Deutschland feiert das Bauhaus. Die heterogene, aus Demokratieverächtern und Gemeinschaftsaktivisten, Architekten und Gestaltern, Künstlern und Sinnsuchern bestehende Institution ist heute handzahm und gut bürgerlich. Sie ist propperes Konsumgut, „öffentliche“ Mittel fließen, das Establishment feiert sich selbst. Wer will schon noch etwas wissen über die Wirrnisse der Bauhäusler zwischen Republik und Stalinismus, über ihre Anpassung im Nationalsozialismus und im Exil, gar über die engführende Rezeption zwischen New York und Stuttgart. Das breite Licht der Wagenfeld-Lampe überdeckt die Schatten.
Das Bauhaus war Aufbruch, eingebettet in eine breite Neudefinition des Alltags, der Konsumkultur, aller materiellen Gegenstände. Das weit darüber hinausreichende bauliche und gestalterisches Erbe wird heute auch abseits von Weimar, Dessau oder Berlin gern präsentiert, ein Bauhausbezug oft behauptet, eigenständiger Entwicklungen zum Trotz. Das zeigt sich etwa in Magdeburg, einem zu Unrecht weniger beachteten Ort der Moderne, ehedem eine Experimentierstätte des Umdenkens und Neugestaltens. Dort gab es in den 1920er Jahren eine der seltenen sozialdemokratischen Stadtregierungen, dort agierten viele zwischen Werkbund und Bauhaus, zwischen großer Reform und praktischer Alltagsverbesserung. Die bunte Broschüre „Magdeburger Moderne. Neues Bauen in der Ottostadt“ lockt Touristen in die Hauptstadt Sachsen-Anhalts: Vier Wanderrouten stellen 32 Ziele näher vor, Siedlungen und Einzelgebäude, Denkmäler und Industriebetriebe. Das erlaubt eine Perspektivenweitung über die Enge des Bauhauses hinaus, führt hinweg über die immergleichen Namen der vermeintlichen und realen Visionäre.

Selbstbestimmte Warenwirtschaft als Grundlage einer Welt freier, gleichberechtigter Bürger (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 22, 1929, 193)
Die heutige Bauhauserbauungskultur dient nämlich immer auch der Ausgrenzung anderer Narrative und gelebter, praktischer Geschichte. Das gilt nicht zuletzt für die in den 1920er und frühen 1930er Jahren auf einem historischen Höhepunkt stehende Konsumgenossenschaftsbewegung. Diese war zweigeteilt, erst im Nationalsozialismus erfolgte eine Zwangsvereinigung. Der eher bedächtige katholische Reichsverband der Konsumvereine (1924: 735.000 Mitglieder und 100 Mio. RM Umsatz) war deutlich schwächer als der tendenziell sozialdemokratische Zentralverband deutscher Konsumvereine (1924: 3,5 Mio. Mitglieder resp. 381 Mio. RM Umsatz), der die dritte und letztlich breiteste Säule der „Arbeiterkultur“ bildete. Diese wuchs während der 1920er Jahre voll Wucht. Wer nicht mitschritt, die nicht kaufenden „Papiersoldaten“, wurde ausgeschlossen, und der Umsatz der 1930 mehr als 2,9 Mio. Genossen (und ihrer Familienangehörigen) erreichte staatliche 1,24 Mrd. RM. Das waren mehr als zehn Millionen Deutsche, das waren fast fünf Prozent des deutschen Einzelhandelsumsatzes. Mehr als alle Warenhäuser – und dabei hatte man mit dem Vertrieb von Gebrauchsgütern doch gerade erst begonnen. Den wegbewussten Sozialdemokraten waren die katholischen Genossen recht suspekt, begnügten sie sich doch mit preiswerten und standardisierten Waren. Sie mochten gläubig auf das verheißene Paradies warten. Doch die Genossen des Zentralverbandes verkündeten Wirtschafts- und Gesellschaftswandel im Diesseits. Ihre Läden, ihre rasch wachsende Zahl von Produktionsbetrieben sollten Vorboten einer genossenschaftlichen Alternativwirtschaft sein. Es ging nicht um ein paar Farbkleckse auf Leinwand, sondern um die konkrete Verbesserung des Alltags, um gute Ware zu fairem Preis. Und mehr noch: Arbeit in einer gemeinschaftlichen Binnenwelt, Kapital durch eigene Sparvereine und Banken, Boden und Besitz durch Baugenossenschaften. Den Konsumgenossenschaftlern ging es um die Überwindung der dominierenden „Profitwirtschaft“ und zugleich Distanz zum Staat, dem verschwenderischen Moloch und großen Fronherrn. Doch anzusetzen war niedriger, vielgestaltiger: In der Warenwirtschaft schien die „Eigenproduktion“, also Gebrauchsgüterproduktion in eigener Verantwortung, der entscheidende Hebel für eine neue Welt. Die Überschüsse flossen dann nicht in die Taschen weniger, sondern als Rückvergütung zurück an die Mitglieder und als Investitionsmittel in das Wachstum der Organisation.

Baustein einer Gegenwelt: Die Magdeburger Konsummühle 1927 (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 185)
Der verhaltene Siegeszug der Konsumgenossenschaften setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, veränderte den Einkauf vor allem lokal. Liberales Freiheitsversprechen und sozialdemokratische Solidarität verbanden sich in dieser Bewegung. Die Konsumgenossenschaften etablierten immer dichtere Ladennetze, ihr steigender Umsatz schuf langsam Einkaufsmacht, Konkurrenz mit den etablierten Anbietern wurde so einfacher. Wichtiger aber war, dass viele Genossenschaften mit der Eigenproduktion begannen und zuerst Bäckereien, dann auch Fleischereien ins Leben riefen, Kaffee rösteten, Mineralwasser auf Flaschen zogen. 1914 produzierte mehr als ein Viertel eigene Lebensmittel, 238 Konsumbäckereien versorgen die Mitglieder mit frischem, meist maschinell produziertem Brot und Backwaren. 1926 sollten es schon 367 mit 4.000 Beschäftigen sein.

Ein Blick in die Bäckerei der Verbrauchergenossenschaft Magdeburg (Die Rundschau 36, 1939, 265)
Damit nähern wir uns Magdeburg, dem Ort meines Besuches. Hier hatte sich der Konsumverein schon in den 1890er Jahren von der Brotbelieferung durch „kommerzielle“ Bäcker frei gemacht. Doch das Mehl bezog die neue Konsumbäckerei von Großanbietern der Branche, nämlich leistungsfähigen Handelsmühlen. Hierbei half vielfach die eigene Großhandelsorganisation, die 1894 in Hamburg gegründete Großeinkaufsgesellschaft deutscher Consumvereine (GEG). Gewinne verblieben dennoch beim „kapitalistischen“ Anbieter und Konkurrenten. Die GEG begann nach der Jahrhundertwende jedoch, eigene Produktionsstätten für die Produkte aufzubauen, die vor Ort nicht sinnvoll herzustellen waren und für die man die Vorteile der Massenfabrikation nutzen konnte. Die englische Co-operative Wholesale Society in Manchester wies dabei den Weg: Heinrich Kaufmann (1864-1928), spiritus rector der Konsumvereine, dachte sicher auch an die riesige Konsummühle in Manchester als er schrieb: „Wir dürfen daher mit Recht sagen, daß […] britische genossenschaftliche Gegenwart unsere deutsche Zukunft ist“ (Heinrich Kaufmann, Ein konsumgenossenschaftlicher Blick in die Zukunft, Hamburg 1921, 36).
Doch der Weg hin zur Eigenproduktion war steinig. Kapitalmangel, schlechte Erfahrungen mit den Produktivgenossenschaften im späten 19. Jahrhundert, Widerstände der landwirtschaftlichen Genossenschaften, die feindliche Agitation der Mittelstandsbewegung und auch lähmende Kämpfe innerhalb der Konsumgenossenschaftsbewegung bremsten die Entwicklung. Und immer wieder gab es Widerstand vor Ort: Als 1904 die Eigenproduktion mit einer Seifenfabrik in Aken südlich von Magdeburg aufgenommen werden sollte, sahen besorgte Bürger darin eine „Gefährdung der Staats- und Gemeindeinteressen“, während der Magdeburger Chemiker Otto Pfeiffer vor möglichen Beeinträchtigungen der Wasserqualität warnte. Erst 1910 konnte die Seifenfabrikation im sächsischen Gröba beginnen. Bis zum ersten Weltkrieg folgten Tabak-, Senf-, Zündholz-, Verpackungs- und Teigwarenfabriken mit 1914 insgesamt 1420 Beschäftigten. Schon damals hatte die GEG über Großmühlen an verschiedenen frachtgünstigen Orten nachgedacht, um die Mitglieder, insbesondere aber die Konsumbäckereien und die Teigwarenfabrik mit Mehl und Mühlenartikeln zu beliefern. 1916 beschloss die GEG insgesamt mittelfristig drei Getreidemühlen zu errichten (Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Frankfurt a.M. 1971, 371). In Magdeburg hatte die GEG bereits 1912 ein etwa 57.000 qm großes Gelände gepachtet, das anfangs als Standort eines Lagers für die mitteldeutschen Konsumvereine gedacht war (Rundschau des Reichsbundes der deutschen Konsumgenossenschaften 30, 1933, 736). Dort sollte die Großmühle gebaut später werden.

Magdeburg als Stadt der Moderne: Leuchtturm und Pferdetor 1927 (Zeitbilder 1927, Ausg. v. 24. April, 4)
Warum aber in Magdeburg? Neben dem direkt nutzbaren Baugrund sprachen vor allem vier Gründe für die mitteldeutsche Industriestadt. Erstens lag Magdeburg verkehrsgünstig. Das galt für die Elbe und verschiedene Kanalprojekte, zumal den Elbe-Havel- und den Mittellandkanal. Von dort konnte nicht nur der so wichtige sächsische Raum kostengünstig versorgt werden, sondern ebenso die Hauptstadt Berlin. Wasserwege und Eisenbahnverbindungen erlaubten zugleich eine Zufuhr sowohl von Auslandsgetreide als auch von Roggen aus den ostelbischen Gebieten. Zweitens besaß Magdeburg einen traditionsreichen und aufstrebenden lokalen Konsumverein. Während die Genossenschaften in Buckau, Sudenburg und der Altstadt nicht erfolgreich waren, hatte sich der 1864 aus einem Arbeiterbildungsverein entstandene Konsumverein Magdeburg-Neustadt um die Jahrhundertwende als führender Lebensmittelanbieter mit einem Marktanteil von etwa einem Drittel etabliert. Seine breite, bis weit ins Bürgertum reichende Mitgliedschaft erwies sich jedoch als Bürde als sich die lokalen Kolonialwarenhändler zu schlagkräftigen Rabattspargesellschaften zusammenschlossen und sich dann mit dem 1907 gegründeten „Waren-Verein“ Magdeburg ein von Großhändlern organisierter Massenfilialist als Preisbrecher etablierte. Die Zahl der Mitglieder des Konsumvereins sank von 1907 15.002 Mitgliedern binnen zweier Jahre auf 10.345, ehe eine Konsolidierung begann (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft, 332f.). Als Konsumverein für Magdeburg und Umgebung 1912 neu aufgestellt, war das Wachstum vor allen in den 1920er Jahren beeindruckend: 1929 hatte die Genossenschaft mehr als 800 Beschäftigte, 34.396 Mitglieder und einen Umsatz von über 14 Millionen RM (Die Rundschau 36, 1939, 295). Drittens hatte die GEG schon 1923 nahe des Magdeburger Bahnhofs eine Nährmittelfabrik und ein Vertriebslager in Betrieb genommen. In den 1920er Jahren produzierten teils mehr als 70 Beschäftigte vor allem Back- und Puddingpulver, zugleich wurden dort Einkaufstage und Genossenschaftstreffen abgehalten. Vor Ort gab es also Expertise und etablierte Geschäftsbeziehungen. Viertens schließlich stand die Stadt Magdeburg während der zwölfjährigen Oberbürgermeisterschaft von Hermann Beims (1863-1931) dem Projekt aufgeschlossen, ja fördernd gegenüber; auch wenn der Magistratsbaurat Johannes Göderitz (1888-1978), an sich ein Propagandist des Neuen Bauens, die Bauherren der Mühle zwang, den ersten Entwurf von 1925 unter „baukünstlerischen“ Aspekten zu überarbeiten, insbesondere aber die Silohöhe zu reduzieren (Sabine Ullrich, Industriearchitektur in Magdeburg, Magdeburg 2003, 164).
Der Spatenstich der Konsummühle erfolgte am 11. Januar 1926. Entwurf und Ausführung lagen in den Händen des Technischen Büros der GEG, unterstützt vom Münchener Ingenieurbüro Schulz & Kling und dem Hamburger Architekten Hanke. Die Gebäude waren bis Ende 1926 fertiggestellt, es folgten die Montagearbeiten. Im Mai 1927 nahm die Betriebsleitung ihre Arbeit auf, zeitgleich bereitete die von Hamburg nach Magdeburg verlegte Handelsabteilung den Warenvertrieb für den mitteldeutschen Raum vor. Am 29. August 1927 begann der Müllereibetrieb mit dem Einmahlen, also der Feinjustierung der Maschinerie. Die Roggenmühle machte den Anfang, bei Betriebsbeginn am 1. Oktober 1927 liefen auch die Weizen- und Hartgrießmühlen. 1928 nahm man dann auch die Produktion von Graupen und Haferflocken auf. Der Betriebsbeginn und insbesondere die Besichtigung der neuen Mühle durch die GEG-Führung und die lokalen Honoratioren am 10. November 1927 fanden beträchtlichen Widerhall in der lokalen und konsumgenossenschaftlichen Presse. Die Inbetriebnahme erschien der GEG als das „bedeutsamste Ereignis für die gesamte deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung“ (GEG-Geschäftsbericht 1927, 7) des Jahres 1927. Mehl in Eigenregie hieß Brot in Eigenregie. Das war ein weiterer Schritt hin zur Etablierung einer menschengerechten Wirtschafts- und Lebensweise.
Die Architektur der Mühle unterstrich diesen Anspruch. Die Fassaden waren schnörkellos, funktional, die Klinker schimmerten rötlich. Sie verdeckten einen Betonbau, eine Stahlstruktur, gaben ihm zugleich aber eine einheitliche kubische Form. Dadurch konnten die vier verschiedenen Betriebssegmente zu einer Einheit verbunden werden – so wie die Vielzahl der Bedürfnisse der Mitglieder unter dem Dach des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine. Die Mühle lag im vor dem ersten Weltkrieg errichteten Industriehafen, Schiffstransport von Getreide und Mehl war also einfach möglich. An beiden Seiten des Komplexes lagen Bahngleise, teils für die Produkte, teils für Heizkohle. Lastwagen und Fuhrwerke fanden ebenfalls Platz. Die Mühle war also eine gewerbliche Drehscheibe, gedacht für die effiziente Bearbeitung und den raschen Vertrieb.

Die heutige Getreidemühle Klosterkamp. Seitenansicht
Blickt man genauer hin, sind Silo, Mühle, Mehllager und Betriebsgebäude voneinander zu unterscheiden. Das Silo war 41 Meter hoch, auf seiner Spitze prangte das Zeichen der GEG. 18 Meter breit und 36 Meter lang fasste es in 66 Zellen bis zu 7500 Tonnen Getreide. Und mehr als das: Die Temperaturen in den Einzellagern konnten mit je drei Thermometern kontrolliert werden, Frischluftbelüftung und eine Heißlufttrockenanlage erlaubten die Pflege und Verbesserung des Mahlgutes. Das Silo wurde mit Sauggasanlagen befüllt, sein Inhalt lief über automatische Wagen und Reinigungsmaschinen. Aufzüge und Förderbänder erlaubten den Transport des Getreides, zumeist in das integrierte Arbeitssilo, in dem bis zu 1000 Tonnen gelagert und für die Müllerei vorbereitet wurden. Die einzelnen Getreidearten besaßen jeweils eigene Transport- und Schälsysteme, um eine standardisierte Qualität zu garantieren.

Walzenboden der Müllerei der Konsummühle Magdeburg (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 22, 1929, 207)
Die eigentliche Mühle befand sich auf der rechten Seite des Gebäudes, war unterirdisch mit dem Silo verbunden, wurde von dort aus bestückt. Hören wir den sachlichen Bericht des Betriebsleiters Petzold, so schnörkellos wie das Gebäude: „Das Mühlengebäude ist 60,80 m lang, 17,20 m breit und 27,20 m hoch. Im Erdgeschoß befinden sich die Antriebsmaschinen (Elektromotoren) und Transmissionen zum Antrieb der Walzenstühle der Roggen-, Weizen- und Hartgrießmühle. Auf dem Walzenboden, dem sogenannten Schmuckkasten einer Mühle, sind 55 Walzenstühle eingebaut, davon entfallen auf die Roggenmühle 16, Weizenmühle 31 und Hartgrießmühle acht Walzenstühle. Der Rohrboden ist mit Schnecken und Zulaufrohen versehen, die Schrot und Mahlgut auf die Walzenstühle bringen“ (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 24, 1927, 616). Der Ingenieur war begeistert ob dieser sonoren Maschinerie, in der die Menschen Diener der Maschine, Diener des Gesamtzwecks waren. Der Betrieb lief kontinuierlich, täglich in drei Acht-Stunden-Schichten. Weizen, Roggen, Hartweizen, Hafer und Gerste wurden parallel vermahlen, durchliefen das Gebäude von unten nach oben, getrieben von Elektromotoren und einer steten Krafttransmission.
Die fertigen Produkte wurden schließlich in den links gelegenen Mehlspeicher transportiert. Dieser war ebenso lang und hoch wie die Mühle, mit 15,60 Metern allerdings etwas schmaler. Dort wurde das Mahlgut gemischt und gelagert und wiederum, meist über Rutschen, auf Schiffe, Eisenbahnwaggons oder Lastwagen verladen. Zuvor erfolgte jedoch – wie schon beim Getreide – ein Stichprobenkontrolle im Laboratorium und in der Versuchsbäckerei (Die Konsum-Genossenschaft 7, 1927, 163).

Blick auf die Südfassade und das Kesselhaus der Konsummühle Magdeburg (Rundschau des Reichsverbandes deutscher Verbrauchergenossenschaften 30, 1933, 749)
Umrahmt waren Silo, Mühle und Mehlspeicher durch verschiedene Betriebsgebäude. Zur Straße hin lagen die Verwaltungsgebäude, ein Pförtnerhaus, auch Wohnungen der Betriebsleiter. Seitlich erstreckte sich das Kesselhaus, die eigentliche Kraftzentrale. Mit 45 Metern Länge, 13 Metern Breite und 14 Metern Höhe trat es etwa in den Hintergrund, doch dafür überragte der 50 Meter hohe, heute nicht mehr vorhandene Schornstein die Anlage. Hier befanden sich auch Werkstätten, die Aufenthaltsräume und Waschgelegenheiten. Arbeitsschutz wurde großgeschrieben, ebenso die Eindämmung der Feuergefahr. Eine Sprinkleranlage, zahlreiche Feuerlöschgeräte und Hinweisschildern dienten der Sicherheit von Betrieb und Beschäftigten. All das war modern, Teil rationalisierter Betriebsabläufe. Doch es war nicht „amerikanisch“ im engen Sinne: Ein massiv gebauter Fahrradschuppen bot Platz für 90 Räder, denn die Arbeiter konnten von einem Auto nur träumen.
Diese Fakten wurden von der konsumgenossenschaftlichen Presse voll Stolz verbreitet (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 146). Abseits der Ziffern findet sich jedoch auch eine Metaphysik des Wollens: Die Anlage wurde zum Symbol einer nach vorn schreitenden Gemeinschaft. Franz Mitzkat, langjähriger Redakteur des Nachrichtenorgans „Konsumgenossenschaftliche Rundschau“ und später der Familienzeitschrift „Konsumgenossenschaftliches Volksblatt“, bot dafür ein gutes Beispiel: Wem „das Wesen unseres Eigenwollens noch fremd, auch dem muß angesichts dieser Mühle ein Fühlen und Verstehen kommen vom Geiste und der Kraft, die unaufhaltsam vorwärtsdrängten zur konsumgenossenschaftlichen Gemeinwirtschaft. Mit ehrlichem Bewundern verfolgt der Besucher das beim ersten Anblick fast rätselhafte, nach durchdachten, praktisch angewandten Gesetzen hochentwickelter Technik schlüssig ineinandergreifende maschinelle Walten, steht er vor dem Wunder nahezu vollständig menschenleerer Arbeitsräume, empfindet er den Zauber, die geradezu überwältigende Sinnigkeit und Schönheit eines lichten, blitzend sauberen Saales, eines Prunkgemachs voll etwa 60 blinkender, lebender, schaffender Walzenstühle. Ach, wie verblaßt vor diesem Rhythmus wundervoller Mechanik alle einstmalige Windmühlenpoesie, wie arm dünkt uns hier das Lied der Mühlensteine. […] Hier stehen Erfindergeist und seine praktischen Folgen im Dienste einer neuen Wirtschaftsform, der aufstrebenden, genossenschaftlichen Bedarfsversorgung, die sich das leisten kann, dank der erworbenen eigenen Stärke, und leisten muß um des höchstmöglichen Ertrags ihrer eigenen Produktion“ (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 24, 1927, 758; ähnlich Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 185). Das Bestaunen des Werdens wird hier deutlich. Die nüchterne Architektur der neuen Sachlichkeit war Ausdruck des Neuen, war Abkehr vom überholten Alten. Es galt, die Schönheit der industriellen Produktion und funktionaler Architektur zu besingen. In der sozialdemokratischen Volksstimme hieß es: „Im Stile der neuen Sachlichkeit ohne jeden äußern Schmuck wurde der Bau aus violetten Klinkersteinen errichtet. Ein Industriepalast in modernster Gestaltung wurde errichtet, der zu dem Schönsten gehört, was Magdeburg auf diesem Gebiete aufzuweisen hat. Trotz der Einfachheit in der Behandlung der Fronten ist nicht der Eindruck klobiger, unförmlicher Gebäudemassen entstanden. Durch die Anordnung der einzelnen Teile zueinander liegt Bewegung und Schwung in der Architektur“ (Magdeburger Volksstimme 1927, Nr. 257 v. 13. November, 7).

Blick auf das frühere Mühlengebäude und den Verbindungsturm zum Mehllager
Treten wir nüchtern zurück, dann erscheinen die Konsumgenossenschaften und ihre modernen Industriebauten als Teil des Fordismus, als Ausprägung industrieller Rationalisierung, als Element des gewundenen Weges zum Jetzt. Doch die Genossenschafter sahen hierin einen Beitrag zur Überwindung der Klassengesellschaften des Kaiserreichs und auch der Weimarer Republik. Gebäude wie die Mühle gaben Kraft und Mut: „Die Großmühle Magdeburg war der Anfang auf einem der GEG noch neuen Produktionsgebiet, weitere Unternehmungen werden die genossenschaftliche Selbständigkeit auf diesem Erzeugergebiet vervollkommnen“ (Betriebsräte-Zeitschrift für Funktionäre der Metallindustrie 9, 1928, 517).

Die Konsummühle Magdeburg als Teil der konsumgenossenschaftlichen Eigenproduktion (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 11, 16)
Hat sich die Mühe gelohnt, haben sich die Investitionen amortisiert? Blicken wir auf die Zahlen. Demnach wurden die Erwartungen voll erfüllt. Fast 200 Menschen fanden in der Konsummühle bis zur Machtzulassung der Nationalsozialisten einen gut bezahlten Arbeitsplatz. Der Betrieb lief durchgehend in Volllast, erreichte seine volle Produktionskapazität und konnte sich auch unter enormem wirtschaftlichem und politischem Druck und massivem Preisverfall behaupten. Doch diese beträchtliche Stabilität hatte eine Schattenseite: Die GEG setzte auch aufgrund dieser Erfolge weiter auf Expansion. Seit 1930 traten zwei kleinere Mühlen in Bochum und Duisburg an die Seite Magdeburgs, 1931 kam eine neue, ebenfalls im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaute Großmühle in Mannheim hinzu. Und 1932, dem Höhepunkt der Krise, eröffnete die GEG einen weiteren Müllereibetrieb im oberbayerischen Reichertshofen. All dies entsprach einer langfristigen Expansionsstrategie, die 1931/32 aber nicht mehr zeitgemäß war, sondern zu massiven Finanzierungsproblemen führte.
Die Konsummühle Magdeburg war ein erfolgreiches Vorzeigeprojekt. Dort wurde hygienisch produziert, dem Ideal des Blitzblank gefrönt. Die Weizenmarke Ährenstolz, auch die dann preiswertere Marke Feldkrone, gewannen rasch Stammkunden. Das galt auch für die in Paketen gelieferten Haferflocken und Graupen. Die Konsummühle erfüllte ihre Aufgabe als Lieferant der Teigwarenfabrik Gröba-Riesa, ebenso trug sie zur Futtermittelversorgung vieler Einzelgenossenschaften bei. Die Mühle bezog zunehmend Getreide von landwirtschaftlichen Genossenschaften – 15.442 Tonnen 1929 –, verarbeitete Getreide vom GEG-Landgut in Osterholz, nutzte also Verbundvorteile und förderte den Genossenschaftsgedanken als solchen.

Backen mit GEG-Ährenstolz mit dem Konterfei der Konsummühle (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 26, 1933, Nr. 12, 12)
Doch all das reichte nicht. Die Politik der NS-Regierung beschleunigte den raschen Niedergang der Konsumgenossenschaftsbewegung, die bis 1935 nochmals 30% ihres Umsatzes verlieren sollte, ehe eine gewisse Konsolidierung gelang. Die hehren Ideale wurden 1933 von vielen verantwortlichen Funktionären nicht praktiziert. Die nicht zu erahnende Anbiederung an das NS-Regime war rational teils nachvollziehbar, brach der stolzen Bewegung jedoch das moralische Rückgrat. „Arbeit und Brot“ war zur NS-Parole geworden, der neue konsumgenossenschaftliche Reichsbund propagierte „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, und die Mühle diente nun Zielen wie der „Nahrungsfreiheit“ Deutschlands und der alimentären Kriegsvorbereitung. Viele Genossenschaftler zerbrachen daran, so der schon erwähnte Franz Mitzkat, der erst seine Stellung als verantwortlicher Redakteur, dann als Leiter der GEG-Bibliothek verlor. Er lebte bis zu seinem Tod 1944 unter Dauerdruck durch Gestapo und NS-Stellen, wurde drangsaliert und seines Lebens nicht mehr froh. Noch im Sommer 1933 hatte seine Zeitschrift mit Wehmut über das Ende der Windmühlen angesichts des Aufstieges auch der Magdeburger Konsummühle berichtet: „Es ist das Schicksal des Guten, das dem Besseren weichen muß, das sich hier vollzieht“ (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 12, 11). Für den Zentralverband deutscher Konsumvereine traf dies nicht zu.

Die alte Struktur trägt bis heute: Blick in das Silo
Die im Bombenkrieg nur geringfügig beschädigte Konsummühle Magdeburg wurde während der NS-Zeit, der Besatzungsherrschaft und der DDR weiter betrieben, Ergänzungen und Umbauten blieben moderat. 1950 eröffnete man ein Wohlfahrtsgebäude mit Werksküche und Konsumverkaufsstelle. Der VEB Konsummühle inklusive der benachbarten, Ende der 1970er Jahre aufgebauten Teigwarenfabrik wurde nach der Wende von der Braunschweiger Mühle Rüningen übernommen. Anfangs lief der Betrieb weiter, dann stellte man auf Biogetreide um. Das endete 2008. Drei Jahre Leerstand. 2011 übernahm die Bio-Getreide-Erzeugergemeinschaft Öko-Korn-Nord aus Betzendorf die denkmalgeschützte Konsummühle. Sie lagert heute im Silo vor allem Bioland-Getreide, verteilt es, nutzt damit die Kapazitäten der Anlage zumindest teilweise. Die frühere Mühle und das Mehllager stehen heute leer, sind entkernt, ebenso die Nebengebäude. Doch die Konsummühle steht noch und mit ihr ihr Anspruch.
Uwe Spiekermann, 23. Februar 2019
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