Joints im kaiserlichen Berlin? Ja, die gab es – vorausgesetzt, man denkt dabei an cannabishaltige Zigaretten. Nein, die gab es nicht – denn diese Zigaretten dienten nicht dem Vergessen und der Entspannung, sondern einem medizinischen Zweck: Cannabishaltige Zigaretten waren wichtiger Teil einer breiten Palette von Heilmitteln gegen Asthma, gegen Bronchialkatarrhe, gegen Atemnot. Asthmazigaretten dieser Art konnte man während des gesamten Kaiserreiches in Berlin und andernorts kaufen. Cannabis war damals ein gängiger Inhalts- und Wirkstoff, auch wenn dessen Bedeutung in einem Markt ohne Verbot bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges gering war und abgenommen hatte. Asthmazigaretten wurden anfangs von ausländischen Anbietern verkauft, vorwiegend Franzosen, teils auch Holländern. Doch parallel zum Aufstieg der heimischen Pharmaindustrie drangen auch deutsche Anbieter in die Marktnische. Das zeigte sich vor allem an der kurzen, von 1901 bis 1914/16 währenden Geschichte der Berliner Bronchiol GmbH. Es handelte sich um eine kleine Gruppe jüdischer Geschäftsleute, die Ideen eines kränkelnden Zahnarztes, des Hauptes der amerikanischen Kolonie in Berlin aufgriffen, um dessen „Gesundheitszigaretten“ in Berlin, im Deutschen Reich und auch im Ausland anzubieten. Die Bronchiol GmbH wird im Mittelpunkt dieses kleinen Ausfluges stehen. Doch um deren Geschichte verstehen und einordnen zu können, müssen wir mehr über ihre Vorgeschichte wissen.
Indischer Hanf gegen Asthma: Die Etablierung der Asthmazigaretten
Asthma ist eine chronische Entzündung der Atemwege, die zu steten Hustenattacken und Atemnot führt. Im 19. Jahrhundert war es eine weit verbreitete Alltagskrankheit, die in ihrer chronischen Form nicht wirklich kuriert, einzig gelindert werden konnte (W[ilhelm] Brügelmann, Ueber Asthma, sein Wesen und seine Behandlung, 3. verm. Aufl., Wiesbaden 1895). Kräutertherapien milderten die Symptome, seit dem späten 18. Jahrhundert wurden dazu vornehmlich Bilsenkraut, Tollkirsche (Belladonna) und Stechapfel (Stramonium) genutzt. Man trocknete diese Naturprodukte, zerbröselte sie, zerkleinerte sie zu Pulvern. Um die Lunge krampflösend zu erreichen, wurden sie einerseits geraucht, zuerst als Pfeife, dann in Zigarren, seit den 1850er Jahren auch in Zigaretten (Mark Jackson, „Divine Stramonium“: The Rise and Fall of Smoking for Asthma, Medical History 54, 2010, 171-194; Cecile Raynal, De la fumée contre l’asthme, histoire d’un paradoxe pharmaceutique, Revue d’histoire de la pharmacie 94, 2007, Nr. 353, 7-24). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden zudem erste Inhalationsapparate. Die Heilmittel wurden entzündet, der Patient atmete den Dampf teils direkt, teils mittels eines Tubus oder eines Schlauches ein. Rauchen und Inhalieren halfen bei akuten Asthmaanfällen, linderten Schmerzen, konnten aber die Ursachen der chronischen Entzündung nicht beseitigen. Das war ein Steilpass für Erfindergeist, für neue Marktangebote, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um 1900 gab es für die Bekämpfung von Asthma daher eine kaum überschaubare Zahl innerlich und äußerlich anwendbarer Mittel: Tees, Essenzen und Tinkturen wurden angeboten, Asthmapapiere, -pappen, -kerzen, -pulver, -kräuter, zudem zahlreiche Asthmazigaretten (Otto von Lengerken, Handbuch neuerer Arzneimittel, Frankfurt a.M. 1907, 148-149): „Die Auswahl ist groß – der Erfolg gering“ (Jaroslaw Hrach, Das Bronchialasthma und die pneumatische Kammer, Wiener Medizinische Wochenschrift 55, 1905, Sp. 2025-2028, hier Sp. 2026). Die Ärzteschaft schien therapeutisch „wehrlos“ (Paul v. Terray, Ueber Asthma bronchiale und dessen Behandlung mit Atropin, Medizinische Klinik 5, 1909, 79-83, hier 79).

Heimapparaturen für den Selbstbetrieb (Berliner Tageblatt 1910, Nr. 501 v. 3. Oktober, 7)
Im langen 19. Jahrhundert hatten sich jedoch nicht nur die Darbietungsformen der Heilmittel geändert. Auch neue Wirkstoffe wurden eingesetzt, darunter der Mitte des 19. Jahrhunderts erst in Großbritannien, dann in Frankreich, schließlich auch im deutschsprachigen Raum bekannte und medizinisch eingesetzte indische Hanf. Anders als der einheimische Hanf, Cannabis Sativa, der seit dem Mittelalter in der Volksmedizin zur Beruhigung und gegen Entzündungen eingesetzt wurde, war Cannabis Indica von Beginn mit Rausch und der Exotik des Orients verbunden. Mediziner und Pharmazeuten untersuchten und erprobten das neue Kraut, setzten es therapeutisch ein, verdichteten es zu neuen, allerdings nicht sonderlich erfolgreichen Pharmazeutika.
Die Asthmatherapie war anfangs eine Ausnahme, denn sie wurde stark geprägt von einem weltweit präsenten Unternehmen, der Pariser Pharmafirma Grimault & Co. Ihr Geschäftserfolg basierte auf der Erschließung globaler, meist kolonialer naturaler Ressourcen für die aufstrebende pharmazeutische Industrie. Deren Stärke war es, die belebte und unbelebte Materie auf Stoffe zurückzuführen, auf Wirkstoffe, die mehr oder weniger kausale Effekte hervorrufen konnten. Grimault bot jedenfalls seit den 1850er Jahren eine rasch wachsende Palette ummantelter Wirkstoffe an, vorrangig Stärkungsmittel aus Pflanzenextrakten, wie etwa Matico oder Guarana. Als Sirup oder in Pillenform wurden sie international vermarktet, dienten als Allzweckmittel gegen eine Vielzahl von Alltagskrankheiten (American Medical Times NS 2, 1861, Nr. 26, 4; Allgemeine Illustrirte Zeitung 1, 1865, 112, 136; Über Land und Meer 23, 1869/70, 383). Obwohl die Besitzer seit den frühen 1870er Jahren mehrfach wechselten, stand der Name weltweit für „französische Specialitäten“, durchaus mundende Hilfsmittel gegen die Fährnisse des bürgerlichen Alltags. Spätestens seit 1862 bot Grimault auch „Indische Cigaretten“ aus Cannabis Indica an (Die Anwendung des Matico, hg. v. Grimault und Comp., Paris s.a. [1862], 35). Sie sollten zum bekanntesten Produkt des Unternehmens werden. Anfangs im Heimatmarkt und dann in Österreich als „Hachisch-Cigaretten“ [sic!] (Der Militärarzt 1, 1867, Sp. 327) beworben, setzten sie sich unter dem neutraleren Begriff „Indische Cigaretten“ auch in Übersee fest: Bereits 1867 waren sie in Australien und im frankophonen New Orleans erhältlich, ab 1868 in Indien, spätestens 1869 finden sich Anzeigen in Kanada, dann auch in Großbritannien. Seit 1871, just nach dem verlorenen Krieg, eroberte Grimault rasch die Marktführerschaft im neu gegründeten Deutschen Reich. Die cannabishaltigen Asthma-Zigaretten wurden bis Mitte der 1880er in deutschen Tageszeitungen breit beworben, dann auch wieder zwischen 1895 und 1906. Verfügbar waren die in schicken gelben Papierovalen angebotenen Glimmstängel bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges (C[arl] Bachem, Deutsche Ersatzpräparate für pharmaceutische Spezialitäten des feindlichen Auslandes, Bonn 1916, 11), doch auch wieder danach. Sie konnten in Apotheken direkt, ohne Rezept, gekauft werden.

Marktführer im Nischenmarkt: Grimaults „Indische Cigaretten“ (Kölnische Zeitung 1871, Nr. 359 v. 28. Dezember, 4 (l.); ebd. 1876, Nr. 31 v. 31. Januar, 4)
Grimault etablierte cannabishaltige Asthmazigaretten im Alltag der Mittel- und Oberschicht. Andere, frühere Angebote gab es, doch es handelte sich um Apothekerware, angefertigt für eine begrenzte lokale Nachfrage, meist auf Rezept eines Arztes. Der Hohenmölsener Apotheker Carl Stutzbach (1789-1871) hatte zwar schon in den frühen 1850er Jahren „Deutsches Hanfkraut“ zum Rauchen angefertigt (Georg Martius, Pharmakologisch-medicinische Studien über den Hanf, Leipzig 1856, 39, 58-63), doch dies schuf keinen neuen Markt. Stutzbach und auch die später führende Darmstädter Firma E. Merck blieben Spezialanbieter für Cannabispräparate, die Apotheker dann zu Hanföl (für Einreibungen), Opodelbok (gegen Rheuma) und Hanfchloroform (zum Inhalieren gegen Asthma) und auch für Asthmazigaretten weiterverarbeiteten und verabreichten.

Während lokale Apotheker nach grundsätzlich bekannten Rezepten arbeiteten, zeigten sich am Beispiel von Grimault & Co. typische Probleme eines breit angebotenen Geheimmittels. Die Pariser Firma bewarb zwar offensiv den Cannabis-Gehalt der Zigaretten, doch die genaue Zusammensetzung des Krautes war unklar. Die zunehmend üblichere pharmazeutisch-chemische Kontrolle nährte Zweifel, ob die Zigaretten tatsächlich indischen Hanf enthielten (Indische Cigaretten, Dinglers Polytechnisches Journal 236, 1880, 349). Ergänzende Untersuchungen konnten zwar geringe Mengen nachweisen, doch der Hauptwirkstoff war Belladonna, waren also fein zerstoßene Tollkirschenblätter (Hermann Hager, Handbuch der pharmaceutischen Praxis, Ergänzungsbd., Berlin 1884, 191). Die Werbung war demnach irreführend, „eine Täuschung und Uebervortheilung des Publikums“ (Karlsruher Tagblatt 1885, Nr. 117 v. 30. April, 1891). Öffentliche Warnungen folgten, denn Gesundheitsschäden konnten aufgrund der unklaren Zusammensetzung nicht ausgeschlossen werden. Die Marktstellung von Grimault wurde dadurch empfindlich getroffen, die Werbung für längere Zeit eingestellt. Dennoch verordneten viele Ärzte weiterhin das Präparat: „Wenige Athemzüge lassen sehr oft erhebliches Asthma verschwinden, indess sind die Gefahren des Haschischrauchens bekanntlich so gross, dass man die Cannabis in Cigarettenform nur ausnahmsweise gestatten kann. Der willkürliche Verkauf dieser Cigaretten ist streng zu untersagen“ (Brügelmann, 1895, 127). Grimaults Indische Cigaretten blieben dennoch verfügbar. Nicht aber als vermeintlicher Joint auf Rezept, sondern als überteuertes Geheimmittel mit gewisser Wirkung.

Hauptwettbewerber von Grimault war die französische Firma Espic. Sie bot seit Mitte des 19. Jahrhunderts Inhalatoren an (Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 67, 1850, 412), spätestens seit 1858 auch Asthmazigaretten. Diese enthielten ein sehr kleine Prise Opium, bestanden vornehmlich aus Tollkirschen- und Stechapfelblättern, aus Bilsenkraut und dessen Samen, waren entsprechend atropinhaltig (Annali Universali di Medicina 166, 1858, 656; Kölnische Zeitung 1897, Nr. 209 v. 8. März, 4). Ihre Anwendung war nicht unumstritten, längerer Gebrauch bewirkte nervöses Zittern ([Carl] L]udwig] Merkel, Die neuesten Leistungen auf dem Gebiete der Lehre vom Asthma, Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 109, 1861, 225-247, hier 244). Auch bei Espic wurde diskutiert, ähnlich wie unter anderen Vorzeichen bei Grimault, ob der Opiumgehalt nur werbeträchtig vorgespielt sei (Drogisten-Zeitung 22, 1907, 11). Angeboten in einer schmucken Büchse, kosteten sie aufgrund der preiswerteren Inhaltsstoffe 1,70 resp. 2 Mark pro Büchse mit zehn Stück (Echo der Gegenwart 1879, Nr. 31 v. 31. Januar, 4; Sport & Salon 3, 1880, Nr. 3, 22). Das war deutlich weniger als die 2,50 Mark für ein Döschen Grimault-Zigaretten. Beide linderten Asthmaanfälle, die Kosten sprachen aber gegen das cannabishaltige Präparat. Langfristig näherten sich die Preise allerdings an, nach der Jahrhundertwende galt 1,50 Mark als Standardpreis für eine 10er-Packung Asthmazigaretten (Lengerken, 1907, 149).

Ein früher Preisbrecher waren die „holländischen“ Asthmazigaretten der vor allem durch ihren Chinawein bekannten pharmazeutischen Firma Kraepelien & Holm aus dem holländischen Zeist, nahe Utrecht. Auch dabei handelte es sich um ein „aus verschiedenen Kräutern“ (Reichs-Medicinal-Kalender für Deutschland auf das Jahr 1890, T. 2, Leipzig 1889, Anzeigen, 58) hergestelltes Geheimmittel. Die Wirkung resultierte vornehmlich von Belladonnakräutern. Opium und indischer Hanf außen vor blieben. Mit 1,50 Mark war es günstiger als Espic und Grimault, markierte damit einen Trend des späten 19. Jahrhunderts: Exotische Rauschgifte wie Opium und Cannabis Indica wurden durch preiswertere Kräuter substituiert. Das verhinderte nicht zwingend gefährliche Nebenwirkungen, denn der freie Verkauf von Tollkirschenpräparaten war von Verbotsforderungen und Warnungen begleitet (Germann, Asthma-Cigaretten, Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte 19, 1889, 157). Doch es galt das Leiden der Patienten mit möglichen anderen Gesundheitsgefahren abzuwägen. Im Deutschen Reich wurde die massive Deregulierung des Arzneimittelmarktes in den späten 1860er Jahren zwar mehrfach wieder zurückgenommen, doch trotz zunehmender Apothekenpflicht und begrenzter Werbeverbote für Geheimmittel blieb der deutsche Markt offen für die heute als Drogen regulierten Wirkstoffe. Die Anbieter nahmen Rücksicht auf Behörden und Apotheker, behaupteten für die aus London importierten „Joys Asthma-Cigaretten“ gar: „Garantiert unschädlich für Kinder, Damen, überhaupt für jede Constitution“ (Westfälische Zeitung 1892, Nr. 175 v. 29. Juli, 3). Ein Verbot der Asthmazigaretten stand damals nicht auf der Tagesordnung – und neue Angebote kamen schon aufgrund des Preisvorteils meist ohne Cannabis und Opium aus. Ein Beispiel hierfür waren die in Berlin produzierten Asthmazigaretten von Dr. Graff & Co. (Führer durch die Ausstellung der Chemischen Industrie Deutschlands auf der Columbischen Weltausstellung in Chicago 1893, Berlin 1893, 87).

Indische Zigaretten als Herkunftsbezeichnung für Standardtabakwaren (Kölnische Zeitung 1899, Nr. 891 v. 12. November, 4 (l.); Iserlohner Kreisblatt 1897, Nr. 297 v. 20. Dezember, 4)
Indische Zigaretten waren trotz ihres teils süßlich-penetranten Geruchs, trotz der teils unklaren Zusammensetzung Alltagsgegenstände. In einem vornehmlich von orientalischen Tabakmischungen aus dem Osmanischen Reich und Ägypten geprägten Zigarettenmarkt hatten Angebote aus der britischen Kronkolonie Indien bei „gesunden“ Rauchern durchaus Erfolg. Genuss, Exotik und Nikotin schien eine Erfolgsmischung zu sein.
Berliner Medizinaljoints: Die amerikanische Familie Abbot als Ideengeber
Als die Berliner Bronchiol GmbH im August 1900 mit der Werbung für ihre cannabishaltige Zigarette begann, baute sie auf ein für Geheimmittel typisches Narrativ: „Dr. Abbot, welcher dreißig Jahre an Asthma litt, gelang es, verschiedene Kräuter der südamerikanischen Flora zu finden, welche sich von linderndem Wesen gegen das Asthma erwiesen! Das Präparat dieser Kräuter ist nun von Dr. Abbot in Form einer Cigarette den Patienten gegeben, welche die Bronchiol-Gesellschaft Berlin, Mittelstr. 23, herstellt“ (Berliner Tageblatt 1900, Nr. 419 v. 19. August, 11). Hierin stimmte wenig, doch das war in vielen Werbungen damals üblich, det war nicht nur Berlin. Immerhin: Es gab den besagten „Dr. Abbot“.
Dabei handelte es sich um Francis Peabody Abbot (1827-1886). Er wurde 1827 in Portland, Maine, geboren, stammte aus der Oberschicht Neu-Englands. Im zarten Alter von sechs Jahren erkrankte er an Scharlach, und dies war wahrscheinlich Auslöser eines Asthmaleidens, „das ihn ein Leben lang geplagt und schließlich zu seinem relativ frühen Tod mit 59 Jahren führte“ (Julian C. Anthony, Willoughby Dayton Miller (1853 – 1907) American dentist und deutscher Zahnarzt: eine Karriere in zwei Erdteilen, Med. Diss. Regensburg 2019, 80). Abbot erhielt 1851 den „Doctor of Dental Surgery“ vom Baltimore College of Dental Surgery (Boston Medical and Surgical Journal 44, 1851, 208). Er reiste umher und ließ sich 1852 in Berlin nieder. Dort lebte und arbeitete er erst in der Oberwallstraße 20, fand seine eigentliche Wirkungsstätte dann am hundert Meter südlich gelegenen Hausvogteiplatz 2 (Adreß-Kalender für Berlin 1853, 308; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Berlin 1863, 1; Berliner Adreßbuch für das Jahr 1886, T. III, 467). Preußens Zahnärzte waren damals Virtuosen des Extrahierens, vom Plombieren aber verstanden sie wenig. Derartige Zahnrettung entwickelte sich zu Abbots Spezialgebiet. Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten erkundeten die Wirksamkeit unterschiedlicher Füllungen auf Gebiss und Mundhöhle (F[rancis] P. Abbot, Ansichten über das zu frühzeitige Extrahiren der ersten Molarzähne, Deutsche Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 17, 1877, 340-341). Die Folgen waren beträchtlich: Abbots Arbeiten machten tiefen Eindruck auf einen 1877 in Berlin weilenden Studenten, Willoughby D. Miller (1853-1907), der 1879 nicht nur seine Tochter heiratete und in seiner Praxis als Zahnarzt tätig war, sondern mit seiner Kariestheorie die Zahnheilkunde grundlegend veränderte (Die Mikroorganismen der Mundhöhle, Leipzig 1889).

Francis P. Abbot als Werbegarant für Gustav Lohses Kampfer-Zahnpulver (Der Damen-Salon 1877, Nr. 1, 8)
Francis P. Abbot war damals eine Führungsfigur der US-Bürger in Berlin. Als „der am Längsten hier ansässige americanische Bürger“ (Coburger Zeitung 1881, Nr. 228 v. 28. September, 1) hielt er die Trauerrede auf den nach einem Attentat verstorbenen Präsidenten James A. Garfield (1831-1881). Abbots Zahnarztpraxis war seinerzeit Anlaufpunkt für Berlins höhere Gesellschaft, hohe Preise schreckten nicht. Der geschäftstüchtige Amerikaner war zugleich offen für Werbekooperationen, wie etwa mit dem Parfümhersteller Gustav Lohse, dessen Stammsitz in der Jägerstraße in unmittelbarer Nachbarschaft lag (Elisabeth Bartel und Lutz Hermann, Berliner Düfte. Parfüms, Parfümeure und Parfümhäuser, Berlin 2015, 35). Ende des 19. Jahrhunderts mischten lokale Apotheker zudem Abbotsche Zahnpulver und Mundwässer (Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 120 v. 12. März, 2). Privat aber war Abbots Leben von Asthma überschattet: Die Nächte verbrachte er nicht im Bett, sondern in einem Sessel (Anthony, 2019, 80).

Francis P. Abbot mit Asthmazigarette (l.), rechts Willoughby D. Miller (Anthony, 2019, 91)
Francis P. Abbot griff zur Linderung unter anderem zu Asthmazigaretten. Es ist unklar, um welche Marken und Mischungen es sich gehandelt hat. Doch es ist zugleich nicht unwahrscheinlich, dass Abbot unterschiedliche Mischungen versuchte und mit ihnen experimentierte, um sein Leiden zu verringern. Die Werbung der Bronchiol-Zigaretten betonte jedenfalls: „Präparat nach Dr. Abbot“ (Kölner Local-Anzeiger 1901, Nr. 95 v. 19. April, 6). Zu diesem Zeitpunkt war Francis P. Abbot allerdings schon längst verstorben, das liebreizende Berliner Adreßbuch vermerkte Ende 1886 lapidar: „Abbot, F. P., Dr., Zahnarzt ist zu streichen“ (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1887, Nachtrag, s.p.). An seine Stelle trat sein 1862 in Berlin geborener Sohn Charles Henri Abbot. Er erhielt seinen Doctor of Dental Surgery 1885 von der Harvard University (The Dental Cosmos 27, 1885, 503), war Anfang der 1890er Jahre auch US-Vize-Generalkonsul (Berliner Tageblatt 1894, Nr. 358 v. 17. Juli, 4), etablierte sich als Zahnarzt schließlich nahe am Potsdamer Platz in der Königgrätzer Straße 140, der heutigen Stresemannstraße. Möglich, dass er das Wissen über die Mischung einer cannabishaltigen Asthmazigarette an die Gründer der Bronchiol GmbH verkauft hat. Doch mangels Quellen bleibt es bei begründeten Mutmaßungen.
Die Berliner Bronchiol-Gesellschaft mbH
Mutmaßungen? Nicht mehr? Doch, es gibt mehr, nämlich verstreute Informationen, die es einem Puzzle gleich zusammenzusetzen gilt. Nicht mutmaßen ist die Profession des Historikers, sondern eine Geschichte gut begründet zu rekonstruieren und zu erzählen. Dass dies bei einem kleinen Spezialanbieter schwieriger ist als bei Haupt- und Staatsaktionen oder gut alimentierten „Firmengeschichten“ steht außer Frage: Doch just so können wir vielleicht auch eingefahrene Denkmuster über Vergangenes in Frage stellen.
Am Anfang der Berliner Bronchiol GmbH stand eine Geschäftsidee, der Wunsch einer kleinen Gruppe jüdischer Geschäftsleute auszubrechen aus ihrem Alltagsgeschäft, neben Bestehendes Neues zu setzen, vielleicht gar den großen Coup zu landen. Heinrich Przedecki – wir werden später auf ihn, seine Kompagnons und Nachfolger zurückkommen – betrieb die Firmengründung professionell. Er meldete am 21. März 1900 das Bildzeichen „Bronchiol“ an, eingetragen wurde es am 14. Mai: Der Geschäftsbetrieb sollte kreisen um: „Heilmittel, Rauchtabak und Zigaretten, hauptsächlich Zigaretten, welche aus besonders präparierten Stoffen gefertigt werden“ (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 132 v. 5. Juni, 12). Dieses Warenzeichen Nr. 43751 verkörperte einen noch immateriellen Wert, doch Przedecki überschrieb es als Teil seiner Stammeinlage am 22. Juli 1900 auf die Bronchiol GmbH (Ebd., Nr. 198 v. 21. August, 11). Diese Gesellschaft mit beschränkter Haftung hatte er am 3. Juli 1900 gegründet. Das Stammkapital betrug 20.000 Mark, zwei Geschäftsführer wurden eingesetzt, neben Przedecki auch der Berliner Kaufmann Bernhard Hirschfeld, der zugleich Kapital einzahlte. Das stammte nämlich kaum von Przedecki, der neben dem Warenzeichen aber noch das „Verfahren, die Gesundheitszigarette Bronchiol herzustellen“ mit einbrachte (Ebd., Nr. 278 v. 28. Juli, 15). Die kommerzielle Nutzung des Verfahrens war auf zehn Jahre beschränkt, doch Verlängerung möglich. Nun konnte es losgehen – und es begann der Aufbau der Produktion in der Mittelstraße 23, einer Seitenstraße von Berlins Prachtallee Unter den Linden. Werbung folgte, parallel der Aufbau eines Vertriebs- und Absatznetzwerkes. Doch dann die Hiobsmeldung am 25. Oktober 1900: „Der Geschäftsführer Heinrich Przedecki ist verstorben“ (Ebd., Nr. 259 v. 30. Oktober, 14).

Bildzeichen Bronchiol (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 132 v. 5. Juni, 12)
Privatpersonen sterben, nicht jedoch juristische Personen. Und so machte man weiter unter Federführung Bernhard Hirschfelds. Offenbar nicht ohne Erfolg, denn das Stammkapital der Bronchiol GmbH wurde am 19. Dezember 1901 auf 40.000 Mark verdoppelt (Ebd. 1901, Nr. 12 v. 15. Januar, 10). Der Ausbau der Firma erforderte Kapital – und Hirschfeld konnte dieses mobilisieren. Über den Geschäftsbetrieb kann man – weiter unten – nur begründet mutmaßen. Hirschfeld blieb Geschäftsführer bis Anfang 1906, wurde dann vom Berliner Kaufmann Siegmund Schoenlank abgelöst (Ebd. 1906, Nr. 23 v. 26. Januar, 15). Dieser agierte bis Anfang 1910, es folgte der Charlottenburger Kaufmann Kurt Fröbus (Ebd. 1910, Nr. 33 v. 8. Februar, 11). Die Bronchiol GmbH wurde nach den anfangs anvisierten zehn Jahren – der üblichen Dauer für den Schutz eines Bildzeichens – allerdings nicht aufgelöst, scheinbar war noch Gewinn zu erzielen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg dürfte sich dies jedoch gewandelt haben. Der Wechsel von Fröbus zum sehr jungen Wilmersdorfer Fräulein Elli Salamonski im Juli 1913 deutet schon auf eine brüchige Fassade hin (Ebd. 1913, Nr. 178 v. 30. Juli, 7). Nach Beginn des Krieges zogen die Verantwortlichen jedenfalls rasch die Konsequenzen aus den daraus resultierenden Schwierigkeiten, die naturalen Rohstoffe ihrer Gesundheitszigarette importieren zu können.
Am 22. November 1914 beschied das Kgl. Amtsgericht Berlin-Mitte: „Die Gesellschaft ist aufgelöst“ (Ebd. 1914, Nr. 277 v. 25. November, 8). Die Liquidation zog sich allerdings hin: Liquidator Julius Mosessohn annoncierte mehrfach: „Gläubiger wollen sich melden“ (Ebd. 1915, Nr. 58 v. 10. März, 8; ebd. Nr. 56 v. 8. März, 9). Das Warenzeichen „Bronchiol“ wurde am 5. August 1915 gelöscht (ebd., Nr. 156 v. 20. August, 12). Mitte 1916 hieß es dann schließlich: „Die Firma ist gelöscht; die Liquidation ist als beendigt angemeldet“ (Ebd. 1916, Nr. 176 v. 28. Juli, 8).

Firmensitze der Berliner Bronchiol GmbH 1900-1915 (Stadtplan 1913: Wikipedia; Berliner Adreßbuch 1901-1915)
Die wechselvolle Unternehmensgeschichte der Bronchiol GmbH spiegelt sich in ihren Firmensitzen. Anfangs nahe der Prachtallee Unter den Linden angesiedelt, verlagerte sie ihren Sitz wohl 1902 in die Taubenstraße, nahe der Friedrichstraße. Beide standen für das kommerzielle und politische Zentrum der damaligen Reichshauptstadt. 1906/07 verlagerte die Bronchiol GmbH ihren Sitz jedoch nach Wilmersdorf, in die Regensburgerstraße 23. Dies war ein aufstrebendes Viertel im expandierenden Berliner Westen, besaß den höchsten Anteil jüdischer Bewohner aller Bezirke. Doch es war vorrangig Wohn- und Geschäftsgebiet, kaum Gewerbezentrum. Die neuerlichen Adresswechsel in die nähere Umgebung 1914 und 1915 spiegelten die Agonie der Firma, die damals nicht mal mehr über einen Telefonanschluss verfügte. Ella Salamonski, nicht Fräulein, sondern Frau, dürfte wenig zu tun gehabt haben.
Wie bietet man cannabishaltige Zigaretten an?
Die im Juli 1900 hoffnungsfroh gegründete Bronchiol GmbH hatte eigentlich eine einfache unternehmerische Aufgabe. Sie musste ein neues Produkt einführen, gewiss. Doch zugleich musste sie für Asthmazigaretten selbst nicht mehr werben, denn diese waren bekannt, hatten einen klar abgrenzbaren Markt. Cannabis Indica war durch die 1895 wieder einsetzende Werbung für Grimaults „Indische Cigaretten“ ein zwar seltenes, aber doch etabliertes Heilmittel. Auch die Leipziger Firma Robert Paul & Co. (dann Wagner & Wiebe) hatte 1900 einen neuen holzspanartigen Asthmazünder „Pressant“ auf den Markt gebracht, dessen Räuchermasse nicht nur 40 Prozent Stramonium enthielt, sondern auch 10 Prozent Cannabis Indica (Apotheker-Zeitung 15, 1900, 732, Fortschritte der Heilstoffchemie 1946, 85).

Vom Geheimmittel zur Spezialität (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 183 v. 8. August, 4 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 508 v. 30. Oktober, 18)
Die Bronchiol GmbH offerierte ihre ab Anfang August in Tageszeitungen annoncierte Gesundheitszigarette auch daher als Geheimmittel, also ohne Angabe der Inhaltsstoffe (so noch Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 470 v. 7. Oktober, 19). Schon vor dem Tod Heinrich Przedeckis begann man dann aber, die wichtigsten Bestandteile inklusive des Cannabis Indica anzugeben (Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 495 v. 25. Oktober, 10). Die Asthmazigaretten waren seither eine Spezialität, also ein Pharmazeutikum mit grundsätzlich bekannter Zusammensetzung (Berliner-Börsen-Zeitung 1900, Nr. 544 v. 20. November, 19; Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 301 v. 25. Dezember, 4). Die Firmenangaben wurden von Pharmazeuten nicht in Frage gestellt, sondern weiterverbreitet. Die Bronchiol-Zigaretten bestanden demnach – und das war neu – aus Tabak, Stechapfel, Cannabis Indica, Salpeter und Anisöl (Zeitschrift des Allgemeinen oesterr. Apotheker-Vereines 41, 1903, 874; Eduard Hahn und J[oachim] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel. Ihre Herkunft und Zusammensetzung, 6. verm. u. verb. Aufl., bearb. v. G[eorg] Arends, Berlin 1906, 13). Die aus heutiger Sicht bemerkenswerte Nutzung der „Droge“ Cannabis war vor einhundertzwanzig Jahren offenbar nicht besonders erwähnenswert – was mehr über uns als über unsere Vorfahren aussagt. Asthmazigaretten wurden wegen eines allgemeinen Wirkungsversprechens gekauft, nicht aber wegen bestimmter Inhaltsstoffe. Entsprechend war in der eingangs erwähnten Anzeige wichtig, dass Dr. Abbott „verschiedene Kräuter“ kombiniert hatte. Diese mochten grundsätzlich gefährlich sein – doch wichtiger schien, dass sie wirksam waren. Die Bronchiol-Zigaretten waren gewiss medizinisch wirksame Joints, doch neu – und respiratorisch eher bedenklich – war die ungewöhnliche Kombination von Tabak und dem stark atropinhaltigen Stechapfel. Ihre Positionierung als gezielt einsetzbares Alltagsprodukt begrenzte zugleich die Menge des Konsums. Exzesse waren auch bei asthmatischem Leidensdruck nicht zu erwarten, empfohlen wurde der Konsum von etwa zwei Zigaretten pro Tag.
Auch ansonsten war die Vermarktung der Bronchiol-Zigarette recht konventionell, entsprach dem Standard gängiger öffentlich beworbener Heilmittel. Das galt etwa für Prominentenwerbung. Die Stelle heutiger B- und C-Sternchen nahmen damals natürlich wohlangesehene Adelige ein (Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 395 v. 27. August, 3). Die Berliner Macher verwiesen, kaum ohne ein kleines Entgelt für deren darbende Haushalte, zum einen auf Maria Luise von Hohenzollern-Sigmaringen (1845-1912), durch Heirat mit Prinz Philipp von Belgien (1837-1905) immerhin Prinzessin von Belgien. Zum anderen nannten sie Gabriele von Hatzfeld-Wildenburg (1825-1909), die aus einem traditionsbewussten hessischen Geschlecht entstammte und deren Linie im Euskirchener Raum residierte, nicht unweit der belgischen Grenze. Dem gängigen Drehbuch einschlägiger Anzeigen folgte auch der Bezug auf einen akademischen Gewährsmann, der sich lobend über das neue Präparat ausgesprochen hatte. Bei dem erwähnten praktischen Arzt Dr. Krüger dürfte es sich um den in der Schöneberger Hauptstraße 135 praktizierenden Dr. Samuel Krüger gehandelt haben (Berliner Adressbuch für 1900, T. 1, 824). Przedecki, Hirschfeld und Krüger dürften sich gekannt haben. Ob die erwähnten Tests mit „verschiedenen Asthmatikern“ (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 187 v. 12. August, 3) wirklich stattgefunden haben ist unklar, aber nicht ausgeschlossen.
Bevor wir dieses jüdische Netzwerk näher beleuchten, noch ein Verweis auf die durchaus ungewöhnlich Art des Absatzes. Anders als Grimault, Espic oder Kraepelien & Holm, die viel Wert auf ansprechende Kleinpackungen legten – was auch deshalb ungewöhnlich war, da Zigaretten damals vielfach per Stück verkauft wurden – setzte die Bronchiol GmbH tendenziell auf den Dauerkunden. Entsprechend bot sie die apothekenpflichtigen Zigaretten vorrangig in Pappkartons mit je 100 Stück an. Trotz des vereinheitlichen Namens gab es den Markenartikel Bronchiol jedoch nicht in nur einer Zusammensetzung, sondern er wurde in vier unterschiedlichen Mischungen zu 15, 10, 7,50 und 5 Mark angeboten (Vossische Zeitung 1901, Nr. 3 v. 3. Januar, 9). Das klingt teuer – der Jahresverdienst von Arbeitern lag damals bei ca. 1.500 Mark –, doch die Preise pro Stück variierten zwischen 15 und 7,5 Pfennig. Das war deutlich weniger als bei den Wettbewerbern: Bronchiol-Zigaretten waren also relative Preisbrecher. Die Preisunterschiede der Mischungen resultierten dabei nicht aus den eigentlichen Wirkstoffen, sondern aus dem verwandten Tabak. Es gab normale und milde Varianten, die dann nochmals nach Männern und Frauen – Entschuldigung, Herren und Damen – gestaffelt waren (Neue Freie Presse 1900, Nr. 12912, 13; Münchner Neueste Nachrichten 1902. Nr. 91 v. 23. Februar, 11). Die Bronchiol GmbH war sich ihres Preisvorteils bewusst, warb in ihren Anzeigen auch mit den Vergleichspreisen für gängige 10 Stück-Packungen (Dresdner Nachrichten 1901, Nr. 69 v. 10. März, 19). Zudem offerierte sie Probeschachteln mit weniger Zigaretten, so dass Kunden sie anfangs schon für 60 Pfennig ausprobieren konnten. Es ist anzunehmen, dass bei der Markteinführung auch Gratisproben angeboten wurden; doch ein Beleg hierfür fehlt. Insgesamt gelang es der Bronchiol GmbH jedoch nicht, die 100er-Vorratspackungen als neuen Standard zu etablieren. Schon Ende 1900 wurden vereinzelt Kartons à 10, 20, 50 und 100 Stück angeboten (Hamburger Nachrichten 1900, Nr. 280 v. 29. November, 11). Die Kunden verlangten wohl üblichere Packungen, auch weil dann der Preisvorteil offenkundig war. In Köln wurden 10er-Kartons für 50 und 75 Pfennige angeboten (Kölner Local-Anzeiger 1901, Nr. 123 v. 3. Mai, 8). Nach der Markteinführung, also ab Frühjahr 1901, erhielt man die cannabishaltigen Asthmazigaretten in vier Mischungen à 10, 20, 50 und 100 Stück, also in insgesamt sechszehn Varianten (Westfälische Zeitung 1902, Nr. 9 v. 11. Januar, 7). Das war typisch für eine Zeit erst beginnender Verpackungsnormierung, erhöhte aber den Lageraufwand in den von immer neuen Angeboten vielfach berstenden Apotheken. Die Preise blieben während der gesamten Produktionszeit identisch, die damals geltende Preisbindung unterband lokale Sonderangebote. Auch im Ausland blieb die Preisabstufung ähnlich wie im Deutschen Reich (L’Imperial 1902, Nr. 6536 v. 23. März, 12).
Die Bronchiol GmbH als Netzwerk jüdischer Geschäftsleute
Bevor wir noch genauer auf das Absatz- und Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH eingehen, ist ein Blick auf die eigentlichen Akteure, also die Berliner Unternehmer zu werfen. Während die französischen Anbieter vorrangig Katholiken, die holländischen Protestanten waren, waren die Akteure in der Reichshauptstadt fast durchweg jüdischen Glaubens. Man kann die Bronchiol GmbH als Teil der besonderen Fähigkeit einer überdurchschnittlich gebildeten und vielfach auch fleißigeren Minderheit sehen, neue Märkte zu antizipieren, neue Produkte und Dienstleistungen passgenau anzubieten und sie mittels virtuos gehandhabter Reklame erfolgreich anzupreisen (Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933, Frankfurt a.M. 2011, passim). Während des Kaiserreichs entwickelte sich insbesondere Berlin zum Paradebeispiel einer deutsch-jüdische Symbiose und repräsentierte den atemberaubenden Aufstieg einer leistungsbereiten Minderheit, die noch Mitte der 1920er Jahre nicht weniger als 30 Prozent aller direkten Steuern der Reichshauptstadt trug. Eine genauere Analyse der jüdischen Erfolge wird jedoch Schattierungen in diesem Gloriolenschein sehen (Uwe Spiekermann, Paul Lerner und Anne Schenderlein, Jews, Consumer Culture, and Jewish Consumer cultures: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Jewish Consumer Cultures in Nineteenth and Twentieth-Century Europe and North America, Cham 2022, 1-39, insb. 1-24) – auch die Geschichte der Bronchiol GmbH zeigt die beträchtlichen Schwierigkeiten, Wachstumsgeschichten fortzusetzen.
Beginnen wir unsere biographische Erkundung mit dem eigentlichen Macher, mit Heinrich Przedecki (1850-1900). Bei der Familie Przedecki handelte es sich um aschkenasische Juden aus der Stadt Moosburg im heutigen Polen (wo nicht anders vermerkt Angaben n. Family tree Przedecki / Perdeck / van Perdeck (gerritspeek.nl) bzw. den von Ancestry.com digitalisierten Personenstandsakten des Landesarchivs Berlin). Heinrich Przedecki wurde 1850 in Warschau als Sohn von Abraham Przedecki (1805-1872) und seiner Frau Ernestine, geb. Lubliner (1811-1887), geboren. Er heiratete 1876 Martha Ginsberg [auch Giensberg] (1856-1934), mit der er sechs Kinder hatte: Albert (1877) Predeck [Namenswechsel 1908], Else Elisabeth (1878), Rosalie (1879), Salo (1882), Leopold Max (1885) Predeck [Namenswechsel 1908] und Morris Martin (1893). Heinrich Przedecki starb am 25. September 1900 im Alter von 50 Jahren.

Die Przedeckis als Pionierunternehmer der Zigarrettenproduktion (Kladderadatsch 20, 1867, Nr. 59/60, 14)
Zuvor lebte und arbeitete er im Familienverbund seines Bruders Stanislaus (1834-1883) und dessen Sohn Ludwig (1867-1926). Ersterer hatte 1862 zusammen mit Emanuel Kary in Breslau die „Sultan“ gegründet, die türkische Tabake importierte und zu Zigaretten weiterverarbeitete (Sammlung der deutschen Handels-Register, Bd. 1, Köln 1862, 186). Zusammen mit Joseph Huppmann (1814-1897), der 1862 in Dresden den Marktführer Compagnie Laferme gründete, war Stanislaus Przedecki einer der Pionierunternehmer der deutschen Zigarettenindustrie. Die spätere Selbstbezeichnung als „größte u. älteste Fabrik Preußens“ unterstrich dies (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1895, T. I, 260). Stanislaus‘ Bruder Heinrich erhielt 1874 Prokura in dem neuen Berliner General-Depot der Türkischen Cigaretten- und Tabakfabrik „Sultan“ und leitete dessen Geschäft in der Friedrichsstraße 196 (Deutscher Reichsanzeiger 1874, Nr. 253 v. 28. Oktober, 4). 1876 übernahm Heinrich kurzfristig das General-Depot als Eigentümer, 1877 ging es dann an seinen Neffen Ludwig Przedecki über (Ebd., 1876, Nr. 81 v. 3. April, 7; ebd. 1877, Nr. 107 v. 8. Mai, 5). Der inzwischen verheiratete Heinrich agierte weiterhin für die „Sultan“, führte auch den Laden 42 („Türkisches Zelt“) in der 1873 gegründeten Kaiserpassage, die Friedrichstraße und Unter den Linden verband (Berliner Adreßbuch 1877, T. I, 214). Parallel wurde im Namen seiner Frau Martha die Fabrik Turkestant in Berlin Unter den Linden 20 gegründet, Heinrich erhielt Prokura (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 210 v. 7. September, 3). Die Familie Przedecki zelebrierte die Exotik der Angebote aus dem Vorderen Orient, lange bevor Heinrich Präparate mit Cannabis Indica produzierte und vertrieb.

Werbung unter eigenem Namen (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 325 v. 22. November, 8 (l.); Neueste Nachrichten 1878, Nr. 328/9 v. 24. November, 14)
1878 folgte eine Werbeoffensive im deutschen Sprachraum, zugleich aber wurden Grenzen der Expansion erkennbar. Der Schweizer „Nebelspalter“ machte Heinrich Przedeckis Säumigkeit bei der Zahlung von Insertionsschulden öffentlich (Nebelspalter 5, 1879, H. 37, s.p.). Man konsolidierte, der junge Unternehmer übernahm später Läden in der Friedrichstraße und in der Kaiserpassage. Gleichwohl wurde 1893 ein Konkursverfahren über sein Vermögen eröffnet (Deutscher Reichsanzeiger 1893, Nr. 153 v. 29. Juni, 14; Echo der Gegenwart 1893, Nr. 149 v. 1. Juli, 10). Es folgte ein Zwangsvergleich, der 1894 schließlich rechtlich bestätigt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1893, Nr. 243 v. 10. Oktober, 10; ebd. 1894, Nr. 76 v. 31. März, 15; ebd., Nr. 114 v. 17. Mai, 10; Nr. 133 v. 8. Juni, 10). Damit konnte der Konkurs abgewandt werden. Die Gründe für diesen Ritt am Abgrund sind unbekannt: Heinrich Przedecki, der in der anfangs modischen Kaiserpassage einen zweiten Laden resp. ein Lager für Bernstein-, Meerschaum-, Leder- und Luxuswaren errichtet hatte (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1884, T. 1, 769; ebd., 1888, T. I, 873), dürfte jedoch der wachsenden Konkurrenz durch leitungsfähigere Wettbewerber wie Lubatsch, Wertheim, Hermann Tietz, Jandorf, Israel, etc. kaum mehr gewachsen gewesen sein. Ihm blieb in den späten 1890er Jahren noch sein Laden 42 in der Kaiserpassage und der Hoflieferantentitel S. Königl. Hoheit des Prinzen Friedrich Karl von Preußen (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1899, T. I, 1141).
Dieser relative Bedeutungsverlust kontrastierte deutlich mit dem Aufschwung der Breslauer Zigarettenfirma, die derweil von Heinrichs beiden Neffen Ludwig und Joseph (1863-1929) geleitet wurde. Ihr Erfolg gründete auf eher hochpreisigen Zigaretten, doch schon im späten 19. Jahrhundert bot die Firma auch erste Filter („Mundstücke“) an, um die Schäden durch das Rauchen zu minimieren. 1901 siedelte die mittlerweile zur Egyptian Cigarette Company umbenannte Firma nach Berlin über (Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 326 v. 15. Juli, 13). Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigte sie etwa 700 Arbeiter und produzierte jährlich mehr als 200 Millionen Zigaretten (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1912, T. IV, 506). Vor dem Hintergrund des nur knapp abgewendeten Konkurses und angesichts des bemerkenswerten unternehmerischen Erfolgs anderer Familienmitglieder war die Bronchiol GmbH für Heinrich Przedecki mehr als eine einfache Firmengründung. Sie sollte seinen Weg zurück zu neuerlichem Erfolg bahnen. Die für Asthmazigaretten unübliche Zumengung von Tabak zu Stechapfel und Cannabis Indica lässt sich zudem eher mit seinem Berufsfeld als mit Francis P. Abbots vermeintlicher Mixtur erklären.

Gesundheitsangebot für den konventionellen Kunden: Zigaretten mit Mundfiltern aus dem Angebot von Heinrich Przedeckis Neffen (Die Woche 7, 1905, Nr. 4, VII)
Kommen wir zu Przedeckis Kampagnon, dem Berliner Kaufmann Burkhard Hirschfeld (1855-1938). Auch er war anfangs im Handel tätig, 1883-1892 übernahm er das Handelsgeschäft von „Hirschfeld & Goldschmidt“ (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 166 v. 18. Juli, 8; ebd. 1892, Nr. 31 v. 4. Februar, 10). Auch er übernahm rasch bedeutungsvollere Aufgaben, war von 1888 bis 1892 Brandenburger Generalbevollmächtigter der Hamburger Janus AG, einem Versicherungsunternehmen mit 1,5 Million Mark Grundkapital und einer Bilanzsumme von 1889 mehr als 24 Million Mark (Ebd. 1888, Nr. 319 v. 19. Dezember, 8; ebd. 1890, Nr. 100 v. 23. April, 8). 1892 trat an seine Stelle sein langjähriger Geschäftspartner Otto Goldschmidt (Ebd. 1892, Nr. 38 v. 12. Februar, 10). Mit diesem hatte Burkhard Hirschfeld zuvor die offene Handelsgesellschaft „Wechselstube Hirschfeld & Goldschmidt“ mit einem Geschäftslokal in der Alexanderstraße 50 gegründet (Ebd. 1892, Nr. 26 v. 30. Januar, 10). Das relative Auf und Ab mündete 1895 in ein Konkursverfahren über das Vermögen Bernhard Hirschfelds, das ebenso wie im Falle Heinrich Przedeckis mit einem Zwangsvergleich endete und somit aufgehoben wurde (Ebd. 1896, Nr. 28 v. 31. Januar, 16). Auch für Hirschfeld war die Bronchiol GmbH also eine Chance, geschäftliche Krisen zu überwinden, neue berufliche Ufer zu erreichen. Nach seinem Ausscheiden aus der Bronchiol GmbH – über deren Gründe ist nichts bekannt – arbeitete Hirschfeld weiter in seiner Wechselstube, wurde Gesellschafter, ab 1909 dann Inhaber der in Schöneberg gelegenen Auskunftei „Reform“ (Ebd. 1909, Nr. 91 v. 19. April, 37). Auf diese konzentrierte er sich bis in die 1930er Jahre (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1930, T. I, 72; Berliner Handels-Register 67, 1931, 15). Der unverheiratete Bernhard Hirschfeld starb am 16. April 1938 im Jüdischen Altersheim in der Lützowstraße 48 (Landesarchiv Berlin, Personenstandsregister, Sterberegister, Nr. 300 via Ancestry.com).
Hirschfelds Nachfolger als Geschäftsführer war der 1865 geborene Siegmund Schoenlank. Er hatte seine ersten Sporen in der Handelsgesellschaft Steinau & Schoenlank verdient, die er 1888 übernahm und unter eigenem Namen fortführte (Deutscher Reichsanzeiger 1888, Nr. 266 v. 18. Oktober, 8). Parallel zu seiner Arbeit für die Bronchiol GmbH betrieb er weiterhin ein eigenes Handelsgeschäft (Ebd. 1908, Nr. 127 v. 30. Mai, 13). Nach seinem Ausscheiden 1910 gründete der in Wilmersdorf ansässige Schoenlank ein Kino mit Ausschank. Expansionspläne mündeten 1911 in die Tip-Top Kino GmbH, doch umgesetzt wurden diese nicht (Ebd. 1912, Nr. 31 v. 2. Februar, 11).
Während alle anderen Mitglieder der Führungsriege „mosaischen“ Glaubens waren, bildete der von 1910 bis 1913 aktive Geschäftsführer Kurt [Alexander] Fröbus eine Ausnahme, denn er wurde 1877 als Katholik getauft (Landesarchiv Berlin Personenstandsregister, Geburtsregister, Nr. 43). Er arbeitete im elterlichen Betrieb, einem 1875 gegründeten Agentur- und Kommissionsgeschäft. Er übernahm dieses Anfang 1913, schied dann aus der Bronchiol GmbH aus (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1911, T. 1, 718; Ebd. 1914, T. 1, 773; Handels-Register des Königlichen Amtsgerichts Berlin-Mitte 49, 1913, 254). Das in unmittelbarer Nähe vom Kaufhaus des Westens gelegene elterliche Geschäft führte er auch in den 1920er Jahren weiter (Berliner Handels-Register 59, 1923, 163).
Letzte Geschäftsführerin war die einzige Frau, Elli Salamonski (1886-1918). Sie stammte aus einer wohlsituierten Berliner Familie, die schon in den 1870er Jahren südlich vom Gendarmenmarkt ein Auskunfts-Bureau für Handel und Gewerbe etabliert hatte (Berliner Wespen 12, 1879, Nr. 13 v. 28. März, 1). Nach der Jahrhundertwende residierte es in der Taubenstraße 35, von 1902 bis 1906 auch Sitz der Bronchiol GmbH. Dies deutet auf Kapitalverflechtungen hin. Elli Salamonski lebte ihrerseits in der Wilmersdorfer Bayerischen Straße 29 (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1914, T. III, 55), ein Haus neben dem damaligen Sitz der Bronchiol GmbH. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die junge Dame kein Beleg für die wachsende Frauenemanzipation dieser Zeit war, sondern dass sie als Name in einem Abwicklungsprozess diente. Ihre persönliche Lebensgeschichte war jedenfalls traurig, todesnah. Geboren als am 3. September 1886 heiratete Elli im September 1911 den aus Braunschweig stammenden Kaufmann Georg Katz (LA Berlin, Personenstandsregister, Geburtsregister, Nr. 72; ebd., Heiratsregister, Nr. 417). Ihr Vater war damals schon verstorben, die Mutter leitete das Auskunfts-Bureau, sie selbst war ohne Beruf. Elf Monate später gebar sie einen toten Sohn (Ebd., Sterberegister, Nr. 1270). Ellis Gatte starb 1918 im Alter von 36 Jahren, sie selbst folgte knapp zwei Wochen später am 19. Dezember im Alter von 32 Jahren (Ebd., Sterberegister, Nr. 1270). Auch der Liquidator Julius Mosessohn (1853-1921) war Mitglied dieser eng vernetzten Gruppe jüdischer Geschäftsleute. Er heiratete, doch die Ehe blieb kinderlos. Seinen Tod meldete Kurt Salamonski den Behörden, Ellis Bruder (LA Berlin, Personenstandsregister, Sterberegister, Nr. 30).
Fassen wir die biographischen Informationen zusammen, so handelte es sich bei den führenden Personen der Bronchiol GmbH um gut qualifizierte und eng vernetzte Kaufleute, die im jüdischen Milieu von Berlin-Mitte, Schöneberg und Wilmersdorf arbeiteten und lebten. Sie alle erreichten Wohlstand, wirklichen Reichtum aber repräsentierten sie nicht. Sie alle dürften in der Bronchiol GmbH eine Chance gesehen haben, mit einem gezielten Investment, mit ihnen bekannten Arbeiten nicht nur Einkünfte zu erzielen, sondern ihren materiellen Lebensunterhalt zu verbessern. Man kann es auch anders fassen: Französische Ideen exotischer Cannabiszigaretten wurden von einem US-Amerikaner aufgegriffen und verfeinert, diese wiederum dienten aus dem Osten des Deutschen Reiches stammenden jüdischen Geschäftsleuten dazu, ein bisher stets importiertes Konsumgut im deutschen Umfeld zu produzieren: Die Bronchiol GmbH war insofern recht typisch für das Berlin dieser Zeit. Det war Berlin.
Aufbau eines Vertriebs- und Absatznetzwerkes
Der Absatz der Bronchiol-Zigaretten war einfach und schwierig zugleich. Der übliche Weg war das Versandgeschäft. Dazu erforderlich war eine breit gestreute Reklame, waren ansprechende Verpackungen und großtönende Wirkungsversprechen. Dazu eigneten sich vor allem Novitäten, vermeintlich nie dagewesene Angebote. Die Preise waren meist relativ hoch, die Produkte in der Regel überteuert. Bei Asthmazigaretten hatte man es jedoch mit einem etablierten Heilmittel zu tun, das über Apotheken verkauft und in der Öffentlichkeit eher moderat erinnernd beworben wurde. Ein Preisbrecher wie die Bronchiol-Zigaretten hätte gewiss die ungewöhnliche Kombination von Tabak, Stechapfel und Cannabis Indica preisend hervorheben können. Doch es ist nachvollziehbar, dass man versuchte, seinen Hauptvorteil, den Preis, im bestehenden Netzwerk auszuspielen. Das war übersichtlich und handhabbar: 1899 gab es 5.391 Apotheken im Deutschen Reich (Vossische Zeitung 1899, Nr. 603 v. 24. November, 11). Sie sollten möglichst allesamt Bronchiol-Zigaretten mit der offizinellen Heilpflanze Cannabis Indica anbieten.

Wachsende Vertriebsnetze in Berlin (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 438 v. 19. September, 12 (l.); ebd., Nr. 496 v. 23. Oktober, 11)
Blicken wir erst einmal auf den Heimatmarkt Berlin. Der Vertrieb begann wenig überraschend mittels verschiedener Apotheken mit jüdischen Besitzern. Erste Anbieter waren die Apotheke zum König Salomo in der Charlottenstraße 54 und die Löwen-Apotheke in der Jerusalemerstraße 30 (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 193 v. 19. August, 4). Anfangs wurde noch die A. Lucae-Apotheke, Unter den Linden 53 genannt, die dann aber wieder absprang (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 183 v. 8. August, 4, nicht mehr vorhanden in ebd., Nr. 190 v. 16. August, 4). Man begann den Vertrieb also einerseits im jüdischen Berlin, anderseits in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH in Berlin 1901 (Stadtplan 1902: Wikipedia; auf Basis von Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1901, Nr. 3 v. 4. Januar, 10)
Anschließend folgte man einem räumlichen Raster, um den Weg für die Kunden möglichst gering zu halten. Die Werbung informierte durchweg über die lokalen Kaufmöglichkeiten. Das war typisch für ein Nischenprodukt, denn die für Massenangebote übliche Werbung durch Emailleschilder oder Schaufensterplatzierungen war Produkten mit höherem Umsatz vorbehalten.

Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH in Köln 1902 (Stadtplan 1900: Mayer via Wikipedia; auf Basis von Kölner Local-Anzeiger 1902, Nr. 71 v. 15. März, 3)
Das Absatznetzwerk war, wie die Lage der Apotheken selbst, räumlich vorgeprägt. In den Großstädten war es wichtig, nicht nur das Zentrum zu besetzen, sondern auch die Wohnviertel der einkommensstärkeren Bewohner abzudecken. Das gelang zumindest in den Metropolen. Ähnlich wie in Köln sah es in den meisten Großstädten des Deutschen Reiches aus. Dabei wurde dem massiven Städtewachstum durchaus Rechnung getragen. Neben die Kölner Apotheken traten etwa weitere drei Vertriebsorte im westlich gelegenen Köln-Ehrenfeld und im 1914 eingemeindeten Mülheim a. Rhein.

Erweitertes Netzwerk im Rheinland (Bonner Zeitung 1901, Nr. 123 v. 25. Mai, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1901, Nr. 374 v. 25. Mai, 4)
Die Großstädte waren zugleich Ausgangspunkte für die weitere Durchdringung der umliegenden Mittelstädte. Die Anzeigen verdeutlichen ein analoges Vorgehen wie in den Großstädten: In Bonn konnte man 1901 Bronchiol-Zigaretten in vier Apotheken kaufen, zudem im erst 1904 eingemeindeten Poppelsdorf. Ähnlich sah es in Aachen aus, denn hinter dem Hinweis auf „alle“ Apotheken der Stadt dürften sich wenig mehr Apotheken verborgen haben, mochte die aufstrebende Grenzstadt damals auch mehr als doppelt so viele Einwohner wie die spätere Bundeshauptstadt zählen.

Wachstum über Großhandels-Vertreter (Berichte der Deutschen Pharmaceutischen Gesellschaft: Berichte für 1901, Berlin 1903, Werbeanhang, s.p.)
Der Aufbau derartiger Vertriebsnetzwerke erfolgte dezentral. Die Bronchiol GmbH schloss dazu Verträge mit bestehenden Großhandelsfirmen ab, die ihnen exklusive Rechte für eine bestimmte Region gewährten, die ihnen aber zugleich die Aufgabe zuwiesen, regionale Netzwerke aufzubauen und zu pflegen. Die Bronchiol GmbH akzeptierte also die damals schon nicht mehr unumstrittene Lieferkette von Produktion über Großhandel hin zum Einzelhandel. Das bedeutete zugleich feste Handelsspannen, so dass die Gewinne niedriger waren als etwa bei einem Versandgeschäft. Dafür aber konnte man die Reputation lang ansässiger Unternehmen nutzen.

Großhandelsdepots der Bronchiol GmbH im Deutschen Reich und im Ausland 1903 (Karte: Wikipedia; auf Basis von Berichte, 1903, s.p.)
Mit Hilfe etablierter Absatzstrukturen für Pharmazeutika gelang es der Berliner Bronchiol GmbH ihre Asthmazigarette binnen nur eines Jahres in den meisten Regionen des Deutschen Reiches, im deutschsprachigen Raum und in westeuropäischen Staaten anzubieten. Das ist hervorzuheben, denn noch hatten die meisten Produkte regionale Schwerpunkte, war der einheitliche nationale Markt nur eine Zukunftsvision. Der Markenartikel Bronchiol war jedenfalls fast überall zu erhalten, denn viele Apotheken versandten ihrerseits an die auswärtige, insbesondere die ländliche Kundschaft. Das dürfte vornehmlich für den Nordosten und den Nordwesten gegolten haben, denn dort fehlten regionale Großhandelsvertreter. Möglich, dass Apotheken in diesen Gebieten auch direkt von der Berliner Zentrale beliefert wurden.
Die Bronchiol GmbH war ein kleines Unternehmen, Beschäftigten- und Umsatzzahlen liegen allerdings nicht vor. Es war zugleich aber ein multinationales Unternehmen, stand für die engen wirtschaftlichen Verflechtungen in der Hochzeit der ersten Globalisierung. Gleichwohl dürfte der Anteil der Auslandsmärkte am Gesamtumsatz überschaubar gewesen sein. Das zeigte sich schon im cisleithanischen Österreich. Die erste mir bekannte Anzeige erschien am 4. August 1900, also vor Beginn des geordneten Absatzes in Berlin: Darin hieß es anpreisend: „Anerkannt vorzüglich im Geschmack, die Athemnot lindernd, von Aerzten und hohen Persönlichkeiten wiederholt bezogen. Diese Asthma-Cigaretten Bronchiol nach dem Präparat des Dr. Abbot sind sehr beliebt und werden von der Bronchiol-Gesellschaft m.b.H. in Berlin, Mittelstrasse 23, versendet gegen Nachnahme oder vorherige Einsendung des Betrages“ (Neue Freie Presse 1900, Nr. 12912 v. 4. August, 13).

Werbung ohne Angaben zur Zusammensetzung (Wiener Caricaturen 20, 1900, Nr. 33 v. 12. August, 9 (l.); Österreichs Illustrierte Zeitung 13, 1903/04, H. 45, 907)
In Österreich war die rechtliche Lage schwierig. Zum einen mussten Ausländer eine Firmendependance gründen, um im Binnenmarkt direkt verkaufen zu können. Zum anderen waren die Behörden restriktiver als ihre deutschen Kollegen; der Import von Grimaults Indischen Zigaretten war dort seit Anfang der 1880er Jahre verboten. Zudem gab es in der k.u.k.-Monarchie bereits ein leistungsfähiges einheimisches Angebot. Die Apotheker-Dynastie von Trnkóczy bot seit den frühen 1880er Jahren cannabishaltige Asthmazigaretten an, die per Versandgeschäft und über Apotheken gekauft werden konnten. In der Habsburger Monarchie konnte man sie dort allerdings nicht direkt kaufen, sondern benötigte ein ärztliches Rezept (Pharmaceutische Post 29, 1896, 584). Entsprechend beließ es die Bronchiol-Gesellschaft bei Versandangeboten per Nachnahme oder Vorkasse in Mark.

Überlegener Marktführer: Anzeigen für Trnkóczy Asthmazigaretten (Fremden-Blatt 1899, Nr. 24 v. 25. März, 10 (l.); Innsbrucker Nachrichten 1881, Nr. 137 v. 20. Juni, 2128)
Auch in der Schweiz war die rechtliche Lage herausfordernd. Die Sanitätsbehörden waren kantonal organisiert, doch 1900 hatten sich die wichtigsten Kantone der Deutsch-Schweiz zur Kontrollstelle des Konkordats zur Bekämpfung des Geheimmittelwesens (und zum Schutz der einheimischen Pharmaindustrie) zusammengeschlossen (Der Bund 1909, Nr. 70 v. 11. Februar, 1). Ihre erste, 1901 vorgelegte Liste vom 15. April 1901 enthielt 611 Präparate, darunter auch die Bronchial-Zigaretten aus Berlin (Amtsblatt für den Kanton Zürich vom Jahre 1908, Zürich 1909, 307). Das bedeutete kein Verbot, wohl aber Werbeeinschränkungen. Das System von Positivlisten war allerdings höchst lückenhaft: Die Grimaults Indische Zigaretten oder aber die Asthma-Zigarillos des Frankfurter Apothekers Neumeier wurden durchaus beworben (Der Bund 1904, Nr. 77 v. 17. März, 5; Neue Zürcher Zeitung 1904, Nr. 15 v. 15. Januar, 3).

Sachliche Wiederholung gängiger Informationen und Versprechungen (Feuille d’Avis de Neuchatel 1902, Nr. 86 v. 16. April, 1 (l.); Journal du Jura 1902, Nr. 48 v. 26. Februar, 4)
Deutlich einfacher war der Absatz allerdings in der Romandie, also der französischsprachigen Westschweiz. Dort konnte für die cannabishaltigen Zigaretten geworben werden, und dort etablierten die beiden Schweizer Großhandelsdepots Absatznetzwerke wie im Deutschen Reich (L’Imperial 1902, Nr. 6536 v. 23. März, 12; La Tribune de Genève 1902, Nr. 114 v. 18. Mai, 2; La Liberté 1902, Nr. 142 v. 22. Juni, s.p.). Insgesamt dürfte sich die Absatzlage vor dem Ersten Weltkrieg jedoch weiter verschärft haben: In Zürich empfahl die lokale pharmazeutische Kontrollstelle 1911 ein Verbot der Berliner Medizinaljoints (Journal Suisse de Chimie et Pharmacie 49, 1911, 141)
Bronchiol-Zigaretten waren auch in den Niederlanden und in Großbritannien erhältlich, gewannen dort aber keine größere Bedeutung, auch wenn der Londoner Großhändler Newbery & Co. zu den führenden Anbietern von „Patent Medicine“ gehörte (Alan Mackintosh, The Patent Medicines Industry in late Georgian England: A Respectable Alternative to both Regular Medicine and Irregular Practice, Social History of Medicine 30, 2017, 22-47). In Frankreich, der eigentlichen Heimat der Asthmazigaretten, fand ich keine Hinweise auf Bronchiol. Dass das Präparat zeitgleich im Reichsland Elsass-Lothringen frei verfügbar war, unterstreicht aber nochmals die Bedeutung staatlicher Regulierung auch in den recht freien Gesundheitsmärkten dieser Zeit.

Notiz für Fachleute (Times 1902, Nr. 36782 v. 31. Mai, 19)
Die Werbung für Bronchiol-Zigaretten
Bronchiol war 1900 nicht nur ein neuartiges Präparat, sondern ein erster Markenartikel im Nischenmarkt der Asthmamittel. Während die Wettbewerber ihre Produkte meist nach dem Anbieter benannten, handelte es sich nun um einen abstrakter Begriff, der das Wirkungsfeld suggestiv benannte. Die Idee war einfach: Ähnlich wie Aspirin oder Odol, die tradierte Märkte für Schmerzmittel oder Mundwasser neu definierten und alte, nach Herstellern benannte Angebote vom Markt verdrängten, sollte auch die deutlich preiswertere und gleichwohl „unbedingt“ wirksame Bronchiol-Zigarette den Markt aufrollen und dominieren. Dies war Teil einer umfassenden Kommerzialisierung der Alltagssprache, die nun von zehntausenden neuer Begriffe und Sprachbilder mitgeprägt wurde: „Die moderne Reklame hat nun in großen Mengen zum Teil ganz merkwürdige Wort- und Bildzeichen erzeugt, wie Odol und Trybol, Carminol und Bronchiol, Javol und Floreol, Ni O ne und Wuk, Maggi zum Würzen der Suppen, Hundolin und Petrolina“ (Gebrauchsmuster und Warenbezeichnungen, Berliner Tageblatt 1904, Nr. 180 v. 9. April, 8). „Bronchiol“ war im Trend dieser Zeit: Fachbegriffe wurden in die Alltagssprache übertragen, gewannen als Markenartikel einen eigenen Charakter. Bronchiol war Teil des Siegeszuges neuartiger Endungen, wie -in, -on, -one, -ma, -en, -al, -ta, -il, -ol. Neue Produkte hießen nun Aspirin, Brillantine, Tropon, Kaloderma, Sanatogen, Duotal, Odonta, Pomeril, Odol oder eben Bronchiol (Richard Palleske, »Glühweinnol«. Eine neue sprachliche Modenarrheit, Zeitschrift des Allgemeinen Sprachvereins 18, 1903, Sp. 43-45; Ernst Wülfing, Hundolin und Petrolina […], Scranton Wochenblatt 1904, Nr. 1 v. 7. Januar, 6).
Bronchiol repräsentierte gleichermaßen den sprachlichen Wandel der pharmazeutischen Angebote und der Zigarettenindustrie. Das war auch Folge massiver Defizite des Rechtsschutzes. Noch galt das überholte Markenschutzgesetz von 1874, erst 1904 sollte das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen ermöglichen, neue Wortzeichen (neben Bildzeichen) einzutragen und damit zu schützen. In der Zigarettenbranche, zumal in Berlin, erlaubte das fröhliche Betrügerei. Geheime Druckereien entstanden, „welche sich lediglich mit der Anfertigung nachgemachten Cigarettenpapiers und falscher Etiketten befaßten“ (Gebrauchsmuster, 1904). „Bronchiol“ stand begrifflich also für Seriosität und Modernität, auch deshalb verwiesen die Anzeigen auf das von Heinrich Przedecki zuerst beantragte Bildzeichen Nr. 43751.

Karge Information mit Wirkungsversprechen (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 424 v. 11. September, 11 (l.); Badische Presse 1900, Nr. 241 v. 16. Oktober, 3)
Die Bronchiol GmbH konzentrierte ihre Werbemaßnahmen – anders als die Mehrzahl der Geheimmittelproduzenten – auf Anzeigen in Tageszeitungen. (Teurere) Annoncen in Zeitschriften gab es, doch sie blieben Ausnahmen (Illustrirte Zeitung 1900, Nr. 2980, 220). Die kleinen Hinweise finden sich meist im hinteren Anzeigenteil der Zeitungen, hoben sich von den vielfach visuell anspruchsvolleren Reklamen für andere Produkte kaum ab. In den nie bebilderten Anzeigen dominierten werblich drei Aspekte: Das Einsatzfeld – Asthma –, den Markennamen – Bronchiol – und die Herkunft – Berlin. Mit dieser Trias glaubten die Anbieter eine zurückhaltende Werbung mit Erfolg am Verkaufstresen der Apotheken verbinden zu können. Hinzu kam – die Anbieter waren liberale Verfechter des Deutschtums – der immer mit zu denkende nationale Gegensatz. Deutsche Pharmazeutika dominierten die Weltmärkte; und auch im Heimatmarkt sollte man tunlichst dem deutschen Präparat den Vorrang geben.
Die Anzeigenwerbung für die Medizinaljoints wurde von der Berliner Zentrale, von den Großhändlern, auch von einzelnen Apothekern in Auftrag gegeben, nicht aber selbst gestaltet. Diese Aufgabe übernahm eine Anzeigenagentur, im Regelfall die Annoncen-Expedition von Rudolf Mosse (1843-1920) – auch er ein aus Ostdeutschland nach Berlin gezogener jüdischer Pionierunternehmer. Sie erstellte nach den Wünschen der Auftraggeber eine Vorlage, ein Klischee – und der Setzer versuchte dann, dies passgenau in den Bleisatz einzufügen. Entsprechend gab es von Zeitung zu Zeitung kleine Unterschiede trotz einheitlich verwandter Klischees.
Die Einzelmotive variierten kaum: Selten standen Werbeversprechen am Kopf der Anzeige, wobei an die Stelle des anfangs üblichen „Erfolg unbedingt“ zunehmend der moderatere Hinweis „Erfolg ärztlich nachweisbar“ trat. Damit war aber keine stärkere Zurückhaltung verbunden, denn während man Bronchiol 1901 immer wieder als „Linderungsmittel“ anpries mutierte es 1902 vielfach zum „Heilmittel“ (Münchner Neueste Nachrichten 1901, Nr. 134 v. 21. März, 10; ebd. 1902, Nr. 91 v. 23. Februar, 11).

Leichte Variationen bei gleichartiger Grundstruktur (Dresdner Nachrichten 1901, Nr. 147 v. 29. Mai, 28 (l.); Straßburger Post 1900, Nr. 966 v. 13. November, 4)
Festzuhalten ist, dass die Bronchiol GmbH ihre Werbung ab Mitte 1902 reichsweit einstellte (in Sachsen zuletzt Dresdner Nachrichten 1902, Nr. 149 v. 1. Juni, 28, im Elsass Straßburger Post 1902, Nr. 390 v. 27. April, 7). Dies bedeutet nicht zwingend die Einschränkung des Geschäftes. Grimault beendete Annoncenwerbung im Deutschen Reich Mitte der 1880er Jahre, setzte sie Mitte der 1890er Jahre wieder gleichartig fort. Es ist eher davon auszugehen, dass Bronchiol-Zigaretten grundsätzlich eingeführt waren, dass man es nun den Apothekern überließ, das eigene Präparat weiter anzubieten. Zu bedenken ist, dass die Bronchiol GmbH nach dem Tode Heinrich Przedeckis ein Ein-Produkt-Unternehmen blieb. Forschung und Entwicklung wurden nicht betrieben, die Zigaretten wurden nach Rezept hergestellt und dann an die Großhändler versandt. Sinkende Kosten ließen die Gewinne auch bei sich langsam abschleifendem Absatz auf akzeptabler Höhe bleiben. Die Einstellung der Werbung war Ausdruck von Realismus: Der große Coup war nicht gelungen, Bronchiol-Zigaretten ein etabliertes Angebot neben anderen. Während andere Ein-Produkt-Unternehmen, etwa die Tropon- oder die Sanatogen-Werke, ihre Angebote ausdifferenzierten und sich weltweit etablierten, gelang dies der Bronchiol GmbH nicht.
Eine fragile Marktstruktur
Über die Gründe kann man mangels Quellen wiederum nur begründet mutmaßen. Erwähnenswert ist erstens ein sich langsam verschärfendes regulatives Umfeld. Die vor allem von Medizinern und Pharmazeuten getragen Proteste gegen die vermeintlich wachsende Zahl von Geheimmitteln und obskuren Spezialitäten ergab 1903 einen wichtigen symbolischen Erfolg, als der Bundesrat ein Werbeverbot für 90 Angebote erließ, darunter auch die Zematone Asthmazigaretten (Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 3. F. 26, 1903, 424-428, hier 425).

Zematone: Werbeverbot ab 1. Januar 1904 (Kölnische Zeitung 1899, Nr. 891 v. 12. November, 2)
Zweitens veränderte sich das steuerliche Umfeld. Asthmazigaretten wurden von den deutschen Zoll- und Steuerbehörden bei Gründung der Bronchiol GmbH nicht als Zigaretten, sondern als Heilmittel definiert (Gustav Müller, Die chemische Industrie in der deutschen Zoll- und Handelsgesetzgebung des neunzehnten Jahrhunderts, 1902, 224). Dies änderte sich 1906 mit der Einführung der Zigarettensteuer. Sie war eine indirekte, also beim Produzenten erhobene Verbrauchssteuer, Teil eines Gesamtpaketes zur Finanzierung des Flottenbaus. Die Frage, ob Asthmazigaretten Zigaretten im Sinne des Gesetzes waren, wurde parallel aufgerollt. Die Bronchiol GmbH, deren Gesundheitszigaretten ja auch Tabak enthielten, richteten 1906 eine Eingabe „betreffend der Steuerpflicht von Asthmazigaretten“ an den Bundesrat (Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reichs 1906, Berlin o.J., 526). Doch die Eingabe drang nicht durch. Während Asthmazigaretten ohne Tabak weiter als Heilmittel galten, war die Bronchiol-Zigarette doppelt betroffen (Wilhelm Cuno, Zigarettensteuergesetz vom 3. Juni 1906, Berlin 1906, 4). Zum einen stiegen die Einfuhrzölle für Tabak, zum anderen hatte die Berliner Firma nun Zigarettensteuer zu entrichten (Protokolle, o.J., 426). Angesichts der starren Verkaufspreise minderte dies die Gewinne der Bronchiol GmbH. Immerhin, die Exporte in die deutschen Kolonien blieben davon unbeeinträchtigt.

Exporte deutscher Asthmazigaretten in die Kolonien (Export 30, 1908, 529)
Drittens wuchsen nach der Jahrhundertwende die Zweifel an der medizinischen Wirksamkeit der Asthmazigaretten (Adolf von Strümpell, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, Leipzig 1904, 293). Während man zuvor Besorgnisse vor allem angesichts einer nur ungenauen Dosierung der potenziell toxischen Inhaltsstoffe hatte (Rudolf Kobert, Lehrbuch der Pharmakotherapie, Stuttgart 1897, 441), ergaben nun präzise Analysen des Rauches, dass die darin enthaltenen Mengen Atropin für kausale Effekte kaum ausreichend waren (F. Netolitzky und R. Hirn, Rauchversuche mit einigen Asthmamitteln, Wiener Klinische Wochenschrift 16, 1903, 584-585). Asthmazigaretten galten daher zunehmend als Mittel, „das entweder ausschließlich oder doch hauptsächlich suggestiv wirkt“ (Allgemeine Medizinische Central-Zeitung 80, 1911, 439). Weitere Studien ergaben demgegenüber, dass nur hartes Lungenrauchen einen kausalen Effekt habe (Gustav Günther, Darf man den Stramoniumzigaretten eine arzneiliche Wirkung zuschreiben?, Wiener klinische Wochenschrift 24, 1911, 748). In dieser Debatte spiegelte sich nicht nur das durch die Anwendung seinerzeit modischer Heilmittel wie Veronal oder Heroin gestiegene Bewusstsein für die Gesundheitsgefahren moderner Pharmazeutika, sondern auch der Wunsch nach einer kausalen, und das heißt stofflich nachweisbaren Wirkung der Asthmazigaretten. Rückfragende Hinweise, dass „doch den Pat[ienten, US] zu helfen erstes Gesetz bleibt“ (Excerpta Medica 16, 1906/07, 437) traten demgegenüber in den Hintergrund. Für die Bronchiol GmbH waren Zweifel an der Wirksamkeit ihres Präparates jedoch eine Bürde.
Viertens wurde die Marktstellung der Bronchiol-Zigaretten kurz nach der Jahrhundertwende durch neue, anders zusammengesetzte Präparate beeinträchtigt. Cannabis war ein unzuverlässiger Inhaltsstoff, seine Wirksamkeit schwankte, zumal über die Wirkstoffe wissenschaftlich trefflich gestritten wurde. Wichtiger aber war, dass es teurer war als andere Naturstoffe. Das galt insbesondere im Vergleich mit Stechapfelpräparaten. Dieses war Hauptbestandteil des wohl ab 1905 angebotenen Astmol. Das sowohl als Pulver als auch als Zigarette angebotene Präparat wurde von den Farbenfabriken Elberfeld (Bayer) produziert und der Frankfurter Engels-Apotheke vertrieben (Proceedings of the Annual Meeting of the New York State Pharmaceutical Association 27, 1905, 103; Pharmazeutische Praxis 4, 1905, 81). Später übernahm das Frankfurter Pharmaunternehmen Galenus diese Aufgaben.

Astmol gegen die „peinliche Krankheit“ Asthma (Simplicissimus 13, 1908/09, 612 (l.); Badische Presse 1924, Nr. 394 v. 24. Oktober, 11)
Astmol war eine mit Menthol aromatisierte Mischung aus Stechapfel (40 %), Grindelie, Blutmohn und Lärchenschwamm (je 10 %) (Hahn und Holfert, 1906, 15; Leipziger Tageblatt 1907, Nr. 306 v. 4. November, 7). Das apothekenpflichtige Medikament wurde entweder als Pulver in Blechdosen oder aber in Zigaretten eingerollt vertrieben, beide für 2,50 M pro Dose resp. Schachtel. Während die Zigaretten einfach auf Lunge geraucht wurden, hatte man das Pulver teelöffelweise auf einen Teller zu legen, dann anzuzünden und den Dampf tief einzuatmen. Husten war die Folge, dann Auswurf, schließlich – so das Versprechen – Erleichterung (Sport im Bild 29, 1923, 512). Die in Zeitungen und Zeitschriften geschaltete Werbung präsentierte das „wunderwirkende“ (Deutsches Südmährerblatt 1906, Nr. 1 v. 5. Januar, 3) Astmol anfangs als ein „absolut zuverlässiges Mittel […], welches nicht nur die Anfälle sofort beseitigt und diesselben verhütet, sondern auch in vielen Fällen diesen Zustand vollständig beseitigt“ (Kindergarderobe 15, 1908, H. 12, 24).

Asthmazigaretten als Atemgarant (C.V.-Zeitung 9, 1930, 113 (l.); Badische Presse 1931, Nr. 540 v. 19. November, 12)
Als Pharmazeutikum war Astmol ein Übergangspräparat. An die Stelle des im Bronchiol aktiv beworbenen indischen Hanfs traten billigere, in ihrer Wirksamkeit kausal besser abschätzbare Inhaltsstoffe. An die Stelle kleiner Spezialanbieter traten mittlere und größere Pharmaunternehmen. Die Präparate aus „Naturstoffen“ wurden seit den 1920er Jahren jedoch zunehmend durch synthetische Arzneimittel auf Ephedrin- oder Theophyllinbasis verdrängt.
Nachklang: Bronchiol gegen Erkältung
Während die Asthmatherapie in den 1920er Jahren neue Wege ging, wurde 1922 auch wieder Bronchiol angeboten. Dieses Mal handelte es sich allerdings nicht um eine cannabishaltige Zigarette, sondern um ein Husten- und Erkältungsmittel (Klinische Wochenschrift 1, 1922). Das Produkt verging, der Name blieb. Das Warenzeichen „Bronchiol“ wurde am 27. Dezember 1922 der Westfälischen Essenzen-Fabrik GmbH in Dortmund erteilt (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 16 v. 19. Januar, 19). Sie vermarktete das zu zwei Dritteln aus karamellisiertem Zuckersirup bestehende „Hustenpräparat“ als Alltagswaffe, setzte als Wirkstoff dabei auf Kaliumsulfogusjakolat (Badische Presse 1927, Nr. 77 v. 16. Februar, 8). Die Werbung war breit gefächert, richtete sich etwa an „Touristen, Sänger, Redner, Raucher, Sportler sowie alle, die beruflich viel sprechen müssen“ (Badische Presse 1926, Nr. 558 v. 1. Dezember, 8). Es wurde als „erfrischend, angenehm lösend und Hustenreiz stillend“ angepriesen (ebd.), als „das altbewährte, führende deutsche Vorbeugungsmittel gegen alle Erkrankungen der Atmungsorgane“ (Badische Presse 1926, Nr. 582 v. 15. Dezember, 8). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg half es gegen Husten, Heiserkeit und Katarrh.

Bronchiol als Hilfsmittel gegen Husten und Erkältung (Badische Neueste Nachrichten 1950, Nr. 213 v. 21. Oktober, 12 (l.); ebd., Nr. 219 v. 28. Oktober, 16)
Das Präparat ist heute nicht mehr lieferbar. Doch auf Bronchiol müssen Sie nicht verzichten. Bronchiol, das ist heutzutage der Name eines Gummibonbons mit japanischem Minzöl, angeboten vom Süßwarenhersteller Haribo. Anfangs mit Stevia gesüßt, dominieren heute Glukosesirup und Zucker die „gesunden“ Drops. Wer von den Käufern heute noch weiß, was ehedem mit Bronchiol verbunden war?
Mehr als Joints im kaiserlichen Berlin?
Wir sind am Ende unserer vielgestaltigen Mutmaßungen über ein kleines, kurzlebiges multinationales Unternehmen ohne Quellenüberlieferung. Man kann die Geschichte aus heutiger Sicht überrascht zur Kenntnis nehmen, dokumentiert sie doch einen pragmatisch rationalen Umgang mit Stoffen, die heutzutage wohlbegründet als „Drogen“ gelten, aller „Liberalisierung“ des Cannabis zum Trotz.
Als Unternehmen war die Bronchiol GmbH nicht außergewöhnlich. Und doch ist es im Rückblick spannend zu sehen, wie einige wenige Personen binnen nur eines Jahres ohne größeres Kapital eine im gesamten Deutschen Reich und auch im Ausland tätige Firma haben ins Rollen bringen können. Das Kaiserreich war eine Zeit des unternehmerischen Aufbruchs, des wirtschaftlichen Fortschritts, die Rahmenbedingungen aufwies, die Begüterten beträchtliche Chancen bot. Gleichwohl zeigt die Geschichte der Bronchiol GmbH auch ein langsames Erodieren dieser Grundlagen, sei es durch zunehmende Regulierung, sei durch einen expandierenden Steuerstaat. Sie zeigt aber auch, dass es sich um eine harte Wettbewerbslandschaft handelte, in der neue Produkte eine geringe Halbwertszeit hatten, in dem Preisdruck herrschte, in der weniger wirksame Produkte aus dem Markt verdrängt wurden. Dergestalt zeigt die Geschichte der Bronchiol GmbH den liberalen Kapitalismus mit all seinen Möglichkeiten – mochte die Kartellbewegung, die Bürokratisierung und strikten Klassengegensätze dieser Zeit auch die Grenzen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell klar konturieren.
Sozialgeschichtlich spiegelt die Geschichte der Bronchiol GmbH einerseits die bürgerliche Aufwärtsmobilität des späten Kaiserreichs: Eine erst 1871 mit umfassenden Bürgerrechten versehene jüdischen Minderheit nutzte die Chancen des eben nicht nur anonymen Marktes. Mit Hilfe enger ethnischer und auch persönlicher Netzwerke etablierten sie ein lukratives Geschäft, das in der eigenen, durchaus weit gefassten Klasse blieb. Gleichwohl geben die Biographien der Geschäftsführer auch einen Blick auf die Brüche innerhalb dieses Aufstiegsmilieus frei. Die Fallhöhe war tief, Konkurse möglich, Ausbrechen aus vorgegebenen Bahnen hatte seinen Preis.
Konsumhistorisch steht die Bronchiol GmbH für tiefgreifende Wandlungen vor dem Ersten Weltkrieg, vor dem immer wieder beschworenen Bruch in der Weimarer Republik. Die cannabishaltigen Asthmazigaretten stehen für eine beträchtliche Ausweitung des Güterangebotes, für dessen relative Verbilligung – aber auch für die hohen Kosten der an sich jedem Asthmatiker zustehenden Gesundheitsprodukte. Bronchiol stand für den immer mächtigeren Einfluss breit bekannter Markenartikel und nationaler, ja internationaler Absatzstrukturen. Die Produkte der Bronchiol GmbH waren nicht mehr durch Herkunft gekennzeichnet, Berlin war Produktionsort, Vermengungsort international eingekaufter Rohware. Doch Bronchiol stand zugleich für die Leistungsfähigkeit der deutscher Pharmazeutika, war Ausdruck der zunehmend beliebigen Projektionskraft moderner Konsumgüter. Es etablierte eine Kunstwelt des Gelingens, in der Leiden bekämpft werden konnte, kein Schicksal mehr war. Bronchiol-Zigaretten waren moderne Produkte, mag uns die Werbung auch zurückhaltend, ja hausbacken erscheinen.
Als Medikament verkörperten die Medizinaljoints nichts Neues. Sie materialisierten das immanente Erlösungs- und Heilversprechen der modernen Pharmazie, der modernen Medizin: Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen, es muss nur noch gefunden und richtig angewandt werden, um erst Linderung, dann aber auch Heilung zu garantieren. Die Asthmazigaretten waren eingebettet in ein Leben steter Gefährdung, waren zugleich noch Teil einer tätigen Praxis des Dagegenhaltens, der bewussten Wahl für eine von vielen Therapien. Die Bronchiol-Zigaretten waren ein Angebot in einer Übergangszeit hin zu wirksameren Pharmazeutika, die ihre Nutzung scheinbar selbst programmierten. Sie stehen für den Wandel von der Patienten- zur Medikamentensouveränität, von der begrenzten Autonomie der (bürgerlichen) Patienten hin zur Dominanz der Pharmazeuten, der Ärzte und ihrer Produkte.
Als Teil einer moderner Wissensgeschichte ging es schließlich um die Dominanz unterschiedlicher Wissensregime: Die Bronchiol-Mischung aus Tabak, Stechapfel und Cannabis Indica war krampflösend und wirksam, doch ihre Wirkung war ungewiss, variierte individuell, konnte experimentell kaum eindeutig bestätigt werden. An die Stelle helfender, nicht aber eindeutig erklärbarer Angebote traten zunehmend Produkte mit stofflich-kausalen Wirkmechanismen, die im Modell sicher funktionierten, vielfach auch in der Praxis. Cannabis Indica war in diesem Umfeld ein unsicheres Kraut, verschwand daher vor dem begrenzten Verbot 1929 aus dem Alltagsangebot relevanter Hilfsmittel. Ob aber eine „Liberalisierung“, die auf den gleichen stofflich-pharmakologischen Wissensbeständen (und dem ökonomischen Gewinnstreben eines Heinrich Przedecki) beruht wie die Pharmazie, vorrangig das Wohl der Patienten im Blick hat, mag füglich bezweifelt werden.
Uwe Spiekermann, 14. Mai 2022