„Trank gegen Trunk!“ Bürgerliche Alternativen zum Alkoholkonsum der Arbeiter

Der Alkoholismus, so kurz nach der Jahrhundertwende der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn (1869-1931), verdiene „wegen seines überaus häufigen Vorkommens, seiner Bedingtheit durch soziale Zustände und seiner Rückwirkung auf diese ebensosehr den Namen einer Volkskrankheit, wie die großen Endemien der Tuberkulose und der Syphilis.“ Nach spektakulären Entdeckungen etwa Robert Kochs (1843-1910), Paul Ehrlichs (1854-1915) und Sahachiro Hatas (1873-1938) konnten Tuberkulose und Syphilis zwar nicht beseitigt, wohl aber erfolgreich eingedämmt werden. Der medizinische Kampf gegen den Alkoholismus aber blieb ohne entsprechende Erfolge. Gewiss, plakativ-erzieherische Aufklärung und das breite Geflecht der „Trinkerfürsorge“, also von Beratungsstellen und Heilanstalten, verwiesen auf das übliche Janusgesicht von Marktbildung und Krankenfürsorge. Und die sich seit den späten 1890er Jahren durchsetzende Interpretation des Alkoholismus als Krankheit zeugte von einem wachsenden Rationalitätsgewinn im Umgang mit den Süchtigen. Doch ein Durchbruch im Kampf gegen den Alkoholismus stand aus.

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Auszug aus einer Werbung für ein Antitrunksuchtmittel (Das praktische Blatt 24, 1905, Nr. 7, 32)

Noch in den 1880er Jahren, nach der Wiederbelebung der frühen Abstinenzbewegung der frühen 1840er Jahre durch den 1883 gegründeten „Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“, dominierte die moralische Verdammung des Alkoholabhängigen als haltloses, charakterloses, der Erziehung der Gesellschaft anheimgegebenes, potentiell gefährliches Subjekt. Durchaus konsequent, waren die meisten medizinisch-gesellschaftlichen Maßnahmen daher repressiv. Es galt, den „Trinker“ wieder in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Vornehmlich bildungsbürgerlich geprägt, konzentrierten sich die Mäßigkeitsvereine fast durchweg auf das Trinkverhalten der „Minderbemittelten“ (und der Männer). Der Kampf gegen den Alkoholismus war lange Zeit Sozialtherapie mit harter Hand, ein Kampf gegen den potentiell umstürzlerischen, politisch anders denkenden Arbeiter. Der allseits habitualisierte, absolut eher höhere Alkoholkonsum des Bürgertums wurde dagegen selten thematisiert. Neben repressive (und durchaus wirksame) Maßnahmen — etwa härtere Strafgesetze, höhere Alkoholsteuern und restriktivere Konzessionsvergabe — traten aber schon seit den 1880er Jahren „positive“ Alternativen zum Alkoholkonsum. Kirchen, Wohlfahrtspfleger, Sozialwissenschaftler und Statistiker verwiesen immer wieder auf schlechte Wohnverhältnisse und die Enge von Familie, Verwandtschaft und Schlafgängertum, die Arbeiter gerade nach Feierabend in die warme, von Freunden und Bekannten besuchte Schankwirtschaft trieben. Konnte man deren Quasimonopol für Feierabend und Wochenende jedoch durchbrechen, so der Umkehrschluss, so war dies ein wichtiger Sieg im Kampf gegen die „Trunksucht“. Vereinzelt wurden daher Schankstätten neuen Typus gegründet, in denen der gefährliche Trunk durch einen labenden Trank erst ergänzt und dann ersetzt wurde.

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Kaffeeausschank bei Kathreiner, München (Die freiwillige soziale Fürsorge in Deutschlands Gewerbe, Handel und Gewerbe 1883-1913, hg. v. Hansa-Bund, Halle/S. 1913, 196*)

Warmgetränke dominierten in den „Kaffeeschenken“ in vielfach kirchlicher oder freier Trägerschaft, die in den 1880er Jahren vermehrt entstanden: Dort wurden –  neben (Ersatz-)Kaffee und Tee – zumeist heiße Suppen angeboten, der fehlenden häuslichen Wärme also ein karitatives Angebot entgegengesetzt. Doch die Erfolge blieben lokal begrenzt, hingen ab vom Engagement der Wenigen. Umfassendere Angebote kamen zeitgleich in größeren Fabriken an, deren Arbeitsablauf durch Alkohol vielfach beeinträchtigt wurde. Die repressiven Branntwein- bzw. Alkoholverbote der Fabrikordnungen wurden ergänzt durch Offerten von teils verbilligtem, teils kostenlosem Kaffee, dann auch von (Mineral-)Wasser. Beide Getränke waren bürgerlich konnotiert, verwiesen auf normative Ideale von Nüchternheit und moderater Stimulation. „Bürgerliche“ Getränke sollten die „Minderbemittelten“ nicht nur vom Alkohol weg-, sondern auch zu einem neuen Lebensstil hinführen, die Tür öffnen zur abgeklärten, rechenhaften Idealwelt des Bürgertums. Bürgerliche Ideologie und innerbetriebliche Rationalisierung verschmolzen im Angebot von teils selbst mit Kohlensäure angereichertem Wasser, von heißem Ersatz- und wohlschmeckendem Röstkaffee. Innerhalb der Gewerbebetriebe sank der Alkoholkonsum vor allem aufgrund höherer Preise, steter Anhaltungen und regelmäßigen Drucks. Die erhoffte Verbürgerlichung der häuslichen Trinkgewohnheiten blieb jedoch aus. Das Alltagsleben war nicht zu kontrollieren, eine entscheidende Schwachstelle der Antialkoholbewegung. Der notwendig öffentliche Alkoholkonsum in Gaststätten und Kneipen konnte durch innerbetriebliche Wohlfahrtseinrichtungen kaum begrenzt werden. Deren Getränkeangebote standen – ebenso wie die der Kaffeeschenken – unter dem Odium eines zweckorientierten Almosens.

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Wesentlich erfolgreicher waren demgegenüber Trinkhäuschen und Trinkhallen. Ihre Anfänge lagen in den 1820er Jahren, nachdem künstliches Mineralwasser in angemessener Qualität hergestellt werden konnte. In frühen Trinkkuranstalten wurde vor allem Heilwasser aufgepeppt, um den Widerwillen des Kurgastes zu verringern, während die erfrischende Wirkung „künstlichen“ Mineralwassers erst in den 1840er Jahren an Bedeutung gewann – und damit zum Prestigeprodukt des Bürgertums mutierte. Auch billigeres Eiswasser mit Citronensäure oder Zusätze von Sirup boten keine Alternative zu „König Alkohol“, sondern eine Ergänzung im Sommer. Die Zahl der Trinkhäuschen nahm erst seit den späten 1880er Jahren stärker zu. Flüssige Kohlensäure hatte die Mineralwasserproduktion wesentlich verbilligt und die Reallohnzuwächsen seit Mitte der 1890er Jahre ließen auch Teile der Arbeiterschaft die Häuschen frequentieren. Sie tranken dort Wasser und Limonaden, verzehrten Speiseeis. Die rasch steigende Zahl der Buden manifestierte jedoch keinen Wandel gegenüber dem Alkohol. Sie etablierten sich als Orte privater Kommunikation und individueller Freiheit. Nicht die Erfrischung stand im Vordergrund, sondern ein Plausch mit Kollegen, vor allem aber mit der Frau oder Freundin, die in der zumal in Nord- und Mitteldeutschland männerdominierten Gaststätte kaum ihren Platz hatte. An der meist privat betriebenen Bude konnte sich (fast) jeder selbst darstellen, seine Sorgen und Freuden mit anderen teilen. Neue Gründungen, etwa die nach 1900 aufkommenden „alkoholfreien Gaststätten“ im ländlichen Ostdeutschland, griffen dieses Moment auf, waren zugleich aber als dörfliche Gemeinde- und Vereinshäuser konzipiert.

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Karikatur zum Berliner Bierboykott (Der Wahre Jacob 11, 1894, 1776)

Die gegenüber Geselligkeit nachrangige Bedeutung des Getränkes zeigte sich auch beim Erfolg der Milchhäuschen. Milch schien anfangs kaum zur Bekämpfung des Alkohols geeignet, galt sie doch als typische Säuglings-, Kinder- und Frauennahrung, nicht aber als Getränk des erwachsenen Mannes. Doch das war keine grundsätzliche Ablehnung. Ansonsten wäre es unverständlich, warum kurz vor der Jahrhundertwende viele Fabriken ihr Getränkeangebot erfolgreich auf Milch und Kakao ausdehnen konnten. Schneller als beim Mineralwasser folgte ein öffentliches Angebot, teils kommerziell, teils gemeinnützig. Allein die „Gemeinützige Gesellschaft für Milchausschank“ besaß Ende 1913 258 Milchhäuschen vorrangig im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und gab in diesem Jahr ca. 20 Mio. Getränke und Kleinspeisen aus. Die folgende Statistik unterstreicht die beträchtliche und in den 1920er Jahren nochmals stark gestiegene Bedeutung aller alkoholfreien Schankstätten.Zahl der alkoholfreien Schank und Erfrischungsstätten in DDie Milchhäuschen stehen aber auch für den tiefen Bruch, den der Erste Weltkrieg für die bürgerliche Mäßigkeitsbewegung bedeutete – und der zugleich den Weg hin zur späteren „Bude“, zum „Kiosk“ einläutete. Während in der Armee Alkohol trotz medizinischer Vorbehalte regelmäßig als Stimmungsheber und Erduldungsration verausgabt wurde, brach an der sog. Heimatfront die regelmäßige Milchzufuhr fast vollends zusammen.

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Fahrbares Milchhäuschen in Berlin (Blätter für Volksgesundheitspflege 27, 1927, 32)

Um Häuschen offen zu halten, wurde das Angebot während und vor allem nach dem Kriege grundlegend neu ausgerichtet: An die Stelle der Milch traten Kunst-Limonaden, Wasser oder neuartige Angebote, wie die Milchsäurelimonade Chabeso. Zudem gab es nicht allein einfaches Gebäck, sondern eine begrenzte Speisenauswahl. Auch die Seltersbuden zogen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach. Billige und öffentlich konsumierbare Erfrischungen wurden Teil des Sortiments: Neben die antialkoholischen Getränke traten Süßwaren, Zigaretten, Zeitungen und Illustrierte. Zwischen Getränkebuden und Kiosken konnte kaum mehr unterschieden werden. Die Häuschen verloren zunehmend ihren reformerischen Anspruch, erweiterten sie doch den Markt für neue, teils gesundheitsschädliche Genüsse. Gerade billige Zigaretten waren Teil des Lebensgefühls der 1920er Jahre, auch hieran hatte die Armeeverpflegung einen beträchtlichen Anteil. Die Buden emanzipierten sich zugleich von ihren bürgerlichen Anfängen, die sog. kleinen Leute fanden hier durchaus eine Alternative zur Gaststätte. Während der sich nach 1900 langsam einbürgernde, in den 1920er Jahren stark wachsende Flaschenbierkonsum für die langsame Verhäuslichung des Alkoholkonsums stand, manifestierte die zunehmende Zahl alkoholfreier Schankstellen die parallele langsame Enthäuslichung nichtalkoholischen Genusses. Inwieweit daran lebensreformerische Konzepte oder aber neue Freizeitformen dank reduzierter Arbeitszeit Anteil hatten, ist kaum abzuschätzen. Der im Gefolge der Rationalisierungsdiskussionen der 1920er Jahre gegenüber der Vorkriegszeit weiter sinkende Alkoholkonsum am Arbeitsplatz verweist eher auf strukturelle Veränderungen, die den Stellenwert des Alkohols auch am Feierabend und in der Freizeit neu definierten. Neuartige Brausen, Limonaden und Fruchtsäfte erhöhten zudem die Attraktivität antialkoholischer Produkte. Die frühen Vorschläge der bürgerlichen Mäßigkeitsbewegung hatten zwar anregend gewirkt, doch ihre Umsetzung erfolgte teils marktgetrieben, teils eigenbestimmt und sicherlich nicht im Sinne einer erhofften und idealisierten Verbürgerlichung des Alkoholkonsums der Arbeiter.

Uwe Spiekermann, 16. Mai 2018

4 Gedanken zu „„Trank gegen Trunk!“ Bürgerliche Alternativen zum Alkoholkonsum der Arbeiter

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    • Trunk ist ein recht altes, in der frühen Neuzeit aber übliches Wort für das Trinken an sich, aber auch für das dabei einverleibte Getränk. Es verwies auf gemeinsames Trinken und das rechte Maß, war der Trunk doch an das Trinken in einem Zug gekoppelt. Trunk war an bestimmte Situationen gebunden – und zielte schon damals eher auf Alkoholika. Trank war dagegen enger, umfasste alle genießbaren Flüssigkeiten. Der Begriff war breiter, umfasste nicht nur nicht alkoholische Getränke, sondern Medizin (Lebenstrank) oder auch den Zaubertrank, mit dem man bestimmte Effekte erzielen konnte (Liebestrank). Seit dem 19. Jahrhundert – parallel zur Bekämpfung der „Branntweinpest“ – wurde Trunk immer mit Spirituosen, mit dem trunkenen Zustand des Rausches verbunden; und als solches abgewertet (Trunksucht). Der Trank weitete sich dagegen auf neue Getränke, insbesondere Mineralwässer und später auch Limonaden aus. Vor dem Hintergrund zunehmender medizinischer Kenntnisse über Alkoholwirkungen und der gezielten staatlichen Bekämpfung schienen diese Getränke an die Stelle der Alkoholika treten zu können (oder zu sollen). Auch der Arbeitsalltag erforderte nüchterne Menschen, keine Trunkenbolde; so dass nicht zuletzt Unternehmer das „Trinken“ verboten, während sie selbst Getränke in frühen Kantinen anboten. All das wurde natürlich vom Bürgertum (und auch Teilen der frühen Arbeiterbewegung) offiziell propagiert – was allerdings nicht dazu führte, dass Bürger weniger tranken als Bauern (Haustrunk) oder Arbeiter.

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