese Behörde untersuchte die Branntweine, sandte sie anschließend zur unabhängigen Begutachtung auch an das Reichsgesundheitsamt, denn die Genehmigung war von beiden einmütig zu befürworten. Die staatlichen Instanzen walteten ihres Amtes und zeigten der Firma gegenüber ein beträchtliches Wohlwollen. Die Untersuchungen betonten die an sich geringe Qualität der Rumproben, kamen dann aber dennoch zu einer positiven Gesamtwertung: „Zusammenfassend ließe sich daher sagen, daß die beiden übersandten Proben rumartige Eigenschaften in zwar geringen, jedoch auch in solchem Maße besitzen, daß sie als ein dem Rum wesensähnlicher Branntwein und daher als deutscher Rum […] angesehen werden können“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 10. Dezember 1929, BA R 86, Nr. 5341).

Die Winkelhausen-Werke erhielten dadurch wichtige Hinweise für mögliche Verbesserungen (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 5. Februar 1930, Ebd.). Doch sie nutzten sie offenkundig nicht. Im Mai 1930 war die Geduld beider Behörden schließlich erschöpft – auch wenn insbesondere die Reichsmonopolverwaltung die wirtschaftlichen Konsequenzen möglichen Scheiterns wiederholt hervorhob (Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an das Reichsgesundheitsamt v. 8. Mai 1930, Ebd.). Dennoch stelle auch sie fest, dass sich der Geschmack und Geruch der Rumproben nicht mehr gebessert habe, das von einem typischen Rumaroma nicht zu reden war. Vernichtend dann das immer noch wohlwollend formulierte abschließende Gutachten des Reichsgesundheitsamtes: „Der für echten Rum typische, juchtenlederartige Geruch konnte in keinem Destillat wahrgenommen werden. Wenn auch die beiden Proben noch als einem echten Rum wesensähnlich angesehen werden können, so muß doch festgehalten werden, daß ihre Güte im Vergleich zu derjenigen der mit dem Schreiben vom 15. Januar 1930 […] übersandten Proben nicht nur keinen Fortschritt aufweist, sondern sich solcher als etwas minderwertiger darstellt“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 21. Mai 1930, BA R 86, Nr. 5341). Weitere Proben unterblieben.

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Deutscher Rum als neuerliches Billigangebot (Arbeiterstimme 1931, Nr. 201 v. 9. Dezember, 4)

Während der Weltwirtschaftskrise gewannen derweil Autarkieforderungen zunehmend Gewicht (Spiekermann, 2018, 359-365). Schon seit 1925 hatten die neuerlichen Zollerhöhungen Importe verteuert, das Agrarmarketing rief mit amerikanischen Werbemethoden für den Kauf einheimischer Waren auf. Seit 1925 propagierten DNVP und Reichslandbund „Nahrungsfreiheit“, forderten ein Ende von Luxusimporten, zu denen immer auch Rum gehörte. Das war nicht mehrheitsfähig, vor allem nicht realistisch. Doch Maßnahmen zur Steigerung der Selbstversorgung wurden von (fast) allen Parteien geteilt. Die Weltwirtschaftskrise ließ haushälterische Vernunft auch abseits der krisenverschärfenden Deflationspolitik der Brüning-Kabinette um sich greifen, das nicht-über-seine-Verhältnisse-leben. „Deutscher Rum“ gehörte hierzu, war Ausdruck rationaler Selbstbeschränkung – mochte das Angebot auch fehlen.

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Der Traum von Kolonialprodukten von deutscher Scholle – kritisch gewendet (Uhu 9, 1932/33, H. 3, 73)

Liberale und sozialdemokratische Ökonomen hielten dagegen, in der linken Publizistik verspottete man all die vielfältigen Bemühungen um heimische Ersatzstoffe – nicht nur deutschen Rum, sondern auch Buna, synthetischen Treibstoff oder Holzzucker. Sie sollten, wie auch viele Lebensmittel aus Molke oder Magermilch während des Vierjahresplans massiv gefördert werden. Doch es gab durchaus Gründe für diese deutsche „Flucht in den Käfig“ (Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig: Deutsche Wissenschafts- und Innovationskultur 1900-1960, in: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschafts­politik, Stuttgart 2002, 52-59). Die lang zurückreichende Kritik am Luxus, die Bereitschaft für ein Zurückstecken zugunsten vermeintlich höherer, zumal nationaler Ziele sind hier zu nennen, vor allem aber eine von Wissenschaftlern, Unternehmern und vielen Staatsbediensteten getragene Kultur der Neugestaltung des scheinbar Gegebenen. Kurt Tucholsky hat darüber gespottet: „Andere Nationen machen das so: Was sie besonders gut herstellen, das exportieren sie, und was ihnen fehlt, das importieren sie. Wenn den Deutschen etwas fehlt, dann machen sie es nach. Sie haben deutsches Pilsener und deutschen Whisky und deutschen Schippendehl und Germanika-Rum […] – sie haben überhaupt alles, weil eine Zollfestung ihr Ideal darin sieht, ‚vom Ausland unabhängig zu sein‘. Der nationalistische Wahnsinn verdirbt die Warenqualität“ (Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], Deutscher Whisky, Die Weltbühne 26, 1930, 330-331). Doch dies verkannte, dass Substitute wie der „Deutsche Rum“ (und auch der seit der Vorkriegszeit immer wieder angegangene „Deutsche Whisky“) aus Sicht der Gestaltungsaktivisten eben kein Schielen nach dem Fremden war, sondern eine Selbstbesinnung auf die eigenen Fertigkeiten.

„Deutscher Rum“ war Ausdruck einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden, in der Zwischenkriegszeit aber noch immer wirkmächtigen Gestaltungsutopie von Unternehmern und Wissenschaftlern. Der Pathos des Machbaren, der Wunsch an die Stelle einer nicht kontrollierbaren Realität der Halb- und Kunstprodukte etwas Neues, etwas Eigenes  zu setzten, führte ab 1890 zu neuen Anläufen auf alter Strecke, nicht zum Innehalten, zu einer pragmatischen Gegenwartsanalyse, die zu Kompromissen und dem Arrangement mit den Lieferungen der Anderen hätte führen können, vielleicht gar müssen. Die Desillusionierung, die am Ende der Utopie des „Deutschen Rums“ um 1930 stand, führte eben nicht zur rationalen Reflektion über die Aufgaben und die Grenzen von Wissenschaft und Wirtschaft. Stattdessen begannen parallel mit der scheiternden Utopie des „Deutschen Rums“ andere, durchaus nachvollziehbare Heilslehren ihren zeitweiligen Siegeslauf, die Naturheilkunde, die Vitaminlehre, der Kampf gegen Krebs, die Schaffung von Zucker aus Holz, von Kautschuk und Benzin aus Kohle. Bis heute kann man ihren kalten emphatischen Atem verspüren, in den zahllosen Verbesserungen der künstlichen Kost, in Hafermilch, veganen Würstchen oder anderen unseren Alltag prägenden Illusionsangeboten, die völlig zurecht darauf setzen, dass die Investitionskosten von Gläubigen schon wieder eingebracht werden.

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Selbstüberschätzung aus Tradition: Schlagzeile für Deutschen Rum (Playboy 2018, Nr. 5, 24)

Und natürlich gibt es weiterhin „Deutschen Rum“. Heute nicht mehr aus Rübenzucker hergestellt, nicht mehr Mittel zur Aromatisierung von Kartoffelsprit. Heute handelt es sich bei „Deutschem Rum“ um hierzulande destillierte Getränke aus Rohrzucker, also letztlich um Verfahren, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert wurden, die man damals angesichts bestehender Transportprobleme und fehlender Technik nicht genutzt hat. Heute scheint die Wertschöpfung zu stimmen, auch wenn dieser so alte und sehnende Begriff einzig die Irrationalität heutiger Herkunftsangaben unterstreicht (Uwe Spiekermann, Traditionsmythen: »Deutsche Küche« zwischen Nation, Region und Internationalisierung, in: Gunther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 24-49). Wohl bekomm’s!

Uwe Spiekermann, 11. Januar 2023

Fleisch im 19. und 20. Jahrhundert – Ein Längsschnitt in Thesen

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Der Mensch im zerstörerischen Kreislauf des Lebens (Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien, 7. verm. u. verb. Aufl., Bd. 5, Leipzig und Berlin 1878, 232)

„Zerstörend ist des Lebens Lauf, / Stets frißt ein Tier das andre auf. / Es nährt vom Tode sich das Leben, / Und dies muß jenem Nahrung geben. / Ein ewig Werden und Vergehn, / Wie sich im Kreis die Welten drehn.“ (Friedrich von Bodenstedt, Die Lieder des Mirza-Schaffy, Paderborn 2015 [ND 1851], 83)

Der Mitte des 19. Jahrhundert breit gelesene aserbaidschanische Dichter Mirzah Schaffy Wazeh (1796-1852) stand nicht nur für die Weisheit und den Gleichmut des Orients, sondern in diesem Bild auch für den Darwinismus des imperialen Zeitalters mit seinem Ausgriff auf die globalen Ressourcen – darunter auch dem Fleisch. Die Vernichtung der Büffelherden Nordamerikas und der ab den 1860er Jahren kaum mehr versiegende Strom der Schlachttiere in den neuartigen Schlachthöfen in Cincinnati und dann Chicago zeigten den Menschen als Herren der Welt. Der Tod des Tieres, das blutige Stück Fleisch, sie symbolisierten die „Überlegenheit des Menschen über die Natur, die er sich durch Aggression – also durch die Tötung des Schlachttieres untertan machen“ konnte (Peter Haenger, Das Fleisch und die Metzger. Fleischkonsum und Metzgerhandwerk in Basel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Zürich 2001, 28). Fleisch war im späten 19. Jahrhundert eine vornehmlich städtische Speise geworden, stand für das Ende des bäuerlichen Universums, jener transnationalen, vornationalen und vorindustriellen Welt, deren Zernierungsprozess schon im späten 18. Jahrhundert einsetzte (Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften, 7. Aufl., Berlin (West) 1979, 44-48). „Fleisch“ stand für neue Ordnungsregime, in der es nicht mehr um elementar notwendige Güter ging, sondern um konsumtive Landnahmen, um Wohlstand für alle.

Entsprechend gilt „Fleisch“ bis heute als Marker der modernen Konsumgesellschaft, als männliches Lebensmittel. „Fleisch“ ist ein Mythos, also nichts Fiktionales, gar Verfehltes, sondern – mit Roland Barthes – eine Aussage über uns und unser Verhältnis zur Welt (Mythen des Alltags, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1982, 85-151). Marvin Harris, Elias Canetti oder Nan Mellinger haben dies in breit angelegten kulturanthropologischen Arbeiten ausgebreitet (Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus, Stuttgart 2005; Elias Canetti, Masse und Macht, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1983; Nan Mellinger, Fleisch. Ursprung und Wandel einer Lust, Frankfurt a.M. und New York 2000).

Ich will Ihnen im Folgenden zehn empirisch näher zu belegende Thesen vorstellen und erläutern, um die aktuelle Diskussion über Fleisch gleichsam zu historisieren. Dies erfolgt vor dem Hintergrund einer öffentlichen Diskussion, die auf eine massive Reduktion des hiesigen Fleischkonsums drängt, in der um die Fragen des Tierwohls erbittert gerungen wird und Fleischalternativen medial und kommerziell an Bedeutung gewinnen (Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft, Rangsdorf 2021). Die damit verbundenen Zukunftsperspektiven berücksichtigen allerdings kaum die immense soziokulturelle Bedeutung von Fleisch, die zu einer seit fünf Jahrzehnten konstanten Nachfrage von jährlich etwa 60 kg geführt hat. Sie berücksichtigen auch nicht die vielfältigen historischen Häutungen im Umgang mit dem blutigen Nährstoff, dessen öffentliche Thematisierung in den letzten drei Jahrhundert offenbar deutlich abgeebbt ist. Die Säkularisierung ließ bereits im 18. Jahrhundert den Begriff seltener werden: Blut und Fleisch Christi hatten in einer Welt säkularisierter Fleischeslust offenbar keinen dominanten Platz mehr.

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Relative Worthäufigkeit von „Fleisch“ 1600-1990 (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, DTA-Gesamt- und DWDS-Kernkorpus, 350 Millionen Belegstellen)

These 1: Die „gute alte“ Zeit war geprägt von einem funktionalen und mitleidslosen Umgang mit den Tieren. Dies änderte sich erst mit der bürgerlichen Zärtelei der Haustiere und dem Anthropomorphismus im 19. Jahrhundert. Sie wurde durch die Tierschutzbewegung auf die Nutztierhaltung übertragen und zugleich skandaliert.

Die gängigen Werbebilder der Agrarwirtschaft, zumal der Bio-Landwirtschaft, zeichnen nicht nur ein irreales Bild heutiger Fleischproduktion, sondern spielen vor allem mit idyllischen Reminiszenzen unserer bäuerlichen Vergangenheit. Sie aber sind nichts anderes als Versatzstücke des Agrarromantizismus der Mitte und eines nostalgischen Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts.

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Idealisierter Blick aufs Land: Die kranke Kuh (Illustrirte Welt 43, 1895/96, 417)

Eine rentable bäuerliche Wirtschaft musste seit dem späten 18. Jahrhundert eine komplexe Kreislaufwirtschaft sicherstellen, lebte man doch vom Überschuss einer durch Mistdüngung verbesserten Kreislaufwirtschaft, die dem Vieh zugleich genügend Grünfutter zubilligte. Anita Idel hat die Folgen dieser vielfach nur knapp über dem Subsistenzniveau ackernden ländlichen Gesellschaft auf die Tiere beredt nachgezeichnet (Anita Maria Idel, Tierschutzaspekte bei der Nutzung unserer Haustiere für die menschliche Ernährung und als Arbeitstier im Spiegel agrarwissenschaftlicher und veterinärmedizinischer Literatur aus dem deutschsprachigen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts, Berlin 1999). Die Ställe (wie auch die Unterkünfte unterbäuerlicher Schichten) waren ungeheizt, dunkel, feucht und dreckig, das Vieh stand eng, erhielt im Winter und Frühjahr oft kein rechtes Futter, war häufig krank. Schläge und Malträtierungen waren üblich, das Vieh war Besitz, war Ding. Der Platz der Tiere entsprang ihrer Leiblichkeit, ihrer physischen Stärke, ihre Fruchtbarkeit, ihrer Fähigkeit Reststoffe zu fressen und ihrer Nährkraft (Dorothee Brantz und Christof Mauch (Hg.), Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn et al. 2010). Auch Vögel und andere Wildtiere waren im Wortsinne Freiwild.

Kritik an Vernachlässigung und Grausamkeiten gab es, doch die Aufklärer konzentrierten sich stärker auf die Nützlichkeit des Viehs. Die Tiere waren gottgegebene Mitgeschöpfe, Diener des Menschen, keine Mitbewohner gleichen Rechts (Heidrun Alzheimer-Haller, Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780-1848, Berlin und New York 2004, 239-248). Das galt auch für die langsam wachsenden Städte, in denen Vieh noch gehalten und in großen Mengen geschlachtet wurde.

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Schlachttiere im städtischen Leben vor dem Schlachthauszwang (Über Land und Meer 40, 1878, 777)

Erst der sich nach den 1860er Jahren etablierende Tierschutz, entscheidend getragen durch die Vermenschlichung der Tiere in Massendruckwerken wie Brehms Tierleben, bewirkte einen langsamen Wandel. Harte öffentliche Debatten etwa über die Vivisektion, vor allem aber das Vordringen der Haustiere führten zu einen neuen dualen Tierstandard: Man liebte oder man aß sie.

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Tierliebe als Wachstumsmarkt (Berliner Leben 5, 1902, Nr. 4, 59 (l.); Fliegende Blätter 138, 1913, Nr. 3520, Beibl., 18)

Die Städte waren hierbei Vorreiter, wurden daher auch zu Orten von rational geführten Schlachtinstitutionen, die aus hygienischen und verkehrstechnischen Gründen innerstädtisch zunehmend zentralisiert wurden. Der preußische Schlachthauszwang wies seit 1881 den Weg. Um 1900 gab es reichsweit bereits knapp 700 Schlachthöfe.

These 2: Fleisch wurde im 19. Jahrhundert verwissenschaftlicht. Die organische Chemie stellte es in den Zusammenhang eines allgemeinen Stoffwechsels, hob es als Proteinquelle heraus. Veterinärmedizin und Nahrungsmittelchemie etablierten Schutzmechanismen für Mensch und Tier. Die Agrarökonomie legte die Kostenelle an, diente der effizienten Haltung und Fleischversorgung. Sie alle waren moderne Fortsetzungen eines funktionalen und mitleidslosen Umgangs mit Tier und Fleisch.

Fleisch galt den frühen Vertretern der organischen Chemie als Superlebensmittel, als Träger unmittelbar verwertbaren Eiweißes und Fettes, als Garant für den raschen Körperaufbau, für Kraft und Leistungsfähigkeit (Justus Liebig, Ueber die Bestandtheile der Flüssigkeiten des Fleisches, Annalen der Chemie und Pharmacie 62, 1847, 257-369). Das Fleisch wurde seit den 1840er Jahren als Nahrungsmittel erhöht, zugleich aber profanisiert, von seinem spirituellen und anthropologischen Überschuss befreit. Verdinglichung bestimmte ihr Tun, galt gleichermaßen für Tiere, Pflanzen und Menschen. Fleisch essen hieß daher „Fleisch wieder zu Fleisch zu machen“ (Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien, Bd. 5, 7. verm. u. verb. Aufl., Leipzig und Berlin 1878, 233). Dies war eine säkulare Form des christlichen Stoffwechsels, doch die Transformation von Wort und Fleisch erfolgte nicht mehr spirituell, sondern rein materiell. Das Stoffparadigma rationalisierte Hierarchien zwischen den Nahrungsmitteln, ermöglichte eine verbesserte Regulierung der Fleischmärkte. Auch hier wurde der Blick enger, fokussierter. Standen ehedem Gewerbe und Markt im Blick der Obrigkeit, bei den Waren nur ihr äußerer Anschein, so trat nun die sich in Preisen widerspiegelnde Qualität das Fleisch selbst in den Mittelpunkt.

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Hygienische Rückfragen: Fleischverkaufsstand um 1850 (Düsseldorfer Monatshefte 5, 1852, 151)

Die neue Marktpolizei konnte mit Theorien von Zersetzung und Gärung erst einmal hygienische Mängel benennen und bekämpfen, war erfolgreich beim Eindämmen elementarer Gefahren für Leib und Leben. Hygieniker und dann vor allem Veterinärmediziner gewannen dadurch Arbeitsmärkte. Allein die seit der 1860er Jahren auftretenden Trichinenfälle führten zu ca. 25.000 Kontrolleuren um 1880, 30.000 um 1900.

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Kampffeld Trichine (Felix Grüttner, Die Geschichte der Fleischerhygiene, in: O[ssip] D[emetrius] Potthoff (Hg.), Illustrierte Geschichte des Deutschen Fleischer-Handwerks vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1927, 340-369, hier 365)

An die Stelle der überwundenen Gefahr eines Todes aufgrund von Nahrungsmangel trat eine wissenschaftlich zugleich geschürte und eingehegte Angst vor der Vergiftung, ja, dem Tod durch Nahrung. Gegen die feindliche Mikrowelt der Parasiten und Bakterien stand seither eine verteidigende Kunstwelt der mikroskopischen Kontrolle. Diese Sicherheitssysteme waren effizienter als die der alten Marktpolizei, konnten sich gegenüber wirtschaftlichen Interessen vielfach aber nicht durchsetzen. Die im Deutschen Reich nicht wirksam bekämpfte Rindertuberkulose hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl 100.000 Tote nach sich gezogen. Ökonomische und politische Interessen nutzten die Wissenschaften, ließen sich von ihnen aber nicht immer leiten.

Dennoch waren die gesellschaftlichen Folgen dieser neuen wissenschaftlichen Wissensregime beträchtlich. Nährkraft und Gefährdungen galten gleichermaßen für alle Menschen. Sie alle hatten Anspruch auf Schutz – und auf Eiweiß und Fett zu erschwinglichen Preisen (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Geschichte der Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 40-42). Während im frühen 19. Jahrhundert noch um Brot- und Getreidepreise gerungen wurde, dominierten seit dem späten 19. Jahrhundert Fragen der Fleischversorgung die Öffentlichkeit.

These 3: Fleisch war schon im 19. Jahrhundert immer auch Skandalon, Ausdruck der Brutalität des Landlebens. Eine frühe global ausgreifende Fleischwirtschaft hat seit den 1870er Jahren unanstößige (braune) Fleischprodukte geschaffen, um sie zu zähmen. Fleischextrakt, Fleischpeptone und Fleischkonserven blieben bürgerliche Präparate, Carne Pura scheiterte als Volksnahrungsmittel. Frischfleisch war immer auch Ausdruck eines relativen Scheiterns von Fleischprodukten.

Fleisch wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine bürgerliche Speise, war sozialer Marker für Erfolg. Fleisch, zumal der Braten, stand im Zentrum der bürgerlichen Tafel. Dieses Fleisch war städtisch, setzte sich ab vom ländlichen Umland. Es erlaubte zugleich unternehmerische Initiativen abseits der abgeschafften Zünfte. Neue Produkte und Märkte entstanden als Ideal einer global ausgerichteten, kosmopolitischen Elite. Billiges Fleischeiweiß von Auslandsmärkten schien attraktiv für eine bessere Ernährung der arbeitenden Bevölkerung.

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Fleischextrakt als globaler Markenartikel (Hannoverscher Courier 1867, Ausg. v. 7. Januar, 4 (l.); Illustrirte Zeitung 60, 1873, 131)

Die stoffliche Logik Justus von Liebigs (1803-1873) und die ökonomische Logik international agierender Kaufleute führten ab 1864 zur Produktion eines zähflüssigen Fleischextraktes. Als zähflüssiger nährender Suppengrundstoff gedacht, sollte er dem breiten „Volke“ die stoffliche Essenz des bei der Leder- und Fellproduktion abfallenden Muskelfleisches billig zuführen, das Volke zugleich in die Ordnung der bürgerlichen Küche und Gesellschaft eingliedern. Liebig’s Fleischextrakt war ein Pionierprodukt, viele kapitalkräftige Gesellschaften folgten. Doch der seit den frühen 1870er Jahren offenkundige ökonomische Erfolg resultierte aus dem aromatischen Geschmack und der einfachen Verwendung in der Küche. Anders als von Liebig gedacht, enthielt er aber keine Nährstoffe – und war daher kein Beitrag für die Lösung der sozialen Frage.

09_Dresdner Nachrichten_1880_02_20_Nr033_p4_Muenchner Neueste Nachrichten_1887_11_12_Nr414_p8_Fleischpepton_Sanders_Koch_Krankenkost

Fleisch-Peptone als nährende Kräftigungsmittel für Kranke und Gesunde (Dresdner Nachrichten 1880, Nr. 33 v. 20. Februar, 4 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1887, Nr. 414 v. 12. November, 8)

Intensive Forschungen folgten, denn die unausgereifte Kühltechnik und der langwierige Transport erforderten alternative Technik zur Schaffung neuer, nährender Fleischprodukte. Das erste Resultat waren sog. Fleischpeptone, pastöse Nährmittel, die man der Suppe oder einzelnen Speisen hinzufügen konnte. Relativ hohe Preise und ein ausgeprägt schlechter Geschmack ließen sie als Fleischprodukt scheitern, auch wenn sie in der Krankenkost noch Jahrzehnte verwandt wurde.

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Gescheitertes Volksnahrungsmittel: Das Fleischpulver Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1884, Nr. 96 v. 5. April, 12 (l.); Stinde, 1882, 11)

Ambitionierter noch war das Carne pura, ein Fleischprodukt, Vorreiter der Trocknungsindustrie. Als Pulver mit Nährwert konnte es allen Speisen beigemengt werden, galt seit 1882 als ein neues „Volksnahrungsmittel“. Geschmacklich aber konnte es mit Frischfleisch nicht mithalten, wies zudem beträchtliche Qualitätsschwankungen auf. Carne pura blieb eine Episode – ebenso wie die zahlreichen Eiweißpräparate der Folgejahrzehnte, die zumeist aus Abfallstoffen der Schlachthöfe gewonnen wurden oder aber der „Fleischsaft“ Puro.

Fleisch in globalisierten Märkten war dennoch ein wichtiges Anliegen von Wissenschaftlern und Unternehmern während der ersten Globalisierung. Konservierte Wissensprodukte sollten dem „Volk“ das begehrte Eiweißprodukt preiswert ermöglichen. Diese hygienischen und ästhetisch ansprechenden Waren scheiterten, blieben als Idee aber präsent. Die Kapitalisierung des toten Tieres wurde nun als Frischfleisch und heimisch produzierte Dauerware fortgesetzt.

These 4: „Fleisch“ war von Anbeginn eine semantische Illusion der bürgerlichen Gesellschaft. Erst der Blick auf die unterschiedlichen Fleischtiere und Fleischarten macht die ständischen und sozialen Spannungen, die Tabuzonen und Verwerfungen der Klassengesellschaften transparent.

Raubbau wurde nicht nur in Amerika, sondern auch im Deutschen Reich betrieben, die bis zur Jahrhundertwende praktisch ausgerotteten Trappen belegen dies eindringlich. Massive Bejagung war dabei wesentlich, doch auch eine veränderte Landnutzung, Flurbereinigung und der Einsatz toxischer Getreideschutzmittel. Nicht nur Laufvögel verschwanden vom Speisezettel.

Die soziale Frage wurde durch eine um 1900 auf 25 kg erhöhte Schweineproduktion einerseits, anderseits aber durch eine verstärkte soziale Segmentierung der Fleischqualitäten gemildert. Märkte dominierten das ehedem von Hausschlachtungen geprägte Geschehen. Moralische Aspekte traten neben Fragen reiner Nützlichkeit. Das Fangen und Verspeisen von Singvögeln endete Mitte des 19. Jahrhunderts, der Verzehr von Pferde-, insbesondere aber von Hundefleisch geriet zunehmend unter Druck. Hygienische Gründe dominierten anfangs, doch mit der Ablösung des Hundes als Zugtier mutierte er zu einem nicht essbaren treuen Gefährten und gehätschelten Haustier.

11_Der Wahre Jacob_29_1912_p7691_Vorwaerts_1925_05_07_Nr213_p5_Fleisch_Schweinefleisch_Hundefleisch_Armut_Fleischteuerung_Soziale-Unterschiede

Soziale Hierarchien der Fleischarten (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7691; Vorwärts 1925, Nr. 213 v. 7. Mai, 5)

Bürgertum und Arbeiterbewegung grenzten gleichermaßen Hundefleisch als Fleisch der Ärmsten aus, als Ausdruck der sozialen Verwerfungen einer Klassengesellschaft. Doch in den thüringischen und teils sächsischen Hauptverzehrsregionen war Hund teurer als Pferd, galt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als regionale Spezialität (Uwe Spiekermann, Das Andere Verdauen. Begegnungen von Ernährungskulturen, in: Ders. und Gesa U. Schönberger (Hg.), Ernährung in Grenzsituationen, Ber­lin, Heidelberg und New York 2002, 89-105, hier 89-94; Rüdiger von Chamier, Hunde essen, Hunde lieben. Die Tabugeschichte des Hundeverzehrs und das erstaunliche Kapitel deutscher Hundeliebe, Baden-Baden 2017, 44-51). Andere Fleischarten kamen dagegen neu auf: Kaninchen war wie Hundefleisch um 1870 nur regional üblich, verbreitete sich dann aber als „Schwein des kleinen Mannes“ in Arbeiterhaushalten des Westens, schließlich im Kleinbürger- und Arbeitermilieu im ganzen Deutschen Reich.

12_Koegler-Tempel_1898_p93_Freibank_Fleischsterilisator_Hygiene_Chemnitz_Schlachthof_Daseinsfuersorge

Freibanken oder Billigfleisch als staatliche und veterinärmedizinische Aufgabe (Franz Kögler und Max Tempel, der Schlacht- und Viehhof in Chemnitz, in: Festschrift zur 39. Hauptversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure, Chemnitz 1898, 85-93, hier 93)

Gleichzeitig schuf die veterinärmedizinische Technik neues Billigfleisch für Arme: Konfiskate und die Überreste erkrankter Tiere wurden hitzebehandelt und in reichsweit eingerichteten Freibanken zu Niedrigstpreisen an Bedürftige verkauft. Volkswirtschaftlich wichtiger noch war die Verfütterung von Fleischmehl an Tiere sowie die Verwendung von Fleischresten als Mineraldünger.

Festzuhalten ist, dass „Fleisch“ parallel zu einem generalisierenden Begriff wurde, der die sozialen Unterschiede auch im alltäglichen Fleisch- und Wurstverzehr überdeckte und planierte. Der Unterschied zwischen Feinkost und Freibank war beträchtlich, mochte es sich in beiden Fällen auch um Rindfleisch handeln. Innereien und knorpelhaltige Stücke kamen in die Wurst, die billige. „Fleisch“ war je nach Klasse und Schicht etwas gänzlich anderes.

These 5: Weit stärker als die politische Geschichte dokumentiert Fleisch einen bemerkenswerten Sonderweg der deutschen Lande. Die zoll- und veterinärpolitischen Abschottungen hielten die Fleischpreise hoch, stärkten Handwerk und kleinteilige Mast, ließen die Fleischindustrie lang unentwickelt. Die große Vielfalt heimischer Fleischwaren entspringt dieser relativen Rückständigkeit.

13_Simplicissimus_10_1905_Nr55_p1_Fleischversorgung_Schutzzoll_Fleischnot_Fleischteuerung_Schweine_Rinder

Geschlossene Grenzen (Simplicissimus 10, 1905, Nr. 55, 1)

Soziale Unterschiede waren nicht naturgegeben, sondern folgten wirtschaftlichen Indikatoren von Preisen und Löhnen, waren abhängig von politischen Maßnahmen der damals noch handlungsfähigen Nationalstaaten. Seit 1879 schloss das kurz zuvor gegründete Deutsche Reich zunehmend seine Außengrenzen. Dies erfolgte auf scheinbar wissenschaftlicher Grundlage: Trichinen, Pleuropneumonie und Rindertuberkulose führten zu rigiden veterinärmedizinischen Kontrollregimen, die Fleischimporte verteuerten und unwirtschaftlich machten. Fleischkriege schlossen sich an, zumal mit den USA (Uwe Spiekermann, Dangerous Meat? German-American quarrels over Pork and Beef, 1870-1900, Bulletin of the German Historical Institute 46, 2010, 93-110). Das Fleischbeschaugesetz von 1900 schloss dann den deutschen Markt faktisch ab. Die Folgen waren immens, die Fleischpreise stiegen rapide an, bremsten den Konsum. Der für Großbritannien, Belgien oder die Niederlande zunehmend übliche Import billigen gefrorenen Hammel- und dann Rindfleisches fand in Deutschland nicht statt. Davon profitierten weniger die Agrarier im Osten mit ihrer dominanten Getreidewirtschaft, sondern die Schweinemäster Nordwestdeutschlands. Deutschland wurde auch deshalb zum Schweinefleischland – zumindest oberhalb des Mains.

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Gefrierfleisch als Rohware für eine Rationalisierung von Produktion und Absatz: Ausladen im Hamburger Hafen (A. Goertz und R. Kühn, Gefrierfleisch, in: Karl Bott (Hg.), Handwörterbuch des Kaufmanns, Bd. 2, Hamburg und Berlin 1927, 530-533, hier vor 531)

Wichtiger noch waren die Koppeleffekte. Die fehlende Zufuhr standardisierten preiswerten Fleisches stärkte das verarbeitende Handwerk und bäuerliche Mastbetriebe. Für den Aufbau einer leistungsfähigen Fleischwarenindustrie fehlte lange die Rohware. Erst in den 1920er Jahren gab es ein kurzes Intermezzo umfangreicher Gefrierfleischimporte. Sie begünstigten Großbetriebe und spezialisierte reine Fleischverkaufsstätten der Konsumgenossenschaften, endeten jedoch 1931 am Widerstand der Agrar- und Mittelstandsvertreter (Otto Gerlach und M. Graminger, Fleischergewerbe, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 4, Jena 1927, 213-222).

Die Marktabschottung war zugleich ein entscheidender Faktor für die Entwicklung einer regionalen, teils lokalen Wurstkultur. Das war Folge eines Wettbewerbs der vielen Metzgereien, 1907 mehr als 110.000 Betriebe. Um 1900 führten sie durchschnittlich etwa 25 Sorten, meist Kochwürste, weniger Dauerwaren (A[rthur] Rothe, Das deutsche Fleischergewerbe, Jena 1902). In den 1920er Jahren nahm ihre Zahl rasch zu, denn Metzgereien erweiterten ihr Sortiment im Wettbewerb mit reinen Handelsgeschäften. Parallel stieg die Zahl von Fleischstücken ohne Knochen (Das Fleischerhandwerk, in: Das deutsche Handwerk. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Gewerbe: Industrie, Handel und Handwerk (III. Unterausschuß), 8. Arbeitsgruppe (Handwerk), Bd. 3, Berlin 1930, 137-243, hier 184). Die deutsche Wurstkultur mag gewissen Traditionen folgen, in Thüringen, Braunschweig und Westfalen. Doch sie ist vor allem die Folge einer im Vergleich zum Westen zurückgestauten Modernisierung des fleischverarbeitenden Gewerbes.

These 6: Eine Industrialisierung der Fleischproduktion erfolgte in deutschen Landen nur zögerlich. Funktionale Differenzierungen zwischen Schlachthöfen, Großschlächtern, Metzgern und Fleischhändlern blieben weniger ausgeprägt. Der nur langsame Einsatz der Kühl- und Gefriertechnik hielt – ebenso wie beim Brot – den Mythos einer Handwerkskunst hoch, der bis heute das Bild der Produzenten mit prägt.

15_Deutsch-Englischer-Reise-Courier_10_1914_H07_p18_Fleischindustrie_Fleischwaren_Produktionsstaetten_Kessler_Konserven_Konservierungsindustrie_Hamburg

Vorzeigbare Ausnahme: Fleischwaren- und Konservenfabrik Gebr. Kessler, Hamburg (Deutsch-Englischer Reise-Courier 10, 1914, H. 7, 18)

Die deutsche Fleischwirtschaft war bis in die 1950er Jahre großenteils handwerklich organisiert. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung nahm seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum zu, trotz eines steten Wachstums städtischer Metzgergeschäfte (Georg Adler, Fleischgewerbe, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 3, Jena 1892, 544-556). Fleisch war rasch verderblich, das Kontrollregime zielte auf Frischfleischabsatz. 1895 gab es in Deutschland lediglich drei Wurstfabriken mit mehr als 100 Beschäftigten.

16_Der Wahre Jacob_23_1906_p5085_Lustige Blaetter_21_1906_Nr27_p16_USA_Fleischindustrie_Chicago_Nahrungsmittelfaelschung_Rationalisierung_Produktionsstaetten_Rattenfleisch_Hundefleisch

„Undeutsche“ Machenschaften in den Chicagoer Stockyards (Der Wahre Jacob 23, 1906, 5085 (l.); Lustige Blätter 21, 1906, Nr. 27, 16)

Jeglicher Hinweis auf die vielbeschworene „Herrschaft der Mechanisierung“ verwechselt daher die Imagination der rationalen US-Betriebe mit der dezentralen Struktur von lokalen Schlachthöfen, Großschlächtern und Metzgereien hierzulande (so etwa mit einseitiger Fixierung auf den Ausnahmefall Berlin Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung, Paderborn 2021). Die bekannten Enthüllungen über die unhygienischen Machenschaften in den Chicagoer Stockyards riefen 1906 im Deutschen Reich nicht nur Empörung hervor, sondern zugleich Stolz auf den deutschen Sonderweg.

17_Kladderadatsch_23_1870_6Snp108_Die Fleischwirtschaft_10_1957_p368_Fleisch_Handwerk_Konservierungsmittel_Faerbemittel_Bindemittel_Fleisch_Aseptin_Gervasin

Das notwendige Zwischenreich: Konservierungs-, Binde- und Färbemittel (Kladderadatsch 23, 1870, 6. S. n. 108 (l.); Die Fleischwirtschaft 10, 1957, 368)

Gleichwohl wurde die Fleischproduktion nach der Jahrhundertwende modernisiert. Daran hatten die 1925 ca. 300 Betriebe der Fleischindustrie jedoch nur einen geringen Anteil, einzig bei Dauerwaren erreichte ihr Marktanteil 20% (Fleischhandwerk, 1930, 165). Modernisierung bedeutete eher den konsequenten Einsatzes von Binde- und Färbemitteln (Der Zusatz von Bindemitteln zur Wurst, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 3, 1905, 103-104). Phosphate, Salpeter und Nitrit waren damals übliche Teile der Wurst – und für das Metzgerhandwerk zunehmend Konservierungsmittel. Das galt vor allem für die Konsumzentren in Berlin und Hamburg. Die intensiven Verbotsdebatten über Borsäure, Salizylsäure, schwefelige Säure oder Formaldehyd zielten in den 1900er Jahren auf Veränderungen der handwerklichen Fleischwarenherstellung (Das Verbot der Verwendung von Conservirungsmitteln und Farbstoffen bei Fleisch und Fleischwaaren, Zeitschrift für öffentliche Chemie 8, 1902, 61-84). Moderne Handwerkskunst war stets an die Errungenschaften der chemischen Wissenschaften gekoppelt.

Auch die Hygienevorkehrungen hatten beträchtlichen Erfolg. Größere Reinlichkeit der Läden und der Verzicht auf ausgehängtes Frischfleisch zeugte davon, ebenso der Einsatz von Eisschränken. Maschinen halfen bei der Fleischverarbeitung, doch sie waren Teil der Schlachthöfe, weniger der Metzgereien (Gerlach und Graminger, 1927, 216). Massenabsatz war dennoch möglich, die Ubiquität etwa der Bockwurst belegt dies. Fleischkonsummengen von mehr als 45 kg pro Kopf und Jahr zeugten trotz strikter sozialer Unterschiede von der Leistungsfähigkeit des Versorgungssystems.

These 7: Die Geschichte von Fleisch ist von Beginn an eine Geschichte des Fleischersatzes. Ihre Wurzeln liegen im Sozialpaternalismus und in der Dynamik von kostenbewussten und gewinnorientierten Unternehmern. Der Vegetarismus besaß demgegenüber kaum Bedeutung.

Fleischkonsum war immer umstritten, doch weniger durch die marginal-lautstarken Vegetarier und die deutlich wirkmächtigeren Tierschützer als vielmehr aufgrund der sozialen Bedeutung des Fleischkonsums. Fleisch stand im 19. Jahrhundert für unangemessenen Luxus der Unterschichten, für die Gier ungeschlachter Gesellen, gärender Grund des immer drohenden Umsturzes.

Sozialreformer versuchten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts daher billiges Eiweiß in anderer Form preiswert anzubieten. Leguminosen wurden propagiert, doch selbst elaborierte Produkte wie Maggis Suppenmehle fanden kaum Widerhall bei Arbeitern (Spiekermann, 2018, 138-143). Das galt auch für zahlreiche koloniale „Volksnahrungsmittel“, die wie die Rangoon-Bohne dem Unterschichtenkonsum anderer Weltregionen entsprangen. Auch „Mock Food“ war weit verbreitet.

18_Berliner Volks-Zeitung_1912_10_03_Nr465_p09_Deutscher Reichsanzeiger_1913_05_30_Nr126_p17_Fleischersatz_Pflanzenfleisch_Ochsena_Samitasa

Beispiele aus der breiten Palette der Pflanzenfleischangebote (Berliner Volks-Zeitung 1912, Nr. 465 v. 3. Oktober, 9 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 126 v. 30. Mai, 17)

Diese mentale Globalisierung galt auch für den Vegetarismus, der anstelle von Fleisch Produkte aus Kolonialölen oder Nüssen anbot. Doch nicht die Alternativen waren Trendsetter des Fleischersatzes, sondern bürgerliche Unternehmer, die auf Grundlage verbesserter Eiweißchemie und neuer Technologien wie der Hydrolyse seit 1900 eine wachsende Zahl von Markenartikeln im Massenmarkt anboten – und die damit nicht unbeträchtlichen Erfolg hatten.

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Der österreichische Thronfolger besucht einen Verkaufsstand des Pflanzenfleisches Karna (Neues Wiener Journal 1912, Nr. 6697 v. 16. Juni, 24)

Der Erste Weltkrieg erzwang dann eine weiter wachsende Zahl von Fleischsubstituten, darunter auch Fertigmassen für den Kücheneinsatz. Die generell abnehmende Nährkraft dieser Produkte und die wachsende Phobie gegen künstliche Ersatzmittel beendeten jedoch die erste Hochphase des Fleischersatzes.

Sie hielten sich als Reformwaren, wurden dann jedoch von der Wehrmachtsverpflegung weiter verbessert. Sojabohnenpräparate etablierten sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Marktnischen. Ich schweige von ambitionierten späteren Marktinitiativen, etwas für das Ende der 1960er Jahre propagierte Kunstfleisch TVP. Festzuhalten ist, dass auch die heute wieder modischen Fleischersatzprodukte keineswegs „Newcomer“ sind, sondern neue Ausprägungen eines steten Ringens um schmackhafte und preiswerte Alternativen zum vermeintlich ethisch niedrigstehenden, giftigen, gesundheitsschädlichen und unökologischen Fleischverzehr.

These 8: Die Züchtung veränderte die Tiere massiv, erfolgte jedoch lange Zeit nicht unter der Maßgabe der Fleischproduktion. Die Vielfalt tierischer Aufgaben (Zugkraft, Milch, Fleisch) wurde erst seit den 1920er Jahren langsam aufgebrochen, neue eindimensionale Zuchtziele folgten. Magere Tiere waren Reflexe der Angestelltenkultur, setzten sich aber erst seit den späten 1950er Jahren im Markt durch. Die Fleischproduktion wurde damals auf das Land weggedrückt, zahllose Schlachthofe aufgegeben bzw. privatisiert.

Die Fleischproduktion zielte zwar schon im 19. Jahrhundert auf das ökonomische Ideal der kompletten Nutzung des Tieres, doch dies gelang nicht, die Rufe nach vollständiger Erschließung der tierischen Fett- und Eiweißreserven während der Weltkriege belegen dies deutlich. Das lag nicht an der schon im 18. Jahrhundert recht elaborierten Züchtungsforschung, sondern im Fehlen einheitlicher Zuchtziele. Das Rind war eben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein Dreinutzungstier, Arbeitstier, Milch- und Fleischlieferant. Erst die klare Fokussierung auf Einnutzungstiere, also auf Milchvieh, Mastvieh und Trecker erlaubte eine gezielte Veränderung von Fleischertrag und Fleischkörper (Anita Idel, TierärztInnen und landwirtschaftlich genutzte Tiere – ein systembedingtes Dilemma. Die Bedeutung der Zucht für Krankheiten und Haltungsprobleme, TIERethik 8, 2016, H. 10, 34-52, hier 36).

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Wechselspiel zwischen Magerfleisch und „Fetthunger“ (L. Schön, Erfahrungen mit der Einreihung von Schlachttieren in Handelsklassen / Vorschläge für die Fleischklassifizierung, Die Fleischwirtschaft 10, 1957, 397-398, 532-540, hier 537)

Der Markt hätte dies schon früher erlaubt, denn die Nachfrage nach fettarmem Muskelfleisch stieg schon im Kaiserreich und wurde durch das Wegschneiden von Fett bedient. Es ist kein Zufall, dass das Schwein Vorreiter der Mast wurde, denn es besaß Arbeitsleistung nur als Mistvieh, war ansonsten Futterverwerter und Fleischlieferant. „Magerschweine“ wurde seit den 1920er Jahren gezielt gezüchtet, Vorbilder waren insbesondere die USA, Großbritannien sowie die Niederlande und Dänemark mit ihren exportorientierten Agrarwirtschaften. Die wachsende Spezialisierung der Agrarwirtschaft leistete damit Marktgehorsam, bot Alternativen zum vielbeschworenen „Fettekel“ der späten 1920er Jahre (Handwerk, 1930, 184).

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Englische Magerschweine auf dem Weg zum Londoner Viehmarkt Smithfield (Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 42, 1931/32, 64)

Die Resultate waren beträchtlich, zumal als nach dem Zweiten Weltkrieg Tierzucht auch Teil des Systemwettbewerbs wurde, bei dem die DDR lange Zeit moderner und konsequenter erschien als die Bundesrepublik (Edgar Tümmler, Konrad Merkel und Georg Blohm, Die Agrarpolitik in Mitteldeutschland und ihre Auswirkung auf Produktion und Verbrauch landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Berlin (West) 1969). Deutlich schneller lief die Umstellung in der Geflügelzucht, wo Hybridhühner und neuartige Ställe seit den späten 1950er Jahren Massenproduktion und Brathähnchen ermöglichten (H. Querner, Das Hybridhuhn im Gespräch unserer Zeit, Das Reich der Landfrau 76, 1961, 119-120; A. Mehner, Die Umgestaltung der bäuerlichen Hühnerhaltung, ebd., 221-222).

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Fleischdarstellungen im Wandel (Gehren, 1905, 496 (l.); Ich kann kochen, 1941, n. 64; Schulkochbuch, 1963, 107 (r.))

Die Neuausrichtung der Tiere erhöhte deren Produktivität, verringerte ihre Lebenszeit jedoch massiv. Fleisch wurde insbesondere seit den frühen 1960er Jahren zu etwas anderem: Das blasse wässerige PSE-Fleisch gefährdete die Marktstellung von Frischfleisch stärker als wohlmeinende Ratschläge, den auf mehr als 60 kg gestiegenen Fleischkonsum aus gesundheitlichen Gründen zu reduzieren.

These 9: Die NS-Zeit bildet für die Fleischgeschichte keinen wirklichen Einschnitt. Erst die erzwungene Reintegration in den Weltmarkt seit Anfang der 1950er Jahre, die massiven Anreize für Größenwachstum in EWG und RGW und preiswerte Kühltechnik führten zu einer umfassenden Modernisierung der Fleischindustrie, zum absehbaren Ende des Metzgerhandwerks und ließen die Bundesrepublik zur Schlachtplattform Europas werden.

Seit den späten 1950er Jahren, im Gefolge einer verstärkten Kapitalisierung, Mechanisierung und Chemisierung der Landwirtschaft und einer Medikalisierung, Mechanisierung und ländlichen Zentralisierung der Mastbetriebe war hierzulande der Traum vom täglichen Stück Fleisch Wirklichkeit geworden. Vor dem Hintergrund der Hungerzeiten der 1940er Jahre erfolgten in Ost und West massive Investitionen in die Fleischproduktion. Sie fanden in neuen Großräumen statt, in EWG und RGW, die größere Absatzmärkte und Technologietransfer ermöglichten. Für die Fleischwirtschaft waren die Verfügbarkeit von Gefrier- und Kühltechnik sowie effiziente Transportmöglichkeiten entscheidend. Neue Absatzstrukturen – Stichworte sind Selbstbedienung und Supermarkt – erforderten Gegenmachtsbildungen bei Schlachtungen und in der Fleischindustrie.

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Vorbild für den Westen: DDR-Schweinemastanlage Anfang der 1970er Jahre (Eckhard Mothes, Tiere am Fließband, Jena und Berlin (Ost) 1976, 84-85)

Wichtig ist, dass die öffentliche Bewertung zunehmend kontrovers wurde. Die westdeutsche Agrarökonomie feierte noch in den 1960er Jahren die mutige Umgestaltung der DDR-Agrarwirtschaft. Auf der anderen Seite mündeten die frühen nationalkonservativen und nationalsozialistischen Dekadenztheorien über das Ende des unabhängigen Bauerntums und des Aufstiegs der „Agrarfabriken“ in einen zunehmend links-alternativen Diskurs (Ruth Harrison, Tiermaschinen. Die neuen landwirtschaftlichen Fabrikbetriebe, München 1965). Eine revitalisierte Tierrechtsbewegung und ein sich aus NS-Nähe langsam wieder loslösender Vegetarismus standen der Verdinglichung des Lebendigen zunehmend aktivistisch gegenüber.

Die Fleischwirtschaft wurde damals – auch durch mangelnde Selbstkritik und fehlende Transparenz – zu einem Hort der Skandale, sei es beim Medikamenteneinsatz, der Gabe von Hormonen, bei BSE, einer offenkundig negativen Klimabilanz und Billigarbeitskräften. All das vergisst, dass dies alles Folgen einer Agrar- und Ernährungspolitik waren, die an sich rationalen Zielen folgte und stets deutliche Mehrheiten auf ihrer Seite hatte und hat – wie die jüngste Verabschiedung der Gemeinsamen Agrarpolitik bis 2027 nochmals zeigte. Diese Rationalität ist jedoch eindimensional und entspricht kaum den Ansprüchen einer pluralen Gesellschaft – doch das galt auch schon für die Schutzzollpolitik des Deutschen Reiches im späten 19. Jahrhundert.

Eine nur wenig beachtete Seite der grundlegenden Strukturwandlungen der Fleischproduktion in Deutschland seit den 1960er Jahren ist der rapide Niedergang des Metzgerhandwerks. Die Anzahl der Betrieb sank 2019 unter 12.000, im gleichen Jahr legten noch ganze 373 Meister und 895 Gesellen ihre Prüfungen ab (Statistica.de; Jahrbuch 2020, hg. v. Deutschen Fleischer-Verband, Frankfurt a.M. 2020, 112). Handwerkliche Fleischversorgung wird ein gutbürgerliches Privileg werden, die Massenversorgung übernehmen der Handel und die Fleischindustrie.

These 10: Der lange Abschied vom Agrarland führte zu einem ebenso langen Abschied von Fleisch als einem blutigen und realen Lebensmittel. Die Ästhetisierung der Fleischwaren führte – wie auch in anderen Branchen – zu schwindenden Produktkenntnissen und dem massiven Bedeutungsgewinn industriell gefertigten weißen Fleisches. Fleischindustrie und Naturwissenschaften sind gleichermaßen an der Verzauberung der Fleischwelten beteiligt.

Die strukturellen Änderungen in der Fleischproduktion erlaubten seit den 1960er Jahre seine Positionierung als billige Lockware. Auf die rasche Konzentration im Handel folgten eine langsamere in der Fleischindustrie und ein erst langsamer, dann immer massiverer Abbau der Metzgereien mit Ladenverkauf.

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Fleisch als billige Lockware (Erwin Hasselmann, Durch den Verbraucher – für den Verbraucher. 100 Jahre Konsumgenossenschaft Esslingen, Hamburg 1965, 91)

Fleisch wurde in diesem Prozess zu etwas anderem. Gefrier- und Kühltechnik sowie neue Kunststoffe erlaubten verbrauchernahe Verkaufsformen, machten Fleisch langsam zum Selbstbedienungsgut.

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Veränderte Absatzformen: Verpackungsmaschinen, Kunststoffe und Kühltechnik (Neue Verpackung 15, 1962, 1442; Ebd. 26, 1973, Nr. 12, I)

Parallel erweiterte sich das Spektrum der Hilfsmittel, wobei die seit den 1960er Jahren zunehmend eingesetzten Aromastoffe ganz neue Angebote ermöglichten, insbesondere Snacks und Fertiggerichte.

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Das notwendige Zwischenreich II: Aromastoffe (Die Ernährungswirtschaft 18, 1971, 583 (l.), 193 (r. o.), 301)

Fleisch mag zwar immer noch ein Stück Lebenskraft sein, doch das blutige Muskelfleisch verschwindet. Das ist nicht nur Folge des rasant gestiegenen Geflügelkonsums, der den des Rindfleisches seit längerem übertroffen hat. Dies ist auch Folge einer immer stärkeren Zurücknahme des blutigen Angebotes selbst. Waren vor 20 Jahren noch aufgeschnittene Frischfleischwaren üblich, so präsentiert man diese heute lecker zubereitet und verzehrsfertig.

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Fleisch 2000: Blutnah und küchenfertig (Hit hat‘s 2000, Nr. 51 v. 18. Dezember, 2-3)

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Fleisch 2021: Zubereitet und verzehrsfertig (Kaufland 2021, Ausg. v. 17. Juni, 16-17)

Die Entfleischlichung des Fleisches ist in Wurstwaren und Fertiggerichten deutlich stärker ausgeprägt.

Rechte Fleischeslust will in der Warenpräsentation demnach nicht mehr recht aufkommen. Ausnahmen bilden die Billigsortimente und die ästhetisch ansprechenden Biowaren. Während der Grillsaison drängt Fleisch, zumal billiges, auch visuell nach. Fleisch aus vermeintlich tiergerechtem Anbau darf dagegen ganzjährig mit Freude konsumiert werden, denn dann ist es verantwortbar und bürgerlich-elitär.

Ich komme zum Schluss:

Ich hoffe deutlich gemacht zu haben, dass die systemischen Logiken, die in den letzten knapp zwei Jahrhunderten das Fleischwissen verändert und geprägt haben, allesamt rational waren. Die organische Chemie und die darauf aufbauende Ernährungswissenschaft erkundete erfolgreich die stofflich-physiologisch Dimension des Fleisches, nahm die früher herausgehobene Position als Superlebensmittel allerdings zurück. Die Veterinärmedizin ermöglichte einen dauerhaften Schutzraum, erweiterte immer wieder das medizinisch-prophylaktische Wissen. Die Fleischwirtschaft, sei es als Handwerk, sei es als Industrie, schuf eine Palette von schmackhaften und zunehmend preiswerten Produkten, spreizte ihre Angebote bis heute gemäß den sozialen und den Geschmacksvorlieben ihrer Kundschaft. Der Staat griff regulierend ein, folgte dabei meist der Expertise der Naturwissenschaften und – bedingt – der Agrarökonomie. Die Agrarwirtschaft orientierte sich an den Imperativen der Wissenschaft, der Politik und der Fleischwirtschaft. Die Verbraucher nahmen all dies zur Kenntnis, konsumierten allen Wandlungen zum Trotz etwa 60 kg pro Kopf und Jahr – weniger also als der Städter im Hochmittelalter oder dem frühen 19. Jahrhundert, deutlich mehr aber als ein Bauer in der frühen Neuzeit oder ein Arbeiter im späten 19. Jahrhundert. Und sie brachten dies mit ihren religiösen und ethischen Vorstellungen in Einklang, auch mit den zahllosen Ratschlägen der Experten.

All dies macht Sinn – und all dies ist nicht kompatibel.

Fleisch steht heute für Paradoxien und unverbundene Narrative, für röhrenartig ablaufende Diskurse, die einander ausschließend und unverstanden bestehen. Die Argumente und Hierarchieleistungen von Wirtschaft, Medien und vor allem den Wissenschaften sind nicht symmetrisch, nicht auf gemeinsame Nenner zu bringen. Dies zeigt nicht zuletzt die völlige Echolosigkeit der gesundheitlichen und ernährungswissenschaftlichen Ratschläge zum begrenzten Fleischverzicht seit den 1960er Jahren.

Wissenschaft kann dabei kaum die Lösung bringen, denn die meisten Wissenschaftler können sich aus den Röhren ihres eigenen Wissens nicht befreien. „Interdisziplinarität“ mag Anträge zieren und Festreden würzen. Doch die systemischen Logiken der einzelnen Wissenschaften sind zu stark und prägend, um sie zu durchbrechen. Und das gilt auch für einen Historiker, dessen Analyse des menschlichen Handels, Strebens und Duldens in der Zeit nicht mehr aufzeigen kann als die Versäulung der Diskurse, als die Verkeilung der Systeme, als den fehlenden Seitenblick der Wissenseliten.

Gerade bei einem Thema wie Fleisch heißt dies, andere gangbare Wege zum Wissen zu wagen, nicht nur eng wissenschaftliche. Denkt man etwa an die Grundfragen der philosophischen Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 3. erw. Aufl., Tübingen 1972), so ist dort gut begründet, dass der kontrollierbare Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen Methoden in notwendiger Spannung steht mit dem Sinn menschlichen Tuns und menschlichen Lebens. Dem gilt es sich in Demut zu stellen.

Die Verabsolutierung einzelner Logiken ist jedenfalls keine nachhaltige Strategie, sie ist vor allem Abbild der mikroautoritären Grundhaltung zahlreicher Wissenschaftler, ihres „Nudging“ und ihres Sozialpaternalismus. Maßnahmen zu einer Halbierung des Fleischkonsums werden am mündigen Bürger scheitern, der in Umfragen für Tierwohl eintritt, der aber bei auch nur kleinen Preissteigerungen sehr sensibel reagiert. Das Unbehagen am industriell produzierten und vermarkteten Fleisch besteht, doch es schwindet rasch durch die massiven Veränderungen in der Warenpräsentation und der Vermarktung, durch das räumliche Wegdrücken einer rational getakteten Tierhaltung und Fleischschlachtung, durch den guten Geschmack und die rasche Zubereitung von Fleischwaren. Bleiben wird die Lust auf und die Gier nach Fleisch, die Ausdruck von Wohlstand und Herrschaft ist. Wer will nicht doch Herr der Welt sein – und sei es auch nur im kurzen Glücksmoment des Fleischgenusses.

Uwe Spiekermann, 10. Juli 2021

Ein Fleischersatz der besonderen Art: Ochsena

Wieder einmal herrscht Aufbruchsstimmung… Fleischersatzprodukte sind auf dem Vormarsch, Vorreiter einer umweltverträglichen und klimasensiblen Ernährungsweise aufgeklärter Menschen. Besser noch: Fleisch essen ist weiter möglich, da „Fleisch“ eben kein Fleisch mehr ist, doch „Fleisch“ nach Fleisch schmeckt. Wahrlich, auch ich habe probiert, so wie mehr als zwei Fünftel der Bundesbürger (Deutschland, wie es isst. Der BMEL-Ernährungsreport 2021, Berlin 2021, 12). Noch treibt Neugier den Trend, liefern Medien kostenlose Reklame, investieren kapitalkräftige multinationale Konzerne, vordergründig überzeugt vom baldigen Ende des überholten Essens (Fleischatlas 2021, Berlin 2021, 44-45).

Doch die breite Mehrzahl verändert ihre Art des Essens nur sehr, sehr langsam: Der Fleischkonsum in Deutschland liegt seit Jahrzehnten bei jährlich 60 Kilogramm pro Kopf – und moderate Rückgänge lassen sich durch die wachsende Zahl von Zuwanderern durchaus erklären. Mögen die Fanfaren des raschen Wandels und des nachhaltigen Fortschritts wohl tönen, bei mir überwiegt Skepsis. Sie nährt sich nicht nur aus der Kenntnis einer großen Zahl ähnlicher Aufbrüche hin zu gesunder, gerechter, sozial und ökologisch verträglicher Ernährung, die allesamt abbrachen, teils mit schwarzer Null, teils aber kläglich. Auch der von mir durchaus goutierte Biosektor unterscheidet sich vom „konventionellen“ Markt heutzutage eben nicht mehr strukturell, sondern lediglich durch Rohstoffqualität, Arbeitseinsatz und Gewinnspannen. Und vegane Produkte zeugen vorrangig vom Spieltrieb und Gestaltungswillen vieler Lebensmitteltechnologen und Marketingspezialisten.

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Eine breite Produktpalette schon vor mehr als einem Jahrhundert: Konkurrenten von Ochsena (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 126 v. 30. Mai, 17 (l.); ebd. 1916, Nr. 224 v. 22. September, 12)

Meine Skepsis speist sich jedoch auch aus anderen Quellen, historischen nämlich. Als Historiker weiß ich um Dutzende von Fleischersatzprodukten, die allesamt versprachen, akute Probleme ihrer Zeit zu bewältigen. Ihre Namen sind heute vergessen. Doch eines will ich Ihnen im Folgenden vorstellen: Das im preußischen Altona seit Anfang 1912 produzierte Ochsena, das seit 1918 als Ohsena noch eine kurze Zeit weiter vertrieben wurde. Es entstand inmitten der „Fleischnot“ dieser Zeit, dem hohen Preis und der mangelnden Verfügbarkeit von Fleisch. Es handelte sich um ein reichsweit verkauftes und umfassend beworbenes Produkt eines kapitalkräftigen Unternehmens, dessen Name damals wohl mehr Menschen kannten als heutzutage „Beyond Meat“.

Also denn, zurück in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Auch damals klang es hoffnungsfroh und überzeugungsstark: „Seit Jahrzehnten schon ist die Nahrungsmittelchemie eifrig bemüht, einen vollwertigen Ersatz für die Fleischnahrung zu finden. Eine Reihe von Surrogaten dieser Art sind in der letzten Zeit auf den Markt gekommen und zur eigentlichen Beköstigung nicht geeignet […], weil ihnen der spezifische Fleischgeschmack abgeht. Die Lösung dieser bei der stets steigenden allgemeinen Fleischteuerung so wichtigen Frage ist erst den Fleisch-Ersatzwerken Mohr & Co. in Altona-Ottensen vorbehalten geblieben. Dieser Unternehmung ist es endlich gelungen, das Rindvieh bei der Fleischerzeugung auszuschalten, indem auf chemisch-mechanischem Wege aus Getreide und Hülsenfrüchten das Eiweiß extrahiert und in Fleisch-Eiweiß mit Fleischgeschmack umgewandelt wird“ (Fleisch-Ersatzwerke Mohr & Co., G.m.b.H., Altona-Ottensen, Deutsch-Englischer Reise-Courier 10, 1914, H. 7, 21). Hydrolyse und Presstechnik, Sozialpolitik und Geschmack – welch fulminante, ja zukunftsweisende Mischung.

Der „alte Herr Mohr“ und seine Unternehmungen

Leisten wir uns ein wenig Luxus, leisten wir uns Distanz zum wohldosierten Werbetext. Wer stand hinter diesem neuen Fleischersatz? Mohr & Co. hatte wahrlich eine wechselhafte Geschichte. Es handelte sich bei den Fleisch-Ersatzwerken um eine Gründung des „alten Herrn“ Mohr, des Hamburger Unternehmers Johann Hinrich Mohr (1846-1921). Er war ein quirliger, mit allen Wassern gewaschener Unternehmer, dessen erste Margarinefabrik von den Initialen seiner ersten Frau Anna Louise geziert wurde, nachdem seine erste Butterhandlung 1872 Konkurs gegangen war (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 173 v. 26. Juli, 3). A.L. Mohr produzierte seit 1880 in Hamburg-Bahrenfeld Kunstbutter, ein zweites Unternehmen entstand 1888 in Steinwerder (vgl. Rainer Herbst, Die Entwicklung der Margarineindustrie zwischen 1869 und 1930 unter besonderer Berücksichtigung des Hamburger Wirtschaftsraumes, Hamburg 1989, 150-158). Unser Thema erfordert kein tieferes Eingehen auf Mohrs wechselvolle Karriere, die gleichwohl Wiegendienste für Ochsena geleistet hat. Als Selfmademan beschäftigte er in den 1890er Jahren hunderte Beschäftigte, etablierte sich in der Lokalpolitik, wurde 1893 Abgeordneter des Preußischen Landtages, verlor als nationalliberaler Reichstagskandidat im Wahlkreis Pinneberg-Elmshorn 1894 jedoch gegen den Sozialdemokraten und Genossenschafter Adolph von Elm (1857-1916). Mohr stand gegen die organisierte Arbeiterschaft, die ihn als „nationalliberal-konservativ-bündlerischen-freisinnigen Antisemiten“ brandmarkte (Vorwärts 1894, Nr. 144 v. 24. Juni, 9). 1896 folgte ein harter Streik, ebenfalls ein (recht folgenloser) Boykott der Mohrschen Margarine. Diese war billig und wurde vor allem in Mehr-Pfund-Paketen reichsweit versandt. Mohr wandelte sein Unternehmen 1899 zur Aktiengesellschaft um, verlor dieses jedoch aufgrund hoher Verluste beim Rohstoffeinkauf. Dazu mag auch beigetragen haben, dass der alte Herr kompromisslos agierte – 1896 strengte er beispielsweise hunderte von Prozessen gegen Zeitschriften an, die über Qualitätsprobleme zu berichten gewagt hatten, machte sich so zum Gespött der liberalen Öffentlichkeit (Kladderadatsch 49, 1896, Nr. 52, 7 u. 9).

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Grundriss der Altonaer Margarine-Werke inklusive der Ersatzfleisch-Fabrik (Suppenfabrik und Kocherei) (Kalbfus, Gewerbliche Anlagen [Altona], in: Hamburg und seine Bauten, unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und Wandsbek, Hamburg 1914, 696-700, hier 697)

Doch Johann Hinrich Mohr rappelte sich abermals auf, wurde im März 1905 Geschäftsführer der neu gegründeten Altonaer Margarine-Werke Mohr & Co., die 1908 technisch ausgefeilte Fabrikanlagen errichteten, diese weiter ausbauten und im August 1911 durch den Zukauf der früheren Brennerei und Presshefefabrik Nordlicht wesentlich ergänzten (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 57 v. 7. März, 19; Herbst, 1989, 211-213, 217-218). Als Unternehmer setzte Mohr konsequent auf die mit der Fetthärtung verbundenen Absatzchancen, also den Wandel der Margarine vom tierischen zum pflanzlichen Butterersatz. Pflanzliche Fette, vor allem Kokosnuss- oder Palmkernöl, vermengte Mohr zu Billigangeboten, die vorrangig als Versandware an Privatkunden abgesetzt wurden. Damit war er der Konkurrenz voraus, doch diese zog nach. Der wachsende Kostendruck führte 1910 schließlich dazu, dass Mohr neuartige Billigfette verwendete, ohne deren Verträglichkeit zu kontrollieren. Dies führte zum sog. Backa-Skandal im November und Dezember 1910. Der Genuss der Mohrschen Margarine war für „zahlreiche Personen verhängnisvoll“ (Aerztliche Sachverständigen-Zeitung 1910, 512), führte bei mindestens 900 Personen an etwa 60 Orten zu Magen-Darm-Erkrankungen und Brechattacken; auch Todesfälle wurden mit dem verwandten Maratti-Fett in Verbindung gebracht (Drogisten-Zeitung 26, 1911, 42). Mohr suchte die Schuld vornehmlich bei anderen, brachte mit seinen Anzeigen Verbraucher und Konkurrenten gleichermaßen gegen sich auf (detailliert, doch auf Grundlage einseitiger Quellen: Karl Peter Ellerbrock, Lebensmittelqualität vor dem Ersten Weltkrieg: Industrielle Produktion und staatliche Gesundheitspolitik, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum, Münster 1987, 127-188, hier 173-183). Am Ende wurde er zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt (zum Geschehen s. Margarine-Prozeß Mohr, Altonaer Nachrichten 1911, Nr. 264 v. 6. August, 8-9). Der Absatz seiner Margarine kollabierte: Neue Produkte waren unabdingbar.

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Briefkopf der Altonaer Margarine-Werke Mohr & Co. (Industriemuseum Chemnitz 01/0196/D5)

Ochsena: Ein aus ökonomischer Not geborener „Fleischersatz“

Nach dem Backa-Skandal betrieben die Altonaer Margarine-Werke Mohr & Co. erst einmal Sprachpflege, boten statt „Backa“ nun die Billigmarken „Konkurrent“, „Holsteina“ und „Vera“ an. Die ebenfalls betroffenen teureren Margarinemarken „Luisa“ und „Frischer Mohr“ sowie der Margarin-Käse „Ihmor“ wurden dagegen weiter angeboten. Die Zusammensetzung der Waren veränderte sich ohnehin je nach Rohwarenlage, mochte die Werbung auch von Süßrahm- bzw. Eigelb-Margarine schreiben (Flörsheimer Zeitung 1912, Nr. 24 v. 24. Februar, 4). Mohr verbreiterte zudem sein Angebot, der Zukauf der Nordlicht-Werke bot dafür die Grundlage. Neben die schon zuvor angebotene Handelsmarke „Mohrenkaffee“, den Kakao-Ersatz „Eiweiß“ und das Palmkern-Speisefett „Alles“ trat im Februar 1912 der Pflanzenfleisch-Extrakt „Ochsena“. Dieser Begriff war rechtlich nicht definiert, doch handelte es sich offenkundig um einen Fleischextraktersatz „nach System Liebig hergestellt“. Der sprechende Name der Mohrschen Produktinnovation suggerierte Gleichwertigkeit zum Marktführer Liebigs Fleischextrakt – trotz anderer Rohstoffgrundlage.

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Sortiment und dezentrale Vermarktung Mohrscher Produkte (Wiesbadener Tagblatt 1912, Nr. 95 v. 26. Februar, 7)

Das Warenzeichen „Ochsena“ wurde Ende Oktober 1911 beantragt und im Januar 1912 eingetragen. Der offenbare Anfangserfolg führte 1913 zu Marktsicherungsmaßnahmen, wurden dem Markenportfolio des Unternehmens doch gleich fünf weitere Warenzeichen hinzugefügt. Dabei handelte es sich erst einmal um Defensivzeichen, also den Schutz der Kernmarke Ochsena vor ähnlich klingenden Konkurrenzprodukten. Zugleich aber besaß Mohr dadurch Alternativen in einem schnelllebigen Markt. Das galt auch für „Sincarna“, einem von Hartwig Mohr, einem Enkel des alten Herrn, 1913 eingetragenen Warenzeichen, das schon begrifflich auf einen Fleischersatz zugeschnitten war (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 186 v. 8. August, 16).

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Neue Marken braucht der Mohr: Ochsena und fünf ergänzende Defensivmarken (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 22 v. 23. Januar, 18 (Ochsena); ebd. 1913, Nr. 165 v. 15. Juli, 18)

Das neue pflanzliche Produkt stand im Einklang mit den Pflanzenfettprodukten von Mohr & Co. Doch während der alte Herr bei seinen Margarinen unterschiedliche Qualitäten mit unterschiedlich beworbenen Einzelmarken verband, stand Ochsena nicht nur für einen Pflanzenfleischextrakt. Unter der Dachmarke versammelten sich neben dem Extrakt bald darauf auch gepresste Bouillon- und Suppenwürfel. Während der dunkelbraune Extrakt pastös war und aus Dosen gelöffelt wurde, waren die unterschiedlichen Suppenpräparate in Form gepresst und konnten als solche zerbröselt oder aber mit Wasser übergossen werden.

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„Wie wirkliche Fleischsuppe“ – Ochsena Bouillon-Würfel und Ochsena Suppen-Würfel (Der oberschlesische Wanderer 85, 1912, Nr. 282 v. 7. Dezember, 11 (l.); Hamburger Nachrichten 1913, Nr. 89 v. 22. Februar, 8)

Ochsena war ein Präparat des Übergangs. Es knüpfte einerseits an frühere pflanzliche Nährmittel an: „Sitogen“ und „Ovos“ boten schon um die Jahrhundertwende pflanzliche Alternativen zum Fleischextrakt in der bürgerlichen Küche und der Krankenernährung (Vossische Zeitung 1900, Nr. 600 v. 23. Dezember, 21; Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 225 v. 21. September, 10). Beworben wurden sie vor allem mit ihrer vermeintlich besseren Bekömmlichkeit und ihrem gegenüber dem Fleischextrakt niedrigeren Preis. Anderseits handelte es sich bei Ochsena aber noch nicht um einen Hefeextrakt. Deren Zahl sollte kurz vor dem Ersten Weltkrieg rasch anschwellen, nachdem es Forschern am Berliner Institut für Gärungschemie gelungen war, Hefe zu trocknen und als „Nährhefe“ zu vermarkten. Ihr bitterer Geschmack begrenzte ihre Verbreitung, doch anders als Fleischextrakt besaßen sie nährendes Eiweiß und waren billig (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 276-277). Begünstigt durch die Versorgungsprobleme im Ersten Weltkrieg wuchs ihre Zahl rasch an. Markenartikel wie „Bios“, „Carnos“, „Cenovis“, „Eurostose“, „Obros“, „Viskon“, „Vitam R“, „Volna“ oder „Wuk“ zielten auf die Verdrängung des Fleischextraktes in Haushalt und Gewerbe – und einzelne davon gibt es auch heute noch zu kaufen.

Mohr setzte dagegen auf ein neues Produkt mit bewährter Technologie. Das entsprach seinem Vorgehen im Margarinesektor, wo die Fetthärtung die Verarbeitung günstiger Pflanzenöle zu immer wieder neuartigen Margarinesorten ermöglichte. Nach dem Backa-Skandal ging es aber erst einmal um Vertrauensbildung bei den Kunden – Mohr setzte auf Direktabsatz, war also vom Urteil seiner Kunden unmittelbar abhängig. Entsprechend findet man gerade zu Beginn nicht nur Produktwerbung im engeren Sinne, also unmittelbare Anpreisungen von Ochsena. Stattdessen wurden auch Berichte über staatliche Fabrikvisitationen annonciert, die nicht zuletzt die Güte der eingesetzten Rohwaren bezeugen sollten. Ochsena war ein technisches Produkt, als solches den Kunden kaum bekannt. Mohr entschied sich deshalb auch zu ungewöhnlichen Marketingformen, etwa einer Speiseanstalt, wo das Publikum günstige Mittagessen „ohne Fleisch“, aber mit Ochsena Pflanzenfleischextrakt kaufen und testen konnte. Was mundete, würde auch gekauft werden.

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Vertrauenswerbung nach dem Backa-Skandal: Bericht über eine Fabrikvisitation und den Aufbau einer Speiseanstalt (Altonaer Nachrichten 1912, Nr. 290 v. 23. Juni, 4 (l.); ebd. 1912, Nr. 510 v. 30. Oktober, 4)

Im Mittelpunkt kommerzieller Kommunikation standen allerdings – neben Rundschreiben auf Grundlage der Kundenkartei und gekaufter Adressen – Anzeigen. Sie wurden vornehmlich in Tageszeitungen geschaltet, da sie sich an den unteren Mittelstand und Arbeiter wandten. Von den etwa 700 Beschäftigten in Altona-Ottensen waren nicht weniger als zweihundert in der Verwaltung und im Versand tätig. Mohr garantierte, nicht ansprechende, selbst bereits geöffnete Ochsena-Packungen zurückzunehmen und den Kaufpreis zu erstatten. Dadurch konnte jeder Kunde ohne Risiko testen.

Kampf der Fleischnot durch Ochsena

Mohrs Ochsena nutzte zugleich die Zeichen der Zeit. Der Pflanzenfleischextrakt wurde erst angesichts der damaligen drückend wahrgenommenen „Fleischnot“ zum Fleischersatz. Hinter diesem heute kaum mehr geläufigen Begriff verbarg sich ein zentrales innenpolitisches Thema zwischen 1905 und 1913. „Fleischnot“ war ein Kampfbegriff, der vor allem von Sozialdemokratie und Freisinn genutzt wurde, um die Schutzzollpolitik des Kaiserreichs in Frage zu stellen, um die konservative Agrarlobby in die Schranken zu weisen. Die Abschottung des Binnenmarktes war ein wichtiger Grund für die offenkundige Fleischteuerung: Der Preis für das Kilo Rindfleisch war reichsweit von 1,35 Mark 1904 auf 1,81 Mark 1913 gestiegen, der des Schweinefleisches von 1,32 Mark auf 1,73 Mark (Hermann Beckstein, Städtische Interessenpolitik, Düsseldorf 1991, 169). Diese immensen, in den Städten noch weit höheren Preissteigerungen gingen mit einem bei jährlich ca. 45 Kilogramm stagnierenden Fleischkonsum einher. Trotz langsam wachsender Reallöhne konnten städtische Arbeiter und Angestellter nicht mehr die gewünschten Mengen Fleisch kaufen – Nahrungs- und Genussmittel machten damals etwa die Hälfte ihrer Konsumausgaben aus. Die Fleischteuerung bremste den strukturellen Wandel hin zu einer dominant animalischen Ernährungsweise aus – und die Folge war in der Tat „Fleischnot“.

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Der Michel und seine Jagd nach der Wurst (Der Wahre Jacob 23, 1906, 4960)

Die Teuerungswellen 1904/05, 1909/10 und 1912/13 waren begleitet von wohlfeilen Ratschlägen der Einkehr und des Innehaltens, von einer Beschwörung der vermeintlich gesunden Kost der Vorväter. Die sehr kleine, aber durchaus lautstarke Zahl der Vegetarier empfahl mehr Hülsenfrüchte, gut geschrotetes Brot und eine rasch wachsende Zahl verarbeiteter fleischloser Produkte, stritt zugleich aber eifrig über die Bewertung neuartiger Fleischersatzprodukte. Physiologisch geschulte Zeitgenossen propagierten kostengünstigere tierische Nahrungsmittel, also etwa vermehrten Seefisch-, Milch-, Käse- oder Eierkonsum. Und da waren immer auch geschäftstüchtige Unternehmer, die behaupteten, ein gesellschaftliches Verteilungsproblem durch neuartige Produkte lösen zu können. Schon 1905 wurde in Posen ein neues Pflanzenfleisch erfunden, das jedoch keine Marktbedeutung gewann (Neues Wiener Journal 1905, Nr. 4366 v. 17. Dezember, 9). Die Teuerungswellen 1909/10 und 1912/13 ließen die Zahl einschlägiger Offerten rasch hochschnellen.

Fleischteuerung und Fleischnot waren soziale Probleme, boten zugleich aber willkommene Vermarktungschancen. Gerade Nährmittelanbieter nutzten den Preisdruck, um sich als günstige Alternative anzubieten. Der auf deutsch-amerikanische Einwandererunternehmer zurückgehende Nahrungsmittelmulti Quaker Oats propagierte offensiv Hafermehl: „Fleisch ist teuer, trotzdem aber nicht wertvoller als viele billigere Nahrungsmittel. Das billigste von allen ist Quaker Oats […]. Dabei gibt Quaker Oats mehr Nahrkraft [sic!] in leicht verdaulicher Form als Fleisch bei doppelter Ausgabe“ (Fliegende Blätter 138, 1913, Nr. 3525, Beil., 3). Auch der Dresdener Unternehmer und Vollkornbrotpionier Volkmar Klopfer (1874-1943) vermerkte hintersinnig mitfühlend: „Unter der Fleischteuerung hat am meisten die Hausfrau zu leiden, die mit demselben Wirtschaftsgelde den ganzen Aufwand für die Ernährung der Familie zu bestreiten hat. Zehntausende von Hausfrauen haben daher an mehreren Tagen in der Woche Gerichte eingeführt, bei denen nur wenig oder gar kein Fleisch verwendet wird“ (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1912, Nr. 274 v. 25. November, 8). Warum also nicht Klopfer-Nudeln im Kartoffelland Sachsen probieren? Johann Hinrich Mohr stieß in das gleiche Horn: „Mit der Zunahme der Bevölkerung hat die Zunahme der Fleischproduktion nicht gleichen Schritt gehalten. In allen Ländern ist Mangel an Fleisch und damit eine Steigerung der Preise aller Fleischsorten, namentlich Rindfleisch, eingetreten.“ Seiner Firma sei es gelungen, Getreide und Hülsenfrüchten Eiweiß zu entziehen „und in Fleisch-Eiweiß mit Fleisch-Geschmack umzuwandeln und als Pflanzenfleisch-Extrakt unter der Schutzmarke ‚Ochsena‘ in den Verkehr zu bringen“ (Dresdner Nachrichten 1913, Nr. 196 v. 18. Juli, 10).

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Versprechen eines erschwinglichen Fleischgeschmacks (Vorwärts 1912, Nr. 62 v. 14. März, 11)

Mohr war Geschäftsmann, kein Ideologe. Es ging ihm nicht um Ernährungsreform oder gar um vegetarische Ernährung. Ochsena wurde für den Massenmarkt konzipiert. Anders als die Pflanzenextrakte „Viandal“ oder aber „Gesunde Kraft“ finden sich für das Präparat aus Altona-Ottensen keine Anzeigen im Nischenmarkt der Vegetarier (Vegetarische Warte 44, 1911, H. 18, IV; ebd., H. 14, IV). Fleischnot und Fleischteuerung waren vielmehr öffentlich umkämpfte Themen, die Interesse an Ochsena schürten, die als Blickfang von Anzeigen dienen konnten. Mohr spielte dabei bewusst mit den gängigen Attributen des Fleisches, mit seinem würzigen Geschmack und seiner Nährkraft.

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Paradoxe Aussagen: „Fleisch-Ersatz“ als billiges Fleisch (Berliner Volks-Zeitung 1912, Nr. 465 v. 3. Oktober, 9)

Doch dabei blieb es nicht. Die Mitte Februar 1912 einsetzende Werbung beließ es nicht beim Epigonencharakter des billigen Ersatzmittels, beim Nachklatsch eines an sich erstrebenswerteren, nicht aber erschwinglichen Tierproduktes: „Ochsena hat den Vorzug, nicht bloß ein Ersatzmittel für Fleisch zu sein, sondern es ist viel wertvoller und viel nahrhafter, weil Ochsena nur den fünften Teil Wasser besitzt, welches in knochenfreien Rindfleisch enthalten ist, und weil das Fleisch nicht alles vom menschlichen Körper verdaut wird, während Ochsena als Extrakt sich sofort im Wasser gänzlich auflöst und vollständig im menschlichen Körper verdaut wird“ (Der sächsische Erzähler 1913, Nr. 165 v. 20. Juli, 11). Ebenso wie „Kunstbutter“ mehr als Butter war, war Ochsena konzentrierte Kraft, konzentrierter Geschmack, war ein Produkt menschlicher Schaffenskraft, künstliche Natur.

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Eine breite Angebotspalette (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1913, Nr. 163 v. 17. Juli, 8)

Die Ochsena-Werbung hatte dabei ähnliche Probleme zu bewältigen wie die für Liebigs Fleischextrakt. Diese verwies auf den Nährwert des Fleisches, doch der Unterschied zwischen einem wohl geschmorten Rindsbraten und der löffelweise genutzten Dauerware war groß. Die Liebig-Gesellschaft konzentrierte sich daher immer stärker auf den Geschmack ihres Angebotes, vermarktete es weniger als Suppengrundstoff, sondern vorrangig als Geschmacksträger, als Würze. Das zeigte sich auch in mehreren, im Herbst 1912 einsetzenden und bis 1914 andauernden Werbekampagnen, mit denen man Billigwettbewerbern ihre Grenzen aufzeigen wollte. Denn auch die Ochsena-Werbung verwies nicht allein auf die durchaus vorhandene Nährkraft, sondern betonte stetig den delikaten Geschmack: „Diese Ochsena-Würfeln [sic!] haben den Nährwert und Geschmack einer würzigen, kräftigen, wirklichen Rindssuppe. Dieselben sind auch vorzüglich geeignet als Würze zu allen Gemüsesuppen, Tomatensuppen, Kartoffelsuppen, welche dadurch einen würzigen, kräftigen Fleischgeschmack erhalten“ (Deutsch-Englischer-Reise-Courier 9, 1913, H. 4, 30). Ochsena war demnach Fleischersatz im Munde, kokettierte mit dem animalischen Geschmackserlebnis. Werbliche Folgen waren stete Verweise auf schmackhafte frugale Speisen, die dank Ochsena zu einem „wirklichen“ Essen transformiert werden konnten (Ochsena-Suppenwürfel, Prager Tagblatt 1913, Nr. 277 v. 9. Oktober, 5; Ein Mittagessen um 17 Heller für die Person, Österreichische Land-Zeitung 1913, Nr. 46 v. 15. November, 7).

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Billige Suppenwürfel (Münchner Neueste Nachrichten 1913, Nr. 239 v. 11. Mai, 8)

Alltagshilfe, Nährwert, Geschmack – es fehlt noch der Preis, genauer die Preiswürdigkeit der Ochsena-Produkte. Ein damit geadeltes Mittagessen war billig, sollte nur 10 bis 15 Pfennig pro Person kosten, eine Bouillon lediglich 1 bis 1½ Pfennige (Deutsch-Englischer Reise-Courier 10, 1914, H. 7, 21). Aufgrund seines geringen Wassergehaltes benötige man nur geringe Mengen, um die Fleischwirkung zu erreichen, gar zu übertreffen. Da Ochsena zudem vorgefertigt war, ein direkt einsetzbares Convenienceprodukt, schien es ein mehr als vollständiger Fleischersatz zu sein – glaubt man den Aussagen in der Werbung.

Karna, ein österreichisches Vorbild?

Ochsena stand nicht allein. Schon im Januar 1912 begannen beispielsweise die eigens für diesen Zweck gegründeten Wiener Karna Pflanzenfleisch-Werke mit der Vermarktung verschiedener Fleischersatzprodukte in Cisleithanien. Die verschiedenen unter der Dachmarke Karna angebotenen Produkte wurden offensiv als Hilfe für die unter Fleischteuerung leidende Bevölkerung vermarktet – und es ist anzunehmen, dass diese Werbekampagne auch in Altona wahrgenommen wurde (Arbeiter-Zeitung 1912, Nr. 35 v. 7 Februar, 8; Die Karna-Werke auf der Kochkunst-Ausstellung, Reise und Sport 12, 1912, H. 12, 10). Österreich war schließlich ein wichtiger Markt der Altonaer Margarine-Werke. 1909 hatte Mohr im böhmischen Bodenbach mit einem Stammkapital von 250.000 Kronen eine Auslandsdependance gegründet und eine „Eigelb-Margarinefabrik“ errichtet (Architekten- und Baumeister-Zeitung 19, 1910, Nr. 1, 6). Sie geriet schon während des Backa-Skandals unter Beschuss, versuchte sich dagegen mit breit angelegten Werbekampagnen zu behaupten (Mährisch-Schlesische Presse 1910, Nr. 109 v. 10. Dezember, 4; Znaimer Tagblatt 1911, Nr. 48 v. 17. Juni, 11). Dies führte allerdings zu einem geschlossenen Widerstand der österreichischen Margarinefabrikanten, deren Angebote zumeist noch aus tierischen Fetten produziert wurden – und die sich durch Mohrs Verweise auf die überlegene Qualität von Pflanzenmargarine herabgesetzt sahen (Leitmeritzer Zeitung 1911, Nr. 52 v. 1. Juli, 13). Das österreichische Werk musste noch im gleichen Jahr unter Verlust von etwa einer halben Million Kronen aufgegeben werden (Herbst, 1989, 220). Der österreichische Markt wurde zumindest bis 1915 per Versandgeschäft weiter beliefert, doch der damals anvisierte Aufbau eines Vertreter- und Agenturnetzwerkes scheiterte (Vorarlberger Wacht 1913, Nr. 41 v. 9. Oktober, 8, Neues Wiener Journal 1915, Nr. 7761 v. 3. Juni, 13; Freie Stimmen 1914, Nr. 30 v. 27. März, 7).

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Andere Rohstoffgrundlage, ähnliche Vermarktung: Karna Fleischersatz (Neues Wiener Tagblatt 1912, Nr. 36 v. 7 Februar, 31)

Die Karna-Werbung dürfte eine von mehreren Vorbildern für die insgesamt ja nicht sehr elaborierte Vermarktung der Ochsena-Produkte gewesen sein; und verwies damit nochmals auf die beträchtliche Marktdynamik in der Noch-Nische des Fleischersatzes. Karna bestand allerdings aus Nährhefe, Kochsalz, etwas Fett und Suppenzutaten, lediglich die fleischlosen und streichfähigen Appetitwürste erinnerten mit ihrem Klebereiweiß an die Getreidegrundlage von Ochsena (Zeitschrift des Allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereins 50, 1912, 616; Karl Micko, Über Speisewürzen und Bouillonwürfel, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 26, 1913, 321-339, hier 328).

Was war Ochsena?

„Nicht immer entspricht die Reklame den Tatsachen: selbst Firmen, die brauchbare Ware in Verkehr bringen, glauben durch falsche Reklame die Bedeutung und den Wert eines Präparates noch steigern zu müssen. So bringt z. B. die Firma Mohr einen sehr angenehm und würzig schmeckenden Pflanzenstoffextrakt in den Handel als ‚‚Ochsena‘ ‚etwa 4 bis 5 g für eine Tasse kräftige Bouillon‘. Unter Bouillon versteht man allgemein Fleischbrühe — sie ist infolge ihrer anregenden Wirkung geschätzt. ‘Ochsena‘ enthält keine Fleischstoffe, kein Kreatinin wie die Fleischbrühe, die Lösung schmeckt ausgeprägt nach Pflanzenstoffen, sie ist ein schmackhaftes anregendes Getränk aber keine Fleischbrühe“ (Hugo Kühl, Über Ersatzfabrikate unserer Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände im Kriege, Öffentliche Gesundheitspflege 1, 1916, 283-289, hier 287-288). Dieses harsche Urteil hilft uns gewiss, die Werbewelt des alten Herrn Mohr zu verlassen, um ein realistischeres Bild der Ochsena-Präparate zu gewinnen.

Die in den wichtigsten Tageszeitungen des Deutschen Reiches geschalteten Anzeigen machten Ochsena nicht nur für Kunden attraktiv. Auch Nahrungsmittelchemiker und Ärzte interessierten sich für die neuen Präparate, deren kommerzielle Kunde sich beispielsweise auch an alle Hebammen im Deutschen Reich richtete, die Mohr mit Werbeschreiben und Gratisproben eindeckte. Dabei hatte der im Umgang mit den Kontrollinstanzen versierte Unternehmer schon vorgesorgt. Ein Handelslaboratorium hatte Ochsena mit Rindfleisch verglichen und kam zu den in den Anzeigen bereits erwähnten Ergebnissen: Ein doppelt so hoher Nährwert wie Rindfleisch, leichte Verdaulichkeit und Resorption, eine hohe Würzkraft. Man konnte demnach füglich einen erstklassigen Nährextrakt erwarten. War dies also ein Durchbruchserfolg für Fleischersatzpräparate? Beamtete Kontrolleure aus Kiel waren skeptisch: „Schön öfter sind derartige Präparate mit ähnlicher Reklame auf den Markt geworfen, als ob sich das Fleisch so zu sagen in konzentrierter Form darin vorfände und ein kleiner Teil dieser Erzeugnisse genüge, um eine große Menge Fleisch in seiner Nährkraft zu ersetzen“ (C. Reese und J. Drost, „Ochsena“-Pflanzenfleischextrakt, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 24, 1912, 240-244, hier 242). Und sie gingen frohgemut ans analytische Werk.

Das Ergebnis war ernüchternd, trotz eines durchaus angenehmen Geruchs: „Beim ‚Ochsena‘ sind nun aber überhaupt keine eigentlichen Proteinstoffe vorhanden, wie es auch bei Fleischextrakten und anderen sogenannten ‚Pflanzenfleischextrakten‘ höchstens in geringen Mengen der Fall ist. Albumosen sind nur in Spuren anwesend, Peptone gar nicht. Die vorhandenen Stickstoffverbindungen setzen sich zum geringen Teile zusammen aus Pflanzenbasen, zum größeren aus stärkeren Abbauprodukten der Proteinstoffe, von denen vielleicht ein Teil stickstoffsparend in den Stoffwechsel einzugreifen vermag. Einen direkten Nährwert dürften sie nach unseren heutigen Anschauungen aber nicht besitzen“ (Ebd., 242-243). Ochsenas Nährwert lag deutlich unter dem des Rindfleisches. Wichtiger aber war, dass die vorhandenen Eiweißpartikel auch deutlich schlechter verdaut wurden. Ochsena war nicht nur ein Phantasiename, sondern auch ein nahrungsmittelchemisches Luftschloss: „Ein gewisser Genußwert soll auch dem Ochsena nicht abgesprochen werden. Er ist bedingt durch die vorhandenen Extraktivstoffe von Suppenkräutern und den Stickstoffverbindungen; mit demjenigen der Fleischextrakte ist er aber wegen des Fehlens sehr wichtiger Bestandteile nicht zu vergleichen. Der Kochsalzzusatz ist außerordentlich hoch, der Gehalt an natürlichen Mineralstoffen sehr niedrig“ (Ebd., 244).

Untersuchungen in anderen Kontrollämtern bestätigten diese Angaben (Micko, 1913, 328-329). Der hohe Kochsalzanteil – eine Analyse in Hamm ergab 40-45% (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 27, 1914, 342) – ließ Rückschlüsse auf die Produktion von Ochsena zu: Pflanzliche Stoffe, durchaus Getreide resp. Hülsenfrüchte, wurden mit Salzsäure hydrolysiert und mit Natriumcarbonat abgesättigt. So gewann man ein Präparat mit intensivem, an Fleischextrakt erinnerndem Geschmack. Nahrungsmittelchemisch handelte es sich also um eine vegetabile Speisewürze (J. Rühle, Die Nahrungsmittelchemie im Jahre 1914, Zeitschrift für angewandte Chemie 28, 1915, Bd. I, 397-401, 405-408, 416-419, 431-432, hier 401). Mohr & Co. machten keine präziseren Angaben, für die Firma war der (rechtlich nicht definierte) Begriff „Pflanzenfleischextrakt“ ausreichend (Pharmazeutische Praxis 12, 1913, 260).

Ochsena war dennoch ein erfolgreiches Produkt. Die Sortimentserweiterung der Altonaer Margarine-Werke war profitabel, die beträchtlichen Investitionen führten 1913 zu monatlichen Nettogewinnen von 30.000-40.000 Mark (Herbst, 1989, 220). Trotzdem stand die Firma infolge von Problemen ihres Londoner Hauptlieferanten Anfang 1914 vor der Zahlungsunfähigkeit. Neuerlich musste umstrukturiert werden, doch die Firma konnte ihren Zahlungsverpflichtungen bis 1916 vollumfänglich gerecht werden (Die Kälte-Industrie 11, 1914, 189; Herbst, 1989, 220-221).

Parallel bereitete die Firma die Expansion in die USA vor. Ochsena war dort seit dem 14. Juli 1914 als Warenzeichen eingetragen (Official Gazette of the United States Patent Office 249, 1918, 969) und bestehende Markenkonflikte ausgeräumt (The Trade-Mark Reporter 8, 1918, 278). Schon zuvor hatte man neuerlich versucht, in ganz Cisleithanien Vertreter und Grossisten für Ochsena-Präparate anzuwerben (Innsbrucker Nachrichten 1914, Nr. 69 v. 27. März, 11; Marburger Zeitung 1914, Nr. 35 v. 31. März, 7; Czernowitzer Tagblatt 1914, Nr. 3414 v. 4. April, 7). Auch im Deutschen Reich begann Mohr & Co. ab Mai 1914 das Vertriebsnetz durch Anwerbung von Teilzeithausierern zu stärken (Rheinische Nachrichten 1914, Nr. 117 v. 20. Mai, 4). Auch Frauen, „sauber, ordentlich, fleissig“, wurden gezielt umworben, „um unsere leicht verkäufliche [… Waren, US] von 1 Pfd. an, jeder Familie, ob reich, ob arm, wöchentlich frisch ins Haus zu bringen gegen guten Verdienst“ (Emser Zeitung 1914, Nr. 126 v. 2. Juni, 3). Neben das Versandgeschäft und die Hausierer traten drittens immer stärker Einzelhandelsgeschäfte: „Ochsena ist in den Kolonialwaren-Handlungen käuflich“ (Dresdner Nachrichten 1913, Nr. 261 v. 21. September, 12).

Der Erste Weltkrieg als Marktchance

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Fleischersatz auch im Felde: Liebesgabenwerbung zu Kriegsbeginn (Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 422 v. 19. August, 6 (l.); Berliner Illustrirte Zeitung 23, 1914, 684)

Der Erste Weltkrieg traf Mohr & Co. demnach in einer Expansionsphase. Kampfhandlungen, Seeblockade und der vielgestaltige Druck auf neutrale Staaten begrenzten nun jedoch die Importe pflanzlicher Öle, so dass die Margarineproduktion schließlich eingestellt werden musste. Die Bedeutung von Ochsena-Präparaten nahm für die Firma demnach weiter zu, schon 1915 firmierte das Unternehmen vereinzelt als „Ochsenafabrik“ (Rosa Brenneke, Die deutsche Hausfrau im Weltkrieg, Leipzig 1915, Werbeanhang). Wie die Mehrzahl der Konsumgüterproduzenten nutzte Mohr die sich bietenden Marktchancen, offerierte für die knapp vier Millionen zu Beginn mobilisierten deutschen Soldaten Feldpostbriefe mit Ochsena-Liebesgaben. Der Fleischersatz mutierte zum Stärkungsmittel, zur raschen Nährpause zwischen Hauen und Stechen. Mohr verstand dies jedoch nicht nur als Marktchance, sondern auch als Rückendeckung für die Truppe. Seine Firma zeichnete entsprechend 500.000 Mark der dritten Kriegsanleihe (Altonaer Nachrichten 1915, Nr. 427 v. 13. September, 4).

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Konzentration auf die Heimatfront (Wiesbadener Neueste Nachrichten 1915, Nr. 236 v. 12. Oktober, 6)

Schon nach wenigen Monaten aber endete die Liebesgabenwerbung. Die Werbung konzentrierte sich auf die Heimatfront. Als Ersatzmittel schien Ochsena bestens geeignet, rasch offenkundige Lücken in der Alltagsversorgung zu schließen. Die gängigen Fleischextrakte wurden schließlich aus Südamerika importiert, und es war bis Mitte 1915 unklar, ob die in London ansässige Liebig Gesellschaft ihr Deutschlandgeschäft würde weiter fortsetzen können. Mohr nutzte dies zur Feindbenennung und zur Selbsterhebung, behauptete er doch „Ochsena-Extrakt würzt und kräftigt alle Suppen, Saucen und Gemüse in gleicher Weise wie der englische Liebig-Fleischextrakt“ (Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg 1914, Nr. 104 v. 9. Dezember, 522). Es schien wenige Monate so, als könne der Fleischersatz einen Klassiker der Fleischindustrie aus dem Markt verdrängen.

Entsprechend wurden die Ochsena-Präparate „während des Krieges mit erhöhter Reklame angepriesen“ (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 57, 1916, 327). Das galt sowohl für die urbanen Zentren als auch für Mittel- und Kleinstädte (Matthias Röhrs, Werbung vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Am Beispiel der Rottenburger Zeitung, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 60, 2001, 317-346, hier 338-339). Ochsena wurde weiterhin als Mittel gegen die trotz Höchstpreisverordnungen rasch steigenden Fleischpreise propagiert.

16_Muenchner Neueste Nachrichten_1915_05_02_Nr223_GA_p2_Vorwaerts_1915_05_01_Nr119_p12_Ochsena_Mohr_Altona_Fleischextrakt_Fleischersatz

Fleischgeschmack trotz fehlenden Fleisches und Fleischextraktes (Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 223 v. 2. Mai, Generalanzeiger, 2 (l.); Vorwärts 1915, Nr. 119 v. 1. Mai, 12)

Dies konnte allerdings nicht vergessen machen, das Ochsena selbst immer teurer wurde. Im Mai 1915 hatte sich der Preis der Dose gegenüber der Vorkriegszeit bereits von einer auf zwei Mark verdoppelt (Rheinische Nachrichten 1915, Nr. 102 v. 3. Mai., 4). Ende 1916 musste man schon 3,50 Mark für die Pfunddose bezahlen (Leipziger Tageblatt 1916, Nr. 571 v. 9. November, 10). Ende 1918 lag der Preis dann bei 5,35 Mark (Schreiben v. Mohr & Co. an H. Lallecke v. 7. Dezember 1918, Privatbesitz). Dies war nicht nur Ausdruck der beträchtlichen Inflation bereits während des Ersten Weltkrieges, sondern unterstrich die Versorgungsprobleme an der Heimatfront. Es fehlten Kalorien, ferner der tradierte Geschmack der Speisen. Ochsena wurde daher nicht nur gekauft, sondern auch zur Nahrungsmittelfälschung benutzt, gab der Extrakt doch ansonsten gehaltslosen Suppenwürfeln eine Ahnung von Aroma (General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1916, Nr. 37 v. 14. Februar, 5). Mohr konnte dies kaum verhindern, ebenso das in Inflationszeiten übliche Zurückhalten der Ware, um nach Preissteigerungen unzulässige Zusatzgewinne zu erzielen (J[ohannes] Rühle, Die Nahrungsmittelchemie im Jahre 1917, Zeitschrift für angewandte Chemie 32, 1919, 9-14, 17-21,, 27-31, 36-37, hier 19-20).

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Bewusste Irreführung der Verbraucher (Taunusbote 1915, Nr. 49 v. 27. Februar, 2)

Dennoch führte auch Mohr & Co. seine Kunden vielfach bewusst irre. War die Anpreisung schon vor dem Krieg „nicht ganz einwandfrei“ (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 57, 1916, 327), so verstieg man sich in bewusster Missachtung der Ergebnisse der Nahrungsmittelkontrolle zu haltlosen Aussagen über den Wert des Produktes. Ochsena war kein Fleischextrakt, konnte ihn daher auch nicht gleichwertig ersetzten. Und ein Pfund des pflanzlichen Hydrolyseprodukts hatte keineswegs „den Gebrauchswert von ca. 10 Pfund Rindfleisch“, wie Mohr es 1915 reichsweit behauptete. „ Von einer Beanstandung aus diesem Grund ist aber abgesehen worden, weil die Inschrift ‚Pflanzenfleischextrakt‘ die einsichtigeren Käufer aufklären wird“ (Ebd.) lautete die schwächlich-resignative Antwort einzelner Kontrolleure. Im Nahrungsmittelsektor herrschten damals halt nicht mehr Treu und Glaube – und die Militärbefehlshaber unternahmen wenig, um Rechtsstaatlichkeit vor Ort auch durchzusetzen.

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Abrundung der Produktpalette durch den Brotaufstrich Ochsena-Gelee (Altonaer Nachrichten 1915, Nr. 358 v. 4. August, 4)

Ochsena wurde dennoch gekauft. Mohr & Co. erweiterten 1915 gar ihre Produktpalette, brachten mit dem Ochsena-Gelee eine streichfähige Fleischersatzmasse auf den Markt. Die dunkelbraune Masse bestand aus Wasser, Wasser, Wasser, Ochsena-Extrakt und aromatisierter Gelatine. Ihr Nährwert war gering, Wurst konnte sie auch nicht ansatzweise ersetzen; doch sie machte trockenes K-Brot erträglicher. Die Werbekampagne für Ochsena-Gelee stand zugleich aber für das langsame Auslaufen der Mohrschen Anzeigenwerbung Ende 1915. Sie wurde teilweise von den Einzelhändlern und lokalen Vertretern übernommen (vgl. Rheinische Nachrichten 1916, Nr. 56 v. 7. März, 4; ebd. 1917, Nr. 44 v. 21. Februar, 4; ebd. 1918,, Nr. 121 v. 27. Mai, 4). Lieferstockungen waren seither nicht unüblich, neu eingetroffene Ware wurde vor Ort gezielt annonciert (Ebd. 1917, Nr. 229 v. 92. September, 4).

Dies war nicht nur Konsequenz des Verkäufermarktes, durch den der Ochsena-Absatz vorrangig durch die Mohrschen Produktionsmöglichkeiten begrenzt war. Es entsprach auch der langsam steigenden Kontrolle und Lenkung der Nahrungsmittelproduktion. Schon 1915 musste das Versandgeschäft eingestellt werden: „Dem geehrten Publikum […] diene zur gefl. Nachricht, daß wir unsere Artikel: Margarine, Margarine-Käse, Kunstspeisefett, Ochsena-Extrakt nicht mehr an Private mit der Post senden, sondern sind dieselben durch die Kaufmannschaft hier am Platze zu beziehen“ (Wiesbadener Neueste Nachrichten 1915, Nr. 20 v. 25. Januar, 8). Direktabsatz war mit einem Rationierungssystem nicht vereinbar.

Mutationen eines Fleischersatzes

Ochsena wurde bis Mitte 1918 weiter produziert und verkauft. Doch wie zuvor „Fleisch“ keineswegs mehr Fleisch war, mutierte auch Ochsena zu „Ochsena“. Einzig die semantische Illusion der Dachmarke ließ den Fleischersatz als stets gleichartiges Produkt erscheinen. Doch angesichts der angespannten Rohstofflage präsentierte Mohr unter dem bewährten Markennamen ab 1915 immer wieder anders zusammengesetzte Offerten. Schon im April 1915 kritisierte der Co-Leiter des Instituts Fresenius Remigius Heinrich Fresenius (1847-1920) Mohr & Co. dafür, dass Ochsena „eine falsche Flagge führt“ (Die Nutzbarmachung der Hefe, Wiesbadener Zeitung 1915, Nr. 182 v. 11. April, 1), da es den Gehalt von Nährhefe nicht gesondert deklariere. Auch andere Nahrungsmittelkontrolleure belegten den Einsatz der zuvor aus geschmacklichen Gründen verpönten Trockenhefe (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 57, 1916, 373).

Spätestens 1916 begann Mohr & Co. damit Sojabohnen zu hydrolysieren ([Karl] Lendrich, Fleisch, Fleischwaren, Eier und deren Ersatzmittel, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 34, 1917, 18-31 (inkl. Disk.), hier 20-21). Diese Lagerware minderte den resorbierbaren Eiweißgehalt und konnte aufgrund der Seeblockade nur zeitweilig verwendet werden. Ab 1917 setzte man dann Fischfleisch ein. Ochsena mutierte zum „Seefisch- und Pflanzenfleischextrakt“, wurde unter diesem Namen auch offiziell als Ersatzmittel zugelassen (Karlsruher Zeitung 1917, Nr. 252 v. 16. September, 3). Für akademische Verbraucherschützer war dies Teil des allgemeinen Ersatzmittelschwindels (Otto Neustätter, Gegen den Ersatzmittelschwindel, Münchener Medizinische Wochenschrift 64, 1917, 1073-1076, hier 1074), während Pharmazeuten den Wandel als Anpassung an die Rohstofflage deuteten (H[ermann] Thoms, Ersatzstoffe in Küche und Haus, Arbeiten aus dem Pharmazeutischen Institut der Universität Berlins 12, 1921, 403-415, hier 410). Dennoch riss die Nachfrage nicht ab, findet man in der Presse doch regelmäßige Kaufofferten von Groß- und Zwischenhändlern (Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 271 v. 28. Mai, 8). Ochsena wurde zudem von den Militärbehörden eingesetzt, etwa zur Beköstigung von Kriegsgefangenen (Der Speisezettel der Kriegsgefangenen, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 162 v. 29. März, Generalanzeiger, 3).

Die Mutation eines Fleischersatzes zu einem aus verarbeitetem Restfisch bestehenden Würzmittel mag irritieren, entsprach jedoch dem Zug der Zeit, den zunehmend elementaren Versorgungsproblemen ab 1916. Wissenschaftler und Behörden zielten daher nicht auf die Austrocknung der boomenden Ersatzmittelindustrie, sondern auf deren Regulierung (Lendrich, 1917, 20; allgemein: Spiekermann, 2018, 270-282). Bei Ochsena herrschte allerdings offenbarer Wildwuchs: „Die Analyse, die die Fabrik dem Präparate beigibt, bietet ein besonders kennzeichnendes Beispiel dafür, wie solche Dinge nicht sein sollten. Herr Prof. Lendrich hat schon mitgeteilt, daß das Ochsena-Extrakt etwa 40% Kochsalz enthält. In der Reklameanalyse findet man angegeben: ‚Nährsalze etwa 50%, darunter NaCl 40%‘; es wird also Kochsalz als ‚Nährsalz‘ ausgegeben. Das ist wohl ein besonders typischer Fall für die falschen Angaben, die wir jetzt bekämpfen können“ (Lendrich, 1917, 23 (Diskussionsbeitrag v. Leo Grünhut)). Das Altonaer Präparat repräsentierte das rasch expandierende Marktsegment der Fleischersatzmittel. Im August 1916 zählte die kurz zuvor gegründete Reichsprüfungsstelle für Lebensmittelpreise bereits 59 einschlägige Firmen (von insgesamt 666). Bekanntere Präparate waren, neben und nach Ochsena, „Fleischko, Krafto-Flei, Deutsche Kraft, Topol, Cordula, Procarnol, Suppen-Königin, Frugola, Leygol, Paratin, Osie, Pikarval, Delikatt, Esperanto“ (Die deutsche Ersatzmittel-Industrie im Weltkriege, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 531 v. 18. Oktober, Generalanzeiger, 1). Fürwahr, Fleischersatz war zeitgemäß – allerdings nicht, um überbürdenden Fleischkonsum zu verringern, sondern um die Illusion eines verschwindenden Alltagsproduktes zu wahren.

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Ochsena-Gelee als Teil des normalen Angebotes selbst im Berliner Warenhaus Hermann Tietz (Berliner Tageblatt 1917, Nr. 122 v. 8. März, 12)

Ochsena wurde ab 1915 aber nicht nur Teil des Sortiments gängiger Kolonialwarengeschäfte, sondern es gelang Mohr & Co. seine Präparate auch an Warenhäuser und Konsumgenossenschaften zu liefern (Volksstimme 1915, Nr. 194 v. 20. August, 4; Neue Hamburger Zeitung 1915, Nr. 449 v 6. September, 8; Leipziger Tageblatt 1916, Nr. 571 v. 9. November, 10). Aufgrund ihrer überlegenen Organisationskraft erhielten sie größere und regelmäßigere Lieferungen und entwickelten sich, zusammen mit den Massenfilialisten, zu tragenden Säulen der Nahrungsmittelversorgung. Die Etablierung trotz chamäleonhafter Zusammensetzung zeigt sich auch in einer größeren Zahl öffentlich präsentierter Rezepte, um Ochsena möglichst sinnvoll nutzen zu können (Volksstimme 1916, Nr. 85 v. 10. April, 4; Wiesbadener Neueste Nachrichten 1916, Nr. 17 v. 21. Januar, 3).

Ohsena: Behördlich genehmigter Fleischextraktersatz

Die steten Qualitätsveränderungen des Ochsena, die langsam strikter agierende Nahrungsmittelkontrolle, vor allem aber die zunehmend aufwändigeren Kontroll- und Zulassungsverfahren führten schließlich zu einem Umdenken bei Mohr: Aus dem zuletzt als Seefisch- und Pflanzenfleischextrakt firmierenden Ochsena wurde im Juni 1918 der Fleischextrakt-Ersatz Ohsena (Karlsruher Zeitung 1917, Nr. 252 v. 16. September, 3; Siebenhundert verbotene Ersatzmittel, Der Volksfreund 1918, Nr. 201 v. 29. August, 4-5).

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Kein Fleisch, kein Fett, doch billig und nach Fleisch schmeckend (Rosenheimer Anzeiger 1918, Nr. 184 v. 11. August, 4)

Das war zugleich der Startschuss für neuerliche Werbekampagnen, musste das umbenannte Präparat doch den Käufern bekannt gemacht werden. Mohr & Co. setzte dabei auf tradierte Argumente: Ohsena überführe simple Pflanzenkost in echte Speisen mit kräftigem Fleischgeschmack. Ja, es sein wahrer „Fleisch-Ersatz“ – allerdings nur hinsichtlich des Geschmacks. Der bis Mitte des Krieges behauptete hohe, den des Fleisches gar weit übertreffende Nährwert trat demgegenüber in den Hintergrund. Sprachakrobatisch geschickt fabulierte die Firma aber immer noch über einen Eiweißgehalt von etwa 40 Prozent – man deutete Stickstoffgehalte einfach irreführend um.

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Suggestionslügen: Ohsena als Fleisch-Ersatz mit 40 Prozent Eiweißgehalt (Vorwärts 1918, Nr. 353 v. 24. Dezember, 6)

Angesichts derartiger Aussagen ist klar, dass der Übergang von Ochsena zu Ohsena der gegen Kriegsende langsam greifenden Regulierung zu verdanken war. Durch die Bundesratsverordnung über die Genehmigungspflicht von Ersatzmitteln vom 7. März 1918 und deren Ausführungsbestimmungen vom 8. April 1918 wurde versucht, „der wilden Industrie einen Riegel vorzuschieben“ (A[lfred] Behre, Nach welcher Richtung ist eine Ergänzung oder Abänderung der Richtlinien B der Bekanntmachung vom 8. April 1918, betr. Grundsätze für die Erteilung oder Versagung der Genehmigung von Ersatzlebensmitteln wünschenswert, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 37, 1919, 238-255 (inkl. Disk.), hier 238). Die Altonaer Firma reagierte verordnungskonform, versuchte mit ihrer Werbung jedoch zugleich, die staatlichen Maßnahmen zu unterlaufen. Neue Regulierung schien erforderlich: „Wie wichtig solche Bestimmungen sind, scheint mit aus einem Falle hervorzugehen, in dem ein Gericht gegen die Bezeichnung ‚Ochsena-Extrakt‘ nichts einzuwenden hatte, obwohl die so genannte Ware nicht aus Fleisch gewonnen war. Die Bestimmungen des Nahrungsmittelgesetzes und der Bekanntmachung über irreführende Bezeichnungen vom 26. Juni 1916 scheinen hier nicht auszureichen“ (Ebd., 241). Damit standen zugleich gängige Ausdrücke wie „Kunstfleisch“ oder „Pflanzenfleisch“ zur Disposition, die sich mit dem Mäntelchen der animalischen Speise schmückten, obwohl dadurch Not und Enge geschäftstüchtig genutzt wurden (E.A. Weinbarg, Im Zeichen der Ersatzstoffe, Drogisten-Zeitung 32, 1914, 53-54, hier 54).

Trotz derartigen Hintergrundrauschens dürfte Ohsena die von Ochsena errungene Marktstellung bis 1919 behauptet haben. Ausländische Besucher verbanden jedenfalls die Lage im Deutschen Reich auch mit just diesem Fleischersatz: „Dann ist uns die Erfindung einer fleischlosen Woche neu. Im Schweizerland gibt es keine Fleischmarken, also auch nicht ‚Sosedran‘ und ‚Ochsena‘. Kolossal, was es bei euch alles – nicht gibt […]“ (Annie Eberlein, Wenn man aus dem Friedensland nach Leipzig kommt, Leipziger Tageblatt 1918, Nr. 439 v. 29. August, 2). Zu dieser Zeit waren Ochsena resp. Ohsena fest etablierte Haushaltshelfer und Geschmacksreste: „Aus Bohnenmehl können Sie prachtvolle Suppen kochen. Es wird mit etwas kaltem Wasser angerührt, in kochendes Wasser gegeben. Dann etwas Fett, Ochsena, Salz, geriebene Zwiebeln dazu tun“ (General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1917, Nr. 53 v. 3. März, 17). Prachtvoll, prachtvoll. „Hat man etwas Fleisch, aber keine Soßenreste, so löst man in einem Viertelliter heißem Wasser einen Teelöffel Ochsena-Fleischextrakt auf, kocht dieses mit drei Blatt Gelatine auf und richtet die Schüssel auf gleiche Weise an“ (Dresdner Nachrichten 1916, Nr. 88 v. 29. März, 11). Ja, etwas Warmes braucht der Mensch. Und etwas Würziges: „Man würzt zum Schluß mit etwas Ochsena oder dergleichen“ (Wiesbadener Zeitung 1917, Nr. 209 v. 25. April, 3).

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Ohsena-Rezeptbuch (Museum Europäischer Kulturen Berlin, I (62 H 755) 597/1985,a)

Trotzige Behauptung: Ohsena zwischen Waffenstillstand und Betriebsende

Nach der Kapitulation der kaiserlichen Armeen und dem Ende der Zensur sollte es noch bis 1921 dauern, ehe die Alltagsversorgung wieder relativ stabil war. Fleisch, echtes, wurde nun nicht mehr allein begehrt, sondern war auch wieder in größerem Umfang verfügbar – wenn auch teils nur in Form des billigen importierten Gefrierfleisches. Die Zeit der „Fleischnot“ erschien nun als die gute, alte Vorkriegszeit.

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Empfindungslose Konsumenten (Berliner Tageblatt 1919, Nr. 155 v. 26. Juni, 12)

Mohr & Co. verstärkte nun wieder die Werbung für seinen „zur Wohltat gewordene altbekannte und unübertroffene Ohsena (früher Ochsena) Fleischextraktersatz“. Treffender war wohl die Aussage eines Nahrungsmittelchemikers, der eine Ohsena Trockengemüsesuppe als „gewürztes Rübenmehl“ bezeichnete (Jahresbericht der Pharmazie 80, 1922, 339). Dies aber war noch Kriegsware – und die Rohstofflage verbesserte sich auch in Altona.

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„Friedensware“, vertrieben über den Einzelhandel (Wiesbadener Neueste Nachrichten 1920, Nr. 8 v. 10. Januar, 5)

Anfang 1920 war es dann soweit: Auf Basis einer wohletablierten Absatzstruktur konnte Mohr & Co. Ohsena wieder als „Friedensware“ ankündigen – allerdings mit einem Zusatz von 10% Rinderfett, den Ochsena so nie gehabt hatte. Der Fleischersatz war damit nicht mehr ein Getreide- und Gemüse-, nicht mehr Hefe-, Sojabohnen- oder Fischprodukt, sondern ein Gemenge aus Kochsalz, pflanzlichen Rohwaren und Tierfett. Der Fleischersatz wurde zum Fleischprodukt. Mohr & Co. vermarktete dies in altbekannter Weise. Ohsena wurde dem Liebigschen Fleischextrakt an die Seite gestellt – und neuerlich präsentierte die Firma Sprachakrobatik wie „10fache Ausgiebigkeit als frisches Fleisch.“ Doch mit dem Ende der Zwangswirtschaft endete auch die Bereitschaft der Käufer, ihr Geld für Ohsena aufzuwenden.

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Ende der Fleischknappheit mit Friedensware und Rinderfett (Berliner Tageblatt 1920, Nr. 95 v. 21. Februar, 8)

Die Produktion wurde Mitte 1920 eingestellt, zuvor nahm Mohr & Co. die während des Krieges brachliegende Margarineproduktion wieder auf. Im Folgejahr zeigte sich jedoch, dass an eine gedeihliche Fortsetzung des Unternehmens nicht mehr zu denken war. Johann Hinrich Mohr starb am 31. Januar 1921 (Hamburger Anzeiger 1921, Nr. 26 v. 1. Februar, 4), die Verluste weiteten sich aus, die Insolvenz folgte. Gegen den Widerstand der Familie Mohr übernahm Hugo Stinnes (1870-1924) im Herbst 1921 die Mehrheit des Unternehmens (Herbst, 1989, 221). Er gründete im November 1922 die Norddeutschen Oelmühlenwerke AG, während die Altonaer Margarine-Werke Mohr & Co. den Betrieb einstellten und im Dezember 1924 aufgelöst wurden (Hamburger Anzeiger 1923, Nr. 34 v. 9. Februar, 8; Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 4 v. 6. Januar, 13).

Auch in den 1920er Jahren las man immer mal wieder von Ohsena resp. Ochsena. Während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus erfolgreich, wurde die Dachmarke nun als Beispiel für die sich verschlechternde Alltagsversorgung präsentiert (Gustav Schacherl, Die Nahrungsmittel und ihre Fälschung sowie die Ersatzstoffe […], in: Clemens Pirquet (Hg.), Volkgesundheit im Krieg, T. II, Wien 1926, 193-220, hier 198), oder aber für die „gröbliche Täuschung der Käufer“ durch „als Fleischersatzmittel angepriesene Zubereitungen“ ([Wilhelm] Kerp, Versorgung mit Ersatzlebensmitteln, in: F[ranz] Bumm (Hg.), Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluss des Weltkrieges, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1928, 77-122, hier 104-105). Nahrungsmittelchemiker publizierten ihre früheren Analysedaten des Ohsena, das dadurch noch lange nach dem Produktionsende als Referenzprodukt fungierte (K. Beck und W. Schneider, Zur Kenntnis der Fleischextrakte, deren Ersatzmittel und ähnlicher Erzeugnisse […], Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 45, 1923, 307-335, hier 321-323; Zeitschrift für analytische Chemie 73, 1928, 92-93). In der staatlichen Bürokratie gedachte man Ohsena gar noch länger. Die Begründung der Fleischbrühwürfelverordnung vom 27. Dezember 1940 verbot explizit, dass „Erzeugnisse, die nicht den an Fleischbrühwürfel zu stellenden Anforderungen genügen, mit Phantasiebezeichnungen versehen werden, die auf die Verwendung von Fleisch hindeuten, wie z.B. Ochsena, Rindox usw.“ (Deutscher Reichs- und Staatsanzeiger 1941, Nr. 39 v. 15. Februar, 2). Das hatte der Markt schon Jahrzehnte zuvor erledigt.

Ochsena und wir

All das ist lange her. Fleischersatz und „Mock Food“ werden heute mit gänzlich anderen Argumenten vermarktet. Nicht Not und Enge sind handlungsleitend, sondern Wohlstand, ja Überfluss. Fleischersatzprodukte gelten als gesünder, sollen helfen den Klimawandel zu begrenzen, sind Teil gängiger Szenarien globaler Verteilungsgerechtigkeit. Was soll da die alte überholte Geschichte von O(c)hsena?

Nun, so überholt erscheint mir die Geschichte nicht. Ochsena war erstens ein spekulatives Produkt, Teil der Diversifizierungsstrategie eines kapitalkräftigen Unternehmens mit internationalen Geschäftskontakten. Es ging Mohr & Co. nicht um eine naturgemäßere, gesündere Ernährung. Fleischersatz war eine Geschäftschance. Das gilt auch heute, die gegenüber Fleisch deutlich höheren Preise von Ersatzprodukten sprechen eine klare Sprache (Silke Oppermann und Tanja Draeger de Teran, In der Grillsaison hat Billigfleisch Hochkonjunktur, Berlin 2021, 6). Weitergehende Ansprüche sind Teil der Marktstrategie, können sich die heutigen Käufer doch erst dadurch als Teil einer vermeintlichen Avantgarde fühlen. Derartige Überlegungen hegte Mohr noch nicht, wohl aber die nicht kleine Zahl lebensreformerischer Anbieter.

Ochsena stand zweitens für einen heutzutage noch stärker spürbaren Trend, der in den 1910er Jahren aber bereits beobachtbar war. Während anfangs (zu Unrecht) die Nährwerttrommel geschlagen wurde, um den Fleischersatz als gleichwertiges, gar überlegenes Markenprodukt anzubieten, verlagerte sich der Fokus rasch auf den Geschmack des Produktes. Was mundete schien auch sinnvoll zu sein, mochte es sich auch objektiv um ein relativ nährstoffarmes aromatisiertes Präparat handeln. Es zählte das Resultat, die Tellerspeise, das Mundgefühl. Produktkenntnisse traten demgegenüber in den Hintergrund, ebenso die Produktionstechnik, die eingesetzten Rohstoffe, deren Entstehungshintergrund. Die vielfältige und durchaus widersprüchliche Struktur industriell gefertigter Konsumgüter wurde mit einem einfachen sprachlichen Trick – Fleischersatz – auf nur eine Hauptdimension reduziert. Das ist heute ähnlich, allen Transparenzversprechen zum Trotz.

Ochsena repräsentierte drittens auch die wachsende Welt gebrauchsfertiger Produkte, mochte das abseits der schnellen Suppen stets noch erforderliche Kochen in den 1910er Jahren auch noch präsent gewesen sein. Produkte aber waren und sind Übertragungen. Sie stehen für die Delegation von Verantwortung und kulinarischem Tun an Experten. Da die Abkehr von zeitaufwändigem Kochen und kulinarischer Alltagsfron seinerzeit durchaus goutiert wurde, finden wir also schon vor dem Ersten Weltkrieg die Idee, Ernährungsprobleme nicht nur mit anderem Haushaltshandeln, sondern mit dem Kauf von in Produkten geronnenen Dienstleistungen zu mildern. Es galt anderes zu kaufen, um mit den Zeitproblemen klarzukommen. Fleischersatzprodukte standen und stehen für die wachsende Marktvergesellschaftung von Menschen, die damit verbundene Arbeitsteilung, die Befreiung von kulinarischer Arbeit. Doch diese birgt auch Probleme, mündet in neue Abhängigkeiten. Fleischersatzprodukte sind auch deshalb attraktiv, weil eine kostengünstige Küche aus regionalen, gering verarbeiteten und saisonalen Lebensmittel für die meisten Zeitgenossen nicht mehr praktikabel erscheint. Sie ist zu teuer, nicht weil sie Geld kostet, sondern Zeit. Selbst teure Produkte sind daher billig.

Viertens schließlich spiegelt Ochsena die begrenzte Dauer und Stetigkeit von Trends und Ernährungsmoden. Mehr als ein Jahrhundert stete Angebote, doch kein breitenrelevanter Effekt. Die große Zahl der Fleischersatzprodukte vor dem Ersten Weltkrieg diente der Bändigung offenkundiger Problemlagen, war aber nicht auf Dauer konzipiert. Die Marktpräsenz von Ochsena wurde durch den Ersten Weltkrieg gleichsam künstlich verlängert, ebenso durch die Versorgungsprobleme danach. Obwohl der Fleischersatz schließlich zum fleischhaltigen Produkt mutierte, verschwand er vom Markt, als die Drangsal der „Fleischnot“ so nicht mehr bestand. Auch heutige Fleischersatzprodukte weisen diese modische Temporalität auf – und die wenigen sich schließlich behauptenden Produkte werden nicht mehr bedienen als einen nicht unbedeutenden Nischenmarkt.

Uwe Spiekermann, 19. Juni 2021

Migetti – Ein topffertiges, biologisch vollwertiges Nährmittel der NS-Zeit

Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen herrschte Hochstimmung bei vielen NS-Ernährungsplanern. Nun endlich konnten sie auch öffentlich die Ergebnisse ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten präsentieren. Neuartige Lebensmittel würden, so tönte es, deutsche Soldaten und Arbeiter zu Höchstleistungen an Front und Heimatfront befähigen. Deutsch sollten sie sein, aus heimischen Rohstoffen gefertigt. Gesund sollten sie sein, vitaminreich und biologisch vollwertig. Und schmecken sollten sie, schon einen Abglanz der Volksgemeinschaft nach dem Kriege liefern, die Wohlstand für alle Volksgenossen verhieß.

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Anzeige und Blick in die Produktionsstätte von Migetti 1939 (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, Nr. 19, III (l); ebd., 304)

Eines dieser neuartigen Lebensmittel war Migetti, ein heute vergessenes Nährmittel, das 1939 jedoch die Leistungsfähigkeit deutscher Wissenschaft und Wirtschaft manifestierte: Es war ein „ausschließlich aus einheimischen Rohstoffen hergestelltes Erzeugnis, das als sättigende Hauptkost dienen kann, im weitgehenden Umfang biologisch vollwertig ist und in seinen Eigenschaften etwa Eierteigwaren, Reis oder Sago ähnlich ist“ (Ein neues Nahrungsmittel für die Gemeinschaftsverpflegung, Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, 304). Migetti wurde mit modernen, eigens konstruierten Maschinen vollautomatisch produziert, hygienische Verpackungen behüteten die kleinen Körner. Stolz präsentierte man vor allem das stoffliche Profil: „‚Migetti‘ verhütet Mangelkrankheiten, es enthält genügend Eiweiß und Mineralsalze und die Ausnutzung der Kohlehydrate ist besonders gut, weil es gleichzeitig die für den Kohlehydratstoffwechsel notwendigen Vitamine enthält. ‚Migetti‘ weist keinerlei chemische Zusätze auf und ist auch nicht künstlich gefärbt. […] ‚Migetti‘ verbindet also den Nährwert der Ackererzeugnisse mit dem biologischen Werten der Milch.“ Und mehr noch: Das neue Nährmittel war kochfertig, ein Convenienceprodukt, dass man nur zwei, drei Minuten kochen musste, um es anschließend zu genießen. Deliziös und ingeniös, fürwahr.

Molke als verwertbarer Reststoff

Doch die nationalsozialistische Wissenselite zielte nicht nur auf Volksgenossenbeglückung. Migetti war Teil einer breiten Forschungs- und Entwicklungsinitiative, deren Ziel „Nahrungsfreiheit“ war. Seit Ende des Ersten Weltkrieges, verstärkt noch seit der Weltwirtschaftskrise flossen hohe staatliche Fördersummen in die Agrar- und Ernährungswirtschaft, in Laboratorien und die Absatzketten. Einerseits galt es die Abhängigkeit von devisenträchtigen Importen zu minimieren, anderseits den Anbau und die Verarbeitung heimischer Agrarprodukte zu steigern. Nur so schien ein neuerliches Fiasko wie im Ersten Weltkrieg vermeidbar, als die fehlende Ernährung ein Grund für die Niederlage der Mittelmächte gewesen war. „Nahrungsfreiheit“ war Teil eines machtpolitischen Revisionismus, der den neuerlichen Krieg stets mit einschloss.

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Molke als Verwertungsaufgabe. Die deutsche Milchproduktion 1936 in der Stoffbilanz ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Tafel I)

Das wohl wichtigste Arbeitsfeld war dabei die Milchwirtschaft. Sie war ein Kernelement vor allem der Versorgung mit Fett und Eiweiß, besaß zugleich aber beträchtliches Rationalisierungspotenzial. Trinkmilch-, Butter- und Käseproduktion befanden sich in einem langwierigen Modernisierungsprozess, der nicht allein auf erhöhte Warenmengen zielte, sondern auch auf qualitativ hochwertige und neuartige Lebensmittel. Wichtiger noch für die Ernährungsplaner in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft war dabei, bisher unerschlossene Nahrungsreserven durch neue Technik verfügbar zu machen. Spätestens seit Mitte der 1930er Jahre begann ein durch den Vierjahresplan nochmals intensivierter Ausgriff auf vermeintliche „Restprodukte“, insbesondere auf Magermilch und Molke, das viel beschworene letzte, nur unzureichend verwertete Drittel der Milch.

Bei Molke handelt es sich um die flüssigen, grünlich-gelben Rückstände der Käseverarbeitung. Sie war praktisch fettfrei, jedoch vitamin-, mineralstoff- und milchzuckerhaltig. Schätzungen gingen von jährlich etwa zwei Milliarden Tonnen Molke aus – genaue statistische Daten fehlten –, die vornehmlich an Schweine verfüttert wurden. Mindestens 500 Millionen Tonnen Molke wurden jedoch ungenutzt weggekippt. Diese Nahrungsressource galt es zu nutzen. Seit 1937, also vergleichsweise spät, wurde die Forschung intensiviert, teils im Rahmen von Ressortforschung, teils dezentral in den seit dem Reichsmilchgesetz 1930 rasch zunehmenden leistungsfähigen regionalen Molkereien und Milchhöfen. Molke wurde vom Rest- zum Wertstoff und seit 1939 öffentlich bewirtschaftet. 1943 erfolgten umfassende Begriffsdefinitionen für Molkeprodukte, die damit in das allgemeine Lebensmittelrecht integriert wurden. Der Höhe- und Wendepunkt dieser Förderung war erst das Jahr 1947, in dem sowohl in der amerikanischen (Stuttgarter Plan) als auch der britischen (Hamburger Plan) Besatzungszone die Produktion von Molkenprodukten hohe Priorität besaß (G. v. Flotow, Marktordnung und Bewirtschaftung von Molke, Süddeutsche Molkerei-Zeitung 69, 1948, 82-84).

Zehn Jahre zuvor mussten erst einmal Grundlagen geschaffen werden. Die Forschung konzentrierte sich anfangs auf die Trocknung der Molke. Sie war technisch nicht sonderlich komplex, ergab nach Zumischung von Kleie und Getreideresten auch ein von Schweinen und Geflügel akzeptiertes Futter (G. Schwarz, Milchverarbeitung und -verwertung, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit. Arbeitsbericht 1934 bis 1937 des Forschungsdienstes, Neudamm und Berlin 1938, 612-615, hier 614). Doch der Preis der Molke war niedrig – etwa ein Pfennig pro Liter –, die Trocknungskosten dagegen hoch – zwischen ein und zwei Pfennig (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 224). Hinzu kamen Transportkosten, aber auch eine generelle Geringschätzung der Molke als Wertstoff. Die Resonanz auf Anordnungen der Hauptvereinigung der deutschen Milchwirtschaft blieb daher vor dem Krieg begrenzt (Alle Molke muß verwertet werden!, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 41).

Das änderte sich nach Kriegsbeginn: 1943 war die nutzbare Molkenmenge aufgrund besserer Erfassung und erhöhter (Hart-)Käseproduktion auf ca. vier Milliarden Kilogramm gestiegen. Mehr als drei Viertel davon wurden verfüttert, ein Zehntel ungenutzt entsorgt. Doch derweil wurden mehr als zehn Prozent der Molke zu Lebensmitteln weiterverarbeitet (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 377). Den NS-Ernährungsfachleuten gelang durch die Produktion von Zwischenprodukten beträchtlich höhere Wertschöpfung: Molkeneiweißpaste gab es nun, karamellisierte Molkenpaste, Molken-Sirup und Paga F., fortifizierte Roggen-Vollkornflocken und sog. Schwabenbissen. Auch Molkenmarmelade und Kunsthonig mit Molkenzusatz entstanden, ferner Invertzucker und Hefeextrakt auf Molkenbasis (Ziegelmayer, 1947, 387; Walter Müller, Neuere Wege der Molkenverwertung, Deutsche Molkerei-Zeitung 61, 1940, 183-184). Die Verbraucher nahmen diese breite Palette innovativer Produkte kaum wahr, aßen sie jedoch als Bestandteil von Schmelzkäse, Süß- und Backwaren, Wurst und Suppenpräparaten oder in Kantinen. Migetti war eine vermeintlich zukunftsweisende Ausnahme, ein Bannerträger für Molkenaustauschprodukte im Massenmarkt.

Was war Migetti?

Migetti war ein sprechender Name, ein Silbenwort, zusammengesetzt aus Mi[lch] und [Spa]g[h]etti. Es bestand aus Molke, Weizen- und Kartoffelstärkemehl. Es sollte küchentechnisch den damals zumeist aus Italien importierten Reis ersetzten, ebenso die angesichts geringer Eierbestände vielfach knappen Eiernudeln. Auch Weizengrieß war in der NS-Mangelökonomie nicht mehr allseits verfügbar. Migetti galt im Ausland als eine nennenswerte, ja wichtige Nahrungsinnovation. Anfangs wurde es dort vor allem als Kartoffelprodukt angesehen – wobei wahrscheinlich Erinnerungen an das K-Brot des Ersten Weltkrieges mitschwangen (Foreign Crops and Markets 40, 1940, Nr. 22 v. 1. Juni, 725). Ab 1941 galt es als ein reisähnliches Austauschprodukt aus Kartoffeln und Molke (William A. Hamor, Industrial Research in 1940. An Account of Advances in Foreign Countries, News Edition 19, 1941, 57-72, hier 65; Karl Brandt, How Europe Is Fighting Famine, Foreign Affairs 19, 1941, 806-817, hier 809). Nach der deutschen Kriegserklärung an die USA galten “Migettis” schließlich als Produkt aus Milchreststoffen (H.W. Singer, The German War Economy-VIII, The Economic Journal 53, 1943, Nr. 209, 121-139, hier 132).

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Präsentation des Neuen 1940: Migetti-Rezeptbuch und Migetti-Frühstück (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81)

Das neue Produkt war körnig und reisähnlich. Am Anfang standen Ideen des Erlanger Ingenieurs Dr. A. Werner über einen Reisersatz aus Milch und Kartoffeln. Dies wäre technisch möglich gewesen, war jedoch zu teuer (M[ax] E[rwin] Schulz, Molkenverwertung durch neuartige Erzeugnisse Beispiel: Migetti, Die Milchwissenschaft 1, 1946, 55-66; ebd. 2, 1947, 77-83, hier 56). Der aus Italien als Teil von Kompensationsgeschäften importierte Reis war nämlich deutlich billiger als etwa Haferflocken oder das aus Kartoffelstärke hergestellte Sago. Anders als heutige Reissorten musste er jedoch lange gekocht werden. Hier lag die Marktchance für Migetti, dessen Kochzeit auch deutlich unter der gängiger Eierteigwaren lag. Anders als der 1939 eingeführte und aus Magermilch gewonnene Eier-Austauschstoff Milei konnte es nicht als Preisbrecher agieren. Die politisch gewünschte Verwertung von Molke und Kartoffelstärke verteuerte das Produkt weiter.

Der Ingenieur und Milchwissenschaftler Max Erwin Schulz (1905-1982) hätte Migetti neben Molke und Kartoffeln daher lieber auch Hühnereiweiß beigefügt, um so die Textur an Eiernudeln anzunähern. Während einer Kriegstagung hieß es 1942: „Auch bei dem Produkt ‚Migetti‘ ist man im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gekommen, daß nicht der Wunsch, bestimmte Rohstoffe zu verwerten, sehr in den Vordergrund gestellt werden darf. Wir können z. B. bei diesem Produkt den Wunsch Kartoffelstärkemehl zu nehmen oder sehr viel Molke unterzubringen, nicht so stark berücksichtigen, daß dadurch die küchentechnischen Eigenschaften des Produktes leiden“ (M[ax Erwin] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Das helle, gelblich scheinende Migetti hatte eine krosse Textur, schmeckte als Röstgut keksartig, konnte im Notfall auch trocken gegessen werden. Migetti war neutral, besaß keinen wirklichen Eigengeschmack. Dadurch war es in der Küche breit einsetzbar, als Einlage in Suppen und Eintöpfen, als Sättigungsbeilage, zu süßen Nach- und salzigen Vorspeisen. Hinzu kam ein beträchtlicher Gehalt an B-Vitaminen und Mineralstoffen, zudem mit 400 Kilokalorien pro 100 Gramm ein auch gegenüber anderen Nährmitteln überdurchschnittlicher Nährwert. Migetti war demnach ein gehaltvolles Convenienceprodukt, eine Allzweckwaffe in der Küche, ein Aushelfer eigenen Rechts.

Vollautomatische Produktion

Migetti wurde auf Anregung des Oberkommandos des Heeres entwickelt, sollte ursprünglich der Versorgung der Truppe dienen. Die konzeptionelle Arbeit erfolgte durch einen kleinen Stab von Chemikern und Ingenieuren der Bayerischen Milchversorgung GmbH in Nürnberg. Diese war 1930 aus der Gemeinnützigen Milchversorgungsgesellschaft der Städte Nürnberg-Fürth hervorgegangen, dem neuen finanzkräftigen Verbund gehörte auch die Stadt Regensburg an (Deutscher Reichsanzeiger 193, Nr. 89 v. 15. April, 15). Der im gleichen Jahr in Nürnberg entstandene Milchhof war nicht nur Monument des Neuen Bauens (das man vor mehr als einem Jahrzehnt DDR-mäßig zerstört hat), sondern bündelte auch fortgeschrittene Technik.

04_Die Milchwissenschaft_01_1946_p57_Migetti_Produktionsstaette_Fließfertigung_Fuerth

Maschinelle Fließfertigung: Schemazeichnung des Fürther Migetti-Betriebes (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 57)

Migetti war das Ergebnis umfangreicher Tests in kleinem Maßstab. Im Nürnberger Laboratorium wurde lange um das stoffliche Profil und die Zusammensetzung des Produktes gerungen. Der detaillierte Bericht des späteren Patenteinhabers Max Erwin Schulz ist ein treffliches Zeugnis für die Gestaltungsfreude von Männern im Kittel. Ihr Ziel war Kochfestigkeit und eine rasche Zubereitung. Das Migetti-Korn musste kompakt sein, durfte sich beim Kochen nicht auflösen, zudem eine gute Quellfähigkeit besitzen. Zugleich aber galt es einerseits möglichst viel Molke und auch erhebliche Mengen Kartoffeln zu nutzen, um die deutsche Stoffbilanz zu verbessern. Das Ergebnis war ein Kompromiss zwischen Vorgaben, Marktgängigkeit und wehrwirtschaftlichen Aspekten. Migetti bestand anfangs aus 10 Prozent Molkepulver, 20 Prozent Kartoffelstärkemehl und 70 Prozent Weizenmehl. Später nahm der Molkeanteil weiter zu, wurde Weizen- teils durch Roggenmehl ersetzt. Die Laboratoriumsversuche wurden anschließend großtechnisch umgesetzt, dazu ein eigenes neues Werk in Fürth gegründet. Dort erst legten die Experten Form und Gewicht des einzelnen Kornes fest, ebenso die Farbe. Zugleich wurden verschiedene Maschinen getestet und zu einer automatischen Fließfertigung verbunden. Aus wehrwirtschaftlichen Gründen sollte „das Produkt mit geringem Personalaufwand und auch mit weiblichen Arbeitskräften hergestellt werden“ (Nahrungsmittel, 1939).

05_Die Milchwissenschaft_01_1946_p60_Migetti_Produktionsstaette_Fuerth_Trocknung_Schilde_Presse_Lihotzky

Kernelemente der Migetti-Produktion: Drei-Bandtrockner (l.) und Lihotzky-Presse (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 60)

Die eingedickte Molke wurde im Migetti-Stammwerk mit den Getreide- und Kartoffelzutaten gemischt und zu einem Teig vermengt. Er wurde anschließend in einem von der Plattlinger Firma Emil Lihotzky neu konstruierten Schleuder-Mischer zu Körnern gepresst. Die derart geformten Teigkörper kamen anschließend in große Trockner mit mehreren Laufbändern, in denen sie bei über 100 °C getrocknet wurden. Zwei Typen kamen dabei zum Einsatz, nämlich einerseits der oben gezeigte Bandtrockner der Hersfelder Firma Benno Schilde oder aber – in anderen Betriebsstätten – ein noch größerer Trockner der Hamburger Firma Lange. Der Schilde-Trockner war schneller und benötigte weniger Heizmaterial, der Lange-Trockner konnte größere Chargen bedienen, war im Betrieb jedoch teurer. Ersterer entwickelte sich zur Standardausrüstung der sich damals rasch entwickelnden deutschen Trocknungsindustrie, die vorrangig Obst, Gemüse und Kartoffeln für Wehrmacht und Großküchen produzierte (E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 48-59).

06_Die Milchwissenschaft_01_1946_p65_ebd_p60_Migetti_Produktionsstaette_Fuerth_Verpackung_Frauenarbeit_Muehle

Verpackungsraum (l.) und Mühle für deformierte Körner (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 65 (l.) und 60)

Die getrockneten Körner kamen anschließend in einen Verpackungsraum, wo sie mittels Maschinen zumeist in Verkaufsverpackungen von 250 Gramm gefüllt und anschließend von vornehmlich weiblichen Arbeitskräften versandfertig gemacht wurden. Deformierte Körner (etwa fünf Prozent der Produktion) wurden zuvor auf Rüttelbändern ausgesondert, gelangten in eine Mühlen, wo sie vermahlen und dann neuerlich verarbeitet wurden. Misch- und Formmaschinen waren vorgelagert, die Einzelkomponenten der Produktion über Transportbänder miteinander vernetzt. Ein Betriebslaboratorium kontrollierte die Qualität des Produktes. Die Herstellung der Migetti-Körner dauerte zwischen ein und zwei Stunden. Sie erfolgte vollautomatisch und erlaubte einen Mehrschichtenbetrieb. Die Migetti-Fabrik repräsentierte das damals im Deutschen Reich technisch Machbare.

Auch aus diesem Grunde wandten sich Produzenten und die durch Presseanweisungen an die Hand genommenen Journalisten gegen die Bezeichnung „Ersatzstoff“: „Migetti ist vielmehr nahrhafter als Reis und darf als biologisch vollwertiges Nahrungsmittel bezeichnet werden. Es enthält z. B. natürlichen Kalk in zehnfacher Menge wie Reis. Außerdem enthält es Vitamin B und, was sehr wesentlich ist, die Nährsalze der Milch, Bestandteile, die Reis nicht aufweist. Die Kalorienzahl von Migetti ist 400, von Reis 356 und von Sago 335. Auch hiermit ist die Vollwertigkeit dieses neuen Dauernahrungsmittels bewiesen, das sich infolge seiner überaus günstigen Zusammensetzung besonders auch als Kranken- und Kinderkost eignet“ (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7).

Der Weg in den Massenmarkt

Migetti war nicht nur Molkenträger, Halbfertigprodukt und Wegbereiter einer vollautomatischen Lebensmittelproduktion. Es war zugleich Quintessenz vieler hauswirtschaftlicher Debatten über eine neue schnelle Küche, durch die Hausfrauen ihre Kernarbeit rascher erledigen, durch die sie zugleich aber mehr Zeit für Familie und Muße gewinnen konnten. Dies stand sehr wohl im Einklang mit der offiziellen Beschwörung der Frau als Mutter und Mannesgefährtin, mochte es auch nicht mehr den emanzipatorischen Touch der großenteils sozialdemokratisch und feministisch geprägten Debatten der Weimarer Zeit haben. Zwischen 1933 und 1939 war die Zahl weiblicher Erwerbstätiger um ca. drei Millionen angestiegen, bei Kriegsbeginn gingen mehr als die Hälfte aller erwerbsfähigen Frauen einer gewerblichen Arbeit nach. Migetti erleichterte ihre weiterhin zu erbringende Kocharbeit: Reis musste mehr als eine Stunde, Migetti nur wenige Minuten kochen (Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Doch das neue Halbfertiggericht forderte Hausfrauen zugleich, denn sie mussten tradierte Herdarbeit in Frage stellen und die Zeitökonomik der Speisenproduktion ändern. Es ging um Veränderungen gemäß den im Migetti materialisierten Vorgaben einer männlichen Expertenkultur.

07_Haushalt_1941_p3_Migetti_Auflauf_Milei

Migetti-Auflauf unter Zusatz auch von Milei G und W, gebacken und serviert in dicken Tassen (Zeitgemäßer Haushalt, hg. v.d. Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Elektrowirtschaft 1941, Brief März-April, 3)

Migetti war anfangs markenfrei, was nicht zuletzt den auch durch äußerst geringe Rationen diskriminierten Juden begrenzte Alternativen bot (Else R. Behrend-Rosenfeld, Ich stand nicht allein. Erlebnisse einer Jüdin in Deutschland 1933-1944, 3. Aufl., Köln und Frankfurt a.M. 1979, 82; zur Rationierung s. Gustavo Corni und Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 555-573). Die Produktwerbung besaß 1939/40 eine nur geringe Bedeutung, konzentrierte sich vorrangig auf Prospekte und Rezeptbroschüren. Diese waren sorgfältig gestaltet, um jeden Gedanken an ein Ersatzmittel zu vermeiden (Walter Ernst Schmidt, Aus dem Werbeschaffen des Kriegsjahres 1940, Werben und Verkaufen 24, 1940, 361, hier 363). Werbung sollte Vertrauen schaffen, entsprechend wurden anfangs die Nährkraft und die biologische Vollwertigkeit hervorgehoben: „Allein hieraus wird die Hausfrau erkennen, daß ihr dieses neue Nahrungsmittel aus altvertrauten Rohstoffen ein schützenswerter Helfer in der Küche sein kann“ (Neue Helfer der Hausfrau, Der Führer 1940, Nr. 289 v. 20. Oktober, 10). Zugleich aber zogen die Werbetreibenden immer auch die Karte nationalen Stolzes. Der Kauf von Migetti war Dienst am Volke, war ein konsumtives Plebiszit für „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsbereitschaft (Die Industrie der Molke, ebd. 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6). Die Konsumenten wurden dergestalt eingebunden in die vom Regime in Gang gesetzte „Revolutionierung der Milchwirtschaft“, in die Schaffung zusätzlicher Nährwerte (Straßburger Neueste Nachrichten. Ausgabe Nord 1942, Nr. 216 v. 7. August, 4).

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Die Hausfrau umgarnen – mit Humor und Schaukochen (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81 (l.); Salzburger Volksblatt 1942, Nr. 50 v. 28. Februar, 10)

Die frühe Werbung zielte daher auf Einsichtshandeln, auf rationales Verhalten im Sinne des völkischen Ganzen. Über die Rezeptbücher, über Schaukochen und hauswirtschaftliche Beratung wurden die Hausfrauen an eine neue Art der Zubereitung herangeführt, die ihre Rolle als gleichberechtigte Akteurin auf biologisch vorbestimmtem Felde gleichsam adelte. Analog zu den Befehlen im Militär erhielten auch die Hauswalterinnen klare Grundregeln: „1. Migetti wird vor der Anwendung nicht gewaschen oder gewässert. 2. Es verlangt auch keine sonstige Vorbehandlung: Migetti ist kochfertig. 3. Es wird stets in die kochende Flüssigkeit eingerührt. 4. Migetti nur kurz auf Stufe 3 ankochen und auf Stufe 0 garquellen lassen. 5. Wird eine möglichst feste, körnige Form der Speise gewünscht, so lässt man Migetti 2 bis 3 Minuten aus Stufe 3 kochen und anschließend etwa 3 Minuten quellen. 6. Für weichere Formen der Speisen wird die Kochzeit entsprechend verlängert, bei Milch- und Buttermilchsuppen bis zu 20 Minuten. 7. Migetti ist sparsam im Gebrauch, aber nie zuviel nehmen. Man rechnet bei 1 l Flüssigkeit für Suppen etwa 80 g, für puddingartige Breie etwa 200 g, für feste Breie 300 g“ (Zeitgemäßer Küchenzettel, Zeitschrift für Volksernährung 16, 1941, 88-90, hier 89). Das Ergebnis folgsamen Tuns war eine breite Palette wohlschmeckender Speisen. Die Hausfrauen verlängerten so den Gestaltungstraum der Experten in die Praxis.

Im Januar 1941 wurde Migetti dann kartenpflichtig, „um den Verbrauch der Erzeugung anzupassen und eine geordnete Belieferung der Verbraucher sicherzustellen“ (Steigende Migetti-Erzeugung, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1941, Nr. 23 v. 30. Juni, 8). Das Austauschprodukt trat dadurch an die Stelle von Teigwaren (Deutscher Reichsanzeiger 1941, Nr. 40 v. 17. Januar, 1). Ab Mai 1941 konnte Migetti auch anstelle von Getreidenährmitteln gekauft werden (Anzeiger für Zobten am Berge und Umgegend 1941, Nr. 54 v. 9. Mai, 4). Diese Regelung wurde später auch auf Selbstversorger ausgeweitet. All das spiegelt nicht nur die wachsenden Schwierigkeiten des Regimes, die Grundversorgung sicherzustellen. Sie bedeutete auch eine kontinuierliche Marktpräsenz des neuen Produktes – und damit einen gedämpften Wettbewerb um den Käufer.

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Migetti im Spiegel einer Konsumentenbefragung der Gesellschaft für Konsumforschung (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 80)

Zwei Folgen traten besonders hervor: Erstens wurden Kundenwünsche und -präferenzen mittels einer Konsumentenbefragung in Nürnberg, München und Berlin genauer erkundet. Die von der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung durchgeführte Untersuchung ergab recht positive Urteile: Zwei Drittel der Befragten bewerteten Migetti-Speisen als gut oder gar ausgezeichnet, nur ein Achtel lehnte es ab. Überraschenderweise wurden Migetti-Suppen schlechter bewertet als Süßspeisen und andere Hauptgerichte. Von einem notgedrungen konsumierten Ersatzmittel konnte also nicht die Rede sein, stattdessen überzeugte die Verwendungsbreite: Das neue Produkt stand für Vielfalt und Flexibilität, war just deshalb besonders kriegsgeeignet. In Walter Kempowskis Roman „Tadellöser und Wolff“ hieß es daher zutreffend: „Migetti-Suppe. Nudelartig, gar nicht so schlecht. Aus Milchsubstanzen hergestellt“ (München 1975, 367).

Zweitens wurde die Werbung nun intensiviert und professionalisiert. Migetti mutierte dabei zum Milei-Erzeugnis, der Milei-Aufklärungsdienst übernahm die kommerzielle Kommunikation, gab ihr Struktur und Wiedererkennungswert. Aus dem Molkenaustauschprodukt wurde ein reichsweit bekannter Markenartikel. Zuvor hatte die Nürnberger Bayerische Milchversorgung GmbH begonnen, das seit Ende 1938 hergestellte Eier-Austauschprodukt Milei auch im eigenen Milchhof zu produzieren. Vertragspartner war die 1940 gegründete Stuttgarter Milei GmbH, deren Anfänge auf eine Kooperation der Württembergischen Milchversorgung AG mit den Vierjahresplanbehörden zurückzuführen war. Die Firma verwertete Patentrechte, errichtete ein über die Grenzen des Großdeutschen Reiches hinausweisendes Produktions- und Vertriebsnetz, zudem eigene Produktionsstätten im besetzten und auszubeutenden Ausland.

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Migetti als Trittbrettfahrer der Markenartikelwerbung für Milei (Wiener Modenzeitung 1941, H. 159, 24 (l.); Vorarlberger Landbote 1941, Nr. 67 v. 23. August, 8)

Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, ehe Migetti eine unverwechselbare Werbegestalt erhielt, nahm der Bekanntheitsgrad von Migetti schon 1941 deutlich zu (Rainer Horbelt und Sonja Spindler, Tante Linas Kriegskochbuch. Erlebnisse, Kochrezepte, Dokumente. Rezepte einer ungewöhnlichen Frau, in schlechten Zeiten zu überleben, Frankfurt a.M. 1982, 67). Milei-Anzeigen verwiesen nun auch auf das körnige Nährmittel, koppelten es an die relative Erfolgsgeschichte des reichsweit erfolgreichen Mileis. Der Milei-Aufklärungsdienst integrierte Migetti in seiner Vortrags- und Kochveranstaltungen. Auch das Deutsche Frauenwerk erläuterte den zielgenauen Umgang mit dem Halbfertiggericht. Eine kleine Broschüre wurde teils versandt, teils über Einzelhändler in hoher Auflage verteilt (Gut essen und satt werden durch das Migetti Nährgericht, Stuttgart 1941). Insgesamt wurden damals 10-15 Prozent des Großhandelsumsatzes für Werbung ausgegeben und bewusst auf einen Gewinn verzichtet (Schulz, 1947, 79). Der würde schon kommen, nach der erfolgreichen Etablierung als Markenartikel. Der Krieg war eine Chance, der Markt kaum ausgeschöpft: „Bereits im Jahre 1940 wurden 1 Mill. kg Migetti erzeugt; im Jahre 1941 will man die Produktion auf 5 Mill. kg. steigern und im Jahre 1942 10 Mill. kg erreichen“ (Was ist Migetti?, Sächsische Volkszeitung 1941, Nr. 39 v. 14. Februar, 6). Den Molken-Austauschstoff präsentierte man seither selbstbewusst als ein angereichertes Lebensmittel, das dem Verbraucher die biologischen Wertstoffe der Milch neuartig erschließe (Kennen Sie Migetti?, Neueste Zeitung – Innsbruck 1941, Nr. 91 v. 12. Mai, 4).

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Migetti im Wettbewerb der Nährmittel (Riesaer Tageblatt 1942, Nr. 126 v. 2. Juni, 4)

Materialauf­wand, Entwicklungs- und Investitionskosten erlaubten kein Billigpro­dukt, doch der vergleichsweise hohe Preis schien mit Blick auf die Brennstoffersparnis, den Geschmack und die Anwendungsbreite mehr als gerechtfertigt. Spätestens ab 1942 spiegelte sich dies auch in den Rezeptspalten gängiger Tages- und Wochenzeitungen (vgl. etwa Frau und Mutter 1942, H. 9, 14; Neues Wiener Tagblatt – Wochenausgabe 1942, Nr. 16, 11; ebd., Nr. 28, 11; ebd. Nr. 30, 11; ebd., Nr. 43, 11). Zu dieser Zeit hatte der Milei-Aufklärungsdienst Migetti eine eigenständige werbliche Präsenz geschaffen. Der Slogan „Die kräftige Nährkost“ spielte nach den Rationenkürzungen 1942 mit dem hohen Kaloriengehalt des Nähmittels. Migetti wurde zudem als eiweißhaltige Ergänzung der zunehmend gängigen Kartoffel- und Gemüsespeisen und -eintöpfe beworben. Damit war es im Massenmarkt angekommen.

12_Nationalsozialistischer Volksdienst_09_1942_p130_Kunst fuer Alle_57_1941-42_Nr11-12_Anhang_p6_Wiener Illustrierte_61_1942_Nr43_p8_Migetti_Eintopf_Fleischlos_Kriegsernaehrung

Appelle nach den Rationenkürzungen 1942 (Nationalsozialistischer Volksdienst 9, 1942, 130 (l.); Die Kunst für Alle 57, 1941/42, Nr. 11/12, Anhang, 6; Wiener Illustrierte 61, 1942, Nr. 43, 8 (r.))

Migetti in der Gemeinschaftsverpflegung

Migetti war anfangs nicht als Massenartikel konzipiert worden, sondern als eine Nahrungsinnovation für die Wehrmacht – nicht umsonst kamen Anregungen und Unterstützungen aus dem Oberkommando des Heeres (Karl-Dieter Frombach, Gemeinschaftsverpflegung im Wandel der Zeit, Med. Diss. FU Berlin, Berlin s.a. [1961], 47). Migetti war nährstark, relativ einfach zu transportieren und hielt mehrere Jahre. Noch Anfang 1941 hieß es in der gelenkten NS-Presse stolz: „Das Nährmittel ‚Migetti‘ hat sich bei unserer Truppe gut eingeführt“ (Am Ufer des weißen Stromes, Das Kleine Volksblatt 1941, Nr. 67 v. 8. März, 7) und sich „namentlich bei der Truppe gut bewährt“ („Rohstoff“ Milch aus nächster Nähe, Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14797 v. 26. März, 8). Auch Großküchen gehörten zu den umworbenen Abnehmern. Migetti gab es 1939/40 in Krankenhäusern, Hotelküchen, aber auch in den Speisewagen der Mitropa (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Gerade für Gaststätten schien die „vollwertige Teigware“ bestens geeignet (Jederzeit ein ‚tulli‘ Papperl auch für dich, Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 155 v. 5. Juni, 6).

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Migetti in Gaststätten als Nachklang der Milei-Werbung (Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, H. 9, III (l.); ebd., H. 10, II)

Der Geschäftsbericht der Bayerische Milchversorgung GmbH vermerkte, dass 1940 mehr als die Hälfte der knapp 1000 erzeugten Tonnen „an Großküchen“ gingen (Migetti-Erzeugung, 1941). Mochte der „Migetti-Macher“ Max Erwin Schulz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf die weitere Produktion auch behaupten, dass Migetti „für Massenverpflegung ungeeignet“ (Schulz, 1947, 80) gewesen sei, da es für die Nahrungsinnovation keinen Platz zwischen Sago und Teigwaren gegeben habe, so belegt die Produktwerbung eine doppelte Präsenz im Massenmarkt und in der Massenverpflegung bis zum Kriegsende. Migetti half beim massiven Ausbau der Außer-Haus-Verpflegung, an der Anfang 1944 schätzungsweise 26 Millionen Personen teilnahmen (Gemeinschaftsverpflegung 1944, 363). Einschlägige Rezepte finden sich in den Fachzeitschriften und Ratgebern dieser Zeit (Alexander Novotny, Küchenzettel zur Gemeinschaftsverpflegung in Lager- und Werksküchen. Eine Sammlung von 250 erprobten Kochanweisungen, Berlin 1942). Wichtiger noch: 1943/44 wurde für Migetti mit neuen Werbeanzeigen und einem lachenden Kochtopf umfassend beworben.

14_Gemeinschaftsverpflegung_1944_H12_Beil_p4_ebd_H16_Beil_p4_Migetti_Austauschstoffe_Eintopf_Halbfertiggericht

Geschwindigkeit und Effizienz in der Großküche (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 12, Beil., 4; ebd., H. 16, Beil., 4)

Die Anzeigen hoben einerseits die betrieblichen Vorteile des Halbfertigproduktes hervor, nämlich seine rasche Zubereitung und die dadurch mögliche Brennstoffeinsparung. Zugleich aber trat der relative hohe Nährwert von Migetti in den Vordergrund. Gute Verdaulichkeit und ein „nährgesundes“ Stoffprofil waren überzeugende Argumente, um die Hürde des höheren Preises zu überspringen. Angesichts zunehmend fader und monotoner Abfütterung wurde auch der „gute“ Geschmack hervorgehoben. Im totalen Krieg konnte Migetti den Verpflegungstrott ansatzweise durchbrechen: „Wenn man auch berücksichtigen muß, daß Migetti ein Kunst- und kein Naturprodukt ist, das in seinen biologischen Werten dem Vollgetreide nicht gleichgestellt werden kann, so ist im Augenblick jede Abwechslung zu begrüßen“ (Josef Hierz, Fleisch- und fleischlose Speisen aus Migetti, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 181). Die gängigen Rezepte entsprachen dabei den Anregungen für die Einzelhaushalte. Migetti diente vornehmlich als Einlage für Suppen und Eintöpfe, als Nährfüller für Hammelfleisch- und Krautgerichte, erschien als Migetti-Fleisch, -knödel, -schnitte oder -Auflauf, als Tunke sowie süße Nachspeise.

15_Gemeinschaftsverpflegung_1944_H05_Beil_p3_ebd_H01_Beil_p4_Migetti_Austauschstoffe_Eintopf_Halbfertiggericht

Gute Stimmung und Geschmack trotz Kriegsanstrengung (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 5, Beil., 3 (l.); ebd., H. 1, Beil., 4)

Produktionswerte und Produktionsnetzwerk

Anders als bei Milei sind die Informationen über die Produktion von Migetti rudimentär und nicht widerspruchsfrei. Eine archivalische Überlieferung fehlt. Das Migetti-Werk in Fürth lag in der Ottostraße 24, nicht weit vom Hauptbahnhof (Bayerisches Landes-Adreßbuch für Industrie, Handel u. Gewerbe 21, 1942/43, 383). Regionale Adressbücher verweisen zudem auf ein „Migetti-Werk“ resp. eine „Nährmittelfabrik“ auf dem Gelände des Nürnberger Milchhofes (Ebd., 412), doch dürfte es sich hierbei lediglich um eine Firmendependance gehandelt haben. Heimatgeschichtliche und touristische Literatur verweist auf zwei andere Standorte in Regionen mit überdurchschnittlicher Käseproduktion. Das galt einmal für die Lötzener Milchwerke, die nach der Eroberung Polens 1939/40 neue Produktionsstätten hochzogen (Max Meyhöfer, Der Kreis Lötzen. Ein ostpreussisches Heimatbuch, Würzburg 1961, 218). Falls Sie Schwierigkeiten bei der Vorortung haben: Es handelte sich um eine ostpreußische Mittelstadt, ungefähr 80 Kilometer südlich von Insterburg gelegen, dem Geburtsort meiner Mutter. Zudem gab es wahrscheinlich ein Migetti-Werk im pommerschen Pasewalk (Fritz R. Barran, Städte-Atlas Pommern, Leer 1989, 86). Die Untersuchungen britischer Offiziere zur Stuttgarter Milei GmbH enthalten keine detaillierten Informationen über das Produktions- und Vertriebsnetzwerk von Migetti, das lediglich als Teil des Milei-Sortiments erwähnt wurde (Bate-Smith et al., 1946, 92). Neben Stuttgart besuchten die neuen Herren auch den schleswig-holsteinischen Produktionsort Lütjenburg – und es erscheint nicht abwegig, dass in der dortigen Käseregion ebenfalls Migetti hergestellt wurde.

16_Uwe Spiekermann_Migetti_Fuerth_Molke_Produktion_Statistik_Schaubild

Produktion von Migetti in Fürth und dabei verarbeitete Molke 1941-1944 (eigene Darstellung auf Grundlage von Schulz, 1947, 82)

Migetti sollte anfangs in drei Fabriken produziert werden, anvisiert waren etwa 6000 Tonnen pro Jahr (Schulz, 1947, 80). Dieses Ziel ist auch nicht ansatzweise erreicht worden, Folge insbesondere des elaborierten Maschinenparks, der aufgrund von Lieferengpässen nicht einfach multipliziert werden konnte (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Der 1940er Geschäftsbericht der Bayerischen Milchversorgung GmbH gab für 1939 eine Produktionsmenge von lediglich 98 Tonnen an, die 1940 dann auf 952 Tonnen gesteigert werden konnte (Migetti-Erzeugung, 1941). Schulz präsentierte für den Zeitraum 1941 bis 1944 die oben graphisch aufbereiteten Produktionszahlen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Daten allein die Fürther Produktion wiedergab: 2000 Tonnen pro Jahr, das entsprach rein rechnerisch etwa acht Millionen Migetti-Packungen – und auch der von Schulz angegebenen Kapazität einer Migetti-Fabrik (Schulz, 1947, 80). Die britischen Untersuchungen dokumentierten anhand der Milei-Unterlagen für 1943 und 1944 allerdings einen etwa doppelt so hohen Ausstoß, nämlich 3.926,785 Tonnen Migetti mit einem Produktionswert von ca. einer Million RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Das bedeutete jährlich jeweils 16 Millionen Packungen.

Migetti als blitzschnelle Nährspeise im totalen Krieg

Von 1943 an wurde die Migetti-Werbung zunehmend in die allgemeine Kriegspropaganda eingebunden. Den Anfang machten von Februar bis Mai 1943 vier Motive, in denen das Kochen von Migetti-Speisen mit Warnungen vor „Kohlenklau“ verbunden wurde. Dabei handelte es sich um die wohl präsenteste deutsche Werbefigur der Kriegszeit, denn Unternehmen und Staat zogen hier an einem Strang. Migetti konnte dabei seine Vorteile als kochfertige Halbfertigware ausspielen.

17_Kleine Volks-Zeitung_1943_03_10_Nr069_p8_Wiener Illustrierte_16_1943_Nr14_p8_Migetti_Kohlenklau_Milei_Kochen_Brennstoff

Kohlenklau lauert auch in der Küche (Kleine Volks-Zeitung 1943, Nr. 69 v. 10. März, 8 (l.); Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 14, 8)

Damals lenkte der Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung durch Broschüren und hauswirtschaftliche Beratung die Konsumenten, kooperierte aber zugleich eng mit der Konsumgüterindustrie. Seine „Ratschläge für die (und aus der) Wirtschaftspraxis“ beeinflussten die Werbung im Sinne des NS-Regimes und der Prioritäten der Kriegswirtschaft. Kohlenklau war Teil der Ende 1942 einsetzenden Sparsamkeitswerbung des Reichspropaganda- und des Reichsrüstungsministeriums (Alfred Heizel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124). Es wurde rasch „eine volkstümliche Figur“, die dem schlechten Gewissen über Energieverschwendung ein Gesicht gab, ohne Missetäter einseitig zu denunzieren (Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hg. u. eingel. v. Heinz Boberach, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718).

18_Der Fuehrer_1943_03_18_Nr077_p6_ebd_03_07_Nr066_p6_Migetti_Kohlenklau_Sparsamkeit_Kochen

Sparsamkeit bei der Migetti-Werbung – hier ohne Abbildungen (Der Führer 1943, Nr. 77 v. 18. März, 6 (l.); ebd., Nr. 66 v. 7. März, 6)

Auch Migetti wurde damals „volkstümlich“, der lachende Kochtopf oder die wandernde Möhre brachten etwas Freude in den zunehmend entbehrungsreichen Alltag. Die Marke wurde auch durch ein großes M gestärkt – Reminiszenzen an Fritz Langs Filmklassiker dürften keine Rolle gespielt haben. Die Verwendung von Großbuchstaben war damals eine nicht ungewöhnliche Marketingstrategie, deckte sich etwa mit der kommerziellen Präsenz von Vivil-Pfefferminz oder Hanewacker-Kautabak.

Migetti-Werbung wurde 1943/44 intensiv geschaltet, zunehmend in Form reiner Textanzeigen. Im Gegensatz zur Milei-Werbung setzte man auf eine überschaubare Zahl von Themen und Motiven, die dann jedoch wieder und wieder erschienen. Dies entsprach der recht eindeutigen Textur des körnigen Nährmittels und seiner Haupteigenschaften. Dem Halbfertiggericht war eine engführende Nutzung schon einprogrammiert. Ein pulverförmiger Eier-Austauschstoff besaß demgegenüber breitere werbliche Möglichkeiten.

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Verbreiterung der Einsatzpalette (Litzmannstädter Zeitung 1943, Nr. 266 v. 23. September, 6; Offenburger Tagblatt 1943, Nr. 261 v. 6. November, 8; ebd., Nr. 247 v. 21. Oktober, 4)

Migettis prägende Eigenschaften waren eine sehr kurze Kochzeit, geringe Brennstoffkosten, ein hoher Nährwert, biologische Vollwertigkeit sowie eine breite küchentechnische Einsatzmöglichkeiten. Die Werbung setzte diese in eingängige Adjektive um, nämlich „kochfertig“, „topffertig“, „nährstark“, „nachhaltig“, „zeitschnell“, „küchenschnell“, „geschmacksneutral“ und „körpernützlich“. Zugleich bettete sie diese in kleine Geschichten ein, vornehmlich Alltagssituationen: „10 vor Zwölf … kam man da noch rasch ein schmackhaftes Essen herstellen. Ja, Man nimmt einfach das topffertige Migetti dazu“ (Badische Presse 1944, Nr. 31 v. 7. Februar, 4). „Blitzschnell läßt sich mit Migetti ein schmackhaftes, sättigendes Essen herstellen. Migetti ist bekanntlich topffertig: Es braucht also nicht gewaschen, nicht gewässert werden“ (Ebd., Nr. 127 v. 2. Juni, 4).

Daneben arbeiteten die Werbetexter mit Aufmerksamkeit erheischenden Plattitüden, die gleichsam als Auftakt eines Gesprächs, eines Ratschlages dienten: „Am Waschtag kann die Hausfrau keine große Kocharbeit brauchen“ (Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 264 v. 10. November, 1240). „Geschwindigkeit in der Küche liebt jede Hausfrau“ (Badische Presse 1944, Nr. 25 v. 31. Januar, 4). Doch wenn der Platz begrenzt war, so konnte man den Topf auch direkt schlagen, die Produktinformation kurz und knackig an die Frau bringen. Dann hieß es etwa: „Migetti zeichnet sich durch sehr kurze Kochzeit aus. […] Daran muß man denken… dann wird Migetti kornglatt“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 94 v. 4. April, 6). Oder: „Migetti immer kräftig würzen… das muß man sich merken“ (Ebd., Nr. 226 v. 17. August, 6).

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Anleitung zum präzisen Kochen: Direkt oder per Kochbüchlein (Das Kleine Volks-Blatt 1943, Nr. 149 v. 31. Mai, 7 (l.); Offenburger Tageblatt 1943, Nr. 259 v. 4. November, 4)

Die wachsende Enge, ja Not der späten Kriegszeit spiegelte sich in den Anzeigen 1943/44 nur indirekt. Doch Forderungen wurden gestellt. Präzision und Wertarbeit waren nicht auf die Werkbank und die Fabrikhalle zu begrenzen, auch die Hausfrau hatte ihren Mann zu stehen: „Über den Daumen peilen? Also nach Gutdünken Migetti zu Mahlzeiten verwenden? Das ist grundfalsch, das ist verschwenderisch. Migetti wird immer löffelgenau abgemessen“ (Der Führer 1945, Nr. 18 v. 22. Januar, 4). Dem diente die während den Herbst 1943 andauernde Werbung für das Migetti-Kochbüchlein, das eine siebenstellige Auflage hatte (Schulz, 1947, 80).

Die Kriegssituation gebar zugleich zunehmend striktere Appelle an Sparsamkeit, an ein Haushalten im Sinne der völkischen Kampfgemeinschaft. Migetti-Wasser durfte nicht geschüttet werden, denn zum Andicken von Suppen und Saucen – sorry, Tunken – war es noch gut zu verwenden (Badische Presse 1943, Nr. 273 v. 20. November, 8). Auch ohne Kohlenklau war klar, dass Migetti keinesfalls auf großer Flamme unbeaufsichtigt kochen gelassen werden durfte (Hakenkreuzbanner 1944, Nr. 261 v. 3. Oktober, 4). Und auch der Abfall war Volkseigentum, denn die papierene, mit sieben Migetti-Rezepten bedruckte Verpackung durfte nicht verheizt, sondern musste der Altpapiersammlung zugeführt werden (Ebd., Nr. 259 v. 30. September, 4). Und doch, die Texte waren nicht immer ernst und betroffen, sondern ließen auch Platz für ein kleines Schmunzeln. Etwa, wenn der Topos der „Vollkost“ zu „Migetti, die topffertige Volkskost“ mutierte (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 6). Oder wenn es um Männer ging: „Männer kochen nicht gern. Wenn es aber sein muß, reicht ihr Kochtalent völlig, um sich eine nahrhafte Migetti-Suppe zu bereiten. […] Kochkünstler sehen sich die Rezepte auf der Migetti-Packung an; nach ihnen können sie noch manches schmackhafte Migetti-Essen bereiten!“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 235 v. 26. August, 6) Ja, die Lacher waren damals dünn gesät…

Die Anzeigen wurden bis mindestens Mitte 1944 von elaborierteren Kochrezepten für Frauen und kontinuierlichen Kochvorführungen begleitet (Der Führer-Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Dort fanden die Nöte des Alltags durchaus Widerhall, wurden in der aufmunternden gemeinsamen Tat jedoch gebrochen: „Es ist heute für die Hausfrau eine rechte Schwierigkeit, ihrer hungrigen Familie ein schmackhaftes Mittagessen auf den Tisch zu stellen; es kostet der Speisezettel immer viel Kopfzerbrechen. Jetzt, wie wäre es einmal mit: Topinambur-Gemüse mit Roggengrützrand? Weckauflauf mit Aepfel? Süße Milchsuppe mit Migetti oder Gänseblümchen-Salat? Die Zubereitung? Diese erfahren Sie bei einem Schaukochen des Deutschen Frauenwerkes“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1944, Nr. 101 v. 12. April, 3).

21_Bozner Tagblatt_1944_05_19_Nr116_p3_ebd_05_31_Nr125_p6_Migetti_Fruehstueck_Kaltschale_Austauschstoffe_Molke

Fleischlos und gesund – Migetti-Varianten (Bozner Tagblatt 1944, Nr. 116 v. 19. Mai, 3; ebd., Nr. 125 v. 31. Mai, 6)

Die letzte neu gestaltete Migetti-Werbekampagne lief dann von November 1944 bis Januar 1945. Der Angriff der Roten Armee im Baltikum hatte massive Flüchtlingsbewegungen zur Folge, eine ausreichende Lebensmittelversorgung war langfristig nicht mehr möglich (Corni und Gies, 1997, 575-582). Werbeabbildungen waren damals unterbunden, die Zeitungen zu kleinen, meist vierseitigen Ausgaben auf braunem Papier geschrumpft. Die Anzeigen spiegelten die recht ausweglose Situation, gaben aber zugleich Ratschläge, um daraus das Beste zu machen. Dabei halfen die beiden Haupteigenschaften des Nährmittels, nämlich einerseits seine geringe Zubereitungszeit, anderseits sein Nährwert. Ob alle satt werden, war ab Herbst 1944 wahrlich eine berechtigte Frage, denn die Rationen fielen beträchtlich. Doch mit Migetti ließ sich ein „dünnes Süpplein […] mühelos verbessern“ (Völkischer Beobachter 1945, Nr. 9 v. 11. Januar, 3). Das gelang in höchstens fünfzehn Minuten. Wichtig blieben weiterhin Präzision und Sparsamkeit. Migetti musste „löffelgenau“ verwendet und durfte nicht zu lange gekocht werden (Ebd. 1944, Nr. 322 v. 28. November).

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Küchenwinke vor Kriegsende (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 328 v. 5. Dezember, 3 (l.); ebd., Nr. 344 v. 23. Dezember, 3)

Strenge wurde mit Empathie verbunden, Ausdruck einer Volksgemeinschaft im Endkampf. Selbst Männer mussten nun an den Herd: „Schicke mir, bitte, Migetti – so schrieb er kürzlich an seine evakuierte Frau. Weshalb? Weil er herausgefunden hatte, wie zeitschnell und schmackhaft eine Migetti-Gericht herzustellen ist. Die Migetti-Rezeptpackung gibt sieben verschiedene Kochanweisungen, […]. Das geht eins, zwei, drei… und im Handumdrehen ist ein gutes Migetti-Gericht fertig“ (Ebd., Nr. 313 v. 17. November, 3). Auch für die Familie konnte er sorgen, war seine Gattin abwesend: „Vater bindet sich die Küchenschürze um und dringt in die Geheimnisse der Kochkunst ein. Er greift zur Migetti-Rezeptpackung, studiert Rezept 7… und 15 Minuten später steht eine sommerliche Migetti-Kaltschale vor ihm“ (Ebd., Nr. 310 v. 14. November, 3). Migetti erlaubte virile Selbstbehauptung auch bei Ausfall der Massenverpflegung: „Herr Meyer wälzt das Kochbuch – er ist Strohwitwer. Er sucht emsig nach einem Migetti-Rezept“ (Ebd. 1945, Nr. 15 v. 18. Januar, 3). All das erfolgte mit Augenzwinkern. Jede dieser Kleinanzeigen war Ausdruck einer sorgenden Diktatur, in der man zum nächsten Tag, zur nächsten Bewährungsprobe geleitet wurde: Davon geht die Welt nicht unter, / Sieht man manchmal auch grau. / Einmal wird sie wieder bunter, / Einmal wird sie wieder himmelblau…

Ausklang

Heutzutage ist Molke ein wichtiges Nebenprodukt der seit der NS-Zeit immens gewachsenen „deutschen“ Käseindustrie. Die Herstellung von Molkepulver sichert die Rentabilität dieser im globalen Wettbewerb führenden Branche. 2019 wurden hierzulande 310.000 Tonnen Molkepulver hergestellt. Es dient nicht allein als Viehfutter, sondern ist ein unverzichtbares Zwischenprodukt der Lebensmittelindustrie, zumal von Babynahrung (Corina Jantke, Richard Riester und Amelie Rieger, Milch, in: Agrarmärkte 2020, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2021, 121-152, hier 147). Die grün-gelbe Molke hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem „grünen“ alternativen Getränk gemausert, das frisch oder aber in Form von Molkeprodukten von fast zwei Millionen Bundesbürgern einmal pro Woche oder aber häufiger konsumiert wird (Statistica 2021). Und doch führt keine gerade Linie von den NS-Ernährungsplanern in die alternativen und gesundheitsbewussten Zirkel.

Molkenprodukte waren während der Besatzungszeit stark gefragt, die Forschung lief weiter auf Hochtouren und es fehlte auch nicht an politischer Unterstützung (Georg Willfang und Erika Willfang, Molken- und Abzeugverwertung für die Ernährungswirtschaft […], Süddeutsche Molkerei-Zeitung 68, 1947, 154-158). Neben Migetti wurden vor allem zahlreiche Molkegetränke entwickelt (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 547). Nicht nur das 1941 präsentierte Molkenbier fand Käufer, sondern insbesondere Lactrone, ein Erfrischungsgetränk auf Molkengrundlage, dass ebenfalls von der Bayerische Milchversorgung GmbH verkauft wurde. Es hielt sich einige Jahre und war eines der nicht wenigen Beispiele für Kontinuitäten zwischen der NS-Forschung und der vermeintlichen Wirtschaftswunderzeit (Uwe Spiekermann, A Consumer Society Shaped by War: The German Experience 1935-1955, in: Hartmut Berghoff, Jan Logemann und Felix Römer (Hg.), The Consumer on the Home Front […], Oxford und New York 2017, 301-312, hier 306-308).

Doch trotz eines breiten Angebotes insbesondere von Molkegetränken scheiterten die neuen Produkte auf Molkebasis (A. Hesse, Molkengetränke […], Zeitschrift für die Untersuchung der Lebensmittel 88, 1948, 499-506). Das gilt auch für die meisten damals in anderen Staaten entwickelten Angebote, waren die deutschen Bemühungen doch Teil internationaler Forschung und Produktentwicklung (V.H. Holsinger, L.P. Posati und E.D. BeVilbiss, Whey Beverages: A Review, Journal of Dairy Sciences 57, 1974, 849-859). Das galt auch für Migetti, das auf der Agrarmesse 1949 in Frankfurt a.M. noch hoffnungsfroh präsentiert wurde (Deutsche Milchhandels- und Feinkost-Zeitung 71, 1949, 399). Trotz steten Kaufs und im Gegensatz zu den relativ guten Kundenbewertungen galt es – wie in zeitgenössischen Analysen – als überholtes NS-Austauschprodukt (Fascism in Action. A Documented Study and Analysis of Fascism in Europe, Washington 1947, 161). Für Migetti war kein Platz mehr als die Rationierung auslief und Nährmittel wieder in ausreichender Zahl und Güte verfügbar waren.

Und doch war Migetti mehr als eine leidlich erfolgreiche Episode im recht langen Kapitel der Austauschstoffe der NS-Zeit. Es setzte vielmehr erstens Standards für die Entwicklung und Herstellung neuer Konsumgüter, stand zweitens für die stofflich und technologisch dominierte und von Konsumenteninteressen weitgehend unberührte Forschungs- und Entwicklungsarbeit der Lebensmittelindustrie und belegt drittens eine ideologisch letztlich indifferente Arbeit der Ernährungsfachleute. Max Erwin Schulz wurde 1950 Institutsdirektor und Professor an der Bundesversuchs- und Forschungsanstalt für Milchwissenschaft in Kiel – und war dann eine prägende Figur bei der grundstürzenden Rationalisierung der Milchwirtschaft in der Bundesrepublik und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Uwe Spiekermann, 1. Mai 2021

Waffe an der NS-Heimatfront – Der Eier-Austauschstoff Milei

Wer im Lebensmittelhandel einkauft, weiß häufig nicht, was er schließlich mit nach Hause trägt. Gewiss, Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch jedes Produkt ist doppelbödig, stofflich und rechtlich definiert, Ausdruck eines vorgelagerten Expertenwissens, ohne das der Einkauf gar nicht möglich wäre. Das hat große Vorteile, erlaubt der Mehrzahl sich dem Leben abseits der Mühen um die tägliche Kost zu widmen. Doch es führt zu Unschärfen, zu Ängsten um Selbstbestimmung und Gesundheit, um Identität und moralische Integrität. Und dabei bleibt es nicht: Denn dieser schielende Blick auf unseren Einkauf gibt anderen Experten Platz für ihre Dienstleistungen oder aber neue Produkte. All das ist eine stabile und zugleich dynamische Marktstruktur, getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft und Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges.

Dieses Hamsterrennen im konsumtiven Laufrad lässt sich analysieren (vgl. als Versuch Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018). Geschichtswissenschaft fürchtet nicht den Spiegel, blickt übermütig und mutig hinein, um zu erklären und zu verstehen, wie wir wurden, wie wir kauften. Und wenn das Gekaufte nur schemenhaft bekannt ist, so gilt es sich just mit ihm zu beschäftigen. Doch wo ansetzen? Der Einkauf besteht eben aus Produkten, die allesamt aus Einzelkomponenten zusammengesetzt sind – schon ein flüchtiger Blick auf die Pflichtangaben auf der Verpackung gibt einen blassen Eindruck von den wertgebenden Stoffen, von der im Produkt materialisierten Arbeit. Moderne Produkte sind Komposita, bestehend auch Einzelstoffen, zusammengesetzt aus Zwischenprodukten. Sie sind reale Konstruktionen für deren Verständnis die Einzelkomponenten und das ganze Produkt in den Blick zu nehmen ist. Milch ist Milch, ein trinkfertiges Ganzes – und zugleich eine aus Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, Wasser, Mineral- und Mikrostoffen zusammengesetzte Komposition, Ausfluss einer langen Kette von künstlicher Besamung bis hin zur Kühltheke.

Ich will Sie nun einladen, mit mir aus dem Theoriehimmel hinabzusteigen, um sich einem Beispiel zu widmen, das diese Doppelbödigkeiten genauer zu beleuchten hilft. Milei war ein Ende 1938 eingeführtes Milcheiweißpräparat, ein Eier-Austauschstoff, der bis weit in die 1960er Jahre bedeutsam war. Das Besondere an Milei war sein Doppelcharakter: Es war erst einmal ein Zwischenprodukt für das Lebensmittelgewerbe und die Massenverpflegung. Zugleich aber war es ein Markenartikel für Verbraucher, die es in Kriegs- und Nachkriegszeiten als Zutat für das häusliche Kochen und Backen nutzten. Milei verband in sich damit den Widerspruch jedes Konsumgutes, das Zweck und Mittel zugleich sein kann.

Wenige Sätze zur Vorgeschichte seien erlaubt. Die Zahl der Zwischenprodukte hatte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zugenommen. Es handelte sich anfangs meist um einfache Sortenabstufungen, wie etwa bei unterschiedlich ausgemahlenen Getreideprodukten. Konservierte Zwischenprodukte folgten, etwa getrocknete Gewürze oder Suppenzugaben. Das Feld erweiterte sich aufgrund wachsender Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung der Nahrungsmittel, die Stoffprofile denkbar machten. Verstand man das Ganze als Summe seiner Teile, so konnten einzelne Bestandteile ausgetauscht werden, waren preiswertere und auf bestimmte Zielgruppen zugeschnittene Produkte möglich. Nicht Milch wurde nun in den Blick genommen, sondern Milcheiweiß und Milchfett, dann die in der Milch befindlichen Amino- und Fettsäuren – und jede dieser Komponenten konnte gesondert gewonnen, verändert und weiterverwertet werden; zumindest theoretisch. Denn die Isolation, die Verarbeitung und dann die Lagerung und der Vertrieb hingen von Wissen und Infrastrukturen ab, die erst entwickelt werden mussten. Denken Sie etwa an die Konservierungstechnik, den Maschinenbau und die Verpackungsindustrie. Butter und Käse waren die tradierten Wege der Bewahrung von Milchfett und -eiweiß. Doch durch einfaches Filtrieren der Milch konnte man bereits im späten 19. Jahrhundert nicht nur Quark und Sauerkäse gewinnen, sondern auch das Eiweißprodukt Kasein, das als Zwischenprodukt in Seifen, Kosmetika, Lacken oder Photofilmen eingesetzt wurde. Filtrieren bedeutete Konzentration durch Wasserentzug. Ein anderer Weg zum Eiweiß war Hitzezufuhr. Trocknungsverfahren wurden erprobt, doch auch ein so einfaches Produkt wie Trockenmilch gewann erst kurz nach 1900 an Bedeutung, anfangs in der Säuglingsernährung, dann auch in der Lebensmittelverarbeitung (Trockenmilch, Der Konsumverein 5, 1907, 357). Erst die verstärkte Nachfrage der kaiserlichen Armeen und der darbenden städtischen Bevölkerung führten während des Ersten Weltkrieges zu technisch versierteren Verfahren, die derartigen Milchkonserven langsam auch den Weg in die Lebensmittelverarbeitung bahnten (J[osef] Tillmans, Trockenmilch, Kosmos 19, 1922, 43-45), so bei Würsten und Backwaren.

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Mahl- und Verpackungsraum der M. Töpfer Trockenmilchwerke in Böhlen, Sachsen, 1914 (Kurt Friedel und Arthur Keller (Hg.), Deutsche Milchwirtschaft in Wort und Bild, Halle a.S. 1914, 221)

Derartige Zwischenprodukte hatten wichtige Vorteile: Die spezialisierte Produktion ermöglichte Maschineneinsatz, größere Verarbeitungsmengen und damit geringere Gestehungskosten. Kasein und Trockenmilch waren deutlich länger haltbar als Frischmilch und konnten somit die noch beträchtlichen saisonalen Unterschiede im Milchaufkommen ausgleichen. Schließlich erlaubte ihre pastöse oder pulverige Konsistenz, sie anderen Nahrungsgütern rezeptgenau zuzufügen: Neue und/oder billigere Waren wurden so möglich. Ähnliche Veränderungen gab es bei fast allen landwirtschaftlichen Gütern, so auch bei Eiern. Doch noch waren Trocknungs- und Kühltechnik kaum ausgebildet, wussten Wissenschaftler und Unternehmer nur wenig von den Schädigungen des Eiweißes durch Hitze oder Kälte, wussten nichts über die erst 1911 entdeckten resp. benannten Vitamine. Daran scheiterten wissenschaftliche Utopien einer durch billige Eiweißpräparate auskömmlich ernährten Bevölkerung, die um die Jahrhundertwende vielfach geglaubt wurden (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Ein komplexes Milcheiweißprodukt wie Milei setzte weitere massive Grundlagenforschung voraus.

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Trockeneier als Hilfe in der eiarmen Zeit (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 39, 32)

Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ als Nährboden von Eier-Austauschstoffen

Während des Ersten Weltkrieges war das Marktpotenzial verarbeiteter Milch- oder Eiprodukte überdeutlich geworden. Das betraf nicht allein die Säuglings- und Kinderernährung, das Backen und den Herd. Eiweiß fehlte in allen Bereichen der Küchen, das Essen wurde bröselig und fad. Hinzu kamen wachsende gesundheitliche Schädigungen, denn trotz des wissenschaftlichen Ringens um physiologische Eiweißminima fehlte der breiten urbanen Bevölkerung und zuletzt auch Teilen der Truppe die vermeintlich aufbauende Substanz der Ernährung. Die Folgen waren Schwarzhandel, Inflation und ein wucherndes Ersatzmittelwesen, das bis Ende des Krieges nicht wirklich gebändigt werden konnte. Unter den damals registrierten 12.000 Produkten dominierten Getränkesubstitute, lediglich 33 Eier-Ersatzmittel wurden behördlich anerkannt (August Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1927, 60-61). Das spiegelte die immensen technischen Probleme in der Verarbeitung von Eiweiß, das kaum konserviert werden konnte, sich aber rasch zersetzte.

Für Wissenschaftler bedeutete dies Forschungspotenzial, für Agrar- und Ernährungspolitiker Forschungsbedarf und für Unternehmer und Milchgenossenschaften ein schwer zu entwickelndes Marktfeld. Entsprechende Bemühungen setzten schon in den frühen 1920er Jahren ein, getragen von notwendigen Rationalisierungen insbesondere der Milch- und Eierwirtschaft. Die ab 1919 wieder möglichen Importe dämpften diese ab, zumal die Anbieter etwa aus den Niederlanden, Dänemark oder osteuropäischen Staaten entweder qualitativ hochwertigere oder aber billigere Waren liefern konnten. Dies änderte sich langsam seit der internationalen Agrarkrise, die Schutzzölle und massive Subventionen nach sich zog. Sie erreichten einen ersten Höhepunkt während der Weltwirtschaftskrise, die nicht nur den Zerfall der ersten Globalisierung markierte, sondern von intensiven Debatten über Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ begleitet war (Spiekermann, 2018, 359-365). Die Nationalsozialisten waren dabei keineswegs Auslöser oder bestimmende Kräfte, doch nach ihrer Machtzulassung setzten sie in bisher unbekanntem Maße staatliche Gelder für Forschung und Entwicklung ein. Die während der 1920er Jahre nochmals gewachsene Importabhängigkeit der deutschen Ernährungswirtschaft – 1929 wurden lediglich 72% des Kalorienbedarfs im Inland produziert – band eben nicht nur beträchtliche Devisen, sondern unterminierte auch die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches. Der von Beginn an anvisierte Krieg konnte nur auf Grundlage neuen Wissens und neuer Produkte „erfolgreich“ geführt werden (Spiekermann, 2018, 351-359).

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Importe als Gefährdung der deutschen Wirtschaft (Kladderadatsch 85, 1932, Nr. 43, s.p.)

Die Folgen waren einerseits eine massive Rationalisierung der Agrarwirtschaft, anderseits aber neuartige Lebensmittel: „Wir müssen schließlich bei vielen Erzeugnissen eine verbesserte Grundlage der deutschen Rohstofflage herbeiführen. Nicht Ersatzstoffe dürfen geschaffen werden, sondern neue Erzeugnisse, die vielleicht noch besser sind als die bisherigen“ – so etwa der nationalsozialistische Chemiker Hans-Adalbert Schweigart (1900-1972) (Aufgaben der landwirtschaftlichen Gewerbeforschung, Der Forschungsdienst 1, 1936, 87-89, hier 88). Dabei konzentrierten sich Wissenschaftler, Militärs und Unternehmer gleichermaßen auf die Minimierung der sog. Fett- und Eiweißlücken, denn bei diesen Stoffen war die Abhängigkeit vom Ausland besonders groß. Dazu galt es, heimische Rohstoffe effizienter zu nutzen und neue technische Verfahren zu entwickeln, um nährende Zwischenprodukte zu entwickeln (Fritz Steinitzer, Deutsche Technik und Ernährungsfreiheit, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 192-194, hier 192). Das war damals Ausdruck deutschen Erfindergeistes und wurde entsprechend offensiv propagiert: Verwertung von Blut, Fischmehl, Fischeiweiß, Hefe, Holzabfällen und Sulfitablaugen, Eiweißschlempe, synthetischem Harnstoff, synthetischen Fette sowie – eigentlich nach vorn zu setzen – Milcheiweiß. Noch handelte es sich dabei um Zwischenprodukte für die Lebensmittelproduktion, die an Bedeutung rasch wachsende Massenverpflegung und die Wehrmacht. Der Vierjahresplan intensivierte einschlägige Forschungen seit 1936 nochmals – und die Investitionen führten zu Ergebnissen.

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Neue Zwischenprodukte für Backstuben und Großbetrieb: Werbung für Schoeterol und Plenora (Mehl und Brot 40, 1940, 455; ebd., 42, 1942, 123)

1938 wurde etwa Aminogen eingeführt, ein mit Pektin versetztes Magermilchpräparat, oder auch Albugen, eine getrocknete und mit Zucker und Pektin versetzte Eiweißmasse, die schlagfertig war und in Haushalten und Bäckereien das Eiereiweiß ersetzten sollte. Damit war es gelungen, Eiweiß aus Magermilch, einem bis dato vor allem in der Tierfütterung eingesetzten Reststoff der Butterproduktion, für den Menschen neuartig nutzbar zu machen. Weitere Präparate sollten folgen, etwa Schoeterol, Plenora und eben Milei. Die verschiedenen Präparate waren dabei nicht nur Ausdruck erfolgreicher Forschung. Die Zersplitterung des Angebotes verwies auch auf die nach wie vor bestehenden Defizite dieser Austauschprodukte für Eier. Der Eiweißgehalt stimmte, stammte auch aus billigen heimischen Rohstoffen. Doch sie alle besaßen Defizite im Geschmack oder aber in der Verarbeitungsqualität. Hühnerweiß war ein probates Bindemittel und konnte zu Eischnee geschlagen werden, gab Speisen und Produkten eine ansprechende Konsistenz und Textur. Die neuen Milcheiweißpräparate versuchten allesamt diesem Ideal zu genügen, doch ein vollwertiger Ersatz gelang nicht.

Bevor wir uns genauer mit Milei auseinandersetzen, ist noch ein Blick auf die Eierversorgung dieser Zeit erforderlich. Das Milcheiweiß übersprang nämlich die Branchengrenzen: Kuhmilch sollte das Hühnerei substituieren. Letzteres war das drittwichtigste tierische Lebensmittel – nach Fleisch und Kuhmilch. Zumeist in kleinen, bestenfalls mittleren Betrieben herstellt, war der Importdruck durch die qualitativ überlegene und vielfach billigere ausländische Konkurrenz jedoch besonders spürbar. Noch 1936 wurde ca. ein Sechstel des Inhaltsbedarf durch Importe gedeckt ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Taf. IV). Anders als in der Milchwirtschaft stand die Forschung in der Eierbranche erst in den Anfängen (Bernhard Grzimek, Die Forschungstätigkeit in der Eierwirtschaft, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit, Neudamm und Berlin 1938, 581-584). Zugleich war das Hühnerei eine hochgradig saisonale Ware: Fast sechzig Prozent der heimischen Eier wurden in nur vier Monaten gelegt, von März bis Juni (Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 25). Die Importe glätteten die Versorgungstäler zumal im Herbst und im Winter, waren daher für die Grundversorgung vielfach notwendig. Kühlhäuser fehlten und die übliche Haushaltskonservierung mit kalkhaltigen Präparaten ergab leicht muffig schmeckende Eier, die für Backwerk nicht richtig genutzt werden konnten. Milcheiweißpräparate waren daher unabdingbar für die allseits propagierte „Nahrungsfreiheit“. Schon im Frieden waren sie kriegswichtig.

 Milei als Verbundprojekt von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat

Seit Dezember 1938 wurde Milei als „Schlagfähiges Milch-Eiweiß-Erzeugnis“ (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. v. 155) angeboten. Es bestand aus 90 % Magermilch, 10 % Molke sowie technischen Hilfsstoffen und wurde anfangs von der Württ[embergi­schen] Milchverwertung AG, Stuttgart, ab 1940 dann von ihrem neu gegründeten Tochterunternehmen, der Milei-GmbH, hergestellt. Milei entstand im Gefolge umfassender, im Milchwerk Stuttgart durchgeführten Versuche der württembergischen Dienststelle Vierjahresplan und des württembergischen Wirtschaftsministers (Weihnachtsgebäck mit „Milei“, Badische Presse 1938, Nr. 330 v. 30. November, 6). Milei – eine Abkürzung für Milcheiweiß – diente als Austauschstoff für Hühnereiweiß, denn es konnte zu Eischnee geschlagen und verbacken werden. Anders als manche Vorgängerprodukte deckte es damit eine breite Palette der süddeutschen Mehlspeisenküche ab. Nudeln und Spätzle, Waffeln und Pfannkuchen, Klöße und Knödel, Schaumspeisen und Aufläufe, Kleingebäck und einfache Kuchen – in all diesen Fällen konnte Milei „Volleier“ nahezu gleichwertig ersetzen, nachdem Ende 1939 auch Milei G produziert wurde, ein Austauschstoff für Eigelb.

Das neue Milcheiweiß war Ergebnis kleinteiliger und langjähriger Forschungen. Auch wenn die Patente letztlich auf den Maschinenbauingenieur Karl Kremers liefen, so profitierte dieser doch von der durch das Milchgesetz von 1930 beschleunigten Verwissenschaftlichung und wirtschaftlichen Rationalisierung der Milchwirtschaft. Die Details der Produktentwicklung sind mangels aussagefähiger Archivalien nicht exakt nachzuzeichnen. Doch die groben Züge dieser gemeinsamen Anstrengung von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat sind recht klar:

Karl Kremers hatte 1930 an der TH Aachen mit einer Arbeit über „Das System Kupfer-Zink“ promoviert, die aus gemeinsamer Forschung mit seinem akademischen Lehrer Rudolf Ruer (1865-1938) hervorgegangen war (Ders. und Karl Kremers, Das System Kupfer-Zink, Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 184, 1929, 193-221). Ruer, eine Kapazität im Felde der physikalischen Chemie, sollte 1933 aufgrund seines jüdischen Glaubens in den Ruhestand gezwungen werden. Kremers forschte anschließend weiter im eingeschlagenen Forschungsfeld, wandte sich jedoch parallel der Lebensmitteltechnik zu. 1933 beantragte er – gemeinsam mit seinem Aachener Kollegen Heinz G. Hofmann – ein erstes Patent zur „Gewinnung von Eiweißstoffen aus Molken und Vorrichtungen zur Ausführung des Verfahrens“. Preiswertes Molkeeiweiß, Reststoff der Käseproduktion, sollte mittels Elektrizität verändert und einfach gewonnen werden (Chemisches Zentralblatt 1935, Bd. II, 2898). Weitere Patentanmeldungen folgten 1935 (Die Chemische Fabrik 8, 1935, 336, gemeinsam mit Heinz G. Hofmann) und 1938 (DRP 725955; DRP 739983), doch ihre kommerzielle Nutzung übernahm ein neues Unternehmen: Am 28. Februar 1938 wurde in Stuttgart die Forschungsgemeinschafft Dr. Kremers GmbH gegründet – eine Woche nach Erteilung des Milei-Patentes. Geschäftsführer war Dr. Friedrich Brixner (1904-1975), der starke Mann und Vorstandsvorsitzender der Württembergischen Milchverwertung AG, die bis spätestens Ende 1942 mit 50% beteiligt war (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4). Unternehmensgegenstand war „die Ausarbeitung, der Erwerb und der Vertrieb von Verfahren, Patenten und sonstigen Schutzrechten, die zur Verarbeitung und Verwertung der Milch von Tieren aller Art, der Milcherzeugnisse und der Bestandteile der Milch sowie eiweißhaltiger Lösungen tierischen und pflanzlichen Ursprungs geeignet sind, im In- und Auslande, insbesondere der Erfindungen und Schutzrechte des Dr. Karl Kremers“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 61 v. 14. März, 8). Kremers beantragte ab 1939 auch internationalen Rechtsschutz: Der US-Patentantrag von Milei (No. 257240) war am 18. Februar 1939 eingereicht worden, der für Milei-G folgte am 16. Mai 1939. Die Firma hielt auch in Frankreich, Belgien, Spanien und der Schweiz Patente, wahrscheinlich auch in weiteren Staaten. Kremers verbesserte die Produktionstechnik kontinuierlich, wobei er sich besonders auf die Verarbeitungsqualität von Magermilchpräparaten konzentrierte (Chemisches Zentralblatt 1945, Bd. II, 88 und 313).

Die angewandte Forschung wurde durch staatliche Stellen unterstützt, doch von mindestens gleicher Bedeutung war die Förderung durch die Württembergische Milchverwertung. Dabei handelte es sich um eine 1930 von regionalen Milchproduzenten gegründete Aktiengesellschaft, die ihr Entstehen der mit dem Milchgesetz verbundenen strikten Regulierung der Milchwirtschaft verdankte. Das Unternehmen übernahm 1933 die Milchversorgung Stuttgart GmbH, die nicht nur Butter, Quark und Joghurt produzierte, sondern 1936 auch 693,5 Tonnen Magermilchpulver, 387,3 Tonnen Vollmilchpulver und kleinere Mengen Butter- und Sahnepulver herstellte (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht 1936, Stuttgart 1937, 9). Die Württ. Milchverarbeitung war profitabel und wuchs rasch. 1937 erwirtschaftete sie einen Reingewinn von 65.237 RM, 1939 von 66.250 RM – bei einer Bilanzsumme von 4,42 resp. 6,59 Mio. RM (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7; ebd. 1940, Nr. 131 v. 6. Juli, 9). In der Bundesrepublik entwickelte sich aus dem Württ. Milchverwertung die Südmilch AG, die ihrerseits 1996 in der Campina AG aufging, heute FrieslandCampina Germany GmbH.

Die Stuttgarter Firma vertrieb Milei 1939/40 unter eigenem Namen, legte diese Arbeit jedoch nach Kriegsbeginn in die Hände einer Tochterfirma, der Milei GmbH. Diese wurde „anfangs“ 1940 mit Unterstützung der Hermann-Göring-Werke gegründet, ausgestattet mit einem Stammkapital von 250.000 RM (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht für das 10. Geschäftsjahr […] 1940, Stuttgart 1941, 5; E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 88-89). Wohl zur Sicherung der eigenen Produktion übernahm sie im August 1940 die nahe der heutigen Universität gelegene Stuttgarter Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik für 199.500 RM (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 230 v. 1. Oktober, 10). Als Geschäftsführer fungierten Otto Häußler (Vorstand der Württ. Milchverwertung AG, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7), Karl Feneberg (früherer Geschäftsführer der Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik in Birkenfeld, Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 98 v. 30. April, 9 und Geschäftsführer der Milei GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 212 v. 10. September, 6)) und Alfred Schächtel, früherer Prokurist von Eiermann (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 25 v. 1.

Was war Milei?

Kommen wir zum Produkt selbst: Milei war ein Milcheiweißpräparat aus Magermilch und Molke. Hinter dem Namen verbarg sich anfangs ein Eiweißaustauschstoff, der sich gut zum Aufschlagen und Backen eignete. Dazu wurde nahezu vollständig entfettete Magermilch oder aber eine mit Natriumhydroxid neutralisierte Mischung aus Magermilch und Molke verwandt. Diese Grundmasse wurde anschließend in einem Vakuumverdampfer aus rostfreiem Stahl auf etwa 40 Prozent ihres Ausgangsgewichtes eingetrocknet und dann mit Kalkmilch auf einen pH-Wert von über 7 gebracht. Dieses Gemenge wurde schließlich per Sprühtrockner auf einen Feuchtigkeitsgehalt von 3-4 Prozent reduziert. Die Trockentemperatur durfte dabei 60° C nicht überschreiten. Am Ende stand ein weißes Pulver, das unmittelbar gemahlen und verpackt werden konnte (Vgl. die Patentschrift US2349969A.pdf sowie Bate-Smith et al., 1946, 89-91; N.E. Holmes und J.F. Kefford, The Manufacture of „Milei‘ Egg-Substitutes, London s.a. [1946] (B.I.O.S. Trip, Nr. 3344)).

„Milei“ entwickelte sich seit 1939 zu einer Dachmarke. Während Milei Eiweiß substituierte, diente das kurz nach Produktionsbeginn zusätzlich hergestellte Milei G dem Ersatz von Eigelb. Milei G wies im Gegensatz zu Milei keinen Molkenzusatz auf, konnte durch die Wahl unterschiedlicher Trocknungsgrade auch für verschiedene Nutzungsarten aufbereitet werden. Als Zusatzstoffe dienten Dinatriumhydrogenphosphat (heute auch bekannt als E 339), Johannisbrotkernmehl und gelbe Lebensmittelfarbe, wohl das bald darauf verbotene krebserregende Buttergelb (Holmes und Kefford, 1946, 2-3; 274000kremers.pdf). Die Milei GmbH nutzte auch weitere Patente, etwa für schaumfähige Produkte aus Kasein, eine Innovation des Nürnberger Milchwissenschaftlers Max Erwin Schulz (1905-1982) vom Juli 1938. Dennoch ist es auch ohne fundierte lebensmittelchemische Kenntnisse offenkundig, dass es sich bei den Produktionsverfahren nicht um High-Tech handelte, sondern um relativ einfach umsetzbare, also „robuste“ Technik. Als Trocknungsanlagen verwandte man etwa die schon seit 1931 im Deutschen Reich eingeführten Krause-Anlagen, nutzte also Bewährtes (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 60, 1931, 183). Dadurch war eine rasche Umsetzung des Wissens in Produkte möglich.

Die damaligen Planer und Wissenschaftler rückten andere Sachverhalte in den Vordergrund. In der volkswirtschaftlichen Fachpresse hieß es: „Milei ist ein schlag- und backfähiges, in Wasser lösliches Pulver, das in reiner Form […] die vollständigen Eiweißstoffe der Milch enthält […]. Der volkswirtschaftliche und privatwirtschaftliche Nutzen dieser Erfindung ist vielseitig. Sie verspricht, die seit Jahren schwierige Eierversorgung zu entlasten, die Haushaltsführung zu verbilligen, die Milchverwertung des Landmanns zu verbessern, und sie bahnt schließlich auch eine Verbesserung der Eiweißbilanz der deutschen Ernährungswirtschaft an“ („Milei“ statt Knickei, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1303). Milei war nicht nur strategisch wichtig, sondern konnte bereits vor Kriegsbeginn die Auswirkungen des japanischen Krieges gegen China vermindern. Großküchen und Bäckereien waren vielfach abhängig von billigen importierten chinesischen Flüssigeiern, die 1938 etwa ein Achtel der Eierimporte ausmachten. Milei sollte erst einmal helfen, den gewerblichen Eierbedarf zu decken, der ungefähr zwei Fünftel des Gesamtverbrauchs abdeckte. Ökonomisch konnte dies mit einer deutlichen Verbilligung einhergehen, denn die Eiweißkosten von Milei lagen bei der Hälfte des Hühnereiweißes.

Produkteinführung vor dem Kriege

Trotz solcher um die gewerbliche Lebensmittelversorgung kreisenden Überlegungen wurde Milei jedoch seit Ende 1938 auch als Markenartikel im Einzelhandel angeboten. Schoeterol und Plenora, Aminogen und Albugen blieben den Fachleuten vorbehalten, waren und blieben Zwischenprodukte in den rückwärtigen Bereichen von Handwerk, Lebensmittelproduktion und Großküchen. Milei aber war von Beginn an ein Alltagsprodukt, das einschlägig beworben wurde.

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Produkteinführung unter dem Logo der Württ. Milchverwertung und der Milchversorgung Stuttgart (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Anfangs war es die Württ. Milchverwertung AG, die zusammen mit der Milchversorgung Stuttgart das in kleinen Metalldosen verpackte Milei vertrieb (Badische Presse 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 17, ebd., Nr. 50 v. 19. Februar, 17). Die luftdichten Verpackungen enthielten 20 bzw. 40 Gramm und entsprachen 4 bzw. 8 Volleiern resp. 8 bzw. 16 Hühnereiweißen (F[ritz] St[einitzer], Austauschstoffe für das Ei in der Küchentechnik, Zeitschrift für Volksernährung 15, 1940, 9-10). Die Verbraucher mussten allerdings wahrlich an die Hand genommen werden, denn das neuartige Pulver erforderte einen steten Zwischenschritt, musste nämlich vor der Verarbeitung in Wasser aufgelöst werden. Analoge Anzeigen wurden auch in der Fachpresse der Gemeinschaftsverpflegung geschaltet (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. vor 155). Neben Milei, seit Frühjahr 1941 Milei W (für Weiß = Eischnee), trat Ende 1939 Milei G (für Gelb = Eigelb) (Badische Presse 1939, Nr. 181 v. 5. Juli, 11).

Die Begleitpublizistik der gelenkten deutschen Presse kombinierte Sachinformationen mit Lobpreisungen des deutschen Forschergeistes: „Dass Kühe nicht nur Milch und Fleisch liefern, sondern auch Hühnereier produzieren sollen, wird manchem zunächst reichlich unglaublich und unvorstellbar erscheinen. Dennoch ist es ein Wunder, das tatsächlich geschieht und das die moderne Nahrungsmittelchemie möglich gemacht hat“ (Eiweiß und Eigelb aus Milch, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1940, Nr. 46 v. 20. Juli, 8). Wie einst der Rübenzucker und der Zichorienkaffee die Kontinentalsperre überwinden halfen, so könnten nun moderne Eier-Austauschstoffe die notwendige Abkehr Deutschlands von den Weltmärkten absichern. Ja mehr als das. Milei war eben kein „Ersatzmittel“, sondern vollwertiger „Ausgleich, der sich von dem Hühnereiweiß nur in einem unterscheidet, nämlich daß der Stoff, aus welchem es hergestellt wird, reichlich vorhanden ist, während die Eier immerhin knapper sind“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Sein Kauf war Dienst am Volke, zugleich doppelt nützlich: „Die Verwendung von Milei in der Küche hilft in hohem Maße Devisen sparen und ist auch für den einzelnen Haushalt wirtschaftlich vorteilhaft, da Milei viel billiger ist als Eier“ (Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 247 v. 24. Oktober, 5). Dieses Nutzenkalkül wurde statistisch unterfüttert: „88,5 Millionen Hühner legten 1938 6,4 Milliarden Eier. Eine hübsche Menge! Aber nicht genug, um den Verbrauch von 8,1 Milliarden Stück zu decken […]. Aber jetzt tritt Milei auf den Plan“ (Rudolf Vogel, Milei und das Hühnerei, Das Kleine Volksblatt 1939, Nr. 91 v. 2. April, 18). Im Ausland wurde es dagegen als Ausdruck einer Kriegswirtschaft vor dem Kriege verstanden (Der Bund 1939, Nr. 155 v. 2. April, 12).

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Einführungswerbung von Milei durch den Karlsruher Lebensmittelfilialisten Union (Badische Presse 1939, Nr. 40 v. 9. Februar, 5)

Die Produkteinführung beruhte neben der Anzeigenwerbung vor allem auf Koch- und Rezeptbüchern, auf Rezepten in Tageszeitungen oder aber allgemeiner Kochbüchern (Sigma Kochanleitung. Eine Auslese bewährter Rezepte und Betriebsanleitung für den Sigma Elektroküchenherd, Mannheim 1939, 54-56). Auch die nach Kriegsbeginn unmittelbar geschalteten Anregungen für einen Wochenküchenzettel verbreiteten die Kenntnis des neuen Produktes (Badische Presse 1939, Nr. 219 v. 12. August, 10; Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 193 v. 19. August, 12; ebd., Nr. 214 v. 13. September, 8; Badische Presse, Nr. 284 v. 16. Oktober, 5; ebd., Nr. 291 v. 23. Oktober, 4). Sie stammten aus den Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes, das Milei zudem mit ihrem Sonnenzeichen ausgezeichnet hatte. Rezepte wirkten wie Gütezeichen durch erfahrene Hausfrauen und studierte Hauswirtschaftslehrerinnen. Die Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes präsentierten zudem regionalspezifische Rezepte, zerstreuten so Vorstellungen dekretierter Einheitsküche. Sie halfen den Kartenbezieherinnen zugleich, das neue Produkt in just ihrer Küche zu verwenden.

Die in Tageszeitungen veröffentlichen Rezepte ließen teils noch die Wahl, lauteten auf „1 Ei oder Milei“ (Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 252 v. 27. Oktober, 5). Teils aber gaben sie nur noch die Zahl der notwendigen Löffel Milei an (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 51 v. 23. Dezember, 3; Land und Frau 24, 1940, 244). Auch für die Weihnachtsbäckerei waren einschlägige Milei-Rezepte verfügbar (Der Führer am Sonntag 1939, Nr. 46 v. 17. Dezember, 3). All dies war begleitet von gesonderten Werbe- und Rezeptbroschüren der Württ. Milchverarbeitung und der Milei GmbH, deren Umfang zwischen 12 und 16 Seiten schwankte (Milei-Rezepte für die Hausfrau, Stuttgart 1939; Milei in der Großküche, Stuttgart 1939; Rezepte für die Gemeinschaftsverpflegung, Stuttgart 1940). Zum wichtigsten derartigen Werbemittel mutierte das so genannte grüne Milei-Merkbuch für die Hausfrauen. Es umfasste immerhin 36 Seiten, enthielt Abbildungen und eine nicht wirklich anheimelnde, doch nützliche Palette von Rezepten für Kurz-, Spar- und Restgerichte, Kleingebäck und die Kinderernährung (Zeitgemäßes Kochen – Backen – Braten, Stuttgart 1940).

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Einführung von Milei durch das Deutsche Frauenwerk (Der Führer 1939, Ausg. v. 15. Januar, 8)

Der Kriegsbeginn war für Milei eine kommerzielle Chance, denn nun wurde es reichsweit propagiert. Die Ernährungsführung legte gezielt nach, lieferte im Oktober 1939 etwa je 400.000 Dosen in die Metropolen Berlin und Wien (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). „Das Ei aus der Milch“ – so ein Slogan – wurde offensiv beworben. Zentral war dabei die Schlagfähigkeit des neuen Produktes, Beleg seiner Hühnereiebenbürtigkeit. Die Werbung selbst hatte mehrere Väter. Einer davon war Anton Stankowski (1906-1998), ein früherer Folkwankschüler. Er hatte von 1929 bis zum Entzug der Aufenthaltsgenehmigung 1934 in der Schweiz gearbeitet, war dann in Lörrach tätig und machte sich 1938 als Graphiker in Stuttgart selbständig. Dort arbeitete er für NSU und Milei, bevor er ab 1940 zum Kriegsdienst einberufen wurde (Hans Neuburg, Anton Stankowski, Gebrauchsgraphik 22, 1951, Nr. 7, 10-22, hier 18). Nach dem Weltkrieg wurde er Schriftleiter der Stuttgarter Illustrierten und setzte seine Arbeit für Milei fort. Stankowski wurde in der Bundesrepublik zu einem der wichtigsten Typographen, seine Firmenlogos begleiteten und prägten die prosperierende Bonner Republik (Iduna, Vissmann, Rewe, Deutsche Bank, Vereinigte Versicherungen, BKK, etc.). Auch wenn nicht genau abzuschätzen ist, wie weit er die Milei-Werbung zumal nach 1940 prägte, so ist deren klare funktionalistische Formensprache doch auch auf Stankowskis (Mit-)Wirken zurückzuführen.

Diese realisierte, dass Milei ein technisches Produkt war, materialisiertes Know-how. Darin glich es technischen Produkten, Motorrädern, Radios oder Elektrokühlschränken. Mileis Verbreitung war auch eine präziser Gebrauchsanweisungen, die sich auf den Dosen, dann auf dem Rücken der bald üblichen Papierpackungen fanden. Die Werbesprache zielte entsprechend nicht auf Atmosphäre oder Gefühle: Es ging vielmehr um die Programmierung des Hausfrauenhandelns, um Wissen, Pflicht und Tun. Das lag nahe angesichts der rasch spürbaren Härten der frühen Rationierung, die einen allgemeinen Gewichtsverlust der Bevölkerung billigend in Kauf nahm (vgl. aus vornehmlich rechtlicher Sicht Fritz Keller, Kochen im Krieg. Lebensmittelstandards in Deutschland und Österreich 1933 bis 1945, Wien 2017). Die gelenkten Medien verlautbarten entsprechend: „Wir kaufen, was der Markt uns bietet! Wir lassen nichts umkommen!“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Und rasch wusste die Hausfrau, wie sie mit dem weißen Pulver umzugehen hatte: Es war mit etwas Wasser vorzubereiten. Milei W wurde geschlagen, Milei G dagegen ungeschlagen weiter verarbeitet. Bei Fleisch- und Fischspeisen oder aber Nudeln konnte dies unterbleiben. Frischeier sollten dem Frischverbrauch vorbehalten sein, als Frühstücksei den Sonntagstisch zieren. Ansonsten konnten sie durch Milei ersetzt werden (Illustrierte Flora und Nützliche Blätter 65, 1941, Beil., 20).

Etablierung in Bäckereien und Gemeinschaftsverpflegung

Die Verwendung von Milei im Haushalt war ein Zugeständnis an die Konsumenten, denn Neues ließ sich einfacher in der Lebensmittelproduktion und der Gemeinschaftsverpflegung einführen. Wer schmeckte schon die Soja im Bratling, das „deutsche Gewürz“ im Eintopf, den Eier-Austauschstoff in der Wurst. Milei aber etablierte sich als Breitbandangebot, als Innovation für Alle: „Heute wird Milei und Milei G. nicht nur bei der Wehrmacht und in Grossküchenbetrieben, sondern auch in Bäckereien und darüber hinaus, soweit es die Produktionskraft möglich macht, auch in jedem Haushalt verwendet“ (Eiweiß, 1940). Entsprechend nahm Milei auch regulative Hürden ohne größere Probleme, wurden gleich nach Kriegsbeginn doch Kennzeichnungspflichten zugunsten des neuen Austauschstoffes reduziert: Speiseeis durfte ab November 1939 ohne Kennzeichnung auch mit Milei G produziert werden, ein Anreiz für Konditoren und Industrie (Ministerialblatt für die badische innere Verwaltung 1939, Sp. 1288).

Die rückwärtigen Lebensmittelsektoren erhielten zudem Spezialprodukte: Milei G II war ein Eigelbersatz mit hohem Lockerungs- und Schaumvermögen, das nach dem Auflösen unmittelbar in Bäckerei und Großküche verarbeitetet werden konnte. Die Milei GmbH etablierte einen eigenen Aufklärungsdienst und bot Schaukochen und Weiterbildungen an (Hamburger Neueste Zeitung 1941, Nr. 80 v. 4. April, 3), nutzte daneben die schon erwähnten Rezeptbücher. Der günstige Preis half, in der Bäckerei das Hühnereiweiß weiter zu ersetzen, ebenso in der Wurst- und Suppenfabrikation. Auch Krankenhausküchen griffen zum Austauschstoff (Hans Glatzel, Krankenernährung, Berlin (W), Göttingen und Heidelberg 1953, 394). Überraschend ist allerdings, dass die Milei-Werbung Bäckereien und Großküchen nicht grundlegend anders als Hausfrauen ansprach. Dies ist nur vor dem Hintergrund der kleinteiligen Produktions- und Absatzstruktur der Bäckereien zu verstehen. Im Deutschen Reich war die Zahl größerer Backwarenproduzenten gering, gab es keine wirklich bedeutenden Filialbetriebe. Die Werbung auch in der Fachpresse blieb leicht verständlich.

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Vermittlung grundlegender Kenntnisse über Milei (Mehl und Brot 42, 1942, 345 (l.); ebd. 187)

Das änderte sich auch nicht Mitte 1942. Damals wurde Milei V (= Vollei) als verbessertes Substitut für Eiweiß eingeführt, ersetzte Milei G II (Mehl und Brot 42, 1942, 365). Derartige Maßnahmen folgten aber nicht nur weiterer Forschung oder neuen Maschinen. Sie spiegelten auch die Kriegssituation: Milei G wurde anfangs mit Hilfe von Fruchtkernmehl produziert, einem Bindemittel aus Johannisbrotkernmehl, das aus Italien und Marokko importiert wurde. Doch die Zufuhren brachen weg und mussten durch Bohnenmehl ersetzt werden, dessen Viskosität deutlich niedriger lag (Holmes und Kefford, 1946, 1-2). Qualitätsschwankungen waren die Folge, zumal die Produktionsstätten unterschiedlich ausgestattet waren. Auch der spürbare Mangel an Verpackungsmaterial hatte Auswirkungen auf das Produkt. Die Magermilch wurde im Laufe des Krieges immer stärker evaporiert, obwohl die Bäckereien eigentlich ein luftigeres Präparat bevorzugten, das schaumigere Ware ermöglichte. Ein stärker getrocknetes Produkt verbrauchte jedoch weniger Verpackungsmaterial. Üblich waren mehrlagige Säcke von 25 Kilogramm Gewicht. Die Bäcker mussten also entweder die Gebäckmassen stärker schlagen oder eine weniger ansprechende Ware verkaufen. Gleichwohl funktionierten die Gewerbebetriebe bis zum Kriegsende willig und gläubig. Sie waren unmittelbar von Rohstoffzuweisungen der Behörden abhängig – und damit leicht zu sanktionieren und zu lenken.

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Gewährleistung der Alltagsversorgung: Milei-Werbung in der Endphase des Krieges (Mehl und Brot 43, 1943, 419 (l.); ebd. 44, 1944, 239)

Akzeptierte Alternative zur Eiernot: Milei im System der Rationierung

Widerstand blieb auch bei der Bevölkerung eine Ausnahme, weit verbreitetem Murrens zum Trotz (Andrea Brenner, „Milei“ und Sojabohne. Ersatzlebensmittel im Zweiten Weltkrieg, Wiener Geschichtsblätter 62, 2007, H. 3, 28-53; Fritz Keller, Wie „Ostmärkische Leckermäuler“ den Eintopf verdauen lernten, Zeitgeschichte 34, 2007, 292-309). Milei betraf dies kaum. Selbst die Gewährsleute der sozialdemokratischen Opposition vermerkten in einem Sonderbericht über Ersatzspeisen: „Es gibt aber auch Ersatzmittel, die in Geschmack und Verwendungsfähigkeit einigermaßen dem Original entsprechen, z. B. das Milei, das hauptsächlich aus Milcheiweiß besteht.“ Vor dem Krieg eingeführt, wurde es nun „ erst allgemein gebraucht und auf jeweils bekanntgegebene Markenabschnitte der Lebensmittelkarte abgegeben“ (Beides n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 6, 1940, 65).

10_Straßburger Neueste Nachrichten_1940_10_13_Nr086_sp_Neues Wiener Tagblatt_1941_03_28_Nr13_p12_Milei_Austauschstoff_Eier

Austauschstoffe als Küchenereignisse (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1940, Nr. 86 v. 13. Oktober, 86, s.p. (l.); Neues Wiener Tagblatt. Wochenausgabe 1941, Nr. 13 v. 28. März, 12)

Die relative Akzeptanz von Milei war auch Folge einer breit gestreuten und sachlich gehaltenen Werbesprache. Zudem wurde Milei verlässlich geliefert, war das technische Produkt angesichts des immer noch recht breiten Anfalls von Magermilch und Molke von saisonalen Schwankungen kaum betroffen. Zudem wurde die Produktion rasch hochgefahren. Mitte 1940 wurde der Austauschstoff bereits in acht Betriebsstätten produziert, war die Milei GmbH damit „das grösste Unternehmen seiner Art in Deutschland“ (Eiweiß, 1940).

11_Das Blatt der Hausfrau_53_1939-40_p517_Milei_Eier_Austauschstoff_Eischnee

Das Neue verarbeiten: Eischnee mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 517)

Entscheidend für die Akzeptanz beim Verbraucher dürften jedoch die küchentechnischen Eigenschaften des Eier-Austauschstoffes gewesen sein. Er hielt schlicht, was er versprach. Dies resultierte auch aus seiner relativ späten Einführung. Die frühen Eier-Austaustoffe dienten vorwiegend ihrem Primärzweck, nämlich der Verwertung billiger und allseits verfügbarer Rohware. Bei späteren Produkten berücksichtigte man dagegen die küchentechnischen Eigenschaften höher, den Geschmack stärker (M[ax Erich] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Ohne ordentlichen Geschmack kein erfolgreicher Krieg.

Doch Milei war auch ein Kopfprodukt. Als Austauschstoff half es, die strukturelle Veränderung der Alltagskost zu begrenzen, der sich die meisten Konsumenten nicht entziehen konnten. Generell sank der Kalorienverbrauch (Vorkriegszeit = 100) über 91 Prozent 1939/30 und 1942/43 auf 86 Prozent 1944/45. Während der Kohlehydrateanteil aber moderat auf 102 Prozent stieg, sank vor allem der Anteil der Fette, der 1944/45 nur noch 53 Prozent des (nicht eben üppigen) Vorkriegskonsums erreichte. Der Eiweißgehalt der Alltagskost konnte bis 1943/44 dagegen fast auf Vorkriegshöhe gehalten werden, sank erst 1944/45 auf dann 91 Prozent. Tierische Eiweißquellen machten damals noch 69 Prozent aus, bremsten damit die allgemeine Vegetabilisierung der Ernährung (Angaben n. Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, s.l. s.a. (Ms.), s.p.). Milei stützte während des Zweiten Weltkrieges vor allem den wegbrechenden Eierkonsum. Dieser lag 1944/45 nur mehr bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte: 1939/40 handelte es sich um 140 Stück pro Kopf, 1941/41 um 87 und 1944/45 schließlich um 68 (Häfner, s.a.). Anfangs ergänzten Importe vor allem aus Dänemark, den Niederlanden und Bulgarien den Konsum, doch schon 1943/44 lagen die Werte bei lediglich einem Zehntel der Importe von 1939/40. Milei war ein reeller und spürbarer Puffer.

12_Kleine Volks-Zeitung_1941_05_12_Nr131_p08_Der deutsche Volkswirt_16_1942_p529_Milei_Austauschstoff_Eier_Natur_Milch

Die werbliche Illusion vom Naturstoff (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 131 v. 12. Mai, 8 (l.); Der deutsche Volkswirt 16, 1942, 529)

Etablierung als reichsweiter Standardaustauschstoff

Die Milei GmbH erweiterte 1940 ihre Produktpalette um Milei Nachspeise, einem Schaumprodukt für süße Nachspeisen, zugleich ein Zuckersparer (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Als Ersatz für Puddingpulver erfüllte er eine wichtige Funktion, denn Vollmilch war für Erwachsene immer schwerer zu erhalten. Auch als „Wehrmachts-Milchspeise“ gewann er weite Verbreitung (Schulz, 1942, 16).

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Milei-„Aufklärung“ mittels Werbefilm (Werben und Verkaufen 25, 1941, 239)

Wichtiger aber war eine seit 1941 intensivierte reichsweite Produktwerbung. Sie folgte den Vorgaben der Ernährungsplaner, die nicht allein auf den Zwang der Rationierung setzten, sondern an die Einsicht der Volksgenossen appellierten. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), führender Kopf der Truppenverpflegung, formulierte dafür klare Vorstellungen: „Mit der technischen, geschmacklichen und ernährungsphysiologischen Eignung eines Rohstoffes ist die Einführung noch nicht gesichert. Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit)“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 207). Es galt, dem Produkt eine positive Aura zu verschaffen – und damit gleichzeitig allen neuen Austauschprodukten. Gedacht war das ähnlich wie bei den Vitaminen, deren breit ausgemalte Heilwirkungen in den 1920er Jahren zu einer Neubewertung der ehedem „schwachen“ pflanzlichen Produkte geführt hatte (Uwe Spiekermann, Bruch mit der alten Ernährungslehre. Die Entdeckung der Vitamine und ihre Folgen, Internationaler Arbeiterkreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen 4, 1999, 16-20).

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Erstes Kriegsostern mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 472)

Die Milei-Werbung bediente sich entsprechend einer breiten Palette von Werbemitteln, die bis hin zum Werbefilm reichte, der vor der Wochenschau und dem Hauptfilm in den Kinos mit ihrem Millionenpublikum gezeigt wurde. Die Anzeigenwerbung wurde ab 1941 zu Kampagnen gebündelt, die jeweils eine einheitliche Formensprache kennzeichnete. Vor dem Angriff auf die UdSSR präsentierte die Milei GmbH immer noch das Produkt selbst, stellte dessen Nutzen und die erforderlichen hauswirtschaftlichen Kniffe in den Mittelpunkt.

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Informationen für den Umgang mit dem Neuen (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 158 v. 9. Juni, 7 (l.); ebd., Nr. 71 v. 12. März, 12)

Doch die Werbekampagne 1941 ging schon über den alleinigen Nutzen heraus. Der „Milei-Aufklärungsdienst“ verband das Produkt mit allgemeinen Attributen gängiger Lebensmittel, betonte etwa die nährende „Kraft“ des Markenartikels, präsentierte es als „Geschenk der Natur“. Aus dem vermeintlichen Nachteil des wissensbasierten Präparates sollte ein Vorteil entstehen. Milei stand für einen erst durch den Nationalsozialismus bewirkten fundamentalen Wandel der deutschen Konsumgüterindustrie: „Ebenso wie der große Aufschwung der Montanindustrie erst einsetzte, als auch eine erfolgreiche Verwertung der Nebenerzeugnisse gelungen war, so besteht die Hauptaufgabe der Milchwirtschaft heute in der Verwertung der Rest- und Nebenprodukte der Butterherstellung und der Käserei, dem Kasein und der Molke“ (Die Industrie der Molke, Der Führer 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6).

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Alltag mit dem Austauschstoff (Wiener Modenzeitung 1942, H. 161, 23 (l.); ebd., H. 157, 23)

Die Werbekampagne des Jahres 1942 vertiefte derartige Überlegungen. Schattenrisse aus dem Alltag traten hervor, immer verbunden mit dem Anbau, der Beschaffung und dem Kochen und Backen von Lebensmittel und Speisen. Im Vordergrund stand Altbewährtes – und die Texte stellte Mileipräparate in just diesen Rahmen. Milei war neu, unbestritten, doch es setzte sich durch, etablierte sich, half damit zugleich das Bekannte zu bewahren. Dabei half, dass Milei keinen charakteristischen Eigengeschmack besaß. Es war ein uncharismatisches, chamäleonhaftes Lebensmittel, das diente und half, „küchentüchig“ und „schlagstark“.

Entsprechend wichtig waren daher praktische Versuche, war die direkte Ansprache der Hausfrauen. 1940 nahmen die in allen größeren Städten vorhandenen Versuchsküchen etwa der Deutschen Frauenschaft oder aber des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes den Kochlöffel in die Hand, simulierten auf kleiner Bühne haushälterisches Tun, ließen die Hausfrauen dann nachschlagen. Proben rundeten all dies ab. Bevor nun aber Argumente von der vermeintlichen Berufung der Frau für die Küche aufkommen, gilt es eines zu bedenken. Die späten 1930er und frühen 1940er Jahre hatten insbesondere in der Wehrmacht zu einem massiven Ausbau männlichen Küchenexpertise geführt: Mitte 1940 gab es 100.000 ausgebildete Feldköche, bis Mitte 1942 dann etwa 160.000 (Spiekermann, 2018, 590). Diese Männer waren mit den neuen Austauschstoffen bereits vertraut – und nun galt es auch die Hausfrauen in die neue Welt leistungsfähigerer Präparate einzuführen (Das Blatt der Hausfrau 56, 1942/43, 231). Die nationalsozialistisch geprägte Ernährungswirtschaft war technisch-männlich geprägt und zielte auf eine massive Modernisierung des weiblichen Haushaltens mit neuen, von Männern entwickelten Convenience- und Halbfertigprodukten.

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Oh kommet, ihr Hausfrauen, oh kommet doch all (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 220 v. 29. September, 6)

Die Wirkung derartiger praktischer Werbung wurde durch zahlreiche Zeitungsberichte multipliziert, die haushälterisches Tun wertschätzten und dem Zwang gestalterische Elemente abgewannen: „Kaum machten sich manche Lebensmittel auf dem Markte rar, da schossen schon wie Pilze die neuen Rezepte aus dem Boden, die sich dieser Marktlage anpassen. […] ‚Ein Weg findet sich immer, und das macht ja erst richtig Freude, wenn man auch unter Einschränkungen etwas Gutes zuwege bringt‘“ (Badische Presse 1940, Nr. 9 v. 10. Oktober, 6). In Wien präsentierte man „mollige“ Saucen mit Milei, pikant und mit erhöhtem Nährwert (Völkischer Beobachter 1940, Nr. 69 v. 9. März, 5): Der Charme der lokalen Küche endete offenkundig nicht mit der Rationierung. Selbstverständlich traten auch Meisterköche auf, die mit Kochkunst und Phantasie mit Milei, Tulli und Sojapräparaten kreierte Speisen darboten – und wahrlich, es sah gut aus und schmeckte (Kochkunst + Phantasie = ein schmackhaftes Gericht, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 157 v. 5. Juni, 6). Das Neue, das „der forschende Menschengeist entdeckt hat“ weckte wiederum Neues, war Teil des ewigen völkischen Ringens mit der Natur und ihren Rohstoffen. Versuchsküchen waren Stätten einer kulinarischen Moderne, in der Austauschstoffe nicht „Verlegenheitsschöpfungen, sondern eine Errungenschaft in der Ernährungswirtschaft der Zukunft“ waren (beide Zitate n. Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 153 v. 5. Juni, 6).

Im Laufe des Krieges übernahm vielfach der Milei-Aufklärungsdienst die vorher dezentral wahrgenommenen Veranstaltungen. Er zog durch das Land und veranstaltete in größeren Städten Vorträge und Schaukochen, vielfach in Verbindung mit den lokalen Elektrizitäts- und Gasanbietern (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 239 v. 10. Oktober, 6; Wiener Kronen-Zeitung 1942, Nr. 15085 v. 11. Januar, 15; Der Führer. Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Lokale Haushaltsschulen folgten parallel, bildeten Haushaltsgehilfinnen und Hauswirtschafterinnen nicht nur im sparsamen Haushalten aus, sondern wiesen ihnen auch Wege mit neuen „gesunden“ Produkten: „Biologische Salze werden dem schädlichen Kochsalz vorgezogen, das Milei triumphiert, die ‚Grünsbrühe‘ duftet herrlich und ersetzt die Fleischbrühe. Gartenkräuter werden als deutsche Würze verwendet, gemahlener Paprika ist jetzt der Pfeffer“ (Ein Besuch in der Haushaltungsschule Pforzheim, Der Führer 1942, Nr. 79 v. 20. März, 4). Es dürfte Ihnen klar sein, dass all diese Zitate auch Teil des schönen Scheins des Nationalsozialismus sind, dass sie über die Härten und Verwerfungen des Kriegsalltages hinweggingen. Mit fortschreitender Dauer des Krieges wurde eine schmackhafte Zubereitung immer schwieriger, auch wenn die Machthaber Gewürzen und Gewürzsubstituten hohe Aufmerksamkeit schenkten. Backpulver war Mangelware, musste durch Natron, Pottasche oder Hirschhornsalz bzw. durch vermehrten Einsatz von Hefe ansatzweise ersetzt wurde. Milei wurde für all diese Fährnisse erprobt, die Resultate in handhabbare Rezepte umgemünzt (Leckeres Gebäck aus Roggenmehl, Der Führer 1942, Nr. 325 v. 24. November, 4). All dies setzte Versorgungssicherheit voraus – und damit eine leistungsfähige Unternehmensstruktur.

Auf- und Ausbau eines reichsweiten Vertriebs- und Produktionsnetzwerkes

Die Milei GmbH ist ein unbekanntes Unternehmen, denn Firmenunterlagen existieren offenbar nicht mehr. Die heutige in Leutkirch ansässige Milei GmbH sieht sich nicht in der Nachfolge des Stuttgarter Unternehmens. Der „hidden champion der Lebensmittelindustrie“ folgt dem eigenen Motto „Live. Love. Enjoy“ und lässt die eigene Geschichte erst in den 1970er Jahren beginnen. Das ist recht typisch für weite Teile des deutschen Mittelstandes, die ihre NS-Geschichte schlicht übergehen. Wir sind heutzutage über die Opfer des Nationalsozialismus weitaus besser informiert als über die damaligen Akteure und Täter – und dies gilt trotz einer nicht unbeträchtlichen Zahl aussagefähiger Unternehmensgeschichten dieser Zeit.

Die Milei GmbH, die erste, war vorrangig eine Vertriebsorganisation (Bate-Smith et al., 1946 – auch für das Folgende). Sie besaß keine eigenen Produktionsstätten, sondern schloss Verträge mit zahlreichen milchverarbeiteten Betrieben, die in ihrem Auftrag Mileiprodukte herstellten. Diese Firmen kannten weder die genauen Produktionsverfahren, noch die eingesetzten Rohwaren und Zusätze. Diese wurden vielmehr codiert eingesetzt, obwohl ein erfahrener Betriebsleiter sie leicht decodieren konnte (Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 4). In Stuttgart saß die Verwaltung, der Aufklärungs-Dienst, hier wurden Verträge geschlossen und die Rohstoffwirtschaft koordiniert.

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Bezirksleitungen der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Der Vertrieb erfolgte in tradierten Formen. Von Stuttgart ausgehend, richtete die Milei GmbH ein reichsweites Netzwerk von Bezirksleitungen aus, die wie Großhandelsvertretungen funktionieren. Die zehn Bezirksleitungen waren über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt und koordinierten recht eigenständig. Der Absatz in der Backwarenproduktion und im Gaststättengewerbe erfolgte mittels Reisender, die von „Oberreisenden“ regional koordiniert wurden (Der Führer 1941, Nr. 60 v. 2. März, 14). Eine von Ludwig Herrmann geleitete Generalvertretung wurde im März 1942 in Berlin Unter den Linden gegründet, erlosch jedoch schon im November (Deutscher Reichsanzeiger 1942, Nr. 57 v. 9. März, 5; ebd., Nr. 284 v. 3. Dezember, 3).

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Lage der Milei-Produktionsstätten im Großdeutschen Reich 1941 (Der Vierjahresplan 5, 1941, 246)

Die Produktion erfolgte anfangs nur in Stuttgart, doch die Zahl der Produktionsstätten weitete sich rasch aus, da lokale Kapazitäten nicht beliebig gesteigert werden konnten und zugleich Transportkosten reduziert werden konnten. Anfang 1940 substituierte die Firma nach eigenen Angaben bereits monatlich 45 Millionen Eiern (Eiweiß, 1940). Eine Anzeige in der Zeitschrift „Vierjahresplan“ zeigte 1941 bereits neun Produktionsstätten. Deren Zahl wurde bis 1942/43 nochmals verdoppelt.

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Fabrikationsstätten der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Die von britischen Wissenschaftlern sichergestellte Liste der Produktionsstätten unterstrich, dass im Laufe des Krieges der Stellenwert des Produktionsstandortes Stuttgart bzw. Württembergs tendenziell sank. Stattdessen finden sich Vertragspartner in den wichtigsten Milchregionen Deutschlands, Österreichs, der Tschechoslowakei sowie Polens. Einzelne Standorte wurden beträchtlich aufgewertet, so die zwei Milei-Werke im sächsischen Wurzen. Dort fand auch die Qualitätskontrolle statt. In der zweiten Kriegshälfte wurden Milei-Produkte an folgenden Produktionsstätten hergestellt:

  • Milei-Gesellschaft Werk I und II, Wurzen/Sachsen
  • Württ. Milchverwertung AG, Stuttgart
  • Milchversorgung Heilbronn GmbH, Heilbronn/Ilsfeld
  • Omira Oberland Milchverwertung GmbH, Ravensburg
  • Odam-Milchwerk Gebr. Müller, Holzkirchen/Oberbayern
  • Bayerische Milchversorgung GmbH, Nürnberg
  • Molkerei-Genossenschaft Tabor
  • Molkerei-Genossenschaft Mährisch-Budwitz
  • Molkerei-Genossenschaft Stainach GmbH
  • Molkerei-Genossenschaft eGmbH, Hagenow/Mecklenburg
  • Dauermilchwerke Korschen GmbH, Korschen
  • Ostdeutsche Dauermilchwerke GmbH, Marienburg
  • Alfa-Nährmittelwerk Tonningen GmbH, Tonningen
  • Wartheland-Milchverwertung GmbH Posen, Krotoschin
  • Milchzentrale eGmbH, Lütjenburg/Holstein
  • Schweriner Zentral-Molkerei, Schwerin
  • Ein- und Verkaufsgen. westfälischer Molkereien eGmbH Münster, Lippstadt
  • Verkaufsverband norddeutscher Molkereien, Plathe

Diese Liste bestätigt frühere Aussagen, nach denen „die Betriebe, die Milei herstellen, nichts anderes, als sehr neuzeitlich eingerichtete Molkereien“ sind. „Es fehlen durchaus die geheimnisvollen Retorten und Destillationskolben einer chemischen Fabrik. Wie in jeder anderen Molkerei wird die von den Bauern und Landwirten gelieferte Milch gereinigt, pasteurisiert, entrahmt und zu Butter, Käse, Quark, Kasein und Trockenmilchpulver verarbeitet“ (Eiweiß, 1940). Ganz normale Betriebe für ganz normale Produkte. Milei war zu diesem Zeitpunkt bereits der wichtigste Hersteller von Eier-Austauschstoffen aus Magermilch im Deutschen Reich, ließ Wettbewerber wie Syntova und die Berliner Edmes GmbH weit hinter sich. Die gegenüber der Vorkriegszeit allseits massiv gesteigerte Produktion wurde vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie der Hauptvereinigung der deutschen Milch- und Eierwirtschaft stetig gefördert (Pirner, 1942, 269). Eine weitere Produktionssteigerung scheiterte allerdings am Mangel an Maschinen, vor allem der unverzichtbaren Sprühtrockner.

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Vertriebslager der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Neben den Bezirksleitungen und Fabrikationsstätten existierte noch ein weiteres Netzwerk von Vertriebslagern. Diese entsprach großenteils, aber keineswegs durchweg, dem Produktionsnetzwerk. Die 19 Lager waren ebenfalls über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt, konnten von alliierten Bombern zwar getroffen werden, boten aber eine flexible Struktur zur kontinuierlichen Versorgung der Bevölkerung.

Schon diese Netzwerke verweisen auf den Ausgriff auf besetzte Gebiete, auf eine Expansion in die frühere Tschechoslowakei und Polen, die wohl 1941/42 erfolgte (Pirner, 1942, 269). Die Produktion von Milei-Produkten war Teil der gewalttätigen Nutzung ausländischer Ressourcen für die Stabilisierung der reichsdeutschen Rationen. Hinzu kam eine Expansion nach Westeuropa. 1941 gründete die Milei GmbH „gemeinsam mit der holländischen Spezialfirma für Milchkonserven Lijempf eine Gesellschaft, die in Holland die Verarbeitung von Magermilch zu ähnlichen Ersatzlebensmitteln aufnehmen soll. Die Milei G.m.b.H. hat sich hierbei die Majorität gesichert“ (Die Zeitung [London] 1941, Nr. 244 v. 22. Dezember, 2) Es handelte sich um die im nordfriesischen Leeuwarden ansässige Milchfabrik N.V. Lijempf, die im nahegelegenen Winsum eine moderne Trockenmilchfabrik mit knapp 200 Beschäftigten betrieb (P. Noord, De Zuivelfabriek van Winsum, 1892-1975, Info Bulletin Winshem 7, 2002, Nr. 3, 8-9). In Frankreich, genauer in der Normandie, wurde 1941 ein ähnlicher Betrieb aufgenommen, der von 1942 bis 1944 Milei auch nach Deutschland exportierte (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4; Bundesarchiv Berlin R 15-V/21). 1943 sollen dadurch ca. 35 Millionen Eier ersetzt worden sein (Innsbrucker Nachrichten 1944, Nr. 114 v. 16. Mai, 5). Im gleichen Jahr plante die Firma eine deutsch-spanische Dependance in Barcelona (Bundesarchiv Berlin R 3101/34784, Bd. 3). Nach Ende des Krieges bemühte sich die Milei GmbH bis 1947 um die Rückerstattung ihres Auslandsvermögens (Bundesarchiv Berlin B 218/755). Außerdem wurde 1942 „ein Unternehmen unter maßgeblicher Beteiligung der Milei-Gesellschaft m.b.H. geschaffen“ (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4).

Was war nun das Ergebnis all dieses Bemühens? Die vom britischen Nachrichtendienst ausgesandten Wissenschaftler sicherten 1945 Unterlagen, nach denen die Produktion 1944 bei 6.466.000 Kilogramm Milei G und W gelegen hat. Hinzu kamen 547.113 Kilogramm Nachspeise und 3.926.785 Kilogramm Migetti. 1943 lag die Produktion auf gleicher Höhe. Der Umsatz von Milei G und W lag 1944 bei 25 Millionen RM, bei der Nachspeise bei 3,5 Millionen RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Rechnet man 5 Gramm Milei als Substitut für ein Vollei, so entsprach die 1944 produzierte Menge 1,293,200,000 Volleiern. Das wäre – geht man zurück zu den Ausgangsplanungen – etwa 17% der 1936 im damaligen Deutschen Reich konsumierten Eier. Diese Menge entsprach den gesamten damaligen Eierimporten. Damit dürfte Milei das erfolgreichste Austauschprodukt der nationalsozialistischen Ernährungsforschung gewesen sein – und die anderen gewerblich genutzten Präparate können hier noch zugerechnet werden.

Kaum überraschend waren die verantwortlichen Experten stolz auf das Geleistete: „Für die Kriegswirtschaft bedeutet die Steigerung der Produktion von Milei die Verhinderung des Aufkommens eines unerträglichen Mangels an Eiweiß“ (Wandlungen der deutschen Milchwirtschaft, Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 275). Milei hatte sich bewährt, würde auch nach dem Kriege ein wichtiger Markenartikel bleiben, Teil einer neu gestalteten Volksernährung sein (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 375). Die Fachleute hatten geholfen, diese Waffe für die Heimatfront zu schmieden. Und sie verstanden es einen Baustein zur Stabilität und Prosperität eines mörderischen Regimes.

Verbraucherlenkung und Intensivierung

Damit könnte man es erst einmal belassen, könnte die Geschichte von Milei unmittelbar in der beschworenen Nachkriegszeit verfolgen; wenngleich unter einer anderer Siegerkonstellation. Damit aber würde man der Bedeutung eines doppelbödigen Markenartikels jedoch nicht gerecht. Die beschworene Bewährung erlaubte es nämlich der Milei GmbH das Renommee des Produktes in den Dienst allgemeinerer Ziele des Regimes zu stellen. Konsumgüter haben stets einen Subtext, weisen stets über ihre eigene Materialität hinaus. Das gilt auch in Zeiten von Knappheit und Not.

Blicken wir zuerst auf die Versorgung und Verbrauchslenkung in der Mitte des Krieges. 1942 mussten die Rationen deutlich gesenkt werden, ihre Zusammensetzung verschlechterte sich – und sie waren gleichwohl weit besser als in den besetzten Gebieten, weit besser auch als im Hungerwinter 1916/17. Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff „Eier-Austauschstoff“ nicht nur weit verbreitet, sondern auch geadelt worden. Er durfte nicht mehr für Hilfs- oder Ersatzmittel in der Kriegssituation verwandt werden, sondern nur für Produkte, die „auch über die Zeit des Mangels hinaus einen dauernden Platz in ihrem Anwendungsgebiet erhalten sollen“ (Verwendung der Bezeichnung ‚Eier-Austauschstoff‘, Werben und Verkaufen 25, 1941, 206). Die relative Wertigkeit von Milei wurde auch durch weitere Verfügungen des Werberates der deutschen Wirtschaft erhöht (Werben und Verkaufen 26, 1942, 68). Die staatspolitische Bedeutung des Austauschstoffes zeigte sich ferner in der Werbung anderer Markenartikelfirmen: Maizena warb beispielsweise mit Rezepten, die Milei propagierten (Badener Zeitung 1941, Nr. 88 v. 1. November, 3).

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Werbung mit Rezepten und breiter Anwendungspalette (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1941, Nr. 104 v. 16. April, 852 (l.); Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14862 v. 31. Mai, 10)

Milei diente ab 1942 zunehmend dazu, die klarer hervortretenden Härten des Rationierungssystems erträglicher zu machen. Weißwäscher hämmerten die Melodie: „Mit diesen Eiaustauschstoffen kann man ebensogut Schlagobers wie gute Biskuits oder Windmassen erzeugen“ (Hans Rudiak, Kriegswirtschaftliche Materialfragen, Werkzeitung der Hammerbrotwerke 6, 1942, H. 5, 3-10, hier 9). Die Milei-Rezepte wurden der Versorgungslage angepasst. Schon Anfang 1942 fanden sich Rezepte für gebackene Kohlrübenscheiben, die als „verkanntes Gemüse“ (Der Führer 1942, Nr. 57 v. 26. Februar, 4) und nicht als Reminiszenz an den berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 präsentiert wurden. Auch als Mayonnaisezusatz zierte Milei billige Rohkostsalate (Durlacher Tageblatt 1943, Nr. 14 v. 18. Januar, 3). Die immer wieder umgestellten Rezepte wurden gezielt an die Frau gebracht: Ab 1943 verstärkte man die Werbung für das grüne Milei-Merkbuch für Hausfrauen: „Es zeigt die richtige Anwendung des milchgeborenen Milei W und Milei G“ (Badische Presse 1943, Nr. 192 v. 18. August, 6). Diese „Fundgrube zeitgemäßer Rezepte“ (Ebd., Nr. 226 v. 27. September, 6) wurde bis Anfang 1944 kostenlos von der Milei-Gesellschaft versandt. Es ergänzte die Anfang 1943 noch in großer Zahl geschalteten Bildanzeigen, die spezielle Anwendungsweisen des Milei bildlich und textlich präsentierten.

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Haushaltstipps in Wort und Bild (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstadt 1943, Nr. 3 v. 3. Januar, 7 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 3219 v. 20. November, 6)

Parallel zur Intensivierung des „totalen“ Krieges wuchsen die Anforderungen an die Konsumenten. Sie kamen moderat daher, etwa als Anleitung zu erhöhter Präzision: „Eine Handvoll? – Ein schlechtes Maß! So ungenau darf man niemals beim milchgeborenen Milei W und Milei arbeiten. Man muß sich genau nach der Gebrauchsanweisung richten“ (Hamburger Anzeiger 1943, Nr. 185 v. 2. September, 4). Der Kampf gegen Verderb wurde strikter, rasches Umfüllen des Präparates war ein Teil davon. Während Milei anfangs noch in kleinen Büchsen verkauft worden war, wurden nun einzig mit Aluminium beschichtete Papiertüten verwandt. Da Milei feuchtigkeitsempfindlich war, bestand bei unsachgemäßer Lagerung die Gefahr, dass der Stoff verklumpte, ja, verknotete. Dagegen half das Umfüllen in ein trockenes Glas – mit einem zwingend trockenen Löffel (Badische Presse 1943, Nr. 201 v. 28. August, 8). Hatte das hydrophile Milei dagegen Wasser aufgenommen, war es zwar „schlagfaul“, konnte jedoch immer noch zum Panieren genutzt werden (Ebd., Nr. 216 v. 15. Juni, 6). Oder aber für Breie oder Suppen (Ebd., Nr. 235 v. 7. Oktober, 6). Hauptsache, das Präparat wurde genutzt.

Die gewünschte Löffelgenauigkeit wurde eben nicht als Manko gegenüber dem Hühnerei gedeutet, sondern als ein Vorteil gegenüber der Natur, die nur das eine, wenngleich unterschiedlich große Ei kannte. Klares Abmessen half dagegen Sparen – mochte man per Gebrauchsanweisung auch auf kleine Eier umgelenkt werden. Sprache versuchte dies ansatzweise zu kompensieren. Milei war rein und „milchgeboren“, entstammte es doch aus frischer entrahmter Milch, die zur natürlichen, sauberen Herkunft stilisiert wurde (Ebd., Nr. 223 v. 23. September, 6).

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Gebäck als Symbol von Heimat und Frontverbundenheit (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 178 v. 30. Juni, 6; Wiener Illustrierte 1941, Nr. 51 v. 17. Dezember, 12)

Während die 1943 noch möglichen Werbeabbildungen den symbolischen Gehalt von Lebensmitteln, sei es von nährendem Hackbraten oder von Weihnachtsgebäck verstärkt betonten, bot die Mehrzahl der Anzeigen klar gefasste Haushaltstipps: Bei Tunken Milei erst in Wasser auflösen, dann den Brei löffelgenau in die Tunke geben – schon wird sie cremig und verliert ihre Wässerigkeit (Badische Presse 1943, Nr. 204 v. 1. September, 6). Gerade bei fleischarmen Speisen war dies essentiell (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 213 v. 4. August, 6). Ähnlich musste frau vorgehen, wollte sie Mürbeteig machen (Ebd., Nr. 211 v. 9. September, 6). Oder aber beim Kochen von Suppe (Ebd., Nr. 214 v. 13. September, 6). Bei Kleingebäck wurde Milei geschlagen, zu Schäumchen geformt und dann gebacken (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 6). Ähnlich bei mehlfreiem Kleingebäck (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 121 v. 3. Mai, 4). Und selbst der Sonntagskuchen gelang, trotz Ersatz des Eies (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 234 v. 25. August, 6). Vorausgesetzt, man vermied Aluminiumgefäße zum Schaumschlagen (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 200 v. 22. Juli, 6). Das war hilfreich, hilfreich beim Rausholen des Letzten. Die Intensivierung des Haushalts entsprach der in der Rüstungsindustrie.

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Gesunde Kost und Sparen auch in der Gemeinschaftsverpflegung (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, nach 28 (l.); ebd., n. 42)

All dies beschränkte sich natürlich nicht auf den Haushalt. Die Bediensteten in Großküchen und Gewerbebetrieben wurden ähnlich angesprochen. Und über den tristen Alltag hinweg half immer stärker ein Blick auf die Modernität der Austauschpräparate: „Heute ist das nicht mehr nötig“, das alte ungenaue Kochen und Backen mit Eiern: „Dessen Aufgabe übernimmt Milei, das Ei aus der Milch. Es wird zum Braten, Backen und Kochen verwendet. Es ist naturrein und nährt. Milei ist rezeptleicht anwendbar … und steigert den Geschmack der Speisen“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14877 v. 16. Juni, 7). Selbst der Stolz der südwestdeutschen Hausfrau, die Spätzle, waren vor dem Neuen nicht mehr sicher. Sie „verlangten früher die Verwendg. des Hühnereies“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 162 v. 13. Juni, 6). Heute machte dies… – Sie kennen die Antwort.

Rendezvous mit Kohlenklau

Ab 1943 wurde die Milei-Werbung zunehmend breiter eingesetzt, zielte nicht allein auf das Produkt, sondern unterstützte die Kriegsanstrengungen auch anderweitig. Das belegt etwa die enge Verkopplung der Markenartikelwerbung mit der allgemeinen Agitation gegen „Kohlenklau“. Kohlenklau war eine der vielen nationalsozialistischen Imaginationen, die allesamt zu erhöhter Sparsamkeit, zu geringem Ressourcenverbrauch, zu einem gesünderen und gedeihlicheren Leben anhielten (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 91-95). „Groschengrab“ und „Roderich, das Leckermaul“ traten auf, „Flämmchen“ und eben auch Kohlenklau, das „Ungeheuer mit dem zugekniffenen Auge, dem gewaltigen Schnauzbart, großem Sack und bedrohlichen Krallen“ (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstedt 1943, Nr. 94 v. 18. Juni, 6). Er stahl nicht nur Kohlen, sondern vergeudete Energie und Ressourcen jeglicher Art, unterminierte damit die Kriegsanstrengungen der deutschen Nation. Sogar beim Kuchenbacken lauerte er.

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Kohlenklau in der Milei-Werbung (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 104 v. 14. April, 6 (l.); Wiener Illustrierte 1943, Nr. 21 v. 26. Mai, 8)

Kohlenklau war mehr als ein schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man höre nur: „Taps, taps, taps… Kohlenklau ist in der Küche.“ (Das kleine Volksblatt 1943, Nr. 55 v. 24. Februar, 8). Und der grinste höhnisch, wenn Speisen durch zu langes Kochen zerstört und Gas verschwendet wurden (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 63 v. 4. März, 6). Oder wenn das Kleingebäck verbrannte. Die Moral schien einfach zu sein: „Auf Kohlenklau achten“ resp. Plätzchen rechtzeitig aus dem Backofen herausnehmen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1943, Nr. 15551 v. 28. April, 7).

Verhaltensregulierung im Endkampf

Der Kampf gegen Kohlenklau war nur einer von vielen Maßnahmen, um die deutschen Volksgenossen zu gemeinen Anstrengungen zu verpflichten. Die Milei GmbH trug dazu bei und knüpfte am Ende des Krieges ein enges Band zwischen Konsument und Firma (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 743). In dieser Werbewelt kooperierten Forscher mit Praktikern, arbeiteten Bauern und Chemiker zum Wohle der Konsumenten. Präsentiert wurde ein völkisches Bild wechselseitiger Verpflichtung, getragen vom gemeinsamen Willen, das Beste zu geben.

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Wechselseitige Verpflichtung der forschenden Produzenten und der Konsumenten (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, vor 117 (l.); ebd., nach 184)

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Nahrung als Waffe (Tages-Post – Linz 1942, Nr. 284 v. 1. Dezember, 6)

Milei war Alltagsgarant, war zuverlässiger Alltagshelfer (Der Führer. Aus dem Ortenau 1943, Nr. 36 v. 5. Februar, 4). In dem damaligen Völkerringen war es eine Waffe, ein Schwert mit scharfer Klinge. Es half beim notwendigen Strecken nach der Decke, beim Strecken der Lebensmittel und Speisen. Milei stand für die zunehmende Militarisierung der Alltagskost, die durch verpflichtende fleischlose Tage und Feldküchengerichte längst Realität geworden war. Doch das Schwert wurde nur gegen Feinde gezückt, denn innerhalb der Volksgemeinschaft war der Konsument Kulturträger, gesittet, gefasst und optimistisch. Entsprechend konnte allseits „Höflichkeit“ gefordert werden, grenzte man sich von „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ strikt ab. Das galt zumal beim Einkauf, am Tresen, im Umgang mit dem Einzelhändler, der über Bekommen oder Nicht-Bekommen mit entschied.

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Seid höflich und nett zueinander – gerade im Krieg (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 8 v. 9. Januar, 8 (l.); Wiener Illustrierte 64, 1944, Nr. 15, 8)

Die Milei-Werbung wandte sich eindeutig gegen Fehlverhalten und Resignation: „Eine einzige verdrießliche Kundin wirkt wie Gift. Sie kann die beste Laune aller Anwesenden zerstören. Deshalb bemühen wir uns, verdrießliche Gemüter aufzumuntern und selbst recht höflich zu sein … auch wenn wir einmal nicht alles bekommen, was wir brauchen“ (Innviertler Heimatblatt 1944, Nr. 8 v. 25. Februar, 8). Zugleich aber forderte sie eine Kultur reflektierter Rücksichtnahme: „Ihr Kaufmann ist heute mit Arbeit reichlich überlastet. Zudem ist das Personal knapp. Trotzdem bemüht er sich, Sie zuvorkommend und höflich zu bedienen. Begegnen Sie ihm auch höflich … und machen Sie ihm das Leben nicht schwer […]. Höflichkeit macht beliebt!“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 48 v. 18. Februar, 4)

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Der Einzelne muss zurückstehen (Nationalsozialistischer Volksdienst 10, 1943, H. 8, II (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 314 v. 13. November, 5)

Spiegelten sich in derartigen Anzeichen die realen Verwerfungen in der Psyche vieler Menschen, so wurden in der Milei-Werbung ab 1943 die bestehenden Versorgungsprobleme zunehmend deutlicher thematisiert. Das betraf zum einen die Hausfrauen, denen etwa Hilfestellungen gegeben wurden, Speisen „bequem und unauffällig“ (Badische Presse 1944, Nr. 35 v. 11. Februar, 4) zu strecken. Das betraf aber zunehmend auch die zerbröselnde Verkehrsinfrastruktur. Deutlich hieß es: „Die Reichsbahn ist überlastet“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 243 v. 29. Februar, 6). Die Konsumenten sollten darauf verständnisvoll reagieren, sich selbst ein kleines Glied im großen Ganzen verstehen. Das half durchzuhalten, seine eigenen Sorten und Nöte geringer zu gewichten.

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Kinderfreude und Unterhaken der Hausgemeinschaft (Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 33, 8 (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 5)

Zugleich aber lenkte die Milei-Werbung den Blick auf die kleine Lichtblicke und Freuden des Alltags. Freude über eine wohlschmeckende, eine nährende Speise, Dankbarkeit gegenüber einer kleinen Alltagshilfe und Nachbarschaftshilfe. Das entsprach nicht der Realität des letzten Kriegsjahres, half jedoch nicht zu verzweifeln und seine Aufgaben zu erfüllen.

Damit wurden vornehmlich Frauen angesprochen, denn diese waren damals für Haushalt und Kochen verantwortlich, bekochten Kinder und auch Männer. Da musste eben ein Hackbraten her, auch wenn er mit Brot gestreckt werden musste (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 148 v. 30. Mai, 6). Doch zunehmend wurde auch des alleinstehenden Mannes gedacht, den man gemeinhin unter die Dachkategorie des „Strohwitwers“ subsummierte. Sie wurden vielfach in Werksküchen verpflegt, doch es gab seit 1944 auch vermehrt Koch- und Hauswirtschaftskurse für Männer. Die virtuose Handhabung von Milei wurde dabei geprobt (Neues Wiener Tagblatt 1945, Nr. 24 v. 28. Januar, 3). Und siehe da, auch Männer waren lernfähig, wussten die modernen Austauschstoffe zu schätzen.

Die Milei GmbH schaltete bis Anfang 1945 immer neue Werbetexte, denn ab Mitte 1944 verschwanden die letzten Graphiken aus den Zeitungen, schrumpfte die Anzeigen zu Texten in engen Kolumnen. Diese munterten auf, empfahlen das Produkt als Hilfegarant in der Krise: „Hausfrauen wissen sich immer wieder zu helfen“ (Badische Presse 1944, Nr. 179 v. 2. August, 6). Und sie halfen anderen, vielleicht mit einem alltagsaufhellenden Baiser (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 348 v. 28. Dezember, 3). Zugleich lenkte die Werbung den Blick auf eine andere, nicht vom Krieg geprägte Welt. Dort wurden Produkte in „blitzsauberen Milchwerken“ (Badische Presse 1944, Nr. 127 v. 2. Juni, 4) hergestellt, dort gab es keimfreie Produktion (Ebd., Nr. 131 v. 7. Juni, 4). In den Anzeigen wurde an Feinschmecker erinnert, sprach man von Wohlgeschmack. Kindergeburtstage feierte man, denn Milei-Fruchtschaum „schmeckt wie im Frieden“ (Kleine Wiener Kriegszeitung 1944, Nr. 77 v. 29. November, 8). Und die Kleinen waren „selig“, wenn es ihn denn gab (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 7). Die Städte stürzten zusammen, die alte Welt zerbrach, doch das ging einher mit der Geburt des Neuen: „Großmutters Rezeptbuch ist längst überholt“ (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 8) und wird ausgetauscht von wissenschaftlichen Präparaten, praktisch und besser als das Alte.

Kontinuität im Schwarzmarkt und der Nachkriegsrationierung

Die Rationierungspolitik wurde nach Ende des Krieges von den Besatzungsmächten fortgeführt, die Lebensmittel teils der eigenen Bevölkerung vorenthalten, um eine Hungerkatastrophe in deutschen Landen zu vermeiden. Milei gehörte dazu, mochten die Zuweisungen pro Normalversorger 1945 und 1946 auch gering ausfallen, da das unternehmerische Netzwerk der Milei GmbH zerrissen war (Badener Tagblatt 1946, Nr. 10 v. 2. Februar, 63; Badische Neueste Nachrichten 1947, Nr. 53 v. 6. Mai, 4). Doch in den einzelnen Zonen wurde weiter produziert. Milei konzentrierte seine Aktivitäten wieder auf den Württemberger Raum, die amerikanische Zone. Von dort wurde auch exportiert, wenngleich meist gegen Ware, nicht gegen Geld (Wiener Zeitung 1946, Nr. 149 v. 29. Juni, 2; Badener Tagblatt 1946, Nr. 30 v. 6. Juli, 323). Milei diente wie in der Endphase des Krieges dazu, fehlende Eier- und Fleischlieferungen zu kompensieren (Neues Österreich 1945, Nr. 207 v. 21. Dezember, 3). Angesichts beträchtlicher Unterversorgung bemühten sich Großbetriebe um Milei-Zuweisungen für ihre Werksküchen, wollten Eiweiß für Arbeit (Volkswille 1946, Nr. 98 v. 15. August, 3).

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Zwischen Emmentaler Käse und Eier: Rationiertes Milei (Neue Zeit 1946, Nr. 285 v. 7. Dezember, 4)

Die Wertschätzung der Milei-Produkte spiegelte sich auch darin, dass sie regelmäßig bei Schiebern und Schwarzhändlern beschlagnahmt wurden (Obersteirische Volkszeitung 1947, Nr. 20 v. 8. März, 2; Volksstimme 1947, Nr. 98 v. 26. April, 3; Wiener Kurier 1947, Nr. 10 v. 14. Juni, 2). Hoher Nährwert und lange Haltbarkeit waren wie für den Schwarzmarkt gemacht – wobei solche bereits während des NS-Regimes bestanden.

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Viel begehrt – leider knapp! Milei Werbung in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Stuttgarter Rundschau 2, 1947, H. 6, 32 (l.); Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 9, 28)

Zugleich begannen frühere Produktionsstätten die Herstellung auf eigene Rechnung. In Österreich, der früheren Ostmark, setzte nach Kriegsende die Molkerei Stainach der Landesgenossenschaft Ennstal ihre Arbeit fort, um insbesondere für den Winter Reserven aufzubauen (Neue Steierische Zeitung 1945, Nr. 97 v. 18. September, 5). Das führte zu Sonderzuteilungen von zehn Volleiersubstituten und Freude bei den darbenden Konsumenten (Ebd., Nr. 140 v. 8. November, 8). Mitte 1946 musste der Betrieb jedoch eingestellt werden, da die Milchzufuhr aufgrund von Zwangsablieferungen zu gering war (Neue Zeit 1946, Nr. 178 v. 8. August, 3). Die Milei GmbH klagte gegen die Produktion des vermeintlichen neuartigen Stainacher Milcheiweis V und S, musste jedoch vor Gericht schließlich eine Niederlage einstecken (Wiener Zeitung 1946, Nr. 186 v. 11. August, 7; Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4). International waren Kramers Patentrechte ohnehin seitens der Alliierten kassiert worden (Official Gazette of the United States Patent Office 550, 1943, xxxvi; ebd., 552, xxxix).

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Erst im Gewerbe, dann im Haushalt (Bäcker-Zeitung für Nord- und West-Deutschland 2, 1948, Nr. 33, 11 (l.); ebd., Nr. 37, 14; Der Spiegel 1948, Ausg. v. 6. November, 16 (r.))

Nach Gründung der Bundesrepublik und dem zunehmenden Abbau der Rationierung war Milei gängiger Gast etwa auf Fachmessen, wo es gleichrangig neben Suppen- und Soßenpräparaten, Mayonnaisen, Aspikpulver und anderem stand (Südkurier 1949, Nr. 116 v. 1. Oktober, 5). Seine Qualität wurde in altbewährter Manier gepriesen, der Phrasenschatz der NS-Zeit war noch bekannt: „Milei ist also kein chemisches Erzeugnis, sondern setzt sich aus den natürlichen Bausteinen der Milch zusammen. Hochwertiges Milcheiweiß – dem Hühnereiweiß biologisch gleichwertig – finden wir in Milei wieder. Freuen wir uns, daß es unseren Milchforschern gelungen ist, ein so hochwertiges Erzeugnis zu entwickeln. Dadurch kann man im Haushalt viel Geld einsparen und billiger kochen, braten und backen“ (Durlacher Tageblatt 1949, Nr. 117 v. 17. Dezember, 3).

In der Tat investierte die Milei GmbH nicht nur in den Fortbetrieb, sondern auch in neue Technik. 1946 wurden leistungsfähigere Rolltrockner eingeführt (Holmes und Kefford, 1946, 5). Karl Kremers, mittlerweile in Eislingen a.d. Fils ansässig, arbeitete kontinuierlich an der Produktionstechnik. Noch 1953 wurde ein Verfahren zur Gewinnung eines schlag- und backfähigen Milcheiweißes patentiert (Fette, Seifen, Anstrichmittel 53, 1953, 561). Weitere Patente folgten (Chemisches Zentralblatt 127, 1956, 138).

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Weiterhin Sparsamkeit (Südkurier 1949, Nr. 138 v. 22. November, 7 (l.); ebd., Nr. 146 v. 10. Dezember, 7)

Dennoch konnte sich Milei in der Nachkriegszeit als Markenartikel immer schlechter behaupten. Man kaufte und verarbeitete es, teils dankbar, war zugleich aber dessen überdrüssig und wollte wieder „richtige“ Eier haben. Leicht angeekelt hieß es Anfang 1949 etwa in Salzburg: „In diesem Aufruf kommen daher wieder die berühmten ‚Marshall-Fette‘ und das ‚Milei‘ zur Ausgabe als Ersatz für unsere heimischen Eier und Butter“ (Salzburger Tagblatt 1949, Nr. 28 v. 4. Februar, s.p.). Obwohl begehrt, wurde Milei auch als „künstliches Ersatzmittel“ (Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4) verdammt. Die Milei-Werbung hielt dagegen, verwies auf den „großen Kraftquelle der Milch“ und auf dessen „zauberhafte Verwandlungen“ durch moderne Technik (Was ist eigentlich Milei?, Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 2, 1948, 194). Doch all das war nur Imagination, denn Einkommen und die Höhe der Eierpreise sollten über die künftige Marktstellung von Milei entscheiden. Auch die Neugestaltung der Milei-Werbung durch Anton Stankowski brachte Anfang der 1950er Jahre keinen durchschlagenden Erfolg bei den Verbrauchern (Neuburg, 1951). Die Gewissheit der NS-Planer trog, die schon früh darauf gesetzt hatten, dass Milei „auch in kommenden Friedenszeiten seine Bedeutung weiter behalten und besonders Deutschlands Einfuhrabhängigkeit an Trockenei beseitigen“ werde (Neue Entwicklungen in der Nahrungsmittelwirtschaft der Welt, Die deutsche Volkswirtschaft 10, 1941, 542-543, hier 542).

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Milei als Dachmarke bewährter Spezialartikel (Deutsche Lebensmittel-Rundschau 44, 1948, Nr. 11, V)

Die Milei GmbH erweiterte nach Gründung der Bundesrepublik ihre Produktpalette, fügte Zwischenprodukte für Nachspeisen und Karamellwaren hinzu. Die mit gleichem Namen bezeichneten Präparate veränderten sich auch durch neue Maschinen, Verfahren und Zusatzstoffe. In der Werbung ließ man dies durchaus anklingen, schrieb von neuen Milcheiweiß-Erzeugnissen (Die Küche 49, 1953, Nr. 3, II). Angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von frischen Eiern, steigenden Eierimporten aus den Niederlanden und Dänemark und einer langsam wachsenden Kaufkraft konzentrierte sich die Milei GmbH jedoch verstärkt auf gewerbliche Zwischenprodukte. 1954 bewarb man etwa Milei WS für „Negerküsse“ und Waffelfüllungen, Milei G III E für „sahniges, zartes und geschmeidiges Eis“ (Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 16, 27; ebd., Nr. 50, 27). Als Markenartikel endete die Geschichte von Milei in den 1950er Jahren. Im gewerblichen Bereich, in Form von Zwischenprodukte konnte sich die Dachmarke jedoch weit länger behaupten. Milei wurde weiter konsumiert, doch die Konsumenten wussten nicht, was in ihren Produkten enthalten war – und kümmerten sich darum auch nicht wirklich.

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Billiger als Eier: Milei-Werbung für Bäckereien und Konditoreien 1949 (Die Küche 53, 1949, Nr. 1, IV (l.); ebd., Nr. 2, II)

Wie bewerten?

Milei war eine der erfolgreichsten Lebensmittelinnovationen der NS-Zeit. Anders als ähnliche Eier-Austauschstoffe wurde es zu einem Markenartikel, zu einem allseits bekannten Hausnamen. Verbraucher lernten mit dem weißen Pulver umzugehen und die Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu mildern. Milei blieb jedoch mit der Aura der Notzeiten verbunden und verschwand in den 1950er Jahren langsam aus den Regalen, um in anderer Form doch im Magen der Konsumenten zu landen.

Milei war ein Paradebeispiel für den Bedeutungsgewinn der Zwischenprodukte in der Zwischenkriegszeit. Obwohl ohne die massive staatliche Förderung kaum denkbar, war es kein prototypisch nationalsozialistisches Konsumgut, sondern eine Konsequenz der durch den Ersten Weltkrieg vielfach zerbrochenen internationalen Arbeitsteilung, die in den 1920er Jahren nicht wieder etabliert werden konnte und durch die Weltwirtschaftskrise vollends zerbarst. Er steht für nationale Kraftanstrengungen, wie es sie nicht nur im Deutschen Reich gegeben hat.

Staatliche Stellen förderten preiswerte und genießbare Austauschstoffe nicht erst seit 1933. Die systematische Erforschung heimischer Ressourcen charakterisierte schon die 1920er Jahre. Volkswirtschaftliche und machtpolitische Überlegungen dominierten, an Krieg dachten die meisten Protagonisten dabei nicht. Eier-Austauschstoffe wurden in dieser Zeit nicht nur denkbar, sondern standen im Kontext der sich damals rasch entwickelnden Eiweiß- und Vitaminforschung. Sie standen für neuartige Strukturen wissenschaftlicher Forschung, für die Verbindung agrarwissenschaftlicher, chemischer, biochemischer und lebensmitteltechnologischer Arbeit. Und sie standen für eine verstärkte Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion, die sich unter dem Druck von Auslandsware vielfach als nicht wettbewerbsfähig erwiesen hatte.

Milei war demnach ein typisch „modernes“ Produkt, das es auch ohne die nationalsozialistische Machtzulassung gegeben hätte; in etwas anderer Form, vielleicht etwas später. Und doch war Milei auch ein nationalsozialistisches Konsumgut. Es diente nicht als beliebiges Zwischenprodukt, als schlichtes preiswertes Angebot für Konsumenten. Es diente von Beginn an der Rückendeckung einer kriegerischen Machtpolitik, als Garant für den Herrschaftsanspruch des NS-Regimes. Milei profitierte vom Kriegsbeginn, ohne diesen wäre das deutsche und europäische Produktions- und Vertriebsnetzwerk nicht denkbar gewesen. Milei stand für deutschen Forschergeist, war die zivile Seite einer Expansion, die von den genagelten Stiefeln der Wehrmacht geprägt war, von Gewalt und Destruktion der Schergen. Die Firma folgte in die eroberten Gebiete, nutzte sich bietende ökonomische Chancen in West- und Osteuropa.

Milei wurde mittels Werbung sehr unterschiedlich präsentiert. Das war nicht nur Folge eines uncharismatischen Konsumgutes, eines weißen Pulvers ohne eigene Attribute. Das spiegelte auch die unterschiedlichen Facetten eines Regimes, das Normen- und Maßnahmenstaat zugleich war, dessen Konsumgütermärkte sich analog zu denen der westlichen Kriegsgegner entwickelten, zugleich aber zeittypische Unterschiede aufwiesen. Milei wurde als wissenschaftliches Präparat beworben, seine Anwendung musste erlernt und vermittelt werden. Diese Anstrengung erfolgte angesichts der Enge einer effizienten und zugleich auf Raub ausgerichteten Lebensmittelrationierung. Sie programmierte Hausfrauen und Feldköche hin auf Zubereitungsformen und eine völkische Kraftanstrengung, appellierte nicht nur an das Mitmachen, sondern bot rationale Gründe hierfür. Einmal etabliert wurde Milei zu einem wichtigen Alltagsgaranten, einem verlässlichen Alltagshelfer. Dies wurde genutzt, um mit der Werbung nicht nur wirtschaftliche Ziele zu erreichen, sondern eine Mobilisierung der Bevölkerung im Sinne des Krieges, im Sinne der Bewährung und des Weitermachens bis zum (für die meisten Deutschen) bitteren Ende.

Milei konnte sich in der Nachkriegszeit behaupten, denn es war ein preiswertes, nahrhaftes und funktionales Produkt. Doch es konnte sich als Markenartikel nicht festsetzen, denn Konsumgütermärkte folgen nicht allein (und vielleicht nicht einmal primär) rationalen Überlegungen. Obwohl das Milei-Eiweiß billiger war als das gackernder Hühner, war es doch mit der Enge und Not der Kriegszeit verwoben. Das Hühnerei, ein morgendlicher Proteinschub am Frühstückstisch und Symbol für eine neue alte Normalität, war anders bewertet, Ausdruck einer prosperierenden neuen alten Zeit. Es dauerte einige Zeit, bis die Massenproduktion von Eiern und dann Geflügel auch in deutschen Landen einsetzte – doch das sah man weder dem Ei, noch dem Gefrierhuhn an.

Milei verschwand als sichtbarer Markenartikel, blieb als Zwischenprodukt jedoch unsichtbar präsent. Hier kommen vielleicht wir mit ins Spiel, wir, die wir nicht recht wissen, was wir vom Einkauf schließlich mit nach Hause tragen. Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch von der Herkunft der Ingredienzien und Zwischenprodukte wissen wir wenig, von ihrer Geschichte noch weniger. Wir essen willig und fügsam, folgen den so unterschiedlichen Suggestionen der Werbung, die uns andere Geschichten nahebringen, solche, die wir hören sollen, denen wir gerne lauschen, um zu werden, was wir gerne wären – getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft, nach Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges oder einfach, weil wir all dies nicht an uns heranlassen wollen.

Uwe Spiekermann, 17. April 2021

„Mock Food“ – Eine kurze historische Horizonterweiterung

„Mock Food“? So bezeichnet man in den USA Lebensmittel und Speisen, die ihre eigentliche Beschaffenheit verdecken, die den Konsumenten augenzwinkernd täuschen. Denn natürlich ist ihre andere Zusammensetzung bekannt, wird teils stolz kommuniziert, gründet bei Produkten darauf doch der Markterfolg. Bei meinem letzten Aufenthalt in Kalifornien hatte ich wissensbegierig ein neues Leitprodukt dieser Marktsegmentes geordert: $8,99 kostete der Beyond Meat Burger im kargen Ambiente eines Jack’s Jr. Fast-Food-Restaurants. Dieser Burger ist ein Burger, doch er ist kein Burger.

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Ein wohlverpackter Burger „Beyond Meat“

Die Debatten in Deutschland über den neuen vegetarischen Wunderklops hatte ich natürlich im Hinterkopf: „Beyond Meat steht für fleischlose die [sic!] Alternative zum klassischen Burger-Patty und ist der Hype des Jahres – ohne Gentechnik, ohne Soja und vegan!“ Obwohl schon zuvor erhältlich, etwa beim Hildesheimer Systemgastronomen Café del Sol, begann der Medienhype im Mai 2019. Lidl lud Burger-Patties in seine Regale, die burgeraffine Kundschaft kaufte diese leer. Das lockte noch mehr Käufer, vermeintliche Knappheit hat in Zeiten des Überflusses Signalwirkung. Die Lieferschwierigkeiten blieben allerdings bestehen, ein „Shit-Storm“ folgte. Netto und Real versorgten die darbenden „Mock-Food“-Willigen dennoch mit dem aus Erbsenprotein, Pflanzenölen und Gewürzen bestehenden Ersatzburger (Stern 2019, Ausg. v. 16. Juni; Merkur 2019, Ausg. v. 19. September). Andere folgten: Next Level Burger bei Lidl, Wonder Burger bei Aldi, mehr wären zu erwähnen. Die Medienresonanz war ausgezeichnet, die Produkteinführung lehrbuchgerecht erfolgt. Schade nur, dass spätere Tests Qualitätsmängel monierten: Öko-Test gab dem „Beyond Meat“ Burgersubstitut nur ein „ausreichend“, monierte einen stark erhöhten Gehalt an Mineralölbestandteilen sowie den Einsatz eines geschmacksverstärkenden Hefeextraktes (Öko-Test 2019, Ausg. v. 24. Oktober). Auch der Spiegel ließ testen, und das Kreuznacher Labor Dr. Haase-Aschoff fand das Rauch-Aroma Grillin, einen nicht unproblematischen Stoff, zuvor nur Experten bekannt (Der Spiegel 2019, Ausg. v. 28. Dezember). Beyond Meat antwortete gemäß Krisenmanagement-Handbuch: Das Unternehmen gelobte Besserung, verwies ansonsten auf Probleme in der Lieferkette. Hätte ich dies alles zuvor gewusst, hätte ich dennoch probiert. Einverleiben ist Forschungsarbeit.

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Der im Oktober 2019 bei Jack’s Jr. eingeführte Beyond BBQ Cheeseburger lockt

Den Hype in Deutschland hatte ich mitverfolgt, konnte ihn aber nicht recht nachvollziehen. Fleischersatz hat schließlich eine lange, weit über ein Jahrhundert zurückreichende gewerbliche Geschichte. Allerdings ist Beyond Meat kein tradierter Ökoanbieter. Das Unternehmen wurde 2009 nahe von Los Angeles mit Startkapital aus sehr unterschiedlichen Quellen gegründet, die von Tierrechtsaktivisten bis hin zum größten US-Fleischproduzenten Tyson Food reichten. Am Anfang standen Geflügelsubstitute (Beyond Chicken), ab 2013 auch über die größte, mittlerweile in Besitz von Amazon stehende US-Bio-Supermarktkette Whole Foods abgesetzt. Trotz raschen Wachstums (auf knapp unter 90 Mio. $ 2018) und der Gründung einer zweiten Produktionsstätte in Missouri waren Mitte 2019 erst 400 Mitarbeiter beschäftigt – wenig angesichts einer Marktkapitalisierung von damals deutlich über 11 Mrd. $. Die Investoren setzen auf eine rosige Zukunft der Substitution von Geflügel, Rind- und Schweinefleisch durch pflanzliche Produkte.

Beyond Meat steht für heutiges „Mock Food“ – ein Neologismus, der gegenwärtig vorwiegend aus den USA in die an Food-Komposita nicht arme deutsche Gegenwartssprache schwappt. Und doch: „Mock Food“ deckt ein breiteres Spektrum ab, breiter jedenfalls als vegetarische resp. vegane Fleischersatzprodukte. Im Deutschen fehlt ein überzeugender Dachbegriff, ein Sprachsubstitut. Stattdessen verwendet(e) man Begriffe wie Surrogate und Ersatzstoffe (vor allem bis in die 1930er Jahre), Austauschstoffe (nationalsozialistische Sprachpflege) oder das bis heute weit verbreitete Plastikwort Substitute. Sie stehen sämlich für Produkte im öffentlich-kommerziellen Raum. Im hauswirtschaftlichen Bereich sprach man dagegen seit langem von Resteküche, benutzte ansonsten die tradierten Speisenbezeichnungen, wohl wissend, dass der falsche Hase nie gehoppelt hat.

„Mock Food“ aus gastronomischer Sicht

Will man der Breite von „Mock Food“ gerecht werden, gilt es also den Blick zu weiten. Tut man dies, befindet man sich allerdings erst einmal im Feld der Alltagsküche. Denn marktgängige Substitute wie „mein“ Burger verweisen zurück auf häusliche Speisen (vgl. zur Strukturierung Lynne N. Olver, Mock Foods, in: Andrew F. Smith (Hg.), The Oxford Companion to American Food and Drink, Oxford 2003, 391-392). Setzen wir uns, entfalten das gastronomische Panorama: Bei „Mock Food“ wird erstens eine Hauptzutat ausgetauscht. Ein gutes Beispiel ist Schildkrötensuppe, hierzulande lange Zeit erfolgreich vom Frankfurter Feinkostanbieter Lacroix in Dosen gefüllt und als Edelsuppenpräparat an Restaurants und Haushalte verkauft wurde. Seit 2002 ist sie in Deutschland verboten, eine Referenz an Tier- und Artenschutz. Doch schon lange zuvor gab es Mockturtlesuppe, bei der das Fleisch der majestätischen Kriechtiere durch das der auf raschen Tod gezüchteten und ungeschützten Kälber ersetzt wurde. Will man es heimeliger haben, so sei an Kinder- oder Damenpunsch erinnert. Alkohol wird darin durch Saft, gar fruchtigen, ersetzt. Zweitens bietet „Mock Food“ ein Geschmacksäquivalent. Ähnlich sind etwa Persipan (aus Pfirsich- oder Orangenkernen) und Marzipan (aus Mandeln), Kuvertüre und Tafelschokolade oder aber der vor einigen Jahren breit diskutierte Analogkäse auf Tiefkühlpizzen und anderen Köstlichkeiten. Wer es süffiger haben möchte, sei auf Knickebein hingewiesen, ein Liköranalogon mit Eidotter. Weiter zurück noch reicht drittens die Substitution der Form. Die prächtigen Tischdekorationen des französischen Konditors und Chefkochs Marie-Antoine Carême (1784-1833) bestachen das diplomatische Europa und setzten Maßstäbe für den Einsatz von Lebensmitteln für Tafelaufbauten. Das diente dem Pläsier des Adels, sorgte für Erstaunen und Kritik in bürgerlichen Kreisen. Doch es waren dann die US-amerikanischen „Robber Barons“ und Multimillionäre, die vor dem Ersten Weltkrieg, teils auch danach, neue opulente Maßstäbe setzten. Auch hier gab es deutlich preiswertere Varianten, etwa die zahlreichen vegetarischen Frikadellen oder Braten, die der Ceres huldigten. In den USA gibt es seit 2006 das viel diskutierte Tofurkey, ein gewürztes Soja- oder Weizenkomprimat, das während des Erntedankfestes die weltoffene Welt der Nicht-Fleischesser materialisierte. Wer es kleiner deutsch möchte, erinnere sich an Deutsches Beefsteak, das nicht aus der Oberschale stammt, sondern aus Tatar besteht.

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Tomatenbraten: „Mock Food“ substitutiert die tradierte Form des Sonntagsbratens (Kurt Klein, Die fleischlose Küche für Gesunde und Kranke, 10. Aufl., Hamburg s.a. [1940], Taf. V)

Eine vierte Variante von „Mock Food“ orientiert sich ebenfalls am Preis, steht für billigere Produkte und Speisen mit gleicher Funktion. Ein gutes Beispiel hierfür ist das ehedem Kunstbutter genannte Fett, heute als Margarine voll etabliert. In Kochbüchern findet man das sog. blinde Huhn, ein deftiges Eintopfgericht, bei dem das Geflügel allerdings durch Kochwurst oder Bratenreste ersetzt wird (Davidis-Schulze, Das neue Kochbuch für die deutsche Küche, hg. v. Ida Schulze, 11. erw. Aufl., Bielefeld/Leipzig s.a. [1941], 84). Einfaches „Mock Food“ sind fünftes Speisen und Produkte, bei denen teure Zutaten reduziert werden. Welfenspeise kann man auch mit weniger als einem Dutzend Eiern schmackhaft kredenzen und nicht jeder merkt, ob die Waffeln aus ein, zwei oder drei Eier zubereitet wurden. Kuchen und Torten mit weniger Butter werden heute gar bevorzugt, die Linie, sicher. Am Ende dieser ersten Annäherung stehen sechstens dann die vegetarische Substitute. Gewiss, hinweg mit dem Fleisch! Doch auch Eier müssen ersetzt werden. Und viele überzeugte Vegetarier atmeten auf, als der aus „Leichen“ hergestellte Fleischextrakt endlich durch Gemüse- oder Hefeextrakt ersetzt werden konnte.

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Fleischextrakt ohne Fleisch (Vegetarische Warte 62, 1929, 109)

„Mock Food“ im gesellschaftlichen Kontext

„Mock Food“ fand und findet also einen vielgestaltigen Platz in der Küche und auch in den Produktwelten. Doch dies ist immer noch ein eng gefasstes Bild. Angemessener wird es, wenden wir uns den gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen dieses Nahrungssegmentes zu (vgl. auch Patricia Roberts, In Praise of Mock Food, Gastronomica 3, 2003, Nr. 2, 17-21; Trends: Why in the world do we need fake food, Pioneer Press 2015, Ausg. v. 14. November). Beginnen wir erstens mit dem Vegetarismus, heute – noch engagierter – dem Veganismus. „Mood Food“ dient der Abgrenzung vom tradiertem Essen, ist dann primär ein Fleischersatzstoff. Solche begleiten die vegetarische Bewegung von Anbeginn. Nun, ich will Sie nicht in die Antike entführen, sondern beginne mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Beyond Meat ist nämlich ein Wiedergänger, Nachklang der schon damals weit verbreiteten Fleischsubstitute. Vor dem ersten Weltkrieg hatte sich bereits eine kleine, nur mehrere Tausend zählende Gemeinschaft organisierter „Vegetarianer“ zusammengefunden, die Grundlage einer nicht unbeträchtlichen Nischenökonomie von Gewerbebetrieben, Reformhäusern, vegetarischen Gaststätten und Verlagen war. Überzeugt von ihrer Mission der Weltverbesserung durch Verzicht, versuchte sie die Mehrheitsgesellschaft für ihr heilbringendes Anliegen zu gewinnen. Ausstellungen waren dafür ein probates Mittel. Auf der Ausstellung für fleischlose Ernährung in Frankfurt/M. wurde 1911 – ähnlich wie heute – argumentiert, dass fleischlose Ernährung nicht teuer sei, „wenn sie richtig zubereitet wird, und die Zutaten mit Überlegung gewählt werden.“ Braten aus Hülsenfrüchten kosteten demnach nur ein Viertel der üblichen Fleischbraten. Dort konnte man aber auch Pflanzenwurst kosten, „die nicht nur der Leberwust ähnlich sieht, sondern auch gut schmeckt“ (Vegetarische Warte 44, 1911, 108). Entsprechende Köstlichkeiten alternativer Küche wurden zumeist aus Nüssen bzw. Leguminosen produziert. Soja war bekannt, seit 1908 als Importöl auch Massenware, war jedoch noch kein Grundstoff für „Mock Food“.

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Fleischalternativen der Nuxo-Werke 1913 (Vegetarische Warte 46, 1913, H. 8, 3. S. vor 73)

Dennoch gab es vor dem Ersten Weltkrieg deutliche Kritik an den nicht nur in der Nischenpresse beworbenen Fleischersatzprodukten. Wilhelm Kiefer, ein überzeugter Vegetarier aus Freiburg im Breisgau, ereiferte sich Anfang 1913: „Ohne lange Einleitung will ich eine der Dummheiten herausgreifen: Fleischersatz! Nicht, als ob ich ein Gegner dieser Speise an sich wäre; aber ich bin ein Gegner schwächlicher oder allzu höflicher Zugeständnisse. Warum sagt man denn nicht einfach: Getreide-Bratenmasse? Warum denn Fleisch, Fleisch und noch einmal Fleischersatz? Muß uns die Höflichkeit der Herren Fabrikanten denn täglich mit dem Worte ‚Fleisch‘ an die Banalitäten des spießbürgerlicher Ernährungsrummels erinnern!“ Doch damit nicht genug, entsprechende Dummheiten fanden sich auch auf den Menükarten vegetarischer Restaurants: „Da lesen wir: Vegetarische Schnitzel, falscher Hase, Nußsteak, vegetarische Cotellets usf. – Ich habe mich schon gewundert, daß die Eifrigsten noch nicht zum vegetarischen Schweinebraten, oder zur vegetarischen Metzelsuppe mit vegetarischer Blut- und Leberwurst übergegangen sind“ (Vegetarische – Dummheiten, Vegetarische Warte 46, 1913, 15-16, hier 15). Die Reaktionen waren harsch, warben gleichzeitig aber um Verständnis für das vegetarische „Mock Food“. Karl Zech, Inhaber des Düsseldorfer Gesundheitsbasars „Lebensquell“, meinte erläuternd: „Wir haben es hier mit der Auswirkung des Gesetzes von Nachfrage und Angebot zu tun. Die Fabrikanten, meist keine Vegetarier, dafür umso mehr Kaufleute, wissen, da der bisherige Fleischesser nichts von ‚Getreide-Bratenmasse‘ und ähnlichen Sachen wissen will, auf Fleisch schwört, nach Fleisch verlangt und sich schließlich mit einem Ersatz begnügt, wenn ihm das Fleisch wegen Krankheit vorenthalten werden soll, oder wenn es ihm zu teuer ist.“ Auch taktisch sei es richtig, der Mehrheit entgegenzukommen: „Das mit Fleisch- und Alkoholgiften überladene Gehirn eines Fleischessers begreift nicht immer so leicht die einfache Logik des vegetarischen Gedankens. Es ist schon genug gewonnen, wenn der bisherige Fleischesser diese Gifte nicht mehr zu sich nimmt, und die Folge wird dann sein, daß er sich allmählich mehr und mehr mit der fleischlosen Ernährung befreundet“ („Vegetarische Dummheiten“, Vegetarische Warte 46, 1913, 39). Dem Idealisten Wilhelm Kiefer reichte das nicht, ging es ihm doch um die Reinheit der Bewegung, war ihm wichtig, „daß die vegetarische Bewegung kein Deckmantel für kapitalistische Uebereiferungen und Ueberschwänglichkeiten sein will. […] Denn es würde schlecht um dem Fortschritt unserer Bewegung bestellt sein, setzte man allzuviele Hoffnungen auf die Werbekraft von Ersatz-Nahrungsmitteln“ (Vegetarische Dummheiten in zweiter Auflage, Vegetarische Warte 46, 1913, 66-67, hier 66). Es gab viele Vorläufer der Beyond Meat-Produkte, allesamt begleitet von kritischen Rückfragen innerhalb und außerhalb der vegetarischen Nische.

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Pflanzenfleisch statt Tierfleisch – Werbung für Obodo (Vegetarische Warte 41, 1908, Anzeigenanhang)

Es blieb nicht bei vegetarischen Würsten aus Leguminosen oder aber dem Edener Erfolgsprodukt „Gesunde Kraft“. In den 1920er, vor allem aber in den 1930er Jahren kamen zahlreiche Sojaprodukte auf (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 512-521). Während das vegetarische „Mock Food“ während des Kaiserreichs nie größere Bedeutung gewinnen, prägten Sojabohnen als Lebensmittelinhaltsstoffe eine beträchtliche Zahl von Alltagsspeisen. Etwa fünfzig Komponenten der Wehrmachtsverpflegungen enthielten Soja, die Fleischersparnis lag bei etwa sechs Prozent des Gesamtbedarfs. Ohne Sojamampf kein Kampf. Fleischersatz blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein Nischenprodukt, auch wenn die 1968 erfolgte Markteinführung des Sojamehlproduktes TVP an den Hype um den Beyond Meat-Burger erinnert. Die Zeitungen berichteten damals voller Zukunftslust über das mit Schweine- und Rindfleischgeschmack angebotene „Mock Food“, erste Chargen waren rasch ausverkauft. Doch die hehre Rede über vermeintliche Lebensmittel an der Schwelle zum Morgen blieb inhaltsleer, stattdessen machte sich rasch Ernüchterung über das Kunstfleisch Platz (Spiekermann, 2018, 730-731). Heutzutage besteht Fleischersatz weniger aus Soja, eher aus Weizen, Dinkel, Lupinen und Leguminosen. Ein Blick in die jeweils neueste „Schrot und Korn“, einer Kundenzeitschrift von Bioläden, gibt reichhaltige Einblicke. Wilhelm Kiefer wäre wahrlich überrascht gewesen.

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Nährkraft und Kaffeegenuss: Werbung für Kathreiners Kneipp’s Malz-Caffee 1891 (Berliner Tageblatt 1891, Nr. 578 v. 14. November, 9)

Gesellschaftlich und auch ökonomisch wesentlich wichtiger war zweitens „Mock Food“ aus sozialen Gründen. Damit betreten wir das weite Feld der Nahrungssurrogate. Rübenzucker ersetzte Rohrzucker, Zichorien- und Malzkaffee erlaubten billigen Kaffeegenuss, die Kunstbutter trat an die Seite der „guten“ Butter und wurde 1887 schließlich „Margarine“ benannt, erhielt so eine eigene Produktidentität. Das Wortfeld „Kunst“ gewann dadurch gänzlich neue Aspekte, mögen Kunsthonig, Kunstlimonaden oder Kunsteis auch heute kaum mehr bekannt sein. Festzuhalten aber ist, dass „Mock Food“ aus der Nische durchaus heraustreten konnte, wenn der Preis und die soziale Akzeptanz stimmten.

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Fast nikotinfrei: Werbung für ärztlich überall empfohlene Fastzigarren (Lustige Blätter 29, 1914, Nr. 2, 18)

Zukunftsgewandtes „Mock Food“ entstand drittens aus gesundheitlichen Gründen. Hierfür steht die breite Palette der Light-Produkte, auch sie ein Kind des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, auch sie seither immer wieder verfeinert, teils gar an die Seite des Ausgangsproduktes tretend. Das galt insbesondere für die zahlreichen „entgifteten“ Genussmittel: Zigarren und Zigaretten wurden nikotinarm, dann gar „nikotinfrei“. Der Alkoholgehalt des Bieres konnte mit moderaten Geschmackseinbußen auf ein bis anderthalb Prozent reduziert werden. Entkoffeinierter Kaffee folgte. Der weltweit erfolgreiche Kaffee HAG demonstrierte, dass „Mock Food“ durchaus munden, das Ausgangsprodukt durchaus substituieren kann. Während es bei diesen Lightprodukten um die Reduktion gesundheitsgefährdender Wirkstoffe ging, begannen Wissenschaftler und Unternehmer zudem, Makronährstoffe auszutauschen. Früh erfolgreich war dies bei den kohlehydratfreien Zuckeraustauschstoffen. Saccharin kam 1884 auf den Markt – und die Liste der Süßstoffe bis hin zu Stevia ist lang. Deutlich mehr Angebote und auch Rückschläge gab es bei der Substitution der Makronährstoffe Fett und Eiweiß. Diabetikernahrung war ein frühes und recht breites Marktsegment, ebenso fettreduzierte Produkte. Hier stießen die Produzenten jedoch immer wieder auf die Grenzen der technologischen Handhabung der Nahrung und ihrer Inhaltsstoffe.

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Die Nöte der Kriege kaschiert: Deutsche Zigarre und Deutscher Familientee aus heimischem Anbau (Lustige Blätter 33, 1918, Nr. 27 (l.); Wiener Illustrierte 61, 1942, Nr. 24 v. 17. Juni, 8)

Viertens schufen Wirtschaftskrisen und vor allem Kriege ihr stets eigenes „Mock Food“. Diese Notnahrung diente der Aufrechterhaltung des nutritiven Scheins angesichts von Versorgungsschwierigkeiten und Rationierung. Sprachpflege war ein wichtiges Element von Unternehmern und Bürokraten: Deutscher Tabak entstammte vielfach deutschem Anbau, wurde jedoch, je länger, je mehr, mit Blättern aller verfügbaren Pflanzen gestreckt. Ähnliches galt für Deutschen Tee. Deutscher Pfeffer bestand häufig aus Mischungen von Seidelbast und Basilikum. Wichtiger noch war der im Ersten Weltkrieg erst spät regulierte Markt der Ersatzmittel. Wer aber konnte schon ahnen, dass „Kamerad Henkel, der Feuerpunsch!“ lediglich aus gefärbtem und gewürztem Kirschsaft bestand. Bis Ende 1919 wurden mehr als 12.000 Ersatzmittel genehmigt, mehr als die Hälfte Getränkeimitate, doch auch über 800 Wurstersatzmittel.

Abseits dieser vier Hauptfelder von „Mock Food“ gibt es noch zahlreiche weitere Erscheinungsformen, die hier nur angerissen werden können. Die Gastronomie hat seit ihrem Entstehen im späten 18. Jahrhundert immer wieder versucht, ihre Gäste zu überraschen. Wer weiß schon, was im Omelette Surprise enthalten ist? Kunstvolles „Mock Food“ kreierte gewiss die in den 2000er Jahren breit diskutierte Molekularküche, ein ansprechendes Amalgam von Lebensmitteltechnologie und Spitzengastronomie (Toni Tarver, Science + Food = Fine Cuisine, Food Technology 64, 2010, Nr. 2, 38-40, 42-43, 45; Christiane Pakula nebst „Ko-Autor“ Rainer Stamminger, Molekulare Gastronomie – Gastrotrend und Wissenschaft, Ernährung im Fokus 9, 2009, 8-12). Neue Texturen, Farben und Formen täuschten sinnesfroh die Sinne, auch wenn die erhoffte Breitenwirkung ausblieb. Derartige Täuschungen muss man sich allerdings leisten können.

„Mock Food“ kann zudem Ausdruck von Emotionen sein, Soul Food im wohlverstandenen Sinne. Migrantenküchen entstehen nicht nur aus Geschäftssinn, sondern bilden eine Brücke zur imaginären Heimat, mögen die zubereiteten Gerichte auch nicht dem entsprechen, was man kannte, was man schätzte. Weiter geht es: „Mock Food“ war historisch auch eine Folge der wesentlich ausgeprägteren Saisonalität der Alltagskost. Sie führten zu einer breiten Palette von saisonalen Speisen, die den Fährnissen der kalten Jahreszeit zumindest verbal trotzten. Ähnliche Funktionen erfüllten religiöse Vorschriften, zumal während der ehedem zahlreichen Fastenzeiten. Kommerzieller aufgeladen waren und sind dagegen die Camouflagetechniken der modernen Lebensmitteltechnologie, die halfen, Fischreste zu Fischwurst zu verdichten, Filets zu Fischstäbchen, Geflügelfleisch zu Chicken Nuggets. „Mock Food“ demonstriert Gestaltungsmacht, ist Ausdruck der Herrschaft über die Natur, mag Formfleisch auch wenig heroisch erscheinen. Für unsere Zeit mindestens ebenso prägend ist gewiss das Recht, zumal das internationale Marken- und Wirtschaftsrecht. Denken Sie etwa an ein „Pilsner“ Bier, an Kognak, Cognac, Weinbrand und Deutschen Weinbrand. Substitute rundum, etwa bei Sekt und Champagner, Schaumwein und Cava. Damit gerät eine weitere, kaum beachtete Dimension von „Mock Food“ in den Blick, nämlich die übliche Qualitätsspreizung aller Angebote. Die Dachbegriffe, etwa „Eis“ oder „Eier“, informieren die Kunden nur rudimentär, denn ohne Zusatzinformationen oder eine praktische Prüfung ist unklar, was man erhält.

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Ein Rest bleibt noch

„Mock Food“ und semantische Illusionen

Wer über „Mock Food“ nachdenkt, kann nicht beim Beyond Meat Burger stehenbleiben. Lockreiz, Schein und Sinnestäuschung sind konstitutiv für moderne Lebensmittel und Speisen, für „künstliche Kost“. Der Unterschied zwischen dem Produkt im Warenkorb und den Produkten in unseren Köpfen prägt den Ernährungsalltag. „Mock Food“ auf eine kleine Gruppe etwa von Imitaten und Substituten zu begrenzen, wäre eine gar künstliche Isolierung eines Segmentes mit wabernden Grenzen. Die Weiten der käuflichen Dinge locken, noch stärker ihr imaginierter Nutzen.

„Mock Food“ steht daher nicht nur für einschlägig bezeichnete Produkte und Speisen. Der Begriff verweist vielmehr auf ein Grundelement von Konsumgesellschaften, nämlich semantischen Illusionen (vgl. Uwe Spiekermann, Abkehr vom Selbstverständlichen. Entwicklungslinien der Ernährung in Deutschland seit der Hochindustrialisierung, Bioskop 10, 2007, 15-22, hier 20-21). Gewiss, dieser Begriff ist nicht so knackig-eingängig wie „Mock Food“. Doch er hilft einzufangen, was durch ein Abarbeiten allein am Beyond Meat Burger übersehen würde: Konsumgesellschaften bestehen nicht nur aus Produkten und Dienstleistungen. Sie formen und prägen vielmehr Sprache, unseren eigentlichen Schlüssel zur Welt. Um die Fachsprache, die der Wissenschaftler, Ingenieure und Rechtsanwälte, muss es hier nicht gehen, mag sie auch die Absatzketten prägen.

Die grundlegenden Veränderungen der Alltagskost seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass die häufig konkreten Bezeichnungen und Kenntnisse von Küche und Markt durch immer abstraktere Begriffe abgelöst wurden. Wer sein Dorf, seine Region kaum verließ, der verstand seine enge Welt. Markterweiterungen und Verwissenschaftlichung bedurften aber breiterer Begriffe, um aus konkreten Rindern alle Rinder machen zu können, um Absatzketten zu organisieren, um eine zumindest ungefähre Vorstellung einer wesentlich weiteren Welt zu vermitteln und zu ermöglichen. Dieser Prozess ging weiter, war und ist nicht still zu stellen. Er umgriff nicht nur Produkte und Nahrungsgruppen, sondern auch die uns anregenden und leitenden Großbegriffe. Was bedeutet Genuss, Gesundheit, Qualität, Frische, Geschmack, gar Natur? Unsere Sprache suggeriert Kontinuität, obwohl die Inhalte sich teils rasant änderten. Sie wurden und werden aufgeladen vom Wissen der angewandten Naturwissenschaften und marktnah agierender Werbespezialisten, von politischen und gesellschaftlichen Akteuren. Die Folgen sind enorm: Auf der einen Seite haben wir sehr konkrete, meist rechtlich begründete Definitionen, die der Logik der Wertschöpfungsketten angepasst sind. Auf der anderen Seite aber wachsen die Projektionen, erscheinen Produkte und Dienstleistungen in anderem, gar güldenem Licht. Überbürdungen sind die stete Folge, Täuschungen und Enttäuschungen dominieren. „Mock Food“ kann helfen, diese Mechanismen in den Blick zu nehmen – just um mit mehr Realismus Tagwerk und Tagträume miteinander in Einklang zu bringen.

Uwe Spiekermann, 6. Februar 2020

Eichelkaffee – Schwaches Heilmittel und bitteres Kaffeesurrogat

Als Reichskanzler Leo von Caprivi (1831-1899) am 8. März 1893 vor den Reichstag trat, um die beantragten Flottenausgaben zu begründen, nutzte er die Kraft der Geschichte: „Wir brauchen Rohstoffe, um unsere Fabriken im Stand zu halten, wir brauchen Kolonialwaaren, wir sind verwöhnter als unsere Väter und Großväter, die zur Zeit der Kontinentalsperre mit Eichelkaffee sich begnügten“ (Verhandlungen des Reichstags, Bd. 129, 1499). Nein, mit Surrogaten wollte sich das neue Deutsche Reich damals nicht mehr begnügen, wollte nach echtem Bohnenkaffee aus den eigenen Kolonien streben und die Schmähungen der napoleonischen Zeit hinter sich lassen. Importe waren die Achillesfersen einer Industriegesellschaft, Selbstgenügsamkeit war in Zeiten der Globalisierung nicht mehr möglich. Und doch: Caprivis historischer Exkurs war mehr als fragwürdig. Auch im frühen 19. Jahrhundert wurde der verordnete Wirtschaftskampf gegen Großbritannien nicht klaglos hingenommen, dessen ökonomische Folgen unterminierten vielmehr die französische Dominanz in Europa. Und Eichelkaffee war damals eine seltene Ausnahme, anders als die Zichorie, die als Kaffeesurrogat großflächig angebaut und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein wichtiges Heißgetränk war.

Doch nicht allein der Reichskanzler irrte. Immer wieder finden sich im langen 19. Jahrhundert Verweise auf den Eichelkaffee als einheimisches Ersatzmittel für den kolonialen Kaffee, als preiswerten Bauernkaffee. Einen Höhepunkt erreichten derartige Narrative vor allem im Ersten, bedingt wieder im Zweiten Weltkrieg. Es dürfte auch dieses Erbe gewesen sein, dass dem Eichelkaffee selbst bei vielen fachkundigen Historikern und Volkskundlern wie Günter Wiegelmann (1928-2008), Hans-Jürgen Teuteberg (1929-2015) und Roman Sandgruber ein Platz als nicht unwichtigem Ersatzgetränk für den Bohnenkaffee im 18. und 19. Jahrhundert eingeräumt wurde.

Was also hatte es mit dem Eichelkaffee in dieser Zeit auf sich? Meine Argumentation im Folgenden ist einfach und hoffentlich gut nachvollziehbar. Aus meiner Sicht wurde der Eichelkaffee seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zwar vielfach als Kaffeesurrogat empfohlen, doch als solches hat er sich nicht durchsetzen können. Bedeutung gewann er seit den 1770er Jahren, als einige aufgeklärte Mediziner die Heilkraft der Eicheln näher erkundeten und den daraus bereiteten Trank als Universalheilmittel propagierten. Diese Erwartungen waren weit überzogen, teils falsch begründet. Der Eichelkaffee wurde in der ärztlichen Praxis gleichwohl verordnet, einerseits als stopfendes Mittel bei Magen-Darm-Erkrankungen, anderseits als stärkendes Getränk bei Auszehrung und Skrofulose. Das so bestehende Gesundheitsrenommee erweiterte die Akzeptanz für den recht bitter schmeckenden Eichelkaffee und etablierte ihn Mitte des 19. Jahrhunderts auch als Surrogat vornehmlich in Süddeutschland und Cisleithanien. Im späten 19. Jahrhundert kam dies an ein Ende: Als Heilmittel wurde der Eichelkaffee vom Eichelkakao abgelöst, als Kaffeesurrogat vom Malzkaffee. Im Ersten Weltkrieg kam es nochmals zu einer kurzfristigen mehr appellativen denn realen Verwendung als Kaffeeersatz, ebenso am Ende und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Eichelkaffee hat heutzutage nur noch wenige Freunde, teils aus der Kernbioszene, teils Enthusiasten einer vermeintlichen natürlichen Medizin. Seine Geschichte ist also verwoben und voller Missverständnisse. Wohlan, ich darf Sie bitten, mit mir dem Geschehen näher zu treten.

Im 18. Jahrhundert war die Eiche die häufigste Baumart in Mitteleuropa. Ihr Holz diente zum Bauen, ihre Früchte, die Eicheln, „zur Mastung der Schweine und des Rindviehes“ (Georg Adolph Suckow, Oekonomische Botanik, Mannheim/Lautern 1777, 31). Der aus dem Jemen stammende Kaffee war demgegenüber ein Neuankömmling. Er wurde schon im späten 17. Jahrhundert zuerst im asiatischen Kolonialreich der Niederlande, dann auch im britischen Machtbereich angebaut. Anfang des 18. Jahrhunderts etablierte sich schließlich eine Plantagenökonomie in der Karibik und an den Atlantikküsten Südamerikas. In Westeuropa war Kaffee schon Mitte des 17. Jahrhunderts Konsumgut, in die deutschen Lande gelangte er seit ca. 1680 (vgl. Günter Wiegelmann, Alltags- und Festspeisen, Marburg 1967, 165-171). Trotz seiner Verbreitung auch durch Kaffeehäuser blieb er bis ins zweite Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts selten und teuer, anschließend setzte er sich jedoch bis zur Jahrhundertmitte als prestigeträchtiges Getränk des höheren Bürgertums durch. Soziale und auch wirtschaftliche Konflikte waren die Folge, denn einerseits wurde durch die Importe den merkantilistisch geführten Staaten und Städten Kapital entzogen, anderseits konnte sich die Mehrzahl der Bevölkerung das Modegetränk eigentlich nicht leisten. Anders als in den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien konnte man in deutschen Landen nicht auf Produkte aus eigenen Kolonien zurückgreifen. Die Konsequenz war einerseits zwischen etwa 1760 und 1780 eine staatliche Einschränkung des Kaffeekonsums, teils durch Verbote, teils durch Verteuerungen mittels Zöllen und Steuern. Anderseits begünstigte dies die Entstehung einer heimischen Kaffeesurrogatproduktion. Davon profitierte vor allem der Zichorienkaffee mit Schwerpunkten in Braunschweig und der Magdeburger Börde (Sabine Ulrich, Industriearchitektur in Magdeburg, Magdeburg 2003, 241-262).

Es wäre allerdings verfehlt, Kaffee- und Surrogatkonsum als strikte Gegensätze zu begreifen. Im Gegenteil wurde die Verbreitung des Kaffees durch die breite Nutzung und Verfügbarkeit von Surrogaten wesentlich befördert. Billige Ersatzmittel etablierten das „Kaffee“-Trinken auch bei denen, die sich Kolonialware schlicht nicht leisten konnten. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie kein Koffein enthielten, zugleich aber farblich und ansatzweise geschmacklich an das Vorbild erinnerten. Sie wurden von akademischen Eliten propagiert, von Priestern und Professoren, Beamten und Medizinern. Kaffee sei gefährlich, Surrogate dagegen zu empfehlen. Der Forstwissenschaftler Johann Friedrich Stahl (1718-1790) weitete 1766 dabei den Rohwarenkanon für „teutschen“ Kaffee über die gängige Gerste, über Walnüsse und Zichorien aus: „Man wählet sich gesunde vollkommene und schwere Eicheln, die weder eingerunzelt noch wurmstichig sind; schälet die Rinde vom Kern ab, und nach dieser auch die erste braune Haut, die den weissen Kern bedeckt. Wenn diß geschehen, spaltet man die weissen Eicheln entzwey: macht ordentlich Würfel daraus in der Grösse der Caffeebohnen: dörret sie auf dem Ofen auf einem Papier, bis sie recht hart werden; wobey man sich nur zu hüten hat, daß man sie nicht auf einer Seite allzulange liegen lässet, bis sie anbrennen, daher man sie zuweilen rühren muß. Sind sie so hart, wie andere Bohnen, so werden sie auf die nemliche Art, wie der recht Caffee geröstet, in der Caffeemühlen gemahlen, und kurz, wie der andere Caffee gesotten und zubereitet“ (Allgemeines oeconomisches Forst-Magazin 9, 1766, 116-117). Derart zubereiteter Eichelkaffee sei schmackhaft und aufgrund seiner adstringierenden, also zusammenziehenden Wirkung auch gesund. Wem er dennoch zu bitter sei, der könne ihn mit Kaffee vermengen – und würde dergestalt einiges Geld sparen. „Den wohlschmeckenden Eicheln-Caffee“ (Allgemeines oeconomisches Forst-Magazin 11, 1768, 316) rühmten natürlich auch andere in diesen Zeiten der Bohnenkaffeerestriktionen: „Aber auch Eicheln Caffee zuzubereiten, dürfte, ob es schon wirklich nichts ganz neues ist, gleichwohl noch nicht überall bekannt, oder versucht worden seyn“ (Vorschlag, wohlfeilen, und doch gesunden Caffee zu trinken, Der Bienenstock 2, 1769, 360-364, hier 361). Dieser kleine Einschub macht deutlich, dass die Empfehlungen offenbar wenig Widerhall fanden. Es handelt sich um Appelle, nicht um Berichte über realen Konsum. Das gilt für die meisten Hinweise auf Eichelkaffee. Entsprechend fehlt er in vielen zeitgenössischen Übersichten, wird im Falle eines Falles gar abgelehnt: „Die Eicheln welche sonst der Schweine Speise, lassen wir ihren Liebhabern, wie auch das geröstete Strohe“ (Benützte Reise durch Deutsch- und Waelschland, Augsburg 1782, 324-325). Auch der Botaniker Carl Wilhelm Juch (1774-1821) erörterte ausführlich die Vor- und Nachteile von Zichorien, Erdmandeln, Haferwurzeln und Runkelrüben, während ihm der Eichelkaffee nicht empfehlenswert schien (Europens vorzüglichere Bedürfnisse des Auslandes und deren Surrogate, H. 1: Caffee und dessen Surrogate, Nürnberg 1800, 97). Dennoch gewann er seit Mitte der 1770er Jahre an Bedeutung – allerdings nicht als Alltagsgetränk, sondern als Heilmittel.

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Referenzwerk der Eichelenpropagandisten

1774 legte der Marburger Mediziner und Alchimist Friedrich Joseph Wilhelm Schröder (1733-1778) die Ergebnisse spekulativer Ideen über die Eichenfrucht vor, die er an mehreren Patienten auch praktisch angewandt hatte. Eicheln galten ihm als Mittel, „wodurch die verstopften Drüsen im thierischen Körper wieder geöffnet werden“ (Von den Wirkungen der Eicheln, Verstopfungen der Drüsen im menschlichen Körper aufzulösen, Göttingen/Gotha 1774, 3). Sie bewirkten „zähen stinkenden Schweiß“ (Ebd., 21), dadurch die Reinigung des Körpers und eine neue Balance der Körpersäfte. Schröders kleine Broschüre ist ein gutes Beispiel für die damalige Humoralpathologie, voller spekulativer Elemente, ohne fundierte Kenntnis der Zusammensetzung der Eicheln. Der Medikus empfahl gleichwohl einen „medicinischen Caffee“ aus Eicheln, der bereits im Siebenjährigen Krieg als Notkaffee genutzt worden und dessen Konsum „gar bald wieder von selbst unterblieben“ (Ebd., 27) sei. Schröder testete den Trank an sich selbst, dann an einem Kinde, an einem Krätzigen und einem Verzehrten. Letzterer, „der ein Skelet mehr als ein menschlich Geschöpf zu seyn schien, fand in diesem Mittel bald seine völlige Nahrung und eine solche Befriedung, daß er am Ende die Eicheln den kräftigen Suppen selbst vorzog und sich einbildete, die Eicheln müßten wol recht zur Nahrung für den Menschen geschaffen seyn, weil er so augenscheinliche Wirkung davon an der Zunahme seines Körpers und seiner Kräfte wahrnahm“ (Ebd., 31). Das Resümee seines Pröbelns lautete hoffnungsfroh: „Ich glaube, daß man aus diesen Erfahrungen hinlänglich überzeugt seyn können, daß die Eichel das wirksamste, bewährteste und beynahe einzige Mittel sey in den Verstopfungen der Drüsen und selbst der Eingeweide“ (Ebd., 33-34).

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Hauptwerk des Eichelpropagandisten Marx

Schröders Spekulation wurde sofort aufgegriffen und in die medizinische Praxis überführt. Dabei tat sich vor allem der Hannoveraner Mediziner Jacob Marx (1743-1789) hervor. Er verordnete Eichelkaffee extensiv, bündelte die so gemachten Erfahrungen rasch in einer Broschüre, in der er Eicheln als „eine gesunde, stärkende und kraftmachende Nahrung“ (Bestätigte Kräfte der Eicheln, Hannover 1776, 5) pries. Weitere Fallstudien folgten, begleitet von präzisen Instruktionen für die häusliche Zubereitung eines wirksamen Eichelkaffees ([Jacob] Marx, Zwey Fälle von der Abzehrung, welche durch die Eicheln glücklich curiret worden, Magazin vor Aerzte 1, 1778, 133-142, hier 141). Damit begann die medizinische Nobilitierung der „gering geachteten Früchte der Eichenbäume“ (Ebd., 133), damit begann zugleich die wissenschaftliche Debatte. Der Kameralist Johann Friedrich von Pfeiffer (1717-1787) unterstützte die frühen Eichelpropagandisten durch Beobachtungen, nach denen in den Grafschaft Mark ein Krebskranker von Eichelkaffee geheilt worden sei (Vermischte Verbeßrungsvorschläge und freie Gedanken, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1778, 7). In den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, in denen schon 1769 bezweifelt worden war, dass die Eicheln des Nordens überhaupt Nährwert besaßen (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1769, Bd.1, 400), regte sich dagegen Kritik: Wie könne es sein, dass „die Eicheln, die in der größten Menge im thierischen Körper nichts thun, als nähren, wie können die wol in so geringer Menge so unglaubliche Wirkung haben?“ (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1778, Bd. 1, 605). Diese stammte von dem Berliner Arzt und Naturphilosophen Marcus Herz (1747-1803), der außerdem darauf hinwies, dass Eicheln schon zuvor von anderen als Heilmittel empfohlen worden seien, etwa dem Pharmazeuten und gescheiterten Kirchenreformer Arnald von Villanova (ca. 1235-1311). Doch lassen wir die wissenschaftliche Beckmesserei, zumal zahlreiche Digitalisate es heute einfach machen, weitere Belege anzuführen. Denn noch dominierte die Begeisterung für das „neue“ Heilmittel Eichelkaffee.

Mit dem Hofarzt und Assoziationspsychologen Melchior Adam Weikard (1742-1803) fand es nämlich einen weiteren prominenten Fürsprecher. Er hatte nach der Lektüre von Schröders Schrift gleich ausprobiert, ob der ihm aus der Therapie der Ruhr bekannte Eichelkaffee seinen Patienten helfen würde. Doch die Effekte blieben unmerklich. Dann aber erfolgte der Selbstversuch und Skepsis verflog: „Kurz, er ist nun mein Mittel gegen Säure, Blähung, Schwäche des Magens, Empfindlichkeit der Nerven, vielleicht auch gegen Schärfe, die auf den Nerven liegt, gegen Schwindel, Bangigkeit, u.s.f.“ (Vermischte medicinische Schriften, Stück 2, Frankfurt a.M. 1779, 160). Daher galt es diesen allgemein zu nutzen, Vorurteile zu beseitigen. Und er lockte luzid: „Bey einigen älteren und jüngeren Männern, besonders auch bey zwei Phelgmatischen, habe ich die Bemerkung gemacht, daß der Eichelkaffee mehr Stärke und Regung zum Venuswerke gab“ (Ebd., 169). Den Höhepunkt medizinischer Eicheleuphorie bildete aber gewiss die von Marx 1784 veröffentliche Geschichte der Eicheln. Abermals reihte er Fallstudie an Fallstudie, abermals empfahl er Eichelkaffee als eine Art Universalheilmittel. Eine eher skeptische Rezension bündelte die Aussagen: „Am wirksamsten hat er das Mittel bey Kachexieen und daher entstandenen wässerichten Geschwülsten, bey Verstopfungen der Drüsen, Knoten und Verhärtungen in den Lungen, daher entstehenden schleichenden Fiebern, bey Krämpfen der mit Mutterbeschwerungen und der Hypochondrie behafteten Personen, bey gehemmten oder fehlerhaften Abgang der Monatszeit, der Engbrüstigkeit und dem Krampfhusten, bey Wechselfiebern, und in allen Fällen gefunden, wo die Verdauung geschwächt und Säure in den ersten Wegen vorhanden war. Selbst den hartnäckigen Nachtripper und den weißen Fluß haben die Eicheln glücklich gehoben“ (Allgemeine Literatur-Zeitung 4, 1785, 347). Die Quintessenz war offenkundig: Trinkt Eichelkaffee und ihr werdet gesund. Derartiger Euphorie folgte die wissenschaftliche Kanonisierung: „Dieser Eichelkaffee stärket, nähret und eröffnet“ hieß es vom österreichischen Kinderarzt Heinrich Johann Nepomuk Crantz (1722-1799) (Medizinische und Chirurgische Arzneymittellehre, Bd. I, Th. I, Wien 1785, 204). Auch der frühe Neurophysiologe Johann August Unzer (1727-1799) plädierte für seinen Einsatz in der medizinischen Praxis (Medicinisches Handbuch, neue verb. Aufl., Agram 1787, 225).

Doch mit etwas Abstand wurde die Kritik am Eichelkaffee lauter. Knapp zwanzig Jahre nach Schröders Broschüre hieß es, „daß man ihn gebraucht und wieder vergessen zu haben schien,“ dass vor allem aber die ihm zugeschriebenen Effekte nicht vorhanden seien (Kaiserlich privilegierter Reichs-Anzeiger 1793, Nr. 9 v. 10. Juli, Sp. 71-72). Ein Universalheilmittel? Keinesfalls! Dass Eichelkaffee „gegen Abzehrung, Lungensucht, Mutterbeschwerde, und der Himmel weiß, für welche Krankheiten noch, nach prahlerischem Vorgeben gewinnsüchtiger Aerzte“ anzuwenden sei, sei irrig (Churfürstlich gnädigst privilegirte oberpfälzisch-staatistisches Wochenblat 1799, Nr. 14 v. 4. April, 106-107). Eichelkaffee wurde verordnet, doch die erhoffte Wirkung blieb aus (Neues Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 2, 1800, 105-106). Seit der Jahrhundertwende finden sich dann auch eindringliche Warnungen, da die Eicheln eine zusammenziehende und verhärtende, nicht aber eine öffnende Kraft besäßen und Verstopfung höchst nachteilige Wirkungen, bis hin zum Tode, mit sich bringen könne: „Ich will daher einem jeden wohlmeinend rathen, diesen Kaffee als ein schleichendes Gift zu meiden (Georgi, Warnung vor dem Eichel-Kaffee, Nachrichten von und für Hamburg 1808, Nr. 62 v. 3. August, 2). Die Folgen einseitigen Eichelbrotkonsums waren ihm wohl noch geläufig (Spiekermann, Eichelbrot). Einigung erzielte man auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner: Eichelkaffee ja, doch „alles auf Anordnung eines Arztes, da jedes Individuum besonders beurtheilt und behandelt werden muß“ (Fr[iedrich] Otto Conradi, Etwas über Verfütterung und Diät der Kinder, Neues Hannöverisches Magazin, 1804, Sp. 385-398, hier 390).

Vor diesem Hintergrund dürfte nachvollziehbar sein, dass sich der Eichelkaffee um 1800 als Alltagssurrogat für Kaffee wohl kaum etabliert hatte. Der schon erwähnte Carl Wilhelm Juch unkte: „Die Eicheln vollends als gewöhnliches Surrogat des Caffees vorzuschlagen, als Ersatzmittel einer zur Gewohnheit gewordenen Leckerey anzuwenden, war unstreitig ein Meistergedanke eines satyrischen Kopfs“ (a.a.O., 97-98). Das Scheitern des Eichelkaffees in der Alltagspraxis war kurz vor Beginn der Kontinentalsperre Handbuchwissen (J[ustus] L[udwig] G[ünther] Leopold, Handwörterbuch des Gemeinnützigsten und Neuesten aus der Oekonomie und Haushaltungskunde, 2. Ausg., Hannover 1805, 180). Das unterstrichen auch Fachleute des späten 19. Jahrhunderts, etwa der Pharmakologe Hermann Hager (1816-1897) (Pharmaceutische Zeitung 33, 1888, 511). Gleichwohl ist mangels verlässlicher Konsum- oder Produktionsdaten der Umfang der Verwendung des Eichelkaffees letztlich nicht präzise zu klären. Die zahlreichen Hofkanzleidekrete Österreichs erwähnten ihn ab 1771, untersagten seinen Verkauf ohne offizielle Befugnis (Handbuch der Gesetzkunde im Sanitäts- und Medicinal-Gebiethe, Bd. 1, Wien 1830, 191). Und das Dekret vom 20. Oktober 1810 dehnte die Kennzeichnungs- und Verpackungspflicht für den Zichorienkaffee auch auf Erdmandel- und Eichelkaffee aus (Adolf Schauenstein, Handbuch der öffentlichen Gesundheitspflege in Österreich, Wien 1863, 201). Doch dabei handelte es sich um Eichelkaffee als Heilmittel, nicht als Kaffeesurrogat. Ersteres trotzte der Kritik und etablierte sich als ein gängiges Präparat für Kinder, Magen-Darm-Kranke und Ältere.

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Die gemeine Eiche im Blick der Botanik (Friedrich Guimpel, Carl Ludwig Willdenow und Friedrich Gottlob Hayne, Abbildung der deutschen Holzarten, Bd. 2, Berlin 1820, Tafel 139)

Um dieses verstehen zu können, ist es wichtig, sich durch den gleichmachenden Begriff der Medizin nicht täuschen zu lassen. Aller Erfahrungskunst zum Trotz standen die Ärzte im ersten Drittel näher an ihren antiken Vorbildern als an der wissenschaftlichen Medizin des frühen 20. Jahrhunderts. Die organische Chemie entwickelte sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts und mit ihr präzisere Vorstellungen eines Stoffwechsels innerhalb des menschlichen Körpers. Die Auswirkungen der stetig steigenden Zahl anorganischer und organischer Stoffe wurden erst dann in reproduzierbaren experimentellen Designs überprüft. Die langsame Abkehr von der Naturphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlaubte die Etablierung materiellen und kausalen Denkens. Dadurch konnten auch die vielfältigen Mittel der ärztlichen Praxis neu befragt werden. Hielten sie diesem Test stand, so bestand mit dem Wachstum der pharmazeutischen Industrie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Chance, Wirkstoffe zu isolieren, sie zu synthetisieren oder anders zu gewinnen, sie dadurch zugleich wirksamer und preiswerter zu machen. Das erfolgte in größerem Maße allerdings erst im 20. Jahrhundert.

Die Verheißungen der Eichelenthusiasten wurden von der berechtigten Kritik der Zeitgenossen daher nicht einfach entkräftet. Sie wurden vielmehr von Handbuch zu Handbuch fort-, ja, abgeschrieben. Entsprechend finden sich Lobreden auf den Eichelkaffee nicht nur in Fachbüchern, wie etwa Konrad Anton Zwierleins (1755-1825) „Der deutsche Eichbaum und seine Heilkraft“. Darin bündelte der Mediziner und spätere Badearzt nicht nur die zuvor diskutierten Heilwirkungen des Eichelkaffees, sondern empfahl ihn als das „beste Surrogat des orientalischen Kaffees“ (Leipzig 1824, 116). Aber auch akademische Überblickswerke enthielten lange Listen von Heilwirkungen, etwa der Versuch einer Literatur und Geschichte der Nahrungsmittelkunde (Abt. 2, Stendal 1811, 649-652) des Mediziners und Seebadvorreiters Samuel Gottlieb Vogel (1750-1837) oder aber die weit verbreiteten Pharmakologische Tabellen (Bd. 1, Leipzig 1819, 99) des Leipziger Arztes Gotthilf Wilhelm Schwarze (1787-1855). Diese Experten handelten wohl nach bestem Wissen, doch dieses war häufig additiv und unkritisch. Außerdem war Gelehrsamkeit meist mit der Belehrung von Laien verbunden, das – neudeutsch gesprochen – Nudging der nicht akademischen Klassen war jedenfalls unübersehbar. Doch glaubte wirklich irgendjemand, dass „der feinste Leckergaumen“ eine Mischung von zwei Drittel Eichel- und einem Drittelbohnenkaffee nur schwer von reinem Kaffee unterscheiden konnte (Der Aufmerksame 1813, Nr. 45 v. 5. Juni, 3)? Es wäre leicht, weitere Beispiele zu ergänzen. Festzuhalten ist jedenfalls, dass die Verheißungen der Eichelenthusiasten bis in die Jahrhundertmitte präsent blieben und sie erst dann auf die medizinische Hauptwirkung der Gerbsäure begrenzt wurden, nämlich ihre stopfende Wirkung, die bei Brechdurchfällen und Magen-Darmkrankheiten hilfreich sein konnte.

Festzuhalten ist aber auch, dass ab den 1810er Jahren die Belegstellen für einen regulären Absatz von Eichelkaffee zunehmen. Wenzel Storch, wohl kein Vorfahre des bekannten Trashfilmers gleichen Namens, verkaufte seit spätestens 1812 Eichelkaffee in Wien in Pfund-, Halb- und Viertelpfundpaketen (Wiener Zeitung 1812, Ausg. v. 4. Januar, 12). Es handelte sich laut Werbung um „ein stärkendes nahrhaftes, und Verdauung beförderndes Getränk“ (Wiener Zeitung 1813, Nr. 13 v. 30. Januar, 7). Der Paketinhalt wurde im Haushalt mit Wasser wohl eine Viertelstunde gekocht und anschließend gefiltert. Lauwarm, teils kühl, ergänzt um Zucker und Milch sollte er dann „gegen Schwäche der Verdauung, Atrophie, Scrofeln, Rhachitis“ helfen (Justus Radius, Auserlesene Heilformen, 2. umgearb. Aufl., Leipzig 1840, 606 [Bericht von 1813, US]). Ein Zusatz von Bohnenkaffee konnte den Geschmack natürlich verbessern, minderte aber nicht die vermeintliche medizinische Wirkung. Eichelkaffee wurde zunehmend von Kaffeesurrogatfabrikanten hergestellt, meist kleinen Anbietern für einen lokalen Markt (Wiener Zeitung 1829, Nr. 129 v. 6. Juni, 916). Doch er blieb auch Apothekerware. Die meisten mir vorliegenden Anzeigen finden sich dabei im österreichischen und bayerischen Bereich – aber es ist nicht klar, ob dies aus der Fokussierung auf die digitalisierten Bestände etwa der Österreichischen Nationalbibliothek, der Bayerischen Staatsbibliothek, von Internet Archive oder Google Books resultiert oder ob in den digitalisierungsfaulen Regionen Deutschlands ehedem wirklich kaum Eichelkaffee konsumiert wurde.

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Werbung für Eichelkaffee 1833 (Augsburger Tagblatt 1833, Nr. 32 v. 31. Januar, 124)

Sicher ist aber, dass seit den späten 1820er Jahren ein wichtiger Konkurrent für den Eichelkaffee aufkam, nämlich die Eichelschokolade – ein weiterer Beitrag hierzu wird folgen. Dabei handelte es sich um eine Vermengung von gerösteten Eicheln, Kakao und Zucker, die gewiss wohlschmeckender war als der bittere Eichelkaffee. Das neue Getränk zielte auf Kinder und Magen-Darm-Kranke, galt im bürgerlichen Bereich als Heilmittel und Ausdruck elterlicher Sorge. Es wurde seinerseits nach 1885 von dem technisch versierteren Eichelkakao abgelöst, einem feinen und wohlschmeckenden Präparat, das Brechdurchfälle stoppen konnte und zudem half, die geschwächten Patienten wieder langsam aufzufüttern. Der Eichelkaffee verlor damit eine wichtige kaufkräftige Klientel, auch wenn er von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts eine gängige Handelsware gegen Magenprobleme blieb.

Die gewerbliche Herstellung des Eichelkaffees erlaubte eine gewisse qualitative Verbesserung und an einzelne Anbieter gekoppelte Produktqualität. Nach wie vor dürfte der Großteil häuslich zubereitet worden sein, abhängig vom Eichelanfall der einzelnen Jahre: „Am wohlfeilsten aber kommt der Caffe einer Familie zu stehen, wenn sie ihn selbst pflanzt, oder selbst sammelt und zurüstet“ (J[ohann] B[aptist] C[arl] Kottmann, Versuch über Caffeesurrogate, Solothurnisches Wochenblatt 1823, 421-432, hier 423). Die Mehrzahl der in Tageszeitungen und Journalen publizierten Rezepte zielte jedenfalls auf eine optimale häusliche Praxis. Sie wurden im Regelfall erst in Fachzeitschriften publiziert (etwa Dierbach, Bemerkungen über die officinellen Früchte der Eichen, Annalen der Pharmacie 12, 1834, 85-88, hier 87; Krauss, Ueber den Eichelkaffee, Annalen der Chemie 19, 1836, 346-347; Gesundheits-Zeitung 4, 1840, 67-68) und dann dem breiteren Publikum unterbreitet (Der Humorist 1837, Nr. 42 v. 8. April, 60; Goldgrube, 1850, 33; Illustrirte Zeitung 16, 1851, 100). Diese Rezepte waren langlebig, wurden immer mal wieder publiziert und erlebten während des Ersten Weltkrieges eine neuerliche Renaissance (etwa Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 523 v. 13. Oktober, 10).

Der häuslich zubereitete Eichelkaffee hielt sich im ländlichen und kleinstädtischen Raume, denn hier war er Teil der Hausmittel. Er wurde vor allem den Kindern gegeben, um Verdauungsproblemen vorzubeugen und diese zu bekämpfen (Deutscher Volks-Kalender 1847, Berlin s.a. [1846], 143; Ernst von Bibra, Die Narkotischen Genußmittel und der Mensch, Nürnberg 1855, 31). Ältere tranken in präventiv, als gesundes Alltagsgetränk. Die ländliche Bevölkerung nahm damit den Wandel in der medizinischen Beurteilung vorweg. Seit den 1840er Jahren wurde das Einsatzspektrum des Eichelkaffee resp. die wirkende Substanz der Eicheln immer stärker eingegrenzt, einerseits auf Verdauungskrankheiten, anderseits auf die allgemeine Stärkung (Ferdin[and] Ludw[ig] Strumpf, Systematisches Handbuch der Arzneimittellehre, Bd. 1, Berlin 1848, 245; Encyclopädie der gesammten Medizin, 2. Ausgabe, Bd. 2, Leipzig 1848, 195-197; L[udwig] W[ilhelm] Mauthner von Mautstein, Kinder-Diätetik, 2. Aufl., Wien 1853, 109; Friedrich Oesterlen, Handbuch der Heilmittellehre, 6. neu umgearb. Aufl., Tübingen 1856, 378). Im städtischen Raum aber verlor Eichelkaffee spätestens seit den 1850er Jahren seine ohnehin nur marginale Position. Der 1865 erfolgte und vielfach kommentierte Konkurs der Wiener Surrogatkaffee-Fabrik von Anton Gemperle markierte dabei ein gewisses Ende, hatte sie doch stark auf Eichelkaffee gesetzt (Gerichtshalle 9, 1865, 206). Der Nürnberger Naturforscher Ernst von Bibra (1806-1878) vermerkte jedenfalls schon 1858, dass Eichelkaffee „nur wenig gebraucht“ würde und wenn, dann vorzugsweise auf ärztlichen Rat (Der Kaffee und seine Surrogate, München 1858, 105).

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Eichelkaffeeofferte von Anton Gemperle, Wien (Die Presse 1858, Nr. 156 v. 11. Juli, 7)

Parallel setzte in den 1860er Jahren eine neuerliche Kritik am Heilmittel Eichelkaffee ein. Sie kam zumeist von Kinderärzten, die auf Basis ihres neuen physiologischen Wissens versuchten, die massive Kindersterblichkeit zu bekämpfen, die in Oberbayern beispielsweise über 40 % lag. Dr. Flügel kritisierte die Landbevölkerung und auch die dortigen Ärzte: „So wurde mir auch hier verschiedene Male entgegnet, dass man auch Eichel-Caffee versucht habe und doch sei das Kind immer schlechter geworden. Auch der Eichel-Caffee ist ein thörichte Nahrung, denn nicht brenzliches Wasser und Gerbstoff brauchen schlecht genährte Kinder, sondern ganz andere Dinge!“ (Betrachtungen eines Neulings in Niederbayern, Aerztliches Intelligenz-Blatt 14, 1867, 473-475, hier 475). Der Wiener Mediziner Karl Kirschneck argumentierte ebenfalls physiologisch als er Eichelkaffee als Gefährdung für Säuglinge brandmarkte (Der Wiener Bote für Stadt und Landleute auf das Jahr 1872, Wien s.a. [1871], s.p.; ähnlich Allgemeine Wiener Medizinische Zeitung 22, 1875, 139). Zudem wandte man sich in bürgerlichen Kreisen offen gegen den unangenehm bitteren Geschmack der Eicheln (Iris 16, 1864, 173): Das „ekelhafte Gebräu, welches man aus ihnen bereitet, wird nie und nimmer die schlechteste Kaffeesorte ersetzen; ihre Anwendung ist der gröbste Selbstbetrug“ (Erheiterungen 1869, Nr. 124 v. 29. Mai, 495). Die sich langsam institutionalisierende Nahrungsmittelkontrolle beseitigte zuvor nicht selten vorkommende Kaffeeverfälschungen mit Eichelmehl, und selbst Ersatzkaffeeproduzenten wie die Nordhausener Firma Krause bewarben ihren „Gesundheitskaffee“ offensiv mit dem Gütehinweis „nach chemischer Untersuchung frei von Cichorien, Eicheln und sonstigen schädlichen Stoffen“ (Pfälzer Zeitung 1870, Nr. 16 v. 20. Januar).

Dennoch verschwand der Eichelkaffee nicht. Das lang an der höheren Beharrungskraft ländlicher Ernährungsweisen, an seinem niedrigeren Preis, aber auch einer Unterstützung des Getränkes durch die Naturheilkunde und die Temperenzbewegung. Schon der Makrobiotiker Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) hatte sich im späten 18. Jahrhundert mehrfach für den Eichelkaffee als Heiltrunk ausgesprochen, da er Wirkung und Nährkraft miteinander verbinde (Johann Wendt, Die Kinderkrankheiten systematisch dargestellt, Breslau/Leipzig 1826, 579). Auch der Begründer der Homöopathie Samuel Hahnemann (1755-1843) sah in ihm ein hilfreiches natürliches Heilmittel (Apothekerlexikon, T. 2, Abt. 1, Leipzig 1798, 35). Naturheilkundler stärkten das schwindende Renommee des Eichelkaffees als Kinder- und Alltagsgetränk am Ende des 19. Jahrhunderts neuerlich – mochte dieses von der wissenschaftlichen Medizin auch nicht (mehr) gedeckt sein. Sebastian Kneipp (1821-1897) ist zwar bis heute als Namensgeber von „Kathreiners Malzkaffee“ bekannt (Spiekermann, Kathreiners Malzkaffee), doch in seinem Hauptwerk „So sollt ihr leben“ bedauerte er, dass der Eichelkaffee nicht „die wohlwollende Gunst des Volkes“ habe (Kempten 1889, 81). Und pointiert ergänzte er: „Ich weiß wirklich nicht, ob ich dem Eichelkaffee oder dem Malzkaffee den Vorzug geben soll“ (zit. n. Linzer Volksblatt 1891, Nr. 62 v. 17. März, 1). Der Salzburger Feigenkaffeeproduzent Andre Hofer brachte entsprechend seit 1890 sowohl einen Gesundheitsmalzkaffee als auch einen Eichelkaffee auf den Markt. Auch der Schweizer Kräuterpfarrer Johann Künzle (1857-1945) empfahl den Eichelkaffee, vermarktete dann aber mit dem Kaffeesurrogat Virgo eine Eigenkreation. Die beiden Geistlichen waren überzeugungsstarke Persönlichkeiten mit großen Anhängerscharen. Die Zahl der Temperenzler blieb demgegenüber klein, wohl auch, weil sie sich über die Alternativen zum Teufel Alkohol nicht recht einigen konnten. Doch wie eine Hymne vom Wiener Antialkoholkongress 1901 belegt, zählte auch Eichelkaffe zu ihren Optionen: „Fort mit dem Alkohol, Fort mit dem Wein sowohl Als auch dem Korn! Bier, Rum, Arrac, Kognac, All dieses Teufelspack Ist uns ein Dorn. Gießet mir Milch ins Glas, Schänket mir eine Tass’ Eichelkaffee, Schänket Thee und Selters ein Und laßt uns lustig sein: Ach du herrje!“ (Neue Hamburger Zeitung 1901, Nr. 184 v. 20. April, 17). Die darin enthaltenen Gängelungsphantasien wurden damals noch kritisch kommentiert: „Es gab eine Zeit, wo man den in ein Irrenhaus gesteckt hätte, der für ein Gesetz gegen den Genuß von Wein und Bier plaidiert hätte. Und heute wird diese Forderung ganz laut erhoben und der edle Rebensaft für schnödes Gift erklärt. Vielleicht kommt’s wirklich noch dazu, daß die Menschheit auf Himbeerlimonade und Eichelkaffee gesetzt wird“ (Neue Hamburger Zeitung 1903, Nr. 138 v. 23. März, 5).

Eichelkaffee, ach du herrje, war damals bereits Symbol des einfachen, unbedarften, unverkünstelten Lebens im Einklang mit der Natur. Es verkörperte Häuslichkeit, bezog sich auch auf die vermeintliche Natur der Geschlechter. Eichelkaffee war ein Getränk des Kindes und der häuslichen Frau. Entsprechend wurde den kunstsinnigen aber mageren Besucherinnen des Wiener Burgtheaters von einem wohlmeinenden Manne nahegelegt: „Zuviel Kunstgenuß ist darum wahrscheinlich auch nicht gesund. Lieber etwas mehr Eichelkaffee!“ (Hagelbrunners Spaziergänge und Sonntagsplaudereien, Morgen-Post 1854, Nr. 115 v. 14. Mai, 3). Noch ärger das Bemühen seines Mannheimer Geschlechtsgenossen, der anlässlich der Gründung des ersten Mannheimer Frauenturnvereins folgendes zusammenreimte: „Verrenken sie sich die Glieder, Mit oder ohne Mieder? Vollbringen sie den Purzelbaum, Mit einfachem oder doppeltem Saum? Und springen sie Trambolin, In Seide oder in Mousselin? Und wenn sie klettern auf’s Strickel, Was hat ihr Strumpf für einen Zwickel? Und wenn sie schlagen flink ein Rad, Was hat ihr Negligé für eine Naht? O deutsche Frauen, laßt Euch nicht lachen aus, Bleibt hübsch beim Kind und beim Mann zu Haus, Und schlägt die deutsche Eiche mit Gewalt heraus, So trinkt Eichelkaffee und spielt Eichel-Daus!“ (Der Humorist 10, 1846, Nr. 312 v. 30. Dezember, 1258). Ach ja, die deutschen Männer. Das dachte sich gewiss auch der französische Reiseschriftsteller Victor Tissot (1844-1917), der in seiner 1875 erschienenen „Reise in das Milliardenland“ mitleidvoll vermerkte: „‘Abends gehen die Familienväter […] allein in’s Gasthaus des Ortes – lassen ihre Frau und Kinder zu Hause, welche indessen Eichelkaffee trinken und Kartoffeln essen‘“ (Dresdner Nachrichten 1876, Nr. 235 v. 22. August, 3). Das stimmte nicht ganz, zumal es ja den Freiheitsraum des Kaffeekränzchens gab. Doch auch hier warnten männliche Ärzte schnatternd vor dem Bohnenkaffee, der sie „gleichsam zu Tode liebkose. Darum ihr Kaffeebasen des Waldes und des Landes trinkt Eichelkaffee, Gersten-, Roggen- und Malzkaffee“ (Vorarlberger Volksblatt 1897, Nr. 86 v. 16. April, 4). Solches Hobbitidyll konnte man natürlich in Frage stellen. Eichelkaffee wurde daher ebenfalls als Symbol der Reaktion verstanden, etwa als Bestandteil eines von agrarischen Interessen einseitig dominierten Deutsches Reiches. Darin konnte man auf die Reizstoffe des modernen Lebens glücklich verzichten. „Wir dürfen Eicheln, Bucheckern, Brennesseln [sic!], Kartoffelblättern, Maikäfer, Lindenblüten und das Unkraut aus den Feldern sammeln, ohne einen Pfennig dafür bezahlen zu müssen. Was ich in ein paar Monaten schon an Delikatessen kennen gelernt habe, die mir früher fremd waren, das glaubt man gar nicht. Insektenkraftbrühe, Bucheckernpasteten mit Brennesselsalat, Wolfsmilch, Unkräuterkäse, Eichelkaffee und vieles mehr“ (Oscar Harsiem, Der agrarische Himmel auf Erden, Berliner Volks-Zeitung 1909, Nr. 345 v. 27. Juli, 2).

Handelt es sich bei alledem um typisch bürgerliche Symbolkämpfe, so markierten Eicheln und Eichelkaffee aber auch reale Machtkämpfe, vor allem aber die Grenze zwischen auskömmlich und arm. Eicheln konnten gesammelt werden, doch nicht nur in den Forsten stand dies häufig gegen Besitzrechte. Öffentliche Anlagen mussten gegen Lausbuben verteidigt werden, die dort ihr Unwesen trieben: „Daß arme Mütter daheim Eichelkaffee brauen, um die teueren Bohnen zu sparen, und daß im Winter mit gedörrten Kastanien Feuer angemacht wird, spielt im Vorstellungskreise der Jungen doch wohl noch kaum eine Rolle“ (Volks-Zeitung 1903, Nr. 467 v. 6. Oktober, 3). Eichelkaffeerezepte wurden vor dem Ersten Weltkrieg überschrieben mit „Eine, die sparen muß“ (Neue Hamburger Zeitung 1913, Nr. 500 v. 24. Oktober, 14). Das merkten auch die Kinder, zumal in der Nachkriegszeit: „Da wanderten wir Mädeln und Buben an schulfreien Tagen […] hin, den Mundvorrat in der Tasche; er bestand aus einem Stück Schmalzbrot und einer Flasche Eichelkaffee. Unsere Mutter wollte uns weismachen, dieser sei sehr gesund; in Wirklichkeit hat sie uns bewußt angelogen. Doch dürfte es eine Notlüge gewesen sein; denn wäre genug Geld im Hause gewesen, so hätte uns die Mutter sicherlich keinen Eichelkaffee gekocht“ (Rosa Nejedly, G’schichten vom „Linagrab’n“, Die Unzufriedene 1927, Nr. 39 v. 24. September, 5).

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Eichelprodukte als Kindernährmittel (Drogisten-Zeitung 9, 1894, 454)

Im frühen 20. Jahrhundert war Eichelkaffee als Nahrungsmittel und auch als Heilmittel unbedeutend. In Haushaltslehren und Kochbüchern tauchte er kaum mehr auf (eine Ausnahme ist Wilhelmine von Gehren, Küche und Keller, Leipzig 1905, 778). Die Hinweise in pharmazeutischen, chemischen und allgemeinen Nachschlagwerken informierten kurz und pflichtschuldig (Real-Enzyklopädie der gesamten Pharmazie, Bd. 4, 2. gänzl. umgearb. Aufl., Berlin/Wien 1905, 511; J[oseph] König, Chemie der Nahrungs- und Genußmittel sowie der Gebrauchsgegenstände, Bd. 2, 4. verb. Aufl., Berlin 1904, 813). In der medizinischen Literatur wurde er zumeist als „wenig nährend“ ([Leo] Langstein, Ueber die Ernährung des Kindes, Hebammen-Zeitung 9, 1895, 41-44, hier 43) abgelehnt, doch finden sich immer noch auch positive Einschätzungen (Therapie der Gegenwart 52, 1911, 57 (Adolf Baginsky)). Schlechter Geschmack, geringer Kaloriengehalt und die praktikable Alternative des Eichelkakaos dominierten jedoch die Bewertung des Eichelkaffes (Der Zeitgeist 1897, Nr. 21 v. 24. Mai, 4). Entsprechend wurde er ab und an mit Malzkaffee vermischt und dann als Eichelmalzkaffee angeboten.

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Mühlenmedizin – Werbung für Eichelmalzkaffee (Vorwärts 1907, Nr. 258 v. 3. November, 23)

Der Erste Weltkrieg führte zu einer Sonderkonjunktur, wenngleich auf niedrigem Niveau. Die Preissteigerungen für Bohnenkaffee hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg zu deutlichen Konsumrückgängen und einem weiteren Wachstum des Ersatzkaffeekonsums geführt. Davon profitierte vor allem der Malzkaffee, bedingt Zichorien- und – in Süddeutschland und Cisleithanien – Feigenkaffee. Nachdem im Herbst 1914 klar war, dass der Weltkrieg nicht rasch enden würde, und die völkerrechtswidrige Blockade der Alliierten die Kaffeeimporte größtenteils unterband, waren Konsumveränderungen erforderlich: „Wenn der Eichelkaffee vielleicht auch dem verwöhnten Gaumen nicht so ganz zusagt, so ist er doch ein billiges und gutes Volksnahrungsmittel und verdient bei den heutigen Kaffeepreisen volle Beachtung“ (Oesterreichische Land-Zeitung 1914, Nr. 43b v. 26. Oktober, 3). Noch besaßen die Mittelmächte beträchtliche Vorräte. 1915 lag der Bohnenkaffeekonsum im Deutschen Reich höher als 1914 (3,02 gegenüber 2,78 kg/Kopf), doch diese Menge halbierte sich 1916. 1917 waren die Vorräte aufgebracht, für 1918 geben die amtlichen Landesstatistiken einen Bohnenkaffeeverbrauch von lediglich 2000 t an, 0,03 kg/Kopf. Schon 1915 hatte man daher mit der Bewirtschaftung von Getreide begonnen, und Kaffeeersatzmittel der Rationierung unterworfen. Eichelkaffee schien eine sinnvolle Ergänzung zu sein, ein „ganz annehmbares Getränk“ (Vorarlberger Volksblatt 1915, Nr. 217 v. 23. September, 4), zumal für den häuslichen Konsum abseits der Kartenpflicht. Insbesondere in Süddeutschland gab es eine durchaus „lebhafte Propaganda für die Verwendung von Eicheln im Haushalt“, zumal bei ärmeren Bevölkerungsschichten (Oesterreichische Forst- und Jagd-Zeitung 30, 1915, 269).

Eichelkaffee schien eines der vielen Opfer zu sein, die den Sieg im Völkerringen näher bringen würden. Doch von einer sakrifiziellen Gemeinschaft (Herfried Münkler, Der Große Krieg, 5. Aufl., Berlin 2014, 226) konnte nicht die Rede sein. Stattdessen beschwor man die Vergangenheit, die gute alte, in der der Eichelkaffee noch „sehr geschätzt war und besonders gern von schwächlichen und der Kräftigung bedürftigen Personen getrunken wurde. Jetzt ist er ganz in Vergessenheit geraten“ (General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1915, Nr. 226 v. 26. September, 17). In Zeiten der Sinnsuche für den Krieg hatte die Ernährung eine wichtige Funktion, konnte eine Transformation der „Volksernährung“ doch mehr erringen als den militärischen Sieg. Als zu Beginn des Krieges erlaubt wurde, bei außergewöhnlichen Belastungen die Kaffeeportion des Heeres mit einer Branntweinportion von 0,1 l zu ergänzen, wurde darüber kontrovers diskutiert, heiße Getränke oder Rotwein statt der Spirituosen gefordert. „Noch zweckmäßiger wäre der fast alkoholfreie und mehr gerbsäurehaltige Heidelbeerwein, Eichelkaffee, Eichelkakao“ (Medizinische Klinik 10, 1914, 1772). Der Krieg bot demnach die Chance einer wieder schollengebundenen, einfachen und natürlichen Kost. Gegen Verweichlichung, Fleischmast und koloniale Reizstoffe wurde breit gewettert, da kam der „beste Gesundheitskaffee“ (Mährisch-Schlesische Presse 1916, Nr. 73 v. 9. September, 5) gerade Recht. „Gratis-Nahrung aus Wald und Feld“ (R. Stätter (Hg.), Zürich 1918) war nicht nur erforderlich, sondern auch Umkehr. Künzle und Kneipp wussten das ja immer schon. Eichelkaffee war ein kleiner Baustein in dem großen Wandel, den die verlangten, die ausländische Weine, teure Südfrüchte und Luxuswaren verdammten. An die Stelle von Tee, Kakao, und Kaffee sollten „vollwertige Ersatzgetränke, wie Malz- und Eichelkaffee und Tee aus Brombeer- und Erdbeerblättern, Heidekraut, Apfelschalen usw.“ treten (Neue Hamburger Zeitung 1916, Nr. 69 v. 8. Februar, 11).

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Ästhetisierter Mangel: Ersatzmittel aus der Natur (R. Stätter (Hg.), 2. Aufl., Zürich o.J. (1919))

Das waren Naturalphantasien, auch nicht ansatzweise geteilt von der zur Einschränkung grundsätzlich bereiten Mehrzahl. Für sie wurde Geschichte als Argument genutzt. Die Kontinentalsperre wurde bemüht, auch wenn die damals erzwungene Waffenbrüderschaft mit den Franzosen nicht ganz ins Bild passte. „Früher“ hatte man noch Eichelkaffee getrunken, also war das auch heute möglich. Schließlich ging sein Genuss „auf die direkte Anregung Friedrichs des Großen zurück“ (Deutsche Zeitung 1917, Nr. 22 v. 2. Juni, 7). Das wurde vielleicht zurecht nicht geglaubt, stellte den Ersatzmampf aber in eine hebende Tradition. Die Rezepte für Eichelkaffee griffen jedenfalls ältere Vorschläge auf, allerdings ohne dieses zu erwähnen (etwa Berliner Tageblatt 1917, Ausg. v. 8. August, 16).

Abseits derartiger Wunsch- und Zerrbilder dominierte jedoch eine Pragmatik des Alltags, die versuchte mit der wachsenden Enge umzugehen und die Not zu ertragen. Staatlicherseits wurde anfangs das Eichelsammeln propagiert, doch schon 1915 setzte die Bewirtschaftung der Eicheln ein, wurden Festpreise festgelegt und Eichelkontingente zugewiesen. Schweine hatten Vorrang. Am 8. November 1915 übernahm die Bezugsvereinigung Deutscher Landwirte die Federführung, wies Futtermittel aus Eicheln und Kastanien dezentral zu. Noch bestehende Lieferverträge mit den wenigen Eichelkaffeeproduzenten konnten allerdings noch erfüllt werden (Berliner Bösen-Zeitung 1915, Nr. 535 v. 14. November, 9). Unmittelbar vor dem Krieg wurden etwa 2000 t Eicheln zu Kaffeeersatz verarbeitet. Das waren etwa 0,8 % aller gewerblich hergestellten Kaffeesurrogate (Fritz Bürstner, Die Kaffee-Ersatzmittel vor und während der Kriegszeit, Berlin 1918, 6). Die staatliche Bewirtschaftung erlaubte bis 1918 eine Steigerung auf „höchstens 5000 t“ (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 35, 1918, 87 (Beitter)). Das war deutlich mehr als offiziell zirkulierender Bohnenkaffee, doch pro Kopf ergaben sich nur 0,08 kg. Diese Mengen dienten nicht zuletzt der Substitution des als Heilmittel wegbrechenden Eichelkakaos. Deutlich umfangreicher dürfte trotz staatlicher Bewirtschaftung die beträchtliche Selbsthilfe gewesen sein, zumal seit 1917. Eichelkaffee diente als „Stopfmittel“ (Carl von Noorden und Hugo Salomon, Handbuch der Ernährungslehre, Bd. 1, Berlin 1920, 620), als wenig effizientes Heilmittel gegen Durchfall und die deutlich zunehmenden Magen-Darm-Krankheiten. Er war aber nun auch wärmendes Alltagsgetränk: „Sie müssen die Eicheln rösten und mahlen, dann haben Sie Eichelkaffee. Mit Kaffee hat das Getränk absolut nichts zu tun, es ist aber immerhin ein guter Ersatz, besser als Rüben“ (General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1918, Nr. 116 v. 21. Mai, 5). Häuslich hergestelltes Eichelmehl wurde vielfach zugemengt, anfangs zum Bohnenkaffee, dann zu Kaffeesurrogaten, schließlich zu Lupinen und sonstigem Wald- und Wiesengewächs. „Blumenerde“ hieß dieses Getränk, bitter war sein „Geschmack“ (Vorwärts 1924, Nr. 464 v. 2. Oktober, 5).

Die Sonderkonjunktur des Eichelkaffees endete nicht bei Kriegsende. Die Blockade wurde fortgesetzt, erst 1919 gelockert. Unter den dann verfügbaren Lieferungen waren auch große Mengen von Eicheln, Eichelkaffee und Eichelaromaextrakt (Berliner Tageblatt 1919, Nr. 267 v. 12. Juni, 5). Der Mangel betraf nicht nur Bohnenkaffee, sondern auch alle Surrogate. Im Herbst 1919, hieß es zum Auftakt der Eichelernte: „Jetzt ist der Eichelkaffee in unverfälschtem Zustande aber kaum noch käuflich, und wenn, nur zu sehr hohem Preise. Deshalb lohnt das Sammeln von Eicheln für den Hausverbrauch“ (Neue Hamburger Zeitung 1919, Nr. 531 v. 18. Oktober, 13). Dieses zog sich bis zum Ende des Jahrzehnts der Ernährungskrise hin, also bis 1923. Die vielbeschworenen Hausfrauen waren weiterhin gezwungen, „zu allerlei Ersatzmittel zu greifen, um der Familie eine Art ‚Kaffee‘ vorzutäuschen“ (Wienerwald-Bote 1920, Nr. 47 v. 27. November, 4). Eichelkaffee wurde jedoch gewerblich in schwindender Menge produziert. In Österreich gab es 1921 unter den zugelassenen Kaffeesurrogaterzeugern nur zwei Produzenten von Eichelkaffee, einer davon aus der Schweiz (Wiener Zeitung 1921, Nr. 58 v. 12. März, 202). In der Populärliteratur hieß es deutlich: „Die Leut‘ woll’n den Eichelkaffee net, das Geschlader mit dem ekelhaften Saccharin und der pappigen Kondensmilch, Da muß ja aner Sau grausen“ (Valentin Kramretter, Der Kotelettenfranzl und seine Tochter, Illustrierte Kronen-Zeitung 1922, Nr. 8035 v. 22. Mai, 2).

Die Geschichte des Eichelkaffees endete nicht 1923, doch breitere Bedeutung gewann das Heil- und Nährgetränk nicht mehr. Natürlich wurde es von medinischen Populärschriftstellern, wie etwa Waldemar Schweisheimer (1889-1986), weiter als „uraltes Hausmittel“ vorgestellt (Heilbestandteile der heimischen Laubbäume, Drogisten-Zeitung 41, 1926, 152). Armut blieb ein wichtiger Grund, um Eicheln nicht allein zu lustigen Tierfiguren zu formen, sondern auch zur Getränkebereitung heranzuziehen, da man mit dem Pfennig zu rechnen hatte (Vorwärts 1925, Nr. 457 v. 27. September, 6). Trotz wieder verfügbarem Eichelkakao und einer wachsenden Zahl wirksamer pharmazeutischer Mittel wurde Eichelkaffee weiterhin gegen Durchfall empfohlen (Alpenländische Rundschau 1928, Nr. 239 v. 5. Mai, 28; Illustrierte Kronen-Zeitung 1934, Nr. 12469 v. 7. Oktober, 17). Der Zweite Weltkrieg wurde begonnen, und trotz effizienter Kriegsvorbereitung wurde neuerlich an den Eichelkaffee als „ein altes, erprobtes Küchenmittel“ erinnert, galt er als „alter ‚Bauerntrank‘“ (Das kleine Blatt 1939, Folge 304 v. 4. November, 6). Neuerlich wurden Hausfrauen unterrichtet, wie sie denn die Eicheln zu schälen und zu rösten hatten, „einfach und ergiebig und – markenfrei“ (Salzburger Volksblatt 1940, Folge 245 v. 17. Oktober, 8). Die NS-Frauenschaft gab Eichelkochbücher heraus, denn die „Eichel ist als Nahrungsmittel heute neu entdeckt“ (zit. n. Rainer Horbelt und Sonja Spindler, Tante Linas Kriegskochbuch, Frankfurt/M. 1982, 192). Und in der nächsten Nachkriegszeit konkurrierten abermals Menschen mit Wild und Nutztieren um die immerhin nährenden Früchte. Glaubt man den vielfältigen Verheißungen heutiger Natur-, Wald- und Eichelpropagandisten, werden sich wohl weitere Kapitel anschließen. Ach du herrje!

Uwe Spiekermann, 22. März 2019

Eichelbrot – Notnahrung, Armenspeise, Gaumenhappen

Vor einigen Monaten auf dem Wochenmarkt entdeckt, ist das Eichelbrot der Steinofenbäckerei Marquardt aus Garbsen seitdem ein regelmäßiger Gast auf meinem Frühstückstisch. Der Geschmack ist keineswegs lieblich, eher herb, kräftig, würzig, eine Grundlage mit Nachhall.

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Eichelbrot auf meinem Tisch

Doch was esse ich da eigentlich? Gekauft habe ich es, da ich mich an die Kriegsküche im ersten Weltkrieg glaubte zu erinnern, an Not und Kargheit einer überstandenen Zeit. Doch vor mir lag ein verfeinertes, wohlschmeckendes Nischenprodukt. Eine Koketterie mit dem Schlechten, vergleichbar mit der Veredelung vieler „Arme-Leute-Essen“ in der gehobenen Gourmetküche, ein Gaumenkitzler für vom Alltag gelangweilte Bürger?
Vor dem Urteil steht das Wissen. Und über die Geschichte des halbrunden Braunen hatte ich offenkundig eine nur vage Vorstellung. Wohlan, wo ist das nächste einschlägige Lexikon? Die Standardantwort vor mehr als 90 Jahren klang prosaisch-nüchtern: „Eicheln dienen zur Herstellung des auch als menschliches Nahrungsmittel verwendeten Eichelmehls. […] Eichelmehl dient auch als Zusatz bei den Hungersnot-Broten, zur Herstellung von Eichelkakao […] und anderer diätetischer Erzeugnisse. Geröstete Eicheln geben auch einen Ersatzkaffee, der namentlich bei Kindern als diätetisches Mittel angewendet wird. Eicheln verwendet man in großen Mengen als ein Futtermittel, das bei niedrigem Protein- und mittlerem Fettgehalt reich an Stärkemehl ist. Sie finden eine nützliche Verwendung bei der Viehmast, werden jedoch wegen ihres bitteren Geschmackes nicht von allen Tieren gleich gerne gefressen.“ So weit, so klar. Doch dort hieß es zugleich: „Unsere einheimischen Eicheln kommen dagegen ihres hohen Tanningehaltes wegen als menschliches Nahrungsmittel nicht ernstlich in Betracht.“ (Ernst Mayerhofer und Clemens Pirquet (Hg.), Lexikon der Ernährungskunde, Wien 1926, 193, 194) Wirklich? Das Eichelbrot auf meinem Tisch schien Unding und Zärtling zugleich zu sein. Nachfragen schienen geboten.
Hinein also in das Unterholz der Literatur. Dort eichelte es von Anfang an: Heinrich Johann Nepomuk Crantz (1722-1797), österreichischer Botaniker, Pädiater und Begründer der modernen Bäderkunde führte nah an den Rand des Garten Eden: „Die Eicheln waren schon in den ältesten Zeiten ein Nahrungsmittel, aus welchem man Brod gebacken hat. Man hielt sie nicht nur allein für die älteste Frucht, sondern auch für die einzige Leibesnahrung, welche die erste Welt gebrauchet hat“ (Medizinische und Chirurgische Arzneymittelehre, Bd. I, Th. I, Wien 1785, 202). Etwas präziser bitte! Johann Carl Leuchs (1797-1877), einer der produktivsten Sachbuchautoren der Mitte des 19. Jahrhunderts, führte zurück nach Kerneuropa: „Die Eicheln waren die vorzüglichste Nahrung der alten Deutschen und Gallier. Ob sie dieselben roh oder zubereitet aßen, ist nicht bekannt“ (Haus- und Hülfsbuch für alle Stände, Bd. 2, Nürnberg 1823, 333). Immerhin! Eichelbrot trat aber sicher später auf den Speiseplan, war es doch ein Hunger- und Notbrot in der frühen Neuzeit. Leuchs berichtete über Weißrussland, von Hungerkrisen im Frankreich im frühen 18. und gar von emsigem Eichelbrotverzehr in Italien und Südtirol im frühen 19. Jahrhundert. Doch seine Fabulierkunst machte mich skeptisch. Eichelbrot als Standardbrot in Norwegen? Und wenige Jahre später relativierte der Vielschreiber gar sein Kernaussage: „Die Eicheln waren das Hauptnahrungsmittel der alten Griechen, Gallier und Deutschen […]“ (Johann Carl Leuchs, Vollständige Brod-Bak-Kunde, Nürnberg 1832, 159). Sollte ich dies glauben?
Die Eiche war den Germanen (die es so als Einheit nicht gegeben hat) ein heiliger Baum, und darüber wurde im 19. Jahrhundert viel geschrieben und noch mehr gesungen. Fachliteratur entstand, auch über die Eichelnahrung. Carl Bolle (1821-1909), finanziell unabhängiger Sohn eines Brauereibesitzers und quirlig-produktiver Botaniker, führte seine Leser zurück in die vorschriftliche Zeit: „Wer jemals einen der fruchtbeladenen Riesenbäume aufmerksam betrachtet, wer dem prasselnden Geräusch, mit dem, vom Herbstwind gefegt, die Eicheln herabregnen, gelauscht hat, dem wird die Eiche als ein Sinnbild des Überflusses erschienen sein; so reichlich deckt sich der Tisch auf und unter ihr.“ Homo sapiens nutzte die Eichel: „Es bedurfte bei ihr keiner Überlegung, kaum der Zubereitung; einzig nur des Auflesens und Sammelns. Im Spätherbst, wenn anderes Wildobst zu Ende ging, kam die Eichelernte gelegen. Mochte es immerhin eine derbe und rohe Kost sein, sie fand keinen verwöhnten Gaumen. Mochte es eine harte Kost sein, sie ging durch eine Mühle von Zähnen, gewöhnt, die starken Markknochen des Wildes zu zermalmen. […] Also Eichelkost überall da, wo das Getreide, dem frühen Menschen unbekannt, sie noch nicht entbehrlich gemacht hat; […] Eichelkost die erste Stillung des Hungers innerhalb der gemässigten Zone“ (Carl Bolle, Die Eichenfrucht als menschliches Nahrungsmittel, Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1, 1891, 138-148, hier 139-140). All dies galt jedoch vor allem für den mediterranen Raum, für Griechenland, Italien, auch Spanien. Denn Bolle machte glasklar: „Die oft besprochene Eichelesserei der Germanen entbehrt dagegen jedes klassischen Zeugnisses“ (Bolle, 1891, 141). Und für den Rest der Voreuropäer galt demnach: Eicheln waren vor und während der Altsteinzeit eine Zukost, wurden ergänzt und dann überlagert von den (gerösteten) Kastanien, ehe sich Getreide als Hauptkost durchsetzte. Anders als im mediterranen Raum, warfen die Eichen des Nordens gar bittere Eicheln ab. Menschen mussten sie bearbeiten, um sie essen zu können.

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Früchte der Stieleiche und der Zerreiche (Adolf Hohenstein, Die Eichelschäl-Wirthschaft, Wien 1861, 27)

Die Unterschiede im menschlichen Verzehr von Eicheln, Eichelmehl und Eichelbrot zwischen Süd- und Nordeuropa waren in der frühen Neuzeit durchaus bekannt. Eichelbrot war im Norden Ausdruck von Not und Elend: Als der Barnabitermönch Florentinus Schilling Mitte des 17. Jahrhunderts das ehedem habsburgische Elsass bereiste, war allerorten Hunger und er fragte anklagend: „Ist Elsaß ein Treydkasten [ein Getreidespeicher, US] / warumb essen wir Eichelbrod?“ (Vorder-Oesterreichische Landtsmannschaft, Wien 1655, s.p.). Während der Aufklärung galt das im Süden gegessene Eichelbrot kämpferischen Protestanten dagegen als Beleg katholischer Rückständigkeit, so etwa dem als Kerkerknacker bekannt gewordenen Friedrich von der Trenck (1727-1794), der die Bauern im Kirchenstaat bemitleidete, da sie „kein andres als Eichelbrod zu essen“ hatten (Nachtrag zur näheren Beleuchtung der Bilanz zwischen Fürsten und Priestergewalt, o. O. 1799, 21). „Um wi vil kräftigger und schmakhafter ist nicht unser Brod gegen di Eicheln und roen Körner, die di alten asen,“ posaunte dagegen der heute vergessene Schriftsteller Christian Adam Horn (1743-1798), wobei er wohl das kernige Roggenbrot meinte, nicht das vermeintlich welsche Weizenbrot des Westens und Süden Europas (Uiber Gleichheit und Ungleichheit aus dem Gesichtspunkt gegenwärtiger Zeiten, Hildburghausen 1792, 109). Getreidebrot war Fortschritt, und dies predigten spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts auch deutsche Katholiken, denn damals war Eichelbrot auch in Italien nurmehr eine seltene Ausnahme (Philothea 16, 1852, 118).
Doch Ordnung! Diese Debatten entstammten einer Zeit, in der Eichelbrot keinerlei Platz in der täglichen Kost hatte, in der Roggen, Hafer und Gerste, dann auch die Kartoffel den Alltag der breiten Mehrzahl prägten. Im langen Mittelalter war dies regional noch anders gewesen. Eichelbrot wurde, zumal im Süden der deutschen Lande, vereinzelt gebacken. Doch dies endete wohl im 16. Jahrhundert: „Der späteste bekannte Zeitpunkt, in dem in germanischen Ländern die Eichel noch als genießbare Mehlfrucht scheint gebraucht worden zu sei, ist das Jahr 1604. Damals wurde sie noch in der Klostermühle zu Sindersdorf (Oberbayern) gemahlen.“ (H[einrich] Brockmann-Jerosch, Die ältesten Nutz- und Kulturpflanzen, Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1917, 80-102, hier 91).
Eichelbrot war während des 16. bis 18. Jahrhunderts primär eine Notspeise, Kennzeichen der regelmäßigen Hunger- und Teuerungskrisen Mitteleuropas. In der Ober-Lausitz hieß es einschlägig: „Anno 1570, nach der Erndte ließ es sich zu einer grossen Theurung an, und die währete 3. gantzer Jahr. Sie nahm von Jahr zu Jahre zu, und musten die armen Leute aus Staub-Mehl, Kleyen, Eicheln, Piltzen und Schwämmen ihr Brod backen, und doch haben noch manchen Tag 3. 4. und mehr Personen verhungern müssen“ (Johann Christian Sühnel, Fata Lusatica in Compendio, Oder Kurzgefaste Historie von dem Markgraffthum Ober-Lausitz, Bautzen 1725, 83). Im 18. Jahrhundert war dies Lexikonwissen (Allgemeines Oeconomisches Lexicon, Leipzig 1731, Sp. 382). Neben die etwa alle sieben Jahre auftretenden Hunger- und Teuerungskrisen traten Krieg und auch Klimakatastrophen, etwa der sogenannte Jahrhundertwinter 1708/09. Aus Frankreich wurde damals nicht allein vom Eichelbrotverzehr berichtet, sondern auch von zahlreichen daraus resultierenden Todesfällen. Ähnliches vermerkten Chronisten auch aus deutschen Landen während des Siebenjährigen Krieges, der 1762 die Gegend um das westfälische Warburg heimsuchte: „In diesem Winter war die Noth so groß, daß viele Bauersleute von Eicheln Brot backten. Daher starben viel an der Verstopfung“ (Georg Joseph Bessen, Geschichte des Bisthums Paderborn, Bd. 2, Paderborn 1820, 350, Anm. r). Dies aber waren wohl Ausnahmen, verursacht durch fehlerhafte Zubereitung. Generell galt für Eichelmehl und Eicheln, dass sie in der frühen Neuzeit „wol unter das Getreide gemahlen / und mit unter das Brot gebacken werde / und zwar ohn allen Schaden der Gesundheit“ (Johannes Hiskias Cardilucius, Evangelische Kunst- und Wissenschafft-Schule der Natur, Sultzbach 1685, 53). Entsprechend nutzte die breite Bevölkerung zumal in den kursächsischen und schlesischen Gebieten das Eichelbrot als letzte Option, um eben nicht verhungern zu müssen (Julius Bernhard von Rohr, Haushaltungs Bibliothek, Leipzig 1755, 213). Der Staatswissenschaftler Georg Gottfried Strelin fasste dies gottesfürchtig in die Aussage, „denn wo man nicht wählen kann, ist man mit dem gerne zufrieden, was man hat“ (Realwörterbuch für Kameralisten und Oekonomen, Bd. 2, Nördlingen 1785, 568).
Mit der Aufklärung aber veränderte sich diese Einschätzung des Eichelbrotes. Es handelte sich dabei um Elitendebatten, Ausflüsse wachsenden bürgerlichen Nationalbewusstseins: „Warum sollten wir uns endlich der Eicheln schämen, da unsere Vorfahren, die alten Deutschen, ehe sie sich auf den Ackerbau verlegten, viel von Eicheln gelebt, und Brot daraus gebacken haben“ (Der Bienenstock 2, 1769, 366). Es begann nun eine mehr als ein Jahrhundert dauernde Periode immer wieder neuer, immer wieder ähnlicher Rezepte für die Herstellung eines durchaus akzeptablen Alternativbrotes: „Man dörret die ausgelesene reife Früchte [die Eicheln, US], schälet, kochet sie mit Wasser, daß sie den herben Geschmack verlieren, verfertiget alsdenn nach vorhergegangener Abtrocknung ein Mehl, welches mit gewöhnlichem Fruchtmehl vermengt ein nahrhaftes Brot giebt“ (Deutsche Encyklopädie, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1783, 6). Eine kleine Schar von Medizinern, Kameralisten, Botanikern und Praktikern nahm nicht mehr nur dokumentierend hin, dass Not kein Gebot kannte und auch den Verzehr tendenziell gesundheitsgefährdender Ersatzstoffe mit einschloss. Sie untersuchte stattdessen die bestehenden Mängel des Eichelbrotes und formulierte praktische Ratschläge, um ein „gutes Brod, wenigstens in der Vermischung mit anderen Getreidearten“ (Crantz, 1785, 204) zu backen.
Chemisches Wissen war noch nicht sonderlich ausgeprägt, bewegte sich vielfach im Spekulativen. Man vertraute allerdings schon der Sinneserfahrung, der Empirie. Eicheln schmeckten offenkundig „sehr herbe“ (Neues Hannöverisches Magazin 4, 1775 [1776], Sp. 1049). Dies resultierte aus der darin enthaltenen Gerbsäure, so genannt nach auch zur Ledergerbung genutzten Bestandteilen der Eichenrinde. Als Tannine, dem französischen Wort für die Gerbsäure, wurden diese Bitterstoffe dann im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet, während wir deren Fülle unter dem wenig präzisen Terminus „sekundäre Pflanzenstoffe“ bündeln. Münzt man dies dann in Polyphenole um, hebt deren Bedeutung beim Schutz vor freien Radikalen hervor, benennt ihre zumeist antikanzerogenen, entzündungshemmenden, antimikrobiellen, blutdrucksenkenden und blutzuckerregulierenden Wirkung, so kann man dies fast schon unter den aussageschwachen Begriff „gesund“ bündeln. Zu viel davon war und ist jedoch ungesund, entsprechend galt es ihren Anteil zu vermindert, um geschmacklich akzeptables Mehl resp. Brot zu erhalten.
Dazu bediente man sich vielerlei Verfahren, doch im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ging es erstens um die Auswahl guter Eicheln, nicht wurmstichig, faulend oder moderig. Diese galt es dann zweitens zu bearbeiten. Bei frisch gesammelten Eichen wurde Kochen empfohlen, teils mit Zusatz von Asche oder Kalk. Damit wurden die Bitterstoffe teilweise gelöst und gebunden. Anschließend galt es drittens, diese zu trocknen. Sollte die Schale nicht schon beim Kochen abgelöst worden sein, so war das nun erforderlich. Die weichen, fast bröseligen Eicheln wurden viertens gemahlen und dann fünftens mit anderem Getreide zu einem Brot verbacken. Das dergestalt entstandene Eichelbrot hatte zwar einen charakteristischen Geschmack, doch bestand es zumeist vorrangig aus anderen Getreidearten, vorrangig Roggen, ab und an Weizen, selten Hafer, kaum Gerste. Im Idealfall klappte all das ganz gut, so dass am Ende das Urteil stand: „Das Brodt soll geil seyn, und sehr sättigen“ (M. J[acob] Marx, Die Geschichte der Eicheln, Dessau 1784, 3).
Eichelbrot war Billigbrot für die Armen, denn der Grundstoff konnte teils unmittelbar gesammelt, teils für wenig Geld als Schweinefutter gekauft werden. Es ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich, dass diese Vorschläge große Resonanz im Alltag fanden. Es handelte sich um Erörterungen von und zwischen Experten, die in Notlagen gewiss hilfreich sein konnten, auf die aber füglich nicht zurückgegriffen wurde, so lange gängiges Brot und Kartoffeln verfügbar waren. Dessen ungeachtet wurde eine Art diätetisch-prozessuales Wissen abseits des Essalltages geschaffen. Der Kameralist und Naturforscher Bernhard Sebastian Nau (1766-1845) leistete hierfür Pionierarbeit, hatte er doch Backversuche unternommen und verschiedenartige Eichelbrote auch verkostet (Eichelbrod, in: Ders., Vermischte Aufsätze über Land- und Forstwirthschaft, Frankfurt a.M. 1804, 32-35; vgl. auch Kurpfalzbaierisches Wochen-Blatt von München 6, 1805, Sp. 649-650). Der Geschmack wurde durch intensiveres Auslaugen auch in kaltem Wasser und durch ansprechende Mischverhältnisse verbessert. Ob aber eine Mischung von einem Drittel Eichel- und zwei Dritteln Weizenmehl dann wirklich günstiger war als gängiges Roggenbrot, wurde nicht bedacht (Abhandlungen der Akademie nützlicher Wissenschaft zu Erfurt 3, 1804, 43). Generell galt den Experten ein Brot aus halb Eichel- und halb Roggenmehl als akzeptabel, selbst ein Brot mit einem Zwei-Drittel-Anteil Eichenmehl galt als „schön und angenehm im Genuß“ (Nau, 1804, 34). Forstwirtschaftler nannten gar ein reines Eichelmehlgebäck ein „sehr wohlschmeckendes und gesundes Brod“ (Joseph Fuchs, Vollständiges Lehrbuch die Eiche natürlich-künstlich und schnellwachsend zu erziehen, Wien 1824, 186). Das erscheint als eine gängige Weißwäscherei durch Experten, die der Mehrzahl Mäßigkeit und Haushaltsordnung predigten, sich in der generellen Armut aber gut eingerichtet hatten. Mediziner betonten demgegenüber, dass reines Eichelbrot „widerlich bitter“ schmecke (Gotthilf Wilhelm Schwartze, Pharmakologische Tabellen, Bd. 1, Leipzig 1819, 99). In zeitgenössischen Lexika wurde eine Mittelposition vertreten, wonach Eichelmischbrot „nicht nachtheilig“ sei (Universal-Lexikon, hg. v. H.A. Pierer, 2. völlig umgearb. Aufl., Bd. 9, Altenburg 1842, 257), auch wenn nach Beginn der Industrialisierung Eichelbrot eher distanziert bewertet wurde, nämlich „nicht als eigentlich genießbar und gesund“ (Stephan Behlen (Hg.), Real- und Verbal-Lexicon der Forst- und Jagdkunde mit ihren Hülfswissenschaften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1840, 524).

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Die hungrigen 1840er Jahre oder Der Wert eines Menschen (Düsseldorfer Monatshefte 1, 1847/48, 57)

Das änderte sich während der hungrigen 1840er Jahre. Das Massenelend resultierte aus Missernten, daraus resultierenden Teuerungen und ersten industriellen Krisen, zumal in der Heimindustrie. Abermals sollte auch Eichelbrot einen Beitrag zur Hungerbekämpfung leisten, zumal mit dem Aufschwung der organischen Chemie die Wertigkeit des Eichelbrotes genauer eingeschätzt werden konnte. Es galt als preiswerter Kohlehydratlieferant, also als klassisches Nährmittel. Das Auslaugen der Eicheln wurde verbessert und gleichsam standardisiert. Parallel begrenzte man den empfohlenen Anteil des Eichelmehls auf höchstens ein Viertel (Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen 1846, Nr. 345 v. 19. Dezember, Sp. 4488; Centralblatt des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern 1848, Nr. 1, 33). Die modifizierten Rezepte wurden nun im gesamten deutschen Gebiet verbreitet, auch wenn der Norden und Osten wenig bestrichen wurde (vgl. Wiener Zeitung 1847, Nr. 1 v. 1. Januar, 4; Oesterreichisches Morgenblatt 12, 1847, Nr. 25, 100; Ökonomische Neuigkeiten und Verhandlungen 1847, 216 bzw. Jurende’s Vaterländischer Pilger 35, 1848, 156). Ob das Eichelbrot dadurch „ziemlich volkstümlich“ (Prometheus 26, 1915, 817) wurde, wie später behauptet, sei jedoch dahingestellt. Belege konnte ich nicht finden.

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Eindringen in die Materie der Dinge: Stärke des Eichelmehls, 500fach vergrößert (T[homas] F[ranz] Hanausek, Die Nahrungs- und Genussmittel aus dem Pflanzenreiche, Kassel 1884, 483)

Auch nach der gescheiterten Revolution wurden diese Vorschläge in den 1850er und 1860er Jahren weiter verbreitet, waren Bestandteil hauswirtschaftlicher Literatur, aber auch von Tageszeitungen (A.R. Percy, Allgemeines chemisch-technisch-ökonomisches Recept-Lexicon, Nürnberg 1856, 74; Das goldene Buch oder der ökonomische Hausschatz 1, 1857, 34; Neuburger Wochenblatt 1868, Nr. 90 v. 23. Juli, 428; Wochenblatt für das christliche Volk 1868, 255). Neue Verfahren aber blieben aus, auch wenn einzelne Eichelbrotverbesserer ihre Verfahren mit neuem Enthusiasmus anpriesen (L. Tischmayer, Eichel- und Kastanienmehl als Zusatz zum Brodmehl, Zeitschrift für die Gesammten Naturwissenschaften 6, 1856, 466; Lochner’s Geschäfts-Zeitung 7, 1862, Nr. 46 v. 15. November, 3). Doch derartige Vorstöße stießen nun auch auf vermehrte öffentliche Kritik an veredeltem Schweinefutter. Neuerlich wurde der Geschmack als ekelhaft bitter kritisiert, zugleich aber eine einfache Kosten-Nutzen-Analyse vorgenommen: Will “man solche Stoffe wirklich genießbar machen, so erfordert es eine Arbeit, die mit dem, was endlich gewonnen wird, in gar keinem Verhältnisse steht“ (Voralberger Landes-Zeitung 1864, Nr. 54 v. 5. Mai, 3).
Anfang der 1890er Jahre folgte dann ein neuerlicher und für lange Zeit letzter Versuch, Eichelbrot einzubürgern. Zu einer Zeit, als eine Neugestaltung der Alltagskost durch neuartige Volksnahrungsmittel, Eiweiß- und Nährpräparate auf der Expertenagenda stand, versuchte Paul Soltsien, ein später wichtiger Fettchemiker, erstmals eine neue Backführung. Er vermengte das Mehl getrockneter schalenlosen Eicheln mit Roggen- resp. Weizenmehl, fügte dann Sauerteig und Salz hinzu. Die Sauerteiggärung veränderte die verbleibenden Gerbstoffe, so dass das Eichelbrot „genießbar“ wurde, ja deutlich bekömmlicher als seine Vorgänger (Zeitschrift für Nahrungsmittel-Untersuchung und Hygiene 9, 1891, 294). Für die Entbitterung hatte der Forscher anfangs Ammoniak genutzt, fand dann aber heraus, dass ein sechs- bis achtmaliger Wasseraufguss dies kostengünstiger erreichte (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 32, 1891, 571-574, hier 572). Doch neben gefälligen Beifall mischte sich Häme in die Debatte über das neue Verfahren. Der Chemiker und Samenhändler Theodor Waage vermerkte süffisant: Die Verwendung von Eicheln „ist aber keineswegs neu und die Verfahren, welche letzthin zur Entbitterung dieser Samen empfohlen wurden, waren im Wesentlichen bereits vor 100 Jahren – längst bekannt“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 32, 1891, 689). Er sah keinerlei Bedarf für ein derartiges Brot, bevorzugte im Falle eines Falles zudem die Einführung eines Maismischbrotes zur Armutsbekämpfung. Soltsien antwortete, dass sein Verfahren wissenschaftlich sei, entwickelt „an Hand von wissenschaftlichen Versuchen, auch von Analysen mit den Fabrikaten“. Außerdem führte er soziale und ökologische Gründe an: „Wenn ich das Sammeln von Eicheln empfohlen habe, so habe ich das im Interesse der ärmeren Bevölkerung gethan, und halt ich das Sammeln nach wie vor für richtiger, als dass man die Eicheln (wie es so häufig geschieht) verfaulen lässt“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 33, 1892, 21).
Das gleichsam letzte Wort in Sachen Eichelbrot wurde dann anlässlich umfangreicher physiologischer Untersuchungen von Hungerbroten nach der russischen Hungerkrise 1891/92 gesprochen. Ja, es war besser als andere Surrogate. Doch die Versuchspersonen (es handelte sich um zwei russische Soldaten) empfanden das Brot als unangenehm bitter und mussten sich zwingen, auch nur geringe Mengen zu essen. Der Schweizer Hygieniker Friedrich Erismann (1842-1915), der lange Zeit in Russland tätig war, ehe er als Sozialdemokrat entlassen wurde, bündelte pointiert, dass die Hungerbrote, auch das Eichelbrot, „als Nahrungsmittel einen äusserst geringen Werth besitzen, und dass viele derselben durch toxische oder mechanische Wirkung direkt die Gesundheit schädigen können. Derartige Surrogate des Brotes dürfen also auch bei grossem und äusserstem Mangel an Roggen- und Weizenmehl nicht benutzt werden, und es ist ein Gebot der öffentlichen Gesundheitspflege, dass dieselben aus der Liste der Nahrungsmittel auch bei Nothzuständen vollkommen gestrichen werden.“ (Die russischen Hungerbrote und ihre Ausnutzung durch den Menschen, Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie 5, 1902, 627-642, hier 641) Trotz dieses strikten Verdikts sollte die Debatte um das Eichelbrot in den Kriegszeiten des mörderischen 20. Jahrhunderts nicht verstummen.
Das Verschwinden des Eichelbrotes im langen 19. Jahrhundert bedeutete allerdings nicht ein Verschwinden von Eichelprodukten: Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde Eichelkaffee zu einem Ersatzprodukt für den teuren orientalischen Kaffee, vor allem aber zu einem wichtigen diätetischen Heilmittel. Seit dem späten 19. Jahrhundert trat der Eichelkakao hervor, ebenfalls als Heilmittel gegen Durchfälle bei Kleinkindern. Auf beide werde ich an anderer Stelle zurückkommen. Denn hier geht es um Eichelbrot, der mehligen Essenz des deutschesten aller Bäume. Das Verschwinden des Eichelbrotes war nämlich begleitet von einer immensen Aufwertung der Eiche, ihrer Blätter und Früchte im Symbolhaushalt der sich im 18. Jahrhundert entwickelnden deutschen Nation. Eichelbrot verschwand, Eichellaub dagegen wurde zum Nationalsymbol.

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Denkmal für einen Germanenrecken mit Eichelfresser (Illustrirte Zeitung 82, 1884, 220)

Dies begann als Dichterkonstrukt, als faktenwidrige Geschichtskonstruktion, die hier nur angerissen werden kann. Doch in intellektuellen Eliten etablierte sich schon in der frühen Neuzeit eine Vorstellung „deutscher“ Vergangenheit, voll Rohheit und Reinheit, im strikten Gegensatz zu Rom und zu Frankreich. „Die Kleidung der Teutschen war vorzeiten auß Thieres-Heuten / da unser Vorfahren noch Eichel-Brod assen“ schwadronierte etwa der evangelische Theologe Hermann Fabronius (1570-1634) über die dunkle Vorzeit (Geographica Historia, 4. Aufl., Schmalkalden 1625, 40). Was zählte schon Empirie für den in Eichenhainen streunenden Gottesmann. Der Dramatiker Christoph Otto von Schoenaich (1725-1807) fand in seiner dramatischen Eloge über Hermann den Cherusker dann richtungsweisende Verse: „Wie verschwunden, saget Hermann, wie verschwunden ist die Zeit; Da kein Sterblicher die Zunge noch mit fremder Kost entweiht! Da ein frisches Eichelbrot unserm Gaumen Lust ertheilte; Der verwöhnte Hals noch nicht, nach vermengten Speisen geilte“ (Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht, Leipzig 1751, 14). Sein Förderer, der Schriftsteller und Metaphysiker Johann Christoph Gottsched (1700-1766), sandte dem Autor daraufhin einen ehrenden Lorbeerkranz, doch an die Stelle dieser antiken Ehrung trat zunehmend das Eichenlaub, das immer häufiger auch das Haupt der Germania zierte. Mochten die Franzosen während der Revolution auch Eichen als Freiheitsbäume pflanzen, die Eiche war deutsch und blieb deutsch. Der erste der Klassiker, Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), umkränzte die „deutsche Eiche“ mit immer neuen Sprachgirlanden. Im Drama Herrmanns Schlacht hieß es 1769: „O Vaterland, o Vaterland! Mehr als Mutter und Weib und Braut‘, Mehr als ein blühender Sohn, Mit seinen ersten Waffen! Du gleichst der dicksten, schattigsten Eiche, Im innersten Hain, Der höchsten, ältesten, heiligsten Eiche, O Vaterland!“
Während die Bedeutung von Eichen und Eicheln in der Forst- und Landwirtschaft, insbesondere aber im Bereich der Alltagskost an Bedeutung verlor, begann seit dem frühen 19. Jahrhundert der Siegeszug allegorischer Zeichen, insbesondere des Eichenlaubs. Die napoleonische Herrschaft und die folgenden Befreiungskriege verankerten die Eiche als deutsches Nationalsymbol, als Ausdruck von Selbstbestimmung einer zersplitterten Sprachnation. Doch die martialische Kehrseite war schon vernehmbar, eine Ambivalenz, wie sie etwa die Dichtkunst Theodor Körners (1791-1813) prägte. Seine 1811 entstandenes Gedicht „Die Eichen“ reimte Treue auf Todesweihe, und im kurz vor seinem Soldatentod entstandenen „Bundeslied vor der Schlacht“ hieß es „Wachse, du Freiheit der deutschen Eichen, Wachse empor über unsere Leichen!“ (Sämmtliche Werke, 3. Gesamtausgabe, Berlin 1838, 23). Körners Grab zierte eine Eiche – und Eichenpflanzen stand symbolisch für eine aufbrechende Nation. Luthereichen wurden vorrangig 1817 (300 Jahre Reformation), 1833 (dem 350. Geburtstags des antisemitischen Hasspredigers) und 1883 gepflanzt. Bismarck- und Kaisereichen folgten, schließlich, ab 1933 auch Tausende von Hitler-Eichen.
Die deutschen Turner nahmen dies auf, noch liberal, nicht nur national, zierten ihre Siegermedaillen mit Eichenlaub. Auch das 1813 gestiftete preußische Eiserne Kreuz wurde in der Publizistik damit dekoriert. Offizieller Bestandteil dieses militärischen Ehrenzeichens wurde es allerdings erst 1895. Für die liberale Einigungsbewegung verkörperte die Eiche Zusammenhalt und Dauer, für große Teile des Bürgertums deutschen Sinn, deutsche Gesittung und deutsche Reinsprache – so der Untertitel der 1850 gegründeten Sprachpflegezeitschrift „Die deutsche Eiche“. Auch später, nach der Zerschlagung der deutschen Nation durch das kleindeutsche Reich, stand Rausch: „Die Eiche rauscht im Vaterlande, die Deutschen grüßen Schaar und Schaar, Germania im Festgewande, Es schmücken Kranz um Kranz ihr Haar“ – so 1883 in Friedrich Hofmanns (1813-1888) Festlied zur Sedanfeier (Gartenlaube 1883, 574). Eichenkränze zierten danach Konsumgüter, Ritterkreuze, auch das deutsche Geld. Auf den Euromünzen ist sind Eicheln und Eichenlaub bis heute präsent.