Wie die Makkaroni deutsch wurden – Eine Skizze, 1800-1930

Seit mindestens 250 Jahren fabulieren gelehrte Geister über nationale Küchen, klar definierbar, klar abgrenzbar: „Der Deutsche, der Britte, der Franzose, der Spanier, der Italiener, ein jeder hat seine Lieblingsspeisen, die man mit größtem Rechte Nationalschüsseln nennen könnte. […] Der Deutsche zumal mit seinem unwiderstehlichen Hange, sich in allem nach seinen Nachbarn umformen zu wollen, gehet hierin am weitesten, und scheint nicht selten seine Gastmahle für alle Nationen aufgetischet zu haben“ (Das Wohlleben der Alten, bis auf die Zeiten der Römer, Allgemeines Intelligenz- oder Wochenblatt für sämtliche Hochfürstlich Badische Lande 1779, Nr. 2 v. 14. Januar, 2-3, hier 3). Der Deutsche langte demnach zu, labte sich am britischen Roastbeef, den französischen Ragouts, kostete die spanische Olla podrida und auch die Lieblingsspeise der Italiener, die Makkaroni (Ch[ristian] F[riedrich] v. Bonin, Hofmeister Amor, s.l. s.a. [1785], 82; Der baierische Landbote 1790, Nr. 40, 2; allgemeiner und unspezifischer: Silvano Serventi und Francoise Sabban, Pasta: The Story of a Universal Food, New York 2002; Kantha Shelke, Pasta and Noodles. A Global History, London 2016; Massimo Montanari, A Short History of Spaghetti with Tomato Sauce, s.l. 2021).

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Makkaroni im späten 18. Jahrhundert (Friederike Luise Löffler, Neues Kochbuch […], Stuttgart 1791, 139)

In der Tat: Makkaroni-Rezepte finden sich im späten 18. Jahrhundert in weit verbreiteten Kochbüchern der Hof-, dann auch der bürgerlichen Küche (Peter Neubauer, Wienerisches Kochbuch, Wien 1791, 408-409). Eine Nudel stand symbolisch für das Ganze, obwohl es sich bei Italien keineswegs um eine Nation, sondern ein Flickenwerk regionaler Herrschaften handelte, zerfranst an den heutigen Grenzen, Teil anderer Reiche. Die Küchen Italiens waren vielgestaltig und kontrastreich – ähnlich wie die der deutschen Lande. Die Makkaroni, das wusste um 1800 der Gebildete, war eine Speise des Südens, zumal der Gegend um Neapel. Man kannte sie im Norden auch deshalb, weil die spanischen Bourbonen dort herrschten, Teil des europäischen Hochadels, eng verbunden auch mit den Habsburgern. Hinzu kam die antike, die römische Tradition, kamen der Vesuv und Herculaneum, Pompeji und Goethes Italienreise.

Ein Jahrhundert später war das radikal anders – zumindest aus Sicht derer nördlich der Alpen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren die Makkaroni deutsch geworden, eine Hohlnudel, teils aus Hartweizen, teils aber auch mit Eiern produziert – und zwar von surrenden Maschinen, ohne die im Süden zuvor bewunderte Handarbeit. Mit dem italienischen Ursprung wurde weiter werbeträchtig kokettiert, doch nur um zu unterstreichen, dass deutsche Makkaroni besser seien als die des Ursprungslandes. Gilt dies, so stellen sich viele Fragen neu, die in der Forschung so gerne auf das 20. Jahrhundert, meist gar auf die 1950er Jahre projiziert werden. Regionale und nationale Zuschreibungen von Lebensmitteln und Speisen bedürfen einer auch langfristigen historischen Perspektive, will man nicht im freudigen Erinnerungshorizont der wortmächtigen Großelterngeneration verharren.

Makkaroni und Neapel: Unbeschwertes Leben (und Essen) im Süden

Makkaroni symbolisierten im frühen 19. Jahrhundert die Fremdheit und den Lockreiz der italienischen Küchen. Ihre Anfänge reichen zurück bis in die frühe Neuzeit, die Sprache der Teigwaren bis in die Antike: Pasta stammt aus dem Griechischen, Lasagne aus dem Lateinischen (Makkaroni auf italienische Art, Damals 26, 1994, Nr. 9, 54). Der für die Makkaroni konstitutive Hartweizen wurde von Arabern eingeführt, die das zuvor byzantinische Sizilien im 9. Jahrhundert eroberten. Im Hochmittelalter noch verspotteten die Neapolitaner die Sizilianer als „Makkaronifresser“ (Ebd.). Später aber übernahmen sie die Teigwaren, konnte die Handelsstadt doch die regionale Hartweizenproduktion durch Importe aus der Levante, aus Nordafrika und der Schwarzmeerregion (Taganrog-Weizen) ganz wesentlich erweitern (Franz Schindler, Der Getreidebau auf wissenschaftlicher und praktischer Grundlage, Berlin 1909, 147). Im 19. Jahrhundert verbreiterte sich die Rohstoffgrundlage durch frühe Züchtungsforschung, einerseits durch den russischen Kubanweizen, anderseits durch den später vordringenden „Maccaroni-Weizen“ in den USA wesentlich (Maccaroni-Weizen, Bukowinaer Landwirtschaftlicher Blätter 7, 1903, Nr. 20, 153).

Derartige Entwicklungen standen nicht im Blickfeld der seit dem späten 18. Jahrhundert immer zahlreicheren Besucher von Stadt und Königreich Neapel, die dort nicht nur die antiken Stätten und Capri besuchen wollten, sondern im Nachzug Goethes eine Art Paradies zu finden hofften, in dem die Menschen in „einer Art von trunkner Selbstvergessenheit“ (Goethe’s Werke, T. 24: Italiänische Reise, hg. v. Heinrich Düntzer, Berlin 1828, 827 [1787 geschrieben, US]) lebten. Und sie fanden, was sie finden wollten: „Maccaroni seh‘ ich dampfen; / In der Pfanne schmort der Fisch; / Durch die Straßen, auf den Plätzen / Ist gedeckt ein ew’ger Tisch“ (Neapel, in: Karl August Mayer, Neapel und die Neapolitaner oder Briefe aus Neapel in die Heimat, Bd. 1, Oldenburg 1840, 246-248, hier 248; auch in Amalie Winter, Die kleinen Lazzaroni von Neapel, 2. Aufl., Berlin 1846, 141).

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Makkaronistand in Neapel (Das Pfennig-Magazin 1, 1833/34, 297)

Reiseberichte geben keine getreuen Abbilder des Alltagslebens. Stattdessen finden wir in ihnen Spiegelungen des Selbst, Bilder des gesuchten und gewollten Fremden: „Denn beschrieben wird vor allem das, was als andersartig, als ‚exotisch‘ empfunden wird, was dem Schreibenden als nicht zu seiner eigenen Lebenswelt, zu seiner Identität zugehörig erscheint“ (Ulrike Thoms, Sehnsucht nach dem guten Leben. Italienische Küche in Deutschland, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Essen und Trinken in der Moderne, Münster et al. 2006, 23-61, hier 25).

Am Anfang standen zumeist Beschreibungen einer andersartigen auf Weizen basierenden Esskultur – und das zu einer Zeit als die Getreidefixiertheit der deutschen Kost durch den zunehmenden Anbau von Kartoffeln in Mittel-, Nord- und Ostdeutschland abnahm: „Neapel und Genua sind die beiden Städte, wo alle Arten von Nudeln und Maccaroni in großer Menge verfertiget werden, weil sie eine Hauptspeise in ganz Italien sind. Genua ist mehr der kleinen Nudeln und Neapel wegen der großen, oder sogenannten Maccaroni, berühmt. Man nimmt eine Art Getreide (saragolla), vermuthlich Spelt, dazu, welches sehr harte Körner hat, röthliches Mehl und teigichtes oder festes Brot giebt“ (Neapel und die Lazzaroni, Frankfurt a.M. und Leipzig 1799, 45). „Die Größe der Nudeln hängt von dem Durchmesser dieser Löcher ab, und sie bekommen davon ihre verschiedenen Namen und Figuren. Es giebt über dreißig verschiedenen Sorten; die feinsten heißen: Permicelli, Fedelini, Sementelle, Punte d’Aghi, Stelluce, Stellette, Ochi di parnici, Acini di pepe; die größeren: Maccaroni, Trenete, Lazagnette, Pater noster, Ricci die Foretana u.s.w.“ (Ebd., 46). Derartige Sachbeschreibungen gingen stetig über in die Deutung der Einheimischen: „Der gemeine Mann in Neapel nährt sich halb von Maccaroni, daher eine unglaubliche Menge davon verzehrt wird. Sie können nicht ohne Maccaroni leben, und daher ist es kein Wunder, wenn der Spaß des Harlekins in der italiaenischen Komoedie, und zumal in Neapel, so oft auf Maccaronen hinausläuft“ (Ebd., 47). Spaß, Alltagsfreuden, Leichtigkeit, eingebettet in eine üppige Natur, umrahmt von ertragreicher Landwirtschaft und ergiebigen Fischgründen. Wer wollte da nicht jauchzen, denn „singen müssen wir alle von der Nation lernen, die die Natur zur singenden schuf, und die ohne Gesang so wenig leben kann, als ohne Makkaroni“ (Allgemeine Musikalische Zeitung 6, 1803, 143).

Die Reisenden betrachteten die Einheimischen als Naturkinder, Makkaroni erschienen als Substitut des göttlichen Manna. Das ist bemerkenswert, war Neapel 1800 mit seinen 430.000 Einwohnern doch die drittgrößte Stadt Europas, beherbergte mehr Einwohner als Wien und Berlin zusammen. Entsprechend blickten Besucher vor allem auf die städtischen Unterschichten, deren Ort- und Wohnlosigkeit ihnen als Ausdruck der Lebenslust im vermeintlich warmen Süden galt – die Reisen erfolgten ja meist nicht von Dezember bis März, wenn die Ortstemperaturen nur wenig über 10° C lagen. Die Makkaroni wurden als solche beschrieben und bewundert, insbesondere ob ihrer Formenvielfalt. Bei der anfangs liebevollen Schilderung stand das barocke Realienkabinett nicht fern (Reise-Skizzen aus Italien. Die Toledostraße in Neapel (Fortsetzung.), Wiener Zeitschrift für Kunst, Theater und Mode 22, 1837, 741-743, hier 742). Wichtiger aber als der Unterschied zu Klößen, Broten und Kartoffeln war die Präsentation der Einheimischen beim Mahl bzw. beim Verschlingen: „Es ist unglaublich, auf welch eine unanständige Art diese Maccaroni gegessen werden, sowohl an table d‘hote, als auch in Familien und bei Gastmahlen. Man legt zuerst einen aufgehäuften Teller davon vor, worüber man in Deutschland erstaunen würde, und auch in Neapel muß man es für das einzige zu erwartende Gericht halten; so groß sind die Portionen. Der echte Neapolitaner wikkelt sich dann dies mehr als ellenlange Gewürm um seine Gabel, neigt den Kopf über den Teller, füllt den Mund mit dem einen Ende der Maccaroni an, und zieht das übrige, ohne Hülfe der Gabel, immer nach, so daß, wenn nun der erste Bissen genommen ist, die andern von selber folgen. Es muß sehr oft der Fall seyn, daß das eine Ende noch auf dem Teller ist, wenn das andere schon den Magen erreicht hat. Der gemeine Mann braucht dazu überdies keine Gabel, sondern er bedient sich der Finger“ (C[arl] F[riedrich] Benkowitz, Das italienische Kabinet oder Merkwürdigkeiten aus Rom und Neapel, Leipzig 1804, 93-100, hier 94-95). Das berühmte Gericht der Italiener, diese Hauptspeise der Nation (Ebd., 93) konnte in Neapel offen studiert werden, zumal es nach Auskunft der Besucher auch die recht sparsame Tafel der Reichen prägte: „Etwas Fleisch und Fisch kommt noch hinzu, und einige Früchte – und das ist das Gewöhnliche“ (P[hilipp] J[oseph] Rehfues, Gemählde von Neapel und seinen Umgebungen, T. 1, Zürich 1808, 78). Immerhin, die höheren Schichten benutzten durchweg eine Gabel, mochte die Schüssel mit den Makkaroni auch die Tischgemeinschaft aller verkörpern (Justus Tommasini [d.i. Johannes Heinrich Christoph Westphal], Spatziergang durch Kalabrien und Apulien, Konstanz 1828, 144). Hierin spiegelte sich die Auseinandersetzung um die gemeinsame Schüssel bei deutschen Bauern und Landarbeitern, die Bürger durch eine stärker individuelle Tischkultur mit Schüsseln für die einzelnen Gerichte, Tellern und Besteck ersetzten.

Makkaroni waren in diesen Berichten ein Sammelbegriff, der zwar immer wieder aufgefächert wurde, letztlich aber nur Anlass war, um Lokalkolorit nachzuzeichnen, farbige Bilder anderer Menschen, anderer Essgewohnheiten darzustellen. Diese waren öffentlich, erfolgten in der gedrängten Dichte einer Großstadt: „Eine Schar von Lazzaroni, Fachini, Marinari etc. umlagert einen ungeheuren Kessel, in dem die Lieblingsspeise der Italiener, die Maccaroni, bereitet werden. Die Gäste nähern sich mit ihren Schüsseln, der Verkäufer streicht von einem quer über den Kessel liegenden hölzernen Stabe die schon fertigen Maccaroni in die Schüsseln, giebt etwas Brühe darauf, und streut geriebenen Käs dazu“ (Der Bayer’sche Landbote 6, 1830, 601; ähnlich Die neapolitianischen Maccaroniesser, Das Pfennig-Magazin 1, 1833/34, 297-299; Die Maccaroni in Neapel, Echo 2, 1834, 43-44). Aus dem Verzehr einer Alltagsspeise wurde eine Lust, bei der die Wirte als Zeremonienmeister agierten, auf deren Kesselspeise die Gäste sehnsüchtig warteten, die sie dann gleich Ambrosia genüsslich schlürften (Die religiösen Feste der Neapolitaner. 2. Das Fest der Madonna dell‘ Arco. (Schluß.), Das Ausland 7, 1834, 710-712, hier 711). Die Besucher konzentrierten sich aber nicht nur auf Speisen und Ambiente. Auch die Menschen selbst versuchten sie einzufangen, allerdings klischeehaft fremd: Die „weißen Schlangen“ verspeiste dann ein „braungebrannter Mann mit starkem Barte“ (Reise-Skizzen, 1837, 742), immer umgeben von Kindern, seltener von Frauen.

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Präsentation und Rückfrage: Spottblatt auf die Makkaroni, ca. 1850 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg HB 21034/1231)

All das war nicht mehr edle Einfalt, stille Größe. Geschildert wurde ein Leben ohne überbürdende Bedürfnisse, ohne Aufbegehren. Die italienischen Makkaroniesser warteten geduldig auf eine zugeworfene Münze, auf den kargen Ertrag einer Gelegenheitsarbeit (Neapel und die Neapolitaner. […], in: Meyer’s Volksbibliothek für Länder-, Völker- und Naturkunde, Bd. 48, Hildburghausen und New York o.J., 122-151, hier 137-140; Rapsodie eines Neapolitaners, Echo 3, 1835, 524; Reise- und Lebensbilder, (Fortsetzung.), Morgenblatt für gebildete Leser 33, 1839, 246-247; Maccheroni. E[duard] M[aria] Oettinger, Onkel Zebra. Memoiren eines Epicuräers, T. 3, Leipzig 1842, 277-280). Halbnackt und lumpengewandet erschienen die Neapolitaner, doch immer wieder unglaublich zufrieden (Donau-Zeitung 1847, Nr. 179 v. 1. Juli, 2). Damit ignorierte man natürlich die revolutionären Traditionen vor Ort, die Parthenopäische Republik von 1799. Und man unterschätzte das soziale Konfliktpotenzial im Königreich, das sich 1848/49 und 1860 in verschiedenen Volksaufständen niederschlug. Guiseppe Garibaldis (1807-1882) Vormarsch im zweiten Unabhängigkeitskrieg, an dessen Ende 1861 das Königreich Italien entstand, wurde dadurch begünstigt.

Makkaroni aber wurden schon zuvor als Nationalspeise beschrieben, waren ein einigendes Band während des Risorgimento: „‚Maccaroni!‘ Lieber Gott, was läßt sich bei diesen vier Sylben nicht alles denken! Welche Thaten haben zahllose Tausende, es hörend, im Geiste schon vollbracht!“ (Genrebilder aus dem neapolitanischen Volksleben. II. Maccaroni, Der Sammler 15, 1846, 289-291, hier 290). Auch das war ein Gegenentwurf zum nicht geeinigten Deutschland: „‚Grützwurst‘ mag für den Haisewenden ein melodisch klingendes Wert seyn, wenn er hungrig vom Felde heimkehrt; ‚Sauerkraut und Schweinefleisch‘ essen Schlesier und Lausitzer mit anerkennender Ausdauer und meine aufopfernden Hingebung, die einer besseren Sache werth wäre; bei ‚Schweineknöchelchen und Klößen‘ kann der eingefleischte Leipziger eben so leicht zum Schwärmer werden, als der Hamburger bei seiner ‚Rothen Grütze‘; in Gefahr und Tod, zu Kampf und Sieg lockt sie damit kein Mensch und kein Gott.“ (Friedrich Heinzelmann, Die Weltkunde […] auf Grund des Reisewerkes von Dr. Wilhelm Harnisch, Bd. 9, Leipzig 1852, 287-290, hier 288). Der deutschen Bürger Schilderung der Makkaronikultur ergötzte sich an der Leichtlebigkeit der Neapolitaner und Italiener, bewunderte ihren zielgerichteten Heißhunger. Doch sie taugten nur als Sehnsucht, nicht als Vorbild: „Bei uns legt eine rauhere Natur uns die Pflicht auf, ängstlich für unser Dach und Fach zu sorgen, uns zu schützen, und auf den Kampf mit feindlichen Elementen vorzubereiten. Die Erde schenkt uns nichts; wir müssen ihre Gaben ihr abringen. Der Winter nöthigt uns, den Körper zu wahren. Alles ringsum mahnt uns, die Hände nie in den Schooß zu legen. Alles treibt und spornt uns zu steter, rastloser Arbeit. Das Leben im Norden ist ein Kämpfen. Im Süden ist es ein Genießen“ (Bilder aus Neapel, Neue Illustrirte Zeitung 1875, Nr. 14, 10).

Gewiss, die Besucher wussten vielfach um den fiktionalen Gehalt ihrer Berichte. Selbst im Süden konnte der Besuch einer alten Makkaroni-Verkäuferin literarische Phantasien jäh zerplatzen lassen (M.G. Saphir, Die unterbrochene Phantasie. Eine burleske Skizze, Der deutsche Horizont 2, 1832, Sp. 1627-1629, hier 1629). Das rechte Menschentum war nordisch, die dortigen Gebräuche zielführend – so der immer auch auf Deutsch schreibende dänische Romantiker Adam Gottlob Oehlenschläger (1779-1850): „Ich bin der Maccaroni überdrüssig, / Mag sie nicht länger essen“ (Dramatische Dichtungen, T. 2, Hamburg 1835, 51) hieß es in seinem Stück Die italienischen Räuber: „Fleisch muß ich essen; – denn der Mensch, das ist / Ein Carnifex, wie die Gelehrten sagen; / ‚S ist ein gebornes Raubthier, wie man’s an / Den Zähnen sehen kann, / das sich durchaus nicht / Mit Maccaroni nur abspeisen läßt“ (Ebd., 52). In den Reiseberichten dieser Zeit tönte auch schon Ambivalentes an, die vermeintlich fehlende Treue des Neapolitaners, sein Hang zum Verrat (Die Maccaroni-Esser in Neapel, Augsburger Anzeigblatt 1847, Nr. 354 v. 26. Dezember, 7-8, hier 8). Aller Begeisterung über das Makkaronifestival auf den Straßen zum Trotz, wollte man sich doch darüber erheben, roch es dort und auch in den Häusern doch stets nach Käse, stach die „Unreinlichkeit“ negativ hervor. Wohltuend, dass wenigstens im Haus des Herrn von Rothschild „der Maccaroni-Geruch nicht über die Schwelle des Eßzimmers“ drang (Italien und die Italiener. (Schluß.), Münchener Unterhaltungsblatt 1840, Sp. 399-400, auch für das erste Zitat).

Kulinarische Akkulturation: Makkaroni in den deutschen Küchen

Die Reisebeschreibungen begleiteten die langsame Akkulturation der italienischen Nationalspeise in die deutschen Küchen. Im späten 18. Jahrhundert wussten Kochkundige bereits Bescheid, mochte die Begeisterung am heimischen Herd auch geringer ausfallen als in den Gassen Neapels: „Maccaroni, sind eine Art italienischer getrockneter Nudeln, welche man zu Mehlspeisen und Suppen gebrauchet“ (Neues Kochbuch, Gotha 1797, 330).

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Makkaroni als Speise aus der Fremde (Maria Klara Messenbeck, Baier‘sches Kochbuch, Augsburg und Regensburg 1810, 319-320)

Analysiert man Kochbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so tauchen Makkaroni anfangs nur vereinzelt auf. Die Autorinnen machten ihre Leserinnen mit der südlichen Speise grundsätzlich bekannt, präsentierten sie im Umfeld der im Süden Deutschlands wohlbekannten Mehlspeisenküche. Festzuhalten ist, das Nudeln bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorrangig in Bayern, Baden, Württemberg und dem Elsass gegessen wurden. Noch 1927/28 wurden dort fünfeinhalbmal mehr Nudeln verzehrt als in Ostpreußen oder Schlesien (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialge­schichte. Räume und Struk­turen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jür­gen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.), Es­sen und kulturelle Identi­tät, Berlin 1997, 247-282, hier 252-253).

Es ging in den Rezepten auch nicht um original neapolitanische resp. italienische Speisen, die Würzung mit „Zimt“ im oben angeführten Rezept macht das deutlich. Makkaroni galten damals nicht als volle Mahlzeit, als Hauptgericht. Sie hatten sich einzuordnen, etwa in eine Schinkenspeise, zumeist aber als Suppeneinlage (S[ophie] J[uliane] W[eiler], Augsburgisches Kochbuch, 2. verm. u. verb. Aufl., Augsburg 1788, 377 (Schinkenspeis); identisch in der 11., 20. und 21. Auflage 1810, 1836 und 1836; als Suppeneinlage dann ab der 25. Aufl. 1860, 353). Man darf diese Rezepte auch nicht überschätzen, denn häuslich zubereitete Makkaroni waren (anders als bei einfachen Nudeln) Ausnahmen. Viele Kochbücher erwähnten sie nicht (Ernst Meyfeld und Johann Georg Enners, Hannoverisches Kochbuch, Bd. 1, Hannover 1792; [Theodor] v. Hallberg, Deutsches Kochbuch, 2. Aufl., T. 2, Düsseldorf 1819; Neuvermehrtes Kochbuch, neue ganz umgearb. Aufl., Nürnberg 1831; Gründliches Kochbuch, 7. Aufl., München 1835; Margaretha Elisabetha Klotsch, Praktisches Kochbuch, 4. verb. u. verm. Aufl., Nürnberg 1835; Neuestes vollständiges Kochbuch für alle Stände, 2. verb. u. verm. Aufl., Nürnberg 1841). Ansonsten findet man bis zur Jahrhundertmitte nur wenige Rezepte (Maria Katharina Daisenberger, Bayer’sches Kochbuch, T. 1, München, Paßau und Regensburg 1833, 245; Dass., 14. viel verb. u. verm. Aufl., München, Paßau und Regensburg 1837, 222-223). Erst um 1850 nahm deren Zahl und damit auch die Variationsbreite zu (Anna Berger, Pfälzer Kochbuch, Mannheim 1858, 39, 144 (Makkaronisuppen, Makkaroni) sowie 603, 607, 610 (als Beilagen in Menüs)).

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Makkaroni als Auflauf (Koller, 1851, 143-144)

Zur Jahrhundertmitte standen Makkaroni noch nicht für sich, wurden in Anlehnung an eigenes Essen als eine Art Knödel des Südens vorgestellt (Allgemeine Militär-Zeitung 28, 1853, Sp. 1205). Und doch erschienen sie seither vermehrt als „ein auf jeder Tafel sehr gern gesehenes Gericht“ (Die echten Maccaroni, Regensburger Conversations-Blatt 1859, Nr. 136 v. 13. November, 4). Nun erst galten Makkaroni auch als Hauptgericht mit Schinken oder Parmesankäse. Sie wurden vermehrt in Aufläufen verwendet (Anna Koller, Neuestes vollständiges Kochbuch, München 1851). Als Beilage zum Rindfleisch ersetzten sie nun Knödel. Zugleich nutzte man sie als Bestandteil süßer Speisen, als Substitut von Reis oder mit Milch (Christine Charlotte Riedl, Lindauer Kochbuch […], Lindau 1852; Dass., 4. vielverb. u. verm. Aufl., Lindau 1865).

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Makkaroni als Suppennudeln und mit süddeutscher Würzung (Riedl, 1852, 6 (l.); ebd. 168)

Seit der Jahrhundertmitte waren Makkaroni in süddeutschen Kochbüchern unverzichtbar, drangen auch in Speisezettel vor (Obermeier et al., Sailer’sches Familien-Handbuch, München 1865, 271ff.). Doch spätestens seit den 1860er Jahren galt das auch für die gängigen Kochbücher oberhalb des früheren Limes. Henriette Davidis (1801-1876) präsentierte in ihrem Kochbuch nach der Reichsgründung bereits ein knappes Dutzend Makkaronirezepte (Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, 19. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1874, 122, 203, 257, 274-276).

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Deutsche Rekombinationen: Makkaroni mit Backobst (Rhein- und Ruhrzeitung 1886, Nr. 94 v. 21. April, 6 (l.); Solinger Zeitung 1881, Nr. 35 v. 4. März, 3)

Diese langsame Diffusion gen Norden war begleitet vom Vordringen gedörrten Obstes, insbesondere den vielfach aus den USA stammenden Apfelringen, Trockenpflaumen und einer wachsenden Palette anderen Backobstes. Das war ein schnelles, einfaches und billiges, ein deutsches Mahl. Die häusliche Verbreitung der Makkaroni ging einher mit frühen Haushaltsgeräten. Nudelmaschinen waren seit spätestens den 1880er Jahren auch mit Makkaroniaufsätzen verbunden.

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Neue Haushaltsgeräte für den bürgerlichen Haushalt: Nudelmaschine mit Makkaroniaufsatz (Wiener Caricaturen 1884, Nr. 29 v. 20. Juli, 7)

Ein sich weitendes Angebot: Makkaroni im Handel und lokalem Handwerk

Die Analyse von Kochbüchern hat ihre engen Grenzen, gibt sie doch über die Küchenpraxis und auch den Alltagskonsum nur höchst indirekt Auskunft. Makkaroni waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch präsent – und zwar als Handelsgut und gewerblich hergestellte Fertigwaren. Während die Reiseberichte immer wieder den frischen Verzehr der Nudeln hervorhoben, wurden sie in deutschen Landen als lang haltbare und käufliche Trockenware heimisch.

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Direkt vom Italiener: Jahrmarktangebote südlicher Luxuswaren (Karlsruher Zeitung 1810, Nr. 169 v. 22. Oktober, 678)

Im frühen 18. Jahrhundert gab es jedoch nur vereinzelte „Makkaronifabriken“, also kleine Handwerksbetriebe. Der schon zitierte Schriftsteller Karl Friedrich Benkowitz (1764-1807) verwies in seinem Reisebericht auf nur auf zwei Orte in deutschen Landen, nämlich Wien und Dresden (Benkowitz, 1804, 100). Auch in Prag wurden Makkaroni gewerblich hergestellt (C. Kjärböll, Kulinarische Plauderei, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 71 v. 17. Februar, 7).

Weit wichtiger waren Jahrmarkthändler meist italienischen Ursprungs, die Kostbarkeiten ihrer Heimat auf den Messen an eine zahlungskräftige Kundschaft verkauften. Ihre Zahl war im 18. Jahrhundert deutlich gewachsen, in vielen rheinischen und bayerischen Städten repräsentierten sie den Fernhandel nach Italien (Anton Schindling, Bei Hofe und als Pomeranzenhändler: Italiener in Deutschland in der Frühen Neuzeit, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, München 1992, 287-294; Christiane Reves, Von Kaufleuten, Stuckateuren und Perückenmachern. Die Präsenz von Italienern in Mainz im 17. und 18. Jahrhundert, in: http://www.regionalgeschichte.net, urn:nbn:de:0291-rzd-006468-20202212-6). Dabei findet man die üblichen Spezialisierungseffekte: Während anfangs italienische Händler wie der oben annoncierenden J. Cesar Grandi Groß- und Einzelhandel miteinander kombinierten, übernahmen in der Folge vermehrt spezialisierte Luxus- und Kolonialwarenhändler die Geschäfte (Fürstlich Lippisches Intelligenz Blatt 1812, Nr. 17 v. 25. April, 132).

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Verstetigtes Südwarenangebot im Umfeld des Rastatter Hofes (Karlsruher Zeitung 1816, Nr. 22 v. 22. Juli, 202)

Während anfangs „Parmesankäs und Makkaroni“ (Karlsruher Zeitung 1814, Nr. 30 v. 30. Januar, 120) eine gleichsam naschbare Spezialität war, bot der Rastatter Händler Blasius Bauer schon ein breites Sortiment dauerhaft verfügbarer Feinkost aus ganz Europa. Auch Grandi folgte diesem Trend, denn in den 1820er Jahren bot er neben Käse und Makkaroni auch italienischen Reis, Maroni und Suppennudeln an (Karlsruher Zeitung 1822, Nr. 318 v. 15. November, 1476).

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Spezialitäten aus Italien – alljährlich auf der Messe (Würzburger Stadt- und Landbote 1858, Nr. 261 v. 2. November, 5)

Diese Jahrmarktpräsenz der Makkaroni lässt sich bis mindestens in die 1860er Jahre nachzeichnen (Ingolstädter Tagblatt 1863, Nr. 342 v. 9. Dezember, 1417). Sie stand im Einklang mit der wachsenden Bedeutung dieser regelmäßigen Verkaufsveranstaltungen bis zur Mitte des Jahrhunderts (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 35-36). Doch schon zuvor ging der Handel mit haltbaren Lebensmitteln aus fernen Landen an den stetig wachsenden stationären Ladenhandel über.

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Direktbezug aus Italien: Südwaren im Kolonialwarenhandel (Augsburger Tagblatt 1859, Nr. 308 v. 9. November, 6621)

Parallel konnten Interessenten spätestens seit den 1830er Jahren, wahrscheinlich aber schon deutlich früher, lokal hergestellte Makkaroni kaufen. Melber und Bäcker waren hierfür prädestiniert, nutzten die teils schon gelockerten Zunftrechte für die Herstellung auch von Makkaroni.

13_Augsburger Tagblatt_1839_12_05_Nr334_p1518_Zunftwesen_Spezereiwarenhandlung_Makkaroni

Innovationen im engen Gestrüpp des Zunftwesens (Augsburger Tagblatt 1839, Nr. 334 v. 5. Dezember, 1518)

Entsprechende Absatzmärkte gab es einzig in den stetig wachsenden Städten. Als der Passauer Bäckermeister Rößl Ende der 1830er Jahre mit der Makkaronifabrikation begann, hieß es folgerichtig: „Da indeß der Absatz hier noch gering sein mag, so ist sein Fabrikat desto mehr auswärts zu empfehlen“ (Maccaroni-Fabrikation des Hrn. Rößl in Passau, Bayerische National-Zeitung 6, 1839, 106). Dabei hatte er sein junges Unternehmen echt italienisch ausgestattet, mit zwei dem eingangs gezeigten Makkaronistand nachempfundenen Werbeschildern. Noch aber waren die Preise zu hoch und/oder zu wenige bürgerliche Kunden vorhanden.

Doch die Zahl deutscher Produktionsstätten nahm seither langsam zu. Eine Ausstellung im Karlsruher Gewerbeverein präsentierte 1840 bereits heimische Makkaroni und verwies auf das Vorbild der Nachbarn: „Hessen besitzt von diesen Artikeln bereits mehrere bedeutende Fabriken“ (Allgemeine Polytechnische Zeitung und Handlungs-Zeitung 1840, 199). Ein Jahrzehnt später gewann dann gar ein fern im Norden ansässiger Fabrikant, Wittekop aus Braunschweig, Preise auf internationalen Ausstellungen. Ähnliches galt für die Firma Teichmann in Erfurt (Mittheilungen des Gewerbe-Verein für das Königreich Hannover NF 1853, Sp. 133). Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die deutlich größere Nachfrage in Süddeutschland von lokalen Produzenten befriedigt wurde.

14_Wochenblatt für Pulsnitz [...]_1867_06_22_Nr50_p201_Solinger Kreis-Intelligenzblatt_1866_03_14_Nr21_p3_Makkaroni_Deutsche-Makkaroni

Deutsch und italienisch: Doppelangebot von Makkaroni in Sachsen und dem Rheinland (Wochenblatt für Pulsnitz 1867, Nr. 50 v. 22. Juni, 201 (l.); Solinger Kreis-Intelligenzblatt 1866, Nr. 21 v. 14. März, 3)

Wurden diese Angebote anfangs unter dem allgemeinen Begriff „Makkaroni“ angeboten, ihre Güte mit der italienischer Makkaroni verglichen, so findet man spätestens ab den 1850er Jahren Annoncen „deutscher“ Makkaroni (Rhein- und Ruhrzeitung 1853, Nr. 127 v. 1. Juni, 4). Sie sollten ein Vorbote sein, denn die Durchsetzung der Makkaroni in deutschen Landen wurde von heimischen Produkten getragen, lediglich ergänzt durch die Importware aus Italien.

Risse im deutschen Italienbild

Die italienische Makkaronikultur wurde auch nach der Jahrhundertmitte weiter beschrieben, teils weiter gefeiert. Doch die Schilderungen waren nicht mehr neu, wurden teils gar als peinlich empfunden. Die Reisenden erkannten, dass auch sie beobachtet wurden, dass die Einheimischen für sie posierten: „Wer kennt nicht die entsetzlichen Aufschneidereien über das Maccheroni-Essen“ (Reisebilder auf der Heimkehr. (Fortsetzung.), Carinthia 37, 1847, 135-136).

15_Neue Illustrirte Zeitung_03_1875_Nr14_p09_Neapel_Makkaroni_Straßenhandel_Fast-Food

Der kontinuierliche Charme des Straßenverkaufs in Neapel (Neue Illustrirte Zeitung 33, 1875, Nr. 14, 9)

Das heißt nicht, dass sich in den auch weiterhin zahlreichen Berichten nicht immer noch die alten Themen wiederfinden lassen: „Nur immer allegro! O glückliches südliches, sanguinisches Temperament!“ (Ebd.; Aus den Abruzzen. I., Das Ausland 23, 1850, 29-31) galt weiterhin als passable Charakterisierung der Szenerie Neapels; und wie beim Affeneinsatz in Zirkus und bei Drehorgelmusik hieß es: „Neapel besitzt das lustigste Bettelvolk von der Welt“ (Regensburger Conversations-Blatt 1857, Nr. 50 v. 26. April, 4).

Und doch änderten sich seither mindestens vier Aspekte. Erstens beschrieben die Beobachter auch die neapolitanischen Verhältnisse verstärkt unter nationalen Aspekten, spiegelten damit den Nationalismus dieser Zeit und die wachsende Mächterivalität nach der staatlichen Einigung Italiens und der kleindeutschen Neuordnung Deutschlands unter preußischer Dominanz. Makkaroni trat als Schlachtruf an die Seite des französischen „Honneur et Patrie“ oder des polnischen „Wolnose i Niepodleglosc“ (Arthur Mueller (Hg.), Franz Freiherr Gaudy’s praktische und prosaische Werke. Neue Ausgab., Bd. 7, Berlin 1854, 47-56, hier 50). Makkaroni galt vorher schon als italienische Nationalspeise, doch nun wurde diese Zuschreibung weiter zementiert und durch die Staatsgründung unterfüttert: „Maccaroni! jedem echten Italiener von jenseits des Rubicon pocht das Herz bei diesem Namen“ (Ludwig Goldhahn, Aesthetische Wanderungen in Sicilien, Leipzig 1855, 255). Das lässt sich auch in der europäischen Populärkultur wiederfinden: Während Gioachino Rossini (1792-1868) im 1816 uraufgeführten Barbier von Sevilla die Makkaroni als Speise des Südens, als „Labsal in diesem Jammerthal“ feierte (L[eopold] K[arl] von Kohlenegg, Il Barbiere di Seviglia, in: Ders., Gesammelte Dramatische Bluetten, Stuttgart 1872, 212), stellte Jakob „Jacques“ Offenbach (1819-1880) die Makkaroni in den Kontext des Risorgimento. Seine komische Operette Coccoletto oder Die vergiftete Nudel endete mit dem Schlussgesang „Blühe, blühe und gedeihe / Maccaroni, immerdar!“ (Ed[uard] Bote und G[ustav] Bock, Coscoletto, der Lazzarone. Komische Operette in 2 Acten. Musik von J. Offenbach, Berlin 1868, 63), feierte den Frohsinn der neapolitanischen Unterschicht und schuf ein ironisches Abbild des neuen Italiens.

Zweitens weitete sich der deutsche Makkaroniblick zunehmend in das Kraftzentrum des neuen Staates. Im Norden aber untersuchte man nicht mehr die Lazzaroni, sondern das Bürgertum: „Ihr Anzug war untadelhaft: neuer Hut, schwarze Kleider, goldene Ketten, Handschuhe, Ringe an den Fingern, nichts fehlte. Die Speisekarte lag neben ihnen“ – und natürlich aßen sie ihre Makkaroni mit Gewandtheit, Gabeln und im Restaurant (Turiner Eindrücke, Ost-Deutsche Post 1864, Nr. 86 v. 26. März, 1). Makkaroni wurden eine zunehmend respektable Speise für kultivierte Menschen.

Drittens nahm man angesichts der seit den 1870er Jahren intensivierten deutschen Debatten über die soziale Frage zunehmend die Armut und das Elend der süditalienischen Bevölkerung wahr (W[ilhelm] v. Wymetal, Spaziergänge in Neapel […], Zürich 1877, 56-57). Armut war nicht anheimelnd, Lumpen dem Menschen unwürdig, die relative Armut selbst etablierter Familien erschien in Deutschland zunehmend problematisch (Neapel und seine Zustände. II, Die Gartenlaube 1857, 85-87, hier 86). Man erinnerte sich auch daran, dass Garibaldi, der als Seemann mehrere Fahrten in die Hartweizenregion Taganrog unternommen hatte, als Sozialrevolutionär die Beichtstühle in Stück schlagen wollte, um „die Makkaroni der armen Leute zu kochen“ (Der Bayerische Landbote 45, 1869, Nr. 302 v. 29. Oktober, 3). Armut bedroht(e) tendenziell bürgerliche Herrschaft.

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Der Skandal der Armut: Straßenkinder in Neapel, ca. 1890 (Foto der Gebrüder Alinari, Florenz, Wikipedia)

Viertens schließlich wurde der Süden zunehmend seiner Romantik entkleidet, erschien die dortige Makkaroniproduktion als rückständig und gesundheitsgefährdend (Genrebilder, 1846, 290). Die Trocknung glich nicht mehr länger einem auf Stangen ausgebreitetem Engelshaar, sondern als „wimmelndes Meeting lüsterner Fliegen auf […] gelben Teppichen“ (Goldhahn, 1855, 52). Im anbrechenden Zeitalter der Bakteriologie gab es neue Sensibilitäten angesichts der schwarzen Fliegenscharen: „Der Leser, welcher nebenbei ein Maccaronifreund ist – soll sich durch diese auffälligen Fliegen nicht im mindesten um seine Freude bringen lassen, denn es sind recht schöne, große, dicke, staatliche [sic!] Fliegen, und zudem genügsam, denn sie fressen ja nicht alles auf, sondern lassen immer noch soviel zurück, daß die Maccaronifreunde der ganzen Welt vollkommen genug bekommen können“ (Sebastian Brunner, Heiterte Studien in und über Italien, Bd. 1, Wien 1866, 255). Hinzu kamen die hygienischen Probleme durch die Hersteller, wurde der Teig doch auf offener Straße „von halbnackten Bengeln mit viel Mühe geschlagen, […] von grösseren fast unbekleideten Männern gepresst und mit wundersam altertümlichen Maschinen in die verlangte Form gebracht“ (F. Adler, Reisebriefe aus Italien. IV., Wochenblatt-Architekten-Verein zu Berlin 1, 1867, 114-117, hier 116). Dreck und fehlende Körperhygiene traten als gängige Marker der Unterschichten hervor, trennten die Erlebniswelt der Besucher von der Alltagswelt der Einheimischen. Da war der Weg zu anderen Imaginationen des Südens nicht mehr weit, war die „Lazzaroni- und Makkaronistadt“ doch auch eine „der Messerhelden und Kamoristen“ (Kölner Sonntags Anzeiger 1888, Nr. 613 v. 22. Juli, 2).

Trotz derartige Risse im deutschen Italienbild blieb die Faszination des Fremden aber weiterhin bestehen: Ein wenig geläutert blickte man auf die „Schooßkinder der Natur“, die „nur mitleidig auf jene nordischen Brüder sehen, die sich mit harter Arbeit, mit eisernem Fleiße im Kampfe um das Dasein bewähren müssen“ (Bilder, 1875). Das fremde Volk, es tanzte weiterhin durch die Straßen, um die Makkaronikessel: „Das Gewühl, der Oelgeruch, der Lärm, die Musik von Drehklavieren, Guitarren und Mandolinen, die Ausgelassenheit ist unbeschreiblich. Und das geht Tag für Tag, Abend für Abend so“ (Julius Stinde, Buchholzens in Italien, 27. Aufl., Berlin 1885, 115).

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Maschineneinsatz in einer mittelständischen italienischen Makkaronifabrik (Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239)

Die Kritik der Besucher lag im Trend der Zeit. Und ihr weiter dominant auf Neapel gerichteter Blick übersah viele Veränderungen just im Land der Makkaroni (Verfahren bei der Nudelfabrication in Italien, Dinglers Polytechnisches Journal 90, 1843, 80). Seit der Mitte des Jahrhunderts modernisierte sich die italienische Nudelindustrie, ermöglichten Eisenbahnen und Dampfschiffe Exporte in ganz anderen Größenordnungen, erforderte die zunehmende Urbanisierung des Nordens industriell gefertigte Angebote (Giancarla Gonizzi, La Pasta: un po’ di storia, in: Ders. (Hg.), Barilla. Centoventicinque anni di pubblicità e communicazione, Parma 2003, 1-18, hier 10-12; Giancarla Gonizzi, La technolgia del pastificio, in: ebd., 19-34). Aus lokalen handwerklichen Anfängen entwickelte sich eine exportfähige Großindustrie: Buitoni wurde 1872 gegründet, Barilla 1877, De Cecco 1886, Divella 1890, allesamt abseits von Neapel. Von den großen italienischen Herstellern reicht einzig Rummo weiter, bis 1846, zurück. Diese Firmen trugen und beschleunigten einen generellen Wandel der italienischen Kost, die immer weniger durch ländliche Märkte und handwerkliche Kleinproduktion gekennzeichnet war, sondern durch anonyme Absatzstrukturen für urbane Massenmärkte (John Dickie, Delizia! The Epic History of the Italians and their Food, London 2007, 197-232; Emanuela Scarpellini, Food and Foodways in Italy from 1861 to the Present, Houndmills 2016, 1-51). Die Makkaroni blieben dennoch italienisch, blieben Nationalspeise, mochte der Hartweizen auch zunehmend aus Russland stammen und die Maschinen vornehmlich aus der Schweiz, England, Österreich und auch Deutschland importiert werden.

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Maschinen für die Teigarbeit: Hydraulische Pressen englischer und deutscher Hersteller (Dinglers Polytechnisches Journal 159, 1861, Taf. VII (l.); Kick, 1873, p. II)

Deutsche Makkaroni – Vielgestaltige Substitute des italienischen Originals

Die neuen italienischen Firmen exportierten ihre Waren auch ins Deutschen Reich. Doch sie erlangten hier keine dominante Stellung, denn deutsche Makkaroni waren billiger, entsprachen eher den lokalen Speisegewohnheiten, mundeten der Mehrzahl offenbar besser: Um die Jahrhundertwende hieß es, „wer keine italienischen Maccaroni mag, für den gibt es deutsche Makkaroni“ (Münchner Neueste Nachrichten 1902, Nr. 190 v. 24. April, General-Anzeiger, 8).

Anders als etwa beim deutschen Rum, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Rübenzucker destilliert wurde und sich trotz niedriger Preise beim Publikum nicht durchsetzen konnte, versuchten die Hersteller hierzulange bei den Makkaroni keine ähnlichen Substitute. Bemühungen, sie aus einer Kartoffelgrundmasse herzustellen, blieben auf Frankreich begrenzt (Herrn Ternauxs Trokenstuben zu Maccaroni aus Erdäpfeln, Dinglers Polytechnisches Journal 10, 1823, 114). In Deutschland schritt man stattdessen zur Eigenproduktion aus heimischen Weichweizen. Dieser stand in der Tradition von Einkorn, Emmer und Dinkel, sein Anbau war im 19. Jahrhundert noch auf die südlichen Regionen Deutschlands begrenzt. Deutsche Makkaroni hatten anfangs daher deutlich andere küchentechnische Eigenschaften. Ihnen fehlte die für das italienische Referenzprodukt typische Festigkeit und Bissstärke.

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Makkaroni aus Standardmehl lokal hergestellt (Bayerische Landbötin 1841, Nr. 142 v. 27. November, 1242)

Die lokale Produktion konnte – wie in Neapel auch – eine größere Nachfrage bedienen. Im Münchner Konsum-Verein von 1864 wurden 1867 4949 Pfund, 1868 dann 9328 Pfund bezogen (Consum-Verein München. Rechenschaftsbericht über das IV. Quartal des Jahres 1867 und Jahresbericht für 1868, München 1868, 4). Gleichwohl blieben die frühen Makkaroni-„Fabriken“ klein. 1882 gab es in München derer siebzehn, doch in ihnen arbeiteten (inklusive der Besitzer) lediglich 30 Personen (Mittheilungen des Statistischen Bureaus der Stadt München 7, 1884, 234). Zugleich muss man sich vor Augen führen, dass diese kleinen Anbieter Makkaroni als Dachbegriff für eine breitere Formenpalette nutzten: „Sie bestehen in einer Art von Nudeln aus dem feinsten Weizenmehle, die in röhren- oder stengelartiger Form, in viereckigen, gewundenen, flachen u.s.w. Gebilden auf eigenen Maschinen bereitet werden“ (Karl Ruß, Waarenkunde für die Frauenwelt, T. 1, Breslau 1868, 318).

Wie in Italien begann eine breitere Maschinisierung der Produktion deutscher Makkaroni in den 1860er Jahren. Sie erst erlaubte billige Produkte (Prämirte Ausstellungs-Objecte, Wiener Weltausstellungs-Zeitung 3, 1873, Nr. 281, 1-2, hier 1). Schon auf der Londoner Industrie- und Kunst-Ausstellung 1862 gewannen drei deutsche Makkaroni-Fabrikanten – Bassermann, Herrschel und Dieffenbacher (Mannheim), Wittekop & Co. (Braunschweig) und C.L. Brede, Hannover – Medaillen (Amtlicher Bericht über die Industrie- und Kunst-Ausstellung zu London im Jahre 1862, H. III, Berlin 1864, 249). Das waren noch Ausnahmen. Doch auf der Wiener Weltausstellung 1873 wurde genau registriert, dass nach der Hochmüllerei nun auch die Teigwarenfabrikation Deutschlands international konkurrenzfähig zu sein schien (Friedrich Kick, Mehl, Mehlfabricate und die Maschinen und Apparate der Müllerei und Bäckerei (Gruppe IV, Section I.), Wien 1873, 4; Wilhelm Stäuber, Die Teigwarenindustrie, 3. verb. u. verm. Aufl., Wien und Leipzig 1925, 1). Das galt vor allem preislich: Gängige, aus heimischem Weizen hergestellte Faden-, Band- und auch Hohlnudeln kosteten weniger als die italienische Importware. In München hatte man für ein Pfund 1870 20 Kreuzer zu zahlen, für die deutschen Angebote dagegen nur 12½ Kreuzer (Consum-Verein München. Waaren-Preise März 1871, München 1871, 2; 1872 18 Kreuzer vers. 13 resp. 14 Kreuzer (Dass. April 1872, 2)).

20_Der Ortenauer Bote_1865_12_16_Nr123_p3_Leipziger Tageblatt 1883_03_15_Nr074_p7_Nudeln_Makkaroni_Deutsche-Makkaroni_Sauerkraut

Zwei Herkunftsländer – zwei Makkaroniarten (Der Ortenauer Bote 1865, Nr. 123 v. 16. Dezember, 3 (l.); Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 74 v. 15. März, 7)

Diese höhere Preise wurde jedoch noch gezahlt, da sich die italienischen Waren „infolge der Verwendung kleberreichen Weizens […] beim Kochen weniger leicht auflösen und breiig werden“ (Kjärböll, 1907). Daher begannen die deutschen Hersteller in den 1870er Jahren ihre Rohstoffgrundlage zu erweitern und vermehrt Hartweizengrieß einzuführen – parallel zum damals intensiv diskutierten Wandel Deutschlands vom Getreideexport- zum Getreideimportland. Die neu gegründete hessische „Fabrik deutscher Maccaroni“ von August Frommel annoncierte selbstbewusst: „Unsere Maccaroni sind aus demselben Rohmaterial und auf gleiche Weise wie in Neapel bereitet; bei großer Nahrhaftigkeit haben sie den der ächten Maccaroni eigenthümlichen fleischartigen Wohlgeschmack“ (Der Bazar 21, 1875, 102). Der Hartweizen sei eben „kein italienisches Bodenerzeugnis“, entsprechend müsste man sie im Deutschen Reich in mindestens gleicher Qualität produzieren können (Ein Volksnahrungsmittel, Illustrirte Welt 29, 1881, 311).

Es sollte allerdings noch etwas dauern, bis Hartweizengrieß allgemein für deutsche Makkaroni verwandt wurden – aufgrund der dafür notwendigen leistungsfähigeren Maschinen, aber auch der andersartigen, nicht allen Konsumenten zusagenden Textur. Ein weiterer Grund lag in einer zeittypischen Innovationskultur. Fortifizierung, also die Wertsteigerung eines Produktes durch Zusatz von Nahrungsstoffen, war trotz der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten seit Mitte des Jahrhunderts zunehmend üblich. Das galt für Schokoladen, die mit Mineralstoffen und Milcheiweiß versetzt wurden. Das galt in noch stärkerem Maße für die Säuglingsnahrung und die vielgestaltigen Suppenpräparate. Eiweißzusätze, meist getrocknet und zermahlen, waren dabei besonderes wichtig. Die neuere organische Chemie pries sie als Muskelbildner, als wichtigste Nährstoffgruppe. Im Vorfeld der Pariser Weltausstellung griffen französische Hersteller dies auf, die Reststoffe der Weizenstärkeproduktion nutzten (C. v. Salviati (Hg.), Berichte über den landwirthschaftlichen Theil der Pariser Welt-Ausstellung von 1867, Bd. 1, 37). In deutschen Landen trat ab 1869 die Hammer Stärkefabrik Robert Hundhausen hervor, die ihren Kleber anfangs als Viehfutter verkaufte. Neue Absatzmöglichkeiten wurden getestet, darunter später fortifizierte Brote und Diabetikernahrung. Doch die Konkurrenz schlief nicht: Der Kölner Stärkefabrikant Carl August Guilleaume (1820-1894) nutzte seine Kleberreste seit 1877 zur Herstellung von Makkaroni von – aus ihrer Sicht – nie geahnter Vollkommenheit.

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Stolze Beschwörung überlegener Qualität: Guilleaumes mit Klebereiweiß angereicherte Makkaroni (Kölnische Zeitung 1877, Nr. 191 v. 11. Juni, 8)

Diese Makkaroni seien dem italienischen Vorbild mindestens ebenbürtig, an sich aber überlegen. Durch den Zusatz hänge deren Zusammensetzung „nicht mehr von der Beschaffenheit der Weizensorte ab […], sondern es [stehe, US] dem Fabrikanten frei[…], den Klebergehalt der Maccaroni etc. und also deren Güte zu erhöhen“ (Jahresbericht über die Leistungen der chemischen Technologie […] für das Jahr 1877 23, 1878, 645). Anders als die italienischen Makkaroni seien diese Produkte von überlegender Reinlichkeit, da durch saubere Maschinen erstellt und nicht länger auf der Straße getrocknet. Auch „an Reinheit des Geschmackes“ überträfen sie das frühere Vorbild (Volksnahrungsmittel, 1881).

Die fortifizierten Makkaroni waren allerdings dunkel, dunkler jedenfalls als gängige Nudeln und aus heimischem Weizen produzierte Makkaroni. Entsprechend testete Guilleaume weiter: Zum einen nutzte er seit Anfang der 1880er Jahre auch das Fleischpulver Carne Pura, das damals als preiswerter Ersatz des frischen Fleisches propagiert wurde. Zum anderen aber verwandte er zunehmend auch importierten Hartweizen. Er wollte seine Makkaroni dadurch zu einem Volksnahrungsmittel machen, zu einem Substitut für die so dominante Kartoffel. Deutscher Erfindergeist und deutsche Technik schienen eine neue Ernährungskultur zu ermöglichen: „Alle Kennzeichen vorzüglicher Maccaroni, Schwere, gerader, glänzender, horniger Bruch, helle durchscheinende Farbe, Elastizität, das Behalten der Röhrenform beim Kochen, unter Aufquellen bis zu ihrem dreifachen Durchmesser, ohne dabei kleisterartig zu werden, der bouillonartige Geschmack finden sich bei den Guilleaume‘schen Maccaroni wie bei den allerbesten Italienischen“ (J[ulius] Stinde, Special-Catalog für den Pavillon Carne Pura […], Berlin 1882, XVIII). Der Eiweißgehalt stieg auf bis zu 21 %, während die italienischen Makkaroni bei etwa 13 % lagen.

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Deutscher Sieg im internationalen Makkaroniwettstreit (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 359 v. 28. Dezember, 8)

Doch Guilleaumes technisch-wissenschaftliche Utopie scheiterte, „weil die Farbe der Nudeln etwas dunkler und das Vorurtheil der Käufer in diesem Punkte nicht zu überwinden war“ (Marie Ernst, Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker, Bd. 1, Leipzig 1886, 297). Hinzu kam die aus heutiger Sicht kaum ausgefeilte Werbung, die von den Vorteilen der Ware sprach, die Interessen der Käufer aber ignorierte. Noch war die Vorstellung verbreitet, dass sich ein überlegenes Produkt auch einen Markt erobern würde. Das war irrig, schon das technisch durchaus versierte Liebig-Horsfordsche Backpulver war daran gescheitert. Guilleaume schaltete zudem massenhaft Anzeigen über sein aus Makkaroni- und Nudelresten gefertigtes Tierfutter, unterminierte so Vertrauen in den Absatz und die Qualität seiner Angebote (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 65 v. 6. März, 3; ebd. 1888, Nr. 60 v. 29. Februar, 8). Aufgelöst wurde die Firma im Juli 1887, doch die Geschäfte dürften schon seit Anfang der 1880er Jahre schlecht gelaufen sein (Kölnische Zeitung 1887, Nr. 186 v. 7. Juli, 8).

Fortifizierte Makkaroni mit Klebereiweiß standen für die wachsende Bedeutung der Wissenschaft, insbesondere von Physiologie und Chemie. Gesunde, stofflich optimierte Nahrung sollte die natürlichen Vorteile der „guten Luft“ des Südens ausgleichen – und bestätigte zugleich, dass Makkaroni, diese „gebenedeite Speise“, „Gesundheit und Kraft“ gäben (Zitate n. Karl August Mayer, Neapel und die Neapolitaner oder Briefe aus Neapel in die Heimat, Bd. 2, Oldenburg 1842, 378). Das war jedenfalls das Ergebnis erster Ausnutzungsversuche im Münchener physiologischen Institut, damals das Innovationszentrum der frühen Ernährungswissenschaft. Max Rubner (1854-1932) – der bis heute für den Nobelpreis meistnominierte Wissenschaftler, der ihn nie erhalten hat – bestätigte Guilleaumes Werbetexte. Durch seine deutschen Makkaroni sei es möglich „viel Eiweiss zuzuführen und den Eiweissgehalt des Körpers zu erhalten, was mit den gewöhnlichen Maccaroni nicht möglich war“ (Ueber die Ausnützung einiger Nahrungsmittel im Darmcanale des Menschen, Zeitschrift für Biologie 15, 1879, 115-202, hier 166). Er empfahl sie daher als billigen Eiweißträger für Volksküchen, Waisenhäuser und der Militärkost (so auch Aug[ust] Guckeisen, Die modernen Principien der Ernährung nach v. Pettenkofer und Voit, Köln 1880, 47-48). Das war ein Ritterschlag für deutsche Technik, spiegelte zugleich aber die innere Rationalität der italienischen Alltagskost.

Diese Untersuchungen unterstrichen aber zugleich den Bruch, den das naturwissenschaftliche Stoffmodell sowohl für die Alltagskost, als auch die Bewertung der Makkaroni mit sich brachte. Speisen waren nicht mehr Ausdruck von Kultur, verankert im Leben und Arbeiten klar benennbarer Gruppen. Italienische Makkaroni wurden als Eiweißträger gewürdigt, konnten als Eiweißträger aber nachgemacht, substituiert und übertroffen werden. Die Folge waren die seither gängigen Vorstellungen einer wissenschaftlichen Optimierung einer Alltagskost, deren innere Rationalität nicht länger interessierte – es sei denn, sie wäre kommerziell und medial nutzbar. Man hoffte im Deutschen Reich, dass die neue deutsche Makkaroniindustrie, „namentlich wenn sich die Ansichten über rationelle Ernährung mehr Bahn brechen und der Werth ihrer Erzeugnisse als Ersatz für die oft gar zu massenhafte, inhaltslose und darum theure Kartoffelnahrung mehr erkannt wird, von nicht geringer Bedeutung werden kann“ (Die chemische Industrie 3, 1880, 327). Die oberhalb des Mains dominante Ernährung mit „unnahrhaften Kartoffeln“ (Volksnahrungsmittel, 1881) stand für Produzenten und Wissenschaftler zur Disposition. Doch selbst Italienreisende zogen da nicht mit, denn trotz ihres Lobpreises der dortigen Makkaroni finden sich in den Reiseberichten immer wieder Verweise auf „die nordischen Kartoffeln“ und auch der Sehnsucht nach “einer vernünftigen Salzkartoffel“ (Von der Saale zur Tiber. (Schluß.), Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1886, Nr. 12 v. 8. Januar, 1).

Die wachsende Bedeutung derart reduktionistischen stofflichen Denkens ermöglichte aber auch den Bedeutungsgewinn der deutschen Eier-Makkaroni. Eiernudeln waren bereits im späten 18. Jahrhundert eine Nürnberger Spezialität (Meyfeld und Enners, 1792, 32), doch dominierte die häusliche Herstellung des Suppenteigs aus heimischem Weizen, Butter und Eiern (Joseph König, Geist der Kochkunst, ueberarb. u. hg. v. C[arl] F[riedrich] von Rumohr, Stuttgart und Tübingen 1822, 59). Als gewerbliche Ware finden sie sich um 1830 beidseitig am Oberrhein und in der Schweiz (Zürcherisches Wochen-Blatt 1831/32, Nr. 41 v. 23. Mai, 3; Wochenblatt für die Amtsbezirke Offenburg […] 1840, Nr. 9 v. 28. Februar, 61). Nordbaden und das Rheinland folgten mit gebührendem zeitlichem Abstand (Karlsruher Tagblatt 1850, Nr. 141 v. 26. Mai, 729; Bonner Zeitung 1851, Nr. 302 v. 23. Dezember, 3).

23_Allgemeines Intelligenz-Blatt der Stadt Nuernberg_1826_03_22_Nr035_p349_Nudeln_Eiernudeln_Regionale-Spezialitaeten

Eiernudeln als regionale Spezialität (Allgemeines Intelligenz-Blatt der Stadt Nürnberg 1826, Nr. 35 v. 22. März, 349)

Der Zusatz von Eiern zum Weizenteig – zwei bis drei Eier pro Pfund – ergab eine geschmacklich ansprechende, gelbliche Ware mit einem relativ hohen Eiweißgehalt; in gewisser Weise ersetzten die Eier den höheren Eiweißgehalt des Hartweizens italienischer Nudeln. Angesichts der ja auch öffentlich geführten Debatten über den Nährwert der Makkaroni ist es nicht verwunderlich, dass Eier-Makkaroni in den 1880er Jahren in den Anzeigen der Tageszeitungen auftauchten.

24_Duesseldorfer Volksblatt_1882_03_31_Nr088_p3_Kolonialwarenhandlung_Makkaroni_Eier-Makkaroni_Nudeln_Pflaumen_Backobst_Heinrich-Jürgens

Zwei bis drei Eier für das Pfund Makkaroni (Düsseldorfer Volksblatt 1882, Nr. 88 v. 31. März, 3)

„Deutsche Eier-Maccaroni“ (Kölner Sonntags-Anzeiger 1888, Nr. 592 v. 26. Februar, 10) waren anfangs wohl eher ein Marketingbegriff, Ausdruck überlegener heimischer Ware. Man verwandte die Hohlform, verkaufte die Langform, verarbeitete aber heimisches Mehl. Schon bald galten sie als die eigentliche „Deutsche Makkaroni“ (Eduard Baltzer, Vegetarianisches Kochbuch […], 10. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1891, 66). In den Anzeigen wurde jedoch weniger die nationale Karte gespielt als vielmehr der Hinweis auf den wertgebenden Eierzusatz. Schließlich waren Eier-Makkaroni deutlich teurer als deutsche Makkaroni sowohl aus Weich- als auch aus Hartweizen.

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Zwischen Italien und Deutschland: Eier-Makkaroni (Karlsruher Tagblatt 1887, Nr. 162 v. 16. Juni, 2109)

Die wachsende Auffächerung des Angebots deutscher Makkaroni – aus heimischem Weich- oder importiertem Hartweizen, mit Klebereiweiß oder Eiern – ging allerdings zu Lasten der Marktsicherheit. Makkaroni war nie ein klar definiertes Produkt gewesen, variierte in Form, Länge und Zusammensetzung. Angesichts fehlender Kennzeichnungspflichten mussten die Konsumenten ihren Sinnen und ihren Händlern trauen – oder aber der wachsenden Zahl regional präsenter Fabrikanten: Magdeburg, Halle a.S., Berlin, Dresden, Harzburg oder Köln waren deren Firmensitze (Brockhaus‘ Conversations-Lexikon, 13. vollst. umgearb. Aufl., Bd. 11, Leipzig 1885, 302). Makkaroni waren zwar Vorreiter verpackter Ware, wurden aber noch vielfach lose verkauft. Im Handel schied man zudem zwischen unbeschädigter Ware und sog. Bruch-Makkaroni – weniger ansehnlich, billiger, aber von gleichem Nährwert. Frühe Händlermarken bestanden, nicht aber überregional erfolgreiche Markenartikel (Chocolade- und Cacao-Fabrik von Lobeck & Co., Illustrirte Curorte-Zeitung 1893, Nr. 14 v. 20. August, 9).

26_Das Bayerland_03_1892_Nr03_p8_Versandgeschaeft_Teigwaren_Eier-Makkaroni_Bruchsal

Visuelle Rückständigkeit: Neapolitanischer Makkaronistand im späten 19. Jahrhundert (Gartenlaube 1898, 852)

Hinzu kamen die Errungenschaften der modernen Teerchemie. Die gelbe Farbe der Eiernudeln wurde schon früh mit natürlichen Farbstoffen unterstützt. Teerfarben waren billig, aber giftig. Sie wurden durch Farbengesetz von 1887 teils verboten, doch für Eier-Makkaroni gab es gewichtige Ausnahmen. Erst nach der Jahrhundertwende wuchs sich das Ringen um die Gelbfärbung der Nudeln zu einem Grundsatzkampf zwischen Nahrungsmittelkontrolle und der Teigwarenindustrie aus (A[dolf] Juckenack, Ueber die Untersuchung und Beurtheilung der Teigwaren […], Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 3, 1900, 1-17). Die Konsumenten konnten nie sicher sein, was sich hinter dem schillernden Begriff der Eiernudel, der Eier-Makkaroni verbarg (Fred Hood, Maccaroni und Konsorten, Kochkunst 6, 1904, 341-344, hier 341). Die Händler behalfen sich mit Hinweisen wie „nicht gefärbt“ oder aber „echt“ (Sächsischer Landes-Anzeiger 1889, Nr. 102 v. 3. Mai, 4), doch diese waren nicht immer glaubwürdig. Deutsche Makkaroni waren wahrlich vielgestaltig.

Diese Unsicherheit begrenzte die Verbreitung der deutschen Makkaroni, doch die wachsende Produktion führte dennoch zu einer immer breiteren Akzeptanz. Kochbücher enthielten nicht mehr länger eine Handvoll Rezepte, stattdessen konnte man durchaus zwanzig verschiedene Zubereitungsformen finden (Anna Oppre, Das neue Kochbuch für das deutsche Haus, Augsburg 1879). Weiterhin wichtig waren Suppenrezepte, nun nicht nur in Fleischbrühsuppen, sondern auch in Eintöpfen aus Erbsen oder Pastinaken. Neben den Nudeln etablierten sich die Makkaroni immer stärker als Beilage zu verschiedenen Fleischarten, aber auch Ragouts. Aufläufe blieben wichtig, ebenso Süßspeisen. Entsprechende Rezepte erschienen seither auch in den nun entstehenden hauswirtschaftlichen Zeitschriften (Die Hausfrau 3, 1879, Nr. 12, 2-3). Doch das Wirken der Frauen wurde natürlich überstrahlt von der Tafel der Allerhöchsten Majestäten.

Friedrich III. aß trotz Kehlkopfkrebs Beefsteak mit Makkaroni (Das Befinden des Kaisers, Rheinischer Merkur 1888, Nr. 97 v. 30. April, 1). Sein Nachfolger Wilhelm II. speiste kurz darauf bei seinem geliebten Frühstück „nach englischer Sitte“ Makkaroni mit Leber-Haschee, erfreute sich an deutschen Makkaroni in den von Ihm geschätzten klaren Suppen (Bensberg-Gladbacher Anzeiger 1890, Nr. 20 v. 8. März, 2). Wen wundert es da, dass die Makkaroni auch vom gehobenen Bürgertum verspeist wurden: gefüllt natürlich, gemeinsam mit Kaviar, Flusskrebsen oder Hummer (Paul von Schön[xxx], Aus der deutschen Reichshauptstadt, Münchner Neueste Nachrichten 1889, Nr. 11 v. 8. Januar, 1-2, hier 2). Die Makkaroni hatten sich in Deutschland – wie schon zuvor in Italien – abseits der Unter- und Mittelschichten etabliert; allerdings nicht als lange, schwer zu handhabende Röhren, sondern kleiner vorportioniert.

Parallel etablierten sie sich nun auch in der Krankenkost. Sie galten als „eine ganz nahrhafte, leichtverdauliche Speise, wenn sie gut durchgekocht werden“ ([Ludwig] Disque, Die diätetische Küche, Leipzig 1894, 40). Weich mussten die Makkaroni sein, sehr weich. Das bedeutete wahrlich eine ganze Stunde Kochzeit (Max Jahn, Häusliche Krankenpflege, Stuttgart 1887, 51). Zudem fanden sie sich in der Militärkost; als Menagespeise, nicht aber in den Verpflegungsvorgaben bzw. der Eisernen Portion. Da konnten, zumindest im Süden, Bäckereien kaum nachstehen. Makkaroni-Plätzchen galten als regionale Spezialitäten, auch Makkaroni-Torten und -Gebäck wurden angeboten (Peppi Bierhuber, Ein Tag in Regensburg, Regensburg s.a. [1880]; Rosenheimer Anzeiger 1907, Nr. 30 v. 6. Februar, 4). Im späten 19. Jahrhundert hatten sich die Makkaroni im Deutschen Reich allgemein durchgesetzt, wenngleich sie weder an Reis, noch gar an die Kartoffeln heranreichten (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20). Verlässliche Zahlen fehlen, da die Weizenverwendung nicht zurechenbar ist und Produktionsziffern nicht vorliegen.

Italien als armes und rückständiges Land

Italien war zu dieser Zeit ein Bundesgenosse des Deutschen Reichs, mochte der 1882 geschlossene Dreibund (mit Österreich-Ungarn, dann auch mit Rumänien) auch nicht sehr eng gewesen sein. Die Rückdeckung dieser Mächte ermöglichte dem industriell rückständigen Land eine nicht sehr erfolgreiche Kolonialpolitik in Nord-, vor allem aber in Ostafrika. Eine Großmacht wurde Italien nicht, trotz der sich im Norden langsam entwickelnden Industrie.

27_Gartenlaube_1898_p0852_Fastfood_Nudeln_Makkaroni_Straßenverkaeufer_Neapel

Visuelle Rückständigkeit: Neapolitanischer Makkaronistand im späten 19. Jahrhundert (Gartenlaube 1898, 852)

Nach wie vor bildeten die Makkaroni ein wichtiges Symbol für die deutsche Vorstellung des südlichen Landes. Die Veränderungen in der Fabrikation wurden dabei kaum berücksichtigt. Stattdessen würzte man Reiseberichte immer noch mit den alten Vorstellungen der „lüstern auf die langen gelben Makkaronischlangen“ wartenden Neapolitaner. Doch abseits des Straßenspektakels wurde die mangelnde Hygiene stetig beklagt, neben „das emsige, summende Umherschwirren und das behagliche Naschen des lieblichen Fliegengeschlechts“ traten nun auch verdreckte, unbeaufsichtigte Straßenkinder, die sich an der Trockenware labten (Neapolitanische Makkaroni, Mußestunden 2, 1905, Nr. 7, 27). Die offenkundige Armut trat immer stärker hervor, das Vertilgen der Makkaroni wurde auch als Konsequenz menschenunwürdiger Arbeits- und Lohnverhältnisse gedeutet (Die deutsche Frau im Urteil eines Italieners, Coburger Zeitung 1907, Nr. 53 v. 3. März, 5). Makkaroni, das war auch eine regionale Speise des armen agrarisch geprägten und rückständigen italienischen Südens, der damals wichtigsten Auswanderregion Italiens.

28_Das Blatt der Hausfrau_16_1905-06_p0239_Makkaroni_Nudeln_Italien_Buergertum_Gabel

Einzelportionen und Gabeleinsatz: Gutbürgerliche Mittagstafel (Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239)

Doch das Bild der Fremde weitete sich, einerseits durch den Aufstieg eines kultivierten Bürgertums im Norden Italiens, anderseits durch die zunehmende Präsenz von Arbeitsmigranten und ihrer Küche im Deutschen Reich. Ersteres war kultiviert, wurden ob seiner Gewandtheit im Umgang mit den glitschigen Teigwaren immer wieder gerühmt. Dagegen trat nun der für Italien konstitutive Nord-Süd-Gegensatz immer stärker hervor. Die Fotografien Wilhelm von Gloedens (1856-1931) verbanden Antikenverehrung und Homosexualität, standen für eine im deutschen Bürgertum weit verbreitete Sehnsucht nach einem längst vergangenen Arkadien. Die Einheimischen wurden Objekte, näherten sich den Eingeborenen insbesondere afrikanischer Kolonien, die eingefangen und ausgestellt wurde – in Reiseberichten, Fotografien und Völkerschauen. Das Treiben in den Straßen Neapels wurde weiter exotisiert, stand in immer deutlicherem Gegensatz zum eigenen zivilisatorischen Standard: „‚Höher geht es nicht hinauf, / Mehr erfindet Keiner drauf, / Als die grosse Herzeswonn‘ / Einer Schüssel Maccaron‘“ (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20).

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Rückzugsort für Wanderarbeiter: Italienische Gaststätte in Berlin – mit Makkaroni und Berliner Weiße (Das Buch für Alle 30, 1895, 537)

Das Treiben in Neapel gewann im späten 19. Jahrhundert jedoch eine neue Anschaulichkeit durch die wachsende Zahl von italienischen Arbeitsmigranten im Deutschen Reich. Dabei handelte es sich zunehmend um Land- und Bauarbeiter, sichtbar aber waren vor allen die zahlreichen Straßenhändler. Italienisches Speiseeis trat neben die Konditorenware der Etablierten, Südfrüchte fanden so raschen Absatz. Der Absatz war zufriedenstellend, die öffentliche Debatte aber folgte vielen Tropen der Makkaroniherstellung, insbesondere fehlender Reinlichkeit. Und doch bürgerten sich die fremden Speisen langsam ein. Für unseren Blick auf die Makkaroni sind die Koppeleffekte wichtig: Denn in den Großstädten etablierten sich ab den 1890er Jahren erste „italienische“ Restaurants, anfangs als Begegnungsorte der Wanderarbeiter, dann auch als Speiseort für interessierte Kundschaft (Eine italienische Volkskneipe in Berlin, Das Buch für Alle 30, 1895, 535; Stefano de Michielis, Osteria Italiana. Wo die Liebe zur italienischen Küche begann, München 1998). Makkaroni konnten hier vermeintlich original gegessen werden. All das war getragen durch ein Netzwerk italienischer Groß- und Einzelhändler, die Produkte aus dem Süden auch versandten. Dabei dominierten klar benennbare Weine und Spirituosen, doch neben Makkaroni (und zunehmend den zu höheren Preisen verkauften Spaghetti) traten vermehrt Parmesankäse, Olivenöl und auch Tomatenmark.

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Die Indolenz des Südländers (Lustige Blätter 25, 1910, Nr. 35, 8)

In der deutschen Öffentlichkeit verschwammen parallel Bilder des rückständigen Italiens mit denen der eher armen Arbeitsmigranten. Sie wurden denunziert, der Begriff „Makkaronifresser“ kam auf. Trotz Billiglöhnen gab es immer wieder Vorwürfe der Faulheit, der geringen Arbeitsproduktivität. Dies wurde zurückgeführt auf die vermeintlich billige Grundkost, die italienischen Makkaroni. Parallel aber wurden die deutschen Makkaroni fortentwickelt. Noch mochte man sie importieren, doch es sei nur eine Frage der Zeit, bis die billigere und bessere deutsche Ware das veraltete Original würde verdrängt haben (Wilhelmine Bird, Die Reis- und Makkaroninahrung, Die Woche 14, 1912, 1710-1711, hier 1711).

Deutschland als Makkaroniland

Aller kulinarischen Akzeptanz der Makkaroni zum Trotz fremdelten viele Deutsche mit den Makkaroni: „Der Nordeuropäer wird wohl kaum ein schwärmerischer Liebhaber der Maccaroni werden“ (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20).

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Wir bleiben lieber hier – Kulinarische und sonstige Vorbehalte (Lustige Blätter 29, 1914, Nr. 29, 9)

In Deutschland war man sich jedoch einerseits sicher, dass man eine billigere Ware gleicher Güte produzierte (Hood, 1904, 344). Die Bilder Italiens waren allerdings eng verbunden mit Naturnähe und frischer Kost, so dass sich deutsche Hausfrauen – wie auch bei Konserven – eine innere Reserve gegenüber den anonymen Teigwaren bewahrten (Fred Hood, Die Industrie der Nudeln, Kochkunst 4, 1902, 49-50, 65-66, hier 50). Frau war sich bewusst, dass es sich um ein „künstlich hergestelltes Nahrungsmittel“ (Maccaroni, die Nationalspeise der Italiener, Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239-240, hier 239) handelte, dass die einfache „Mehlware“ Nährmittel fern des Südens war. Allerdings wusste man um deren küchentechnischen und zeitökonomischen Vorteile, denn die Fertignudeln waren Teil der Verlagerung häuslicher Tätigkeiten auf das Gewerbe, ermöglichten so eine schnellere Küche. Das war wichtig, zunehmend auch in Arbeiterhaushaltungen (Fleisch-Maccaroni, Frauen-Genossenschaftsblatt 6, 1907, 55): „Wo man ein schnelles, billiges, nahrhaftes Gericht bereiten will, sind Maccaroni das beste Aushilfsmittel“ (Maccaroni, 1905/06, 239).

Hauswirtschaftlerinnen wussten anderseits, dass ein Einzelprodukt immer in einem breiteren kulinarischen und gesellschaftlichen Rahmen verstanden werden muss. Denn auch in Italien veränderte sich die Pasta-Produktion, veränderten sich Nudelvorlieben und Qualitätsansprüche: „Der Italiener zieht die dünneren Röhren den stärkeren vor. Er besitzt auch einen ausgebildeteren Geschmack für die Qualität als wir. Während wir anstandslos oft schon sehr lang gelagerte Makkaroni verwenden, sucht der Italiener sie so frisch gemacht wie möglich zu erhalten, und 8 Tage alte scheinen ihm schon kaum mehr annehmbar“ (Bird, 1912, 1711). Hinzu kam der Aufstieg der Spaghetti, anfangs deutlich dünnerer Hohlnudeln, die nun als durchgängige Teigschnürchen massenhaft produziert wurden. Im Deutschen Reich gab es sie vereinzelt schon in den 1870er Jahren (Augsburger Neueste Nachrichten 1874, Nr. 24 v. 28. Januar, 299), doch setzten sie sich abseits der Spezialitätengeschäfte hierzulande erst in den 1920er Jahren durch – parallel zu sinkenden Preisen und vermehrter gewerblicher Produktion in Deutschland. Spaghetti galten zuvor als feiner „als die dicken Makkaroni, die immer etwas Teigiges behalten. Auch die kürzere Kochdauer der Spaghetti ist ein nicht zu unterschätzender Vorzug. Brauchen die dicken Makkaroni mindestens ¾ Stunden zum Garwerden, so sind die Spaghetti in dem dritten Teil der Zeit fertig“ (Makkaroni, Für unsere Mütter und Hausfrauen 1913, Nr. 15, 58). Die Fokussierung der deutschen Anbieter auf eine gleichwertig-verbesserte Makkaroni bedeutete damit eine neuerliche Entfernung vom italienischen Markt, barg aber auch neuerliche Chancen für ein neuerliches Nachahmen und Verbessern. Das galt auch für neue Beikost, denn Ketchup wurde damals noch mit Essig haltbar gemacht, mit Nelken und Muskatnuss verfeinert (H. Roßmann, Moderne Zubereitungsweisen von Tomaten-Mus, Die deutsche Essigindustrie 18, 1914, 500-501).

32_Karlsruher Tagblatt_1904_10_09_Nr281_p6373_Makkaroni_Eier-Makkaroni_Hartweizengriess

Ein breit gefächertes Makkaroni-Angebot (Karlsruher Tagblatt 1904, Nr. 281 v. 9. Oktober, 6373)

Abseits dieser transkulturellen kulinarischen Debatten gewannen Makkaroni vor allen während der Teuerungsphasen im Vorkriegsjahrzehnt an Bedeutung. Makkaroni waren eine flexibel zu ergänzende Grundspeise, deren Soße mit und ohne Fleisch, mit und ohne Käse, Butter und Gemüsen zubereitet werden konnte (Rosenheimer Anzeiger 1911, Nr. 233 v. 12. Oktober, 4). Das passte zur deutschen Restküche, das erlaubte marktsensiblen Einkauf angesichts grassierender und – wie heute – politisch durchaus gewollter Inflation. Zudem etablierte sich die Makkaroni-Fabrikware als eine saisonale Übergangskost, die im Frühjahr bereits keimende eingelagerte Kartoffeln ersetzen konnten, ehe Frischware wieder verfügbar war.

33_Vorwaerts_1907_03_21_Nr068_p08_Warenhaus_Wertheim_Kolonialwaren_Makkaroni_Deutsche-Makkaroni_Preise_

Billige deutsche Makkaroni: Anzeige des Berliner Warenhauses A. Wertheim (Vorwärts 1907, Nr. 6 v. 21. März, 8)

Nudeln und Makkaroni waren um die Jahrhundertware zumeist noch anonyme Produkte. Einzig die nationale Herkunft wurde ausgelobt, ebenso die Art der Zusätze. Deutsche Makkaroni kosteten durchweg weniger, das Attribut „italienisch“ verteuerte die Ware. Für die deutschen Hersteller war dies unbefriedigend, konkurrierten sie doch mit Angeboten eines armen Landes mit niedrigen Löhnen. Das deutsche Markenrecht wurde durch das 1894 erlassende Gesetz zum Schutz der Warenbezeichnungen modernisiert – und die Teigwarenindustrie nutzte den Markenschutz seither zur Ausbildung neuer Markenidentitäten und erhöhter Wertschöpfung.

34_Deutscher Reichsanzeiger_1914_04_16_Nr089_p18_Ebd_1913_08_15_Nr191_p15_Nudeln_Eiernudeln_Germania_Nationale-Werbung_Robert-Densow_Dresden_Otto-Kaiser_Schwarzwald_Regionale-Spezialitaeten_

Eiernudeln als Standardprodukte: Nationale und regionale Ernährungszuschreibungen (Deutscher Reichsanzeiger 1914, Nr. 89 v. 16. April, 18 (l.), ebd. 1913, Nr. 191 v. 15. August, 15)

Vorreiter waren hierbei die Eiernudelfabrikanten, deren Preise ohnehin an der Spitze lagen. Sie etablierten seit den späten 1890er Jahren zahlreichen Marken, die entweder national ausgerichtet waren, häufiger aber die regionale Nudelkultur des deutschen Südens spiegelten und stärkten. Für die Makkaroniindustrie war die Aufgabe schwieriger, war der Bezug zum italienischen Original doch ein kommunikativer Kraftakt.

35_Deutscher Reichsanzeiger_1899_09_01_Nr206_p09_Ebd_11_17_Nr273_p11_Makkaroni_Hartweißengriess_Gottfried-Niemoeller_Guetersloh_Vater_Lockwitz_Globus

Markenartikelanbieter in Nord- und Mitteldeutschland: Gottfried Niemöller, Gütersloh und Vatersche Maccaroni- und Eierwarenfabrik, Lockwitz (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 206 v. 1. September, 9 (l.); ebd., Nr. 273 v. 17. November, 11)

Die deutschen Hersteller kokettierten dabei nur selten mit den aus der Reiseliteratur bekannten Versatzstücken Italiens. Stattdessen positionierten sie ihre Makkaroni als kosmopolitische, als globale Waren. Die Hausfrau war Endpunkt einer langen Beschaffungskette, just für sie geeigneten Hartweizens. Deutsche Makkaroni hatten demnach Weltgeltung, waren moderne Produkte in einer zunehmend globalisierten Welt.

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Hahn im italienischen Ambiente: Knorr-Markenzeichen 1891 (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 148 v. 26. Juni, 9)

Eine andere Markenstrategie bestand in abstrakten Markenbildern. Die 1838 in Heilbronn von Carl Heinrich Knorr (1800-1875) gegründete Firma entwickelte sich aus dem Kolonialwarenhandel, stieg in das Ersatzkaffeegeschäft ein, handelte mit Landesprodukten, insbesondere mit Mühlenfabrikaten. Knorr war einer der frühen deutschen Hersteller von Nährmitteln und Suppenpräparaten, dessen Absatz seit den 1880er Jahren durch erst regionale, dann zunehmend nationale Werbepräsenz gefördert wurde. Als Knorr 1891 auch die Teigwarenproduktion aufnahm, nutzte die Firma das bereits etablierte Dachmarkenzeichen des Hahns, bettete es jedoch noch in ein italienisches Ambiente ein. Diese „Maccheroni“ waren durchaus erfolgreich, blieben aber hinter dem Absatz anderer Präparate zurück.

37_Deutscher Reichsanzeiger_1905_02_28_Nr081_p14_Makkaroni_Kaethchen_C-H-Knorr_Heilbronn_Verpackung

Makkaroni-Verpackung von Knorr 1905 mit dem Markenbild Käthchen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 81 v. 28. Februar, 14)

Das änderte sich erst, nachdem Knorr im frühen 20. Jahrhundert in die großbetriebliche Fertigung einstieg. Von französischen Ingenieuren erwarb man neue Trocknungsverfahren (Erfolge der deutschen Maccaroni-Industrie, Kochkunst und Tafelwesen 9, 1907, 198). Damit konnte man die Makkaroni nicht nur schneller verkaufsfertig machen, sondern besaß auch ein Alleinstellungsmerkmal: „Knorrs Makkaroni […] werden aus dem besten Rohmaterial hergestellt und zwar nach besonderem, durch zwei D. R.-Patente geschütztes Verfahren. Hierbei geschieht die Anfertigung ganz automatisch, also nicht durch Händearbeit, was im Gegensatz zu den früheren Methoden ein unschätzbarer Vorteil ist“ (Unsere Nährmittel, Großer Volkskalender des Lahrer hinkenden Boten 1906, Anzeigenanhang). Die Werbung bediente damit Kernpunkte des deutschen Italienbildes: „‚Gekaufte Mehlspeisen darf meine Frau nicht kochen‘ hörte man früher allgemein und war dieser Standpunkt nicht ganz unberechtigt, wenn man bedenkt, in welcher primitiven Weise die Mehlspeisen früher erzeugt wurden. Heute gibt es jedoch modern eingerichtete Teigwarenfabriken, deren Fabrikate gegenüber das frühere Mißtrauen nicht mehr am Platze ist. So werden z.B. in der bekannten Nahrungsmittelfabrik von C.H. Knorr […] mit frischer Luft getrocknet, so daß der Teig weder mit der Hand des Arbeiters, noch mit Pappdeckeln in Berührung kommt“ (Arbeiter-Zeitung 1908, Nr. 59 v. 29. Februar, 9).

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Reichsweite Präsenz: Werbung für Knorrs Makkaroni (Der Welt-Spiegel 1912, Nr. 6 v. 11. Februar, 6)

Anfangs vor allem in Form von kleinen Werbetexten propagiert, bündelte Knorr seine zunehmend ausdifferenzierte Palette von Teigwaren unter dem Bild des Hahns, der natürlich eine Reminiszenz an die deutsche Eiernudelkultur war. Doch als Vollsortimenter bot die Firma gleichermaßen Weich-, Hartweizen- und Eier-Makkaroni an. Anders als die neapolitanischen Köche sang Knorr von der „Vervollkommnung der Maschinen“, von vollwertigen und schnell zuzubereitenden Nährmitteln (Moderne Teigwaren, Kochkunst und Tafelwesen 12, 1910, 300-302, hier 301). Auf Grundlage der schon für die Suppenpräparate etablierten Vertriebsnetze wurde Knorr zum wohl wichtigsten nationalen Makkaronianbieter im späten Kaiserreich: „Knorr-Suppen und Auto-Maccaroni nähren am besten und billigsten“ (E. Zilka, Die Schmiere. Humoreske, Der Volksfreund 1913, Nr. 34 v. 17. April, 1-2, hier 1) hieß es nun, Ausdruck auch des Größenwachstums der Nahrungsmittelindustrie: „Die Herstellung von Teigwaren oder Nudeln, die ursprünglich nur im Haushalt und mit der Hand erfolgte, ist im Laufe der letzten 25 Jahre zum Großbetrieb herangewachsen“ (Neues Verfahren zur Herstellung von Maccaroni, Kochkunst 8, 1906, 79-80, hier 80).

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Storch-Markenartikel als Qualitätsprodukt (Straßburger Neueste Nachrichten 1913, Nr. 106 v. 8. Mai, s.p.)

Knorrs Wettbewerber folgten, doch bedienten sie zumeist regionale Märkte. Das galt besonders für die Eier-Makkaroni. All diese marketingorientierten Firmen etablierten nicht nur Markenbilder (allerdings noch nicht abstrakte Markennamen), sondern setzten auch klar identifizierbare Verkaufspackungen durch.

Die Entzauberung der Makkaroni im Ersten Weltkrieg

War schon die Sprache der Markenartikelproduzenten sachlich, auf hauswirtschaftliche Vorteile ausgerichtet, so entzauberte der Weltkrieg die Makkaroni nochmals. Italien trat nicht an der Seite seiner früheren Bundesgenossen in den Krieg ein, wechselte gegen territoriale Zusagen vielmehr die Seiten und erklärte im Mai 1915 den Mittelmächten den Krieg.

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Makkaronisierung des Gegners (Wieland 1, 1915/16, Nr. 11, 9)

Dieser „Verrat“ „von landgierigen Makkaronifressern“ (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1917, Nr.282 v. 6. Dezember, 1) führte zu einer allgemeinen Schmähung des Kriegsgegners. Trotz beträchtlicher Unterstützung der Entente unterstrich der Krieg die militärisch-industrielle Rückständigkeit Italiens und mündete in sinnlose Gemetzel. Als mit massiver Unterstützung deutscher Truppen die zwölfte Isonzoschlacht 1917 mit einer fast verheerenden Niederlage der Italiener endete, wurde der Vormarsch in die Piaveebene auch im Medium des Essens zelebriert.

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Deutsche Truppen als Vorläufer der deutschen Touristen der 1950er Jahre (Ulk 46, 1917, Nr. 46, 3)

Die (virtuelle) Einverleibung der Makkaroni in eroberten italienischen Territorien war jedoch nur Teil eines breiteren Kulturkampfes. Es ging um Sprachreinigung, also nicht nur um die Tilgung der Pasta-Begriffe zugunsten edler deutscher Namen, sondern auch um die Abkehr vom nachäffenden „Makkaroni-Deutsch“ vieler Auslandsdeutscher (Eduard Engel, Weltsprachen nach dem Kriege, Daheim 52, 1915-16, Nr. 43, 10-11, hier 11). Deutsche weigerten sich „Makkaroniesser“ genannt zu werden, zumal von den als „Makkaronifressern“ attribuierten Italienern (Curt Bauer, Italienische Lebensmittel-Fata Morgana, General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1920, Nr. 10884 v. 9. Dezember, 5). Dabei ging es auch handgreiflich zu, etwa als 1919 Unter den Linden vier italienische Offiziere als „Maccaroni“ beschimpft wurden, einer davon dem Schmäher eine Ohrfeige erteilte und es nur Schutzleuten zu verdanken war, dass der folgende Auflauf nicht eskalierte (Ein neuer peinlicher Zwischenfall in Berlin, Deutsche Reichszeitung 1919, Nr. 220 v. 14. August, 2).

Die Sprachpflege zielte aber auch auf die Tilgung des Begriffs „Makkaroni“, auf dessen Ersatz etwa durch „Verrat- oder Hohlnudeln“ (J.B. Krauß, Orientfahrt im Weltkrieg. 2. Wiens wirtschaftliche Verhältnisse, Badischer Beobachter 1915, Nr. 528 v. 23. November, 2). Zahlreiche Kriegskochbücher verzichteten auf den italienischen Begriff (etwa Käthe Birke, Die fleischlose Küche in der Kriegszeit […], Karlsruhe s.a. [1917]), auch im Rahmen der Rationierungswirtschaft wurden vielfach „Hohlnudeln“ ausgegeben (Badischer Beobachter 1919, Nr. 174 v. 12. April, 4). Der Begriff fand sich zwar schon lange zuvor, begleitete die Akkulturation der Makkaroni (Tag-Blatt der Stadt Bamberg 1846, Nr. 130 v. 12. Mai, 566; Straubinger Tagblatt 1866, Nr. 220 v. 20. September, 939, Ingolstädter Tagblatt 1874, Nr. 54 v. 3. März, 216). Doch der abgrenzte Begriff der „Hohlnudel“ hielt sich bis weit in die 1920er Jahre, wurde auch von einigen Herstellern konsequent benutzt.

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Temporäre Sprachreinigung: Hohlnudel-Angebote (Karlsruher Tagblatt 1924, Nr. 382 v. 11. September, Beil., 3 (l.); ebd. Nr. 376 v. 7. September, 3)

Doch nicht nur diese Ideologisierung entzauberte die Makkaroni. Als nahrhaftes und lagerfähiges Produkt waren sie nämlich auch ein integraler Bestandteil der Rationierungswirtschaft. Dazu trugen verstärkte italienische Lieferungen 1914/15 bei (Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 185 v. 12. April, 4; Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 345 v. 17. Juli, General-Anzeiger, 1). Doch zumeist handelte es sich um deutsche Makkaroni, immer weniger aus Hart-, immer mehr aus Weichweizen. Als Mitte 1915 die deutschen Makkaroniproduzenten von der Zentralen Einkaufs-Gesellschaft Weizenkontingente zugewiesen bekamen, unterstricht dies, ebenso wie der Einbezug in die seit Oktober 1915 geltenden Höchstpreisregeln, die nicht unbedeutende Stellung des Nährmittels als Alltagsspeise (Nudeln und Makkaroni, Berliner Börsen-Zeitung 1915, Nr. 345 v. 27. Juli, 4; Preisregelung für Teigwaren, Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 556 v. 30. Oktober, 3).

Makkaroni wurden vor allem als Beikost und Suppenbestandteile verwendet, im Haushalt wohl auch als Hauptmahlzeit (Die neuen Volksküchen, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 182 v. 3. Juni, General-Anzeiger, 1). In den seit Mitte 1916 eingerichteten Volksküchen waren sie Ausdruck sowohl nationalen Durchhaltewillens als auch der schwindenden Nahrungsmittelreserven: „Wenn der Teufel in der Not auch Fliegen frißt, dann dürfte man wohl auch erwarten, daß der Münchner Fleischesser in der Not auch Makkaroni, Reis und Gemüse essen kann“ (Decker, Zentralisierung der Volksernährung, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 299 v. 14. Juni, General-Anzeiger, 1). Weizen wurde jedoch immer knapper, so dass sich die Makkaroni-Qualität massiv verschlechterte (Makkaroni in Gefahr!, Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 59 v. 19. Februar, 3). Ersatzmittel aber gab es nicht, im Gegensatz zu Eiernudeln.

Deutsche Makkaroni als billige Alltagsspeise in den 1920er Jahre

Es dauerte bis 1922, ehe die Teigwarenproduktion wieder an alte Höhen anknüpfen konnte. Die völkerrechtswidrige Seeblockade Deutschlands wurde bis 1919 beibehalten, der Bürgerkrieg in Russland unterminierte Hartweizenimporte. Danach aber setzte eine reichsweite Gemeinschaftswerbung der Hersteller ein: Makkaroni aus Hartweizen galten dabei als „Helfer in der Not“ (C.V.-Zeitung 1, 1922, 157), als „Deutsche Ware“, der „besten Auslandsware überlegen“.

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Gemeinschaftswerbung für deutsche Teigwaren – inklusive deutscher Makkaroni (C.V.-Zeitung 1, 1922, 206 (l.); ebd., 147)

Trotz weiterer Rückschläge während der Hyperinflation boten insbesondere die großen Markenartikelproduzenten seit Mitte der 1920er das bekannt breite Sortiment deutscher Makkaroni an. Mehr schien möglich, entsprechend finden sich zu dieser Zeit vermehrte Rezeptangebote, um die Teigwaren vielfältiger einzusetzen (Gerichte von Makkaroni, Haus Hof Garten 46, 1924, 113)

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Ausbreitung starker, reichsweit präsenter Markennudeln (Vorwärts 1926, Nr. 462 v. 1. Oktober, 4)

Die deutschen Herstellen waren seit Mitte der 1920er Jahre jedenfalls mit sich im Reinen: „Die in Deutschland hergestellten Makkaroni werden selbst von den Italienern als qualitativ vorzüglich anerkannt“ (Die italienische Küche, Lippspringer Anzeiger 1933, Nr. 35 v. 11. Februar, 8). Die lange Akkulturation und die vielfältigen gewerblichen Bestrebungen hatten die italienischen Makkaroni aus ihrer Sicht letztlich überflüssig gemacht. Das zeigte sich beispielhaft in der Selbstdarstellung des damals größten deutschen Makkaroni- und Nudelproduzenten, der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Konsumvereine (GEG), die zwei Großbetriebe in Riesa und Mannheim unterhielt und ca. zehn Millionen Verbraucher versorgte. In dieser Säule der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung waren Teigwaren und Makkaroni Belege für sozialpolitischen Fortschritt sowohl durch erschwingliche Qualitätsnahrung als auch durch vorbildliche Arbeitsbedingungen: „Während wir die großen, luftigen Arbeitssäle durchschreiten, fällt uns die peinliche Sauberkeit auf, die überall herrscht. Durch hohe Fenster flutet das Licht; es mag ruhig bis in die äußerste Ecke dringen, Staub wird es nirgends finden. Alle Beschäftigten tragen weiße Arbeitskleidung, die ihnen vom Betrieb geliefert wird. Angesichts dieser bewußt und mit modernen Mitteln angewandten Hygiene erscheint es sonderbar, daß es heute noch Hausfrauen gibt, die da meinen, die Makkaroni müßten italienischen Ursprungs sein, wenn sie munden sollen“ (Der Werbegang der Makkaroni, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 8, 14).

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Massenmarkt und Sortimentsspreizung: Angebote der Konsumgenossenschaften (Vorwärts 1928, Nr. 249 v. 11. September, 10)

Der Stolz der Konsumgenossenschaften war eingebettet in die gängigen Stufentheorien der damaligen Nationalökonomie und des Marxismus. Makkaroni waren ein Beispiel für „die Vorteile hygienisch einwandfreier, maschineller Großproduktion von Nahrungsmitteln gegenüber der handwerksmäßigen Erzeugung“ (Herstellung von Makkaroni durch die GEG und – in Italien, Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 113-114).

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Hygiene und Maschinensaal: Einblick in die konsumgenossenschaftliche Teigwarenfabrik in Riesa (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 113)

Der Fortschritt im Deutschen Reich wurde durch den Gegensatz zur italienischen Originalware nochmals unterstrichen: „Vergleicht man hiermit die Bilder, welche die Herstellung der italienischen Makkaroni zeigen, dann steigt unwillkürlich ein Widerwillen gegen die sogenannten ‚echten‘ Makkaroni auf, die leider auch heutzutage immer noch gefordert werden. Straßen, Hof und Marktplätze, düstere schmutziggraue Räume ohne Licht und Luft sind die Arbeitsstätten, in denen die Nudeln noch genau so wie vor 100 Jahren produziert werden, nur daß die benutzten Werkzeuge, besonders die Stäbe zur Herstellung des Hohlraumes der Makkaroni nicht mehr aus Holz, sondern aus Eisen bestehen. Auch heute noch wird der Teig mit den Füßen geknetet, und noch immer hängt man die fertigen langen Nudeln auf Leinen zum Trocknen an die Sonne, während man die kleineren Suppennudeln auf Zeitungspaper am Boden dürr werden läßt“ (Herstellung, 1926, 114; zur Technik s. Helmut Emmerling, Die deutsche Teigwarenindustrie, Phil. Diss. Leipzig 1929).

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Überwundene Zustände: Pasta-Trocknung in den Straßen Neapels (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 115)

Damit übersah man die Modernisierung auch der italienischen Großbetriebe. Doch man nutzte die bestehenden kulturellen Vorstellungen über Italien – im Falle der Konsumgenossenschaften sicher vor dem Hintergrund eines faschistischen Regimes, das als reaktionär gedeutet wurde, als Unterdrückungsregime von Landbesitzern und Industriellen. Zugleich erlaubten die nicht unbeträchtlichen Investitionen der Konsumgenossenschaften und auch der Markenartikelproduzenten einen höheren Makkaronikonsum während der Weltwirtschaftskrise. Wie schon zur Zeit der Lebensmittelteuerung vor dem Ersten Weltkrieg wurden deutsche Makkaroni neuerlich zu einer Krisenspeise.

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Nahrhaft mit und ohne Fleisch (Vobachs Frauenzeitung 38, 1935, H. 7, 16)

Sie standen neuerlich für eine varianten- und nährstoffreiche Grundversorgung, eiweißreich, leicht verdaulich, mit hohem Sättigungswert. Ergänzt durch Pflaumen, Backobst und Gemüse konnte man sich trotz Armut und Arbeitslosigkeit vitamin- und mineralstoffreich ernähren (Die Küche im Januar, Westfälische Neueste Nachrichten 1933, Nr. 15 v. 18. Januar, 11). Das blieb auch nach der Machtzulassung des „deutschen Mussolinis“ so. 1938 konsumierten die Deutschen immerhin 1,73 kg pro Kopf und Jahr gewerblich hergestellter deutscher Makkaroni (Rudolf Drescher, Die Teigware, Die Ernährungswirtschaft 2, 1955, 208-209, hier 209).

Auftakt eines neuen Sehnsuchtslandes Italien

Damit könnten wir gesättigt und ernüchtert enden. Doch um zu erklären, warum die italienische Küche weiterhin als Sehnsuchtsküche fungierte, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Touristen erobert und in Restaurants von Migranten hierzulande zunehmend „original italienisch“ dargeboten wurde, sollten wir abschließend noch auf die neuerliche Verzauberung der Makkaroni und Italiens blicken.

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Dampfende Makkaroni, dampfender Vesuv: Neapel als Reiseliteraturidylle (Agnes Harder, Capri und der Golf von Neapel, Bielefeld und Leipzig 1911, 1 (l.), 3)

Diese setzte nie wirklich aus, mochte sie auch in den Hintergrund treten und immer weniger geglaubt werden. Der Massenmarkt des bürgerlichen Tourismus unterstützte diese, ebenso die langsam wachsende Zahl von italienischen Feinkostgeschäften (Münchner Neueste Nachrichten 1911, Nr. 466 v. 5. Oktober, General-Anzeiger, 2) und italienischen Eisdielen in der Zwischenkriegszeit. Die Schönheit des Landes, der Reichtum seines kulturellen Erbes, gewiss auch die reflektierte Freundlichkeit der Einheimischen gegenüber zahlungskräftigen Gästen setzten sich immer wieder durch gegen die Überlegenheitsgelüste der deutschen Makkaroniesser: „Also wohl nach Italien. Und mit einem F-D-Zug, um möglichst schnell in das von der deutschen Seele gesuchte, heißgeliebte Land der Makkaroni zu gelangen“ (Ingolstädter Anzeiger 1927, Nr. 219 v. 24. September, 3).

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Spiel mit den widerspenstigen Makkaroni: Italiens Wendung gegen die dickmachenden und devisenträchtigen Hartweizenprodukte sowie der Kampf mit dem Objekt im Restaurant (Jugend 35, 1930, 252 (l.); Das interessante Blatt 55, 1936, Nr. 49 v. 3. Dezember, 14)

Trotz des Bedeutungsgewinns der Spaghetti und der breiteren Rezeption „italienischer“ Speisen wie etwa Olivenöl und Tomaten kreiste die Reästhetisierung Italiens allerdings immer noch um die Makkaroni. Dies unterstreicht die Langlebigkeit kultureller Vorstellungen, ihre virtuelle Kraft. Menschen leben in Träumen und Albträumen, sehen Hexen und Ufos, imaginieren die Kost der Anderen, lassen davon nicht ab, weil sie wissen, dass Traumwelten helfen, den Alltag zu bestehen. Wissenschaftliche Aufklärung steht daher in struktureller Defensive.

Der Zeitpunkt der neuerlichen Verzauberung der Makkaroni überrascht, denn in Italien standen sie unter wachsendem Druck. Das galt nicht nur für den allgemeinen Bedeutungsrückgang kohlenhydrathaltiger Lebensmittel im 20. Jahrhundert, den wir gemeinhin als Verbreiterung der Ernährungsvielfalt deuten. Das gilt insbesondere für die 1928 von Mussolini mit Spatenstich in der Po-Ebene eingeleiteten Kampagne „Reis gegen Makkaroni“ (Mussolini, der Reformator des Küchenzettels, Bergische Post 1928, Nr. 47 v. 24. Februar, 1). Der heimische Reis kostete schließlich weniger Devisen als das Importgut Hartweizen. Breite Wellen schlug der Kampf des faschistischen Künstlers Fillippo Marinetti (1876-1944), der im Umfeld der immer wieder neu aufgewärmten futuristische Küche bis heute Kulturwissenschaftler*innen in den Bann schlägt. 1930 rief der Berufsprovo jedenfalls zum Kampf gegen die Makkaroni auf: „‚Passati!‘, rief er in den Saal, ‚ihr Trottel von vorgestern! Die Makkaroni schwemmen auf: sie schaffen Spitzbäuche. Nieder mit den Spitzbäuchen!‘“ (Marinettis Kampf gegen die Makkaroni. Ein Manifest der ‚Futuristischen Küche‘, Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 319 v. 22. November, 5). Die schlichte Logik dahinter war, dass Makkaroni dick machen sollten, also träge, dass ein träges Volk aber anderen unterlegen sei. Andere Kost sei erforderlich, etwa die „wehrhafte Beweglichkeit“ der Minestrone, deren Gemüse die Vielfalt Italiens in sich vereinige (Futuristisch-faschistische Speisen, Salzburger Wacht 1931, Nr. 184 v. 13. August, 3). Die italienische Exportindustrie protestierte pflichtgemäß, eine Breitenwirkung derartiger Provokationen blieb aus.

Auch die nach der wirtschaftlichen Stabilisierung wieder einsetzende „germanische Völkerwanderung dem Süden zu“ blieb pastaumkränzt (Pasta asciutto. Ein kulinarischer Wegweiser für Italien-Reisende, Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 78 v. 22. März, 3). Die Makkaroni waren eine billige Nationalspeise, ihr Verzehr erlaubte den temporären Eintritt in die fremde Lebensweise. Die Besucher waren nicht mehr länger unbeteiligte Berichterstatter: „Fremdling, der du über die Alpen gen Süden wanderst, stecke deine Nase nicht nur in den Baedeker und laufe in den zahllosen Kirchen und Museen herum, sondern betrachte dir auch gelegentlich die Landschaft, aus der diese Kunst gewachsen ist, und, wenn du es ganz gescheit anstellen willst, dann probiere auch ihre Früchte, ihre Weine, ihre Artischocken und ihre Fischsuppen. Du versetzt dich dadurch in gehobene Stimmung und bist noch mal so aufnahmefähig für all das Schöne und Unvergeßliche, was dich umgibt“ (Karl Kornicker, Italienisches Küchenlatein, Badische Presse 1931, Nr. 198 v. 29. April, 3). Die immer wieder beschriebene Art (ja, Kunst!) des Makkaroni-Essens wurde nun Teil eines Erlebnisses, eines Erlebnisurlaubs.

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Der Zauber der italienischen Speisen – und der richtige Dreh beim Essen: Franzose, Italiener und Österreicher beim Makkaroniverzehr (Österreichische Illustrierte Zeitung 35, 1925, 404)

Die Vielfalt der Makkaroniformen wurde nicht mehr kategorisiert und weitergegeben, sondern sie war nun Teil der Entdeckerfreude, des Abenteuers. Essen wurde zur Selbsterkenntnis, die Gewandtheit mit Löffel und Gabel zeigte dem Besucher, wer er war: Sage mir, wie Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist: „Diese endlos langen, glatten Dinger wollen dir immer wieder von der Gabel entwischen. Verliere nicht die Geduld. Das will alles gelernt sein. […] Versuche es einmal mit Gabel und Löffel, so wie es die Italiener machen. Nimm erst ganz wenig, führe die Gabel senkrecht mit der Spitze nach unten auf deinen Teller und versuche dann durch Drehen der Gabel die Makkaroni elegant herumzuwickeln und festzuhalten. Mache es nicht zu schwunghaft, da sonst die schöne Soße in weitem Bogen herumspritzt und unter Umständen dein neuer Anzug […] Schaden nimmt“ (Kornicker, 1931, hier: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 228 v. 24. August, 3). Ja, „das Spaghetti-Essen ist ein Sport, der gelernt sein will. Der richtige Schlangenfraß! Glaubt man sie richtig auf der Gabel zu haben, dann rollt die ganze Spule regelmäßig wieder ab! Man muß den Löffel und den richtigen Handgriff dazu haben. Ich möchte einmal eine Schönheitskonkurrenz im Spaghetti-Essen erleben!… Es ist inzwischen Abend geworden. Die blaue Abendstunde am kleinen Hasen. Der freundlich-familiäre Feierabend im alten Fischerstädtchen. Ganz silbern glänzt die Adria und rings um mein gesättigtes Sein erwacht vor allen Türen die fröhliche Geselligkeit dieser letzten südlichen Tagesstunde. Mit Lichterglanz und Sirenenpfiff naht der abendliche Dampfer. Der kleine Platz belebt sich. Im weinumrankten Fenster über mir erscheint eine junge Mutter mit ihrem Säugling im Arm: Madonna im grünen Kranz. Die Hafenglocke läutet eiligst die Hoteldiener und Portiers herbei. In Hemdärmeln die einen, die andern mit dem gekreuzten Schlüsselpaar, dem Symbol ihrer Würde, auf dem Uniformkragen. Sie bilden in verträglichem Wettstreit Spalier, während die vollzählige Jugend des Städtchens die fremden Ankömmlinge wertkundig beäugt. Es sind meist Deutsche, und alle werden Makkaroni essen wollen!“ (R[ené] Prévot, Makkaroni im kleinen Hafen, Münchner Neueste Nachrichten 1932, Nr. 109 v. 22. April, 3) Italienische Makkaroni, wohlgemerkt.

So wandelten die Deutschen schon 1930 zwischen der Billigspeise, ihrer deutschen Makkaroni, und der Urlaubsspeise, dem einfachen Mahl in der Ferne. Auf die italienische Küche konnte man sich einigen: Ein Abglanz des Paradieses, des Menschen im friedvollen Naturzustand, in einer Umgebung der Fülle. Wen kümmert(e) es, dass solche Bilder wie Seifenblasen zerplatzen, wenn wir auch nur ein wenig nachdenken. Wir wollen nicht nachdenken. Und so essen wir bis heute lange, al dente gekochte Weizenteigware in Soße getunkt – im Kopfe schwelgend, im Magen verdauend.

Uwe Spiekermann, 20. Juni 2023

Eichelbrot – Notnahrung, Armenspeise, Gaumenhappen

Vor einigen Monaten auf dem Wochenmarkt entdeckt, ist das Eichelbrot der Steinofenbäckerei Marquardt aus Garbsen seitdem ein regelmäßiger Gast auf meinem Frühstückstisch. Der Geschmack ist keineswegs lieblich, eher herb, kräftig, würzig, eine Grundlage mit Nachhall.

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Eichelbrot auf meinem Tisch

Doch was esse ich da eigentlich? Gekauft habe ich es, da ich mich an die Kriegsküche im ersten Weltkrieg glaubte zu erinnern, an Not und Kargheit einer überstandenen Zeit. Doch vor mir lag ein verfeinertes, wohlschmeckendes Nischenprodukt. Eine Koketterie mit dem Schlechten, vergleichbar mit der Veredelung vieler „Arme-Leute-Essen“ in der gehobenen Gourmetküche, ein Gaumenkitzler für vom Alltag gelangweilte Bürger?
Vor dem Urteil steht das Wissen. Und über die Geschichte des halbrunden Braunen hatte ich offenkundig eine nur vage Vorstellung. Wohlan, wo ist das nächste einschlägige Lexikon? Die Standardantwort vor mehr als 90 Jahren klang prosaisch-nüchtern: „Eicheln dienen zur Herstellung des auch als menschliches Nahrungsmittel verwendeten Eichelmehls. […] Eichelmehl dient auch als Zusatz bei den Hungersnot-Broten, zur Herstellung von Eichelkakao […] und anderer diätetischer Erzeugnisse. Geröstete Eicheln geben auch einen Ersatzkaffee, der namentlich bei Kindern als diätetisches Mittel angewendet wird. Eicheln verwendet man in großen Mengen als ein Futtermittel, das bei niedrigem Protein- und mittlerem Fettgehalt reich an Stärkemehl ist. Sie finden eine nützliche Verwendung bei der Viehmast, werden jedoch wegen ihres bitteren Geschmackes nicht von allen Tieren gleich gerne gefressen.“ So weit, so klar. Doch dort hieß es zugleich: „Unsere einheimischen Eicheln kommen dagegen ihres hohen Tanningehaltes wegen als menschliches Nahrungsmittel nicht ernstlich in Betracht.“ (Ernst Mayerhofer und Clemens Pirquet (Hg.), Lexikon der Ernährungskunde, Wien 1926, 193, 194) Wirklich? Das Eichelbrot auf meinem Tisch schien Unding und Zärtling zugleich zu sein. Nachfragen schienen geboten.
Hinein also in das Unterholz der Literatur. Dort eichelte es von Anfang an: Heinrich Johann Nepomuk Crantz (1722-1797), österreichischer Botaniker, Pädiater und Begründer der modernen Bäderkunde führte nah an den Rand des Garten Eden: „Die Eicheln waren schon in den ältesten Zeiten ein Nahrungsmittel, aus welchem man Brod gebacken hat. Man hielt sie nicht nur allein für die älteste Frucht, sondern auch für die einzige Leibesnahrung, welche die erste Welt gebrauchet hat“ (Medizinische und Chirurgische Arzneymittelehre, Bd. I, Th. I, Wien 1785, 202). Etwas präziser bitte! Johann Carl Leuchs (1797-1877), einer der produktivsten Sachbuchautoren der Mitte des 19. Jahrhunderts, führte zurück nach Kerneuropa: „Die Eicheln waren die vorzüglichste Nahrung der alten Deutschen und Gallier. Ob sie dieselben roh oder zubereitet aßen, ist nicht bekannt“ (Haus- und Hülfsbuch für alle Stände, Bd. 2, Nürnberg 1823, 333). Immerhin! Eichelbrot trat aber sicher später auf den Speiseplan, war es doch ein Hunger- und Notbrot in der frühen Neuzeit. Leuchs berichtete über Weißrussland, von Hungerkrisen im Frankreich im frühen 18. und gar von emsigem Eichelbrotverzehr in Italien und Südtirol im frühen 19. Jahrhundert. Doch seine Fabulierkunst machte mich skeptisch. Eichelbrot als Standardbrot in Norwegen? Und wenige Jahre später relativierte der Vielschreiber gar sein Kernaussage: „Die Eicheln waren das Hauptnahrungsmittel der alten Griechen, Gallier und Deutschen […]“ (Johann Carl Leuchs, Vollständige Brod-Bak-Kunde, Nürnberg 1832, 159). Sollte ich dies glauben?
Die Eiche war den Germanen (die es so als Einheit nicht gegeben hat) ein heiliger Baum, und darüber wurde im 19. Jahrhundert viel geschrieben und noch mehr gesungen. Fachliteratur entstand, auch über die Eichelnahrung. Carl Bolle (1821-1909), finanziell unabhängiger Sohn eines Brauereibesitzers und quirlig-produktiver Botaniker, führte seine Leser zurück in die vorschriftliche Zeit: „Wer jemals einen der fruchtbeladenen Riesenbäume aufmerksam betrachtet, wer dem prasselnden Geräusch, mit dem, vom Herbstwind gefegt, die Eicheln herabregnen, gelauscht hat, dem wird die Eiche als ein Sinnbild des Überflusses erschienen sein; so reichlich deckt sich der Tisch auf und unter ihr.“ Homo sapiens nutzte die Eichel: „Es bedurfte bei ihr keiner Überlegung, kaum der Zubereitung; einzig nur des Auflesens und Sammelns. Im Spätherbst, wenn anderes Wildobst zu Ende ging, kam die Eichelernte gelegen. Mochte es immerhin eine derbe und rohe Kost sein, sie fand keinen verwöhnten Gaumen. Mochte es eine harte Kost sein, sie ging durch eine Mühle von Zähnen, gewöhnt, die starken Markknochen des Wildes zu zermalmen. […] Also Eichelkost überall da, wo das Getreide, dem frühen Menschen unbekannt, sie noch nicht entbehrlich gemacht hat; […] Eichelkost die erste Stillung des Hungers innerhalb der gemässigten Zone“ (Carl Bolle, Die Eichenfrucht als menschliches Nahrungsmittel, Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1, 1891, 138-148, hier 139-140). All dies galt jedoch vor allem für den mediterranen Raum, für Griechenland, Italien, auch Spanien. Denn Bolle machte glasklar: „Die oft besprochene Eichelesserei der Germanen entbehrt dagegen jedes klassischen Zeugnisses“ (Bolle, 1891, 141). Und für den Rest der Voreuropäer galt demnach: Eicheln waren vor und während der Altsteinzeit eine Zukost, wurden ergänzt und dann überlagert von den (gerösteten) Kastanien, ehe sich Getreide als Hauptkost durchsetzte. Anders als im mediterranen Raum, warfen die Eichen des Nordens gar bittere Eicheln ab. Menschen mussten sie bearbeiten, um sie essen zu können.

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Früchte der Stieleiche und der Zerreiche (Adolf Hohenstein, Die Eichelschäl-Wirthschaft, Wien 1861, 27)

Die Unterschiede im menschlichen Verzehr von Eicheln, Eichelmehl und Eichelbrot zwischen Süd- und Nordeuropa waren in der frühen Neuzeit durchaus bekannt. Eichelbrot war im Norden Ausdruck von Not und Elend: Als der Barnabitermönch Florentinus Schilling Mitte des 17. Jahrhunderts das ehedem habsburgische Elsass bereiste, war allerorten Hunger und er fragte anklagend: „Ist Elsaß ein Treydkasten [ein Getreidespeicher, US] / warumb essen wir Eichelbrod?“ (Vorder-Oesterreichische Landtsmannschaft, Wien 1655, s.p.). Während der Aufklärung galt das im Süden gegessene Eichelbrot kämpferischen Protestanten dagegen als Beleg katholischer Rückständigkeit, so etwa dem als Kerkerknacker bekannt gewordenen Friedrich von der Trenck (1727-1794), der die Bauern im Kirchenstaat bemitleidete, da sie „kein andres als Eichelbrod zu essen“ hatten (Nachtrag zur näheren Beleuchtung der Bilanz zwischen Fürsten und Priestergewalt, o. O. 1799, 21). „Um wi vil kräftigger und schmakhafter ist nicht unser Brod gegen di Eicheln und roen Körner, die di alten asen,“ posaunte dagegen der heute vergessene Schriftsteller Christian Adam Horn (1743-1798), wobei er wohl das kernige Roggenbrot meinte, nicht das vermeintlich welsche Weizenbrot des Westens und Süden Europas (Uiber Gleichheit und Ungleichheit aus dem Gesichtspunkt gegenwärtiger Zeiten, Hildburghausen 1792, 109). Getreidebrot war Fortschritt, und dies predigten spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts auch deutsche Katholiken, denn damals war Eichelbrot auch in Italien nurmehr eine seltene Ausnahme (Philothea 16, 1852, 118).
Doch Ordnung! Diese Debatten entstammten einer Zeit, in der Eichelbrot keinerlei Platz in der täglichen Kost hatte, in der Roggen, Hafer und Gerste, dann auch die Kartoffel den Alltag der breiten Mehrzahl prägten. Im langen Mittelalter war dies regional noch anders gewesen. Eichelbrot wurde, zumal im Süden der deutschen Lande, vereinzelt gebacken. Doch dies endete wohl im 16. Jahrhundert: „Der späteste bekannte Zeitpunkt, in dem in germanischen Ländern die Eichel noch als genießbare Mehlfrucht scheint gebraucht worden zu sei, ist das Jahr 1604. Damals wurde sie noch in der Klostermühle zu Sindersdorf (Oberbayern) gemahlen.“ (H[einrich] Brockmann-Jerosch, Die ältesten Nutz- und Kulturpflanzen, Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1917, 80-102, hier 91).
Eichelbrot war während des 16. bis 18. Jahrhunderts primär eine Notspeise, Kennzeichen der regelmäßigen Hunger- und Teuerungskrisen Mitteleuropas. In der Ober-Lausitz hieß es einschlägig: „Anno 1570, nach der Erndte ließ es sich zu einer grossen Theurung an, und die währete 3. gantzer Jahr. Sie nahm von Jahr zu Jahre zu, und musten die armen Leute aus Staub-Mehl, Kleyen, Eicheln, Piltzen und Schwämmen ihr Brod backen, und doch haben noch manchen Tag 3. 4. und mehr Personen verhungern müssen“ (Johann Christian Sühnel, Fata Lusatica in Compendio, Oder Kurzgefaste Historie von dem Markgraffthum Ober-Lausitz, Bautzen 1725, 83). Im 18. Jahrhundert war dies Lexikonwissen (Allgemeines Oeconomisches Lexicon, Leipzig 1731, Sp. 382). Neben die etwa alle sieben Jahre auftretenden Hunger- und Teuerungskrisen traten Krieg und auch Klimakatastrophen, etwa der sogenannte Jahrhundertwinter 1708/09. Aus Frankreich wurde damals nicht allein vom Eichelbrotverzehr berichtet, sondern auch von zahlreichen daraus resultierenden Todesfällen. Ähnliches vermerkten Chronisten auch aus deutschen Landen während des Siebenjährigen Krieges, der 1762 die Gegend um das westfälische Warburg heimsuchte: „In diesem Winter war die Noth so groß, daß viele Bauersleute von Eicheln Brot backten. Daher starben viel an der Verstopfung“ (Georg Joseph Bessen, Geschichte des Bisthums Paderborn, Bd. 2, Paderborn 1820, 350, Anm. r). Dies aber waren wohl Ausnahmen, verursacht durch fehlerhafte Zubereitung. Generell galt für Eichelmehl und Eicheln, dass sie in der frühen Neuzeit „wol unter das Getreide gemahlen / und mit unter das Brot gebacken werde / und zwar ohn allen Schaden der Gesundheit“ (Johannes Hiskias Cardilucius, Evangelische Kunst- und Wissenschafft-Schule der Natur, Sultzbach 1685, 53). Entsprechend nutzte die breite Bevölkerung zumal in den kursächsischen und schlesischen Gebieten das Eichelbrot als letzte Option, um eben nicht verhungern zu müssen (Julius Bernhard von Rohr, Haushaltungs Bibliothek, Leipzig 1755, 213). Der Staatswissenschaftler Georg Gottfried Strelin fasste dies gottesfürchtig in die Aussage, „denn wo man nicht wählen kann, ist man mit dem gerne zufrieden, was man hat“ (Realwörterbuch für Kameralisten und Oekonomen, Bd. 2, Nördlingen 1785, 568).
Mit der Aufklärung aber veränderte sich diese Einschätzung des Eichelbrotes. Es handelte sich dabei um Elitendebatten, Ausflüsse wachsenden bürgerlichen Nationalbewusstseins: „Warum sollten wir uns endlich der Eicheln schämen, da unsere Vorfahren, die alten Deutschen, ehe sie sich auf den Ackerbau verlegten, viel von Eicheln gelebt, und Brot daraus gebacken haben“ (Der Bienenstock 2, 1769, 366). Es begann nun eine mehr als ein Jahrhundert dauernde Periode immer wieder neuer, immer wieder ähnlicher Rezepte für die Herstellung eines durchaus akzeptablen Alternativbrotes: „Man dörret die ausgelesene reife Früchte [die Eicheln, US], schälet, kochet sie mit Wasser, daß sie den herben Geschmack verlieren, verfertiget alsdenn nach vorhergegangener Abtrocknung ein Mehl, welches mit gewöhnlichem Fruchtmehl vermengt ein nahrhaftes Brot giebt“ (Deutsche Encyklopädie, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1783, 6). Eine kleine Schar von Medizinern, Kameralisten, Botanikern und Praktikern nahm nicht mehr nur dokumentierend hin, dass Not kein Gebot kannte und auch den Verzehr tendenziell gesundheitsgefährdender Ersatzstoffe mit einschloss. Sie untersuchte stattdessen die bestehenden Mängel des Eichelbrotes und formulierte praktische Ratschläge, um ein „gutes Brod, wenigstens in der Vermischung mit anderen Getreidearten“ (Crantz, 1785, 204) zu backen.
Chemisches Wissen war noch nicht sonderlich ausgeprägt, bewegte sich vielfach im Spekulativen. Man vertraute allerdings schon der Sinneserfahrung, der Empirie. Eicheln schmeckten offenkundig „sehr herbe“ (Neues Hannöverisches Magazin 4, 1775 [1776], Sp. 1049). Dies resultierte aus der darin enthaltenen Gerbsäure, so genannt nach auch zur Ledergerbung genutzten Bestandteilen der Eichenrinde. Als Tannine, dem französischen Wort für die Gerbsäure, wurden diese Bitterstoffe dann im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet, während wir deren Fülle unter dem wenig präzisen Terminus „sekundäre Pflanzenstoffe“ bündeln. Münzt man dies dann in Polyphenole um, hebt deren Bedeutung beim Schutz vor freien Radikalen hervor, benennt ihre zumeist antikanzerogenen, entzündungshemmenden, antimikrobiellen, blutdrucksenkenden und blutzuckerregulierenden Wirkung, so kann man dies fast schon unter den aussageschwachen Begriff „gesund“ bündeln. Zu viel davon war und ist jedoch ungesund, entsprechend galt es ihren Anteil zu vermindert, um geschmacklich akzeptables Mehl resp. Brot zu erhalten.
Dazu bediente man sich vielerlei Verfahren, doch im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ging es erstens um die Auswahl guter Eicheln, nicht wurmstichig, faulend oder moderig. Diese galt es dann zweitens zu bearbeiten. Bei frisch gesammelten Eichen wurde Kochen empfohlen, teils mit Zusatz von Asche oder Kalk. Damit wurden die Bitterstoffe teilweise gelöst und gebunden. Anschließend galt es drittens, diese zu trocknen. Sollte die Schale nicht schon beim Kochen abgelöst worden sein, so war das nun erforderlich. Die weichen, fast bröseligen Eicheln wurden viertens gemahlen und dann fünftens mit anderem Getreide zu einem Brot verbacken. Das dergestalt entstandene Eichelbrot hatte zwar einen charakteristischen Geschmack, doch bestand es zumeist vorrangig aus anderen Getreidearten, vorrangig Roggen, ab und an Weizen, selten Hafer, kaum Gerste. Im Idealfall klappte all das ganz gut, so dass am Ende das Urteil stand: „Das Brodt soll geil seyn, und sehr sättigen“ (M. J[acob] Marx, Die Geschichte der Eicheln, Dessau 1784, 3).
Eichelbrot war Billigbrot für die Armen, denn der Grundstoff konnte teils unmittelbar gesammelt, teils für wenig Geld als Schweinefutter gekauft werden. Es ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich, dass diese Vorschläge große Resonanz im Alltag fanden. Es handelte sich um Erörterungen von und zwischen Experten, die in Notlagen gewiss hilfreich sein konnten, auf die aber füglich nicht zurückgegriffen wurde, so lange gängiges Brot und Kartoffeln verfügbar waren. Dessen ungeachtet wurde eine Art diätetisch-prozessuales Wissen abseits des Essalltages geschaffen. Der Kameralist und Naturforscher Bernhard Sebastian Nau (1766-1845) leistete hierfür Pionierarbeit, hatte er doch Backversuche unternommen und verschiedenartige Eichelbrote auch verkostet (Eichelbrod, in: Ders., Vermischte Aufsätze über Land- und Forstwirthschaft, Frankfurt a.M. 1804, 32-35; vgl. auch Kurpfalzbaierisches Wochen-Blatt von München 6, 1805, Sp. 649-650). Der Geschmack wurde durch intensiveres Auslaugen auch in kaltem Wasser und durch ansprechende Mischverhältnisse verbessert. Ob aber eine Mischung von einem Drittel Eichel- und zwei Dritteln Weizenmehl dann wirklich günstiger war als gängiges Roggenbrot, wurde nicht bedacht (Abhandlungen der Akademie nützlicher Wissenschaft zu Erfurt 3, 1804, 43). Generell galt den Experten ein Brot aus halb Eichel- und halb Roggenmehl als akzeptabel, selbst ein Brot mit einem Zwei-Drittel-Anteil Eichenmehl galt als „schön und angenehm im Genuß“ (Nau, 1804, 34). Forstwirtschaftler nannten gar ein reines Eichelmehlgebäck ein „sehr wohlschmeckendes und gesundes Brod“ (Joseph Fuchs, Vollständiges Lehrbuch die Eiche natürlich-künstlich und schnellwachsend zu erziehen, Wien 1824, 186). Das erscheint als eine gängige Weißwäscherei durch Experten, die der Mehrzahl Mäßigkeit und Haushaltsordnung predigten, sich in der generellen Armut aber gut eingerichtet hatten. Mediziner betonten demgegenüber, dass reines Eichelbrot „widerlich bitter“ schmecke (Gotthilf Wilhelm Schwartze, Pharmakologische Tabellen, Bd. 1, Leipzig 1819, 99). In zeitgenössischen Lexika wurde eine Mittelposition vertreten, wonach Eichelmischbrot „nicht nachtheilig“ sei (Universal-Lexikon, hg. v. H.A. Pierer, 2. völlig umgearb. Aufl., Bd. 9, Altenburg 1842, 257), auch wenn nach Beginn der Industrialisierung Eichelbrot eher distanziert bewertet wurde, nämlich „nicht als eigentlich genießbar und gesund“ (Stephan Behlen (Hg.), Real- und Verbal-Lexicon der Forst- und Jagdkunde mit ihren Hülfswissenschaften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1840, 524).

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Die hungrigen 1840er Jahre oder Der Wert eines Menschen (Düsseldorfer Monatshefte 1, 1847/48, 57)

Das änderte sich während der hungrigen 1840er Jahre. Das Massenelend resultierte aus Missernten, daraus resultierenden Teuerungen und ersten industriellen Krisen, zumal in der Heimindustrie. Abermals sollte auch Eichelbrot einen Beitrag zur Hungerbekämpfung leisten, zumal mit dem Aufschwung der organischen Chemie die Wertigkeit des Eichelbrotes genauer eingeschätzt werden konnte. Es galt als preiswerter Kohlehydratlieferant, also als klassisches Nährmittel. Das Auslaugen der Eicheln wurde verbessert und gleichsam standardisiert. Parallel begrenzte man den empfohlenen Anteil des Eichelmehls auf höchstens ein Viertel (Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen 1846, Nr. 345 v. 19. Dezember, Sp. 4488; Centralblatt des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern 1848, Nr. 1, 33). Die modifizierten Rezepte wurden nun im gesamten deutschen Gebiet verbreitet, auch wenn der Norden und Osten wenig bestrichen wurde (vgl. Wiener Zeitung 1847, Nr. 1 v. 1. Januar, 4; Oesterreichisches Morgenblatt 12, 1847, Nr. 25, 100; Ökonomische Neuigkeiten und Verhandlungen 1847, 216 bzw. Jurende’s Vaterländischer Pilger 35, 1848, 156). Ob das Eichelbrot dadurch „ziemlich volkstümlich“ (Prometheus 26, 1915, 817) wurde, wie später behauptet, sei jedoch dahingestellt. Belege konnte ich nicht finden.

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Eindringen in die Materie der Dinge: Stärke des Eichelmehls, 500fach vergrößert (T[homas] F[ranz] Hanausek, Die Nahrungs- und Genussmittel aus dem Pflanzenreiche, Kassel 1884, 483)

Auch nach der gescheiterten Revolution wurden diese Vorschläge in den 1850er und 1860er Jahren weiter verbreitet, waren Bestandteil hauswirtschaftlicher Literatur, aber auch von Tageszeitungen (A.R. Percy, Allgemeines chemisch-technisch-ökonomisches Recept-Lexicon, Nürnberg 1856, 74; Das goldene Buch oder der ökonomische Hausschatz 1, 1857, 34; Neuburger Wochenblatt 1868, Nr. 90 v. 23. Juli, 428; Wochenblatt für das christliche Volk 1868, 255). Neue Verfahren aber blieben aus, auch wenn einzelne Eichelbrotverbesserer ihre Verfahren mit neuem Enthusiasmus anpriesen (L. Tischmayer, Eichel- und Kastanienmehl als Zusatz zum Brodmehl, Zeitschrift für die Gesammten Naturwissenschaften 6, 1856, 466; Lochner’s Geschäfts-Zeitung 7, 1862, Nr. 46 v. 15. November, 3). Doch derartige Vorstöße stießen nun auch auf vermehrte öffentliche Kritik an veredeltem Schweinefutter. Neuerlich wurde der Geschmack als ekelhaft bitter kritisiert, zugleich aber eine einfache Kosten-Nutzen-Analyse vorgenommen: Will “man solche Stoffe wirklich genießbar machen, so erfordert es eine Arbeit, die mit dem, was endlich gewonnen wird, in gar keinem Verhältnisse steht“ (Voralberger Landes-Zeitung 1864, Nr. 54 v. 5. Mai, 3).
Anfang der 1890er Jahre folgte dann ein neuerlicher und für lange Zeit letzter Versuch, Eichelbrot einzubürgern. Zu einer Zeit, als eine Neugestaltung der Alltagskost durch neuartige Volksnahrungsmittel, Eiweiß- und Nährpräparate auf der Expertenagenda stand, versuchte Paul Soltsien, ein später wichtiger Fettchemiker, erstmals eine neue Backführung. Er vermengte das Mehl getrockneter schalenlosen Eicheln mit Roggen- resp. Weizenmehl, fügte dann Sauerteig und Salz hinzu. Die Sauerteiggärung veränderte die verbleibenden Gerbstoffe, so dass das Eichelbrot „genießbar“ wurde, ja deutlich bekömmlicher als seine Vorgänger (Zeitschrift für Nahrungsmittel-Untersuchung und Hygiene 9, 1891, 294). Für die Entbitterung hatte der Forscher anfangs Ammoniak genutzt, fand dann aber heraus, dass ein sechs- bis achtmaliger Wasseraufguss dies kostengünstiger erreichte (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 32, 1891, 571-574, hier 572). Doch neben gefälligen Beifall mischte sich Häme in die Debatte über das neue Verfahren. Der Chemiker und Samenhändler Theodor Waage vermerkte süffisant: Die Verwendung von Eicheln „ist aber keineswegs neu und die Verfahren, welche letzthin zur Entbitterung dieser Samen empfohlen wurden, waren im Wesentlichen bereits vor 100 Jahren – längst bekannt“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 32, 1891, 689). Er sah keinerlei Bedarf für ein derartiges Brot, bevorzugte im Falle eines Falles zudem die Einführung eines Maismischbrotes zur Armutsbekämpfung. Soltsien antwortete, dass sein Verfahren wissenschaftlich sei, entwickelt „an Hand von wissenschaftlichen Versuchen, auch von Analysen mit den Fabrikaten“. Außerdem führte er soziale und ökologische Gründe an: „Wenn ich das Sammeln von Eicheln empfohlen habe, so habe ich das im Interesse der ärmeren Bevölkerung gethan, und halt ich das Sammeln nach wie vor für richtiger, als dass man die Eicheln (wie es so häufig geschieht) verfaulen lässt“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 33, 1892, 21).
Das gleichsam letzte Wort in Sachen Eichelbrot wurde dann anlässlich umfangreicher physiologischer Untersuchungen von Hungerbroten nach der russischen Hungerkrise 1891/92 gesprochen. Ja, es war besser als andere Surrogate. Doch die Versuchspersonen (es handelte sich um zwei russische Soldaten) empfanden das Brot als unangenehm bitter und mussten sich zwingen, auch nur geringe Mengen zu essen. Der Schweizer Hygieniker Friedrich Erismann (1842-1915), der lange Zeit in Russland tätig war, ehe er als Sozialdemokrat entlassen wurde, bündelte pointiert, dass die Hungerbrote, auch das Eichelbrot, „als Nahrungsmittel einen äusserst geringen Werth besitzen, und dass viele derselben durch toxische oder mechanische Wirkung direkt die Gesundheit schädigen können. Derartige Surrogate des Brotes dürfen also auch bei grossem und äusserstem Mangel an Roggen- und Weizenmehl nicht benutzt werden, und es ist ein Gebot der öffentlichen Gesundheitspflege, dass dieselben aus der Liste der Nahrungsmittel auch bei Nothzuständen vollkommen gestrichen werden.“ (Die russischen Hungerbrote und ihre Ausnutzung durch den Menschen, Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie 5, 1902, 627-642, hier 641) Trotz dieses strikten Verdikts sollte die Debatte um das Eichelbrot in den Kriegszeiten des mörderischen 20. Jahrhunderts nicht verstummen.
Das Verschwinden des Eichelbrotes im langen 19. Jahrhundert bedeutete allerdings nicht ein Verschwinden von Eichelprodukten: Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde Eichelkaffee zu einem Ersatzprodukt für den teuren orientalischen Kaffee, vor allem aber zu einem wichtigen diätetischen Heilmittel. Seit dem späten 19. Jahrhundert trat der Eichelkakao hervor, ebenfalls als Heilmittel gegen Durchfälle bei Kleinkindern. Auf beide werde ich an anderer Stelle zurückkommen. Denn hier geht es um Eichelbrot, der mehligen Essenz des deutschesten aller Bäume. Das Verschwinden des Eichelbrotes war nämlich begleitet von einer immensen Aufwertung der Eiche, ihrer Blätter und Früchte im Symbolhaushalt der sich im 18. Jahrhundert entwickelnden deutschen Nation. Eichelbrot verschwand, Eichellaub dagegen wurde zum Nationalsymbol.

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Denkmal für einen Germanenrecken mit Eichelfresser (Illustrirte Zeitung 82, 1884, 220)

Dies begann als Dichterkonstrukt, als faktenwidrige Geschichtskonstruktion, die hier nur angerissen werden kann. Doch in intellektuellen Eliten etablierte sich schon in der frühen Neuzeit eine Vorstellung „deutscher“ Vergangenheit, voll Rohheit und Reinheit, im strikten Gegensatz zu Rom und zu Frankreich. „Die Kleidung der Teutschen war vorzeiten auß Thieres-Heuten / da unser Vorfahren noch Eichel-Brod assen“ schwadronierte etwa der evangelische Theologe Hermann Fabronius (1570-1634) über die dunkle Vorzeit (Geographica Historia, 4. Aufl., Schmalkalden 1625, 40). Was zählte schon Empirie für den in Eichenhainen streunenden Gottesmann. Der Dramatiker Christoph Otto von Schoenaich (1725-1807) fand in seiner dramatischen Eloge über Hermann den Cherusker dann richtungsweisende Verse: „Wie verschwunden, saget Hermann, wie verschwunden ist die Zeit; Da kein Sterblicher die Zunge noch mit fremder Kost entweiht! Da ein frisches Eichelbrot unserm Gaumen Lust ertheilte; Der verwöhnte Hals noch nicht, nach vermengten Speisen geilte“ (Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht, Leipzig 1751, 14). Sein Förderer, der Schriftsteller und Metaphysiker Johann Christoph Gottsched (1700-1766), sandte dem Autor daraufhin einen ehrenden Lorbeerkranz, doch an die Stelle dieser antiken Ehrung trat zunehmend das Eichenlaub, das immer häufiger auch das Haupt der Germania zierte. Mochten die Franzosen während der Revolution auch Eichen als Freiheitsbäume pflanzen, die Eiche war deutsch und blieb deutsch. Der erste der Klassiker, Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), umkränzte die „deutsche Eiche“ mit immer neuen Sprachgirlanden. Im Drama Herrmanns Schlacht hieß es 1769: „O Vaterland, o Vaterland! Mehr als Mutter und Weib und Braut‘, Mehr als ein blühender Sohn, Mit seinen ersten Waffen! Du gleichst der dicksten, schattigsten Eiche, Im innersten Hain, Der höchsten, ältesten, heiligsten Eiche, O Vaterland!“
Während die Bedeutung von Eichen und Eicheln in der Forst- und Landwirtschaft, insbesondere aber im Bereich der Alltagskost an Bedeutung verlor, begann seit dem frühen 19. Jahrhundert der Siegeszug allegorischer Zeichen, insbesondere des Eichenlaubs. Die napoleonische Herrschaft und die folgenden Befreiungskriege verankerten die Eiche als deutsches Nationalsymbol, als Ausdruck von Selbstbestimmung einer zersplitterten Sprachnation. Doch die martialische Kehrseite war schon vernehmbar, eine Ambivalenz, wie sie etwa die Dichtkunst Theodor Körners (1791-1813) prägte. Seine 1811 entstandenes Gedicht „Die Eichen“ reimte Treue auf Todesweihe, und im kurz vor seinem Soldatentod entstandenen „Bundeslied vor der Schlacht“ hieß es „Wachse, du Freiheit der deutschen Eichen, Wachse empor über unsere Leichen!“ (Sämmtliche Werke, 3. Gesamtausgabe, Berlin 1838, 23). Körners Grab zierte eine Eiche – und Eichenpflanzen stand symbolisch für eine aufbrechende Nation. Luthereichen wurden vorrangig 1817 (300 Jahre Reformation), 1833 (dem 350. Geburtstags des antisemitischen Hasspredigers) und 1883 gepflanzt. Bismarck- und Kaisereichen folgten, schließlich, ab 1933 auch Tausende von Hitler-Eichen.
Die deutschen Turner nahmen dies auf, noch liberal, nicht nur national, zierten ihre Siegermedaillen mit Eichenlaub. Auch das 1813 gestiftete preußische Eiserne Kreuz wurde in der Publizistik damit dekoriert. Offizieller Bestandteil dieses militärischen Ehrenzeichens wurde es allerdings erst 1895. Für die liberale Einigungsbewegung verkörperte die Eiche Zusammenhalt und Dauer, für große Teile des Bürgertums deutschen Sinn, deutsche Gesittung und deutsche Reinsprache – so der Untertitel der 1850 gegründeten Sprachpflegezeitschrift „Die deutsche Eiche“. Auch später, nach der Zerschlagung der deutschen Nation durch das kleindeutsche Reich, stand Rausch: „Die Eiche rauscht im Vaterlande, die Deutschen grüßen Schaar und Schaar, Germania im Festgewande, Es schmücken Kranz um Kranz ihr Haar“ – so 1883 in Friedrich Hofmanns (1813-1888) Festlied zur Sedanfeier (Gartenlaube 1883, 574). Eichenkränze zierten danach Konsumgüter, Ritterkreuze, auch das deutsche Geld. Auf den Euromünzen ist sind Eicheln und Eichenlaub bis heute präsent.

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Eichenlaub zur Produktwerbung 1924 (Uhu 1, 1924/25, Nr. 1)

Doch Linearität, gar nationale Sonderwege, sind daraus nicht zu konstruieren. Denn der Kult der Eiche und ihrer Produkte wurde seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder kritisiert und geistreich verspottet. Heinrich Heines Begriff vom Ureichelfraß belegt dies, ebenso seine Kritik an den deutschen Republikanern, die wie Vögel „in den Wipfeln deutscher Eichen“ (Französische Zustände, Hamburg 1833, 247) nisten würden, die auf den Wandel warteten, diesen aber nicht erstritten. Als 1844 in der Berliner Hasenheide ein neuer Turnplatz dank beträchtlicher königlicher Mittel eröffnet wurde, forderte die Kölnische Zeitung selbstbewussten Bürgersinn: „Wir wünschen jedoch, daß die deutsche Kraft und Tüchtigkeit sich eben so wenig in Empfindelei, wie in Rohheit verliere. Möge die Jugend auf dem Turnplatze eine edle Vaterlandsliebe empfinden, ihr für alles Rechte und Wahre früh die Keime eingeimpft werden; aber dazu gehört weder Eichelkaffee und Eichelbrod noch weniger eine geistige Eichelkost aus dem Mittelalter“ (Regensburger Zeitung 1844, Nr. 179 v. 1. Juli, 713). Diesen Spott nachzuverfolgen wäre eine eigene Aufgabe. Er endete vorerst in der Weimarer Republik, mit der NSDAP als Eichelsammelpartei.

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Eicheln als Symbol eines irrlichternden Nationalismus: Karikatur von einsammelnden Nationalsozialisten (Jugend 35, 1930, 688)

Eichelbrot war aber nicht allein Ausdruck innerdeutscher Sehnsüchte, Selbstbeschreibungen und Hegemonialkämpfe. Es war zugleich ein Symbol der Abgrenzung und Selbsterhöhung. Die Exotik der Armenspeise und Notnahrung erlaubte Grenzziehungen zu anderen Ländern, Nationen und Kulturen. Eichelbrot stand dabei nicht mehr für fiktive Vergangenheiten fiktiver Deutscher oder das Interesse an den Kuriositäten fremder Länder. Es stand nun für die Rückständigkeit, die Rohheit, mangelnde Kultur und Ineffizienz anderer. Sardinien, Kalifornien und Russland sind dafür gute Beispiele.
Wir hatten schon von der protestantischen Brandmarkung der Eichelbrotesser im Kirchenstaat gesprochen. Im 19. Jahrhundert wurde dieses Narrativ weiter gesponnen, konzentrierte sich auf Sardinien. Nicht Arkadien wurde besungen, sondern Rückständigkeit: „Die Einwohner, namentlich im Innern, sind sehr roh, zum Theil noch in Leder und Felle gekleidet, von Eichelbrot lebend, an Charakter den Corsen ähnlich, nicht selten Blutrache übend“ (Nachrichten von und für Hamburg 1835, Nr. 278 v. 23. November, 3). Während in Deutschland Weizenbrot langsam an Bedeutung gewann, war man verwundert über die Traditionsverhaftetheit der Sarden: „Die Eicheln werden nämlich gut gekocht und in Brei verwandelt. Man begießt denselben mit Wasser, das von einer fetten Thonerde geschwängert ist und das man in der Nähe schöpft. Hieraus werden kleine glatte Kuchen geformt, und dieselben mit ein wenig Asche bestreut, damit sie nicht am Tische festkleben. Um sie etwas genießbarer zu machen, befeuchtet man sie mit einem wenig geschmolzenen Speck“ (Münchener Konversationsblatt 1846, Nr. 55 v. 11. Juli, 234). Am Ende des 19. Jahrhunderts war Eichelbrot nicht mehr Alltagskost aller, sondern Ausdruck der Armut an der europäischen Peripherie (Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 15, 1896, 432). Als „ein wichtiges Nahrungsmittel des armen Mannes“ (Rudolf Kobert, Lehrbuch der Pharmakotherapie, Stuttgart 1897, 143) hatte es sich dort behauptet, auch als Folge der hohen Verbrauchssteuern auf Getreide (Allgemeine Zeitung [München] 1902, Nr. 49 v. 28. Februar, Beilage, 5). Reisende aus dem Norden begegneten der einheimischen bäuerlichen Gesellschaft mit einem wechselseitige Fremdheit unterstreichenden ethnologischen Blick. Die lokale Herstellung mit ihrer systematischen Nutzung des einheimischen Tons wurde präzise beschrieben, sich nicht mehr erinnert, dass es sich hierbei um Techniken handelte, die während der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Mitteleuropa empfohlen worden waren. Einer gewissen Exotik konnten sich die Berichterstatter jedoch nicht entziehen. Das galt für das ungewöhnliche Räuchern der Brote und deren offenbar apartem Geschmack: „Das Eichelbrot ist von schwarzer Farbe, hat den Geruch von getrockneten Pflaumen, ist weich und von süßlichem Geschmack, ein Unterschied zwischen Kruste und Krume ist nicht vorhanden“ (Ostdeutsche Rundschau 1900, Nr. 172 v. 24. Juni, Unterhaltungsbeilage, 96).

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Indianerin beim Zerstampfen von Eicheln (Fritz Krause, Die Kultur der kalifornischen Indianer, Leipzig 1921, Tafel 12)

Während es sich beim Eichelbrot Sardiniens um eine kulturellen Restpraktik armer Europäer handelte, die durch eine gerechtere Steuer- und Wirtschaftspolitik mittelfristig wohl überwunden werden dürfte, wurde die Eichelkost kalifornischer „Indianer“ als Ausdruck ihres Seins präsentiert. Auch wenn erste Berichte hierüber schon im 18. Jahrhundert in Europa eintrafen, so war es doch erst der Goldrausch der späten 1840er Jahre, der das Interesse der „zivilisierten“ Nationen hervorrief. Und wahrlich: „Die Hauptnahrung dieser Wilden besteht aus Eichelbrod, solchem Brei und aus dem Samen eines Grases – eine Art Hafer – der zu gleichem Zwecke gekocht und zu Brod bereitet wird“ (Der Eilbote 1851, Nr. 34 v. 30. April, 253). Doch die Reiseberichte boten auch Einblicke in die Breite der Alltagskost: „Das erste und wesentlichste Nahrungsmittel der Indianer besteht in Eicheln, welche sie in verschiedener Zubereitung genießen: bald nur grün und roh, und dann werden sie von den Bäumen genommen, ehe sie noch abfallen; bald blos am Feuer gebraten oder gekocht, wie man uns die zahmen Castanien auftischt; oder auch in Wasser zu Brühe zerkocht oder zu Brod gebacken. Die Weiber müssen für die Nahrung des ganzen Stammes sorgen“ (Die Indianer in Californien, Der Sammler 20, 1851, 125-126, hier 125). Was heute als „indigenous food“ sichtbar gemacht und vermarket wird, war damals allerdings Ausdruck der fast unbegreiflichen Armut dieser Ureinwohner, die neben Eichelbrot auch Würmer aus der Erde gruben und verspeisten (Neue Speyerer Zeitung 1852, Nr. 296 v. 10. Dezember, 1352). Ein halbes Jahrhundert später hatte sich der Blick deutlich verändert, näherte sich dem auf Schwarze in den Kolonien Afrikas oder der Südsee an. Ein von 1903 bis 1937 in zahlreichen deutschsprachigen Zeitungen erschienener unterhaltender Artikel ergötzte sich an den Mitgiften für Bräute der kalifornischen Karoks, stieg doch der in Muschelschalen zu bezahlende Wert der Frauen doch deutlich an, vermochten sie ein gutes Eichelbrot zu bereiten (Neues Wiener Journal 1903, Nr. 3334 v. 7. Februar, 7 bis hin zu Hamburger Nachrichten 1937, Ausgabe v. 1. Oktober, 8). Parallel aber setzte ein ethnologisches, wissenschaftliches Interesse ein. Die Techniken der Eichelbrotzubereitung wurden genauestens dokumentiert, die steinernen Gerätschaften ausgemessen und präzise gezeichnet, Photographien geschossen (vgl. Krause, 1921 mit weiterer Literatur). Die „Indianer“ verknüpften die Härte und Rohheit des „wilden“ Lebens, erinnerten nicht mehr daran, dass dies ehedem auch Hermann dem Cherusker und anderen germanischen Recken zugeschrieben worden war.

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Zwischen Urtümlichkeit und Verachtung: Abkühlung von Eichelbrot im Wasser zur Ablösung der Backform (Österreichische Illustrierte Zeitung 20, 1910/11, 423)

Während die indigenen Kalifornier aber noch in einem Umfeld von Natürlichkeit, Naivität und Unschuld präsentiert wurden, spiegelte die breite Diskussion über das russische Eichelbrot das zentraleuropäische Unverständnis über die Rückständigkeit des zaristischen Russlands. Eichelbrot war schon in der frühen Neuzeit mit Weißrussen und „armen Tartaren“ (B[ernhard] S[ebastian] von Nau, Vermischte Aufsätze über Land- und Forstwirthschaft, Frankfurt a.M. 1804, 33) verbunden gewesen. Doch anders als im industrialisierten Europa gab es im östlichen Kaiserreich auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wiederholt Hungersnöte, ein Skandalon für Europa als Machtzentrum der Welt. Bereits die Versorgungskrise 1891/92 führte zu einem öffentlichen Aufschrei und zu Hilfslieferungen nicht zuletzt aus den USA. Hunger wurde nach den indischen Katastrophen von 1896/97 und vor allem von 1899 bis 1902 zunehmend als humanitäre Aufgabe angesehen. Nach der Revolution 1905 hoffte die bürgerliche Öffentlichkeit zugleich auf moderate Reformen des autokratischen Systems. Die Hungersnot 1906 zeigte die hässliche Realität, Eichelbrot diente als Marker zivilisatorischer Unterschiede. Der Bericht des späteren ersten Ministerpräsidenten der russischen Republik Fürst Georgi Jewgenjewitsch Lwows (1861-1925) unterstrich dies: „Im Kreise Menselinsk hat man von Dörfern, die ich unterwegs sah, nur in 7 [von 33, US] kein Eichelbrot gegessen, in allen übrigen ißt man reines oder gemischtes Eichelbrot. Es sieht aus wie Mist mit Erde gemischt. Man ißt es schon von September an und befolgt dabei die größte Sparsamkeit. Man ißt es nur einmal am Tage. Den Kindern gibt man Eichelmehl mit heißem Wasser. Von solchem Brote (dem ‚Hungerbrote‘, wie man es nennt) sehen die Menschen ganz schrecklich aus; blaß, abgemagert, zitternd, mit eingefallenen Augen; sie klagen, daß ihnen von diesem Brote ‚das Herz brennt‘“ (Neue Hamburger Zeitung 1906 v. 13. Dezember, 9). „Dieses elende ‚Brot‘ sieht so schmutzig und hart aus wie Erde und Dünger: aber es bildet seit September die Hauptnahrung für Millionen Menschen“ (Berliner Börsen-Zeitung 1906, Nr. 586 v. 15. Dezember, 9). Menschen wurden durch die Nahrung gleichsam zu Tieren. Und das galt auch für die Hungersnot 1911/12: „Nun müssen die Bauern die Hungerqualen mit Eicheln, Kleie, Wurzeln und Baumrinde stillen. Die gewöhnlichen Hungerkrankheiten, Skorbut und Typhus, folgten natürlich. Bis Schnee fiel, sammelten Frauen und Kinder die Eicheln, die mit den Schalen zu ‚Eichelbrot‘ verbacken wurden. Krankheit und Blutungen waren die Folge“ (Vorwärts 1911, Nr. 305 v. 31. Dezember, 7). Das Vorkriegsrussland war offenbar unfähig zur Reform, versank im Immergleichen, erreichte nicht einmal den deutschen Standard des späten 18. Jahrhunderts. Eichelbrot war in derartigen Berichten eine fremde Speise, mit der man nichts mehr gemein hatte. Doch im Ersten Weltkrieg kam die Frage des Umgangs mit der Nahrungsnot neuerlich auf den Tisch.
Brot und Kartoffeln bildeten damals das Rückgrat der täglichen Kost, machten etwa 70 % des Nährwertes an der „Heimatfront“ aus. Die durch die Rationierung vorgesehene Menge lag 1917/18 bei lediglich der Hälfte des Vorkriegskonsums. Zugleich verschlechterten sich Brot und Brotmehl. Die Ausmahlung wurde von 70 % über 72 und 75 auf 80, 82 und 1917/18 schließlich 94 % gesteigert. Zusatzstoffe halfen das Mehl zu strecken. Ab Oktober 1914 wurden dem „K-Brot“ 5 %, ab Januar 1915 10 % und dann gar bis zu 20 % Trockenkartoffeln zugesetzt. „Statt der Trockenkartoffeln durften auch Frischkartoffeln, ferner Bohnenmehl, Sojabohnenmehl, Erbsenmehl, Gerstenschrot, Gersten- und Hafermehl, fein vermahlene Kleie, Maismehl, Maniok- oder Tapiokamehl, Reismehl, Sagomehl, Sirup, Zucker, schließlich auch Rüben verwendet werden. […] Das fast restlos ausgemahlene und mit fremden Zusätzen vermischte Mehl bereitete beim Backen erhebliche Schwierigkeiten, so daß die Klagen über klitschiges, schlecht zu kauendes, schlecht schmeckendes, zu saures und schwer bekömmliches Brot während der ganzen Kriegszeit nicht aufhörten“ (H[ans] Bischoff, Ernährung und Nahrungsmittel, 2. verb. Aufl., Berlin/Leipzig 1921, 53). Entsprechend begann eine Diskussion auch über die Eichelfrucht, auch weil 1914 ein Jahr mit sehr hohem Aufkommen war.

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Kontrolle im Mangel: Backprobenausstellung in der Berliner Reichsgetreidestelle (Welt im Bild 1918, Nr. 153 v. 23. Januar, 6)

Große Mengen wurden von Kindern gesammelt, dienten als Futtermittel. Die Eicheln wurden auch für Eichelkaffee, Eichelkakao und (später) als Streckungsmittel für Marmelade genutzt (Die Gartenwelt 19, 1915, 30-31, 133). Doch eine umfassendere Nutzung scheiterte schlicht an den mangelnden Kapazitäten für das Sammeln und insbesondere an fehlenden Trocknungs- und Verarbeitungskapazitäten. Derartige materielle Engpässe bremsten die deutsche Zivilgesellschaft, die angesichts der rasch spürbar werdenden Mängel der Ernährungsversorgung bereit war, sich nach der Decke zu strecken und dazu auch ungewohnte Experimente einzugehen: „Der Krieg hat sich schon zu wiederholten Malen als praktischer Lehrmeister gezeigt und seitdem wir in so vielen Dingen, die das Küchenreich beherrschen, auf Neues gestoßen sind, ist es nicht zuletzt der Heimatboden, dem wir vieles abgewinnen – woran wir bisher achtlos – oder wenigstens nicht besonders achtvoll vorübergingen. Zu diesen Neuerungen dürften zweifellos die Eicheln gehören“ (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 8, 1915, 149). Doch dies galt vor allem für den Hausgebrauch, für das Sammeln und Verarbeiten von Eicheln zu „deutschem“ Kaffee und Kakao. Das Eichelbrot wurde nicht reaktiviert, im Gegenteil. Die nutritive Kriegspropaganda kokettierte 1915/16 zwar mit den Notbroten früherer Hungerszeiten, doch damit sollte vor allem dokumentiert werden, dass die Einschränkungen der Gegenwart im Vergleich zu denen der Vergangenheit relativ begrenzt waren (Neue Hamburger Zeitung 1915, Nr. 139 v. 17. März, 4).
Dies bedeutete nicht, dass nicht versucht wurde, aus Eicheln Nutzen für den Menschen zu ziehen. Forschungen gab es, Empfehlungen ebenfalls. Der Prager Agrarwissenschaftler Julius Stoklasa (1857-1936) empfahl die Streckung des Brotes: „Vom Eichelmehl kann man 10-15 % zum Roggen-, Gersten- und Maismehl zusetzen. Das aus diesem Gemisch bereitete Brot ist ganz gut genießbar“ (Das Brot der Zukunft, Jena 1917, 94). Max Paul Neumann (1874-1937), Direktor der Berliner Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung, ließ Eichelbrote backen und testen. Doch was früher als wohlschmeckend galt, wurde nun als fremdartig beschrieben. 5 % Eichelmehl könne man anderem Brot zusetzen, mehr sei nicht zumutbar (R[ené] O[tto] Neumann, Die im Kriege 1914-1918 verwendeten und zur Verwendung empfohlenen Brote, Brotersatz- und Brotstreckmittel, Berlin 1920, 223). Trotz seiner langen Geschichte als Notnahrung stand Eichelmehl damals in einer Reihe mit Streckmitteln wie Kastanien, Moos, Brennnesseln, Lupinen, Kartoffelpülpe, Biertreber, Knochenmehl und Steckrübenmehl. Wilhelm Kerp, langjähriger Direktor am Reichsgesundheitsamt, kommentierte lapidar: „Ihre Unbrauchbarkeit für den vorgeschlagenen Zwecke ergab sich meist von selbst oder konnte unschwer nachgewiesen werden“ (Versorgung mit Ersatzlebensmitteln, in: F[ranz] Bumm (Hg.), Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluss des Weltkrieges, Halbbd. II, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1928, 77-122, hier 104).

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Privates Sammeln und staatliche Verwertung 1916 (Altonaer Nachrichten 1916, Nr. 459 v. 30. September, 5)

Eicheln wurden dennoch gesammelt. Sie sollten, zusammen mit Kastanien, die Futtermisere der deutschen Landwirtschaft mildern, insbesondere Getreideschrot ersetzen, das für die Brotversorgung benötigt wurde. 1915 richtete die Zentraleinkaufs-Gesellschaft reichsweit Sammelstellen ein, Öl- und Futterpflanzen sollten dort professionell gelagert und effizient verteilt werden. Man zahlte ordentliche Preise für das Sammelgut, legte zudem gewisse Qualitätskriterien fest, wollte vor allem Kinder und Frauen zur Arbeit motivieren (Mitteilungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 30, 1915, 571). Schweine sollten ½ bis 1 kg pro Schnauze und Tag erhalten, Schafe und Ziegen ½ kg, Rindvieh und Pferde 1 kg, und von Gänsen, Enten, Hühner und Kaninchen wurde verlautbart, sie würden gedörrte Eicheln lieben. Doch die Preise lagen offenbar zu hoch (Ebd., 679), schließlich mussten die Eicheln noch getrocknet, verarbeitet und transportiert werden. Aufgrund der Verstopfungsgefahr durch einseitige Eichelfütterung galt es zudem das Komplementärfutter präzise zu kalkulieren – und das bei immensem Futter- und Arbeitskräftemangel. Dennoch nahm die Regulierung zu: 1916 wurden die deutschen Eicheln unter staatliche Kontrolle gestellt, Staatsbedarf ersetzte Eigenbedarf. Die Ergebnisse lagen unterhalb der Projektionen, doch waren sie nicht unbeträchtlich. Die für den Menschen direkt genutzten Eichelprodukte waren dagegen von relativ geringer Bedeutung. Gegen Kriegsende wurden jährlich „höchstens 5000 t“ Eicheln zu Ersatzkaffee verarbeitet (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 35, 1918, 87 (Beitter)). Wie groß die Menge der unerlaubt genutzten „Gratis-Nahrung aus Wald und Feld“ war, lässt sich nicht quantifizieren.

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Kinder beim Sammeln von Eicheln im Berliner Tiergarten (Deutsch-Amerika 8, 1922, Nr. 44, 9)

Doch mit Kriegsende waren die Einschränkungen nicht vorbei, denn aufgrund der fortdauernden alliierten Blockade und der dann einsetzten Hyperinflation endete das Jahrzehnt der Ernährungskrise erst 1923. Eicheln wurden weiter gesammelt und als Tierfutter genutzt. Zu Eichelbrot wurde dieses vereinzelt weiterverarbeitet, doch es war dann Ausdruck ärgster Not. Aus Oberösterreich hieß es während der Hungerkrise 1920 selbstbewusst, hier sei „der Hunger sicher ärger als im Jahre 1531, aber unsere Bauern verzehren deshalb gewiß kein Eichelbrot; solche Nahrung überlassen sie den Städtern und dem Industrieproletariat“ (Linzer Tagblatt 1920, Nr. 79 v. 4. April, 2). In Russland blieb dagegen trotz (oder wegen) der neuen Herrscher alles beim Alten: Die Hungersnot 1921 führte zu massivem Eichelbrotkonsum. Der Vorwärts nannte es das „Brot der Verzweiflung“ (Vorwärts 1921, Nr. 613 v. 29. Dezember, 5).
In der Zwischenkriegszeit gab es kein Eichelbrot, auch die reiche Eichelernte 1932 setzte trotz Weltwirtschaftskrise keine Debatte über einschlägige menschliche Nahrungsmittel ein. Eicheln blieben eine „willkommene Futterbrigade“ (Alpenländische Rundschau 1932, Folge 466, 23), nicht mehr und nicht weniger. Das änderte sich erst mit der verstärkten Aufrüstung und Wehrhaftmachung des Deutschen Reiches durch den Vierjahresplan. Auf Grundlage detaillierter Analysen, verbesserter Verfahrenstechnik und auch tierphysiologischer Untersuchungen wurde seit 1937 die Eichelfuttergabe für das liebe Vieh erhöht, da man nun genauer wusste, wie man parallel abführenden Futterstoffe, etwa Rübenblättern, Möhren, Melasse und Rübenschnitzel einzusetzen hatte. Auch die Gewinnung von Eichelöl war eine der vielen Maßnahmen zur Schließung der Fettlücke, also dem Produktionsdefizit der deutschen Landwirtschaft (Fette und Seifen 44, 1937, 464-465).

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Wildfrucht für den Hausgebrauch: Eichelkaffee (Das kleine Blatt 1939, Folge 304 v. 4. November, 6)

Während des Krieges spielten Eichelprodukte keine irgendwie relevante direkte Rolle für die Kriegsernährung. Trotz Forschung gab es im öffentlichen Versorgungssystem keine eigens propagierten Ersatzmittel (oder Austauschstoffe, wie es sprachpflegerisch hieß) aus Eicheln – wenngleich die Exilpresse dieses sehr wohl behauptete (Der Neue Vorwärts 1940, Nr. 345 v. 28. Januar, 4). Eichelbrot mag auf Eigeninitiative hin in seltenen Fällen gebacken worden sein, doch eine staatliche Propagierung unterblieb. Anders beim Eichelkaffee, der unter die Wildfrüchte subsumiert wurde und durchaus Konsumenten fand. Eicheln wurden auch als Rohstoff für Nährmittel eingesetzt, etwa beim Hamburger Reiswunderwerk Hamester (Braunschweigische Konserven-Zeitung 1942, Nr. 5/6, 16). Und natürlich zogen seit spätestens 1936 Hitlerjungen und Bauernführer durch deutsche Haine, um für deutsche Schweine deutsche Eicheln und Kastanien zu sammeln (Mitteilungen für die Landwirtschaft 55, 1940, 711). Die Endniederlage hat dies alles nicht hinausgezögert.

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„Rohstoff Eichel“ als Teil der Wildfrüchte in der Sowjetischen Besatzungszone (Nahrung und Natur 3, 1949, H. 3/4, I)

Diese Distanz zum „Rohstoff Eichel“ wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit zumal in der sowjetischen Besatzungszone zeitweilig aufgegeben. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), die zentrale Figur der deutschen Heeresverpflegung und nach Kriegsende Multifunktionär in der SBZ, forderte verstärkte Anstrengungen „alle heimischen Rohstoffe restlos zu nutzen,“ auch solche, „die früher infolge irgendwelcher Mängel oder Verarbeitungsschwierigkeiten unverwertet geblieben sind“ (Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden/Leipzig 1947, 561). Eicheln sollten zur „Streckung von Schokolade, Kaffee-Ersatz, Eichelmehl“ genutzt werden (Ebd., 216). Die in Deutschland erst nach Kriegsende einsetzte Unterversorgung führte in der Tat zu einer vermehrten Sammeltätigkeit und häuslichen Verarbeitung von Wildfrüchten (Rosemarie Köhler, Brennnessel und falsches Schmalz. Notjahre in Dahlem 1945 bis 1949, in: Vom Berliner Stadtgut zum Freilichtmuseum. Geschichte und Geschichten der Domäne Dahlem, Berlin 1997, 94-108, hier 103-104). Ein Eichelkochbuch half beim Umgang mit der neuen Materie und präsentierte Eichelmehl als Grundlage für „Leckereien“ wie Eichelsuppe, Eichelauflauf, Bratlinge, Plätzchen, Brotaufstrich und vieles mehr (Erika Lüders, 10 Pfund Eicheln sind 7 Pfund Eichelmehl. Ein Mehlkochbuch, Berlin 1946). Eichelbrot war nicht darunter. Ernährungsphysiologisch wurde vor dauerndem Gebrauch dieser Notschmankerl gewarnt, da die Gerbsäure die Gleitfähigkeit des Nahrungsbreies vermindere und daher Verstopfung begünstige. Eicheln wurden aber vorrangig gesammelt, um Schweine zu füttern, um also indirekt den Nahrungsmangel zu mindern. All das änderte sich in den 1950er Jahren. Wildschweine und Rotwild wurden noch viele Jahrzehnte mit Eicheln gefüttert, doch heutzutage ist auch dieses eher selten geworden. Während der heutigen milden Winter finden die Tiere genügend Nahrung.
Heutzutage findet man dennoch wieder ein gewisses Interesse an Eichelbrot, das teils kommerziell hervorgerufen, teils kommerziell bedient wird (vgl. etwa Sindy Simone Grambow, Herbstfrüchte aus Wald und Wiese. Kochen, Backen, Naschen mit Eicheln, Hagebutten und Co., Norderstedt 2015; Michael Maschatschek, Nahrhafte Landschaft 3, Köln 2015). Im stetig tönenden Internet ist gar von einer „Renaissance des Eichelbrotes“ die Rede. Doch Belege werden keine gegeben, das Gefühl der Propagandisten und Aktivisten dominiert. Weiterhin wird Eichelbrot als „Urbrot“ bezeichnet, als etwas „Urwüchsiges“. Ohne Rückbindung an auch nur elementare naturwissenschaftliche Grundkenntnisse wird dort von der „Umerziehung vom basischen Eichelbrot zum krankmachenden Getreide“ oder der „Heilkraft der Bäume“ schwadroniert. Ebenso schlimm, zumindest für mich, sind die locker flockigen Geschichten der ach so trendigen Journalist*innen, die einen stetig anblöken, fragend, ob nicht vielleicht auch meine Großeltern in den Herbstmonaten gerne Eichelbrot gegessen hätten. Nein, das haben sie nicht! Schreiberlinge von Geo, Stern und Bild berichten ohne rechte Kenntnisse über die freudig-urige Eichelküche, schollennah und schweinig-grunzend. Und Brigitte, das Fachmagazin für die moderne Frau, kaspert ein „Schließlich haben Oma und Opa schon Eichelbrot gegessen und Eichelkaffee getrunken!“ zu all diesen Zeugnissen profunder Unkenntnis hinzu. Selbstverständlich finden sich „im Netz“ auch – ohne den geringsten Quellenbezug – Eichel(brot)rezepte aus „Oma’s Zeit“ – ja, wirklich mit Apostroph! Nicht fehlen darf ein wenig Exotik, dafür dienen indianische Rezepte.

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„Mein“ Eichelbrot – aufgeschnitten (Photo Stefanie Waske)

Blickt man etwas abgeklärter auf die Geschichte des Eichelbrotes, so erscheint es als eine Notnahrung und Armenspeise, deren wir nicht bedürfen, die hierzulange schon im 19. Jahrhundert eine rare Ausnahme bildete, die im 20. Jahrhundert praktisch verschwand und heute einzig als verfeinerter Gaumenhappen wiederkehrt. Die Geschichte des Eichelbrotes ist ein gutes Beispiel für Lebensmittel als Projektionsfläche ganz anderer Themen und Konflikte. Eichelbrot stand lange für elementare Ängste von Menschen, die sie durch neue Fertigkeiten, Rezepte und Backtechniken überwinden wollten. Sie stand für das Ideal einer reinen klaren Vergangenheit, fern weg vom grau der Gegenwart. Von Helden wurde gesungen, nicht von der Realität des Kompromisswesens, des anpassungsschlauen Tieres. So konnte man sich, auch mit Hilfe von Eichen, Eicheln und Eichelbrot selbst erhöhen, seine eigene Identität hochhalten. Zugleich erlaubte dies den Blick auf andere, teils neugierig, teils voll Hoffart, teils selbsterhebend, teils verächtlich, ja rassistisch.  Es bedarf eines wachen Blickes, um im Walde der Geschichtslosigkeit und Beliebigkeit all dies im Blick zu behalten.
Es bedarf des Widerspruchs zu fast allen, was über diesen einen kleinen Gegenstand verbreitet wird und wurde. Das Eichelbrot ist voller kleiner Geschichten, nicht über ein Gebrauchsgut, sondern über den strebenden, duldenden und hoffenden Menschen. Darüber lässt sich mit einem vollen Magen gut räsonieren. Und ich kann dann wohlig ertragen, dass auch „mein“ Eichelbrot, das der Bäckerei Marquard in Garbsen, „nur“ eine gut ausgebackene Mischung von Sauerteig, Roggen-, Dinkel-, Weizen- und eben auch Eichelmehl ist. Von letzterem, von der Armenspeise und Notnahrung besteht lediglich die Erinnerung. Der Gaumenhappen aber bleibt. Er steht in einer Tradition, die selten geworden ist. Die des einfachen ungekünstelten Geschmacks eines sorgfältig bereiteten Handwerkgutes.

Uwe Spiekermann, 9. März 2019

Eine andere Moderne – Ein Besuch der früheren Konsummühle Magdeburg

Deutschland feiert das Bauhaus. Die heterogene, aus Demokratieverächtern und Gemeinschaftsaktivisten, Architekten und Gestaltern, Künstlern und Sinnsuchern bestehende Institution ist heute handzahm und gut bürgerlich. Sie ist propperes Konsumgut, „öffentliche“ Mittel fließen, das Establishment feiert sich selbst. Wer will schon noch etwas wissen über die Wirrnisse der Bauhäusler zwischen Republik und Stalinismus, über ihre Anpassung im Nationalsozialismus und im Exil, gar über die engführende Rezeption zwischen New York und Stuttgart. Das breite Licht der Wagenfeld-Lampe überdeckt die Schatten.

Das Bauhaus war Aufbruch, eingebettet in eine breite Neudefinition des Alltags, der Konsumkultur, aller materiellen Gegenstände. Das weit darüber hinausreichende bauliche und gestalterisches Erbe wird heute auch abseits von Weimar, Dessau oder Berlin gern präsentiert, ein Bauhausbezug oft behauptet, eigenständiger Entwicklungen zum Trotz. Das zeigt sich etwa in Magdeburg, einem zu Unrecht weniger beachteten Ort der Moderne, ehedem eine Experimentierstätte des Umdenkens und Neugestaltens. Dort gab es in den 1920er Jahren eine der seltenen sozialdemokratischen Stadtregierungen, dort agierten viele zwischen Werkbund und Bauhaus, zwischen großer Reform und praktischer Alltagsverbesserung. Die bunte Broschüre „Magdeburger Moderne. Neues Bauen in der Ottostadt“ lockt Touristen in die Hauptstadt Sachsen-Anhalts: Vier Wanderrouten stellen 32 Ziele näher vor, Siedlungen und Einzelgebäude, Denkmäler und Industriebetriebe. Das erlaubt eine Perspektivenweitung über die Enge des Bauhauses hinaus, führt hinweg über die immergleichen Namen der vermeintlichen und realen Visionäre.

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Selbstbestimmte Warenwirtschaft als Grundlage einer Welt freier, gleichberechtigter Bürger (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 22, 1929, 193)

Die heutige Bauhauserbauungskultur dient nämlich immer auch der Ausgrenzung anderer Narrative und gelebter, praktischer Geschichte. Das gilt nicht zuletzt für die in den 1920er und frühen 1930er Jahren auf einem historischen Höhepunkt stehende Konsumgenossenschaftsbewegung. Diese war zweigeteilt, erst im Nationalsozialismus erfolgte eine Zwangsvereinigung. Der eher bedächtige katholische Reichsverband der Konsumvereine (1924: 735.000 Mitglieder und 100 Mio. RM Umsatz) war deutlich schwächer als der tendenziell sozialdemokratische Zentralverband deutscher Konsumvereine (1924: 3,5 Mio. Mitglieder resp. 381 Mio. RM Umsatz), der die dritte und letztlich breiteste Säule der „Arbeiterkultur“ bildete. Diese wuchs während der 1920er Jahre voll Wucht. Wer nicht mitschritt, die nicht kaufenden „Papiersoldaten“, wurde ausgeschlossen, und der Umsatz der 1930 mehr als 2,9 Mio. Genossen (und ihrer Familienangehörigen) erreichte staatliche 1,24 Mrd. RM. Das waren mehr als zehn Millionen Deutsche, das waren fast fünf Prozent des deutschen Einzelhandelsumsatzes. Mehr als alle Warenhäuser – und dabei hatte man mit dem Vertrieb von Gebrauchsgütern doch gerade erst begonnen. Den wegbewussten Sozialdemokraten waren die katholischen Genossen recht suspekt, begnügten sie sich doch mit preiswerten und standardisierten Waren. Sie mochten gläubig auf das verheißene Paradies warten. Doch die Genossen des Zentralverbandes verkündeten Wirtschafts- und Gesellschaftswandel im Diesseits. Ihre Läden, ihre rasch wachsende Zahl von Produktionsbetrieben sollten Vorboten einer genossenschaftlichen Alternativwirtschaft sein. Es ging nicht um ein paar Farbkleckse auf Leinwand, sondern um die konkrete Verbesserung des Alltags, um gute Ware zu fairem Preis. Und mehr noch: Arbeit in einer gemeinschaftlichen Binnenwelt, Kapital durch eigene Sparvereine und Banken, Boden und Besitz durch Baugenossenschaften. Den Konsumgenossenschaftlern ging es um die Überwindung der dominierenden „Profitwirtschaft“ und zugleich Distanz zum Staat, dem verschwenderischen Moloch und großen Fronherrn. Doch anzusetzen war niedriger, vielgestaltiger: In der Warenwirtschaft schien die „Eigenproduktion“, also Gebrauchsgüterproduktion in eigener Verantwortung, der entscheidende Hebel für eine neue Welt. Die Überschüsse flossen dann nicht in die Taschen weniger, sondern als Rückvergütung zurück an die Mitglieder und als Investitionsmittel in das Wachstum der Organisation.

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Baustein einer Gegenwelt: Die Magdeburger Konsummühle 1927 (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 185)

Der verhaltene Siegeszug der Konsumgenossenschaften setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, veränderte den Einkauf vor allem lokal. Liberales Freiheitsversprechen und sozialdemokratische Solidarität verbanden sich in dieser Bewegung. Die Konsumgenossenschaften etablierten immer dichtere Ladennetze, ihr steigender Umsatz schuf langsam Einkaufsmacht, Konkurrenz mit den etablierten Anbietern wurde so einfacher. Wichtiger aber war, dass viele Genossenschaften mit der Eigenproduktion begannen und zuerst Bäckereien, dann auch Fleischereien ins Leben riefen, Kaffee rösteten, Mineralwasser auf Flaschen zogen. 1914 produzierte mehr als ein Viertel eigene Lebensmittel, 238 Konsumbäckereien versorgen die Mitglieder mit frischem, meist maschinell produziertem Brot und Backwaren. 1926 sollten es schon 367 mit 4.000 Beschäftigen sein.

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Ein Blick in die Bäckerei der Verbrauchergenossenschaft Magdeburg (Die Rundschau 36, 1939, 265)

Damit nähern wir uns Magdeburg, dem Ort meines Besuches. Hier hatte sich der Konsumverein schon in den 1890er Jahren von der Brotbelieferung durch „kommerzielle“ Bäcker frei gemacht. Doch das Mehl bezog die neue Konsumbäckerei von Großanbietern der Branche, nämlich leistungsfähigen Handelsmühlen. Hierbei half vielfach die eigene Großhandelsorganisation, die 1894 in Hamburg gegründete Großeinkaufsgesellschaft deutscher Consumvereine (GEG). Gewinne verblieben dennoch beim „kapitalistischen“ Anbieter und Konkurrenten. Die GEG begann nach der Jahrhundertwende jedoch, eigene Produktionsstätten für die Produkte aufzubauen, die vor Ort nicht sinnvoll herzustellen waren und für die man die Vorteile der Massenfabrikation nutzen konnte. Die englische Co-operative Wholesale Society in Manchester wies dabei den Weg: Heinrich Kaufmann (1864-1928), spiritus rector der Konsumvereine, dachte sicher auch an die riesige Konsummühle in Manchester als er schrieb: „Wir dürfen daher mit Recht sagen, daß […] britische genossenschaftliche Gegenwart unsere deutsche Zukunft ist“ (Heinrich Kaufmann, Ein konsumgenossenschaftlicher Blick in die Zukunft, Hamburg 1921, 36).

Doch der Weg hin zur Eigenproduktion war steinig. Kapitalmangel, schlechte Erfahrungen mit den Produktivgenossenschaften im späten 19. Jahrhundert, Widerstände der landwirtschaftlichen Genossenschaften, die feindliche Agitation der Mittelstandsbewegung und auch lähmende Kämpfe innerhalb der Konsumgenossenschaftsbewegung bremsten die Entwicklung. Und immer wieder gab es Widerstand vor Ort: Als 1904 die Eigenproduktion mit einer Seifenfabrik in Aken südlich von Magdeburg aufgenommen werden sollte, sahen besorgte Bürger darin eine „Gefährdung der Staats- und Gemeindeinteressen“, während der Magdeburger Chemiker Otto Pfeiffer vor möglichen Beeinträchtigungen der Wasserqualität warnte. Erst 1910 konnte die Seifenfabrikation im sächsischen Gröba beginnen. Bis zum ersten Weltkrieg folgten Tabak-, Senf-, Zündholz-, Verpackungs- und Teigwarenfabriken mit 1914 insgesamt 1420 Beschäftigten. Schon damals hatte die GEG über Großmühlen an verschiedenen frachtgünstigen Orten nachgedacht, um die Mitglieder, insbesondere aber die Konsumbäckereien und die Teigwarenfabrik mit Mehl und Mühlenartikeln zu beliefern. 1916 beschloss die GEG insgesamt mittelfristig drei Getreidemühlen zu errichten (Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Frankfurt a.M. 1971, 371). In Magdeburg hatte die GEG bereits 1912 ein etwa 57.000 qm großes Gelände gepachtet, das anfangs als Standort eines Lagers für die mitteldeutschen Konsumvereine gedacht war (Rundschau des Reichsbundes der deutschen Konsumgenossenschaften 30, 1933, 736). Dort sollte die Großmühle gebaut später werden.

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Magdeburg als Stadt der Moderne: Leuchtturm und Pferdetor 1927 (Zeitbilder 1927, Ausg. v. 24. April, 4)

Warum aber in Magdeburg? Neben dem direkt nutzbaren Baugrund sprachen vor allem vier Gründe für die mitteldeutsche Industriestadt. Erstens lag Magdeburg verkehrsgünstig. Das galt für die Elbe und verschiedene Kanalprojekte, zumal den Elbe-Havel- und den Mittellandkanal. Von dort konnte nicht nur der so wichtige sächsische Raum kostengünstig versorgt werden, sondern ebenso die Hauptstadt Berlin. Wasserwege und Eisenbahnverbindungen erlaubten zugleich eine Zufuhr sowohl von Auslandsgetreide als auch von Roggen aus den ostelbischen Gebieten. Zweitens besaß Magdeburg einen traditionsreichen und aufstrebenden lokalen Konsumverein. Während die Genossenschaften in Buckau, Sudenburg und der Altstadt nicht erfolgreich waren, hatte sich der 1864 aus einem Arbeiterbildungsverein entstandene Konsumverein Magdeburg-Neustadt um die Jahrhundertwende als führender Lebensmittelanbieter mit einem Marktanteil von etwa einem Drittel etabliert. Seine breite, bis weit ins Bürgertum reichende Mitgliedschaft erwies sich jedoch als Bürde als sich die lokalen Kolonialwarenhändler zu schlagkräftigen Rabattspargesellschaften zusammenschlossen und sich dann mit dem 1907 gegründeten „Waren-Verein“ Magdeburg ein von Großhändlern organisierter Massenfilialist als Preisbrecher etablierte. Die Zahl der Mitglieder des Konsumvereins sank von 1907 15.002 Mitgliedern binnen zweier Jahre auf 10.345, ehe eine Konsolidierung begann (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft, 332f.). Als Konsumverein für Magdeburg und Umgebung 1912 neu aufgestellt, war das Wachstum vor allen in den 1920er Jahren beeindruckend: 1929 hatte die Genossenschaft mehr als 800 Beschäftigte, 34.396 Mitglieder und einen Umsatz von über 14 Millionen RM (Die Rundschau 36, 1939, 295). Drittens hatte die GEG schon 1923 nahe des Magdeburger Bahnhofs eine Nährmittelfabrik und ein Vertriebslager in Betrieb genommen. In den 1920er Jahren produzierten teils mehr als 70 Beschäftigte vor allem Back- und Puddingpulver, zugleich wurden dort Einkaufstage und Genossenschaftstreffen abgehalten. Vor Ort gab es also Expertise und etablierte Geschäftsbeziehungen. Viertens schließlich stand die Stadt Magdeburg während der zwölfjährigen Oberbürgermeisterschaft von Hermann Beims (1863-1931) dem Projekt aufgeschlossen, ja fördernd gegenüber; auch wenn der Magistratsbaurat Johannes Göderitz (1888-1978), an sich ein Propagandist des Neuen Bauens, die Bauherren der Mühle zwang, den ersten Entwurf von 1925 unter „baukünstlerischen“ Aspekten zu überarbeiten, insbesondere aber die Silohöhe zu reduzieren (Sabine Ullrich, Industriearchitektur in Magdeburg, Magdeburg 2003, 164).

Der Spatenstich der Konsummühle erfolgte am 11. Januar 1926. Entwurf und Ausführung lagen in den Händen des Technischen Büros der GEG, unterstützt vom Münchener Ingenieurbüro Schulz & Kling und dem Hamburger Architekten Hanke. Die Gebäude waren bis Ende 1926 fertiggestellt, es folgten die Montagearbeiten. Im Mai 1927 nahm die Betriebsleitung ihre Arbeit auf, zeitgleich bereitete die von Hamburg nach Magdeburg verlegte Handelsabteilung den Warenvertrieb für den mitteldeutschen Raum vor. Am 29. August 1927 begann der Müllereibetrieb mit dem Einmahlen, also der Feinjustierung der Maschinerie. Die Roggenmühle machte den Anfang, bei Betriebsbeginn am 1. Oktober 1927 liefen auch die Weizen- und Hartgrießmühlen. 1928 nahm man dann auch die Produktion von Graupen und Haferflocken auf. Der Betriebsbeginn und insbesondere die Besichtigung der neuen Mühle durch die GEG-Führung und die lokalen Honoratioren am 10. November 1927 fanden beträchtlichen Widerhall in der lokalen und konsumgenossenschaftlichen Presse. Die Inbetriebnahme erschien der GEG als das „bedeutsamste Ereignis für die gesamte deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung“ (GEG-Geschäftsbericht 1927, 7) des Jahres 1927. Mehl in Eigenregie hieß Brot in Eigenregie. Das war ein weiterer Schritt hin zur Etablierung einer menschengerechten Wirtschafts- und Lebensweise.

Die Architektur der Mühle unterstrich diesen Anspruch. Die Fassaden waren schnörkellos, funktional, die Klinker schimmerten rötlich. Sie verdeckten einen Betonbau, eine Stahlstruktur, gaben ihm zugleich aber eine einheitliche kubische Form. Dadurch konnten die vier verschiedenen Betriebssegmente zu einer Einheit verbunden werden – so wie die Vielzahl der Bedürfnisse der Mitglieder unter dem Dach des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine. Die Mühle lag im vor dem ersten Weltkrieg errichteten Industriehafen, Schiffstransport von Getreide und Mehl war also einfach möglich. An beiden Seiten des Komplexes lagen Bahngleise, teils für die Produkte, teils für Heizkohle. Lastwagen und Fuhrwerke fanden ebenfalls Platz. Die Mühle war also eine gewerbliche Drehscheibe, gedacht für die effiziente Bearbeitung und den raschen Vertrieb.

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Die heutige Getreidemühle Klosterkamp. Seitenansicht

Blickt man genauer hin, sind Silo, Mühle, Mehllager und Betriebsgebäude voneinander zu unterscheiden. Das Silo war 41 Meter hoch, auf seiner Spitze prangte das Zeichen der GEG. 18 Meter breit und 36 Meter lang fasste es in 66 Zellen bis zu 7500 Tonnen Getreide. Und mehr als das: Die Temperaturen in den Einzellagern konnten mit je drei Thermometern kontrolliert werden, Frischluftbelüftung und eine Heißlufttrockenanlage erlaubten die Pflege und Verbesserung des Mahlgutes. Das Silo wurde mit Sauggasanlagen befüllt, sein Inhalt lief über automatische Wagen und Reinigungsmaschinen. Aufzüge und Förderbänder erlaubten den Transport des Getreides, zumeist in das integrierte Arbeitssilo, in dem bis zu 1000 Tonnen gelagert und für die Müllerei vorbereitet wurden. Die einzelnen Getreidearten besaßen jeweils eigene Transport- und Schälsysteme, um eine standardisierte Qualität zu garantieren.

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Walzenboden der Müllerei der Konsummühle Magdeburg (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 22, 1929, 207)

Die eigentliche Mühle befand sich auf der rechten Seite des Gebäudes, war unterirdisch mit dem Silo verbunden, wurde von dort aus bestückt. Hören wir den sachlichen Bericht des Betriebsleiters Petzold, so schnörkellos wie das Gebäude: „Das Mühlengebäude ist 60,80 m lang, 17,20 m breit und 27,20 m hoch. Im Erdgeschoß befinden sich die Antriebsmaschinen (Elektromotoren) und Transmissionen zum Antrieb der Walzenstühle der Roggen-, Weizen- und Hartgrießmühle. Auf dem Walzenboden, dem sogenannten Schmuckkasten einer Mühle, sind 55 Walzenstühle eingebaut, davon entfallen auf die Roggenmühle 16, Weizenmühle 31 und Hartgrießmühle acht Walzenstühle. Der Rohrboden ist mit Schnecken und Zulaufrohen versehen, die Schrot und Mahlgut auf die Walzenstühle bringen“ (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 24, 1927, 616). Der Ingenieur war begeistert ob dieser sonoren Maschinerie, in der die Menschen Diener der Maschine, Diener des Gesamtzwecks waren. Der Betrieb lief kontinuierlich, täglich in drei Acht-Stunden-Schichten. Weizen, Roggen, Hartweizen, Hafer und Gerste wurden parallel vermahlen, durchliefen das Gebäude von unten nach oben, getrieben von Elektromotoren und einer steten Krafttransmission.

Die fertigen Produkte wurden schließlich in den links gelegenen Mehlspeicher transportiert. Dieser war ebenso lang und hoch wie die Mühle, mit 15,60 Metern allerdings etwas schmaler. Dort wurde das Mahlgut gemischt und gelagert und wiederum, meist über Rutschen, auf Schiffe, Eisenbahnwaggons oder Lastwagen verladen. Zuvor erfolgte jedoch – wie schon beim Getreide – ein Stichprobenkontrolle im Laboratorium und in der Versuchsbäckerei (Die Konsum-Genossenschaft 7, 1927, 163).

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Blick auf die Südfassade und das Kesselhaus der Konsummühle Magdeburg (Rundschau des Reichsverbandes deutscher Verbrauchergenossenschaften 30, 1933, 749)

Umrahmt waren Silo, Mühle und Mehlspeicher durch verschiedene Betriebsgebäude. Zur Straße hin lagen die Verwaltungsgebäude, ein Pförtnerhaus, auch Wohnungen der Betriebsleiter. Seitlich erstreckte sich das Kesselhaus, die eigentliche Kraftzentrale. Mit 45 Metern Länge, 13 Metern Breite und 14 Metern Höhe trat es etwa in den Hintergrund, doch dafür überragte der 50 Meter hohe, heute nicht mehr vorhandene Schornstein die Anlage. Hier befanden sich auch Werkstätten, die Aufenthaltsräume und Waschgelegenheiten. Arbeitsschutz wurde großgeschrieben, ebenso die Eindämmung der Feuergefahr. Eine Sprinkleranlage, zahlreiche Feuerlöschgeräte und Hinweisschildern dienten der Sicherheit von Betrieb und Beschäftigten. All das war modern, Teil rationalisierter Betriebsabläufe. Doch es war nicht „amerikanisch“ im engen Sinne: Ein massiv gebauter Fahrradschuppen bot Platz für 90 Räder, denn die Arbeiter konnten von einem Auto nur träumen.

Diese Fakten wurden von der konsumgenossenschaftlichen Presse voll Stolz verbreitet (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 146). Abseits der Ziffern findet sich jedoch auch eine Metaphysik des Wollens: Die Anlage wurde zum Symbol einer nach vorn schreitenden Gemeinschaft. Franz Mitzkat, langjähriger Redakteur des Nachrichtenorgans „Konsumgenossenschaftliche Rundschau“ und später der Familienzeitschrift „Konsumgenossenschaftliches Volksblatt“, bot dafür ein gutes Beispiel: Wem „das Wesen unseres Eigenwollens noch fremd, auch dem muß angesichts dieser Mühle ein Fühlen und Verstehen kommen vom Geiste und der Kraft, die unaufhaltsam vorwärtsdrängten zur konsumgenossenschaftlichen Gemeinwirtschaft. Mit ehrlichem Bewundern verfolgt der Besucher das beim ersten Anblick fast rätselhafte, nach durchdachten, praktisch angewandten Gesetzen hochentwickelter Technik schlüssig ineinandergreifende maschinelle Walten, steht er vor dem Wunder nahezu vollständig menschenleerer Arbeitsräume, empfindet er den Zauber, die geradezu überwältigende Sinnigkeit und Schönheit eines lichten, blitzend sauberen Saales, eines Prunkgemachs voll etwa 60 blinkender, lebender, schaffender Walzenstühle. Ach, wie verblaßt vor diesem Rhythmus wundervoller Mechanik alle einstmalige Windmühlenpoesie, wie arm dünkt uns hier das Lied der Mühlensteine. […] Hier stehen Erfindergeist und seine praktischen Folgen im Dienste einer neuen Wirtschaftsform, der aufstrebenden, genossenschaftlichen Bedarfsversorgung, die sich das leisten kann, dank der erworbenen eigenen Stärke, und leisten muß um des höchstmöglichen Ertrags ihrer eigenen Produktion“ (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 24, 1927, 758; ähnlich Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 185). Das Bestaunen des Werdens wird hier deutlich. Die nüchterne Architektur der neuen Sachlichkeit war Ausdruck des Neuen, war Abkehr vom überholten Alten. Es galt, die Schönheit der industriellen Produktion und funktionaler Architektur zu besingen. In der sozialdemokratischen Volksstimme hieß es: „Im Stile der neuen Sachlichkeit ohne jeden äußern Schmuck wurde der Bau aus violetten Klinkersteinen errichtet. Ein Industriepalast in modernster Gestaltung wurde errichtet, der zu dem Schönsten gehört, was Magdeburg auf diesem Gebiete aufzuweisen hat. Trotz der Einfachheit in der Behandlung der Fronten ist nicht der Eindruck klobiger, unförmlicher Gebäudemassen entstanden. Durch die Anordnung der einzelnen Teile zueinander liegt Bewegung und Schwung in der Architektur“ (Magdeburger Volksstimme 1927, Nr. 257 v. 13. November, 7).

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Blick auf das frühere Mühlengebäude und den Verbindungsturm zum Mehllager

Treten wir nüchtern zurück, dann erscheinen die Konsumgenossenschaften und ihre modernen Industriebauten als Teil des Fordismus, als Ausprägung industrieller Rationalisierung, als Element des gewundenen Weges zum Jetzt. Doch die Genossenschafter sahen hierin einen Beitrag zur Überwindung der Klassengesellschaften des Kaiserreichs und auch der Weimarer Republik. Gebäude wie die Mühle gaben Kraft und Mut: „Die Großmühle Magdeburg war der Anfang auf einem der GEG noch neuen Produktionsgebiet, weitere Unternehmungen werden die genossenschaftliche Selbständigkeit auf diesem Erzeugergebiet vervollkommnen“ (Betriebsräte-Zeitschrift für Funktionäre der Metallindustrie 9, 1928, 517).

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Die Konsummühle Magdeburg als Teil der konsumgenossenschaftlichen Eigenproduktion (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 11, 16)

Hat sich die Mühe gelohnt, haben sich die Investitionen amortisiert? Blicken wir auf die Zahlen. Demnach wurden die Erwartungen voll erfüllt. Fast 200 Menschen fanden in der Konsummühle bis zur Machtzulassung der Nationalsozialisten einen gut bezahlten Arbeitsplatz. Der Betrieb lief durchgehend in Volllast, erreichte seine volle Produktionskapazität und konnte sich auch unter enormem wirtschaftlichem und politischem Druck und massivem Preisverfall behaupten. Doch diese beträchtliche Stabilität hatte eine Schattenseite: Die GEG setzte auch aufgrund dieser Erfolge weiter auf Expansion. Seit 1930 traten zwei kleinere Mühlen in Bochum und Duisburg an die Seite Magdeburgs, 1931 kam eine neue, ebenfalls im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaute Großmühle in Mannheim hinzu. Und 1932, dem Höhepunkt der Krise, eröffnete die GEG einen weiteren Müllereibetrieb im oberbayerischen Reichertshofen. All dies entsprach einer langfristigen Expansionsstrategie, die 1931/32 aber nicht mehr zeitgemäß war, sondern zu massiven Finanzierungsproblemen führte.

Tabelle 01_Konsummühle Magdeburg 1927-1932

Die Konsummühle Magdeburg war ein erfolgreiches Vorzeigeprojekt. Dort wurde hygienisch produziert, dem Ideal des Blitzblank gefrönt. Die Weizenmarke Ährenstolz, auch die dann preiswertere Marke Feldkrone, gewannen rasch Stammkunden. Das galt auch für die in Paketen gelieferten Haferflocken und Graupen. Die Konsummühle erfüllte ihre Aufgabe als Lieferant der Teigwarenfabrik Gröba-Riesa, ebenso trug sie zur Futtermittelversorgung vieler Einzelgenossenschaften bei. Die Mühle bezog zunehmend Getreide von landwirtschaftlichen Genossenschaften – 15.442 Tonnen 1929 –, verarbeitete Getreide vom GEG-Landgut in Osterholz, nutzte also Verbundvorteile und förderte den Genossenschaftsgedanken als solchen.

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Backen mit GEG-Ährenstolz mit dem Konterfei der Konsummühle (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 26, 1933, Nr. 12, 12)

Doch all das reichte nicht. Die Politik der NS-Regierung beschleunigte den raschen Niedergang der Konsumgenossenschaftsbewegung, die bis 1935 nochmals 30% ihres Umsatzes verlieren sollte, ehe eine gewisse Konsolidierung gelang. Die hehren Ideale wurden 1933 von vielen verantwortlichen Funktionären nicht praktiziert. Die nicht zu erahnende Anbiederung an das NS-Regime war rational teils nachvollziehbar, brach der stolzen Bewegung jedoch das moralische Rückgrat. „Arbeit und Brot“ war zur NS-Parole geworden, der neue konsumgenossenschaftliche Reichsbund propagierte „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, und die Mühle diente nun Zielen wie der „Nahrungsfreiheit“ Deutschlands und der alimentären Kriegsvorbereitung. Viele Genossenschaftler zerbrachen daran, so der schon erwähnte Franz Mitzkat, der erst seine Stellung als verantwortlicher Redakteur, dann als Leiter der GEG-Bibliothek verlor. Er lebte bis zu seinem Tod 1944 unter Dauerdruck durch Gestapo und NS-Stellen, wurde drangsaliert und seines Lebens nicht mehr froh. Noch im Sommer 1933 hatte seine Zeitschrift mit Wehmut über das Ende der Windmühlen angesichts des Aufstieges auch der Magdeburger Konsummühle berichtet: „Es ist das Schicksal des Guten, das dem Besseren weichen muß, das sich hier vollzieht“ (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 12, 11). Für den Zentralverband deutscher Konsumvereine traf dies nicht zu.

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Die alte Struktur trägt bis heute: Blick in das Silo

Die im Bombenkrieg nur geringfügig beschädigte Konsummühle Magdeburg wurde während der NS-Zeit, der Besatzungsherrschaft und der DDR weiter betrieben, Ergänzungen und Umbauten blieben moderat. 1950 eröffnete man ein Wohlfahrtsgebäude mit Werksküche und Konsumverkaufsstelle. Der VEB Konsummühle inklusive der benachbarten, Ende der 1970er Jahre aufgebauten Teigwarenfabrik wurde nach der Wende von der Braunschweiger Mühle Rüningen übernommen. Anfangs lief der Betrieb weiter, dann stellte man auf Biogetreide um. Das endete 2008. Drei Jahre Leerstand. 2011 übernahm die Bio-Getreide-Erzeugergemeinschaft Öko-Korn-Nord aus Betzendorf die denkmalgeschützte Konsummühle. Sie lagert heute im Silo vor allem Bioland-Getreide, verteilt es, nutzt damit die Kapazitäten der Anlage zumindest teilweise. Die frühere Mühle und das Mehllager stehen heute leer, sind entkernt, ebenso die Nebengebäude. Doch die Konsummühle steht noch und mit ihr ihr Anspruch.

Uwe Spiekermann, 23. Februar 2019