Versorgung in der Volksgemeinschaft. Näherungen an den „deutschen“ Handel der NS-Zeit

Güterversorgung und Konsum sind Grundaufgaben jeder Wirtschaftsform. Ihre Ausprägung jedoch ist historisch offen. Allein die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert weist schon – allen ökonomischen Kontinuitätslinien zum Trotz – eine bemerkenswerte Formenfülle auf: Staatlich gebändigte und soziale Marktwirtschaft, autoritäre Kriegswirtschaft, Planwirtschaft nach sowjetischem Modell und ein spezifisch nationalsozialistisches Wirtschaftssystem. Letzteres wird im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen. Es gilt, Konturen einer spezifisch nationalsozialistischen Güterversorgung auszuloten und nach einigen Konsequenzen für den Konsum und die Konsumenten zu fragen. Dazu geht es eingangs um Kernpunkte der NS-Wirtschaftsauffassung, um die damit verbundenen Konsum- und Versorgungsleitbilder. Das wird uns zum ideologischen Profil eines „deutschen“ Handels führen, dessen von anderen Wirtschaftsformen abweichenden Struktur. Doch über die Norm, über das reine Wollen ist hinauszugehen. Die konkreten Ausprägungen der „Versorgung in der Volksgemeinschaft“ werden daher mittels vierer Beispiele untersucht: Die politische Schaufensterwerbung der 1930er Jahre, die Verbrauchslenkung zugunsten des Seefisches, die Gestaltung der Ladenöffnungszeiten und schließlich der Kriegsdienst des „deutschen“ Handels. Ein Resümee steht am Ende – auch wenn mehr Fragen als Antworten bleiben dürften.

1. Versorgung und Konsum im Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus

Es ist durchaus umstritten, ob es ein eigenständiges nationalsozialistisches Wirtschaftssystem gegeben hat. Die insbesondere von Avraham Barkai zusammengetragenen Fakten und Argumente scheinen mir jedoch überzeugend genug, um von dessen These eines eigenständigen Wirtschaftssystems des Nationalsozialismus auszugehen und nach einem spezifisch nationalsozialistischen Versorgungsmodell zu fragen. [1] Der bekannte, die Ambivalenz der NS-Zeit jedoch auch nicht in Ansätzen widerspiegelnde Gegensatz von Butter und Kanonen simplifiziert und bestimmt dabei auch die geschichtswissenschaftliche Diskussion. Der Konsum, so lautet das einfache Argument, habe mehr und mehr gegenüber der Aufrüstung und Kriegsproduktion zurückstecken müssen. Der ökonomische Aufschwung seit 1932/33 habe zwar zu erhöhtem Konsum geführt, doch habe es sich hierbei nur um ein Sekundärziel gehandelt. Der Stellenwert von Konsum und Versorgung sei eher funktional zu sehen, als unumgängliche Notwendigkeit eines auf andere Ziele hinarbeitenden Regimes. [2]

Dies trifft sicherlich zu. Doch was erklärt diese Argumentation? Erklärt sie die bereitwillige Mitarbeit der Konsumenten am zerstörerischen Projekt des Nationalsozialismus? Erklärt sie die konsequente Mitarbeit der Versorgungsfachleute, der fast zwei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel? Waren diese Deutschen wirklich derart genügsam, dass sie zwar klagten und murrten, sich letztlich aber fügten? „Diese Deutschen waren gewöhnliche Menschen und im Kern kaum böse. Sie waren im Allgemeinen an Wohlstand und Wohlergehen für sich und ihre Familie interessiert, wie es Menschen überall auf der Welt sind. Sie waren auf keinen Fall einer Gehirnwäsche unterzogen, durch eine faszinierende Unterdrückung bis zur Unterwerfung terrorisiert worden.“ [3] Und doch sahen sie bei den Verbrechen dieser Zeit nicht nur zu, sondern duldeten sie wissend, funktionierten an ihrem Platz, legten gar aktiv Hand an.

Eine kritische Näherung an die Versorgung in der Volksgemeinschaft muss sich daher den ideologischen Vorstellungen dieser Zeit stellen. Versorgung und Konsum sind eben nicht nur „bunte“, populäre, ansatzweise gar kritisch zu verstehende historiographische Themen. Sie nötigen vielmehr zu einem Einlassen auf Vorstellungen, die fern von zivilisatorischen Mindeststandards sind, waren diese doch historisch real, historisch einflussreich. Dies jedenfalls war der Anspruch der Nationalsozialisten, die die Eigenständigkeit ihres Ansatzes schlicht setzten: „Um Nationalsozialist zu werden, bedarf es vor allem der schonungslosen Ehrlichkeit gegen sich selbst, sodann des festen Willens, sich das weltanschauliche und sittliche Gut des Nationalsozialismus nicht nur verstandsmäßig, sondern auch gefühls- und willensmäßig zu eigen zu machen. Wir mittelständischen Einzelkaufleute repräsentieren die bodenständige, kleine, gesunde Wirtschaftszelle und sind daher im neuen Staate vor allem dazu berufen, die Träger des neuen Wirtschaftsdenkens zu werden. Aber nur aus dem nationalsozialistischen Menschen kann der neue wirtschaftende Mensch hervorgehen, und dieser letztere nur ist befähigt und berechtigt, an der Konstruktion des nationalsozialistischen Wirtschaftsgebäudes mitzuarbeiten.“ [4]

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Vaterland und NS-Gemeinschaft: Verpflichtungserklärungen von Einzelhändlern (Edeka Deutsche Handels-Rundschau (= DHR) 27, 1934, 182)

Der Primat des Staates galt dabei als ausgemacht. Doch auch die Führung war in diesem Denken der Volksgemeinschaft verpflichtet. Die „deutschen“ Konsumenten jedenfalls wären möglichst optimal zu ernähren, zu kleiden, mit Hausrat und Konsumgütern zu versorgen. Doch als Deutsche, als Nationalsozialisten würden sie freiwillig zurückstehen, wenn es gelte, erst einmal andere, höhere Ziele zu erreichen. Der Konsum war – abseits gediegener Grundversorgung – ein flexibles Moment innerhalb einer politischen Gesamtkonzeption, deren Grundkonstanten die Gewinnung von Lebensraum und der Traum von einer „rassisch reinen Herrennation“ waren. Angesichts der historischen Entwicklung ist es nicht unproblematisch, derartige Idealkonstrukte für bare Münze zu nehmen. Doch sie wurden – und sei es zur eigenen Ruhigstellung – geglaubt, wurden historisch ernst genommen. Sie schufen einen Erwartungshorizont, der – vor dem Hintergrund der erlittenen kollektiven Demütigungen und der dann folgenden wirtschaftlichen und politischen Aufwertung des Deutschen Reichs – Dienst und Entbehrung erst ermöglichte. Die vielfach beschworene „bodenständige, kleine, gesunde Wirtschaftszelle“ besaß dabei eine politisch wie wirtschaftlich höchst bedeutsame Funktion. Sie sollte Keimzelle einer umfassenden Verpflichtung aller Händler, dann auch aller Konsumenten werden. Neben die politische Propaganda trat die Wirtschaftspropaganda, die den Konsum als Ausdruck völkischen Handelns verstand.

2. Der „deutsche“ Handel – ein Anspruchsprofil

Die Prinzipien einer verpflichteten Wirtschaft prägten auch und gerade den Handel. Er galt im Nationalsozialismus nicht länger als Ausdruck „liberalistischer“ Spekulation, sondern als werteschaffende Tätigkeit im Dienste der Volksgemeinschaft, im Dienste der Verbraucher und anderer Wirtschaftsgruppen. [5] Der Handel besaß im Dritten Reiche eine klare staatspolitische Funktion: Er hatte „Mittler zwischen Erzeuger und Verbraucher in jeder Beziehung zu sein. In dieser Mittlerrolle ist der Handel derjenige Teil der Wirtschaft, der zwischen zwei Fronten steht und stets bestrebt sein muß, dem Ausgleich der Interessen zu dienen. Er ist nicht nur Organ der Wirtschaft, sondern zugleich Diener der Volksgemeinschaft.“ [6]

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Wandtafel der Edeka Kiel 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 656)

Diese Aufgabe basierte auf mittelständischen Ideen, die insbesondere seit den späten 1880er Jahren von einer Mehrzahl der Händler resp. ihrer Organisationen vertreten wurde – in strikter Abgrenzung zu den modernen (Konsumgenossenschaften, Warenhäuser, Filial-, Abzahlungs-, Versand- und Einheitspreisgeschäfte) sowie den vermeintlich überlebten (Hausierer, Straßenhändler) Be- und Vertriebsformen des Handels. [7] Seit Beginn der Präsidialdiktatur 1930, insbesondere aber seit der Machtzulassung 1933 schienen diese Ideen aufgegriffen zu werden, der Einzelhandel zum lange ersehnten „Kern der Volksgemeinschaft“ [8] zu werden. Doch trotz aller Affinitäten sollte die neue Funktionszuschreibung gänzlich andere Züge enthalten.

Sicherheit

Erst einmal gelang es zwischen 1933 und 1935, dem Handel eine Vorstellung neuer Sicherheit zu geben, eine neue „Ordnung“. [9] Der Einzelhandel wurde integraler Bestandteil der festen Kette: Produktion – Großhandel – Einzelhandel – Konsumtion. Diese war durch den intensivierten Wettbewerb nach Ende der Inflation tiefgreifend in „Unordnung“ geraten, hatte sich doch die Wettbewerbsposition des mittelständischen Handels deutlich verschlechtert. [10] Parallel nahmen die vermeintlichen Übergriffe zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren zu, wurde das „Lebensrecht“ des Handels so beschnitten. Wie schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Weimarer Republik erbitterte Debatten über das Recht der Konsumenten, insbesondere von Beamten und städtischen Angestellten, sich Waren unmittelbar von der Industrie oder dem Großhandel zu beschaffen. Die Einkaufsgenossenschaften der Einzelhändler wurden vom Großhandel immer wieder als Störenfriede wirtschaftlichen Arbeitsteilung attackiert. Die Eigenproduktion der Konsumgenossenschaften und Warenhäuser war gleichfalls steter Stein des Anstoßes, ebenso der Absatz von Gebrauchsgütern und Lebensmitteln per Versandhandel vom Hersteller. Die 1931 aufkommenden „Direkt-Läden“ einzelner Fabriken wurden vom Einzelhandel erbittert bekämpft und ihre Zahl so eingedämmt. [11]

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Nationalsozialistische Agitation gegen das vermeintlich „jüdische“ Warenhaus (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 1265)

Während der Weltwirtschaftskrise intensivierten sich die Auseinandersetzungen; die 1930 einsetzende und sich 1932 beschleunigende Gesetzgebung gegen Warenhäuser, Filialbetriebe und Einheitspreisgeschäfte zeigt dies deutlich. Die neue „Unordnung“ innerhalb des Wirtschaftsgefüges wurde dem ungezügelten Marktsystem zugerechnet, dem eine staatlich garantierte Ordnung entgegengesetzt werden sollte. Auch der NS-Staat orientierte sich formal an einem ständischen Ordnungsmodell, das den einzelnen Wirtschaftszweigen klare Aufgaben und bestimmte Erträge zuwies. Angesichts der akuten Existenzbedrohung breiter Teile des Handels in der Weltwirtschaftskrise wurden selbst die mit der Einbindung in den Reichsnährstand und die „Marktordnung“ verbundenen Handelsspannenkürzungen – wenn auch widerstrebend – angenommen. Existenzsicherheit war wichtiger als die abstrakte Chance einer Maximierung der eigenen Gewinne.

Gleichwohl ist die klare Trennung einzelner Segmente nicht nur ständisch zu deuten, sondern passte sehr wohl in die Rationalisierungskonzepte dieser Zeit. Ebenso wie innerbetrieblich zwischen Einkauf, Lagerhaltung, Verkauf und Kasse, Versand und Buchhaltung usw. unterschieden werden musste, um gezielt eingreifen zu können, bot die Scheidung zwischen Produktion, Großhandel und Einzelhandel ebenfalls Möglichkeiten einer geplanten Rationalisierung dieser Sektoren – nun aber getragen vom starken Staat. [12] Ständisches Ideal und innerständische Rationalisierung konnten sich demnach ergänzen, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft und Ideologie versöhnt werden. [13] Entsprechend wurde der Handel neu geordnet. Aus der seit 1932 einseitig mittelständischen Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels wurde ab 1934 der Gesamtverband des deutschen Einzelhandels resp. die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, in der nun der gesamte „deutsche“ Handel zwangsorganisiert wurde. [14]

Leistungswettbewerb

Die nationalsozialistische Wirtschaftsauffassung ging aus von der Ungleichheit der Rassen und der einzelnen Menschen. Mittels eines Ausleseprinzips konnte sich der Stärkere jeweils durchsetzen. Wettbewerb war deshalb auch für den Handel konstitutiv, jedoch nicht als „freier“ Wettbewerb, sondern als „Leistungswettbewerb der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung“ [15]. Im Dienst für die Volksgemeinschaft konnte sich der Händler seinen Platz „im Volks- und Wirtschaftsleben durch Fähigkeit, Einsatz und Leistung“ erkämpfen. Dieser Wettbewerb war ethisch gebunden, musste vom „sittlichen Willen, von nationalsozialistischer Gesinnung und vom arteigenen Recht beherrscht sein“. [16]

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Der Reichsberufswettkampf als nationalsozialistische Form des Wettbewerbs (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 266 v. 7. Februar, 12)

Dabei knüpfte man bewusst an die vermeintlich große Kaufmannstradition des deutschen Mittelalters an, ideologisierte und polarisierte die Begriffe des Kaufmanns und des Händlers. [17] Während letzterer einem „entarteten Liberalismus“ zugewiesen wurde, galt der Kaufmann als regimetreuer, als politisch agierender Verteiler. [18] Doch Ideologie war nicht alles. Der Begriff war an bestimmte Qualifikationsnormen gebunden, an Sachkunde und Buchhaltungskenntnisse, bot damit immer auch die Grundlage für „Berufsbereinigung“ und Leistungssteigerung. Schon das novellierte Einzelhandelsschutzgesetz von 1934 machte die Einrichtung neuer Geschäfte vom lokalen Bedürfnis und der zu prüfenden Sachkunde des Händlers abhängig. Während der 1930er Jahre wurde die Weiterbildung der Kaufleute stetig gefordert, der Nachwuchs intensiver geschult als zuvor, analog zum Handwerk ein großer Befähigungsnachweis gefordert. [19] Anfang 1939 wurde der Einzelhandel schließlich buchführungspflichtig, eine sachgemäße, korrekte und dem Staat gegenüber transparente innerbetriebliche Rechnungsführung damit verbunden. [20] Sach- und Fachkunde sollte die Basis des kaufmännischen Betriebs sein, dem Kaufmann zugleich Autorität verleihen. Er hatte aber immer auch „ehrlich“ zu sein, sollte den Kunden optimal und qualitätsbewusst versorgen. Maßnahmen zur verbesserten Warenauszeichnung dienten auch diesem Zweck. [21]

Deutsch

Der Leistungswettbewerb war auf ein Ziel hin ausgerichtet, dem Ziel eines „deutschen“ Handels. Dahinter verbarg sich ein – im Sinne der Propagandisten – ethisch hochstehender, sittlich gebundener, „arteigener“ Handel. Er lässt sich mit Begriffen wie „Ehrsamkeit“, „Gesundheit“ und „Persönlichkeit“ und einem „volksbiologisch wertvollen“ Familiensinn näher kennzeichnen.

Nicht der Betrieb stand im Mittelpunkt des Leistungswettbewerbs und der Rationalisierung, sondern der Mensch, der „ehrsame“ Kaufmann. [22] Der ständische vormoderne Begriff der „Ehre“ hatte den Vorteil, relativ inhaltsleer zu sein, ermöglichte durch seinen hehren normativen Anspruch aber zugleich die systematische Ausgrenzung vermeintlich unsittlichen bzw. unehrenhaften Verhaltens. Entsprechend wurde das Wettbewerbsrecht zwischen 1933 und 1935 neu gefasst, Zugaben zurückgedrängt, Sonderveranstaltungen eingeschränkt. Die rein „kapitalistischen“ Betriebsformen wurden zurückgeschnitten, denn Profitmaximierung war kein ehrbares Unterfangen. Auch Partikularinteressen waren damit unvereinbar, entsprechend wurden die katholischen und sozialdemokratischen Konsumvereine rigide gestutzt, ging man ansatzweise auch gegen Werkskonsumvereine bzw. Beamtenvereinigungen vor. [23] Der Begriff der Ehrsamkeit schied zwischen Freund und Feind, grenzte willkürlich und gezielt Konkurrenz aus, diente der Entrechtung der jüdischen Händler, erlaubte ein Vorgehen gegen Straßenhändler und Hausierer. [24] Der Begriff der „Ehre“ war dem des Rechts strukturell entgegengesetzt, durch ihn wurden staatlicher und privater Willkür Tor und Tür geöffnet.

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Werbe-Matern der Edeka 1933/34 (Edeka-Reklame, o.O. 1934, 198 (l.) und 199)

Der Begriff des „gesunden“ Handels besaß ähnliche Funktionen, griff jedoch tiefer. Er setzte nicht allein auf ein untadeliges, „ehrsames“ Verhalten, sondern bei der „Gesinnung“ des Händlers an, bei dessen „Charakter“. Die Gesellschaft wurde als biologischer Organismus verstanden, der sich vom Einzelwesen her entwickelte, der aber ein unabhängiges, übergeordnetes Eigenleben besaß. Ein „gesunder“ Handel setzte einen „gesunden“ Händler voraus. Es galt „Persönlichkeiten“ zu erziehen, „die aus dem Impuls ihres schöpferischen Willens zu autoritären Leistungen gelangen. Persönlichkeiten, die die Wirtschaft mit ihren Ideen befruchten und sie mit dem Geist ihrer unermüdlichen Tatkraft erfüllen. Persönlichkeiten, die sich nicht an alte Zöpfe hängen, die ihren eigenen Kopf durchsetzen, die ihr gutes Werk wie ihre Ehre verteidigen! Persönlichkeiten, die die Anständigkeit der Gesinnung mit dem Wagemut des kämpferischen Menschen vereinen. Solche Persönlichkeiten mögen nicht immer beliebt und oft gefürchtet sein, aber sie sind nun einmal die Garanten des Fortschrittes. Und der Erfolg ist immer auf ihrer Seite.“ [25] Der Handel war dann „gesund“, wenn der Händler eine „innere Wandlung“ [26] durchlaufen hatte. Dies war zugleich Grundlage einer „Reinigung“: „Berufsbereinigen heißt eben nicht, nur Umsätze feststellen, streichen und verlagern, sondern kann immer nur heißen, auch mit Hilfe dieser Maßnahmen den Beruf zu fördern und das Gesunde im Beruf und in seinen einzelnen Gruppen und Betrieben noch über den gegebenen Zustand hinaus zu kräftigen. Der Ausleseprozess ist also auch im Rahmen der Berufsbereinigung ein Prozess weiterer Gesundung für den größten Teil der Bestehenden. Das Kranke, das es dabei allerdings auch auszumerzen gilt, kann aber immer nur von Fall zu Fall, und zwar nur entsprechend den Besonderheiten und allen Begleitumständen jedes einzelnen Falles festgestellt, behandelt und evtl. auch ausgeschieden werden. Schema F würde bestimmt gerade hier eine schlechte und nur schädliche Medizin sein.“ [27]

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Äußere Wandlung beim Reichsbundes deutscher Verbrauchergenossenschaften: Dekoration der Hamburger Zentrale anlässlich des lokalen Gauparteitages (Rundschau des Reichsbundes deutscher Verbrauchergenossenschaften 31, 1934, 125)

Der „deutsche“ Handel verlangte mehr als Händler, er verlangte „ganze Kerle“ [28], die Kämpfer für die „deutsche“, die nationalsozialistische Sache waren. [29] Dazu gehörte auch Familiensinn, die Sorge für den „gesunden“ Nachwuchs. Der Begriff des Kaufmannes hatte eine volksbiologische und zugleich eine strikt patriarchalische Komponente. Obwohl fast ein Drittel der Ladeninhaber Ladeninhaberinnen waren, galt der Mann als geborener Leiter eines Handelsbetriebes, waren in der üblichen Form des Familienbetriebes die Rollen klar verteilt. Während selbständige Frauen in der Fachpresse kaum behandelt wurden, trat analog zur Rolle der Mutter und der Bäuerin die Prinzipalin, die Kaufmannsfrau verstärkt hervor: „Ihr Lebensinhalt ist fast in allen Fällen das Geschäft, also ihre und die Existenz des Mannes. Da ihre Mithilfe im Geschäft, besonders in einem neu errichteten Betriebe, außerordentlich wichtig ist, wird der ganze Tag, von früh bis spät, immer ausgefüllt sein. Sie wird, wenn beide vorwärtskommen wollen, überall mit anpacken müssen; daneben muß sie umsichtig, stets liebenswürdig und gewandt im Umgang mit der Kundschaft sein, auch wenn manchmal ihr Herz nicht ‚ja’ zu allem sagt. Eine Kaufmannsfrau muß nicht nur vielseitig, sondern auch zielbewußt, rechnerisch begabt und neben ihrem Mann ein Vorbild für die Betriebsgemeinschaft sein. Vor allen Dingen aber bleibt auch sie bei alledem die mit dem Mann fortgesetzt um die Existenz kämpfende Lebenskameradin. Leicht ist eine solche Ehe nicht, aber sie ist groß und inhaltsreich.“ [30] Während der Mann als Kopf des Geschäftes galt, wurde die Frau zu dessen Seele erklärt, deren Aufgabe insbesondere die kameradschaftliche Erziehung der Kundinnen sei. [31] Die Kaufmannsgattin war integraler Bestandteil der Leistungssteigerung des Handels, ihr letztlich unentgeltlicher Beitrag wurde stets vorausgesetzt. Sie hatte dadurch eine staatspolitisch wichtige Aufgabe: Ihre vermeintliche Nähe zur kaufenden Hausfrau verpflichtete sie zu systematischem Aufklärungsdienst. Die Mittlerrolle des Handels fand in der Mittlerrolle der Frau ihre gleichsam natürliche Verlängerung. Die fachliche Vorbereitung sah demgemäß anders aus: Die Frau sollte möglichst Verkäuferin lernen, ehe sie in der Ordnung einer Ehe aufging. [32] Völkische und patriarchalische Ordnung verbanden sich hier zur Grundlage eines spezifisch „deutschen“ Handels.

Lehrer des Konsumenten

Dem Handel wurde von Beginn an die Aufgabe zugewiesen, den „in wirtschaftlichen Einzelfragen oft unkundige[n] Verbraucher“ [33] zu beraten. Die Qualifikation des „deutschen“ Kaufmanns befähigte ihn zu gezielter Beratung. Sie diente nicht primär dem eigenen Geschäft, sondern war höheren Zielen verpflichtet: „Es gilt, das Verantwortungsbewußtsein der Frau zu wecken und zu vertiefen für die Aufgaben und Pflichten, die sie im Interesse der deutschen Wirtschaft zu erfüllen hat.“ [34] Der „deutsche“ Kaufmann war eine Art Gütemarke, die den Kunden bewegen sollte, dessen substantielle Angebote auch zu nutzen, sich also erziehen zu lassen. Trotz dieser hierarchischen Beziehung war der Kaufmann als Mittler zugleich aber verpflichtet, die Meinung des Kunden einzuholen, sie an den Großhandel bzw. an die Industrie weiter zu geben, um so die Volkskonsumgemeinschaft mit Substanz zu versehen.

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Vorbildliche Ladeneinrichtung 1939 (DHR 32, 1939, 270)

Der Ort dieser staatlich relevanten Begegnung zwischen Kaufmann und Kunden hatte seiner Bedeutung gemäß gediegenen Standards zu entsprechen. Sauberkeit, Ordnung und Schönheit sollten alle Laden unabhängig von der Größe kennzeichnen: „In gefälliger Linienführung grenzt der Ladentisch den Kundenraum gegen Verkäufer und Ware ab und stellt doch zugleich durch eingebaute Glasschränke und zweckmäßige Aufbauten jene Verbindung her, die Kaufwünsche erweckt und an jeglichen Bedarf rechtzeitig erinnert. Abstellbrettchen für Taschen und Paketchen geben der Hausfrau das angenehme Gefühl sorglicher Bedienung, schützende Glasscheiben vor den Aufbauten und über den Auslagen künden pflegliche und hygienische einwandfreie Warenhaltung. Frei und übersichtlich sind Packungen und Flaschen in zweckmäßig aufgeteilten, offenen Holzregalen griffbereit zur Hand, Oelmeßapparate verbinden praktische Handhabung und Reichnähe mit der notwendigen Abgrenzung von sonstiger Ware. Schmuck und einladend ist jedes Gerät, von den aromawahrenden Kaffeebehältern und der Sichtwaage bis zur blinkenden Ladenkasse, die den Erfolg so sorgfältiger Innenwerbung getreulich in klingender Münze verzeichnet.“ [35] Die Ladeneinrichtung sollte immer auch den Respekt vor dem Kunden als Volksgenossen verdeutlichen, auch auf die Ansprüche des Ladenpersonals sollte so weit wie möglich Rücksicht genommen werden. [36] Dem diente ein einfaches, jedoch „formschönes“ Design von Waren und Verpackungen, das gerade in der Hausratsbranche auch umgesetzt wurde. Versorgung in der Volksgemeinschaft bedeutete die Schaffung von Leistungsgemeinschaften, die auch in schwierigen Zeiten ihre von Staat und Partei gegebenen Aufgaben ohne Stockungen erfüllen würden. Der „deutsche“ Handel sollte „deutsche“ Konsumenten erziehen.

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Rationalisierung, Sauberkeit und Ordnung durch Vorverpackungen (DHR 29, 1936, 387 (l.); ebd., 477)

Dem Führer entgegen arbeiten

Das NS-Wirtschaftsdenken war hierarchisch geprägt, folgte dem Primat der Politik. Es setzte zugleich aber auf die eigenständige und optimale Umsetzung der Vorgaben im Sinne der gemeinsamen Ideologie von Führer und Gefolgschaft. Der „deutsche“ Händler hatte die allgemeinen Zielsetzungen politisch korrekt umzusetzen, doch er besaß hierbei einen nicht unbeträchtlichen Gestaltungsfreiraum. Diesen sollte er nutzen, Führer (und Volksgemeinschaft) entschieden dann über die Angemessenheit des Resultats. Dadurch war ein Bewertungsdruck geschaffen, der handlungsauslösend war und nie endete.

Dieses stete Arbeiten war begrenzt durch die „kulturellen“ Bedürfnisse auch des Händlers, durch sein Recht auf Freizeit, sein Recht auf wenn auch begrenzten Urlaub. Dienst musste auch anderweitig belohnt werden, das konnte billigerweise von den Führern verlangt werden. Die Hierarchie gründete auf stets in Aussicht gestellten „Lohn“, der jedoch – abseits der relativ bescheidenen Einkommenszuwächse [37] – vor allem in der Zukunft angesiedelt wurde. Das persönliche Band zwischen Führer und Gefolgschaft setzte eine Dynamik des Dienens in Gang, die leistungsfördernd wirkte und flexible Lösungen im Sinne eines „dem Führer entgegen arbeiten“ ermöglichte.

Bekämpfung des „Kranken“

Der „deutsche“ Handel diente nicht allein der Schaffung einer möglichst homogenen Gruppe. Er war zugleich eine Ausgrenzungsmetapher, die immer auch auf die Bekämpfung „kranker“, „undeutscher“ Elemente zielte. Rassismus und Biologismus waren hierfür konstitutiv. Das galt unmittelbar für die Vertreter des „Marxismus“, die deutschen Konsumgenossenschaften. Sie wurden Anfang 1933 gezielt bekämpft, ihr wirtschaftliches Gewicht und ihre forcierte Selbstgleichschaltung verhinderten jedoch eine unmittelbare wirtschaftliche Zerschlagung. Diese erfolgte in Etappen; 1935 wurde ein beträchtlicher Teil der Genossenschaften verboten, 1941 der verbleibende Rest in die Deutsche Arbeitsfront integriert. [38]

Juden hatten eine derartig „moderate“ Behandlung nicht zu erwarten. Der Leiter der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel führte schon 1935 aus, dass gegen sie Einzelmaßnahmen nicht helfen würden, „daß der seit 100 Jahren übermächtig gewordene Einfluß in der Wirtschaft nicht durch lokale Experimente bekämpft werden könne, sondern nur durch eine gesetzlich fundierte, auf eine totale Lösung der Frage schrittweise hinzielende Arbeit zu erreichen ist.“ [39] Entrechtung, Enteignung, Willkür, Totschlag und Massenmord waren die Etappen eines Weges zunehmender „Entjudung“, waren Begleiterscheinungen und Konsequenzen einer zunehmenden „Gesundung“ des Handels. [40] Der „deutsche“ Handel profitierte von der Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz indirekt, bereicherte sich direkt durch die „Arisierungen“. Dabei zeigte die Verwaltungspraxis vor Ort einen vorauseilenden Gehorsam, der selbst die noch geltenden Gesetze nicht mehr zur Kenntnis nahm. [41]

09_Der Fuehrer_1936_07_10_Nr159_sp_Karlsruher Tagblatt_1936_07_26_Nr205_p7_Einzelhandel_Arisierung_Landauer_Kaufhaus_Vetter_Karlsruhe

Reibungslos vollzogene Arisierung: Aus Landauer wird Vetter (Der Führer 1936, Nr. 159 v. 10. Juli, s.p. (l.); Karlsruher Tagblatt 1936, Nr. 205 v. 26. Juli, 7)

Doch es hieße die Dynamik der Ideologie zu unterschätzen, konzentrierte man sich allein auf politische und rassische Gegner. Die „Gesundung“ zog die Auskämmung des Handels logisch nach sich, also die „Reinigung“ von weniger leistungsfähigen Betrieben. Die Rationalisierung erfolgte in einem Wechselspiel von Erziehung und „Ausmerze“. Wer die staatlich festgelegten persönlichen und sachlichen Voraussetzungen nicht erfüllte, konnte spätestens seit der Verordnung zur Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel vom 20. März 1939 „für den Arbeitseinsatz freigemacht werden“ [42]. Um die schon lange geplante, aus vielerlei Überlegungen jedoch immer wieder zurückgestellte Maßnahme [43] gezielt durchführen zu können, hatte die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel 1938 eine umfassende Mitgliederbefragung durchgeführt, um – wie es verbrämt hieß – „Unterlagen zur Prüfung und gegebenenfalls Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel zu erhalten.“ [44] Auch die Richtzahlen des Statistischen Reichsamtes dienten diesem Zweck. [45]

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Antisemitismus als Führungsmittel des „deutschen“ Handels (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 3. Mai, 10 (l.); ebd., 8)

3. Handel und Konsum – Vier Begegnungsfelder

Der biologistische Optimierungsgedanke, der dem Ideal des „deutschen“ Handels zugrunde lag, zeigt, wie eng verwoben NS-Gedankengut und der tägliche Konsum dieser Zeit waren. Die Versorgung in der Volksgemeinschaft diente nicht allein der Warenversorgung. Das wusste jeder Händler, ahnte jeder Käufer dieser Zeit. Doch wie wurde diese Ideologie umgesetzt? Die folgenden vier Fallbeispiele sollen bei einer Antwort helfen.

3.1 „Schaufenster des Regimes“ – Wirtschaftsmodelle in der Werbung

Die Werbewirtschaft wurde 1933/34 neu geregelt, zentralisiert und einer strikten Kontrolle von Partei und Staat unterworfen. [46] Dies war nur möglich, weil einschneidende Regelungen sowohl von der Mehrzahl der professionellen Werbetreibenden [47] als auch der Einzelhändler gefordert und unterstützt wurden. Der Einzelhandel war zu dieser Zeit die mit Abstand wichtigste werbetreibende Gruppe [48], und die Mehrzahl seiner Interessenverbände wandte sich strikt gegen regelmäßige „Auswüchse“ der Wirtschaftswerbung. Die Konkurrenzwirtschaft zeigte darin ihr vermeintlich ungeschminktes Gesicht: Die Dominanz großer Werbeetats, Unlauterkeit und Übervorteilung wurden überall gesehen und als Bedrohung empfunden. [49]

Entsprechend wurde die Neuordnung des Werbewesens in den wichtigsten Zeitschriften des Handels sehr positiv gewürdigt, galten die staatlichen Maßnahmen als Ausdruck einer grundsätzlichen Affinität zwischen Regime und Handelsinteressen. [50] Nicht mehr das große Geld – so die weit verbreitete Hoffnung – sondern die „Persönlichkeit“ des Händlers wurde nun wieder in seine zentrale Stellung gerückt, auf der allein eine sachgerechte Werbung aufbauen konnte. Sie war Ausdruck der fachlichen Kompetenz des Händlers, gründete auf der gezielten Nutzung der modernen Werbemittel, zielte jedoch nicht auf wahllosen Mehrumsatz, sondern konzentrierte sich gezielt auf einzelne Artikel. Aktiv sollte der Händler sein qualitativ hochwertiges Sortiment vorstellen, einzelne Waren daraus hervorheben. [51] Der Kunde sollte nicht allein nach Sonderangeboten Ausschau halten, die Werbung sollte ihm vielmehr den Eindruck einer insgesamt hohen Leistungsfähigkeit des Geschäftes vermitteln, sollte den Kunden persönlich an das Geschäft binden. Werbung war moralisch geworden, wurde persönlich gefasst, war eine wechselseitige Rollenbestätigung der Volksgenossen. Werbung in der Volksgemeinschaft basierte auf dem Aufklärungs- und Lenkungsanspruch der nationalen Wirtschaft, des nationalen Staates.

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Negativbild des seelenlosen Massenkonsums: Blick in das Berliner Schuhwarengeschäfts Direkt (Illustrierte Technik 10, 1932, H. 1, XXVIII)

Wie sehr die Funktionen des Händlers resp. des Kunden in neue Sphären transformiert wurden, zeigt sich sehr gut an den vielfältigen Formen der Gemeinschaftswerbung, besser noch an der Schaufensterwerbung an den neuen staatlichen Feiertagen. [52] Der 1. Mai wurde seit 1933 als „Tag der nationalen Arbeit“ begangen, seit Oktober 1933 stand das „Erntedankfest“ neu im nationalen Kalender. Neu war auch, dass die Schaufenster des Einzelhandels gezielt in die Festaktivitäten eingebunden wurden. Der Handelsstand erwies so – auf Basis von Rahmenrichtlinien des Reichspropagandaministeriums – anderen „schaffenden“ Ständen seine Referenz.

Der „Tag der nationalen Arbeit“, NS-Usurpation des traditionellen 1. Mai der Arbeiterbewegung, sollte ein nationales Gemeinschaftsgefühl stiften und die „Verbundenheit aller Werktätigen“ dokumentieren: „Das ganze Volk ehrt sich selbst, wenn es der Arbeit die Ehre gibt, die ihr gebührt.“ [53] Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften im Mai 1933 waren auch die Angestellten des Handels in der Deutschen Arbeitsfront organisiert worden, waren auch die Händler selbst – als Arbeitgeber – Mitglied. Entsprechend beteiligten sich die Händler und Angestellte an den obligaten Umzügen.

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Die Belegschaft der Edekazentrale vor dem Abmarsch zum Festzug 1937 (DHR 30, 1937, Nr. 18, Titelblatt)

Der Handel präsentierte sich so den die Straßenpassanten, den Kunden, als Teil der „schaffenden“ Stände. Doch dies wurde auch in die Schaufenster transformiert, in denen staatliche Parolen und Konsumwaren als die Ergebnisse deutscher Arbeit in einem Ensemble verbunden wurden.

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Schaufenstervorschlag der Edeka 1936 (DHR 29, 1936, 401)

Die Einzelhändler nutzten diese spezielle Werbemöglichkeit gezielt. Die Jahresberichte der Edeka sprechen dabei weniger von der großen Bedeutung des Festtages als vielmehr von der gebührenden Präsentation des Handels als Teil der produktiven Volksgemeinschaft. [54] Für sie sollte der Tag die relative Verpflichtung der Käufer zum Ausdruck bringen, beim „deutschen“ Handel einzukaufen. Dies rief zumindest ab 1937 staatliche Reaktionen hervor: „In den Schaufenstern sollen zum 1. Mai die Erzeugnisse der heimischen Produktion, die Erträgnisse deutschen Bodens, das Erschaffte deutscher Hände Arbeit Würdigung finden. Dabei darf die Ware nicht aufdringlich hervortreten; sie hat im Rahmen des Ganzen zurückzutreten; denn der Zweck der Schaufenstergestaltung zum 1. Mai ist nicht Absatzwerbung, sondern die Betonung der Freude, daß sich unser Volk unter einem Willen zusammengefunden hat und so gemeinsam den 1. Mai feiert.“ [55] Das nationale Gemeinschaftsgefühl war wichtiger als ein erhöhter Konsum im „deutschen“ Laden.

14_Edeka Reklame_1934_p257_Einzelhandel_Schaufensterwerbung_Erntedank_Edeka

Entwurf eines Erntedankfensters 1933 (Edeka-Reklame, 1934, 257)

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beim Erntedankfest feststellen. Dessen Ziel war nicht allein die besondere Ehrung des deutschen Bauern und des Ertrages deutschen Bodens. Seine Aufgabe war zugleich, dem Städter die elementaren Leistungen des Landes, aber auch seine eigene biologische Abhängigkeit von der Natur und dem Boden vor Augen zu führen. Diesem Ereignis hatte der Lebensmittelhandel als „Mittler zwischen Bauer und Verbraucherschaft“ besondere Schaufenster zu widmen – abermals nach Maßgabe des Reichspropagandaministeriums. [56] Für den Händler war es demgemäß zugleich Pflicht und Selbstverständlichkeit, „daß er am Erntedanktag zur Vertiefung der Stimmung für dieses Fest seine Schaufenster, ohne direkte Verkaufsabsichten hiermit zu verbinden, so ausschmückt, daß der schöne Gedanke des Erntedankfestes in die weitesten Volkskreise getragen wird.“ [57] Das Erntedankfest war geplant als Ausdruck völkisch-biologistischen Denkens und der Verbundenheit zu Blut und Boden. Die Schaufensterwerbung unterstützte dies durch florale Elemente, insbesondere frische Blumen und Grünschmuck.

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Entwurf für ein Erntedankschaufenster 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 584)

Das Erntedankfest hatte in den Städten jedoch nie dieselbe Bedeutung wie der 1. Mai. Sein Ziel war es schließlich eine Stimmung zu schaffen, in der die systematische Begünstigung der Landwirtschaft erträglich und nachvollziehbar erschien. Die Freude an den „frischen“ Schaufenstern wurde durch entsprechende Verpflichtungen von Handel und Verbrauchern getrübt: „Die deutschen Volksgenossen, einschließlich der Schwarzseher und Meckerer, werden auch fernerhin diese kleinen Opfer vorübergehender Entbehrung auf sich nehmen. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als in solchen Fällen eine Umschaltung vorzunehmen in Form einer kleinen Korrektur des Speisezettels.“ [58] Stärker als der „Tag der Nationalen Arbeit“ wurde das Erntedankfest funktionaler Bestandteil staatlicher Konsumpolitik. Die Finanzierung der „Erzeugungsschlacht“ und die konsumtiven Zumutungen des Strebens nach „Nahrungsfreiheit“ standen allerdings stets im Hintergrund. [59] Die Festschaufenster gewannen sicherlich nicht die Bedeutung, die man staatlicherseits erhofft hatte. Doch es gilt den Blick für die vielfältigen Wege zu schärfen, mit denen der Kauf und Verkauf genehmer Produkte gefördert wurde. Der Handel jedenfalls nutzte die Aura der Volksgemeinschaft gezielt in seinen Schaufenstern – gedrängt durch Staat und Handelsorganisationen, durchaus überzeugt von deren Inhalt, sicher aber mit dem Kalkül, so das persönliche Band zum kaufenden Volksgenossen enger knüpfen zu können.

3.2 „Eßt mehr Fisch!“ – Verbrauchslenkung mit begrenztem Erfolg

Die Agrar-, später auch die Gesundheitspolitik des Nationalsozialismus, zielten auf eine „gesunde“ Ernährung, die nationalwirtschaftlich sinnvoll, zugleich aber ernährungsphysiologisch ausgewogen war. [60] Aus diesem Grunde wurde staatlicherseits eine regionale, saisonale und fettarme Kost mit relativ geringem Anteil tierischer Produkte propagiert. Wirtschaftliche und volksbiologische Zielsetzungen führten seit 1933 gleichermaßen zu Anstrengungen, die Ernährungsweise der Bevölkerung gezielt zu beeinflussen. [61] Es war allerdings nicht der Handel, der dieser Politik seinen Stempel aufdrückte. Stattdessen griffen 1933 und 1934 vielfältige und kaum koordinierte Vorschläge aus der Wirtschaft und der (Ernährungs-)Wissenschaft, die erst durch den organisatorischen Aufbau einer „Marktordnung“ 1933-1935, dann aber vornehmlich durch die in den zweiten Vierjahresplan mündenden Produktions- und Verbrauchsziele klarere Konturen gewannen.

Das Beispiel des Fisch-, genauer Seefischkonsums kann helfen, die langsame Integration des Handels in das Konzept einer Umstellung auf eine „richtige“ Ernährung zu beleuchten, zugleich aber die Grenzen derartiger Steuerungsmaßnahmen zu verdeutlichen. Werbung für einen vermehrten Fischkonsum war dabei – ebenso wie für andere Produkte deutscher Agrarproduktion – keineswegs neu. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte es eine gezielte Gemeinschaftswerbung der deutschen Fischwirtschaft gegeben, die 1926 durch die Gründung des staatlich unterstützten „Ausschusses für Seefischpropaganda“ neu aufgenommen wurde. [62] Sie nutzte sowohl gesundheitliche als auch nationale Argumente. Ihr Erfolg war abseits der Fischfachgeschäfte bzw. von Konsumgenossenschaften und auch Warenhäusern relativ gering. Fisch war angesichts begrenzter Kühltechnik ein hygienisch heikles Produkt, das zumeist in verarbeiteter Form, als Marinade, Räucherware oder Konserve, den Weg in das Einzelhandelsgeschäft nahm. [63] Auch seine hohe Saisonabhängigkeit erschwerte den Absatz der Frischware im Handel. [64] Haushaltsrechnungen der späten 1920er Jahre zeigten deutliche regionale Verzehrsunterschiede. In den konsumnahen Küstenregionen – hier gab es abseits der Großstädte auch die Mehrzahl der Fachgeschäfte – lag der Fischkonsum teils dreimal höher als in Süddeutschland. [65]

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Vorschlag für ein Fischwerbeschaufenster 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 207)

Während der Weltwirtschaftskrise nahm der Fischkonsum zwar insgesamt ab, doch dies resultierte vornehmlich aus dem Rückgang der Importe. Der Absatz der deutschen Produktion erhöhte sich dagegen leicht. [66] 1933/34 setzte die zurückgefahrene Werbung wieder stärker ein, argumentierte dabei insbesondere mit der Billigkeit des Produktes und den arbeitsmarktpolitischen Wirkungen vermehrten Fischkonsums. [67] Im Rahmen des Reichsnährstandes wurde die übliche Werbung der Produzenten fortgeführt, doch trotz Plakataktionen, aufklärenden Vorträgen, fahrbaren Lehrküchen und einer großen Spezialausstellung auf der „Grünen Woche“ galt: „Die Erfolge dieser Anstrengungen lassen indessen zu wünschen übrig.“ [68] Ein Umschwung hin zum Handel setzte erst ein, nachdem zum einen der organisatorische Umbau der Fischindustrie abgeschlossen war, nachdem zum anderen durch die Versorgungskrise des Winters 1935/36 Fisch als Eiweißträger und Ersatz für Fleisch an Bedeutung gewann. [69] Ende 1936 sah der Vierjahresplan eine Verdoppelung der deutschen Fischfänge bis 1940 vor, sollten Fangflotte und Fischindustrie großzügig ausgebaut werden. [70]

Die Integration des Handels in die Pläne gesteigerten Fischabsatzes unterscheidet sich deutlich, vergleicht man die Maßnahmen seit Ende 1936 und davor. November 1935 gibt es eine erste Themenausgabe in der Deutschen Handels-Rundschau, die die Händler im hergebrachten Sinne aufklärte, sich dabei insbesondere auf Tipps für die sachgemäße Behandlung des Fisches konzentrierte. [71] Erst Anfang 1936 setzen koordinierte Werbemaßnahmen ein. Ziel wer es, neben dem traditionellen Freitag einen weiteren Fischtag einzurichten: Jede Region des Deutschen Reiches wurde an einem bestimmten Wochentag gezielt mit Frischfisch versorgt: Am Montag sollte Fischtag in Baden, Württemberg, Bayern und Schlesien sein, am Dienstag in Westfalen, im Rheinland und Sachsen-Anhalt, usw. Diese Maßnahmen wurden von einer Verbraucheraufklärung durch das Deutsche Frauenwerk sowie Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Hausfrauenzeitschriften begleitet. Der Handel hatte die nötige Absatzstruktur vor Ort sicherzustellen, wurde mit Verweis auf die deutsche Devisenlage und die vorhandenen, nun aber auch zu nutzenden Fangkapazitäten in die Pflicht genommen. [72]

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Schaufenster für Räucherwaren und Fischprodukte 1936 (DHR 29, 1936, 235)

Das Ergebnis war allerdings wenig erfolgreich, zeigten sich doch offenkundige Probleme beim Fischverkauf in Nicht-Spezialgeschäften. Die staatlich festgelegten Handelsspannen waren niedrig, der Verderb hoch, und die Verbraucher wurden von qualitativ geringwertiger Ware in ihrer Reserviertheit gegenüber dem Produkt Fisch bestätigt. Dagegen begann nun ein Werbefeldzug in Anzeigen, Plakaten, aber auch und gerade in den Schaufenstern des Fachhandels, der die Gesundheit und den hohen Conveniencegrad der Fischprodukte betonte. [73] Dem Händler wurde geraten, auf seine Kunden im Vorfeld zuzugehen, sichere Verkäufe schriftlich festzuhalten und dann die benötige Menge zu bestellen: „Man nimmt sich zunächst jede Woche einen, vielleicht auch zwei Tage, die immer gleich liegen müssen, vor, an denen man seiner Kundschaft Seefische feilbietet. Sie müssen es ihren Kunden immer wieder einhämmern, daß Sie beispielsweise Donnerstag und Freitag ‚blutfrische Seefische‘ zu verkaufen haben.“ [74]

Derartig handfeste Werbung bedurfte jedoch einer fundierten Infrastruktur – das galt zumindest nach dem Anlaufen des Vierjahresplans. Um die hochgesteckten Konsumziele zu erreichen, hatte der Ausbau von Fischabteilungen bzw. die Einrichtung neuer Fischspezialgeschäfte Priorität. Doch es war nicht der Staat, der hierfür die Mittel aufbrachte. Stattdessen wurde dem gesamten Einzelhandel eine Sonderumlage auferlegt, um so Deutschlands „Nahrungsfreiheit“ zu dienen. [75] Parallel wurde die durch das Einzelhandelsschutzgesetz von 1933 bestehende Beschränkung der Sortimente gelockert. Wer immer eine räumlich getrennte Abteilung einrichten wollte, um das „Fleisches des Meeres“ [76] zu verkaufen, der durfte dies tun. [77] Die Verteilung der Fördergelder übernahm der Anfang 1937 eingerichtete Förderungsdienst des deutschen Fischhandels, der reichsweit Schulungen im Neuwieder Haus für Berufsförderung anbot. [78] Fischkühlschränke wurden verstärkt angeboten, ihr Bezug durch günstige Kredite erleichtert. Auch Konsumenten erhielten Anreize, denn Fisch gab es nun auch auf Verbilligungsscheine für soziale Schwächere. [79]

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Werbung für Fischkühlkästen 1937 (DHR 30, 1937, 639)

Die politischen Vorgaben des Vierjahresplans sollten durch ein Netzwerk „sauberer“, hygienisch einwandfreier, fachkundig geführter Spezialabteilungen und -geschäfte umgesetzt werden. Die Hauptvereinigung der deutschen Fischwirtschaft legte Anfang März 1938 präzise Mindestanforderungen für Fischverkaufsstellen fest, durch dessen Raster die Mehrzahl der Händler fiel, die (Frisch-)Fisch nicht einfach räumlich vom sonstigen Absatz trennen konnten. [80]

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Räumlich getrennte Fischabteilung eines Kolonialwarenladens 1938 (DHR 31, 1938, 946)

Das Ideal eines professionellen Spezialhandels, der zwar langwierig aufzubauen war, der dann aber präzise die Vorgaben der Fischwirtschaft umsetzte, war scheinbar wichtiger als die kurzfristige Umsetzung des Vierjahresplans. [81] Doch zwei weitere Entwicklungen sind zu berücksichtigen. Zum einen gelang es der Fischwirtschaft nicht, die Menge der Anlandungen plangemäß zu erhöhen, denn die Steigerung betrug von 1936 bis 1938 lediglich 20 Prozent. [82] Die Aufrüstung der Marine und der parallel intensivierte Walfang ließen das Programm am Mangel von Seeleuten und der immer offenkundigeren Überfischung der Bestände scheitern. Parallel begann man im Deutschen Reich – auch unter Versorgungsaspekten für die Wehrmacht – ab 1939 mit dem Aufbau einer Tiefkühlkette. Sie erforderte neuartige Technik im Laden, die im Rahmen des bestehenden Handels kaum möglich schien. [83]

Die Handelsorganisationen setzten ihre Aufgaben durchaus um, warben in ihren Schaufenstern für Fischerzeugnisse, klärten in ihren Kundenzeitschriften die Verbraucher auf. [84] Doch auf Filetgewicht berechnet, stagnierte der Absatz zwischen 1936 und 1938 praktisch (7,7 bzw. 7,8 Kilogramm). Die nationale Haushaltsrechnungserhebung von 1937 ergab keine Verschiebungen der regionalen Verzehrsunterschiede. [85] Die Verbrauchslenkung hatte sich im Kern als Fehlschlag erwiesen, die Versorgungsengpässe bei Fleisch Anfang 1939 zeigten dies mehr als deutlich. [86] Mit Beginn des Krieges kam die Hochseefischerei größtenteils zum Erliegen, der Fischkleinhandel verzeichnete sofort „einschneidende Umsatzrückgänge“ [87].

Der Misserfolg dieses Bereichs der Verbrauchslenkung zeigte zum einen, dass Ernährungsgewohnheiten kulturelle Eigendynamiken besaßen, die durch Appelle und Anreize allein kaum zu steuern waren. Die anfangs mangelhafte Integration des Handels in die Fischwerbung verwies auf Wirkungsmodelle, die von der Allmacht werblicher Kommunikation im Konsumsektor ausgingen. Die sicherlich auch vor dem Hintergrund zunehmend professioneller Marktforschung zu sehende Integration des Handels in die Verbrauchslenkung komplettierte zwar seit 1936/37 die Maßnahmenpalette staatlicher und wirtschaftlicher Maßnahmen. Doch die Wahl zwischen mehr Fleisch oder mehr Fisch fiel den meisten Volksgenossen – angesichts von Vollbeschäftigung und wachsenden Einkommen – leicht.

3.3 Versorgungspflicht und Sozialpolitik – Der Ladenschluss als Strukturproblem

Die moderne Ladenschlussregelung bildet einen Kompromiss zwischen den sozialpolitischen Ansprüchen der Händler und Beschäftigten einerseits, den Verwertungsimperativen der Händler bzw. den zeitlich an sich nicht begrenzten Konsumwünschen der Verbraucher andererseits. Die 1891 einsetzende Gesetzgebung hatte unter vorrangig sozialpolitischen Zielen zu einer begrenzten Sonntagsruhe und verbindlichen werktäglichen Öffnungszeiten geführt. Auch 1933 galt noch im Wesentlichen die Verordnung vom 5. Februar 1919, die – mit branchenspezifischen Ausnahmen – einen werktäglichen Ladenschluss in der Zeit von 19 bis 7 Uhr festschrieb, die ferner den Sonntag – wiederum mit gewissen Ausnahmen – grundsätzlich als Ruhetag deklarierte.

Während der Weimarer Republik hatten die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels und viele Handelskammern immer wieder flexiblere Lösungen gefordert, um zu bestimmten Hochfesten und Jahreszeiten sowie in bestimmten Regionen öffnen zu können. Während der Weltwirtschaftskrise blieben diese Forderungen bestehen, aufgrund der Absatzprobleme traten sie jedoch in den Hintergrund. So bestand unmittelbar nach der Machtzulassung kein Regelungsbedarf für die neuen nationalsozialistischen Machthaber. Gleichwohl gab es 1933/34 innerhalb der Deutschen Arbeitsfront gezielte Bestrebungen der Vertreter der Handlungsgehilfen, für bestimmte Branchen und Regionen einen früheren Ladenschluss einzuführen. Die Folge war eine „erhebliche Beunruhigung bei den Inhabern der Ladengeschäfte“. Der Reichsarbeitsminister beruhigte, sah in den lokalen Initiativen lediglich unverbindliche Versuche. Der geltende Ladenschluss schien ihm ein tragbarer Kompromiss zwischen verschiedenen Gruppen der Volksgemeinschaft, denn „die Ladenzeiten des Einzelhandels bedeuten nicht nur ein gesetzlich festgelegtes Recht des Kaufmanns, sondern auch die Pflicht, allen Bevölkerungsreisen eine möglichst gute Gelegenheit zur Bedarfsdeckung zu sichern.“ [88] Statt gesetzlicher Maßnahmen gab es gezielte Appelle an die Konsumenten, ihre Verkäufe über den ganzen Tag zu verteilen, insbesondere die Zeit von 18 bis 19 Uhr möglichst den Berufstätigen zu überlassen. [89] Und durch das Automatengesetz vom 6. Juli 1934 erhielten die Einzelhändler neue technische Möglichkeiten, auch nach Ladenschluss ihre Kunden mit Waren zu versorgen. [90] Auch die Einbindung des Ladenschlusses in die neue Arbeitszeitordnung vom 16. Juli 1934 ergab keine Änderung der bestehenden Regelungen. [91]

Doch mit Erreichen der „Vollbeschäftigung“ begannen seit spätestens 1937 neuerliche Bemühungen um verringerte Ladenöffnungszeiten. Am Samstag sollte der Ladenschluss auf 16 Uhr vorverlegt werden, da nur so eine „wirkliche Erholung in Form des Wochenendes“ [92] möglich sei. Abermals wurde eine gesetzliche Neuregelung abgelehnt, abermals die umfassende Erziehung des Verbrauchers gefordert. [93] Doch die neuen sozialpolitisch und volksbiologisch begründeten Gesetze über Kinderarbeit bzw. die Arbeitszeit der Jugendlichen führten zu wachsenden Problemen, die Läden während der gesamten Öffnungszeiten auch durchgehend zu öffnen. [94] Entsprechend begannen 1938 breite Diskussionen über den Mittagsladenschluss, denn viele Händler weiteten ihn aus, um den gesetzlichen Höchstarbeitszeiten ihrer Lehrlinge zu genügen. Außerdem nahm die Zahl der Betriebsurlaube zu, während der Geschäfte geschlossen wurden. [95] Die wachsende Heterogenität der an sich einheitlich geregelten Ladenöffnungszeiten wurde noch größer, als 1938/39 die Händler einzelner Orte bzw. Einzelgeschäfte freiwillig früher schlossen. [96]

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Strukturproblem Ladenschluss – hier als Anlass für Verpackungen (DHR 29, 1936, 945)

Diese Eigeninitiativen nahm das Reichswirtschaftsministerium zum Anlass für eine Grenzziehung. Am 31. Mai 1939 erging die Anordnung zur Verhinderung von Ladenzeitverkürzungen, deren Durchführungsverordnung die Prioritäten der NS-Politik deutlich machte: „Bei der Handhabung der Anordnung ist besonders zu berücksichtigen, daß der Vierjahresplan von weiten Volkskreisen verlängerte Arbeitszeiten und äußersten Einsatz verlangt; es muß deshalb unter allen Umständen dafür Sorge getragen werden, daß gerade auch den bis zum späten Nachmittag arbeitenden Volksgenossen die notwendigen Einkäufe nicht erschwert oder überhaupt unmöglich gemacht werden.“ [97] Die Ruhe an der Käuferfront war wichtiger als die sozialpolitisch erwünschten Arbeitszeitverkürzungen der Händler und Angestellten. Die schon 1934 erwähnte Versorgungspflicht der Läden trat nun immer stärker in den Vordergrund – entsprechend waren zuvor 1938 die Öffnungszeiten im ländlichen Raum im Sommer auf 21 Uhr erweitert bzw. die Ladenöffnungszeiten an den verkaufsoffenen Sonntagen von 18 auf 19 Uhr erhöht worden. [98] Parallel zeigte sich, dass die Kontrolldichte der Aufsichtsbehörden so gering war, dass Sonntagsruhe und Ladenschluss regelmäßig nicht eingehalten wurden. [99] Sozialpolitik wurde beschworen, angesichts anderer aktueller Prioritäten jedoch zurückgestellt. Der Einzelhandel hatte zu dienen, wollte er verdienen.

Der Primat der Versorgungspflicht zeigte sich dann in reiner Ausprägung während des Krieges. Die Verordnung über den Ladenschluss vom 21. Dezember 1939 [100] gründete bewusst auf Kriegssonderrecht, kehrte sie doch erstmals in der deutschen Geschichte den Ladenschlussgedanken um: Die Läden mussten nun nicht mehr zu bestimmten Zeiten geschlossen, sondern vielmehr bis 18 Uhr (Gebrauchsgüterhandel ohne Mittagspause) respektive 19 Uhr (Lebensmittelhandel mit Mittagspause) offen gehalten werden: „Wenn heute die Verbraucherversorgung als Aufgabe und volkswirtschaftliche Pflicht des Einzelhandels angesehen wird, so kann es nicht mehr vollständig in das Belieben des einzelnen Betriebes gestellt sein, ob und in welchem Umfange er dieser Verpflichtung nachkommen will.“ [101] Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges, als die katastrophale Versorgungslage die Unfähigkeit der Regierung in elementaren Basisbereichen verdeutlichte, hatte die regelmäßige und sichere Versorgung der Verbraucher Priorität vor unternehmerischer Selbstbestimmung oder dem Wunsch nach Freizeit. Es galt der Volksgemeinschaft bzw. dem leeren Abstraktum Deutschland Opfer zu bringen: „Dazu ist vor allem auch die innere Bereitschaft des Einzelhandels, sich seiner schwierigen und oft undankbaren Kriegsaufgabe mit Hingebung und Geduld zu widmen, ebenso notwendig wie Verständnis, Selbstbeherrschung und Selbsterziehung auf der Seite der Käufer. Diese mit dem Verzicht auf persönliche Wünsche, Gewohnheiten und Bequemlichkeiten verbundene Haltung und Unterordnung unter die Notwendigkeiten der Gesamtheit muß im Kriege auch von jedem Deutschen in der Heimat erwartet werden.“ [102]

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Notmaßnahme lustig aufbereitet: Verkauf im Betrieb (Arbeitertum 12, 1943, Folge 9, 12)

Der Konsum sollte eben nicht mehr als individueller Kaufakt verstanden werden, sondern als bewusstes Handeln im Dienst einer Volksgemeinschaft. Staatlicherseits galt es Käuferströme zu lenken und zu bestimmten Zeiten Verkaufsmöglichkeiten zu schaffen. Entsprechend versuchte man, die Mittagspausen von Käufern und Verkäufern zu koordinieren, beschränkte Betriebsferien und eigenmächtige Ladenschließungen. [103] Zugleich wurde die Entscheidung über den Ladenschluss dezentralisiert, um vor Ort flexibel agieren zu können. [104] Parallel dazu baute der NS-Staat systematisch die Handelsbereiche ab, die nicht der Grundversorgung dienten. Ladenschluss und Betriebsstillegungen dienten gleichermaßen dazu, Soldaten und Arbeiter für einen Vernichtungskrieg zu rekrutieren. Den verbleibenden Betrieben der Lebensmittels- und Bekleidungsbranche wurden dagegen ab 1943 – nicht zuletzt aufgrund der regelmäßigen Bombardierung fast aller deutschen Großstädte – deutlich längere und flexibel vor Ort festgelegte Öffnungszeiten angewiesen. [105]

Die Ladenschlussregelung verdeutlicht den funktionalen Stellenwert von Handel und Konsum. Die „schnelle und reibungslose Abwicklung des Warenverkaufs“ [106] war keine volkswirtschaftliche Aufgabe an sich, sondern Grundlage eines machtvollen und expansiven Reiches. Arbeitszeitverkürzungen waren erst nach dessen Sicherung denkbar. Die in den eigenständigen Maßnahmen des Handels und der Angestellten erkennbaren andersgearteten Zielsetzungen galten entsprechend wenig. Machterweiterung und Krieg waren die eigentlichen Ziele der führenden Instanzen, Konsum und Handel waren Teil eines umfassenden Kriegsdienstes. Damit allerdings sollten die Grundlagen späterer sozialpolitischer Erleichterungen für den „deutschen“ Kaufmann gelegt werden.

3.4 „Bewährungsprobe“ – Der Kriegsdienst des „deutschen“ Handels

Der Übergang von der „Wehrwirtschaft“ zur Kriegswirtschaft gelang 1939 ohne größere Probleme. Die Edeka etwa meldete: „Dank der eingehenden Aufklärungsarbeit und den umsichtigen Vorbereitungen in der Ausrichtung auf die Kriegswirtschaft standen die Genossenschaften bei Ausbruch des Kriegs wohl gerüstet den neuen Aufgaben gegenüber, so daß sich erfreulicherweise der Uebergang von der Friedenswirtschaft zur Kriegswirtschaft fast reibungslos und ohne große Umstellungen vollzogen hat.“[107] Schon vor dem deutschen Angriff auf Polen wurden ab dem 28. August 1939 umfassende Kundenlisten für die wichtigsten Lebensmittel erstellt [108], ab dem 25. September 1939 griff dann ein sorgfältig geplantes Rationierungssystem. [109] Die Arbeitsbelastung der Händler erhöhte sich dadurch erheblich, erreichte bei einem mittleren Lebensmittelgeschäft einen Mehraufwand von 32 bis 35 Stunden pro Woche. [110] Dennoch erfolgte der Übergang zur Rationierungswirtschaft vergleichsweise reibungslos, sieht man einmal von anfänglichen Versorgungsengpässen ab. [111] Die Rationierung konzentrierte sich auf den Grundbedarf, umgriff schnell das gesamte Lebensmittelsortiment, die Kleidung, Möbel und Einrichtungsgegenstände. Der gehobene Bedarf blieb anfangs frei, später unterlagen immer größere Konsumsegmente der direkten staatlichen Regulierung. [112]

22_Arbeitertum_14_1945_Folge01_p08_Tauschhandel

Persiflage auf den grassierenden Tauschhandel (Arbeitertum 14, 1945, Folge 1, 8)

Die Folge dieses Warenmangels war eine recht intensive Schattenwirtschaft. Viele Funktionsträger des Regimes nutzten ihre guten Kontakte zu Wirtschaft und Handel, um ihren Lebensstandard auch im Krieg zu halten. [113] Graue und schwarze Märkte – im kollektiven Gedächtnis meist der Nachkriegszeit zugeordnet – nahmen nun zu, nachdem es sie aufgrund von Produktionsbeschränkungen und staatlich festgelegten Preise schon während der 1930er Jahre vielfach gegeben hatte. [114] Angesichts der Warenbeschaffungsprobleme gewannen der Tauschhandel zwischen Händlern und die zu Beginn des Regimes systematisch bekämpften Koppelungskäufe schnell an Gewicht. Drakonische Strafen und eine eigens eingerichtete Ehrengerichtsbarkeit halfen kaum [115], zumal auch die Verbraucher ebenfalls immer häufiger Waren tauschten. Die Bäume und Mauern der Städte waren Ende 1942 trotz Verboten derartig mit Tauschzetteln beklebt, dass dies als Verschandelung gewertet wurde. [116] Lokal wurden daraufhin offizielle Gebrauchtwarentauschstellen eingerichtet, die teils von den Städten, teils von den Händlern selbst getragen wurden. Die begrenzte Legalisierung und Verstaatlichung des Tauschhandels löste das Problem der Schattenwirtschaft allerdings nicht, auch wenn die Propaganda die damit verbundene „Mobilisierung ungenutzter Werte“ [117] hervorhob. Gerade das „Hamstern“ vieler Privatpersonen, stärker aber noch des Handels selbst, blieb ein zentrales Problem der Heimatfront, lockten doch hohe Gewinne. [118] Allein die relative Effizienz der deutschen Grundversorgung und die zunehmend härtere Bestrafung bei Preisvergehen und Schwarzhandel hielten die Schattenwirtschaft während Krieges in Grenzen. [119]

Die wirtschaftliche Lage des Handels wurde zu Beginn des Kriegs allerdings kaum negativ beeinflusst. Der Wert der Umsätze sank zwischen 1939 und 1943 zwar um etwa 10 Prozent, doch muss bedacht werden, dass die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte als Folge der Einberufungen und der zunehmenden Zivilarbeitspflicht ebenfalls rasch sank. Die Produktivität des Handels stieg deutlich. An die Stelle der Versorgung der Privatbevölkerung trat in immer größerem Ausmaß die Versorgung auch der Wehrmacht, ziviler Behörden, Betriebe und Lager. Dieser begrenzte Funktionswandel verweist auf die dienende Rolle des deutschen Handels. [120] Bis Ende 1941 wurden etwa 60.000 Einzelhandelsbetriebe geschlossen, ungefähr ein Zehntel des Vorkriegsbestandes. [121] Obwohl wie im ersten Weltkrieg leistungsfähigere Betriebe bevorzugt beliefert wurden, nahm die durchschnittliche Betriebsgröße zunehmend ab, da die Zahl der Arbeitskräfte, zumal der männlichen und jüngeren, überproportional sank. 1944 dürfte nicht einmal die Hälfte der Zahl der Vorkriegsbeschäftigten im Einzelhandel erreicht worden sein. Entsprechend sanken tendenziell die Arbeitskosten, ebenso die Aufwendungen für Werbung, Beleuchtung und Zustellung. [122] Dennoch dienten die Schaufenster nach wie vor der Verbrauchslenkung und Propaganda, wurden die leerstehenden Geschäfte sogar von anderen Ladeninhabern mit dekoriert. [123] Erst 1943 wurde hier umgeschwenkt, stand nun doch die Lieferfähigkeit selbst im Vordergrund der Auslagen – und natürlich, zumal auf den Bretterverschlägen nach Bombenangriffen, Durchhaltepropaganda. [124] Angesichts der allgemeinen Versorgungslage konnte der Handel gerade ältere Ware bequem absetzen, galt der schnellstmögliche Lagerumschlag nicht mehr als Ziel, sondern die Beschaffung möglichst vieler Waren [125]: „Der Wettbewerb hat nicht aufgehört, er ist nur im wesentlichen auf die Seite der Beschaffung verschoben worden. Um die Abnehmer wird er heute nur noch insofern geführt, wie diese als Träger von Mengenbezugsrechten Kaufkraft auf ihre Lieferanten übertragen und die Wiederbeschaffung sichern können.“ [126]

Während des Krieges begann eine zunehmende innere Umgestaltung des Handels, die zuerst die Sortimente betraf. Durch die Verordnung vom 10. Januar 1940 konnte das Sortiment um neue Waren ergänzt werden, ohne dazu einer besonderen Genehmigung zu bedürfen. Diese Abkehr von den Grundprinzipen des Einzelhandelsschutzgesetzes zielte auf eine gesicherte Versorgung der Bevölkerung trotz einer schwindenden Zahl von Läden. Sie war aber auch nötig, da mit der Kriegswirtschaft die Zahl der Produkte insgesamt sank, parallel aber die Zahl neuartiger Ersatzprodukte, wie etwa Kaffeearomen, fettlose Waschmittel, künstliches Eiweiß, Milei oder Migetti schnell stieg. [127] Ab 1943 gewannen Kriegsverkaufsgemeinschaften an Gewicht, also die Zusammenlegung branchenmäßig verwandter Geschäfte. Durch Erlass vom 22. April 1943 geregelt, sollten so Fixkosten verringert und Raumprobleme gemeistert werden. [128] Parallel wurden Gruppenarbeitsgemeinschaften eingerichtet, um den Warenbezug zu vereinfachen. [129] Die vielfältigen Debatten über eine technische Rationalisierung des Handelsbetriebes, deren wichtigste Ergebnisse die Ratio-Läden bzw. Einmann-Selbstbedienungsläden waren, wurden auch im Krieg fortgesetzt. Im Februar 1942 stellte die Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel einen neuen Beispielladen vor, der Vorbild für die späteren Tempo- und Selbstbedienungsläden wurde. [130] Sein Betrieb war allerdings auf vorverpackte Ware zugeschnitten, angesichts mangelnden Verpackungsmaterials also nicht umsetzbar. [131] Die Priorität des Leistungsgedankens zeigt sich auch in Überlegungen, auf Grundprinzipien der 1932/1933 rigide bekämpften Einheitspreisgeschäfte zurückzugreifen. [132] Die Erweiterung der Sortimente und die Entwicklung neuer Geschäftstypen sollten die leistungsfähigen Kräfte bündeln, gaben aber auch ein Modell für den Handel nach dem „Endsieg“. [133]

23_Nordwest- und mitteldeutsche Baecker- und Konditorei-Zeitung_45_1943_Nr27_p3_Einzelhandel_Baeckerei_Brot_Bombenkrieg_Ausgebombte

Brotabgabe an Ausgebombte nach einem Bombenangriff aus einem beschädigten Bäckereiladen (Nordwest- und mitteldeutsche Bäcker- und Konditorei-Zeitung 45, 1943, Nr. 27, 3)

Die Lage des Handels verschärfte sich 1943 deutlich. Die „totale“ Kriegswirtschaft, die zunehmenden Luftangriffe [134], die neuerlichen Auskämmungen des Handels und die immer stärkere Heranziehung von Frauen in der Rüstungswirtschaft forderten Tribut, die Versorgung konnte aber durch immensen Arbeitseinsatz und immer wieder neue behelfsmäßige Lösungen noch bis Ende 1944 sichergestellt werden. [135] Im Februar 1943 begann die erste systematische Stilllegungsaktion, deren Ziel die „Freisetzung von Arbeitskräften für kriegswichtige Zwecke“, aber auch die „Optik des Krieges“ war. Auch die Heimatfront sollte den Ernst der Lage begreifen, sollte so zu intensiverer Arbeit angespornt werden. Gleichwohl blieb die Versorgung im Großdeutschen Reich privilegiert, vergleicht man sie mit der anderer Staaten der „Festung Europa“. Das war nur möglich durch die systematische Ausplünderung der besetzten Gebiete in West und vor allem Ost. Sie ergab Geld, Rohstoffe und Nahrungsmittel für die Deutschen, machte auch nicht Halt vor den Möbeln und dem Hausrat der Bewohner der eroberten Länder und der zur Tötung deportierten Juden. [136]

Von alledem profitierten sowohl die Verbraucher als auch der Handel. Und selbstverständlich erhielten die Händler als Ausgleich für Stilllegung und Rekrutierung Mietbeihilfen und einen gewissen finanziellen Ausgleich. [137] Gerade schmerzlicher Dienst für die Volksgemeinschaft sollte nicht umsonst sein, der „Handelskern“ [138] werde jedenfalls nach dem Krieg seinen Lohn erhalten. Der Kriegsdienst galt als „Leistungsprobe“ für den deutschen Kaufmann: „Gerechte Verteilung der Mangelware, weil der Kunde von heute, [sic!] der treueste in der besseren Zukunft sein kann. Das gute Schaufenster auch im Kriege, weil es den Willen zum ständigen Dienst am Kunden verrät. Die geordnete Buchführung gerade jetzt, weil sie zur Vertrauensgrundlage für schönere Aufgaben und Aufträge in der Zukunft wird. Der Wille zur Nachwuchserziehung – auch wenn um die jungen Menschen gekämpft werden muß – jetzt, weil er vom Glauben an die Sendung des Berufes zeugt. Der unzerbrechliche Frohsinn im täglichen Schaffen, gerade in harter Kriegszeit, weil anders der Mensch sich sinnlos verbraucht und dann um seinen Anteil an den Früchten des Sieges kommt.“ [139]

24_Kladderadatsch_95_1942_p265_Arbeitertum_11_1942_Folge11_p12_Einkaufen_Einzelhaendler_Kaeufer-Verkauefer_Verkaufsstaette_Hoeflichkeit

Höflichkeit als Tugend des Einzelhändlers (Kladderadatsch 95, 1942, 265 (l.); Arbeitertum 11, 1942, Folge 11, 12)

Das Zitat verweist auf weitere, auf „politische“ Aufgaben des Handels im Kriege. Es galt mehr zu tun als Waren zu verteilen. [140] Der Kaufmann war schließlich „Pionier der Heimatfront“ und hatte seinen „Teil zum Endsieg beizutragen“ [141]. Die politische Führung wies explizit daraufhin, „daß jedes deutsche Geschäft und jeder deutsche Laden heute eine politische Zelle sei, der in der Ausrichtung der Stimmung des gesamten Volkes eine entscheidende Rolle zufalle.“ [142] Als Herr über die tägliche Versorgung hatte der Kaufmann eine beträchtliche Machtposition über die qua Kundenliste an ihn gebundenen Konsumenten, konnte begünstigen und fördern oder aber dieses unterlassen. „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ begegnete er strikt, konnte dann auch aus der Haut fahren: „Diese Ladenekel tragen die Schuld, wenn manchem Kaufmann doch einmal die Geduld reißt, wenn er schließlich ihnen einmal so grob kommt, wie sie es verdient hätten, wie es aber nun einmal wegen des Ansehens der Kaufleute und ihrer Sonderrolle der Erhaltung guter Stimmung und der Beratung und Erziehung der Verbraucher wegen nicht angeht.“ [143] Der Kaufmann – tatsächlich wurde der Handel während der Kriegszeit vorrangig von Händlerinnen getragen – war zugleich ein Kulturträger Deutschlands. Noch 1943 wurde in Berlin die Gemäldeausstellung „Kaufmann am Werk“ gezeigt, in der abseits des mörderischen Tagesgeschäftes die Ideale und ethischen Werte des Handels künstlerischen Ausdruck fanden. [144]

25_Voelkischer Beobachter_1943_01_16_Nr016_p4_WKII_Einzelhandel_Lebensmittelversorgung_Sozialpolitik

Dienst in der Gegenwart, Lohn in der Zukunft (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 16 v. 16. Januar, 4)

All dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der „deutsche“ Kaufmann angesichts der wachsenden Kriegsprobleme an die Grenzen der Vermittlung kam. Auch er konnte die Propaganda nicht zur Realität umbiegen, auch er hatte schließlich trotz hoher Leistungsbereitschaft im Sinne des Regimes unter dessen Hybris und Niedergang zu leiden. Die Hoffnungen und Erwartungen, die noch 1940 und 1941 zu intensiven Diskussionen über die Rationalisierung für die folgende Friedenszeit geführt hatten, wurden nicht erfüllt. [145] Dies lag nicht allein am politisch-militärischen Gesamtrahmen. Dies war auch Konsequenz der bewussten Mitarbeit des „deutschen“ Handels im NS-Regime, an dessen Ende die volkswirtschaftliche Minimalaufgabe, die Grundversorgung der Bevölkerung, nicht mehr gewährleistet werden konnte, an dessen Ende die Verbraucher ihr Hab und Gut in Bombentrichtern und ausgebrannten Ruinen suchten, an dessen Ende die Versorgung der früheren Volksgemeinschaft nur durch die ehedem verteufelten alliierten Streitkräfte gesichert werden konnte.

4. Versorgung in der Volksgemeinschaft – Resümee einer Näherung

Die vier Fallbeispiele zeigen, dass zwischen den ideologischen Vorgaben und der realhistorischen Umsetzung jeweils eine deutliche Lücke klaffte. Die Ziele wurden praktisch nie erreicht, stets gab es Interessenkonflikte und strukturelle Probleme, die ihre Umsetzung erschwerten oder gar unmöglich machten. Die Händler suchten nach wie vor ihren eigenen Vorteil, ebenso die Konsumenten, die sich den strikten Vorgaben immer wieder entzogen, die an tradierten Konsummustern festhielten, im begrenzten Konsum gar Trost und Ausflucht suchten. [146]

Diese Bewertung griffe jedoch zu kurz. Sie unterschätzt die mittels der Ideologie in Gang gesetzte Dynamik, übersieht, dass deren Vorgaben nie vollständig umzusetzen waren. Die Idee des „deutschen“ Handels führte zu tiefgreifenden Veränderungen im Verständnis und in der Gestalt des deutschen Einzelhandels. Es war gerade die Diskrepanz zwischen dem Ideal und stets begrenzten Umsetzung, die – abseits ökonomischer Strukturprobleme – diese Veränderungen erst ermöglichte. Die Ziele mochten nicht erreicht, die Ideale nicht erfüllt werden, doch dies bedeutete nur ein weiteres, neuerlich intensives Streben nach Erfüllung und Zielerreichung. Das Ideal des „deutschen“ Handels wirkte; nicht allein Zwang und Mangel einer Alternative ließen einen zentralen Bereich moderner Wirtschaft die Fährnisse einer Politik ertragen, die Prioritäten abseits der Konsumgüterversorgung, abseits der ökonomischen Prosperität der Handels setzte. Die Kaufleute begnügten sich mit Wenigem, war dies doch mehr als zuvor, war doch zugleich die Aussicht auf späteren „Lohn“ gegeben. Die Verbindung von Nationalstolz, rassischer und fachlicher Überlegenheit, des langsam wachsenden Wohlstandes führten zu einer Dienstbereitschaft, die uns heute abstrus und verachtenswürdig erscheinen mag, die aber gleichwohl historische Realität war.

Bis zur totalen Niederlage 1945 garantierte der „deutsche“ Handel die Versorgung in der Volksgemeinschaft. Und auch danach wurden die Dienste des Handels gebraucht. Denn wenn auch graue und schwarze Märkte weiterbestanden, Tauschhandel und Hamstern auf dem Lande zum Leben vielfach üblich wurden [147], so konnte doch auf den Handel und seine Leistungen nicht verzichtet werden – auch wenn sich schon bald zeigen sollte, dass der selbständige Einzelhändler der Wirtschaftswunderzeit ein Auslaufmodell sein sollte.

Uwe Spiekermann, 25. Mai 2021

Anmerkungen, Literatur- und Quellenbelege

[1] Vgl. Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie und Politik 1933-1945, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1988.
[2] Vgl. etwa Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, 591-609.
[3] Ian Kershaw, Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000, 10.
[4] Dr. Hayler im Westdeutschen Rundfunk über „Altes und neues Wirtschaftsdenken“, Edeka Deutsche Handels-Rundschau (= DHR) 17, 1934, 125-126.
[5] Beim Folgenden handelt es sich um eine Weiterentwicklung von Gedanken, die ich in Uwe Spiekermann, Rationalisierung, Leistungssteigerung und „Gesundung“: Der Handel in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000, 191-210, insb. 203-209 dargelegt habe. Dort auch mehr zu den hier nicht eigens thematisierten konkurrierenden Großbetriebsformen.
[6] Appell an den Handel. Kundgebung des Reichsführers des Handels, Edeka DHR 27, 1934, 193-194, hier 193.
[7] Differenzierung tut Not, denn das Modernisierungspotenzial des mittelständischen Einzelhandels war während der Endphase des Kaiserreichs als auch in den späten 1920er Jahren beträchtlich. Die Weltwirtschaftskrise führte jedoch zu einer Verfestigung der alten Frontlinien, insbesondere zu einer Erneuerung vielfältiger Verbots- und Sonderbelastungsforderungen, zu einer Staatsorientierung also, die nach der Jahrhundertwende an Gewicht verloren hatte. Vgl. hierzu Uwe Spiekermann. Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im späten Kaiserreich, Frankfurt et al. 1994, insb. 160-167; Ders., Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 416-442.
[8] Josef Wilden, Der Einzelhandel in Staat und Wirtschaft, in: Franz Effer (Hg.), Der Deutsche Einzelhandel in Staat und Wirtschaft, Düsseldorf 1926, 40-45, hier 44. Als Beispiel für die Hoffnungen auf eine ständische Wirtschaftsordnung s. Tag des Deutschen Handels. 18.-19. November 1933. Braunschweig. Sonderheft des Rekofei Berlin, s.l. s.a. (Berlin 1933).
[9] Zu den verschiedenen staatlichen Maßnahmen und Gesetzen vgl. Adelheid v. Saldern, Mittelstand im „Dritten Reich“. Handwerker – Einzelhändler – Bauern, Frankfurt a.M. und New York 1979.
[10] Hierzu Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-128, insb. 83-91.
[11] Vgl. Abwehr des Einzelhandels gegen die „Direkt“-Läden, Deutsche Handels-Warte (= DHW) 19, 1931, 473; Erster Rückzug aus dem Direktverkauf, DHW 19, 1931, 521.
[12] Vgl. schon Wilhelm Hermann, Die Rationalisierung im Lebensmittelhandel, in: Die Bedeutung der Rationalisierung für das Deutsche Wirtschaftsleben, hg. v.d. IHK zu Berlin, Berlin 1928, 359-410, hier 363.
[13] Georg Bergler, Absatzmethoden des Einzelhandels von vorgestern, gestern und heu¬te, DHW 22, 1934, 102-106, 129-133, insb. 132.
[14] Näheres enthalten J[akob] v. Norden, Gesamtverband des deutschen Einzelhandels (G.D.E.), DHW 22, 1934, 512-516; Uffhausen, Der Stand des organisatorischen Aufbaus im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 241-243. Parallel ist an die sozialpolitische Integration des Handels in die Deutsche Arbeitsfront bzw. branchenspezifisch in den Reichsnährstand zu denken.
[15] Walter Rafelsberger, „Leistungswettbewerb und Selbsthilfegedanke“, DHR 32, 1939, 482.
[16] Zitate nach [Heinrich] Hunke, Der Wettbewerb in der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung, DHR 31, 1938, Sdrh., 57.
[17] Vgl. [Werner] D[eiters], Händler oder Verteiler?, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 749-750. Auch andere Begriffe durchliefen diese sprachreinigende Moralisierung, so etwa Kleinpreisgeschäft und Einheitspreisgeschäft oder aber Kaufhaus und Warenhaus (Warenhaus = Kaufhaus? Gegen Verfälschung von Firmenbezeichnungen, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 720-721).
[18] Kaufmann – nicht Händler!, DHW 23, 1935, 26.
[19] Vgl. Peter Planz, Sachkunde im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 215-221; Hermann Gretsch und Gotthold Sieber, Schulung der Verkaufskräfte, ebd., 496-503; Hövische, Richtlinien für die Ausbildung von Verkaufslehrlingen im Einzelhandel, ebd., 619-624; H. Lübbemeyer, Die Kaufmannsprüfungen im Einzelhandel, DHR 28, 1935, 699-700.
[20] Vgl. Mindestanforderungen zur Buchführungspflicht. Richtlinien für die Praxis, DHR 31, 1938, 825-826. Dies bedeutete die Einführung eines Wareneingangsbuchs, eines Geschäftstagebuchs, eines täglichen Kassenberichts, eines Geschäftsfreundebuchs, einer jährlichen Inventur und eines Jahresabschlusses.
[21] Vgl. Verordnung über die äußeren Kennzeichnungen von Lebensmittel (Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung) vom 8. Mai 1935, DHR 28, 1935, 522, 524.
[22] Auch hier wurde an weit zurückreichende Vorbilder angeknüpft, vgl. etwa Heinrich Grünfeld, Die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels als Berufs- und Wirtschaftsvertretung, in: Effer (Hg.), 1926, 20-29, hier 28.
[23] Vgl. hierzu den Beitrag von Paul Hilland (HDE), in: Die Aufgaben des Jahres 1934 für den deutschen Einzelhandel, DHW 22, 1934, 1-9, hier 1.
[24] Die Auswirkungen schildert am Beispiel Wuppertals Georg Scherer, Auswirkungen der neuen Erlaubnispflicht für den Straßen- und Hausierhandel, DHW 23, 1935, 405-410.
[25] Walfried Mayer, Die Persönlichkeit des Unternehmers bestimmt den Wirtschaftserfolg, DHR 34, 1941, 345-346, hier 346.
[26] Dieser Terminus wurde 1933/34 besonders häufig verwandt, vgl. etwa Dr. Hayler im Westdeutschen Rundfunk über „Altes und neues Wirtschaftsdenken“, Edeka DHR 17, 1934, 125-126, hier 126.
[27] E. Heinig, Um die Berufsbereinigung, DHR 32, 1939, 20.
[28] Karl Arnhold, Umrisse einer deutschen Betriebslehre, Leipzig 1936, 31.
[29] Vgl. Albert Werner, Soldaten der Selbsthilfe. Silvesterbetrachtung, DHR 28, 1935, 1335-1336.
[30] Lebensziel und Lebensinhalt, DHR 28, 1935, 370.
[31] Walfried Mayer, Die Frau hinter dem Ladentisch, DHR 32, 1939, 101-102.
[32] Ders., Die Berufstätigkeit der Frau im Einzelhandel, DHR 28, 1935, 304.
[33] Probleme des Einzelhandels, DHR 31, 1938, 842.
[34] Die Hausfrau ist richtungsgebend, Edeka DHR 27, 1934, 856.
[35] Der neuzeitliche Kolonialwarenladen, DHR 32, 1939, 172. Vgl. auch Franz Hayler, Schönheit der Arbeit im Einzelhandel! Ein Aufruf des Leiters der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, DHW 23, 1935, 25-26; Karl Völker, Einige Anregungen zur Gestaltung der Verteilungsstelle, Die Rundschau 36, 1939, 462-464.
[36] Vgl. etwa Das vorbildliche Einzelhandelsgeschäft, DHR 32, 1939, 310.
[37] Detaillierte Informationen enthalten Betriebsstruktur und Besteuerung im Einzelhandel und im Handwerk. Eine Sammlung von Richtzahlen, T. I: Einzelhandel, Berlin 1935; Umsatz, Betriebsausgaben und Gewinn im Einzelhandel mit Nahrungs- und Genußmitteln, Wirtschaft und Statistik 17, 1937, 441-442; Betriebsstruktur und Kostengestaltung in wichtigen Gewerbezweigen. Eine Sammlung von Richtzahlen. T. II: Einzelhandel, Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, Berlin 1940. Sie zeigen, dass die Wirtschaftserholung vor allem den mittleren und größeren Geschäften zugutekam, kaum aber den kleinen Betrieben mit unter 20.000 RM Jahresumsatz.
[38] Vgl. hierzu detailliert Ulrich Kurzer, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaften. Gleichschaltung, Sanierung und Teilliquidation zwischen 1933 und 1936, Pfaffenweiler 1997.
[39] Die Judenfrage im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 713-714.
[40] Vgl. Eva Stille, Vertreibung der Frankfurter Juden aus der Bekleidungswirtschaft, in: Almut Junker (Hg.), Frankfurt Macht Mode 1933-1945, Marburg 1999, 83-107.
[41] Vgl. etwa die Unterlagen zur rechtswidrigen Verweigerung von Wandergewerbescheinen an jüdische Händler, Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 430, Dez. 301, acc. 15 A/65, Nr. 5, Bd. 1.
[42] Beseitigung der Uebersetzung im Einzelhandel, DHR 32, 1939, 223. Demnach war die Geschäftsschließung rechtens, wenn der Betriebsinhaber in den letzten zwei Jahren Wohlfahrts- oder Arbeitslosenunterstützung bezogen hatte, wenn er ohne Gefährdung des Unternehmens seinen steuerlichen Verpflichtungen der Gefolgschaft gegenüber nicht nachkommen konnte oder von der Steuer freigestellt war. Vgl. auch Lucas, Die „Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel“ durch die Verordnung im Einzelhandel vom 16. März 1939, DHR 32, 1939, 312-313, 332.
[43] Näheres enthält Carl Lüer, Das Problem der Übersetzung im Handel, Der Vierjahresplan 1, 1937, 581-583.
[44] Übersicht über die Betriebsverhältnisse und über die soziale Struktur des deutschen Einzelhandels. Tabellenmaterial einer Erhebung der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel vom Jahre 1938, Berlin 1943 (Ms.).
[45] Betriebsstruktur, 1940. Zum allgemeinen Hintergrund, der effizienten Nutzung moderner Wirtschafts- und Gesellschaftsstatistik im Nationalsozialismus, vgl. Götz Aly und Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2000.
[46] Vgl. Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, insb. 137-142.
[47] Vgl. Hartmut Berghoff, Von der »Reklame« zur Verbrauchslenkung. Werbung im nationalsozialistischen Deutschland, in: Ders. (Hg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, 77-112, insb. 78-89.
[48] 1929 lagen die Werbeausgaben des Einzelhandels bei geschätzten 543 Mio. RM, die der Industrie dagegen bei 350 Mio. RM (Gesamtausgaben ca. 1 Mrd. RM) (Viktor Mataja, Die Bedeutung der Reklame, Magazin der Wirtschaft 5, 1929, 1241-1244, hier 1241).
[49] Ein (mit allen Einschränkungen) praktiziertes Gegenmodell fand sich bei den Konsumgenossenschaften, vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 150-189.
[50] Vgl. etwa Hans Culemann, Die Auswirkungen des neuen Werbegesetzes für den mittelständischen Fachkaufmann, DHW 21, 1933, 622-625. Zur NS-Auffassung von Werbung s. Emil Maurer, Die volks- und betriebswirtschaftliche Bedeutung der Wirtschaftswerbung, Berlin 1939.
[51] Vgl. etwa Köpke, Die Voraussetzungen für die Werbung, Edeka DHR 28, 1934, 117-118.
[52] Zu den schon seit den späten 1920er Jahren einsetzenden „Deutschen Wochen“ vgl. etwa W[ilhelm] Seedorf, Das landwirtschaftliche Marktwesen und die D.L.G., Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 47, 1932, 75-76; K[urt] Kräutle, Landwirtschaftliche Absatzförderung, ebd., 762-764. Beispiel für eine gesonderte Kampagne ist etwa Werbewoche „der deutsche Apfel“, Edeka DHR 27, 1934, 895.
[53] Aufruf: Dr. Goebbels ruft zum 1. Mai, Edeka DHR 27, 1934, 246.
[54] Vgl. etwa F.W. Schulze, Bericht der Edeka Reklame- und Verkaufsabteilung, der Abteilung für Konsumentendienst und Warenkunde, Edeka DHR 27, 1934, Sonderheft, 38-40, hier 39; Ders., Bericht der Edeka Reklame- und Verkaufsabteilung, der Abteilung für Konsumentendienst und Warenkunde, in: Bericht über den 28. Edeka Verbandstag 1935 in Aachen, s.l. s.a. (Berlin 1935), 170-175, hier 172.
[55] Am 1. Mai alle Fenster schmücken!, DHR 30, 1937, 383.
[56] Richtlinien der Reichspropagandaleitung, Edeka DHR 28, 1935, 946; Würdig ausgeschmückte Schaufenster zum Erntedankfest 1936, DHR 29, 1936, 870; Schaufensterschmuck zum Erntedankfest!, DHR 31, 1938, 792.
[57] Alle Schaufenster zum Erntedankfest schmücken, Edeka DHR 28, 1935, 945-946, hier 945.
[58] Walfried Mayer, Unser Erntedank!, DHR 29, 1936, 805-806, hier 805.
[59] Vgl. etwa Helmut Götzelt, Erntedanktag!, DHR 30, 1937, 833.
[60] Vgl. allgemein Wolfgang Heidel, Ernährungswirtschaft und Verbrauchslenkung im Dritten Reich 1936-1939, Phil. Diss. Berlin 1989 (Ms.). Zur Entwicklung der Ernährungswissenschaft im Dritten Reich vgl. Uwe Spiekermann, Pfade in die Zukunft? Entwicklungslinien der Ernährungswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gesa U. Schönberger und ders. (Hg.), Die Zukunft der Ernährungswissenschaft, Berlin, Heidelberg und New York 2000, 23-46.
[61] Vgl. beispielhaft Max Winckel, Die Ernährungsfrage im neuen Deutschland, Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 8, 1933, 197-199; Werner Kollath, Vernünftige Ernährung und ihre Propaganda in der Schule, Gesundheit und Erziehung 48, 1935, 292-295. Zur Vermittlung regimegemäßer Ernährungsratschläge an Mittlerpersonen vgl. Dirk Reinhardt und Uwe Spiekermann, Die „Zeitschrift für Volksernährung“ 1925-1939. Geschichte und bibliographische Erschließung, in: Andreas A. Bodenstedt et al., Materialien zur Ermittlung von Ernährungsverhalten, Karlsruhe 1997, 74-186, insb. 80-83.
[62] Vgl. Fritz Lieberich, Die Absatzwerbung für den deutschen Seefisch, Wiwi. Diss. München 1943, 55-56.
[63] Zum Hintergrund s. Uwe Spiekermann, Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Industrie und Haushalt 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, hg. v. KATALYSE e.V. und BUNTSTIFT e.V., Köln 1997, 30-42, insb. 32-35.
[64] Hering wurde vor allem zwischen August und Oktober angelandet, während die anderen Fischsorten zwischen Januar und April weit überdurchschnittlich verfügbar waren. Vgl. Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 28-29.
[65] Vgl. Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, 247-282, hier 251.
[66] Irmgard Voß, Wandlungen im Fischkonsum Deutschlands in der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung des Seefischkonsums, Wiwi. Diss. Nürnberg, Wesermünde 1939, 52 gab den Pro-Kopf-Verbrauch 1930 mit 5,0 kg aus deutscher und 4,6 kg aus ausländischer Produktion an. Die Werte betrugen 1933 dann 5,7 resp. 3,2 kg.
[67] Vgl. etwa O[tto] Br[enning], Propagierung der Fischnahrung im Rahmen der deutschen Erzeugungsschlacht, Norddeutsche Fischerei-Zeitung 27, 1935, 123-124.
[68] Hans Gloy, Die deutsche Fischwirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 314-315, hier 314.
[69] Anfang 1934 wurde die „Wirtschaftliche Vereinigung der deutschen Fischwirtschaft“ gegründet, der am 1. April 1935 die „Hauptvereinigung der deutschen Fischwirtschaft“ folgte (Neue Marktordnungen. Für die Fischwirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 398-399). Der werbetreibende Reichsseefischausschuss wurde Ende 1937 durch die Reichsfischwerbung ersetzt, die strikt absatzbezogen agierte (Fritz Reichardt, Die Fischwirtschaft im Vierjahresplan, Braune Wirtschafts-Post 7, 1938, 509-511, hier 510). Zur veränderten ernährungspolitischen Lage s. Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung. Eine Darstellung der ernährungswirtschaftlichen und ernährungswissenschaftlichen Aufgaben unserer Zeit, Dresden und Leipzig 1936, 99-113.
[70] Ziel war ein reichsweiter Pro-Kopf-Konsum von 20 kg pro Jahr (Fortschritte im Fischeinzelhandel, Ruhr und Rhein 20, 1939, 262).
[71] Vgl. etwa Reichert-Facilides, Seefische im Lebensmittelgeschäft?, DHR 28, 1935, 1183-1184; Otto Brenning, Grundregeln für das Fischgeschäft, DHR 28, 1935, 1185-1186; Walter Rosenhain, Lebendige Werbung, DHR 28, 1935, 1192-1193.
[72] Förderung des Seefischabsatzes durch Fischtage, DHR 29, 1936, 179-180.
[73] Vgl. Fischfang tut not, DHR 29, 1936. Die Slogans, die dem Ziel eines nun täglichen Fischverzehrs jedes Deutschen dienen sollten, lauteten etwa: „Mit Fischerzeugnissen können wir unseren Fleisch- und Eiweißbedarf durch inländische Produktion weitgehend befriedigen. Fischkonserven sind gesund, preiswert und wohlschmeckend. Fischkonserven sind tafelfertig. Jeder ißt sie gern infolge ihres pikanten Geschmacks. Fisch ist nahrhaft“ (Ebd.).
[74] [Otto] Brenning, Wie betreibt man den Verkauf frischer Seefische!, DHR 29, 1935, 1092-1093, hier 1092.
[75] Vgl. Franz Hayler, Kaufleute des deutschen Einzelhandels!, DHR 29, 1936, 1211.
[76] F[ranz] Marlow, Der Seefisch und der zubereitete Fisch in der Volksernährung und Volkswirtschaft, Norddeutsche Fischerei-Zeitung 28, 1936, 93-96, hier 95.
[77] Otto Ilchmann, Pflegt das Frischfisch-Geschäft, DHR 30, 1937, 27. Vgl. auch [Franz] Hayler, Frische Fische – gute Fische, Rundschau des Reichsbundes der deutschen Verbrauchergenossenschaften 34, 1937, 473-474.
[78] Neue Wege der Absatzförderung im Fischhandel, DHR 30, 1937, 357.
[79] Seefische und Fisch-Räucherwaren auf Verbilligungsscheine, DHR 30, 1937, 790.
[80] Kritisch hierzu: Hinzunahme von Fisch jetzt genehmigungspflichtig, DHR 31, 1938, 440. Vgl. schon zuvor Genehmigungspflicht für Fische, DHR 30, 1937, 992-993 bzw. Mindestanforderungen für den Fischverkauf, Die Rundschau 35, 1938, 249-250.
[81] Ein Vorbild war dabei sicherlich die „Nordsee“, der größte Fachfilialist im Deutschen Reich. Vgl. Voß, 1939, 60-63.
[82] Heinz Dietmar Petzina, Der nationalsozialistische Vierjahresplan von 1936. Entstehung, Verlauf, Wirkungen, Wiwi. Diss. Mannheim 1965, 230.
[83] Vgl. Hans Mosolff, Steigerung der deutschen Seefischversorgung und ihre Grundlagen, Die Deutsche Volkswirtschaft 6, 1937, 1051-1056, 1087-1089; Ders. (Hg.): Aufbau der deutschen Gefrierindustrie. Handbuch der Tiefkühlwirtschaft, Hamburg 1941.
[84] Vgl. etwa Planvolle Verbrauchslenkung schafft volkswirtschaftliche Werte!, Die Genossenschaftsfamilie 31, 1938, Nr. 5, 13; Das Meer, die freie Kolonie Deutschlands!, ebd. 32, 1939, Nr. 3, 15.
[85] Daten nach D[ieter] Grupe, Die Nahrungsmittelversorgung Deutschlands seit 1925. Eine Auswertung der einschlägigen Statistiken zu vergleichbaren Versorgungsbilanzen. Teil B: Schaubilder und Tabellen, Hannover 1957, 74-75; Spiekermann, 1997, 252.
[86] Vgl. Deutschlands wirtschaftliche Lage in der Jahresmitte 1939. Überreicht von der Reichs-Kredit-Gesellschaft Aktiengesellschaft Berlin, o.O. o.J. (1939) (Ms.), 16.
[87] Der deutsche Einzelhandel in der Kriegszeit. Aus dem Arbeitsbericht der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel für 1939/1941, DHR 35, 1942, 25-26, hier 25.
[88] Beide Zitate n. Vorwort der Schriftleitung in G. v. Hake, Ladenzeiten um Deutschland herum, Edeka. DHR 27, 1934, 569-570, hier 569.
[89] Vgl. etwa das Gedicht „Die Einkaufminute“ (Kladderadatsch 1934, Nr. 35 v. 26.08.), Edeka DHR 27, 1934, 588.
[90] Vgl. F. v. Poll, Anmerkungen zum neuen Automatengesetz, Soziale Praxis 43, 1934, Sp. 1200-1203; Elis-M. Puritz, Was wir Hausfrauen vom Automaten halten, Der Automat 8, 1934, 315-317.
[91] Demnach konnte – unter Beachtung der sonstigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen – an 20 Tagen pro Jahr der werktägliche Ladenschluss bis 21 Uhr ausgedehnt werden, während die morgendlichen Öffnungszeiten des Lebensmittelhandels vor Ort auf 5 Uhr vorverlegt werden durften.
[92] Hanns Stürmer, Sonnabend-Frühschluß im Einzelhandel, DHW 25, 1937, 183-184, hier 183.
[93] Sonnabend-Frühschluß ein vordringliches Problem, DHW 25, 1937, 203; Dr. Schacht zum Sonn-abend-Frühschluß, DHW 25, 1937, 219. Ein Resultat derartiger Arbeit war die „Feierabendschallplatte“ der DAF, mit der die Verbraucher um 18.45 Uhr zum Verlassen des Geschäftes aufgefordert wurden (Die Geschäftszeit ist beendet! Schallplatte der DAF. mahnt die Käufer, DHR 31, 1938, 707).
[94] Vgl. G. v. Hake, Die Neufassung der Arbeitszeitordnung, DHW 26, 1938, 282-284; Ders., Was bringt die Neufassung der Arbeitszeitordnung, DHR 31, 1938, 413.
[95] Vgl. hierzu etwa Zur Frage des Mittagsladenschlusses im Einzelhandel, DHR 32, 1939, 146; Einzelhandel und Mittags-Ladenschluß, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 51, 1939, 250; Kein Mittagsladenschluß, Die Rundschau 36, 1939, 258; E.M. Waldenburg, Urlaubsvertretung für den Einzelhändler, DHR 31, 1938, 96; Th. Klockemeyer, Mittags- und Freizeit für den Einzelhändler, DHR 31, 1938, 212.
[96] Vgl. etwa Sechsuhrladenschluß in Güstrow im Sommer, Die Rundschau 35, 1938, 426.
[97] Die Anordnung des Reichswirtschaftsministers zur Verhinderung von Ladenzeitverkürzungen. Vom 31. Mai 1939, Mehl und Brot 39, 1939, 384. Vgl. auch Nähere Anweisungen zur Verhinderung der Ladenzeitverkürzungen, Mehl und Brot 39, 1939, 400; Ladenzeiten ohne Verkürzung, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1665-1666.
[98] Vgl. Die Geschäftszeit an Verkaufssonntagen, DHR 31, 1938, 1008; Erlass des Reichsarbeitsministers v. 02.07.1938 (Reichsarbeitsblatt 1938, T. I, I240) über den Ladenschluss in ländlichen Gebieten. Zur Ausgestaltung vgl. [Erlass] Betr.: Ladenschluß in ländlichen Gebieten, Reichsarbeitsblatt 1939, T. I, I109-I110; Ladenschluß in ländlichen Gemeinden, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoreien 51, 1939, 174; Der Ladenschluß in ländlichen Gebieten, DHR 31, 1938, 630. 1941 wird die Grenze auf 22 Uhr erhöht ([Erlass] Betr. Ladenschluß in ländlichen Gebieten, Reicharbeitsblatt 1941, T. I, I267).
[99] Vgl. Die Geschäftszeit, 1938.
[100] Verordnung über den Ladenschluß. Vom 21. Dezember 1939 (RGBl. I, S. 2471), Der Vierjahresplan 4, 1940, 68.
[101] G. v. Hake, Das neue Ladenzeit-Recht / Offenhaltungspflicht der Einzelhandelsgeschäfte, DHR 33, 1940, 14.
[102] Deutschbein, Neuregelung des Ladenschlusses, Reichsarbeitsblatt 1940, T. V, V11-V14.
[103] Vgl. F.H. Schmidt, Die Ladenschlußregelung während der Sommerzeit, Reichsarbeitsblatt 1940, T. V, V166-V167; Einheitliche Ladenzeiten, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 506; Ladenschluß, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V557; Keine Schließungen von Lebensmittelgeschäften in der Weihnachtszeit, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V641.
[104] Vgl. Optimale Ausnutzung im Einzelhandel, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 927-928; Schulte-Overberg, Drei Jahre Ladenschlußverordnung, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V654-658.
[105] Vgl. Der Ladenschluß, Mehl und Brot 43, 1943, 237.
[106] Schmidt, 1940, V167.
[107] Paul König, Rückblick und Ausblick. Zum Geschäftsbericht der Edekazentralorganisationen über das Geschäftsjahr 1940, DHR 34, 1941, 211-213.
[108] Für viele Produkte wurden schon früher (Stammkunden-)Listen angelegt, für Kaffee etwa im Februar 1939, vgl. Amtliche Richtlinien für den Kaffeehandel, DHR 32, 1939, 152.
[109] Das Wichtigste über die Neuregelung, DHR 32, 1939, 698-701. Vgl. auch Karl Völker, Die wehrpolitische Haltung des Verbrauchers und der Verbrauchergenossenschaft, Die Rundschau 36, 1939, 397-401.
[110] Angabe n. Paul König, Zum neuen Jahre!, DHR 33, 1940, 561-562, hier 561.
[111] Vgl. hierzu [Hans] Geithe, Die Edeka-Genossenschaften in der Kriegswirtschaft, DHR 32, 1939, 745-746
[112] Vgl. hierzu etwa Hubert Schmitz, Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939-1950. Dargestellt an dem Beispiel der Stadt Essen, hg. v.d. Stadtverwaltung Essen, Essen 1956; Gustavo Corni und Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997.
[113] Ein gutes Beispiel hierfür bietet Lothar Gruchmann, Korruption im Dritten Reich. Die „Lebensmittelversorgung“ der NS-Führerschaft, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42, 1994, 571-593.
[114] Vgl. hierzu Rüdiger Hachtmann, Lebenshaltungskosten und Reallöhne während des „Dritten Reiches“, Vierteljahrsschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 75, 1988, 32-73, hier 57 sowie als Beispiel für den Autohandel Ausschaltung des Schwarzhandels, DHR 32, 1939, 644.
[115] Ehrenrühriger Tauschhandel, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 526-527. Vgl. auch Bekämpfung des Tauschhandels, DHR 35, 1942, 6; Pflichtbewußter Handel, DHR 35, 1942, 30-31.
[116] Gebrauchtwarentauschstellen, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 668.
[117] Tauschstellen des Handels, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 1054-1055. Vgl. auch Errichtung von Tauschzentralen, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 857-858.
[118] Vgl. etwa die Glosse Blick in den Keller, Frankfurter Zeitung 87, 1943, Nr. 385/386 v. 31.07., 3. Als konkretes Beispiel vgl. den Fall eines Schuhwarengeschäftes im Landkreis Bersenbrück, dessen Bearbeitung sich über mehr als ein halbes Jahr hinzog, da die beschlagnahmten Güter von lokalen Handlungsträgern eigenmächtig weiterverteilt wurden (Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 430, Dez. 106, acc. 15/65, Nr. 319, Bd. 1 und Bd. 2).
[119] Vgl. etwa Die neue Verbrauchsregelungs-Strafverordnung, DHR 35, 1942, 34-35, durch die diejenigen mit Gefängnis und Geldstrafe bedroht wurden, die Waren ohne Berechtigung ausgaben bzw. die „Versorgungsberechtigten“ Waren vorenthielten.
[120] „Im ganzen wurde der Handel in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 als unmittelbarer Lieferer für Behörden und Wehrmachtsstellen, als Produktionsverbindungshandel für Betriebe der Industrie und als Versorger der Bevölkerung in die Tiefe der Rüstungswirtschaft eingeschaltet“ (Joachim Tiburtius, Lage und Leistungen des deutschen Handels in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Berlin und München 1949, 47).
[121] Angabe n. Ders., Die Handelsleistung unter staatlichen und korporativen Einwirkungen, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 65, 1942, 559-598, hier 561.
[122] So Robert Nieschlag, Der Weg des deutschen Binnenhandels. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Europa-Archiv 2, 1947, 811-817, hier 815.
[123] Vgl. etwa Das aktuelle Schaufenster, DHR 33, 1940, 202; Dass., ebd., 222 sowie Leere Schaufenster dienen wieder der Werbung, DHR 33, 1940, 401.
[124] Vgl. Die Ware im Fenster, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 587.
[125] Gleichwohl stieg der Lagerumschlag von 1939 auf 1940 teils erheblich (Ausnahme Möbelhandel), insbesondere der Lebensmittel- und Tabakwarenhandel wiesen deutlich bessere Margen auf (s. Tiburtius, 1949, 135).
[126] Joachim Tiburtius, Wettbewerb und Initiative des Handels im Kriege, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 1443-1446, hier 1443.
[127] Vgl. hierzu Bericht der Edekazentrale e.G.m.b.H., DHR 34, 1941, 223-228, hier 223-224.
[128] Vgl. Kriegsverkaufsgemeinschaften, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 259; Erleichterte Verkaufsgemeinschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 412-413.
[129] Bildung von Gruppenarbeitsgemeinschaften im Handel, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 471-472.
[130] Vgl. Betriebsvereinfachung im Lebensmitteleinzelhandel, DHR 35, 1942, 44; F.W. Schulze, Eine Gegenwartsaufgabe 35, 1942, 57-58; Arbeitssparender Verkauf, Frankfurter Zeitung 86, 1942, Nr. 104/105 v. 26.02., 3.
[131] Für die Diskussion kann stehen Werner Johann, Mehl lose oder verpackt, DHR 35, 1942, 77.
[132] Vgl. Einheitspreis als Rationalisierungsfaktor, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 1124-1125, hier 1125.
[133] Vgl. etwa Die Umstellung im Einzelhandel, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 642-643.
[134] Zu den präzisen Vorgaben vgl. Einsatz des Handels im Luftkrieg, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 795-796.
[135] Vgl. Ulrich Kluge, Kriegs- und Mangelernährung im Nationalsozialismus, Beiträge zur historischen Sozialkunde 15, 1985, 67-73.
[136] Vgl. hierzu beispielhaft die Studien von Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, 2. Aufl., Hamburg 1999, insb. 231-371 bzw. Wolfgang Dreßen, Betrifft: »Aktion 3«. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998, 45-61; Martina Krause und Michael Gander, „Arisierung“ des jüdischen Handels und Handel mit jüdischem Besitz im Regierungsbezirk Osnabrück, in: Haverkamp und Teuteberg (Hg.), 2000, 227-243, insb. 237-243.
[137] Vgl. Die Unterstützung der „Stillgelegten“, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 643; Mietbeihilfen für gewerbliche Räume des Handels, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 686-688.
[138] Konzentration im Handel, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 893-894, hier 894.
[139] Otto Friedrich, Im Glauben an Deutschland!, DHR 35, 1942, 17.
[140] So etwa Hartmut Fackler, Gleichgeschaltet – der Handel im Dritten Reich, in: Haverkamp und Teuteberg (Hg.), 2000, 245-255, hier 252-253.
[141] Die Bewirtschaftung – Rückblick und Ausblick!, DHR 33, 1940, 383.
[142] Der Kriegsbeitrag des Einzelhandels, DHR 32, 1939, 737.
[143] Die Waffe Humor, DHR 34, 1941, 8.
[144] Kaufmannskultur im Kriege, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 896.
[145] Vgl. etwa Edeka-Ausstattungsdienst. Ziel: Jedes Edeka-Geschäft ein Musterladen!, DHR 34, 1941, 113-114; W. Müller, Der Edeka-Ausstattungsdienst und die Kriegswirtschaft, DHR 33, 1940, 61-62. An diese Überlegungen wurde in der Nachkriegszeit unmittelbar angeknüpft.
[146] Vgl. etwa Alf Lüdtke, Feingebäck und Heißhunger auf Backwaren. Bemerkungen zum süßen Geschmack im Faschismus, in: Zuckerhistorische Beiträge aus der alten und neuen Welt, Berlin (W) 1988, 399-426
[147] Zur Übergangsphase vgl. Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943-1953, Stuttgart 1990, 23-63. Es ist bemerkenswert, dass die Versorgungsprobleme der unmittelbaren Nachkriegszeit in einer kaum zu überblickenden Zahl vor allem regionaler und lokaler Studien behandelt wurden, dass demgegenüber die Versorgung und der Konsum während der NS-Zeit, auch während des Krieges, nur vergleichsweise geringe Beachtung gefunden haben.

Dieser Beitrag ist die leicht überarbeitete und mit weiteren Abbildungen versehene Fassung eines Manuskriptes, das 2004 unter dem Titel „L’approvisionnement dans la Communauté du peuple. Approches du commerce «allemand» pendant la période nationale-socialiste“ in der Zeitschrift Le Mouvement Social (Bd. 206, 79-114) in französischer Sprache veröffentlicht wurde. Eine deutsche Fassung dürfte hierzulande gewiss passgenauer sein. Auf eine Ergänzung der neuesten Literatur habe ich bewusst verzichtet – auch, weil es zum Einzelhandel während des Nationalsozialismus seither kaum Beiträge gegeben hat.

Einkaufen für eine bessere Welt – Das Frauen-Genossenschaftsblatt 1902-1907

Am Anfang des Frauen-Genossenschaftsblattes stand die Liebeserklärung eines Patriarchen: „Wissen Sie, wie das Frauen-Genossenschaftsblatt sein möchte? Es möchte sein wie Sie, es möchte sein wie unsere Frauen, die still und anspruchslos und bescheiden im häuslichen Kreise ihre Pflicht thun. Das ist wenig, werden Sie sagen, geehrte Frau, und Ihre Lippen lächeln. O nein, das ist viel, das ist unaussprechlich viel! In der Hand der Frauen liegt die Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft“ (Heinrich Kauffmann, Geehrte Frauen, Frauen-Genossenschaftsblatt (FGBl) 1, 1902, 1-2, hier 1). Heinrich Kaufmann (1864-1928) – er legte das doppelte f seines Namens 1903 ab – war kurz nach der Jahrhundertwende der führende Redakteur der deutschen Konsumgenossenschaften. Als Lehrer wegen sozialdemokratischer Umtriebe relegiert, wurde er Zeitungsjournalist, schloss sich der Konsumgenossenschaftsbewegung an, war mehr als zwei Jahrzehnte deren wichtigster Repräsentant. Das Frauen-Genossenschaftsblatt war Teil eines von ihm geprägten rasch wachsenden Verlagswesens, das Nachrichten bündelte, Rat gab, vor allem aber die Mission der Konsumentenbewegung wegbewusst vertrat.

Der Aufschwung der Konsumgenossenschaften und die veränderte Stellung der Frauen

Wie kam es zu Kaufmanns Liebeserklärung an die Frauen? Der Aufstieg der Konsumgenossenschaften in Deutschland war schließlich ein Werk von Männern – Männern, die der scheinbar alternativlosen Fremdversorgung durch Krämer etwas Besseres entgegensetzen wollten, Männern, die mehr für ihren Lohn haben wollten. Handelnd wandten sie sich gegen überteuerte und qualitativ schlechte Lebensmittel, wollten gute Ware für ihr Geld (Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann, Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 150-189, insb. 151-152). Anfangs gingen Arbeiter und Bürger Hand in Hand, mieteten ein Ladenlokal, organisierten Einkauf und Verkauf von Grundnahrungsmitteln. Die Konsumgenossenschaften begannen in der Provinz, in Mitteldeutschland und dem Südwesten. Sie waren Kinder des Liberalismus, wurden in den ersten Jahrzehnten von der aufstrebenden Sozialdemokratie und konservativ-mittelständischen Kräften gleichermaßen bekämpft. Für die einen waren sie die weiße Salbe des Kapitalismus, der erst beseitigt werden müsse, ehe eine gerechte Welt entstehen könne. Für die anderen bedrohten die Konsumgenossenschaften die bestehende festgefügte Ordnung mit dem Handelsstand als Garant der Alltagsversorgung. Es dauerte Jahrzehnte, ehe die seit 1850 lokal entstandenen Vereine ihre teils aus England, teils aus dem deutschen Genossenschaftswesen entlehnten Prinzipen festlegten: Offene Mitgliedschaft, demokratische Verwaltung, Rückvergütung der Überschüsse nach Maßgabe des jeweiligen Einkaufs, beschränkte Verzinsung der Mitgliedseinlage, politische und religiöse Neutralität, Barzahlung beim Einkauf und Förderung der Erziehung der Mitglieder (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 241-247; Michael Prinz, Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, Göttingen 1996, 106-206). Die Konsumgenossenschaften standen gegen das Duckmäusertum der monarchischen Ordnung: In der Genossenschaft war der Mensch frei, Gleicher unter Gleichen. Sie zielten auf eine andere, eine solidarische Produktion und einen fairen Konsum, boten so eine Alternative zum kaum gebändigten Kapitalismus der frühen Industrialisierung.

Vom Theoriehimmel zurück auf den Boden der Tatsachen: Die Konsumgenossenschaften entwickelten sich bis in die 1880er Jahre nur langsam. Gründe hierfür waren nicht nur die Unerfahrenheit der Mitglieder im Handelssektor, sondern auch die rechtlichen Rahmenbedingungen: Vor dem Genossenschaftsgesetz von 1889 haftete jedes Mitglied persönlich für Verluste oder gar den Bankrott der Konsumgenossenschaft. Seither konnte die Haftung beschränkt werden. Erkauft wurde dies mit dem Verbot des Einkaufs von Nichtmitgliedern. Beides begünstigte das Wachstum der Konsumgenossenschaftsbewegung. Nun konnten auch Arbeiter mit geringem Einkommen und wenig Besitz Mitglieder werden, nun mussten die Genossenschaften um diese werben. Die Folge war ein rasches Wachstum der im Allgemeinen Verband Deutscher Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften organisierten Vereine: Von 1888 bis 1900 stieg deren Zahl von 198 auf 568, die der Mitglieder gar von 173.000 auf 522.000 (Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Frankfurt a.M. 1971, 705). Das waren mehr als zwei Millionen Käufer, durfte damals doch nur der Haushaltsvorstand einer Familie beitreten. Zahlreiche nicht organisierte Vereine kamen hinzu, insgesamt gab es im Deutschen Reich mehr als 2000 Konsumvereine (X[aver] Pröbst, Konsumvereine im Jahre 1901, Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 12, 19104, 180-213).

Das Größenwachstum veränderte die innere Struktur der Vereine. Das tradierte Gleichwicht von Bürgern und Arbeitern geriet ins Wanken. Arbeiter, zumal organisatorisch geschulte Kräfte aus der Gewerkschaftsbewegung, übernahmen in immer mehr Vereinen die Mehrheit. Sie aber wollten die Kraft der wachsenden Organisation nutzen, ihnen ging es um mehr als billige Lebensmittel. Sie vertraten „die Vision einer von der Masse der Konsumenten getragenen Veränderung der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse“ (Uwe Spiekermann und Dörthe Stockhaus, Konsumvereinsberichte – Eine neue Quelle der Ernährungsgeschichte, in: Dirk Reinhardt, Uwe Spiekermann und Ulrike Thoms (Hg.), Neue Wege zur Ernährungsgeschichte, Frankfurt a.M. et al. 1993, 88-112, hier 92). Dazu bündelte man einerseits ab 1894 die Einkaufsmacht der Vereine durch die Gründung einer in Hamburg ansässigen Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine (GEG). Anderseits nahmen insbesondere städtische Genossenschaften zuvor vielfach gescheiterte Versuche der Eigenproduktion von Brot und Backwaren, Fleisch und Fleischwaren wieder auf. Als 1899 das Hamburger Gewerkschaftskartell selbstbewusst eine neue Konsumgenossenschaft gründete, war deren programmatischer Name „Produktion“. Es ging nun um den Aufbau einer wirtschaftlichen und sozialen Gegenwelt: „Schaut der Arbeit Kinder geh’n / Stark und frei daher, / schlank und rüstig, ernst und schön, / keine Krüppel mehr“ (Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ zu Hamburg e.G.m.b.H. Geschäftsbericht für das 10. Geschäftsjahr 1908 […], Hamburg o.J. (1909), 119).

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Alternatives Wirtschaften? Die Zentrale der Hamburger „Produktion“ 1903 (Die Produktion in Hamburg, Hamburg 1924, 129)

Und die Frauen? Hausfrauen ohne Mitspracherechte? Kinder, Küche, Konsum? Gemach! Erstens gab es in den 1890er Jahren durchaus aktive Konsumgenossenschafterinnen, zumeist Sozialdemokratinnen mit engen Kontakten zu den Gewerkschaften. Clara Zetkin (1857-1933), noch nicht moskauhörige KPD-Abgeordnete, sondern führende sozialdemokratische Frauenrechtlerin, nannte etwa Adele Gerhard (1868-1956), Helma Steinbach (1847-1918), Fanny Imle (1878-1965) und Gertrud David (1862-1936) (Wie die radikale Frauenrechtelei Chronik schreibt, Die Neue Zeit 20/2, 1901-1902, 292-300, hier 294). Zweitens veränderte sich langsam die rechtliche Stellung von Frauen. Bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 war es Frauen untersagt, ohne Genehmigung ihres Ehemannes Mitglied einer Konsumgenossenschaft zu werden (Erwerb der Mitgliedschaft eines Konsumvereins durch Ehefrauen, Wochenbericht der Großeinkaufsgesellschaft Deutscher Consumvereine (WGEG) 7, 1900, Nr. 24, 4-5; Nr. 25, 5). Konsumgenossenschafter insbesondere in Sachsen wollten dies nicht wahrhaben, doch Gerichtsurteile bestätigten die Zulassung (Die Gleichheit 12, 1902, 23). Damit bot sich zumindest die Chance, eigene Anliegen bei Mitgliedsversammlungen anzusprechen und gar durchzusetzen. Drittens gab es Anregungen von anderen, ausländischen Konsumgenossenschaften. England war europaweit führend, hier hatte sich bereits 1883 eine Frauen-Genossenschaftsgilde gegründet. Schottland folgte 1892. Auch in Belgien, ebenfalls Vorreiter sowohl der Industrialisierung als auch der Genossenschaftsbewegung, wurde 1900 in Antwerpen ein Genossenschafts-Frauenbund etabliert. Heinrich Kaufmann hatte dies begrüßt, wollte aber nicht selbst aktiv werden: „Da schon heute bei uns eine ganze Anzahl hervorragender Frauen eifrige Förderinnen der Genossenschaftsbewegung sind, so kann es doch an geeigneten Personen für eine thatkräftige Initiative nicht fehlen. Jedenfalls muss die Sache von den Frauen selbst in die Hand genommen werden“ (Eine Frauen-Propaganda-Vereinigung für Genossenschaftswesen in den Niederlanden, WGEG 7, 1900, Nr. 40, 8). Im von ihm herausgegebenen Wochenbericht der Großeinkaufsgesellschaft richtete er parallel schon eine Rubrik „Genossenschaftliche Beteiligung der Frauen“ ein.

Viertens stimmte man in einer wachsenden Zahl der männlich dominierten Konsumgenossenschaften darin überein, dass ohne die aktive Mithilfe der Frauen der rasche Aufschwung von Mitgliederzahlen und Umsatz ins Stocken geraten könnte. Wachstum aber schien wichtig, um die Bewegung zu stärken, eine Bewegung, die unter wachsendem Druck stand. Die neuen „Arbeiterkonsumgenossenschaften“ betonten zwar ihre parteipolitische und weltanschauliche Neutralität und wurden von der SPD-Führung nach wie vor als revisionistische Kräfte kritisiert, doch faktisch gab es eine gewisse Sozialdemokratisierung. Die Konsumgenossenschaften standen zugleich unter Druck ihrer Wettbewerber, vor allem mittelständischer Kleinhändler, die staatlichen Schutz verlangten und für Sondersteuern agitierten. Der Allgemeine Verband beschirmte lange Zeit, doch die beherzte Aufbauarbeit der „Arbeiterkonsumgenossenschaften“ der sog. Hamburger Richtung stieß zunehmend auf interne Kritik durch Produktions- und Agrargenossenschaften. 1902 kam es zum Bruch, zahlreiche Konsumgenossenschaften wurden aus dem Allgemeinen Verband ausgeschlossen, noch mehr folgten freiwillig. 1903 schlossen sich diese im Zentralverband Deutscher Konsumvereine zusammen, der zum Erfolg verdammt war, wollte er seine ökonomische Handlungsfähigkeit und öffentliche Stellung zumindest behaupten oder gar ausbauen. Ohne Mithilfe der Frauen schien dies nicht möglich.

Die Gründung des Frauen-Genossenschaftsblattes

Gleichwohl, die Frauen preschten nicht voran. Die durch die Gründung der Hamburger „Produktion“ ausgelöste Debatte über den Stellenwert der Genossenschaften innerhalb der Sozialdemokratie mündete in eher allgemeines Fahrwasser: Es ging nicht um Männer und/oder Frauen, sondern um die praktische Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats, um geschlechtslose Zwischenorgane auf dem langen Weg zur Überwindung des Kapitalismus – so gleichermaßen männliche und weibliche Diskutanten (Gertrud David, Die Konsumgenossenschaft und die sozialistische Theorie, Sozialistische Monatshefte 5, 1899, 112-118; Dies., Die Bedeutung der Konsumgenossenschaft für die wirthschaftliche Entwickelung, ebd., 167-177). Die Konsumgenossenschafter waren in den Augen sozialdemokratischer Revisionisten allerdings eine Avantgarde, just weil sie sich zurücknehmen konnten und bereit waren, kurzfristige materielle Vorteile zugunsten des Aufbaus einer alternativen Einkaufs- und Produktionswelt zurückzustellen: „In den Konsumvereinsläden verkehrt der geistig regsamste Teil unserer Arbeiterschaft“ (Kobelt, Die Konsumvereine im Dienste der Volksbildung, WGEG 8, 1901, 598). Diesen Idealismus galt es für einen gleichsam namenlosen Aufbau zu nutzen: „Das ist das schönste Amt der Geister, / Daß jeder als ein kleiner Meister, / Fürs große Allgemeine wirkt“ (Konsumgenossenschaftliche Rundschau (KR) 4, 1907, 146). Konsumgenossenschafter waren demnach wie Frauen: Selbstverleugnung war ihre Tugend.

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Helma Steinbach und Heinrich Kaufmann (Die Produktion in Hamburg, Hamburg 1924, 136 (l.); Heinrich Kaufmann, Die Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine […], Hamburg 1919, Bildanhang, s.p.)

Praktiker verwiesen dagegen auf die durchaus andere „Realität“: Von hundert Mitgliedern, hieß es in Momenten gedrückter Laune, seien 99 Krämer und nur ein Genossenschafter (Joseph Cernesson, Die genossenschaftliche Erziehung, WGEG 8, 1901, 322-323, hier 322). Doch derartige, primär an materiellen Vorteilen interessierte „Realität“ galt es zu zwingen: Ziel müsse es sein, nicht nur Mitglieder zu gewinnen, sondern diese in Genossenschafter zu verwandeln. Diese Meinung teilten auch Frauen. Helma Steinbach, Mitgründerin und Aufsichtsratsmitglied der „Produktion“, benannte selbstkritisch das Problem: „Wenn heute die Konsumvereine noch nicht überall auf der Höhe stehen, auf der sie stehen sollen, so ist es dem Umstande zuzuschreiben, dass die Frau den Wert der Konsumvereine vielfach noch nicht begriffen hat. […] Im Interesse der Frauen vor allen Dingen liegt die Förderung der Konsumenten-Organisationen, denn die Frauen sind es, die den Hausstand führen und mit ihren Mitteln zu rechnen haben. Vom Standpunkte der Frau darf nichts geschehen, was die Entwicklung der Konsumvereine hemmt.“ Hier wurde ihre Rede auf dem Kreuznacher Genossenschaftstag vom Gelächter männlicher Vertreter der Kreditgenossenschaften unterbrochen. Steinbach setzte fort, wurde dann jedoch niedergeschrien. Mäßigungsforderungen überging der befrackte Mob, denn, so ein wahrer Herr, sie sei „keine Dame, sondern eine Sozialdemokratin“ (Der 43. Allgemeine Genossenschaftstag in Kreuznach, WGEG 9, 1902, 768-779, hier 773).

In diesem Klima der Zurückweisung und des Pöbelns schritten dennoch Männer voran, um eine konsumgenossenschaftliche Zeitschrift für Frauen zu schaffen. Heinrich Kaufmann hatte entgegen seines Verweises auf die Frauen einen ausgefeilten Plan vorgelegt und zur Diskussion gestellt. Agitation, nicht Produktwerbung, schien ihm die Kernaufgabe für das weitere Wachstum zu sein. Diese dürfe jedoch nicht nur bei Leitungskadern stehen bleiben: „Für die Allgemein-Agitation muss ein billiges, gern gelesenes und gutes Massen-Organ geschaffen werden. Dasselbe wird sich vor allen Dingen an die Frauen, als die eigentlichen Trägerinnen der Konsumgenossenschaftsbewegung zu wenden haben. Die Frauen sind es, die für die Konsumgenossenschaftsbewegung nicht bloss materiell, sondern auch ideell gewonnen werden müssen. Die Frauen sind es, welche die Einkäufe machen, welche sich die Mühe geben müssen, in die Verkaufsstellen zu kommen. Nur wenn wir die Frauen gewinnen, können wir den Durchschnittsumsatz, den Umsatz in den Verkaufsstellen und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserer Vereine steigern. Die ideell für die Sache begeisterten und aufgeklärten Frauen sind zugleich die besten und erfolgreichsten Agitatorinnen für die Idee der Konsumgenossenschaftsbewegung. Das zu schaffende Massenorgan muss ein Frauen-Genossenschaftsblatt sein“ (Heinrich Kauffmann, Ein Frauen-Genossenschaftsblatt für die deutschen Konsumvereine, WGEG 8, 1901, 729-730, hier 729 (auch für das folgende Zitat)). Der Aufbau des neuen Organs folgte dem gängiger bürgerlicher Hausfrauenzeitschriften, der Inhalt aber sollte ein anderer sein: Zu Beginn ein genossenschaftlicher Artikel, ein Fortsetzungsroman, Fallstudien aus der konsumgenossenschaftlichen Praxis, Novellen, Gedichte, etwas Kunst, Gemeinnütziges, Lustiges, Rätselhaftes, Spielerisches und dann noch etwas Genossenschaftliches. „Ein solches im genossenschaftlichen Geiste geleitetes Frauen- und Familienblatt (im besten Sinne des Wortes) würde von den Frauen gelesen werden, es würde ihr Blatt sein, sie würden demselben im reichsten Masse ihr Interesse zuwenden. Selbstverständlich würden für die genossenschaftlichen, litterarischen und praktischen Abteilungen des Blattes erste Kräfte als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu gewinnen sein. Für die Frauen unseres Volkes ist das beste nicht zu gut.“

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Parallele Anstrengung: Titelvignette des Schweizer „Genossenschaftlichen Volksblattes“ (Genossenschaftliches Volksblatt 1, 1902, Nr. 2, 1)

Kaufmanns Vorstoß erfolgte in einem Umfeld allgemeiner Bewegung. Zum einen war man im Ausland bereits vorangegangen. In der Schweiz sollte ab Anfang 1902 alle 14 Tage ein populäres „Genossenschaftliches Volksblatt“ in einer Auflage von 40.000 Exemplaren erscheinen (Das »Genossenschaftliche Volksblatt«, das Organ des Verbandes Schweizerischer Konsumvereine, WGEG 9, 1902, 191). Wie im Deutschen Reich ergänzte es die 1901 in „Der Schweizerische Konsum-Verein“ umbenannte Fachzeitschrift „Correspondenzblatt des Verbandes schweizerischer Konsumvereine“. Das neue Volksblatt enthielt einen „Sprechsaal für die Hausfrauen“ und gewann rasch an Auflage und Bedeutung. Als Coopzeitung ist sie heute das reichweitenstärkste Periodikum in der Schweiz. Wichtiger noch dürften die lokalen und regionalen Bestrebungen deutscher Konsumgenossenschaften gewesen sein. In Leipzig wurde schon seit Jahren über ein Informations- und Agitationsblatt für Mitglieder und Interessierte diskutiert. In Hamburg publizierte die „Produktion“ seit 1901 vierseitige „Genossenschaftliche Mitteilungen“. Noch waren diese frühen Kundenzeitungen lediglich eine Mischung aus Preislisten, Bekanntmachungen und Mitteilungen, doch mehr schien möglich. Für die Leitung der Konsumgenossenschaften war dies Hoffnungsschein und Warnzeichen zugleich: Kräftezersplitterung drohte, ein zentrales Blatt schien im Sinne einer einheitlichen Bewegung erforderlich.

Kernproblem blieb jedoch die Finanzierung der „Herausgabe eines 8seitigen, halbmonatlich erscheinenden Frauengenossenschaftsblattes im »Jugend« Format“ (Kauffmann, Frauen-Genossenschaftsblatt, 1901, 729). Als Verkaufszeitschrift wäre die Auflage angesichts der begrenzten Kaufkraft der Mitglieder viel zu niedrig gewesen, wie etwa die sozialdemokratischen Frauenzeitungen „Die Gleichheit“ oder „Arbeiterinnen-Zeitung“ unterstrichen. Gewiss, es gab damals enorm erfolgreiche Illustrierte, etwa „Die Woche“ oder „Illustrirte Zeitung“, doch deren Anzeigeneinkünfte waren nicht nur aufgrund der relativen Werbeabstinenz der Konsumgenossenschaften undenkbar. Erfolgreiche Frauenzeitungen, etwa „Der Bazar“ oder aber „Vobachs Frauen- und Modenzeitung“ zielten auf ein zahlungskräftigeres mittelständisches Klientel, dessen Interessen und Sorgen doch deutlich andere waren.

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Für den bürgerlichen Haushalt: Titelvignette einer gängigen Hausfrauen-Zeitung der Jahrhundertwende (Das Blatt der Hausfrau 11, 1909, H. 8, 173)

Entsprechend entschied man sich bei der Großeinkaufsgesellschaft für eine von den lokalen Konsumgenossenschaften zu bezahlende Gratiszeitschrift für Mitglieder. Die Rechnung war einfach: Die Kosten würden bei etwa 0,1% bis 0,15% des Umsatzes liegen, doch diese Investition sich rasch amortisieren, wenn der Umsatz pro Leser erwartungsgemäß ansteigen würde. Im Interesse der lokalen Genossenschaften optierte man nicht für ein überall identisches Druckorgan, sondern für eine Mantellösung. Die abonnierenden Einzelvereine hatten die letzte Seite auf Selbstkostenbasis zur freien Verfügung, konnten dergestalt Preislisten, Ankündigungen oder Nachrichten zielgenau für ihre Mitglieder einbinden. Eine Werbezeitung mit Niveau, lokal gefärbt: So war das Angebot.

Es folgte eine reichsweite Werbung für den Plan – und die Resonanz war großenteils positiv. Zusagen wurden gemacht, eine Auflage von 90.000 Exemplaren war nach kurzer Zeit gesichert. Anfang 1902 entschloss sich der Aufsichtsrat der Hamburger Großeinkaufsgesellschaft zur Tat, zur Herausgabe des Frauen-Genossenschaftsblattes in einer Auflage von mindestens 100.000 Exemplaren (Die Herausgabe des Frauen-Genossenschaftsblattes, WGEG 9, 1902, 27). Für die Leitungskader war dies eine wichtige Wegmarke hin zu einer besseren, gerechteren Gesellschaft: „Mit unseren Augen sehen wir hier das Wachsen und Werden einer neuen volkswirtschaftlichen Organisation. Wir sehen, wie sich Knospe an Knospe, Zweig an Zweig fügt, wir sehen die innere Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit des volkswirtschaftlichen Werdens in gleicher Weise, wie wir in der Natur die wunderbare Gesetzmässigkeit in dem Aufbau der organischen Wesen bewundern“ (Heinrich Kauffmann, Die Grosseinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine im Jahre 1901, WGEG 9, 1902, 282-284, 302-304, hier 282).

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Selbstermunterung in der Konsumvereinspresse (WGEG 8, 1901, 773)

Der Ankündigung folgte obligate Zustimmung in den Publikationen der Großeinkaufsgesellschaft. Landwirtschaftliche Genossenschaften begrüßten derart rührige genossenschaftliche Agitation (Das Frauen-Genossenschaftsblatt und die landwirtschaftliche Genossenschaftsbewegung, WGEG 9, 1902, 9). Der Heidelberger Genossenschafter und Nationalökonom Max May hoffte auf rasches Wachstum, gar auf eine künftige „Millionenauflage“ (Max May, Propaganda für Konsumvereine, WGEG 9, 1902, 42-43, hier 43). Dazu müsse man die Zeitschrift allerdings weiter verbreiten, sie in Wirtschaften und Lesezimmern auslegen, der Allgemeinheit zugänglich machen. Auch der SPD-Reichstagsabgeordnete Heinrich Pëus (1862-1937) – der 1925 zusammen mit dem DDP-Oberbürgermeister Fritz Hesse (1881-1973) die Übersiedlung des Bauhauses nach Dessau ermöglichen sollte – begrüßte das Frauen-Genossenschaftsblatt „mit tausend Freuden“ (Konsumvereine und Lokalpresse. (Eine bescheidene Antwort.), WGEG 9, 1902, 128-129, hier 129). Doch warnend fügte er hinzu, dass der Ausbau einer konsumgenossenschaftlichen Presse nicht dazu führen dürfe, deren Anliegen in der Lokalpresse zu vernachlässigen, sich also von der Allgemeinheit säulenhaft abzuschotten. Generell dominierte die Freude über „einen beispiellosen Erfolg der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung“ (WGEG 9, 1902, 26). Anfang April hatten 127 Vereine 120.000 Stück geordert, die Druckauflage der ersten Ausgabe betrug stattliche 153.000 Exemplare.

Die imaginierte Hausfrau und Konsumentin

Bevor wir näher auf den Inhalt und die weitere Entwicklung des Frauen-Genossenschaftsblattes eingehen, gilt es die damaligen Vorstellungen von Hausfrauen und Konsumentinnen in der Sozialdemokratie und der Konsumgenossenschaftsbewegung kurz zu beleuchten. Dazu fehlt Forschung (zu Österreich vgl. Andrea Ellmeier, Handel mit der Zukunft. Zur Geschlechterpolitik der Konsumgenossenschaften, L‘Homme 6, 1995, 62-77, insb. 66, mit Schwerpunkt auf den späten 1920er Jahren), im Gegensatz etwa zur objektiv recht unbedeutenden bürgerlichen Konsumentenbewegung. Festzuhalten ist, dass aus Sicht der Genossen erstens Klassengegensätze generell dominierten. Solidarität unter Frauen oder auch nur deren einheitliche Interessenartikulation waren in einer kapitalistischen Gesellschaft daher kaum möglich. Die Unterdrückung der Arbeiterfrau war auch eine Unterdrückung durch bürgerliche Hausfrauen, die breit diskutierte Ausbeutung von Dienstbotinnen schien dafür ein beredtes Menetekel.

Zweitens aber dominierte produktivistisches Denken: Frauen wurden als tätig, als schaffend angesehen, weit erhoben von der allein konsumierenden bürgerlichen Hausfrau: „Das Kapitalistenweib ist etwas Ueberflüssiges im Vergleich zur Bürgerin der ‚guten alten Zeit.‘ Damals, als die Produktion für den Hausbedarf wesentlich häusliche Produktion war, hatte das Eheweib einen wirthschaftlichen Zweck, nämlich den, diese Produktion zu leisten oder wenigstens zu leiten. Aber heute, in dem Zeitalter der Bäcker-, Butter-, Schlächter-, Wurst-, Kolonialwaaren-, Posamenten- und Kleiderläden, heute, wo es für die wohlsituirte Hausfrau nichts zu backen, zu buttern, zu schlachten, zu wursten, zu spinnen, zu weben und zu schneidern giebt, und wo das Bischen, was von häuslicher Produktion übrig geblieben ist, von Köchinnen, Stubenmädchen, Wäscherinnen, Plätterinnen und Schneiderinnen besorgt wird, heute, wo die ‚höhere Tochter‘ ‚j’aime‘ und ‚es‘, Kunstgeschichte und Erüden, Mythologie und Komplimentirbuch zu studiren hat – heute ist die ‚Hausfrau‘ in wirthschaftlicher Hinsicht ziemlich überflüssig, und dies am meisten in der wohlhabenden Welt“ (Sozialistische Spaziergänge, Berliner Volks-Tribüne 1890, Nr. 19 v. 5. Mai, 5-6, hier 5). Die Arbeiterfrau war dagegen weiterhin produktiv, nicht nur aufgrund der vorrangig diskutierten außerhäuslichen Erwerbsarbeit, erforderlich aufgrund der vermeintlich üblichen Hungerlöhne der männlichen Familienernährer. Sie hatte zudem mit dem wenigen umzugehen, daraus das Beste zu machen. Arbeiterhaushalte waren daher Leidensgemeinschaften: „An jedem Talerstück, das in dem Geldbeutel der Hausfrau kommt, hängt Schweiß und Blut des Mannes, hängt alles, was die kapitalistische Ausbeutung an ihm sündigt. Und an jedem Zehner, der aus dem Haushalt geht, hängt die Mühe und Sorge der Frau, und was sie leiden und entbehren muß, dank der heutigen Ordnung oder richtigen Unordnung“ (Wilh[elm] Bechstein, Aus der Bewegung, Die Gleichheit 16, 1905, 94).

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Der Konsumverein als Schutz vor kapitalistischen Profitjägern (FGBl 1, 1902, 106)

Drittens verdichteten Konsumgenossenschafter diese unterschiedlichen (und doch ähnlichen) Unterdrückungserfahrungen von Männern und Frauen in die Idee einer doppelten Ausbeutung, wie sie ja sowohl im marxistischen als auch im liberalen Denken seit langem diskutiert worden war: Als Verkäufer der Ware Arbeitskraft wurden sie ebenso ausgebeutet wie als Käufer von Waren. Vereinzelt waren sie dagegen schutzlos, den Marktmechanismen als Produzent und als Konsument ausgeliefert. Erst Kollektivorganisationen der Schwachen konnten Abhilfe schaffen: „Gerade so gut, wie der Arbeiter durch Gewerkschaften zu Disziplin und Solidarität erzogen wird, muß er durch Genossenschaften zur Erkenntnis und zur Vertretung seiner Interessen als Konsument erzogen werden. […] Konsumenten-Erziehung – so heißt die Parole der Gegenwart!“ (Franz Laufkötter, Konsumentenerziehung, KR 3, 1906, 223-224)

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Der ausgebeutete Konsument (FGBl 1, 1902, 105)

Viertens stand hinter dieser Parole die Vorstellung von der Arbeiterfrau als konsumtives Mängelwesen. Ebenso wie sich die Männer in der Produktionssphäre durch tradierte Vorstellungen von Arbeitsehre, handwerklicher Schaffenskraft und vermeintlich gleichlaufenden Interessen von Unternehmern und Arbeiterschaft vom Kern des Klassenkonfliktes abbringen ließen, ließen sich Frauen im Konsumsektor darüber hinwegtäuschen, dass auch die Händler primär Ausbeuter waren. Konsum war ein Ringen um knappe Ressourcen. Darüber durfte Reklame, durfte die Umgarnung durch beredte Kleinhändler/innen und abhängige Verkäufer/innen nicht hinwegtäuschen. Getragen von vielfach auch antisemitisch konnotierten Vorstellungen von Ausbeutung auf der gesamten Wertschöpfungskette, schien ein Bruch mit der kapitalistischen Wirtschaft erforderlich. Das unterschied die engagierten Konsumgenossenschafter von der damals sich langsam entwickelnden bürgerlichen Konsumentenbewegung. Deren Ziel war die Versittlichung des Konsums, nicht aber der Aufbau einer konsumtiven Gegenwelt. Gewiss, damit konnten begrenzte Verbesserungen erzielt werden, seien es Sitzgelegenheiten für Verkäuferinnen in den Läden, seien es verbesserte Arbeitsbedingungen für Heimarbeiterinnen (Julie Eichholz, Die Genossenschaftsbewegung und die Frauen, Neues Frauenleben 16, 1904, Nr. 12, 12-15; Gabriele Werner, Konsumenten-Moral, ebd. 18, 1906, Nr. 6, 5-14). Doch derartige Fürsorge – so die Kritik – sei vorrangig Ausdruck moraltriefender Selbstbeweihräucherung des Bürgertums, richte sie sich doch nur auf Symptome der Ausbeutung, nicht aber auf deren Ursachen.

Die Vorstellung der (Arbeiter-)Frau als konsumtives Mängelwesen wurde fünftens jedoch mit dem Aufbauwerk der Konsumgenossenschaften verbunden, denn nur so war sie wirkmächtig, nicht denunzierend. Das erforderte Erziehungsarbeit einer Avantgarde, denn die objektiven Lebensumstände standen reflektiertem Erkennen und Handeln entgegen: „Die Arbeiterfrau hat für ihre Wirtschaft in der Regel wenig Zeit. Gleich dem Manne steht sie mitten im Erwerbsleben. Sie muß mitkämpfen im Kampf um Brot, das schmale Einkommen zu erhöhen. Von früh bis spät muß sie sorgen und schaffen, der Haushalt wird so gut oder schlecht es eben geht, ‚nebenbei‘ im Fluge besorgt. Müde und abgehetzt kommt sie mittags auf ein paar Minuten in die Küche, um rasch in atemloser Hast das Mittagsmahl herzurichten“ (Das Dörrgemüse, Frauen-Genossenschaftsblatt (FGBl) 2, 1903, 189-190, hier 190). Die beklagte Rückständigkeit der Frauen war also erklärbar, folgerte aus ihrer Doppelbelastung und ihrer doppelten Ausbeutung. Just diese Rückständigkeit galt es zu durchbrechen. Die Nationalökonomin Henriette Fürth (1861-1938) – sozialdemokratische Propagandistin einer einheitlichen, nicht in Arbeiterinnen und Bürgerliche getrennten Frauenbewegung – plädierte entsprechend für Realismus, für eine Konsumentinnenerziehung, die persönlichen Nutzen und gesellschaftliche Fortentwicklung miteinander verband: „Sagt uns denn nicht das kleinste Nachdenken, daß eine Vereinigung, die keinen privaten Nutzen herauswirtschaften, sondern nur im Interesse der Vereinigten selbst tätig sein will, unbedingt leistungsfähiger ist als der privatwirtschaftende Krämer, der dazu nicht selten durch Zahlungsschwierigkeiten mannigfacher Art beim Einkauf gehemmt ist? […] Die einsichtige Hausfrau muß sich darüber klar sein, daß der Großeinkauf unendliche Vorteile bietet gegenüber der Erstehung in kleinen und kleinsten Quantitäten, und nichts anderes als Großeinkauf der Kleinen, als die zusammengefaßte Macht der wirtschaftlich Schwachen ist der Konsumverein“ (Henriette Fürth, Konstituierender Genossenschaftstag in Dresden, Die Gleichheit 13, 1903, 100-101, hier 101).

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Sehnsucht nach Ruhe und Zwang zum Handeln: Titelvignette (FGBl 1, 1902, 81)

Doch wie aus der Begrenztheit kurzfristiger Nutzenkalküle hinauskommen, wie die Tür hin zur langfristig erstrebenswerten Gemeinwirtschaft öffnen? Das Frauen-Genossenschaftsblattes sollte hierauf eine Antwort geben. Wie in der allgemeinen konsumgenossenschaftlichen Agitation vertraute man auf eine Mischung von volkswirtschaftlicher Aufklärung einerseits, der Moralisierung des alltäglichen Einkaufs anderseits. Dazu hielt man den Käufern, hielt auch der Organisation selbst einen Spiegel vor: Kritisiert wurde „gieriges Haschen nach Überschüssen, die sogenannte Dividendenjägerei“, da derartiger Eigennutz Kapitalismus in Reinkultur sei. Das galt auch für Konsumvereine, die „sich als Arbeitgeber schäbigster Art beweisen und durch unwürdige Lohn- und Arbeitsbedingungen die Überschüsse in die Höhe zu treiben“ (Simon Katzenstein, Die Konsumgenossenschaft als wirtschaftliches Erziehungsmittel, Die Gleichheit 16, 1906, 8-9, hier 9 (beide Zitate)) versuchten. Kontrastiert wurde dies mit einer licht ausgemalten konsumtiven Gegenwelt, getragen von Flaggenbegriffen wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde. All dies war ernst gemeint, doch die Genossenschafter wussten zugleich um die konstitutive Kraft ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Das Frauen-Genossenschaftsblatt wollte aufklären und unterhalten, anregen und die Sinne weiten. Ökonomisch aber war es Teil des wirtschaftlichen Ausbaus der konsumgenossenschaftlichen Organisation, war PR und zwingend gebotene Intensivierung: „Sehr wenige Hausfrauen erzielen im Konsumverein einen Umsatz von mehr als 200 bis 300 Mark im Jahre. Fast jede aber könnte, wenn sie wirklich alle Bedarfsartikel im Konsumverein einkaufen würde, einen Umsatz von 400 bis 600 Mark erzielen, also ihren Umsatz verdoppeln. Eine Verdoppelung des Umsatzes hat denselben Effekt, wie eine Verdoppelung der Mitgliederzahl und würde eine gewaltige Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Konsumvereine bedeuten“ (Heinrich Kaufmann, Die Ueberlegenheit der Konsumvereine, FGBl 2, 1903, 161-162, hier 161).

Struktur und Mitarbeiter des Frauen-Genossenschaftsblattes

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Werbung für die Zeitschriften der GEG durch eine Berliner Konsumgenossenschaft (Vorwärts 1902, Nr. 229 v. 1. Oktober, 7)

„Das treffliche Frauen-Genossenschaftsblatt“ (Zürcher Wochen-Chronik 1904, Nr. 34 v. 20. August, 269) besaß eine klare, jede Ausgabe prägende Struktur und ein einheitliches Erscheinungsbild. Die Zeitschrift war illustriert, doch keine Illustrierte. Sie enthielt Graphiken und Zeichnungen, nicht aber Photographien. Zugleich fehlten Werbeanzeigen, zumindest solche für nicht konsumgenossenschaftliche Waren. Damit distanzierte man sich auch von dem Schweizer „Genossenschaftlichen Volksblatt“, das seit Anfang 1903 Anzeigen auch der privatwirtschaftlichen Konkurrenz schaltete (Genossenschaftliches Volksblatt 2, 1903, Nr. 3, s.p. (3)).

Das Frauen-Genossenschaftsblatt wies Nummer für Nummer gleichbleibende Rubriken auf. Am Anfang stand erstens ein einführender Artikel erzieherischen oder aber agitatorischen Charakters. War dieser kürzer, also nur eine Seite lang, so wurde er häufig ergänzt durch einen weiteren kurzen Artikel über konsumgenossenschaftliche Themen. Die Leitartikel erläuterten, benannten, boten Informationen, waren jedoch durchweg aus Sicht der Leitungskader geschrieben. Diskussionen erfolgten nicht, wenngleich eine belesene Zeitgenossin die Artikel gewiss in den damaligen Diskussionskontext hätte einbetten können. Die einführenden Artikel präsentierten die große Welt und die kleine Aufbauarbeit aus Sicht der Konsumgenossenschaften. Sie boten Lesarten an, grenzten sich ab von den Anwürfen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegenspieler, insbesondere mittelständischen Einzelhändlern, aber auch den großkapitalistischen Antipoden, etwa den Warenhäusern oder aber Filialbetrieben. Derartige Deutungen sollten natürlich den Einkauf auf die eigenen Geschäfte lenken, sollten Argumente für Debatten auch des Alltags liefern. Wichtig war aber zugleich eine Horizonterweiterung: Stolz auf die eigenen Einrichtungen war allgegenwärtig, die Leserin konnte sich als Teil einer Heilsbewegung verstehen. Dazu dienten nicht nur Zeichnungen von Zentralen und Geschäften konsumgenossenschaftlicher Betriebe, sondern auch biographische Verweise. Rollenvorbilder wurden präsentiert, darunter sehr selten auch Frauen. Das waren säkularisierte Heilsgeschichten voller Bekennermut und Glaubensfestigkeit.

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Vorbilder: William Maxwell (1841-1929), führender Repräsentant der Scottish Co-operative Wholesale Society (FGBl 3, 1904, 45) und die Genossenschafterin und Schriftstellerin Adele Gerhard (FGBl 1, 1902, 5)

Es folgten zweitens Erzählungen. Meist handelte es sich um Fortsetzungsgeschichten, nicht allzu lang, nicht allzu schwer. Klassische Autoren dominierten, solche des 19. Jahrhunderts, keine Revolutionäre. Die Erzählungen waren meist konkret, naturalistische Darstellungen dominierten, Herz-Schmerz war seltene Ausnahme. Sozialdemokratischen Autoren bot man ein Forum, etwa dem Dichter und Schriftsteller Ludwig Lessen (1873-1943). Für eine reichsweit vertriebene Zeitschrift war zudem bemerkenswert, dass norddeutsche Autoren, wie etwa Timm Kröger (1844-1918), überdurchschnittlich zu Worte kamen. Auch ausländische Autoren band man ein, etwa den französischen Dramatiker Leon Xanrof (1867-1953) oder den spätere Literaturnobelpreisträger Henrik Pontoppidan (1857-1943). Autorinnen waren Ausnahmen, beispielsweise Margarethe Wolff-Meder und Elisabeth Fischer-Markgraff. Insgesamt boten die Erzählungen durchaus Erbauung, hoben sich jedoch von den Kolportageträumen bürgerlicher Hausfrauen- und Familienzeitschriften ab. Man setzte auf Bildungsgut literarischer Art. Die Konsumgenossenschaften verstanden sich als Bildungsbewegung, Gedichte und Aphorismen fanden sich auch im Geschäftsbetrieb der Genossenschaftstage und Kaderpublikationen. Spezifisch weibliche Themen – wenn es diese in einer konsumtiven Emanzipationsbewegung denn geben sollte – wurden jedoch nicht behandelt.

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Populäre Stoffe, keine revolutionäre Literatur: Weihnachtsangebot an die Leserinnen (FGBl 5, 1906, 167)

Der Literatur folgten drittens Nachrichten aus den Konsumgenossenschaften. Dabei handelte es sich häufig um Berichte aus einzelnen Genossenschaften, insbesondere aus Mitteldeutschland. Auch hier ging es um Vorbilder, um einen realen Abglanz des Erstrebten. Dabei blickten die Autoren wieder und wieder über die Grenzen des deutschen Vaterlandes hinaus. Die Schweiz galt als Land des pragmatisch Machbaren, das eigentliche Vorbild aber bildeten die britischen Konsumgenossenschaften. In England und auch in Schottland waren eben schon Teile dessen erreicht, was man im Deutschen Reich erst schaffen wollte. Das war gewiss Männerwerk, doch die Fabian Society und insbesondere die Sozialreformatorin und Konsumvereinstheoretikerin Beatrice Webb (1858-1943) wurden immer wieder erwähnt.

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Vorbild Großbritannien: Konsumgenossenschaftliche Zentralinstitutionen im englischen Leeds (FGBl 4, 1905, 76)

Erst danach folgte viertens Informatives und Erzieherisches zu Hauswirtschaft, den Kindern oder einzelnen Konsumgütern. Hier deckte sich das Frauen-Genossenschaftsblatt vielfach mit ähnlichen, dann jedoch ausführlicheren Sektionen in bürgerlichen Frauen- und Familienzeitschriften. Der Kindeserziehung wurde viel Platz eingeräumt, reformpädagogisches Denken war gepaart mit Verweisen auf Klassiker wie etwa Karl Friedrich Fröbel (1807-1894) und dessen Onkel Friedrich Wilhelm August Fröbel (1772-1852). Zugleich informierte man über die verschiedenen Reformbestrebungen der Jahrhundertwende, etwa die vielgestaltige Kleiderreform.

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Alternativen am Leibe: Reformkleidung (FGBl 2, 1903, 133 (l.); ebd. 3, 1904, 109)

Es folgten dann kürzere Sektionen, teils nur eine Spalte lang, stets aber eingeleitet durch einschlägige graphisch gestaltete Rubrikenüberschriften. Da gab es fünftens die genossenschaftliche Übersicht, vornehmlich Jahresbilanzen und Nachrichten aus den verschiedenen Kämpfen der Konsumgenossenschaftsbewegung. Dies diente der Information, auch der Benennung der Gegner. Zugleich bestärkte die Rubrik die Grundhaltung, Kämpferin für eine gute Sache zu sein, sich gegen die alltägliche Ungerechtigkeit mit dem Einkaufskorb unterm Arm wenden zu können. Sechstens folgte die Rubrik Rezepte und hauswirtschaftliche Winke, die überraschend kurz ausfiel, nur etwa fünf Speisen pro Ausgabe behandelte. Dabei dominierten einfache und schnell zuzubereitende Gerichte. Die Rezepte enthielten kaum Produktwerbung, gewiss auch Reflex des noch nicht weit ausgebildeten Eigenmarkenangebots der Konsumgenossenschaften. Vereinzelt wurden allerdings die Grenzen zur Privatwirtschaft durchbrochen, etwa bei Verweis auf die Küchenhelfer von Maggi (FGBl 2, 1903, 167). Auch hier vermittelte man der arbeitenden Hausfrau praktische Kenntnisse, etwa durch Hinweise auf preiswerte Kochkisten, mit denen sie ein vorgekochtes Gericht kostengünstig weiterkochen lassen konnte. Dass dabei ein Großteil der Vitamine zerstört wurde war damals noch nicht bekannt.

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Hauswirtschaftliche Erläuterungen: Vorstellung der Kochkiste (FGBl 5, 1906, 60)

Es folgten siebtens die Rubriken Rätsel und Scherze, die kurzweilige Ablenkung boten, und achtens vermischte Nachrichten. Dabei mag man ursprünglich an ein Forum auch für Leserinnen gedacht haben, doch zunehmend handelte es sich um Informationen der Redaktion über verschiedene konsumgenossenschaftliche Themen.

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Rubrikenüberschriften (FGBl 1, 1902, 7)

Die letzte, die achte Seite blieb der lokalen Konsumgenossenschaft vorbehalten und diente der Information der Mitglieder. Wurde es nicht genutzt, so wurden vermischte Nachrichten ergänzt.

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Beispiel für die Werbeseite der abonnierenden Konsumgenossenschaften (FGBl 1, 1902, 16)

Fasst man zusammen, so verband das Frauen-Genossenschaftsblatt eine dezidiert institutionelle Perspektive mit der Lebenswelt ordentlicher Arbeiterinnen. Es zielte nicht auf Proletarierinnen, nicht auf revolutionäre, sondern auf evolutionäre Veränderungen. Es war Teil und Ausdruck des sozialen Aufstieges hunderttausender Arbeiter und Arbeiterinnen, nutzte liberale und bürgerliche Elemente, ging aber nicht vollends in Theoremen der Verbürgerlichung auf. Das Frauen-Genossenschaftsblatt war ein Versuch, die männliche Welt der konsumgenossenschaftlichen Organisationen mit der Lebenswelt der Hausfrauen zu verbinden. Das gelang nur teilweise, denn der erzieherisch-fordernde Charakter der Artikel gewann im Laufe der Jahre an Bedeutung, während der Umfang konkreter Hilfestellungen für den Haushalt tendenziell abnahm. Diese bedingte Vermännlichung des Inhalts spiegelte sich auch in den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Frauen-Genossenschaftsblattes.

Neben Heinrich Kaufmann, dem verantwortlichen Redakteur und regelmäßigen Artikelschreiber prägte vor allem der Hamburger Maler Heinrich Rudolph das Blatt, schuf er doch eine bei anderen Zeitschriften sehr seltene Einheitlichkeit des Frauen-Genossenschaftsblattes. Das betraf nicht allein die jeweils variierten Titelvignetten, die Rubrikenüberschriften und stimmungsvolle Zeichnungen. Angesiedelt zwischen Naturalismus und Jugendstil schuf Rudolph eine idealisierte Traumwelt mit Natur und Frauengestalten, mit Versatzstücken von Märchen und Landschaftsmalerei. Kurzum, hier wurde der Idealismus der Konsumvereinsbewegung visuell gebannt. Rudolph prägte zudem viele Druckwerke der Verlagsanstalt des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine(KR 1, 1904, 825), seien es deren Preislisten oder aber die erste Selbstdarstellung der Großeinkaufsgesellschaft.

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Ein anderes Leben: Titelvignette (FGBl 4, 1905, 41)

Die große Mehrzahl der Mitarbeiter waren Männer. Dabei handelte es sich zumeist um Genossenschafter, etwa den Sozialphilosophen Franz Staudinger (1849-1921), den Schweizer Konsumgenossenschaftstheoretiker Hans Müller (1867-1950), den Heidelberger Kaufmann Max May oder den Journalisten Martin Krolik. Hinzu kamen sozialdemokratische und gewerkschaftliche Vertreter, etwa Emil Krause (1870-1943), Franz Laufkötter (1857-1925) oder Heinrich Pëus. Zu nennen sind ferner Schriftsteller und Dichter, etwa Georg Breuker (1876-1964) oder Ernst Lime (d.i. Emil Utitz, 1883-1956). Weitere Namen wäre zu nennen – Johannes Ernst, Heinrich Hinze, G. Jährig, P. Straelen, E. Wetzleben –, doch diese sagen nur noch Spezialisten etwas. Das gilt selbst für den Nationalökonom Reinhold Riehn, damals kampferprobter Streiter für die Konsumgenossenschaften. Alle diese Männer verkörperten pragmatische Reformpolitik, angesiedelt im weiten Bereich zwischen Liberalismus und Sozialismus. Das galt auch für den Architekten und Kunsttheoretiker Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), unabhängig von seiner späteren Wendung zum Völkisch-Nationalen und zum Nationalsozialismus. Summa summarum war dies eine ausdrucksstarke Gruppe, die für 10 Pfennig Zeilengeld und mögliche Extrahonorare Artikel beisteuerte (Blaetter für die gesamten Staatswissenschaften 4, 1908, 126). Einige der Konsumgenossenschafter waren auch fest beschäftigt, wenngleich eher beim Wochenbericht der Großeinkaufsgesellschaft bzw. dessen 1904 gestarteten Nachfolger Konsumgenossenschaftliche Rundschau.

Und wo waren die Frauen im Frauen-Genossenschaftsblatt? Nun, es gab sie. Und mit Gertrud David, Henriette Fürth und Fanny Imle schrieben zu Beginn wahrlich führende Genossenschafterinnen einzelne Artikel. Doch nach etwa einem Jahr wurden Autorinnen Ausnahmen. Zu erwähnen sind Alice Matz, die Frauenrechtlerin Auguste Staudinger (1852-1944) sowie vor allem die Hamburger Schriftstellerin Marie Bessmertny (1854-1934), deren Ideal der Frau jedoch just aus Schillers „Lied von der Glocke“ stammte (FGBl 3, 1904, 46). Damit lag der Autorinnenanteil des Frauen-Genossenschaftsblattes deutlich unter dem bürgerlicher und konfessionell gebundener Frauen- und Hauswirtschaftszeitungen. Das Frauen-Genossenschaftsblatt war als Blatt für Frauen gedacht, doch es wurde vorrangig von Männern geschrieben.

Frauen-Genossenschaftsblatt und Arbeiterpresse

Die konsumgenossenschaftliche Melange traf keineswegs auf allgemeine Unterstützung. Widerstand kam nicht zuletzt von den vermeintlichen Bundesgenossen in der SPD. Die Sozialdemokratisierung der im Zentralverband organisierten Konsumgenossenschaften darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter dem breiten Deckmantel der SPD sehr heterogene Kräfte gärten, die durch die Parteiführung um August Bebel (1840-1913) nur mühsam zusammengehalten wurden. Die erst 1910 erfolgte parteiamtliche Anerkennung der Konsumgenossenschaften als eine Säule der Arbeiterbewegung überrascht daher nicht. Gerade in Sachsen wurde das rote Banner der Revolution hoch gehalten. Unbedingte Sozialisten hielten den Aposteln des Genossenschaftswesens Versimpelung und Verflachung der marxistischen Theorie vor: „Damit vernichten sie oder erschweren wenigstens ganz ungemein die mühsame Arbeit der Aufklärung, welche die Partei seit Jahrzehnten mit langsamem, aber schönem Erfolge betreibt; damit hindern sie die Arbeit, welche die Erkenntnis der wirklichen Ursachen der sozialen Krankheit zum Ziele hat; damit rücken sie von den Bestrebungen ab, die Krankheit zu heilen, und kehren wieder zum bloßen Herumkurieren an Symptomen zurück, vom sozialistischen Standpunkt zum liberalen. […] So können diese Lehren mit ihrer selbstgefälligen Hervorkehrung des sogenannten ‚praktischen‘ Standpunktes, mit ihrer ostentativen Verachtung aller gründlicheren theoretischen Durchbildung allerdings dazu führen, die Arbeitermassen vom Sozialismus ab und einem halben, schwächlichen Reformismus zuzuwenden“ (Ueber Genossenschaftswesen, Leipziger Volkszeitung 1902, Nr. 177 v. 4. August, 1-2, hier 2). Zeithistorisch mochte derartige Radikalität nachvollziehbar sein, denn während SPD-Kandidaten 1898 die große Mehrzahl der Reichstagssitze in Sachsen gewonnen hatten, verloren sie aufgrund des zuvor verschärften Dreiklassenwahlrechtes 1901 ihr einziges Mandat in der 2. Kammer der sächsischen Ständeversammlung. Gut-Böse-Schemata dominierten, schlossen die „Hamburger Neutralität“ aus, mochte diese auch aufgrund des Genossenschaftsgesetzes erforderlich sein. Die Vorwürfe waren hart und zermürbend: Konsumgenossenschaften seien profitorientierte Unternehmen, deren einziger Vorteil für die Proletarier etwas preisgünstigere Lebensmittel seien. Ein utopisch-emanzipatorisches Ziel wurde verneint, die Druckwerke des Zentralverbandes galten als „verdummend“ und gegen die „Aufklärungsarbeit der Partei“ (Ueber Genossenschaftswesen, Leipziger Volkszeitung 1902, Extraausgabe v. 19. November, 1-2, hier 1) gerichtet. Doch es kam noch ärger, hieß es doch zum Frauen-Genossenschaftsblatt: „»Die prächtige Gelegenheit, proletarische Literatur unter die Arbeiterfrauen zu bringen, wird der krämerhaften Rücksicht, möglichst viel Frauen zu gewinnen, geopfert. – Die Konsumvereine sind ebensowenig sozialdemokratische Einrichtungen als diese Sorte Literatur sozialdemokratischen Charakters ist«“ (zit. n. Arno Pfütze-Grottewitz, Konsumvereine und Detailhandel im Königreich Sachsen, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 64, 1908, 346-367, hier 366, Fußnote 1). Doch diese in Selbstbezüglichkeit geflüchtete sächsische SPD konnte weder das rasche Wachstum gerade der sächsischen Konsumvereine bremsen, noch die Aufwärtsentwicklung des Zentralverbandes.

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Die Fülle der Natur: Titelvignette (FGBl 2, 1903, 83)

Stattdessen stärkte der Zentralverband seine Presse – und damit auch das Frauen-Genossenschaftsblatt – durch die mit Wirkung zum 1. Januar 1904 neu gegründete Verlagsanstalt des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine von Heinrich Kaufmann & Co. Dabei handelte es sich um eine offene Handelsgesellschaft, deren Gewinne ein wichtiger Faktor für die Fortentwicklung des Zentralverbandes wurden. Die Verlagsanstalt nutzte auch die Gewinne aus dem Vertrieb des Frauen-Genossenschaftsblattes für weitere Agitation mit anderen Medien und Mitteln (Paul Mombert, Die Konsumvereinsbewegung in Deutschland, Badener Zeitung 1907, Nr. 7 v. 23. Januar, 4). Gleichwohl blieb die Auflagenentwicklung hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. Regelmäßig wurden die Vereine aufgefordert mehr als das eine ihnen zustehende Freiexemplar zu beziehen. Hundert Stück kosteten lediglich 1,25 M, und mittlere Vereine wie die in Hohenmölsen und Ilmenau nahmen 1000, der Konsumverein Meuselwitz gar 1200 Exemplare ab (KR 1, 1904, 481).

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Demokratisierung des Konsums: Genossenschaftliches Kaufhaus im sächsischen Schedewitz (FGBl 1, 1902, 125)

Diese relative Gleichgültigkeit in vielen Konsumgenossenschaften führte zu selbstkritischen Rückfragen. Gertrud David veröffentlichte 1905 eine stark nachgefragte Agitationsbroschüre für Arbeiterfrauen, in der sie einen Bogen von der Lebenssituation der Arbeiterin, den Zielen und Zwecken der Bewegung hin zur moralischen Verpflichtung zum treuen Einkauf spannte (Was bietet der Konsumverein der Arbeiterfrau?, Hamburg 1905 – Neuauflage ab 1909 unter dem bezeichnenden Titel Was bietet der Konsumverein der Hausfrau?). Franz Staudinger entwickelte daraus konkrete Rückfragen, die auch an seine Bemühungen im Frauen-Genossenschaftsblatt anknüpften, nämlich ob „die Sprache zu schwierig war, ob auf kurzem Raum zu viel zusammengedrängt wurde“. David habe sich für „die größte Kürze, die sorgsamste Auswahl des leichtverständlichen Stoffes und Gedankenzusammenhanges und die einfachste Darstellungsart“ entschieden. Sollte Arbeit, Leben und Konsum wirklich in leichter Sprache fassbar sei? Staudinger nahm stattdessen auch die Männer in die Pflicht, die mit ihren Frauen über die Verbindung von Konsum- und Arbeitssphäre reden sollten: „Der Riesenbaum der Gleichgültigkeit fällt noch weniger als andere auf einen Streich.“ (F[ranz] Staudinger, Was bietet der Konsumverein der Arbeiterfrau? Ein Werbebüchlein für die Frauen, KR 2, 1905, 1166-1167, hier 1166). Die Konsumgenossenschaften aber befanden sich in einer Zwickmühle, denn mit agitatorisch gebotener Vereinfachung wäre die Kritik theoretisch geschulter Marxisten wieder stärker geworden. Sie zielten daher eher auf direkte Aktionen, die Werbung vor Ort, das Gespräch mit dem Nachbarn, der Nachbarin – und die Überzeugungskraft von Waren und Preisen. All das wirkte, doch zugleich wurde die beschränkte Schlagkraft des Frauen-Genossenschaftsblattes deutlich.

Wirkungen des Frauen-Genossenschaftsblattes

Diese beschränkte Schlagkraft resultierte erst einmal aus der nur langsamen Steigerung der Auflage. Gewiss, eine Druckauflage von 153.000 Exemplaren beim Start einer Zeitschrift war außergewöhnlich, doch die Zukunftserwartungen waren entsprechend. Von 1902 bis 1907 stieg die Zahl der fest abonnierten Blätter um fast 50% von 115.000 auf 171.682, doch dies entsprach lediglich dem Wachstum der Konsumvereinsmitglieder.

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Fest abonnierte Auflage des Frauen-Genossenschaftsblattes 1902-1907 (zusammengest. n. Spiekermann, 1995, 162)

Trotz steter Werbung und regelmäßigen Ermahnungen durch die Verbandsspitze konnte der Quotient zwischen Auflage und Mitgliederzahl reichsweit nicht gesteigert werden. Er betrug 1903 23%, d.h. eine Zeitschrift für jedes vierte Mitglied, erreichte 1906 mit 25% einen Höchstwert, um 1907 mit 22,5% unter den Ausgangswert zu sinken. Da Einzelabonnements trotz niedriger Bezugspreise eher selten waren, hing der Bezug von den Leitungen der einzelnen Konsumgenossenschaften ab – und die blieben in ihrer Mehrzahl zurückhaltend. Anfang 1903 orderten lediglich 300 Vereine das Frauen-Genossenschaftsblatt, 1904 270, 1905 dann 258 und 1906 schließlich 309 (Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 1, 1903, 163; ebd. 5, 1907, T. 1, 172). In der Mehrzahl der Konsumgenossenschaften war das Frauen-Genossenschaftsblatt demnach nicht verfügbar.

Die Auflage stieg zwar, blieb jedoch hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück, war begrenzt von breiter Ablehnung innerhalb der Konsumgenossenschaftsbewegung. Der hochtönende Idealismus der Anfangszeit wog dadurch noch schwerer, war das Frauen-Genossenschaftsblatt zwar erfolgreich, nicht aber „ein fruchtendes Denkmal genossenschaftlicher Treue“ (FGBl 1, 1902, 6). Die Auflage galt jedoch als Indikator für den Erfolg, wurde von der sozialdemokratischen Presse auch entsprechend präsentiert (Simon Katzenstein, Genossenschaftliche Rundschau, Die Gleichheit 15, 1905, 82-83, hier 82; Gertrud David, Genossenschaftsbewegung, Sozialistische Monatshefte 10, 1906, 337-338, hier 337). Die Kraft einer unaufhaltsam wachsenden Bewegung konnte am Frauen-Genossenschaftsblatt aber nicht wirklich festgemacht werden. Entsprechend unterblieben die anfänglich gestreuten Erfolgsnachrichten bald, nach denen das Gewicht der 1902 erschienenen Ausgaben 33 Tonnen betragen und alle Seiten eine Linie von Hamburg bis nach Mailand ergäben hätten (FGBl 2, 1903, 23). Für derartige Tonnenideologie fehlte der begeisterte Widerhall.

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Deutsche Vorzeigekonsumgenossenschaft: Zentrale von „Vorwärts“ Dresden (FGBl 3, 1904, 21)

Welche Wirkung billigte man dem Frauen-Genossenschaftsblatt dennoch zu? Es galt vorrangig als Agitationsinstrument, sollte das ideelle Moment stärken und die Einkaufstat anregen: „Die Frauen müssen für die Konsumgenossenschaftsbewegung geistig interessiert werden, dieselbe muss ein fester Bestandteil ihres täglichen Gedankenkreises und ein liebes Gesprächsthema werden. Wenn das der Fall ist, dann stellt auch die »Bedenksamkeit« sich mehr und mehr ein, und die Herren Geschäftsführer unserer Vereine werden mit vergnügtem Schmunzeln steigende Ziffern des Durchschnittsumsatzes in ihren Jahresberichten feststellen“ (Heinrich Kauffmann, Zur Agitation für Konsumvereine, WGEG 7, 1900, Nr. 21, 2-3, hier 2). Neben derartige Intensivierung trat jedoch auch die Mitgliederwerbung, also die Extensivierung. Das Frauen-Genossenschaftsblatt war ein Werbemittel, sollte die Bewegung repräsentieren, sie attraktiv erscheinen lassen (Heinrich Kaufmann, Die deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung im Jahre 1904, KR 1, 1904, 1390-1392, hier 1391). Diese doppelte Zielsetzung wurde auch seitens der bürgerlichen Frauenbewegung geteilt (Dokumente der Frau 6, 1901/02, Nr. 18 v. 15.12., 520), die zugleich die politische und religiöse Neutralität hervorhob und weitergehende „Kunstfragen und Arbeiten künstlerischer Natur“ (Dokumente der Frauen 7, 1902/03, Nr. 1 v. 1. April, 19).

Innerhalb der Konsumgenossenschaftsbewegung galt es zugleich aber auch als Abwehrinstrument, mit dem man der Agitation der Gegner trotzen, den Verlockungen der Einzelhändler begegnen konnte: „Es ist den Verwaltungen der Konsumvereine nicht möglich, alle die auf die Genossenschaften niederhagelnden Angriffe einzeln zu widerlegen, weil sie dazu die Zeit nicht haben und ihnen oft auch eine Zeitung am betreffenden Orte nicht zur Verfügung steht. […] Darum kann es den Verwaltungen der Konsumvereine nicht dringend genug empfohlen werden, über das gerade zum Zwecke der Konsumentenerziehung geschaffene Organ, das ‚Frauen-Genossenschaftsblatt des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine‘, einzuführen und an die Mitglieder der Vereine zu verteilen“ (Systematische Konsumentenerziehung, KR 1, 1904, 1371-1372, hier 1372). Dies schien auch deshalb wichtig, da viele Konsumgenossenschaften – im Gegensatz zu den Einzelhändlern – keine Anzeigen in den lokalen Tageszeitungen schalteten, und ihre Argumente daher geringen publizistischen Widerhall erzeugten (Max May, Wie ist die Presse für die Konsumvereine nutzbar zu machen?, KR 2, 1905, 1355-1356). Diese Abwehraufgabe betraf die Frauen in besonderem Maße, denn „gerade unsere Frauen bedürfen der Schulung, Aufklärung und Aufmunterung gegenüber den gegnerischen Einflüssen, denen sie ja am meisten ausgesetzt sind“ (P. Straelen, Praktische Kleinarbeit, KR 3, 1906, 3-5, 28-29, hier 4). Das Frauen-Genossenschaftsblatt war damit auch männlicher Schutz von Frauen in ihrer Sphäre, der der Hauswirtschaft und des Einkaufens.

Wirksam war das Frauen-Genossenschaftsblatt aber auch als eine Nachrichtenbörse abseits des täglichen Einkaufs. Dieser war zwar vom Plausch mit anderen Mitgliedern geprägt, doch schon der eigentliche Einkaufsakt kündete nicht von der Größe der Genossenschaft, sondern diente dem raschen Abarbeiten des eigenen Einkaufszettels. Der Eintritt in eine Konsumgenossenschaft erfolgte vielfach aufgrund der günstigeren Preise, der jährlichen Rückvergütung und des lokalen Arbeitermilieus. Die den Leitungskadern vorschwebende Binnenwelt der Genossenschaften blieb unbekannt, wurde im Alltag auch wenig thematisiert. Das galt beispielsweise für die ausgeprägte Sprachpolitik. Schon „Rückvergütung“ ersetzte den ehedem gängigen, jedoch „kapitalistischen“ Begriff der „Dividende“. Der „Laden“ wurde „Abgabestelle“ genannt, „Gewinn“ mutierte zu „Ersparnis“. Dutzende Begriffe des Geschäftslebens wurden so umdefiniert, viele erfolgreich, manche erfolglos (etwa „Schaffner“ und „Schaffnerin“ anstelle von „Verkäufer“ und „Verkäuferin“) (KR 2, 1905, 402). Auch im Frauen-Genossenschaftsblatt wurde die konsumgenossenschaftliche Sprache vielfach verwandt, teils auch erläutert, wurde damit den Lesern direkt und indirekt nahegebracht. Die Wirkung derartiger Sprachspiele blieb jedoch begrenzt. Wichtiger waren wohl warenkundliche Hinweise, die innerhalb des Blattes vielfach allgemein gehalten waren. Es ging um Qualitätskriterien, um Maße und Gewichte, um Verpackungen und die Gefahr von Lebensmittelzusätzen. Hinzu kamen Informationen über die Produktwelt der Konsumgenossenschaften, die ja nicht überall gleich war, da ein Großteil der Waren nicht von der GEG geliefert wurde. Die neuen Eigenprodukte wurden vorgestellt, zugleich die Eigenproduktion der Konsumgenossenschaften angeregt. Neben dieser Binnenwelt des Zentralverbandes stand jedoch auch das alltägliche wirtschaftliche Leben, über das die Alltagspresse ja nur rudimentär berichtete: „Viele genossenschaftliche Fragen von großer Wichtigkeit gelangen entweder nicht oder nur teilweise und unvollständig zur Kenntnis unserer Mitglieder: ich erinnere nur an die Steuerfrage, Revisionsverbände, Einkaufsvereinigungen, die allgemeinen Anschläge unserer Gegner, Rabattsparvereine, Dividendenjägerei usw.“ (Math[ias] Pellender, Zur Pressfrage, KR 2, 1905, 402-403, hier 403). Das Frauen-Genossenschaftsblatt bot in diesen Fällen Ordnungswissen, wenngleich es unklar ist, ob diese Rubriken auch gelesen wurden.

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Vorstellung erster Eigenmarken der GEG: Kakao- und Teeverpackungen (FGBl 2, 1903, 6 (l.) und 38)

Doch das Frauen-Genossenschaftsblatt wirkte nicht nur nach innen, sondern ebenso nach außen. Das galt sowohl für die politischen Gegner der Sozialdemokratie als auch für die wirtschaftlichen Wettbewerber der Konsumgenossenschaften. Für Konservative und das Zentrum war die neue Zeitschrift eine Gefahr, Ausdruck der Zersetzung von Staat und Familie: „Nistet sich auf diese Weise die Sozialdemokratie sogar am häuslichen Herde ein, so ist natürlich auch jede Schutzwehr gegen den Einfluß der Sozialdemokratie auf das heranwachsende Geschlecht niedergerissen“ (Die Frau und der Sozialismus, Vorarlberger Volksblatt 1904, Nr. 129 v. 9. Juni, 1). Derartige Ablehnung war aber auch Teil eines Lernprozesses, konstatierte man doch, dass diese an sich feindliche Presse „sehr geschickt geleitet“ (Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie, Leipziger Tageblatt 1903, Nr. 382 v. 30. Juli, 1) sei. So würdigte die zentrumsnahe Leipziger Volkszeitung den „frischeren Zug“ innerhalb der Konsumgenossenschaften seit Gründung des Zentralverbandes 1903, würdigte das Frauen-Genossenschaftsblatt als Teil breiter Bemühungen um weibliche Mitglieder: „Wir meinen, die Detaillisten sollen an diesem Berichte [Jahresbericht des Zentralverbandes, US] nicht achtlos vorübergehen. Er zeigt evident den Vorteil zentralisierter, genossenschaftlicher, zielbewußter Arbeit“ (Der Zentralverband deutscher Konsumvereine, Sächsische Volkszeitung 1905, Nr. 161 v. 17. Juli, 1). Einzelhandelsvertreter beobachteten die neue Zeitschrift in der Tat recht genau, auch wenn sie – spiegelbildlich zu den Konsumgenossenschaften – ihrerseits die „Angriffe“ und die Agitation in den Vordergrund stellten: Heinrich Beythien (1873-1952), Vorsitzender der deutschen Rabattsparvereine, einer Selbsthilfeorganisation gegen Konsumvereine und das „Großkapital“ im Handel, kritisierte das Frauen-Genossenschaftsblatt entsprechend hart: „Dieses Blatt lobt alle Einrichtungen der Konsumvereine über den grünen Klee, während es andererseits an Handel und Gewerbe des Mittelstandes kaum einen guten Faden läßt. Wenn man nicht wüßte, daß die Konsumvereine des Zentralverbandes unter sozialdemokratischer Leitung stehen, dann würde der Ton, der in dem Genossenschaftsblatte angeschlagen wird, es beweisen. Diesen Hetzereien müsse energisch entgegengearbeitet werden“ (5. Verbandstag der Rabatt-Spar-Vereine Deutschlands, Badische Presse 1907, Nr. 338 v. 24. Juli, 1). Abseits derartiger Rhetorik regte er jedoch an, auch seitens der Rabattsparvereine eine entsprechende Zeitschrift zu gründen. Dies misslang, unterstrich jedoch die Prägewirkung, die das Frauen-Genossenschaftsblatt abseits der Konsumgenossenschaften entfaltete. Auch der Einzelhandel wandte sich nun stärker an die nun langsam wahrgenommenen Kunden. Kundenzeitschriften, vermehrte Werbung und ein verstärkter Zusammenschluss von Einzelhändlern, etwa zu Einkaufsgenossenschaften, waren die Folge. Die Konsumgenossenschaften sollten ihren Vorsprung gegenüber der Konkurrenz jedoch bis weit in die Weimarer Republik zumindest behaupten können. Das lag auch an massiven Fortbildungsbemühungen innerhalb der Organisation, die auch weibliche Mitglieder und Verkäuferinnen umfassten. Es ging eben nicht um die kommerzielle „Verdummung der unteren Volksschichten“ (Otto Lindecke, Genossenschaftliche Erziehungsarbeit in Deutschland und England, KR 1, 1904, 1291-1292, hier 1291), sondern um deren Bildung – auch durch das Frauen-Genossenschaftsblatt.

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Brot, Rosen – und Stiefmütterchen: Titelvignette (FGBl 3, 1904, 121)

Die Frage nach dessen Wirksamkeit muss den Blick schließlich auf die Entwicklung der weiblichen Mitglieder in den Konsumgenossenschaften des Zentralverbandes lenken. In absoluten Zahlen war das Wachstum beträchtlich, stieg von 1903 31.796 Frauen über 1904 67.285, 1905 67.366 und 1906 71.853 auf 1907 91.107 (Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 6, 1908, T. 1, 378). Relativ bedeutete dies eine anfangs beträchtliche Steigerung von 6,3% 1903 auf 13,6% 1904. Dann aber sank der Frauenanteil, erreichte 1907 nur 12,3%. Diese Entwicklung resultierte vorrangig aus dem veränderten rechtlichen Rahmen, sodann aus dem Austritt vieler männlicher Unterbeamte und städtischer Angestellter nach der Gründung des „roten“ Zentralverbandes. Die Annahme, dass die höhere Zahl weiblicher Mitglieder auch auf das Frauen-Genossenschaftsblatt zurückzuführen gewesen sei, tritt demgegenüber in den Hintergrund.

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Männliche und weibliche Mitglieder im Zentralverband Deutscher Konsumvereine 1903-1907 (zusammengest. n. Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 6, 1908, T. 1, 378)

Das mag allerdings auch mit dem zunehmend realitätsfernen Frauenbild einiger Mitarbeiter zusammenhängen. Aus den selbstbewussten Arbeiterfrauen der Anfangszeit wurden teils betreuungsbedürftige Hausfrauen, die in einer Weise angesprochen wurden, die viel über das patriarchale Denken im späten Kaiserreich aussagt. Ein Beispiel mag genügen: „Siehst Du, liebe Leserin und treue Hausfrau, hier findest Du ein reiches Feld stiller opferfreudiger Agitation. Keine großartigen Aktionen sind es, die Dir hier zugemutet werden, nein, es ist das still im Verborgenen blühende Veilchen treuer Pflichterfüllung, opferfreudiger Erziehung im genossenschaftlichen Geiste, das Du hegen und pflegen sollst am häuslichen Herde, still und unscheinbar, aber darum desso [sic!] wirksamer ist diese Agitation so recht Deinem Wesen angepaßt. Gehe hin und wirke!“ (P. Straelen, Genossenschaftliche Agitation unserer Hausfrauen, FGBl 4, 1906, 42-43, hier 43) Wer so schrieb, schrieb für imaginierte Mütterchen, nicht aber für selbstbewusste Mitstreiterinnen.

Agitation und Frauenfrage: Das Ende des Frauen-Genossenschaftsblattes

Die interne Kritik am Frauen-Genossenschaftsblatt nahm 1905 deutlich zu, intensivierte sich 1906 und auf dem 4. Genossenschaftstag des Zentralverbandes beschloss man am 17. Juni 1907 dessen Ende. Ende? Nun, es sollte verwandelt, als „Konsumgenossenschaftliches Volksblatt“ mit neuer Kraft und anderem Konzept fortgeführt werden. Die Gründe für das Ende des Frauen-Genossenschaftsblattes waren gewiss nicht finanzieller Art, denn die Herausgabe war, zumindest für die 1904 gegründete Verlagsanstalt des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine, profitabel. Die Einnahmen betrugen 1905 46.174,68 M und 1906 49.857,50 M, die Ausgaben 1905 28.634,42 M und 1906 30.758,62 M (Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 5, 1907, 176). Für den Gewinn hätte man fast 20.000 Exemplare abonnieren können.

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Des Lebens Kreislauf: Titelvignette (FGBl 1, 1902, 41)

Das Frauen-Genossenschaftsblatt scheiterte vorrangig an den hohen Erwartungen der Leitungskader, denen die lokalen Konsumvereine nicht entsprachen. Die 50-prozentige Steigerung der Auflage schien zu gering, zumal die Art der Verteilung den eigentlichen Auftrag teils ad absurdum führte: „Nicht immer dem eigenen Triebe, sondern vielfach der Not gehorchend, wurden so und so viele hundert oder tausende ‚Frauen-Genossenschaftsblätter‘ bestellt und in die Verkaufsstelle gelegt, wo die schemamäßig in einem wie im anderen Verein an alle verteilt wurden oder liegen blieben, ohne Nutzen gestiftet zu haben, höchstens hin und wieder noch in den Generalversammlungen der Agitation dienend“ (Die Verbreitung des „Konsumgenossenschaftlichen Volksblattes“, KR 4, 1907, 1381). Das Frauen-Genossenschaftsblatt scheiterte demnach an der Gleichgültigkeit bzw. dem moderaten Widerstand in den durchweg von Männern geleiteten Einzelvereinen. Die regionale Verbreitung differenziert dieses Bild, ändert es aber nicht. Demnach lagen die Abonnements vor allen in Brandenburg, Thüringen, Nordwest- und Süddeutschland deutlich unter dem Durchschnitt, während mitteldeutsche, sächsische und rheinisch-westfälischen Konsumgenossenschaften überdurchschnittlich orderten (Jahrbuch des ZDK, 6, 1908, 365). Ein klares Muster ergibt sich hieraus nicht, zu breit war die kaum ausgesprochene Ablehnung durch die lokalen Leitungsgremien.

Sie wollten offenbar eine andere Agitationszeitschrift, in einer neuen Form „als in der jetzigen ausschliesslich auf die Gewinnung der Frauen zugespitzten“ (Gertrud David, Genossenschaftsbewegung, Sozialistische Monatshefte 11, 1907, 488-490, hier 490). Das Frauen-Genossenschaftsblatt schien zu eng angelegt, zu stark geprägt von einer Pionierrolle der einkaufenden Frauen. Sie schien ein Theoriegespinst zu sein, in der sozialen Realität nicht auffindbar. Pointierter formuliert: Das Frauen-Genossenschaftsblatt scheiterte an seiner relativen Modernität, mochte die anfängliche Hinwendung zu den Frauen auch patriarchalisch-gönnerhaft geprägt gewesen sein. Vor diesem Hintergrund war die abnehmende Zahl von Autorinnen und das Vordringen scheinbar überholt-männlicher Geschlechterbilder ein Versuch der Neujustierung angesichts einer unbefriedigenden Resonanz auf Seiten der Arbeiterfrauen.

Das neue „Konsumgenossenschaftliche Volksblatt“ sollte die Belange der Frauen weiterhin berücksichtigen, doch sein Kern die Agitation für die großenteils geschlechtslos gedachten Genossenschaften selbst sein. Angesichts der weiterhin zu erwartenden Gewinne stand eine Einstellung nicht zur Debatte, auch die derweil gewachsene Zahl lokaler Werbe- und Informationsblätter machte eine zentrale Publikation aus Sicht des Zentralverbandes erforderlich. Die Erwartungen an das neue Druckerzeugnis wurden gleichwohl weiter hochgeschraubt, gewissermaßen der moralische Preis für die moderate Kurskorrektur der Genossenschaftsspitze. Heinrich Kaufmann gab als Ziel „mindestens 300.000“ (Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 5, 1907, T. 1, 172) Exemplare vor. Ob dies realistisch war, stand 1907 in den Sternen: „Es wird der Versuch zu machen sein, ob sich ein solches Massenorgan bewährt. Ob der Erfolg die eminenten Kosten eines solchen Massenorgans rechtfertigt und ob ein solches Organ die bereits in den verschiedenen Vereinen vorhandenen Vereinsorgane ersetzen kann, bleibt dahingestellt“ (J. Dejung, Der weitere Ausbau der Organisation, KR 4, 1907, 508-509, hier 508).

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Das Element der Bewegung: Zierbordüre (FGBl 6, 1907, 69)

Um die hochgesteckten Ziele zu erreichen, band man die genossenschaftlichen Revisionsverbände stärker ein, reservierte ihnen pro Ausgabe eine Spalte. Formal sollte sich wenig ändern: Es blieb bei 24 achtseitigen Ausgaben pro Jahr, den lokalen Vereinen wurde bei Interesse weiterhin die letzte Seite zur Verfügung gestellt. Der Neuerscheinung im Januar 1908 ging jedoch eine beispiellose interne Werbekampagne voraus. Eine Probenummer wurde gedruckt und an alle Vereine ohne Abonnement verschickt. Wiederholte Aufforderungen folgten, nun endlich zur Tat zu schreiten. Um die Verweigerer zu überzeugen, wurden gar neuartige statistische Berechnungen durchgeführt, die zeigen sollten, dass Abonnenten des Frauen-Genossenschaftsblattes höhere Umsatzsteigerungen aufzuweisen gehabt hätten als Nichtabonnenten (Rich[ard] Pflug, Abonnieren wir für unsere Mitglieder das „Konsumgenossenschaftliche Volksblatt“?, KR 4, 1907, 1406-1407, hier 1406). Am Ende war die Zahl der abonnierenden Vereine auf 415 gestiegen, also auf einen Anteil von knapp 40%. 198.312 Exemplare waren sicher abonniert, d.h. 22,5% der Einzelmitglieder konnten ein Exemplar erhalten (Jahrbuch des Zentralverbandes Deutscher Konsumvereine 6, 1908, 364). Das war enttäuschend – und ließ grundsätzlichere Fragen nach dem Engagement vor Ort aufkommen.

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Titelinformation des Konsumgenossenschaftlichen Volksblattes (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 1, 1908, 1)

Das neue Agitationsorgan wurde vom Sozialdemokraten August Müller (1873-1946) geleitet, kurz danach Vorstandsmitglied des Zentralverbandes und nach der Novemberrevolution erster Reichswirtschaftsminister (damals Staatssekretär im Reichswirtschaftsamt). Seine programmatischen Worte hoben sich von denen Heinrich Kaufmanns deutlich ab. Dem Frauen-Genossenschaftsblatt billigte er zu, „immer strebend sich bemüht“ (Zum Geleit, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 1, 1908, 1-2, hier 1) und seine begrenzte Mission erfüllt zu haben. Nun aber appellierte er an „die Pflicht, die Einheit des Genossenschaftsgedankens und der Genossenschaftstat zu lehren.“ Es gelte die bestehenden Probleme zu überwinden, „Indolenz und Trägheit, Kleben am Althergebrachten in den Reihen der Konsumenten, gärenden Haß und wütende Feindschaft beim Händlertum, das sich in seinem Anrechte auf ungestörte Ausnutzung der Konsumenten bedroht sieht [… Das Konsumgenossenschaftliche Volksblatt, US] will helfen, die Schar der bereits den Konsumgenossenschaften gewonnenen Mitglieder zu vergrößern, es will zu seinem Teil alles was es mag, dazu beitragen, daß aus organisierten Konsumenten überzeugte Genossenschafter werden, es will die Gegner beobachten, ihre Methoden studieren, ihre Waffen prüfen und Argumente zu ihrer Bekämpfung liefern“ (ebd., 2). Massenagitation war die neue Zielsetzung. Und die Frauen? Man vergaß sie nicht, denn es gab die regelmäßige Kolumne „Unseren Frauen“, in der Haushaltswinke, Rezepte und kleine Artikel dominierten. Der Erfolg blieb anfangs hinter den Erwartungen zurück, doch die wachsende Stärke der Konsumgenossenschaftsbewegung allgemein, des Zentralverbandes im Besonderen, führten schon nach wenigen Jahren zu deutlichem Umsatzwachstum. Das „Konsumgenossenschaftliche Volksblatt“ wurde ein Vorzeigeprojekt der modernen Massenpresse. Doch das ist eine andere Geschichte.

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Das Frauen-Genossenschaftsblatt als Beginn konsumgenossenschaftlicher Massenpresse: Auflagenentwicklung 1902-1932 (zusammengest. n. Spiekermann, 1995, 162)

Eine abgeschlossene Geschichte?

„In Ihrer Hand, geehrte Frau, liegt die Zukunft“ (Kauffmann, Geehrte Frauen, 1902, 2) – von diesem Tenor blieb innerhalb der Konsumgenossenschaftsbewegung wenig erhalten, auch wenn der Frauenanteil an den Mitgliedern auf knapp 20% Ende der 1920er Jahre steigen sollte. Die Konsumgenossenschaften blieben eine patriarchale Organisation, mochte die lokale Genossenschaftskultur auch stark von Frauen geprägt worden sein. Leitungsfunktionen blieben fast durchweg Männern vorbehalten, Heinrich Kaufmanns Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der GEG listete im Bildanhang lediglich Männer auf (Die Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine […], Hamburg 1919). Publizistisch wandte man sich von den Arbeiterfrauen ab, beschwor nun die Hausfrauen, deren Stellung tradierte Geschlechterstereotype prägten (viel Freude bei Hans Legi, Meine Frau und der Konsumverein, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 4, 1911, 133 sowie August Metzinger, Die Frau in der Genossenschaft, Der Konsumverein 15, 1922, 33 (der Zeitschrift des zentrumsnahen Reichsverbandes Deutscher Konsumvereine)). Auch Ende der 1920er Jahre lehnte der Zentralverband Doppelmitgliedschaften oder aber die Übertragung der Mitgliedschaft vom Mann auf die Frau, „lediglich um weibliche Mitglieder in den Aufsichtsrat, in die Vertreterversammlung usw. gewählt zu erhalten“ (Robert Schweikart, Das konsumgenossenschaftliche Fortbildungswesen, Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 27, 1929, Bd. III, hier 106-114, hier 113) klar ab. Schließlich böten sich der Frau innerhalb der Konsumgenossenschaften genügend Tätigkeitsfelder: „Der Mann ist von Natur aus Träger des Organisationsgedankens, ist Kämpfer, Streiter mit den Widersachern seiner Wirtschafts- und Kulturinteressen. Das ist oft ein unschönes Handwerk, das Ausdauer und starke Nerven erfordert. Die Frau ist die mit Gefühl und Empfindungen ausgestattete Sachwalterin des Haushalts, ist Erzieherin der Kinder, hat auch nicht selten viele hauswirtschaftliche Sorgen zu bannen, und schon darum ist die Zahl der Frauen, die im öffentlichen, auch genossenschaftlichen Leben praktisch mitwirken können, sehr beschränkt. Eine gewisse Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau tut sich da auf, die auch wir respektieren müssen“ (ebd., 114). Die Genossenschaftsidee schien in Gänze vornehmlich Männern zugänglich – daran änderten in den 1920er Jahren auch die zahlreichen Frauenversammlungen und die Gründung einer Frauengilde innerhalb des Zentralverbandes nichts (vgl. Spiekermann, 1995, 174).

Vor diesem Hintergrund markierte das Frauen-Genossenschaftsblatt ein kurzes Zeitfenster des Aufbruchs, mochte es auch patriarchal gedacht gewesen sein. Frauen wurden in ihrer Rolle als Akteurinnen des Konsums angesprochen, ihre aktive Mitarbeit beschworen. Das schuf grundsätzlich Handlungsräume, mochte der Blick primär auf den Konsumvereinsumsatz diese auch beengen. Die ab 1903 sich langsam von der Arbeiterfrau auf die Hausfrau verlagernde Perspektive und die abnehmende Zahl von Mitarbeiterinnen schufen jedoch auch Enttäuschungen. Adele Gerhard wandte sich von den Konsumgenossenschaften ab und widmete sich schon vor ihrem Übertritt zum Protestantismus einer ethischen Kultur, fernab der Enge des Arbeiterinneneinkaufskorbes. Fanny Imle trat 1904 aus der SPD aus, konvertierte zum Katholizismus, promovierte und wurde 1912 Franziskanerin. Die Zahl der vielen unbekannten Konsumgenossenschafterinnen, die über das sich schließende Zeitfenster enttäuscht waren, dürfte deutlich größer geworden sein. Frauen blieben innerhalb der Bewegung zwar die personifizierte Einkaufskraft, doch das blieb eine ebenso inhaltsleere Abstraktion wie etwa der vielbeschworene König Kunde der Privatwirtschaft.

Das Frauen-Genossenschaftsblatt war gewiss keine führende Zeitschrift des Kaiserreichs, doch als populäres Blatt für arbeitende Frauen und Männer war sie einzigartig. Es ging um das Einkaufen für eine bessere Welt, um ein Arbeiten, Leben und Konsumieren, das den hehren Ansprüchen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde entsprechen sollte. Die damaligen Konsumgenossenschaften standen für einen Aufbruch, der die ökonomischen Kernkonflikte der Gesellschaft noch ernst nahm und zugleich gespeist war von einer Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Sie standen am Anfang einer langen Suche nach einem verantwortbaren moralischen Konsum, der heute gewiss ebenso wichtig ist wie 1902, als Heinrich Kaufmann die Gestaltung der Zukunft in die Hände der Frauen legte.

Uwe Spiekermann, 30. Dezember 2020

Auf den Spuren der Glasindustrie in Boffzen – Kritische Heimatgeschichte in Form eines Glasstelenweges

Die Industrialisierung wird vielfach mit Städten, mit den ausgreifenden urbanen Räumen in Verbindung gebracht. Doch nicht erst seit den bahnbrechenden Arbeiten Sidney Pollards ist klar, dass der Weg in die industrielle Moderne ihren Ausgang von regionalen Gewerbegebieten nahm. Die vielfach denunzierte „Provinz“ hat eine gewichtige Rolle beim Bruch mit der vorindustriellen Welt gespielt. Gleichwohl spiegelt sich dies nur unzureichend in der Forschung, dominierten dort doch Studien zu einzelnen Städten, Branchen und Regionen. Das kleine, vielgestaltige Geschehen der Geschichte ist mit großen Strichen eben leichter nachzuerzählen als mit der Analyse der kleinen Veränderungen in vielgestaltigen und als solchen einzigartigen Orten.

Es war demnach ein Wagnis, sich auf die Spuren der Glasgeschichte in Boffzen zu begeben, einem kleinen Weserdorf, bis Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt von Land- und Forstwirtschaft. Dort stellten zwei 1866 und 1874 gegründete Glashütten die tradierte Ordnung in Frage. Boffzen entwickelte sich binnen eines Jahrzehntes zu einem Industriedorf, das wie in einem Brennglas die allgemeinen Geschichtsläufte der letzten einhundertfünfzig Jahre bündelte. Der Anlass für diese Spurensuche kam von außen, vom lokalen Freundeskreis Glas. Dieser hatte sich 2017 aus der Betreuung des Boffzener Glasmuseums zurückgezogen, nachdem der CDU-geführte Gemeinderat eine Modernisierung der Dauerausstellung nicht gegenfinanzieren wollte. Zwei Jahre später schloss es dann seine Türen. Der Freundeskreis Glas hatte unter Vorsitz des früheren Landrates des Landkreises Holzminden, Walter Waske, jedoch schon zuvor über neue Vermittlungsformen abseits des Glasmuseums nachgedacht. Rasch war klar, dass ein lokaler historischer Rundweg erstellt werden sollte – in Form ästhetisch gestalteter Glasstelen. Er wurde nun am 8. November 2020 offiziell eingeweiht.

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Wegskizze des Boffzener Glasstelenweges (Graphik: Freundeskreis Glas Boffzen)

Ich selbst hatte 2016 einen Vortrag am Boffzener Museum gehalten, damals zur Geschichte des Einkochens im 20. Jahrhundert. Zum kulturpolitischen Zerstörungswerk der „bürgerlichen“ Gemeinderatsmehrheit hatte ich mich kritisch zu Wort gemeldet, hinzu kamen enge Bande zur Familie Waske. Gemeinsam entwickelten wir im Herbst 2019 ein Konzept, das vor Ort allseits unterstützt wurde. Der Freundeskreis Glas beantragte daraufhin einschlägige Fördergelder. Drei Stiftungen bewilligen 12.000 €, die Braunschweigische Stiftung 4.000 €, der Landschaftsverband Südniedersachsen 3.000 € und die Kulturstiftung des Landkreises Holzminden 2.000 €. Auch die in Boffzen ansässige Glashütte Noelle & von Campe hatte auf Basis des Konzeptes 6.100 € für zwei Stelen zur eigenen Unternehmensgeschichte zugesagt, zog diese Zusage jedoch aufgrund der Texte zur NS-Zeit der Firma zurück. Die Gelder wurden durch eine weitere Förderung durch die Braunschweigische Stiftung und eine namhafte Privatspende allerdings rasch gedeckt. Den Hauptteil der Kosten von ca. 45.000 € trug der Freundeskreis Glas.

Der Glasstelenweg

Der Glasstelenweg des Freundeskreises Glas ermöglicht einerseits einen Rundweg zu historischen Orten in Boffzen. Ziel ist es, die bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte der Glasindustrie vor Ort darzustellen und ansatzweise erfahrbar zu machen. Der Weg führt über eine Strecke von ca. zwei Kilometern, die in ein bis anderthalb Stunden bequem zu bewältigen ist. Unternehmens-, Sozial-, Konsum- und Alltagsgeschichte werden gleichermaßen behandelt und in Bezug zueinander gesetzt. Die von der Journalistin und Ausstellungsmacherin Stefanie Waske und mir formulierten Texte wurden mit Bildern ergänzt, von der Neuhauser Graphikerin Angelika Reuter in Form gebracht und dann auf knapp zwei Meter hohe Glasstelen gebrannt. Der Rundweg ist Teil ähnlicher Initiativen im gesamten Weserbergland, zielt damit nicht allein auf die lokale Bevölkerung, sondern auch auf Touristen in dieser historisch vielgestaltigen Region.

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Ausgangspunkt für Führungen (nach Ende der dekretierten Kontaktbeschränkungen): Glaspresse, Masterstele und zwei Themenstelen zu der auf der anderen Straße gelegenen Unternehmervilla Becker und der Georgshütte (Foto: Uwe Spiekermann)

Der Boffzener Glasstelenweg geht allerdings einen wichtigen Schritt weiter, denn er wird ergänzt durch die Website Glas-in-Boffzen.com. Die auch per QR-Code von den Stelen einfach aufrufbare Seite erlaubt zum einen die nötigen Vertiefungen zu den Informationen auf den einzelnen Stelen. Zum anderen ist sie sowohl eine Plattform für die kritische Aufarbeitung der lokalen Glasgeschichte als auch ein Sammelbecken für alle mit dem faszinierenden Werkstoff Glas verbundenen lokalen und regionalen Themen. Die Website enthält entsprechend alle Texte und Bilder der Glasstelen. Sie bietet zugleich aber Vertiefungstexte zu den einzelnen Stelen. Die Stelen mit ihren ca. 1800 Zeichen reißen zwar Hauptpunkte an, doch erst in Kombination mit den Angeboten der Website wird daraus ein Komplettpaket.

Thematische Schwerpunkte des Glasstelenweges

Die zehn thematischen Glasstelen des Rundweges konzentrieren sich zuerst einmal auf Bauten, die die Geschichte der Glasindustrie direkt vor Augen führen. Das betrifft Betriebsstätten, Unternehmervillen, Arbeiterhäuser oder den früheren Konsum. Inhaltlich stehen sie jedoch für drei größere Themenfelder, nämlich die Unternehmens-, Sozial- sowie Konsum- und Alltagsgeschichte der letzten anderthalb Jahrhunderte.

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Georgshütte mit Arbeiterwohnungen im späten 19. Jahrhundert (Schreiben von G. Becker an die Kreisdirektion Holzminden v. 13. September 1901, Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Bei der Unternehmensgeschichte geht es vorrangig um die beiden Boffzener Glashütten Noelle & von Campe (1866 als Bartling & Co. gegründet) und Georgshütte G. Becker. Beide repräsentieren den im späten 19. Jahrhundert erfolgten Bruch mit den bis weit in die frühe Neuzeit zurückreichenden Waldglashütten des Sollings mit ihren direkt mit Buchenholz befeuerten Glasöfen. Die Gründung in Boffzen erfolgte nahe der Mitte der 1860er Jahre eröffneten Eisenbahnen in Braunschweig, Hannover und dem preußischen Westfalen. Es galt Rohstoffe zu beziehen, vor allem aber Steinkohle aus den Zechen des Ruhrgebietes. Mit deren Hilfe konnten neuartige Glasöfen mit indirekter Gasfeuerung errichtet, dadurch die Glaspreise deutlich reduziert werden. Beide Glashütten konzentrierten sich auf Weißhohlglas, das sie meist über den Großhandel absetzten. Regionale und zunehmend nationale Märkte dominierten, Noelle & von Campe exportierte aber auch wachsende Teile des Angebotes.

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Mittelstand heute: Firmensignets von Noelle + von Campe an Werk I und Werk II (Fotos: Uwe Spiekermann)

Die Stelen – drei zu Noelle & von Campe, eine zur Georgshütte – geben allgemeine Einblicke in die Firmengeschichte bis in die 1980er Jahre. Noelle & von Campe hatte sich zuvor zum Massenbieter für Verpackungsglas gewandelt. Die Georgshütte reagierte auf die wegbrechende Nachfrage bei Einkoch- und Pressglas mit der Herstellung modern gestalteten Dekorationsglases, konnte sich im harten internationalen Wettbewerb jedoch nicht mehr behaupten und musste 1989 Konkurs anmelden. Die bisher vorliegenden Vertiefungstexte behandeln die Anfänge der Glasindustrie, geben aber auch einen Einblick in die handwerkliche Produktion der 1950er Jahre:

Der Glasstelenweg ermöglicht zudem vielfältige Einblicke in die lokale Sozialgeschichte, in die Unterschiede zwischen Arbeitern und Unternehmern, zwischen dem industriell geprägten Oberdorf und dem von der Landwirtschaft dominierten Unterdorf. In Boffzen gibt es drei Unternehmervillen, allesamt gebaut um die Jahrhundertwende. Auch von dem für die Anwerbung von qualifizierten Glasmachern unabdingbaren Arbeiterwohnungsbau gibt es noch zahlreiche Beispiele.

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Unternehmervilla Noelle (1897) und das Arbeiterwohnhaus von Ludwig Düsterdiek (1913) (Fotos: Uwe Spiekermann)

Ein besonderer Reiz geht dabei bis heute von der Arbeitersiedlung Steinbreite aus. Ebenso wie die Unternehmervillen neue Maßstäbe im ländlichen Bauen setzten, verkörperten die fünfzehn von 1906 bis 1913 erbauten Glasarbeiterhäuser einen Bruch mit der zuvor vornehmlich auf serielle Mehrfamilienhäuser setzenden betrieblichen Sozialpolitik. Angeregt durch Vorbilder aus Ost- und Westfalen entstanden einfache, doch relativ große Einfamilienhäuser mit Gartenland und Kleinviehhaltung. Sie waren Angebote für eine loyale Stammarbeiterschaft, markieren aber auch den Handwerkerstolz der Glasbläser.

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Eine Stele zum Lesen, eine Bank zum Verweilen: Impression aus der ehemaligen Arbeitersiedlung Steinbreite (Foto: Uwe Spiekermann)

Die bisherigen Vertiefungstexte geben Einblicke in die unterschiedlichen Bautypen, in den paternalistisch-protestantischen Führungsstil der Unternehmer sowie die materielle und gesundheitliche Lage der Glasarbeiter:

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Die Stele zur Arbeiterkonsumgenossenschaft wird fotografiert, nachdem die Gemeindearbeiter Rasen gesät und die Mitglieder des Vereins Boffzen Aktiv Blumenzwiebeln gepflanzt hatten (Foto: Uwe Spiekermann)

Zugleich darf aber nicht vergessen werden, dass beide Hütten die Konsumgütermärkte und die Alltagskultur mit ihren Produkten mitgeprägt haben. Das gilt für die weit verbreiteten Konservierungsgläser, für Milchflaschen und Bierseidel, für Verpackungsglas von Handels- und Markenartikelunternehmen. Die Hütten entwickelten technisch anspruchsvolle Angebote für Nischenmärkte, ihre Formgestaltung spiegelt die massiven Veränderungen der Konsumwelten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Formgestaltung für Exportmärkte: Verpackungsglas Ende der 1950er Jahre (Samtgemeindearchiv Boffzen, Sammlung Heide)

Bisher liegen zwei Vertiefungstexte vor, nämlich

Es war von Beginn an der Anspruch des Boffzener Glasstelenweges auch die lokale Geschichte des Nationalsozialismus mit zu behandeln. Für mich war es jedoch mehr als irritierend, dass diese Selbstverständlichkeit in einem offenen, demokratischen Gemeinwesen vor Ort teils nicht geteilt wurde: Nach anfänglicher Unterstützung trafen die einschlägigen Stelenpassagen nämlich auf den massiven Widerstand der Geschäftsführung der Firma Noelle + von Campe und der Nachfahren der damaligen Geschäftsleitung der Familie Becker. Versuche, den Glasstelenweg trotz erfolgter Auftragsvergabe noch Mitte September 2020 zu stoppen, wurden von der Mitgliederversammlung des Freundeskreises Glas allerdings mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.

Teil meiner Irritation war gewiss auch, dass die Stelentexte nur grundsätzlich bekannte Fakten zur NS-Geschichte der beiden Glashütten wiedergaben. Zur Georgshütte wurde lapidar vermerkt: „In den frühen 1920er Jahren und während der Weltwirtschaftskrise lag der Betrieb wiederholt still. Er profitierte danach jedoch von der wirtschaftlichen Erholung, dann von der Rüstungskonjunktur des NS-Regimes: Die Hütte steigerte nach Erweiterungsbauten Anfang der 1940er Jahre die Zahl ihrer Beschäftigten, die Einberufenen wurden durch Zwangsarbeiter aus dem besetzten Osteuropa teils ersetzt.“ Das war natürlich nur die Spitze des Eisberges, der Kürze eines Stelentextes geschuldet. Nicht erwähnt wurde etwa, dass die Georgshütte aufgrund der 1931 beginnenden NSDAP- und SA-Mitgliedschaft des Hauptgesellschafters Carl-August Becker von 1946 bis Ende 1947 unter Treuhänderverwaltung stand, während der frühere und auch spätere Besitzer nach dem Militärdienst ab 1946 als Waldarbeiter beim Forstamt Boffzen tätig war (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 171 Hildesheim Nr. 44683).

Da für Noelle & von Campe drei Stelen zur Verfügung standen, war die einschlägige Passage zur NS-Geschichte etwas länger: „Noelle & von Campe war ein Renommierprojekt der nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungspolitik. […] Die wirtschaftliche Erholung und die 1936 einsetzende massive Rüstungskonjunktur führten zu steter Auslastung und wachsenden Gewinnen. […] Der Zweite Weltkrieg begann mit neuerlichen Einberufungen, doch Rohstoffe waren weiter vorhanden, auch Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Tschechien und der Slowakei sicherten die zunehmend kriegswichtige Produktion. Rüstungsgüter wurden gefertigt, darunter ab 1944 Glasminen.“ Über beide Hütten werden genauere Beiträge folgen, die sich allerdings nicht allein auf das unternehmerische Handeln und die Einbindung der Hütten in die Wehr- und Kriegswirtschaft konzentrieren werden. Auch Arbeiter und Angestellte profitierten vom damaligen Aufschwung, einem modernen Maschinenpark und hohen Gewinnen, die halfen, schon ab 1945 wieder profitabel produzieren und die ersten Anpassungskrisen in den 1950er Jahren erfolgreich bestehen zu können. Ein Vertiefungstext ist bereits verfügbar:

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Warnhinweis vor deutschen Minen, deren Glaskörper auch in Boffzen von Noelle & von Campe produziert wurden (Intelligence Bulletin 3, 1945, Nr. 5, 73)

Die Website Glas-in-Boffzen.com

Während der Glasstelenweg Grundinformationen über die Geschichte der Boffzener Glasindustrie und die unmittelbar zu sehenden Objekte liefert, erlaubt die neu eingerichtete und zeitnah zum Rundweg am 6. November 2020 eröffnete Website eine substanzielle Vertiefung der Aussagen. Dabei geht es erstens um eine Kontextualisierung der Stelentexte, also um die Einbettung der lokalen Geschehnisse in allgemeinere Entwicklungen. Dies wird fortgesetzt werden. Zweitens soll der Zugriff aber auch deutlich kleinteiligerer erfolgen, etwa durch die Präsentation und Diskussionen einzelner Geschichten, einzelner Glasobjekte oder aber Quellen. Drittens sind nicht nur Texte und Bilder geplant, sondern zusätzlich auch audiovisuelle Medien. Erste Interviews mit Zeitzeuginnen wurden geführt, müssen allerdings noch transkribiert und redigiert werden. Das Ziel liegt bei je drei Zusatzangeboten zu jeder Stele, also etwa 30 Beiträgen.

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Titelseite der Website Glas-in-Boffzen.com (Abruf: 10. November 2020)

Die Website wird jedoch auch Aufgaben übernehmen, die über den Glasstelenweg und die Geschichte der lokalen Glasindustrie hinausgehen. Glas-in-Boffzen.com dient dem Freundeskreis Glas als Vereinsplattform. Sie wird mit der nicht geringen Zahl von Internetangeboten ähnlicher Vereine und Glasmuseen vernetzt werden. Zugleich dient die Website aber auch zur Präsentation von Glasgeschichte(n), bietet also ein Spielbein für weitergehende Aspekte des Werkstoffs und Sammelobjektes Glas. Die Geschwindigkeit, mit der all dies umgesetzt werden kann, ist natürlich abhängig von den Vereinsmitgliedern. Die Website ist zugleich aber auch ein offenes Forum für alle einschlägig Interessierten. Förderung und Unterstützung kann der Freundeskreis Glas jedenfalls gut gebrauchen – und sie finden auch dazu nähere Informationen auf der Website.

Aussichten einer kritischen Heimatgeschichte Boffzens

Die lokalen Widerstände gegen eine kritische Heimatgeschichte, insbesondere aber eine auch nur rudimentäre Aufarbeitung der NS-Geschichte der Glashütten, ihrer Unternehmer und Arbeiter waren überraschend. Auch wenn jeder weiß, dass die öffentliche Rhetorik des „Kampfes gegen Rechts“ nur Ausdruck der Hilflosigkeit im Umgang mit extremistischen Herausforderungen der Bundesrepublik ist, so war die offenkundige Kombination von Unwissen, Ignoranz und Indifferenz doch bemerkenswert. Boffzen ist dafür nur ein Symptom, ist keineswegs außergewöhnlich. Der massive Abbau des Geschichtsunterrichtes nicht nur in Niedersachsen, die dominante Reduktion von Historie auf Unterhaltungsthemen und nicht zuletzt die öffentliche Erinnerungskultur mit ihren ritualisierten Einseitigkeiten und Selbstgefälligkeiten haben ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das für eine kritische Heimatgeschichte nicht günstig ist. Sie ist dennoch unverzichtbar.

Die lokalen Widerstände haben uns jedenfalls dazu angeregt, parallel, vor allem aber nach der Niederschrift der Stelentexte unsere Quellenrecherchen nochmals deutlich auszuweiten. Neben den einschlägigen Landesarchiven in Wolfenbüttel und Hannover haben Stefanie Waske und ich Akten aus dem Bundesarchiv Lichterfelde, dem Berlin Document Center, den Arolsen Archives und dem United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC zusammengetragen. Die wichtigsten Bestände gab es jedoch in der Region Holzminden, gar in der Samtgemeinde Boffzen. Dass diese Bestände größtenteils offiziell unverzeichnet waren, gab dem Ganzen eine besondere Note und erhöhte unsere Entdeckerfreude. All dies hat unsere Wissensgrundlage über die Geschichte der (Boffzener) Glasindustrie deutlich verbreitet – und wir hoffen in Zukunft hierüber regelmäßig zu veröffentlichen.

Uwe Spiekermann, 11. November 2020

Eine andere Moderne – Ein Besuch der früheren Konsummühle Magdeburg

Deutschland feiert das Bauhaus. Die heterogene, aus Demokratieverächtern und Gemeinschaftsaktivisten, Architekten und Gestaltern, Künstlern und Sinnsuchern bestehende Institution ist heute handzahm und gut bürgerlich. Sie ist propperes Konsumgut, „öffentliche“ Mittel fließen, das Establishment feiert sich selbst. Wer will schon noch etwas wissen über die Wirrnisse der Bauhäusler zwischen Republik und Stalinismus, über ihre Anpassung im Nationalsozialismus und im Exil, gar über die engführende Rezeption zwischen New York und Stuttgart. Das breite Licht der Wagenfeld-Lampe überdeckt die Schatten.

Das Bauhaus war Aufbruch, eingebettet in eine breite Neudefinition des Alltags, der Konsumkultur, aller materiellen Gegenstände. Das weit darüber hinausreichende bauliche und gestalterisches Erbe wird heute auch abseits von Weimar, Dessau oder Berlin gern präsentiert, ein Bauhausbezug oft behauptet, eigenständiger Entwicklungen zum Trotz. Das zeigt sich etwa in Magdeburg, einem zu Unrecht weniger beachteten Ort der Moderne, ehedem eine Experimentierstätte des Umdenkens und Neugestaltens. Dort gab es in den 1920er Jahren eine der seltenen sozialdemokratischen Stadtregierungen, dort agierten viele zwischen Werkbund und Bauhaus, zwischen großer Reform und praktischer Alltagsverbesserung. Die bunte Broschüre „Magdeburger Moderne. Neues Bauen in der Ottostadt“ lockt Touristen in die Hauptstadt Sachsen-Anhalts: Vier Wanderrouten stellen 32 Ziele näher vor, Siedlungen und Einzelgebäude, Denkmäler und Industriebetriebe. Das erlaubt eine Perspektivenweitung über die Enge des Bauhauses hinaus, führt hinweg über die immergleichen Namen der vermeintlichen und realen Visionäre.

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Selbstbestimmte Warenwirtschaft als Grundlage einer Welt freier, gleichberechtigter Bürger (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 22, 1929, 193)

Die heutige Bauhauserbauungskultur dient nämlich immer auch der Ausgrenzung anderer Narrative und gelebter, praktischer Geschichte. Das gilt nicht zuletzt für die in den 1920er und frühen 1930er Jahren auf einem historischen Höhepunkt stehende Konsumgenossenschaftsbewegung. Diese war zweigeteilt, erst im Nationalsozialismus erfolgte eine Zwangsvereinigung. Der eher bedächtige katholische Reichsverband der Konsumvereine (1924: 735.000 Mitglieder und 100 Mio. RM Umsatz) war deutlich schwächer als der tendenziell sozialdemokratische Zentralverband deutscher Konsumvereine (1924: 3,5 Mio. Mitglieder resp. 381 Mio. RM Umsatz), der die dritte und letztlich breiteste Säule der „Arbeiterkultur“ bildete. Diese wuchs während der 1920er Jahre voll Wucht. Wer nicht mitschritt, die nicht kaufenden „Papiersoldaten“, wurde ausgeschlossen, und der Umsatz der 1930 mehr als 2,9 Mio. Genossen (und ihrer Familienangehörigen) erreichte staatliche 1,24 Mrd. RM. Das waren mehr als zehn Millionen Deutsche, das waren fast fünf Prozent des deutschen Einzelhandelsumsatzes. Mehr als alle Warenhäuser – und dabei hatte man mit dem Vertrieb von Gebrauchsgütern doch gerade erst begonnen. Den wegbewussten Sozialdemokraten waren die katholischen Genossen recht suspekt, begnügten sie sich doch mit preiswerten und standardisierten Waren. Sie mochten gläubig auf das verheißene Paradies warten. Doch die Genossen des Zentralverbandes verkündeten Wirtschafts- und Gesellschaftswandel im Diesseits. Ihre Läden, ihre rasch wachsende Zahl von Produktionsbetrieben sollten Vorboten einer genossenschaftlichen Alternativwirtschaft sein. Es ging nicht um ein paar Farbkleckse auf Leinwand, sondern um die konkrete Verbesserung des Alltags, um gute Ware zu fairem Preis. Und mehr noch: Arbeit in einer gemeinschaftlichen Binnenwelt, Kapital durch eigene Sparvereine und Banken, Boden und Besitz durch Baugenossenschaften. Den Konsumgenossenschaftlern ging es um die Überwindung der dominierenden „Profitwirtschaft“ und zugleich Distanz zum Staat, dem verschwenderischen Moloch und großen Fronherrn. Doch anzusetzen war niedriger, vielgestaltiger: In der Warenwirtschaft schien die „Eigenproduktion“, also Gebrauchsgüterproduktion in eigener Verantwortung, der entscheidende Hebel für eine neue Welt. Die Überschüsse flossen dann nicht in die Taschen weniger, sondern als Rückvergütung zurück an die Mitglieder und als Investitionsmittel in das Wachstum der Organisation.

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Baustein einer Gegenwelt: Die Magdeburger Konsummühle 1927 (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 185)

Der verhaltene Siegeszug der Konsumgenossenschaften setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, veränderte den Einkauf vor allem lokal. Liberales Freiheitsversprechen und sozialdemokratische Solidarität verbanden sich in dieser Bewegung. Die Konsumgenossenschaften etablierten immer dichtere Ladennetze, ihr steigender Umsatz schuf langsam Einkaufsmacht, Konkurrenz mit den etablierten Anbietern wurde so einfacher. Wichtiger aber war, dass viele Genossenschaften mit der Eigenproduktion begannen und zuerst Bäckereien, dann auch Fleischereien ins Leben riefen, Kaffee rösteten, Mineralwasser auf Flaschen zogen. 1914 produzierte mehr als ein Viertel eigene Lebensmittel, 238 Konsumbäckereien versorgen die Mitglieder mit frischem, meist maschinell produziertem Brot und Backwaren. 1926 sollten es schon 367 mit 4.000 Beschäftigen sein.

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Ein Blick in die Bäckerei der Verbrauchergenossenschaft Magdeburg (Die Rundschau 36, 1939, 265)

Damit nähern wir uns Magdeburg, dem Ort meines Besuches. Hier hatte sich der Konsumverein schon in den 1890er Jahren von der Brotbelieferung durch „kommerzielle“ Bäcker frei gemacht. Doch das Mehl bezog die neue Konsumbäckerei von Großanbietern der Branche, nämlich leistungsfähigen Handelsmühlen. Hierbei half vielfach die eigene Großhandelsorganisation, die 1894 in Hamburg gegründete Großeinkaufsgesellschaft deutscher Consumvereine (GEG). Gewinne verblieben dennoch beim „kapitalistischen“ Anbieter und Konkurrenten. Die GEG begann nach der Jahrhundertwende jedoch, eigene Produktionsstätten für die Produkte aufzubauen, die vor Ort nicht sinnvoll herzustellen waren und für die man die Vorteile der Massenfabrikation nutzen konnte. Die englische Co-operative Wholesale Society in Manchester wies dabei den Weg: Heinrich Kaufmann (1864-1928), spiritus rector der Konsumvereine, dachte sicher auch an die riesige Konsummühle in Manchester als er schrieb: „Wir dürfen daher mit Recht sagen, daß […] britische genossenschaftliche Gegenwart unsere deutsche Zukunft ist“ (Heinrich Kaufmann, Ein konsumgenossenschaftlicher Blick in die Zukunft, Hamburg 1921, 36).

Doch der Weg hin zur Eigenproduktion war steinig. Kapitalmangel, schlechte Erfahrungen mit den Produktivgenossenschaften im späten 19. Jahrhundert, Widerstände der landwirtschaftlichen Genossenschaften, die feindliche Agitation der Mittelstandsbewegung und auch lähmende Kämpfe innerhalb der Konsumgenossenschaftsbewegung bremsten die Entwicklung. Und immer wieder gab es Widerstand vor Ort: Als 1904 die Eigenproduktion mit einer Seifenfabrik in Aken südlich von Magdeburg aufgenommen werden sollte, sahen besorgte Bürger darin eine „Gefährdung der Staats- und Gemeindeinteressen“, während der Magdeburger Chemiker Otto Pfeiffer vor möglichen Beeinträchtigungen der Wasserqualität warnte. Erst 1910 konnte die Seifenfabrikation im sächsischen Gröba beginnen. Bis zum ersten Weltkrieg folgten Tabak-, Senf-, Zündholz-, Verpackungs- und Teigwarenfabriken mit 1914 insgesamt 1420 Beschäftigten. Schon damals hatte die GEG über Großmühlen an verschiedenen frachtgünstigen Orten nachgedacht, um die Mitglieder, insbesondere aber die Konsumbäckereien und die Teigwarenfabrik mit Mehl und Mühlenartikeln zu beliefern. 1916 beschloss die GEG insgesamt mittelfristig drei Getreidemühlen zu errichten (Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Frankfurt a.M. 1971, 371). In Magdeburg hatte die GEG bereits 1912 ein etwa 57.000 qm großes Gelände gepachtet, das anfangs als Standort eines Lagers für die mitteldeutschen Konsumvereine gedacht war (Rundschau des Reichsbundes der deutschen Konsumgenossenschaften 30, 1933, 736). Dort sollte die Großmühle gebaut später werden.

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Magdeburg als Stadt der Moderne: Leuchtturm und Pferdetor 1927 (Zeitbilder 1927, Ausg. v. 24. April, 4)

Warum aber in Magdeburg? Neben dem direkt nutzbaren Baugrund sprachen vor allem vier Gründe für die mitteldeutsche Industriestadt. Erstens lag Magdeburg verkehrsgünstig. Das galt für die Elbe und verschiedene Kanalprojekte, zumal den Elbe-Havel- und den Mittellandkanal. Von dort konnte nicht nur der so wichtige sächsische Raum kostengünstig versorgt werden, sondern ebenso die Hauptstadt Berlin. Wasserwege und Eisenbahnverbindungen erlaubten zugleich eine Zufuhr sowohl von Auslandsgetreide als auch von Roggen aus den ostelbischen Gebieten. Zweitens besaß Magdeburg einen traditionsreichen und aufstrebenden lokalen Konsumverein. Während die Genossenschaften in Buckau, Sudenburg und der Altstadt nicht erfolgreich waren, hatte sich der 1864 aus einem Arbeiterbildungsverein entstandene Konsumverein Magdeburg-Neustadt um die Jahrhundertwende als führender Lebensmittelanbieter mit einem Marktanteil von etwa einem Drittel etabliert. Seine breite, bis weit ins Bürgertum reichende Mitgliedschaft erwies sich jedoch als Bürde als sich die lokalen Kolonialwarenhändler zu schlagkräftigen Rabattspargesellschaften zusammenschlossen und sich dann mit dem 1907 gegründeten „Waren-Verein“ Magdeburg ein von Großhändlern organisierter Massenfilialist als Preisbrecher etablierte. Die Zahl der Mitglieder des Konsumvereins sank von 1907 15.002 Mitgliedern binnen zweier Jahre auf 10.345, ehe eine Konsolidierung begann (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft, 332f.). Als Konsumverein für Magdeburg und Umgebung 1912 neu aufgestellt, war das Wachstum vor allen in den 1920er Jahren beeindruckend: 1929 hatte die Genossenschaft mehr als 800 Beschäftigte, 34.396 Mitglieder und einen Umsatz von über 14 Millionen RM (Die Rundschau 36, 1939, 295). Drittens hatte die GEG schon 1923 nahe des Magdeburger Bahnhofs eine Nährmittelfabrik und ein Vertriebslager in Betrieb genommen. In den 1920er Jahren produzierten teils mehr als 70 Beschäftigte vor allem Back- und Puddingpulver, zugleich wurden dort Einkaufstage und Genossenschaftstreffen abgehalten. Vor Ort gab es also Expertise und etablierte Geschäftsbeziehungen. Viertens schließlich stand die Stadt Magdeburg während der zwölfjährigen Oberbürgermeisterschaft von Hermann Beims (1863-1931) dem Projekt aufgeschlossen, ja fördernd gegenüber; auch wenn der Magistratsbaurat Johannes Göderitz (1888-1978), an sich ein Propagandist des Neuen Bauens, die Bauherren der Mühle zwang, den ersten Entwurf von 1925 unter „baukünstlerischen“ Aspekten zu überarbeiten, insbesondere aber die Silohöhe zu reduzieren (Sabine Ullrich, Industriearchitektur in Magdeburg, Magdeburg 2003, 164).

Der Spatenstich der Konsummühle erfolgte am 11. Januar 1926. Entwurf und Ausführung lagen in den Händen des Technischen Büros der GEG, unterstützt vom Münchener Ingenieurbüro Schulz & Kling und dem Hamburger Architekten Hanke. Die Gebäude waren bis Ende 1926 fertiggestellt, es folgten die Montagearbeiten. Im Mai 1927 nahm die Betriebsleitung ihre Arbeit auf, zeitgleich bereitete die von Hamburg nach Magdeburg verlegte Handelsabteilung den Warenvertrieb für den mitteldeutschen Raum vor. Am 29. August 1927 begann der Müllereibetrieb mit dem Einmahlen, also der Feinjustierung der Maschinerie. Die Roggenmühle machte den Anfang, bei Betriebsbeginn am 1. Oktober 1927 liefen auch die Weizen- und Hartgrießmühlen. 1928 nahm man dann auch die Produktion von Graupen und Haferflocken auf. Der Betriebsbeginn und insbesondere die Besichtigung der neuen Mühle durch die GEG-Führung und die lokalen Honoratioren am 10. November 1927 fanden beträchtlichen Widerhall in der lokalen und konsumgenossenschaftlichen Presse. Die Inbetriebnahme erschien der GEG als das „bedeutsamste Ereignis für die gesamte deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung“ (GEG-Geschäftsbericht 1927, 7) des Jahres 1927. Mehl in Eigenregie hieß Brot in Eigenregie. Das war ein weiterer Schritt hin zur Etablierung einer menschengerechten Wirtschafts- und Lebensweise.

Die Architektur der Mühle unterstrich diesen Anspruch. Die Fassaden waren schnörkellos, funktional, die Klinker schimmerten rötlich. Sie verdeckten einen Betonbau, eine Stahlstruktur, gaben ihm zugleich aber eine einheitliche kubische Form. Dadurch konnten die vier verschiedenen Betriebssegmente zu einer Einheit verbunden werden – so wie die Vielzahl der Bedürfnisse der Mitglieder unter dem Dach des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine. Die Mühle lag im vor dem ersten Weltkrieg errichteten Industriehafen, Schiffstransport von Getreide und Mehl war also einfach möglich. An beiden Seiten des Komplexes lagen Bahngleise, teils für die Produkte, teils für Heizkohle. Lastwagen und Fuhrwerke fanden ebenfalls Platz. Die Mühle war also eine gewerbliche Drehscheibe, gedacht für die effiziente Bearbeitung und den raschen Vertrieb.

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Die heutige Getreidemühle Klosterkamp. Seitenansicht

Blickt man genauer hin, sind Silo, Mühle, Mehllager und Betriebsgebäude voneinander zu unterscheiden. Das Silo war 41 Meter hoch, auf seiner Spitze prangte das Zeichen der GEG. 18 Meter breit und 36 Meter lang fasste es in 66 Zellen bis zu 7500 Tonnen Getreide. Und mehr als das: Die Temperaturen in den Einzellagern konnten mit je drei Thermometern kontrolliert werden, Frischluftbelüftung und eine Heißlufttrockenanlage erlaubten die Pflege und Verbesserung des Mahlgutes. Das Silo wurde mit Sauggasanlagen befüllt, sein Inhalt lief über automatische Wagen und Reinigungsmaschinen. Aufzüge und Förderbänder erlaubten den Transport des Getreides, zumeist in das integrierte Arbeitssilo, in dem bis zu 1000 Tonnen gelagert und für die Müllerei vorbereitet wurden. Die einzelnen Getreidearten besaßen jeweils eigene Transport- und Schälsysteme, um eine standardisierte Qualität zu garantieren.

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Walzenboden der Müllerei der Konsummühle Magdeburg (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 22, 1929, 207)

Die eigentliche Mühle befand sich auf der rechten Seite des Gebäudes, war unterirdisch mit dem Silo verbunden, wurde von dort aus bestückt. Hören wir den sachlichen Bericht des Betriebsleiters Petzold, so schnörkellos wie das Gebäude: „Das Mühlengebäude ist 60,80 m lang, 17,20 m breit und 27,20 m hoch. Im Erdgeschoß befinden sich die Antriebsmaschinen (Elektromotoren) und Transmissionen zum Antrieb der Walzenstühle der Roggen-, Weizen- und Hartgrießmühle. Auf dem Walzenboden, dem sogenannten Schmuckkasten einer Mühle, sind 55 Walzenstühle eingebaut, davon entfallen auf die Roggenmühle 16, Weizenmühle 31 und Hartgrießmühle acht Walzenstühle. Der Rohrboden ist mit Schnecken und Zulaufrohen versehen, die Schrot und Mahlgut auf die Walzenstühle bringen“ (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 24, 1927, 616). Der Ingenieur war begeistert ob dieser sonoren Maschinerie, in der die Menschen Diener der Maschine, Diener des Gesamtzwecks waren. Der Betrieb lief kontinuierlich, täglich in drei Acht-Stunden-Schichten. Weizen, Roggen, Hartweizen, Hafer und Gerste wurden parallel vermahlen, durchliefen das Gebäude von unten nach oben, getrieben von Elektromotoren und einer steten Krafttransmission.

Die fertigen Produkte wurden schließlich in den links gelegenen Mehlspeicher transportiert. Dieser war ebenso lang und hoch wie die Mühle, mit 15,60 Metern allerdings etwas schmaler. Dort wurde das Mahlgut gemischt und gelagert und wiederum, meist über Rutschen, auf Schiffe, Eisenbahnwaggons oder Lastwagen verladen. Zuvor erfolgte jedoch – wie schon beim Getreide – ein Stichprobenkontrolle im Laboratorium und in der Versuchsbäckerei (Die Konsum-Genossenschaft 7, 1927, 163).

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Blick auf die Südfassade und das Kesselhaus der Konsummühle Magdeburg (Rundschau des Reichsverbandes deutscher Verbrauchergenossenschaften 30, 1933, 749)

Umrahmt waren Silo, Mühle und Mehlspeicher durch verschiedene Betriebsgebäude. Zur Straße hin lagen die Verwaltungsgebäude, ein Pförtnerhaus, auch Wohnungen der Betriebsleiter. Seitlich erstreckte sich das Kesselhaus, die eigentliche Kraftzentrale. Mit 45 Metern Länge, 13 Metern Breite und 14 Metern Höhe trat es etwa in den Hintergrund, doch dafür überragte der 50 Meter hohe, heute nicht mehr vorhandene Schornstein die Anlage. Hier befanden sich auch Werkstätten, die Aufenthaltsräume und Waschgelegenheiten. Arbeitsschutz wurde großgeschrieben, ebenso die Eindämmung der Feuergefahr. Eine Sprinkleranlage, zahlreiche Feuerlöschgeräte und Hinweisschildern dienten der Sicherheit von Betrieb und Beschäftigten. All das war modern, Teil rationalisierter Betriebsabläufe. Doch es war nicht „amerikanisch“ im engen Sinne: Ein massiv gebauter Fahrradschuppen bot Platz für 90 Räder, denn die Arbeiter konnten von einem Auto nur träumen.

Diese Fakten wurden von der konsumgenossenschaftlichen Presse voll Stolz verbreitet (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 146). Abseits der Ziffern findet sich jedoch auch eine Metaphysik des Wollens: Die Anlage wurde zum Symbol einer nach vorn schreitenden Gemeinschaft. Franz Mitzkat, langjähriger Redakteur des Nachrichtenorgans „Konsumgenossenschaftliche Rundschau“ und später der Familienzeitschrift „Konsumgenossenschaftliches Volksblatt“, bot dafür ein gutes Beispiel: Wem „das Wesen unseres Eigenwollens noch fremd, auch dem muß angesichts dieser Mühle ein Fühlen und Verstehen kommen vom Geiste und der Kraft, die unaufhaltsam vorwärtsdrängten zur konsumgenossenschaftlichen Gemeinwirtschaft. Mit ehrlichem Bewundern verfolgt der Besucher das beim ersten Anblick fast rätselhafte, nach durchdachten, praktisch angewandten Gesetzen hochentwickelter Technik schlüssig ineinandergreifende maschinelle Walten, steht er vor dem Wunder nahezu vollständig menschenleerer Arbeitsräume, empfindet er den Zauber, die geradezu überwältigende Sinnigkeit und Schönheit eines lichten, blitzend sauberen Saales, eines Prunkgemachs voll etwa 60 blinkender, lebender, schaffender Walzenstühle. Ach, wie verblaßt vor diesem Rhythmus wundervoller Mechanik alle einstmalige Windmühlenpoesie, wie arm dünkt uns hier das Lied der Mühlensteine. […] Hier stehen Erfindergeist und seine praktischen Folgen im Dienste einer neuen Wirtschaftsform, der aufstrebenden, genossenschaftlichen Bedarfsversorgung, die sich das leisten kann, dank der erworbenen eigenen Stärke, und leisten muß um des höchstmöglichen Ertrags ihrer eigenen Produktion“ (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 24, 1927, 758; ähnlich Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 20, 1927, 185). Das Bestaunen des Werdens wird hier deutlich. Die nüchterne Architektur der neuen Sachlichkeit war Ausdruck des Neuen, war Abkehr vom überholten Alten. Es galt, die Schönheit der industriellen Produktion und funktionaler Architektur zu besingen. In der sozialdemokratischen Volksstimme hieß es: „Im Stile der neuen Sachlichkeit ohne jeden äußern Schmuck wurde der Bau aus violetten Klinkersteinen errichtet. Ein Industriepalast in modernster Gestaltung wurde errichtet, der zu dem Schönsten gehört, was Magdeburg auf diesem Gebiete aufzuweisen hat. Trotz der Einfachheit in der Behandlung der Fronten ist nicht der Eindruck klobiger, unförmlicher Gebäudemassen entstanden. Durch die Anordnung der einzelnen Teile zueinander liegt Bewegung und Schwung in der Architektur“ (Magdeburger Volksstimme 1927, Nr. 257 v. 13. November, 7).

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Blick auf das frühere Mühlengebäude und den Verbindungsturm zum Mehllager

Treten wir nüchtern zurück, dann erscheinen die Konsumgenossenschaften und ihre modernen Industriebauten als Teil des Fordismus, als Ausprägung industrieller Rationalisierung, als Element des gewundenen Weges zum Jetzt. Doch die Genossenschafter sahen hierin einen Beitrag zur Überwindung der Klassengesellschaften des Kaiserreichs und auch der Weimarer Republik. Gebäude wie die Mühle gaben Kraft und Mut: „Die Großmühle Magdeburg war der Anfang auf einem der GEG noch neuen Produktionsgebiet, weitere Unternehmungen werden die genossenschaftliche Selbständigkeit auf diesem Erzeugergebiet vervollkommnen“ (Betriebsräte-Zeitschrift für Funktionäre der Metallindustrie 9, 1928, 517).

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Die Konsummühle Magdeburg als Teil der konsumgenossenschaftlichen Eigenproduktion (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 11, 16)

Hat sich die Mühe gelohnt, haben sich die Investitionen amortisiert? Blicken wir auf die Zahlen. Demnach wurden die Erwartungen voll erfüllt. Fast 200 Menschen fanden in der Konsummühle bis zur Machtzulassung der Nationalsozialisten einen gut bezahlten Arbeitsplatz. Der Betrieb lief durchgehend in Volllast, erreichte seine volle Produktionskapazität und konnte sich auch unter enormem wirtschaftlichem und politischem Druck und massivem Preisverfall behaupten. Doch diese beträchtliche Stabilität hatte eine Schattenseite: Die GEG setzte auch aufgrund dieser Erfolge weiter auf Expansion. Seit 1930 traten zwei kleinere Mühlen in Bochum und Duisburg an die Seite Magdeburgs, 1931 kam eine neue, ebenfalls im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaute Großmühle in Mannheim hinzu. Und 1932, dem Höhepunkt der Krise, eröffnete die GEG einen weiteren Müllereibetrieb im oberbayerischen Reichertshofen. All dies entsprach einer langfristigen Expansionsstrategie, die 1931/32 aber nicht mehr zeitgemäß war, sondern zu massiven Finanzierungsproblemen führte.

Tabelle 01_Konsummühle Magdeburg 1927-1932

Die Konsummühle Magdeburg war ein erfolgreiches Vorzeigeprojekt. Dort wurde hygienisch produziert, dem Ideal des Blitzblank gefrönt. Die Weizenmarke Ährenstolz, auch die dann preiswertere Marke Feldkrone, gewannen rasch Stammkunden. Das galt auch für die in Paketen gelieferten Haferflocken und Graupen. Die Konsummühle erfüllte ihre Aufgabe als Lieferant der Teigwarenfabrik Gröba-Riesa, ebenso trug sie zur Futtermittelversorgung vieler Einzelgenossenschaften bei. Die Mühle bezog zunehmend Getreide von landwirtschaftlichen Genossenschaften – 15.442 Tonnen 1929 –, verarbeitete Getreide vom GEG-Landgut in Osterholz, nutzte also Verbundvorteile und förderte den Genossenschaftsgedanken als solchen.

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Backen mit GEG-Ährenstolz mit dem Konterfei der Konsummühle (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 26, 1933, Nr. 12, 12)

Doch all das reichte nicht. Die Politik der NS-Regierung beschleunigte den raschen Niedergang der Konsumgenossenschaftsbewegung, die bis 1935 nochmals 30% ihres Umsatzes verlieren sollte, ehe eine gewisse Konsolidierung gelang. Die hehren Ideale wurden 1933 von vielen verantwortlichen Funktionären nicht praktiziert. Die nicht zu erahnende Anbiederung an das NS-Regime war rational teils nachvollziehbar, brach der stolzen Bewegung jedoch das moralische Rückgrat. „Arbeit und Brot“ war zur NS-Parole geworden, der neue konsumgenossenschaftliche Reichsbund propagierte „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, und die Mühle diente nun Zielen wie der „Nahrungsfreiheit“ Deutschlands und der alimentären Kriegsvorbereitung. Viele Genossenschaftler zerbrachen daran, so der schon erwähnte Franz Mitzkat, der erst seine Stellung als verantwortlicher Redakteur, dann als Leiter der GEG-Bibliothek verlor. Er lebte bis zu seinem Tod 1944 unter Dauerdruck durch Gestapo und NS-Stellen, wurde drangsaliert und seines Lebens nicht mehr froh. Noch im Sommer 1933 hatte seine Zeitschrift mit Wehmut über das Ende der Windmühlen angesichts des Aufstieges auch der Magdeburger Konsummühle berichtet: „Es ist das Schicksal des Guten, das dem Besseren weichen muß, das sich hier vollzieht“ (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 12, 11). Für den Zentralverband deutscher Konsumvereine traf dies nicht zu.

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Die alte Struktur trägt bis heute: Blick in das Silo

Die im Bombenkrieg nur geringfügig beschädigte Konsummühle Magdeburg wurde während der NS-Zeit, der Besatzungsherrschaft und der DDR weiter betrieben, Ergänzungen und Umbauten blieben moderat. 1950 eröffnete man ein Wohlfahrtsgebäude mit Werksküche und Konsumverkaufsstelle. Der VEB Konsummühle inklusive der benachbarten, Ende der 1970er Jahre aufgebauten Teigwarenfabrik wurde nach der Wende von der Braunschweiger Mühle Rüningen übernommen. Anfangs lief der Betrieb weiter, dann stellte man auf Biogetreide um. Das endete 2008. Drei Jahre Leerstand. 2011 übernahm die Bio-Getreide-Erzeugergemeinschaft Öko-Korn-Nord aus Betzendorf die denkmalgeschützte Konsummühle. Sie lagert heute im Silo vor allem Bioland-Getreide, verteilt es, nutzt damit die Kapazitäten der Anlage zumindest teilweise. Die frühere Mühle und das Mehllager stehen heute leer, sind entkernt, ebenso die Nebengebäude. Doch die Konsummühle steht noch und mit ihr ihr Anspruch.

Uwe Spiekermann, 23. Februar 2019

Wegbereiter des Massenkonsums. Die Anfänge des modernen Lebensmitteleinzelhandels

Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist ein Basisproblem jeder Gesellschaft. Sie zu sichern, war bis in die frühe Neuzeit hinein Aufgabe zum einen einer direkt verkaufenden und tauschenden Landwirtschaft, zum anderen einer städtischen Ernährungspolitik, die das Marktwesen und die Stadt-Land-Beziehungen autorativ regelte. Der Handelsstand sicherte in diesem System vornehmlich die Versorgung mit Waren, die nicht im direkten Umfeld produziert werden konnten.

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Versorgung aus dem Umland: Werdersche Marktverkäuferinnen (Berliner Leben 5, 1902, 225)

Diese Struktur geriet unter wachsenden Druck, als seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung in Deutschland stetig zunahm, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine langsame Verstädterung begann und als schließlich zwischen 1830 und 1850 die „Industrialisierung“ erste Regionen prägte. Die derartig bewirkte Mobilisierung und stärkere Zentralisierung der Menschen zerschnitt immer stärker die Bande zur Selbstversorgung und erforderte neue Versorgungsinstanzen. Waren Märkte, Hausierer, Höker, Krämer und Handwerkshandel die Garanten für die Existenz und begrenzte Freiheit der Stadt des 12. bis 18./19. Jahrhunderts, so schuf erst der nun entstehende moderne Lebensmittelhandel die Basis für einen neuen Aggregatzustand der Gesellschaft, der Konsumgesellschaft. Dass dies mit intensivierter Landwirtschaft und einem leistungsfähigeren Transportsystem einherging, ist offenkundig.

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Gemischtwarenladen um 1850 (Düsseldorfer Monatshefte 5, 1852, 46)

Symbol der Veränderungen wurde der Laden, der den (Wochen-)Markt als dominante Form des Lebensmittelabsatzes ablöste. An die Stelle des verkaufenden Produzenten trat zunehmend ein professioneller Händler, der in kleingewerblichem Rahmen das Angebot der Produzenten bzw. des sich immer stärker etablierenden Großhandels kundennah aufbereitete und absetzte. Der Laden brachte die Ware nah an den Kunden, die heute  nostalgisch verklärten zentralen Markthallen konnten hiergegen trotz hygienischer Vorteile nicht bestehen. Als neue Konkurrenz entstand jedoch der städtische Straßenhandel von ambulanten Verkaufsstellen, der vor allem den Absatz von frischem Obst und Gemüse prägte. Die Entwicklung der Betriebs- und Beschäftigtenziffern verdeutlicht die Dynamik des Wandels im gesamten Lebensmittelhandel.03_Tabelle Lebensmitteleinzelhandel 1875-1914Dieses quantitative Wachstum ist allein mit dem Bevölkerungswachstum, der Urbanisierung und langsam steigenden Realeinkommen nicht hinreichend zu erklären. Innere Veränderungen innerhalb des Handels waren ebenso bedeutsam: Zum einen erweiterte sich das Warensortiment. Erstens wuchs der Absatz der ehedem den Krämern vorbehaltenen Kolonialwaren: Kaffee, Kakao, Tee und Zucker wurden zu bedeutenden Massengütern mit attraktiven Gewinnspannen. Zweitens integrierte der ladengebundene Einzelhandel große Teile des Handels mit Landesprodukten, also mit Kartoffeln, Gemüse, Milch und Molkereiprodukten sowie Mehl und Müllereiwaren. Drittens schließlich nahmen Zahl und Bedeutung gewerblich be- und verarbeiteter Lebensmittel stetig zu: Anfangs waren dies Halbfabrikate, etwa Teigwaren, Präserven und Konserven. Es folgten Suppenpräparate, Backutensilien, Puddingpulver oder Malzkaffee. Diese neue Warenfülle war von einem Geschäftstyp allein nicht mehr zu bewältigen.

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Werbung eines führenden Zigarrenhändlers 1905 (Berliner Leben 8, 1905, Nr. 12)

Auch wenn Kolonial- und vor allem Gemischtwarenhändler ihr Sortiment relativ breit anlegten, war die betriebliche Spezialisierung auf einzelne Warengruppen die zweite Hauptveränderung und Ursache für das beträchtliche Wachstum des Lebensmittelhandels zumal seit den 1880er Jahren. Milch-, Brot-, Molkereiwaren-, Grünwaren-, Obst-, Delikatessen- und Spirituosengeschäfte entstanden in größerer Zahl erst im Kaiserreich und prägten damals den Alltagskonsum. Kleine und mittlere Nachbarschaftsläden waren zumeist Familienbetriebe in denen der Mann für die Beschaffung der Waren, die Frau dagegen für den Verkauf zuständig war. Die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung nahm zu, war jedoch noch nicht dominant. Ein romantischer Rückblick auf diese dezentralen und kundennahen Strukturen wäre jedoch verfehlt. Arbeitszeiten von täglich 14 bis 16 Stunden waren keine Seltenheit, und auch am Samstag und Sonntag wurde nicht geschlossen. Erst 1892 begann eine zögerliche staatliche Schutzbewegung, die erst die Sonntagsarbeit einschränkte, dann vor Ort den Neun- beziehungsweise Acht-Uhr-Ladenschluss festlegte, ehe nach der Revolution 1919 schließlich Sonntagsruhe (mit Ausnahmen), Samstags-Frühschluss und Sieben-Uhr-Ladenschluss vorgeschrieben wurden.

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Erinnerungsbildende Ausnahme. Fleischwarenfachgeschäft Robert Koschwitz (Berliner Leben 17, 1914, Nr. 12)

Die kleinen Geschäfte besaßen zudem kaum finanzielle Rücklagen. Das zumeist übliche Anschreiben erhöhte die Krisenanfälligkeit. Krankheit, Alter oder Mieterhöhungen bedeuteten für viele Händler den Bankrott, die durchschnittliche Bestandsdauer eines Geschäfts lag unter fünf Jahren. Auch wenn die kleinen Nachbarschaftsläden bis in die 1950er Jahre hinein dominant blieben, wurden sie schon während des Kaiserreichs immer stärker von großbetrieblichen Handelsformen bedrängt. Großen Eindruck machten die Lebensmittelabteilungen der Warenhäuser, die seit Mitte der 1890er Jahre neue Maßstäbe setzten.

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Lebensmittelhalle des neugebauten Warenhauses Leonhard Tietz in Köln (Zeitschrift für Waren- und Kaufhäuser 13, 1914, Nr. 16, 18c)

Lebensmittel waren dort billig, dienten als Lockmittel für die Kundschaft. Neuartige Produkte, etwa Tomaten oder Gemüsekonserven, fanden derart ihren Weg in den Massenmarkt. Doch die Warenhäuser hatten einen nur verschwindend geringen Marktanteil von 0,25 Prozent 1913 bzw. ca. 1,5 Prozent 1930. Wesentlich größere Bedeutung hatten die Massenfilialbetriebe, deren Anfänge in den 1870er Jahren lagen (1871 L. Gottlieb im Saargebiet, 1878 Schade & Füllgrabe im Frankfurter Raum). Zentrale Kalkulation und Lagerhaltung, Einkauf in großen Partien, eine einheitliche, offensiv gestaltete Werbung und dezentralen Verkauf ließen Firmen wie Kaisers-Kaffee-Geschäft (Juni 1914: 1369 Filialen; Juni 1927: 1147), Tengelmann (1913: ca. 400; 1935: 420) oder Heinrich Hill (1915: 98; Ende 1926: 153) große Bedeutung gewinnen. Ihr Sortiment blieb jedoch auf haltbare Stapelware (Kaffee, Schokolade, nikotinhaltige Suchtmittel) begrenzt, und nur Kaisers gelang die Ausbreitung im gesamten Deutschen Reich. 1913 wurden ca. 3 bis 4 Prozent aller Lebensmittel von Massenfilialbetrieben verkauft, 1933 lag dieser Wert schon bei 11 bis 12 Prozent.

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Schrecken des lokalen „Mittelstandes“: Werbung des Filialbetriebes Wareneinkaufsvereins Görlitz (Der Bazar 39, 1893, 403)

Bedeutender noch waren die Konsumgenossenschaften, deren Anfänge in den späten 1840er Jahren lagen. Sie waren Selbsthilfeorganisationen zur billigen Beschaffung von Lebensmitteln, die ähnlich wie die Filialbetriebe aufgebaut waren, denen jedoch das Gewinnmotiv ihrer privatwirtschaftlichen Konkurrenz fehlte. Ihre Mitglieder stammten vornehmlich aus der städtischen Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht, Leitungsfunktionen lagen vielfach in den Händen bürgerlicher Reformer. Die unteren Schichten blieben außen vor, da die Konsumgenossenschaften, wie auch Warenhäuser und Massenfilialisten, Barzahlung forderten. Der „Mittelstand“ sah in ihnen dagegen seit den 1870er Jahren primär eine Institution der bekämpften und unterdrückten Sozialdemokratie – und dies trotz zahlreicher Vereine mit liberalem und katholischem Hintergrund. Der Einkauf von Lebensmitteln entwickelte sich dadurch auch zum Wahlhandeln für eine politische und gesellschaftliche Ordnung, quasi zur moralischen Option. Die Herausforderung der Konsumgenossenschaften steigerte sich noch, als sie nach der Jahrhundertwende die selbstbestimmte Produktion von Lebensmitteln intensivierten und so zum bedeutendsten Nahrungsmittelproduzenten des Deutschen Reiches aufstiegen. Auch wenn ihr Marktanteil 1913 bei nur ca. 5 Prozent, 1930 dann bei 10 Prozent lag, waren die Konsumgenossenschaften sicherlich die konzeptionell zukunftsweisendste Betriebsform des Lebensmittelhandels. Das galt vor allem für den Anspruch, den Mitgliedern ein Vollsortiment anzubieten. Doch gerade sie wurden seit 1933 systematisch bekämpft und letztlich entscheidend zurückgeworfen. Nutznießer war der selbständige Facheinzelhandel.

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Verkaufsstelle der Konsumgenossenschaft Nürnberg-Fürth 1911 (Geschäftsbericht 1911 bis 1912 der Konsumgenossenschaft Nürnberg-Fürth, Nürnberg 1912, 33)

Dieser bekämpfte die großbetriebliche Konkurrenz jedoch nicht nur politisch, sondern übernahm Teile von deren Geschäftsprinzipien zum eigenen Nutzen. Da die Konsumgenossenschaften viele Mitglieder durch die jährliche Verteilung der Überschüsse (Rückvergütung) gewannen, schloss sich ein großer Teil der selbständigen Ladenhändler seit Ende der 1890er Jahre zu Rabattsparvereinen zusammen. Sie gaben an ihre Kunden Rabattmarken über meist fünf Prozent des Einkaufswertes aus, die bei einem bestimmten Betrag dann ausgezahlt wurden. Außerdem entstand mit der späteren Edeka 1907 eine erste auch langfristig erfolgreiche Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler, die ihren selbständigen Mitgliedern half, die Vorteile des Großeinkaufs und gemeinsamer Werbung zu nutzen.

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Einkaufsgenossenschaft Edeka wirbt für ihre Handelsmarken (Berliner Volks-Zeitung 1912, Nr. 131 v. 17. März, 20)

Während der Weimarer Republik ging der Marktanteil selbständiger Fachgeschäfte insgesamt zurück, doch die wachsende Bedeutung der Einkaufsgenossenschaften (ab 1927 auch Rewe) verwies schon auf Entwicklungen auch in der Bundesrepublik Deutschland.

Die tiefgreifenden Veränderungen schon vor dem Ersten Weltkrieg waren Folge eines intensivierten Wettbewerbs und des Funktionswandels des Lebensmitteleinzelhandels vom ergänzenden Versorgungsgeschäft zum zentralen Anbieter der Warenfülle einer sich Bahn brechenden Massenkonsumgesellschaft. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung aufgrund zu geringerer Einkommen dieses Angebot nicht vollständig nutzen konnte, so belegen Haushaltsrechnungen doch zur Genüge, dass den Verlockungen ab und an gerne nachgegeben wurde. Wesentlicher Wegbereiter des modernen Massenkonsums aber waren die Konsumgenossenschaften, die mit ihrem immer breiteren Angebot der Arbeiterschaft paradoxerweise eine Brücke zu den materiellen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts bauten.

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Kontinuität des „Alten“: Der Breslauer Neumarkt 1913 (Der Welt-Spiegel 1913, Nr. 39 v. 5. Mai, 2)

Zeichnete sich hier im Umbruch schon die Zukunft ab, so bot der Lebensmitteleinzelhandel der Jahrhundertwende insgesamt ein so buntscheckiges Bild wie niemals zuvor, wie niemals danach. Herrschte auf dem Lande teilweise nach wie vor Ergänzungswirtschaft, bildeten Wochenmärkte auch in den 1920er Jahren noch wichtige Konsumzentren, erlebte der Straßenhandel mit Obst und Gemüse gar eine Blütezeit und konkurrierten in der Stadt Kellerladen und Großbetrieb, so zeigte sich gerade im Handel die Ungleichzeitigkeit der Zeit, das Unsystematische der Jahrhundertwende wie in einem Brennglas. Dass unsere heutige Massenkonsumgesellschaft am Ende dieser Entwicklung stehen würde, schien den Zeitgenossen allerdings eher unwahrscheinlich zu sein.

Uwe Spiekermann, 24. Oktober 2018