Mandelmilch – Anfänge eines „Megatrends“

„Die Mandelmilch ist altbekannt, sie fehlte früher bei keiner Tee- und Tanzgesellschaft unter den erfrischenden Getränken; jetzt trifft man sie da viel weniger“ (Über vegetabile Milch, Therapeutische Monatshefte 30, 1916, 65-68). Der seinerzeit führende Diätetiker Carl von Noorden (1858-1944) kannte Mandelmilch nicht nur aus der klinischen Praxis, sondern als bürgerliches Sommergetränk. Doch seine besten Zeiten schien sie hinter sich zu haben, hatten doch billigere Limonaden und Fruchtsäfte ihr schon vor dem Ersten Weltkrieg den Rang abgelaufen. Mandelmilch war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eben kein fertig käufliches, global vermarktetes und durch Kühlketten und aseptische Produktion „frisch“ und stets konsumierbar gehaltenes Getränk. Es musste häuslich zubereitet werden – und das war aufwändig: Man nahm dazu ein halbes Pfund süße Mandeln, kochte diese in einem Liter Wasser. Dann zog man den Mandeln die Haut ab, trocknete sie, verrieb sie in einer Handmühle. Dem bröseligen Gemenge fügte man etwas Bittermandel hinzu, verrührte es mit dem Rest des gekochten Wassers, ließ das Ganze zwei Stunden stehen. Danach wurde die Flüssigkeit durch ein Tuch geseiht und die fertige Mandelmilch in Eis gestellt. Das Getränk musste rasch, spätestens binnen 24 Stunden getrunken werden (M[aria] Lorenz, Zur Geschichte der Mandeln, Kochkunst und Tafelwesen 10, 1908, 157).

Mandelmilch als bürgerliches Sommergetränk im langen 19. Jahrhundert

Häusliche Mandelmilch war ein erfrischendes Getränk vor dem Aufkommen der Erfrischungsgetränke. Es war wohlschmeckend, nicht zu süß, zehrte von einer bis in die frühe Neuzeit zurückreichenden Tradition als Herrenspeise (Ein Hoffest aus der Roccocozeit, Echo der Gegenwart 1884, Nr. 94 v. 20. April, 1; Der Wiener Mundkoch […], Wien 1789, passim). Es konnte im späten 18. Jahrhundert auch bei Zuckerbäckern und Konditoren gekauft werden, neben „allerhand Zuckerwerk“ (Gülich und Bergische wochentliche Nachrichten 1780, Nr. 20 v. 16. Mai, 5). Feinkostläden offerierten sie ebenfalls. Aber, ach, Mandeln waren teuer, Handelsware aus fernen Ländern. Ihr Ursprung lag wohl im Nahen Osten, in der römischen Provinz Syria. Im Alten Testament wird sie häufig erwähnt. Von dort verbreitete sich das Rosengewächs zum einen östlich nach Persien bis hin nach China. Mandelbäume waren aber auch Nachzügler der späteren islamischen Expansion nach Nordafrika und Spanien. Auf der iberischen Halbinsel etablierten sich im späten Mittelalter Handelszentren. Die Gegend um Valencia stach hervor, später traten das sizilianische Messina und die französische Provence hinzu. All das betraf die süße Mandel, Grundstoff für Bäckerei, für Marzipan und auch Mandelmilch. Als Handelsware gleichfalls bedeutend war die Bittermandel. Deren Öl diente als Grundstoff für Schönheitsmittel, für Parfüm und Seife, wurde auch Arznei beigefügt. Übergehen wir die Krachmandel, ehedem ein wichtiger Bestandteil des Studentenfutters (E[rnst] Mayerhofer und C[lemens v.] Pirquet (Hg.), Lexikon der Ernährungskunde, T. 2, Wien 1926, 652-653).

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Der Hausball mit Mandelmilch – in ironischer Brechung (Fliegende Blätter 78, 1883, 70)

In den europäischen Zentren zumal West- und Mitteleuropas war Mandelmilch ein gesellschaftsfähiges Getränk. Es repräsentierte eine gewisse Kultiviertheit, eine gewisse Internationalität, eine gewisse Wohlbestalltheit. Und es schied treulich die Herren und die Damen. Häusliche Geselligkeit führte zusammen, die Getränke aber bildeten Ordnungslinien: „Für die Herren gab es Bier, doch in ziemlich beschränktem Maße, für die Damen Mandelmilch, da es nicht ‚fein‘ erschien, vor Herren Bier zu trinken“ (Haushalte in der Biedermeierzeit, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 15 v. 16. Januar, 19). Frisch zubereitete Mandelmilch war kühl und erfrischend, denn im Salon, beim Ball galt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie war zugleich aber Teil weiterer häuslich zubereiteter Mischgetränke, etwa der Orgeade, einem Mischgetränk aus abgekochter Gerste, Zucker und Mandelmilch.

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Standardrezept für Mandelmilch als Arznei – und Getränk (Johann Christian Reil, Ueber die Erkenntniss und Kur der Fieber, Bd. 1, Halle a.d.S. 1820, 674-675)

Mandelmilch hatte zugleich ein Renommee als diätetische Speise. Humoralpathologie und Erfahrungsmedizin hoben gesundheitliche Wirkungen der Mandeln ins allgemeine Bewusstsein. Bittermandeln galten als Mittel gegen die Tollwut, Mandelöl gab man Frauen im Kindbett zur Linderung der Schmerzen. Mit Zucker versetzt diente Mandelmilch Kindern als „heilsame Arzeney“ gegen Brustschmerzen, bekämpfte Brechreiz und wirkte abführend (Anton Bach, Abhandlung über den Nutzen der gebräuchlichsten Erdgewächse […], Breslau und Hirschberg 1789, 37). Mandelmilch half insbesondere schwächeren, konstitutionell gefährdeten Menschen: „Diejenige aber, die keine heftige Arbeit und Bewegung haben, die Zärtlichen und Stillsitzenden können kein schweres hitziges Bier im Sommer vertragen, sondern müssen Wasser mit Citronensäure, Molken, Mandelmilch, Limonade, Selzerwasser mit Moseler Wein und dergleichen trinken“ (Von den Wirkungen einer heissen und trockenen Luft und der davon abhangenden Gesundheit der Menschen, Münsterisches gemeinnütziges Wochenblatt 4, 1788, St. 33, 128-132, hier 131). Doch derartige Empfehlungen bröselten seit dem späten 18. Jahrhundert. Statt gekochtem Obst, Essiggetränken und Mandelmilch setzte man vermehrt auf kräftigende Speisen, etwa Fleischbrühe oder gequirlte Eier – sie alle Vorboten der durch Justus von Liebig verkörperten Hochschätzung des Eiweißes, auch des Fettes.

Mandeln gewannen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung, die Verbilligung des internationalen Handels war hierfür zentral. Im bürgerlichen Haushalt etablierten sie sich als schmackhaftes, ja edles Element der Weihnachtsbäckerei. Konditoren lieferten Mandelgebäck, offerierten Mandeltorten. Italienische und französische Backtraditionen wurden aufgegriffen, wenngleich die Mandelbäckerei vorwiegend unterhalb der Mainlinie und in Großstädten zu finden war. Mandelmilch wurde weiterhin häuslich zubereitet, doch in abnehmendem Maße. Das lag einerseits an Marktalternativen, insbesondere geschmacklich verbesserten, mit Kohlensäure versetzten Limonaden sowie dem wachsenden Angebot von Fruchtsirup und vollmundigen Fruchtsäften (die dann mit Wasser vermischt wurden).

Parallel zum Aufkommen moderner Restaurants mit ihren Lieferangeboten und auch dem intensiven Wettstreit der immer noch mächtigen, vielfach tonangebenden Adelshöfe, blieb Mandelmilch ein fester Bestandteil großer Feste, insbesondere repräsentativer Bälle. Dabei stand Mandelmilch dem Kaffee nicht nach, übertraf ihn teils – so etwa im republikanischen Paris, wo beim Hauptball 1888 den 4000 Tassen Kaffee 6300 Glas Mandelmilch gegenüberstanden (Friedrich Hermann, Ein Ball im Pariser Rathhaus, Bonner Tageblatt 1888, Nr. 52 v. 21. Februar, 2). In Berlin ward es seltener gereicht, doch beim Wiener Hofball war die schwachweiße Erfrischung gängig (Kulinarisches vom Hofball in Wien, Rosenheimer Anzeiger 1911, Nr. 18 v. 22. Januar, 5). Und vom bayerischen Hof hieß es nach der Jahrhundertwende: „Noch einmal treten sie mit den silbernen Servierbrettern, auf denen es in Gläsern und Schalen von allen Farben schimmert, an, und diesmal bringen sie mit Sorbet, Mandelmilch, Limonade, Gefrorenem, Tee, auch Bier und Kaffee. Noch ein Schlückchen, noch eine Verbeugung, ein Handkuß und der Hofball 1906 ist zu Ende, eine glänzende Erinnerung mehr“ (Alex Braun, Der Hofball 1906, Allgemeine Zeitung 1906, Nr. 18 v. 12. Januar, 5-6, hier 6).

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Mandelmilch als Bestandteil eines gehobenen Menüs (Münchner Neueste Nachrichten 1913, Nr. 560 v. 13. November, 12)

Die Enthäuslichung der Mandelmilch fand ihren Widerhall auch in Cafés und Restaurants, wo sie als Damengetränk galt. Das war gesellschaftliche Konvention, nicht aber umsatzsteigernd: „Die nicht ein einzig Schöpplein kaufen / Und sich mit Mandelmilch besaufen – Vertilge sie und ihren Samen! Erlös‘ uns von dem Übel! Amen.“ (G. Kernstock, Wie der Löwenwirt gebetet hat, Fliegende Blätter 139, 1913, 249). Bei den Bällen und im öffentlichen Leben mutierte Mandelmilch im späten 19. Jahrhundert immer stärker zu einem schwachen, einem weiblichen Getränk. Ein Getränk für Damen, Kinder und Vegetarier, nicht aber für schaffende Männer. Schachspieler sollten es während des Spieles, in ihrem erregten Zustand, nicht zu sich nehmen. Die Enthäuslichung der Mandelmilch ging im späten 19. Jahrhundert mit ihrer Exotisierung einher. Mandelmilch erschien zunehmend als Getränk und auch Speisenbestandteil ferner Länder, etwa am Hofe in Sansibar oder als Bestandteil der chinesischen Küche (Neue Westfälische Volks-Zeitung 1885, Nr. 242 v. 16. Oktober, 3; Chinesische Leibspeisen, Bonner Volkszeitung 1886, Nr. 138 v. 19. Mai, 3). Die imaginäre Schwäche der Mandelmilch spiegelte sich im kolonialen Umfeld, denn die erobernden Männer und Mächte standen für andere Nahrung, für Rindfleisch und Alkoholika. Doch zugleich blieb hatte Mandelmilch noch eine hohe Wertigkeit, denn sie war nicht billig, in höheren Kreisen üblich, den Festen zuordnet. In modernen Konsumgesellschaften bietet das Markpotenzial. Entsprechend diffundierte die Mandelmilch seit den 1890er Jahren in immer neue gewerblich hergestellte Konsumgüter.

Heinrich Lahmann oder Mandelmilch als Säuglingsnahrung

Das galt früh schon für den Mediziner Heinrich Lahmann (1860-1905), der aus einem großbürgerlichen Bremer Umfeld stammte (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 216-218). In Heidelberg promoviert, knüpfte er schon früh an die damalige, vornehmlich erfahrungsmedizinische Naturheilkunde an. Mit der Emphase des jungen Wissenden arbeitete er sich an Größen seiner Zeit ab, wollte Neues schaffen, die „Grundursache“ der Kranken und des allgemeinen Niedergangs erkunden (Antje Kracik, Die Kleidung als Gesundheitsschutz in Deutschland im späten 19. Jahrhundert, Med. Diss. Köln 2000).

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Fluchtort für ein zahlungskräftiges Publikum: Lahmanns Naturheilstätte in Weißer Hirsch, nördlich von Dresden (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2285, Beibl., 4)

1886 übernahm der Überflieger eine erste Naturheilanstalt in Chemnitz, schon zwei Jahre später eröffnete er zwischen Radebeul und Dresden aus der Konkursmasse eines 1867 gegründeten Bades ein neues Sanatorium (Martina Lienert, Zum 100. Todestag von Heinrich Lahmann, Ärzteblatt Sachen 2005, 379-382, hier 380). Es sollte zu einem der bekanntesten, gleichwohl nicht unumstrittenen Orte der Naturheilkunde werden. Lahmann war ein Vegetarier der zweiten Welle; und diese war naturwissenschaftlich ausgerichtet, wollte an die Stelle des Animalischen etwas Besseres setzen, weil nur dieses mit den Naturgesetzen in Einklang stand. Die erste Welle der Vegetarier um Eduard Baltzer (1814-1887) oder Theodor Hahn (1824-1883) zielte noch auf einen ethischen Vegetarismus: Der Kulturmensch sollte im Einklang mit seiner Umwelt und seinen Mitgeschöpfen leben, rohes und gewalttätiges Schlachten galt ihnen als Vertierung des Menschlichen. Für sie war Mandelmilch ein Kulturgetränk im vegetarischen Haushalt, alkoholfrei und pflanzlich, ein Labetrank (Vegetarianisches Kochbuch […], 10. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1891, 36).

Naturwissenschaftlich ausgebildete Alternative wie Julius Hensel (1833-1903) und dann vor allem Heinrich Lahmann teilten diese Einschätzung, doch sie wussten zugleich, dass Ethik und Moral zu schwache Motive waren, um die nur wenige tausend Getreue zählende Schar der Alternativen zu mehren. Lahmann war, wie die führenden Physiologen, ein Materialist: Der Mensch war mit der Natur in einem rein materiellen Stoffaustauch verbunden. Es ging ihm um dessen innere Harmonie, um die Zufuhr und Ordnung der richtigen Stoffe. Lahmann beurteilte die vielfältigen gewerblichen Veränderungen der Alltagskost als Gefahr, denn sie unterminierten die natürliche Harmonie insbesondere der Mineralstoffe, der „Nährsalze“. Er sah in der „Entsalzung“ der modernen Zivilisationskost eine wesentliche Ursache für die wachsende Zahl von „Zivilisationskrankheiten“, etwa der Korpulenz. In seinem 1891 erschienenen und rasch zum Bestseller avancierten Buch „Die diätetische Blutentmischung (Dysämie) als Grundursache allen Krankseins“ begründete er dies, schlug zugleich Rezepte gegen die Übel der modernen Welt vor. Von den vielfältigen Facetten der Lahmannschen Lehre sind hier nur zwei relevant: Auf der einen Seite propagierte er die Anreicherung der Alltagskost mit Nährsalzen. Das führte zu einem breiten und einträglichen Angebot von Nährsalzpräparaten und Kräftigungsmitteln, die unter seinem Namen werbeträchtig vermarktet wurden. Auf der anderen Seite betonte Lahmann, dass die dadurch mögliche Reparatur der bereits geschädigten Erwachsenden einher gehen müsse mit einer Stärkung der Kinder von Babybeinen an. Dies führte zu Dr. Lahmanns vegetabiler Milch, einer neuartigen pflanzlichen Säuglingsnahrung. Wie viele Ärzte zuvor, orientierte sich Lahmann an der stofflichen Zusammensetzung der Muttermilch. Auf Basis genauer Mineralstoffanalysen komponierte er eine Pflanzenmilch, „ein Gemisch von Nuss- und Mandeleiweiß, Mandelöl, gereinigtem Zuckersaft (nicht Zucker) und dem sogenannten Pflanzen-Nährsalz-Extrakt“ (Heinrich Lahmann, Die wichtigsten Kapitel der natürlichen (physikalisch-diätetischen) Heilweise, 4. Aufl., Stuttgart 1901, 156). Ziel war es, die vielfach tödlichen „Mehlschäden“ bei unsachgemäßer Anwendung von getreidehaltigen Kindermehlen auszuschließen, zugleich aber eine kalzium- und natriumreiche Ernährung sicherzustellen. Die vegetabile Milch war eine gleichsam aufgeschlossene Ergänzungskost, die mit Kuhmilch vermengt wurde, zugleich aber vom Säugling einfach resorbiert werden konnte. Fabriziert von der Kölner Schokoladenfabrik Hewel & Veithen wurde die zähe, pastöse und in Büchsen gefüllte Masse seit 1893 erfolgreich verkauft.

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Nuss-Mandelmilch als Substitut der Muttermilch (Der Bazar 50, 1904, 356)

Lahmanns vegetabile Milch war eine Lebenshilfe, sollte bei entwöhnten und künstlich ernährten Kindern, bei Stillproblemen, „Unlust zum Säugegeschäft“ und Widerwillen gegen die natürliche Ernährung eingesetzt werden (Heinrich Höck, Ueber die Anwendung von Dr. Lahmann’s „vegetabiler Milch“, Wiener Medizinische Wochenschrift 46, 1896, Sp. 436-437, 494-496, 539-542, hier 494). Mandel- und Nussmilch ermöglichten ein nähr- und mineralstoffreiches Komprimat: Es bestand aus 24% Fett, 7,5% Pflanzeneiweiß, knapp ein Prozent Kali, Kalk und Phosphorsäure. Aufgrund seines hohen Zuckeranteils von fast 42% wurde die vegetabile Milch gerne verzehrt, süßte sie doch auch die an sich dominante Kuhmilch. Im Gegensatz zu milchhaltigen Konkurrenzprodukten zerstörte die Produktion zudem nicht alle (damals noch nicht bekannten) Vitamine, konnte daher auch bei Avitaminosen eingesetzt werden, etwa der in den 1890er Jahren weit verbreiteten Möller-Barlowschen Krankheit (Mayerhofer und Pirquet (Hg.), 1926, 608)

Die Integration von Mandelmilch in Lahmanns vegetabile Milch war kein Geniestreich, sondern lag im Trend der Zeit. Die Säuglingsernährung war seit den 1860er Jahren ein wichtiges Pionierfeld einer wissensbasierten Nahrungsmittelproduktion, sah man in Keimfreiheit und einer an der Muttermilch orientierten Zusammensetzung doch wichtige Mittel gegen die damals teils bis zu 40%ige Kindersterblichkeit. Mandelmilch wurde geschwächten Wöchnerinnen zur Stärkung verabreicht (F[riedrich] A[ugust] von Ammon, Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege, Berlin 1892, 69). Es war gängiges Getränk der Krankenkost und milderte Fieber und Verdauungsprobleme, also die wichtigsten Todesursachen der Jüngsten. Süße Mandelmilch wurde von Kindern gerne getrunken. Anfang der 1890er Jahre war Mandelmilch immer noch Teil der ärztlichen Praxis. Sie wurde etwa bei Harnbeschwerden verordnet, ebenso bei Durchfall (500 beste Hausarzneimittel gegen alle Krankheiten der Menschen, 8. verb. u. verm. Aufl., Quedlinburg 1846, 47; Phil[ipp] Seifert, Handbuch der Arzneimittellehre, 2. umgearb. u. verm. Aufl. Greifswald 1856, 56; Josef Ruff, Illustrirtes Gesundheits-Lexicon, Straßburg 1882, 466). Als Arznei wurde Mandelmilch auch in Apotheken frisch zubereitet.

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Konsumgüter gegen den Niedergang: Fortifizierte Mineralstoffpräparate und die Nuss-Rohrzucker-Mandelmilch (Daheim Kalender 1907, Anzeiger, 65)

Der Erfolg der vegetabilen Milch bahnte auch anderen „Reformwaren“ Lahmanns den Weg in neuere, weit über die vegetarische Bewegung hinausreichende Bevölkerungsschichten. Neben die fortifizierten Nährsalzpräparate traten insbesondere die aus Baumwolle gewobene „Unterkleidung“ sowie später auch Schuhwaren. Auch frühe vegetarische Restaurants, pardon „Kurrestaurants“ (Wiesbadener General-Anzeiger 1910, Nr. 268 v. 17. November, 12), bereiteten Speisen „nach Dr. Lahmann“.

Die vegetabile Milch stützte die weitere Verwendung von Mandelmilch in der Säuglings- und Kinderernährung. Mandeln waren damals immer noch relativ teuer, doch grundsätzlich erschwinglich: Ein Pfund kostet in Karlsruhe 1904 85 Pfg., 1909 1,10-1,25 M (Karlsruher Tagblatt 1904, Nr. 351 v. 23. 12, 8252; ebd. 1909, Nr. 335 v. 3. Dezember, 10022). Gleichwohl begann schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Trend hin zu günstigeren Alternativen. Statt Mandeln nutzten insbesondere Ärzte Erdnuss- oder Haselnussmilch (Erdnußmilch anstatt Mandelmilch, Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 55, 1914, 901). Auch Konditoreien waren Teil dieses Trends zum Ersatz der Mandeln etwa durch Walnüsse oder Malakkanüsse. Auch die kurz vor dem Ersten Weltkrieg stark anwachsenden Sojabohnenimporte verringerten den Einsatz von Mandelmilch in der Säuglings- und Krankenernährung.

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Gescheiterte Nachahmung für den Massenmarkt: Hexamers Universal Nährgetränk (Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 270 v. 16. November, 9)

Lahmanns Mandelmilchprodukt fand Nachahmer. Das oben angezeigte „Universal Nährgetränk“ des in Bad Kreuznach ansässigen Ingenieurs Peter Hexamer stand für gleich zwei Entwicklungslinien: Zum einen wurde Mandelmilch Bestandteil allgemeiner vermarkteter Produkte, zum anderen wurde durchaus versucht, nicht nur klar segmentierte Kundenkreise anzusprechen, sondern auch Angebote für den Massenmarkt zu entwickeln. Doch auch im Kreise der Naturheilkunde wurde Lahmanns Idee fortgesponnen: Der im benachbarten Radebeul residierende Naturheilkundler Friedrich Eduard Bilz (1842-1922) offerierte seit Mitte des 1890er Jahre unter eigenem Namen Mandelmilch-Nährbisquits. Die Werbesprache klingt fast schon vertraut: „Diese, unter Verwendung der überaus kraft- und blutbildenden Mandelmilch aus den besten Rohmaterialien hergestellten Nährbisquits sind von feinstem Wohlgeschmack, leichtester Verdaulichkeit und höchstem Nährwert, dienen als ausgezeichnetes Thee- und Tafelgebäck und sind besonders Rekonvalescenten warm zu empfehlen“ (F[riedrich] E[duard] Bilz, Das neue Naturheilverfahren, 91. neu bearb. Aufl., Leipzig 1898, 105).

Markterweiterung: Mandeln als Grundstoff für neu beworbene Konsumgüter

Um die Bedeutung von Mandelmilch genauer zu fassen, gilt es aber nicht nur auf Endprodukte zu blicken. Größere Marktbedeutung gewann sie vielmehr als Zwischenprodukt anderer Konsumgüter. Schon zur Jahrhundertmitte fand sich Mandelmilch als diätetische Beimengung in Schokoladen etwa der Dresdener Firma Jordan & Timaeus (Leipziger Zeitung 1861, Nr. 206 v. 30. August, 4552; ebd. 1863, Nr. 136 v. 10. Juni, 2914). Referenzen finden sich auch abseits der Nahrungsmittel, etwa bei Heil- oder Putzmitteln. Liebes Malzextrakt-Lebertran wurde als „der Mandelmilch ähnlich“ beworben, ebenso „mandelmilchig weißer“ Bohnerwachs (Rhein- und Ruhrzeitung 1883, Nr. 76 v, 2. April, 4 (l.); Iserlohner Kreisanzeiger 1889, Nr., 87 v. 12. April, 4).

Weit wichtiger aber war das weite Feld der Schönheitspflege, der Kosmetika. Schon der Göttinger Hygieniker Eduard Reich (1836-1919) witzelte: Es „ist ein Jammer, wenn man die – nicht seltene – Beobachtung macht, dass auch die beste Mandelmilch der Dame, welche sie nutzt, nichts von der verlorenen Schönheit zurückbringen will!“ (Eduard Reich, Die Nahrungs- und Genussmittelkunde […], Bd. 2, Göttingen 1860, 75). Zur Zeit der Reichsgründung hatte die Bittermandel ihr jedoch den Rang abgelaufen. Milch wurde mit zerstoßenen Mandeln vermengt, der Brei dann auf die Haut aufgetragen. Obacht war geboten, denn diese Bittermandelmilch war blausäurehaltig. „Die im Handel als kosmetisches Mittel vorkommende Mandelmilch ist complicirter Art; auch giebt es käufliches Mandel-Cold-Cream, Mandelkugeln, Mandelseifen-Cream etc.“ (Hermann Klencke, Hauslexikon der Gesundheitslehre für Leib und Seele, T. 2, Leipzig 1872, 351). Auch in den folgenden Jahrzehnten erschien Mandelmilch als Garant eines rosigen Teints, war zudem bei Sonnenbrand hilfreich (Der Teint, Solinger Kreis-Intelligenzblatt 1885, Nr. 107 v. 5. September, 6). Mandelmilch-Seife war in Drogerien erhältlich (Westfälische Zeitung 1886, Nr. 208 v. 7. September, 6), allerdings meist vor Ort produziert, ohne Markenidentität.

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Schönheitspflege für selbstbewusste Damen (Berliner Morgenpost 1913, Nr. 300 v. 1. November, 7)

Das änderte sich erst um die Jahrhundertwende. Trendsetter für starke Markenprodukte war etwa die Kolberger Anstalt für Exterikultur, deren 1903 eingetragene Dachmarke Aok auch eine erfolgreiche Mandelkleie überwölbte. Der Apotheker Wilhelm Anhalt hatte entsprechende Kosmetika seit 1885 in Kolberg hergestellt – und etablierte sie dann dank ansprechender Werbung reichsweit. Mandelkleie war typisch für die Nutzung von Reststoffen, handelte es sich doch um ein Überbleibsel der Mandelölproduktion. Anfangs nutzte man diese als Bestandteil von Bade- und Waschmitteln, doch die auf die Haut aufgetragene Mandelmasse machte diese zart und weich, pflegte insbesondere spröde Stellen. Mandelmilch fand während des Kaiserreichs vielfältige kosmetische Anwendung, sowohl häuslich als auch in den frühen Schönheitssalons. Seifen sowie Kombinationen von Honig und Mandelmilch. Letztere wurde auch zu Hautcreme weiterverarbeitet, wobei Pariser Anbieter eine führende Marktstellung einnahmen (Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 176 v. 5. April, 9).

Wichtiger wohl war der Einsatz der Mandelmilch als Emulsion in der Margarineproduktion. Die Kunstbutter wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert noch vorrangig aus Rindertalg resp. animalischem Oleomargarin hergestellt. Aus Kostengründen wurde ihr jedoch möglichst viel Pflanzenfett zugemengt. Vor der Fetthärtung war dies ein schwieriges Unterfangen, da der Schmelzpunkt der Pflanzenfette teils niedrig lag, so dass die Fertigware im Sommer häufig schmolz. Um dies in Grenzen zu halten, nutzte man verschiedene Emulsionsmittel. Allgemein gebräuchlich war Milch, die seit 1897 angebotene Vitello entstand dagegen mittels Eidotter und pasteurisierter Sahne (Johannes Frentzel, Ernährung und Volksnahrungsmittel, Leipzig 1900, 95). Bessere Emulsionen ermöglichten höhere Pflanzenfettanteile und damit billigere Margarine.

Ein wichtiger Durchbruch gelang 1898 dem schon als Erfinder des Eichelkakaos bekannten Berliner Chemiker Hugo Michaelis (1852-1933). Sein 1898 gewährtes Patent für den „Ersatz der bei der Kunstbutter- (Margarine-)Fabrikation benutzten Milch durch eine Lösung von Emulsin bzw. durch die das Emulsin enthaltende Mandelmilch“ (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 149 v. 27. Juni, 7; ebd., Nr. 252 v. 24. Oktober, 10) sollte die Produktionskosten um 10 % reduzieren (Margarine ohne jede thierische Milch, Vorwärts 1898, Nr. 279 v. 29. November, 2), zudem die Infektionsgefahr durch Rindertuberkulose praktisch ausschalten. Michaelis nutzte dabei die Erkenntnis der Nahrungsmittelchemiker, die Mandelmilch als Verfälschungsmittel für Milch ansahen, da sie die Milch „rahmartig“ machte (Joseph Weil und Robert Gnehm, Handbuch der Hygiene, Karlsbad 1878, 90). Auch schlechter Butter wurde Mandelmilch zugegeben, um ihren Geschmack zu heben (Gabriel Belleville, Die Milch und deren Verwerthung, Wien 1879, 162).

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Mandelmilch als Werbeträger für die neuartige milchfreie Sana (Dresdner Nachrichten 1900, Nr. 90 v. 2. April, 6)

Die holländische Firma van der Bergh kaufte das Patent und produzierte ab 1899 die neuartige „milchfreie“ und „mit feinster, süßer Mandelmilch“ hergestellte Margarine Sana. Zuerst als Krankenkost präsentiert, etablierte sie sich rasch auch im Massenmarkt (Ein Gang durch die Ausstellung für Krankenpflege in Berlin. II, Neue Westfälische Volks-Zeitung 1899, Nr. 132 v. 7. Juni, 5). Obwohl das neue Verfahren die hygienischen Probleme mit Tuberkelbazillen nur abschwächte, waren der niedrigere Preis und die längere Haltbarkeit wichtige Kaufargumente (Fortschritte der Medizin 18, 1900, 676; Carl Wegele, Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke, Jena 1900, 26).

Die durch van der Bergh kontrollierte Sana-Gesellschaft nutzte in den Folgejahren die Mandelmilch als einen zentralen Werbeträger. Sie verkörperte Wertigkeit bei einem – im Vergleich zur Butter – Billigprodukt. Die Firma sicherte sich einen Kranz einschlägiger Warenzeichen: Mandelkrone, Mandelstern, Mandelstolz und Mandelblume ragten dabei hervor (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 138 v. 15. Juni, 20: ebd. 1912, Nr. 87 v. 10. April, 1; ebd., Nr. 101 v. 26. April, 27; ebd. 1921, Nr. 136 v. 14. Juni, 22). Ökonomisch wichtiger war jedoch die ab 1906 vermarkte Mandel-Pflanzenmargarine Sanella (Ebd. 1906, Nr. 114 v. 15. Mai, 16; ebd., Nr. 266 v. 9. November, 10).

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Verpflanzlichung der Margarine: Sanella als Pionierprodukt (Vegetarische Warte 41, 1908, Anzeigenanhang, s.p. (l.); Die Presse 1910, Nr. 51 v. 2. März, 4)

Aufgrund der nun eingesetzten Fetthärtung konnte auf tierische Fette verzichtet werden. Vorrangig aus Palmöl hergestellt, behielt die Sana GmbH den Mandelmilchzusatz jedoch bei, bewarb diesen offensiv. Parallel begann die Sana-Gesellschaft Nischenmarken mit Mandelmilch anzubieten, so etwa seit 1907 die breit beworbene koschere Pflanzenmargarine Tomor.

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Marktsegmentierung: Mandelmilchmargarine Tomor für die koschere Küche (Frankfurter Israelitisches Familienblatt 6, 1908, H. 28, 8)

Nischenwaren: Mandelmilch als Reformware für Jung und Alt

Während die Mandelmilch als Zwischenprodukt vor dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung gewann und damit ihre schwindende Stellung als erfrischendes Getränk mehr als substituieren konnte, erfolgte parallel die Etablierung der Mandelmilch als Nischenprodukt der Ernährungsreform, der Vegetarier. Für unser heutiges Verständnis von Mandelmilch als Milchersatz ist dies sehr wichtig. Denn es gilt ja nachvollziehbar zu machen, wie aus der Mandelmilch mit ihrer vieltausendjährigen Geschichte ein Ersatzmittel wurde.

Anders als heutzutage, wo Milchersatzprodukte auf eine allgemeine Reduktion des Milchkonsums und damit der Milchviehwirtschaft zielen, konnte davon im Kaiserreich nicht die Rede sein. Valide Daten fehlen, doch kann man in Preußen von ca. 133 Liter pro Kopf ausgehen (häufiger Speise als Getränk). 1900/02 lag dieser Wert in Groß- und Mittelstädten bei ca. 109 Liter (vor allem Frischmilch), sank bis 1913 aufgrund von Preissteigerungen auf ca. 103 Liter (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 32). Milch galt zwar als hygienisch heikles Produkt, war nicht selten verfälscht, doch ein hoher Milchkonsum galt öffentlich als Ausdruck einer kräftigen, gesunden und modernen Ernährungsweise (E. Melanie Dupuis, Nature’s Perfect Food. How Milk Became America’s Drink, New York und London 2002).

Im vegetarischen Umfeld war dies deutlich anders. Dort galt es Milch zu meiden und sie zu ersetzen. Die Getränkefrage war innerhalb der Bewegung stets umstritten, zumal sie großenteils auch Alkoholika abschwor, dem Kaffee-, Kakao- und Teekonsum kritisch gegenüberstand. Bei Nüssen und Mandeln war dies anders: „Die Mandel wird hochgeschätzt für Küchenzwecke, da sie zur Herstellung verschiedener außerordentlich einladender feiner Speisen benutzt wird. Der hohe Preis verhindert ihre allgemein ausgedehnte Verwendung“ (George E. Cornforth, Nüsse, Vegetarische Warte 47, 1914, 53-54, 63-64, 80-82, hier 63).

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Frugola-Angebotspalette – inklusive Mandelmilch (Vegetarische Warte 46, 1913, Anzeigenanhang, s.p.)

Mandelmilch war ein gängiger Reformartikel, auch wenn die Konservierung vielfach unklar war. Die Angebotspalette der 1901 in Hannover gegründeten Natura-Werke lässt jedoch erahnen, dass es sich um Mandelpasten handelte, die dann mit kaltem Wasser, eventuell Süße und Gewürzen verzehrsfähig gemacht wurden. Wichtig ist, sich durch die Rhetorik der Alternativbewegung nicht irreführen zu lassen. Die recht überschaubare Gruppe von ca. 30 mittelständischen Anbietern präsentierte ihre Naturwaren in gut verpackter Form, haltbar und gewerblich verarbeitet. Die Alternativbewegung war stets Vorreiter für den Massenmarkt, ein Durchlauferhitzer für erhöhte Wertschöpfung (Spiekermann, 2018, 225-233). Konzentrate spielten dabei eine wichtige Rolle. Es überrascht daher nicht, dass auch Mandelmilch spätestens seit 1907 in Pastillenform angeboten wurde.

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Ausweitung der Konsumsphäre: Mandelmilchtabletten als Getränkegrundstoff (Vegetarische Warte 46, 1913, s.p.)

Die „konzentrierte“ Mandelmilch entsprang der Praxis des Apothekers Andreae, die Auskopplung des Geschäftes erfolgte unter Namen wir „Mandelwasser-Fabrik“ oder „Mandelmasse-Fabrik“. Die Pastillen bestanden zu zwei Dritteln aus feingeriebenen Mandel, zu einem Drittel aus Zucker (Vierteljahresschrift für praktische Pharmazie 4, 1907, 220). Sie mussten in Wasser aufgelöst werden. Anfangs hoffte der Anbieter, im Massenmarkt reüssieren zu können. Die Werbung klang ähnlich wie die für das Anregungsmittel Kola-Dallmann: Es ist gelungen, „konzentrierte Mandelmilch in Pastillenform herzustellen. […] Zur bevorstehenden Manöverzeit ebenso für Touristen dürften diese Pastillen eine höchst willkommene Neuerung sein; dieselben sind in allen Apotheken und besseren Handlungen zu haben“ (Münchner Neueste Nachrichten 1907, Nr. 379 v. 14. August, General-Anzeiger, 1). Der Erfolg war begrenzt, doch die Firma lieferte ihre Produkte über viele Jahre. Andreae entwickelte zudem neue Varianten, etwa Mandelmilchpastillen mit Pfefferminz oder mit Kakao. Unter der Schutzmarke Früchtetragender Engel entwickelte er weitere Convenienceprodukte, etwa Minzenmarzipan (Münchner Neueste Nachrichten 1908, Nr. 254 v. 13. Dezember, 3).

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Mandelmilch als Liebesgabe (Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 545 v. 14. Oktober, 8)

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren Andreaes Mandelpastillen eine der zahllosen Liebesgaben, die die ausgerückten Soldaten zugesandt bekamen, um die Versorgungsprobleme an der Front zu mildern, um den Kontakt mit den Lieben aufrecht zu erhalten. Selbst das Warenhaus Hermann Tietz, Münchens größte Verkaufsstätte, verkaufte nun die Mandelmilchpastillen (Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 395 v. 20. November, 7). Diese Sonderkonjunktur währte bis zum Frühling 1915 (Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 211 v. 26. April, 4). Fast schien es, als müsse man die Vorstellung der schwachen, weiblich konnotierten Mandelmilch korrigieren. Der Publizist Maximilian Harden (1861-1927) hatte diese in nationalistischer Emphase bei Kriegsbeginn nochmals unterstrichen: „Krieg ist nicht Mädchenschulspiel, von dem Jüngferlein zu Mandelmilch und Schlagsahne eilt […]“ (Friedrich Thimme, Maximilian Harden am Pranger, Berlin 1919, 11).

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Mandelmilch als Milchersatzmittel während des Ersten Weltkrieges (Münchener Neueste Nachrichten 1915, Nr. 590 v. 18. November, 5)

Apotheker Andreae Angebote verkörpern jedoch eher die Versorgungsnot an den Fronten und seine großen Bestände als eine männliche Aufladung der Mandelmilch als Kriegerkost. Sie standen zugleich für das rasche Scheitern des Milchersatzes Mandelmilch im Ersten Weltkrieg. Im November 1915 wurde in München nämlich – wie auch im ganzen Deutschen Reich – die Milch- und Sahneabgabe in den Cafés und Gaststätten untersagt. Viele Stammgäste reagierten empört, traten in den Konsumentenstreik (Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 584 v. 15. November, 3). Doch die Wirte reagierten. In München versuchten sie ihre Gäste mittels Mandelmilch zurückzugewinnen. Lieferant war niemand anderes als Apotheker Andreae. Der wachsende Zuspruch gab den Wirten anfangs recht. Doch nachhaltig war dies nicht: Die „von den Cafétiers als Notbehelf verwendete Mandelmilch eignet sich nach unseren Erkundigungen wohl einigermaßen für Kakao und Schokolade, beim Kaffee dagegen will sich das Publikum nicht an die Verwendung von Mandelmilch gewöhnen; diese beeinträchtigt zwar den Kaffeegeschmack nicht, aber es fehlt der ausgesprochene Milchgeschmack.“ (Zum Milchabgabeverbot in den Kaffeehäusern, Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 587 v. 17. November 3).

Zwischen Ernährungsreform und schwindender häuslicher Verwendung

Ab 1920 normalisierte sich die Versorgungslage langsam, auch die Lebensreformwirtschaft nahm die Produktion von Mandelmilch wieder auf. Das galt etwa für die Nuxo-Werke, die Mandelmus bzw. Mandel-Emulsion anboten, die dann mit Wasser verrührt und mit Honig oder Zucker gesüßt wurde. Neben das erfrischende Getränk traten neue Anwendungen: „Noch schöner wird das Getränk, wenn man heißen Apfelschalentee (aus frischen oder getrockneten Apfelschalen gekocht, die man mit kaltem Wasser aufsetzt) nimmt. Dann ist es geradezu eine Delikatesse. Aber wir lieben diese Milch auch an grünem frischen Salat, besonders Rapunzechen, Schnitt- und Pflücksalat, sowie Kopf- und römischem Salat“ (Helene Volchert-Lietz, Vegetabile Milch, Vegetarische Warte 54, 1921, 102). Offensiv wurde zudem der Zusatz von Mandelmilch zu Getreidebreien propagiert.

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Mehr als ein Milchersatz: Nuxo-Mandelmilch aus Mandelemulsion (Vegetarische Warte 62, 1929, 47)

Die Nuxo-Werke Rothfritz & Co. waren seit 1902 aktiv (Biologisch-Medizinisches Taschenjahrbuch 9, 1944, 39), die Dachmarke Nuxo seit 1907 warenrechtlich geschützt. In Konkurrenz und Seit an Seit mit der adventistischen, von John Harvey Kellogg geförderten DE-VAU-GE stellten sie vorrangig Nusspräparate her. Sie wurden ergänzt durch verschiedene vegetarische Kraftnahrungen, etwa Protose oder Brotose. Nuxo-Nussfleisch – ein virtueller Fleischersatz – oder Nussmus wurden als „vollwertig, leicht verdaulich, wollschmeckend“ beworben, mit dem Versprechen von „Muskelkraft und Formenschönheit“ (Vegetarische Warte 47, 1914, 77). Mandelmilch passte in dieses Nischenangebot.

Sie wurde in den 1920er Jahren weiterhin als Krankengetränk empfohlen, ebenso als Säuglings- und Kindernahrung (Tagung für naturgemäße Kinderpflege in Berlin 1924, Nr. 299 v. 1. November, 39-40, hier 40). Auch als Schonkost für „alte Leute“ wurde sie empfohlen (Rohkost, Münchner Neueste Nachrichten 1927, Nr. 226 v. 21. August, 22). Häuslich hergestellte Mandelmilch galt als Bestandteil eines modernen Rohkosttages (Hedwig Staiger-Lohß, „Iß roh, dann wirst du froh!“, Das Buch für Alle 59, 1927, 648). Obwohl Mandeln und Nüsse von der nun zunehmend ernährungsrelevanten Vitaminlehre profitierten, litt ihre Verwendung doch unter dem Verdikt des Fettreichtums – trotz ihres günstigen Nährstoffprofils (Willy Weitzel, Die Bedeutung der Nüsse und Mandeln für die menschliche Ernährung, Die Volksernährung 1, 1925/26, 139-140, hier 139).

Mandelmilch war dennoch ein allseits bekanntes erfrischendes Getränk, das sich auch als „zweckmäßige Diätspeise“ (Mayerhofer und Pirquet (Hg.), 1926, 653) behauptete. Entsprechend findet sich Mandelmilch noch in wichtigen Kochbüchern der Zwischenkriegszeit (Ida Schulze, Das neue Kochbuch für die deutsche Küche, 11. erw. Aufl., Bielefeld und Leipzig s.a. [1940], 334). Doch ihre Alltagspräsenz schwand, andere Marktangebote traten an ihre Stelle.

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Häusliche Geselligkeit mit Mandelmilch, Fruchtlimonade und Gebäck (Vobachs Frauenzeitung 39, 1936, H. 32, 2)

Nutraceuticals: Neuentdeckung des Massenmarktes auf physiologischer Grundlage

Mandelmilch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch Reformhäuser vertrieben, in der Diätkost mutierte sie zur Marginalie. Kurze Moden, etwa die Anfang der 1950er Jahre beträchtliche Hochschätzung der Waerland-Kost, änderten daran nichts. Diese huldigte dem „Meisterkoch Natur“ (Arne Waerland, die 7 Pfeiler der Gesundheit, Mannheim 1953, 8), setzte auf eine laktovegetabilische Roh- und Vollwertkost, insbesondere auf den Getreidebrei Kruska. In den wichtigsten Standardkochbüchern der Nachkriegszeit – Dr. Oetkers Schulkochbuch und das DDR-Pendant „Wir kochen gut“ – findet sich kein Verweis auf Mandelmilch. Auch das Standardwerk der Vollwert-Ernährung empfahl zwar Mandeln, erwähnte die Mandelmilch aber nicht (Karl von Koerber, Thomas Männle und Claus Leitzmann, Vollwert-Ernährung, 9. überarb. Aufl., Heidelberg 1994, 155).

Die bedingte Wiederentdeckung der Mandelmilch erfolgte durch die kalifornischen Mandelproduzenten. Spanische Franziskaner brachten Mitte des 18. Jahrhunderts Mandelbäume in ihre damaligen Missions- und Kolonisationsgebiete. Die klimatischen Bedingungen waren dort ideal, später auch die Vermarktungsbedingungen. Im Jahre 2000 stammten 80% des weltweit gehandelten Mandeln aus Kalifornien (Donald E. Pszczola, Health and Functionality in a Nutshell, Food Technology 54, 2000, Nr. 2, 54-59, hier 54-55). Die Anbieter finanzierten damals zahlreiche Studien über die gesundheitlichen Wirkungen der Inhaltsstoffe von Mandeln – damals schienen Functional Foods und Nutraceuticals ein zukunftsträchtiger Megatrend zu sein. Mandeln konnten demnach Übergewicht eindämmen, unterstützten das kardiovaskuläre System, konnten Darmkrebs vermindern. Auch über positive Wirkungen auf die „Zivilisationskrankheiten“ Diabetes und Alzheimer wurde viel geschrieben, die Förderung der körperlichen Physis beschworen. Immer wieder erwähnte man das günstige Fettprofil (ungesättigte Fettsäuren) der Mandeln, ihren recht hohen Anteil fettlöslicher Vitamine, das Fehlen von Cholesterin und Laktose. Almond Breeze wurde seit den späten 1990er Jahren zu einem ersten global vermarkteten Markenartikel: „Aseptisch verpackt in 32-Unzen-Getränkekartons ist es bis zu einem Jahr haltbar. Das Produkt hat einen milden Geschmack und eignet sich für die Verwendung in Kaffee oder Müsli sowie in Backrezepturen, Desserts oder Soßen“ (Pszczola, 2000, 55; eigene Übersetzung).

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Mandelmilch im Supermarktregel 2019 (Wikipedia)

Die Folgen dieser Marketinganstrengungen sehen wir heute in unseren Supermarktregalen. Sie wurden flankiert von zahllosen Studien, die stets den Fokus auf einzelne Inhaltsstoffe der Mandelmilch richteten, die Ernährung, gar das Essen aber kaum behandelten (Linda Milo Ohr, The (Heart) Beat Goes On, Food Technology 60, 2006, Nr. 6, 87-88, 91-92, 95, hier 91-92; Dies., Health Nuts, Food Technology 60, 2006, Nr. 12, 81-82, 84, hier 81). Mandelmilch wird bis heute als Stoffträger beworben, ist es doch „reich“ an Vitamin E & Omega-3-Fettsäuren, gewinnt sie angesichts wachsender Raten von Laktoseintoleranz und Hypercholesterinämie an gesundheitlicher Bedeutung. Es gilt schließlich Märkte vorrangig in Asien zu erobern, deren Ernährungskulturen nicht auf Milch gründen. Auch in warmen Entwicklungsländern soll sie, wie auch andere Milchersatzprodukte, eine gesunde Alternative zur unzureichenden Milchversorgung bieten. Verweise auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz runden die Angebote ab.

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Die bessere Welt jetzt: Werbung für Milchersatzprodukte (Schrot & Korn 2023, Nr. 1, 20)

Wie bei vielen Functional Food, oder vielen „alternativen” Produkten, bestimmen logarithmische Kurven die Markterwartungen. Doch wie üblich, bröckeln diese rasch, zerbrachen an der Realität. 2019 prognostizierte eine Marktanalyse den globalen Mandelmilchmarkt im Jahre 2025 auf 13,3 Mrd. $. Eine Anfang 2021 vorgelegte Studie reduzierte diese Summe bereits auf 12,1 Mrd. $ bis 2025. Auch diese ist nicht mehr realistisch.

Mag sein, dass ich mich irre: Doch in den Anpreisungen und den Erwartungen des Neuen, des Kommenden, höre ich stetig das Gedröhne der Frühgeschichte der Mandelmilch, ihrer rasch gebrochenen ersten Hochzeit um 1900. Mehr Realismus stände allen Akteuren gut zu Gesicht.

Uwe Spiekermann, 25. März 2023

Ein Gedanke zu „Mandelmilch – Anfänge eines „Megatrends“

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