Familie Pfundig meistert den Krieg – Alltagshilfe und NS-Propaganda

1940, zu Beginn der „Luftschlacht um England“, dem Angriff des Deutschen Reiches auf die britische Hauptinsel. Kriegsberichterstatter Hans-Herbert Basdorf berichtete begeistert von einem Fliegerhorst: „Immer wieder, wenn er dazu ansetzen will, wird die Tür seiner Stube aufgerissen. Ein braungebrannten Kopf guckt durch den Türspalt und ruft ihm das Wort ‚pfundig‘ zu. Was ist denn pfundig, erkundigt er sich verärgert. Na, hast Du es nicht gehört. Nein! Nun, wir fliegen nach London“ (Metropolis auf einem Vulkan. Londons Feuerschein über dem Kanal, Haaner Zeitung 1940, Nr. 217 v. 14. September, 6). Der Krieg, eine offenbar pfundige Sache. Nun ja, Kriege heißen heute militärische Spezialoperationen, Interventionen oder Friedensmissionen, Kriegsbeteiligungen gelten als Sanktionen oder Waffenlieferungen. Doch pfundig?

Fündig wird man doppelt: Zum einen sprachlich, im Worte „pfundig“ selbst. Zum anderen aber sachlich, denn nur wenige Monate vor dem Abnutzungskrieg der deutschen und britischen Luftwaffen hatte „Familie Pfundig“ vielen Deutschen freundliche Ratschläge für einen gedeihlichen Umgang mit den Problemen im Kriegsalltag gegeben. Die Anfang 1940 laufende Kampagne ist offenkundig nicht mehr bekannt, in der Fachliteratur fehlt sie in der langen Reihe der gern gestriffenen, selten näher behandelten NS-Propagandaaktionen. Nicht nur angesichts unserer heutigen Bemühungen um die Bewältigung von Kriegsfolgen scheint ein Blick in die Vergangenheit daher sinnvoll zu sein.

Der Weltkrieg verändert den Alltag

Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen angriffen, waren die wichtigsten Maßregeln für eine weiter leistungsfähige Heimatfront schon in Gang gesetzt worden. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte zu vielfältigen Planungen geführt, um die damaligen Fehler insbesondere bei der Rationierung zu vermeiden. Dazu gehörten nicht nur eine umfassende Vorratswirtschaft und die Entwicklung zahlreicher als „Austauschstoffe“ bezeichneter Ersatzmittel im Rahmen des seit 1936 laufenden Vierjahresplanes. Dazu gehörte insbesondere eine schon am 27. August 1939 beginnende Rationierung der meisten Lebensmittel und vieler Gebrauchsgüter. Der kriegerische Staat gab sich sorgend: „Um eine gerechte Verteilung lebenswichtiger Verbrauchsgüter an alle Verbraucher sicherzustellen, ist für gewisse Lebensmittel, ferner für Seife und Hausbrandkohle sowie lebenswichtige Spinnstoffwaren und Schuhwaren eine allgemeine Bezugsscheinpflicht eingeführt worden“ (Bezugsscheine garantieren Bedarfsdeckung für jedermann, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 240 v. 28. August, 7). Textil- und Schuhgeschäfte wurden zeitweilig „wegen Inventur“ geschlossen, Brot, Kartoffeln und Mehl waren dagegen noch frei käuflich. Obwohl Polen (im Einklang mit der UdSSR) rasch geschlagen werden konnte, stand der offenkundig verlustreichere Waffengang mit den Westmächten noch bevor. Diese hatten ihre anfangs massive Überlegenheit nicht genutzt, stattdessen gab es einen vielmonatigen „Sitzkrieg“ mit relativ begrenzten Kampfhandlungen vornehmlich von Marine und Luftwaffe. Er war begleitet von intensiven Luftschutzmaßnahmen, von Verdunkelung gemäß der schon im Mai 1939 erlassenen Verordnung. Allen Vorbereitungen zum Trotz veränderte sich der Alltagskonsum nicht unerheblich, denn die für den Kampf um die „Sicherheit des Reiches und seine Rechte“ (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 245 v. 2. September, 3) mobilisierten Männer fehlten: Die Werbung wurde langsam zurückgefahren, es mangelte an Gebrauchsgütern, auch die Qualität vieler Angebote ließ zu wünschen übrig. All das, so wurde versichert, wäre nur vorläufig – und wurde begleitet vom gängigen Arsenal der Kriegspropaganda: Wir wollen den Krieg nicht, die Gegner tragen dafür die Verantwortung, unsere Sache ist gerecht, die Mission heilig, unsere Berichterstattung ehrlich und nicht in Zweifel zu ziehen (Anne Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2004; Arthur Ponsonby, Falsehood in War-Time, London 1928). Zweifel und etwaige Kritik waren zu zerstreuen, Mut angesichts der kleinen Hürden des Alltags zu machen: Das war auch die Aufgabe der Pfundigs: „Die Familie Karl Pfundig / Ist fürwahr des Lebens kundig, / Weil sie innerlich begeistert, / Alle kleinen Sorgen meistert! Wie die Pfundig’s stets zufrieden, / Stolz an ihrem Glücke schmieden, / Ungestört von kleinen Dingen, / Wollen wir in Bildern bringen. Was die Pfundig’s noch erleben, / Gilt auch für dein eignes Streben!“ (Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 8 v. 6. Januar, 5). Der Tenor klang bekannt: Krisen seien Bewährungsproben, vielleicht gar Chancen. So nur zwei Jahre später auch der US-Schriftsteller Thornton Wilder (1897-1975) in seinem Drama „Wir sind noch einmal davongekommen“, hierzulande eines der wichtigsten Stücke nach der totalen Niederlage 1945.

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Die biedere Familie Pfundig (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 1 v. 5. Januar, 5)

Das Wortfeld „pfundig“

Familie Pfundig kam bieder daher, entsprach schon dadurch nicht der vermeintlichen Freude und Hochspannung von Kampffliegern vor dem Einsatz. Bei den fünf Familienmitgliedern – Vater Karl, den Kindern Inge, Fritz und Max sowie der vornamenlosen „Mutter Pfundig“ – handelte es sich offenbar um ganz normale Deutsche, um den idealisierten Bevölkerungsdurchschnitt. Mit ihnen konnte man sich identifizieren, in ihnen sich wiederfinden. Was aber besagte der Name „Pfundig“?

Das Wort ist süddeutschen, vorrangig südwestdeutschen Ursprungs, bedeutet „großartig, außergewöhnlich, außerordentlich“ (Bayerisches Wörterbuch, Bd. II, hg. v. d. Kommission für Mundartforschung, München 2021, 706). Es entstand aus der bis heute bekannten Gewichtsbezeichnung, die präzise daherkam, etwa beim 5-pfündigen Brot. Doch pfündig war auch ein auf schweres, auf ansprechendes hinweisendes Eigenschaftswort, etwa bei pfündige Forellen oder – und hieran sehen wir die einfache Verschiebung des einen Vokals – bei pfundigen Karpfen. Derartige Teichfische waren gewichtig, man freute sich sprachlich vorab schon auf ein gutes, weil mehr als auskömmliches Essen. Pfündig war lange auch Teil der Militärsprache, bezeichnete die Geschossgröße von Mörsern und Kanonen. Angesichts immer schwererer Munition lief diese Verwendung aber spätestens im Ersten Weltkrieg aus.

Pfündig wurde in der folgenden Zwischenkriegszeit inhaltlich neu aufgeladen und die Schwierigkeiten in Deutschland mit dem ü und dem u (Benutzer vs. Benützer…) ließen das Pfundige im Süden aufkommen, ehe es sich dann auch im Norden und Osten etablierte. Entsprechend habe ich vorrangig badische Zeitungen analysiert, in deren Verbreitungsraum das Wort Teil der Alltagssprache war: Pfündig wurde schon vor der NS-Zeit ein Begriff des Außeralltäglichen, des Ausfluges, des Erlebnisses: Natürlich durfte das Münchener Oktoberfest nicht fehlen, denn hier gab es auch mitten in der Weltwirtschaftskrise „eine wirkliche und ‚pfundige‘ Gaudi!“ (Badischer Beobachter 1932, Nr. 265 v. 25. September, 3). Ein alpines Studentenheim lud meist gutbürgerliche Skifahrer ein, die sich auf eine pfundige Abfahrt freuten (Badische Presse 1931, Nr. 112 v. 7. März, 7). Auch im Trendsport Kanufahren hoffte man auf eine „pfundige Strömung, heftiger Wellengang, ab und an einen annehmbaren Schwall, prächtige Floßgassen mit mehr oder weniger heimtückischen Widerwellen“, denn so „war immer etwas los“ (Badische Presse 1931, Nr. 270 v. 13. Juni, 6). Die von den Bergfilmen der späten 1920er Jahre näher gebrachten Gipfel wollten erklommen werden, Kletterer erzielten entsprechend pfundige Leistungen im Fels (Badische Presse 1933, Nr. 225 v. 16. Mai, 5).

Hier war das Beiwort aber noch abhängig von Äußerem, von einem besonderen Umfeld. Auch das legte sich in den frühen 1930er Jahren, denn pfundig mutierte zu einem zunehmend beliebigen Beiwort, mit dem man Schwere, Größe und Bedeutung von fast allem wabernd bezeichnen konnte. Es gab plötzlich pfundige Regierungskrisen, pfundigen Applaus, eine pfundige Überschrift (Der Führer 1931, Nr. 136 v. 20. Juni, 1; Karlsruher Zeitung 1931, Nr. 164 v. 17. Juli, 3; Der Führer 1931, Nr. 200 v. 20. September, 5). Der mächtig aufkommende Fußball kam ohne das Attribut kaum mehr aus, Schüsse, Lattentreffer, selbst Niederlagen waren nun „pfundig“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 78 v. 20. März, 7). Sollte aber die Verteidigung pfundig gestanden haben, so war auch eine „pfundige Ueberraschung“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 112 v. 2. Mai, 7; Badische Presse 1934, Nr. 341 v. 23. August, 7) möglich.

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Pfundiges Training, pfundige Cliquen (Badische Presse 1934, Nr. 403 v. 3. November (l.); ebd., Nr. 6 v. 8. Januar, 8)

Was sich freundlich, spielerisch anhörte hatte jedoch auch strikt politische Seiten. Pfundig wurde nämlich auch zu einem anklagenden Wort, das von der NSDAP Anfang der 1930er Jahre vielfach zur Denunziation des vermeintlich korrupten demokratischen „Systems“ genutzt wurde. Subventionsnehmer hatten ein vermeintlich „pfundiges“ Gehalt, lokale Politiker einen entsprechenden Vertrag, die Oberen nahmen sich einen pfundigen Happen aus den öffentlichen Kassen (Der Führer 1931, Nr. 284 v. 17. Dezember, 5; ebd., Nr. 293 v. 29. Dezember, 6; ebd. 1932, Nr. 61 v. 2. März, 6).

Nach der Machtzulassung wurden die öffentlichen Kassen noch stärker geplündert; und so verschwand das Adjektiv aus diesem Felde. Es wurde nun vermehrt mit Gemeinschaftshandeln im NS-Verbund verbunden, zumal in der Hitler-Jugend. Bei den Pimpfen war eine Keilerei Spaß, eine pfundige Angelegenheit, im Zeltlager herrschte pfundige Stimmung, selbst der Schlafsack wurde pfundig inmitten des Rudels (Badische Presse 1934, Nr. 301 v. 7. Juli, 13; Durlacher Wochenblatt 1934, Nr. 187 v. 13. August, 5; Der Führer 1934, Nr. 230 v. 22. August, 6). War pfundig zuvor ein Wort junger Erwachsener, so entwickelte es sich Mitte der 1930er Jahre auch zu einem der Jugend, der Bewegung. Die Jungen nahmen Elemente der bürgerlichen Freizeitkultur der späten 1920er Jahre auf, im Rahmen der zunehmend von der NSDAP dominierten Jugendverbände waren Sport und Reisen angesagt: Am Obersalzberg gab es nicht nur Hitlerplausch und Almenrausch, sondern man traf auch pfundige Mitstreiter (Ebd. 1933, Nr. 195 v. 17. Juli, 7). Eine pfundige Abfahrt lockte, den entsprechenden Sturz steckte man lachend weg (Mittelbadischer Kurier 1933, Nr. 288 v. 11. Dezember, 3; Badische Presse 1934, Nr. 19 v. 12. Januar, 7).

Pfundig war jugendbewegt, das Wort bezeichnete impulsives Leben ohne Intellekt, ohne größeren geistigen Überbau. Es stand für ein einfaches, simples Leben, ohne großes Nachdenken. Pfundig war kein Leben im Wallgraben seines Selbst, es war offen, dynamisch, stand für Teilhabe und Teilnahme, für ein Leben in Gemeinschaft, im völkischen Umfeld. So sollte das Leben sein, instinktiv. Leben als Wollen, Schaffen und Tun. Von Pfundskerlen umgeben glich das Leben einem Rausch, einem Wirbelwind: Im Augenblick leben, nur den nächsten Tag im Blick, die Vergangenheit vergessen, die Zukunft im Vertrauen auf sein Umfeld angehen. So machen das viele bis heute, das Bungeespringen steht dafür.

Der 1939 losgebrochene Krieg schien all dies zu beenden. Und doch dürften viele den Kampf als ultimativen Kick verstanden haben, mochte es einer großen Zahl Deutscher bei Kriegsbeginn auch mulmig gewesen sein. Mehr als zwei Millionen tote deutsche Soldaten waren nicht vergessen, amputierte Beine und Arme markierten Verletzungen, eine halbe Million Kriegsversehrte wurden anerkannt. Noch wusste man um die Nöte und Härten der „Heimatfront“, um die Abmagerung aller. Doch das innere Feuer löschen, die Träume vom pfundigen Leben stillstellen? Just hier setzte „Familie Pfundig“ an, denn sie bot ein anständiges Vorbild im Einklang mit den Erfordernissen der Zeit. Das innere Feuer konnte weiter brennen, die Träume der eigenen Jugend. Doch Krieg war keine Zeit der Ekstase, sondern des ruhigen, beharrlichen Handelns. Der Feind würde jede Unbedachtheit nutzen, es galt ihm zuvorzukommen – nicht in der Ferne, sondern auf dem Bewährungsgrund Heimat. Die Landser mochten in die Ferne ausschwärmen, bei Widerstand pfundig schimpfen (Der Führer 1939, Nr. 294 v. 24. Oktober, 3). Doch mit pfundiger Kameradschaft und ebensolchen Weisen auf den Lippen würde es schon gehen (Ebd., Nr. 320 v. 19. November, 5; ebd. 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 4). Der nationalsozialistische Reichsfußballtrainer Sepp Herberger (1897-1977) schrieb entsprechend an einen seiner Nationalspieler: „Sie haben ja eine schöne Irrfahrt durch ganz Frankreich gemacht. Aber pfundig muss die Sache gewesen sein“ (Gregor Hoffmann, Mitspieler der »Volksgemeinschaft«. Der FC Bayern und der Nationalsozialismus, Göttingen 2022, 246). Der Krieg war ein Spiel, mit manch pfundigem Schuss.

Anregungen und Vorbilder

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Herr Hase: Werbekampagnen für Zeitungsabonnements 1936/37 (Westfälische Neueste Nachrichten 1936, Nr. 235 v. 7. Oktober, 6 (l.); Schwerter Zeitung 1937, Nr. 73 v. 30. März, 3)

Die Anfang Januar 1940 einsetzende Kampagne mit „Familie Pfundig“ wurde vom Reichsverband der deutschen Zeitungsverlage in Kooperation mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda durchgeführt. Bezugspunkt und bedingt Vorbild war eine frühere Kampagne der Zeitungsverleger, die ebenfalls kaum mehr bekannte Herr Hase-Kampagne von 1936/37 (Herr Hase als Anzeigenwerber, Zeitungs-Verlag 37, 1936, 720; Herr Hase auf der Anklagebank, ebd. 36, 1937, 135). Dieser Herr, der von nichts wusste, weil er keine Zeitung las, wurde als Negativfigur des unbedarften, am Gemeinschaftsleben nicht teilnehmenden Sonderlings präsentiert, der am Ende zwingend mit dem Gesetz und der Gemeinschaft in Konflikt geriet und seine wirtschaftliche Existenz verlor (Gustav Lange, Schöne Grüße vom Schaefer-Ast (1890-1951). Postkarten und Geschichten für Werbekampagnen im Dritten Reich, Romerike Berge 72, 2022, H. 2, 12-31; unkritisch Werner Greiling, Werbegraphiker und Kunstprofessor in Weimar – Albert Schaefer-Ast (1890-1951), Das kulturhistorische Archiv von Weimar-Jena 1, 2008, 110-138, hier 120-125). Die Auftraggeber reagieren damit auf den massiven Auflagenrückgang der Tagespresse, einerseits Folge der Verbote der SPD- und KPD-Zeitungen und dem Ende auch liberaler Zeitungen, etwa der Vossischen Zeitung 1934. Sie war anderseits aber eine rationale Entscheidung der Leser, die ein zunehmend uniformes Nachrichten- und Propagandaangebot nicht auch noch finanzieren wollten, die sich fern hielten vom betreuten Denken in der vermeintlichen Volksgemeinschaft. Gleichwohl bemühten sich Verleger und Machthaber um höhere Abonnementzahlen, denn darauf gründete nicht nur eine einigermaßen erfolgreiche Verhaltens- und Verbrauchslenkung, sondern auch der Vertrieb zahlloser Angebote und Anzeigen (Norbert Frei und Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 1989, 36-38).

Herr Hase tauchte in zwei längeren Serien Ende 1936 und Anfang 1937 in deutschen Zeitungen auf, wurde nach der halbwilligen Besetzung Österreichs dann 1939 in der „Ostmark“ abermals aufgelegt, dabei mit neuen Motiven ergänzt. Künstlerisch war sie wenig ansprechend, inhaltlich teils peinlich. Die Gründe für das Zeitungslesen waren teils hanebüchen, konnten die strukturellen Defizite einer fast gänzlich gleichgeschalteten und von Presseanweisungen recht genau gesteuerten Zeitungslandschaft ja nicht angesprochen werden (Konrad Dussel, Wie erfolgreich war die nationalsozialistische Presselenkung?, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 543-561). Hinzu kam, dass der 1939 begonnene Krieg für die Presse fast wie ein Konjunkturprogramm wirkte, stiegen die Auflagen doch rasch an, war man durch die Rationierung und die Zivilverteidigung doch von behördlichen Informationen zunehmend abhängig. „Familie Pfundig“ knüpfte daran an. Hans Fritzsche (1900-1953), Leiter der Abteilung „Deutsche Presse“ im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, betonte, diese Serie, ähnlich wie zuvor die Serien über Herrn Hase, solle „generell von allen deutschen Zeitungen gebracht werden“ (Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970, 309). Doch sie würde positiv sein, keine Negativfiguren enthalten, Willigkeit hervorrufen. Und so geschah es…

Naja, nicht ganz. Offen bleibt die Frage, warum man den Namen „Familie Pfundig“ wählte. Die Antwort liegt wohl in der Person des Zeichners Emmerich Huber (1903-1979). Dieser, wir kommen darauf zurück, hatte sich seit Mitte der 1920er Jahren als Zeichner, Illustrator und Werbegraphiker einen Namen gemacht, versah er doch gleichermaßen Güter und Gebote mit dem Charme des Freundlichen. Seine Arbeit kombinierte – wie schon Paul Simmel (1887-1933) und Walter Trier (1890-1951) – unmittelbar eingängige Zeichnungen mit humorvollen, selten auch bissigen Kommentaren. Huber arbeitete allerdings stärker seriell, erzählte kleine Geschichten, versah sie oft mit Sprachblasen, eingefügten Textzeilen und gereimten Unterzeilen. Huber war populär und daher gleichermaßen wertvoll für das Regime und die Konsumgüterindustrie.

Einer seiner vielen Auftraggeber in den späten 1930er Jahren war der niederländische Handelskonzern C&A. Als Filialbetrieb anfangs nicht wohl gelitten, gar Boykotten ausgesetzt, passten sich die offiziell gut katholischen Besitzer dem NS-Regime rasch an, entließen 1933 jüdische Mitarbeiter, übernahmen in der Folge jüdische Konkurrenten (Kai Bosecker, Vom ‚unerwünschten Betrieb‘ zum Nutznießer des NS-Regimes […], in: C&A zieht an! Impressionen einer 100-jähigen Unternehmensgeschichte, Mettingen 2011, 94-105; Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911-1961, München 2016, insb. 132-175). Emmerich Huber war 1938 Teil einer breit gefächerten Werbekampagne für Konfektionsware und Barkauf (Dortmunder Zeitung 1938, Nr. 499 v. 26. Oktober, 9). Dabei wurde auch ein Herr Pfundig eingeführt. Den Kundinnen dürfte dies kaum im Gedächtnis haften geblieben sein, doch ein Graphiker erinnert sich solcher Namen, anregender und weiter verwertbarer Figuren.

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Ein Herr Pfundig taucht auf: rechts, sechste Zeile (Hamburger Neueste Nachrichten 1938, Nr. 298 v. 17. Dezember, 3)

Alltags- und Versorgungsprobleme zu Kriegsbeginn – Die Motive der Serie

Die NS-Propaganda hatte anfangs auf eindimensionale Identifikationsfiguren gesetzt, brachiale, biestige Figuren, kraftstrotzend und gesinnungsstark. Derart leblose Vorkämpfer waren nach der Konsolidierung der NS-Herrschaft zwar noch immer weit verbreitet, kamen im öffentlichen Raum als martialische Symbole von Sieg und Zukunft auch stetig vor. Doch in den Zeitungen dominierten eher freundliche Durchschnittspersonen, in der Werbung die schürzenbewerte Hausfrau. Gezeichnete Werbefiguren kamen schon lange vor dem Ersten Weltkrieg auf und etablierten sich seit den frühen 1920er Jahren. Das NS-Regime nutzte sie seit Mitte der 1930er Jahre. Dabei lernte man durchaus von angelsächsischen Werbegraphikern und den zahlreichen in Deutschland vertretenen US-Werbeagenturen. Doch diese waren dem deutschen Markt nicht wirklich angepasst, zudem meinte man Besseres bieten zu können. Die immer wichtigere Verbrauchslenkung nutzte vielfältige Graphiken, Schaubilder, zunehmend auch kampagnenfähige Zeichenfiguren. Im Rahmen der „Kampf dem Verderb“-Propaganda symbolisierten „Groschengrab“ und „Roderich das Leckermaul“ Gefahren und Fehlverhalten. Doch die Machthaber, die noch an die starke Wirkung von Medien glaubten, wussten, dass der erhobene Zeigefinger allein nicht ausreichte. Positive, durchaus alltägliche Gegenfiguren kamen auf, Vorbilder für ein Alltagsnudging. Auf Groschengrab folgte der allerdings wenig erfolgreiche „Übeltöter“, Roderich fand in seiner Gemahlin Garnichtfaul einen im Sinne des Volksganzen denkenden Gegenpol. Dadurch war Verhaltenslenkung möglich, ohne den Einzelnen direkt zu attackieren. „Familie Pfundig“ stand in dieser Linie hin zum zivilen Vorbild. Innerhalb der fünfköpfigen Familien konnte Fehlverhalten verdeutlicht und zugleich korrigiert werden. Durchaus konsequent folgte auf „Familie Pfundig“ Ende 1940 das ebenfalls positive „Flämmchen“, ein Helfer beim Energiesparen.

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Kiebitz: Pfundig als Modewort auch im Norden; Ankündigung einer Serie über die Familie Pfundig (Altonaer Nachrichten 1936, Nr. 53 v. 3. März, 5 (l.); Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 4 v. 5. Januar, 3)

All dieser Aufwand wurde betrieben, um letztlich den Einzelnen dazu zu bringen, seine Interessen zu Gunsten des kriegsführenden Staates zurückzustecken. Die Pfundigs machten das vor, machten voller Glauben mit, erfüllten alle an sie gestellten Anforderungen. „Familie Pfundig“ war personifizierte nationalsozialistische Moral (Lothar Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a.M. 2010). Während die Wehrmacht den Krieg gegen Frankreich und Großbritannien führte und vorbereitete, ging es an der Heimatfront um Zusammenhalt, Zurückstecken und Opferbereitschaft. Wie dies in kleiner Alltagsmünze möglich war, das zeigte „Familie Pfundig“.

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Pfundigs „verkohlen“ sich selbst (Murtaler Zeitung 1940, Nr. 2 v. 13. Januar, 5)

Blicken wir dazu auf die Einzelmotive der Serie. Sie bündelten drängende Alltagsprobleme der frühen Kriegszeit, gaben einen Widerschein der von Beginn an bestehenden Probleme in der Konsumgüterversorgung (Christoph Buchheim, Der Mythos vom „Wohlleben“. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 299-328). Nach der reichsweiten Vorstellung der Familie Pfundig am 5./6. Januar 1940 erschienen im Halbwochentakt – in manchen Fällen auch in längeren Intervallen, in Österreich später als im Norden – thematische Kleincomics. Huber verwandte in den Bildern nur selten Sprachzeilen, eigentlich sein Markenzeichen, stattdessen dominierten Unterzeilen. Die jeweils drei Bilder wurden durch eine zusammenfassende Merkspalte ergänzt, in der die Botschaft nochmals verdichtet gebündelt wurde.

Dass als erstes die Probleme des Transportwesens und der Heizstoffversorgung thematisiert wurden, war naheliegend, denn die Requirierungen für Wehrmachtszwecke hatten tiefe Lücken nicht nur bei Automobilen und Lastkraftwagen hinterlassen, sondern auch bei den nach wie vor dominierenden Pferden und Fuhrwerken. Zudem war der Winter 1939/40 besonders kalt, betrug die Durchschnittstemperatur im Januar 1940 -9 °C. Der durch die Kriegsanstrengungen und wachsende Lieferverpflichtungen an neutrale Staaten ohnehin gebeutelte Wasser- und Bahntransport der heimischen Kohle stockte. Die Antwort hierauf war Eigeninitiative, waren Aushilfen mit privaten Karren, war vor allem Verständnis für Lieferprobleme.

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„Reste-Tag“ bei Pfundig’s! (Salzburger Volksblatt 1940, Nr. 11 v. 13. Januar, 4)

Ähnlich drängend waren offenkundige, durch Transportprobleme ebenfalls verschärfte Versorgungsprobleme mit Lebensmitteln. Die Planer waren ohnehin von einem leichten Gewichtsverlust der Deutschen aufgrund der Rationierung ausgegangen. Nun aber griffen schon lange laufende Kampagnen für sparsame Haushaltsführung, praktische neue Convenienceprodukte und die vielbeschworene Resteküche (W. Plaetke, Lebensmitteleinkauf und Resteverwertung, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 92, 104-105, 119-121; Der durchdachte Haushalt. Kochplanung und Resteverwertung, Die Genossenschaftsfamilie 31, Nr. 1, 11; dass derartige Bestrebungen im letzten Jahrzehnt eine bemerkenswerte Renaissance erfuhren, sei nur am Rande vermerkt). Familie Pfundig beging nicht nur den zunehmend gängigen Reste-Tag, sondern fand das ungewohnte Essen so fabelhaft, dass sie das Rezept gleich mit den Volksgenossen teilte.

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Pfundigs „alltägliche“ Feldpostsendung (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 3 v. 18. Januar, 4)

Es folgte eine Reminiszenz Familie Pfundigs an die Herrn-Hase-Kampagne und die Interessen der auftragsgebenden Zeitungsverleger. Trotz wachsender Auflage warb man für die Tageszeitung im Felde. Wirtschaftliche Werbung und Kriegspropaganda gingen hierbei Hand in Hand, denn es ging hier nicht nur um Einnahmen, sondern auch um ein enges Band zwischen Front und Heimat. Anders als im Ersten Weltkrieg waren Liebesgaben 1939/40 zur Soldatenversorgung nicht wirklich erforderlich, wurde das enge Band zwischen Soldaten und den Zurückgeblieben vornehmlich durch einfache Feldpostbriefe gestärkt. Dass hierbei Inge Pfundig von einem wackeren Soldaten träumte, wird Uniformträger ebenso gefreut haben wie Vertreter einer pronatalistischen Politik, die immer auch an die demographischen Konsequenzen der Trennung gebärfreudiger Erwachsener dachten.

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Begleitkampagnen zu pfundigen Anregungen (Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 49 v. 27. Februar, 6)

„Familie Pfundig“ wurde von zahlreichen dezentralen Initiativen unterstützt, die die allgemeinen Zielsetzungen der Kampagne konkreter ummünzten. Das war bei der Werbung für zusätzliche Feldabonnements offenkundig, doch in den Folgewochen gab es zahlreiche ergänzende Hinweise und Angebote für fast alle Motive der Kampagne.

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Vater Pfundig wird im dunklen „Helle“! (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 4 v. 25. Januar, 5)

Moderne Kriege gründen auf einer leistungsfähigen Industrieproduktion, sind deshalb vielfach umkränzt von Sorge um Arbeiter und Angestellte. Es gilt Unfälle zu vermeiden, Vorsorge zu treffen, das Humankapital möglichst lange intakt zu halten. Nicht umsonst gewannen zu dieser Zeit Anzeigen für Heft- und Wundpflaster stark an Gewicht. Parallel aber schuf die mit Kriegsbeginn zwingend einsetzende Verdunkelung neue, bisher unbekannte Gefahren. Das betraf nicht ausgeleuchtete Gehwege, abgedunkelte Fahrrad- und Autoscheinwerfer. Herr Pfundig erlitt fast folgerichtig eine Beule als er mit jemand anderen zusammenstieß – was die Jungen gleich zu Spott veranlasste. Sie wussten nämlich um die neuen, auch in der Schule behandelten Alltagsregeln für Fußgänger. Hier galt es zu lernen, ansonsten würden die pfundigen Jungs die gebeutelten Älteren abhängen. Die Fußgänger wurden zwar faktisch belehrt und mit zehn Regeln vertraut gemacht. Doch es handelte sich um „Anregungen“, nicht um die zuvor stets tönenden „Gebote“ oder um die sprachlich schon weniger rigiden „Ratschläge“. Hier sprachen Volksgenossen miteinander, war Respekt und Freundlichkeit gewährleistet, mochte schadenfreudiges Schmunzeln über den hölzern-gutwilligen Karl Pfundig auch erlaubt sein.

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Vater Pfundig und „Minna von Barnhelm“: Auch mal im Hochformat (Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 4 (l.); spiegelverkehrt: Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4)

Diese nach innen gewandte Kameradschaftlichkeit war immer auch Ausdruck deutscher Bildung und deutscher Kultur (natürlich nur im „arteigenen“ Sinne). Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Schöpfer von „Nathan der Weise“, einem bis heute beeindruckenden Plädoyer für Toleranz und friedliches Miteinander, wäre gewiss vergrätzt gewesen, hätte er von der Aufnahme seines 1767 erschienenen Lustspiels „Minna von Barnhelm“ in die Familie-Pfundig-Kampagne erfahren. Dieses war ein Bühnenklassiker, blieb es auch während der NS-Zeit, wurde bis März 1945 wieder und wieder gespielt. Warum? Gewiss, weil es leicht und leidenschaftlich war, zu Herzen ging, einem dem Alltag entzog. Für die Kampagne aber wichtiger dürfte das Spiel gegen „den überspitzten Ehrbegriff“ gewesen sein, mit dem Ziel, „das lockende, reizende Werben aufgeschlossener Fröhlichkeit, den finsteren, verschlossenen, in Dogmen und Maximen erstarrten Ernst zu besiegen“ (Wilhelm Antropp, Akademietheater, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 287 v. 14. Oktober 1939, 4). Minna von Barnhelm war pfundig im Sinne des Begriffs; und Pfundigs zielten durch den Theaterbesuch nicht nur auf eine kriegsgemäße Work-Life-Balance, sondern sie nährten auch das pfundige Grundgefühl ihrer Jugend, das sich nun geläutert zu bewähren hatte.

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Pfundigs Kameradschaft immer guten Rat schafft! (Mittelrheinische Landes-Zeitung 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 4)

Wir könnten so fortfahren, Motiv für Motiv. Denn Entspannung war für die Pfundigs nicht nur selbstbezüglich, sondern war Nährboden für die organische Gemeinschaft, für Familie, Haus- und Volksgemeinschaft. Nachbarschaftshilfe war für sie selbstverständlich, die Sorge für den Nachwuchs weckte mütterliche Gefühle, ließ den Mann wieder zum Kinde, zum Spielkameraden werden. Dass dies die innere Seite der Hege eines nach außen aggressiven Regimes war, ist offenkundig.

Doch ebenso ermüdend wie das beigefügte Lob der Hilfsbereitschaft sein konnte – im Sommer 1942 folgte gar eine breit gefasste Kampagne des Reichspropagandaministeriums für Höflichkeit – ist eine Auflistung ohne wirklich fundiertes Eingehen auf den Inhalt der einzelnen Motive. Sie finden sie gleichwohl hier abgedruckt, denn sie spiegeln die Probleme des Deutschen Reichs schon zu Kriegsbeginn. Leder war knapp, musste geschont und gepflegt werden – entsprechend wurde für Schuhpflegemittel bis Kriegsende immer schlechterer Qualität zum Trotz geworben. Wie auf Humankapital war auch mit Sachkapital sorgfältig, achtsam umzugehen.

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Fritzen’s Schuhe stören Pfundigs Ruhe! (Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 6)

Auch die Textilproduktion diente immer stärker dem Militär, doch auch sie konnte dessen Bedarf nicht annähernd decken, wurde der Krieg gegen die UdSSR mit unzureichender Ausrüstung geführt. Während „Deutsche Mode“ zu einem devisenträchtigen Exportartikel wurde – Berlin überholte in der Folgezeit kurzfristig Paris als europäische Modehauptstadt – glich der Umgang mit Altkleidern denen mit Lebensmittelresten. Damit galt es hauszuhalten, daraus konnte aber auch Neues geschaffen werden – wenn denn die Frauen, wie Tochter Inge Pfundig, neben ihrer gewerblichen Arbeit noch Zeit fanden, selbst zu schneidern.

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Auch „alte“ Kleider machen Leute! (Briesetal-Bote 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3)

Angesichts der zu Kriegsbeginn nur sporadischen Luftangriffe auf Reichsziele ließ die Neigung zur steten Verdunkelung nach, beträchtlicher Kontrollen zum Trotz. Selbst Karl Pfundig wurde nachlässig, konnte aber wiederum mit Hilfe seines Jungen (und der ausgedünnten Polizei) auf den Pfad der Kriegsgemeinschaft zurückgebracht werden. Dass nun „Ratschläge“ erteilt wurden, verweist auf eine gewisse Renitenz zumal im ländlichen Bereich.

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Die Polizei kommt zu Pfundigs! (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1940, Nr. 16673 v. 7. Februar, 4)

Dieses Motiv war für viele Zeitungen in der Tat das letzte Motiv ihrer Familie-Pfundig-Kampagne; bereits die Streifen zur Schuhpflege und zum Kleiderschneiden waren nur noch selten gedruckt worden. Die folgenden drei Motive fanden sich nur selten – wobei immer zu berücksichtigen ist, dass die Zeitungsdigitalisierung in diesem Staate, trotz erfreulicher Fortschritte in NRW, auf dem Stand eines rückschrittlichen Landes liegt.

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Pfundigs Idee für’s Winterhilfswerk! (Baruther Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 9. Februar, 2)

Dieses Abebben und Ausfransen der Kampagne mochte auch daran liegen, dass die nun folgende Propaganda für das Winterhilfswerk und das Papiersparen ohnehin weit verbreitet war. Sammlungen waren längst der Freiwilligkeit enthoben, die aufgrund fehlenden devisenträchtigen Holzes akute Papiernot wurde durch staatliche Maßnahmen bereits zu mildern versucht (etwa die Reduktion des Zeitungsumfanges und der Größe und Ausstattung der Werbeanzeigen).

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Beim Papier sind Pfundigs „eisern“! (Fehrbelliner Zeitung 1940, Nr. 16 v. 16. Februar, 3)

Die Motive knüpften an die den NS-Alltag schon seit langem prägenden Sparsamkeitsappelle an – und der wachsende Zwang von Partei und Staat verwies schon auf die sich seither immer wieder verschärfende, nur selten sich wieder entspannende Versorgungssituation. Von einer „Wohlfühldiktatur“ kann man kaum sprechen. Obwohl sich Familie Pfundig durch die Themensetzung auch inhaltlich in die allgemeine NS-Kriegspropaganda einreihte, endete die Serie mit einem sowohl untypischen wie charakteristischen Motiv. Fritz hatte durch Unachtsamkeit seinen Anzug zerrissen, seine Mutter drängte auf eine tüchtige Tracht Prügel. Doch sein Vater beließ es bei einem eindringlichen Appell, künftig anders zu handeln. Leben war eben pfundig, nicht immer zu zügeln. Das drängende Dasein, es war durch Gewalt nicht zu einzudämmen. Ihm eine Richtung zu geben, Karl Pfundig hatte dies durch Selbstzucht erreicht. Sein Sohn würde auch ohne Prügel in seine Fußstapfen treten.

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Wie sagt’s Pfundig seinem Kinde? (Sauerländisches Volksblatt 1940, Nr. 53 v. 2. März, 4)

Die Familie-Pfundig-Kampagne ist aber – wie jede Kriegspropaganda – nicht nur spannend durch die darin enthaltenen Aussagen und Ratschläge. Historisch ebenso wichtig war, was in ihr nicht thematisiert wurde. Indem die kleinen handhabbaren Probleme des Alltags humoristisch angegangen wurden, konnte die große Frage nach dem Krieg als solchen, nach dessen Ursachen und dessen Sinn überdeckt werden. Die Einreihung in Familie, Haus- und Volksgemeinschaft, die kleinen Problembewältigungen, sie waren schon Bejahung, ein Nachjustieren, Teil der Kriegsanstrengung. Der gute Menschenverstand kam scheinbar zum Durchbruch, der Pragmatismus des Alltags; doch die Kampagne zielte zugleich auf dessen Ausschaltung zugunsten des Regimes, zugunsten eines möglichst reibungslosen Kriegsgeschehens. Bestehende Probleme des Kriegsalltages wurden in der Kampagne angerissen, doch die strukturellen Probleme der Rationierung, weiterhin bestehender Devianz, weit verbreiteter Korruption und Bereicherung, sie wurden bestenfalls angedeutet, nicht aber rückfragend aufgegriffen. Dafür gab es andernorts eine offiziöse NS-Härte, die Inklusion und Exklusion aus der Volks- und Kriegsgemeinschaft. Sie schwang immer mit: „Familie Pfundig“ stand in der Mitte, weil sie mitschwamm. Doch irgendwann wäre die Grenze überschritten gewesen, wäre eine ordentliche Tracht Prügel und mehr die Folge gewesen. Dem konnte jeder Vorbeugen, durch Handeln im Sinne des Regimes. Die unterschiedlichen Motive der Kampagne spiegeln begrenzte Sprach- und Handlungsräume innerhalb der NS-Diktatur, innerhalb der NS-Kriegspropaganda. Sie spiegeln zugleich auch die sich verengenden Sprach- und Handlungsräume innerhalb jeder Kriegssituation. „Familie Pfundig“ adelte das biedere Mitmachen, das Zähne-Zusammenbeißen, das bereitwillige Durchhalten. Aktives, freudiges, aufheiterndes und begeisterndes Handeln war weiter von Nöten – nun aber für die Volksgemeinschaft, unter Vernachlässigung der eigenen Interessen. So konnte auch der Krieg zu einer pfundigen Sache werden.

Emmerich Huber, NS-Humorist

Die NS-Propagandaserie „Familie Pfundig“ wurde ersonnen und umgesetzt vom wohl wichtigsten NS-Humoristen, von Emmerich Huber. Er ist heute nur noch wenigen bekannt, auch wenn er bis in die 1960er Jahre gut beschäftigt war (Eckart Sackmann, Emmerich Huber, Deutsche Comicforschung 2005, 56-71; Ders., Emmerich Huber – zum Zweiten, Deutsche Comicforschung 2010, 87-92). Er zog sein Ding durch, doch anders als in derart oberflächlicher Forschung suggeriert, war er während der NS-Zeit nicht allein der nette Zeichner von Nebenan, dessen kleine Episoden und Figuren kurze Freude in den tristen (Kriegs-)Alltag zeichneten, der sich nur ein wenig anpasste. Huber war ein Pendant zum Filmstar und Biedermann Heinz Rühmann (1902-1994), lieferte wie dieser bräsigen, massenkompatiblen Humor, der sich in jedem politischen System findet (Torsten Körner, Ein guter Freund Heinz Rühmann, Berlin 2003; eingängig populär: Hans Sarkowicz (Hg.), Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2004; nicht überzeugend, ja vielfach peinlich: Michael H. Kater, Kultur unterm Hakenkreuz, Darmstadt 2021). Täter wie Huber und Rühmann tönten vom Miteinander, vom Freund, dem guten Freund. Doch mit mehr Distanz erscheinen sie als Personen, denen es sich vorrangig um sich ging, um ihr Einkommen, ihre Sicherheit, ihre Uk-Stellung.

Huber wurde in den 1920er Jahren bekannt als Zeichner von Kindergeschichten, kleinen Comics in der Kundenzeitschrift Blauband-Woche, für die er neue Figuren schuf: „Das Neueste von Onkel Jup“ und „Hans und Lottchen“ waren nicht nur bei Kindern beliebt (einschlägige Digitalisate finden Sie unter Archive.org). Parallel arbeitete er schon früh für Werbekunden, etwa die Berliner Firma L.M. Baginski mit ihren Fitnessartikeln (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 50 v. 12. Dezember, 10). Man findet Hubers Zeichnungen in so herausragenden Zeitschriften wie „Sport im Bild“, vor allem aber in der Karikaturzeitschrift „Ulk“, dank der bissigen politischen Karikaturen von Rudolf Herrmann Anfang der 1930er Jahre ein wichtiges Kampfblatt für die Weimarer Republik, gegen die „Reaktion“ und die NSDAP. Huber selbst witzelte über die Enttäuschungen der Woche, zeichnete optimistisch (Ulk 61, 1932, Nr. 1, 1), half dem Ulk zu einer stärken Balance zwischen Unterhaltung und republikanischer Agitation. Auch durch Buchillustrationen gewann er den Ruf eines lustigen Zeichners, der für alles und jedes gut zu verwenden war (H[ermann] K[arl] Frenzel, Emmerich Huber. Ein lustiger Zeichner, Gebrauchsgraphik 9, 1932, Nr. 4, 4-11).

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Beispiel für Hubers Werbezeichnungen für Wybert (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1837)

Die Machtzulassung der NSDAP war für Huber kein wirklicher Bruch. Er arrangierte sich mit der neuen Lage, zeichnete Werbung etwa für die Radios von Saba (Sport im Bild 40, 1934, 1117), oder eine umfangreiche, bis 1941 fortgeführte Serie für Wyberts Pastillen. Einzelzeichnungen und Buchillustrationen festigen den Ruf, dass er „immer wieder mit seinen köstlichen Figuren die Schwächen der Menschen festzuhalten“ (Der Sächsische Erzähler 1936, Nr. 264 v. 11. November, 9) wisse. Huber prägte das, was Deutsche unter lustig verstanden, voller Schenkelklatschen, mittels strikter Geschlechtscharaktere, draller Damen und gutmütiger Kleinbürger. Heroisch war das alles nicht, ein Gegenbild zu Marschkolonnen und Arierertypen. Doch diese waren in der deutschen Unterhaltungskultur keineswegs so dominant, wie dies im Blick auf strikte NS-Propaganda erscheinen mochte. Hubers „lustigen Karikaturen“, seine Seiten „lustiger Zeichnungen“ (Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 155 v. 7. Juli, 5; Der Sächsische Erzähler 1938, Nr. 39 v. 16. Februar, 10) waren zeichnerisch gut gemacht, machten aus ihm eine Marke. Ab Mitte der 1930er Jahre etablierte er sich als einer im Graphikbereich wichtigsten, schließlich im Krieg zum wichtigsten NS-Humoristen. Er gestaltete anfangs ganze Seiten für die hochwertig gedruckte „Neue Illustrierte Zeitung“, die seine Werke in der Werbung stetig pries (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1936, Nr. 302 v. 19. Dezember, 2; Bergische Landes-Zeitung 1937, Nr. 228 v. 30. September, 3; Bergische Landes-Zeitung 1938, Nr. 35 v. 2. November, 3). Seine Zeichnungen brachen die offenkundigen Härten des NS-Regimes, der ubiquitären Verfolgung und Denunziation nicht nur von Minderheiten.

20_Die Kunst fuer alle_56_1940-41_H10_Anhang_p14_ebd_H03_Anhang_p27_Briefpapier_Papier_Sparsamkeit_Max-Krause_Emmerich-Huber

Sparsamkeit und Zurückhaltung: Werbekampagne für Max Krause 1940 (Die Kunst für alle 56, 1940/41, H. 10, Anhang, 14 (l.); ebd. H. 3, Anhang, 27)

Die zunehmenden Werbeeinschränkungen seit Beginn des Zweiten Weltkrieges ließen Werbekunden seltener werden. Emmerich Huber konnte dies kompensieren, zeichnete und textete bis 1945 für führende NS-Illustrierten, für den parteieigenen „Illustrierten Beobachter“, die „Münchener Illustrierte“, für das Magazin der Deutschen Arbeitsfront „Arbeitertum“. Der Umfang der Zeitschriften schwand, doch Emmerichs letzte Seite blieb stehen, war kriegswichtig, nicht nur für die Stimmung an der Heimatfront und im Betrieb. Die „Emmerich-Huber-Seite“ (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 6 v. 6. Januar, 5) spornte freundlich an, zielte auf ein Es-geht-noch-was, auf ein stetes in-die-Hände-Spucken, zielte ohne Knute auf beschwingtes, pfundiges Handeln der Volksgemeinschaft. Emmerich Huber war ein Meister des Selbst- und Fremdbetruges, der auch dem Leben im Bombenkrieg manch heitere Seite abgewinnen konnte.

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Die Juden als gewissenlose Geschäftemacher, als Ausdruck des jüdischen Bolschewismus – Hubers Benennung der deutschen Hauptfeinde nach dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 38)

Der biedere Emmerich Huber war jedoch mehr als ein humoristischer Sorgenbrecher des Großdeutschen Reiches. Er war auch ein antisemitischer Hetzzeichner. Das betraf etwa eine antibritische und antisemitische Propaganda-Broschüre, die er 1941 zusammen mit dem geschätzten Kollegen Hans Herbert Schweitzer (1901-1980) verfasste (Die Plutokraten-Presse. Wie sie lebt und lügt, wer sie macht, wer sie bezahlt, Berlin 1941). Unter dem Pseudonym Mjölnir, dem Namen des durch Marvel-Comics ja allseits bekanntem Hammers des nordischen Donnergottes Thor, war letzterer nicht nur seit 1926 für die NSDAP agitatorisch tätig, sondern wurde 1933 auch zum „Zeichner der Bewegung“ ernannt (Carl-Eric Linsler, Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 7, Berlin 2015, 313-316).

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Der „ewige Jude“ im ausgebombten London – Zeichnung von Emmerich Huber (Illustrierter Beobachter 16, 1941, 248)

Doch Huber hat auch in seinen wöchentlichen „heiteren“ Serien wiederholt Ideen einer jüdisch-bolschewistischen Weltherrschaft in Szene gesetzt, hat zugleich den „ewigen Juden“ gezeichnet, dessen vermeintlich zerstörerische Natur immer wieder zum Ausdruck kam. Fast pfundig ist, dass dies im Gefolge der „Luftschlacht um England“ erfolgte, die mit einer empfindlichen Niederlage der deutschen Luftwaffe endete, die ihrem britischen Gegner in fast allen Belangen unterlegen war. Huber zeichnete das Hauptquartier der siegreichen Royal Air Force als Stelldichein exzentrischer Dummköpfe, regiert von Juda. Dem Mannheimer Medienwissenschaftler Konrad Dussel, der vorgab, die Huberschen Zeichnungen im Illustrierten Beobachter durchgesehen zu haben, sind diese Karikaturen offenbar entgangen (Bilder als Botschaft, Köln 2019, 239-241) – entsprechend freundlich seine Einschätzung des biederen Herrn Huber und seines NS-Werkes.

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Juda regiert – Hubers Einblicke in das Hauptquartier der Royal Air Force (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 45)

Familie Pfundig verschwindet

Familie Pfundig verschwand Anfang März 1940 ohne viel Aufhebens, wurde vergessen. Sie war Teil der nationalsozialistischen Kriegspropaganda, zeigte deren scheinbar freundliche, verständnisvolle, pfundige Seite. Sie handelte von den Sorgen und Aufgaben des Kriegsalltags, zielte auf das für jeden Krieg erforderliche Einvernehmen, Mitmachen und Dulden der Zivilbevölkerung. „Familie Pfundig“ personifizierte nationalsozialistische Moral, deutsche Zuversicht und deutschen Optimismus. Serien wie „Familie Pfundig“ appellierten an deutsche Werte, solche der Selbstleugnung und der Pflichterfüllung. Besser als repressive und warnende Propaganda, besser als die Kampagnen gegen Hamsterei und Wucher, besser als direkte Denunziationen der „plutokratischen“, der „jüdisch-bolschewistischen“ Feinde vermochte sie Zusammenhalt zu schaffen, Verständnis für die Härten der Zeit. Sie war typisch für die frühe Phase des Krieges, in dem die Fährnisse des Alltages noch überschaubar waren, in der noch nicht täglich zehntausend deutsche Soldaten verreckten, wie in der Endphase des Höllensturzes.

„Familie Pfundig“ knüpfte an die Werte einer antiintellektuellen Erwachsenen- und Jugendkultur an, geprägt von realem, vor allem aber virtuellem Leben und Abenteuer. Die Form der Comic-Zeichnung zielte auf die große Mehrzahl, auf einfache Problem-Lösung-Strukturen, auf Aufgabe und Erfüllung. Ihr Gestalter Emmerich Huber bettete all dies in humoristische Watte, doch andere seiner Zeichnungen präsentierten auch den rassistischen Grundtenor des Nationalsozialismus. Angesichts der breiten Klaviatur der NS-Propaganda war dies all denen klar, die lesen und sehen konnten und wollten.

„Familie Pfundig“ ist eine abgeschlossene, nicht wirklich bedeutsame Episode im breiten Kranz der NS-Kriegspropaganda – mochte sie auch abermillionenhaft gedruckt und verbreitet worden sein. Sie steht für die Wandlungsfähigkeit und Vielgestaltigkeit der Kriegspropaganda. Die steten Einseitigkeiten, Halbwahrheiten und offenen Irreführungen in der staatsnahen, vielfach staatsgleichen Presse waren einfacher zu erkennen als die nette Umrahmung, die freundliche Bitte zum Mitmachen, die Alltagshilfe. Und vielleicht kann der Blick auf „Familie Pfundig“ das Verständnis dafür schärfen, auf welch samten Pfoten sie uns bis heute umschleicht.

Uwe Spiekermann, 5. November 2022

Flämmchen hilft – Nationalsozialistische Propaganda für sparsames Heizen

Galoppierende Inflation, einbrechende Wachstumsprognosen, zunehmende Insolvenzen und wachsende Deindustrialisierung auch abseits der Automobilindustrie – zu alledem steht die Bundesrepublik Deutschland vor einer weit über den kommenden Winter hinausreichenden Energiekrise, genauer einer Energiepreiskrise. Sie ist vorrangig Ergebnis einer unausgegorenen, ökonomische Grundregeln verletzenden Energiewende und einer westlichen Sanktionspolitik gegen die russische Föderation, die deutsche Interessen schlicht hintanstellt – und damit zugleich eine vernünftige Klimaschutzpolitik unterminiert. Die wirtschaftlichen, sozialen und zunehmend auch politischen Folgen dieser Maßnahmen werden durch eine massive Verschuldung nur zeitweilig überdeckt. Der nicht nur für Marktwirtschaften essenzielle Preismechanismus kann langfristig nicht suspendiert werden. Es scheint, dass das politische Führungspersonal sich dieser Probleme nicht einmal ansatzweise bewusst ist.

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Kriege, Krisen und die Naturalisierung der Not (Zeitbilder 1919, Nr. 42 v. 16. November, 8 (l.); Lachen Links 1, 1924, 51)

Historisch ist diese von den üblichen Empörungs- und Erregungswellen begleitete Lage allerdings keineswegs außergewöhnlich. Die Kohle- und Gasnot von 1916 bis 1923 hat zahllose Erkrankungen und Todesfälle nach sich gezogen, trotz alledem entwickelte sich die Weimarer Republik zu einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen. Auch während der ersten Jahre des NS-Systems gab es wachsende Probleme bei der Energieversorgung der Bevölkerung und des Gewerbes. Sie intensivierten sich während des Zweiten Weltkrieges und kumulierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit als wegbrechende Fördermengen, die Bildung der Besatzungszonen und ein zusammenbrechendes Transportsystem die Versorgungsprobleme nochmals massiv verschärften. Demgegenüber war die Ölkrise weniger ein wirtschaftlicher als vielmehr ein gesellschaftshistorischer Bruch. Anders in der DDR, wo die auf Braunkohle und importiertem Erdöl basierende Energiepolitik zu einem gleichermaßen ökologischen und ökonomischen Bankrott führte; nicht zuletzt aufgrund des stetig ausgesetzten Preismechanismus.

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Selbsthilfe angesichts der Kohlennot (Simpl 1, 1946, Nr. 2, 2)

Bei all diesen Energiekrisen zielten staatliche und halbstaatliche Akteure darauf Mangellagen abzufedern, Unternehmen und Bevölkerung zu beschwichtigen und ihnen zugleich Handreichungen zur Krisenbewältigung zu geben. Die NS-Zeit ist dabei von besonderem Interesse, denn damals kam die Energiekrise überraschend: Einheimische Stein- und Braunkohle war im Deutschen Reich nämlich in großen Mengen und zu erschwinglichen Preisen verfügbar. Sie bildete die Basis nicht nur der Chemieindustrie, der Feuerarbeit und der Eisenbahn, sondern auch der Strom- und Gasproduktion sowie des Hausbrandes. Der Vorrat schien praktisch „unbegrenzt“ (Steinkohle, in: Otto Ernst Paul und Wilhelm Claussen, Grossdeutschland und die Welt. Ein Wirtschafts-ABC in Zahlen, Berlin 1938, 399-402, hier 400; zur Einordnung Dariya Manova, »Sterbende Kohle« und »flüssiges Gold«. Rohstoffnarrative der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2021). Schwachpunkte bildeten lediglich die deutlich seltener verfeuerten Ressourcen Holz und Erdöl, denn beträchtliche Mengen mussten devisenträchtig eingeführt werden – trotz einer intensivierten Erdölförderung vorrangig in Niedersachen und Aufforstungsprojekten in großen Teilen des Deutschen Reiches.

Winternot und Versorgungsprobleme

Kohle bildete Mitte der 1930er Jahre die Rohstoffgrundlage für Zivilgesellschaft, Gewerbe und die nun vermehrt einsetzende Aufrüstung. Die Bergbaukapazitäten waren noch nicht ansatzweise ausgenutzt, die Saarkohle erweiterte sie nochmals. Die beträchtlichen Rationalisierungen in der Schwerindustrie, der Stromproduktion und der Reichsbahn reduzierten inländische Nachfrage. Stärker noch schlugen die wegbrechenden Auslandsmärkte zu Buche, Frankreich, Belgien, die Niederlande und die UdSSR (Reinhold Reith, Kohle, Strom und Propaganda im Nationalsozialismus: Die Aktion „Kohlenklau“, in: Theo Horstmann und Regina Weber (Hg.), „Hier wirkt Elektrizität“ Werbung für Strom 1890-2010, Essen 2010, 142-157, hier 145). Der zu vier Fünfteln aus Kohle gewonnene Strom sowie die in der Zwischenkriegszeit stark verbesserte Kohlevergasung bildeten dagegen Wachstumsmärkte. Auch der Vierjahresplan erforderte seit 1936 rasch wachsende Kohlemengen, weit mehr noch die Auswirkungen des Krieges. Das galt für die Reichsbahn, für neue Lieferverpflichtungen des europäischen Hegemons gegenüber besetzten, verbündeten und neutralen Staaten. Die zunehmende Stromnutzung städtischer Haushalte führte zu Belastungsspitzen, die bereits im Winter 1938/39, dann insbesondere im Kriegswinter 1939/40 nicht mehr bedient werden konnten (Reith, 2010, 146-147). Institutionelle Umgestaltungen waren die Folge (Vereinfachung der Organisation der Kohlenwirtschaft, Rhein- und Ruhrzeitung 1939, Nr. 345 v. 17. Dezember, 7), doch die Probleme blieben bestehen. Im Herbst 1940 wurde auch in der gleichgeschalteten Presse zunehmend „Sorge“ über die Kohleversorgung laut (Stand der Kohlenwirtschaft, Volksblatt (Hörde) 1940, Nr. 251 v. 24. Oktober, 1). Die offiziellen Stellen, etwa der Reichskohlekommissar Paul Walter, beruhigten, doch es war klar, dass neben die schon seit längerem bestehenden Appelle, etwa die Reichsbahn zugunsten der Wehrmacht weniger zu nutzen, striktere Sparvorgaben rücken würden, die durch das Rationierungs- und Bewirtschaftungssystem auch erzwungen konnten. Eine von November 1940 bis etwa Februar 1941 laufende Sparkampagne des Reichsausschusses für Volkswirtschaftliche Aufklärung (RVA) hielt die Bevölkerung dann zu „richtigem“ Heizen an – also zu verstärkten Sparanstrengungen. Die Zeichentrickfigur „Flämmchen“ wurde ihr freundliches Gesicht.

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Propagandafeldzüge gegen Hunger und Kälte (Illustrierte Technik 11, 1933, H. 35, XXIV (l.); Die Bewegung 4, 1936, Nr. 1, 12)

Die Brisanz der stockenden Kohlenversorgung resultierte teils aus der hämmernden und durchaus erfolgreichen Parolenwelt der frühen NS-Propaganda (Birgit Witamwas, Geklebte NS-Propaganda. Verführung und Manipulation durch das Plakat, Berlin und Boston 2016, insb. 154-159). Nach der Machtzulassung der NSDAP setzte – nach der Zerschlagung der Arbeiterbewegung – nicht nur eine „Arbeitsschlacht“ unter Parolen von „Arbeit und Brot“ ein. Der Kampf um ein auskömmliches Leben und ordentliches Essen und Wohnen griff weiter, sollte Teilhabe in der Diktatur suggerieren, eine sorgende Obrigkeit, eine gegenüber Not sensible Volksgemeinschaft. Die Sozialpolitik der verschiedenen staatlichen und NS-Wohlfahrtsorganisationen zielte daher immer auch auf die Bekämpfung der Kälte, des Frierens. Typisch hier war insbesondere die Propaganda des 1933 anlaufenden Winterhilfswerks. Eintopfessen suggerierten seit Herbst 1933 nicht nur Teilhabe, sondern boten auch etwas Warmes. Die (recht begrenzten) Hilfsleistungen der NS-Volkswohlfahrt und des Winterhilfswerkes umfassten nicht nur Geld, sondern auch und gerade warme Kleidung sowie Kohle- und Holzlieferungen (vorrangig institutionell Peter Hammerschmidt, Die NS-Wohlfahrtsverbände im NS-Staat, Wiesbaden 1999; Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380).

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Mobilisierung im Kampf gegen die Not des Winters (Baruther Anzeiger 1936, Nr. 14 v. 31. Januar, Beil., 2 (l.); Die Bewegung 4, 1936, Nr. 6, 2)

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre musste die Mehrzahl der Deutschen nicht frieren – trotz räumlich und zeitlich begrenzter Versorgungsprobleme. Die Preise waren von der kartellierten Industrie und dem Staat festgelegt, eine Mengenkrise dann mit der Rationierung des Hausbrands eingehegt. Sie begann parallel zur Lebensmittelbewirtschaftung unmittelbar vor der Kriegserklärung an Polen am 1. September 1939. Allen Vorbereitungen zum Trotz brach die Kohleversorgung im Extremwinter 1939/40 jedoch ein. Die Temperaturen lagen im Deutschen Reich zwischen fünf und zehn Prozent unter dem langjährigen Durchschnitt der 1881 begonnenen Wetteraufzeichnungen, in Europa war es kaum anders (The Severe Winter of 1939-40, Nature 145, 1940, 376-377). Der erste Kriegswinter war der kälteste seit mehr als einhundert Jahren, im Januar 1940 lag die Durchschnittstemperatur bei -9°C (https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitreihe_der_Lufttemperatur_in_Deutschland). 1940/41 und 1941/42 sollten noch zwei weitere äußerst kalte Winter folgen.

Das wusste man im Sommer 1940 noch nicht, doch vorsorgende Kampagnen schienen angesichts des Drucks auf den Kohlebergbau und das Transportsystem unabdingbar. Die beträchtlichen Auswirkungen der Witterungseinflüsse schlugen nicht allein auf die vielbeschworene „Stimmung“ durch, sondern wurden immer auch dem Regime zugerechnet. Der kleine Helfer „Flämmchen“ zielte ab Herbst 1940 auf die Mehrzahl der Haushalte. Doch schon zuvor gab es Betriebsamkeit an der Heimatfront. Die Deutsche Arbeitsfront, eine Zwangsgemeinschaft in der Nachfolge der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, begann im Sommer 1940 mit einer reichsweiten Kampagne „Heize richtig“. Sie zielte auf Fachleute, die durch Kurse und Lehrgemeinschaften dazu befähigt werden sollten, „daß das Heizen im Herbst und Winter unter sparsamster Verwendung des Heizstoffes erfolgt“ (Neue Wege zur Kohlenersparnis, Der Führer 1940, Nr. 260 v. 30. September, 4). Hauswarte und die Heizer von Zentralheizungs- und Warmwasseranlagen wurden aufgerufen, nach der Arbeit an fünftägigen, insgesamt fünfzehnstündigen Lehrgängen teilzunehmen. Die Adressaten wurden durch die Deutsche Arbeitsfront und die Reichsstelle für Kohle im Vorfeld erfasst, diesen dann Übungsleiter zugewiesen. Nach regelmäßigem Besuch erhielt jeder Teilnehmer eine Besuchsbestätigung (Richtig heizen!, Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14611 v. 20. September, 6). Man gab vor, bei privaten Hausbesitzes und Gebäuden mit nebenamtlichen Heizern dadurch Wärmeverluste von bis zu 25-30 Prozent vermeiden zu können.

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Qualifizierung zum richtigen Heizen: Lehrgänge und Lehrgemeinschaften (Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 190 v. 5. August, 3 (l.); Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 216 v. 14. September, 12)

Obwohl die Kampagne „Richtig heizen“ nicht auf die insgesamt klar dominierenden Öfen und Heizungen in den Privathaushalten zielte, stimmte sie dennoch auf die Herausforderungen eines möglichen kalten Winters ein. Die Zeitschriften enthielten vermehrt praktische Hinweise: „Vorsicht! Die Oefen immer sauber halten; wenn der Ofen raucht, den Kaminkehrer lieber zu früh holen als zu spät; die Oefen nicht überlasten: es ist nichts damit getan, daß es im Ofen ‚bullert‘, davon wird das Zimmer nicht warm. Wer richtig heizt, der heizt sparsam und zugleich gut! Und – das sei nochmals betont! – man verlasse sich nicht darauf, daß ‚schon alles in Ordnung‘ ist! Im vergangenen Winter sind unsre Oefen infolge der langen und strengen Kälteperiode stark in Anspruch genommen worden; sie müssen unbedingt nachgesehen werden, und hier sparen zu wollen, wäre sehr ungeschickt und unter Umständen sehr teuer“ (Richtig heizen – sparsam heizen – gut heizen!, Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 245 v, 5. September, 9). All das war noch Teil einer ständisch-patriarchalen Gesellschaftsordnung: Die männlichen Fachleute wurden geschult, die Großtechnik ihnen vorbehalten, die Leitung der lehrenden Ingenieure und Techniker gegenüber Handwerkern und Praktikern festgeschrieben. Die Hausfrauen (und auch ihre Männer) sollten den Ofen pfleglich behandeln, im Falle von Problemen aber die geschulten Fachleute an die Öfen rufen (Richtig heizen will gelernt sein, Kleine Volks-Zeitung 1940, Nr. 265 v. 25. September, 5).

Flämmchen – Eckpunkte einer Massenkampagne

Die Flämmchen-Kampagne lief Ende Oktober an – parallel zum damaligen Beginn der Heizperiode. Sie war seit Mai 1940 geplant worden. Die Federführung lag beim Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, der der breiten Öffentlichkeit vor allem durch die seit 1936 laufenden „Kampf-dem-Verderb“-Kampagnen bekannt war (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 388-390). In der Forschung hat sie bisher kaum Widerhall gefunden – obwohl die gesamte Bevölkerung des Großdeutschen Reiches dadurch zu einem regime- und kriegskonformem Heizen gebracht werden sollte. Gewiss, man kann den Zweck auch enger fassen, gemäß dem Motto: „Schränke den Verbrauch ein, wo und wie du nur immer kannst!“ (Sparsamkeit im Hausbrand!, Badische Presse 1940, Nr. 268 v. 4. November, 4) Doch die Kampagnenfigur Flämmchen entsprach erst einmal so gar nicht dem strikten Raster der durch die Rationierung strikt gesteuerten Hausbrandversorgung.

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Flämmchen als Helfer beim Heizen (Solinger Tageblatt 1940, Nr. 262 v. 5. November, 8 (l.); Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 264 v. 8. November, 5)

Flämmchen war eine Zeichentrickfigur, zugleich ein sympathisches Kerlchen. Die Anfang November 1940 geschalteten Anzeigenmotive erneuerten einerseits die früheren Versprechungen des NS-Regimes, dass in der vermeintlichen Volksgemeinschaft keiner werde frieren müssen (sieht man von den zahlreichen „Gemeinschaftsfremden“ einmal ab). Anderseits aber forderte Flämmchen aktives Handeln ein, richtiges Heizen. Auch wenn der Sommer 1940 deutlich wärmer war als der des vorherigen Jahres, war angesichts der recht kühlen August- und Septembertemperaturen doch neuerlich mit Versorgungsengpässen in einem kalten Winter zu rechnen: „Wir wollen zwar nicht hoffen, daß der kommende Winter wieder so bitterkalt wird wie der letzte. Aber vorsorgen wollen wir trotzdem, daß wir unsere Räume möglichst warm haben, auch wenn wir nicht beliebig viel Heizmaterial verfeuern können“ (J. Jahn, Wie halte ich die Zimmer warm?, St. Pöltener Bote 1940, Nr. 40 v. 3. Oktober, 8).

Flämmchen war ein Sympathieträger, positiv gesinnt, häuslich begrenzt, mit Blick für an der Heimatfront anstehende Aufgaben. Der Aufruf des RVA zeichnete bei Kampagnenbeginn gleichwohl ein einigermaßen realistisches Bild der Versorgungslage: „Zwar birgt der deutsche Boden genügend Vorräte an Kohlen. In den deutschen Wäldern wächst das Holz ständig nach. Und trotzdem heißt das Gebot der Stunde: Schränke den Verbrauch ein, wo und wie du nur immer kannst! Unsere Vorräte an Kohle und Holz müssen nämlich nicht nur für uns ausreichen, sie werden heute auch benötigt, um die Staaten, die mit uns in Handelsbeziehungen stehen, damit zu versorgen und andere für uns wichtige Güter dafür einzutauschen“ (Sparsamkeit im Hausbrand, Derner Lokal-Anzeiger 1940, Nr. 260 v. 2. November, 4). Doch dies hieß nicht, Frieren für ein vom Deutschen Reich wohlig versorgtes Ausland. Es bedeutete das Zurückstellen eigener Interessen, um den Kriegserfolg und die europäische Vormachtstellung der Nation zu unterstützen.

Flämmchen wurde der Öffentlichkeit erst einmal mittels Anzeigen und auch einschlägigen Plakaten vorgestellt. Die Figur war ein appellativer Hingucker, verpackte die Botschaft des Sparens in eine des richtigen Umgangs mit Brennmaterial, Öfen und Wohnung. Bilder lockten, doch schriftliche Informationen dominierten, ein Wissenstransfer von Experten zu Laien. Die Anzeigen verwiesen auf ergänzende Informationen, im Rundfunk, in einer gesonderten Broschüre, in den Tageszeitungen selbst. Das entsprach dem damals geltenden Paradigmen der öffentlichen Beeinflussung, die von einem schwachen Rezipienten ausgingen, von starken Wirkungen einer breit gestreuten Botschaft. Flämmchen und daran anknüpfende Aufklärungsaktionen spiegelten sich entsprechend im Masseneinsatz der Werbemaßnahmen 1940 und 1941: „24 Millionen Faltblätter mit Anweisungen und Hilfen für richtiges Heizen an Stelle von 12 Millionen des Vorjahres, 4500 Diapositive, die in mehrmaliger Folge in allen Lichtspieltheatern mit mindestens 200 Sitzplätzen und mindestens zwei Spieltagen in der Woche vorgeführt wurden, ein Vorspann für die Kinowochenschau, Rundfunkhinweise bei den Tageszeitungen, Merkblätter mit ausführlichen Anweisungen in einer Auflage von mehreren Millionen, die von den Kohlensyndikaten bearbeitet und herausgegeben und vom Deutschen Frauenwerk verteilt und in aufklärenden Vorträgen als Unterlage benutzt wurden, eine Artikelserie im volkswirtschaftlichen Aufklärungsdienst, eine Auflage von Artikeln in der gesamten deutschen Presse, veranlaßt vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, und Anschläge an den Haustafeln der NSDAP“ (Hans Ruban, Volkswirtschaftliche Aufklärung im Kriege, Wirtschaftswerbung 9, 1942, 33-34, hier 34). Hinzu kamen zahlreiche praktische Schulungen. Während diese in den Städten teils von Heizungsfachleuten und der Deutschen Frauenschaft organisiert wurden, präsentierten auf dem Lande auch Landwirtschaftslehrerinnen die Kernbotschaften des richtigen Heizens (Kärntner Volkszeitung 1941, Nr. 26 v. 3. März, Nr. 26, 6).

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Regeln für „richtiges“ Heizen (Illustriertes Tageblatt (Ausgabe E) 1940, Nr. 260 v. 5. November 1940, 3)

Flämmchen half erst einmal, einfache Regeln zu verbreiten, beherzigenswerte und handhabbare Vorgaben. Sie standen in der Tradition der im Ersten Weltkrieg vermehrt aufkommenden, in der Zwischenkriegszeit dann ihren Höhepunkt erreichenden „Gebote“ (Zwanzig Gebote der deutschen Hausfrau, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 8, 1915, 44; Gerhard Hahn, Die 10 Gebote der Gesundheit, Blätter für Volksgesundheitspflege 21, 1921, 62-63; Zwölf Gebote für die Hausfrau, Hannoversche Hausfrau 25, 1927/28, Nr. 19, 4; Max Winckel, Die 10 Gebote der Ernährung, Die Volksernährung 3, 1928, 95-96; 10 Gebote der Sparsamkeit, Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 6, 1931, 243). Während der NS-Zeit prägten zahlreiche „Gebote“ die Ernährungs- und Gesundheitspolitik, doch sie standen trotz ihres vielfach ideologischen Gehaltes in der Tradition einer bürgerlichen Gebotskultur, die auf die Belehrung der breiten Mehrzahl durch Experten zielte (10 Gebote Kampf dem Verderb, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 382; Zwölf Gebote zweckmäßiger und sparsamer Ernährung 12, 1937, 369-370; 12 Gebote der Gesundheit, Volksgesundheitswacht 1939, 104).

Regeln, darunter auch die durch die Flämmchen-Kampagne propagierten acht Grundregeln für richtiges Heizen waren dagegen enger gefasst, verbindlicher. Gebote gaben eine Richtung vor, Regeln dagegen Handlungsanweisungen. In den späten 1930er Jahren waren sie noch eng an technische Abläufe und damit vermeintliche Sachgesetzmäßigkeiten angelehnt (Regeln für die Benutzung des elektrischen Herdes, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 43; Zwölf wichtige Regeln für deine Ernährung, Reichs-Gesundheitsblatt 12, 1937, 50). Während des Krieges machten sie auch begrifflich den wachsenden Ernst der Lage deutlich, artikulierten zugleich eine andere Erwartungshaltung an die Adressaten. Sie nicht zu beachten würde Konsequenzen nach sich ziehen. Im Falle des Heizens waren das erhöhte Kosten, geringe Wärmeffizienz, der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Wissenden und Handelnden.

Der Wertekanon der mittels Flämmchen propagierten Regeln war dabei erwartbar: Sauberkeit, Effizienz, Verlässlichkeit, Stetigkeit, Achtsamkeit, Vorsorgeorientierung und einen klaren Blick auf die Grenzen der eigenen Fähigkeiten. Heizen war 1940 eine aufwändige Angelegenheit, das Holen des Brenngutes, das Anzünden und Schüren des Feuers, das manuelle Nachlegen und die beträchtlichen Reinigungsaufgaben sind heute kaum mehr bekannt. Flämmchen lehrte Kniffe, um mit all dem effizient umzugehen, um so Ressourcen zu sparen. Doch die Regeln dienten immer auch der Stärkung und Unterstützung eines Wertekanons, der als deutsch verstanden und propagiert wurde (Grundregeln für richtiges Heizen, Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 304 v. 3. November, 7; sowie beispielsweise Wie heize ich richtig?, Durlacher Tageblatt 1940, Nr. 257 v. 31. Oktober, 5; Wie heize ich richtig?, Illustriertes Tageblatt (Ausgabe E) 1940, Nr. 260 v. 5. November, 3; Acht Grundregeln für richtiges Heizen, Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 264 v. 9. November, 5).

Flämmchen nahm diesen Regeln viel von ihrer Striktheit. Die Sanftheit und Freundlichkeit der Figur war etwas anderes als der schnarrende Ton der NS-Granden, die bürokratische Sprache der Rationierungsverordnungen. Man wusste um die Härte der Regeln, doch Flämmchen baute eine Brücke, um sie zu befolgen. Neben der steten Arbeit stand aber auch eine andere Vorstellung von Frieren, von Wärme: „Unter normalen Umständen soll das Thermometer im Raum 18 Grad anzeigen. Für ältere und kranke Personen können es auch 20 Grad Celsius sein. Friert einer dennoch bei diesen Temperaturen, so möge er sich etwas wärmer anziehen“ (Heizen im Vorwinter, Rheinisches Volksblatt 1940, Nr. 274 v. 20. November, 5).

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Gemeinschaftsaufgabe Heizen (Aachener Anzeiger 1940, Nr. 281 v. 27. November, 6)

Die Kunstfigur Flämmchen präsentierte das Heizen zugleich als eine Gemeinschaftsaufgabe. Federführend war der RVA, doch die Kampagne verkörperte die enge, ja verschworene Kooperation einer Tatgemeinschaft: „Die gesamte Aufklärungsaktion, an der der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, der Reichskohlenkommissar, der Werberat der deutschen Wirtschaft, die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz und die Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung mitarbeiten, ist ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit der behördlichen Wirtschaftsführung mit der Praxis. Alle stehen im Dienst der Aufklärung“ (Sparsamkeit, 1940). Als Akteure, als Anreger wurden der Staat, die NSDAP und die Wirtschaft präsentiert – auch wenn die eigentliche Arbeit just bei der Bevölkerung lag. Selbst eine fachlich nicht sonderlich geeignete Person wie der Reichskohlenkommissar Walter konnte sich, als Repräsentant einer dienenden Branche, als Teil der Volksgemeinschaft präsentieren: „In ‚Flämmchen‘, dem guten Hausgeist, ist den Hausfrauen, den Hausangestellten – kurz allen Personen, die häusliche Feuerstätten bedienen, ein Helfer entstanden, der sie bei der sparsamen Verwendung der festen Brennstoffe unterstützt. Fort mit Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit! Her mit guten Ratschlägen für die beste Möglichkeit der Ausnutzung der in den Brennstoffen enthaltenen Werte! […] Der deutsche Kohlenhandel und die Schornsteinfeger werden sich mit allen verfügbaren Kräften in den Dienst der notwendigen Aufklärung stellen und ihren Kunden mit Rat und Tat zur Seite stehen“ (Ebd.). Flämmchen verwies auf eine gemeinsame Herausforderung, nicht auf einen Feind. Der gezeichnete Helfer verwies zugleich aber auf eine Gemeinschaft von Helfern, in die man sich auch aus Eigeninteresse einreihen sollte.

Flämmchen war trotz seiner freundlichen Erscheinung zugleich fordernd. Sanft, doch verbindlich. Richtiges Heizen war Teil eines Verpflichtungsdiskurses, das den Einzelnen als Teil einer gemeinsamen Anstrengung auch einband. Dazu grenzte man sich einerseits von einem angesichts der Rationierung nur selten möglichen Luxus ab: Hausbrand sei verfügbar, die Lager voll, doch das „darf uns […] nicht dazu verleiten, angesichts des ‚schwarzen Segens‘ nun drauflos zu wirtschaften und etwa so einzuheizen, daß man sich in einem Treibhaus wähnt. Mit Ueberlegung und etwas Einsicht läßt sich wenigstens ein Raum jeder Wohnung ständig warmhalten, wenn man einige kleine Kniffe kennt, die das Haushalten mit den Rohstoffen ‚Kohle‘ und ‚Holz‘ erleichtern“ (Richtiges Heizen hilft Brennstoff sparen. „Flämmchen“ – der gute Geist von Herd und Ofen, General-Anzeiger. GDA 1940, Nr. 309 v. 8. November, 5). Anderseits wurde der sparsame Umgang mit Brennmaterial vornehmlich volks- und kriegswirtschaftlich begründet. Der Einzelne müsse nicht frieren, wenn er denn richtig heize. Doch durch dessen bescheidenes Opfer, dessen vermehrte Arbeit, könne der Staat seine schützend gedeutete Macht ausbauen und festigen. Richtig heizen war Kriegsdienst an der Heimatfront, war zugleich ein Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung der gesamten Wirtschaft. Mittelfristig würde sich dies verzinst auszahlen, denn nur ein mächtiges Reich könne den anvisierten hohen Lebensstandard nach Ende des Krieges auch garantieren. Versagen im Hier und Jetzt würde diese Chancen jedoch unterminieren.

Die Flämmchen-Kampagne zielte auf willige Umsetzung, präsentierte zugleich aber nachvollziehbare Begründungen für sparsames, richtiges Heizen. Das Deutsche Reich wurde nicht nur als Land der Kohle präsentiert, sondern es stand auch für eine mit dem Rohstoff verbundene Zivilisationsmission. Deutsche Forscher würden das schwarze Gold zu vielfältigen neuen Produkten umformen. Kohle war wertvoll, stand in einer Reihe mit einer wachsenden Zahl ansprechender Austauschprodukte, wie synthetischen Treibstoff, Buna, Kunstseide oder Milei. Ähnliches ließ sich für Holz sagen, für den neuen Werkstoff Holzzucker. Sparsamkeit erhielte und erweiterte diese Möglichkeiten auch während des Krieges. Doch nicht nur Technik und Erfindergeist wurden angeführt. Als Kulturvolk seien die Deutschen Lernende, die an einem Katastrophenwinter wie 1939/40 nicht zerbrechen würden, sondern die lernend derartige Unbilden wenden könnten. Jeder war davon betroffen, jeder müsse als Deutscher nun daraus Konsequenzen ziehen. Industrie und Gewerbe seien vorangegangen, die Haushalte müssten nun folgen: „Die Hausfrau hat noch nicht begriffen, ein wie wichtiger Devisenbringer die Kohle ist, wie kriegsnotwendig unsere großen Ausfuhren nach Italien sind, wie bedeutungsvoll sich die beherrschende Stellung des Reiches gerade auf dem Kohlenmarkt bei der künftigen wirtschaftlichen Neugestaltung Europas auswirken wird. Die Hausfrau heizt teilweise noch nach Regeln, die vielleicht für Urväter Zeiten einmal tragbar gewesen sein mögen. Heutzutage muß sie sich im Interesse des großen Ganzen einmal danach umsehen, wie man richtig, das heißt, wie man so sparsam wie irgend möglich heizt. […] Lohnt sich für solchen Einsatz nicht ein wenig Umsicht?“ (Wie heize ich richtig? Riesaer Tageblatt 1940, Nr. 252 v. 25. Oktober, 2). Richtig Heizen war ein Modernisierungsschub für die Gemeinschaft, lenkte auch die Hausfrau hin auf die Erfordernisse der wirtschaftlich und wissenschaftlich führenden Nation.

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Flämmchen vermittelt Ziele und Mittel der Kampagne (Der Patriot 1940, Nr. 286 v. 4. Dezember, 7 (l.); Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 292 v. 11. Dezember, 8)

Derartige Kritik an den seit jeher vermeintlich rückständigen Hausfrauen war jedoch unüblich. Flämmchen schuf nämlich einen Puffer, einen Zwischenraum, in dem Kritik artikuliert werden konnte, ohne die vermeintlichen Verursacherinnen direkt anzugehen. Die Zeichentrickfigur erlaubte ein virtuelles Gespräch, eine indirekte Lenkung, denn seine Ratschläge wurden in die Welt des Haushalts eingebettet. „Was Flämmchen dir rät, / das nützt früh und spät. / Beim Kochen, Waschen, Baden und Heizen / Sollst stets du mit dem Brennstoff geizen!“ (Hier spricht „Flämmchen“, Znaimer Tagblatt 1940, Nr. 271 v. 16. November, 11). Die richtige Wahl des einen im Winter beheizten Raumes wurde erörtert, die Abdichtung der Fenster, der Türen, der Ofenritzen im Detail besprochen. Auch die Auswahl der Dichtungsstoffe wollte bedacht sein, die Verzahnung von Verdunkelung und Dämmung. Die Ratschläge reichten über den Ofen hinaus: Sollte man nicht die Heizplatte mit mehreren Töpfen besetzen, beim Waschen mehrere Kessel hintereinander nutzen oder aber den Badetag so organisieren, das alle Familienmitglieder nacheinander vom heißen Wasser profitieren konnten? („Flämmchen“ spricht: Mach’s so wie ich!, Riesaer Tageblatt 1940, Nr. 259 v. 2. November) Flämmchen erlaubte es der Hausfrau, mit dem Familienvorstand solche Fragen auch innerfamiliär anzugehen, sie mit Verweis auf Regeln und Rationalität durchzusetzen.

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Richtiges Heizen als Thema im Rundfunk (Rundfunkwoche Wien 3, 1940, Nr. 50 v. 7. Dezember, 10)

Schließlich zielte die auf Flämmchen gerichtete Aufmerksamkeit stetig auf die Broschüre „Wie heize ich richtig“. Diese wurde Anfang November durch die NS-Volkswohlfahrt an jeden zweiten Haushalt verteilt (auch um einen Austausch zwischen Nachbarn anzuregen) („Flämmchen“ spricht: „Mach’s so wie ich!“, Sächsische Volkszeitung 1940, Nr. 258 v. 2. November, 4). Für die ab und an angeführte Auflage von zwölf Millionen (etwa Reith, 2010, 66) habe ich zwar keine sicheren Nachweise finden können. Dennoch zielte Flämmchen, zielte die gesamte Kampagne auf häusliche Lektüre, auf den konkreten Vollzug des immer wieder angesprochenen richtigen Heizens: Das betraf etwa hinleitende Rundfunkvorträge und -interviews, Hörspiele und Einspieler, vereinzelte Fernsehsendungen, Diapositive in den Kinos, populäre Kurzfilmserien wie „Tran und Helle“ und auch Klischees und Matern für Zeitungen und Zeitschriften (Ruban, 1942, 33).

Bei Analyse der Eckpunkte der Flämmchen-Kampagne dürfen zwei Punkte allerdings nicht vergessen werden – und das teilt sie mit praktisch allen Kampagnen für Energiesparen. Erstens sind die Expertenratschläge keineswegs so sakrosankt, wie sie durch autorative Kampagnen erscheinen. Aus heutiger Sicht erscheinen insbesondere die damaligen Regeln für das Lüften recht fraglich. Experten haben eigene Wahrheiten, eigene Interessen. Ihnen blindlings zu folgen mag vielfach Sinn machen, doch kritische Distanz ist stets erforderlich, gibt es vielfach doch nicht den nur einen richtigen Weg. Zweitens sind Kampagnen dieser Art immer auch Umlenkungen, verzerren Kausalitäten, die Ursachen für die scheinbar erforderliche Sparsamkeit. Folgte man Flämmchen, so waren nicht der NS-Staat, die kartellierte Kohlenindustrie, die Rationierungspolitik und die Folgen der Angriffskriege Anlass für die Kohlenkalamität, sondern der unangemessene Umgang mit den Brennstoffen in Haushalt (und Gewerbe). Grundsätzlich sinnvolle Ratschläge haben daher immer auch eine ideologische Komponente.

Flämmchen im Kontext der nationalsozialistischen Konsumpolitik

Derartig bewusste Verengungen der Blicke gelten jedoch nicht nur für die Konsumlenkung oder die Werbung. Sie gelten auch für wissenschaftliche Beiträge. Die Darstellung der Kampagne allein ist eben unterkomplex. Daher will ich drei zusätzliche Aspekte näher beleuchten, ohne die die Flämmchen-Kampagne nicht recht zu verstehen ist. Sie ist erstens in die NS-Konsumpolitik einzubetten, zweitens in die Arbeit des RVA zu integrieren und drittens gilt es sich vertieft mit der Figur des Flämmchens auseinanderzusetzen. Wenn sie eine engere Perspektive bevorzugen, so können Sie auch direkt mit der Analyse der Flämmchen-Broschüre fortfahren.

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Konsumtraum Auto – über den Volkswagen hinaus (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 204 v. 23. Juli, 12)

Die NS-Zeit erscheint im Nachhinein zu Recht als eine Periode zunehmender materieller Not, zunehmender Gängelung im Konsumsektor. Doch sie war zugleich auch eine der überwundenen Not der Weltwirtschaftskrise, eine wachsender Prosperität. Radios wurden Alltagsgegenstände, Urlaub weitete die Horizonte, das Kino zeigte Unterhaltung und die Welt, neben Motorräder traten Automobile (so schon Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin-West 1986, 498-514). Es gab das Ideal eines Lebens in Fülle, einer prosperierenden Konsumgesellschaft. Das Alltagsleben würde einfacher werden, die Arbeit belohnt, man würde die USA einholen, zugleich aber würden alle willig Arbeitenden am Wohlstand teilhaben.

In der Forschung wurde immer wieder auf das ambivalente Vorbild der USA verwiesen, zugleich auf die Brüchigkeit der konsumtiven Versprechungen angesichts der von Beginn an laufenden Kampagnen zur Regulierung des Konsums, etwa bei Tabak und Alkohol, beim Weißbrot und bei Auslandsware. Das mag eine gewisse Berechtigung haben: Doch einerseits sind moralische Regulierungen integraler Bestandteil jeder Konsumgesellschaft, und zum anderen war das konsumtive Vorbild der USA angesichts der Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise für die meisten Deutschen kaum mehr ein Vorbild. US-Firmen und amerikanische Werbeformen scheiterten im Deutschen Reich seit den späten 1920er Jahren vielfach, waren doch die Absatzmärkte anders strukturiert, waren die Vorstellungen guter Ware, preiswerter und gefälliger Produkte deutlich andere, folgten vor allem Händler und Produzenten anderen Idealen als in den vielfach fordistischen USA (vgl. hierzu Uwe Spiekermann, German-Style Consumer Engineering: Victor Vogt’s Verkaufspraxis, 1925-1950, in: Jan Logemann, Gary Cross und Ingo Köhler (Hg.), Consumer Engineering 1920s-1970s, Houndsmill und New York 2019, 117-145, insb. 128-132 sowie Versorgung in der Volksgemeinschaft). Das bedeutet nicht, die Attraktivität des US-Vorbildes zu negieren – man denke nur an das Blondieren vermeintlich arischer Frauen im Stile Hollywoods. Das bedeutet aber Abstand zu nehmen von unkundigen Aussagen über deutsche Konsumideale als treibende Kraft für Rassenkrieg und Holocaust. „Hinter jedem imaginären deutschen Rassenkrieger stand“ eben nicht! „eine imaginäre deutsche Hausfrau, die immer mehr wollte“ (Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, Frankfurt a.M. 2017, 29). Die Konsumwünsche der Bevölkerung waren realistischer als die öffentlich immer wieder artikulierten Ideale.

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Konsumwünsche auch während des Krieges (Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1941, Nr. 16950 v. 2. Januar, 5)

Auch die Flämmchen-Kampagne war Teil einer die NS-Zeit prägenden Auseinandersetzung zwischen Staat, Wirtschaft und Konsumenten über Konsumverhalten und Konsumziele – selbst unter den restriktiven Bedingungen der Rationierungen, selbst in der von der konsumhistorischen Forschung zumeist ignorierten Energiewirtschaft (Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000; Tim Schanetzky, Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich, München 2015). Konsum waren während der NS-Zeit immer auch mit Lenkungsabsichten gekoppelt (Claudius Torp, Wachstum, Sicherheit, Moral. Politische Legitimationen des Konsums im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, 65).

Das nationalsozialistische Konsummodell oszillierte eben nicht zwischen utopischer Fülle und den Härten eines regulierten Alltagskonsums, sondern war vom Eigensinn der Menschen im Rahmen immer restriktiver kapitalistischer Konsumgütermärkten geprägt. Sie wussten mit den Maßnahmen und Vorgaben der Regierung umzugehen, denn seit dem Ersten Weltkrieg hatten sie gelernt, dass Kampagnen zumeist inkonsequent durchgeführt wurden, dass der Lenkungseifer seine Grenzen hatte (Ebd., 68-69). Selbst der ideologische Überbau eines Völkerringens war aus den Debatten der Weltwirtschaftskrise wohlbekannt – doch er erhielt während des Zweiten Weltkrieges höhere Glaubwürdigkeit, denn nun ging es nicht mehr um Auslandsmärkte und Arbeitsplätze, sondern um Lebensraum und Träume von einem reichen, hegemonialen Herrenvolk. Sparsamkeitskampagnen wurden entsprechend akzeptiert und auch teils murrend befolgt, waren aber kein Bruch mit bestehenden Konsumidealen.

Dabei ging es, wie die Flämmchen-Kampagne unterstreicht, aber nicht allein um Expansion und Raub, sondern immer auch um die Nutzung von Möglichkeiten der deutschen Technik, der deutschen Volkswirtschaft: Holz und Kohle schienen konsumtiv zu wertvoll, um sie zu verbrennen: „Der wirtschaftliche Nutzen, der beim Heizen von Wohnungen, beim Kochen, Waschen und Baden erreicht wird, entspricht nicht dem wirklichen wirtschaftlichen Wert der beiden Güter, der auf anderem Wege der Gesamtwirtschaft des Volkes weit besser nutzbar gemacht werden kann“ (Sparsamkeit im Hausbrand, Derner Lokal-Anzeiger 1940, Nr. 260 v. 2. November, 4). Derartige Visionen alternativer konsumtiver Nutzungen der Brennstoffe finden sich später auch bei Erdöl und Erdgas, im Rahmen globaler Energiedebatten. Die national begrenzte Flämmchen-Kampagne entwickelte und propagierte stattdessen Vorstellungen einer Konsumgesellschaft aus deutschen Werkstoffen und deutscher Kraft. Kohle diente „zur Herstellung wichtiger Erzeugnisse der Industrie, wie von Benzin, Buna, Fetten, Arzneimitteln, Farben und verschiedenen Kunststoffen. Ebenso wertvoll ist natürlich auch das Holz, aus dem u. a. Kunstseide und Zellwolle, Papier, Zucker und sogar Alkohol hergestellt werden“ (Richtiges Heizen hilft Brennstoff sparen. „Flämmchen“ – der gute Geist von Herd und Ofen, General-Anzeiger. GDA 1940, Nr. 309 v. 8. November, 5). Einsparen bedeutete demnach größere Konsummöglichkeiten im Deutschen Reich just während des Krieges, nicht erst in einer lichten aber fernen Nachkriegszeit.

Der Flämmchen-Kampagne fehlte konsumtive Großsprecherei. Es ging um die Herstellung einer völkischen Effizienzgemeinschaft, die sich im Angesicht der Krise bewährte, die individuelle Bedürfnisse zurücknahm, um den Rüstungs- und Kriegsanstrengungen zu genügen. Das diente einer europäischen Vorrangstellung, doch es griff stärker noch real bestehende Sorgen vor dem kommenden Winter auf. Entsprechend verwies das imaginäre Flämmchen immer wieder auf Nachbarn, auf die helfenden Fachleute. Sie wurden als Leistungs- und Schicksalsgemeinschaft verstanden. Flämmchen wurde durch die ebenfalls imaginäre „kluge Nachbarin“ unterstützt, die dessen Heiz-Ratschläge schon seit langem praktizierte (Wir helfen alle zusammen, Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr.. 19 v. 19. Januar, 13).

Im Rahmen der NS-Konsumpolitik war die Kampagne aber nicht nur ein Appell für Selbsthilfe, für Nachbarschaftshandeln. Sie war auch ein Beitrag zur Fortexistenz der Werbung während des Krieges. Diese war durchaus umstritten, unterminierten doch das Rationierungssystem, die Mangelversorgung und auch wachsende Papierknappheit (Holz!) das zuvor übliche Werben um den Käufer. Die zunehmende, schon vor dem Weltkrieg einsetzten Beschränkung der privatwirtschaftlichen Werbung würde jedoch Mangellagen nicht verdecken können, gäbe es doch eine staatlich nicht stillzustellende konsumtive Alltagswahrnehmung. Um den Käufer dann nicht zum „Meckerer“ und „Miesepeter“ mutieren zu lassen, sei es erforderlich „offen und ehrlich“ (Reinhold Krause, Die Wirtschaftswerbung im Kriege mit einem Ausblick auf die zukünftigen Werbeaufgaben, Wirtschaftswerbung 8, 1941, 392-394) über Engpässe und Einschränkungen zu kommunizieren. Das blieb Aufgabe der Privatwirtschaft, führte zugleich zum Bedeutungsgewinn von Kampagnen des RVA. Staatliche Rationierung erforderte Kommunikation nicht nur über das „Warum“ bestimmter Maßnahmen, sondern zugleich auch über Regeln für gemeinschaftskonformes Handeln (F.W. Schulze, Grundsätzliches zur Werbung im Kriege, Deutsche Handels-Rundschau 33, 1940, 493-494, hier 493).

Verbrauchslenkung während des Nationalsozialismus: Der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung

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Emblem und Namenszug des RVA (Uwe Spiekermann)

Die Flämmchen-Kampagne wurde vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung durchgeführt, dem zentralem Akteur der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung. Er ging aus dem Kuratorium deutscher Volkswirtschaftsdienst und dem Volkswirtschaftlichen Aufklärungsdienst im Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung GmbH hervor. Gegründet wurde er im März 1934 als GmbH mit einem Stammkapital von 21.000 RM in Berlin-Charlottenburg. Sein Zweck war anfangs die gemeinnützige „Förderung des Absatzes Deutscher Erzeugnisse und Leistungen, vor allem unter Berücksichtigung der deutschen Wertarbeit“ (Deutscher Reichsanzeiger 1934, Nr. 55 v. 6. März, 8). Als Geschäftsführer agierte Kurt Melcher (1881-1970), während der Weimarer Republik Polizeipräsident in Essen, nach dem „Preußenschlag“ bis Februar 1933 dann Polizeipräsident in Berlin. Während der NS-Zeit zeitweilig Oberpräsident und Mitglied des Preußischen Staatsrates war er politisch bestens vernetzt und nahm vielfältige Verwaltungsaufgaben im Rahmen der Zentralisierung von Staat und Wohlfahrtsverbänden wahr. Als Geschäftsführer wurde Melcher im Juni 1938 durch den früheren Kriegshelden und U-Boot-Kommandanten Heinrich Metzger ersetzt (Ebd., Nr. 146 v. 27. Juni, 13). Der dem Werberat der deutschen Wirtschaft und damit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellte RVA hatte zu dieser Zeit den Wirtschaftswerbedienst GmbH übernommen, ebenso die Aufgaben des Instituts für Deutsche Wirtschaftspropaganda. Heinrich Hunke (1902-2000), Präsident des Werberates, sah in ihm „eine schlagkräftige Einrichtung, die in der Überwindung von Mangellagen und bei der Einführung der neuen Werkstoffe eine rühmenswerte Leistung vollbrachte“ (Heinrich Hunke, Wandel und Gestalt der deutschen Wirtschaftswerbung in den letzten 70 Jahren, o.O. 1970 (Ms.), 19). Der RVA organisierte darüber hinaus zahlreiche Messen und Ausstellungen und unterstützte Firmen bei ihrer Exportwerbung. Bei alledem war er ein wichtigstes Scharnier zwischen dem NS-Staat, der Wirtschaft, der Landwirtschaft und den Konsumenten. Typisch war die Kooperation, die „Gemeinschaftsarbeit“ mit zahllosen institutionalisierten Akteuren der NS-Zeit und die Nutzung praktisch aller existierenden Werbemittel (Alfred Heizel, Die volkswirtschaftliche Aufklärung als Staatsaufgabe. Der Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung, Werben und Verkaufen 26, 1942, 297-298; Matthias Rücker, Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. et al. 2001, 266-272). Bis heute bekannt sind seine in teils siebenstelliger Zahl aufgelegten und ehedem für ein, zwei Groschen verkauften Broschüren zu allen Fragen der Ernährung und der Haushaltsführung (Nancy Reagin, Tischkultur: Food Choices, Cooking and Diet in Nazi Germany, in: Lisa Pine (Hg.), Life and Times in Nazi Germany, London et al. 2016, 21-47; Hans Ruban, Volkswirtschaftliche Aufklärung im Kriege, Wirtschaftswerbung 9, 1942, 33-34, hier 33).

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Eine bunte Palette: Schriftenreihe des RVA für die praktische Hausfrau, Hefte 1 bis 10, 1939-1940 (Uwe Spiekermann)

Der RVA verkörperte eine ständisch strukturierte Wirtschaft (Industrie, Handwerk, Großhandel, Einzelhandel, Konsumenten) mit klaren Aufgaben für alle Beteiligten. Dennoch war er keine typisch nationalsozialistische Institution. Reichsausschüsse entwickelten sich vielmehr im Gefolge der Rationalisierungsdebatten der 1920er Jahre. Wegweisend waren etwa der 1921 gegründete Reichsausschuß für Ernährungsforschung oder der 1926 eingerichtete Reichsausschuß zur Förderung des Milchverbrauchs, der spätere Reichsmilchausschuß. Die Palette entsprechender Institutionen war breit, man denke nur an die Reichsausschüsse für Technik und Landwirtschaft, für Hygienische Volksbelehrung, für Volksgesundheitsdienst, für Hauswirtschaft, für Leistungssteigerung, etc. Gemeinsam war ihnen die enge Kooperation von Experten mit Staat und Wirtschaft. Damit gewannen sie gesellschaftliche Leitfunktionen, konnte das Wissen der Experten hierarchisiert und den Laien, Patienten, Hausfrauen und Verbrauchern übergeordnet werden. Es ist kein Zufall, dass der RVA ohne größere Häutungen in den Bundesausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung überführt werden konnte.

Der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung sah sich durchaus als Sachwalter des Konsumenten. Angesichts des auch in breiten Teilen der Wirtschaft akzeptierten Primates des Staates in der Volkswirtschaft bot er Hilfestellungen an, verdeutlichte die Zielsetzungen des NS-Staates, falls diese nicht bereits willig aufgegriffen wurden. Flämmchen und die dahinterstehende Kampagne standen in dieser Linie, denn sie versuchte nicht nur das Verhalten zu lenken, sondern auch die (geringen) Handlungsoptionen der Verbraucher zu optimieren.

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Populäre Comicfiguren für nationalsozialistisches Nudging: Groschengrab und Übeltöter (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 10, 1939, 248 (l.); Der Erft-Bote 1940, Nr. 61 v. 26. März, 5)

Flämmchen stand in einer Reihe ähnlicher Kunstfiguren, ähnlicher Kampagnen, aus denen der „Kampf dem Verderb“ gewiss herausragte (Der Werberat der Deutschen Wirtschaft im Jahre 1940, Der Markenartikel 8, 1941, 185-186, 188-190, hier 185-186). Es handelte sich um mehrere durch die Hauptparole verbundene „Werbefeldzüge“, um die Hauswirtschaft zu rationalisieren, um Einkaufen, Zubereiten, Konservieren und Entsorgen zu verändern. Werte sollten erhalten, Wohlstand dadurch vermehrt werden. Die Maßnahmen wurden evaluiert, die Werbesprache und die eingesetzten Werbemittel entsprechend angepasst. All das war „modern“, mochte es auch auf Kriegsbefähigung und -vorbereitung zielen. Das galt auch für die verschiedenen Werbefiguren. Das im Juni 1938 eingeführte „Groschengrab“ machte die vielfältigen Gefahren sichtbar, die unbedachte Vorratswirtschaft mit sich brachte. Groschengrab nutzte sie mit kindlicher Wonne, war ein Raffer ohne Selbstdisziplin. Er verkörperte, wenngleich in drastisch überzeichneter Weise, die bösen Folgen der unterlassenen Tat. Richtig böse aber war das Ungeheuer nicht, bot gar manchem Gourmand unausgesprochene Identifikationschancen. Entsprechend wurden die ausklingenden Feldzüge von Kampf dem Verderb zudem mit einer anderen, prototypisch positiven Identifikationsfigur verbunden. Der Übeltöter war ein Macher, besiegte schuppdiwupp die zahllosen Fraßschädlinge, die Ernten vernichteten, Vorräte verschlangen, Wertgegenstände zerstörten (Kampf gegen die Schädlingsbande, Der Erft-Bote 1940, Nr. 82 v. 23. April, 6). Die Figur war jedoch nicht besonders ansprechend, auch ihr Name war nicht glücklich gewählt. Flämmchen war eine Fortentwicklung, war jedoch weder Raffer oder Macher, sondern ein Helfer.

Groschengrab, Übeltöter und Flämmchen sind allesamt Beispiele für die hohe Bedeutung von Zeichenfiguren und Bildgeschichten/Comics im Alltag der NS-Zeit – auch wenn die Forschung sich zumeist lieber auf die Adaption amerikanischer Vorbilder nach 1945 beschränkt (Bernd Dolle-Weinkauff, Brita Eckert und Sylvia Asmus, Comics made in Germany. 60 Jahre Comics aus Deutschland, 1947-2007, 2. durchges. Aufl., Wiesbaden 2008; Ahistorisch: Oliver Näpel und Thomas Dahms, Comics, in: Felix Hinz und Andreas Körper (Hg.), Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte, Göttingen 2020, 138-166). Flämmen steht im Zusammenhang mit populären Serien wie E.O. Plauens „Vater und Sohn“ sowie zahlreichen dann auch zu Trickfilmen ausgeweiteten Geschichten, viele davon just im Felde der Werbung und der Verbrauchslenkung (Rolf Giesen und J. P. Storm, Animation Under the Swastika. A History of Trickfilm in Nazi Germany, 1933-1945, Jefferson 2012). Das Genre reichte nicht nur in die Weimarer Republik zurück, vielmehr finden sich zahlreiche Comics und Zeichentrickfiguren in den Karikaturzeitschriften des Kaiserreichs. Gängige Werbefiguren der Markenartikelindustrie eiferten ihnen nach. Denken Sie nur an Salamanders Lurchi, den kleinen Coco oder den lustigen Fips von van den Bergh – oder mehrere Anzeigenserien von Wybert oder Schwarzkopf in den späten 1930er Jahren. Flämmchen war ein kurzfristig genutztes Kunstprodukt, doch es stand in einer langen Reihe moderner Werbemittel. Es diente kostenbewusstem und sparsamem Heizen, war nicht nur Ausdruck einer Reichsspargemeinschaft, sondern Bestandteil einer Konsumgesellschaft des reflektierten Verzichts, der situationsbedingten Konsumzurückhaltung.

Das Flämmchen: Mehr als ein netter Kobold

Flämmchen war nicht eine beliebig hingeworfene Comicfigur, sondern verkörperte einen lang zurückreichenden und alltagsbegleitenden Mythos, verkoppelte die Naturkraft der Sonne mit der des menschlich gestalteten Feuers. Die Faszination des Kunstlichtes spiegelte sich seit dem späten 19. Jahrhundert in den zahllosen Darstellungen der Elektrizität, seine gleißende Helligkeit den Fortschritt der Menschheit. Licht wurde bei öffentlichen Veranstaltungen und zunehmend auch in der politischen Selbstdarstellung genutzt. Die Machtzulassung der NSDAP wurde mit einem Fackelzug gefeiert, die Lichtdome der Reichsparteitage verkörperten Größe und Machtanspruch. Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass entsprechende Lichtinszenierungen nicht nur in der Schaufenstergestaltung oder der Städtewerbung (Berlin im Licht 1928) vorweggenommen wurden, sondern auch die Verfassungstage der Weimarer Republik prägten.

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Fackelzug auf dem NSDAP-Reichsparteitag 1935 – Lichtdom beim NSDAP-Reichsparteitag 1937 (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 251 v. 14. September, 1 (l.); Das Deutsche Mädel 1937, Nr. 10, 6)

Licht stand für Modernität und die Herrschaft über die Natur, band den Menschen aber zugleich eng an die Kräfte der Natur. Feuer war ein Grundelement der Humoralpathologie. Feuergeister erschienen nicht nur im Märchen, sondern verkörperten bis in die frühe Neuzeit im Element Feuer lebende Elementargeister. Feuer und Licht wurden im 19. Jahrhundert materialisiert, doch ein überschüssiger Bedeutungsgehalt blieb weiter präsent. Bis heute brennen wir für etwas, stehen unter Feuer, sind Feuer und Flamme für bestimmte Ziele.

Während der NS-Zeit kam es zu einer bewussten Revitalisierung dieser mythischen Grundlagen von Feuer und Licht. Das entsprach den überindividuellen und deterministischen Elementen der NS-Ideologie. Ewige Gesetze der Natur walteten hier, die Menschen waren deren Vollstrecker. Immer wieder beschworen wurde die Vorsehung, ebenso die „Eigengesetzlichkeit“ von Entwicklungen (P[aul] Kecskemeti und N[athan] Leites, Some Psychological Hypotheses in Nazi Germany, Washington 1945, insb. Kapitel 2). Krieg war demnach Schicksal, die Deutschen Teil einer Schicksalsgemeinschaft.

Derartiges Denken war nicht geduldete Esoterik, sondern Teil des Alltagslebens. Der Einzelne war eingebettet in das Walten der Zeiten, in Werden und Vergehen, die Stoffwechselmodelle der organischen Chemie des 19. Jahrhunderts entfalteten dabei paradox-sinngebende Deutungsmacht. Hans von Hülsens (1890-1968) Gedicht „Ewig Silvester!“ gibt davon eine Idee: „Das Alte / geht und das Neue beginnt. / Während ich mählich erkalte, / Reckt sich zur Flamme mein Kind. / Wachse, Flämmchen, und glühe! / Einst, wenn mein Tag mir verschwelt, / Weckt mich zu neuer Frühe / Seele, die dich beseelt. / Sei das Alte geleugnet, / Wo es im Kreislauf verfließt! / Da uns das Neue begegnet, / Sei es in Ehrfurcht begrüßt!“ (Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 361 v. 29. Dezember, 11)

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Feuergeister in einer Kindergeschichte (Der kleine Coco 9, 1926, 131)

Das Flämmchen verkörperte einen Bezug zum ewigen Walten der Natur, dem sich der Mensch anzupassen hatte, gegen den Revolte unsinnig zu sein schien. Flämmchen waren gleichwohl menschlich eingehegt, seine rot-gelbe Zeichnung spiegelte die gebende Natur, die Transformation von Sonne und Feuer in Wärme und Behaglichkeit. Die Flämmchen-Kampagne spielte mit derart mythischen Elementen. Der Ofen, die Heizung, sie waren „Feuerstätten“. Kohle und Holz enthielten mehr als einfache Kohlenstoffverbindungen mit Heizwert: „Die alte Generation der Steinkohle ist aus versunkenen Urwäldern grauer Vorzeit entstanden. Druck und Hitze im Erdinneren verwandelten sie in Kohle.“ „Deutschlands Wälder“ standen ohnehin für sich, Eichenhaine verwiesen zurück in vermeintlich germanische Zeiten (Heute etwas für jede Leserin!, Der Landbote 1940, Nr. 300 v. 7. Dezember, 17). Die freundliche Farbigkeit des Flämmchens war aber nicht nur anheimelnd, sondern auch Aufgabe. Richtiges Heizen verhinderte den Übergang zur bläulich-fahlen Flamme, zum absterbenden Flämmchen, zu Kälte und Tod.

Die Kunstfigur des Flämmchens entsprach zugleich einem modernen Denken, das politischen und wirtschaftlichen Kampf visualisierte, eng mit Bildern eng verband. Wie Flämmchen mussten sie ansprechend, aber nicht gar zu konkret sein. Sie mussten für etwas Allgemeineres, Größeres stehen, diesem Kontur verleihen. Ihre fehlende Klarheit gab zugleich Raum für die erforderliche Eigeninitiative, um so nicht unbedingt „dem Führer“ entgegenzuarbeiten, wohl aber die Zielsetzungen des Regimes mit den eigenen zu verschmelzen. Flämmchen war damit eine freundlich-possierliche Variante eines ideologischen Denkens, das den Krieg der Rassen, Völker und Individuen naturalisierte und damit legitimierte.

Flämmchen blieb dennoch eine ambivalente Figur. Goethes Deutung der Flämmchen als Sinnbilder genial-überirdischer Kräfte erinnerte nicht nur an stetes Werden, sondern an die Ausbildung genialischer Kräfte in jedem Menschen. Bei Friedrich Hölderlin (1770-1843) stand das „Flämmchen des Lebens“ für Achtung, Wertschätzung und Muße. Das Flämmchen umgriff den Funkensprung zwischen Menschen, verkörperte Sehnsucht und Begehren. Friedrich Nietzsche (1844-1900) dichtete bacchantisch: „Ueberallhin, wo ein Flämmchen / Für mich glüht, lauf ich, ein Lämmchen, / Meinen Weg Sehnsüchtiglich“ (Idyllen aus Messina, Internationale Monatsschrift 1, 1882, 269-275, hier 270). Das Flämmchen entwickelte sich angesichts der wachsenden Profanisierung des Weihnachtsfestes aber auch als Symbol für Geborgenheit und Frieden. Joachim Ringelnatz (1883-1934) hat dies in „Vorfreude auf Weihnachten“ berührend festgehalten: „Bald ist es Weihnacht! – Wenn der Christbaum blüht, / Dann blüht er Flämmchen. Und Flämmchen heizen. Und die Wärme stimmt / uns milde. – Es werden Lieder, Düfte fächeln. – / Wer nicht mehr Flämmchen hat, dem nur noch Fünkchen glimmt, / Wird dann doch gütig lächeln. / Wenn wir im Traume eines ewigen Traumes / Alle unfeindlich sind – einmal im Jahr! – / Uns alle Kinder fühlen eines Baumes. / Wie es sein soll, wie’s allen einmal war“ (Kunst und Wissen 1943, Dezember-Nr., 9).

Wie heize ich richtig? Eine Broschüre für Millionen

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Flämmchen-Werbung als Einstieg zur vertiefenden Lektüre (Sächsische Volkszeitung 1940, Nr. 257 v. 1. November, 4)

Flämmchen wurde – ein valider Beleg fehlt – in ca. 10.000 Anzeigen beworben (Uwe Westphal, Werbung im Dritten Reich, Berlin 1989, 144). Objektiv wohl wichtiger war die darin immer wieder angepriesene kleine, farbig-illustrierte 16-seitige Broschüre „‘Flämmchen‘ antwortet auf die Frage: Wie heize ich richtig?“. Bis zu 12 Millionen Exemplare wurden davon kostenlos verteilt, gedruckt vom Hausverlag des RVA, dem Verlag für Volkswirtschaftliche Aufklärung – Dr. Tautenhahn KG, Berlin. Diese Zahl ist nicht gesichert. Selbst in Metropolen wie Wien gelang keine flächendeckende Verbreitung. Noch im Februar hieß es: „Alle Hausfrauen und alle mit dem Heizen beschäftigten Personen sollten sich rasch das Heft ‚Wie heize ich richtig?‘ zu ihrem eigenen Nutzen beschaffen“ (Die Muskete 36, 1941, Nr. 2, 36).

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Richtig Heizen mit Flämmchen (Wie heize ich richtig?, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in Zusammenarbeit mit dem Reichskohlekommissar, der Reichsarbeitsgemeinschaft Holz E.V. und der Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung, Berlin 1940, 1)

Die Broschüre zielte erst einmal darauf, zwischen Flämmchen und der als Hausfrau erscheinenden Adressatin eine quasi-persönliche Beziehung herzustellen. Flämmchen klopfte an der Tür, sagte brav bitte, das vertrauliche Du wurde groß geschrieben: „Ich bin ein guter Hausgeist und will Dir zeigen, wie Du mit Deinem Hausbrand so sparsam und wirtschaftlich umgehen kannst, daß Du mit dem zugeteilten Vorrat sicher ausreichen wirst.“ Es folgten Informationen zu den Brennstoffen, der Bezug zum Bergmann unter Tage und deutscher Großtechnik im Tagebau wurde ebenso geknüpft wie der zum emsigen Torfstecher und den mit Axt und Säge ausgerüsteten Holzfällern. So wurde die Arbeit geadelt, dann aber deren Ertrag vorgestellt. Eine ganze Brennstoff-Familie erschien, die Segnungen des deutschen Bodens, die Hinterlassenschaften der Jahrmillionen, der Jahrtausende. Derart eingestimmt ging es dann an die oben schon angerissenen acht Grundregeln für richtiges Heizen. Sie wurden doppelt vorgestellt, einerseits in klarer, einfacher Sprache, anderseits in mehr oder minder eingängigen Reimen. Lauschen wir des Flämmchens Poesie: „1. Kannst mit Brennstoff sparsam sein, / Hältst Du Herd und Ofen rein. 2. Zum Feuermachen nimm Holz und Papier, / Auch gute Zündmittel helfen dir! 3. Gib richtig Luft mit Maß und Ziel, / Du sparst damit an Brennstoff viel! 4. Die freie Stelle auf dem Rost / Dich eine Menge Brennstoff kost‘. 5. Die Kohle brennt oft nicht ganz aus, / Drum such sie aus der Asche raus! 6. Hör auf mit Feuern früh genug, / Du merkst es bald im Wirtschaftsbuch! 7. Ein stumpfes Messer taugt nicht recht. / Kranke Öfen heizen schlecht! 8. Abfälle gib der Schweinemast, / Dem Ofen sind sie nur zur Last!“ (Heute etwas für jede Leserin!, Der Landbote 1940, Nr. 300 v. 7. Dezember, 17).

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In Zwiesprache mit dem kundig-prüfenden Hausgeist (Wie heize ich richtig?, 7, 10)

Während diese Regeln im Mittelpunkt auch der Presseartikel standen, blieb der folgende Teil über „Herd und Ofen“ fast gänzlich der Broschüre vorbehalten. Er enthielt sachlich-ansprechende Zeichnungen von Küchenherden, Kachelöfen und gängigen Brennöfen, ging auch auf andere Wärmequellen ein, auf Waschkessel, Futterdämpfer und Boiler. Während die Regeln auf die Praxis des Heizens, vor allem auf die Belegung und Handhabung der Roste verwiesen, erlaubten die herausgehobenen Kontrollpunkte eine gezielte Kontrolle der heimischer Heizinfrastruktur.

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Kontrollpunkte für die optimale Funktion gängiger Öfen (Wie heize ich richtig, 13)

Die Broschüre endete mit groben Anregungen für die Abdichtung des Hauses, also für eine den jeweiligen Wohnverhältnissen angepasste Prävention. Die Broschüre war positiv gehalten, enthielt keine Drohungen oder Warnungen. Flämmchen kam freundlich daher, wollte erst einmal helfen. Dass dahinter aber Nachdruck stand, wusste jeder Adressat selbst, denn es waren Durchschnittsmengen für das täglich vorhandene Heizmaterial enthalten, und der Verweis auf die zugewiesenen Mengen machte aus der Anregung faktisch eine Verpflichtung. Flämmchen riet, doch wer nicht auskam, der musste etwas falsch gemacht haben, konnte nicht auf zusätzliche Lieferungen rechnen. Auch der Winter 1939/40 war unausgesprochen präsent, wurde doch von einer sechs bis siebenmonatige Winterperiode ausgegangen.

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Das Haus als Wärmefestung: Lage der beheizten Zimmer und Abdichtung der Fenster (Wie heize ich richtig, 14, 15)

Am Ende stand der kurze, aber wichtige Verweis auf weitere Helfer, abseits von Flämmchen, den Nachbarn und der eigenen Willigkeit und Arbeit. Freunde und Helfer gab es auch abseits der Polizei, nämlich beim Reichsnährstand und dem Deutschen Frauenwerk, dem Kohlensyndikat und den Kohlenhändlern. Den Reigen ergänzten Schornsteinfeger, Töpfer und Ofensetzer, schließlich die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz, der Ausschuß für Technik der Forstwirtschaft und der Technische Beirat des Reichsforstmeisters: You’ll never walk alone…

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Flämmchen als vermeintliches Überich der Volksgemeinschaft (Wie heize ich richtig?, 16)

Am Ende verabschiedete sich der freundliche Hausgeist von seiner Gastgeberin, dankte für die Aufmerksamkeit, unterstrich nochmals die Nützlichkeit seiner Ausführungen und bat um Verbreitung seiner Botschaft auch bei Bekannten und Freunden. Das taten auch die Tageszeitungen, die immer wieder Auszüge verbreiteten (Heizen im Vorwinter, Rheinisches Volksblatt 1940, Nr. 274 v. 20. November, 5).

Die Broschüre blieb auch in den Folgemonaten des Winters ein steter Bezugspunkt, zumal sie erlaubte, Kritik an vermeintlich unzureichender Brennstoffversorgung abzuwehren: „Wie richtig gefeuert und geheizt wird, das kann jede Hausfrau in dem aufschlußreichen Heft, in dem das ‚Flämmchen‘ seine Ratschläge gibt, nachlesen“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1941, Nr. 23 v. 28. Januar, 4). Das galt ebenfalls für die damit verbundenen Härten, etwa die verpflichtenden Reduktion der Raumtemperaturen auf 18 °C in behördlichen Diensträumen. Dies war zu ertragen und ansonsten galt: „Im Rahmen der Maßnahmen zur Kohlenersparnis sollen die mit der Bedienung der Öfen betrauten Personen an Hand der Schrift ‚Wie heize ich richtig‘ aufgeklärt werden“ (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 35 v. 11. Februar, 5).

Nur ein Auftakt: Energiesparen mit Kohlenklau & Co.

Die Flämmchen-Kampagne erlaubte eine recht konfliktfreie Bewältigung des Winters 1940/41. Sie etablierte Routinen häuslicher Pflichten und eine Kultur der Sparsamkeit unter Kriegsbedingungen. Die Härten der überdurchschnittlich kühlen Winter erlaubten zudem – ebenso wie etwa beim Scheitern des völlig unzureichend ausgestatteten Angriffs der Wehrmacht auf Moskau – eine Naturalisierung des Geschehens. Gegen General Winter kämpften selbst Heroen vergeblich. Heroisch aber sollte man auch 1941/42 an der Heimatfront gegen die Kälte ankämpfen – langsam verringerten Brennstoffzuweisungen zum Trotz.

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Der Kampf am Herd – gewonnen von der aufmerksamen Hausfrau und der wieder hervorgeholten Kochkiste (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 19 v. 19. Januar, 13 (l.); Ernährungs-Dienst 26, 1940, 21)

In der Zwischenzeit liefen die DAF-Schulungen „Heize richtig“ weiter, bis Ende 1942 betrug ihre Zahl offiziell 150.000 (Heize mit Kohlen und – mit Hirn, Straßburger Neueste Nachrichten 1942, Nr. 346 v. 15. Dezember, 5). In den Haushalten setzte man weiter auf die bewährten Flämmchen-Ratschläge, auch die im Ersten Weltkrieg hochgelobte Kochkiste kam wieder zu Ehren. Letztlich aber konnte die Kälte nur gemildert werden, entwickelte sich ein duldender, zunehmend auch sarkastischer Umgang mit dem saisonal vorhersehbaren Geschehen. Die öffentlichen Appelle wurden zugleich strikter: „Kohle ist der Schlüssel zum Sieg, ein jeder denke daran!“ (Der Führer 1942, Nr. 318 v. 17. November, 4)

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Schlüpfrige Träume im kalten Winter: Heizbare Unterwäsche als Alltagstraum (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 44, s.p.)

Ende 1942, angesichts zunehmender Versorgungsprobleme und der absehbaren militärischen Katastrophe in Stalingrad, lancierte der RVA dann mit Kohlenklau eine ganz andere Zeichentrickfigur, mit der Sparsamkeit bei Energie und allen kriegswichtigen Ressourcen eingefordert und deren ubiquitäre Präsenz mit zweistelligen Millionensummen gefördert wurde. Dieses „Ungeheuer mit dem zugekniffenen Auge, dem gewaltigen Schnauzbart, großem Sack und bedrohlichen Krallen“ (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstedt 1943, Nr. 94 v. 18. Juni, 6) war kein Helfer, sondern visualisierte einen Feind. Sein später eingeführtes positives Pendant, der rührige Knobelmann, blieb dagegen unbeachtet, so wie viele weitere gegen Kriegsende entwickelte Kunstfiguren. Auch an Flämmchen erinnerte man sich nach Ende des NS-Regimes kaum mehr, mochten weiter zahlreiche Ratgeber für richtiges Heizen auch an die Ratschläge von 1940 anknüpfen (Walter Schulze und Heinz Weidmann, Wie heize ich richtig?, Leipzig 1962). Kohlenklau ist dagegen bis heute begrifflich bekannt – auch aufgrund der teilweisen Umdeutung der Figur in der Energiekrise der unmittelbaren Nachkriegszeit, als das Klauen von Kohle und Holz allseits gebilligt, allseits praktiziert wurde.

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Kurz vor Kriegsende: Kohlenklau trifft ein anderes Flämmchen – und richtig Heizen wird zur Pflicht (Pforzheimer Anzeiger 1945, Nr. 21 v. 25. Januar, 4 (l.); Der Führer 1944, Nr. 176 v. 28. Juni, 3)

Sie werden, verehrter Leser, verehrte Leserin, sich gewiss ihren eigenen Reim auf diese scheinbar harmlose Episode nationalsozialistischer Propaganda machen können. Das gilt für ihre analytische Einbettung in die Zeit, gilt aber auch für vergleichende Analysen bis in die Gegenwart. Die in der Flämmchen-Kampagne nicht unmittelbar angesprochenen nationalsozialistischen Imperative von Kriegsführung, Hegemonialstreben und damit verbundenen Wirtschaftsinteressen sind letztlich am britischen, US-amerikanischen und in erster Linie sowjetischen Widerstand zerbrochen. Wer im Rahmen des laufenden Krieges zwischen der angegriffenen Ukraine, ihren westlichen Unterstützern und dem keineswegs isolierten Russland „siegen“ wird, ist gegenwärtig unklar. Sicher aber ist, dass die breite Mehrzahl aller Bevölkerungen zu den Verlierern gehören wird, wenn allseits Kriegsbegeisterung herrscht und die Unfähigkeit zum Frieden dominiert.

Uwe Spiekermann, 15. Oktober 2022

Deutsches Kauen: Nationalsozialistisches „Rösen“ und seine Vorgeschichte

Kauen, dieses Hin und Her, Auf und Ab im Munde, ist allen Menschen gemein. Der Mund ist das Haupteintrittstor der Nahrung, hier wird sie zerkleinert und aufgeschlossen, hat auch der Geschmack einen Ort. Die Bedeutung guten Kauens für Genuss, für Verdauung und Gesundheit ist kulturübergreifendes Gemeingut. In deutschen Landen lässt sich dieses Wissen bis ins hohe Mittelalter zurückverfolgen: „De gôd kaut, de gôd daut“ hieß es im Holsteinischen (Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörter-Lexicon, Bd. 2, Leipzig 1870, Sp. 1215). Das hochdeutsche Sprichwort „Gut gekaut / Ist halb verdaut“ ziert seit Mitte des 19. Jahrhunderts die einschlägigen Lexika (Karl Simrock, Die deutschen Volkbücher, Bd. 5, Frankfurt/M. 1846, 148; Wilhelm Körte, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen, Neue Ausgabe, Leipzig 1847, 181). Adel und das aufkommende Bürgertum bauten darauf seit dem späten 18. Jahrhundert Anstandsregeln und Umgangsformen auf: „Wer gut verdauen will, muß vor allem Andern langsam essen und gut kauen“ betonte der Gastrosoph Eugen von Vaerst (1792-1855) (Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel, Leipzig 1851, 38). Sein französischer Vorgänger Alexandre Grimond de la Reynière (1758-1838) verlangte gar, dass man jeden Bissen vor dem Herunterschlucken mindestens 32mal kauen sollte – jeder Zahn sollte seine Chance erhalten. Die Medizin des 19. Jahrhundert nahm dies auf, auch um die Ordnung am Tische und im Leben sicherzustellen: „‚Esse langsam,‘ damit du hinreichend Zeit habest, Alles klein zu zerbeißen, alles Nahrhafte gut auszuquetschen, Alles Genossene gut gekaut auch richtig einzuspeicheln!“ (J[ohann] A[ugust] Schilling, Schlechte Zähne, – schlechter Magen, Augsburger Sonntags-Blatt 1877, 364-367, hier 366).

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Kauen als Arbeit des Gourmands (Fliegende Blätter 113, 1900, 176)

Sinnsprüche wie „Gut gekaut ist halb verdaut“ waren Teile einer uns heute kaum mehr geläufigen Sentenzenwelt. Zwischen „Richtiges Kochen bringt Mark in die Knochen“ und „Höre auf, wenn Dir’s am besten schmeckt“ wurde Kochen und Essen verortet, das eigene Tun mit den großen Empfehlungen verbunden. Das war nicht nur bevormundend und erzieherisch, denn auch Bekömmlichkeit, Umgangsformen und die Achtung des anderen am Tisch ließen sich damit vereinen. Die Alltäglichkeit und Unverzichtbarkeit des Essens und des Kauens erlaubten aber zugleich, unter deren breitem Denkmantel ganz andere Ziele zu verfolgen. Denken Sie nur an die Werbung: Kalodont, eine der ersten Zahnpastamarken, rundete eben nur ab, was gutes Kauen vorbereitet hatte (Wiener Salonblatt 1907, Nr. 29 v. 20. Juli, 14). Das Kauen, dem „Schlingen“ zunehmend entgegengesetzt, wurde um die Jahrhundertwende auch zum Ausdruck einer guten, alten, gemütlichen Zeit, die Distanz zur vermeintlich modernen Hast und einer ungebührlichen Eile auch beim Essen erlaubte.

Gutes Kauen war nun nicht mehr nur Zeichen eines gesunden Lebens, praktizierter Lebenskunst. Es wurde Teil einer bürgerlichen, auch kleinbürgerlichen Welt des Innehaltens: Auf dem Teller, am heimischen Tisch konnte ein wenig Widerstand geleistet, Abstand gewonnen werden: „1. Schneide dir nicht den nächsten Bissen, solange du am vorigen noch kaust oder schluckst. 2. Kaue so, daß beim Gefühl im Munde oder dein Geschmack unterscheiden, was fest und weich, was trocken und was feucht, was flüssig, salzig, süß oder sauer ist. […] 3. Kaue möglichst so lange, bis keine ungleichen Teile mehr im Bissen sind! 4. Vergiß das Atmen beim Kauen (Essen) nicht! 5. Ist dir die Zeit bei Tische wirklich knapp, so verwende sie lieber aufs wirkliche Essen als auf die Nachtischzigarre oder aufs Zeitungslesen. 6. Wenn du kannst, iß in Gesellschaft. Die hastigsten Esser sind gewöhnlich Alleinesser. 7. Wenn die Zeit oder Ruhe in ganz besonderem Maße fehlt, so gibt es nur einen Rat: Iß weniger, als du essen willst“ (Alfred Pohl, Vom richtigen Kauen, Das Rote Kreuz 16, 1908, 220-221, hier 221). Entschleunigung ist keineswegs neu.

Kauen wurde um die Jahrhundertwende vermehrt Projektionsfläche für vielfältige Veränderungen, die mit der steten Bewegung des Auf und Ab, des Hin und Her an sich wenig zu tun hatten. Kauen wurde aus der Alltagspraxis herausgelöst, in neue Zusammenhänge gestellt. Bis heute bekannt ist der „Fletcherismus“, eine auf dem rechten Kauen aufbauende, in den USA zuerst propagierte, dann aber auch weltweit praktizierte lebensreformerische, „alternative“ Gesundheitslehre. Während des Ersten Weltkriegs wurde das intensive, feine Kauen nationalisiert, galt als patriotische Pflicht, um aus der Nahrung mehr herauszuholen, um an der Heimatfront länger durchhalten zu können. Beide Bewegungen mündeten während des Nationalsozialismus in eine propagandistische Bewegung für harte Nahrung und gutes Kauen. Sie wurde schließlich „Rösen“ genannt, nach dem völkisch-nationalistischen Zahnarzt und Ernährungsreformer Carl Röse (1864-1947). Kauen wurde deutsch, war Ausdruck einer scheinbar volkswirtschaftlich sinnvollen, gesundheitlich notwendigen und rassistisch fundierten Selbstdisziplin der Deutschen. Wie das? Wie konnte es dazu kommen, dass ein alle Menschen einigendes Tun der Abgrenzung, der Selbsterhöhung galt? Wohlan, blicken wird genauer hin.

 

Horace Fletcher – oder die Ideologisierung des Kauens

Ein erster Schritt hierbei war die Ideologisierung des Kauens durch den „Fletcherismus“, eine amerikanische Gesundheitslehre. Richtiges Kauen ermögliche eine bessere, eine vollständige Nutzung der Nahrung, bringe den Menschen zurück zu seinen natürlichen Ursprüngen, so Horace Fletcher (1849-1919), ein Unternehmer mit ehedem massiven Gewichts- und Darmproblemen. Wie so viele Ernährungsreformer präsentierte auch er seit den späten 1890er Jahren eine Geschichte von Krankheit, Einsicht und Umkehr, die dann in Bekenntnis und Mission mündete. Worum ging es? Fletcher beschloss, zur Rekonvaleszenz nicht mehr zu essen als nötig. Dazu bediente er sich einer neuen Kautechnik, nahm damit tradierten Ratschläge des „Well chewed is half digested“ wörtlich. Das wenige Essen – Ideal war eine Reduktion auf die Hälfte – sollte besser genutzt, die Verdauung schon in den Mund vorverlegt werden. Zähne und Speichel sollten werken, die Nahrung sich zu einem Saft verflüssigen. War auf der Zunge nichts Festen mehr zu spüren, so wurde geschluckt – doch das erfolgte gleichsam natürlich. Der Gaumen bestimmte, wurde zur „Schildwache der Gesundheit“ (Matthaei, Das Fletchern, eine Ergänzung des Vegetarismus, Vegetarische Warte 40, 1907, 77-78, 89-91, hier 77), zum diätetischen Gewissen, zum Garanten einer natürlichen, instinktgemäßen Ernährung.

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Horace Fletcher, Kaupropagandist und Bestsellerautor (Horace Fletcher, Fletcherism […], 3. Aufl., New York 1913, II (l.), Good Health 42, 1907, Nr. 9, 13)

Fletcher schrieb seine Erfahrungen nieder, baute auf seiner Art des richtigen Kauens eine, seine Lebensphilosophie auf. Sie entsprach dem bürgerlichen Individualismus, dem Wollen und Zwingen selbstbestimmter Menschen. Kauen stand für die bewusste Wahl eines gesunden Lebens, stand für eine Rückfrage an den an sich geteilten Mainstream des modernen Daseins. Fletchers Bücher „Menticulture“, „Happiness“, „What Sense? or Economic Nutrition“ waren Bestseller der Jahrhundertwende, entfachten eine populäre Bewegung, wie sie ähnlich schon Mitte der 1860er Jahre William Banting mit seiner Korpulenz-Diät losgetreten hatte (Hillel Schwartz, Never Satisfied. A Cultural History of Diets, Fantasies and Fat, New York und London 1986, 125-131; J[ames]C. Whorton, “Physiologic optimism”: Horace Fletcher and hygienic ideology in Progressive America, Bulletin of the History of Medicine 55, 1981, 59-87). Fletcher hielt der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor, zeigte am eigenen Beispiel jedoch Auswege aus einer von Hast und Kommerz, vom Verlust der Natur und der Dominanz gesellschaftlicher Konventionen geprägten Gegenwart: “Mastication”, richtiges Kauen war Ruhepol, war Konzentration auf eigenes Tun. Fletchers Programm war breit angelegt, der Einzelne Teil einer umfassenden Sozialreform, die Effizienz und Natur harmonisch miteinander verbinden sollte. Der Reformer suchte folgerichtig nicht nur Kontakt zu anderen Reformern, etwa zu John Harvey Kellogg (1852-1943), sondern auch zu etablierten Wissenschaftlern. Er ließ sich auf physiologische Versuche ein, die er großenteils selbst bezahlte.

Die 1902 bis 1904 vom Physiologen Russell Henry Chittenden (1856-1943) in Yale durchgeführten Untersuchungen bestätigten, auch am Beispiel Fletchers, dass die starren Regeln des seit Jahrzehnten geltenden Voitschen Kostmaßes nicht immer galten. Die darin empfohlenen täglichen 118 Gramm Eiweiß waren eine schon zuvor wiederholt hinterfragte Setzung, gesundes und sparsames Leben auch mit weniger möglich (Russell H. Chittenden, Physiological Economy in Nutrition […], New York 1907; Vernon R. Young and Yong-Ming Yu, Dietary Protein Standard Can Be Halved (Chittenden, 1904), Journal of Nutrition 127, 1997, 1025S-1027S). Fletcher transformierte diese Ergebnisse in neue Bestseller („The New Glutton or Epicure“; „The new Menticulture“), unternahm nun aber auch umfangreiche Vortragsreisen durch Europa (Margaret Barnett, Fletcherism. The chew-chew fad of the Edwardian era, in: David F. Smith, Nutrition in Britain […], 6-28). Auch dort suchte er Kontakt mit geneigten Wissenschaftlern, etwa dem dänischen Mediziner Mikkel Hindhede (1862-1945). Weitere Forschungen folgten, vielfach von Fletcher finanziert. „Fletchern“ blieb auch dadurch öffentliches Thema (Jason Pickavance, Gastronomic Realism: Upton Sinclair’s The Jungle, the Fight for Pure Food, and the Magic of Mastication, Food & Foodways 11, 2003, 87-112). Was kümmerte es da, dass rückfragende Untersuchungen schon 1903 klar ergaben, dass die physiologischen Effekte intensivierten Kauens marginal, dass also Fletchers Kernbotschaft unzutreffend war (L. Margaret Barnett, ‚Every Man His Own Physician‘: Dietetic Fads, 1890-1914, in: Harmke Kamminga und Andrew Cunningham (Hg.), The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam und Atlanta 1995, 155-178, hier 171).

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„Zahnverderbnis“ humoristisch gewendet (Lustige Blätter 19, 1904, Nr. 7, 6)

Auch im Deutschen Reich wurde der Fletcherismus kontrovers diskutiert. Er passte in die Fin de Siècle-Stimmung, wie sie insbesondere von den Brotreformern gepflegt wurde. Sie verstanden die Abkehr vom (vielfach fiktiven) harten Roggenbrot der Vorfahren als Verweichlichung, als „Entartung“ (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. […], Comparativ 11, 2001, 27-50, hier 28-29). Alfred Kuhnert (1870-194?), Gustav Simons (1861-1914), Stefan Steinmetz (1858-1930) und andere mehr standen für eine völkisch-nationalistische Deutung des Übergangs zum Industriestaat und zur Konsumgesellschaft, der sich auch viele Zahnärzte anschlossen: „Wer die Nachteile vermindern will, die die verfeinerten Lebensweise mit sich bringt, muss sich schon im Kindesalter an eine möglichst kräftige Kauthätigkeit gewöhnen. […] Man wende mir nicht ein, die Kinder seien zum Genusse des harten Brotes nicht zu bewegen. Wo nur ein Wille, da ist auch ein Weg“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 28).

Hartes Brot und gutes Kauen bedingten einander, schienen den bürgerlichen Aktivisten deshalb unabdingbar für ein gesundes und zukunftsfähiges Deutsches Reich. Aber musste dies in Form eines kruden amerikanischen Kausystems erfolgen? Wo blieb da edler deutscher Sinn, die schweigende Andacht am Familientisch? Solche Rückfragen wurden zumindest innerhalb der vegetarischen Bewegung laut. Weniger Eiweiß, zumal weniger Fleisch – das war in ihrem Sinne. Gutes, geduldiges Kauen – das hatte schon der vegetarische Schriftsteller und Restaurantbesitzer Carlotto Schulz (1842-1901) angemahnt. „Gut gekaut, ist halb verdaut!“ stand auf seinen Speisekarten. Doch Fletchern? „Die übergroße Mehrzahl unserer Mitmenschen hat gar nicht die Zeit, um einer so genau zu beobachtenden Kautätigkeit obzuliegen, wie sie Fletcher verlangt. Die kärglichen Minuten, die dem im Erwerbsleben stehenden Manne außerhalb der Berufstätigkeit verbleiben, kann er doch nicht ausschließlich dem Kauen widmen. Das ist wohl Leuten möglich, die lediglich ihrer Gesundheit zu leben vermögen, wie dies bei Fletcher der Fall war, nicht aber der auf Erwerb angewiesenen Bevölkerung“ – so der Theosoph Julius Sponheimer (1868-1939), der vom Menschen mehr verlangte, als „im rein mechanisch-vegetativem Tun“ aufzugehen (Das Fletcherisieren, Vegetarische Warte 39, 1906, 41-42, für beide Zitate).

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Kauen in der lebensreformerischen Praxis (Borosini, Eßsucht, 4. Aufl., 1912, n. 192)

Während die erste Woge der Rezeption des Fletcherismus 1905/1906 abebbte, war die zweite Welle ab 1911 heftiger. Der Grund war einfach, hatte Fletcher doch mit dem Münchener Arzt August Joseph von Borosini (1874-1965) einen bekennerfreudigen Jünger gefunden. Er veröffentlichte 1911 „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung durch Horace Fletcher A.M.“, vermarktete den Fletcherismus als Diät und Verjüngungskur. Sein Fletchers Lehre kondensiertes, auch mit eigenen Ideen angereichertes Erfolgsbuch wurde zum Ankerpunkt aller Kauwilligen. Im Gedächtnis haften blieb vor allem Borosinis strikt-militärisches Kauregime, Gesundheitsarbeit, die viele spätere Wellness-Wellen vorwegnahm. Obwohl bis 1912 10.000 Exemplare gedruckt worden waren, galt der Fletcherismus damals aber eher als Absonderlichkeit, als Ausfluss eines obskuren Amerikaners und seines deutschen Künders: „Merk, du große Menschenherde: / Nur das Kauen bringt Genuss! / Dieser Kasus macht die Erde / Zu ‚nem einzigen Kau-kasus. / Der Prophet will, dass man flott / Rings im weiten Weltenbau, / Kau‘ in Moskau, Zwickau, Grottkau, / Afri- und Amerikau! / Heil dem Yankee Horace Fletcher! / Bringt ein Hoch ihm kräftigen Lauts / Schließt euch an, Kartoffelquetscher! / Wer nicht kaut, der ist ein Kauz“ (Der Kau-Boy, Die Lebenskunst 7, 1912, 532). In der Populärkultur wurde die Ideologisierung des Kauens im Rahmen eines lebensreformerischen Gesundheitsregimes gnadenlos aufgespießt. Gewiss, „gut gekaut, ist halb verdaut“ – doch man kann alles übertreiben: „Herr Fletcher predigt gutes Kau’n, / Nur so gelingt es, zu verdau’n. / Der ganze Mensch sei konzentriert / Auf jeden Gang, den man serviert. / Man lese keinen Mordbericht, / Wenn man verspeist sein Leibgericht. / Und lauf‘ nicht gleich, lärmt s‘ Telephon, / Vom Mittagstisch auf und davon! / Vor allem kaue man exakt, / Gemächlich im Larghettotakt. / Wer solchen Fletcherismus treibt, / Nochmal so lang am Leben bleibt!“ (Die Kunst des Kauens oder: Die neueste Art, das Leben zu verlängern, Nebelspalter 37, 1911, H. 2, s.p.).

 

Deutschland fletschere! – Die Nationalisierung des Kauens während des Ersten Weltkriegs

Der Erste Weltkrieg führte dennoch zu einer Nationalisierung des Kauens. Vor dem Hintergrund massiver Versorgungsprobleme wandelte sich zugleich dessen Begründung: Gutes Kauen diente nicht mehr vorrangig einer besseren Gesundheit oder dem Abnehmen. Gutes Kauen schien vielmehr angeraten, um die vorhandenen Nahrungsreserven besser auszunutzen. Horace Fletcher stand dafür weiterhin Pate, Borosini und viele Vegetarier sekundierten. Doch hinzu kamen nun zahlreiche national gesinnte Ärzte, die damit Sparsamkeit an der Heimatfront stärken, zugleich aber auch Hilfestellungen angesichts drohender Mangelernährung geben wollten.

Sparsamkeit war erforderlich, war das Deutsche Reich doch abhängig von Nahrungsmittel-, vor allem aber von Futtermittelimporten. Nur etwa 80 % des Vorkriegskonsums stammten aus eigener Produktion, Fett und Eiweiß waren besonders knapp. Die völkerrechtswidrige Seeblockade der Royal Navy nutzte dieses aus. Da man auf deutscher Seite von einem kurzen siegreichen Krieg ausging, knüpften Sparsamkeitsappelle anfangs meist an tradiertes Wissen an. In der wichtigsten Handreichung für Ernährungsmultiplikatoren hieß es schon im Herbst 1914: „Man soll weniger essen, dafür aber besser kauen“ (Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan, 17.-22. Tausend, Braunschweig 1915, 177). Doch nach dem Verlust der Marneschlacht war dies zu schwach, zu unklar, denn der Krieg würde länger dauern. Die Analysen wurden deutlicher, die Ratschläge fordernder: „Nachdem nun unserem Volke der entscheidende rücksichtslose Daseinskampf aufgezwungen wurde, ist uns dringend vonnöten die völlige Klarheit über unsere Daseinsquellen und der unbeugsame Entschluß zu ihrer möglichst restlosen Nutzbarmachung in allen Teilen der Volkswirtschaft, vor allem aber für die Lebensnotdurft“ ([Georg] Stieger, Unsere Daseinsquellen in der Kriegszeit, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 30, 1915, 105-108, hier 105).

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Propagandabilder fern der Realität (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 11, 6)

Der Berliner Bakteriologe Max Piorkowski (1859-1937) war einer von vielen, die nun Fletchers Lehre empfahlen. Essen sei schon lange nicht mehr vom Appetit geprägt, sondern verlaufe wie nach einem „mechanischen Uhrwerk“. Hier gelte es umzusteuern, die Kunst zu pflegen, „mit wenigen, aber gut gekauten Bissen auszukommen.“ Im nationalen Überschwang vergaß er die begründete Kritik am Fletcherismus, versprach vielmehr erstaunlichen „Wohlgeschmack und nie geahnte Tafelfreuden“ nach 30- bis 40maligem Kauen (Das Fletchern, Berliner Tageblatt 1915, Nr. 90 v. 18. Februar 1915, 5). Neben solche Empfehlungen trat zunehmend indirekter Zwang. Brot war als wichtigstes Lebensmittel von Beginn an Gegenstand kriegswirtschaftlicher Maßnahmen. Im Herbst 1914 wurde das K-Brot, das Kartoffelbrot, als Kriegsbrot eingeführt. Die ursprünglich 65 %ige Getreideausmahlung stieg 1915 auf 75 %, 1916 auf 82 % und 1917 schließlich auf 94 %. Die Folge waren Unverträglichkeiten und Magenprobleme, eine Bürokratie der Ausnahmegenehmigungen. Doch die Ärzte berichteten auch von Anpassungen: Die Beschwerden über hartes Brot „nahmen nicht zu, vielen tat es gut, es zwang sie, besser zu kauen. […] Ein gesunder Zug kam in viele Menschen“ (G[eorg] Klemperer, Die Krankenernährung in jetziger Zeit, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 642-643, hier 642).

Getragen von Hunderten von Zeitungsartikeln, Ratgebern und Kriegskochbüchern etablierte sich ab 1915 eine Art Wünsch-Dir-Was-Physiologie. Fletchers Vorstellungen einer umfassenden Mundverdauung wurden für bare Münze genommen: „Kauen, bis die Nahrung im Munde flüssig, schleimig und geschmacklos ist, sonst findet keine Vorverdauung derselben durch den Speichel und keine Aufschließung der in der winzigen Zelle ruhenden Nährstoffe statt“ (Georg Hiller, Wir verhungern nicht! […], Hannover 1917, 5). Begleitet wurde all dies durch Sprachpflege. Fletcher wurde eingedeutscht, mutierte zu „Fletscher“ und zum „Fletscherismus“ (E[rnst] W[alter] Trojan, Die Zukunft der deutschen Volksernährung, Vegetarische Warte 48, 1915, 63-64, hier 63). Das war Teil allgemeiner Sprachreinigung, so wie das Abschlagen von „Cinema“-Reklamen, der Ersatz von „Restaurant“ durch Gasthaus oder dem zeitweiligen Aufkommen von „Biefstücks‘ und ‚Schatobriangs“ (Hans Sachs, Der deutsche Kaufmann und die deutsche Sprache, Das Plakat 7, 1916, 210-219, hier 212). Fletschern wurde mit religiösem Fasten verglichen (E[rnst] W[alter] Trojan, Fasten und leiblich sich bereiten!, Vegetarische Warte 48, 1915, 195-196), mutierte aber auch zum „Feinkauen“. Dieses sei „eine hohe vaterländische Pflicht für Volk und Heer, sonst kommt der Körper rasch herunter; wir können nicht durchhalten und all die großen Opfer sind vergeblich gebracht“ (Adolf Mang, Streckung unserer Lebensmittel, Die Lebenskunst 12, 1917, 151-152, hier 152). Auch August von Borosini stieß ins nationale Horn, verzichtete gar auf seinen Leitbegriff „Vermunden“. Alle sollten seine Vorkriegsratschläge aufgreifen: „Ihr nützt dadurch euch selbst, euren Kindern und dem Vaterlande, denn wer fletschert, hilft durchzuhalten!“ (Fletschert!, Die Lebenskunst 12, 1917, 179-180, hier 180).

Zum meistzitierten Kaupropagandisten mutierte während des Ersten Weltkrieges allerdings der Aachener Zahnarzt und Geheimrat Georg Kersting, der sein Gewicht während des Krieges auch durch das Rösen von 216 auf 140 Pfund reduzierte. Seit Frühjahr 1915 veröffentlichten die Gazetten seine nationalistischen Artikel, in denen er von Sachkenntnissen unbelastet über die Lehre des „englischen Arztes Fletcher“ fabulierte. Umsetzungsprobleme gab es nicht: „Die Vorschrift ist einfach, kostet kein Geld, keine Mühe, keine Entbehrungen, jedermann begreift sie sofort, kann jeden Tag ohne Berufsstörung nach derselben leben und hat noch Gewinn dabei für seinen Geldbeutel, seine Gesundheit und als edelsten Gewinn das stolze Bewußtsein: auch ich helfe meinem Vaterlande siegen“ (Eßt weniger – aber richtig!, Badischer Beobachter 1915, Nr. 160 v. 8. April, 1). Kauen war für Kersting ein Kampfmittel, es konnte Schlachten gewinnen, den Schlachtgewinn sichern. Richtig Kauende benötigten nur noch die Hälfte der Nahrung, auch die österreichischen Truppen hätten ihre belagerte galizische Festung in Przemysl halten können, hätten sie nur gefletschert (Deutschland fletschere!, 19.-23. Tausend, Köln 1916, 25). Der Hamburger Hygieniker Rudolf Otto Neumann (1868-1952) sprach nach dem Kriege treffend von „Übertreibungen und Entgleisungen, die an das Pathologische streifen“ (Die im Kriege 1914-1918 verwendeten und zur Verwendung empfohlenen Brote, Brotersatz- und Brotstreckmittel […], Berlin 1920, 34). Obwohl Fletschern bis 1917 immer wieder eingefordert wurde, ebbte die publizistisch-nationalistische Welle dann massiv ab. Der Grund war einfach, denn das intensivierte Kauen war faktisch wirkungslos, wurde deshalb auch nur von kleinen Kreisen praktiziert. „Der Schlinger braucht das Doppelte“ (F[ritz] Herse, Sparsame Ernährung durch gründliches Kauen, Vegetarische Warte 49, 1916, 182-184, hier 183) – solche Wandsprüche erwiesen sich angesichts massiven Hungers als hohle Phrasen, als irreführende Wolkenkuckucksheime nationalistischer Möchtegernexperten.

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Kauen gegen den Mangel – Ratgeberliteratur (Kersting, 1916, I (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1917, Nr. 247 v. 16. Mai, 3)

Die physiologischen Effekte des Kauens wurden im Deutschen Reich während des Krieges nochmals mehrfach unabhängig voneinander untersucht – und die Ergebnisse waren eindeutig. Der damals führende Ernährungswissenschaftler Max Rubner (1854-1932) urteilte: „Ein gesunder und vernünftiger Mensch mit leidlich gesunden Zähnen verliert mit der Fletscherschen Regel nur unnötig Zeit. Die Versuche bei Brot zeigen, daß auch durch das Kauen in verstärktem Maße hier nichts mehr zu gewinnen ist. Was die beste Mühle nicht zermahlen kann, zermahlt auch nicht unser Gebiß. […] Viel wichtiger als die feinste Verteilung ist der bakterielle Eingriff, und diesen können wir nicht beeinflussen, auch erfolgt er in größerem Umfange erst dort, wo im Darm die Stellen ausgiebiger Resorption schon überschritten sind“ (Max Rubner, Untersuchungen über Vollkornbrote, Archiv für Physiologie 1917, 245-372, hier 361-362). Auch der Diätetiker Carl von Noorden (1858-1944) bewertete Fletchern als „Verschwendung. Man würde ansehnliche Massen wertvollen Materials durch den Darm treiben, das für die menschlichen Gewebe nicht greifbar ist, und man würde es Nutztieren, die es gut verarbeiten, vorenthalten“ (Carl v. Noorden und Ilse Fischer, Neuere Untersuchungen über die Verwendung der Roggenkleie für die Ernährung des Menschen, Deutsche Medizinische Wochenschrift 43, 1917, 673-676, hier 673). Dieses Wissen setzte sich langsam auch in der unter Zensur stehenden Presse durch: Fletchers Kaulehre sei nur „ein Sport und Eigengebiet eines beschränkten Kreises, ganz ebenso wie Okkultismus, Christian science, Mazdazananlehre [sic!] usw. Sie kann nicht als Methode der Allgemeinheit empfohlen werden, da keine physiologischen Gründe für sie sprechen“ (Sp. Irving, Diätheilslehren für den Krieg, Frankfurter Zeitung 1917, Ausg. v. 27. März, zit. n. Neumann, 1920, 34). Doch ebenso wie die breite Mehrzahl der Deutschen die Niederlage nicht akzeptieren konnte, blieb die Vorstellung von der wundersamen physiologischen Kraft des Kauens auch während der Weimarer Republik virulent.

 

Kauen ohne Übertreibung – Der physiologische Konsens während der Weimarer Republik

Zu Beginn der Weimarer Republik etablierte sich auf Grundlage der physiologischen Forschungsergebnisse allerdings ein Grundkonsens, den Max Rubner wiederholt unterstrich: Das Fletchern sei eine Empfehlung, „die auf dem alten Satz fußt: Gut gekaut ist halb verdaut. Die Leute, die nach ihm die Methode ausführen, sagen, und verbreiten es durch Broschüren, daß man unbedingt mit der Hälfte oder höchstens zweidrittel der Nahrung auskommen kann. Es ist Zeit, solchem Unfug ein Ende zu machen. Wie soll man denn nur die Hälfte oder nur ein Drittel mehr aus der besseren Verdauung herausschaffen können, wenn man weiß, daß im Durchschnitt von unserer Nahrung überhaupt nur 7-8% verloren gehen und von dieser Masse sind meist wieder nur 1/3 d.h. 2-3% des Genossenen unverdaut gebliebene Anteile, die selbst ein Wiederkäuer nicht viel weiter verarbeiten könnte“ (Die Kriegserfahrungen über die Volksernährung, Halbmonatsschrift für Soziale Hygiene und praktische Medizin 26, 1918, 187-189, 195-197, hier 188). Für „den hastenden Amerikaner, der sein Essen möglichst schnell hinabwürgt, [sei Fletchern, US] ganz gut. Alle Eltern wissen, daß man auch bei Kindern oft Mühe hat, ein langsames Essen zu erzielen. Also wirklich altbekannt. Aber was Fletscher [sic!] weiter behauptet – die wesentliche Verringerung des Nahrungsbedarfes war unrichtig. Während der Blockade hatte man bald erfahren, daß die Portionen mit dem Kauen nicht größer werden“ (Über neuere Strömungen in der Krankenernährung, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 28, 1931, 413-416, 451-454, 479-484, 519-526, 548-551, hier 482). Weitere Forschungen bestätigten Rubners Einschätzung (Otto Jipp, Selbstversuche über die Ausnutzung der Nahrung beim Fletschern, Zahnmed. Diss. Hamburg 1923). Fletchern blieb ein Heilverfahren insbesondere bei Magenerkrankungen und Darmentzündungen (an denen auch Horace Fletcher gelitten hatte) (Theodor Brugsch, Lehrbuch der Diätetik des Gesunden und Kranken, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1919, 278). Darüber hinaus weisende Empfehlungen schienen jedoch unbegründet (Oscar Spitta, Grundriss der Hygiene, Berlin 1920, 298).

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Schaubildimaginationen: Volkswirtschaftliche Kosten ungenügenden Kauens (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 42 v. 14. Oktober, 10)

Das Fletchern geriet dadurch ins Hintertreffen, vergessen aber wurde es nicht. Zum einen legte die volkswirtschaftlich attraktive Idee eines effizienten Gesundheitswesens die Idee besseren Kauens immer wieder nahe. Das sich etablierende System allgemeiner Ortskrankenkassen führte zu neuer Kostentransparenz, die verbesserte Schulzahnpflege machte ebenso wie neue Visualisierungstechniken die volkswirtschaftlichen Lasten kranker Zähne und verfehlten Kauens deutlich. Selbst ein so abwägender Soziologe wie Adolf Günther (1881-1958) sprach damals noch vom „Nutzeffekt“ des Fletcherns, der durch Erziehung grundsätzlich gesteigert werden könnte (Sozialpolitik, T. 1: Theorie der Sozialpolitik, Berlin und Leipzig 1922, 207).

Wichtiger als solche in Zeiten allgemeiner Rationalisierungsdebatten attraktiven Aspekte war jedoch der kontinuierliche Lobpreis des guten Kauens und des Fletcherns in der allerdings kleinen Schar der Vegetarier. Fletchern mochte aufwendig sein, doch angesichts des allgemeinen Zwangs zur Sparsamkeit könne man darauf nicht verzichten (Carl Blietz, Leben oder Tod?, Vegetarische Warte 53, 1920, 5-7, hier 6). Auch die durch Hindhede, Ragnar Berg (1873-1956) und Carl Röse weiter in Gang gehaltene Eiweißminimumdebatte sorgte für kontinuierliches öffentliche Interesse (G[ustav] Riedlin, Unser Eiweißbedarf, Ebd. 57, 1924, 61-62; Böhme, Wozu essen wir?, Ebd. 59, 1926, 71-73). An Ermahnungen zum langsamen Essen und zum guten Kauen fehlte es zudem nicht.

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Kauen als Freizeitbeschäftigung: Wrigleys Kau-Bonbons und Kaugummiautomat in Berlin (Der Volksfreund 1926, Nr. 46 v. 24. Februar, 11 (l.); Illustrierte Technik für Jedermann 5, 1927, 66)

Zugleich wurde mehr oder weniger bewusstes Kauen durch neue Konsumgüter unterstützt. Das galt für Pfefferminzbonbons, wie die Ende der 1920er Jahre immer stärker beworbenen Marken Vivil und Dr. Hillers. Das galt insbesondere aber für das Kaugummi. Der US-Konzern Wrigley produzierte von 1925 bis 1932 im Deutschen Reich, machte Jugendliche und Angestellte „kaugummireif“ (Ernst Lorsky, Die Stunde des Kaugummis, Das Tagebuch 7, 1926, 913-915, hier 913). Unter Medizinern und Drogisten wurde medizinisches Kaugummi diskutiert und empfohlen (Wolfgang Weichardt, Kaugummi zur Desinfektion der Mundhöhle, Die Medizinische Welt 3, 1929, T. 2, 1837-1838). Im Konsumsektor wurden nach den Übertreibungen des Weltkrieges transatlantische Gemeinsamkeiten erkennbar. Doch sie währten nicht lange, denn spätestens mit der Machtzulassung der Nationalsozialisten und ihrer konservativen Bündnispartner trat „Deutsches Kauen“ wieder auf die öffentliche Agenda.

 

Die Reideologisierung des Kauens während des Nationalsozialismus

1933 gilt gemeinhin als Wasserscheide zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Rechtsstaat und Maßnahmenstaat. Zerschlagung und Verbot von Gewerkschaften und Parteien, die schon vor dem „Judenboykott“ vom 1. April 1933 einsetzende Drangsalierung und schleichende Entrechtung der deutschen Juden, Massenmobilisierung und Remilitarisierung, Gewalt und Folter – Stichworte eines raschen Wandels hin zum NS-Staat. Und doch ist dies zu eng gedacht, nicht nur weil das Deutsche Reich ab 1930 in ein autoritäres Präsidialsystem transformiert wurde, sondern weil es massive Kontinuitäten in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft gab. Doch konzentrieren wir uns auf das Kauen: Charakteristisch für die NS-Zeit war das Anknüpfen an tradierte Denkmuster des Kaiserreichs, an ideologisierte und nationalistische Deutungen der Kriegszeit. Regimenahe Ernährungsreformer und Zahnärzte setzten ungeachtet anderslautender wissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf überholte, aber griffige Parolen. Das war kein Rückfall in vormoderne Zeiten, schließlich ist Wissenschaft ein Modus der begründeten Hierarchisierung von Wissen. Am Beispiel des deutschen Kauens zeigt sich, dass sich gesellschaftlich nicht hinterfragte und politisch einseitig gestützte Wissensformationen nicht nur halten, sondern dass sie revitalisiert werden können.

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Negativbild Tempo (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 8 v. 19. Februar, 13)

Ein guter Andockpunkt war die von Ernährungswissenschaftlern und Zahnärzten immer wieder beklagte Hast und Eile der Moderne. War diese während der Weimarer Republik noch Signum einer dynamischen, fortschrittsaffinen Zeit, so traten nun Denkmuster der Vorkriegszeit wieder in den Vordergrund: „Der heutige Mensch hat leider das richtige Kauen verlernt, weil die Auswahl der Nahrungsmittel und eine große Bequemlichkeit bei der Bearbeitung des Bissens, oft auch eine nervöse Hast es gar nicht zur Ausübung der Funktion des Mahlens und Zerreibens kommen läßt, sondern die Kiefer nur auf- und abwärts bewegt“ (Schönwald, Der Einfluß des systematischen Kauens auf Kiefer und Zähne, Forrog-Blätter 1, 1934, Sp. 65-78, hier 65-66). Dass sich zur gleichen Zeit Metaphern wie „jüdische Eile“ oder „jüdische Hetze“ wachsender Beliebtheit erfreuten, war eben kein Zufall, ging vielmehr einher mit der Ausgrenzung und dem Berufsverbot „marxistischer“ und „jüdischer“ Ärzte und Zahnärzte (Norbert Guggenbichler, Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz […], Frankfurt/M. 1988, 127-162). Denen half auch nicht, dass sie während des Weltkrieges gleichermaßen zum „Fletschern“ aufgerufen hatten.

Dies ging einher mit einer durch die Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise nochmals verstärkten Kritik an der Kommerzialisierung des Alltagslebens und dem damit einhergehenden Verdrängen guter, einfacher Nahrung: Das 20. Jahrhundert erschien als „das Jahrhundert des Technikers und Krämers oder […] das Jahrhundert der Ueberwucherung der werteschaffenden Arbeit durch den Handel. Handel und Industrie haben sich auch eines großen Teiles der Nahrungsmittel bemächtigt und verändern sie weitgehend, ehe sie sie dem Menschen zuführen“ (Walther Klussmann, Gebissverfall und Ernährung, Hippokrates 6, 1935, 500-505, 522-529, 721-730, 752-769, hier 528-529). Charakteristisch war jedoch keine Rückkehr zu vorindustriellen Denkmustern, sondern die paradoxe Parole „Vorwärts zur Natur!“, wie sie etwa vom führenden nationalsozialistischen Hygieniker Werner Kollath (1892-1970) ausgegeben wurde (Uwe Spiekermann, Der Naturwissenschaftler als Kulturwissenschaftler: das Beispiel Werner Kollaths, in: Gerhard Neumann, Alois Wierlacher und Rainer Wild (Hg.), Essen und Lebensqualität, Frankfurt/M. und New York 2001, 247-274, hier 253-254). An die Stelle eines technisch-zivilisatorischen Zeitalters werde ein biologisch-kulturelles treten. Das Kauen, das gute, war ein Hebel, um grundsätzlichere Fragen zunehmender „Konstitutionsverschlechterung“ (M[aximilian] Bircher-Benner, Diätetische Erfahrungen und ihre Perspektiven, Hippokrates 5, 1934, 185-191, 245-253, 280-286, 326-333, hier 185) angehen zu können.

Wichtig war dabei zweierlei: Zum einen wurde dieses Denken nun eingebunden in rassistische Deutungsmuster, wie sie insbesondere in der Neuen Deutschen Heilkunde und im Reichsverband der Zahnärzte Deutschlands offensiv vertreten wurden (Robert Jütte et al., Medizin und Nationalsozialismus […], Göttingen 2012; Dominik Groß et al. (Hg.), Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ […], Berlin 2018). Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888-1939) betonte: „Diese Weltanschauung sieht den Menschen nicht als einzelnes Individuum, sondern als Glied einer großen, deutschen, blutsverbundenen Volksfamilie, als Erben rassischer, körperlicher und geistig-seelischer Eigenschaften, die er als Träger der Zukunft seines Volkes an künftige Generationen weiterzugeben hat“ (Ausbau der deutschen Heilkunde, Hippokrates 5, 1934, 223-224, hier 223). Der als bedrohlich wahrgenommene schlechte Zahnstatus der Deutschen war ein Symbol für die Verschlechterung der völkischen Substanz. Zahnkrankheiten wie Karies bedrohten die gesamte Volksgemeinschaft, schlechte Zähne schienen „Ausdruck einer Allgemeinerkrankung“ (Walter Wegner, Mund-Fokalinfektion und Volksernährung, Deutsches Ärzteblatt 68, 1938, 178-179, hier 178). Herdinfektionen konnten Gesundheit und Leben bedrohen, spiegelten zugleich aber Gefahren für den deutschen Volkskörper. Gutes Kauen war ein einfaches und preiswertes Vorbeugungsmittel, dessen Umsetzung auch die völkische Gesinnung der Deutschen widerspiegeln sollte. Die Volksgemeinschaft war immer auch Kaugemeinschaft.

Zweitens wurde die Propaganda für gutes Kauen von Beginn an mit der Brotfrage gekoppelt (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im Dritten Reich, 1999 16, 2001, 91-128, insb. 101-107). Die Interessen der Getreidewirtschaft hatten schon während der Weimarer Republik zu breiten Kampagnen für Roggenbrot geführt, „Der Patriot ißt Roggenbrot“. Nun traten zudem Knäcke- und Vollkornbrot in das Blickfeld von Gesundheitspolitik und Ärzteschaft. 1933 wurde die Forschungsgemeinschaft für Roggenbrotforschung gegründet, die zahlreiche Studien zu Karies und Kauen finanzierte. Hartes Brot und gutes Kauen harmonierten scheinbar. Für Wilhelm Kraft (1887-1981), Gründer der Burger Knäckebrotwerke und völkisch-nationaler Ernährungsreformer, lag hier der Hebel für die Renaturierung der deutschen Menschen: „Wer gut kaut, verdaut nicht nur viel besser, sondern hat einen viel besser entwickelten, feineren, natürlichen Geschmacksinn als der ‚Schlinger‘. Er wählt sich spontan eine physiologisch richtig zusammengesetzte Nahrung und eine mäßige Nahrungsmenge“ (Kampf dem Gebißverfall!, Volksgesundheitswacht 1936, Nr. 3, 10-14, hier 13).

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Fletchern führt zu guten Gebissen: Suggestive Zahnabdrücke (Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 72 und 73)

Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass dem Kauen eine prominente Rolle auch in der Ernährungsbildung zugebilligt wurde. Die zehnte der „Zwölf wichtige[n] Regeln für Deine Ernährung“ der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung – Vorläufer der heutigen 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung – lautete: „Gut gekaut ist halb verdaut. Iß ruhig und sorgfältig, denn das Essen ist keine Nebensache“ (Reichs-Gesundheitsblatt 12, 1937, 50). Auch das Fletchern trat nun wieder hervor, wurde in ärztlichen Fachorganen neuerlich propagiert: „Wenn wir unser Volk wieder zu einer naturnahen Nahrung zurückführen wollen, dann müssen wir zuerst wieder die Wertschätzung richtig durchgeführten Kauens durchsetzen: Je ausgiebiger gekaut wird, desto besser vermag unser Körper die Nahrung auszunützen. […] Desto weniger brauchen wir ihm also Speisen zuzuführen. […] Was liegt mehr im Interesse des Vierjahresplanes, als auf dem Wege über diese Kaugewohnheit, der Wiedereinführung einer wahrhaft vorbildlichen Tischkultur, Verschwendungen zu vermeiden?“ (Heinrich Böhme, Das Fletschern. Das gründliche Kauen in seiner überragenden Gesundheitsbedeutung, Zahnärztliche Mitteilungen 28, 1937, 973-977, hier 976-977). Gutes Kauen diente der Effizienzsteigerung während des 1936 einsetzenden Vierjahresplans, war Teil der Rüstungen für den Krieg.

 

Vor der Wiederentdeckung: Zur Biographie Carl Röses

All dies erfolgte ohne Verweis auf Carl Röse, den späteren Namensgeber des „Rösens“, des bewussten deutschen Kauens. „Röse, das klingt in unserer kurzleidigen Zeit wie ein Ruf aus einer anderen Welt“ ([Alfred] Kuhnert, Röse und seine jüngste Forschertätigkeit, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 59-68, hier Sp. 59). Und doch; spätestens 1934 begann innerhalb der deutschen Zahnärzteschaft eine bemerkenswerte Wiederentdeckung – obwohl der Veteran in den 1920er Jahren nur eine nennenswerte Broschüre veröffentlicht hatte. Blicken wir mittels seiner Biographie zurück in die scheinbar andere Welt des Kaiserreichs (Detailreich, aber wissenschaftlich unzureichend Thomas Nickol, Das wissenschaftliche Werk des Arztes und Zahnarztes Carl Röse (1864-1947), Frankfurt a.M. et al. 1992, 1-10; Ute Hopfer-Lescher, Carl Röse (1864-1947). Sein Leben und Wirken unter besonderer Berücksichtigung der zahnmedizinischen Aspekte, Med. Diss. 1994, 10-41. Ebenfalls voller Fehler Sabine Merta, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult, Stuttgart 2003, 145-148).

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Annonce des Münchner Zahnarztes Carl Röse (Münchner Neueste Nachrichten 1896, Nr. 223 v. 13. Mai, 3)

Carl Röse wurde 1864 im thüringischen Clingen als Sohn eines Mühlenbesitzers und Landwirts geboren. Er studierte 1884 bis 1888 Medizin in Jena, München und Heidelberg, wo er 1888 schließlich auch promovierte. Röse begann seine ärztliche Tätigkeit erst in München, dann in Rheinhessen. Seine Schwerhörigkeit erschwerte jedoch den Umgang mit Patienten. Er sattelte um, studierte zwei Semester Zahnheilkunde in Berlin und Erlangen und ließ sich 1891 in Freiburg a.Br. nieder, wo er im Dezember habilitiert wurde. Er arbeitete dort als Privatdozent bis 1894 resp. 1896, siedelte dann nach München über, wo er eine wenig erfolgreiche Privatpraxis führte. Zwischen 1900 und 1909 leitete er die Lingnersche Zentralstelle für Zahnhygiene, parallel eine vom Odol-Produzenten ebenfalls finanzierte Schulzahnklinik ([Carl] Röse, Die Zentralstelle für Zahnhygiene und die Schul-Zahnklinik, in: Fr[iedrich] Schäfer (Hg.), Wissenschaftlicher Führer durch Dresden, Dresden 1907, 307-308). Nach der Auflösung dieser Institutionen chargierte Röse zwischen Forschungsprojekten und einer zahnärztlichen Privatpraxis, erst allein in Dresden, dann in Gemeinschaft mit seiner seit 1892 angetrauten Frau Else in Erfurt. Abermals scheiterte er an Krankheiten und den Patienten. Nach einem Selbstmordversuch zog er sich 1913 aus der Zahnarzttätigkeit zurück, kaufte mit Familienunterstützung Land im thüringischen Schirma. Röse baute Obst, Blumen- und Gemüsesamen an, verkaufte die 35 Morgen jedoch 1919. Zuvor, 1917, wurde er nach einer Affäre mit einer minderjährigen Bediensteten, schuldig geschieden, heiratete diese später, zeugte mit ihr sechs Kinder. Nach der Revolution wollte er auswandern, kehrte 1920 aber nach Deutschland zurück und erwarb im thüringischen Gebesee ein Grundstück von 38, später 43 Morgen. In den 1920er Jahren publizierte er kaum, lebte vom Ertrag des Gartenbaus, ohne aber den Kontakt insbesondere zum Dresdner Hygiene-Museum und Ragnar Berg gänzlich abbrechen zu lassen.

Liest sich die Biographie erst einmal wie eine Abfolge begrenzter Erfolge und wiederholten Scheiterns, so bilden seine Forschungsarbeiten teils originelle Beiträge zu zentralen Fragen im Grenzgebiet zwischen Zahnheilkunde und Ernährungswissenschaft. Der im universitären Betrieb gescheiterte Röse dachte eben nicht im engen Blickfeld disziplinärer Binnenlogiken, sondern verband auf Grundlage einer völkisch-nationalistischen Deutungswelt Mundhöhle, Stoffwechsel, wirtschaftlichen Wandel und „Entartung“ zu gesellschaftshygienischen Kausalgeflechten, die während des Nationalsozialismus wieder anschlussfähig wurden. Grob gesprochen lassen sich drei Forschungsperioden voneinander abgrenzen.

In den 1890er Jahren, insbesondere während seiner Privatdozentur, konzentrierte sich Röse auf zahnmedizinische Themen. Anfangs dominierten phylogenetische Fragen der Zahnentwicklung bei Tier und Mensch. In Anlehnung an die Kariestheorie des in Berlin wirkenden Zahnheilkundlers Willoughby D. Miller (1853-1907) – Ursache der „Zahnfäule“ waren von Bakterien ausgelöste Stoffwechselprozesse in der Mundhöhle – wandte sich Röse dann jedoch Fragen des Kalkstoffwechsels und des Speichelflusses zu (Katherine MacCord, Development, Evolution, and Teeth […], Phil. Diss. Arizona State University 2017, 57-78). Als gelernter Mediziner und in stetem Drang, seine Wichtigkeit in Freiburg unter Beweis zu stellen, weitete er seinen Blickwinkel auch auf erste Reihenuntersuchungen, zuerst von Schulkindern, dann auch von Rekruten (Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Oestereichisch-ungarische Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 10, 1894, 313-340; Ueber die Zahnverderbnis der Musterungspflichtigen in Bayern, ebd. 12, 1896, 381-449). Diese Arbeiten waren unter Professionalisierungsgesichtspunkten interessant, bot die sich langsam etablierende Schulzahnpflege doch Dauerstellen. Röse lieferte damit aber auch Beiträge zur damaligen Industrie-Agrarstaatsdebatte. Er griff die Angst vor einer allgemeinen „Entartung“ nicht nur der Großstädte sondern auch des Landes auf, warnte vor einer körperlichen „Degeneration“ der Menschen, die nicht zuletzt die Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches zu unterminieren schien.

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Carl Röse als Teil seiner Reihenuntersuchungen (Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 3, 1906, 120)

Während seiner Dresdener Zeit hatte Röse dann die Chance, diesen Fragen mit Hilfe von Massenuntersuchungen nachzugehen (Ulf-Norbert Funke, Leben und Wirken von Karl August Lingner […], Hamburg 2014, 57-63). Fast eine Viertelmillion Kinder und auch Erwachsene wurden auf Basis einheitlicher Frageraster untersucht – im In- und europäischen Ausland. Im Mittelpunkt dieser sozialstatistischen Erfassungen standen die Verbreitung und die Ursachen der Karies. Röse konzentrierte sich dabei auf die Bedeutung von Mineralstoffen, vornehmlich Kalk und Magnesium. Trotz eines kleinen Laboratoriums in Dresden ging es dabei vornehmlich um Trinkwasser, Nahrungsmittel und deren Auswirkungen auf Zahngesundheit und Allgemeinbefinden. Auf Grundlage seiner Hochschätzung des menschlichen Speichels als alkalisches Schutzfluidum in der Mundhöhle wandte er sich zunehmend strikter gegen eine kalkarme Ernährung, gegen zu weiches Wasser. Obwohl heute der stupende Empirismus und die apodiktische Sprache Röses irritieren, konnte er die Bedeutung des Mineralstoffwechsels für die Zahngesundheit doch genauer justieren und auch prophylaktische Maßregeln begründen. Just deshalb wurde er 1906 vom Eugeniker Gustav von Bunge (1844-1920) für den Nobelpreis für Medizin vorgeschlagen, kam aber nicht einmal auf die Kurzliste möglicher Anwärter (Dominik Gross und Nils Hansson, Carl Röse (1864-1947) […], British Dental Journal 229, 2020, 54-59, hier 55-57). Röse hatte zuvor Bunges Behauptung eines kausalen Zusammenhangs von Kariesinzidenz und Stillunfähigkeit unterstützt (G[ustav] v. Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen ihre Kinder zu stellen, 6. verm. Aufl., München 1908, 29).

Nach der Entlassung in Dresden war an Massenuntersuchungen kaum mehr zu denken. Röses Interesse lenkte sich notgedrungen auf engere Fragen, bei denen die Untersuchung des Mineralstoffwechsels mit dem des Eiweißbedarfs gekoppelt wurde. Schon zuvor hatte er eine vornehmlich basische Kost empfohlen, auch wenn er säurehaltiges Fleisch oder Brot nicht von der Tafel verbannen wollte. Von 1912 bis 1915 wurden unter der Leitung seines früheren Mitarbeiters Ragnar Berg an Röse und seinem Sohn Walter zahlreiche Versuche im Lahmannschen Sanatorium „Weißer Hirsch“ durchgeführt (C[arl] Röse und Ragnar Berg, Ueber die Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1011-1016). Auf diesen Grundlagen entwickelt Berg seine breit rezipierte Säure-Basen-Diät (Christian Rummel, Ragnar Berg. Leben und Werk des schwedischen Ernährungsforschers und Begründers der basischen Kost, Frankfurt a.M. et al. 2003, insb. 87-92, 118-119, 180). Röse zog aus den Untersuchungen eigene Schlüsse, lebte fortan von einer Kartoffel-, Gemüse- und Milchdiät mit täglich knapp 40 Gramm Eiweiß. Für ihn war dies eine Idealkost, für das darbende Vaterland eine Sparkost, mit der volkswirtschaftliche Versorgungsprobleme gemildert und die Volksgesundheit gehoben werden konnte (Carl Röse, Eiweiß-Überfütterung und Basen-Unterernährung, 2. völlig umgearb. u. erw. Aufl., Dresden 1925). Die Beziehung von Mineral- und Eiweißstoffwechsel blieb Röses Kernanliegen, auch in den 1930er Jahren, als er mit nun wieder wachsender Unterstützung offene Forschungsfragen weiter verfolgen konnte. Aus dem Kariesforscher war ein Ernährungsreformer geworden; und just dies machte ihn für nationalsozialistische Bundesgenossen interessant (dies verkennen Groß und Hannson, 2020, 57).

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Zahnkunde als Rassenkunde: Beispiel für Röses Schädelstudien (Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 131)

Während sich die Forschungsschwerpunkte Röses mehrfach veränderten, blieb das Grundmotiv seines Schaffens jedoch konstant. Der Mediziner, Zahnarzt, Sozialhygieniker und Ernährungsreformer war Sozialdarwinist, völkischer Aktivist, Rassenvorkämpfer. Schon seine im Mund verorteten Zahnstudien standen im Gesamtgefüge des Darwinismus, im „Kampfe ums Dasein“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 66). Antiurbanismus dominierte, Auslöser der „Entartung“ sei vornehmlich die städtischen Bevölkerung, seien künstliche Säuglingsernährung, Alkoholgenuss und „Stubenluftelend“ ([Carl] Röse, Über Beruf und Militärtauglichkeit [Referat], Die Umschau 9, 1905, 611-615, hier 613). Doch auch ländliche Bevölkerung und Jugend degenerierten: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 61). Zähne waren für ihn nur „der Spiegel des menschlichen Körpers oder das Wasserstandsrohr am Dampfkessel des Organismus“ (C[arl] Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Berlin 1908, 60). Röse ging es um die Bewahrung einer Deutschland noch beherrschenden „germanischen Oberschicht“, als dessen Teil er sich verstand. Doch auch in der Breite des Volkes gäbe es „noch viel nordisches Blut“, das zu fördern sei. Eugenik, Rassenhygiene und eine „kluge Rassenpolitik“ seien erforderlich, seine Arbeit Inventuren des dringend zu stoppenden und zu wendenden völkischen Niedergangs (C[arl] Röse: Beiträge zur europäischen Rassenkunde und die Beziehungen zwischen Rasse und Zahnverderbnis. V., Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 42-134, Zitate 104, 106, 108). An all dem machte der an sich wendige Röse auch später keine Abstriche. Und all dies war auch selbstgesetztes Programm der NSDAP und ihrer die Universitäten, Forschungsinstitute und Fachverbände in den 1930er Jahren zunehmend dominierenden Repräsentanten.

 

Wiederentdeckung eines Vorkämpfers: Die Rezeption Carl Röses in den 1930er Jahren

Die Wiederentdeckung Carl Röses begann schon vor 1933. Mit Unterstützung schweizerischer Kollegen – hier hatte er zuvor Zugang zu lebensreformerischen Kreisen gefunden – begann er 1930 neuerliche Selbstversuche zur Klärung der Eiweißminiumfrage, demonstrierte seine körperliche Leistungsfähigkeit 1930 und 1931 mit dem Besteigen unter anderem des Matterhorns (C[arl] Röse, Vierjährige Ernährung an der Grenze des Eiweißmindestbedarfes, Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin 94, 1934, 579-595). Wichtiger als eigene Untersuchungen war jedoch die neuerliche Rezeption einerseits durch die nun vielfach nationalsozialistisch geadelte Naturheilkundebewegung (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft […], Baden 2010, 134-150, insb. 139-143), anderseits durch eine Koalition von Brotreformern und Zahnärzten.

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Werbung für Röse (und Fletcher und Borosini) im Umfeld der Ernährungsreform (Das neue Leben 2, 1930/31, 240 (l.); Ragnar Berg und Martin Vogel, Die Grundlagen einer richtigen Ernährung, 5.-7. T., Dresden s.a. [1925], 222)

Röse passte bestens in die Agrar- und Ernährungspolitik des Nationalsozialismus. Er empfahl keine Importgüter, sondern die basischen, „die natürlichen und billigen Nahrungsmittel: Milch, Quark, Eier, grüne Gemüse, Hülsenfrüchte“ (Carl Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Naturärztliche Rundschau. Physiatrie 6, 1934, 74-77, hier 76). Anders als Vegetarier lieferte Röse aber auch physiologische Begründungen für diese Wahl. Der breit publizierende Ragnar Berg, von 1902 bis 1909 Röses Mitarbeiter in Dresden, verwies immer wieder auf Röses Forderung nach genügend Kalk und Magnesium, nach harter und nährender Kost: „Daß hierbei das Brot tatsächlich von außerordentlicher Bedeutung ist, hat schon vor dreißig Jahren Röse zeigen können“ (Der Einfluß der Ernährung auf die Zähne, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 38, 1935, 654-658, hier 654). Hartes Brot konnte demnach weiches Trinkwasser überkompensieren, erfordere es doch überdurchschnittlichen Speichelfluss. Kauen sei wichtig, stärke die Kiefermuskulatur: „Fehlt diese naturgemäße Beanspruchung der Kauorgane, geht ihre Gesamtentwicklung zurück und der Speichel verliert einen guten Teil seiner nützlichen Eigenschaften“ (Ragnar Berg, Unser Brot und unsere Zähne, Die Umschau 42, 1938, 51-53, hier 52). Seitens der Naturheilkunde wurde Carl Röse als „Arzt, Rassenforscher, Bauer“, ferner als „Ernährungslehrer“ gefeiert. Hätte man 1914 auf ihn gehört, wäre man zu einer von ihm empfohlenen Kartoffel-Grüngemüse-Milch-Kost übergegangen, so wäre eine Aushungerung Deutschlands unmöglich gewesen. Sein steter Verweis auf möglichst hartes Trinkwasser, harte Möhren und hartes Brot erschien wegweisend (Der Zahnarzt Hofrat Dr. med. Carl Röse. Die Bedeutung des Trinkwassers, in: Alfred Brauchle (Hg.), Naturheilkunde in Lebensbildern, Leipzig 1937, 326-334, Zitate 332). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sah das ähnlich, gewährte dem akademischen Außenseiter 1936 und 1938 insgesamt drei Sachbeihilfen für Forschungen zum Eiweißstoffwechsel (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R 73/14038).

Auch Zahnärzte und Brotreformer würdigten Röse als einen der Ihren ([Eduard] Schrickel, Was wir wollen, Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 1-4, hier 2). Dabei bezog man sich vornehmlich auf dessen Massenuntersuchungen, zog daraus weitergehende Schlüsse: „Wie ihnen bereits aus den Arbeiten von Röse, Kunert, Kleinsorge und anderen Verfassern bekannt ist, stimmen sie alle darin überein, daß tägliche Kauübungen mit festen Speisen, konsequent bei Kindern durchgeführt, normalere Kiefer und Zähne erzeugen, als bei Kindern, die nicht zum richtigen Kauen erzogen wurden“ (Schönwald, 1934/35, Sp. 76-77). Reichszahnärzteführer Ernst Stuck (1893-1974) hielt große Stücke auf Röse, förderte ihn mit eigenen Mitteln. Auch der wichtigste Zahnarztfunktionär des Dritten Reiches, Hermann Euler (1878-1961), würdigte Röse als Wegbereiter der „Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde“ (Die Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde, eine geschichtliche Betrachtung, Zahnärztliche Mitteilungen 26, 1935, Sdr-Nr. v. 29. September, 20-23, hier 23). Ehrungen waren da nicht fern. Röse erhielt 1935 den Miller-Preis der Deutschen Zahnärzteschaft und im Folgejahr die Bronze-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.

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Lobeshymne durch den Reichszahnärzteführer (Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 365)

Mitte der 1930er Jahre hatte Carl Röse also Ehrungen wie zuletzt in Dresdner Zeiten erhalten. Doch dies war erst der Anfang. Denn seither begann vornehmlich durch nationalsozialistische Zahnärzte und Brotreformer eine Stilisierung Röses zum Vorzeigekämpfer. Dazu gehörte sein nie verhehlter Antisemitismus. Er wurde als „Feind der Juden“ (W[alther] Klußmann, Röse, ein Forscherschicksal, Zahnärztliche Mitteilungen 27, 1936, 601-605, hier 603) belobigt, habe „frühzeitig die Gefahr erkannt, die das Judentum für unser Volk bildet, und bekannte sich mannhaft zu seiner Ueberzeugung“ (Klussmann, 1935, 526). Lächerliche Gerüchte wurden gestreut, seine Forschungen seien von Juden bekämpft wurden. Das galt einem deutschen Visionär, der schon vor mehr als einem Menschenalter „mit seherischer Kraft“ (Ebd.) auf Ernährungsschäden hingewiesen habe. Die Stilisierung zum nationalsozialistischen Wissenschaftskrieger fand ihren Höhepunkt 1938 anlässlich Röses goldenen Doktorjubiläums: „Röse verbindet in seltener Harmonie eine geniale Intuition mit der Unbestechlichkeit des wahren Forschers, einen bewundernswerten Idealismus mit der unerbittlichen Fragestellung im Experiment. Nur so ist seine bedingungslose Hingabe an die Sache und seine Selbstaufopferung im Kampf um die als richtig erkannte Idee zu verstehen. […] Ueber die deutsche Zahnärzteschaft hinaus aber muß jeder deutsche Volksgenosse der mit dem wieder erstandenen fruchtbaren Leben seines Volkes im Dritten Reich verbunden ist, in Röse einen aufrechten und unerschrockenen Vorkämpfer nationalsozialistischer Prägung sehen, den uns die Vorsehung noch lange in voller Rüstigkeit erhalten möge“ ([Eduard] Schrickel, Intuition, Wissen und Selbstaufopferung: die Kennzeichen C. Röse’s […], Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 41, 479-480, Zitate 479, 480). Da lag es nahe, ihm Dank zu erweisen. Sein früherer Weggefährte Otto Escher (1863-1947) regte die Gründung einer „Zentralstelle für Ernährungswissenschaft“ an, zugleich Forschungs- und Ausbildungsstätte: „Die Lösung der Ernährungsfrage hält Röse für eine wichtige politische Angelegenheit, um unser Volk vor der nächsten großen Krisis ernährungshygienisch geschult zu haben“ (Hofrat Dr. med. Carl Röse zum 50jährigen Promotions-Jubiläum am 15. Mai 1938, Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 372-376, hier 376). Krieg stand bevor, Röse hatte wieder vorgedacht.

 

Das „Rösen“ – Ein Nebenstrang gutes Kauens für Deutschland

Kommen wir damit zum „Rösen“, dieser Ehrbezeichnung des nationalsozialistischen Deutschen Reichs an einen seiner Gesundheitsführer. Sie knüpfte an diese Stilisierung des Ernährungsreformers und Erforschers der Kariesursachen unmittelbar an. Doch sie erfolgte nicht ohne Röses Zutun. Er nahm den Lobpreis ernst, präsentierte sich als „Nationalsozialist der Tat“ (Escher, 1938, 376). Analog zu den Narrativen der nationalsozialistischen Führer deutete er seine Lebensgeschichte. Seine langjährigen Selbstversuche zielten nicht auf Stelle, Geld und Anerkennung: „Ich tue es für mein Volk, vor allem für die nordische Führerschicht unseres Volkes. Unser von allen Seiten bedrohtes und leider auch gehaßtes Volk darf nicht weiterhin tiefer im Schlammkessel von Eiweißüberfütterung und Harnsäureüberladung versinken. Es muß gesunder werden als seine Nachbarn, wenn es nicht vom Erdboden vertilgt werden soll“ (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127, hier 125). Er habe mit seinem Forschen ein Beispiel gegeben, habe dem Geldmangel getrotzt, um seine Mission für das deutsche Volk zu erfüllen: „Nicht an Ratten, sondern an meinem eigenen Leibe mußten die Versuche durchgeführt werden“ (Ebd.). Doch ihm ging es nicht mehr um sein zahnärztliches, ihm ging es um sein ernährungswissenschaftliches Wirken: „Seit 26 Jahren lebe ich nun ununterbrochen dem deutschen Volke vor, wie man bei Innehaltung vorwiegend pflanzlicher basenreicher Kost mit geradezu lächerlich geringen Mengen des teuersten Lebensmittels Eiweiß auskommen kann“ (Carl Röse, Im 75. Lebensjahr bei schmaler, eiweißarmer Kost auf Mönch und Jungfrau, Hippokrates 10, 1939, 296-297, hier 296). Dazu gehörte auch, seine eigenen Arbeiten immer wieder umzudeuten. Die Millersche Kariestheorie hatte er in den 1900er Jahren kaum mehr beachtet – kompatibel mit dem sozial- und rassehygienischen Ansätzen seines Arbeitgebers Karl August Lingner (1861-1916). Seine in den 1910er Jahren stets freundliche Bewertung des einflussreichen Doyens der Ernährungswissenschaft Max Rubner wandelte sich mit der Nähe zur Ernährungsreform in strikte Distanz zum „Eiweißfanatiker Rubner“ (C[arl] Röse, Das Märchen vom Eiweißmangel der Zittauer Weber, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 57-60, hier Sp. 57). Röses Kritik war Teil einer umfassenden Denunziation des liberal-konservativen Forschers, bis hin zu seiner Diskreditierung als „Jude“ (Prof. Dr. Max Rubner war deutschblütiger Herkunft, Hippokrates 7, 468). Es verwundert daher nicht, dass Röse auch seine Verbindungen zur Brotreform öffentlich hervorhob. Wahrheitswidrig tönte er: „44 Jahre sind bereits darüber verflossen, seitdem ich zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe. Heute endlich beginnt man die Notwendigkeit ausreichender Basenzufuhr in der menschlichen Nahrung allgemein einzusehen. […] Ich hoffe aber, es noch zu erleben, daß diese Basenlehre auch unter den Ärzten ebenso allgemein durchdringen wird, wie die Vollkornbrotlehre bereits durchgedrungen ist“ (C[arl] Röse, Tomatensaft als Kurmittel, Hippokrates 9, 1938, 985-987, hier 985).

Festzuhalten ist, dass Röse zwar für sein „nordisch-germanisches Kulturideal“ und die „Aufklärung ernährungsphysiologischer Problemstellungen“ gewürdigt wurde, nur in Ausnahmefällen aber als Propagandist des guten Kauens ([Hanns] D[erstro]ff, Hofrat Dr. med. Karl Röse feierte seinen 75. Geburtstag, Zahnärztliche Mitteilungen 30, 1939, 331-332, hier 331). Festzuhalten ist auch, dass Röses (und Bergs) basische Ernährung von der Mehrzahl der damaligen Ernährungswissenschaftler abgelehnt wurde. Der Münchner Mediziner Wilhelm Hermann Jansen (1886-1959) hatte schon 1918 die Aussagen Röses und Bergs über den Eiweißumsatz als „nicht haltbar“ kritisiert (Zur Frage der Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1112). Anfang der 1930er Jahre erneuerte und verschärfte er seine Kritik (Ueber Eiweißbedarf und Mineralstoffwechsel […], Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 7, 1932, 373-375; Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, Münchener Medizinische Wochenschrift 79, 1798-1799; Ragnar Berg und W[ilhelm] H[ermann] Jansen, Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, ebd., 2089-2090). Der Charlottenburger Arzt Benno Süßkind folgerte aus seinen Selbstversuchen mit basischer Rohkost Ende der 1920er Jahre, dass diese tendenziell gesundheitsgefährdend sei – und erwähnte Röse dabei nicht einmal (B[enno] Süßkind, Zur Frage des Eiweißbedarfs bei Rohkost, Die Volksernährung 3, 1928, 215-217; Ders., Kritische Betrachtungen zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 113-119). Auch der bestens vernetzte Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1947) kritisierte Röses „teleologische Deutung“ (Eiweißminimum und Basengehalt der Nahrung, Referat, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 71) seiner Selbstversuche scharf. Röses Antwort bot keine Gegenargumente, nur sein eigenes Lebensbeispiel (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127). Bickel antwortete kühl, „die praktische Volksernährung […] verlangt bessere Garantien für die Sicherung des Gesundheitszustandes des Volkes“ (Antwort, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 128). Er empfahl 80 Gramm Eiweiß pro Tag, ein Wert, der später auch Grundlage des Rationierungssystems werden sollte. Allen Ehrungen zum Trotz blieb Carl Röse für eine Mehrzahl auch der NS-Ärzte trotz seiner Karies- und Rasseforschungen ein eigenbrödlerischer Ernährungsreformer. Diese mochten ihre Verdienste haben, so der Physiologe Karl Eduard Rothschuh (1908-1984): „Aber die Bewährung des praktischen Handels vor der Wirklichkeit macht aus wahnhaften Theorien nicht ohne weiteres eine wissenschaftliche begründete Vorstellung“ (Wahn, Wissenschaft und Wirklichkeit in der Ernährungslehre vom ärztlichen Standpunkt, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 58-60, hier 60).

Gutes Kauen war derweil auch ohne Röse zum propagandistischen Thema geworden. Zahnmediziner und Brotreformer hatten schon seit der Weimarer Republik vermehrt auf die Bedeutung eines nahrhaften Roggenbrotes hingewiesen. 1930 gab es erbitterte Kontroversen über die Mehlbleichung, die vielfach als Krebs- und Kariesauslöser galt, die aber dennoch beibehalten wurde (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 563). Die Kariesinzidenz konnte in den 1930er Jahren nicht verringert, der Abbau der Schulzahnpflege durch die propagandistisch durchaus wirksamen neuen fahrbaren Zahnambulanzen nicht kompensiert werden. 1937 begann mit ersten regionalen Kampagnen für verstärkten Vollkornbrotverzehr ein weiterer propagandistischer Feldzug für bessere Ernährung und gutes Kauen. Relative Erfolge in Schwaben und Sachsen führten schließlich im Sommer 1939 zur Gründung des Reichsvollkornbrotausschusses, der kurz nach Kriegsbeginn fast 100 Beschäftigte aufwies und eine reichsweite, zunehmend dezentralisierte, zugleich auf viele eroberte Staaten ausgeweitete Tätigkeit aufnahm (Uwe Spiekermann, Brown Bread for Victory: German and British Wholemeal Politics in the Inter­war Period, in: Frank Trentmann und Flemming Just (Hg.), Food and Conflict in Eu­rope in the Age of the Two World Wars, Basingstoke und New York 2006, 143-171, insb. 150-155). Vollkornbrotpropaganda war immer auch Kaupropaganda:“Für die Zähne, für das Blut / ist Vollkornbrot besonders gut. / Der Zahn wird stark, wenn man gut kaut, / und gut gekaut ist halb verdaut“ (Vollkornbrotfibel, Planegg 1941, 7).

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Braune Pädagogik: Vollkornbrot erspart den Zahnarzt (Vollkornfibel, Planegg 1941, 15)

Brotpropaganda war allerdings nicht Röses Ziel. Er aß vornehmlich Kartoffeln und Gemüse, dazu ein wenig Milch. Säurehaltiges Brot verzehrte er selten. Auch sein Zahnstatus war dafür unzureichend, besaß er 1936 doch nur noch „3 völlig nutzlose Mahlzähne“ (C[arl] Röse, Warum ich persönlich das dünne Delikateß-Knäckebrot bevorzuge?, Forrog-Blätter 3, 1936, 7-8, hier 8). Just im Hauptorgan der Brotreformer betonte er: „In den Augen der neuzeitigen Ernährungslehre ist auch das beste Brot nur ein notwendiges Übel“ ([Carl] Röse, Brot oder Kartoffel?, Ebd., 76-77, hier 77).

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Carl Röse und öffentliche Werbung für das Rösen ([Georg] Kersting, Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen, Jungborn/Harz 1941, II (l.), Nationalsozialistischer Volksdienst 8, 1941, 40)

Dennoch kam es 1941 zum „Rösen“, also einer unmittelbar an Horace Fletchers Kaulehre anschließenden Empfehlung zum guten deutschen Feinkauen. Der Aachener Arzt und Zahnarzt Georg Kersting hatte ab 1915 überzeugungsstark zum allgemeinen Fletschern aufgerufen. Nun, vor dem Angriff auf die Sowjetunion, trat er wiederum in Aktion, praktizierte abermals Sprachpflege, um all das wieder einzufordern, was schon 1916/17 nicht recht Widerhall fand. Sein Büchlein „Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen“ bestand abermals aus einer Sammlung von zuvor veröffentlichen Einzelartikeln, die nun allerdings ein konzises Ganzes ergaben. Kersting hatte vor dem Krieg noch für das Fletschern getrommelt, vor dem Hintergrund des Vierjahresplans abermals immense Einsparungen durch „besseres Kauen“ versprochen (Was ist „Fletschern“?, Freie Stimmen 1938, Nr. 165 v. 20. Juli, 9).

Veröffentlicht wurde die knapp hundert Seiten starke Broschüre im lebensreformerischen Jungborn-Verlag, breit bekannt für vegetarische Kochbücher. Im nahe von Bad Harzburg gelegenen Jungborn-Sanatorium wurde ein „Nationalsozialismus der Tat“ (Rudolf Just, 40 Jahre Jungborn, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 282-285, hier 284) praktiziert. Hier war eine Zinne der Ernährungsreform, wurde pflanzlicher Kost von eigener Scholle das Wort geredet: „Ernährt sich ein Volk richtig, dann leistet es viel; lernt ein Volk einteilen und entbehren, so wird es hart und verzagt nicht in Zeiten der Not“ (Rudolf Just, Vom Brotbelag, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 51-53, hier 53). Der Sanatoriumseigner und Verleger Rudolf Just (1877-1948) stand bereits 1917 mit Kersting in Kontakt, fletcherte die von Just befehligte Kompagnie angesichts unzureichender Truppenverpflegung doch auf Grundlage von dessen Empfehlungen (Kersting, Gesundheit, 1941, 76). Bad Harzburg stand symbolisch für die 1931 erfolgte Gründung der Harzburger Front von Nationalsozialisten, Stahlhelm, Deutschnationalen, Reichslandbund und Alldeutschen. Es war aber auch die Wirkungsstätte des Zahnarztfunktionärs und Bestsellerautors Walther Klussmann. Dieser hatte Carl Röse immer wieder als NS-Vorkämpfer gewürdigt, war zugleich Autor des reich illustrierten „ABC der Zahnpflege“, das 1942 eine Auflage von 400.000 erreichte und in der Bundesrepublik eine Neuauflage erfuhr. Er hatte schon 1934 empfohlen, einen hohen Ausmahlungsgrad des Getreides vorzuschreiben ([Walther] Klussmann, Die Zukunftsaufgabe der Zahnheilkunde, Zahnärztliche Mitteilungen 25, 1934, Sp. 1327-1334, 1373-1378, hier 1329), war damit ein Wegbereiter der Vollkornbrotpolitik.

Der Begriff „Rösen“ hatte unterschiedliche Aufgaben. Erstens war er eine Ehrbezeugung gegenüber Carl Röse. Zweitens erlaubte dieser Begriff die Vermeidung des „Fletscherns“. Das war nicht nur eine Abgrenzung von den USA, sondern sollte vor allem keine Erinnerung an die unselige Zeit der Mangelversorgung im Ersten Weltkrieg hervorrufen. Fletchern, so die unausgesprochene Botschaft, sei nicht nötig, denn das Großdeutsche Reich präsentierte sich als „blockadefest“, als Zentrum einer europäischen „Großraumwirtschaft“, als gelungenes Beispiel für „Nahrungsfreiheit“. „Rösen“ diente der Unterstützung einer vermeintlich erfolgreichen Rationierungspolitik, war eine Option für diejenigen, die mehr tun wollten. Drittens war der Begriff Teil einer breiteren Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte: „Wir alle kennen den Ausdruck und den Vorgang des Fletschern und haben uns angewöhnt, gutes Kauen mit jenem Amerikaner als dessen ‚Entdecker‘ in Zusammenhang zu bringen. Dabei ist es, wenn man von dem auch in Deutschland üblichen Rat aller gewissenhafter Ärzte, gut zu kauen, absieht, nicht der Amerikaner Fletscher, sondern der deutsche Arzt und Zahnarzt Röse gewesen, die die Kunst des Kauens zuerst wissenschaftlich untersucht und seine Ergebnisse in verschiedenen Schriften niedergelegt hat.“ „Rösen“ war „eine späte, aber doch noch rechtzeitige Wiedergutmachung eines begangenen Unrechts an dem Forscher Röse“ (Gesundheit durch ‚Rösen‘, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, 220-221, hier 220 für beide Zitate). Das war Geschichtsklitterung, doch zugleich Teil einer Germanisierung (und Entjudung) der Forschungsgeschichte. Zugleich diente es dem gern gepflegten Mythos des genialen Forschers, obwohl selbst die seit dem Ersten Weltkrieg stetig zurückfallende deutsche Wissenschaft zunehmend in Forschungsverbünden organisiert war.

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Denunzierte Wissenschaftler: Max Rubner und der Stolperstein von Otto Kestner (Zeitbilder 1932, Nr. 19. v 8. Mai, 2 (l.); Wikipedia)

„Rösen“ war jedoch nicht nur ein Begriffswechsel. Es war die Transformation einer aus dem amerikanischen Individualismus stammenden Gesundheitslehre in eine nationalsozialistische Tugend. Es ging eben nicht darum, dass Kersting in seinem Buch weiterhin verkündete, dass man mit dem deutschen Kauen mal ein Drittel, mal die Hälfte der Nahrung sparen könne (Kersting, 1941, 47 bzw. 68). „Rösen“ diente der Implementierung der nationalsozialistischen Gesundheitsauffassung in die Praxis möglichst vieler. Es galt an die Stelle vermeintlicher Trägheit und Faulheit die adelnde Selbstarbeit zu setzen: „Dazu gehört bessere Arbeitsgelegenheit, in diesem Falle: weniger weiche Speisen, besseres Arbeitsgerät: bessere Zähne, und eine gute Arbeitsweise: das Rösen“ (Ebd., 45). „Rösen“ stand nicht allein für gutes Kauen. Es materialisierte „die nationalsozialistische Weltanschauung durch Erfüllung der deutschen Grundsätze und Bestrebungen, Gemeinnutz geht vor Eigennutz, Volksgemeinschaft, Blut und Boden, Rassereinheit, Vierjahresplan und durch andere wünschenswerte Folgen. Wer den Grundsatz Gemeinnutz geht vor Eigennutz befolgen will durch Verbesserung der Volksgesundheit und Ersparen von Nahrungsmittel, dem ist es durch das Rösen leicht gemacht; denn der Nutzen für die eigene Gesundheit und Geldbeutel fällt hier mit dem Gewinn für die Allgemeinheit zusammen“ (Kersting, 1941, Gesundheit, 68-69).

Die haltlose Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte machte dabei aber nicht vor Fletcher Halt. „Rösen“ war eben nicht nur lustiges „Zähneturnen“, sondern diente der Tilgung zentraler Forschungsergebnisse des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Das betraf zum einen das Voitsche Kostmaß und dessen flexiblere Fassung durch Max Rubner. Das galt auch für das in Gemeinschaft mit dem Reichsgesundheitsamt herausgegebene Buch „Die Ernährung des Menschen“ (Otto Kestner und H[ugo] W[ilhelm] Knipping, Berlin 1924), in dem eine ausgewogene Mischkost mit ausreichend tierischem Eiweiß empfohlen wurde (ebd., 27-30). Kersting – wie auch Carl Röse – verstanden darunter Asphaltkultur, Angestelltenmassen, jüdische Wissenschaft. „Rösen“ stand demnach auch für eine wissenschaftliche Verschwörungstheorie, spiegelte eine Weltverschwörung gegen das Deutschtum: „Ist diese ‚exakte‘ materialistische, plutokratische Ernährungslehre auch wissenschaftlich überwunden, so hat sie doch unter obrigkeitlichem Schutz und Förderung ein halbes Jahrhundert geherrscht, ist in die großen und kleinen Koch- und Eßgemeinschaften so tief eingedrungen, daß unsere ganze Ernährung und Eßweise darunter heute leidet. Die Schule Rubner-Cohnheim [Kestner wurde als Cohnheim geboren, US] und der durch sie Schätze häufende Handel sind die eigentlichen Verführer des Volkes in der Auswahl der Nahrung, die durch ihren Gehalt und die Vorbehandlung zum Vielessen reizt und teils mittelbar, teils unmittelbar gegen das Rösen arbeitet“ (Kersting, Gesundheit, 1941, 72).

All das fand freudigen Widerhall bei den führenden Zahnärzten. Kersting konnte seine – wir erinnern uns – „an das Pathologische“ (Neumann, 1920, 34) streifende Mär von der Halbierung der notwendigen Nahrung in führenden Fachzeitschriften unwidersprochen propagieren ([Georg] Kersting, Schlucken, Schlingen, Würgen und die entsprechenden Vorgänge beim „Rösen“, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 398-399; Ders., Das Rösen, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 668-669; Ders., Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362). Auf der 1. Reichstagung der Zahnärztlichen Arbeitsgemeinschaft für medizinisch-biologische Heilweisen in der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt-Rhese erntete Kersting „Großen Beifall“– dies mit explizitem Verweis auf den „Altmeister der Ernährungslehre, Hofrat Dr. Röse in Gebesee“ (W[ilhelm] Holzhauer, Alt-Rehse – Schule zwischen See und Wald, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, Sp. 378-381, 402-406, hier 404). Spitzenfunktionär Hermann Euler stimmte dem zu, resümierte einen Forschungsüberblick mit Verweis auf die Vollwerternährung Kollaths und die Kaulehre des „Rösens“: „Ernährung im Sinne Kollaths, Funktion im Sinne Roeses (Der neueste Stand der Kariesforschung unter besonderer Berücksichtigung der Ernährung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 635-642, hier 642). Vor diesem Hintergrund mutet es schon tapfer an, dass der Jungborn-Verlag Kerstings Broschüre eine Bemerkung voranstellte, in dem er vor „utopischen Ausschmückungen“ des Aachener Sanitätsrates warnte.

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Carl Röse als Propagandist des guten Kauens?

Bevor wir uns abschließend fragen, welche Bedeutung das „Rösen“ abseits der Binnenwelten nationalsozialistischer Funktionseliten besaß, gilt es noch einen Blick auf Carl Röses Forschungsarbeiten zu werfen. Schließlich wird dieser Protagonist einer basischen Kartoffel-Gemüse-Milch-Diät bis heute als Protagonist des guten Kauens präsentiert: „In general, he recommended thoroughly chewing food, which even became a verb in German (‘rösen’)” (Groß und Hansson, 2020, 56). „Rösen“ war jedoch etwas völlig anderes als gutes Kauen. Und Carl Röse ist in seinen Forschungsarbeiten eben kaum über den bis ins Mittelalter zurückzuverfolgenden Gemeinplatz „Gut gekaut ist halb verdaut“ hinausgekommen und -gegangen. Kersting gab für seine Aussagen keine Belege, sondern lediglich die Jahre 1894 resp. auch mal 1897 an ([Georg] Kersting, Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362, hier 360), Gross und Hannsson verwiesen neben unreflektierten Paraphrasen in Hopfer-Lescher, 1994 (wohl 120-123) auf einen Beitrag von 1896 –Seitenangaben fehlen allerdings. Sie verkennen dabei, dass guten Kauen für Röse keinen Selbstwert besaß, sondern rein funktional verstanden wurde.

Carl Röse tönte 1938, dass er 1894 „zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe“ (Röse, 1938, 985). Das ist nur richtig, wenn man diesen Satz so versteht, dass er für sich damals erstmals die Bedeutung des harten Brotes realisiert habe (vom Kauen schrieb er hier übrigens nicht). Die Bedeutung eines solchen Brotes wurde aber von vielen Gelehrten und Praktikern seit langem hervorgehoben; Röse selbst verwies damals auf Justus von Liebigs Empfehlungen (Röse, 1895, hier 76). Das Jahr 1894, von Kersting mehrfach betont, bezieht sich auf Röses erste Reihenuntersuchungen in Freiburg sowie die daraus resultierenden prophylaktischen Folgerungen. Der Privatdozent bezog sich in seiner ersten einschlägigen Arbeit explizit auf Millers Säuretheorie, daraus resultierte die Ablehnung eines „weichen klebrigen Weizenbrotes“ (Röse, 1894, 314). Er referierte anschließend Liebigs Empfehlung eines „derben Schwarzbrotes“ und zog daraus die Schlussfolgerung: „Ueberall dort, wo ein derbes Schwarzbrot gegessen wird, findet man eine straffe gesunde Mundschleimhaut trotz der mangelhaftesten Mundpflege. Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähne blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Röse, 1894, 315). Röse wiederholte damals völlig gängige Thesen führender Wissenschaftler – um dann auf sein Hauptthema zu kommen, nämlich den Zusammenhang von Kalkverzehr und Karies. Röse empfahl weder den Konsum von Vollkornbrot, noch von Brot überhaupt. Brot erschien ihm vielmehr als „die widernatürlichste und künstlichste Nahrung des Menschen“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Zahngesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 67). Wenn schon Brot, dann allerdings „ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot“ (Röse, 1894, 329). Brot war damals – wie auch später – für Röse ein Notbehelf, mit dem man pragmatisch umzugehen hatte, da es das Rückgrat der Alltagsernährung bildete. Weder gutes Kauen, noch gar Fletchern wurde hier empfohlen, sondern Röse zielte auf eine allgemein verbesserte Zahnpflege, die am besten durch eine kalkreiche Ernährung, durch den Einsatz von Zahnbürsten und eine stetige Schulgesundheitspflege zu gewährleisten sei. Röse ging es 1894/95 zudem nicht um die Allgemeinbevölkerung, sondern um Schulkinder. Entsprechend beendete er 1895 einen Aufsatz mit dem wissenschaftlich nicht gerade innovativen Hinweis: „Ein altes Sprichwort sagt mit Recht: ‚Gut gekaut ist halb verdaut‘. Und eine gute Verdauung ist bei Kindern eine unumgängliche Vorbedingung für die kräftige Entwicklung von Leib und Seele!“ (Röse, 1895, 87).

Schwarzbrot sei besser als weiches Brot, Kuchen oder Kartoffeln, doch entscheidend für die Zahngesundheit sei eine sorgsame Mundpflege (C[arl] Röse, Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Wien 1895, 17 resp. 19). In seinen Empfehlungen findet sich 1894 der danach mehrfach wiederholte Merkspruch „Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähnen blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Ebd., 3), doch dieser stand eben nicht allein, muss vielmehr im Kontext gelesen werden. Das gilt analog auch für den von Groß und Hansen herangezogenen Artikel von 1896, in dem Röse Hauptergebnisse seiner Rekrutenuntersuchungen vorstellte. Auch dort betonte er: „Unter allen stärkehaltigen Nahrungsmitteln ist ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot den Zähnen am wenigsten schädlich” (Röse, 1896, 394). Analog zu zeitgenössischen Dekadenztheorien der frühen Brotrefomer beklagte der Freiburger Zahnarzt die durch die weiche, künstlich zubereitete Nahrung erst mögliche Existenz der Träger schlechter Gebisse. „Würden beim Menschen gute Zähne zum Zerkauen harter Nahrung unbedingt erforderlich sein, dann könnte sich die Zahncaries unmöglich so weit verbreitet haben! Die schlecht bezahnten Individuen würden ihre Zähne nicht auf die Nachkommen vererben können, sondern würden infolge schwächlicher Allgemeinentwicklung aussterben“ (Röse, 1896, 428). Weiche Kost würde das Gebiss verkümmern lassen. Bei Älteren sei eine Intervention schon vergeblich, Prävention sei daher erforderlich: „Auch aus diesen Erwägungen ist daher der Schluss zu ziehen, dass es sehr wichtig ist, die Kinder an ein energisches Kauen zu gewöhnen. Man verbiete ihnen das Trinken während des Essens, da die Kinder sehr geneigt sind, sich die Mühe des Kauens dadurch zu ersparen, dass sie den Bissen mit Wasser herunterspülen; gebe ihnen kein weiches klebriges Weizenbrot, sondern ein härteres, trockenes, aus gröberen Mehlsorten bereitetes Brot u. s. w.“ (Röse, 1896, 448). Neuerlich handelte es sich um eine Empfehlung an Kinder im Zusammenhang einer breiter gefassten Mundpflege.

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Zahnpflege nach Röse: Zahnbürsteneinsatz an den Innenflächen der Zähne (Röse, 1900, 42)

In seiner späteren Handreichung für Schul- und Zahnärzte präsentierte Röse „Zehn Leitsätze der Zahn- und Mundpflege“. Kauen wurde dort als solches nicht empfohlen, einzig das „kräftige Kauen eines derben, dickrindigen Schwarzbrotes“ (Röse, 1900, 60). Röse ging es eben nicht um das Kauen als solches. Dies war sinnvoll, nicht aber sein zentrales Anliegen: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (Röse, 1900, 61). Angesichts solcher im kulturkritischen Diskurs dieser Zeit tropenhaft auftretenden Allgemeinplätze ist es nicht verwunderlich, dass Röse auch hier auf den Volksmund verwies: „Hartes Brot macht die Wangen rot“ und „Gut gekaut ist halb verdaut“ (Röse, 1900, 9) hieß es dann. Das aber hat mit dem Fletcherismus nichts zu tun, auch nichts mit dem späteren nationalsozialistischen „Rösen“.

Eine Ausnahme gab es, sie stammt aus dem Jahre 1912. In seinem erstmals in der Deutschen zahnärztlichen Wochenschrift (15, 1912, 593-598, 658-659) veröffentlichten Beitrag „Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit“ griff Röse die Thesen Horace Fletchers auf und stellte sich mit ihm in eine Reihe: Er habe „immer wieder auf die Notwendigkeit ausgiebiger Kautätigkeit hingewiesen und den Genuss harten Brotes empfohlen, das ohne ausgiebige Behandlung in der Mundhöhle überhaupt nicht gut verschluckt werden kann. Es ist mir gelungen, durch mühsame Stoffwechselversuche nachzuweisen, dass schon kalkreiche Ernährung die Menge und Wirksamkeit des Speichels steigern kann. Um wieviel günstiger wird ausgiebige Kautätigkeit von Jugend an auf die Entwicklung der Speichdrüsen einwirken! In der letzten Ausgabe meiner Zahnpflegebroschüre empfehle ich daher ausdrücklich, jeden Nahrungsbissen 80-100 mal zu kauen, ehe man ihn hinabschluckt“ (C[arl] Röse, Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit, Berlin und Heidelberg 1912, 5). Dies war ein Jahr nach der Publikation von Borosinis Buch über „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung“. Röse war ohne Festanstellung. Im sozialdemokratischen Vorwärts hieß es zum Hintergrund: „Dr. Rose [sic!], einer dieser Forscher, will jetzt die schwedischen Brotsorten, besonders das Hartbrot (Knäckebrot), untersuchen und ihre Einführung in Deutschland anbahnen“ (Vorwärts 1912, Nr. 170 v. 24. Juli, 5).

Fassen wir diesen rückfragenden Exkurs zusammen, so war Carl Röse weder Brotreformer, noch Kaupropagandist. Sein Interesse galt andern Fragen, erst im Nachhinein stilisierte er sich als Vorreiter, wurde von anderen auch als solcher präsentiert. Diese aber haben seine Arbeiten kaum gelesen, im Falle eines Falles aber missverstanden. Der Namensgeber des „Rösen“ wurde während des Kaiserreichs von Brotreformern durchaus rezipiert. Doch sie interessierten sich für seine Kariesforschungen, denn sie bestätigten scheinbar den körperlichen Niedergang der Deutschen und begründeten damit ihr Drängen nach hartem, „deutschen“ Brot (A[lfred] Kunert, Unsere heutige falsche Ernährung als letzte Ursache für die zunehmende Zahnverderbnis und die im ganzen schlechtere Entwicklung unserer Jugend, 3. Aufl., Breslau 1913, insb. 48-49).

 

Nationalsozialistische Kaupropaganda – Ein breites Unterfangen abseits des „Rösens“

George Orwell schrieb ab 1946 an seinem Roman „1984“, in dem er Erfahrungen des Stalinismus, Nationalsozialismus und auch der britischen Kriegspropaganda zu einer bis heute gültigen Dystopie verdichtete. Das „Rösen“ war ein gutes Beispiel für die Kontrolle und Umdefinition der Vergangenheit als Herrschaftsinstrument. Carl Röse, ein akademisch gescheiterter und stets umstrittener Forscher wurde während der NS-Zeit als Vorkämpfer aufgebaut und hofiert, seine Arbeiten mythologisiert und zu einem möglichen Alltagskonzept verdichtet. „Rösen“ stand für die Selbstpraxis einer rassistischen Gesundheitslehre. Sie war wissenschaftlich substanzlos, doch sie erlaubte das Wegdrängen unbequemer Wissenschaftler, unbequemer Sachverhalte. Sie erlaubte zugleich, die massiven Defizite der NS-Gesundheitspolitik und der NS-Zahngesundheitspflege zu überdecken, hatte es doch jeder Volksgenosse in Hand und Mund, sein und seines Volkes Schicksal zu wenden.

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Hartes Brot, gutes Kauen – und Zahnpflege mit Chlorodont (Illustrirte Zeitung 1940, 211)

Blicken wir abschließend zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Damals gab es im Deutschen Reich eine intensive Kaupropaganda, zumindest bis Mitte 1942, als nicht nur die Rationen deutlich gesenkt wurden (die dennoch weit über denen der beherrschten Gebiete lagen), sondern auch die Zeitungen und Anzeigen massiv schrumpften. Trotz des steten regimetreuen Zeugnisses von Ärzten und Zahnärzten war die Kaupropaganda erstens integraler Bestandteil der Vollkornbrotpolitik, erfolgte zweitens aber eher indirekt, wurde nämlich von staatsnah agierenden Unternehmen getragen. Hinzu traten drittens die vielfältigen gesundheitspolitischen Maßnahmen in der Hitler-Jugend, der NS-Frauenschaft oder des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst. Sie alle griffen jedoch nur selten das „Rösen“ auf, sondern knüpften an tradiertes Alltagswissen an, mochte dieses im Rahmen der nationalsozialistischen Denkens auch eine andere Aufladung besitzen: „Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist das Kauen an sich. ‚Gut gekaut ist halb verdaut!‘ sagt ein altes, nur zu wahres Sprichwort; denn im Munde beginnt bereits die Verdauung. Langsam essen, damit die Speicheldrüsen des Mundes ausreichende Gelegenheit zur Arbeit haben und die Nahrung gründlich durchgespeichelt wird, ist ebenso wichtig wie ein gutes Kauen, das heißt hinreichende Zerkleinerung der Nahrung“ (Mund und Magen, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 50 v 19. Februar, 24). Kauen war trotz vertrauter Sentenzen nicht mehr in das Belieben des Einzelnen gestellt, Schlingen untergrub die „Arbeitskraft des Volkes“ (Die Medizinische Welt 16, 1942, 228) und der Wirtschaft, gefährdete Wehrfähigkeit und rassistische Qualität (Franz G.M. Wirz, Lebensreform und Nationalsozialismus, Volksgesundheitswacht 1938, 313-319, insb. 316). Deutsches Kauen war im Nationalsozialismus Grundmotorik, Körperlichkeit im Umgang mit der Materie, war Behauptung in einer an sich feindlichen Umwelt.

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Kaupropaganda durch Unternehmen: Chlorodont-Werbung (Völkischer Beobachter 1941, Nr. 268 v. 25. September, 3)

Die visuelle Präsenz der Kaupropaganda garantierten vornehmlich Unternehmen, die ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse am Kauen und an Zahnpflege hatten. Herausragend dabei waren mehrere Werbekampagnen der Dresdner Firma Chlorodont. Kauen war darin notwendiger und integraler Bestandteil einer breiter gefassten Mundpflege, eine Ergänzung zu Zahnpasta, Mundwasser und Zahnbürste. Das galt ähnlich für die Burger Knäckebrotwerke. Während Chlorodont mit Parolen, erläuternden Texten und eingängigen Schaubildern warb, erinnern die illustrierten Knäckebrot-Anzeigen teils an gern gelesene Comics. Sie standen teils aber auch für eine Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in der das harte Vollkornbrot – eine Erfindung der Brotreformer, die erst um die Jahrhundertwende an Bedeutung gewann – Teil der guten alten deutschen Zeit war.

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Knäckebrot als Kau-Schule für die Jüngsten (Die Gesundheitsführung. Ziel und Weg 1943, H. 1, V)

Die Vollkornbrotpropaganda stieß in die gleiche Richtung, doch es ging hier vor allem um die Verbrauchslenkung auf ein vielfach ungeliebtes hartes Brot (Spiekermann, 2001, 117-122). Trotz vielfältiger pädagogischer Anstrengungen – „Der Vollkornbrotverzehr macht jede Brotmahlzeit zur Turn- und Gymnastikstunde für Kiefer, Zähne und Kaumuskeln“ (H. Gebhardt, Die zahnärztliche Vollkornbrot-Werbung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 354-355, hier 354) – fehlten nachhaltige und evaluierte Maßregeln über das sorgfältige Kauen. Viel wichtiger war Vitaminversorgung, waren Absatz und Qualität des Vollkornbrotes. Kauwilligkeit war Grundbedingung seiner Akzeptanz, nicht aber Wert an sich. Es ging um eine bessere Nährstoffversorgung. Gebissförderung und Kariesbekämpfung waren wichtige Nebeneffekte.

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Zahnkräftigung durch hartes, kauintensives Vollkornbrot – Kinowerbung 1940 (Mehl und Brot 40, 1940, 438)

Diese moderateren und indirekten Formen der Kaupropaganda wurden wissenschaftlich breit flankiert, doch stand die „Kaugymnastik“ (Eugen Wannenmacher, Zivilisationsschäden und Gebiß, in: Heinz Zeiss und Karl Pintschovius (Hg.), Zivilisationsschäden am Menschen, München und Wien 1940, 184-199, hier 198) nie allein, war Teil breiterer prophylaktischer Maßnahmen. „Rösen“ blieb öffentlich unbedeutend, noch unbedeutender als das wesentlich breiter propagierte Fletchern während des Ersten Weltkrieges. Das änderte nichts an der offiziellen Wertschätzung, die der Namensgeber weiter erfuhr: 1941 wurde Carl Röse Ehrenmitglied der Deutschen Zahnärzteschaft, 1944 erhielt er gar die Goethe-Medaille (Kölnische Zeitung 1944, Nr. 108 v. 19. April, 2). In beiden Fällen wurde das „Rösen“ nicht erwähnt. Carl Röse war auch nicht beteiligt, als in Berlin im Februar 1942 das Institut für Kariesforschung eröffnet wurde (Das Institut für Kariesforschung wurde in Berlin errichtet, Zahnärztliche Mitteilungen 33, 1942, 93-98). Er verbrachte die letzten fünf Jahre seines Lebens im Rollstuhl. Einen Nachruf habe ich nicht finden können.

Gutes deutsches Kauen blieb bis zum Kriegsende wichtig, wurde immer wieder eingefordert. Während der Endsieg beschworen und die Vergeltungswaffen bejubelt wurden, schien es weiterhin opportun auf die Verdopplung des Nahrungswertes durch verflüssigendes Kauen hinzuweisen (Gut kauen – sättigt besser! Die Vorteile des richtigen Kauens für die Gesundheit, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 328). „Rösen“ wurde im Deutschen Reich sporadisch propagiert, während in der Schweiz eine analoge Kaupropaganda abgelehnt wurde. Selbst im ernährungsreformerischen Lager hieß es dort: „Wie ist es möglich, dass immer wieder kluge Menschen von listigen ‚wissenschaftlichen Experimenten‘ überlistet werden?!“ (W[illy] B[ircher], Bringt sorgfältiges Kauen einen Gewinn an Nährkraft bei knapper Nahrungsversorgung?, Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 20, 1943, 69-72, hier 72). Deutsches Kauen wurde zwar bis Kriegsende empfohlen, inmitten des Bombenkrieges noch die „Hetze“ beim Essen beklagt, kämpferisches Einspeicheln gefordert (F[ritz] Blumenstein, Kauen – kriegswichtig, Deutsche Dentistische Wochenschrift und Dentistische Reform 1944, 165-167). Seit den späten 1940er Jahren hieß es dann weiter gefällig „Gut gekaut ist halb verdaut“. Es war nun wieder Verweis auf eine mythische Welt des Innehaltens und des Abstands zum Alltagsgeschehen.

Uwe Spiekermann, 14. April 2022

Versorgung in der Volksgemeinschaft. Näherungen an den „deutschen“ Handel der NS-Zeit

Güterversorgung und Konsum sind Grundaufgaben jeder Wirtschaftsform. Ihre Ausprägung jedoch ist historisch offen. Allein die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert weist schon – allen ökonomischen Kontinuitätslinien zum Trotz – eine bemerkenswerte Formenfülle auf: Staatlich gebändigte und soziale Marktwirtschaft, autoritäre Kriegswirtschaft, Planwirtschaft nach sowjetischem Modell und ein spezifisch nationalsozialistisches Wirtschaftssystem. Letzteres wird im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen. Es gilt, Konturen einer spezifisch nationalsozialistischen Güterversorgung auszuloten und nach einigen Konsequenzen für den Konsum und die Konsumenten zu fragen. Dazu geht es eingangs um Kernpunkte der NS-Wirtschaftsauffassung, um die damit verbundenen Konsum- und Versorgungsleitbilder. Das wird uns zum ideologischen Profil eines „deutschen“ Handels führen, dessen von anderen Wirtschaftsformen abweichenden Struktur. Doch über die Norm, über das reine Wollen ist hinauszugehen. Die konkreten Ausprägungen der „Versorgung in der Volksgemeinschaft“ werden daher mittels vierer Beispiele untersucht: Die politische Schaufensterwerbung der 1930er Jahre, die Verbrauchslenkung zugunsten des Seefisches, die Gestaltung der Ladenöffnungszeiten und schließlich der Kriegsdienst des „deutschen“ Handels. Ein Resümee steht am Ende – auch wenn mehr Fragen als Antworten bleiben dürften.

1. Versorgung und Konsum im Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus

Es ist durchaus umstritten, ob es ein eigenständiges nationalsozialistisches Wirtschaftssystem gegeben hat. Die insbesondere von Avraham Barkai zusammengetragenen Fakten und Argumente scheinen mir jedoch überzeugend genug, um von dessen These eines eigenständigen Wirtschaftssystems des Nationalsozialismus auszugehen und nach einem spezifisch nationalsozialistischen Versorgungsmodell zu fragen. [1] Der bekannte, die Ambivalenz der NS-Zeit jedoch auch nicht in Ansätzen widerspiegelnde Gegensatz von Butter und Kanonen simplifiziert und bestimmt dabei auch die geschichtswissenschaftliche Diskussion. Der Konsum, so lautet das einfache Argument, habe mehr und mehr gegenüber der Aufrüstung und Kriegsproduktion zurückstecken müssen. Der ökonomische Aufschwung seit 1932/33 habe zwar zu erhöhtem Konsum geführt, doch habe es sich hierbei nur um ein Sekundärziel gehandelt. Der Stellenwert von Konsum und Versorgung sei eher funktional zu sehen, als unumgängliche Notwendigkeit eines auf andere Ziele hinarbeitenden Regimes. [2]

Dies trifft sicherlich zu. Doch was erklärt diese Argumentation? Erklärt sie die bereitwillige Mitarbeit der Konsumenten am zerstörerischen Projekt des Nationalsozialismus? Erklärt sie die konsequente Mitarbeit der Versorgungsfachleute, der fast zwei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel? Waren diese Deutschen wirklich derart genügsam, dass sie zwar klagten und murrten, sich letztlich aber fügten? „Diese Deutschen waren gewöhnliche Menschen und im Kern kaum böse. Sie waren im Allgemeinen an Wohlstand und Wohlergehen für sich und ihre Familie interessiert, wie es Menschen überall auf der Welt sind. Sie waren auf keinen Fall einer Gehirnwäsche unterzogen, durch eine faszinierende Unterdrückung bis zur Unterwerfung terrorisiert worden.“ [3] Und doch sahen sie bei den Verbrechen dieser Zeit nicht nur zu, sondern duldeten sie wissend, funktionierten an ihrem Platz, legten gar aktiv Hand an.

Eine kritische Näherung an die Versorgung in der Volksgemeinschaft muss sich daher den ideologischen Vorstellungen dieser Zeit stellen. Versorgung und Konsum sind eben nicht nur „bunte“, populäre, ansatzweise gar kritisch zu verstehende historiographische Themen. Sie nötigen vielmehr zu einem Einlassen auf Vorstellungen, die fern von zivilisatorischen Mindeststandards sind, waren diese doch historisch real, historisch einflussreich. Dies jedenfalls war der Anspruch der Nationalsozialisten, die die Eigenständigkeit ihres Ansatzes schlicht setzten: „Um Nationalsozialist zu werden, bedarf es vor allem der schonungslosen Ehrlichkeit gegen sich selbst, sodann des festen Willens, sich das weltanschauliche und sittliche Gut des Nationalsozialismus nicht nur verstandsmäßig, sondern auch gefühls- und willensmäßig zu eigen zu machen. Wir mittelständischen Einzelkaufleute repräsentieren die bodenständige, kleine, gesunde Wirtschaftszelle und sind daher im neuen Staate vor allem dazu berufen, die Träger des neuen Wirtschaftsdenkens zu werden. Aber nur aus dem nationalsozialistischen Menschen kann der neue wirtschaftende Mensch hervorgehen, und dieser letztere nur ist befähigt und berechtigt, an der Konstruktion des nationalsozialistischen Wirtschaftsgebäudes mitzuarbeiten.“ [4]

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Vaterland und NS-Gemeinschaft: Verpflichtungserklärungen von Einzelhändlern (Edeka Deutsche Handels-Rundschau (= DHR) 27, 1934, 182)

Der Primat des Staates galt dabei als ausgemacht. Doch auch die Führung war in diesem Denken der Volksgemeinschaft verpflichtet. Die „deutschen“ Konsumenten jedenfalls wären möglichst optimal zu ernähren, zu kleiden, mit Hausrat und Konsumgütern zu versorgen. Doch als Deutsche, als Nationalsozialisten würden sie freiwillig zurückstehen, wenn es gelte, erst einmal andere, höhere Ziele zu erreichen. Der Konsum war – abseits gediegener Grundversorgung – ein flexibles Moment innerhalb einer politischen Gesamtkonzeption, deren Grundkonstanten die Gewinnung von Lebensraum und der Traum von einer „rassisch reinen Herrennation“ waren. Angesichts der historischen Entwicklung ist es nicht unproblematisch, derartige Idealkonstrukte für bare Münze zu nehmen. Doch sie wurden – und sei es zur eigenen Ruhigstellung – geglaubt, wurden historisch ernst genommen. Sie schufen einen Erwartungshorizont, der – vor dem Hintergrund der erlittenen kollektiven Demütigungen und der dann folgenden wirtschaftlichen und politischen Aufwertung des Deutschen Reichs – Dienst und Entbehrung erst ermöglichte. Die vielfach beschworene „bodenständige, kleine, gesunde Wirtschaftszelle“ besaß dabei eine politisch wie wirtschaftlich höchst bedeutsame Funktion. Sie sollte Keimzelle einer umfassenden Verpflichtung aller Händler, dann auch aller Konsumenten werden. Neben die politische Propaganda trat die Wirtschaftspropaganda, die den Konsum als Ausdruck völkischen Handelns verstand.

2. Der „deutsche“ Handel – ein Anspruchsprofil

Die Prinzipien einer verpflichteten Wirtschaft prägten auch und gerade den Handel. Er galt im Nationalsozialismus nicht länger als Ausdruck „liberalistischer“ Spekulation, sondern als werteschaffende Tätigkeit im Dienste der Volksgemeinschaft, im Dienste der Verbraucher und anderer Wirtschaftsgruppen. [5] Der Handel besaß im Dritten Reiche eine klare staatspolitische Funktion: Er hatte „Mittler zwischen Erzeuger und Verbraucher in jeder Beziehung zu sein. In dieser Mittlerrolle ist der Handel derjenige Teil der Wirtschaft, der zwischen zwei Fronten steht und stets bestrebt sein muß, dem Ausgleich der Interessen zu dienen. Er ist nicht nur Organ der Wirtschaft, sondern zugleich Diener der Volksgemeinschaft.“ [6]

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Wandtafel der Edeka Kiel 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 656)

Diese Aufgabe basierte auf mittelständischen Ideen, die insbesondere seit den späten 1880er Jahren von einer Mehrzahl der Händler resp. ihrer Organisationen vertreten wurde – in strikter Abgrenzung zu den modernen (Konsumgenossenschaften, Warenhäuser, Filial-, Abzahlungs-, Versand- und Einheitspreisgeschäfte) sowie den vermeintlich überlebten (Hausierer, Straßenhändler) Be- und Vertriebsformen des Handels. [7] Seit Beginn der Präsidialdiktatur 1930, insbesondere aber seit der Machtzulassung 1933 schienen diese Ideen aufgegriffen zu werden, der Einzelhandel zum lange ersehnten „Kern der Volksgemeinschaft“ [8] zu werden. Doch trotz aller Affinitäten sollte die neue Funktionszuschreibung gänzlich andere Züge enthalten.

Sicherheit

Erst einmal gelang es zwischen 1933 und 1935, dem Handel eine Vorstellung neuer Sicherheit zu geben, eine neue „Ordnung“. [9] Der Einzelhandel wurde integraler Bestandteil der festen Kette: Produktion – Großhandel – Einzelhandel – Konsumtion. Diese war durch den intensivierten Wettbewerb nach Ende der Inflation tiefgreifend in „Unordnung“ geraten, hatte sich doch die Wettbewerbsposition des mittelständischen Handels deutlich verschlechtert. [10] Parallel nahmen die vermeintlichen Übergriffe zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren zu, wurde das „Lebensrecht“ des Handels so beschnitten. Wie schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Weimarer Republik erbitterte Debatten über das Recht der Konsumenten, insbesondere von Beamten und städtischen Angestellten, sich Waren unmittelbar von der Industrie oder dem Großhandel zu beschaffen. Die Einkaufsgenossenschaften der Einzelhändler wurden vom Großhandel immer wieder als Störenfriede wirtschaftlichen Arbeitsteilung attackiert. Die Eigenproduktion der Konsumgenossenschaften und Warenhäuser war gleichfalls steter Stein des Anstoßes, ebenso der Absatz von Gebrauchsgütern und Lebensmitteln per Versandhandel vom Hersteller. Die 1931 aufkommenden „Direkt-Läden“ einzelner Fabriken wurden vom Einzelhandel erbittert bekämpft und ihre Zahl so eingedämmt. [11]

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Nationalsozialistische Agitation gegen das vermeintlich „jüdische“ Warenhaus (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 1265)

Während der Weltwirtschaftskrise intensivierten sich die Auseinandersetzungen; die 1930 einsetzende und sich 1932 beschleunigende Gesetzgebung gegen Warenhäuser, Filialbetriebe und Einheitspreisgeschäfte zeigt dies deutlich. Die neue „Unordnung“ innerhalb des Wirtschaftsgefüges wurde dem ungezügelten Marktsystem zugerechnet, dem eine staatlich garantierte Ordnung entgegengesetzt werden sollte. Auch der NS-Staat orientierte sich formal an einem ständischen Ordnungsmodell, das den einzelnen Wirtschaftszweigen klare Aufgaben und bestimmte Erträge zuwies. Angesichts der akuten Existenzbedrohung breiter Teile des Handels in der Weltwirtschaftskrise wurden selbst die mit der Einbindung in den Reichsnährstand und die „Marktordnung“ verbundenen Handelsspannenkürzungen – wenn auch widerstrebend – angenommen. Existenzsicherheit war wichtiger als die abstrakte Chance einer Maximierung der eigenen Gewinne.

Gleichwohl ist die klare Trennung einzelner Segmente nicht nur ständisch zu deuten, sondern passte sehr wohl in die Rationalisierungskonzepte dieser Zeit. Ebenso wie innerbetrieblich zwischen Einkauf, Lagerhaltung, Verkauf und Kasse, Versand und Buchhaltung usw. unterschieden werden musste, um gezielt eingreifen zu können, bot die Scheidung zwischen Produktion, Großhandel und Einzelhandel ebenfalls Möglichkeiten einer geplanten Rationalisierung dieser Sektoren – nun aber getragen vom starken Staat. [12] Ständisches Ideal und innerständische Rationalisierung konnten sich demnach ergänzen, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft und Ideologie versöhnt werden. [13] Entsprechend wurde der Handel neu geordnet. Aus der seit 1932 einseitig mittelständischen Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels wurde ab 1934 der Gesamtverband des deutschen Einzelhandels resp. die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, in der nun der gesamte „deutsche“ Handel zwangsorganisiert wurde. [14]

Leistungswettbewerb

Die nationalsozialistische Wirtschaftsauffassung ging aus von der Ungleichheit der Rassen und der einzelnen Menschen. Mittels eines Ausleseprinzips konnte sich der Stärkere jeweils durchsetzen. Wettbewerb war deshalb auch für den Handel konstitutiv, jedoch nicht als „freier“ Wettbewerb, sondern als „Leistungswettbewerb der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung“ [15]. Im Dienst für die Volksgemeinschaft konnte sich der Händler seinen Platz „im Volks- und Wirtschaftsleben durch Fähigkeit, Einsatz und Leistung“ erkämpfen. Dieser Wettbewerb war ethisch gebunden, musste vom „sittlichen Willen, von nationalsozialistischer Gesinnung und vom arteigenen Recht beherrscht sein“. [16]

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Der Reichsberufswettkampf als nationalsozialistische Form des Wettbewerbs (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 266 v. 7. Februar, 12)

Dabei knüpfte man bewusst an die vermeintlich große Kaufmannstradition des deutschen Mittelalters an, ideologisierte und polarisierte die Begriffe des Kaufmanns und des Händlers. [17] Während letzterer einem „entarteten Liberalismus“ zugewiesen wurde, galt der Kaufmann als regimetreuer, als politisch agierender Verteiler. [18] Doch Ideologie war nicht alles. Der Begriff war an bestimmte Qualifikationsnormen gebunden, an Sachkunde und Buchhaltungskenntnisse, bot damit immer auch die Grundlage für „Berufsbereinigung“ und Leistungssteigerung. Schon das novellierte Einzelhandelsschutzgesetz von 1934 machte die Einrichtung neuer Geschäfte vom lokalen Bedürfnis und der zu prüfenden Sachkunde des Händlers abhängig. Während der 1930er Jahre wurde die Weiterbildung der Kaufleute stetig gefordert, der Nachwuchs intensiver geschult als zuvor, analog zum Handwerk ein großer Befähigungsnachweis gefordert. [19] Anfang 1939 wurde der Einzelhandel schließlich buchführungspflichtig, eine sachgemäße, korrekte und dem Staat gegenüber transparente innerbetriebliche Rechnungsführung damit verbunden. [20] Sach- und Fachkunde sollte die Basis des kaufmännischen Betriebs sein, dem Kaufmann zugleich Autorität verleihen. Er hatte aber immer auch „ehrlich“ zu sein, sollte den Kunden optimal und qualitätsbewusst versorgen. Maßnahmen zur verbesserten Warenauszeichnung dienten auch diesem Zweck. [21]

Deutsch

Der Leistungswettbewerb war auf ein Ziel hin ausgerichtet, dem Ziel eines „deutschen“ Handels. Dahinter verbarg sich ein – im Sinne der Propagandisten – ethisch hochstehender, sittlich gebundener, „arteigener“ Handel. Er lässt sich mit Begriffen wie „Ehrsamkeit“, „Gesundheit“ und „Persönlichkeit“ und einem „volksbiologisch wertvollen“ Familiensinn näher kennzeichnen.

Nicht der Betrieb stand im Mittelpunkt des Leistungswettbewerbs und der Rationalisierung, sondern der Mensch, der „ehrsame“ Kaufmann. [22] Der ständische vormoderne Begriff der „Ehre“ hatte den Vorteil, relativ inhaltsleer zu sein, ermöglichte durch seinen hehren normativen Anspruch aber zugleich die systematische Ausgrenzung vermeintlich unsittlichen bzw. unehrenhaften Verhaltens. Entsprechend wurde das Wettbewerbsrecht zwischen 1933 und 1935 neu gefasst, Zugaben zurückgedrängt, Sonderveranstaltungen eingeschränkt. Die rein „kapitalistischen“ Betriebsformen wurden zurückgeschnitten, denn Profitmaximierung war kein ehrbares Unterfangen. Auch Partikularinteressen waren damit unvereinbar, entsprechend wurden die katholischen und sozialdemokratischen Konsumvereine rigide gestutzt, ging man ansatzweise auch gegen Werkskonsumvereine bzw. Beamtenvereinigungen vor. [23] Der Begriff der Ehrsamkeit schied zwischen Freund und Feind, grenzte willkürlich und gezielt Konkurrenz aus, diente der Entrechtung der jüdischen Händler, erlaubte ein Vorgehen gegen Straßenhändler und Hausierer. [24] Der Begriff der „Ehre“ war dem des Rechts strukturell entgegengesetzt, durch ihn wurden staatlicher und privater Willkür Tor und Tür geöffnet.

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Werbe-Matern der Edeka 1933/34 (Edeka-Reklame, o.O. 1934, 198 (l.) und 199)

Der Begriff des „gesunden“ Handels besaß ähnliche Funktionen, griff jedoch tiefer. Er setzte nicht allein auf ein untadeliges, „ehrsames“ Verhalten, sondern bei der „Gesinnung“ des Händlers an, bei dessen „Charakter“. Die Gesellschaft wurde als biologischer Organismus verstanden, der sich vom Einzelwesen her entwickelte, der aber ein unabhängiges, übergeordnetes Eigenleben besaß. Ein „gesunder“ Handel setzte einen „gesunden“ Händler voraus. Es galt „Persönlichkeiten“ zu erziehen, „die aus dem Impuls ihres schöpferischen Willens zu autoritären Leistungen gelangen. Persönlichkeiten, die die Wirtschaft mit ihren Ideen befruchten und sie mit dem Geist ihrer unermüdlichen Tatkraft erfüllen. Persönlichkeiten, die sich nicht an alte Zöpfe hängen, die ihren eigenen Kopf durchsetzen, die ihr gutes Werk wie ihre Ehre verteidigen! Persönlichkeiten, die die Anständigkeit der Gesinnung mit dem Wagemut des kämpferischen Menschen vereinen. Solche Persönlichkeiten mögen nicht immer beliebt und oft gefürchtet sein, aber sie sind nun einmal die Garanten des Fortschrittes. Und der Erfolg ist immer auf ihrer Seite.“ [25] Der Handel war dann „gesund“, wenn der Händler eine „innere Wandlung“ [26] durchlaufen hatte. Dies war zugleich Grundlage einer „Reinigung“: „Berufsbereinigen heißt eben nicht, nur Umsätze feststellen, streichen und verlagern, sondern kann immer nur heißen, auch mit Hilfe dieser Maßnahmen den Beruf zu fördern und das Gesunde im Beruf und in seinen einzelnen Gruppen und Betrieben noch über den gegebenen Zustand hinaus zu kräftigen. Der Ausleseprozess ist also auch im Rahmen der Berufsbereinigung ein Prozess weiterer Gesundung für den größten Teil der Bestehenden. Das Kranke, das es dabei allerdings auch auszumerzen gilt, kann aber immer nur von Fall zu Fall, und zwar nur entsprechend den Besonderheiten und allen Begleitumständen jedes einzelnen Falles festgestellt, behandelt und evtl. auch ausgeschieden werden. Schema F würde bestimmt gerade hier eine schlechte und nur schädliche Medizin sein.“ [27]

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Äußere Wandlung beim Reichsbundes deutscher Verbrauchergenossenschaften: Dekoration der Hamburger Zentrale anlässlich des lokalen Gauparteitages (Rundschau des Reichsbundes deutscher Verbrauchergenossenschaften 31, 1934, 125)

Der „deutsche“ Handel verlangte mehr als Händler, er verlangte „ganze Kerle“ [28], die Kämpfer für die „deutsche“, die nationalsozialistische Sache waren. [29] Dazu gehörte auch Familiensinn, die Sorge für den „gesunden“ Nachwuchs. Der Begriff des Kaufmannes hatte eine volksbiologische und zugleich eine strikt patriarchalische Komponente. Obwohl fast ein Drittel der Ladeninhaber Ladeninhaberinnen waren, galt der Mann als geborener Leiter eines Handelsbetriebes, waren in der üblichen Form des Familienbetriebes die Rollen klar verteilt. Während selbständige Frauen in der Fachpresse kaum behandelt wurden, trat analog zur Rolle der Mutter und der Bäuerin die Prinzipalin, die Kaufmannsfrau verstärkt hervor: „Ihr Lebensinhalt ist fast in allen Fällen das Geschäft, also ihre und die Existenz des Mannes. Da ihre Mithilfe im Geschäft, besonders in einem neu errichteten Betriebe, außerordentlich wichtig ist, wird der ganze Tag, von früh bis spät, immer ausgefüllt sein. Sie wird, wenn beide vorwärtskommen wollen, überall mit anpacken müssen; daneben muß sie umsichtig, stets liebenswürdig und gewandt im Umgang mit der Kundschaft sein, auch wenn manchmal ihr Herz nicht ‚ja’ zu allem sagt. Eine Kaufmannsfrau muß nicht nur vielseitig, sondern auch zielbewußt, rechnerisch begabt und neben ihrem Mann ein Vorbild für die Betriebsgemeinschaft sein. Vor allen Dingen aber bleibt auch sie bei alledem die mit dem Mann fortgesetzt um die Existenz kämpfende Lebenskameradin. Leicht ist eine solche Ehe nicht, aber sie ist groß und inhaltsreich.“ [30] Während der Mann als Kopf des Geschäftes galt, wurde die Frau zu dessen Seele erklärt, deren Aufgabe insbesondere die kameradschaftliche Erziehung der Kundinnen sei. [31] Die Kaufmannsgattin war integraler Bestandteil der Leistungssteigerung des Handels, ihr letztlich unentgeltlicher Beitrag wurde stets vorausgesetzt. Sie hatte dadurch eine staatspolitisch wichtige Aufgabe: Ihre vermeintliche Nähe zur kaufenden Hausfrau verpflichtete sie zu systematischem Aufklärungsdienst. Die Mittlerrolle des Handels fand in der Mittlerrolle der Frau ihre gleichsam natürliche Verlängerung. Die fachliche Vorbereitung sah demgemäß anders aus: Die Frau sollte möglichst Verkäuferin lernen, ehe sie in der Ordnung einer Ehe aufging. [32] Völkische und patriarchalische Ordnung verbanden sich hier zur Grundlage eines spezifisch „deutschen“ Handels.

Lehrer des Konsumenten

Dem Handel wurde von Beginn an die Aufgabe zugewiesen, den „in wirtschaftlichen Einzelfragen oft unkundige[n] Verbraucher“ [33] zu beraten. Die Qualifikation des „deutschen“ Kaufmanns befähigte ihn zu gezielter Beratung. Sie diente nicht primär dem eigenen Geschäft, sondern war höheren Zielen verpflichtet: „Es gilt, das Verantwortungsbewußtsein der Frau zu wecken und zu vertiefen für die Aufgaben und Pflichten, die sie im Interesse der deutschen Wirtschaft zu erfüllen hat.“ [34] Der „deutsche“ Kaufmann war eine Art Gütemarke, die den Kunden bewegen sollte, dessen substantielle Angebote auch zu nutzen, sich also erziehen zu lassen. Trotz dieser hierarchischen Beziehung war der Kaufmann als Mittler zugleich aber verpflichtet, die Meinung des Kunden einzuholen, sie an den Großhandel bzw. an die Industrie weiter zu geben, um so die Volkskonsumgemeinschaft mit Substanz zu versehen.

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Vorbildliche Ladeneinrichtung 1939 (DHR 32, 1939, 270)

Der Ort dieser staatlich relevanten Begegnung zwischen Kaufmann und Kunden hatte seiner Bedeutung gemäß gediegenen Standards zu entsprechen. Sauberkeit, Ordnung und Schönheit sollten alle Laden unabhängig von der Größe kennzeichnen: „In gefälliger Linienführung grenzt der Ladentisch den Kundenraum gegen Verkäufer und Ware ab und stellt doch zugleich durch eingebaute Glasschränke und zweckmäßige Aufbauten jene Verbindung her, die Kaufwünsche erweckt und an jeglichen Bedarf rechtzeitig erinnert. Abstellbrettchen für Taschen und Paketchen geben der Hausfrau das angenehme Gefühl sorglicher Bedienung, schützende Glasscheiben vor den Aufbauten und über den Auslagen künden pflegliche und hygienische einwandfreie Warenhaltung. Frei und übersichtlich sind Packungen und Flaschen in zweckmäßig aufgeteilten, offenen Holzregalen griffbereit zur Hand, Oelmeßapparate verbinden praktische Handhabung und Reichnähe mit der notwendigen Abgrenzung von sonstiger Ware. Schmuck und einladend ist jedes Gerät, von den aromawahrenden Kaffeebehältern und der Sichtwaage bis zur blinkenden Ladenkasse, die den Erfolg so sorgfältiger Innenwerbung getreulich in klingender Münze verzeichnet.“ [35] Die Ladeneinrichtung sollte immer auch den Respekt vor dem Kunden als Volksgenossen verdeutlichen, auch auf die Ansprüche des Ladenpersonals sollte so weit wie möglich Rücksicht genommen werden. [36] Dem diente ein einfaches, jedoch „formschönes“ Design von Waren und Verpackungen, das gerade in der Hausratsbranche auch umgesetzt wurde. Versorgung in der Volksgemeinschaft bedeutete die Schaffung von Leistungsgemeinschaften, die auch in schwierigen Zeiten ihre von Staat und Partei gegebenen Aufgaben ohne Stockungen erfüllen würden. Der „deutsche“ Handel sollte „deutsche“ Konsumenten erziehen.

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Rationalisierung, Sauberkeit und Ordnung durch Vorverpackungen (DHR 29, 1936, 387 (l.); ebd., 477)

Dem Führer entgegen arbeiten

Das NS-Wirtschaftsdenken war hierarchisch geprägt, folgte dem Primat der Politik. Es setzte zugleich aber auf die eigenständige und optimale Umsetzung der Vorgaben im Sinne der gemeinsamen Ideologie von Führer und Gefolgschaft. Der „deutsche“ Händler hatte die allgemeinen Zielsetzungen politisch korrekt umzusetzen, doch er besaß hierbei einen nicht unbeträchtlichen Gestaltungsfreiraum. Diesen sollte er nutzen, Führer (und Volksgemeinschaft) entschieden dann über die Angemessenheit des Resultats. Dadurch war ein Bewertungsdruck geschaffen, der handlungsauslösend war und nie endete.

Dieses stete Arbeiten war begrenzt durch die „kulturellen“ Bedürfnisse auch des Händlers, durch sein Recht auf Freizeit, sein Recht auf wenn auch begrenzten Urlaub. Dienst musste auch anderweitig belohnt werden, das konnte billigerweise von den Führern verlangt werden. Die Hierarchie gründete auf stets in Aussicht gestellten „Lohn“, der jedoch – abseits der relativ bescheidenen Einkommenszuwächse [37] – vor allem in der Zukunft angesiedelt wurde. Das persönliche Band zwischen Führer und Gefolgschaft setzte eine Dynamik des Dienens in Gang, die leistungsfördernd wirkte und flexible Lösungen im Sinne eines „dem Führer entgegen arbeiten“ ermöglichte.

Bekämpfung des „Kranken“

Der „deutsche“ Handel diente nicht allein der Schaffung einer möglichst homogenen Gruppe. Er war zugleich eine Ausgrenzungsmetapher, die immer auch auf die Bekämpfung „kranker“, „undeutscher“ Elemente zielte. Rassismus und Biologismus waren hierfür konstitutiv. Das galt unmittelbar für die Vertreter des „Marxismus“, die deutschen Konsumgenossenschaften. Sie wurden Anfang 1933 gezielt bekämpft, ihr wirtschaftliches Gewicht und ihre forcierte Selbstgleichschaltung verhinderten jedoch eine unmittelbare wirtschaftliche Zerschlagung. Diese erfolgte in Etappen; 1935 wurde ein beträchtlicher Teil der Genossenschaften verboten, 1941 der verbleibende Rest in die Deutsche Arbeitsfront integriert. [38]

Juden hatten eine derartig „moderate“ Behandlung nicht zu erwarten. Der Leiter der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel führte schon 1935 aus, dass gegen sie Einzelmaßnahmen nicht helfen würden, „daß der seit 100 Jahren übermächtig gewordene Einfluß in der Wirtschaft nicht durch lokale Experimente bekämpft werden könne, sondern nur durch eine gesetzlich fundierte, auf eine totale Lösung der Frage schrittweise hinzielende Arbeit zu erreichen ist.“ [39] Entrechtung, Enteignung, Willkür, Totschlag und Massenmord waren die Etappen eines Weges zunehmender „Entjudung“, waren Begleiterscheinungen und Konsequenzen einer zunehmenden „Gesundung“ des Handels. [40] Der „deutsche“ Handel profitierte von der Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz indirekt, bereicherte sich direkt durch die „Arisierungen“. Dabei zeigte die Verwaltungspraxis vor Ort einen vorauseilenden Gehorsam, der selbst die noch geltenden Gesetze nicht mehr zur Kenntnis nahm. [41]

09_Der Fuehrer_1936_07_10_Nr159_sp_Karlsruher Tagblatt_1936_07_26_Nr205_p7_Einzelhandel_Arisierung_Landauer_Kaufhaus_Vetter_Karlsruhe

Reibungslos vollzogene Arisierung: Aus Landauer wird Vetter (Der Führer 1936, Nr. 159 v. 10. Juli, s.p. (l.); Karlsruher Tagblatt 1936, Nr. 205 v. 26. Juli, 7)

Doch es hieße die Dynamik der Ideologie zu unterschätzen, konzentrierte man sich allein auf politische und rassische Gegner. Die „Gesundung“ zog die Auskämmung des Handels logisch nach sich, also die „Reinigung“ von weniger leistungsfähigen Betrieben. Die Rationalisierung erfolgte in einem Wechselspiel von Erziehung und „Ausmerze“. Wer die staatlich festgelegten persönlichen und sachlichen Voraussetzungen nicht erfüllte, konnte spätestens seit der Verordnung zur Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel vom 20. März 1939 „für den Arbeitseinsatz freigemacht werden“ [42]. Um die schon lange geplante, aus vielerlei Überlegungen jedoch immer wieder zurückgestellte Maßnahme [43] gezielt durchführen zu können, hatte die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel 1938 eine umfassende Mitgliederbefragung durchgeführt, um – wie es verbrämt hieß – „Unterlagen zur Prüfung und gegebenenfalls Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel zu erhalten.“ [44] Auch die Richtzahlen des Statistischen Reichsamtes dienten diesem Zweck. [45]

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Antisemitismus als Führungsmittel des „deutschen“ Handels (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 3. Mai, 10 (l.); ebd., 8)

3. Handel und Konsum – Vier Begegnungsfelder

Der biologistische Optimierungsgedanke, der dem Ideal des „deutschen“ Handels zugrunde lag, zeigt, wie eng verwoben NS-Gedankengut und der tägliche Konsum dieser Zeit waren. Die Versorgung in der Volksgemeinschaft diente nicht allein der Warenversorgung. Das wusste jeder Händler, ahnte jeder Käufer dieser Zeit. Doch wie wurde diese Ideologie umgesetzt? Die folgenden vier Fallbeispiele sollen bei einer Antwort helfen.

3.1 „Schaufenster des Regimes“ – Wirtschaftsmodelle in der Werbung

Die Werbewirtschaft wurde 1933/34 neu geregelt, zentralisiert und einer strikten Kontrolle von Partei und Staat unterworfen. [46] Dies war nur möglich, weil einschneidende Regelungen sowohl von der Mehrzahl der professionellen Werbetreibenden [47] als auch der Einzelhändler gefordert und unterstützt wurden. Der Einzelhandel war zu dieser Zeit die mit Abstand wichtigste werbetreibende Gruppe [48], und die Mehrzahl seiner Interessenverbände wandte sich strikt gegen regelmäßige „Auswüchse“ der Wirtschaftswerbung. Die Konkurrenzwirtschaft zeigte darin ihr vermeintlich ungeschminktes Gesicht: Die Dominanz großer Werbeetats, Unlauterkeit und Übervorteilung wurden überall gesehen und als Bedrohung empfunden. [49]

Entsprechend wurde die Neuordnung des Werbewesens in den wichtigsten Zeitschriften des Handels sehr positiv gewürdigt, galten die staatlichen Maßnahmen als Ausdruck einer grundsätzlichen Affinität zwischen Regime und Handelsinteressen. [50] Nicht mehr das große Geld – so die weit verbreitete Hoffnung – sondern die „Persönlichkeit“ des Händlers wurde nun wieder in seine zentrale Stellung gerückt, auf der allein eine sachgerechte Werbung aufbauen konnte. Sie war Ausdruck der fachlichen Kompetenz des Händlers, gründete auf der gezielten Nutzung der modernen Werbemittel, zielte jedoch nicht auf wahllosen Mehrumsatz, sondern konzentrierte sich gezielt auf einzelne Artikel. Aktiv sollte der Händler sein qualitativ hochwertiges Sortiment vorstellen, einzelne Waren daraus hervorheben. [51] Der Kunde sollte nicht allein nach Sonderangeboten Ausschau halten, die Werbung sollte ihm vielmehr den Eindruck einer insgesamt hohen Leistungsfähigkeit des Geschäftes vermitteln, sollte den Kunden persönlich an das Geschäft binden. Werbung war moralisch geworden, wurde persönlich gefasst, war eine wechselseitige Rollenbestätigung der Volksgenossen. Werbung in der Volksgemeinschaft basierte auf dem Aufklärungs- und Lenkungsanspruch der nationalen Wirtschaft, des nationalen Staates.

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Negativbild des seelenlosen Massenkonsums: Blick in das Berliner Schuhwarengeschäfts Direkt (Illustrierte Technik 10, 1932, H. 1, XXVIII)

Wie sehr die Funktionen des Händlers resp. des Kunden in neue Sphären transformiert wurden, zeigt sich sehr gut an den vielfältigen Formen der Gemeinschaftswerbung, besser noch an der Schaufensterwerbung an den neuen staatlichen Feiertagen. [52] Der 1. Mai wurde seit 1933 als „Tag der nationalen Arbeit“ begangen, seit Oktober 1933 stand das „Erntedankfest“ neu im nationalen Kalender. Neu war auch, dass die Schaufenster des Einzelhandels gezielt in die Festaktivitäten eingebunden wurden. Der Handelsstand erwies so – auf Basis von Rahmenrichtlinien des Reichspropagandaministeriums – anderen „schaffenden“ Ständen seine Referenz.

Der „Tag der nationalen Arbeit“, NS-Usurpation des traditionellen 1. Mai der Arbeiterbewegung, sollte ein nationales Gemeinschaftsgefühl stiften und die „Verbundenheit aller Werktätigen“ dokumentieren: „Das ganze Volk ehrt sich selbst, wenn es der Arbeit die Ehre gibt, die ihr gebührt.“ [53] Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften im Mai 1933 waren auch die Angestellten des Handels in der Deutschen Arbeitsfront organisiert worden, waren auch die Händler selbst – als Arbeitgeber – Mitglied. Entsprechend beteiligten sich die Händler und Angestellte an den obligaten Umzügen.

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Die Belegschaft der Edekazentrale vor dem Abmarsch zum Festzug 1937 (DHR 30, 1937, Nr. 18, Titelblatt)

Der Handel präsentierte sich so den die Straßenpassanten, den Kunden, als Teil der „schaffenden“ Stände. Doch dies wurde auch in die Schaufenster transformiert, in denen staatliche Parolen und Konsumwaren als die Ergebnisse deutscher Arbeit in einem Ensemble verbunden wurden.

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Schaufenstervorschlag der Edeka 1936 (DHR 29, 1936, 401)

Die Einzelhändler nutzten diese spezielle Werbemöglichkeit gezielt. Die Jahresberichte der Edeka sprechen dabei weniger von der großen Bedeutung des Festtages als vielmehr von der gebührenden Präsentation des Handels als Teil der produktiven Volksgemeinschaft. [54] Für sie sollte der Tag die relative Verpflichtung der Käufer zum Ausdruck bringen, beim „deutschen“ Handel einzukaufen. Dies rief zumindest ab 1937 staatliche Reaktionen hervor: „In den Schaufenstern sollen zum 1. Mai die Erzeugnisse der heimischen Produktion, die Erträgnisse deutschen Bodens, das Erschaffte deutscher Hände Arbeit Würdigung finden. Dabei darf die Ware nicht aufdringlich hervortreten; sie hat im Rahmen des Ganzen zurückzutreten; denn der Zweck der Schaufenstergestaltung zum 1. Mai ist nicht Absatzwerbung, sondern die Betonung der Freude, daß sich unser Volk unter einem Willen zusammengefunden hat und so gemeinsam den 1. Mai feiert.“ [55] Das nationale Gemeinschaftsgefühl war wichtiger als ein erhöhter Konsum im „deutschen“ Laden.

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Entwurf eines Erntedankfensters 1933 (Edeka-Reklame, 1934, 257)

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beim Erntedankfest feststellen. Dessen Ziel war nicht allein die besondere Ehrung des deutschen Bauern und des Ertrages deutschen Bodens. Seine Aufgabe war zugleich, dem Städter die elementaren Leistungen des Landes, aber auch seine eigene biologische Abhängigkeit von der Natur und dem Boden vor Augen zu führen. Diesem Ereignis hatte der Lebensmittelhandel als „Mittler zwischen Bauer und Verbraucherschaft“ besondere Schaufenster zu widmen – abermals nach Maßgabe des Reichspropagandaministeriums. [56] Für den Händler war es demgemäß zugleich Pflicht und Selbstverständlichkeit, „daß er am Erntedanktag zur Vertiefung der Stimmung für dieses Fest seine Schaufenster, ohne direkte Verkaufsabsichten hiermit zu verbinden, so ausschmückt, daß der schöne Gedanke des Erntedankfestes in die weitesten Volkskreise getragen wird.“ [57] Das Erntedankfest war geplant als Ausdruck völkisch-biologistischen Denkens und der Verbundenheit zu Blut und Boden. Die Schaufensterwerbung unterstützte dies durch florale Elemente, insbesondere frische Blumen und Grünschmuck.

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Entwurf für ein Erntedankschaufenster 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 584)

Das Erntedankfest hatte in den Städten jedoch nie dieselbe Bedeutung wie der 1. Mai. Sein Ziel war es schließlich eine Stimmung zu schaffen, in der die systematische Begünstigung der Landwirtschaft erträglich und nachvollziehbar erschien. Die Freude an den „frischen“ Schaufenstern wurde durch entsprechende Verpflichtungen von Handel und Verbrauchern getrübt: „Die deutschen Volksgenossen, einschließlich der Schwarzseher und Meckerer, werden auch fernerhin diese kleinen Opfer vorübergehender Entbehrung auf sich nehmen. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als in solchen Fällen eine Umschaltung vorzunehmen in Form einer kleinen Korrektur des Speisezettels.“ [58] Stärker als der „Tag der Nationalen Arbeit“ wurde das Erntedankfest funktionaler Bestandteil staatlicher Konsumpolitik. Die Finanzierung der „Erzeugungsschlacht“ und die konsumtiven Zumutungen des Strebens nach „Nahrungsfreiheit“ standen allerdings stets im Hintergrund. [59] Die Festschaufenster gewannen sicherlich nicht die Bedeutung, die man staatlicherseits erhofft hatte. Doch es gilt den Blick für die vielfältigen Wege zu schärfen, mit denen der Kauf und Verkauf genehmer Produkte gefördert wurde. Der Handel jedenfalls nutzte die Aura der Volksgemeinschaft gezielt in seinen Schaufenstern – gedrängt durch Staat und Handelsorganisationen, durchaus überzeugt von deren Inhalt, sicher aber mit dem Kalkül, so das persönliche Band zum kaufenden Volksgenossen enger knüpfen zu können.

3.2 „Eßt mehr Fisch!“ – Verbrauchslenkung mit begrenztem Erfolg

Die Agrar-, später auch die Gesundheitspolitik des Nationalsozialismus, zielten auf eine „gesunde“ Ernährung, die nationalwirtschaftlich sinnvoll, zugleich aber ernährungsphysiologisch ausgewogen war. [60] Aus diesem Grunde wurde staatlicherseits eine regionale, saisonale und fettarme Kost mit relativ geringem Anteil tierischer Produkte propagiert. Wirtschaftliche und volksbiologische Zielsetzungen führten seit 1933 gleichermaßen zu Anstrengungen, die Ernährungsweise der Bevölkerung gezielt zu beeinflussen. [61] Es war allerdings nicht der Handel, der dieser Politik seinen Stempel aufdrückte. Stattdessen griffen 1933 und 1934 vielfältige und kaum koordinierte Vorschläge aus der Wirtschaft und der (Ernährungs-)Wissenschaft, die erst durch den organisatorischen Aufbau einer „Marktordnung“ 1933-1935, dann aber vornehmlich durch die in den zweiten Vierjahresplan mündenden Produktions- und Verbrauchsziele klarere Konturen gewannen.

Das Beispiel des Fisch-, genauer Seefischkonsums kann helfen, die langsame Integration des Handels in das Konzept einer Umstellung auf eine „richtige“ Ernährung zu beleuchten, zugleich aber die Grenzen derartiger Steuerungsmaßnahmen zu verdeutlichen. Werbung für einen vermehrten Fischkonsum war dabei – ebenso wie für andere Produkte deutscher Agrarproduktion – keineswegs neu. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte es eine gezielte Gemeinschaftswerbung der deutschen Fischwirtschaft gegeben, die 1926 durch die Gründung des staatlich unterstützten „Ausschusses für Seefischpropaganda“ neu aufgenommen wurde. [62] Sie nutzte sowohl gesundheitliche als auch nationale Argumente. Ihr Erfolg war abseits der Fischfachgeschäfte bzw. von Konsumgenossenschaften und auch Warenhäusern relativ gering. Fisch war angesichts begrenzter Kühltechnik ein hygienisch heikles Produkt, das zumeist in verarbeiteter Form, als Marinade, Räucherware oder Konserve, den Weg in das Einzelhandelsgeschäft nahm. [63] Auch seine hohe Saisonabhängigkeit erschwerte den Absatz der Frischware im Handel. [64] Haushaltsrechnungen der späten 1920er Jahre zeigten deutliche regionale Verzehrsunterschiede. In den konsumnahen Küstenregionen – hier gab es abseits der Großstädte auch die Mehrzahl der Fachgeschäfte – lag der Fischkonsum teils dreimal höher als in Süddeutschland. [65]

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Vorschlag für ein Fischwerbeschaufenster 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 207)

Während der Weltwirtschaftskrise nahm der Fischkonsum zwar insgesamt ab, doch dies resultierte vornehmlich aus dem Rückgang der Importe. Der Absatz der deutschen Produktion erhöhte sich dagegen leicht. [66] 1933/34 setzte die zurückgefahrene Werbung wieder stärker ein, argumentierte dabei insbesondere mit der Billigkeit des Produktes und den arbeitsmarktpolitischen Wirkungen vermehrten Fischkonsums. [67] Im Rahmen des Reichsnährstandes wurde die übliche Werbung der Produzenten fortgeführt, doch trotz Plakataktionen, aufklärenden Vorträgen, fahrbaren Lehrküchen und einer großen Spezialausstellung auf der „Grünen Woche“ galt: „Die Erfolge dieser Anstrengungen lassen indessen zu wünschen übrig.“ [68] Ein Umschwung hin zum Handel setzte erst ein, nachdem zum einen der organisatorische Umbau der Fischindustrie abgeschlossen war, nachdem zum anderen durch die Versorgungskrise des Winters 1935/36 Fisch als Eiweißträger und Ersatz für Fleisch an Bedeutung gewann. [69] Ende 1936 sah der Vierjahresplan eine Verdoppelung der deutschen Fischfänge bis 1940 vor, sollten Fangflotte und Fischindustrie großzügig ausgebaut werden. [70]

Die Integration des Handels in die Pläne gesteigerten Fischabsatzes unterscheidet sich deutlich, vergleicht man die Maßnahmen seit Ende 1936 und davor. November 1935 gibt es eine erste Themenausgabe in der Deutschen Handels-Rundschau, die die Händler im hergebrachten Sinne aufklärte, sich dabei insbesondere auf Tipps für die sachgemäße Behandlung des Fisches konzentrierte. [71] Erst Anfang 1936 setzen koordinierte Werbemaßnahmen ein. Ziel wer es, neben dem traditionellen Freitag einen weiteren Fischtag einzurichten: Jede Region des Deutschen Reiches wurde an einem bestimmten Wochentag gezielt mit Frischfisch versorgt: Am Montag sollte Fischtag in Baden, Württemberg, Bayern und Schlesien sein, am Dienstag in Westfalen, im Rheinland und Sachsen-Anhalt, usw. Diese Maßnahmen wurden von einer Verbraucheraufklärung durch das Deutsche Frauenwerk sowie Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Hausfrauenzeitschriften begleitet. Der Handel hatte die nötige Absatzstruktur vor Ort sicherzustellen, wurde mit Verweis auf die deutsche Devisenlage und die vorhandenen, nun aber auch zu nutzenden Fangkapazitäten in die Pflicht genommen. [72]

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Schaufenster für Räucherwaren und Fischprodukte 1936 (DHR 29, 1936, 235)

Das Ergebnis war allerdings wenig erfolgreich, zeigten sich doch offenkundige Probleme beim Fischverkauf in Nicht-Spezialgeschäften. Die staatlich festgelegten Handelsspannen waren niedrig, der Verderb hoch, und die Verbraucher wurden von qualitativ geringwertiger Ware in ihrer Reserviertheit gegenüber dem Produkt Fisch bestätigt. Dagegen begann nun ein Werbefeldzug in Anzeigen, Plakaten, aber auch und gerade in den Schaufenstern des Fachhandels, der die Gesundheit und den hohen Conveniencegrad der Fischprodukte betonte. [73] Dem Händler wurde geraten, auf seine Kunden im Vorfeld zuzugehen, sichere Verkäufe schriftlich festzuhalten und dann die benötige Menge zu bestellen: „Man nimmt sich zunächst jede Woche einen, vielleicht auch zwei Tage, die immer gleich liegen müssen, vor, an denen man seiner Kundschaft Seefische feilbietet. Sie müssen es ihren Kunden immer wieder einhämmern, daß Sie beispielsweise Donnerstag und Freitag ‚blutfrische Seefische‘ zu verkaufen haben.“ [74]

Derartig handfeste Werbung bedurfte jedoch einer fundierten Infrastruktur – das galt zumindest nach dem Anlaufen des Vierjahresplans. Um die hochgesteckten Konsumziele zu erreichen, hatte der Ausbau von Fischabteilungen bzw. die Einrichtung neuer Fischspezialgeschäfte Priorität. Doch es war nicht der Staat, der hierfür die Mittel aufbrachte. Stattdessen wurde dem gesamten Einzelhandel eine Sonderumlage auferlegt, um so Deutschlands „Nahrungsfreiheit“ zu dienen. [75] Parallel wurde die durch das Einzelhandelsschutzgesetz von 1933 bestehende Beschränkung der Sortimente gelockert. Wer immer eine räumlich getrennte Abteilung einrichten wollte, um das „Fleisches des Meeres“ [76] zu verkaufen, der durfte dies tun. [77] Die Verteilung der Fördergelder übernahm der Anfang 1937 eingerichtete Förderungsdienst des deutschen Fischhandels, der reichsweit Schulungen im Neuwieder Haus für Berufsförderung anbot. [78] Fischkühlschränke wurden verstärkt angeboten, ihr Bezug durch günstige Kredite erleichtert. Auch Konsumenten erhielten Anreize, denn Fisch gab es nun auch auf Verbilligungsscheine für soziale Schwächere. [79]

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Werbung für Fischkühlkästen 1937 (DHR 30, 1937, 639)

Die politischen Vorgaben des Vierjahresplans sollten durch ein Netzwerk „sauberer“, hygienisch einwandfreier, fachkundig geführter Spezialabteilungen und -geschäfte umgesetzt werden. Die Hauptvereinigung der deutschen Fischwirtschaft legte Anfang März 1938 präzise Mindestanforderungen für Fischverkaufsstellen fest, durch dessen Raster die Mehrzahl der Händler fiel, die (Frisch-)Fisch nicht einfach räumlich vom sonstigen Absatz trennen konnten. [80]

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Räumlich getrennte Fischabteilung eines Kolonialwarenladens 1938 (DHR 31, 1938, 946)

Das Ideal eines professionellen Spezialhandels, der zwar langwierig aufzubauen war, der dann aber präzise die Vorgaben der Fischwirtschaft umsetzte, war scheinbar wichtiger als die kurzfristige Umsetzung des Vierjahresplans. [81] Doch zwei weitere Entwicklungen sind zu berücksichtigen. Zum einen gelang es der Fischwirtschaft nicht, die Menge der Anlandungen plangemäß zu erhöhen, denn die Steigerung betrug von 1936 bis 1938 lediglich 20 Prozent. [82] Die Aufrüstung der Marine und der parallel intensivierte Walfang ließen das Programm am Mangel von Seeleuten und der immer offenkundigeren Überfischung der Bestände scheitern. Parallel begann man im Deutschen Reich – auch unter Versorgungsaspekten für die Wehrmacht – ab 1939 mit dem Aufbau einer Tiefkühlkette. Sie erforderte neuartige Technik im Laden, die im Rahmen des bestehenden Handels kaum möglich schien. [83]

Die Handelsorganisationen setzten ihre Aufgaben durchaus um, warben in ihren Schaufenstern für Fischerzeugnisse, klärten in ihren Kundenzeitschriften die Verbraucher auf. [84] Doch auf Filetgewicht berechnet, stagnierte der Absatz zwischen 1936 und 1938 praktisch (7,7 bzw. 7,8 Kilogramm). Die nationale Haushaltsrechnungserhebung von 1937 ergab keine Verschiebungen der regionalen Verzehrsunterschiede. [85] Die Verbrauchslenkung hatte sich im Kern als Fehlschlag erwiesen, die Versorgungsengpässe bei Fleisch Anfang 1939 zeigten dies mehr als deutlich. [86] Mit Beginn des Krieges kam die Hochseefischerei größtenteils zum Erliegen, der Fischkleinhandel verzeichnete sofort „einschneidende Umsatzrückgänge“ [87].

Der Misserfolg dieses Bereichs der Verbrauchslenkung zeigte zum einen, dass Ernährungsgewohnheiten kulturelle Eigendynamiken besaßen, die durch Appelle und Anreize allein kaum zu steuern waren. Die anfangs mangelhafte Integration des Handels in die Fischwerbung verwies auf Wirkungsmodelle, die von der Allmacht werblicher Kommunikation im Konsumsektor ausgingen. Die sicherlich auch vor dem Hintergrund zunehmend professioneller Marktforschung zu sehende Integration des Handels in die Verbrauchslenkung komplettierte zwar seit 1936/37 die Maßnahmenpalette staatlicher und wirtschaftlicher Maßnahmen. Doch die Wahl zwischen mehr Fleisch oder mehr Fisch fiel den meisten Volksgenossen – angesichts von Vollbeschäftigung und wachsenden Einkommen – leicht.

3.3 Versorgungspflicht und Sozialpolitik – Der Ladenschluss als Strukturproblem

Die moderne Ladenschlussregelung bildet einen Kompromiss zwischen den sozialpolitischen Ansprüchen der Händler und Beschäftigten einerseits, den Verwertungsimperativen der Händler bzw. den zeitlich an sich nicht begrenzten Konsumwünschen der Verbraucher andererseits. Die 1891 einsetzende Gesetzgebung hatte unter vorrangig sozialpolitischen Zielen zu einer begrenzten Sonntagsruhe und verbindlichen werktäglichen Öffnungszeiten geführt. Auch 1933 galt noch im Wesentlichen die Verordnung vom 5. Februar 1919, die – mit branchenspezifischen Ausnahmen – einen werktäglichen Ladenschluss in der Zeit von 19 bis 7 Uhr festschrieb, die ferner den Sonntag – wiederum mit gewissen Ausnahmen – grundsätzlich als Ruhetag deklarierte.

Während der Weimarer Republik hatten die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels und viele Handelskammern immer wieder flexiblere Lösungen gefordert, um zu bestimmten Hochfesten und Jahreszeiten sowie in bestimmten Regionen öffnen zu können. Während der Weltwirtschaftskrise blieben diese Forderungen bestehen, aufgrund der Absatzprobleme traten sie jedoch in den Hintergrund. So bestand unmittelbar nach der Machtzulassung kein Regelungsbedarf für die neuen nationalsozialistischen Machthaber. Gleichwohl gab es 1933/34 innerhalb der Deutschen Arbeitsfront gezielte Bestrebungen der Vertreter der Handlungsgehilfen, für bestimmte Branchen und Regionen einen früheren Ladenschluss einzuführen. Die Folge war eine „erhebliche Beunruhigung bei den Inhabern der Ladengeschäfte“. Der Reichsarbeitsminister beruhigte, sah in den lokalen Initiativen lediglich unverbindliche Versuche. Der geltende Ladenschluss schien ihm ein tragbarer Kompromiss zwischen verschiedenen Gruppen der Volksgemeinschaft, denn „die Ladenzeiten des Einzelhandels bedeuten nicht nur ein gesetzlich festgelegtes Recht des Kaufmanns, sondern auch die Pflicht, allen Bevölkerungsreisen eine möglichst gute Gelegenheit zur Bedarfsdeckung zu sichern.“ [88] Statt gesetzlicher Maßnahmen gab es gezielte Appelle an die Konsumenten, ihre Verkäufe über den ganzen Tag zu verteilen, insbesondere die Zeit von 18 bis 19 Uhr möglichst den Berufstätigen zu überlassen. [89] Und durch das Automatengesetz vom 6. Juli 1934 erhielten die Einzelhändler neue technische Möglichkeiten, auch nach Ladenschluss ihre Kunden mit Waren zu versorgen. [90] Auch die Einbindung des Ladenschlusses in die neue Arbeitszeitordnung vom 16. Juli 1934 ergab keine Änderung der bestehenden Regelungen. [91]

Doch mit Erreichen der „Vollbeschäftigung“ begannen seit spätestens 1937 neuerliche Bemühungen um verringerte Ladenöffnungszeiten. Am Samstag sollte der Ladenschluss auf 16 Uhr vorverlegt werden, da nur so eine „wirkliche Erholung in Form des Wochenendes“ [92] möglich sei. Abermals wurde eine gesetzliche Neuregelung abgelehnt, abermals die umfassende Erziehung des Verbrauchers gefordert. [93] Doch die neuen sozialpolitisch und volksbiologisch begründeten Gesetze über Kinderarbeit bzw. die Arbeitszeit der Jugendlichen führten zu wachsenden Problemen, die Läden während der gesamten Öffnungszeiten auch durchgehend zu öffnen. [94] Entsprechend begannen 1938 breite Diskussionen über den Mittagsladenschluss, denn viele Händler weiteten ihn aus, um den gesetzlichen Höchstarbeitszeiten ihrer Lehrlinge zu genügen. Außerdem nahm die Zahl der Betriebsurlaube zu, während der Geschäfte geschlossen wurden. [95] Die wachsende Heterogenität der an sich einheitlich geregelten Ladenöffnungszeiten wurde noch größer, als 1938/39 die Händler einzelner Orte bzw. Einzelgeschäfte freiwillig früher schlossen. [96]

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Strukturproblem Ladenschluss – hier als Anlass für Verpackungen (DHR 29, 1936, 945)

Diese Eigeninitiativen nahm das Reichswirtschaftsministerium zum Anlass für eine Grenzziehung. Am 31. Mai 1939 erging die Anordnung zur Verhinderung von Ladenzeitverkürzungen, deren Durchführungsverordnung die Prioritäten der NS-Politik deutlich machte: „Bei der Handhabung der Anordnung ist besonders zu berücksichtigen, daß der Vierjahresplan von weiten Volkskreisen verlängerte Arbeitszeiten und äußersten Einsatz verlangt; es muß deshalb unter allen Umständen dafür Sorge getragen werden, daß gerade auch den bis zum späten Nachmittag arbeitenden Volksgenossen die notwendigen Einkäufe nicht erschwert oder überhaupt unmöglich gemacht werden.“ [97] Die Ruhe an der Käuferfront war wichtiger als die sozialpolitisch erwünschten Arbeitszeitverkürzungen der Händler und Angestellten. Die schon 1934 erwähnte Versorgungspflicht der Läden trat nun immer stärker in den Vordergrund – entsprechend waren zuvor 1938 die Öffnungszeiten im ländlichen Raum im Sommer auf 21 Uhr erweitert bzw. die Ladenöffnungszeiten an den verkaufsoffenen Sonntagen von 18 auf 19 Uhr erhöht worden. [98] Parallel zeigte sich, dass die Kontrolldichte der Aufsichtsbehörden so gering war, dass Sonntagsruhe und Ladenschluss regelmäßig nicht eingehalten wurden. [99] Sozialpolitik wurde beschworen, angesichts anderer aktueller Prioritäten jedoch zurückgestellt. Der Einzelhandel hatte zu dienen, wollte er verdienen.

Der Primat der Versorgungspflicht zeigte sich dann in reiner Ausprägung während des Krieges. Die Verordnung über den Ladenschluss vom 21. Dezember 1939 [100] gründete bewusst auf Kriegssonderrecht, kehrte sie doch erstmals in der deutschen Geschichte den Ladenschlussgedanken um: Die Läden mussten nun nicht mehr zu bestimmten Zeiten geschlossen, sondern vielmehr bis 18 Uhr (Gebrauchsgüterhandel ohne Mittagspause) respektive 19 Uhr (Lebensmittelhandel mit Mittagspause) offen gehalten werden: „Wenn heute die Verbraucherversorgung als Aufgabe und volkswirtschaftliche Pflicht des Einzelhandels angesehen wird, so kann es nicht mehr vollständig in das Belieben des einzelnen Betriebes gestellt sein, ob und in welchem Umfange er dieser Verpflichtung nachkommen will.“ [101] Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges, als die katastrophale Versorgungslage die Unfähigkeit der Regierung in elementaren Basisbereichen verdeutlichte, hatte die regelmäßige und sichere Versorgung der Verbraucher Priorität vor unternehmerischer Selbstbestimmung oder dem Wunsch nach Freizeit. Es galt der Volksgemeinschaft bzw. dem leeren Abstraktum Deutschland Opfer zu bringen: „Dazu ist vor allem auch die innere Bereitschaft des Einzelhandels, sich seiner schwierigen und oft undankbaren Kriegsaufgabe mit Hingebung und Geduld zu widmen, ebenso notwendig wie Verständnis, Selbstbeherrschung und Selbsterziehung auf der Seite der Käufer. Diese mit dem Verzicht auf persönliche Wünsche, Gewohnheiten und Bequemlichkeiten verbundene Haltung und Unterordnung unter die Notwendigkeiten der Gesamtheit muß im Kriege auch von jedem Deutschen in der Heimat erwartet werden.“ [102]

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Notmaßnahme lustig aufbereitet: Verkauf im Betrieb (Arbeitertum 12, 1943, Folge 9, 12)

Der Konsum sollte eben nicht mehr als individueller Kaufakt verstanden werden, sondern als bewusstes Handeln im Dienst einer Volksgemeinschaft. Staatlicherseits galt es Käuferströme zu lenken und zu bestimmten Zeiten Verkaufsmöglichkeiten zu schaffen. Entsprechend versuchte man, die Mittagspausen von Käufern und Verkäufern zu koordinieren, beschränkte Betriebsferien und eigenmächtige Ladenschließungen. [103] Zugleich wurde die Entscheidung über den Ladenschluss dezentralisiert, um vor Ort flexibel agieren zu können. [104] Parallel dazu baute der NS-Staat systematisch die Handelsbereiche ab, die nicht der Grundversorgung dienten. Ladenschluss und Betriebsstillegungen dienten gleichermaßen dazu, Soldaten und Arbeiter für einen Vernichtungskrieg zu rekrutieren. Den verbleibenden Betrieben der Lebensmittels- und Bekleidungsbranche wurden dagegen ab 1943 – nicht zuletzt aufgrund der regelmäßigen Bombardierung fast aller deutschen Großstädte – deutlich längere und flexibel vor Ort festgelegte Öffnungszeiten angewiesen. [105]

Die Ladenschlussregelung verdeutlicht den funktionalen Stellenwert von Handel und Konsum. Die „schnelle und reibungslose Abwicklung des Warenverkaufs“ [106] war keine volkswirtschaftliche Aufgabe an sich, sondern Grundlage eines machtvollen und expansiven Reiches. Arbeitszeitverkürzungen waren erst nach dessen Sicherung denkbar. Die in den eigenständigen Maßnahmen des Handels und der Angestellten erkennbaren andersgearteten Zielsetzungen galten entsprechend wenig. Machterweiterung und Krieg waren die eigentlichen Ziele der führenden Instanzen, Konsum und Handel waren Teil eines umfassenden Kriegsdienstes. Damit allerdings sollten die Grundlagen späterer sozialpolitischer Erleichterungen für den „deutschen“ Kaufmann gelegt werden.

3.4 „Bewährungsprobe“ – Der Kriegsdienst des „deutschen“ Handels

Der Übergang von der „Wehrwirtschaft“ zur Kriegswirtschaft gelang 1939 ohne größere Probleme. Die Edeka etwa meldete: „Dank der eingehenden Aufklärungsarbeit und den umsichtigen Vorbereitungen in der Ausrichtung auf die Kriegswirtschaft standen die Genossenschaften bei Ausbruch des Kriegs wohl gerüstet den neuen Aufgaben gegenüber, so daß sich erfreulicherweise der Uebergang von der Friedenswirtschaft zur Kriegswirtschaft fast reibungslos und ohne große Umstellungen vollzogen hat.“[107] Schon vor dem deutschen Angriff auf Polen wurden ab dem 28. August 1939 umfassende Kundenlisten für die wichtigsten Lebensmittel erstellt [108], ab dem 25. September 1939 griff dann ein sorgfältig geplantes Rationierungssystem. [109] Die Arbeitsbelastung der Händler erhöhte sich dadurch erheblich, erreichte bei einem mittleren Lebensmittelgeschäft einen Mehraufwand von 32 bis 35 Stunden pro Woche. [110] Dennoch erfolgte der Übergang zur Rationierungswirtschaft vergleichsweise reibungslos, sieht man einmal von anfänglichen Versorgungsengpässen ab. [111] Die Rationierung konzentrierte sich auf den Grundbedarf, umgriff schnell das gesamte Lebensmittelsortiment, die Kleidung, Möbel und Einrichtungsgegenstände. Der gehobene Bedarf blieb anfangs frei, später unterlagen immer größere Konsumsegmente der direkten staatlichen Regulierung. [112]

22_Arbeitertum_14_1945_Folge01_p08_Tauschhandel

Persiflage auf den grassierenden Tauschhandel (Arbeitertum 14, 1945, Folge 1, 8)

Die Folge dieses Warenmangels war eine recht intensive Schattenwirtschaft. Viele Funktionsträger des Regimes nutzten ihre guten Kontakte zu Wirtschaft und Handel, um ihren Lebensstandard auch im Krieg zu halten. [113] Graue und schwarze Märkte – im kollektiven Gedächtnis meist der Nachkriegszeit zugeordnet – nahmen nun zu, nachdem es sie aufgrund von Produktionsbeschränkungen und staatlich festgelegten Preise schon während der 1930er Jahre vielfach gegeben hatte. [114] Angesichts der Warenbeschaffungsprobleme gewannen der Tauschhandel zwischen Händlern und die zu Beginn des Regimes systematisch bekämpften Koppelungskäufe schnell an Gewicht. Drakonische Strafen und eine eigens eingerichtete Ehrengerichtsbarkeit halfen kaum [115], zumal auch die Verbraucher ebenfalls immer häufiger Waren tauschten. Die Bäume und Mauern der Städte waren Ende 1942 trotz Verboten derartig mit Tauschzetteln beklebt, dass dies als Verschandelung gewertet wurde. [116] Lokal wurden daraufhin offizielle Gebrauchtwarentauschstellen eingerichtet, die teils von den Städten, teils von den Händlern selbst getragen wurden. Die begrenzte Legalisierung und Verstaatlichung des Tauschhandels löste das Problem der Schattenwirtschaft allerdings nicht, auch wenn die Propaganda die damit verbundene „Mobilisierung ungenutzter Werte“ [117] hervorhob. Gerade das „Hamstern“ vieler Privatpersonen, stärker aber noch des Handels selbst, blieb ein zentrales Problem der Heimatfront, lockten doch hohe Gewinne. [118] Allein die relative Effizienz der deutschen Grundversorgung und die zunehmend härtere Bestrafung bei Preisvergehen und Schwarzhandel hielten die Schattenwirtschaft während Krieges in Grenzen. [119]

Die wirtschaftliche Lage des Handels wurde zu Beginn des Kriegs allerdings kaum negativ beeinflusst. Der Wert der Umsätze sank zwischen 1939 und 1943 zwar um etwa 10 Prozent, doch muss bedacht werden, dass die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte als Folge der Einberufungen und der zunehmenden Zivilarbeitspflicht ebenfalls rasch sank. Die Produktivität des Handels stieg deutlich. An die Stelle der Versorgung der Privatbevölkerung trat in immer größerem Ausmaß die Versorgung auch der Wehrmacht, ziviler Behörden, Betriebe und Lager. Dieser begrenzte Funktionswandel verweist auf die dienende Rolle des deutschen Handels. [120] Bis Ende 1941 wurden etwa 60.000 Einzelhandelsbetriebe geschlossen, ungefähr ein Zehntel des Vorkriegsbestandes. [121] Obwohl wie im ersten Weltkrieg leistungsfähigere Betriebe bevorzugt beliefert wurden, nahm die durchschnittliche Betriebsgröße zunehmend ab, da die Zahl der Arbeitskräfte, zumal der männlichen und jüngeren, überproportional sank. 1944 dürfte nicht einmal die Hälfte der Zahl der Vorkriegsbeschäftigten im Einzelhandel erreicht worden sein. Entsprechend sanken tendenziell die Arbeitskosten, ebenso die Aufwendungen für Werbung, Beleuchtung und Zustellung. [122] Dennoch dienten die Schaufenster nach wie vor der Verbrauchslenkung und Propaganda, wurden die leerstehenden Geschäfte sogar von anderen Ladeninhabern mit dekoriert. [123] Erst 1943 wurde hier umgeschwenkt, stand nun doch die Lieferfähigkeit selbst im Vordergrund der Auslagen – und natürlich, zumal auf den Bretterverschlägen nach Bombenangriffen, Durchhaltepropaganda. [124] Angesichts der allgemeinen Versorgungslage konnte der Handel gerade ältere Ware bequem absetzen, galt der schnellstmögliche Lagerumschlag nicht mehr als Ziel, sondern die Beschaffung möglichst vieler Waren [125]: „Der Wettbewerb hat nicht aufgehört, er ist nur im wesentlichen auf die Seite der Beschaffung verschoben worden. Um die Abnehmer wird er heute nur noch insofern geführt, wie diese als Träger von Mengenbezugsrechten Kaufkraft auf ihre Lieferanten übertragen und die Wiederbeschaffung sichern können.“ [126]

Während des Krieges begann eine zunehmende innere Umgestaltung des Handels, die zuerst die Sortimente betraf. Durch die Verordnung vom 10. Januar 1940 konnte das Sortiment um neue Waren ergänzt werden, ohne dazu einer besonderen Genehmigung zu bedürfen. Diese Abkehr von den Grundprinzipen des Einzelhandelsschutzgesetzes zielte auf eine gesicherte Versorgung der Bevölkerung trotz einer schwindenden Zahl von Läden. Sie war aber auch nötig, da mit der Kriegswirtschaft die Zahl der Produkte insgesamt sank, parallel aber die Zahl neuartiger Ersatzprodukte, wie etwa Kaffeearomen, fettlose Waschmittel, künstliches Eiweiß, Milei oder Migetti schnell stieg. [127] Ab 1943 gewannen Kriegsverkaufsgemeinschaften an Gewicht, also die Zusammenlegung branchenmäßig verwandter Geschäfte. Durch Erlass vom 22. April 1943 geregelt, sollten so Fixkosten verringert und Raumprobleme gemeistert werden. [128] Parallel wurden Gruppenarbeitsgemeinschaften eingerichtet, um den Warenbezug zu vereinfachen. [129] Die vielfältigen Debatten über eine technische Rationalisierung des Handelsbetriebes, deren wichtigste Ergebnisse die Ratio-Läden bzw. Einmann-Selbstbedienungsläden waren, wurden auch im Krieg fortgesetzt. Im Februar 1942 stellte die Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel einen neuen Beispielladen vor, der Vorbild für die späteren Tempo- und Selbstbedienungsläden wurde. [130] Sein Betrieb war allerdings auf vorverpackte Ware zugeschnitten, angesichts mangelnden Verpackungsmaterials also nicht umsetzbar. [131] Die Priorität des Leistungsgedankens zeigt sich auch in Überlegungen, auf Grundprinzipien der 1932/1933 rigide bekämpften Einheitspreisgeschäfte zurückzugreifen. [132] Die Erweiterung der Sortimente und die Entwicklung neuer Geschäftstypen sollten die leistungsfähigen Kräfte bündeln, gaben aber auch ein Modell für den Handel nach dem „Endsieg“. [133]

23_Nordwest- und mitteldeutsche Baecker- und Konditorei-Zeitung_45_1943_Nr27_p3_Einzelhandel_Baeckerei_Brot_Bombenkrieg_Ausgebombte

Brotabgabe an Ausgebombte nach einem Bombenangriff aus einem beschädigten Bäckereiladen (Nordwest- und mitteldeutsche Bäcker- und Konditorei-Zeitung 45, 1943, Nr. 27, 3)

Die Lage des Handels verschärfte sich 1943 deutlich. Die „totale“ Kriegswirtschaft, die zunehmenden Luftangriffe [134], die neuerlichen Auskämmungen des Handels und die immer stärkere Heranziehung von Frauen in der Rüstungswirtschaft forderten Tribut, die Versorgung konnte aber durch immensen Arbeitseinsatz und immer wieder neue behelfsmäßige Lösungen noch bis Ende 1944 sichergestellt werden. [135] Im Februar 1943 begann die erste systematische Stilllegungsaktion, deren Ziel die „Freisetzung von Arbeitskräften für kriegswichtige Zwecke“, aber auch die „Optik des Krieges“ war. Auch die Heimatfront sollte den Ernst der Lage begreifen, sollte so zu intensiverer Arbeit angespornt werden. Gleichwohl blieb die Versorgung im Großdeutschen Reich privilegiert, vergleicht man sie mit der anderer Staaten der „Festung Europa“. Das war nur möglich durch die systematische Ausplünderung der besetzten Gebiete in West und vor allem Ost. Sie ergab Geld, Rohstoffe und Nahrungsmittel für die Deutschen, machte auch nicht Halt vor den Möbeln und dem Hausrat der Bewohner der eroberten Länder und der zur Tötung deportierten Juden. [136]

Von alledem profitierten sowohl die Verbraucher als auch der Handel. Und selbstverständlich erhielten die Händler als Ausgleich für Stilllegung und Rekrutierung Mietbeihilfen und einen gewissen finanziellen Ausgleich. [137] Gerade schmerzlicher Dienst für die Volksgemeinschaft sollte nicht umsonst sein, der „Handelskern“ [138] werde jedenfalls nach dem Krieg seinen Lohn erhalten. Der Kriegsdienst galt als „Leistungsprobe“ für den deutschen Kaufmann: „Gerechte Verteilung der Mangelware, weil der Kunde von heute, [sic!] der treueste in der besseren Zukunft sein kann. Das gute Schaufenster auch im Kriege, weil es den Willen zum ständigen Dienst am Kunden verrät. Die geordnete Buchführung gerade jetzt, weil sie zur Vertrauensgrundlage für schönere Aufgaben und Aufträge in der Zukunft wird. Der Wille zur Nachwuchserziehung – auch wenn um die jungen Menschen gekämpft werden muß – jetzt, weil er vom Glauben an die Sendung des Berufes zeugt. Der unzerbrechliche Frohsinn im täglichen Schaffen, gerade in harter Kriegszeit, weil anders der Mensch sich sinnlos verbraucht und dann um seinen Anteil an den Früchten des Sieges kommt.“ [139]

24_Kladderadatsch_95_1942_p265_Arbeitertum_11_1942_Folge11_p12_Einkaufen_Einzelhaendler_Kaeufer-Verkauefer_Verkaufsstaette_Hoeflichkeit

Höflichkeit als Tugend des Einzelhändlers (Kladderadatsch 95, 1942, 265 (l.); Arbeitertum 11, 1942, Folge 11, 12)

Das Zitat verweist auf weitere, auf „politische“ Aufgaben des Handels im Kriege. Es galt mehr zu tun als Waren zu verteilen. [140] Der Kaufmann war schließlich „Pionier der Heimatfront“ und hatte seinen „Teil zum Endsieg beizutragen“ [141]. Die politische Führung wies explizit daraufhin, „daß jedes deutsche Geschäft und jeder deutsche Laden heute eine politische Zelle sei, der in der Ausrichtung der Stimmung des gesamten Volkes eine entscheidende Rolle zufalle.“ [142] Als Herr über die tägliche Versorgung hatte der Kaufmann eine beträchtliche Machtposition über die qua Kundenliste an ihn gebundenen Konsumenten, konnte begünstigen und fördern oder aber dieses unterlassen. „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ begegnete er strikt, konnte dann auch aus der Haut fahren: „Diese Ladenekel tragen die Schuld, wenn manchem Kaufmann doch einmal die Geduld reißt, wenn er schließlich ihnen einmal so grob kommt, wie sie es verdient hätten, wie es aber nun einmal wegen des Ansehens der Kaufleute und ihrer Sonderrolle der Erhaltung guter Stimmung und der Beratung und Erziehung der Verbraucher wegen nicht angeht.“ [143] Der Kaufmann – tatsächlich wurde der Handel während der Kriegszeit vorrangig von Händlerinnen getragen – war zugleich ein Kulturträger Deutschlands. Noch 1943 wurde in Berlin die Gemäldeausstellung „Kaufmann am Werk“ gezeigt, in der abseits des mörderischen Tagesgeschäftes die Ideale und ethischen Werte des Handels künstlerischen Ausdruck fanden. [144]

25_Voelkischer Beobachter_1943_01_16_Nr016_p4_WKII_Einzelhandel_Lebensmittelversorgung_Sozialpolitik

Dienst in der Gegenwart, Lohn in der Zukunft (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 16 v. 16. Januar, 4)

All dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der „deutsche“ Kaufmann angesichts der wachsenden Kriegsprobleme an die Grenzen der Vermittlung kam. Auch er konnte die Propaganda nicht zur Realität umbiegen, auch er hatte schließlich trotz hoher Leistungsbereitschaft im Sinne des Regimes unter dessen Hybris und Niedergang zu leiden. Die Hoffnungen und Erwartungen, die noch 1940 und 1941 zu intensiven Diskussionen über die Rationalisierung für die folgende Friedenszeit geführt hatten, wurden nicht erfüllt. [145] Dies lag nicht allein am politisch-militärischen Gesamtrahmen. Dies war auch Konsequenz der bewussten Mitarbeit des „deutschen“ Handels im NS-Regime, an dessen Ende die volkswirtschaftliche Minimalaufgabe, die Grundversorgung der Bevölkerung, nicht mehr gewährleistet werden konnte, an dessen Ende die Verbraucher ihr Hab und Gut in Bombentrichtern und ausgebrannten Ruinen suchten, an dessen Ende die Versorgung der früheren Volksgemeinschaft nur durch die ehedem verteufelten alliierten Streitkräfte gesichert werden konnte.

4. Versorgung in der Volksgemeinschaft – Resümee einer Näherung

Die vier Fallbeispiele zeigen, dass zwischen den ideologischen Vorgaben und der realhistorischen Umsetzung jeweils eine deutliche Lücke klaffte. Die Ziele wurden praktisch nie erreicht, stets gab es Interessenkonflikte und strukturelle Probleme, die ihre Umsetzung erschwerten oder gar unmöglich machten. Die Händler suchten nach wie vor ihren eigenen Vorteil, ebenso die Konsumenten, die sich den strikten Vorgaben immer wieder entzogen, die an tradierten Konsummustern festhielten, im begrenzten Konsum gar Trost und Ausflucht suchten. [146]

Diese Bewertung griffe jedoch zu kurz. Sie unterschätzt die mittels der Ideologie in Gang gesetzte Dynamik, übersieht, dass deren Vorgaben nie vollständig umzusetzen waren. Die Idee des „deutschen“ Handels führte zu tiefgreifenden Veränderungen im Verständnis und in der Gestalt des deutschen Einzelhandels. Es war gerade die Diskrepanz zwischen dem Ideal und stets begrenzten Umsetzung, die – abseits ökonomischer Strukturprobleme – diese Veränderungen erst ermöglichte. Die Ziele mochten nicht erreicht, die Ideale nicht erfüllt werden, doch dies bedeutete nur ein weiteres, neuerlich intensives Streben nach Erfüllung und Zielerreichung. Das Ideal des „deutschen“ Handels wirkte; nicht allein Zwang und Mangel einer Alternative ließen einen zentralen Bereich moderner Wirtschaft die Fährnisse einer Politik ertragen, die Prioritäten abseits der Konsumgüterversorgung, abseits der ökonomischen Prosperität der Handels setzte. Die Kaufleute begnügten sich mit Wenigem, war dies doch mehr als zuvor, war doch zugleich die Aussicht auf späteren „Lohn“ gegeben. Die Verbindung von Nationalstolz, rassischer und fachlicher Überlegenheit, des langsam wachsenden Wohlstandes führten zu einer Dienstbereitschaft, die uns heute abstrus und verachtenswürdig erscheinen mag, die aber gleichwohl historische Realität war.

Bis zur totalen Niederlage 1945 garantierte der „deutsche“ Handel die Versorgung in der Volksgemeinschaft. Und auch danach wurden die Dienste des Handels gebraucht. Denn wenn auch graue und schwarze Märkte weiterbestanden, Tauschhandel und Hamstern auf dem Lande zum Leben vielfach üblich wurden [147], so konnte doch auf den Handel und seine Leistungen nicht verzichtet werden – auch wenn sich schon bald zeigen sollte, dass der selbständige Einzelhändler der Wirtschaftswunderzeit ein Auslaufmodell sein sollte.

Uwe Spiekermann, 25. Mai 2021

Anmerkungen, Literatur- und Quellenbelege

[1] Vgl. Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie und Politik 1933-1945, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1988.
[2] Vgl. etwa Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, 591-609.
[3] Ian Kershaw, Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000, 10.
[4] Dr. Hayler im Westdeutschen Rundfunk über „Altes und neues Wirtschaftsdenken“, Edeka Deutsche Handels-Rundschau (= DHR) 17, 1934, 125-126.
[5] Beim Folgenden handelt es sich um eine Weiterentwicklung von Gedanken, die ich in Uwe Spiekermann, Rationalisierung, Leistungssteigerung und „Gesundung“: Der Handel in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000, 191-210, insb. 203-209 dargelegt habe. Dort auch mehr zu den hier nicht eigens thematisierten konkurrierenden Großbetriebsformen.
[6] Appell an den Handel. Kundgebung des Reichsführers des Handels, Edeka DHR 27, 1934, 193-194, hier 193.
[7] Differenzierung tut Not, denn das Modernisierungspotenzial des mittelständischen Einzelhandels war während der Endphase des Kaiserreichs als auch in den späten 1920er Jahren beträchtlich. Die Weltwirtschaftskrise führte jedoch zu einer Verfestigung der alten Frontlinien, insbesondere zu einer Erneuerung vielfältiger Verbots- und Sonderbelastungsforderungen, zu einer Staatsorientierung also, die nach der Jahrhundertwende an Gewicht verloren hatte. Vgl. hierzu Uwe Spiekermann. Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im späten Kaiserreich, Frankfurt et al. 1994, insb. 160-167; Ders., Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 416-442.
[8] Josef Wilden, Der Einzelhandel in Staat und Wirtschaft, in: Franz Effer (Hg.), Der Deutsche Einzelhandel in Staat und Wirtschaft, Düsseldorf 1926, 40-45, hier 44. Als Beispiel für die Hoffnungen auf eine ständische Wirtschaftsordnung s. Tag des Deutschen Handels. 18.-19. November 1933. Braunschweig. Sonderheft des Rekofei Berlin, s.l. s.a. (Berlin 1933).
[9] Zu den verschiedenen staatlichen Maßnahmen und Gesetzen vgl. Adelheid v. Saldern, Mittelstand im „Dritten Reich“. Handwerker – Einzelhändler – Bauern, Frankfurt a.M. und New York 1979.
[10] Hierzu Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-128, insb. 83-91.
[11] Vgl. Abwehr des Einzelhandels gegen die „Direkt“-Läden, Deutsche Handels-Warte (= DHW) 19, 1931, 473; Erster Rückzug aus dem Direktverkauf, DHW 19, 1931, 521.
[12] Vgl. schon Wilhelm Hermann, Die Rationalisierung im Lebensmittelhandel, in: Die Bedeutung der Rationalisierung für das Deutsche Wirtschaftsleben, hg. v.d. IHK zu Berlin, Berlin 1928, 359-410, hier 363.
[13] Georg Bergler, Absatzmethoden des Einzelhandels von vorgestern, gestern und heu¬te, DHW 22, 1934, 102-106, 129-133, insb. 132.
[14] Näheres enthalten J[akob] v. Norden, Gesamtverband des deutschen Einzelhandels (G.D.E.), DHW 22, 1934, 512-516; Uffhausen, Der Stand des organisatorischen Aufbaus im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 241-243. Parallel ist an die sozialpolitische Integration des Handels in die Deutsche Arbeitsfront bzw. branchenspezifisch in den Reichsnährstand zu denken.
[15] Walter Rafelsberger, „Leistungswettbewerb und Selbsthilfegedanke“, DHR 32, 1939, 482.
[16] Zitate nach [Heinrich] Hunke, Der Wettbewerb in der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung, DHR 31, 1938, Sdrh., 57.
[17] Vgl. [Werner] D[eiters], Händler oder Verteiler?, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 749-750. Auch andere Begriffe durchliefen diese sprachreinigende Moralisierung, so etwa Kleinpreisgeschäft und Einheitspreisgeschäft oder aber Kaufhaus und Warenhaus (Warenhaus = Kaufhaus? Gegen Verfälschung von Firmenbezeichnungen, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 720-721).
[18] Kaufmann – nicht Händler!, DHW 23, 1935, 26.
[19] Vgl. Peter Planz, Sachkunde im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 215-221; Hermann Gretsch und Gotthold Sieber, Schulung der Verkaufskräfte, ebd., 496-503; Hövische, Richtlinien für die Ausbildung von Verkaufslehrlingen im Einzelhandel, ebd., 619-624; H. Lübbemeyer, Die Kaufmannsprüfungen im Einzelhandel, DHR 28, 1935, 699-700.
[20] Vgl. Mindestanforderungen zur Buchführungspflicht. Richtlinien für die Praxis, DHR 31, 1938, 825-826. Dies bedeutete die Einführung eines Wareneingangsbuchs, eines Geschäftstagebuchs, eines täglichen Kassenberichts, eines Geschäftsfreundebuchs, einer jährlichen Inventur und eines Jahresabschlusses.
[21] Vgl. Verordnung über die äußeren Kennzeichnungen von Lebensmittel (Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung) vom 8. Mai 1935, DHR 28, 1935, 522, 524.
[22] Auch hier wurde an weit zurückreichende Vorbilder angeknüpft, vgl. etwa Heinrich Grünfeld, Die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels als Berufs- und Wirtschaftsvertretung, in: Effer (Hg.), 1926, 20-29, hier 28.
[23] Vgl. hierzu den Beitrag von Paul Hilland (HDE), in: Die Aufgaben des Jahres 1934 für den deutschen Einzelhandel, DHW 22, 1934, 1-9, hier 1.
[24] Die Auswirkungen schildert am Beispiel Wuppertals Georg Scherer, Auswirkungen der neuen Erlaubnispflicht für den Straßen- und Hausierhandel, DHW 23, 1935, 405-410.
[25] Walfried Mayer, Die Persönlichkeit des Unternehmers bestimmt den Wirtschaftserfolg, DHR 34, 1941, 345-346, hier 346.
[26] Dieser Terminus wurde 1933/34 besonders häufig verwandt, vgl. etwa Dr. Hayler im Westdeutschen Rundfunk über „Altes und neues Wirtschaftsdenken“, Edeka DHR 17, 1934, 125-126, hier 126.
[27] E. Heinig, Um die Berufsbereinigung, DHR 32, 1939, 20.
[28] Karl Arnhold, Umrisse einer deutschen Betriebslehre, Leipzig 1936, 31.
[29] Vgl. Albert Werner, Soldaten der Selbsthilfe. Silvesterbetrachtung, DHR 28, 1935, 1335-1336.
[30] Lebensziel und Lebensinhalt, DHR 28, 1935, 370.
[31] Walfried Mayer, Die Frau hinter dem Ladentisch, DHR 32, 1939, 101-102.
[32] Ders., Die Berufstätigkeit der Frau im Einzelhandel, DHR 28, 1935, 304.
[33] Probleme des Einzelhandels, DHR 31, 1938, 842.
[34] Die Hausfrau ist richtungsgebend, Edeka DHR 27, 1934, 856.
[35] Der neuzeitliche Kolonialwarenladen, DHR 32, 1939, 172. Vgl. auch Franz Hayler, Schönheit der Arbeit im Einzelhandel! Ein Aufruf des Leiters der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, DHW 23, 1935, 25-26; Karl Völker, Einige Anregungen zur Gestaltung der Verteilungsstelle, Die Rundschau 36, 1939, 462-464.
[36] Vgl. etwa Das vorbildliche Einzelhandelsgeschäft, DHR 32, 1939, 310.
[37] Detaillierte Informationen enthalten Betriebsstruktur und Besteuerung im Einzelhandel und im Handwerk. Eine Sammlung von Richtzahlen, T. I: Einzelhandel, Berlin 1935; Umsatz, Betriebsausgaben und Gewinn im Einzelhandel mit Nahrungs- und Genußmitteln, Wirtschaft und Statistik 17, 1937, 441-442; Betriebsstruktur und Kostengestaltung in wichtigen Gewerbezweigen. Eine Sammlung von Richtzahlen. T. II: Einzelhandel, Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, Berlin 1940. Sie zeigen, dass die Wirtschaftserholung vor allem den mittleren und größeren Geschäften zugutekam, kaum aber den kleinen Betrieben mit unter 20.000 RM Jahresumsatz.
[38] Vgl. hierzu detailliert Ulrich Kurzer, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaften. Gleichschaltung, Sanierung und Teilliquidation zwischen 1933 und 1936, Pfaffenweiler 1997.
[39] Die Judenfrage im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 713-714.
[40] Vgl. Eva Stille, Vertreibung der Frankfurter Juden aus der Bekleidungswirtschaft, in: Almut Junker (Hg.), Frankfurt Macht Mode 1933-1945, Marburg 1999, 83-107.
[41] Vgl. etwa die Unterlagen zur rechtswidrigen Verweigerung von Wandergewerbescheinen an jüdische Händler, Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 430, Dez. 301, acc. 15 A/65, Nr. 5, Bd. 1.
[42] Beseitigung der Uebersetzung im Einzelhandel, DHR 32, 1939, 223. Demnach war die Geschäftsschließung rechtens, wenn der Betriebsinhaber in den letzten zwei Jahren Wohlfahrts- oder Arbeitslosenunterstützung bezogen hatte, wenn er ohne Gefährdung des Unternehmens seinen steuerlichen Verpflichtungen der Gefolgschaft gegenüber nicht nachkommen konnte oder von der Steuer freigestellt war. Vgl. auch Lucas, Die „Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel“ durch die Verordnung im Einzelhandel vom 16. März 1939, DHR 32, 1939, 312-313, 332.
[43] Näheres enthält Carl Lüer, Das Problem der Übersetzung im Handel, Der Vierjahresplan 1, 1937, 581-583.
[44] Übersicht über die Betriebsverhältnisse und über die soziale Struktur des deutschen Einzelhandels. Tabellenmaterial einer Erhebung der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel vom Jahre 1938, Berlin 1943 (Ms.).
[45] Betriebsstruktur, 1940. Zum allgemeinen Hintergrund, der effizienten Nutzung moderner Wirtschafts- und Gesellschaftsstatistik im Nationalsozialismus, vgl. Götz Aly und Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2000.
[46] Vgl. Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, insb. 137-142.
[47] Vgl. Hartmut Berghoff, Von der »Reklame« zur Verbrauchslenkung. Werbung im nationalsozialistischen Deutschland, in: Ders. (Hg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, 77-112, insb. 78-89.
[48] 1929 lagen die Werbeausgaben des Einzelhandels bei geschätzten 543 Mio. RM, die der Industrie dagegen bei 350 Mio. RM (Gesamtausgaben ca. 1 Mrd. RM) (Viktor Mataja, Die Bedeutung der Reklame, Magazin der Wirtschaft 5, 1929, 1241-1244, hier 1241).
[49] Ein (mit allen Einschränkungen) praktiziertes Gegenmodell fand sich bei den Konsumgenossenschaften, vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 150-189.
[50] Vgl. etwa Hans Culemann, Die Auswirkungen des neuen Werbegesetzes für den mittelständischen Fachkaufmann, DHW 21, 1933, 622-625. Zur NS-Auffassung von Werbung s. Emil Maurer, Die volks- und betriebswirtschaftliche Bedeutung der Wirtschaftswerbung, Berlin 1939.
[51] Vgl. etwa Köpke, Die Voraussetzungen für die Werbung, Edeka DHR 28, 1934, 117-118.
[52] Zu den schon seit den späten 1920er Jahren einsetzenden „Deutschen Wochen“ vgl. etwa W[ilhelm] Seedorf, Das landwirtschaftliche Marktwesen und die D.L.G., Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 47, 1932, 75-76; K[urt] Kräutle, Landwirtschaftliche Absatzförderung, ebd., 762-764. Beispiel für eine gesonderte Kampagne ist etwa Werbewoche „der deutsche Apfel“, Edeka DHR 27, 1934, 895.
[53] Aufruf: Dr. Goebbels ruft zum 1. Mai, Edeka DHR 27, 1934, 246.
[54] Vgl. etwa F.W. Schulze, Bericht der Edeka Reklame- und Verkaufsabteilung, der Abteilung für Konsumentendienst und Warenkunde, Edeka DHR 27, 1934, Sonderheft, 38-40, hier 39; Ders., Bericht der Edeka Reklame- und Verkaufsabteilung, der Abteilung für Konsumentendienst und Warenkunde, in: Bericht über den 28. Edeka Verbandstag 1935 in Aachen, s.l. s.a. (Berlin 1935), 170-175, hier 172.
[55] Am 1. Mai alle Fenster schmücken!, DHR 30, 1937, 383.
[56] Richtlinien der Reichspropagandaleitung, Edeka DHR 28, 1935, 946; Würdig ausgeschmückte Schaufenster zum Erntedankfest 1936, DHR 29, 1936, 870; Schaufensterschmuck zum Erntedankfest!, DHR 31, 1938, 792.
[57] Alle Schaufenster zum Erntedankfest schmücken, Edeka DHR 28, 1935, 945-946, hier 945.
[58] Walfried Mayer, Unser Erntedank!, DHR 29, 1936, 805-806, hier 805.
[59] Vgl. etwa Helmut Götzelt, Erntedanktag!, DHR 30, 1937, 833.
[60] Vgl. allgemein Wolfgang Heidel, Ernährungswirtschaft und Verbrauchslenkung im Dritten Reich 1936-1939, Phil. Diss. Berlin 1989 (Ms.). Zur Entwicklung der Ernährungswissenschaft im Dritten Reich vgl. Uwe Spiekermann, Pfade in die Zukunft? Entwicklungslinien der Ernährungswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gesa U. Schönberger und ders. (Hg.), Die Zukunft der Ernährungswissenschaft, Berlin, Heidelberg und New York 2000, 23-46.
[61] Vgl. beispielhaft Max Winckel, Die Ernährungsfrage im neuen Deutschland, Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 8, 1933, 197-199; Werner Kollath, Vernünftige Ernährung und ihre Propaganda in der Schule, Gesundheit und Erziehung 48, 1935, 292-295. Zur Vermittlung regimegemäßer Ernährungsratschläge an Mittlerpersonen vgl. Dirk Reinhardt und Uwe Spiekermann, Die „Zeitschrift für Volksernährung“ 1925-1939. Geschichte und bibliographische Erschließung, in: Andreas A. Bodenstedt et al., Materialien zur Ermittlung von Ernährungsverhalten, Karlsruhe 1997, 74-186, insb. 80-83.
[62] Vgl. Fritz Lieberich, Die Absatzwerbung für den deutschen Seefisch, Wiwi. Diss. München 1943, 55-56.
[63] Zum Hintergrund s. Uwe Spiekermann, Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Industrie und Haushalt 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, hg. v. KATALYSE e.V. und BUNTSTIFT e.V., Köln 1997, 30-42, insb. 32-35.
[64] Hering wurde vor allem zwischen August und Oktober angelandet, während die anderen Fischsorten zwischen Januar und April weit überdurchschnittlich verfügbar waren. Vgl. Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 28-29.
[65] Vgl. Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, 247-282, hier 251.
[66] Irmgard Voß, Wandlungen im Fischkonsum Deutschlands in der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung des Seefischkonsums, Wiwi. Diss. Nürnberg, Wesermünde 1939, 52 gab den Pro-Kopf-Verbrauch 1930 mit 5,0 kg aus deutscher und 4,6 kg aus ausländischer Produktion an. Die Werte betrugen 1933 dann 5,7 resp. 3,2 kg.
[67] Vgl. etwa O[tto] Br[enning], Propagierung der Fischnahrung im Rahmen der deutschen Erzeugungsschlacht, Norddeutsche Fischerei-Zeitung 27, 1935, 123-124.
[68] Hans Gloy, Die deutsche Fischwirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 314-315, hier 314.
[69] Anfang 1934 wurde die „Wirtschaftliche Vereinigung der deutschen Fischwirtschaft“ gegründet, der am 1. April 1935 die „Hauptvereinigung der deutschen Fischwirtschaft“ folgte (Neue Marktordnungen. Für die Fischwirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 398-399). Der werbetreibende Reichsseefischausschuss wurde Ende 1937 durch die Reichsfischwerbung ersetzt, die strikt absatzbezogen agierte (Fritz Reichardt, Die Fischwirtschaft im Vierjahresplan, Braune Wirtschafts-Post 7, 1938, 509-511, hier 510). Zur veränderten ernährungspolitischen Lage s. Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung. Eine Darstellung der ernährungswirtschaftlichen und ernährungswissenschaftlichen Aufgaben unserer Zeit, Dresden und Leipzig 1936, 99-113.
[70] Ziel war ein reichsweiter Pro-Kopf-Konsum von 20 kg pro Jahr (Fortschritte im Fischeinzelhandel, Ruhr und Rhein 20, 1939, 262).
[71] Vgl. etwa Reichert-Facilides, Seefische im Lebensmittelgeschäft?, DHR 28, 1935, 1183-1184; Otto Brenning, Grundregeln für das Fischgeschäft, DHR 28, 1935, 1185-1186; Walter Rosenhain, Lebendige Werbung, DHR 28, 1935, 1192-1193.
[72] Förderung des Seefischabsatzes durch Fischtage, DHR 29, 1936, 179-180.
[73] Vgl. Fischfang tut not, DHR 29, 1936. Die Slogans, die dem Ziel eines nun täglichen Fischverzehrs jedes Deutschen dienen sollten, lauteten etwa: „Mit Fischerzeugnissen können wir unseren Fleisch- und Eiweißbedarf durch inländische Produktion weitgehend befriedigen. Fischkonserven sind gesund, preiswert und wohlschmeckend. Fischkonserven sind tafelfertig. Jeder ißt sie gern infolge ihres pikanten Geschmacks. Fisch ist nahrhaft“ (Ebd.).
[74] [Otto] Brenning, Wie betreibt man den Verkauf frischer Seefische!, DHR 29, 1935, 1092-1093, hier 1092.
[75] Vgl. Franz Hayler, Kaufleute des deutschen Einzelhandels!, DHR 29, 1936, 1211.
[76] F[ranz] Marlow, Der Seefisch und der zubereitete Fisch in der Volksernährung und Volkswirtschaft, Norddeutsche Fischerei-Zeitung 28, 1936, 93-96, hier 95.
[77] Otto Ilchmann, Pflegt das Frischfisch-Geschäft, DHR 30, 1937, 27. Vgl. auch [Franz] Hayler, Frische Fische – gute Fische, Rundschau des Reichsbundes der deutschen Verbrauchergenossenschaften 34, 1937, 473-474.
[78] Neue Wege der Absatzförderung im Fischhandel, DHR 30, 1937, 357.
[79] Seefische und Fisch-Räucherwaren auf Verbilligungsscheine, DHR 30, 1937, 790.
[80] Kritisch hierzu: Hinzunahme von Fisch jetzt genehmigungspflichtig, DHR 31, 1938, 440. Vgl. schon zuvor Genehmigungspflicht für Fische, DHR 30, 1937, 992-993 bzw. Mindestanforderungen für den Fischverkauf, Die Rundschau 35, 1938, 249-250.
[81] Ein Vorbild war dabei sicherlich die „Nordsee“, der größte Fachfilialist im Deutschen Reich. Vgl. Voß, 1939, 60-63.
[82] Heinz Dietmar Petzina, Der nationalsozialistische Vierjahresplan von 1936. Entstehung, Verlauf, Wirkungen, Wiwi. Diss. Mannheim 1965, 230.
[83] Vgl. Hans Mosolff, Steigerung der deutschen Seefischversorgung und ihre Grundlagen, Die Deutsche Volkswirtschaft 6, 1937, 1051-1056, 1087-1089; Ders. (Hg.): Aufbau der deutschen Gefrierindustrie. Handbuch der Tiefkühlwirtschaft, Hamburg 1941.
[84] Vgl. etwa Planvolle Verbrauchslenkung schafft volkswirtschaftliche Werte!, Die Genossenschaftsfamilie 31, 1938, Nr. 5, 13; Das Meer, die freie Kolonie Deutschlands!, ebd. 32, 1939, Nr. 3, 15.
[85] Daten nach D[ieter] Grupe, Die Nahrungsmittelversorgung Deutschlands seit 1925. Eine Auswertung der einschlägigen Statistiken zu vergleichbaren Versorgungsbilanzen. Teil B: Schaubilder und Tabellen, Hannover 1957, 74-75; Spiekermann, 1997, 252.
[86] Vgl. Deutschlands wirtschaftliche Lage in der Jahresmitte 1939. Überreicht von der Reichs-Kredit-Gesellschaft Aktiengesellschaft Berlin, o.O. o.J. (1939) (Ms.), 16.
[87] Der deutsche Einzelhandel in der Kriegszeit. Aus dem Arbeitsbericht der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel für 1939/1941, DHR 35, 1942, 25-26, hier 25.
[88] Beide Zitate n. Vorwort der Schriftleitung in G. v. Hake, Ladenzeiten um Deutschland herum, Edeka. DHR 27, 1934, 569-570, hier 569.
[89] Vgl. etwa das Gedicht „Die Einkaufminute“ (Kladderadatsch 1934, Nr. 35 v. 26.08.), Edeka DHR 27, 1934, 588.
[90] Vgl. F. v. Poll, Anmerkungen zum neuen Automatengesetz, Soziale Praxis 43, 1934, Sp. 1200-1203; Elis-M. Puritz, Was wir Hausfrauen vom Automaten halten, Der Automat 8, 1934, 315-317.
[91] Demnach konnte – unter Beachtung der sonstigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen – an 20 Tagen pro Jahr der werktägliche Ladenschluss bis 21 Uhr ausgedehnt werden, während die morgendlichen Öffnungszeiten des Lebensmittelhandels vor Ort auf 5 Uhr vorverlegt werden durften.
[92] Hanns Stürmer, Sonnabend-Frühschluß im Einzelhandel, DHW 25, 1937, 183-184, hier 183.
[93] Sonnabend-Frühschluß ein vordringliches Problem, DHW 25, 1937, 203; Dr. Schacht zum Sonn-abend-Frühschluß, DHW 25, 1937, 219. Ein Resultat derartiger Arbeit war die „Feierabendschallplatte“ der DAF, mit der die Verbraucher um 18.45 Uhr zum Verlassen des Geschäftes aufgefordert wurden (Die Geschäftszeit ist beendet! Schallplatte der DAF. mahnt die Käufer, DHR 31, 1938, 707).
[94] Vgl. G. v. Hake, Die Neufassung der Arbeitszeitordnung, DHW 26, 1938, 282-284; Ders., Was bringt die Neufassung der Arbeitszeitordnung, DHR 31, 1938, 413.
[95] Vgl. hierzu etwa Zur Frage des Mittagsladenschlusses im Einzelhandel, DHR 32, 1939, 146; Einzelhandel und Mittags-Ladenschluß, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 51, 1939, 250; Kein Mittagsladenschluß, Die Rundschau 36, 1939, 258; E.M. Waldenburg, Urlaubsvertretung für den Einzelhändler, DHR 31, 1938, 96; Th. Klockemeyer, Mittags- und Freizeit für den Einzelhändler, DHR 31, 1938, 212.
[96] Vgl. etwa Sechsuhrladenschluß in Güstrow im Sommer, Die Rundschau 35, 1938, 426.
[97] Die Anordnung des Reichswirtschaftsministers zur Verhinderung von Ladenzeitverkürzungen. Vom 31. Mai 1939, Mehl und Brot 39, 1939, 384. Vgl. auch Nähere Anweisungen zur Verhinderung der Ladenzeitverkürzungen, Mehl und Brot 39, 1939, 400; Ladenzeiten ohne Verkürzung, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1665-1666.
[98] Vgl. Die Geschäftszeit an Verkaufssonntagen, DHR 31, 1938, 1008; Erlass des Reichsarbeitsministers v. 02.07.1938 (Reichsarbeitsblatt 1938, T. I, I240) über den Ladenschluss in ländlichen Gebieten. Zur Ausgestaltung vgl. [Erlass] Betr.: Ladenschluß in ländlichen Gebieten, Reichsarbeitsblatt 1939, T. I, I109-I110; Ladenschluß in ländlichen Gemeinden, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoreien 51, 1939, 174; Der Ladenschluß in ländlichen Gebieten, DHR 31, 1938, 630. 1941 wird die Grenze auf 22 Uhr erhöht ([Erlass] Betr. Ladenschluß in ländlichen Gebieten, Reicharbeitsblatt 1941, T. I, I267).
[99] Vgl. Die Geschäftszeit, 1938.
[100] Verordnung über den Ladenschluß. Vom 21. Dezember 1939 (RGBl. I, S. 2471), Der Vierjahresplan 4, 1940, 68.
[101] G. v. Hake, Das neue Ladenzeit-Recht / Offenhaltungspflicht der Einzelhandelsgeschäfte, DHR 33, 1940, 14.
[102] Deutschbein, Neuregelung des Ladenschlusses, Reichsarbeitsblatt 1940, T. V, V11-V14.
[103] Vgl. F.H. Schmidt, Die Ladenschlußregelung während der Sommerzeit, Reichsarbeitsblatt 1940, T. V, V166-V167; Einheitliche Ladenzeiten, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 506; Ladenschluß, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V557; Keine Schließungen von Lebensmittelgeschäften in der Weihnachtszeit, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V641.
[104] Vgl. Optimale Ausnutzung im Einzelhandel, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 927-928; Schulte-Overberg, Drei Jahre Ladenschlußverordnung, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V654-658.
[105] Vgl. Der Ladenschluß, Mehl und Brot 43, 1943, 237.
[106] Schmidt, 1940, V167.
[107] Paul König, Rückblick und Ausblick. Zum Geschäftsbericht der Edekazentralorganisationen über das Geschäftsjahr 1940, DHR 34, 1941, 211-213.
[108] Für viele Produkte wurden schon früher (Stammkunden-)Listen angelegt, für Kaffee etwa im Februar 1939, vgl. Amtliche Richtlinien für den Kaffeehandel, DHR 32, 1939, 152.
[109] Das Wichtigste über die Neuregelung, DHR 32, 1939, 698-701. Vgl. auch Karl Völker, Die wehrpolitische Haltung des Verbrauchers und der Verbrauchergenossenschaft, Die Rundschau 36, 1939, 397-401.
[110] Angabe n. Paul König, Zum neuen Jahre!, DHR 33, 1940, 561-562, hier 561.
[111] Vgl. hierzu [Hans] Geithe, Die Edeka-Genossenschaften in der Kriegswirtschaft, DHR 32, 1939, 745-746
[112] Vgl. hierzu etwa Hubert Schmitz, Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939-1950. Dargestellt an dem Beispiel der Stadt Essen, hg. v.d. Stadtverwaltung Essen, Essen 1956; Gustavo Corni und Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997.
[113] Ein gutes Beispiel hierfür bietet Lothar Gruchmann, Korruption im Dritten Reich. Die „Lebensmittelversorgung“ der NS-Führerschaft, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42, 1994, 571-593.
[114] Vgl. hierzu Rüdiger Hachtmann, Lebenshaltungskosten und Reallöhne während des „Dritten Reiches“, Vierteljahrsschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 75, 1988, 32-73, hier 57 sowie als Beispiel für den Autohandel Ausschaltung des Schwarzhandels, DHR 32, 1939, 644.
[115] Ehrenrühriger Tauschhandel, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 526-527. Vgl. auch Bekämpfung des Tauschhandels, DHR 35, 1942, 6; Pflichtbewußter Handel, DHR 35, 1942, 30-31.
[116] Gebrauchtwarentauschstellen, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 668.
[117] Tauschstellen des Handels, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 1054-1055. Vgl. auch Errichtung von Tauschzentralen, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 857-858.
[118] Vgl. etwa die Glosse Blick in den Keller, Frankfurter Zeitung 87, 1943, Nr. 385/386 v. 31.07., 3. Als konkretes Beispiel vgl. den Fall eines Schuhwarengeschäftes im Landkreis Bersenbrück, dessen Bearbeitung sich über mehr als ein halbes Jahr hinzog, da die beschlagnahmten Güter von lokalen Handlungsträgern eigenmächtig weiterverteilt wurden (Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 430, Dez. 106, acc. 15/65, Nr. 319, Bd. 1 und Bd. 2).
[119] Vgl. etwa Die neue Verbrauchsregelungs-Strafverordnung, DHR 35, 1942, 34-35, durch die diejenigen mit Gefängnis und Geldstrafe bedroht wurden, die Waren ohne Berechtigung ausgaben bzw. die „Versorgungsberechtigten“ Waren vorenthielten.
[120] „Im ganzen wurde der Handel in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 als unmittelbarer Lieferer für Behörden und Wehrmachtsstellen, als Produktionsverbindungshandel für Betriebe der Industrie und als Versorger der Bevölkerung in die Tiefe der Rüstungswirtschaft eingeschaltet“ (Joachim Tiburtius, Lage und Leistungen des deutschen Handels in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Berlin und München 1949, 47).
[121] Angabe n. Ders., Die Handelsleistung unter staatlichen und korporativen Einwirkungen, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 65, 1942, 559-598, hier 561.
[122] So Robert Nieschlag, Der Weg des deutschen Binnenhandels. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Europa-Archiv 2, 1947, 811-817, hier 815.
[123] Vgl. etwa Das aktuelle Schaufenster, DHR 33, 1940, 202; Dass., ebd., 222 sowie Leere Schaufenster dienen wieder der Werbung, DHR 33, 1940, 401.
[124] Vgl. Die Ware im Fenster, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 587.
[125] Gleichwohl stieg der Lagerumschlag von 1939 auf 1940 teils erheblich (Ausnahme Möbelhandel), insbesondere der Lebensmittel- und Tabakwarenhandel wiesen deutlich bessere Margen auf (s. Tiburtius, 1949, 135).
[126] Joachim Tiburtius, Wettbewerb und Initiative des Handels im Kriege, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 1443-1446, hier 1443.
[127] Vgl. hierzu Bericht der Edekazentrale e.G.m.b.H., DHR 34, 1941, 223-228, hier 223-224.
[128] Vgl. Kriegsverkaufsgemeinschaften, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 259; Erleichterte Verkaufsgemeinschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 412-413.
[129] Bildung von Gruppenarbeitsgemeinschaften im Handel, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 471-472.
[130] Vgl. Betriebsvereinfachung im Lebensmitteleinzelhandel, DHR 35, 1942, 44; F.W. Schulze, Eine Gegenwartsaufgabe 35, 1942, 57-58; Arbeitssparender Verkauf, Frankfurter Zeitung 86, 1942, Nr. 104/105 v. 26.02., 3.
[131] Für die Diskussion kann stehen Werner Johann, Mehl lose oder verpackt, DHR 35, 1942, 77.
[132] Vgl. Einheitspreis als Rationalisierungsfaktor, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 1124-1125, hier 1125.
[133] Vgl. etwa Die Umstellung im Einzelhandel, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 642-643.
[134] Zu den präzisen Vorgaben vgl. Einsatz des Handels im Luftkrieg, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 795-796.
[135] Vgl. Ulrich Kluge, Kriegs- und Mangelernährung im Nationalsozialismus, Beiträge zur historischen Sozialkunde 15, 1985, 67-73.
[136] Vgl. hierzu beispielhaft die Studien von Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, 2. Aufl., Hamburg 1999, insb. 231-371 bzw. Wolfgang Dreßen, Betrifft: »Aktion 3«. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998, 45-61; Martina Krause und Michael Gander, „Arisierung“ des jüdischen Handels und Handel mit jüdischem Besitz im Regierungsbezirk Osnabrück, in: Haverkamp und Teuteberg (Hg.), 2000, 227-243, insb. 237-243.
[137] Vgl. Die Unterstützung der „Stillgelegten“, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 643; Mietbeihilfen für gewerbliche Räume des Handels, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 686-688.
[138] Konzentration im Handel, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 893-894, hier 894.
[139] Otto Friedrich, Im Glauben an Deutschland!, DHR 35, 1942, 17.
[140] So etwa Hartmut Fackler, Gleichgeschaltet – der Handel im Dritten Reich, in: Haverkamp und Teuteberg (Hg.), 2000, 245-255, hier 252-253.
[141] Die Bewirtschaftung – Rückblick und Ausblick!, DHR 33, 1940, 383.
[142] Der Kriegsbeitrag des Einzelhandels, DHR 32, 1939, 737.
[143] Die Waffe Humor, DHR 34, 1941, 8.
[144] Kaufmannskultur im Kriege, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 896.
[145] Vgl. etwa Edeka-Ausstattungsdienst. Ziel: Jedes Edeka-Geschäft ein Musterladen!, DHR 34, 1941, 113-114; W. Müller, Der Edeka-Ausstattungsdienst und die Kriegswirtschaft, DHR 33, 1940, 61-62. An diese Überlegungen wurde in der Nachkriegszeit unmittelbar angeknüpft.
[146] Vgl. etwa Alf Lüdtke, Feingebäck und Heißhunger auf Backwaren. Bemerkungen zum süßen Geschmack im Faschismus, in: Zuckerhistorische Beiträge aus der alten und neuen Welt, Berlin (W) 1988, 399-426
[147] Zur Übergangsphase vgl. Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943-1953, Stuttgart 1990, 23-63. Es ist bemerkenswert, dass die Versorgungsprobleme der unmittelbaren Nachkriegszeit in einer kaum zu überblickenden Zahl vor allem regionaler und lokaler Studien behandelt wurden, dass demgegenüber die Versorgung und der Konsum während der NS-Zeit, auch während des Krieges, nur vergleichsweise geringe Beachtung gefunden haben.

Dieser Beitrag ist die leicht überarbeitete und mit weiteren Abbildungen versehene Fassung eines Manuskriptes, das 2004 unter dem Titel „L’approvisionnement dans la Communauté du peuple. Approches du commerce «allemand» pendant la période nationale-socialiste“ in der Zeitschrift Le Mouvement Social (Bd. 206, 79-114) in französischer Sprache veröffentlicht wurde. Eine deutsche Fassung dürfte hierzulande gewiss passgenauer sein. Auf eine Ergänzung der neuesten Literatur habe ich bewusst verzichtet – auch, weil es zum Einzelhandel während des Nationalsozialismus seither kaum Beiträge gegeben hat.

Migetti – Ein topffertiges, biologisch vollwertiges Nährmittel der NS-Zeit

Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen herrschte Hochstimmung bei vielen NS-Ernährungsplanern. Nun endlich konnten sie auch öffentlich die Ergebnisse ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten präsentieren. Neuartige Lebensmittel würden, so tönte es, deutsche Soldaten und Arbeiter zu Höchstleistungen an Front und Heimatfront befähigen. Deutsch sollten sie sein, aus heimischen Rohstoffen gefertigt. Gesund sollten sie sein, vitaminreich und biologisch vollwertig. Und schmecken sollten sie, schon einen Abglanz der Volksgemeinschaft nach dem Kriege liefern, die Wohlstand für alle Volksgenossen verhieß.

01_Zeitschrift fuer Gemeinschaftsverpflegung_11_1939_Nr19_pIII_ebd_p304_Migetti_Produktionsstaette_Fuerth_Bayerische-Milchversorgung_Nuernberg

Anzeige und Blick in die Produktionsstätte von Migetti 1939 (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, Nr. 19, III (l); ebd., 304)

Eines dieser neuartigen Lebensmittel war Migetti, ein heute vergessenes Nährmittel, das 1939 jedoch die Leistungsfähigkeit deutscher Wissenschaft und Wirtschaft manifestierte: Es war ein „ausschließlich aus einheimischen Rohstoffen hergestelltes Erzeugnis, das als sättigende Hauptkost dienen kann, im weitgehenden Umfang biologisch vollwertig ist und in seinen Eigenschaften etwa Eierteigwaren, Reis oder Sago ähnlich ist“ (Ein neues Nahrungsmittel für die Gemeinschaftsverpflegung, Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, 304). Migetti wurde mit modernen, eigens konstruierten Maschinen vollautomatisch produziert, hygienische Verpackungen behüteten die kleinen Körner. Stolz präsentierte man vor allem das stoffliche Profil: „‚Migetti‘ verhütet Mangelkrankheiten, es enthält genügend Eiweiß und Mineralsalze und die Ausnutzung der Kohlehydrate ist besonders gut, weil es gleichzeitig die für den Kohlehydratstoffwechsel notwendigen Vitamine enthält. ‚Migetti‘ weist keinerlei chemische Zusätze auf und ist auch nicht künstlich gefärbt. […] ‚Migetti‘ verbindet also den Nährwert der Ackererzeugnisse mit dem biologischen Werten der Milch.“ Und mehr noch: Das neue Nährmittel war kochfertig, ein Convenienceprodukt, dass man nur zwei, drei Minuten kochen musste, um es anschließend zu genießen. Deliziös und ingeniös, fürwahr.

Molke als verwertbarer Reststoff

Doch die nationalsozialistische Wissenselite zielte nicht nur auf Volksgenossenbeglückung. Migetti war Teil einer breiten Forschungs- und Entwicklungsinitiative, deren Ziel „Nahrungsfreiheit“ war. Seit Ende des Ersten Weltkrieges, verstärkt noch seit der Weltwirtschaftskrise flossen hohe staatliche Fördersummen in die Agrar- und Ernährungswirtschaft, in Laboratorien und die Absatzketten. Einerseits galt es die Abhängigkeit von devisenträchtigen Importen zu minimieren, anderseits den Anbau und die Verarbeitung heimischer Agrarprodukte zu steigern. Nur so schien ein neuerliches Fiasko wie im Ersten Weltkrieg vermeidbar, als die fehlende Ernährung ein Grund für die Niederlage der Mittelmächte gewesen war. „Nahrungsfreiheit“ war Teil eines machtpolitischen Revisionismus, der den neuerlichen Krieg stets mit einschloss.

02_Schweigart_1937_TafelI_Milch_Molke_Kaese_Butter_Schaubild_Stoffbilanz_Statistik

Molke als Verwertungsaufgabe. Die deutsche Milchproduktion 1936 in der Stoffbilanz ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Tafel I)

Das wohl wichtigste Arbeitsfeld war dabei die Milchwirtschaft. Sie war ein Kernelement vor allem der Versorgung mit Fett und Eiweiß, besaß zugleich aber beträchtliches Rationalisierungspotenzial. Trinkmilch-, Butter- und Käseproduktion befanden sich in einem langwierigen Modernisierungsprozess, der nicht allein auf erhöhte Warenmengen zielte, sondern auch auf qualitativ hochwertige und neuartige Lebensmittel. Wichtiger noch für die Ernährungsplaner in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft war dabei, bisher unerschlossene Nahrungsreserven durch neue Technik verfügbar zu machen. Spätestens seit Mitte der 1930er Jahre begann ein durch den Vierjahresplan nochmals intensivierter Ausgriff auf vermeintliche „Restprodukte“, insbesondere auf Magermilch und Molke, das viel beschworene letzte, nur unzureichend verwertete Drittel der Milch.

Bei Molke handelt es sich um die flüssigen, grünlich-gelben Rückstände der Käseverarbeitung. Sie war praktisch fettfrei, jedoch vitamin-, mineralstoff- und milchzuckerhaltig. Schätzungen gingen von jährlich etwa zwei Milliarden Tonnen Molke aus – genaue statistische Daten fehlten –, die vornehmlich an Schweine verfüttert wurden. Mindestens 500 Millionen Tonnen Molke wurden jedoch ungenutzt weggekippt. Diese Nahrungsressource galt es zu nutzen. Seit 1937, also vergleichsweise spät, wurde die Forschung intensiviert, teils im Rahmen von Ressortforschung, teils dezentral in den seit dem Reichsmilchgesetz 1930 rasch zunehmenden leistungsfähigen regionalen Molkereien und Milchhöfen. Molke wurde vom Rest- zum Wertstoff und seit 1939 öffentlich bewirtschaftet. 1943 erfolgten umfassende Begriffsdefinitionen für Molkeprodukte, die damit in das allgemeine Lebensmittelrecht integriert wurden. Der Höhe- und Wendepunkt dieser Förderung war erst das Jahr 1947, in dem sowohl in der amerikanischen (Stuttgarter Plan) als auch der britischen (Hamburger Plan) Besatzungszone die Produktion von Molkenprodukten hohe Priorität besaß (G. v. Flotow, Marktordnung und Bewirtschaftung von Molke, Süddeutsche Molkerei-Zeitung 69, 1948, 82-84).

Zehn Jahre zuvor mussten erst einmal Grundlagen geschaffen werden. Die Forschung konzentrierte sich anfangs auf die Trocknung der Molke. Sie war technisch nicht sonderlich komplex, ergab nach Zumischung von Kleie und Getreideresten auch ein von Schweinen und Geflügel akzeptiertes Futter (G. Schwarz, Milchverarbeitung und -verwertung, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit. Arbeitsbericht 1934 bis 1937 des Forschungsdienstes, Neudamm und Berlin 1938, 612-615, hier 614). Doch der Preis der Molke war niedrig – etwa ein Pfennig pro Liter –, die Trocknungskosten dagegen hoch – zwischen ein und zwei Pfennig (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 224). Hinzu kamen Transportkosten, aber auch eine generelle Geringschätzung der Molke als Wertstoff. Die Resonanz auf Anordnungen der Hauptvereinigung der deutschen Milchwirtschaft blieb daher vor dem Krieg begrenzt (Alle Molke muß verwertet werden!, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 41).

Das änderte sich nach Kriegsbeginn: 1943 war die nutzbare Molkenmenge aufgrund besserer Erfassung und erhöhter (Hart-)Käseproduktion auf ca. vier Milliarden Kilogramm gestiegen. Mehr als drei Viertel davon wurden verfüttert, ein Zehntel ungenutzt entsorgt. Doch derweil wurden mehr als zehn Prozent der Molke zu Lebensmitteln weiterverarbeitet (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 377). Den NS-Ernährungsfachleuten gelang durch die Produktion von Zwischenprodukten beträchtlich höhere Wertschöpfung: Molkeneiweißpaste gab es nun, karamellisierte Molkenpaste, Molken-Sirup und Paga F., fortifizierte Roggen-Vollkornflocken und sog. Schwabenbissen. Auch Molkenmarmelade und Kunsthonig mit Molkenzusatz entstanden, ferner Invertzucker und Hefeextrakt auf Molkenbasis (Ziegelmayer, 1947, 387; Walter Müller, Neuere Wege der Molkenverwertung, Deutsche Molkerei-Zeitung 61, 1940, 183-184). Die Verbraucher nahmen diese breite Palette innovativer Produkte kaum wahr, aßen sie jedoch als Bestandteil von Schmelzkäse, Süß- und Backwaren, Wurst und Suppenpräparaten oder in Kantinen. Migetti war eine vermeintlich zukunftsweisende Ausnahme, ein Bannerträger für Molkenaustauschprodukte im Massenmarkt.

Was war Migetti?

Migetti war ein sprechender Name, ein Silbenwort, zusammengesetzt aus Mi[lch] und [Spa]g[h]etti. Es bestand aus Molke, Weizen- und Kartoffelstärkemehl. Es sollte küchentechnisch den damals zumeist aus Italien importierten Reis ersetzten, ebenso die angesichts geringer Eierbestände vielfach knappen Eiernudeln. Auch Weizengrieß war in der NS-Mangelökonomie nicht mehr allseits verfügbar. Migetti galt im Ausland als eine nennenswerte, ja wichtige Nahrungsinnovation. Anfangs wurde es dort vor allem als Kartoffelprodukt angesehen – wobei wahrscheinlich Erinnerungen an das K-Brot des Ersten Weltkrieges mitschwangen (Foreign Crops and Markets 40, 1940, Nr. 22 v. 1. Juni, 725). Ab 1941 galt es als ein reisähnliches Austauschprodukt aus Kartoffeln und Molke (William A. Hamor, Industrial Research in 1940. An Account of Advances in Foreign Countries, News Edition 19, 1941, 57-72, hier 65; Karl Brandt, How Europe Is Fighting Famine, Foreign Affairs 19, 1941, 806-817, hier 809). Nach der deutschen Kriegserklärung an die USA galten “Migettis” schließlich als Produkt aus Milchreststoffen (H.W. Singer, The German War Economy-VIII, The Economic Journal 53, 1943, Nr. 209, 121-139, hier 132).

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Präsentation des Neuen 1940: Migetti-Rezeptbuch und Migetti-Frühstück (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81)

Das neue Produkt war körnig und reisähnlich. Am Anfang standen Ideen des Erlanger Ingenieurs Dr. A. Werner über einen Reisersatz aus Milch und Kartoffeln. Dies wäre technisch möglich gewesen, war jedoch zu teuer (M[ax] E[rwin] Schulz, Molkenverwertung durch neuartige Erzeugnisse Beispiel: Migetti, Die Milchwissenschaft 1, 1946, 55-66; ebd. 2, 1947, 77-83, hier 56). Der aus Italien als Teil von Kompensationsgeschäften importierte Reis war nämlich deutlich billiger als etwa Haferflocken oder das aus Kartoffelstärke hergestellte Sago. Anders als heutige Reissorten musste er jedoch lange gekocht werden. Hier lag die Marktchance für Migetti, dessen Kochzeit auch deutlich unter der gängiger Eierteigwaren lag. Anders als der 1939 eingeführte und aus Magermilch gewonnene Eier-Austauschstoff Milei konnte es nicht als Preisbrecher agieren. Die politisch gewünschte Verwertung von Molke und Kartoffelstärke verteuerte das Produkt weiter.

Der Ingenieur und Milchwissenschaftler Max Erwin Schulz (1905-1982) hätte Migetti neben Molke und Kartoffeln daher lieber auch Hühnereiweiß beigefügt, um so die Textur an Eiernudeln anzunähern. Während einer Kriegstagung hieß es 1942: „Auch bei dem Produkt ‚Migetti‘ ist man im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gekommen, daß nicht der Wunsch, bestimmte Rohstoffe zu verwerten, sehr in den Vordergrund gestellt werden darf. Wir können z. B. bei diesem Produkt den Wunsch Kartoffelstärkemehl zu nehmen oder sehr viel Molke unterzubringen, nicht so stark berücksichtigen, daß dadurch die küchentechnischen Eigenschaften des Produktes leiden“ (M[ax Erwin] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Das helle, gelblich scheinende Migetti hatte eine krosse Textur, schmeckte als Röstgut keksartig, konnte im Notfall auch trocken gegessen werden. Migetti war neutral, besaß keinen wirklichen Eigengeschmack. Dadurch war es in der Küche breit einsetzbar, als Einlage in Suppen und Eintöpfen, als Sättigungsbeilage, zu süßen Nach- und salzigen Vorspeisen. Hinzu kam ein beträchtlicher Gehalt an B-Vitaminen und Mineralstoffen, zudem mit 400 Kilokalorien pro 100 Gramm ein auch gegenüber anderen Nährmitteln überdurchschnittlicher Nährwert. Migetti war demnach ein gehaltvolles Convenienceprodukt, eine Allzweckwaffe in der Küche, ein Aushelfer eigenen Rechts.

Vollautomatische Produktion

Migetti wurde auf Anregung des Oberkommandos des Heeres entwickelt, sollte ursprünglich der Versorgung der Truppe dienen. Die konzeptionelle Arbeit erfolgte durch einen kleinen Stab von Chemikern und Ingenieuren der Bayerischen Milchversorgung GmbH in Nürnberg. Diese war 1930 aus der Gemeinnützigen Milchversorgungsgesellschaft der Städte Nürnberg-Fürth hervorgegangen, dem neuen finanzkräftigen Verbund gehörte auch die Stadt Regensburg an (Deutscher Reichsanzeiger 193, Nr. 89 v. 15. April, 15). Der im gleichen Jahr in Nürnberg entstandene Milchhof war nicht nur Monument des Neuen Bauens (das man vor mehr als einem Jahrzehnt DDR-mäßig zerstört hat), sondern bündelte auch fortgeschrittene Technik.

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Maschinelle Fließfertigung: Schemazeichnung des Fürther Migetti-Betriebes (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 57)

Migetti war das Ergebnis umfangreicher Tests in kleinem Maßstab. Im Nürnberger Laboratorium wurde lange um das stoffliche Profil und die Zusammensetzung des Produktes gerungen. Der detaillierte Bericht des späteren Patenteinhabers Max Erwin Schulz ist ein treffliches Zeugnis für die Gestaltungsfreude von Männern im Kittel. Ihr Ziel war Kochfestigkeit und eine rasche Zubereitung. Das Migetti-Korn musste kompakt sein, durfte sich beim Kochen nicht auflösen, zudem eine gute Quellfähigkeit besitzen. Zugleich aber galt es einerseits möglichst viel Molke und auch erhebliche Mengen Kartoffeln zu nutzen, um die deutsche Stoffbilanz zu verbessern. Das Ergebnis war ein Kompromiss zwischen Vorgaben, Marktgängigkeit und wehrwirtschaftlichen Aspekten. Migetti bestand anfangs aus 10 Prozent Molkepulver, 20 Prozent Kartoffelstärkemehl und 70 Prozent Weizenmehl. Später nahm der Molkeanteil weiter zu, wurde Weizen- teils durch Roggenmehl ersetzt. Die Laboratoriumsversuche wurden anschließend großtechnisch umgesetzt, dazu ein eigenes neues Werk in Fürth gegründet. Dort erst legten die Experten Form und Gewicht des einzelnen Kornes fest, ebenso die Farbe. Zugleich wurden verschiedene Maschinen getestet und zu einer automatischen Fließfertigung verbunden. Aus wehrwirtschaftlichen Gründen sollte „das Produkt mit geringem Personalaufwand und auch mit weiblichen Arbeitskräften hergestellt werden“ (Nahrungsmittel, 1939).

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Kernelemente der Migetti-Produktion: Drei-Bandtrockner (l.) und Lihotzky-Presse (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 60)

Die eingedickte Molke wurde im Migetti-Stammwerk mit den Getreide- und Kartoffelzutaten gemischt und zu einem Teig vermengt. Er wurde anschließend in einem von der Plattlinger Firma Emil Lihotzky neu konstruierten Schleuder-Mischer zu Körnern gepresst. Die derart geformten Teigkörper kamen anschließend in große Trockner mit mehreren Laufbändern, in denen sie bei über 100 °C getrocknet wurden. Zwei Typen kamen dabei zum Einsatz, nämlich einerseits der oben gezeigte Bandtrockner der Hersfelder Firma Benno Schilde oder aber – in anderen Betriebsstätten – ein noch größerer Trockner der Hamburger Firma Lange. Der Schilde-Trockner war schneller und benötigte weniger Heizmaterial, der Lange-Trockner konnte größere Chargen bedienen, war im Betrieb jedoch teurer. Ersterer entwickelte sich zur Standardausrüstung der sich damals rasch entwickelnden deutschen Trocknungsindustrie, die vorrangig Obst, Gemüse und Kartoffeln für Wehrmacht und Großküchen produzierte (E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 48-59).

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Verpackungsraum (l.) und Mühle für deformierte Körner (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 65 (l.) und 60)

Die getrockneten Körner kamen anschließend in einen Verpackungsraum, wo sie mittels Maschinen zumeist in Verkaufsverpackungen von 250 Gramm gefüllt und anschließend von vornehmlich weiblichen Arbeitskräften versandfertig gemacht wurden. Deformierte Körner (etwa fünf Prozent der Produktion) wurden zuvor auf Rüttelbändern ausgesondert, gelangten in eine Mühlen, wo sie vermahlen und dann neuerlich verarbeitet wurden. Misch- und Formmaschinen waren vorgelagert, die Einzelkomponenten der Produktion über Transportbänder miteinander vernetzt. Ein Betriebslaboratorium kontrollierte die Qualität des Produktes. Die Herstellung der Migetti-Körner dauerte zwischen ein und zwei Stunden. Sie erfolgte vollautomatisch und erlaubte einen Mehrschichtenbetrieb. Die Migetti-Fabrik repräsentierte das damals im Deutschen Reich technisch Machbare.

Auch aus diesem Grunde wandten sich Produzenten und die durch Presseanweisungen an die Hand genommenen Journalisten gegen die Bezeichnung „Ersatzstoff“: „Migetti ist vielmehr nahrhafter als Reis und darf als biologisch vollwertiges Nahrungsmittel bezeichnet werden. Es enthält z. B. natürlichen Kalk in zehnfacher Menge wie Reis. Außerdem enthält es Vitamin B und, was sehr wesentlich ist, die Nährsalze der Milch, Bestandteile, die Reis nicht aufweist. Die Kalorienzahl von Migetti ist 400, von Reis 356 und von Sago 335. Auch hiermit ist die Vollwertigkeit dieses neuen Dauernahrungsmittels bewiesen, das sich infolge seiner überaus günstigen Zusammensetzung besonders auch als Kranken- und Kinderkost eignet“ (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7).

Der Weg in den Massenmarkt

Migetti war nicht nur Molkenträger, Halbfertigprodukt und Wegbereiter einer vollautomatischen Lebensmittelproduktion. Es war zugleich Quintessenz vieler hauswirtschaftlicher Debatten über eine neue schnelle Küche, durch die Hausfrauen ihre Kernarbeit rascher erledigen, durch die sie zugleich aber mehr Zeit für Familie und Muße gewinnen konnten. Dies stand sehr wohl im Einklang mit der offiziellen Beschwörung der Frau als Mutter und Mannesgefährtin, mochte es auch nicht mehr den emanzipatorischen Touch der großenteils sozialdemokratisch und feministisch geprägten Debatten der Weimarer Zeit haben. Zwischen 1933 und 1939 war die Zahl weiblicher Erwerbstätiger um ca. drei Millionen angestiegen, bei Kriegsbeginn gingen mehr als die Hälfte aller erwerbsfähigen Frauen einer gewerblichen Arbeit nach. Migetti erleichterte ihre weiterhin zu erbringende Kocharbeit: Reis musste mehr als eine Stunde, Migetti nur wenige Minuten kochen (Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Doch das neue Halbfertiggericht forderte Hausfrauen zugleich, denn sie mussten tradierte Herdarbeit in Frage stellen und die Zeitökonomik der Speisenproduktion ändern. Es ging um Veränderungen gemäß den im Migetti materialisierten Vorgaben einer männlichen Expertenkultur.

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Migetti-Auflauf unter Zusatz auch von Milei G und W, gebacken und serviert in dicken Tassen (Zeitgemäßer Haushalt, hg. v.d. Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Elektrowirtschaft 1941, Brief März-April, 3)

Migetti war anfangs markenfrei, was nicht zuletzt den auch durch äußerst geringe Rationen diskriminierten Juden begrenzte Alternativen bot (Else R. Behrend-Rosenfeld, Ich stand nicht allein. Erlebnisse einer Jüdin in Deutschland 1933-1944, 3. Aufl., Köln und Frankfurt a.M. 1979, 82; zur Rationierung s. Gustavo Corni und Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 555-573). Die Produktwerbung besaß 1939/40 eine nur geringe Bedeutung, konzentrierte sich vorrangig auf Prospekte und Rezeptbroschüren. Diese waren sorgfältig gestaltet, um jeden Gedanken an ein Ersatzmittel zu vermeiden (Walter Ernst Schmidt, Aus dem Werbeschaffen des Kriegsjahres 1940, Werben und Verkaufen 24, 1940, 361, hier 363). Werbung sollte Vertrauen schaffen, entsprechend wurden anfangs die Nährkraft und die biologische Vollwertigkeit hervorgehoben: „Allein hieraus wird die Hausfrau erkennen, daß ihr dieses neue Nahrungsmittel aus altvertrauten Rohstoffen ein schützenswerter Helfer in der Küche sein kann“ (Neue Helfer der Hausfrau, Der Führer 1940, Nr. 289 v. 20. Oktober, 10). Zugleich aber zogen die Werbetreibenden immer auch die Karte nationalen Stolzes. Der Kauf von Migetti war Dienst am Volke, war ein konsumtives Plebiszit für „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsbereitschaft (Die Industrie der Molke, ebd. 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6). Die Konsumenten wurden dergestalt eingebunden in die vom Regime in Gang gesetzte „Revolutionierung der Milchwirtschaft“, in die Schaffung zusätzlicher Nährwerte (Straßburger Neueste Nachrichten. Ausgabe Nord 1942, Nr. 216 v. 7. August, 4).

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Die Hausfrau umgarnen – mit Humor und Schaukochen (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81 (l.); Salzburger Volksblatt 1942, Nr. 50 v. 28. Februar, 10)

Die frühe Werbung zielte daher auf Einsichtshandeln, auf rationales Verhalten im Sinne des völkischen Ganzen. Über die Rezeptbücher, über Schaukochen und hauswirtschaftliche Beratung wurden die Hausfrauen an eine neue Art der Zubereitung herangeführt, die ihre Rolle als gleichberechtigte Akteurin auf biologisch vorbestimmtem Felde gleichsam adelte. Analog zu den Befehlen im Militär erhielten auch die Hauswalterinnen klare Grundregeln: „1. Migetti wird vor der Anwendung nicht gewaschen oder gewässert. 2. Es verlangt auch keine sonstige Vorbehandlung: Migetti ist kochfertig. 3. Es wird stets in die kochende Flüssigkeit eingerührt. 4. Migetti nur kurz auf Stufe 3 ankochen und auf Stufe 0 garquellen lassen. 5. Wird eine möglichst feste, körnige Form der Speise gewünscht, so lässt man Migetti 2 bis 3 Minuten aus Stufe 3 kochen und anschließend etwa 3 Minuten quellen. 6. Für weichere Formen der Speisen wird die Kochzeit entsprechend verlängert, bei Milch- und Buttermilchsuppen bis zu 20 Minuten. 7. Migetti ist sparsam im Gebrauch, aber nie zuviel nehmen. Man rechnet bei 1 l Flüssigkeit für Suppen etwa 80 g, für puddingartige Breie etwa 200 g, für feste Breie 300 g“ (Zeitgemäßer Küchenzettel, Zeitschrift für Volksernährung 16, 1941, 88-90, hier 89). Das Ergebnis folgsamen Tuns war eine breite Palette wohlschmeckender Speisen. Die Hausfrauen verlängerten so den Gestaltungstraum der Experten in die Praxis.

Im Januar 1941 wurde Migetti dann kartenpflichtig, „um den Verbrauch der Erzeugung anzupassen und eine geordnete Belieferung der Verbraucher sicherzustellen“ (Steigende Migetti-Erzeugung, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1941, Nr. 23 v. 30. Juni, 8). Das Austauschprodukt trat dadurch an die Stelle von Teigwaren (Deutscher Reichsanzeiger 1941, Nr. 40 v. 17. Januar, 1). Ab Mai 1941 konnte Migetti auch anstelle von Getreidenährmitteln gekauft werden (Anzeiger für Zobten am Berge und Umgegend 1941, Nr. 54 v. 9. Mai, 4). Diese Regelung wurde später auch auf Selbstversorger ausgeweitet. All das spiegelt nicht nur die wachsenden Schwierigkeiten des Regimes, die Grundversorgung sicherzustellen. Sie bedeutete auch eine kontinuierliche Marktpräsenz des neuen Produktes – und damit einen gedämpften Wettbewerb um den Käufer.

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Migetti im Spiegel einer Konsumentenbefragung der Gesellschaft für Konsumforschung (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 80)

Zwei Folgen traten besonders hervor: Erstens wurden Kundenwünsche und -präferenzen mittels einer Konsumentenbefragung in Nürnberg, München und Berlin genauer erkundet. Die von der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung durchgeführte Untersuchung ergab recht positive Urteile: Zwei Drittel der Befragten bewerteten Migetti-Speisen als gut oder gar ausgezeichnet, nur ein Achtel lehnte es ab. Überraschenderweise wurden Migetti-Suppen schlechter bewertet als Süßspeisen und andere Hauptgerichte. Von einem notgedrungen konsumierten Ersatzmittel konnte also nicht die Rede sein, stattdessen überzeugte die Verwendungsbreite: Das neue Produkt stand für Vielfalt und Flexibilität, war just deshalb besonders kriegsgeeignet. In Walter Kempowskis Roman „Tadellöser und Wolff“ hieß es daher zutreffend: „Migetti-Suppe. Nudelartig, gar nicht so schlecht. Aus Milchsubstanzen hergestellt“ (München 1975, 367).

Zweitens wurde die Werbung nun intensiviert und professionalisiert. Migetti mutierte dabei zum Milei-Erzeugnis, der Milei-Aufklärungsdienst übernahm die kommerzielle Kommunikation, gab ihr Struktur und Wiedererkennungswert. Aus dem Molkenaustauschprodukt wurde ein reichsweit bekannter Markenartikel. Zuvor hatte die Nürnberger Bayerische Milchversorgung GmbH begonnen, das seit Ende 1938 hergestellte Eier-Austauschprodukt Milei auch im eigenen Milchhof zu produzieren. Vertragspartner war die 1940 gegründete Stuttgarter Milei GmbH, deren Anfänge auf eine Kooperation der Württembergischen Milchversorgung AG mit den Vierjahresplanbehörden zurückzuführen war. Die Firma verwertete Patentrechte, errichtete ein über die Grenzen des Großdeutschen Reiches hinausweisendes Produktions- und Vertriebsnetz, zudem eigene Produktionsstätten im besetzten und auszubeutenden Ausland.

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Migetti als Trittbrettfahrer der Markenartikelwerbung für Milei (Wiener Modenzeitung 1941, H. 159, 24 (l.); Vorarlberger Landbote 1941, Nr. 67 v. 23. August, 8)

Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, ehe Migetti eine unverwechselbare Werbegestalt erhielt, nahm der Bekanntheitsgrad von Migetti schon 1941 deutlich zu (Rainer Horbelt und Sonja Spindler, Tante Linas Kriegskochbuch. Erlebnisse, Kochrezepte, Dokumente. Rezepte einer ungewöhnlichen Frau, in schlechten Zeiten zu überleben, Frankfurt a.M. 1982, 67). Milei-Anzeigen verwiesen nun auch auf das körnige Nährmittel, koppelten es an die relative Erfolgsgeschichte des reichsweit erfolgreichen Mileis. Der Milei-Aufklärungsdienst integrierte Migetti in seiner Vortrags- und Kochveranstaltungen. Auch das Deutsche Frauenwerk erläuterte den zielgenauen Umgang mit dem Halbfertiggericht. Eine kleine Broschüre wurde teils versandt, teils über Einzelhändler in hoher Auflage verteilt (Gut essen und satt werden durch das Migetti Nährgericht, Stuttgart 1941). Insgesamt wurden damals 10-15 Prozent des Großhandelsumsatzes für Werbung ausgegeben und bewusst auf einen Gewinn verzichtet (Schulz, 1947, 79). Der würde schon kommen, nach der erfolgreichen Etablierung als Markenartikel. Der Krieg war eine Chance, der Markt kaum ausgeschöpft: „Bereits im Jahre 1940 wurden 1 Mill. kg Migetti erzeugt; im Jahre 1941 will man die Produktion auf 5 Mill. kg. steigern und im Jahre 1942 10 Mill. kg erreichen“ (Was ist Migetti?, Sächsische Volkszeitung 1941, Nr. 39 v. 14. Februar, 6). Den Molken-Austauschstoff präsentierte man seither selbstbewusst als ein angereichertes Lebensmittel, das dem Verbraucher die biologischen Wertstoffe der Milch neuartig erschließe (Kennen Sie Migetti?, Neueste Zeitung – Innsbruck 1941, Nr. 91 v. 12. Mai, 4).

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Migetti im Wettbewerb der Nährmittel (Riesaer Tageblatt 1942, Nr. 126 v. 2. Juni, 4)

Materialauf­wand, Entwicklungs- und Investitionskosten erlaubten kein Billigpro­dukt, doch der vergleichsweise hohe Preis schien mit Blick auf die Brennstoffersparnis, den Geschmack und die Anwendungsbreite mehr als gerechtfertigt. Spätestens ab 1942 spiegelte sich dies auch in den Rezeptspalten gängiger Tages- und Wochenzeitungen (vgl. etwa Frau und Mutter 1942, H. 9, 14; Neues Wiener Tagblatt – Wochenausgabe 1942, Nr. 16, 11; ebd., Nr. 28, 11; ebd. Nr. 30, 11; ebd., Nr. 43, 11). Zu dieser Zeit hatte der Milei-Aufklärungsdienst Migetti eine eigenständige werbliche Präsenz geschaffen. Der Slogan „Die kräftige Nährkost“ spielte nach den Rationenkürzungen 1942 mit dem hohen Kaloriengehalt des Nähmittels. Migetti wurde zudem als eiweißhaltige Ergänzung der zunehmend gängigen Kartoffel- und Gemüsespeisen und -eintöpfe beworben. Damit war es im Massenmarkt angekommen.

12_Nationalsozialistischer Volksdienst_09_1942_p130_Kunst fuer Alle_57_1941-42_Nr11-12_Anhang_p6_Wiener Illustrierte_61_1942_Nr43_p8_Migetti_Eintopf_Fleischlos_Kriegsernaehrung

Appelle nach den Rationenkürzungen 1942 (Nationalsozialistischer Volksdienst 9, 1942, 130 (l.); Die Kunst für Alle 57, 1941/42, Nr. 11/12, Anhang, 6; Wiener Illustrierte 61, 1942, Nr. 43, 8 (r.))

Migetti in der Gemeinschaftsverpflegung

Migetti war anfangs nicht als Massenartikel konzipiert worden, sondern als eine Nahrungsinnovation für die Wehrmacht – nicht umsonst kamen Anregungen und Unterstützungen aus dem Oberkommando des Heeres (Karl-Dieter Frombach, Gemeinschaftsverpflegung im Wandel der Zeit, Med. Diss. FU Berlin, Berlin s.a. [1961], 47). Migetti war nährstark, relativ einfach zu transportieren und hielt mehrere Jahre. Noch Anfang 1941 hieß es in der gelenkten NS-Presse stolz: „Das Nährmittel ‚Migetti‘ hat sich bei unserer Truppe gut eingeführt“ (Am Ufer des weißen Stromes, Das Kleine Volksblatt 1941, Nr. 67 v. 8. März, 7) und sich „namentlich bei der Truppe gut bewährt“ („Rohstoff“ Milch aus nächster Nähe, Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14797 v. 26. März, 8). Auch Großküchen gehörten zu den umworbenen Abnehmern. Migetti gab es 1939/40 in Krankenhäusern, Hotelküchen, aber auch in den Speisewagen der Mitropa (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Gerade für Gaststätten schien die „vollwertige Teigware“ bestens geeignet (Jederzeit ein ‚tulli‘ Papperl auch für dich, Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 155 v. 5. Juni, 6).

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Migetti in Gaststätten als Nachklang der Milei-Werbung (Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, H. 9, III (l.); ebd., H. 10, II)

Der Geschäftsbericht der Bayerische Milchversorgung GmbH vermerkte, dass 1940 mehr als die Hälfte der knapp 1000 erzeugten Tonnen „an Großküchen“ gingen (Migetti-Erzeugung, 1941). Mochte der „Migetti-Macher“ Max Erwin Schulz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf die weitere Produktion auch behaupten, dass Migetti „für Massenverpflegung ungeeignet“ (Schulz, 1947, 80) gewesen sei, da es für die Nahrungsinnovation keinen Platz zwischen Sago und Teigwaren gegeben habe, so belegt die Produktwerbung eine doppelte Präsenz im Massenmarkt und in der Massenverpflegung bis zum Kriegsende. Migetti half beim massiven Ausbau der Außer-Haus-Verpflegung, an der Anfang 1944 schätzungsweise 26 Millionen Personen teilnahmen (Gemeinschaftsverpflegung 1944, 363). Einschlägige Rezepte finden sich in den Fachzeitschriften und Ratgebern dieser Zeit (Alexander Novotny, Küchenzettel zur Gemeinschaftsverpflegung in Lager- und Werksküchen. Eine Sammlung von 250 erprobten Kochanweisungen, Berlin 1942). Wichtiger noch: 1943/44 wurde für Migetti mit neuen Werbeanzeigen und einem lachenden Kochtopf umfassend beworben.

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Geschwindigkeit und Effizienz in der Großküche (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 12, Beil., 4; ebd., H. 16, Beil., 4)

Die Anzeigen hoben einerseits die betrieblichen Vorteile des Halbfertigproduktes hervor, nämlich seine rasche Zubereitung und die dadurch mögliche Brennstoffeinsparung. Zugleich aber trat der relative hohe Nährwert von Migetti in den Vordergrund. Gute Verdaulichkeit und ein „nährgesundes“ Stoffprofil waren überzeugende Argumente, um die Hürde des höheren Preises zu überspringen. Angesichts zunehmend fader und monotoner Abfütterung wurde auch der „gute“ Geschmack hervorgehoben. Im totalen Krieg konnte Migetti den Verpflegungstrott ansatzweise durchbrechen: „Wenn man auch berücksichtigen muß, daß Migetti ein Kunst- und kein Naturprodukt ist, das in seinen biologischen Werten dem Vollgetreide nicht gleichgestellt werden kann, so ist im Augenblick jede Abwechslung zu begrüßen“ (Josef Hierz, Fleisch- und fleischlose Speisen aus Migetti, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 181). Die gängigen Rezepte entsprachen dabei den Anregungen für die Einzelhaushalte. Migetti diente vornehmlich als Einlage für Suppen und Eintöpfe, als Nährfüller für Hammelfleisch- und Krautgerichte, erschien als Migetti-Fleisch, -knödel, -schnitte oder -Auflauf, als Tunke sowie süße Nachspeise.

15_Gemeinschaftsverpflegung_1944_H05_Beil_p3_ebd_H01_Beil_p4_Migetti_Austauschstoffe_Eintopf_Halbfertiggericht

Gute Stimmung und Geschmack trotz Kriegsanstrengung (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 5, Beil., 3 (l.); ebd., H. 1, Beil., 4)

Produktionswerte und Produktionsnetzwerk

Anders als bei Milei sind die Informationen über die Produktion von Migetti rudimentär und nicht widerspruchsfrei. Eine archivalische Überlieferung fehlt. Das Migetti-Werk in Fürth lag in der Ottostraße 24, nicht weit vom Hauptbahnhof (Bayerisches Landes-Adreßbuch für Industrie, Handel u. Gewerbe 21, 1942/43, 383). Regionale Adressbücher verweisen zudem auf ein „Migetti-Werk“ resp. eine „Nährmittelfabrik“ auf dem Gelände des Nürnberger Milchhofes (Ebd., 412), doch dürfte es sich hierbei lediglich um eine Firmendependance gehandelt haben. Heimatgeschichtliche und touristische Literatur verweist auf zwei andere Standorte in Regionen mit überdurchschnittlicher Käseproduktion. Das galt einmal für die Lötzener Milchwerke, die nach der Eroberung Polens 1939/40 neue Produktionsstätten hochzogen (Max Meyhöfer, Der Kreis Lötzen. Ein ostpreussisches Heimatbuch, Würzburg 1961, 218). Falls Sie Schwierigkeiten bei der Vorortung haben: Es handelte sich um eine ostpreußische Mittelstadt, ungefähr 80 Kilometer südlich von Insterburg gelegen, dem Geburtsort meiner Mutter. Zudem gab es wahrscheinlich ein Migetti-Werk im pommerschen Pasewalk (Fritz R. Barran, Städte-Atlas Pommern, Leer 1989, 86). Die Untersuchungen britischer Offiziere zur Stuttgarter Milei GmbH enthalten keine detaillierten Informationen über das Produktions- und Vertriebsnetzwerk von Migetti, das lediglich als Teil des Milei-Sortiments erwähnt wurde (Bate-Smith et al., 1946, 92). Neben Stuttgart besuchten die neuen Herren auch den schleswig-holsteinischen Produktionsort Lütjenburg – und es erscheint nicht abwegig, dass in der dortigen Käseregion ebenfalls Migetti hergestellt wurde.

16_Uwe Spiekermann_Migetti_Fuerth_Molke_Produktion_Statistik_Schaubild

Produktion von Migetti in Fürth und dabei verarbeitete Molke 1941-1944 (eigene Darstellung auf Grundlage von Schulz, 1947, 82)

Migetti sollte anfangs in drei Fabriken produziert werden, anvisiert waren etwa 6000 Tonnen pro Jahr (Schulz, 1947, 80). Dieses Ziel ist auch nicht ansatzweise erreicht worden, Folge insbesondere des elaborierten Maschinenparks, der aufgrund von Lieferengpässen nicht einfach multipliziert werden konnte (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Der 1940er Geschäftsbericht der Bayerischen Milchversorgung GmbH gab für 1939 eine Produktionsmenge von lediglich 98 Tonnen an, die 1940 dann auf 952 Tonnen gesteigert werden konnte (Migetti-Erzeugung, 1941). Schulz präsentierte für den Zeitraum 1941 bis 1944 die oben graphisch aufbereiteten Produktionszahlen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Daten allein die Fürther Produktion wiedergab: 2000 Tonnen pro Jahr, das entsprach rein rechnerisch etwa acht Millionen Migetti-Packungen – und auch der von Schulz angegebenen Kapazität einer Migetti-Fabrik (Schulz, 1947, 80). Die britischen Untersuchungen dokumentierten anhand der Milei-Unterlagen für 1943 und 1944 allerdings einen etwa doppelt so hohen Ausstoß, nämlich 3.926,785 Tonnen Migetti mit einem Produktionswert von ca. einer Million RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Das bedeutete jährlich jeweils 16 Millionen Packungen.

Migetti als blitzschnelle Nährspeise im totalen Krieg

Von 1943 an wurde die Migetti-Werbung zunehmend in die allgemeine Kriegspropaganda eingebunden. Den Anfang machten von Februar bis Mai 1943 vier Motive, in denen das Kochen von Migetti-Speisen mit Warnungen vor „Kohlenklau“ verbunden wurde. Dabei handelte es sich um die wohl präsenteste deutsche Werbefigur der Kriegszeit, denn Unternehmen und Staat zogen hier an einem Strang. Migetti konnte dabei seine Vorteile als kochfertige Halbfertigware ausspielen.

17_Kleine Volks-Zeitung_1943_03_10_Nr069_p8_Wiener Illustrierte_16_1943_Nr14_p8_Migetti_Kohlenklau_Milei_Kochen_Brennstoff

Kohlenklau lauert auch in der Küche (Kleine Volks-Zeitung 1943, Nr. 69 v. 10. März, 8 (l.); Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 14, 8)

Damals lenkte der Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung durch Broschüren und hauswirtschaftliche Beratung die Konsumenten, kooperierte aber zugleich eng mit der Konsumgüterindustrie. Seine „Ratschläge für die (und aus der) Wirtschaftspraxis“ beeinflussten die Werbung im Sinne des NS-Regimes und der Prioritäten der Kriegswirtschaft. Kohlenklau war Teil der Ende 1942 einsetzenden Sparsamkeitswerbung des Reichspropaganda- und des Reichsrüstungsministeriums (Alfred Heizel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124). Es wurde rasch „eine volkstümliche Figur“, die dem schlechten Gewissen über Energieverschwendung ein Gesicht gab, ohne Missetäter einseitig zu denunzieren (Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hg. u. eingel. v. Heinz Boberach, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718).

18_Der Fuehrer_1943_03_18_Nr077_p6_ebd_03_07_Nr066_p6_Migetti_Kohlenklau_Sparsamkeit_Kochen

Sparsamkeit bei der Migetti-Werbung – hier ohne Abbildungen (Der Führer 1943, Nr. 77 v. 18. März, 6 (l.); ebd., Nr. 66 v. 7. März, 6)

Auch Migetti wurde damals „volkstümlich“, der lachende Kochtopf oder die wandernde Möhre brachten etwas Freude in den zunehmend entbehrungsreichen Alltag. Die Marke wurde auch durch ein großes M gestärkt – Reminiszenzen an Fritz Langs Filmklassiker dürften keine Rolle gespielt haben. Die Verwendung von Großbuchstaben war damals eine nicht ungewöhnliche Marketingstrategie, deckte sich etwa mit der kommerziellen Präsenz von Vivil-Pfefferminz oder Hanewacker-Kautabak.

Migetti-Werbung wurde 1943/44 intensiv geschaltet, zunehmend in Form reiner Textanzeigen. Im Gegensatz zur Milei-Werbung setzte man auf eine überschaubare Zahl von Themen und Motiven, die dann jedoch wieder und wieder erschienen. Dies entsprach der recht eindeutigen Textur des körnigen Nährmittels und seiner Haupteigenschaften. Dem Halbfertiggericht war eine engführende Nutzung schon einprogrammiert. Ein pulverförmiger Eier-Austauschstoff besaß demgegenüber breitere werbliche Möglichkeiten.

19_Litzmannstaedter Zeitung_1943_09_23_Nr266_p6_Offenburger Tagblatt_1943_11_06_Nr261_p8_ebd_10_21_Nr247_p4_Migetti_Molke_Austauschstoff_Kriegsernaehrung_Moehre_Suppenschuessel_Fruehstueck

Verbreiterung der Einsatzpalette (Litzmannstädter Zeitung 1943, Nr. 266 v. 23. September, 6; Offenburger Tagblatt 1943, Nr. 261 v. 6. November, 8; ebd., Nr. 247 v. 21. Oktober, 4)

Migettis prägende Eigenschaften waren eine sehr kurze Kochzeit, geringe Brennstoffkosten, ein hoher Nährwert, biologische Vollwertigkeit sowie eine breite küchentechnische Einsatzmöglichkeiten. Die Werbung setzte diese in eingängige Adjektive um, nämlich „kochfertig“, „topffertig“, „nährstark“, „nachhaltig“, „zeitschnell“, „küchenschnell“, „geschmacksneutral“ und „körpernützlich“. Zugleich bettete sie diese in kleine Geschichten ein, vornehmlich Alltagssituationen: „10 vor Zwölf … kam man da noch rasch ein schmackhaftes Essen herstellen. Ja, Man nimmt einfach das topffertige Migetti dazu“ (Badische Presse 1944, Nr. 31 v. 7. Februar, 4). „Blitzschnell läßt sich mit Migetti ein schmackhaftes, sättigendes Essen herstellen. Migetti ist bekanntlich topffertig: Es braucht also nicht gewaschen, nicht gewässert werden“ (Ebd., Nr. 127 v. 2. Juni, 4).

Daneben arbeiteten die Werbetexter mit Aufmerksamkeit erheischenden Plattitüden, die gleichsam als Auftakt eines Gesprächs, eines Ratschlages dienten: „Am Waschtag kann die Hausfrau keine große Kocharbeit brauchen“ (Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 264 v. 10. November, 1240). „Geschwindigkeit in der Küche liebt jede Hausfrau“ (Badische Presse 1944, Nr. 25 v. 31. Januar, 4). Doch wenn der Platz begrenzt war, so konnte man den Topf auch direkt schlagen, die Produktinformation kurz und knackig an die Frau bringen. Dann hieß es etwa: „Migetti zeichnet sich durch sehr kurze Kochzeit aus. […] Daran muß man denken… dann wird Migetti kornglatt“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 94 v. 4. April, 6). Oder: „Migetti immer kräftig würzen… das muß man sich merken“ (Ebd., Nr. 226 v. 17. August, 6).

20_Das Kleine Volksblatt_1943_05_31_Nr149_p7_Offenburger Tageblatt_1943_11_04_Nr259_p4_Migetti_Hausfrau_Kochbuch_Rezepte_Milei_Austauschprodukt_Halbfertigprodukt

Anleitung zum präzisen Kochen: Direkt oder per Kochbüchlein (Das Kleine Volks-Blatt 1943, Nr. 149 v. 31. Mai, 7 (l.); Offenburger Tageblatt 1943, Nr. 259 v. 4. November, 4)

Die wachsende Enge, ja Not der späten Kriegszeit spiegelte sich in den Anzeigen 1943/44 nur indirekt. Doch Forderungen wurden gestellt. Präzision und Wertarbeit waren nicht auf die Werkbank und die Fabrikhalle zu begrenzen, auch die Hausfrau hatte ihren Mann zu stehen: „Über den Daumen peilen? Also nach Gutdünken Migetti zu Mahlzeiten verwenden? Das ist grundfalsch, das ist verschwenderisch. Migetti wird immer löffelgenau abgemessen“ (Der Führer 1945, Nr. 18 v. 22. Januar, 4). Dem diente die während den Herbst 1943 andauernde Werbung für das Migetti-Kochbüchlein, das eine siebenstellige Auflage hatte (Schulz, 1947, 80).

Die Kriegssituation gebar zugleich zunehmend striktere Appelle an Sparsamkeit, an ein Haushalten im Sinne der völkischen Kampfgemeinschaft. Migetti-Wasser durfte nicht geschüttet werden, denn zum Andicken von Suppen und Saucen – sorry, Tunken – war es noch gut zu verwenden (Badische Presse 1943, Nr. 273 v. 20. November, 8). Auch ohne Kohlenklau war klar, dass Migetti keinesfalls auf großer Flamme unbeaufsichtigt kochen gelassen werden durfte (Hakenkreuzbanner 1944, Nr. 261 v. 3. Oktober, 4). Und auch der Abfall war Volkseigentum, denn die papierene, mit sieben Migetti-Rezepten bedruckte Verpackung durfte nicht verheizt, sondern musste der Altpapiersammlung zugeführt werden (Ebd., Nr. 259 v. 30. September, 4). Und doch, die Texte waren nicht immer ernst und betroffen, sondern ließen auch Platz für ein kleines Schmunzeln. Etwa, wenn der Topos der „Vollkost“ zu „Migetti, die topffertige Volkskost“ mutierte (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 6). Oder wenn es um Männer ging: „Männer kochen nicht gern. Wenn es aber sein muß, reicht ihr Kochtalent völlig, um sich eine nahrhafte Migetti-Suppe zu bereiten. […] Kochkünstler sehen sich die Rezepte auf der Migetti-Packung an; nach ihnen können sie noch manches schmackhafte Migetti-Essen bereiten!“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 235 v. 26. August, 6) Ja, die Lacher waren damals dünn gesät…

Die Anzeigen wurden bis mindestens Mitte 1944 von elaborierteren Kochrezepten für Frauen und kontinuierlichen Kochvorführungen begleitet (Der Führer-Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Dort fanden die Nöte des Alltags durchaus Widerhall, wurden in der aufmunternden gemeinsamen Tat jedoch gebrochen: „Es ist heute für die Hausfrau eine rechte Schwierigkeit, ihrer hungrigen Familie ein schmackhaftes Mittagessen auf den Tisch zu stellen; es kostet der Speisezettel immer viel Kopfzerbrechen. Jetzt, wie wäre es einmal mit: Topinambur-Gemüse mit Roggengrützrand? Weckauflauf mit Aepfel? Süße Milchsuppe mit Migetti oder Gänseblümchen-Salat? Die Zubereitung? Diese erfahren Sie bei einem Schaukochen des Deutschen Frauenwerkes“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1944, Nr. 101 v. 12. April, 3).

21_Bozner Tagblatt_1944_05_19_Nr116_p3_ebd_05_31_Nr125_p6_Migetti_Fruehstueck_Kaltschale_Austauschstoffe_Molke

Fleischlos und gesund – Migetti-Varianten (Bozner Tagblatt 1944, Nr. 116 v. 19. Mai, 3; ebd., Nr. 125 v. 31. Mai, 6)

Die letzte neu gestaltete Migetti-Werbekampagne lief dann von November 1944 bis Januar 1945. Der Angriff der Roten Armee im Baltikum hatte massive Flüchtlingsbewegungen zur Folge, eine ausreichende Lebensmittelversorgung war langfristig nicht mehr möglich (Corni und Gies, 1997, 575-582). Werbeabbildungen waren damals unterbunden, die Zeitungen zu kleinen, meist vierseitigen Ausgaben auf braunem Papier geschrumpft. Die Anzeigen spiegelten die recht ausweglose Situation, gaben aber zugleich Ratschläge, um daraus das Beste zu machen. Dabei halfen die beiden Haupteigenschaften des Nährmittels, nämlich einerseits seine geringe Zubereitungszeit, anderseits sein Nährwert. Ob alle satt werden, war ab Herbst 1944 wahrlich eine berechtigte Frage, denn die Rationen fielen beträchtlich. Doch mit Migetti ließ sich ein „dünnes Süpplein […] mühelos verbessern“ (Völkischer Beobachter 1945, Nr. 9 v. 11. Januar, 3). Das gelang in höchstens fünfzehn Minuten. Wichtig blieben weiterhin Präzision und Sparsamkeit. Migetti musste „löffelgenau“ verwendet und durfte nicht zu lange gekocht werden (Ebd. 1944, Nr. 322 v. 28. November).

22_Völkischer Beobachter_1944_12_05_Nr328_p3_ebd_12_23_Nr344_p3_Migetti_Eintopf_Kriegsernaehrung_Molke_Austauschstoffe

Küchenwinke vor Kriegsende (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 328 v. 5. Dezember, 3 (l.); ebd., Nr. 344 v. 23. Dezember, 3)

Strenge wurde mit Empathie verbunden, Ausdruck einer Volksgemeinschaft im Endkampf. Selbst Männer mussten nun an den Herd: „Schicke mir, bitte, Migetti – so schrieb er kürzlich an seine evakuierte Frau. Weshalb? Weil er herausgefunden hatte, wie zeitschnell und schmackhaft eine Migetti-Gericht herzustellen ist. Die Migetti-Rezeptpackung gibt sieben verschiedene Kochanweisungen, […]. Das geht eins, zwei, drei… und im Handumdrehen ist ein gutes Migetti-Gericht fertig“ (Ebd., Nr. 313 v. 17. November, 3). Auch für die Familie konnte er sorgen, war seine Gattin abwesend: „Vater bindet sich die Küchenschürze um und dringt in die Geheimnisse der Kochkunst ein. Er greift zur Migetti-Rezeptpackung, studiert Rezept 7… und 15 Minuten später steht eine sommerliche Migetti-Kaltschale vor ihm“ (Ebd., Nr. 310 v. 14. November, 3). Migetti erlaubte virile Selbstbehauptung auch bei Ausfall der Massenverpflegung: „Herr Meyer wälzt das Kochbuch – er ist Strohwitwer. Er sucht emsig nach einem Migetti-Rezept“ (Ebd. 1945, Nr. 15 v. 18. Januar, 3). All das erfolgte mit Augenzwinkern. Jede dieser Kleinanzeigen war Ausdruck einer sorgenden Diktatur, in der man zum nächsten Tag, zur nächsten Bewährungsprobe geleitet wurde: Davon geht die Welt nicht unter, / Sieht man manchmal auch grau. / Einmal wird sie wieder bunter, / Einmal wird sie wieder himmelblau…

Ausklang

Heutzutage ist Molke ein wichtiges Nebenprodukt der seit der NS-Zeit immens gewachsenen „deutschen“ Käseindustrie. Die Herstellung von Molkepulver sichert die Rentabilität dieser im globalen Wettbewerb führenden Branche. 2019 wurden hierzulande 310.000 Tonnen Molkepulver hergestellt. Es dient nicht allein als Viehfutter, sondern ist ein unverzichtbares Zwischenprodukt der Lebensmittelindustrie, zumal von Babynahrung (Corina Jantke, Richard Riester und Amelie Rieger, Milch, in: Agrarmärkte 2020, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2021, 121-152, hier 147). Die grün-gelbe Molke hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem „grünen“ alternativen Getränk gemausert, das frisch oder aber in Form von Molkeprodukten von fast zwei Millionen Bundesbürgern einmal pro Woche oder aber häufiger konsumiert wird (Statistica 2021). Und doch führt keine gerade Linie von den NS-Ernährungsplanern in die alternativen und gesundheitsbewussten Zirkel.

Molkenprodukte waren während der Besatzungszeit stark gefragt, die Forschung lief weiter auf Hochtouren und es fehlte auch nicht an politischer Unterstützung (Georg Willfang und Erika Willfang, Molken- und Abzeugverwertung für die Ernährungswirtschaft […], Süddeutsche Molkerei-Zeitung 68, 1947, 154-158). Neben Migetti wurden vor allem zahlreiche Molkegetränke entwickelt (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 547). Nicht nur das 1941 präsentierte Molkenbier fand Käufer, sondern insbesondere Lactrone, ein Erfrischungsgetränk auf Molkengrundlage, dass ebenfalls von der Bayerische Milchversorgung GmbH verkauft wurde. Es hielt sich einige Jahre und war eines der nicht wenigen Beispiele für Kontinuitäten zwischen der NS-Forschung und der vermeintlichen Wirtschaftswunderzeit (Uwe Spiekermann, A Consumer Society Shaped by War: The German Experience 1935-1955, in: Hartmut Berghoff, Jan Logemann und Felix Römer (Hg.), The Consumer on the Home Front […], Oxford und New York 2017, 301-312, hier 306-308).

Doch trotz eines breiten Angebotes insbesondere von Molkegetränken scheiterten die neuen Produkte auf Molkebasis (A. Hesse, Molkengetränke […], Zeitschrift für die Untersuchung der Lebensmittel 88, 1948, 499-506). Das gilt auch für die meisten damals in anderen Staaten entwickelten Angebote, waren die deutschen Bemühungen doch Teil internationaler Forschung und Produktentwicklung (V.H. Holsinger, L.P. Posati und E.D. BeVilbiss, Whey Beverages: A Review, Journal of Dairy Sciences 57, 1974, 849-859). Das galt auch für Migetti, das auf der Agrarmesse 1949 in Frankfurt a.M. noch hoffnungsfroh präsentiert wurde (Deutsche Milchhandels- und Feinkost-Zeitung 71, 1949, 399). Trotz steten Kaufs und im Gegensatz zu den relativ guten Kundenbewertungen galt es – wie in zeitgenössischen Analysen – als überholtes NS-Austauschprodukt (Fascism in Action. A Documented Study and Analysis of Fascism in Europe, Washington 1947, 161). Für Migetti war kein Platz mehr als die Rationierung auslief und Nährmittel wieder in ausreichender Zahl und Güte verfügbar waren.

Und doch war Migetti mehr als eine leidlich erfolgreiche Episode im recht langen Kapitel der Austauschstoffe der NS-Zeit. Es setzte vielmehr erstens Standards für die Entwicklung und Herstellung neuer Konsumgüter, stand zweitens für die stofflich und technologisch dominierte und von Konsumenteninteressen weitgehend unberührte Forschungs- und Entwicklungsarbeit der Lebensmittelindustrie und belegt drittens eine ideologisch letztlich indifferente Arbeit der Ernährungsfachleute. Max Erwin Schulz wurde 1950 Institutsdirektor und Professor an der Bundesversuchs- und Forschungsanstalt für Milchwissenschaft in Kiel – und war dann eine prägende Figur bei der grundstürzenden Rationalisierung der Milchwirtschaft in der Bundesrepublik und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Uwe Spiekermann, 1. Mai 2021

Waffe an der NS-Heimatfront – Der Eier-Austauschstoff Milei

Wer im Lebensmittelhandel einkauft, weiß häufig nicht, was er schließlich mit nach Hause trägt. Gewiss, Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch jedes Produkt ist doppelbödig, stofflich und rechtlich definiert, Ausdruck eines vorgelagerten Expertenwissens, ohne das der Einkauf gar nicht möglich wäre. Das hat große Vorteile, erlaubt der Mehrzahl sich dem Leben abseits der Mühen um die tägliche Kost zu widmen. Doch es führt zu Unschärfen, zu Ängsten um Selbstbestimmung und Gesundheit, um Identität und moralische Integrität. Und dabei bleibt es nicht: Denn dieser schielende Blick auf unseren Einkauf gibt anderen Experten Platz für ihre Dienstleistungen oder aber neue Produkte. All das ist eine stabile und zugleich dynamische Marktstruktur, getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft und Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges.

Dieses Hamsterrennen im konsumtiven Laufrad lässt sich analysieren (vgl. als Versuch Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018). Geschichtswissenschaft fürchtet nicht den Spiegel, blickt übermütig und mutig hinein, um zu erklären und zu verstehen, wie wir wurden, wie wir kauften. Und wenn das Gekaufte nur schemenhaft bekannt ist, so gilt es sich just mit ihm zu beschäftigen. Doch wo ansetzen? Der Einkauf besteht eben aus Produkten, die allesamt aus Einzelkomponenten zusammengesetzt sind – schon ein flüchtiger Blick auf die Pflichtangaben auf der Verpackung gibt einen blassen Eindruck von den wertgebenden Stoffen, von der im Produkt materialisierten Arbeit. Moderne Produkte sind Komposita, bestehend auch Einzelstoffen, zusammengesetzt aus Zwischenprodukten. Sie sind reale Konstruktionen für deren Verständnis die Einzelkomponenten und das ganze Produkt in den Blick zu nehmen ist. Milch ist Milch, ein trinkfertiges Ganzes – und zugleich eine aus Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, Wasser, Mineral- und Mikrostoffen zusammengesetzte Komposition, Ausfluss einer langen Kette von künstlicher Besamung bis hin zur Kühltheke.

Ich will Sie nun einladen, mit mir aus dem Theoriehimmel hinabzusteigen, um sich einem Beispiel zu widmen, das diese Doppelbödigkeiten genauer zu beleuchten hilft. Milei war ein Ende 1938 eingeführtes Milcheiweißpräparat, ein Eier-Austauschstoff, der bis weit in die 1960er Jahre bedeutsam war. Das Besondere an Milei war sein Doppelcharakter: Es war erst einmal ein Zwischenprodukt für das Lebensmittelgewerbe und die Massenverpflegung. Zugleich aber war es ein Markenartikel für Verbraucher, die es in Kriegs- und Nachkriegszeiten als Zutat für das häusliche Kochen und Backen nutzten. Milei verband in sich damit den Widerspruch jedes Konsumgutes, das Zweck und Mittel zugleich sein kann.

Wenige Sätze zur Vorgeschichte seien erlaubt. Die Zahl der Zwischenprodukte hatte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zugenommen. Es handelte sich anfangs meist um einfache Sortenabstufungen, wie etwa bei unterschiedlich ausgemahlenen Getreideprodukten. Konservierte Zwischenprodukte folgten, etwa getrocknete Gewürze oder Suppenzugaben. Das Feld erweiterte sich aufgrund wachsender Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung der Nahrungsmittel, die Stoffprofile denkbar machten. Verstand man das Ganze als Summe seiner Teile, so konnten einzelne Bestandteile ausgetauscht werden, waren preiswertere und auf bestimmte Zielgruppen zugeschnittene Produkte möglich. Nicht Milch wurde nun in den Blick genommen, sondern Milcheiweiß und Milchfett, dann die in der Milch befindlichen Amino- und Fettsäuren – und jede dieser Komponenten konnte gesondert gewonnen, verändert und weiterverwertet werden; zumindest theoretisch. Denn die Isolation, die Verarbeitung und dann die Lagerung und der Vertrieb hingen von Wissen und Infrastrukturen ab, die erst entwickelt werden mussten. Denken Sie etwa an die Konservierungstechnik, den Maschinenbau und die Verpackungsindustrie. Butter und Käse waren die tradierten Wege der Bewahrung von Milchfett und -eiweiß. Doch durch einfaches Filtrieren der Milch konnte man bereits im späten 19. Jahrhundert nicht nur Quark und Sauerkäse gewinnen, sondern auch das Eiweißprodukt Kasein, das als Zwischenprodukt in Seifen, Kosmetika, Lacken oder Photofilmen eingesetzt wurde. Filtrieren bedeutete Konzentration durch Wasserentzug. Ein anderer Weg zum Eiweiß war Hitzezufuhr. Trocknungsverfahren wurden erprobt, doch auch ein so einfaches Produkt wie Trockenmilch gewann erst kurz nach 1900 an Bedeutung, anfangs in der Säuglingsernährung, dann auch in der Lebensmittelverarbeitung (Trockenmilch, Der Konsumverein 5, 1907, 357). Erst die verstärkte Nachfrage der kaiserlichen Armeen und der darbenden städtischen Bevölkerung führten während des Ersten Weltkrieges zu technisch versierteren Verfahren, die derartigen Milchkonserven langsam auch den Weg in die Lebensmittelverarbeitung bahnten (J[osef] Tillmans, Trockenmilch, Kosmos 19, 1922, 43-45), so bei Würsten und Backwaren.

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Mahl- und Verpackungsraum der M. Töpfer Trockenmilchwerke in Böhlen, Sachsen, 1914 (Kurt Friedel und Arthur Keller (Hg.), Deutsche Milchwirtschaft in Wort und Bild, Halle a.S. 1914, 221)

Derartige Zwischenprodukte hatten wichtige Vorteile: Die spezialisierte Produktion ermöglichte Maschineneinsatz, größere Verarbeitungsmengen und damit geringere Gestehungskosten. Kasein und Trockenmilch waren deutlich länger haltbar als Frischmilch und konnten somit die noch beträchtlichen saisonalen Unterschiede im Milchaufkommen ausgleichen. Schließlich erlaubte ihre pastöse oder pulverige Konsistenz, sie anderen Nahrungsgütern rezeptgenau zuzufügen: Neue und/oder billigere Waren wurden so möglich. Ähnliche Veränderungen gab es bei fast allen landwirtschaftlichen Gütern, so auch bei Eiern. Doch noch waren Trocknungs- und Kühltechnik kaum ausgebildet, wussten Wissenschaftler und Unternehmer nur wenig von den Schädigungen des Eiweißes durch Hitze oder Kälte, wussten nichts über die erst 1911 entdeckten resp. benannten Vitamine. Daran scheiterten wissenschaftliche Utopien einer durch billige Eiweißpräparate auskömmlich ernährten Bevölkerung, die um die Jahrhundertwende vielfach geglaubt wurden (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Ein komplexes Milcheiweißprodukt wie Milei setzte weitere massive Grundlagenforschung voraus.

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Trockeneier als Hilfe in der eiarmen Zeit (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 39, 32)

Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ als Nährboden von Eier-Austauschstoffen

Während des Ersten Weltkrieges war das Marktpotenzial verarbeiteter Milch- oder Eiprodukte überdeutlich geworden. Das betraf nicht allein die Säuglings- und Kinderernährung, das Backen und den Herd. Eiweiß fehlte in allen Bereichen der Küchen, das Essen wurde bröselig und fad. Hinzu kamen wachsende gesundheitliche Schädigungen, denn trotz des wissenschaftlichen Ringens um physiologische Eiweißminima fehlte der breiten urbanen Bevölkerung und zuletzt auch Teilen der Truppe die vermeintlich aufbauende Substanz der Ernährung. Die Folgen waren Schwarzhandel, Inflation und ein wucherndes Ersatzmittelwesen, das bis Ende des Krieges nicht wirklich gebändigt werden konnte. Unter den damals registrierten 12.000 Produkten dominierten Getränkesubstitute, lediglich 33 Eier-Ersatzmittel wurden behördlich anerkannt (August Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1927, 60-61). Das spiegelte die immensen technischen Probleme in der Verarbeitung von Eiweiß, das kaum konserviert werden konnte, sich aber rasch zersetzte.

Für Wissenschaftler bedeutete dies Forschungspotenzial, für Agrar- und Ernährungspolitiker Forschungsbedarf und für Unternehmer und Milchgenossenschaften ein schwer zu entwickelndes Marktfeld. Entsprechende Bemühungen setzten schon in den frühen 1920er Jahren ein, getragen von notwendigen Rationalisierungen insbesondere der Milch- und Eierwirtschaft. Die ab 1919 wieder möglichen Importe dämpften diese ab, zumal die Anbieter etwa aus den Niederlanden, Dänemark oder osteuropäischen Staaten entweder qualitativ hochwertigere oder aber billigere Waren liefern konnten. Dies änderte sich langsam seit der internationalen Agrarkrise, die Schutzzölle und massive Subventionen nach sich zog. Sie erreichten einen ersten Höhepunkt während der Weltwirtschaftskrise, die nicht nur den Zerfall der ersten Globalisierung markierte, sondern von intensiven Debatten über Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ begleitet war (Spiekermann, 2018, 359-365). Die Nationalsozialisten waren dabei keineswegs Auslöser oder bestimmende Kräfte, doch nach ihrer Machtzulassung setzten sie in bisher unbekanntem Maße staatliche Gelder für Forschung und Entwicklung ein. Die während der 1920er Jahre nochmals gewachsene Importabhängigkeit der deutschen Ernährungswirtschaft – 1929 wurden lediglich 72% des Kalorienbedarfs im Inland produziert – band eben nicht nur beträchtliche Devisen, sondern unterminierte auch die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches. Der von Beginn an anvisierte Krieg konnte nur auf Grundlage neuen Wissens und neuer Produkte „erfolgreich“ geführt werden (Spiekermann, 2018, 351-359).

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Importe als Gefährdung der deutschen Wirtschaft (Kladderadatsch 85, 1932, Nr. 43, s.p.)

Die Folgen waren einerseits eine massive Rationalisierung der Agrarwirtschaft, anderseits aber neuartige Lebensmittel: „Wir müssen schließlich bei vielen Erzeugnissen eine verbesserte Grundlage der deutschen Rohstofflage herbeiführen. Nicht Ersatzstoffe dürfen geschaffen werden, sondern neue Erzeugnisse, die vielleicht noch besser sind als die bisherigen“ – so etwa der nationalsozialistische Chemiker Hans-Adalbert Schweigart (1900-1972) (Aufgaben der landwirtschaftlichen Gewerbeforschung, Der Forschungsdienst 1, 1936, 87-89, hier 88). Dabei konzentrierten sich Wissenschaftler, Militärs und Unternehmer gleichermaßen auf die Minimierung der sog. Fett- und Eiweißlücken, denn bei diesen Stoffen war die Abhängigkeit vom Ausland besonders groß. Dazu galt es, heimische Rohstoffe effizienter zu nutzen und neue technische Verfahren zu entwickeln, um nährende Zwischenprodukte zu entwickeln (Fritz Steinitzer, Deutsche Technik und Ernährungsfreiheit, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 192-194, hier 192). Das war damals Ausdruck deutschen Erfindergeistes und wurde entsprechend offensiv propagiert: Verwertung von Blut, Fischmehl, Fischeiweiß, Hefe, Holzabfällen und Sulfitablaugen, Eiweißschlempe, synthetischem Harnstoff, synthetischen Fette sowie – eigentlich nach vorn zu setzen – Milcheiweiß. Noch handelte es sich dabei um Zwischenprodukte für die Lebensmittelproduktion, die an Bedeutung rasch wachsende Massenverpflegung und die Wehrmacht. Der Vierjahresplan intensivierte einschlägige Forschungen seit 1936 nochmals – und die Investitionen führten zu Ergebnissen.

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Neue Zwischenprodukte für Backstuben und Großbetrieb: Werbung für Schoeterol und Plenora (Mehl und Brot 40, 1940, 455; ebd., 42, 1942, 123)

1938 wurde etwa Aminogen eingeführt, ein mit Pektin versetztes Magermilchpräparat, oder auch Albugen, eine getrocknete und mit Zucker und Pektin versetzte Eiweißmasse, die schlagfertig war und in Haushalten und Bäckereien das Eiereiweiß ersetzten sollte. Damit war es gelungen, Eiweiß aus Magermilch, einem bis dato vor allem in der Tierfütterung eingesetzten Reststoff der Butterproduktion, für den Menschen neuartig nutzbar zu machen. Weitere Präparate sollten folgen, etwa Schoeterol, Plenora und eben Milei. Die verschiedenen Präparate waren dabei nicht nur Ausdruck erfolgreicher Forschung. Die Zersplitterung des Angebotes verwies auch auf die nach wie vor bestehenden Defizite dieser Austauschprodukte für Eier. Der Eiweißgehalt stimmte, stammte auch aus billigen heimischen Rohstoffen. Doch sie alle besaßen Defizite im Geschmack oder aber in der Verarbeitungsqualität. Hühnerweiß war ein probates Bindemittel und konnte zu Eischnee geschlagen werden, gab Speisen und Produkten eine ansprechende Konsistenz und Textur. Die neuen Milcheiweißpräparate versuchten allesamt diesem Ideal zu genügen, doch ein vollwertiger Ersatz gelang nicht.

Bevor wir uns genauer mit Milei auseinandersetzen, ist noch ein Blick auf die Eierversorgung dieser Zeit erforderlich. Das Milcheiweiß übersprang nämlich die Branchengrenzen: Kuhmilch sollte das Hühnerei substituieren. Letzteres war das drittwichtigste tierische Lebensmittel – nach Fleisch und Kuhmilch. Zumeist in kleinen, bestenfalls mittleren Betrieben herstellt, war der Importdruck durch die qualitativ überlegene und vielfach billigere ausländische Konkurrenz jedoch besonders spürbar. Noch 1936 wurde ca. ein Sechstel des Inhaltsbedarf durch Importe gedeckt ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Taf. IV). Anders als in der Milchwirtschaft stand die Forschung in der Eierbranche erst in den Anfängen (Bernhard Grzimek, Die Forschungstätigkeit in der Eierwirtschaft, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit, Neudamm und Berlin 1938, 581-584). Zugleich war das Hühnerei eine hochgradig saisonale Ware: Fast sechzig Prozent der heimischen Eier wurden in nur vier Monaten gelegt, von März bis Juni (Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 25). Die Importe glätteten die Versorgungstäler zumal im Herbst und im Winter, waren daher für die Grundversorgung vielfach notwendig. Kühlhäuser fehlten und die übliche Haushaltskonservierung mit kalkhaltigen Präparaten ergab leicht muffig schmeckende Eier, die für Backwerk nicht richtig genutzt werden konnten. Milcheiweißpräparate waren daher unabdingbar für die allseits propagierte „Nahrungsfreiheit“. Schon im Frieden waren sie kriegswichtig.

 Milei als Verbundprojekt von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat

Seit Dezember 1938 wurde Milei als „Schlagfähiges Milch-Eiweiß-Erzeugnis“ (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. v. 155) angeboten. Es bestand aus 90 % Magermilch, 10 % Molke sowie technischen Hilfsstoffen und wurde anfangs von der Württ[embergi­schen] Milchverwertung AG, Stuttgart, ab 1940 dann von ihrem neu gegründeten Tochterunternehmen, der Milei-GmbH, hergestellt. Milei entstand im Gefolge umfassender, im Milchwerk Stuttgart durchgeführten Versuche der württembergischen Dienststelle Vierjahresplan und des württembergischen Wirtschaftsministers (Weihnachtsgebäck mit „Milei“, Badische Presse 1938, Nr. 330 v. 30. November, 6). Milei – eine Abkürzung für Milcheiweiß – diente als Austauschstoff für Hühnereiweiß, denn es konnte zu Eischnee geschlagen und verbacken werden. Anders als manche Vorgängerprodukte deckte es damit eine breite Palette der süddeutschen Mehlspeisenküche ab. Nudeln und Spätzle, Waffeln und Pfannkuchen, Klöße und Knödel, Schaumspeisen und Aufläufe, Kleingebäck und einfache Kuchen – in all diesen Fällen konnte Milei „Volleier“ nahezu gleichwertig ersetzen, nachdem Ende 1939 auch Milei G produziert wurde, ein Austauschstoff für Eigelb.

Das neue Milcheiweiß war Ergebnis kleinteiliger und langjähriger Forschungen. Auch wenn die Patente letztlich auf den Maschinenbauingenieur Karl Kremers liefen, so profitierte dieser doch von der durch das Milchgesetz von 1930 beschleunigten Verwissenschaftlichung und wirtschaftlichen Rationalisierung der Milchwirtschaft. Die Details der Produktentwicklung sind mangels aussagefähiger Archivalien nicht exakt nachzuzeichnen. Doch die groben Züge dieser gemeinsamen Anstrengung von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat sind recht klar:

Karl Kremers hatte 1930 an der TH Aachen mit einer Arbeit über „Das System Kupfer-Zink“ promoviert, die aus gemeinsamer Forschung mit seinem akademischen Lehrer Rudolf Ruer (1865-1938) hervorgegangen war (Ders. und Karl Kremers, Das System Kupfer-Zink, Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 184, 1929, 193-221). Ruer, eine Kapazität im Felde der physikalischen Chemie, sollte 1933 aufgrund seines jüdischen Glaubens in den Ruhestand gezwungen werden. Kremers forschte anschließend weiter im eingeschlagenen Forschungsfeld, wandte sich jedoch parallel der Lebensmitteltechnik zu. 1933 beantragte er – gemeinsam mit seinem Aachener Kollegen Heinz G. Hofmann – ein erstes Patent zur „Gewinnung von Eiweißstoffen aus Molken und Vorrichtungen zur Ausführung des Verfahrens“. Preiswertes Molkeeiweiß, Reststoff der Käseproduktion, sollte mittels Elektrizität verändert und einfach gewonnen werden (Chemisches Zentralblatt 1935, Bd. II, 2898). Weitere Patentanmeldungen folgten 1935 (Die Chemische Fabrik 8, 1935, 336, gemeinsam mit Heinz G. Hofmann) und 1938 (DRP 725955; DRP 739983), doch ihre kommerzielle Nutzung übernahm ein neues Unternehmen: Am 28. Februar 1938 wurde in Stuttgart die Forschungsgemeinschafft Dr. Kremers GmbH gegründet – eine Woche nach Erteilung des Milei-Patentes. Geschäftsführer war Dr. Friedrich Brixner (1904-1975), der starke Mann und Vorstandsvorsitzender der Württembergischen Milchverwertung AG, die bis spätestens Ende 1942 mit 50% beteiligt war (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4). Unternehmensgegenstand war „die Ausarbeitung, der Erwerb und der Vertrieb von Verfahren, Patenten und sonstigen Schutzrechten, die zur Verarbeitung und Verwertung der Milch von Tieren aller Art, der Milcherzeugnisse und der Bestandteile der Milch sowie eiweißhaltiger Lösungen tierischen und pflanzlichen Ursprungs geeignet sind, im In- und Auslande, insbesondere der Erfindungen und Schutzrechte des Dr. Karl Kremers“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 61 v. 14. März, 8). Kremers beantragte ab 1939 auch internationalen Rechtsschutz: Der US-Patentantrag von Milei (No. 257240) war am 18. Februar 1939 eingereicht worden, der für Milei-G folgte am 16. Mai 1939. Die Firma hielt auch in Frankreich, Belgien, Spanien und der Schweiz Patente, wahrscheinlich auch in weiteren Staaten. Kremers verbesserte die Produktionstechnik kontinuierlich, wobei er sich besonders auf die Verarbeitungsqualität von Magermilchpräparaten konzentrierte (Chemisches Zentralblatt 1945, Bd. II, 88 und 313).

Die angewandte Forschung wurde durch staatliche Stellen unterstützt, doch von mindestens gleicher Bedeutung war die Förderung durch die Württembergische Milchverwertung. Dabei handelte es sich um eine 1930 von regionalen Milchproduzenten gegründete Aktiengesellschaft, die ihr Entstehen der mit dem Milchgesetz verbundenen strikten Regulierung der Milchwirtschaft verdankte. Das Unternehmen übernahm 1933 die Milchversorgung Stuttgart GmbH, die nicht nur Butter, Quark und Joghurt produzierte, sondern 1936 auch 693,5 Tonnen Magermilchpulver, 387,3 Tonnen Vollmilchpulver und kleinere Mengen Butter- und Sahnepulver herstellte (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht 1936, Stuttgart 1937, 9). Die Württ. Milchverarbeitung war profitabel und wuchs rasch. 1937 erwirtschaftete sie einen Reingewinn von 65.237 RM, 1939 von 66.250 RM – bei einer Bilanzsumme von 4,42 resp. 6,59 Mio. RM (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7; ebd. 1940, Nr. 131 v. 6. Juli, 9). In der Bundesrepublik entwickelte sich aus dem Württ. Milchverwertung die Südmilch AG, die ihrerseits 1996 in der Campina AG aufging, heute FrieslandCampina Germany GmbH.

Die Stuttgarter Firma vertrieb Milei 1939/40 unter eigenem Namen, legte diese Arbeit jedoch nach Kriegsbeginn in die Hände einer Tochterfirma, der Milei GmbH. Diese wurde „anfangs“ 1940 mit Unterstützung der Hermann-Göring-Werke gegründet, ausgestattet mit einem Stammkapital von 250.000 RM (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht für das 10. Geschäftsjahr […] 1940, Stuttgart 1941, 5; E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 88-89). Wohl zur Sicherung der eigenen Produktion übernahm sie im August 1940 die nahe der heutigen Universität gelegene Stuttgarter Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik für 199.500 RM (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 230 v. 1. Oktober, 10). Als Geschäftsführer fungierten Otto Häußler (Vorstand der Württ. Milchverwertung AG, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7), Karl Feneberg (früherer Geschäftsführer der Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik in Birkenfeld, Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 98 v. 30. April, 9 und Geschäftsführer der Milei GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 212 v. 10. September, 6)) und Alfred Schächtel, früherer Prokurist von Eiermann (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 25 v. 1.

Was war Milei?

Kommen wir zum Produkt selbst: Milei war ein Milcheiweißpräparat aus Magermilch und Molke. Hinter dem Namen verbarg sich anfangs ein Eiweißaustauschstoff, der sich gut zum Aufschlagen und Backen eignete. Dazu wurde nahezu vollständig entfettete Magermilch oder aber eine mit Natriumhydroxid neutralisierte Mischung aus Magermilch und Molke verwandt. Diese Grundmasse wurde anschließend in einem Vakuumverdampfer aus rostfreiem Stahl auf etwa 40 Prozent ihres Ausgangsgewichtes eingetrocknet und dann mit Kalkmilch auf einen pH-Wert von über 7 gebracht. Dieses Gemenge wurde schließlich per Sprühtrockner auf einen Feuchtigkeitsgehalt von 3-4 Prozent reduziert. Die Trockentemperatur durfte dabei 60° C nicht überschreiten. Am Ende stand ein weißes Pulver, das unmittelbar gemahlen und verpackt werden konnte (Vgl. die Patentschrift US2349969A.pdf sowie Bate-Smith et al., 1946, 89-91; N.E. Holmes und J.F. Kefford, The Manufacture of „Milei‘ Egg-Substitutes, London s.a. [1946] (B.I.O.S. Trip, Nr. 3344)).

„Milei“ entwickelte sich seit 1939 zu einer Dachmarke. Während Milei Eiweiß substituierte, diente das kurz nach Produktionsbeginn zusätzlich hergestellte Milei G dem Ersatz von Eigelb. Milei G wies im Gegensatz zu Milei keinen Molkenzusatz auf, konnte durch die Wahl unterschiedlicher Trocknungsgrade auch für verschiedene Nutzungsarten aufbereitet werden. Als Zusatzstoffe dienten Dinatriumhydrogenphosphat (heute auch bekannt als E 339), Johannisbrotkernmehl und gelbe Lebensmittelfarbe, wohl das bald darauf verbotene krebserregende Buttergelb (Holmes und Kefford, 1946, 2-3; 274000kremers.pdf). Die Milei GmbH nutzte auch weitere Patente, etwa für schaumfähige Produkte aus Kasein, eine Innovation des Nürnberger Milchwissenschaftlers Max Erwin Schulz (1905-1982) vom Juli 1938. Dennoch ist es auch ohne fundierte lebensmittelchemische Kenntnisse offenkundig, dass es sich bei den Produktionsverfahren nicht um High-Tech handelte, sondern um relativ einfach umsetzbare, also „robuste“ Technik. Als Trocknungsanlagen verwandte man etwa die schon seit 1931 im Deutschen Reich eingeführten Krause-Anlagen, nutzte also Bewährtes (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 60, 1931, 183). Dadurch war eine rasche Umsetzung des Wissens in Produkte möglich.

Die damaligen Planer und Wissenschaftler rückten andere Sachverhalte in den Vordergrund. In der volkswirtschaftlichen Fachpresse hieß es: „Milei ist ein schlag- und backfähiges, in Wasser lösliches Pulver, das in reiner Form […] die vollständigen Eiweißstoffe der Milch enthält […]. Der volkswirtschaftliche und privatwirtschaftliche Nutzen dieser Erfindung ist vielseitig. Sie verspricht, die seit Jahren schwierige Eierversorgung zu entlasten, die Haushaltsführung zu verbilligen, die Milchverwertung des Landmanns zu verbessern, und sie bahnt schließlich auch eine Verbesserung der Eiweißbilanz der deutschen Ernährungswirtschaft an“ („Milei“ statt Knickei, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1303). Milei war nicht nur strategisch wichtig, sondern konnte bereits vor Kriegsbeginn die Auswirkungen des japanischen Krieges gegen China vermindern. Großküchen und Bäckereien waren vielfach abhängig von billigen importierten chinesischen Flüssigeiern, die 1938 etwa ein Achtel der Eierimporte ausmachten. Milei sollte erst einmal helfen, den gewerblichen Eierbedarf zu decken, der ungefähr zwei Fünftel des Gesamtverbrauchs abdeckte. Ökonomisch konnte dies mit einer deutlichen Verbilligung einhergehen, denn die Eiweißkosten von Milei lagen bei der Hälfte des Hühnereiweißes.

Produkteinführung vor dem Kriege

Trotz solcher um die gewerbliche Lebensmittelversorgung kreisenden Überlegungen wurde Milei jedoch seit Ende 1938 auch als Markenartikel im Einzelhandel angeboten. Schoeterol und Plenora, Aminogen und Albugen blieben den Fachleuten vorbehalten, waren und blieben Zwischenprodukte in den rückwärtigen Bereichen von Handwerk, Lebensmittelproduktion und Großküchen. Milei aber war von Beginn an ein Alltagsprodukt, das einschlägig beworben wurde.

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Produkteinführung unter dem Logo der Württ. Milchverwertung und der Milchversorgung Stuttgart (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Anfangs war es die Württ. Milchverwertung AG, die zusammen mit der Milchversorgung Stuttgart das in kleinen Metalldosen verpackte Milei vertrieb (Badische Presse 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 17, ebd., Nr. 50 v. 19. Februar, 17). Die luftdichten Verpackungen enthielten 20 bzw. 40 Gramm und entsprachen 4 bzw. 8 Volleiern resp. 8 bzw. 16 Hühnereiweißen (F[ritz] St[einitzer], Austauschstoffe für das Ei in der Küchentechnik, Zeitschrift für Volksernährung 15, 1940, 9-10). Die Verbraucher mussten allerdings wahrlich an die Hand genommen werden, denn das neuartige Pulver erforderte einen steten Zwischenschritt, musste nämlich vor der Verarbeitung in Wasser aufgelöst werden. Analoge Anzeigen wurden auch in der Fachpresse der Gemeinschaftsverpflegung geschaltet (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. vor 155). Neben Milei, seit Frühjahr 1941 Milei W (für Weiß = Eischnee), trat Ende 1939 Milei G (für Gelb = Eigelb) (Badische Presse 1939, Nr. 181 v. 5. Juli, 11).

Die Begleitpublizistik der gelenkten deutschen Presse kombinierte Sachinformationen mit Lobpreisungen des deutschen Forschergeistes: „Dass Kühe nicht nur Milch und Fleisch liefern, sondern auch Hühnereier produzieren sollen, wird manchem zunächst reichlich unglaublich und unvorstellbar erscheinen. Dennoch ist es ein Wunder, das tatsächlich geschieht und das die moderne Nahrungsmittelchemie möglich gemacht hat“ (Eiweiß und Eigelb aus Milch, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1940, Nr. 46 v. 20. Juli, 8). Wie einst der Rübenzucker und der Zichorienkaffee die Kontinentalsperre überwinden halfen, so könnten nun moderne Eier-Austauschstoffe die notwendige Abkehr Deutschlands von den Weltmärkten absichern. Ja mehr als das. Milei war eben kein „Ersatzmittel“, sondern vollwertiger „Ausgleich, der sich von dem Hühnereiweiß nur in einem unterscheidet, nämlich daß der Stoff, aus welchem es hergestellt wird, reichlich vorhanden ist, während die Eier immerhin knapper sind“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Sein Kauf war Dienst am Volke, zugleich doppelt nützlich: „Die Verwendung von Milei in der Küche hilft in hohem Maße Devisen sparen und ist auch für den einzelnen Haushalt wirtschaftlich vorteilhaft, da Milei viel billiger ist als Eier“ (Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 247 v. 24. Oktober, 5). Dieses Nutzenkalkül wurde statistisch unterfüttert: „88,5 Millionen Hühner legten 1938 6,4 Milliarden Eier. Eine hübsche Menge! Aber nicht genug, um den Verbrauch von 8,1 Milliarden Stück zu decken […]. Aber jetzt tritt Milei auf den Plan“ (Rudolf Vogel, Milei und das Hühnerei, Das Kleine Volksblatt 1939, Nr. 91 v. 2. April, 18). Im Ausland wurde es dagegen als Ausdruck einer Kriegswirtschaft vor dem Kriege verstanden (Der Bund 1939, Nr. 155 v. 2. April, 12).

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Einführungswerbung von Milei durch den Karlsruher Lebensmittelfilialisten Union (Badische Presse 1939, Nr. 40 v. 9. Februar, 5)

Die Produkteinführung beruhte neben der Anzeigenwerbung vor allem auf Koch- und Rezeptbüchern, auf Rezepten in Tageszeitungen oder aber allgemeiner Kochbüchern (Sigma Kochanleitung. Eine Auslese bewährter Rezepte und Betriebsanleitung für den Sigma Elektroküchenherd, Mannheim 1939, 54-56). Auch die nach Kriegsbeginn unmittelbar geschalteten Anregungen für einen Wochenküchenzettel verbreiteten die Kenntnis des neuen Produktes (Badische Presse 1939, Nr. 219 v. 12. August, 10; Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 193 v. 19. August, 12; ebd., Nr. 214 v. 13. September, 8; Badische Presse, Nr. 284 v. 16. Oktober, 5; ebd., Nr. 291 v. 23. Oktober, 4). Sie stammten aus den Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes, das Milei zudem mit ihrem Sonnenzeichen ausgezeichnet hatte. Rezepte wirkten wie Gütezeichen durch erfahrene Hausfrauen und studierte Hauswirtschaftslehrerinnen. Die Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes präsentierten zudem regionalspezifische Rezepte, zerstreuten so Vorstellungen dekretierter Einheitsküche. Sie halfen den Kartenbezieherinnen zugleich, das neue Produkt in just ihrer Küche zu verwenden.

Die in Tageszeitungen veröffentlichen Rezepte ließen teils noch die Wahl, lauteten auf „1 Ei oder Milei“ (Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 252 v. 27. Oktober, 5). Teils aber gaben sie nur noch die Zahl der notwendigen Löffel Milei an (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 51 v. 23. Dezember, 3; Land und Frau 24, 1940, 244). Auch für die Weihnachtsbäckerei waren einschlägige Milei-Rezepte verfügbar (Der Führer am Sonntag 1939, Nr. 46 v. 17. Dezember, 3). All dies war begleitet von gesonderten Werbe- und Rezeptbroschüren der Württ. Milchverarbeitung und der Milei GmbH, deren Umfang zwischen 12 und 16 Seiten schwankte (Milei-Rezepte für die Hausfrau, Stuttgart 1939; Milei in der Großküche, Stuttgart 1939; Rezepte für die Gemeinschaftsverpflegung, Stuttgart 1940). Zum wichtigsten derartigen Werbemittel mutierte das so genannte grüne Milei-Merkbuch für die Hausfrauen. Es umfasste immerhin 36 Seiten, enthielt Abbildungen und eine nicht wirklich anheimelnde, doch nützliche Palette von Rezepten für Kurz-, Spar- und Restgerichte, Kleingebäck und die Kinderernährung (Zeitgemäßes Kochen – Backen – Braten, Stuttgart 1940).

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Einführung von Milei durch das Deutsche Frauenwerk (Der Führer 1939, Ausg. v. 15. Januar, 8)

Der Kriegsbeginn war für Milei eine kommerzielle Chance, denn nun wurde es reichsweit propagiert. Die Ernährungsführung legte gezielt nach, lieferte im Oktober 1939 etwa je 400.000 Dosen in die Metropolen Berlin und Wien (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). „Das Ei aus der Milch“ – so ein Slogan – wurde offensiv beworben. Zentral war dabei die Schlagfähigkeit des neuen Produktes, Beleg seiner Hühnereiebenbürtigkeit. Die Werbung selbst hatte mehrere Väter. Einer davon war Anton Stankowski (1906-1998), ein früherer Folkwankschüler. Er hatte von 1929 bis zum Entzug der Aufenthaltsgenehmigung 1934 in der Schweiz gearbeitet, war dann in Lörrach tätig und machte sich 1938 als Graphiker in Stuttgart selbständig. Dort arbeitete er für NSU und Milei, bevor er ab 1940 zum Kriegsdienst einberufen wurde (Hans Neuburg, Anton Stankowski, Gebrauchsgraphik 22, 1951, Nr. 7, 10-22, hier 18). Nach dem Weltkrieg wurde er Schriftleiter der Stuttgarter Illustrierten und setzte seine Arbeit für Milei fort. Stankowski wurde in der Bundesrepublik zu einem der wichtigsten Typographen, seine Firmenlogos begleiteten und prägten die prosperierende Bonner Republik (Iduna, Vissmann, Rewe, Deutsche Bank, Vereinigte Versicherungen, BKK, etc.). Auch wenn nicht genau abzuschätzen ist, wie weit er die Milei-Werbung zumal nach 1940 prägte, so ist deren klare funktionalistische Formensprache doch auch auf Stankowskis (Mit-)Wirken zurückzuführen.

Diese realisierte, dass Milei ein technisches Produkt war, materialisiertes Know-how. Darin glich es technischen Produkten, Motorrädern, Radios oder Elektrokühlschränken. Mileis Verbreitung war auch eine präziser Gebrauchsanweisungen, die sich auf den Dosen, dann auf dem Rücken der bald üblichen Papierpackungen fanden. Die Werbesprache zielte entsprechend nicht auf Atmosphäre oder Gefühle: Es ging vielmehr um die Programmierung des Hausfrauenhandelns, um Wissen, Pflicht und Tun. Das lag nahe angesichts der rasch spürbaren Härten der frühen Rationierung, die einen allgemeinen Gewichtsverlust der Bevölkerung billigend in Kauf nahm (vgl. aus vornehmlich rechtlicher Sicht Fritz Keller, Kochen im Krieg. Lebensmittelstandards in Deutschland und Österreich 1933 bis 1945, Wien 2017). Die gelenkten Medien verlautbarten entsprechend: „Wir kaufen, was der Markt uns bietet! Wir lassen nichts umkommen!“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Und rasch wusste die Hausfrau, wie sie mit dem weißen Pulver umzugehen hatte: Es war mit etwas Wasser vorzubereiten. Milei W wurde geschlagen, Milei G dagegen ungeschlagen weiter verarbeitet. Bei Fleisch- und Fischspeisen oder aber Nudeln konnte dies unterbleiben. Frischeier sollten dem Frischverbrauch vorbehalten sein, als Frühstücksei den Sonntagstisch zieren. Ansonsten konnten sie durch Milei ersetzt werden (Illustrierte Flora und Nützliche Blätter 65, 1941, Beil., 20).

Etablierung in Bäckereien und Gemeinschaftsverpflegung

Die Verwendung von Milei im Haushalt war ein Zugeständnis an die Konsumenten, denn Neues ließ sich einfacher in der Lebensmittelproduktion und der Gemeinschaftsverpflegung einführen. Wer schmeckte schon die Soja im Bratling, das „deutsche Gewürz“ im Eintopf, den Eier-Austauschstoff in der Wurst. Milei aber etablierte sich als Breitbandangebot, als Innovation für Alle: „Heute wird Milei und Milei G. nicht nur bei der Wehrmacht und in Grossküchenbetrieben, sondern auch in Bäckereien und darüber hinaus, soweit es die Produktionskraft möglich macht, auch in jedem Haushalt verwendet“ (Eiweiß, 1940). Entsprechend nahm Milei auch regulative Hürden ohne größere Probleme, wurden gleich nach Kriegsbeginn doch Kennzeichnungspflichten zugunsten des neuen Austauschstoffes reduziert: Speiseeis durfte ab November 1939 ohne Kennzeichnung auch mit Milei G produziert werden, ein Anreiz für Konditoren und Industrie (Ministerialblatt für die badische innere Verwaltung 1939, Sp. 1288).

Die rückwärtigen Lebensmittelsektoren erhielten zudem Spezialprodukte: Milei G II war ein Eigelbersatz mit hohem Lockerungs- und Schaumvermögen, das nach dem Auflösen unmittelbar in Bäckerei und Großküche verarbeitetet werden konnte. Die Milei GmbH etablierte einen eigenen Aufklärungsdienst und bot Schaukochen und Weiterbildungen an (Hamburger Neueste Zeitung 1941, Nr. 80 v. 4. April, 3), nutzte daneben die schon erwähnten Rezeptbücher. Der günstige Preis half, in der Bäckerei das Hühnereiweiß weiter zu ersetzen, ebenso in der Wurst- und Suppenfabrikation. Auch Krankenhausküchen griffen zum Austauschstoff (Hans Glatzel, Krankenernährung, Berlin (W), Göttingen und Heidelberg 1953, 394). Überraschend ist allerdings, dass die Milei-Werbung Bäckereien und Großküchen nicht grundlegend anders als Hausfrauen ansprach. Dies ist nur vor dem Hintergrund der kleinteiligen Produktions- und Absatzstruktur der Bäckereien zu verstehen. Im Deutschen Reich war die Zahl größerer Backwarenproduzenten gering, gab es keine wirklich bedeutenden Filialbetriebe. Die Werbung auch in der Fachpresse blieb leicht verständlich.

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Vermittlung grundlegender Kenntnisse über Milei (Mehl und Brot 42, 1942, 345 (l.); ebd. 187)

Das änderte sich auch nicht Mitte 1942. Damals wurde Milei V (= Vollei) als verbessertes Substitut für Eiweiß eingeführt, ersetzte Milei G II (Mehl und Brot 42, 1942, 365). Derartige Maßnahmen folgten aber nicht nur weiterer Forschung oder neuen Maschinen. Sie spiegelten auch die Kriegssituation: Milei G wurde anfangs mit Hilfe von Fruchtkernmehl produziert, einem Bindemittel aus Johannisbrotkernmehl, das aus Italien und Marokko importiert wurde. Doch die Zufuhren brachen weg und mussten durch Bohnenmehl ersetzt werden, dessen Viskosität deutlich niedriger lag (Holmes und Kefford, 1946, 1-2). Qualitätsschwankungen waren die Folge, zumal die Produktionsstätten unterschiedlich ausgestattet waren. Auch der spürbare Mangel an Verpackungsmaterial hatte Auswirkungen auf das Produkt. Die Magermilch wurde im Laufe des Krieges immer stärker evaporiert, obwohl die Bäckereien eigentlich ein luftigeres Präparat bevorzugten, das schaumigere Ware ermöglichte. Ein stärker getrocknetes Produkt verbrauchte jedoch weniger Verpackungsmaterial. Üblich waren mehrlagige Säcke von 25 Kilogramm Gewicht. Die Bäcker mussten also entweder die Gebäckmassen stärker schlagen oder eine weniger ansprechende Ware verkaufen. Gleichwohl funktionierten die Gewerbebetriebe bis zum Kriegsende willig und gläubig. Sie waren unmittelbar von Rohstoffzuweisungen der Behörden abhängig – und damit leicht zu sanktionieren und zu lenken.

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Gewährleistung der Alltagsversorgung: Milei-Werbung in der Endphase des Krieges (Mehl und Brot 43, 1943, 419 (l.); ebd. 44, 1944, 239)

Akzeptierte Alternative zur Eiernot: Milei im System der Rationierung

Widerstand blieb auch bei der Bevölkerung eine Ausnahme, weit verbreitetem Murrens zum Trotz (Andrea Brenner, „Milei“ und Sojabohne. Ersatzlebensmittel im Zweiten Weltkrieg, Wiener Geschichtsblätter 62, 2007, H. 3, 28-53; Fritz Keller, Wie „Ostmärkische Leckermäuler“ den Eintopf verdauen lernten, Zeitgeschichte 34, 2007, 292-309). Milei betraf dies kaum. Selbst die Gewährsleute der sozialdemokratischen Opposition vermerkten in einem Sonderbericht über Ersatzspeisen: „Es gibt aber auch Ersatzmittel, die in Geschmack und Verwendungsfähigkeit einigermaßen dem Original entsprechen, z. B. das Milei, das hauptsächlich aus Milcheiweiß besteht.“ Vor dem Krieg eingeführt, wurde es nun „ erst allgemein gebraucht und auf jeweils bekanntgegebene Markenabschnitte der Lebensmittelkarte abgegeben“ (Beides n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 6, 1940, 65).

10_Straßburger Neueste Nachrichten_1940_10_13_Nr086_sp_Neues Wiener Tagblatt_1941_03_28_Nr13_p12_Milei_Austauschstoff_Eier

Austauschstoffe als Küchenereignisse (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1940, Nr. 86 v. 13. Oktober, 86, s.p. (l.); Neues Wiener Tagblatt. Wochenausgabe 1941, Nr. 13 v. 28. März, 12)

Die relative Akzeptanz von Milei war auch Folge einer breit gestreuten und sachlich gehaltenen Werbesprache. Zudem wurde Milei verlässlich geliefert, war das technische Produkt angesichts des immer noch recht breiten Anfalls von Magermilch und Molke von saisonalen Schwankungen kaum betroffen. Zudem wurde die Produktion rasch hochgefahren. Mitte 1940 wurde der Austauschstoff bereits in acht Betriebsstätten produziert, war die Milei GmbH damit „das grösste Unternehmen seiner Art in Deutschland“ (Eiweiß, 1940).

11_Das Blatt der Hausfrau_53_1939-40_p517_Milei_Eier_Austauschstoff_Eischnee

Das Neue verarbeiten: Eischnee mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 517)

Entscheidend für die Akzeptanz beim Verbraucher dürften jedoch die küchentechnischen Eigenschaften des Eier-Austauschstoffes gewesen sein. Er hielt schlicht, was er versprach. Dies resultierte auch aus seiner relativ späten Einführung. Die frühen Eier-Austaustoffe dienten vorwiegend ihrem Primärzweck, nämlich der Verwertung billiger und allseits verfügbarer Rohware. Bei späteren Produkten berücksichtigte man dagegen die küchentechnischen Eigenschaften höher, den Geschmack stärker (M[ax Erich] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Ohne ordentlichen Geschmack kein erfolgreicher Krieg.

Doch Milei war auch ein Kopfprodukt. Als Austauschstoff half es, die strukturelle Veränderung der Alltagskost zu begrenzen, der sich die meisten Konsumenten nicht entziehen konnten. Generell sank der Kalorienverbrauch (Vorkriegszeit = 100) über 91 Prozent 1939/30 und 1942/43 auf 86 Prozent 1944/45. Während der Kohlehydrateanteil aber moderat auf 102 Prozent stieg, sank vor allem der Anteil der Fette, der 1944/45 nur noch 53 Prozent des (nicht eben üppigen) Vorkriegskonsums erreichte. Der Eiweißgehalt der Alltagskost konnte bis 1943/44 dagegen fast auf Vorkriegshöhe gehalten werden, sank erst 1944/45 auf dann 91 Prozent. Tierische Eiweißquellen machten damals noch 69 Prozent aus, bremsten damit die allgemeine Vegetabilisierung der Ernährung (Angaben n. Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, s.l. s.a. (Ms.), s.p.). Milei stützte während des Zweiten Weltkrieges vor allem den wegbrechenden Eierkonsum. Dieser lag 1944/45 nur mehr bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte: 1939/40 handelte es sich um 140 Stück pro Kopf, 1941/41 um 87 und 1944/45 schließlich um 68 (Häfner, s.a.). Anfangs ergänzten Importe vor allem aus Dänemark, den Niederlanden und Bulgarien den Konsum, doch schon 1943/44 lagen die Werte bei lediglich einem Zehntel der Importe von 1939/40. Milei war ein reeller und spürbarer Puffer.

12_Kleine Volks-Zeitung_1941_05_12_Nr131_p08_Der deutsche Volkswirt_16_1942_p529_Milei_Austauschstoff_Eier_Natur_Milch

Die werbliche Illusion vom Naturstoff (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 131 v. 12. Mai, 8 (l.); Der deutsche Volkswirt 16, 1942, 529)

Etablierung als reichsweiter Standardaustauschstoff

Die Milei GmbH erweiterte 1940 ihre Produktpalette um Milei Nachspeise, einem Schaumprodukt für süße Nachspeisen, zugleich ein Zuckersparer (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Als Ersatz für Puddingpulver erfüllte er eine wichtige Funktion, denn Vollmilch war für Erwachsene immer schwerer zu erhalten. Auch als „Wehrmachts-Milchspeise“ gewann er weite Verbreitung (Schulz, 1942, 16).

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Milei-„Aufklärung“ mittels Werbefilm (Werben und Verkaufen 25, 1941, 239)

Wichtiger aber war eine seit 1941 intensivierte reichsweite Produktwerbung. Sie folgte den Vorgaben der Ernährungsplaner, die nicht allein auf den Zwang der Rationierung setzten, sondern an die Einsicht der Volksgenossen appellierten. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), führender Kopf der Truppenverpflegung, formulierte dafür klare Vorstellungen: „Mit der technischen, geschmacklichen und ernährungsphysiologischen Eignung eines Rohstoffes ist die Einführung noch nicht gesichert. Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit)“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 207). Es galt, dem Produkt eine positive Aura zu verschaffen – und damit gleichzeitig allen neuen Austauschprodukten. Gedacht war das ähnlich wie bei den Vitaminen, deren breit ausgemalte Heilwirkungen in den 1920er Jahren zu einer Neubewertung der ehedem „schwachen“ pflanzlichen Produkte geführt hatte (Uwe Spiekermann, Bruch mit der alten Ernährungslehre. Die Entdeckung der Vitamine und ihre Folgen, Internationaler Arbeiterkreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen 4, 1999, 16-20).

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Erstes Kriegsostern mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 472)

Die Milei-Werbung bediente sich entsprechend einer breiten Palette von Werbemitteln, die bis hin zum Werbefilm reichte, der vor der Wochenschau und dem Hauptfilm in den Kinos mit ihrem Millionenpublikum gezeigt wurde. Die Anzeigenwerbung wurde ab 1941 zu Kampagnen gebündelt, die jeweils eine einheitliche Formensprache kennzeichnete. Vor dem Angriff auf die UdSSR präsentierte die Milei GmbH immer noch das Produkt selbst, stellte dessen Nutzen und die erforderlichen hauswirtschaftlichen Kniffe in den Mittelpunkt.

15_Kleine Volks-Zeitung_1941_06_09_Nr158_p07_ebd_03_12_Nr071_p12_Milei_Austauschstoff_Eier

Informationen für den Umgang mit dem Neuen (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 158 v. 9. Juni, 7 (l.); ebd., Nr. 71 v. 12. März, 12)

Doch die Werbekampagne 1941 ging schon über den alleinigen Nutzen heraus. Der „Milei-Aufklärungsdienst“ verband das Produkt mit allgemeinen Attributen gängiger Lebensmittel, betonte etwa die nährende „Kraft“ des Markenartikels, präsentierte es als „Geschenk der Natur“. Aus dem vermeintlichen Nachteil des wissensbasierten Präparates sollte ein Vorteil entstehen. Milei stand für einen erst durch den Nationalsozialismus bewirkten fundamentalen Wandel der deutschen Konsumgüterindustrie: „Ebenso wie der große Aufschwung der Montanindustrie erst einsetzte, als auch eine erfolgreiche Verwertung der Nebenerzeugnisse gelungen war, so besteht die Hauptaufgabe der Milchwirtschaft heute in der Verwertung der Rest- und Nebenprodukte der Butterherstellung und der Käserei, dem Kasein und der Molke“ (Die Industrie der Molke, Der Führer 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6).

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Alltag mit dem Austauschstoff (Wiener Modenzeitung 1942, H. 161, 23 (l.); ebd., H. 157, 23)

Die Werbekampagne des Jahres 1942 vertiefte derartige Überlegungen. Schattenrisse aus dem Alltag traten hervor, immer verbunden mit dem Anbau, der Beschaffung und dem Kochen und Backen von Lebensmittel und Speisen. Im Vordergrund stand Altbewährtes – und die Texte stellte Mileipräparate in just diesen Rahmen. Milei war neu, unbestritten, doch es setzte sich durch, etablierte sich, half damit zugleich das Bekannte zu bewahren. Dabei half, dass Milei keinen charakteristischen Eigengeschmack besaß. Es war ein uncharismatisches, chamäleonhaftes Lebensmittel, das diente und half, „küchentüchig“ und „schlagstark“.

Entsprechend wichtig waren daher praktische Versuche, war die direkte Ansprache der Hausfrauen. 1940 nahmen die in allen größeren Städten vorhandenen Versuchsküchen etwa der Deutschen Frauenschaft oder aber des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes den Kochlöffel in die Hand, simulierten auf kleiner Bühne haushälterisches Tun, ließen die Hausfrauen dann nachschlagen. Proben rundeten all dies ab. Bevor nun aber Argumente von der vermeintlichen Berufung der Frau für die Küche aufkommen, gilt es eines zu bedenken. Die späten 1930er und frühen 1940er Jahre hatten insbesondere in der Wehrmacht zu einem massiven Ausbau männlichen Küchenexpertise geführt: Mitte 1940 gab es 100.000 ausgebildete Feldköche, bis Mitte 1942 dann etwa 160.000 (Spiekermann, 2018, 590). Diese Männer waren mit den neuen Austauschstoffen bereits vertraut – und nun galt es auch die Hausfrauen in die neue Welt leistungsfähigerer Präparate einzuführen (Das Blatt der Hausfrau 56, 1942/43, 231). Die nationalsozialistisch geprägte Ernährungswirtschaft war technisch-männlich geprägt und zielte auf eine massive Modernisierung des weiblichen Haushaltens mit neuen, von Männern entwickelten Convenience- und Halbfertigprodukten.

17_Salzburger Volksblatt_1941_09_29_Nr220_p6_Milei_Hauswirtschaftslehre_Schaukochen

Oh kommet, ihr Hausfrauen, oh kommet doch all (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 220 v. 29. September, 6)

Die Wirkung derartiger praktischer Werbung wurde durch zahlreiche Zeitungsberichte multipliziert, die haushälterisches Tun wertschätzten und dem Zwang gestalterische Elemente abgewannen: „Kaum machten sich manche Lebensmittel auf dem Markte rar, da schossen schon wie Pilze die neuen Rezepte aus dem Boden, die sich dieser Marktlage anpassen. […] ‚Ein Weg findet sich immer, und das macht ja erst richtig Freude, wenn man auch unter Einschränkungen etwas Gutes zuwege bringt‘“ (Badische Presse 1940, Nr. 9 v. 10. Oktober, 6). In Wien präsentierte man „mollige“ Saucen mit Milei, pikant und mit erhöhtem Nährwert (Völkischer Beobachter 1940, Nr. 69 v. 9. März, 5): Der Charme der lokalen Küche endete offenkundig nicht mit der Rationierung. Selbstverständlich traten auch Meisterköche auf, die mit Kochkunst und Phantasie mit Milei, Tulli und Sojapräparaten kreierte Speisen darboten – und wahrlich, es sah gut aus und schmeckte (Kochkunst + Phantasie = ein schmackhaftes Gericht, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 157 v. 5. Juni, 6). Das Neue, das „der forschende Menschengeist entdeckt hat“ weckte wiederum Neues, war Teil des ewigen völkischen Ringens mit der Natur und ihren Rohstoffen. Versuchsküchen waren Stätten einer kulinarischen Moderne, in der Austauschstoffe nicht „Verlegenheitsschöpfungen, sondern eine Errungenschaft in der Ernährungswirtschaft der Zukunft“ waren (beide Zitate n. Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 153 v. 5. Juni, 6).

Im Laufe des Krieges übernahm vielfach der Milei-Aufklärungsdienst die vorher dezentral wahrgenommenen Veranstaltungen. Er zog durch das Land und veranstaltete in größeren Städten Vorträge und Schaukochen, vielfach in Verbindung mit den lokalen Elektrizitäts- und Gasanbietern (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 239 v. 10. Oktober, 6; Wiener Kronen-Zeitung 1942, Nr. 15085 v. 11. Januar, 15; Der Führer. Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Lokale Haushaltsschulen folgten parallel, bildeten Haushaltsgehilfinnen und Hauswirtschafterinnen nicht nur im sparsamen Haushalten aus, sondern wiesen ihnen auch Wege mit neuen „gesunden“ Produkten: „Biologische Salze werden dem schädlichen Kochsalz vorgezogen, das Milei triumphiert, die ‚Grünsbrühe‘ duftet herrlich und ersetzt die Fleischbrühe. Gartenkräuter werden als deutsche Würze verwendet, gemahlener Paprika ist jetzt der Pfeffer“ (Ein Besuch in der Haushaltungsschule Pforzheim, Der Führer 1942, Nr. 79 v. 20. März, 4). Es dürfte Ihnen klar sein, dass all diese Zitate auch Teil des schönen Scheins des Nationalsozialismus sind, dass sie über die Härten und Verwerfungen des Kriegsalltages hinweggingen. Mit fortschreitender Dauer des Krieges wurde eine schmackhafte Zubereitung immer schwieriger, auch wenn die Machthaber Gewürzen und Gewürzsubstituten hohe Aufmerksamkeit schenkten. Backpulver war Mangelware, musste durch Natron, Pottasche oder Hirschhornsalz bzw. durch vermehrten Einsatz von Hefe ansatzweise ersetzt wurde. Milei wurde für all diese Fährnisse erprobt, die Resultate in handhabbare Rezepte umgemünzt (Leckeres Gebäck aus Roggenmehl, Der Führer 1942, Nr. 325 v. 24. November, 4). All dies setzte Versorgungssicherheit voraus – und damit eine leistungsfähige Unternehmensstruktur.

Auf- und Ausbau eines reichsweiten Vertriebs- und Produktionsnetzwerkes

Die Milei GmbH ist ein unbekanntes Unternehmen, denn Firmenunterlagen existieren offenbar nicht mehr. Die heutige in Leutkirch ansässige Milei GmbH sieht sich nicht in der Nachfolge des Stuttgarter Unternehmens. Der „hidden champion der Lebensmittelindustrie“ folgt dem eigenen Motto „Live. Love. Enjoy“ und lässt die eigene Geschichte erst in den 1970er Jahren beginnen. Das ist recht typisch für weite Teile des deutschen Mittelstandes, die ihre NS-Geschichte schlicht übergehen. Wir sind heutzutage über die Opfer des Nationalsozialismus weitaus besser informiert als über die damaligen Akteure und Täter – und dies gilt trotz einer nicht unbeträchtlichen Zahl aussagefähiger Unternehmensgeschichten dieser Zeit.

Die Milei GmbH, die erste, war vorrangig eine Vertriebsorganisation (Bate-Smith et al., 1946 – auch für das Folgende). Sie besaß keine eigenen Produktionsstätten, sondern schloss Verträge mit zahlreichen milchverarbeiteten Betrieben, die in ihrem Auftrag Mileiprodukte herstellten. Diese Firmen kannten weder die genauen Produktionsverfahren, noch die eingesetzten Rohwaren und Zusätze. Diese wurden vielmehr codiert eingesetzt, obwohl ein erfahrener Betriebsleiter sie leicht decodieren konnte (Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 4). In Stuttgart saß die Verwaltung, der Aufklärungs-Dienst, hier wurden Verträge geschlossen und die Rohstoffwirtschaft koordiniert.

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Bezirksleitungen der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Der Vertrieb erfolgte in tradierten Formen. Von Stuttgart ausgehend, richtete die Milei GmbH ein reichsweites Netzwerk von Bezirksleitungen aus, die wie Großhandelsvertretungen funktionieren. Die zehn Bezirksleitungen waren über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt und koordinierten recht eigenständig. Der Absatz in der Backwarenproduktion und im Gaststättengewerbe erfolgte mittels Reisender, die von „Oberreisenden“ regional koordiniert wurden (Der Führer 1941, Nr. 60 v. 2. März, 14). Eine von Ludwig Herrmann geleitete Generalvertretung wurde im März 1942 in Berlin Unter den Linden gegründet, erlosch jedoch schon im November (Deutscher Reichsanzeiger 1942, Nr. 57 v. 9. März, 5; ebd., Nr. 284 v. 3. Dezember, 3).

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Lage der Milei-Produktionsstätten im Großdeutschen Reich 1941 (Der Vierjahresplan 5, 1941, 246)

Die Produktion erfolgte anfangs nur in Stuttgart, doch die Zahl der Produktionsstätten weitete sich rasch aus, da lokale Kapazitäten nicht beliebig gesteigert werden konnten und zugleich Transportkosten reduziert werden konnten. Anfang 1940 substituierte die Firma nach eigenen Angaben bereits monatlich 45 Millionen Eiern (Eiweiß, 1940). Eine Anzeige in der Zeitschrift „Vierjahresplan“ zeigte 1941 bereits neun Produktionsstätten. Deren Zahl wurde bis 1942/43 nochmals verdoppelt.

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Fabrikationsstätten der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Die von britischen Wissenschaftlern sichergestellte Liste der Produktionsstätten unterstrich, dass im Laufe des Krieges der Stellenwert des Produktionsstandortes Stuttgart bzw. Württembergs tendenziell sank. Stattdessen finden sich Vertragspartner in den wichtigsten Milchregionen Deutschlands, Österreichs, der Tschechoslowakei sowie Polens. Einzelne Standorte wurden beträchtlich aufgewertet, so die zwei Milei-Werke im sächsischen Wurzen. Dort fand auch die Qualitätskontrolle statt. In der zweiten Kriegshälfte wurden Milei-Produkte an folgenden Produktionsstätten hergestellt:

  • Milei-Gesellschaft Werk I und II, Wurzen/Sachsen
  • Württ. Milchverwertung AG, Stuttgart
  • Milchversorgung Heilbronn GmbH, Heilbronn/Ilsfeld
  • Omira Oberland Milchverwertung GmbH, Ravensburg
  • Odam-Milchwerk Gebr. Müller, Holzkirchen/Oberbayern
  • Bayerische Milchversorgung GmbH, Nürnberg
  • Molkerei-Genossenschaft Tabor
  • Molkerei-Genossenschaft Mährisch-Budwitz
  • Molkerei-Genossenschaft Stainach GmbH
  • Molkerei-Genossenschaft eGmbH, Hagenow/Mecklenburg
  • Dauermilchwerke Korschen GmbH, Korschen
  • Ostdeutsche Dauermilchwerke GmbH, Marienburg
  • Alfa-Nährmittelwerk Tonningen GmbH, Tonningen
  • Wartheland-Milchverwertung GmbH Posen, Krotoschin
  • Milchzentrale eGmbH, Lütjenburg/Holstein
  • Schweriner Zentral-Molkerei, Schwerin
  • Ein- und Verkaufsgen. westfälischer Molkereien eGmbH Münster, Lippstadt
  • Verkaufsverband norddeutscher Molkereien, Plathe

Diese Liste bestätigt frühere Aussagen, nach denen „die Betriebe, die Milei herstellen, nichts anderes, als sehr neuzeitlich eingerichtete Molkereien“ sind. „Es fehlen durchaus die geheimnisvollen Retorten und Destillationskolben einer chemischen Fabrik. Wie in jeder anderen Molkerei wird die von den Bauern und Landwirten gelieferte Milch gereinigt, pasteurisiert, entrahmt und zu Butter, Käse, Quark, Kasein und Trockenmilchpulver verarbeitet“ (Eiweiß, 1940). Ganz normale Betriebe für ganz normale Produkte. Milei war zu diesem Zeitpunkt bereits der wichtigste Hersteller von Eier-Austauschstoffen aus Magermilch im Deutschen Reich, ließ Wettbewerber wie Syntova und die Berliner Edmes GmbH weit hinter sich. Die gegenüber der Vorkriegszeit allseits massiv gesteigerte Produktion wurde vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie der Hauptvereinigung der deutschen Milch- und Eierwirtschaft stetig gefördert (Pirner, 1942, 269). Eine weitere Produktionssteigerung scheiterte allerdings am Mangel an Maschinen, vor allem der unverzichtbaren Sprühtrockner.

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Vertriebslager der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Neben den Bezirksleitungen und Fabrikationsstätten existierte noch ein weiteres Netzwerk von Vertriebslagern. Diese entsprach großenteils, aber keineswegs durchweg, dem Produktionsnetzwerk. Die 19 Lager waren ebenfalls über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt, konnten von alliierten Bombern zwar getroffen werden, boten aber eine flexible Struktur zur kontinuierlichen Versorgung der Bevölkerung.

Schon diese Netzwerke verweisen auf den Ausgriff auf besetzte Gebiete, auf eine Expansion in die frühere Tschechoslowakei und Polen, die wohl 1941/42 erfolgte (Pirner, 1942, 269). Die Produktion von Milei-Produkten war Teil der gewalttätigen Nutzung ausländischer Ressourcen für die Stabilisierung der reichsdeutschen Rationen. Hinzu kam eine Expansion nach Westeuropa. 1941 gründete die Milei GmbH „gemeinsam mit der holländischen Spezialfirma für Milchkonserven Lijempf eine Gesellschaft, die in Holland die Verarbeitung von Magermilch zu ähnlichen Ersatzlebensmitteln aufnehmen soll. Die Milei G.m.b.H. hat sich hierbei die Majorität gesichert“ (Die Zeitung [London] 1941, Nr. 244 v. 22. Dezember, 2) Es handelte sich um die im nordfriesischen Leeuwarden ansässige Milchfabrik N.V. Lijempf, die im nahegelegenen Winsum eine moderne Trockenmilchfabrik mit knapp 200 Beschäftigten betrieb (P. Noord, De Zuivelfabriek van Winsum, 1892-1975, Info Bulletin Winshem 7, 2002, Nr. 3, 8-9). In Frankreich, genauer in der Normandie, wurde 1941 ein ähnlicher Betrieb aufgenommen, der von 1942 bis 1944 Milei auch nach Deutschland exportierte (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4; Bundesarchiv Berlin R 15-V/21). 1943 sollen dadurch ca. 35 Millionen Eier ersetzt worden sein (Innsbrucker Nachrichten 1944, Nr. 114 v. 16. Mai, 5). Im gleichen Jahr plante die Firma eine deutsch-spanische Dependance in Barcelona (Bundesarchiv Berlin R 3101/34784, Bd. 3). Nach Ende des Krieges bemühte sich die Milei GmbH bis 1947 um die Rückerstattung ihres Auslandsvermögens (Bundesarchiv Berlin B 218/755). Außerdem wurde 1942 „ein Unternehmen unter maßgeblicher Beteiligung der Milei-Gesellschaft m.b.H. geschaffen“ (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4).

Was war nun das Ergebnis all dieses Bemühens? Die vom britischen Nachrichtendienst ausgesandten Wissenschaftler sicherten 1945 Unterlagen, nach denen die Produktion 1944 bei 6.466.000 Kilogramm Milei G und W gelegen hat. Hinzu kamen 547.113 Kilogramm Nachspeise und 3.926.785 Kilogramm Migetti. 1943 lag die Produktion auf gleicher Höhe. Der Umsatz von Milei G und W lag 1944 bei 25 Millionen RM, bei der Nachspeise bei 3,5 Millionen RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Rechnet man 5 Gramm Milei als Substitut für ein Vollei, so entsprach die 1944 produzierte Menge 1,293,200,000 Volleiern. Das wäre – geht man zurück zu den Ausgangsplanungen – etwa 17% der 1936 im damaligen Deutschen Reich konsumierten Eier. Diese Menge entsprach den gesamten damaligen Eierimporten. Damit dürfte Milei das erfolgreichste Austauschprodukt der nationalsozialistischen Ernährungsforschung gewesen sein – und die anderen gewerblich genutzten Präparate können hier noch zugerechnet werden.

Kaum überraschend waren die verantwortlichen Experten stolz auf das Geleistete: „Für die Kriegswirtschaft bedeutet die Steigerung der Produktion von Milei die Verhinderung des Aufkommens eines unerträglichen Mangels an Eiweiß“ (Wandlungen der deutschen Milchwirtschaft, Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 275). Milei hatte sich bewährt, würde auch nach dem Kriege ein wichtiger Markenartikel bleiben, Teil einer neu gestalteten Volksernährung sein (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 375). Die Fachleute hatten geholfen, diese Waffe für die Heimatfront zu schmieden. Und sie verstanden es einen Baustein zur Stabilität und Prosperität eines mörderischen Regimes.

Verbraucherlenkung und Intensivierung

Damit könnte man es erst einmal belassen, könnte die Geschichte von Milei unmittelbar in der beschworenen Nachkriegszeit verfolgen; wenngleich unter einer anderer Siegerkonstellation. Damit aber würde man der Bedeutung eines doppelbödigen Markenartikels jedoch nicht gerecht. Die beschworene Bewährung erlaubte es nämlich der Milei GmbH das Renommee des Produktes in den Dienst allgemeinerer Ziele des Regimes zu stellen. Konsumgüter haben stets einen Subtext, weisen stets über ihre eigene Materialität hinaus. Das gilt auch in Zeiten von Knappheit und Not.

Blicken wir zuerst auf die Versorgung und Verbrauchslenkung in der Mitte des Krieges. 1942 mussten die Rationen deutlich gesenkt werden, ihre Zusammensetzung verschlechterte sich – und sie waren gleichwohl weit besser als in den besetzten Gebieten, weit besser auch als im Hungerwinter 1916/17. Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff „Eier-Austauschstoff“ nicht nur weit verbreitet, sondern auch geadelt worden. Er durfte nicht mehr für Hilfs- oder Ersatzmittel in der Kriegssituation verwandt werden, sondern nur für Produkte, die „auch über die Zeit des Mangels hinaus einen dauernden Platz in ihrem Anwendungsgebiet erhalten sollen“ (Verwendung der Bezeichnung ‚Eier-Austauschstoff‘, Werben und Verkaufen 25, 1941, 206). Die relative Wertigkeit von Milei wurde auch durch weitere Verfügungen des Werberates der deutschen Wirtschaft erhöht (Werben und Verkaufen 26, 1942, 68). Die staatspolitische Bedeutung des Austauschstoffes zeigte sich ferner in der Werbung anderer Markenartikelfirmen: Maizena warb beispielsweise mit Rezepten, die Milei propagierten (Badener Zeitung 1941, Nr. 88 v. 1. November, 3).

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Werbung mit Rezepten und breiter Anwendungspalette (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1941, Nr. 104 v. 16. April, 852 (l.); Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14862 v. 31. Mai, 10)

Milei diente ab 1942 zunehmend dazu, die klarer hervortretenden Härten des Rationierungssystems erträglicher zu machen. Weißwäscher hämmerten die Melodie: „Mit diesen Eiaustauschstoffen kann man ebensogut Schlagobers wie gute Biskuits oder Windmassen erzeugen“ (Hans Rudiak, Kriegswirtschaftliche Materialfragen, Werkzeitung der Hammerbrotwerke 6, 1942, H. 5, 3-10, hier 9). Die Milei-Rezepte wurden der Versorgungslage angepasst. Schon Anfang 1942 fanden sich Rezepte für gebackene Kohlrübenscheiben, die als „verkanntes Gemüse“ (Der Führer 1942, Nr. 57 v. 26. Februar, 4) und nicht als Reminiszenz an den berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 präsentiert wurden. Auch als Mayonnaisezusatz zierte Milei billige Rohkostsalate (Durlacher Tageblatt 1943, Nr. 14 v. 18. Januar, 3). Die immer wieder umgestellten Rezepte wurden gezielt an die Frau gebracht: Ab 1943 verstärkte man die Werbung für das grüne Milei-Merkbuch für Hausfrauen: „Es zeigt die richtige Anwendung des milchgeborenen Milei W und Milei G“ (Badische Presse 1943, Nr. 192 v. 18. August, 6). Diese „Fundgrube zeitgemäßer Rezepte“ (Ebd., Nr. 226 v. 27. September, 6) wurde bis Anfang 1944 kostenlos von der Milei-Gesellschaft versandt. Es ergänzte die Anfang 1943 noch in großer Zahl geschalteten Bildanzeigen, die spezielle Anwendungsweisen des Milei bildlich und textlich präsentierten.

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Haushaltstipps in Wort und Bild (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstadt 1943, Nr. 3 v. 3. Januar, 7 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 3219 v. 20. November, 6)

Parallel zur Intensivierung des „totalen“ Krieges wuchsen die Anforderungen an die Konsumenten. Sie kamen moderat daher, etwa als Anleitung zu erhöhter Präzision: „Eine Handvoll? – Ein schlechtes Maß! So ungenau darf man niemals beim milchgeborenen Milei W und Milei arbeiten. Man muß sich genau nach der Gebrauchsanweisung richten“ (Hamburger Anzeiger 1943, Nr. 185 v. 2. September, 4). Der Kampf gegen Verderb wurde strikter, rasches Umfüllen des Präparates war ein Teil davon. Während Milei anfangs noch in kleinen Büchsen verkauft worden war, wurden nun einzig mit Aluminium beschichtete Papiertüten verwandt. Da Milei feuchtigkeitsempfindlich war, bestand bei unsachgemäßer Lagerung die Gefahr, dass der Stoff verklumpte, ja, verknotete. Dagegen half das Umfüllen in ein trockenes Glas – mit einem zwingend trockenen Löffel (Badische Presse 1943, Nr. 201 v. 28. August, 8). Hatte das hydrophile Milei dagegen Wasser aufgenommen, war es zwar „schlagfaul“, konnte jedoch immer noch zum Panieren genutzt werden (Ebd., Nr. 216 v. 15. Juni, 6). Oder aber für Breie oder Suppen (Ebd., Nr. 235 v. 7. Oktober, 6). Hauptsache, das Präparat wurde genutzt.

Die gewünschte Löffelgenauigkeit wurde eben nicht als Manko gegenüber dem Hühnerei gedeutet, sondern als ein Vorteil gegenüber der Natur, die nur das eine, wenngleich unterschiedlich große Ei kannte. Klares Abmessen half dagegen Sparen – mochte man per Gebrauchsanweisung auch auf kleine Eier umgelenkt werden. Sprache versuchte dies ansatzweise zu kompensieren. Milei war rein und „milchgeboren“, entstammte es doch aus frischer entrahmter Milch, die zur natürlichen, sauberen Herkunft stilisiert wurde (Ebd., Nr. 223 v. 23. September, 6).

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Gebäck als Symbol von Heimat und Frontverbundenheit (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 178 v. 30. Juni, 6; Wiener Illustrierte 1941, Nr. 51 v. 17. Dezember, 12)

Während die 1943 noch möglichen Werbeabbildungen den symbolischen Gehalt von Lebensmitteln, sei es von nährendem Hackbraten oder von Weihnachtsgebäck verstärkt betonten, bot die Mehrzahl der Anzeigen klar gefasste Haushaltstipps: Bei Tunken Milei erst in Wasser auflösen, dann den Brei löffelgenau in die Tunke geben – schon wird sie cremig und verliert ihre Wässerigkeit (Badische Presse 1943, Nr. 204 v. 1. September, 6). Gerade bei fleischarmen Speisen war dies essentiell (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 213 v. 4. August, 6). Ähnlich musste frau vorgehen, wollte sie Mürbeteig machen (Ebd., Nr. 211 v. 9. September, 6). Oder aber beim Kochen von Suppe (Ebd., Nr. 214 v. 13. September, 6). Bei Kleingebäck wurde Milei geschlagen, zu Schäumchen geformt und dann gebacken (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 6). Ähnlich bei mehlfreiem Kleingebäck (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 121 v. 3. Mai, 4). Und selbst der Sonntagskuchen gelang, trotz Ersatz des Eies (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 234 v. 25. August, 6). Vorausgesetzt, man vermied Aluminiumgefäße zum Schaumschlagen (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 200 v. 22. Juli, 6). Das war hilfreich, hilfreich beim Rausholen des Letzten. Die Intensivierung des Haushalts entsprach der in der Rüstungsindustrie.

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Gesunde Kost und Sparen auch in der Gemeinschaftsverpflegung (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, nach 28 (l.); ebd., n. 42)

All dies beschränkte sich natürlich nicht auf den Haushalt. Die Bediensteten in Großküchen und Gewerbebetrieben wurden ähnlich angesprochen. Und über den tristen Alltag hinweg half immer stärker ein Blick auf die Modernität der Austauschpräparate: „Heute ist das nicht mehr nötig“, das alte ungenaue Kochen und Backen mit Eiern: „Dessen Aufgabe übernimmt Milei, das Ei aus der Milch. Es wird zum Braten, Backen und Kochen verwendet. Es ist naturrein und nährt. Milei ist rezeptleicht anwendbar … und steigert den Geschmack der Speisen“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14877 v. 16. Juni, 7). Selbst der Stolz der südwestdeutschen Hausfrau, die Spätzle, waren vor dem Neuen nicht mehr sicher. Sie „verlangten früher die Verwendg. des Hühnereies“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 162 v. 13. Juni, 6). Heute machte dies… – Sie kennen die Antwort.

Rendezvous mit Kohlenklau

Ab 1943 wurde die Milei-Werbung zunehmend breiter eingesetzt, zielte nicht allein auf das Produkt, sondern unterstützte die Kriegsanstrengungen auch anderweitig. Das belegt etwa die enge Verkopplung der Markenartikelwerbung mit der allgemeinen Agitation gegen „Kohlenklau“. Kohlenklau war eine der vielen nationalsozialistischen Imaginationen, die allesamt zu erhöhter Sparsamkeit, zu geringem Ressourcenverbrauch, zu einem gesünderen und gedeihlicheren Leben anhielten (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 91-95). „Groschengrab“ und „Roderich, das Leckermaul“ traten auf, „Flämmchen“ und eben auch Kohlenklau, das „Ungeheuer mit dem zugekniffenen Auge, dem gewaltigen Schnauzbart, großem Sack und bedrohlichen Krallen“ (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstedt 1943, Nr. 94 v. 18. Juni, 6). Er stahl nicht nur Kohlen, sondern vergeudete Energie und Ressourcen jeglicher Art, unterminierte damit die Kriegsanstrengungen der deutschen Nation. Sogar beim Kuchenbacken lauerte er.

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Kohlenklau in der Milei-Werbung (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 104 v. 14. April, 6 (l.); Wiener Illustrierte 1943, Nr. 21 v. 26. Mai, 8)

Kohlenklau war mehr als ein schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man höre nur: „Taps, taps, taps… Kohlenklau ist in der Küche.“ (Das kleine Volksblatt 1943, Nr. 55 v. 24. Februar, 8). Und der grinste höhnisch, wenn Speisen durch zu langes Kochen zerstört und Gas verschwendet wurden (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 63 v. 4. März, 6). Oder wenn das Kleingebäck verbrannte. Die Moral schien einfach zu sein: „Auf Kohlenklau achten“ resp. Plätzchen rechtzeitig aus dem Backofen herausnehmen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1943, Nr. 15551 v. 28. April, 7).

Verhaltensregulierung im Endkampf

Der Kampf gegen Kohlenklau war nur einer von vielen Maßnahmen, um die deutschen Volksgenossen zu gemeinen Anstrengungen zu verpflichten. Die Milei GmbH trug dazu bei und knüpfte am Ende des Krieges ein enges Band zwischen Konsument und Firma (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 743). In dieser Werbewelt kooperierten Forscher mit Praktikern, arbeiteten Bauern und Chemiker zum Wohle der Konsumenten. Präsentiert wurde ein völkisches Bild wechselseitiger Verpflichtung, getragen vom gemeinsamen Willen, das Beste zu geben.

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Wechselseitige Verpflichtung der forschenden Produzenten und der Konsumenten (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, vor 117 (l.); ebd., nach 184)

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Nahrung als Waffe (Tages-Post – Linz 1942, Nr. 284 v. 1. Dezember, 6)

Milei war Alltagsgarant, war zuverlässiger Alltagshelfer (Der Führer. Aus dem Ortenau 1943, Nr. 36 v. 5. Februar, 4). In dem damaligen Völkerringen war es eine Waffe, ein Schwert mit scharfer Klinge. Es half beim notwendigen Strecken nach der Decke, beim Strecken der Lebensmittel und Speisen. Milei stand für die zunehmende Militarisierung der Alltagskost, die durch verpflichtende fleischlose Tage und Feldküchengerichte längst Realität geworden war. Doch das Schwert wurde nur gegen Feinde gezückt, denn innerhalb der Volksgemeinschaft war der Konsument Kulturträger, gesittet, gefasst und optimistisch. Entsprechend konnte allseits „Höflichkeit“ gefordert werden, grenzte man sich von „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ strikt ab. Das galt zumal beim Einkauf, am Tresen, im Umgang mit dem Einzelhändler, der über Bekommen oder Nicht-Bekommen mit entschied.

29_Oberdonau-Zeitung_1944_01_09_Nr008_p8_Wiener Illustrierte_64_1944_Nr15_p08_Milei_Kaeufer-Verkaeufer_Einzelhandel_Hoeflichkeit_Einkaufen_Laden

Seid höflich und nett zueinander – gerade im Krieg (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 8 v. 9. Januar, 8 (l.); Wiener Illustrierte 64, 1944, Nr. 15, 8)

Die Milei-Werbung wandte sich eindeutig gegen Fehlverhalten und Resignation: „Eine einzige verdrießliche Kundin wirkt wie Gift. Sie kann die beste Laune aller Anwesenden zerstören. Deshalb bemühen wir uns, verdrießliche Gemüter aufzumuntern und selbst recht höflich zu sein … auch wenn wir einmal nicht alles bekommen, was wir brauchen“ (Innviertler Heimatblatt 1944, Nr. 8 v. 25. Februar, 8). Zugleich aber forderte sie eine Kultur reflektierter Rücksichtnahme: „Ihr Kaufmann ist heute mit Arbeit reichlich überlastet. Zudem ist das Personal knapp. Trotzdem bemüht er sich, Sie zuvorkommend und höflich zu bedienen. Begegnen Sie ihm auch höflich … und machen Sie ihm das Leben nicht schwer […]. Höflichkeit macht beliebt!“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 48 v. 18. Februar, 4)

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Der Einzelne muss zurückstehen (Nationalsozialistischer Volksdienst 10, 1943, H. 8, II (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 314 v. 13. November, 5)

Spiegelten sich in derartigen Anzeichen die realen Verwerfungen in der Psyche vieler Menschen, so wurden in der Milei-Werbung ab 1943 die bestehenden Versorgungsprobleme zunehmend deutlicher thematisiert. Das betraf zum einen die Hausfrauen, denen etwa Hilfestellungen gegeben wurden, Speisen „bequem und unauffällig“ (Badische Presse 1944, Nr. 35 v. 11. Februar, 4) zu strecken. Das betraf aber zunehmend auch die zerbröselnde Verkehrsinfrastruktur. Deutlich hieß es: „Die Reichsbahn ist überlastet“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 243 v. 29. Februar, 6). Die Konsumenten sollten darauf verständnisvoll reagieren, sich selbst ein kleines Glied im großen Ganzen verstehen. Das half durchzuhalten, seine eigenen Sorten und Nöte geringer zu gewichten.

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Kinderfreude und Unterhaken der Hausgemeinschaft (Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 33, 8 (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 5)

Zugleich aber lenkte die Milei-Werbung den Blick auf die kleine Lichtblicke und Freuden des Alltags. Freude über eine wohlschmeckende, eine nährende Speise, Dankbarkeit gegenüber einer kleinen Alltagshilfe und Nachbarschaftshilfe. Das entsprach nicht der Realität des letzten Kriegsjahres, half jedoch nicht zu verzweifeln und seine Aufgaben zu erfüllen.

Damit wurden vornehmlich Frauen angesprochen, denn diese waren damals für Haushalt und Kochen verantwortlich, bekochten Kinder und auch Männer. Da musste eben ein Hackbraten her, auch wenn er mit Brot gestreckt werden musste (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 148 v. 30. Mai, 6). Doch zunehmend wurde auch des alleinstehenden Mannes gedacht, den man gemeinhin unter die Dachkategorie des „Strohwitwers“ subsummierte. Sie wurden vielfach in Werksküchen verpflegt, doch es gab seit 1944 auch vermehrt Koch- und Hauswirtschaftskurse für Männer. Die virtuose Handhabung von Milei wurde dabei geprobt (Neues Wiener Tagblatt 1945, Nr. 24 v. 28. Januar, 3). Und siehe da, auch Männer waren lernfähig, wussten die modernen Austauschstoffe zu schätzen.

Die Milei GmbH schaltete bis Anfang 1945 immer neue Werbetexte, denn ab Mitte 1944 verschwanden die letzten Graphiken aus den Zeitungen, schrumpfte die Anzeigen zu Texten in engen Kolumnen. Diese munterten auf, empfahlen das Produkt als Hilfegarant in der Krise: „Hausfrauen wissen sich immer wieder zu helfen“ (Badische Presse 1944, Nr. 179 v. 2. August, 6). Und sie halfen anderen, vielleicht mit einem alltagsaufhellenden Baiser (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 348 v. 28. Dezember, 3). Zugleich lenkte die Werbung den Blick auf eine andere, nicht vom Krieg geprägte Welt. Dort wurden Produkte in „blitzsauberen Milchwerken“ (Badische Presse 1944, Nr. 127 v. 2. Juni, 4) hergestellt, dort gab es keimfreie Produktion (Ebd., Nr. 131 v. 7. Juni, 4). In den Anzeigen wurde an Feinschmecker erinnert, sprach man von Wohlgeschmack. Kindergeburtstage feierte man, denn Milei-Fruchtschaum „schmeckt wie im Frieden“ (Kleine Wiener Kriegszeitung 1944, Nr. 77 v. 29. November, 8). Und die Kleinen waren „selig“, wenn es ihn denn gab (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 7). Die Städte stürzten zusammen, die alte Welt zerbrach, doch das ging einher mit der Geburt des Neuen: „Großmutters Rezeptbuch ist längst überholt“ (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 8) und wird ausgetauscht von wissenschaftlichen Präparaten, praktisch und besser als das Alte.

Kontinuität im Schwarzmarkt und der Nachkriegsrationierung

Die Rationierungspolitik wurde nach Ende des Krieges von den Besatzungsmächten fortgeführt, die Lebensmittel teils der eigenen Bevölkerung vorenthalten, um eine Hungerkatastrophe in deutschen Landen zu vermeiden. Milei gehörte dazu, mochten die Zuweisungen pro Normalversorger 1945 und 1946 auch gering ausfallen, da das unternehmerische Netzwerk der Milei GmbH zerrissen war (Badener Tagblatt 1946, Nr. 10 v. 2. Februar, 63; Badische Neueste Nachrichten 1947, Nr. 53 v. 6. Mai, 4). Doch in den einzelnen Zonen wurde weiter produziert. Milei konzentrierte seine Aktivitäten wieder auf den Württemberger Raum, die amerikanische Zone. Von dort wurde auch exportiert, wenngleich meist gegen Ware, nicht gegen Geld (Wiener Zeitung 1946, Nr. 149 v. 29. Juni, 2; Badener Tagblatt 1946, Nr. 30 v. 6. Juli, 323). Milei diente wie in der Endphase des Krieges dazu, fehlende Eier- und Fleischlieferungen zu kompensieren (Neues Österreich 1945, Nr. 207 v. 21. Dezember, 3). Angesichts beträchtlicher Unterversorgung bemühten sich Großbetriebe um Milei-Zuweisungen für ihre Werksküchen, wollten Eiweiß für Arbeit (Volkswille 1946, Nr. 98 v. 15. August, 3).

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Zwischen Emmentaler Käse und Eier: Rationiertes Milei (Neue Zeit 1946, Nr. 285 v. 7. Dezember, 4)

Die Wertschätzung der Milei-Produkte spiegelte sich auch darin, dass sie regelmäßig bei Schiebern und Schwarzhändlern beschlagnahmt wurden (Obersteirische Volkszeitung 1947, Nr. 20 v. 8. März, 2; Volksstimme 1947, Nr. 98 v. 26. April, 3; Wiener Kurier 1947, Nr. 10 v. 14. Juni, 2). Hoher Nährwert und lange Haltbarkeit waren wie für den Schwarzmarkt gemacht – wobei solche bereits während des NS-Regimes bestanden.

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Viel begehrt – leider knapp! Milei Werbung in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Stuttgarter Rundschau 2, 1947, H. 6, 32 (l.); Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 9, 28)

Zugleich begannen frühere Produktionsstätten die Herstellung auf eigene Rechnung. In Österreich, der früheren Ostmark, setzte nach Kriegsende die Molkerei Stainach der Landesgenossenschaft Ennstal ihre Arbeit fort, um insbesondere für den Winter Reserven aufzubauen (Neue Steierische Zeitung 1945, Nr. 97 v. 18. September, 5). Das führte zu Sonderzuteilungen von zehn Volleiersubstituten und Freude bei den darbenden Konsumenten (Ebd., Nr. 140 v. 8. November, 8). Mitte 1946 musste der Betrieb jedoch eingestellt werden, da die Milchzufuhr aufgrund von Zwangsablieferungen zu gering war (Neue Zeit 1946, Nr. 178 v. 8. August, 3). Die Milei GmbH klagte gegen die Produktion des vermeintlichen neuartigen Stainacher Milcheiweis V und S, musste jedoch vor Gericht schließlich eine Niederlage einstecken (Wiener Zeitung 1946, Nr. 186 v. 11. August, 7; Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4). International waren Kramers Patentrechte ohnehin seitens der Alliierten kassiert worden (Official Gazette of the United States Patent Office 550, 1943, xxxvi; ebd., 552, xxxix).

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Erst im Gewerbe, dann im Haushalt (Bäcker-Zeitung für Nord- und West-Deutschland 2, 1948, Nr. 33, 11 (l.); ebd., Nr. 37, 14; Der Spiegel 1948, Ausg. v. 6. November, 16 (r.))

Nach Gründung der Bundesrepublik und dem zunehmenden Abbau der Rationierung war Milei gängiger Gast etwa auf Fachmessen, wo es gleichrangig neben Suppen- und Soßenpräparaten, Mayonnaisen, Aspikpulver und anderem stand (Südkurier 1949, Nr. 116 v. 1. Oktober, 5). Seine Qualität wurde in altbewährter Manier gepriesen, der Phrasenschatz der NS-Zeit war noch bekannt: „Milei ist also kein chemisches Erzeugnis, sondern setzt sich aus den natürlichen Bausteinen der Milch zusammen. Hochwertiges Milcheiweiß – dem Hühnereiweiß biologisch gleichwertig – finden wir in Milei wieder. Freuen wir uns, daß es unseren Milchforschern gelungen ist, ein so hochwertiges Erzeugnis zu entwickeln. Dadurch kann man im Haushalt viel Geld einsparen und billiger kochen, braten und backen“ (Durlacher Tageblatt 1949, Nr. 117 v. 17. Dezember, 3).

In der Tat investierte die Milei GmbH nicht nur in den Fortbetrieb, sondern auch in neue Technik. 1946 wurden leistungsfähigere Rolltrockner eingeführt (Holmes und Kefford, 1946, 5). Karl Kremers, mittlerweile in Eislingen a.d. Fils ansässig, arbeitete kontinuierlich an der Produktionstechnik. Noch 1953 wurde ein Verfahren zur Gewinnung eines schlag- und backfähigen Milcheiweißes patentiert (Fette, Seifen, Anstrichmittel 53, 1953, 561). Weitere Patente folgten (Chemisches Zentralblatt 127, 1956, 138).

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Weiterhin Sparsamkeit (Südkurier 1949, Nr. 138 v. 22. November, 7 (l.); ebd., Nr. 146 v. 10. Dezember, 7)

Dennoch konnte sich Milei in der Nachkriegszeit als Markenartikel immer schlechter behaupten. Man kaufte und verarbeitete es, teils dankbar, war zugleich aber dessen überdrüssig und wollte wieder „richtige“ Eier haben. Leicht angeekelt hieß es Anfang 1949 etwa in Salzburg: „In diesem Aufruf kommen daher wieder die berühmten ‚Marshall-Fette‘ und das ‚Milei‘ zur Ausgabe als Ersatz für unsere heimischen Eier und Butter“ (Salzburger Tagblatt 1949, Nr. 28 v. 4. Februar, s.p.). Obwohl begehrt, wurde Milei auch als „künstliches Ersatzmittel“ (Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4) verdammt. Die Milei-Werbung hielt dagegen, verwies auf den „großen Kraftquelle der Milch“ und auf dessen „zauberhafte Verwandlungen“ durch moderne Technik (Was ist eigentlich Milei?, Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 2, 1948, 194). Doch all das war nur Imagination, denn Einkommen und die Höhe der Eierpreise sollten über die künftige Marktstellung von Milei entscheiden. Auch die Neugestaltung der Milei-Werbung durch Anton Stankowski brachte Anfang der 1950er Jahre keinen durchschlagenden Erfolg bei den Verbrauchern (Neuburg, 1951). Die Gewissheit der NS-Planer trog, die schon früh darauf gesetzt hatten, dass Milei „auch in kommenden Friedenszeiten seine Bedeutung weiter behalten und besonders Deutschlands Einfuhrabhängigkeit an Trockenei beseitigen“ werde (Neue Entwicklungen in der Nahrungsmittelwirtschaft der Welt, Die deutsche Volkswirtschaft 10, 1941, 542-543, hier 542).

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Milei als Dachmarke bewährter Spezialartikel (Deutsche Lebensmittel-Rundschau 44, 1948, Nr. 11, V)

Die Milei GmbH erweiterte nach Gründung der Bundesrepublik ihre Produktpalette, fügte Zwischenprodukte für Nachspeisen und Karamellwaren hinzu. Die mit gleichem Namen bezeichneten Präparate veränderten sich auch durch neue Maschinen, Verfahren und Zusatzstoffe. In der Werbung ließ man dies durchaus anklingen, schrieb von neuen Milcheiweiß-Erzeugnissen (Die Küche 49, 1953, Nr. 3, II). Angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von frischen Eiern, steigenden Eierimporten aus den Niederlanden und Dänemark und einer langsam wachsenden Kaufkraft konzentrierte sich die Milei GmbH jedoch verstärkt auf gewerbliche Zwischenprodukte. 1954 bewarb man etwa Milei WS für „Negerküsse“ und Waffelfüllungen, Milei G III E für „sahniges, zartes und geschmeidiges Eis“ (Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 16, 27; ebd., Nr. 50, 27). Als Markenartikel endete die Geschichte von Milei in den 1950er Jahren. Im gewerblichen Bereich, in Form von Zwischenprodukte konnte sich die Dachmarke jedoch weit länger behaupten. Milei wurde weiter konsumiert, doch die Konsumenten wussten nicht, was in ihren Produkten enthalten war – und kümmerten sich darum auch nicht wirklich.

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Billiger als Eier: Milei-Werbung für Bäckereien und Konditoreien 1949 (Die Küche 53, 1949, Nr. 1, IV (l.); ebd., Nr. 2, II)

Wie bewerten?

Milei war eine der erfolgreichsten Lebensmittelinnovationen der NS-Zeit. Anders als ähnliche Eier-Austauschstoffe wurde es zu einem Markenartikel, zu einem allseits bekannten Hausnamen. Verbraucher lernten mit dem weißen Pulver umzugehen und die Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu mildern. Milei blieb jedoch mit der Aura der Notzeiten verbunden und verschwand in den 1950er Jahren langsam aus den Regalen, um in anderer Form doch im Magen der Konsumenten zu landen.

Milei war ein Paradebeispiel für den Bedeutungsgewinn der Zwischenprodukte in der Zwischenkriegszeit. Obwohl ohne die massive staatliche Förderung kaum denkbar, war es kein prototypisch nationalsozialistisches Konsumgut, sondern eine Konsequenz der durch den Ersten Weltkrieg vielfach zerbrochenen internationalen Arbeitsteilung, die in den 1920er Jahren nicht wieder etabliert werden konnte und durch die Weltwirtschaftskrise vollends zerbarst. Er steht für nationale Kraftanstrengungen, wie es sie nicht nur im Deutschen Reich gegeben hat.

Staatliche Stellen förderten preiswerte und genießbare Austauschstoffe nicht erst seit 1933. Die systematische Erforschung heimischer Ressourcen charakterisierte schon die 1920er Jahre. Volkswirtschaftliche und machtpolitische Überlegungen dominierten, an Krieg dachten die meisten Protagonisten dabei nicht. Eier-Austauschstoffe wurden in dieser Zeit nicht nur denkbar, sondern standen im Kontext der sich damals rasch entwickelnden Eiweiß- und Vitaminforschung. Sie standen für neuartige Strukturen wissenschaftlicher Forschung, für die Verbindung agrarwissenschaftlicher, chemischer, biochemischer und lebensmitteltechnologischer Arbeit. Und sie standen für eine verstärkte Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion, die sich unter dem Druck von Auslandsware vielfach als nicht wettbewerbsfähig erwiesen hatte.

Milei war demnach ein typisch „modernes“ Produkt, das es auch ohne die nationalsozialistische Machtzulassung gegeben hätte; in etwas anderer Form, vielleicht etwas später. Und doch war Milei auch ein nationalsozialistisches Konsumgut. Es diente nicht als beliebiges Zwischenprodukt, als schlichtes preiswertes Angebot für Konsumenten. Es diente von Beginn an der Rückendeckung einer kriegerischen Machtpolitik, als Garant für den Herrschaftsanspruch des NS-Regimes. Milei profitierte vom Kriegsbeginn, ohne diesen wäre das deutsche und europäische Produktions- und Vertriebsnetzwerk nicht denkbar gewesen. Milei stand für deutschen Forschergeist, war die zivile Seite einer Expansion, die von den genagelten Stiefeln der Wehrmacht geprägt war, von Gewalt und Destruktion der Schergen. Die Firma folgte in die eroberten Gebiete, nutzte sich bietende ökonomische Chancen in West- und Osteuropa.

Milei wurde mittels Werbung sehr unterschiedlich präsentiert. Das war nicht nur Folge eines uncharismatischen Konsumgutes, eines weißen Pulvers ohne eigene Attribute. Das spiegelte auch die unterschiedlichen Facetten eines Regimes, das Normen- und Maßnahmenstaat zugleich war, dessen Konsumgütermärkte sich analog zu denen der westlichen Kriegsgegner entwickelten, zugleich aber zeittypische Unterschiede aufwiesen. Milei wurde als wissenschaftliches Präparat beworben, seine Anwendung musste erlernt und vermittelt werden. Diese Anstrengung erfolgte angesichts der Enge einer effizienten und zugleich auf Raub ausgerichteten Lebensmittelrationierung. Sie programmierte Hausfrauen und Feldköche hin auf Zubereitungsformen und eine völkische Kraftanstrengung, appellierte nicht nur an das Mitmachen, sondern bot rationale Gründe hierfür. Einmal etabliert wurde Milei zu einem wichtigen Alltagsgaranten, einem verlässlichen Alltagshelfer. Dies wurde genutzt, um mit der Werbung nicht nur wirtschaftliche Ziele zu erreichen, sondern eine Mobilisierung der Bevölkerung im Sinne des Krieges, im Sinne der Bewährung und des Weitermachens bis zum (für die meisten Deutschen) bitteren Ende.

Milei konnte sich in der Nachkriegszeit behaupten, denn es war ein preiswertes, nahrhaftes und funktionales Produkt. Doch es konnte sich als Markenartikel nicht festsetzen, denn Konsumgütermärkte folgen nicht allein (und vielleicht nicht einmal primär) rationalen Überlegungen. Obwohl das Milei-Eiweiß billiger war als das gackernder Hühner, war es doch mit der Enge und Not der Kriegszeit verwoben. Das Hühnerei, ein morgendlicher Proteinschub am Frühstückstisch und Symbol für eine neue alte Normalität, war anders bewertet, Ausdruck einer prosperierenden neuen alten Zeit. Es dauerte einige Zeit, bis die Massenproduktion von Eiern und dann Geflügel auch in deutschen Landen einsetzte – doch das sah man weder dem Ei, noch dem Gefrierhuhn an.

Milei verschwand als sichtbarer Markenartikel, blieb als Zwischenprodukt jedoch unsichtbar präsent. Hier kommen vielleicht wir mit ins Spiel, wir, die wir nicht recht wissen, was wir vom Einkauf schließlich mit nach Hause tragen. Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch von der Herkunft der Ingredienzien und Zwischenprodukte wissen wir wenig, von ihrer Geschichte noch weniger. Wir essen willig und fügsam, folgen den so unterschiedlichen Suggestionen der Werbung, die uns andere Geschichten nahebringen, solche, die wir hören sollen, denen wir gerne lauschen, um zu werden, was wir gerne wären – getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft, nach Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges oder einfach, weil wir all dies nicht an uns heranlassen wollen.

Uwe Spiekermann, 17. April 2021

Blondinen zur Zeit des Nationalsozialismus – Das Haarfärbeshampoo Nurblond

Die Konsumgeschichte des Nationalsozialismus ist bis heute nur oberflächlich untersucht. Volkswagen und Volksempfänger, Vollkornbrot und Sojamehl geben eine Ahnung von der Breite und Ambivalenz einer zunehmend unter staatlichem Einfluss stehenden Konsumwelt, doch Auto und Radio, Naturkost und Convenienceprodukte künden von einer raschen Entnazifizierung der Dinge in der folgenden „Wirtschaftswunderzeit“. Die für Konsumgütermärkte charakterisierende Vermischung ideologischer, politischer, technischer und ökonomischer Einflussfaktoren ist schwer aufzudröseln – und vermeintlich typisch nationalsozialistische Konsumgüter kaum auszumachen. Auch die NS-Zeit war konsumtiv vorrangig Teil einer „westlichen“, einer kapitalistischen Moderne.

Konsumgüter sind eben nicht eindimensional, sondern vieldeutig. Der Gebrauchswert eines Volksempfängers lag wohl vorrangig in leichter Muse, Nachrichten und familiärer Geselligkeit, weniger in den obligaten Reden der nationalsozialistischen Politiker und ihrer konservativen Bündnispartner. Er war Ausdruck des sozialen Status, erlaubte Distanz zum Alltagsgeschehen, zeitweiliges Wegtauchen, diente der Wohnungseinrichtung. Vergleichbare Ambivalenzen gelten auch für Produkte, deren ideologischer Gehalt vermeintlich sicher zu sein scheint. Ein gutes Beispiel hierfür sind Haarpflegeprodukte. Blickt man in die Literatur, so scheinen vor allem die seit Anfang der 1930er Jahre verstärkt beworbenen und verkauften Haarfärbeshampoos typisch nationalsozialistisch zu sein. Das betonen zumindest mehrere Autoren mit Blick etwa auf Nurblond, einem Shampoo für blonde Frauen und solche, die es werden wollten.

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Blond gleich „arisch“? Plakative Rezeption einer Nurblond-Werbung (Lenka Kopecká, Das Bild der Frau in der NS-Zeitschrift „NS-Frauen-Warte“, Bachelorarbeit Olomouc 2015, 46)

Einschlägige Anzeigen fanden sich erst einmal in historischen Dokumentationen, die seit den 1980er Jahren mit einer verstärkten musealen Aufarbeitung des Nationalsozialismus einhergingen (Sabine Kübler, Frauen im deutschen Faschismus 1933-1945, hg. v.d. Stadt Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1980, 72-73; Norbert Hopster (Hg.), Träume und Trümmer. Der Nationalsozialismus von 1933 bis 1945, Bielefeld 1989, 192). Dieses Genre ist plakativ: Die Nurblond-Anzeigen standen für die spezifisch nationalsozialistische Unterdrückung der Frau, die auf ihre Körperlichkeit und Reproduktionsfunktion reduziert wurde. Blondinen galten demnach auch als Ausdruck des „Arischen“, plakatierten gleichsam die Idee einer auch für die Damenwelt geltende Herrenrasse (Gloria Sultano, Wie geistiges Kokain… Mode unterm Hakenkreuz, Wien 1995, 188; Anja C. Schmidt-Otto, „Die Frau hat die Aufgabe, schön zu sein und Kinder zur Welt zu bringen“. Das Bild der Frau im Dritten Reich – zwischen nationalsozialistischem Dogma und populären Frauenzeitschriften, in: Walter Delabar, Horst Denkler und Erhard Schütz (Hg.), Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 1999, 254-264, hier 255-256). Die Autorinnen werteten strikt und eingängig: In Nurblond-Anzeigen – und solchen vergleichbarer Haarpflegeprodukte – manifestiere sich das „Schönheitsideal der deutschen Frau“, orientiert „an dem Vorbild des Frauenbildes der nordischen Rasse“ (Tanja Sadowski, Die nationalsozialistische Frauenideologie: Bild und Rolle der Frau in der ‚NS-Frauenwarte‘ vor 1939, Mainzer Geschichtsblätter 12, 2000, 161-182, 169). Alle diese Arbeiten nutzten Anzeigen, analysierten und kontextualisierten sie jedoch nicht. Die geschichtspädagogische Aufgabe überlagerte offenbar die fachwissenschaftliche. Es ging um eindimensionale Benennung und Kritik von ideologisch begründeter Mutterschaft, vom Hausfrauenideal, dem Dienst am Manne und der „Volksgemeinschaft“, von Körperertüchtigung und Gesundheitspflege. Es fehlte jedoch eine genauere Kenntnis und Definition der Produkte (und auch der ideologischen Konstrukte der NS-Frauen- und Biopolitik). Nur so ist zu erklären, dass in Abschlussarbeiten die Fotomotive der Nurblond-Anzeigen als „arisch“ bezeichnet werden können.

Ein derart plakativer Umgang mit historischen Zeugnissen mag zwar kritisch daherkommen, steht jedoch für mangelnde Kenntnisse der NS-Konsumgütermärkte im Allgemeinen, für die der herangezogenen Haarpflegeprodukte im Speziellen. Es scheint, dass hier alte Vorstellungen des „Blonden und Blauäugigen“ – vermeintlich kritisch gewendet – in die Literatur zurückkehren. Blond wird auf einen zu dekonstruierenden Marker reduziert, gerät unter Generalverdacht.

Im Folgenden werde ich am Beispiel von Nurblond versuchen, eine andere und substanziellere Analyse von Haarpflegeprodukten während der NS-Zeit zu geben. Erstens wird es darum gehen, die Vorgeschichte des Haarfärbens und Blondierens genauer einzufangen, denn der Markteintritt von Produkten hat seine Eigenlogik, folgt technischen Entwicklungen, Marketingentscheidungen sowie Veränderungen der Nachfrage. Zweitens gilt es sich das Produkt Nurblond genauer anzuschauen, dessen Herkunft und Werbung, dessen Darstellung von Frauen und Kaufmotiven. Drittens folgt ein vergleichender Blick auf einige Konkurrenzprodukte, um so den Stellenwert des nur einen Markenartikels zu präzisieren. Viertens ist der Blick über die Grenzen des deutschen Vermarktungsgebietes hinaus zu weiten, war Nurblond doch keineswegs „deutsch“, sondern ein unter verschiedenen Namen vertriebenes globales Produkt.

Färben und Blondieren: Gefährliche und mühselige Unterfangen

Blond zu sein ist etwas Besonderes, denn es ist rar und vergänglich. Bei vielen, so auch bei mir, ist es eine Erinnerung an die Kindheit, denn das Haar dunkelt nach, die blonde Farbe vergeht, kehrt sich um ins bräunlich-fahle bis schließlich die Färbung aussetzt, graues und weißes Haar vordringt, gar dominiert. Blond steht für die eigene Herkunft, für Reinheit, für Jungfräulichkeit: „Die schönste Jungfrau sitzet / dort oben wunderbar / ihr goldnes Geschmeide blitzet, / sie kämmt ihr goldenes Haar“ heißt es in Heinrich Heines Loreley. Auch Goethes Gretchen oder von Kleists Käthchen sind jung und rein, Figuren im Widerstreit zwischen Heim und fordernder Welt.

Blond ist zugleich eine schwindende Haarfarbe. Lange charakteristisch für den weit gefassten Ostseeraum, für Skandinavien, Norddeutschland, Nordpolen und die baltischen Staaten, geht der Anteil der Blonden stetig zurück, wird diese Farbe doch rezessiv vererbt. Naturwissenschaftlich lässt sich dies stofflich fassen. Melanine werden gebildet oder nicht gebildet, ihre Mischung entscheidet über die Haarfarbe. Diese prosaische Erklärung verhinderte nicht, dass zumal im 19. Jahrhundert das Blonde pseudowissenschaftlich geadelt wurde, zur Haarfarbe der imaginierten „Germanen“ mutierte, zu einem Merkmal recht beliebig benannter „Rassen“, zum Kennzeichen von Höherwertigkeit und eines kühlen Geistesadels. Friedrich Nietzsche hat daraus „die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie“ (Zur Genealogie der Macht, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, München 1954, 786) kondensiert, gedacht als Warnung vor der grausam-barbarischen Natur des vermeintlich kultivierten Hominiden, unkundig umgedeutet zum heroisch-agilen Herrenmenschen. Die Spannbreite des Blonden war also beträchtlich. Eine klare Verbindung von Blond und Rassismus, gar Nationalsozialismus lässt sich daraus jedoch nicht ziehen.

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Ändere Dein Leben – Wasserstoffperoxid hilft (P[aul] Börner und R[ichard] Henneberg (Hg.), Officieller Führer durch die allgemeine deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens, Berlin 1883, Annoncen, 80)

Das gilt zumal, blickt man auf das blonde Haar im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft. Reinheit, Seltenheit, Schönheit – dies betörte, hier bestand Nachfrage: Es galt im bürgerlichen Heiratsmarkt zu bestehen, das Matronendasein hinauszuzögern oder Attraktivität und Selbstwertgefühl zu steigern. Sich gegen das Nachdunkeln und Ergrauen zu stemmen, gar andersfarbiges Haar zu blondieren, war daher nicht ungewöhnlich. Blondieren war jedoch schwierig und aufwändig, verlangte nach Friseuren, nach Haarfärbespezialisten. Das änderte sich seit den späten 1860er Jahren mit dem Wasserstoffsuperoxyd (ab 1960 als Wasserstoffperoxid bezeichnet, vgl. Über Wasserstoffsuperoxyd, Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines 13, 1875, 145-149). Damals brachte der Londoner Pharmazeut Eugène Henri Thiellay das Geheimmittel „Eau fontaine de jouvence golden“ für stattliche sieben Francs pro 140-ml-Flakon auf den Markt, garniert mit Verweis auf eine goldene Medaille während der Pariser Weltausstellung 1867. Bei dem Wässerchen handelte es sich um verdünntes und durchaus wirksames Wasserstoffperoxid, dessen bleichende Wirkung überzeugte (A. v. Schrötter, Wasserstoffsuperoxyd als Cosmeticum, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Berlin 7, 1874, 980-982). Die Chemikalie zerstörte die Haarpigmente, erlaubte damit entweder eine wasserstoffblonde Frisur oder aber recht beliebig gefärbtes Haar. Als „Golden Hair Water“ oder auch „Auricome“ weiter vermarktet, wurde es rasch zum unverzichtbaren Hilfsmittel des Friseurhandwerkes oder aber der wagemutigen Frau. Das recht hoch konzentrierte Wasserstoffperoxid war wirksam, auch aufgrund der anfangs beigemengten Salpetersäure. Es war nicht einfach zu handhaben, zersetzte sich an der Luft recht rasch, hinterließ bei unkundiger Anwendung kräftige Flecken auf Haut und Kleidung. Doch die Bleichung hielt acht bis zehn Wochen (Heinrich Paschkis, Kosmetik für Ärzte, 2. verm. Aufl., Wien 1893, 221).

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Schönheit und vermeintliche Dummheit der Blondinen (Jugend 7, 1902, 647 (l.); Lustige Blätter 15, 1900, Nr. 5, 5)

All dies schien akzeptabel, erinnerte das sonstige Angebot doch an einen Chemiebaukasten: „Die derzeit meist in den Handel kommenden Haarfärbemittel enthalten entweder Blei, Wismuth, Silber, Mangan, Kupfer, Eisen, Quecksilber oder sind vegetabilischer Natur“ (Max Schneider, Die Mittel zur Pflege des Haares. II. Haarfärbemittel, Pharmaceutische Post 34, 1901, 617-620, hier 617). Die Mittel überdeckten die vorhandene Haarfarbe von außen, wirkten deshalb nur kurze Zeit, regelmäßig wiederholte Anwendungen waren die Folge. Das ging am besten bei der Schwarz- und Rotfärbung (Henna) – zumal der Kampf gegen graue Haare das Färben dominierte. Dagegen war es äußerst schwierig Mittelfarben wie Hellbraun oder Blond zu rekonstruieren bzw. neu herzustellen. Immerhin, Curcuma führte zu semmelweißem Haar, Silber-, Kupfer- und Molybdänpräparate zu Hell- und Tizianblond (Paschkis, 1893, 216-220). Die immense Zahl der Haarfärbemittel – eine Untersuchung in Wien nach der Jahrhundertwende führte knapp fünfzig Präparate namentlich auf (Schröder, 1901) – spiegelte sowohl den Drang nach Farbe und Veränderung als auch den Mangel an wirklich überzeugenden Angeboten. Wasserstoffperoxidpräparate blieben deshalb allgemein üblich.

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Teerfarben machen alles möglich (Lustige Blätter 21, 1906, Nr. 18, 22)

Auch Teerfarben wurden ausprobiert und eingesetzt, auch hier blieb das Ergebnis zwiespältig. Dennoch wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg die kosmetische Manipulation der Haare im Bürgertum üblich: „Das Haarfärben und die Erzeugung der Haarfärbemittel beginnt sich zu einem wahren Gewerbe zu entwickeln. Das Hindernis beim Gebrauch der Mittel ist nur das, daß die öffentliche Meinung mit dem Resultate wenig zufrieden ist, die Manipulation verurteilt, einen Betrug in ihnen sieht und sie nicht als den Ersatz der Natur annimmt, was zum Grunde haben kann, daß bei uns die Kunst des Haarfärbens ziemlich unvollkommen ist, ausgenommen das Bleichen. Das Blondfärben gelingt gewiß schön und wer es verurteilt, tut Unrecht. Wenn sich jemand sein wirklich häßliches Haar in schönes Blond verwandeln läßt, das ist absolut nicht zu verurteilen. Ein gelungenes Färben ist schön, ist somit kein Betrug, sondern es ist damit der Natur ein Sieg abgerungen“ (Johann Deffert, Vom Haarfärben, Neue Wiener Friseur-Zeitung 30, 1913, Nr. 12, 1-2, Nr. 13, 2-3, hier 3). Das Bleichen war zu dieser Zeit deutlich billiger geworden, so dass es auch in ärmere Schichten Verwendung fand. Da dort jedoch seltener auf Friseure zurückgegriffen wurde, war zersplissenes und „ruiniertes“ Haar ein Alltagsproblem. Erste Fertigkoloraturen, wie das 1908 auf Basis der Forschungen des Chemikers Eugéne Schueller (1881-1957) in Paris einführte L’Oreal-Henne, blieben Ausnahmen, waren aufgrund des verwendeten Phenylendiamins auch gesundheitsgefährlich (Jos. Mayer, Gefärbtes Haar einst und jetzt, Friseurkunst der Mode 5, 1920, Nr. 4, 1-2).

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Erhöhtes Körperkapital dank Blondin (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 49 v. 7. Dezember, 21)

Nach Ende des Ersten Weltkrieges gewannen pflanzliche Färbemittel an Bedeutung – zumeist Kombinationen von Henna und Reng mit anderen Pflanzenstoffen. Französische, aber auch deutsche Anbieter entwickelten daraus Komplettangebote, aus denen die Konsumenten scheinbar beliebig wählen konnten. Das Pulver Henné-Broux gab es beispielsweise in fünfzehn verschiedene Farbnuancen, darunter Blond, Hellblond, Goldblond, Dunkelblond, Aschblond, Rötlichblond, Hellgoldblond, Hell-Aschblond und Dunkel-Kastanienblond. Um zu färben, musste man das Färbepulver in eine Schale geben, nach und nach kochendes Wasser hinzufügen, bis sich unter Rühren ein schlagsahnenähnlicher Brei gebildet hatte. Die Haare mussten zuvor gereinigt, getrocknet und gekämmt werden. Der abgekühlte Brei wurde dann per Pinsel auf die Haare aufgetragen, das Haar zu einem Schopf zusammengelegt und für eine halbe Stunde mit einem Tuch bedeckt. Es folgte die Reinigung mit lauwarmem Wasser, die Haare sollten mehrfach ausgedrückt und dann getrocknet werden. Damit war das Ende nahe, doch noch nicht erreicht. Noch musste das dem Pulver beigefügte Fixiermittel in kaltem Wasser aufgelöst und mit einem Pinsel in die Haare gestrichen werden. Anschließend auskämmen: Fertig (Fachblatt der Friseure, Raseure und Perückenmacher 20, 1926, Nr. 6, 14). Aufgrund dieses hohen Aufwandes griff die Mehrzahl beim Blondieren weiterhin zum Wasserstoffperoxid – oder aber zu Hausmitteln, etwa einem Kamillensud oder einer Rhabarberabkochung (Karl Mausser, Haarfarben und Haarfärben, Die Bühne 1926, H. 82, 62).

All dies fand nicht im luftleeren Raum statt, sondern vor dem Hintergrund einer breit gefächerten und sozial höchst heterogenen Frauenemanzipation. Ihnen stand eine wachsende Zahl von Berufen offen, gerade im Angestelltenmilieu etablierten sich berufstätige junge Frauen als Teil einer urbanen Arbeits- und Konsumkultur. Zum Signet der neuen Zeit und der viel beschworenen „Neuen Frau“ wurde nicht nur ein schlanker und sportlicher Körper, sondern auch der Bubikopf. Diese kurz gehaltene Frisur brach mit den Konventionen der Vorkriegszeit, hob Kopfform und Haar markant hervor, ließ das Äußere zunehmend gestaltbar werden: „Haarfärben ist zur Mode geworden. Die Blondine will als Brünette, diese als Blondine erscheinen; individueller, oft launiger Geschmack sind maßgebend. Anderseits soll dem frühzeitig oder dem physiologisch eingetretenem Ergrauen Abhilfe geschaffen werden“ (Egon Karpelis, Sind die üblichen Haarprozeduren schädlich?, Die Bühne 1927, H. 140, 38).

All dies war umstritten und umkämpft. Kritikern galt Färben als „eine Art Gewaltakt“: „Das Haar ist ein schönes Geschenk Gottes und soll nicht mißhandelt werden, gefärbt soll immer erst werden, wenn es nötig ist, und zwar nur da, wo es nötig ist“ (Die Kunst des Haarfärbens, Prager Tagblatt 1927, Nr. 84 v. 9. April, Unterhaltungsbeilage, 5). Färben war zudem kein Einmalakt, sondern Einstieg in einen oft lebenslangen Gebrauch. Dieser erfolgte auch keineswegs freiwillig, schien vielmehr Folge des intensiveren beruflichen Wettbewerbs zu sein (Ernst Tannert, Darf man die Haare färben?, Kleine Volks-Zeitung 1932, Nr. 121 v. 1. Mai, 13). Haarfärbung stehe für eine artifizielle Welt der Künstlichkeit und des Überdeckens, stehe gegen die von der Lebensreform und der Sportbewegung gefeierte und geforderte Natürlichkeit. „Hand weg vom Haarfärben!“ (Hilde Hanna Sitte-Hutter, Blond—Braun—Schwarz?, Kärntner Volkszeitung 1933, Nr. 88 v. 4. November, 8) hieß es aber auch auf der politischen Agenda, darin stimmten viele Repräsentanten von KPD, SPD, Zentrum, DNVP und NSDAP überein. Schließlich sprachen wichtige gesundheitliche Gründe gegen das Färben (Edmund Saalfeld, Haarbleich- und -färbemittel. Ärztlicher Teil, in: Hans Truttwin (Hg.), Handbuch der kosmetischen Chemie, Leipzig 1920, 541-546). Bleipräparate waren schon 1906 verboten, kupferhaltige deutlich eingeschränkt worden. Silberhaltige Hilfsmittel hielten länger vor, wurden daher gerne genommen, mochten sie das Haar langfristig auch spröde machen (P. Martell, Ueber Haarfärbemittel, Pharmazeutische Post 66, 1933, 29-31). Beim Blondieren wiederum führte der öffentlich geführte Risikodiskurs zum verstärkten Einsatz von „natürlichen“ Kamillenabkochungen. Diese waren wirksam, erforderten jedoch stetig wiederholte Anwendungen.

Shampoo als neues Produkt

Mitte der 1920er Jahre gab es also eine wachsende Palette von Haarfärbemitteln, doch keines war ohne Risiko. Färben blieb daher eine Kernkompetenz der Friseure. Dennoch ermöglichten die zeitgleich entwickelten Färbeshampoos einer wachsenden Zahl von Konsumenten selbstständige und häusliche Haargestaltung. „Shampooing“ war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine speziell amerikanische Form der Kopfwäsche bekannt geworden, die ab Mitte der 1870er Jahre hierzulande auch maschinell angeboten wurde (Augsburger Postzeitung 1859, Nr. 89 v. 14. April, 8; Nürnberger Presse 1875, Nr. 190 v. 9. Juli, 4). Das Waschmittel bereiteten die Friseure meist selbst zu, üblicherweise als eine Mischung aus Eiern mit Rosenwasser und Parfüm (G. Weidinger’s Waarenlexikon der chemischen Industrie und der Pharmacie, hg. v. T[homas] F[ranz] Hanausek, 2. gänzl. umgearb. Aufl., Leipzig 1898, 297). Für den Hausgebrauch entstanden parallel Shampoo-Pulver, Mixturen aus parfümiertem Seifenpulver mit Soda oder Borax. Der Begriff „Shampoo“ findet sich im deutschen Warenzeichenverzeichnis seit spätestens 1899 (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 36 v. 10. Februar, 8), 1903 wurde „Ebert’s Shampoo Powder“ als Warenzeichen eines Pulvers „zum Shamponieren“ (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 151 v. 30. Juni, 16) eingetragen.

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Vorgefertigtes „Shampoon“, häuslich anwendbar (Fliegende Blätter 119, 1903, Nr. 3045, Beibl. 10, 2)

Nachhaltigen Erfolg hatte das seit 1903 angebotene „Shampoon“ des Berliner Friseurs Hans Schwarzkopf (vgl. Geoffrey Jones, Beauty Imagined. A History of the Global Beauty Industry, Oxford und New York 2010, 45-52). Es handelte sich um ein vorgefertigtes Pulver, ein Convenienceprodukt, das häuslich angewandt werden konnte und deutlich bessere Ergebnisse erzielte als das gängige Haarwaschen mit Seife oder Soda. Es dauerte jedoch nochmals zwei Jahrzehnte, bis es hieß: „Haarfärben nur durch Haarwaschen!“ (Neue Wiener Friseur-Zeitung 42, 1925, Nr. 6, 22). Dieser Slogan stammte vom Berliner Friseur Friedrich Klein, dessen Kleinol zu den Pionierprodukten neuartiger Haarfärbeshampoos gehörte. Sein 1924 gegründetes und 1935 von Elida übernommenes Unternehmen verband zwei Entwicklungen zu einem Produkt. Das häuslich anwendbare Shampoo wurde mit der Palette neuartiger pflanzlicher Haarfärbemittel gekoppelt, die bisher vornehmlich beim Friseurbesuch verwandt wurden. Daraus entstanden rasch ausdifferenzierte Produkte, angeboten unter der Dachmarke „Kleinol Henna-Shampoos“ zur Aufhellung dunkler Haare: Darunter befand sich ein eigenes Blondier-Shampoo (platinblond) und abgestufte Henna-Shampoos (mattblond, hellblond, goldblond und tizianblond). Gefahrlos war auch das nicht, denn die aromatisierten Diamine des Kleinols konnten Hautreizungen hervorrufen (Neue Wiener Friseur-Zeitung 48, 1931, Nr. 7, 1-2, hier 2).

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Shampoo + Henna = Haarfärbeshampoo Kleinol (Sport im Bild 39, 1933, 877)

Das neue Prinzip der Färbeshampoos führte zu einer wachsenden Zahl von Rezepten, auch zu einer Vermengung mit Hausmitteln. Das betraf vor allem die Kamille: „Aus den Kamillenblüten wird ein Extrakt gebraut; mit diesem wird das Haar nach dem Waschen und auch sonst alle paar Tage benetzt, […]. Viele Blondinen gießen auch den Extrakt direkt zu dem aufgelösten Haarwaschpulver und waschen das Haar mit dieser Mischung“ (Tannert, 1932). Entsprechende Extrakte wurden auch gewerblich hergestellt, mit Shampoopulver vermengt und als Kombinationsprodukt angeboten. Wichtige Impulse für derartige Produkte kamen dabei aus dem wachsenden Sortiment von Wasch- und Putzmitteln. Dort ging es um Farbechtheit, die gewonnenen Kenntnisse über Verfärbungen konnten jedoch auch in anderen Märkten genutzt werden.

Die neuen Shampoos waren betriebswirtschaftlich äußerst reizvoll: „Durch das Shampoonieren mit Shampoo-Farbe wird die Frau daran gewöhnt, ihre Haare in der Farbe zu erhalten, in der sie es haben will. Sie wird daran gewöhnt, daß das Haar ein gesundes und frisches Aussehen behalten muß. Sie wird daran gewöhnt, es zu pflegen und ihm schon von Jugend an ihre volle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sie fährt damit fort, wenn sie älter wird und geht nun leicht zur notwendig gewordenen Färbebehandlung über“ (Haarpflege – die Einnahmequelle der Gegenwart, Friseur und Fortschritt 1935, H. 10, 13). Es ging also nicht nur um eine neue Produktgruppe, sondern auch um zunehmend jüngere Konsumenten, begann das Nachdunkeln des blonden Haares doch schon mit Beginn des heiratsfähigen Alters. Wichtiger noch war eine zunehmende Verhäuslichung der Haarfärbung – und es war unklar, ob die Friseure vom insgesamt wachsenden Markt der Haarpflege profitieren oder aber unter dem vermehrten Färben der Laien leiden würden. Um 1930 setzten die Berufsvertreter noch auf die eigene Kompetenz und glaubten sich durch die Werbung für die neuen Färbeshampoos nicht irre machen zu müssen (Praktische Winke für den Haarfärber, Neue Wiener Friseur-Zeitung 48, 1931, Nr. 6, 8; Um und für die Schönheit der Frau, Internationale Frisierkunst und Schönheitspflege 22, 1934, Nr. 11, 3-7, hier 7).

Ein wachsender Markt: Der lange Schatten der Filmblondinen

Nurblond war eines dieser neuen Färbeprodukte. Seit Sommer 1930 erwerbbar, war es Teil allgemeiner Veränderungen des Haarpflegemarktes, also stetem, schon vor dem Ersten Weltkrieg einsetzendem Wachstum, der Ausdifferenzierung der Haarfärbemittel sowie der Entwicklung neuartiger häuslich nutzbarer Färbeshampoos. Anders als etwa Kleinol, das von Anfang an auf das gesamte Farbspektrum zielte und bei dem blondfarbige Angebote Teil einer Dachmarke waren, konzentrierte sich Nurblond jedoch allein auf Blondinen.

Das bedarf der Erklärung, denn der Anteil der Blonden an der Gesamtbevölkerung sank. Nurblond war einerseits eine unmittelbare Referenz an das aufstrebende Massenmedium Film, dessen Dramen neue Prominenz schufen. Filmstars wurden bewusst geschaffen, waren Teil eines Vermarktungssystems, das zuerst bei Universal Pictures entworfen, auf das Mitte der 1910er Jahre entstehende Hollywood übertragen und dann weltweit übernommen wurde. Illustrierte, Magazine und neuartige Filmzeitschriften konzentrierten sich auf reale und imaginierte Nachrichten und Stories der Schauspieler, der Schauspielerinnen, ihres Lebens und ihrer amourösen Abenteuer. Die Filmstudios schufen eine Parallelwelt abseits der anfangs zumeist kurzen und schematisch ablaufenden Stummfilme. Die Traumfabrik produzierte nicht nur Konsumgüter für die Leinwand, sondern Lebens- und Konsumentwürfe für die Zuschauer. Dies galt für die Filmdramen, galt aber in noch stärkerem Maße für das scheinbar erstrebenswerte Leben als Filmstar. Begabung, Glück und natürlich Schönheit waren Voraussetzungen für einen raschen Aufstieg, der scheinbar jedem offen stand. Charlie Chaplin (1889-1979) stammte aus den Armenvierteln Londons, Mary Pickford (1892-1979) war ein Waisenkind aus Toronto, Douglas Fairbanks (1883-1939) eines aus New York. Zusammen mit dem ebenfalls als Waise in Kentucky aufgewachsenen Regisseur David Wark Griffith (1875-1948) gründeten sie 1919 United Artists, eines der größten und erfolgreichsten Filmstudios Hollywoods. Diese prozierten Filme und Stars; Stars, die zumeist standardisierten Schönheitsidealen und Rollenerwartungen entsprachen. Der Schwarz-Weiß-Film präsentierte die Blonde als Widerpart zur Dunklen. Sie konnte naiv sein, weißes Gift, lasziv und verführerisch, kühl und berechnend. Die Blonde wurde zum Ideal, Mary Pickford selbst hatte hierfür den Weg gewiesen.

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Die Garbo – platinblond – und die deutsche „Miß Blond“ 1932 (Das interessante Blatt 51, 1932, Nr. 24 v. 16. Juni, 6 (l.); ebd., Nr. 11 v. 17. März, 6)

In Deutschland wurde dieses Star- und Studiosystem ansatzweise kopiert, ebenso die Produktion von begehrten und bewunderten Filmblondinen. Ende der 1920er Jahre hieß es pointiert: „Während noch vor etlichen Jahrzehnten die dämonischen Schwarzen den Schauplatz beherrschten, sind sie inzwischen vollkommen von den Blondinen verdrängt worden“ (Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 54 v. 23. Februar, 2). Filmstars prägten Männer- und Frauenbilder, bewegten Konsumgütermärkte, waren Konsumvorbilder: „Ob blond oder dunkel: das entscheidet heute die Mode und – die Filmdiva“ (Der Wiener Tag 1932, Nr. 3436 v. 11. Dezember, 14).

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NS-Gegnerin Marlene Dietrich als blonder Vamp und als imaginiertes Gretchen (Revue des Monats 8, 1933/34, Nr. 2, 115 (l.); Uhu 8, 1931/32, Nr. 2, 31)

Die Filmindustrie etablierte ein zwar vielfach irreales und eskapistisches Paralleluniversum, doch sie weitete die möglichen Lebensentwürfe von Frauen auch deutlich aus. Gewiss, ein Mann musste gewonnen werden, doch dies häufig nur als Startpunkt für ein Leben in Wohlstand und Glamour (Verena Dollenmaier und Ursel Berger (Hg.), Glamour! Das Girl wird feine Dame – Frauendarstellungen in der späten Weimarer Republik, Leipzig 2008). Frauenbilder wurden jedoch nicht nur facettenreicher, sondern waren Ausdruck auch von Selbstverwirklichung und einem erweiterten Horizont. Wichtig: Sie wurden global verbreitet – immer verbunden mit einem Set ähnlicher Konsumgüter (Tani E. Barlow et al., The Modern Girl around the World: A Research Agenda and Preliminary Findings, Gender & History 17, 2005, 245-294; Alys Eve Weinbaum et al. (Hg.), The Modern Girl around the World. Consumption, Modernity, and Globalization, Durham and London 2008).

Blonde Haare waren nicht mehr länger Reminiszenz an eine vergangene Kindheit, sondern erlaubten den virtuellen Kontakt mit dieser Welt. Sie waren Teil eines immensen Wachstums der kosmetischen Industrie, die scheinbar Brücken in die Traumwelten ebnen konnte. Schönheit war nicht mehr länger nur gegeben, sondern sie wurde machbar. Blond konnte wiederhergestellt werden, war Ausdruck neuer Möglichkeitshorizonte, war gestaltbar – so wie vieles andere mehr. Rückfragen und Ideologiekritik wären hier gewiss nötig, Hinweise auf illusionäre Tagträume, auf die systemstabilisierenden Wirkungen der Filmindustrie, sei es gesellschaftlich, wirtschaftlich und in der Hierarchie der Geschlechter. Doch das wurde durchaus selbstreferentiell behandelt, etwa in Alfred Hitchcocks wenig bekannter Farce „Endlich sind wir reich“ (1931).

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Selbstbewusste emanzipierte Frauen – auch blond (Ulk 55, 1926, Nr. 20, 8 (l.); Kriminal-Magazin 3, 1931, Nr. 33, I)

Blond, das sollte deutlich geworden sein, war ein buntes, vielgestaltiges Thema, lässt sich nicht auf die Produktion naiv konsumierender Blondchen reduzieren oder aber – neumodisch – auf „white femininity with specific class attributes“ (Pam Cook, Because she’s worth it: the natural blond from Grace Kelle to Nicole Kidman, Celebrity Studies 7, 2016, 6-20, hier 6). Blond sein war nicht zwingend affirmativ, Schrumpfform menschlicher Möglichkeiten. Blondinen waren um 1930 vielfach emanzipierte und selbstbewusste Frauen, wählerisch und in der Lage zu wählen. Das galt natürlich auch für „ihren“ Typ, für ihre Erscheinung, für ihre Haarfarbe, denn „überall siegt das Lichte über das Dunkle, Henna, Nur-Blond oder das Geheimrezept des Friseurs über die schwärzesten Locken“ („Ich erinnere mich Ihrer dunkel, gnädige Frau!“, Revue des Monats 7, 1932/33, Nr. 11, 994-996, hier 994-995).

Nurblond: Markteinführung während der Weltwirtschaftskrise

Die Deutsch-Schwedische Nurblond Laboratorien GmbH wurde am 26. Juli 1930 in Berlin mit einem Stammkapital von 20.000 Reichsmark gegründet. Ziel war die Herstellung und Vertrieb „von pharmazeutischen und kosmetischen Artikeln, insbesondere die Herstellung von Shampoons für blonde Haare nach schwedischen Originalrezepten“ (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 180 v. 5. August, 9). Nurblond wurde anfangs von zwei Geschäftsführern geleitet, einerseits vom US-amerikanischen Fabrikanten Robert Routh (New York), anderseits dem Journalist Fritz Krome. Letzter wurde Ende Mai 1931 von seiner Position entbunden (Deutscher Reichsanzeiger 1931, Nr. 124 v. 1. Juni, 6). Der promovierte Philologe schrieb später dann regimenahe Romane, etwa 1938 „Deutsche in Südamerika“ oder „Kampf um Münsterland“. Im Dezember 1931 wurde schließlich auch Routh abberufen. Die Geschäftsführung übernahm nun eine Frau, Clara Schulz, geborene Funk (Deutscher Reichsanzeiger 1932, Nr. 31 v. 6. Februar, 8). Im November 1933 erhielt die Firma schließlich einen neuen Namen, entledigte sich der deutsch-schwedischen Imagination, fungierte seither als Nurblond Laboratorien GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1933, Nr. 279 v. 29. November, 9).

Nurblond war ein typisches Geheimmittel, unterlag als Kosmetikum einer aus heutiger Sicht gewiss unzureichenden Regulierung. Die Zusammensetzung blieb unbekannt, stattdessen gab es inhaltsleere Allgemeinplätze: „Dieses neue Shampoo ‚Roberts NUR-BLOND“ ist ein natürliches Mittel. […] Es enthält weder Färbemittel noch schädliche Bleichmittel“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 226 v. 27. September, 17). Das Produkt hob seinen Alleinstellungsanspruch nur negativ hervor, schloss bestimmte Wirkstoffe aus: „Nurblond enthält keine Färbemittel, keine Kamille und auch kein Henna, kein schädliches Bleichmittel und ist frei von Soda“ (Das Blatt der Hausfrau 47, 1931/32, H. 7, 35). Auch der vielfach gängige graue Haarbelag durch Kalkseifen fehlte, stattdessen wurde auf den „seidigen Schaum“ des Präparates verwiesen (Neues Wiener Tagblatt-Wochen-Ausgabe 1935, Nr. 164 v. 15. Juni, 10). Mangelnde Transparenz wurde werblich umgedeutet, auf ein „Geheimrezept“ verwiesen. Nurblond blieb Imagination: „Ein Spezial-Shampoo, das wie strahlende Sommersonne wirkt“ (Das kleine Frauenblatt 14, 1937, Nr. 7, 9).

Friseure sahen dies anders, bezeichneten es als „Bleichshampoon“, das die Haare wenn nicht ruiniere, so doch zumindest schädige („Nur blond.“, Neue Wiener Friseur-Zeitung 50, 1933, Nr. 21, 10; Nur blond, Neue Wiener Friseur-Zeitung 50, 1933, Nr. 23, 12). Doch Wasserstoffperoxid dürfte das als Pulver dargebotene Nurblond nicht geprägt haben. Stattdessen wird man wohl von einem getrockneten Seifenprodukt mit Zusätzen aus Pflanzen- und Bleichmittelextrakten ausgehen dürfen. Nicht die Sonne stand an der Wiege, sondern kundige chemische Fachleute.

Nurblond wurde zu Beginn in Mehrfachpacks angeboten, „Kleinpackungen“ ergänzten das Angebot ab Herbst 1930, wenige Monate nach der Markteinführung (Das Magazin 7, 1930/31, Nr. 81, 5979). Die Papiertüten enthielten ein Pulver, das mit Wasser anzurühren und dann in die Haare einzureiben war. Die Empfehlung lautete: Einmal pro Woche. Parallel aber wurde das Präparat auch von Friseuren genutzt, wenngleich dies für die Anbieter nur zweite Wahl war: „Versuchen Sie NURBLOND noch heute, oder bestehen Sie darauf, daß Ihr Friseur es benützt“ (Das kleine Frauenblatt 15, 1938, Nr. 26, 8).

Der Absatz erfolgte über die damals gängigen Kanäle, also den Großhandel (Drogisten-Zeitung 48, 1933, 156) und dann die große Zahl von Drogerien, Friseurgeschäften, auch Kolonialwarenläden, Warenhäusern und Einheitspreisgeschäften. Der Preis war nicht niedrig, zielte aber auf ein Massenpublikum. Er wurde im Rahmen des Preisabbaus verringert, werblich dies als Folge des Erfolgs gedeutet: „NURBLOND jetzt 35 Pf. Jetzt kann es sich jede Blondine leisten, ihr Haar mit Nurblond zu pflegen. Große Erfolge, ständig steigende Umsätze und zeitgemäß verbilligte Materialpreise ermöglichen Preisermäßigung“ (Revue des Monats 7, 1932/33, Nr. 5, 471). Die Zielgruppe des Shampoos waren primär blonde Frauen im mittleren Alter. Doch auch Männer wurden angesprochen, teils um ihre Frauen zum Kauf zu bewegen, teils aber sicher auch für eigene Blondierversuche. Häufiger angesprochen wurden jüngere Frauen und auch Mädchen: „20 Jahre – die gefährliche Zeit für Blondinen“ (Das Magazin 8, 1931/32, Nr. 99, 117) hieß es dann; oder aber „Fräulein Blondine möchten Sie FRAU werden?“ (Das Magazin 7, 1930/31, Nr. 82, 6085). Das diente der Ausweitung des Marktes und der frühen Kundenbindung.

Nurblond-Werbung: Anzeigenmotive

Mangels Firmenunterlagen sind genauere Aussagen über die (Deutsch-Schwedische) Nurblond Laboratorien GmbH nur über gedruckte und veröffentliche Quellen möglich. Dabei stehen Anzeigen zwingend im Mittelpunkt. Sie galten als innovativ und modern: Der Wiener Zeichner und Trickfilmpionier Ladislaus Tuszynski (1876-1943) urteilte begeistert: „Geheiratet hat er sie? Wen denn? Und schon überfliegt man den kurzen Text, der ohne Umschweife das zum Kauf Verlockende herausschält. Sehen Sie, das ist eine ganz ausgezeichnete filmhafte Anzeige, die mutig auf die Hervorhebung der angepriesenen Ware verzichtet. Es gehört gar kein Mut dazu, wenn man mit Bild und Überschrift eine Motiv herausstellt, das wie aus einem Roman, wie aus einem Film gegriffen wirkt oder – wenn Sie so wollen: wie aus dem Leben der Menschen im Alltag“ (Strix, Inserenten: Greift ins Leben – zeigt den Alltag!, Die Reklame 24, 1931, 514-515, hier 514).

Eine Brücke zwischen Filmwelt und Alltag – just das bot die Nurblond-Werbung. Sie hatte damit beträchtlichen Erfolg, denn nach einer (nicht repräsentativen) Umfrage lag ihre Bekanntheit 1936 bei immerhin 43%. Das war deutlich weniger als bei den Marktführern Schwarzkopf (100%) und Elida (73%), doch der bei weitem höchste Wert für Spezialshampoos. Wettbewerber kamen auf deutlich niedrigere Bekanntheitswerte – je 16 % bei Palmolive und Kamilloflor, je 13 % für Auxolin, Heliopon und Blondoon sowie je 9 % bei Pixavon und 4711 (Otto Alexander Breyer, „Wer kennt die meisten Markennamen?“, Werben und Verkaufen 20, 1936, 164-175, hier 167). Schauen wir nun aber genauer hin – nicht zuletzt, um uns die vermeintliche Gleichsetzung von Blond und Nationalsozialismus vor Augen zu führen.

Blonde Diven

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Blonde Filmstars (Die Bühne 1932, H. 333, 25 (l.); Das Magazin 8, 1931/32, Nr. 96, 117)

Die Nurblond-Werbung gründete auf der Präsentation blonder Frauen, spiegelte damit die Zielgruppe des Produktes. Leitbilder waren die Diven aus Hollywood: Die oben gezeigte Joan Marsh (1914-2000) war Anfang der 1930er Jahre eine der führenden Vamps in Hollywood, machte später eine Zweitkarriere als Unternehmerin. Madge Evans (1909-1981) spielte bereits als Kind 1920 die Hauptrolle im ersten großen Heidi-Film und mutierte ab 1931 zum blonden Mägdelein in vielen, ja allzu vielen Romanzen. Anita Page (1910-2008) war demgegenüber eine der prägendsten Blondinen in Hollywoods Stummfilmära. Zu ihren zahllosen Fans zählte auch der italienische Diktator Benito Mussolini.

Das Filmdiven-Motiv wurde insbesondere in Illustrierten und Filmmagazinen genutzt, ließ die ohnehin kaum vorhandene Grenze zwischen redaktionellem und Anzeigenteil verschwimmen. Nurblond schien dadurch als Teil der fernen Welt der Stars, als Abglanz ihrer Aura. Doch auch redaktionelle Textanzeigen nutzen dieses Motiv zu Geschichten, die ebenso interessierten wie die meist kurzen Beiträge der Magazine. Ein Beispiel gefällig? Filmdiva erscheint am Set mit mattem, dunklem und farblosem Goldhaar. Allgemeine Erregung und Entsetzen. „Nur um die Lippen des Filmstars schwebt das bezaubernde Lächeln. ‚Nur immer mit der Ruhe, meine Herren! Nur keine Aufregung! Abwarten! Bei den Aufnahmen in 14 Tagen sehen wir uns wieder!‘ Und tatsächlich schimmert am ersten Aufnahmetag das Haar der Filmdiva wie gleißendes Gold. Erlöstes Aufatmen. Allgemeines Erstaunen und Bewunderung. Bis endlich die lächelnde Filmdiva des Rätsels Lösung verrät: Roberts Nurblond, das Spezial-Shampoo für Blondinen, […]“ (Panik im Tonfilmatelier, Neues Wiener Journal 1931, Nr. 13641 v. 12. November, 17).

Deutsche Blondinen in Hollywood

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Deutsche in Hollywood: Charlotte Susa und Camilla Horn (Die Bühne 1934, H. 380, 16 (l.); Illustrierter Beobachter 9, 1934, 372)

Doch die blonden Diven waren auch von dieser Welt. Hollywood war bekanntermaßen nicht nur eine Gründung vorrangig zugewanderter Unternehmer aus Mittel- und Osteuropa, sondern bediente sich auch der Schauspieler und Regisseure dieser vom Ersten Weltkrieg stark gebeutelten Länder. Deutsche Blondinen hatten zeitweilig Konjunktur im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der zeitlich klar befristeten Studioverträge. Sie schufen ein Band zur Heimat der Käufer von Nurblond, erschienen sie doch als eine von uns. Die heute kaum mehr bekannte Charlotte Susa (1898- 1976) reüssierte unter ihrem Geburtsnamen auf Opern-, Operetten- und Revuebühnen und begann 1926 ihre Filmkarriere. Als Femme fatale hatte sie Erfolg und erhielt 1932 einen Vertrag bei Metro-Goldwyn-Mayer – doch aus der internationalen Karriere wurde nichts, wenngleich sie noch in verschiedenen Ufa-Filmen zu sehen war. Camilla Horn (1903-1996) gelang bereits 1926 der Durchbruch als (dunkelblondes) Gretchen in Friedrich Wilhelm Murnaus (1888-1931) „Faust – eine deutsche Volkssage“. Anschließend erhielt sie einen Vertrag von United Artists, drehte in Hollywood einige Filme unter anderem mit Ernst Lubitsch (1892-1947) und Lewis Milestone (1895-1980), kehrte nach Deutschland zurück und wurde dort eine führende Ufa-Schauspielerin. Nurblond setzte verschiedene Fotos von ihr ein, nutzte ihre Prominenz auch für redaktionelle Werbung und scheinbare Einblicke in ihr Alltagsleben (Revue des Monats 6, 1931/32, Nr. 5, 108).

Projektionen des Nationalen