Eine zerbrochene Heimat: Ruth Gröne auf den Spuren ihrer Kindheit in Boffzen

„Hüte Dich – Und bewahre Deine Seele gut, dass Du die Geschichte nicht vergisst, die Deine Augen gesehen haben. Und dass sie nicht aus Deinem Herzen komme, Dein Leben lang – und tue sie Deinen Kinder kund“ (Lesung: Sachor! – Erinnere Dich! Aus dem Leben der jüdischen Hannoveranerin Ruth Gröne – YouTube). Diese jüdische Weisheit stand am Ende eines Grußwortes der am 5. Juli 1933 in Hannover geborenen Ruth Ester Julie Gröne, geb. Kleeberg, anlässlich einer Lesung ihrer von Anja Schade verfassten Biographie „Sachor! – Erinnere Dich!“. Diese Erinnerung kreiste ihr Leben lang um den Ort der heutigen Gedenkstätte Ahlem, um die Erinnerung an ihren 1944 verhafteten und 1945 nach Internierung in Ahlem, Neuengamme und Sandbostel an Torturen und Typhus gestorbenen Vater Erich Kleeberg. Ruth Gröne lebte in der zu einem „Judenhaus“ umgewandelten früheren Israelitischen Gartenbauschule Ahlem seit der Ausbombung 1943 zuerst mit ihren Eltern, dann allein mit ihrer protestantischen Mutter Maria. Für ihr beherztes Engagement, ihre beharrlichen, bohrenden und vielfach erfolgreichen Rückfragen an Verwaltungen, Parlamente, Regierende und Firmen wie die Continental AG hat sie in den letzten Jahren zahlreiche Ehrungen erhalten, darunter 2017 den Theodor-Lessing-Preis. Dessen 1919 erschienenes Hauptwerk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ beinhaltet bis heute dringliche Rückfragen an unseren Umgang mit Vergangenheit, warnt vor der menschlichen Grundneigung des Umbiegens der eigenen Geschichte. Ruth Gröne hat ihre Geschichte immer wieder erzählt, mochte sie auch nicht kommod sein, gegen bequemes Vergessen stehen.

Ruth Grönes Erinnerung war immer eine des Verlustes, des unbegreiflichen und sinnlosen Verlustes ihres Vaters, ihrer in Riga ermordeten Großeltern Frieda und Hermann Kleeberg, ihrer Tante Martha Kleeberg, geb. Heimbach. Sie war immer auch die Geschichte einer zerbrochenen Kindheit, durchfurcht von nicht zu kontrollierenden, nicht einzuhegenden Mächten. Diese Kindheit ist eng mit dem kleinen Weserort Boffzen verbunden, bekannt durch Wilhelm Raabes Beschreibungen, bis heute geprägt von der dortigen Glasindustrie. In Boffzen wurde Erich Kleeberg geboren, hier stand das Haus der Großeltern, die dort eine Schlachterei, eine Viehhandlung betrieben. Dort traf sich die Verwandtschaft, dort erkundete auch die kleine Ruth das Haus, den Innenhof, die Nachbarschaft.

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Die kleine Ruth auf dem Schoß ihrer Großmutter, im Kreise der Familie Kleeberg, Boffzen 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Boffzen war und blieb ein wichtiger Teil der Erinnerung Ruth Grönes. Sie war geprägt von kindlichem Entdecken und Erkunden, von dem Grundvertrauen, dass die Welt gut sei, voller Wunder. Doch Boffzen stand auch für die Vertreibung dieser und anderer Familien, für den erzwungenen Verlust einer bis 18. Jahrhundert zurückreichenden jüdischen Gemeinschaft. 1939 kamen die Großeltern nach Hannover, fanden Herberge bei ihrem Sohn Erich, seiner Frau Maria und ihrer Tochter Ruth. Sie hatten zuvor ihr Geschäft in Boffzen schließen, Haus und Grundstück verkaufen müssen. Zu fünft lebten sie in einer 2-Zimmer-Wohnung, dann ab 1941 in einem „Judenhaus“, wurden dann getrennt, die Großeltern vor Weihnachten deportiert.

Ruth Gröne ist seit 1966 mehrfach nach Boffzen gefahren, an den Ort ihrer Kindheit, hat dort Kontakte geknüpft, sich entwickelnde Freundschaften gepflegt. 1988/89 wurde sie, aber auch ihre ins britische und US-amerikanische Exil gezwungenen Verwandten, Onkel Walter (Clay, geb. Kleeberg) und Tante Ruth (Kolb, geb. Kleeberg) von der Gemeinde Boffzen eingeladen, 2006 auf Ruth Grönes beharrliches Drängen hin ein Gedenkstein vor der Gemeindeverwaltung errichtet. Weitere Besuche folgten – und bei dem letzten fühlte sich die Hannoveranerin nicht mehr willkommen geheißen. Der Bürgermeister hatte für sie keine Zeit, der Verwaltungsvertreter war auf den Besuch nicht vorbereitet, nicht einmal auf den jüdischen Friedhof begleitete man den Gast.

Anja Schades Biographie „Sachor! – Erinnere Dich!“ veränderte dies. Ruth Gröne war häufiger Gast im Niedersächsischen Landtag, bei Landtagspräsidentin Gabriele Andretta. Deren persönliche Referentin, Stefanie Waske, stammte aus Boffzen, hatte das Buch gelesen, sprach nicht nur mit der Zeitzeugin, sondern auch mit ihrem Vater Walter Waske, früherer Landrat des Landkreises Holzminden, in Boffzen weiter kommunalpolitisch aktiv. Er nahm den Kontakt auf, Besuche folgten, Überzeugungsarbeit in Boffzen, schließlich erfolgte eine von allen Gemeindevertretern getragene Einladung. „Der erzwungene Verlust 1938. Boffzen erinnert sich seiner jüdischen Nachbarn“ war der Titel einer am 19. November 2022 durchgeführten Gedenkveranstaltung. Sie war wichtig, zumal für die Bürger Boffzens. Doch für Ruth Gröne war sie nur Teil einer neuerlichen Rückkehr an den Ort ihrer zerbrochenen Kindheit.

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Besuch im Jacob Pins Forum Höxter: Fritz Ostkämper erzählt von der Geschichte dieses Erinnerungsortes an die vertriebenen und ermordeten Höxteraner Juden (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Reise nach Boffzen und in die eigene Vergangenheit begann in Höxter. Dort besteht seit 2008 das Jacob Pins Forum, ein Ort der Erinnerung an den gleichnamigen, aus Höxter stammenden jüdischen Künstler. Das in einem alten umgestalteten Adelshof liegende Forum ist heute Veranstaltungsort für Konzerte, für Ausstellungen, dort kann man wichtige Werke von Pins sehen. Doch im Obergeschoss gibt es auch zwei kleine, erst jüngst umgestaltete Räume, die an die jüdische Geschichte in Höxter erinnern. Der langjährige Vorsitzende der Jacob Pins Gesellschaft, Fritz Ostkämper, der sich auch als Forscher zur jüdischen Geschichte Höxters und der Region einen Namen gemacht hat, präsentierte Ort und Ausstellungen, erzählte auch über Familien im Umfeld der Kleebergs.

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Letzter Testlauf: Walter Waske in der bereits von den Helferinnen der Arbeiterwohlfahrt und den Landfrauen eingedeckten Mehrzweckhalle (Foto: Uwe Spiekermann)

In Boffzen waren derweil die Vorbereitungen abgeschlossen. Die Mehrzweckhalle war geputzt, von Gemeindearbeitern bestuhlt worden, einhundert Bürger hatten sich zur Gedenkveranstaltung angemeldet. Die „üblichen Verdächtigen“, die verlässlichen Frauen der Arbeiterwohlfahrt und auch der Landfrauen, hatten dem Raum ein freundlicheres Ambiente gegeben, die Technik war aufgebaut und wurde nochmals überprüft. Boffzen war bereit für seine Gäste, Ruth Gröne übernachtete im Hotel „Alte Post“ in Boffzen – Anfang der 1930er Jahre ein Treffpunkt der lokalen NSDAP, heute von der Familie Winnefeld mit frischem Engagement betrieben. Angesprochen auf diese Geschichte, antwortete Ruth Gröne mit lapidar-ernstem Mutterwitz: „Die sind ja schon tot.“

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Aufbruch im Hotel „Alte Post“: Ruth Gröne mit Boffzens Bürgermeisterin Gudrun Raßmann (Foto: Stefanie Waske)

Der Rundgang durch Boffzen begann am Samstagmorgen. Dieses Mal nicht allein, sondern in einer großen Gruppe. Anja Schade war dabei, Bürgermeisterin Gudrun Raßmann begrüßte im Namen der Gemeinde Boffzen, ebenso als Gemeinderatsmitglieder Manfred Bues, Manuela Püttcher und Walter Waske. Nachbarn und alte Bekannte, wie Karl-Heinz Göhmann, waren zugegen, vertieften auch ihre Erinnerungen an Boffzen, an die bis heute bedrückende Verfolgungsgeschichte. Der Weg führte durch die U-förmige Straße „Im Winkel“, in deren Mitte einst die Gemeindeverwaltung und die Polizei lag. Im Ortsmund hieß sie nach dem Krieg „Judengasse“, denn hier hatte eine Reihe jüdischer Familien gelebt, nicht nur die dann während der NS-Zeit ins Exil vertriebene Familie Lebenbaum.

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Gang durch das Dorf: Walter Waske erzählt von der Ortsgeschichte (Foto: Stefanie Waske)

„Im Winkel“ lag auch das kleine Gebetshaus der jüdischen Gemeinschaft. Ruth Gröne hat dieses nicht mehr besucht. Doch die Runde stimmte ein auf das erste Ziel, das Haus ihrer Großeltern in der Oberen Dorfstraße, Teil der Hauptachse Boffzens. Ruth Gröne hatte frühere Fotos mitgebracht, Haus und Straße immer wieder festgehalten. Ihr 2016 verstorbener Mann Ludwig war Schmied, von ihm stammt das schiedeeiserne Geländer des Hauseingangs. Die Grönes standen auf guten Fuß mit den Kues, trotz all der Fährnisse um den Kauf des Hauses zu gedrücktem Preis 1939, trotz der Entschädigung in der Nachkriegszeit. Helmut Kues war für die Kleebergs einkaufen gegangen, als ihnen dies 1939 in Boffzen verboten war, ihnen, einer seit vielen Generationen in Boffzen ansässigen und geachteten Familie, tief verwurzelt in den lokalen Vereinen, deren Männer in den deutschen Einigungskriegen und im Ersten Weltkrieg gedient hatten.

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Abgleich mit alten Fotos: Ruth Gröne mit Bildern früherer Besuche (links Holger Kues, rechts Stefanie Waske) (Foto: Uwe Spiekermann)

Holger Kues öffnete der Gruppe das große Tor zum Innenhof, Ruth Gröne stand nun wieder an einem Kindheitsort: Dort war der Stall der Ziege, dort der knurrende Hund, vor dem sie immer ein wenig Angst gehabt habe. Erinnerung ist schwer zu teilen, doch man sah im Antlitz der alten Frau einen Widerschein einer immer wieder erinnerten und daher nicht vergessenen Zeit. Gewiss, der Hinterhof hatte sich in achtzig Jahren vielfach verändert, die alten Bodenplatten waren nicht mehr da, die Stallungen, das Plumpsklo, die Abwassergräben, der Brunnen lief nicht mehr. Das Haus hatte neue Türen, neue Fenster, doch sie waren immer noch am gleichen Platz, die alten Formen bewahrend.

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Geteilte Kindheiten: Ruth Gröne im Gespräch mit Bernd Kaussow, der in diesem Haus längere Zeit gelebt hat (Foto: Uwe Spiekermann)

Gesprochen wurde viel, über die Veränderungen, die mehr als achtzig Jahre seit der Vertreibung der Familie Kleeberg. Bernd Kaussow lebte später im Hause, doch seine Erinnerungen waren die der 1960er Jahre, einer Jugend im allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung.

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Hier gingen wir ein und aus: Ruth Gröne an der Tür zwischen Küche und Hof (Foto: Uwe Spiekermann)

Ruth Gröne leihte all dem ihr Ohr, doch ihr Eindruck war ein anderer. Sie war ergriffen. Doch nicht Trauer über den Verlust trat hervor, sondern Dankbarkeit ob der schönen Stunden im Kreise ihrer Großeltern. Hier im Innenhof hatte sie gespielt, durch diese Tür war sie ein und aus gegangen. Die Gruppe trat zurück, mochte mancher davon auch von Erinnerungen an die eigene Kindheit berührt worden sein.

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Ruth Gröne mit Anja Schade im Garten ihrer aus Boffzen vertriebenen Großeltern (Foto: Stefanie Waske)

Im Garten war alles verändert, eine neue Birke war gepflanzt worden. Doch Altes war noch da: Die Trittplatten hatten mehr als hundert Jahre überdauert. Die Futter- und Wassertröge der Stallungen bargen nun Blumen. Ruth Gröne schaute, sah, berührte Wände und Türen, greifbare Reste einer zerbrochenen Heimat. Berühren, Festhalten, wieder Loslassen, doch den Moment bewahren.

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Die Heimat der Kindheit: Ruth Gröne im Innenhof ihrer Großeltern, einem Jugendort ihres Vaters (Foto: Uwe Spiekermann)

Holger Kues verstand das, öffnete dann auch das Haus. Der Aufgang war beschwerlich, doch für Ruth Gröne ging das Festhalten am Geländer und manch stützender Hand über in das Umhergehen, in das Betasten von Wänden und Türrahmen. Das Haus war noch stärker verändert worden als der Innenhof, neue Wände waren eingezogen worden, die modernen Annehmlichkeiten von Wasserversorgung, Zentralheizung und Einbauküche.

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Holger Kues öffnet die Tür seines Hauses für Ruth Gröne und Anja Schade (Foto: Uwe Spiekermann)

Das alte Mobiliar fehlte, einiges war in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von Unbekannten zerschlagen, einiges vor dem erzwungenen Wegzug verkauft und verschenkt worden, größere Möbel wurden nach Hannover mitgenommen. Kein Klavier zierte die gute Stube. Eine Küche gab es, nicht wie ehedem zwei, die milchige und fleischige, wie in einem koscheren jüdischen Haushalt üblich. Doch Ruth Gröne hatte die alten Bilder in sich bewahrt, im Kopfe und im Herzen, sah hinter Verputz und Verkleidungen, wusste um den Ort der Spüle, um Tische, Schränke und Stühle.

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Erinnerungen an die alte(n) Küche(n) (Anja Schade, Ruth Gröne, Holger Kues, Uwe Spiekermann) (Foto: Stefanie Waske)

Man verließ diesen bitter-freudigen Ort, der Zeitplan war schon längst gesprengt, Erinnerung brach Ordnung. Noch aber gab es einen unverzichtbaren historischen Ort, den kleinen jüdischen Friedhof am nördlichen Ortsausgang. Er wurde „später“ wieder hergerichtet, doch alte Grabplatten fehlten, waren „damals“ von unheiligen Horden zum Straßenbau verwandt worden. Vierzehn Grabstätten gibt es noch, darunter die der Familie Kleeberg. Ruth Gröne war vorbereitet, natürlich. Sie hatte Steine mitgebracht, ein guter jüdischer Brauch, um die Gräber zu markieren, den Ahnen Ehre zu erweisen, um etwas von sich zurückzulassen. Und sie stellte sich selbstbewusst in die Reihe ihrer Vorfahren, beginnend mit Abraham Kleeberg, ihrem Ur-Urgroßvater, endend mit ihrer Großtante Helene Seligmann. Auch hier das Handauflegen, auch hier der handgreifliche Bezug zu den Verstorbenen, zu den Erinnerten. Berührend in einem Umfeld der Grabeinebnungen und Urnenfelder auf „christlichen“ Friedhöfen. Das Vergessen religiöser Traditionen zeigte sich auch in der Gruppe, denn nur zwei der Männer (darunter nicht der Autor, ein guter Katholik) trugen eine Kopfbedeckung, so wie es sich für einen jüdischen Friedhof geziemt.

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In der Reihe ihrer Vorfahren: Ruth Gröne am Grabstein ihres Ur-Urgroßvaters Abraham Kleeberg (1799-1856), dahinter die Gräber ihrer Urgroßeltern Moses (1829-1916) und Julie Kleeberg (1839-1918) sowie ihrer Großtante Helene Seligmann, geb. Kleeberg (1875-1932) (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Momente der Ruhe, des Eingedenkens währten nicht allzu lang. Denn es gab noch einen offiziellen Termin, den Eintrag in das „Goldene Buch“ der Samtgemeinde Boffzen. Deren Bürgermeister Tino Wenkel und der stellvertretende Gemeindedirektor Philip Becker begrüßten Ruth Gröne und die Gruppe. Schnittchen und Kaffee folgten.

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Eintragung in das „Goldene Buch“ der Samtgemeinde Boffzen (Foto: Uwe Spiekermann)

Der Rahmen war gesteckt, doch unbefangen war das Zusammensein nicht, die rechte Sprache fehlte. Holger Kues durchbrach die wortreiche Stille, indem er unbefangen fragte, warum denn die Juden so verhasst gewesen seien. Ruth Gröne verwies auf die bis weit in die Antike zurückreichende Judenfeindschaft, auf eine kleine Gruppe, die sich schlecht wehren konnte. Uwe Spiekermann ergänzte, verwies auf pseudowissenschaftliche Argumente der Andersartigkeit, auf Unsicherheit und Neid als Untugenden der Mehrheitsgesellschaft. Der Umgang mit Minderheiten, Vorstellungen von Fremdheit, sie standen im Raum, wurden besprochen, ein „Nie wieder“ beschworen.

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„Was Dir verhaßt ist – das tue Deinen Nachbarn nicht an“ (Foto: Uwe Spiekermann)

Der offizielle Termin ebbte ab. Zwei Nicht-Boffzener hatten vor dem Gedenkstein vor der Gemeindeverwaltung zuvor einen Blumenstrauß und eine Kerze gestellt – und Ruth Gröne ließ es sich nicht nehmen, ein Licht anzuzünden, ein Seelenlicht als Ausdruck der Verbundenheit mit den Toten, mit ihren ermordeten Großeltern, ihrer ermordeten Tante, ihrem ermordeten Vater.

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Stilles Gedenken vor der Gemeindeverwaltung: Der Gedenkstein für die vertriebenen jüdischen Nachbarn Boffzens, für die Ermordeten der Familie Kleeberg (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Gedenkveranstaltung schloss sich an. Die Mehrzweckhalle füllte sich, der Landrat traf ein, die Landtagsabgeordnete, der Bundestagsabgeordnete, Vertreter der Boffzener Vereine, der Kirchen, von Feuerwehr und Polizei. Hinzu kamen viele Boffzener, nicht nur ältere. Auch Freunde und Weggefährten Ruth Grönes waren gekommen, darunter Klaus Kieckbusch, der die jüdische Ortsgeschichte einst akribisch erforscht hatte.

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Alte Freunde: Ruth Gröne mit Klaus Kieckbusch, der die Geschichte der Juden in Boffzen umfassend aufgearbeitet hat (Foto: Stefanie Waske)

Nach jüdischen Weisen von Jean Goldenbaum folgten Ansprachen der Bürgermeisterin, dann ein langer Vortrag des Autors über „Boffzen und die NS-Zeit“, der durch begleitende zehn Quellentexte nochmals länger wurde. Und doch: Achtzig Minuten vergingen voller Konzentration, aufmerksam, ja gebannt verfolgten die hundert Gäste die Geschichte der jüdischen Nachbarn Boffzens, ihrer Verfolgung und Vertreibung; aber auch die der gelungener Nachbarschaft (bis 1930/33) und des langen abduckenden Schweigens nach 1939/45. Erinnerung braucht Ruhe, Abgeklärtheit, auch Zeit.

Danach trat Ruth Gröne ans Rednerpult. Sie begann stockend, begrüßte die vielen Würdenträger, bedankte sich bei denen, die diese Tage vorbereitet und mitgestaltet hatten. Sie schilderte ihre angesichts Boffzens ambivalenten Gefühle, die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie vor Ort gemacht hatte. Neben Hannover habe ihr Boffzen jedoch stets am Herzen gelegen – und nun fahre sie mit einem guten Gefühl zurück in ihre erste Heimatstadt. Walter Waske dankte dafür, sichtlich bewegt, hob aber auch hervor, dass es just nach diesem Besuch darum gehen müsste, die Erinnerung vor Ort weiter zu bewahren. Erinnerung sei kein Konsumgut, sondern eine stets auszugestaltende Aufgabe. So, wie sich der fliegende Vogel über das am Boden gefesselte Schlachtkalb erhebt. So wie die Erinnerung an die eigene Kindheit den Funken eines Grundvertrauens birgt, der trotz aller Gewalt und aller Schlechtigkeit doch daran festhalten lässt, dass die Welt gut ist und voller Wunder. Ruth Grönes Rückkehr nach Boffzen hob dies allen ins Gedächtnis.

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Ruth Gröne mit Fritz Ostkämper beim Rundgang in Boffzen (Foto: Stefanie Waske)

Uwe Spiekermann, 21. November 2022

Boffzen und die NS-Zeit

„Der erzwungene Verlust 1931-1938. Boffzen erinnert sich an seine jüdischen Nachbarn“ – so lautet der Titel der heutigen Gedenkveranstaltung. Ist das mehr als eine der üblichen Phrasen in guter Absicht? Erinnern ist Vergegenwärtigung, ein Akt direkter Auswahl. Sich erinnern heißt, etwas dem Vergessen zu entreißen, seine Bedeutsamkeit hervorzuheben. [1] Wenn wir uns heute an die jüdischen Nachbarn in Boffzen erinnern, so erst einmal aufgrund der Erinnerungen von Ruth Gröne, die Anja Schade in einem vor kurzem erschienenen Buch eindringlich festgehalten hat. [2] Sachor! – Erinnere Dich! ist der Titel; eine Selbstverpflichtung, eine Aufforderung, auch eine Bitte.

Eine bittende Aufforderung Ruth Grönes an die Bürger und Bürgerinnen Boffzens, des Geburtsortes ihres Vaters und ihrer Großeltern, ihre Erinnerung wahrzunehmen. 1933, in ihrem Geburtsjahr, lebten kaum mehr als hundert Meter von dieser Halle entfernt drei Familien jüdischen Glaubens, die Lebenbaums, die Seligmanns, die Kleebergs. Am 31. Oktober 1939 meldete Boffzens Bürgermeister Wilhelm Korte stolz, „ dass die Gemeinde Boffzen […] frei von Juden ist.“ [3] Das war das Ende einer langen Geschichte jüdischen Lebens in Boffzen – bis heute. Die insgesamt vierzehn jüdischen Nachbarn wanderten aus, nach Palästina, den USA, Shanghai, Großbritannien. Und sie wurden ermordet, starben aufgrund von Verfolgung, wohl in Riga, in Sandbostel, anderswo, fernab. „Und der Kummer von einem ist der Kummer der Welt“ [4] schrieb einst die Sängerin Bettina Wegner. So wollen wir es halten, uns erinnern, gemeinsam, unfeindlich, wenigstens heute.

In Boffzen, einem Ort der Vertreibung der eigenen Nachbarn, kann sich Erinnerung aber nicht allein auf die Opfer konzentrieren. Neben die Opfer treten Täter, treten zugleich all die „Bystanders“, die Zuschauer und scheinbar nicht Beteiligten. Die gelungene deutsch-jüdische Symbiose im langen 19. Jahrhundert ist Teil dieser Erinnerung, die rasche Nazifizierung des Ortes, aber auch die judenfreie Zeit nach 1939, geprägt durch Schweigen, fehlendes Schuldbewusstsein und von außen anzustoßende Erkundigungen. Erinnerung dieser Art bündelt Vorarbeiten auch aus der Gemeinde und der Region, ist verbunden mit Namen wie Ulrich Ammermann und Marlis Loges, Matthias Seeliger, Detlev Creydt und Fritz Ostkämper, und insbesondere mit Klaus Kieckbusch, von dessen Arbeit wir alle zehren. [5]

Boffzen vor der NS-Zeit

Jüdisches Leben in Boffzen lässt sich bis 1620 zurückverfolgen, ein Gemeindeleben begann jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert mit der Ansiedlung braunschweigischer „Schutzjuden“. [6] Juden waren damals auf herrschaftliche Sonderrechte angewiesen. Das änderte sich erst im Königreich Westfalen, einem französischen Kunststaat, der den Juden Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Boffzen kurzzeitig die „Emanzipation“, also gleiche Rechte brachte. Als Bürger hatten sie ihre alten Namen abzulegen, neue anzunehmen. Lebenbaum ist eine Eindeutschung des alttestamentarischen „ez hachajim“ (Genesis 2, 9), Kleeberg ist einer lokalen Flurbezeichnung nachempfunden. [7] Mit der napoleonischen Herrschaft endete auch die Emanzipation. [8] Doch sie blieb Programm liberaler Reformer; und die Verfassungen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches brachten seit 1867 eine fast vollständige Gleichberechtigung der Juden. Antisemiten bekämpften sie seither, wollten sie rückgängig machen. Das war zentral für die dann 1935 erlassenen Nürnberger Gesetze.

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Moses Kleeberg als Vorsteher einer kleinen jüdischen Gemeinschaft in Boffzen (Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes 4, 1889, 60)

In Boffzen gab es eine kleine jüdische Gemeinschaft, 1872 offiziell anerkannt. Das 1882 eingerichtete Gebetshaus stand aber schon für die schwindende Zahl der Boffzener Juden. [9] Die Entleerung des ländlichen Raumes kennzeichnete jüdisches Leben im 19. Jahrhundert. Die Zahl der „Landjuden“ verminderte sich einerseits durch Wegzug in größere Städte, anderseits durch die Auswanderung in die USA. Die Zahl der Boffzener Juden sank, ihre wirtschaftliche Lage verbesserte sich aber schneller als die ihrer Mitbürger. Die Gründe lagen in der ausgeprägten Schriftlichkeit der jüdischen Religion, einem weit stärkerem Bildungsdrang, ausgeprägterem Fleiß und der Spezialisierung auf wenige Boombranchen der entstehenden Industrie- und Konsumgesellschaft. [10] In Boffzen investierten Seligmanns, Lebenbaums und Kleebergs gezielt in die Bildung ihrer Kinder. Sie konzentrieren sich auf Handel und Verkauf. Sie erzielten gute, überdurchschnittliche Einkommen.

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Boffzen: Das Dorf und die industriellen Vororte mit den beiden Glashütten 1898 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Boffzen war zu dieser Zeit ein gespaltener Ort. Im alten an der Weser gelegenen Ortskern dominierten Bauern und Handwerker. [11] Eisenbahnbau und Industrialisierung veränderten den Ort seit Mitte der 1860er Jahre. Boffzen wurde an das nationale Verkehrsnetz angeschlossen, zwei Glashütten und die Ziegelei Brückfeld entstanden. [12] Die Karte zeigt die Gleise mitten durch den Ort, die abgetrennten Unternehmen und Arbeiterwohnungen im Brückfeld. Sie zeigt nicht die Unterschiede zwischen den Menschen in beiden Teilen des Ortes: Einerseits den Alteingesessenen an der Weser, anderseits die erst aus dem Solling, dann vor allem aus dem Siegerland angeworbenen und zugewanderten Glasmacher sowie die aus dem Solling und aus Lüdenscheid zugezogenen Kapitalisten. Arbeiter und Unternehmer im Brückfeld arbeiteten anders, lebten anders, erhielten regelmäßiger Geld, wählten sozialdemokratisch und liberal. Die jüdischen Mitbürger waren in Boffzen Alteingesessene. Ihre Handelsgeschäfte überbrückten, verkauften an beide Gruppen und darüber hinaus.

Eine deutsch-jüdische Symbiose

Die jüdischen Nachbarn unterschieden sich kaum von ihrem Umfeld. Ihre Religionspraxis war nach innen gewandt, stand zwischen konservativem und Reformjudentum. Sie kochten koscher, feierten die Feste des jüdischen Jahres gemeinsam mit den Glaubensbrüdern und -schwestern in Höxter, zu denen enge verwandtschaftliche Verbindungen bestanden. Hochzeiten erfolgten zumeist innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft. Ruth Grönes Eltern Erich und Maria Kleeberg – letztere war getaufte Protestantin – erhielten daher nicht den Hochzeitssegen ihrer Großeltern, heirateten 1931 standesamtlich. [13]

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Die drei Familien führten in der Tradition ihrer Vorfahren kleine Handelsunternehmen: Kleebergs seit 1899 eine Schlachterei und Viehhandlung, Lebenbaums seit den 1890er Jahren eine Kolonialwaren- und Getreidehandlung, Seligmanns eine von Moses Kleeberg übernommene Kolonialwaren- und Fellhandlung. Das entsprach den Bedürfnissen der meisten Boffzener, die in der Regel eigenes Garten- oder Ackerland bewirtschafteten, Eigenversorgung und Hausschlachtung betrieben, in den Läden eher ein Ergänzungssortiment kauften. Doch es gab vor Ort auch andere Einkaufsmöglichkeiten: Das Adressbuch nannte 1929/30 einen weiteren Schlachter, drei weitere Kolonialwarenhandlungen, zwei Bäckereien und den Konsumverein im Brückfeld. [14]

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Das Haus mit dem Laden der Familie Seligmann kurz vor dem Abriss 1988 (l.) und das heute noch bestehende Haus der Schlachterei Kleeberg, beide in der Oberen Dorfstraße (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Diesen Läden waren allesamt klein, ohne größere Reklame. Ruth Gröne hat den der Seligmanns anschaulich beschrieben: Hier „hat es eigentümlich gerochen. Und wenn ich darüber spreche, dann rieche ich das noch. Ja, da gab es also allerhand. Erstmal war das ein kleiner Laden. Da kam vielleicht alle halbe Stunde jemand. Wenn man die Tür aufmachte, dann klingelten mehrere Schellen. Dann kam die Tante, die sich in der Wohnung oder in der Nähe des Ladens aufhielt. Sie hat zwischendurch etwas anderes gemacht. Und da standen Säcke mit Bohnen und Erbsen – das wurde alles nicht verpackt. Dann gab es noch Zucker und Salz und Haferflocken und Gries. Das war alles in Schubladen und wurde mit der Schaufel in die Tüte getan. Ich war unwahrscheinlich fasziniert, wenn das abgewogen und dann auf dem Zettel die Preise zusammengezogen wurden. Das fand ich toll. Das war ein Gemischtwarenladen. Dort konnte man alles kaufen. Harken und Spaten, Nähzeug und Knöpfe und Garn und Wolle zum Stricken, Bindfaden und … , also alles. Die Frauen, die in dem Dorf wohnten, die konnten ja nicht eben mal mit der Straßenbahn in die Stadt fahren, nach Holzminden.“ [15]

Die jüdischen Geschäfte ermöglichten bürgerliches Leben. Familie Lebenbaum dürfte um 1930 ein Jahreseinkommen von brutto etwa 6.000 RM gehabt haben. [16] Die Schlachterei von Hermann Kleeberg war deutlich größer, im Schlachthof wurden wöchentlich zwei bis drei Schweine und zwei Rinder geschlachtet.

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Wohnhaus und Wirtschaftsanbauten der Familie Kleeberg 1903 (Stadtarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Hinzu kam ein überschaubarer Viehhandel, vornehmlich Ferkel für die Glasmacher, zudem Rinder und einige Schlachtschweine für die nichtjüdische Kundschaft. Die Tiere wurden auf einer Wirtschaftsweide gehalten. Kleebergs verkauften nicht nur in Boffzen, sondern lieferten ihre Ware per Kutsche, dann per Automobil auch an Kundschaft außerhalb. [17]

Eine jüdische Vereinskultur fehlte, entsprechend waren die Boffzener Juden in praktisch allen Vereinen aktiv, als Mitglieder, Vorstände, als Spendengeber. Das galt für den 1876 gegründeten „Sängerbund der vereinigten Glashütten“, der spätere Männergesangsverein „Brunonia“, zu dessen Mitbegründern der später in Ameluxen wohnende David Kleeberg gehörte, später Schriftführer und auch 1. Vorsitzender. [18] Mehrere Kleebergs folgten. Herrmann Kleeberg pflegte beim 1879 gegründeten Männergesangsverein „Germania“ Volkslieder und Geselligkeit. [19] Das galt auch für den 1892 gegründeten Männerturnverein, bei denen er von Beginn an aktiv war. Walter Kleeberg kickte in den 1920er Jahren für den FC 08 Boffzen.

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Die Mannschaft des FC 08 Boffzen mit Walter Kleeberg (obere Reihe, 2. v. r.) (Foto: Ruth Gröne)

Auch die Frauen trafen sich. Frieda Kleeberg war Mitglied der dörflichen Frauengemeinschaft, Ruth Kleeberg turnte Seit an Seit mit ihren Kameradinnen auf dem Gauturnfest 1931.

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Ruth Kleeberg beim Gauturnfest 1931 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Vielleicht wichtiger noch war der Kriegerverein. Hier ging es um nationale Belange, den Kampf für das gemeinsame Vaterland, die Erinnerung an Kriege und eigene Opfer, teils auch um Respekt vor dem Gegner. Der Kriegerverein, später Teil des Kyffhäuser-Bundes, wurde nach den deutschen Einigungskriegen gegründet, an denen etwa vierzig Boffzener teilnahmen. Seligmann Lebenbaum, Guidos Vater, wurde Vorstandsmitglied, ab 1904 Ehrenmitglied. [20] Im Ersten Weltkrieg starben fast hundert Boffzener Männer für „Kaiser und Vaterland“. Darunter als einer der ersten in der Schlacht an der Sambre im August 1914 Albert Kleeberg, Viehhändler und Schlachter, 1912 Großer König der Schützengemeinschaft Boffzen. Er war einer von 90.000 jüdischen Soldaten, einer der 12.000 jüdischen Gefallenen. Auch Herrmann Kleeberg, Guido Lebenbaum und Robert Seligmann waren Mitglieder des Kriegervereins, letzterer erst Kassenprüfer, dann zwölf Jahre Schriftführer. [21]

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Unter Adler und Eichenlaub: Gedenken an Albert Kleeberg auf dem Kriegerdenkmal in Boffzen (Foto: Uwe Spiekermann)

Die jüdischen Familien waren integriert. Und doch war Boffzen keine Idylle. Ruth Gröne berichtete von mehreren „Streichen“. [22] Die Hochzeit von Helene Kleeberg und Robert Seligmann wurde 1904 von Bauern gestört, die den Eingang zur Feststätte mit Jauche drapierten. Hermann Kleebergs Vater Moses wurde in hohem Alter in dem Außenabort seines Hofes eingesperrt und öffentlich zur Schau gestellt. Man mag dies auf Dummheit und Grobheit zurückführen. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens betonte stets, dass der Erbfeind des Judentums die Halbbildung sei. Er setzte dabei auf den Schutz des Rechtsstaates. Es ist eine Paradoxie der auch in Boffzen gelebten deutschen-jüdischen Symbiose, dass deutsche Juden vermeintlich deutsche Tugenden gegenüber Extremisten von rechts und links hochhielten. Den plärrenden Antisemitismus konnten Gebildete nur verachten. Ihren Vertretern ging man möglichst aus dem Weg, hielt die Kinder davon fern. Antisemitische Krawalle gab es immer wieder, sie begleiteten Revolution und Inflation. Doch das legte sich. Da waren schließlich die Deutschen, die vielen anständigen, die Politiker in linken und liberalen Parteien, in Teilen des Zentrums. Und da waren die Nachbarn, von denen man geachtet wurde, mit denen man respektvoll umging. All das änderte sich ab 1930, zerbrach dann 1933.

Machtzulassung, Machtergreifung und Selbstgleichschaltung

Die deutsche Erinnerungskultur an die NS-Zeit hat eigenartige Blindstellen. Sie konzentriert sich vor allem auf die Verfolgung der deutschen Juden ab Mitte der 1930er Jahre und die Ermordung der europäischen Juden im Holocaust ab 1941. Die Bedrängung der jüdischen Mitbürger schon seit Beginn der Präsidialdiktatur 1930, dem faktischen Bürgerkrieg 1931/32 und insbesondere die massiven Verbrechen nach der Machtübergabe 1933 werden öffentlich wenig diskutiert, denn es kam ja Schlimmeres. Zwei Punkte werden so ausgeblendet: Der erfolgreiche Kampf gegen die jüdische Emanzipation war erstens nur möglich durch den erfolgreichen Kampf gegen die Vertreter von Rechtsstaatlichkeit. Zweitens setzten die NSDAP und ihre konservativen Unterstützer nach der Reichstagswahl im März 1933 auf gewaltsame Verfolgung und öffentliche Diskriminierung. Das Stummprügeln der Verteidiger von Rechtsstaatlichkeit ging einher mit kaum gebremsten Übergriffen gegen jüdisches Eigentum in aller Öffentlichkeit.

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Demütigung des SPD-Reichstagsabgeordneten und früheren Präsidenden Oldenburgs Bernhardt Kuhnt (1876-1946) in Chemnitz am 9. März 1933 – parallel zu „wilden Boykotten“ gegen die jüdische und „marxistische“ Geschäftswelt (The Indianapolis Times 1933, Nr. 292 v. 17. April, 3)

Am Anfang stand der Kampf gegen die Vertreter erst der KPD, dann, nach dem Reichstagsbrand Ende Februar, auch der SPD. Landes- und dann Stadtregierungen fielen, implodieren, die Zinnen noch vorhandener Rechtsstaatlichkeit wurden mit Zwang geschliffen, vielfach aber auch willig geräumt. Das weltweit verbreitete Bild des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Bernhardt Kuhnt ließ die Richtung erahnen.

Analog in Boffzen: Am 10. März 1933 führten die Boffzener und die Holzmindener Hilfspolizei, größtenteils die lokalen SA-Trupps, eine Razzia bei „fast allen Angehörigen der KPD und einem Teil der SPD“ [23] durch. Sie erbeuteten vermeintliche Schußwaffen, Messer, Munition und auch „verbotene Druckschriften“, verhafteten mehrere Personen, zwei davon wurden nach Holzminden gebracht. Auch die Häuser der Boffzener Juden wurden durchsucht. Bei Guido Lebenbaum und Robert Seligmann fand man Erinnerungsstücke an ihren Militärdienst, die sie nicht mehr länger behalten durften. [24] Den rechtswidrigen Hausdurchsuchungen folgten in Boffzen weitere Streiche: Die Hochzeit von Irmgard Kleeberg wurde im März 1933 von Nationalsozialisten gestört. Rechtsfolgen hatte dies nicht, denn die Polizei war nicht mehr Vertreter des Normen-, sondern des Maßnahmenstaates.

Diese Orgie der Gewalt und des Rechtsbruchs erreichte am 1. April 1933 einen neuerlichen Höhepunkt. Der Tägliche Anzeiger gab in seiner propagandistisch-verlogenen Einseitigkeit einen schlagenden Eindruck des Geschehens in Holzminden: „Der Boykott der jüdischen Geschäfte, der am heutigen Sonnabend ab 10 Uhr im ganzen Reiche als Abwehrkampf gegen die jüdische Greuelpropaganda einsetzt, wurde in Holzminden bereits am gestrigen Tage durchgeführt. Morgens kurz nach 10 Uhr zog eine Kolonne von SS-Leuten im Gänsemarsch durch die Geschäftsstraßen unserer Stadt und verteilte sich zu Doppelposten vor den jüdischen Geschäftshäusern. Die Posten trugen ein weißes Schild umgehängt mit der Aufschrift: ‚Wer beim Juden kauft, kommt an den Pranger!‘ Schon die Aufstellung der Posten wurde von der Bevölkerung mit lebhafter Anteilnahme verfolgt. Später wurden die Schaufenster der jüdischen Geschäftshäuser mit Plakaten beklebt, die die Aufschrift trugen: ‚Deutscher, das Weltjudentum hat Dir den Krieg erklärt – wehr Dich! Kauf‘ nichts beim Juden!‘ Im Verlaufe des Mittags haben dann fast sämtliche jüdischen Geschäfte geschlossen, da die Inhaber wohl einsahen, daß bei derartigen Maßnahmen ‚kein Geschäft mehr zu machen‘ war. […] Die Aufstellung der Posten erfolgte nicht nur vor den Geschäftshäusern, sondern auch vor den Büros und Wohnungen jüdischer Aerzte und Rechtsanwälte. […] Die streng und mit größter Disziplin durchgeführte Boykottaktion hatte viele Menschen auf die Straßen gelockt. Das verschärfte sich noch mehr, als in den Abendstunden vom Martinsplatz aus der angekündigte Demonstrationszug veranstaltet werden sollte. Eine SA-Kapelle spielte einleitend das Horst-Wessel-Lied und danach Militärmärsche. Danach stellten sich die nationalsozialistischen Formationen zum Zuge durch die Straßen der Stadt auf. […] Ueberall in den Straßen stand die Bevölkerung Spalier, während der Zug unter Marschweisen und Gesang vorüberzog. Ueberall wurde ganz augenscheinlich, daß auch die hiesigen Maßnahmen zur Abwehr der ekelhaften Greuel- und Boykottpropaganda der ausländischen Juden begrüßt werden.“ [25]

Auch in Boffzen gab es entsprechende Übergriffe, das Schaufenster der Schlachterei Kleeberg wurde bereits am 27. März 1933 „von Unbekannten“ eingeworfen – ein Fanal, sichtbar für jeden. In einem Ort wie Boffzen gab es keine Anonymität. Anders als in Städten, wo die Schergen Schaufenster, Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien markierten, um den Mitbürger und sein Geschäft als jüdisch zu kennzeichnen, gab es hier kein Rückzugsfeld. Die Gewaltdrohung durchdrang den Alltag, gegen sie schützte keine Polizei.

Das zeigte sich auch in den ersten Beschlüssen des seit April 1933 nationalsozialistisch dominierten Gemeinderates. Er erließ einen Bann gegen den vermeintlich sozialdemokratischen Konsumverein, gegen die vermeintlich jüdischen Warenhäuser, gegen die Geschäfte der Familien Seligmann, Lebenbaum und Kleeberg. Die Gemeinderatsprotokolle lauten:

22. April 1933: „Antrag des Gemeindevorstehers Tappe: Der Gemeinderat wolle beschließen, daß die Gemeinde Boffzen in Zukunft mit dem Konsumverein und mit jüdischen Geschäften keinerlei Geschäfte mehr tätigt. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen.“

15. Mai 1933: „Antrag des Kampfbundleiters für Mittelstand und Gewerbe Korte: Der Gemeinderat wolle beschließen, daß der Gemeindevorsteher die ev[entuelle] Genehmigung zur Neueinrichtung eines Gewerbes nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Kampfbundleiter für M[ittelstand] und G[ewerbe] erteilen darf. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen.

Antrag des Kampfbundleiters Korte: Sämtliche von hiesiger Gemeinde besoldeten Angestellte wie Gemeindevorsteher, Steuereinnehmer, Dorfdiener, Standesbeamte, Trichinenschauer u[nd] a[ndere] mehr werden dringlichst ersucht, bei Konsumvereinen und Warenhäusern ihre Einkäufe zu unterlassen, einschl[ießlich] jüdische Geschäfte. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen; die Betreffenden sollen von dem Beschluß in Kenntnis gesetzt werden.“ [26]

Auch andere, an sich autonome Institutionen des Alltags schalteten sich selbst gleich. In Boffzen etwa die Schule: Lehrer Walter Neumann war ab 1933 SA-Mitglied, Führer des SA-Sturms, NSDAP-Ortsgruppenpropagandaleiter und Gemeinderatsmitglied. [27] Robert Lages, früheres DDP-Mitglied, trat 1933 in die NSDAP und dann in viele Parteiorganisationen ein. [28] Die lokale Volksschule unterrichtete die mehr als zweihundert Kinder seither strikt im Sinne des NS-Regimes. [29]

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Wahlwerbung der Deutschen Christen in Berlin anlässlich der Kirchenwahlen vom 24. Juli 1933 (Bundesarchiv, Bild 183-1985-0109-502)

In Boffzen galt das auch für die evangelisch-lutherische Kirche [30]: Pastor Julius Kellner verkündete hymnisch: „Die Gemeindechronik des Schicksalsjahres 1933 muß als Überschrift den Dank gegen Gott tragen für die wunderbare Errettung und Erneuerung unseres Volkes.“ [31] Die Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 ergaben in Boffzen für die Liste 2 „Deutsche Christen“ 320 Stimmen oder 96 %. [32] Diese „SA-Christi“ war strikt antisemitisch, schwärmte für die „Reinhaltung der deutschen Rasse“ und die Ausrottung des Marxismus. Die lutherischen Jungmänner- und Jungmädchenvereine wurden 1934 in die HJ bzw. BDM eingegliedert. [33] Von dieser Kirche hatten jüdische Familien keine Unterstützung zu erwarten. Aus alledem zog die Familie Lebenbaum als erste für sie schmerzliche Konsequenzen und wanderte im September 1934 nach Palästina aus.

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Die Belegschaft der Georgshütte am 1. Mai 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Gegen die Dynamik der „nationalen Erhebung“, des Vormarsches von Unrecht und Willkür gab es in Boffzen keinen direkten Widerstand. Sozialdemokratie und Gewerkschaften kapitulierten und paktierten. Gewalt und Neuheidentum drangen vor, umzuckert von einer dörflichen Festkultur, bei der fast alle mitmachten. [34] Mai- und Sonnenwendfeiern brachten „Sang und Klang“ in den Ort – doch die Gemeinschaft war brüchig, mochten sich nun auch viele Kommunisten und Sozialdemokraten unwillig und teils auch willig einreihen. Blicken wir auf die Vereine: Walter Kleeberg verließ Ende 1932 aus unbekannten Gründen den Gesangsverein „Brunonia“. 1933 schloss der MTV Boffzen seinen Mitbegründer Hermann Kleeberg aus. Auch der Boffzener Kriegerverein schritt willig mit: 1930 wurden Hermann Kleeberg und Guido Lebenbaum als Mitglied des Boffzener Kriegervereins erwähnt. Robert Seligmann war bereits am 22. Januar 1908 aufgenommen worden, war 1909 bis 1911 und 1913 bis 1916 Kassenführer. Als Schriftführer diente er dem Kriegerverein vom 2. Januar 1919 bis zum 6. Mai 1933. Am 6. Mai 1933 vermerkte das Protokollbuch: „Für den Schriftführer Robert Seligmann wurde der Kamerad Karl Grebe gewählt.“ Am 4. November folgte: „Es wurden vom Kyffhäuserbund bekannt gegeben, daß Juden den Kriegervereinen nicht beitreten dürfen. […] Die Bundesflagge soll in aller Kürze beschafft werden, auch Hakenkreuze.“ [35]

Die Vereine blieben ein wichtiger Bestandteil des geselligen Lebens, des Sports und der Feste Boffzens. Doch sie verloren ihre Autonomie, Vereinskultur und NSDAP-Herrschaft überlappten sich. Hierzu ein Auszug aus dem Täglichen Anzeiger: „Boffzen. Der Heldengedenktag wurde auch in unserer Gemeinde würdig begangen. SA, Hitler-Jugend und Kriegervereine beteiligten sich geschlossen am Gottesdienst. Anschließend fand dann eine Heldengedächtnisfeier am Gefallenendenkmal statt. Der ‚Gemischte Chor‘ und der Gesangverein ‚Germania‘ sangen einleitend ein Lied und dann gedachte Sturmführer Dr. Becker der gefallenen Helden des Krieges und der nationalen Befreiung. SA und Kriegerverein legten einen Kranz nieder. Das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied schlossen die Feierstunde.“ [36]

Die Durchdringung des Boffzener Alltags ging jedoch tiefer. Die Beflaggung der Häuser, die Teilnahme an Sammlungen und Eintopfessen, die Übernahme der vielgestaltigen NS-Parolen geschah aktiv. Man wollte dabei sein, gewöhnte sich an einen Alltag voller Zwang und Gängelung, denn in der Notstandsgemeinde Boffzen hoffte man auf den versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung.

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„Bauernnot ist Volkstod“ als Parole beim Boffzener Fest Mitte der 1930er Jahre (v.l. Karl Dietz, Rudi Sporleder, Heinrich Göbel, Willi Meier, Ernst Volger) (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Täter ohne Konturen

Unsere Erinnerungskultur blickt vorrangig auf die Opfer. Sie gilt den Ausgegrenzten, den Verfolgten. Nachträglich weiß man, auf wessen Seite man „damals“ hätte stehen müssen. Erinnerung setzt jedoch ein breiteres Bild voraus, eines in dem auch Zuschauer und insbesondere Täter ihren Platz haben. Über die genauen Täter-Verhältnisse vor Ort, im „normalen“ Leben, wissen wir allerdings wenig. Insbesondere wenn es sich um Täter in der Verwaltung oder aber der Wirtschaft handelt. Der Landkreis Holzminden lag während der Weltwirtschaftskrise am Boden, profitierte aber vom NS-System, von Aufrüstung und Kriegswirtschaft. Aromen wurden in Großküchen und Wehrmacht benötigt, die Glasindustrie nahm einen neuerlichen Aufschwung, eine Holzzuckerfabrik wurde aus dem Boden gestampft. Das prägte den Alltag, gab der Mehrzahl Zuversicht, förderte das Vertrauen in das Regime.

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Führender NSDAP-Funktionär des Weserberglandes seit 1925 – August Knop (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 180 Hildesheim, Nr. 46631)

Der wichtigste Funktionär der NSDAP im Landkreis Holzminden war der 1903 in Boffzen geborene August Knop. Sohn des wichtigsten Bauunternehmers, studiert, seit 1924 in der völkischen Bewegung aktiv, seit 1925 NSDAP-Mitglied, Agitator und Organisator, anfangs eher von Höxter aus, dann mit Macht von Holzminden. [37] In Boffzen verbindet man seinen Namen mit der Neugründung der Glashütte Noelle & von Campe 1933/34, doch er war auch Teil der Porzellanfabrik in Fürstenberg, brachte in der Holzzuckerfabrik Braunschweiger und Berliner Kapital nach Holzminden, war an vielen Infrastrukturprojekten beteiligt. [38]

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Hundestaffel der Holzmindener NSDAP beim Appell des SA-Sturmbanns III/164 in Holzminden 1932 (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 759)

Holzminden entwickelte sich schon früh zu einem Kraftzentrum der NSDAP und der SA. Die Landespolizeischule war früh auf Linie, im November 1932 errang die NSDAP 44 % der Stimmen. [39] Die SPD, der Reichsbanner, sie waren lange Zeit führend, doch ihre Bedeutung schwand während der Weltwirtschaftskrise, wurde zermahlen im faktischen Bürgerkrieg Anfang der 1930er Jahre, gegen Kommunisten und Nazis.

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Ein ganz normaler Schuhmacher: Willi Hansmann, NSDAP-Mitglied seit 1929 (Giel‘s Militaria, Nr. 165040)

In Boffzen entstand eine gesonderte NSDAP-Ortsgruppe im Oktober 1931. Boffzener waren schon früher Mitglied der NSDAP, August Knop natürlich, sein Bruder Walter Knop, später Reichstagsabgeordneter und Oberlandesgerichtsrat, aber auch der spätere Bürgermeister Wilhelm Korte oder das spätere Gemeinderatsmitglied August Dierkes. [40] Anfangs prägten vor allem Bauern und Handwerker die von Hans Bohnes, dann von Willi Tappe geleitete Ortsgruppe. Doch auch die zwei Söhne des Fabrikbesitzers der Georgshütte, des wichtigsten Arbeitgebers des Ortes, stießen hinzu. Sie machten die NSDAP vor Ort salonfähig.

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Wegbereiter der NS-Zeit: Karl August Becker, NSDAP-Mitglied seit 1. November 1931 (l.); Dr. Georg Wilhelm Becker, NSDAP-Mitglied seit 1. Oktober 1931 (Bundesarchiv Lichterfelde, NSDAP-Zentralkartei R 9361-VIII Kartei / 1450953 (l.); ebd. R 9361-II-31088)

Der Kernort Boffzens, das unmittelbare Umfeld der jüdischen Familien, war ab 1932 nationalsozialistisch geprägt. Im Brückfeld sah das noch anders aus, hier dominierten SPD und nun auch die KPD. Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 erreichte die NSDAP in Boffzen 513 (43,1 %), am 5. März dann 592 Stimmen (49,9%). [41] Das reichte für die vielbeschworene „Macht“, für die Entrechtung aller Gegner, aller Minderheiten.

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Boffzener NSDAP-Mitglieder Mitte der 1930er Jahre (Von l. nach r.: NN, Karl Thiemann, Friedrich Korte, Willi Tappe, Marie Grebe, NN, Guste Henke, Heini Henke; untere Reihe: Otto Kleine, Willi Hansmann) (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

In Boffzen gaben nun Täter wie Bürgermeister Wilhelm Korte den Takt an: Kriegsteilnehmer, Stahlhelmmitglied, dann seit 1928 SA- und NSDAP-Mitglied, ein Tischler mit einem Monatseinkommen von ganzen 100 RM. [42] Wie an anderen Orten auch, wissen wir wenig über diese Menschen. Wir kennen die Namen der führenden NSDAP-Funktionäre in Boffzen, Korte, Willi Tappe, Karl Mener, Heinrich Stapel, Fritz Tofaute, Karl Kempe, Georg Scheerer, Otto Wulf, viele mehr. [43] Wenn wir nachforschen, finden wir einige Personalbögen, ab und an Entnazifizierungsakten, Erinnerungsfetzen. Doch wie soll Erinnerung, eine breite, ehrliche und wohl auch schmerzende Erinnerung möglich sein, wenn man die Täter nur schemenhaft kennt?

Vom sichtbaren zum stillen Boykott

Womit wir zu den „Bystandern“, den Zuschauern, der großen Mehrzahl der Boffzener kommen. Es sind die, die später von Verführung redeten, von den Nöten und Härten der Zeit, von den zerbrochenen Hoffnungen. Die Gründe fanden, dass sie mitmachten, nur ein bisschen, die auf ihr eigenes Leid verwiesen. Zuschauer, die nun zu einem anderen Händler, einem anderen Schlachter wechselten, nicht mehr beim jüdischen Händler kauften. Dieser Kauf hätte mehr als Geld gekostet. Er hätte Konsequenzen haben können – für sie selbst.

Dabei gab es Widerstand in Boffzen. Neun Sektenangehörige, Zeugen Jehovas, ließen sich durch Gewalt in ihrem Umfeld nicht beirren [44] – trotz Verboten und Hausdurchsuchungen. [45] Am 7. Oktober 1934 verfasste die „Gruppe der Zeugen [Jehovas] in B[offzen]“ ein Schreiben an den „Führer“ Adolf Hitler. Der wohl von dem Glasmacher August Pöppe entworfene Brief wertete den Dienst gegenüber Gott höher als den gegenüber dem Staat: „Wir unterbreiten Ihnen folgendes: Daß wir um jeden Preis Gottes Geboten folgen werden, daß wir uns versammeln werden, um sein Wort zu erforschen, daß wir ihn anbeten und ihm dienen werden, wie er geboten hat. Wenn Ihre Regierung oder Regierungsbeamte uns Gewalt antun, weil wir Gott gehorchen, dann wird unser Blut auf Ihrem Haupte sein und Sie werden Gott, dem Allmächtigen Rechenschaft geben müssen.“ [46]

Welch ein Zeugnis von Gottvertrauen, von Bekennermut! Sein eigen Ding machen, den anderen in Frieden leben lassen – das war ein Verbrechen: Die vorrangig aus Glasarbeitern von Noelle & von Campe bestehende Gruppe wurde Anfang Februar 1935 verhaftet, in einem Schnellverfahren in Holzminden zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen in Braunschweig verurteilt, auch die Revision verworfen. Sie kehrten Ende 1935 und Anfang 1936 nach Boffzen zurück, mehrere davon gesundheitlich schwer gezeichnet. Solidarität abseits ihrer Gruppe erfuhren sie damals nicht.

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Familiennachrichten als Normalitätsanker (Israelitisches Familienblatt 34, 1932, Nr. 44, 6; ebd. 35, 1933, Nr. 18, 6; Der Israelit 76, 1935, Nr. 34, 11)

Auch die drei jüdischen Familien praktizieren ihren Glauben weiter, zunehmend privat. Diese kleinen Familienanzeigen zeugen davon. Doch ihr Alltag wurde enger, die Straße gehörte anderen, die Kontaktzonen bröckelten.

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Eindrücke vom „Judenboykott“ in Berlin am 1. April 1933 (Der Kuckuck 5, 1933, Nr. 15, 7)

Den „Judenboykott“ verbindet man gemeinhin mit Aktionen in Großstädten, mit dem 1. April 1933. Dabei vergisst man die am 9. März 1933 beginnende Fülle gewaltsamer Übergriffe nationalsozialistischer Aktivisten. [47] In Braunschweig erfolgte ein „Warenhaussturm“ am 11. März 1933. Die Boykotte sollten weitergehen, die Existenz jüdischer Geschäfte unterminieren. [48]

Boykotte sind ein vielgestaltiges Kampfmittel, sind auch heute beliebt bei Konsumenten mit Haltung. Sie entstanden als Kampfmittel der Land- und Fabrikarbeiter, wurden aber rasch von Antisemiten und Mittelstandsaktivisten übernommen. [49] Während der Weimarer Republik konnte man sich gegen Boykottaufrufe und damit verbundene Schmähungen allerdings wehren. [50] Das änderte sich seit Anfang März 1933 massiv.

In Boffzen betraf das nicht allein die drei jüdischen Geschäfte, von denen die Gemeinde nichts mehr kaufte, von denen die Gemeindebediensteten nichts mehr kaufen sollten. Es galt auch für die lokalen Glashütten – und man möchte fast sagen, ausgerechnet. Die Weltwirtschaftskrise traf die Boffzener Glasindustrie hart. Noelle & von Campe entließ 1931 seine Beschäftigten, der Glasoffen wurde kalt gelegt, die Gesellschaft im Februar 1933 aufgelöst. Die Georgshütte fuhr ihren Betrieb massiv herunter, beschäftigte zeitweilig nur noch 40 Personen. 1931/1932 war man froh, auch an das Warenhaus Hermann Tietz oder aber den Konsumverein München-Sendling liefern zu können. [51] Ihr wichtigster Kunde 1932/33 war die Mannheimer Glasgroßhandlung Hermann Gerngross. [52] Die beiden Söhne des Firmenchefs August Becker hätten sie wohl als „jüdisch“ bezeichnet. Diese Aufträge waren für den Geschäftsbetrieb in der Krise kaum verzichtbar. Doch nach Juni 1933 lieferte die Firma Becker kaum mehr. [53] Sie wusste, was sie tat. Im Entnazifizierungsverfahren betonten Karl August Beckers Rechtsanwälte, „dass der Beschwerdeführer bis zum Jahre 1938 ständig jüdische Geschäfte noch mit Glas beliefert hat“ [54]. Die Analyse ergab für die zweite Hälfte 1938, dass es damals just eine knapp 400 RM teure Lieferung an das noch vom jüdischen Besitzer geführte Münchner Kaufhaus Heinrich Uhlfelder gegeben hatte. [55] Man verkaufte, doch jeder Kauf und Verkauf war rassistisch unterlegt.

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Boykottaufrufe 1932 – umgesetzt auch in Boffzen (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 9 (links oben), 282 (links unten), 328)

Auch die Boffzener Bevölkerung wusste was sie tat: Seit 1933 gab es einen stillen Boykott der jüdischen Händler. 1960 hieß es anlässlich des Entschädigungsverfahrens von Guido Lebenbaum: „Es soll nicht bestritten werden, daß das Kolonialwarengeschäft in früheren Jahren einigen Gewinn abgeworfen hat, und daß es in den letzten Jahren vor und zu Beginn der Verfolgung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen völlig eingestellt werden mußte, weil keine Käufer mehr kamen.“ [56] Es kamen keine Käufer mehr. Das galt für 1933/34: Die Boffzener kauften zunehmend weniger, dann nur noch in Ausnahmefällen bei ihren früher hochgeschätzten jüdischen Händlern. Das galt auch, wenngleich mit Zeitverzögerung, für die Schlachterei von Hermann Kleeberg. Zu dem stillen Boykott, dem Nicht-mehr-kaufen, trat zudem ein passiver Boykott, also das Nicht-mehr-Verkaufen. Ab 1939 durften Kleebergs beispielsweise nicht mehr selbst einkaufen, dankenswerterweise erledigte das ein Junge für sie, wohl Helmut Kues.

Der stille Boykott unterminierte jüdisches Leben im Deutschen Reich und in Boffzen. Er war Teil immer weiterer Diskriminierungen und gewalttätiger Übergriffe nach dem Ende der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung 1935. Er stand im Einklang mit einer europaweiten antisemitischen Politik insbesondere in Osteuropa. [57] Doch dieser diskriminierende Gleichklang sollte 1938 enden: Die Verfolgung der österreichischen Juden gab den Takt vor, die Vertreibung der im Deutschen Reich lebenden staatenlosen Juden nach Polen die Richtung. Die Gewaltorgie der Novemberpogrome machte dann weltweit deutlich, dass Juden in Deutschland Freiwild waren. Ruth Kleeberg, die zwischenzeitlich in Peine gearbeitet hatte, emigrierte bereits im März 1938 in die USA. [58]

21_Yad Vashem_102GO1_Baden-Baden_Antisemitismus_Verhaftungen_Judenpogrom

Verhaftete Juden in Baden-Baden am 9. November 1938 (Yad Vashem, 102G01)

Der Bruch 1938/39

Die Novemberpogrome 1938 währten mehrere Tage, entstanden vor dem 9. November dezentral, wurden erst an diesem Tage zu einem nationalen Pogrom kanalisiert. Man denkt an SA und SS, doch vergisst man die vielen normalen Täter, insbesondere die vielen Jugendlichen. Das lange gängige Bild der „Kristallnacht“ war von den Zerstörungen zahlloser Geschäften und von mehr als 1400 Synagogen geprägt, doch daneben dominierten Plünderungen und Diebstahl, Vergewaltigungen und Morde. 31.000 jüdische Männer wurden bis zum 16. November inhaftiert und in Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen interniert. 300 Juden wurden in den Selbstmord gedrängt, etwa 400 erschlagen, erschossen, kamen in den Konzentrationslagern ums Leben. [59] Die drangsalierten Juden mussten die Schäden auf eigene Kosten beseitigen, hatten ein Fünftel ihres Vermögens abzugeben, mussten ab Jahresende ihre Geschäfte und ihren Grundbesitz verkaufen, konnten über Wertpapiere und auch private Wertgegenstände nicht mehr frei verfügen. Den deutschen Juden blieb nur noch die Wahl zwischen Auswanderung und perspektivloser Armut.

Der folgende Bericht über das Judenpogrom in Holzminden ist Teil der propagandistischen Untertreibung der NS-Propaganda: „Die von den Juden immer wieder genährte, in dem Hetzfeldzug der letzten Jahre gegen alle Deutsche gesteigerte Empörung des gesamten deutschen Volkes gegen das Judentum ist nach der verabscheuungswürdigen Mordtat des Juden Grünspan zum Ausbruch gekommen. Wir berichteten bereits gestern, daß sich in Holzminden diese wohlmotivierte Entrüstung in einem spontanen Ausbruch im Anschluß an die Kundgebung des 9. November in der Feierabendhalle Luft gemacht hat. Aehnlich wie im Reich sind dabei die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte in Trümmer gegangen, ebenso wie der Krimskrams in dem Judentempel auf dem Marktplatz in Flammen aufgegangen ist. Wie im ganzen Reich ist hierbei übrigens keinem einzigen Juden ein Haar gekrümmt worden. Wir haben bereits gestern berichtet, daß bei der Inhaftierung von Juden in ihren Wohnungen zwecks Schutzes gegen die berechtigte demonstrativ bewiesene Abscheu der Bevölkerung vor den Juden Beweise für das illegale Verhalten des Judentums gefunden wurden, u.a. Waffen in Holzminden und Boffzen (Gewehre) und Abtreibungsgeräte, wie auch Propaganda- und Aufklärungsmaterial für die Abtreibung im Kreis gefunden sein soll. In der Kreisstadt wie im Kreis sind bei diesen Zwischenfällen, die diszipliniert verliefen, Inneneinrichtungen jüdischer Geschäfte, Fensterscheiben zerstört worden. Das Judentum hat damit eine Warnung erhalten. Das deutsche Volk wird sich in Zukunft die fortgesetzte verbrecherische Tätigkeit Judas keinesfalls mehr gefallen lassen.“ [60]

In Boffzen hatte man Hermann Kleeberg und seinem Sohn bereits im Frühjahr 1938 nicht entrichtete Steuerrückstände von etwa 200 RM vorgeworfen, Walter Kleeberg wurde deswegen in Holzminden zwei Monate in Untersuchungshaft genommen. Der NS-Staat begnügte sich schließlich mit einer außergerichtlichen Einigung, mit einer Strafe von 5.100 RM. [61]

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Nächtlicher Überfall auf jüdische Bewohner in Nürnberg oder Fürth am 9. November 1938 (https://twitter.com/ElishevaAvital/status/1060914919258947584/photo/3)

Den Rest erledigte staatliche und private Gewalt: Am frühen Morgen des 10. November wurden Hermann und Walter Kleeberg sowie Robert und Arnold Seligmann verhaftet und am nächsten Tag nach Buchenwald gebracht. In Boffzen zertrümmerte ein unbenannter Mob die Schlachterei, das Kolonialwarengeschäft, auch Teile der Wohnungen. Kleebergs hatten ihr Geschäft schon im Juni 1938 eingestellt, Seligmanns folgten nun. Hören Sie seinen Bericht an Landrat August Knop vom 11. Januar 1939: „Auf Ihr Schreiben vom 9. Januar 1939 teile ich Ihnen er[gebends] mit, daß mein Fellhandel und Kolonialwarengeschäft seit dem 12. November 1938 durch den Herrn Bürgermeister (Boffzen) geschlossen und gleichzeitig von meiner Schwiegertochter abgemeldet worden ist. Derselben sind für die Felle RM 22,– ausgezahlt worden. Dieselben sind bereits am 10. November 1938 abgeholt worden. Betr. Kolonialwaren kann ich nur melden, daß mir alle Waren am 10. November 1938 beschlagnahmt und mitgenommen sind, ebenso meine Bücher. In meinem Laden befindet sich nichts mehr. Ich bemerke noch, daß ich ohne Verdienst bin und irgendwelche Kosten für einen Treuhändler nicht aufbringen kann.“ [62]

Die beiden Alten waren aufgrund ihres Kriegsdienstes Ende 1938 aus dem Konzentrationslager entlassen worden, die beiden Söhne folgten nach sechsmonatiger Haft im April 1939. Sie standen vor dem wirtschaftlichen Ruin. Kleebergs verkauften erst ihre Viehweide, dann ihr Haus. [63] Durch Intervention des Bürgermeisters Wilhelm Korte und des Finanzamtes Holzminden wurden die Preise gedrückt, der Ertrag diente nicht zuletzt zur Erstattung der Geldstrafe wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung und der den Juden auferlegten Sondersteuer. Der geringe Restwert kam auf ein Sperrkonto, war nur noch begrenzt verfügbar. Ab August hatten Frieda und Hermann Kleeberg Miete zu zahlen, im Dezember wäre ihr Bleiberecht abgelaufen. In dieser Drangsal holte sie ihr Sohn Erich im Oktober 1939 in seine 2-Zimmer-Wohnung nach Hannover. Sie verkauften Wagen und Pferde, einige Möbel und Reste des Schlachtereiinventars in Boffzen, verließen das Dorf mit Schlafzimmer, Eßzimmer, Küche und Kleidung. [64] Beim Abtransport erhielt Erich noch Hilfe von Dorfbewohnern, wohl der Familie Hinze, die Teile des Mobiliars zeitweilig bei sich unterstellten. Es war eine Geste der Menschlichkeit, doch sie blieb eine Ausnahme.

Hier könnten wir enden, denn 1939 endete jüdisches Leben in Boffzen. Doch so einfach können wir es uns nicht machen. Martha und Walter Kleeberg zogen nach seiner KZ-Entlassung in ihren Geburtsort Laer. Dort trennte sich das Ehepaar, Walter gelang die Emigration nach Großbritannien. Seligmanns erreichten, wie 20.000 weitere deutsche Juden, das international verwaltete Shanghai, überlebten die japanische Besetzung, fanden schließlich eine neue Heimat in den USA, die 1938/39 nicht bereit gewesen waren, ihre Zuwanderungskontingente zu erhöhen. Ihren Boffzener Besitz hatten sie zuvor deutlich unter Wert verkaufen müssen. [65]

23_Stadtarchiv Münster, Bestand Stadtregistratur Fach 36 Nr. 18f_Marta-Kleeberg_Deportationsliste_Riga

Deportation von Martha Kleeberg am 13. Dezember 1941 von Münster nach Riga (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur, Fach 36, Nr. 18f)

Martha Kleeberg, Walters Frau, wurde am 13. Dezember 1941 von Münster aus über Osnabrück und Bielefeld nach Riga deportiert. [66] Frieda und Hermann Kleeberg folgten in einem weiteren der jeweils etwa eintausend Menschen umfassenden Deportationszüge am 15. Dezember 1941 in ungeheizten Transportwaggons nach Riga. Zuvor waren sie in ein Hannoveraner „Judenhaus“ verfrachtet worden. Ihre Emigration in die USA stand bevor, doch am 23. Oktober wurde die Ausreise von Juden aus dem Deutschen Reich untersagt. [67]

24_NLA Hannover Hann. 210 Acc. 160-98, Nr7_Frieda-Kleeberg_Hermann-Kleeberg_Deportationsliste_Riga

Deportation von Frieda und Hermann Kleeberg am 15. Dezember 1941 von Hannover nach Riga (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover Hann. 210 Acc. 160/98, Nr. 7)

Erich Kleeberg war an diesem Vorweihnachtstag am Hannoveraner Fischerbahnhof, geleitete Mitglieder der jüdischen Gemeinde in die Deportationszüge. Er ahnte den folgenden Mord an seinen Eltern, seiner Schwägerin. Kein Grab birgt ihre Körper, kein Todesdatum ist erhalten. Erich Kleeberg blieb durch seine Ehe mit einer „christlichen“ Frau von einer unmittelbaren Deportation ausgenommen. Er wurde im November 1944 von der Gestapo verhaftet, in Ahlem und Neuengamme interniert, gelangte bei einem der vielen Todestransporte schließlich nach Sandbostel. Er erlebte die Befreiung dieses Lagers, verstarb jedoch Anfang Mai 1945 an den Folgen von Typhus und Torturen. Im Januar hatte er seiner Frau und seiner Tochter noch eine in der Schmutzwäsche herausgeschmuggelte Nachricht geschrieben: „Die Sorge für euch jetzt und wer weiß, wie das Schicksal will, die Sorge für Euch in Zukunft vielleicht nicht mehr sorgen zu dürfen, oder gar nicht mehr zu können, ist meine größte Sorge. Was wird aus Euch, meine l[ie]b[en] beiden Kleinen werden wenn ich nicht mehr bin? Zu oft quälen mich die Gedanken. Zu gern möchte ich für Euch sorgen und Eure Lasten tragen. Oft sitze ich am Tag und in der Nacht an diesen Gedanken.“ [68]

Nach dem erzwungenen Verlust: Kriegs- und Nachkriegszeit

In Boffzen dürfte all das kaum jemanden mehr interessiert haben. Die Juden waren fort aus Boffzen, ihr Besitz verkauft und teils im Dorfe aufgeteilt. Die NSDAP-Ortsgruppe Boffzen sollte bald 450 Mitglieder betragen. [69] Hunderte Boffzener wurden seit 1939 zu den Waffen gerufen, folgten willig, waren Teil eines europäischen und globalen Hegemonial- und Vernichtungskrieges. Über ihre Taten ist wenig bekannt. Mehr als hundert von ihnen starben für „Führer und Vaterland“, für nichts und wieder nichts. Nein, falsch! Denn die Wehrmacht eroberte den Raum, in dem kein anderes Gesetz galt als das des Stärkeren. Auch Soldaten ermöglichten den Holocaust, bei dem der Anteil nicht-deutscher jüdischer Opfer bei 97 % lag. [70]

25_Postkarte_Boffzen_Landjahrlager_Gemeindeverwaltung

Das 1938 erbaute Landjahrlager Boffzen – heute Gemeindeverwaltung, Polizei und Archiv (Postkarte, Privatbesitz)

Wirtschaftlich war auch die Kriegszeit eine des wirtschaftlichen Aufschwunges. Beide Boffzener Glashütten profitierten von Aufrüstung und Kriegsproduktion, wurden vor und während des Krieges beträchtlich modernisiert. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit in den 1950er Jahre gründete auf diesen Investitionen. Die Menschenlücken des Krieges wurden teils durch Zwangsarbeiter geschlossen. In Boffzen waren es 1943 mehr als einhundert [71], die Zahl stieg dann weiter an. [72] Insgesamt profitierten in Boffzen mehrere Dutzend Betriebe, Bauernhöfe und Haushalte von zwangspflichteten Arbeitskräften aus West- und Osteuropa. Im Landkreis Holzminden waren es über zehntausend.

Es ist fast ausgeschlossen, dass damals selbstkritische Rückfragen die Runde machten, wie sie etwa der 1945 ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer in seinem im Gefängnis Tegel verfassten Gedicht „Nächtliche Stimmen“ 1944 niedergeschrieben hat. Doch sie bringen vieles nicht Gesagtes an unsere Ohren: „Von Menschen gehetzt und gejagt, / wehrlos gemacht und verklagt, / unerträglicher Lasten Träger, / sind wir doch die Verkläger. / Wir verklagen, die uns in Sünde stießen, / die uns mitschuldig werden ließen, / die uns zu Zeugen des Unrechts machten, / um den Mitschuldigen zu verachten. / Unser Auge musste Frevel erblicken, / um uns in tiefe Schuld zu verstricken; / dann verschlossen sie uns den Mund, / wir wurden zum stummen Hund. / Wir lernten es, billig zu lügen, / Dem offenen Unrecht uns zu fügen. / Geschah dem Wehrlosen Gewalt / so blieb unser Auge kalt. / Und was uns im Herzen gebrannt, / blieb verschwiegen und ungenannt. / Wir dämpften das hitzige Blut / und zertraten die innere Glut. / Was Menschen einst heilig gebunden / das wurde zerfetzt und geschunden, / verraten Freundschaft und Treue, / verlacht waren Tränen und Reue. / Wir Söhne frommer Geschlechter, / einst des Rechts und der Wahrheit Verfechter, / wurden Gottes- und Menschenverächter / unter der Hölle Gelächter.“ [73]

Während des Krieges wandelte sich der Ort beträchtlich. 1946 hatte Boffzen 3.500 Einwohner, 1.500 mehr als 1939, stabilisierte sich dann bei etwa 3000. Kriegs- und Nachkriegszeit waren – Juden und andere Missliebige ausgenommen – Zeiten der Volks- und Notgemeinschaft. Das zu Beginn der NS-Zeit noch politisch und räumlich polarisierte Boffzen wuchs nun zusammen. War das „Dorf“ während der NS-Zeit immer auch Kulisse für die Ausgrenzung und Verfolgung, immer auch Tat- und Zuschauergemeinschaft, so mutierte das „Dorf“ nach 1945 auch zu einer Schweigegemeinschaft. Das schloss paradoxerweise auch die politisch zumeist dominierenden Sozialdemokraten mit ein, bei denen, wie bei anderen Parteien, auch ehemalige NS-Anhänger eine neue Heimstatt fanden.

26_Postkarte_Boffzen_Dorffest_Festkultur_Noelle-von-Campe_Erinnerungskultur_Galsarbeiter_Parolen

Unbedachte Wortwahl: Festwagen der Glashütte Noelle & von Campe beim Ortsjubiläum 1956 in Fortführung der NS-Parolen „Ehre die Arbeit und achte den Arbeiter“ (Maifeiertag 1933) resp. „Ehre die Arbeit – achte das Brot“ (Erntedank 1937) (Postkarte, Privatbesitz)

Die Verbrechen der NS-Zeit, des Krieges, sie wurden öffentlich nicht benannt, nicht erinnert. [74] In der Chronik von 1100 Jahren Boffzen wurde die NS-Zeit ausgeblendet, die jüdische Ortsgeschichte ignoriert. Bürgermeister Friedrich Knop und Gemeindedirektor Friedrich Böker beschworen im Vorwort „den alten Geist unseres Dorfes“ [75]. Verfasser dieser öffentlichen Erinnerungsschrift war der Lehrer Otto Ahrens, zuvor ein treuer Diener des NS-Regimes, 1945 von der Militärregierung entlassen, 1946 vom sozialdemokratisch dominierten Gemeinderat mit einer politisch tragbaren Bescheinigung versehen. [76]

Das galt in noch größerem Maße für die vielen, das Dorfgeschehen prägenden Nationalsozialisten. Die Militär-Regierung hatte anfangs zumindest einige Maßregeln erlassen, etwa gegen den Glashüttenbesitzer Karl August Becker. Sie endeten rasch. Die Entschädigungen der Verfolgten nach dem 1956 erlassenen Bundesentschädigungsgesetz kamen dagegen kaum voran. [77] Die Verfahren erst der Familie Lebenbaum, dann der Erbengemeinschaft Kleeberg zogen sich über viele Jahre hin, kamen erst Mitte der 1960er Jahre zu einem Abschluss. [78] Alle Angaben, alle Ansprüche wurden vor Ort penibel kontrolliert, vor allem aber nur schleppend bearbeitet. Im Entschädigungsfall Lebenbaum erfolgte auf ein Schreiben im Dezember 1959 fast vier Monate keine Antwort. [79]

27_Archiv der Samtgemeinde Boffzen_Entschaedigungsverfahren_Guido-Lebenbaum_Mahnung

Schreiben des Regierungspräsidenten an die Gemeinde Boffzen vom 8. März 1960 zum Entschädigungsantrag des 89-jährigen Guido Lebenbaum (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“)

All dies erfolgte nach den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958, im Umfeld des Eichmann-Prozesses 1961, der 1963 einsetzenden Frankfurter Auschwitzprozesse. Selbst eine einfache Anfrage der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem über die Abmeldedaten wurde von der Gemeinde 1961 zuerst einmal nicht beantwortet. [80]

28_Archiv der Samtgemeinde Boffzen_Juden_Boffzen_Liste_Abmeldungen_Melderegister

1963 erstellte Liste der „Juden in der Gemeinde Boffzen“ – mit realen und später ergänzten Umzugsorten/-ländern (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“)

Für die Gemeindeverwaltung war der erzwungene Verlust Anlass für Arbeit und komplizierte Nachforschungen. In einem Schreiben an das Hannoveraner Landesrabbinat vom 13. Februar 1967 brachte Gemeindedirektor Friedrich Hansmann das Geschehen lapidar und grußlos auf den Punkt: „In der hiesigen Gemeinde waren bis zur Vertreibung der Juden 3 jüdische Familien ansässig. Der Judenfriedhof wurde nach dem Krieg aufgeräumt und wieder in Ordnung gebracht. Zur Zeit leben keine Juden in der Gemeinde Boffzen.“ [81] Erst auf nochmalige Rückfrage gab er weitere Informationen heraus, weniger aber als in obiger Liste. [82] Juden und ihre Rückfragen waren lästig, störten die Stille der Schweigegemeinschaft.

Zu dieser Zeit gab es allerdings schon private Kontakte: Ruth Gröne besuchte 1966 erstmals wieder das Haus ihrer Großeltern. [83] Doch erst unter Gemeindedirektor Ulrich Ammermann und Bürgermeisterin Marlis Loges begann in den 1980er Jahren ein auch öffentliches Interesse an der NS-Geschichte der Gemeinde, an dem erzwungenen Verlust der jüdischen Nachbarn.

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Frieda Volger (l.) trifft ihre frühere Mitschülerin Ruth Kolb, geb. Kleeberg, 1989 in Boffzen (Foto: Ruth Gröne)

Weitere Aufwendungen für den jüdischen Friedhof, offizielle Besuche von Walter Clay, geb. Kleeberg und Ruth Kolb, geb. Kleeberg, auch ein Gedenkstein folgten. Die lokalen Vereine, insbesondere der MTV und der Gesangsverein Brunonia, waren Teil all dessen. Auch die heutige Gedenkveranstaltung steht in dieser Tradition – und ich danke hierfür ausdrücklich.

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Gedenkstein der Gemeinde Boffzen von 2006 vor dem ehemaligen Landjahrlager, umrahmt mit Platten aus dem Toreingang zu Hermann Kleebergs Innenhof (Foto: Uwe Spiekermann)

Warum sich erinnern?

Können wir aus alledem etwas lernen? Als Historiker bin ich notorisch skeptisch. Krieg folgt auf Krieg, die Reden vom „Nie wieder“ ebben ab. Sieg tönt es, Kompromisse werden abgelehnt. Westliche gegen östliche Werte heißt es, wo doch mehr als die Hälfte der deutschen Juden Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion sind. Die Geschichte des Antisemitismus ist eine der steten Wiederkehr, der andauernden Gewalt und Vernichtungsdrohung. „Nie wieder“ tönt es, doch angesichts der Relativierungen antisemitischer Kunstwerke auf der diesjährigen Documenta, angesichts vielfach folgenloser Übergriffe auf Menschen mit Kippa und Davidstern, angesichts einer in breiten Bevölkerungsteilen hippen Israelkritik inklusive Boykottaufrufen reichen einfache Rückfragen nicht aus. Große Teile der Erinnerungskultur an den Holocaust dienen nicht der schmerzenden, der selbstkritischen Erinnerung, sondern dem wohligen Bewusstsein, nun endlich auf der richtigen Seite zu stehen. [84] Und ich kann Ihnen meine Erfahrungen hier in Boffzen nicht ersparen, wo die beiden Geschäftsführer des wichtigsten Arbeitgebers Noelle + von Campe eine an sich verbindliche Zusage an den Freundeskreis Glas schnöde brachen, als es um die Nennung der Herkunftsländer der von der Firma beschäftigen Zwangsarbeiter auf erinnernden Glasstelen vor ihrem Haupthaus ging – und zwar mit dem abstrusen Verweis auf die Befindlichkeiten möglicher Kunden aus Israel. Er wurde just in diesem Raum später nochmals wiederholt.

Skepsis ist angebracht, doch im Alltag geht es um praktisches Tun, um kleine Verbesserungen im überschaubaren Rahmen. Jean Goldenbaum, der diese Veranstaltung mit seiner Musik bereichert, bemüht sich von Neuhaus aus um die Revitalisierung jüdischen Lebens im Solling, im Landkreis Holzminden. Er kann sicher noch Unterstützung gebrauchen. Ruth Gröne hat immer wieder deutlich gemacht, dass Erinnern etwas anderes ist als folgenloses historisches Wissen. Es geht um die Aufgaben des Tages, des bürgerschaftlichen Miteinanders. Es geht – unausgesprochen und doch klar – um den heutigen Umgang mit Nachbarn, mit Menschen, die anders sind, nicht Teil der Mehrzahl, des konturenlosen „Dorfes“ oder gar des immer auch ausgrenzenden wohligen „Wir“.

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Familie Kleeberg, Boffzen 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Persönlich blicke ich abermals auf das Bild der Familie Kleeberg in ihrem Boffzener Innenhof: Ein kleines Kind im Kreis seiner Familie. Es ist Ruth Gröne, gewiss. Doch ich habe ähnliche Bilder vor Augen. Schauen Sie auf dieses Bild – und blicken Sie auf Sandra und Christian, auf Anna und Jan, auf Mia und Noah, auf die Lieben, für die Sie Sorge tragen. Und denken Sie vielleicht auch an Mohammed und Mara, an Wolodymyr und Wladimir. Ja, Träumen ist erlaubt, ist wichtig.

Erinnern aber erfordert mehr als Empathie mit den Opfern, als den Schutz des Eigenen. Die Boffzener haben die Last der Täter zu tragen, auch die der Zuschauer. Es gab viele nachvollziehbare Gründe, hier in Boffzen während der NS-Zeit mitzumachen, den jüdischen Nachbarn nicht beizustehen, sich abzuwenden, sich um seine eigenen Dinge zu kümmern. Zweifeln Sie bitte an derartigen Gründen, beharrlich und aus Prinzip. Und tragen sie diese Zweifel nicht nur im Herzen, sondern hinaus in ihren Alltag. Dann kann Erinnerung an einen erzwungenen Verlust vielleicht doch Frucht tragen.

Uwe Spiekermann, 19. November 2022

Dieser in der Manuskriptfassung belassene Vortrag wurde am 19. November 2022 bei einer von der Gemeinde Boffzen veranstalteten Gedenkveranstaltung gehalten. Mehrere Fotos wurden mir von Ruth Gröne zur Verfügung gestellt, wofür ich herzlich danke. Stefanie Waske und Hans Weike unterstützten dankenswerterweise die Sichtung der Quellen, Hilko Linnemann, Stefanie Waske, Walter Waske, Anja Schade und Ruth Gröne lasen den Text gegen und halfen Fehler zu tilgen. Die im Vortragstext enthaltenen Zeitdokumente wurden während der Veranstaltung von Manfred Bues, Hilko Linnemann, Marlies Linnemann, Manuela Püttcher und Stefanie Waske vorgetragen. Besonderer Dank für die Planung und Durchführung gilt Walter Waske.

Quellen- und Literaturhinweise

[1] Instruktiv hierzu Zygmunt Bauman, The Duty to Remember – But What? Afterword to the 2000 Edition, in: Ders., Modernity and the Holocaust, Ithaca und New York 2000, 222-250, 266-267; Sebastian Conrad, Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert, Merkur 75, 2021, 5-17
[2] Anja Schade, Sachor! – Erinnere Dich! Aus dem Leben der jüdischen Hannoveranerin Ruth Gröne, Hannover 2021.
[3] Landkreis Holzminden, Kreisarchiv, Bestand 1010, Nr. 232, Namentliches Verzeichnis der Juden.
[4] Bettina Wegner, Traurig bin ich sowieso. Lieder und Gedichte, Reinbek b. Hamburg 1982, 66.
[5] Ulrich Angermann (Hg.), Chronik der Gemeinde Boffzen, o.O. 2006; Fritz Ostkämper, Die Familien Kleeberg in Boffzen und Ameluxen (2017) (Die Familien Kleeberg in Boffzen und Amelunxen | Forum Jacob Pins Höxter (jacob-pins.de)).
[6] Hierzu – und auch für viele weitere Aussagen – die grundlegende Arbeit von Klaus Kieckbusch, Jüdisches Leben in Boffzen von 1620 bis 1945, Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 24, 2006, 45-140.
[7] Gustav Samuel, Die Namensgebung der westfälischen Landjudenschaft von 1808, Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 6, 1936, 47-51, hier 49-50.
[8] Hans-Heinrich Ebeling, Die Juden in Braunschweig. Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen der Jüdischen Gemeinde bis zur Emanzipation (1282-1848), Braunschweig 1987.
[9] Zu den Schwierigkeiten der Gemeindebildung und des Betraumes s. Kieckbusch, 2006, 89-94.
[10] Vgl. hierzu die allerdings nicht unumstrittenen Argumente in Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933, Frankfurt a.M. 2012, insb., 37-54, 93-96.
[11] Die in Boffzen und Höxter ansässige Firma beschäftigte 1928 80 bis 100 Personen (Volkswacht 1928, Nr. 168 v. 20. Juli, 8; Großfeuer in Boffzen, Westfälische Neueste Nachrichten 1928, Nr. 166 v. 18. Juli, 7). Zum Ortsbild s. Matthias Seeliger, Boffzen. Alte Häuser erzählen, Horb a.N. 1990.
[12] Uwe Spiekermann und Stefanie Waske, Wagemut und Kapital – Die Anfänge der Boffzener Glasindustrie 1866-1874 (2020) (https://glas-in-boffzen.com/2020/11/06/wagemut-und-kapitalmangel-die-anfange-der-boffzener-glasindustrie-1866-1874/), Uwe Spiekermann, Die Boffzener Glasindustrie offiziell – Auszüge aus dem Deutschen Reichsanzeiger 1874-1944 (https://glas-in-boffzen.com/2021/03/03/die-boffzener-glasindustrie-offiziell-auszuge-aus-dem-deutschen-reichsanzeiger-1874-1944/).
[13] Schade, 2021, 28-29.
[14] Einwohner-Adreßbuch des Kreises und der Stadt Holzminden, Ausgabe 1929/30, Stadtarchiv Holzminden, 4/E/1822.
[15] Schade, 2021, 17.
[16] Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 14. Dezember 1959, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[17] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Böker an das Landgericht Hannover, Entschädigungskammer v. 6. Juli 1963, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“. Vgl. auch Schreiben von Detlev Bronisch-Holtze an die Entschädigungskammer des Landgerichts Hannover v. 25. April 1963, Ebd.
[18] Chronik des Gemischten Chors Brunonia, Archiv der Samtgemeinde Boffzen.
[19] Schade, 2021, 23.
[20] Fritz Ostkämper, Die Häute- und Fellhändler Lebenbaum in Höxter und die Familie Lebenbaum in Boffzen (2017) (www.jacob-pins.de/?article_id=394&clang=0).
[21] Protokollbuch des Kriegervereins, 1900-1954.
[22] Schade, 2021, 18. Derartige Umgangsformen wurden reichsweit üblich, waren Teil eines seit dem Kaiserreich akuten antisemitisch grundierten Umgangs zwischen bäuerlicher Bevölkerung und jüdischen Viehhändlern, vgl. Stefanie Fischer, Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 1919-1939, Göttingen 2014; Werner Teuber, Jüdische Viehhändler in Ostfriesland und im nördlichen Emsland 1871-1942, Cloppenburg 1995.
[23] Täglicher Anzeiger Holzminden 1933, Ausgabe vom 13. März (auch für das folgende Zitat).
[24] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 130 Neu 3 Nr. 377.
[25] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[26] Archiv der Gemeinde Boffzen, Bestand A, Nr. 19 (alle drei Zeitate).
[27] Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 4 Nds. Zg. 2019/85 Nr. 75.
[28] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, 180 Hildesheim Nr. 13011.
[29] Davon findet sich nichts in Christina Becker, Die Boffzener Schule, in: Ammermann (Hg.), 2006, 180-186.
[30] Ein Aufarbeitung der in Boffzen zumindest bis 1937 im Gleichschritt mit der NSDAP agierenden evangelisch-lutherischen Gemeinde fehlt. In Christina Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, in: Ammermann (Hg.), 2006, 137-153, hier 137-146 findet sich hierzu leider nichts.
[31] Evangelische Kirchengemeinde Boffzen, Chronik.
[32] Täglicher Anzeiger Holzminden 1933, Ausg. v. 24. Juli. Zum Hintergrund s. Dietrich Kuessner (Hg.), Kirche und Nationalsozialismus in Braunschweig, Braunschweig 1980.
[33] https://kirchengemeindelexikon.de/einzelgemeinde/boffzen/.
[34] Täglicher Anzeiger 1933, Ausg. v. 4. Mai; ebd., Ausg. v. 25. Juni (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45).
[35] Protokollbuch des Kriegervereins, 1900-1954.
[36] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[37] Volkswacht 1924, Nr. 118 v. 21. Mai, 8; zur Karriere vgl. Gauleiterstellvertreter Knop im Amt, Sollinger Nachrichten 1941, Nr. 109 v. 12. Mai, 5.
[38] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 Neu 13 Nr. 3930.
[39] Vgl. Christoph Reichardt und Wolfgang Schäfer, Nationalsozialismus im Weserbergland. Aufstieg und Herrschaft 1921 bis 1936, Holzminden 2016; Klaus Kieckbusch, Von Juden und Christen in Holzminden 1557-1945. Ein Geschichts- und Gedenkbuch, Holzminden 1998. Zum benachbarten Höxter s. Ernst Würzburger, Höxter: Verdrängte Geschichte. Zur Geschichte des Nationalsozialismus einer ostwestfälischen Kreisstadt, durchgesehene u. aktualisierte Neuausgabe, Holzminden 2014, 35-42.
[40] Stadtarchiv Hannover, 310 I A 61 I (auch für die folgenden Angaben).
[41] Täglicher Anzeiger 1933, Ausgabe vom 6. März. SPD (41,9 %) , KPD (12,9 %) , Sonstige (2,0 %) (November 1932); SPD (36,1 %), KPD (11,0 %), Sonstige (3,0 %) (1933).
[42] Niedersächsisches Landesarchiv Hannover R 9361 R 9361-III-568378.
[43] Adreßbuch der Gemeinden des Landes Braunschweig, 7. Auflage, 1938, V/9.
[44] Klaus Kieckbusch, Außerhalb der „Volksgemeinschaft“. Formen der Verfolgung während des Nationalsozialismus im Kreis Holzminden, Holzminden 2020, 163-168.
[45] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 200866; ebd. , Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 204185.
[46] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 204185.
[47] Hierzu detailliert Bundesarchiv Lichterfelde DAF NS 5-16398, Bd. 4 (Warenhäuser-Einheitspreisgeschäfte 1933); ebd., Reichswirtschaftministerium R 3101 13860 (Judenboykott, Tumultschäden 1933).
[48] Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, 2. Aufl., Göttingen 2012; Zur internationalen Diskussion vgl. Tomás Jiránek, Zbynek Bydra und Blanka Zubáková, Zidovsky bojkot nacistického Nemeck 1933-1941 [Der jüdische Boykott Nazi-Deutschlands 1933-1941], Pardubice 2020.
[49] Umfassend hierzu Peter Longerich, Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte, Bonn 2021, insb. 205-266.
[50] Vgl. etwa Hans Lazarus, In erfolgreichem Kampf gegen den Boykott, C.V.-Zeitung 10, 1931, 396.
[51] Archiv Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., Lieferbuch 1931-1935, 3, 50, 55, 86.
[52] Die 1886 gegründete, später in eine GmbH überführte Firma Hermann Gerngross wurde im Gefolge der Reichspogromnacht aufgelöst (Deutscher Reichsanzeiger 1886, Nr. 299 v. 20. Dezember, 9; ebd. 1939, Nr. 12 v. 14. Januar, 8).
[53] Archiv Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., 100, 118, 144, 165, 167, 168, 183, 220, 312, 341.
[54] Schreiben von Hattenhauer und Botterbusch an den Entnazifizierungsausschuss Holzminden v. 18. August 1947, Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 171 Hildesheim, Nr. 44787.
[55] Die Lieferung am 1. Juli 1938 umfasste Becher im Wert von 392,98 RM (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., Lieferbuch 1938-1950, 3). Uhlfelder wurde kurz darauf „arisiert“, die Firma 1939 dann aufgelöst (Julia Schmideder, Das Kaufhaus Uhlfelder, in: Angelika Baumann und Andreas Heusler (Hg.), München arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, 127-175).
[56] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Böker vom 15. März 1960 an den Regierungspräsidenten in Hannover, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[57] Bernard Wasserstein, On the Eve. The Jews of Europe Before the Second World War, New York 2012.
[58] Kieckbusch, 2006, 125.
[59] Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011, insb. 12-16.
[60] Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[61] Kieckbusch, 2006, 117-118.
[62] Landkreis Holzminden: „Abwicklung der jüdischen Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe“.
[63] Das Folgende nach Kieckbusch, 2006, 122-124.
[64] Schreiben des Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 31. Mai 1961, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[65] Kreisarchiv Holzminden, Bestand 1010, Nr. 199.
[66] Vgl. zu den Deportationen Riga. Deportationen, Tatorte, Erinnerungskultur, o.O. o.J. (2020).
[67] Schade, 2021, 57. Vgl. zur Situation in Hannover Ruth Herskovits-Gutmann, Auswanderung vorläufig nicht möglich. Die Geschichte der Familie Herskovits aus Hannover, Göttingen 2002, insb. 93-104 sowie zu den Schwierigkeiten der Emigration Armin Schmidt und Renate Schmidt, Im Labyrinth der Paragraphen. Die Geschichte einer gescheiterten Emigration, durchges. Neuausgabe Frankfurt a.M. 2002.
[68] Schade, 2021, 84.
[69] Notiz von H. Riefkuhle an Bürgermeister Ernst Bues vom 27. Mai 1945 (Landkreis Holzminden, Kassenverwalter Boffzen). Die Ortsgruppe Boffzen bestand aus den Zellen Boffzen, Fürstenberg, Derental, Meinbrexen und Neuhaus Fohlenplacken.
[70] Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, Frankfurt a.M. 2017.
[71] ITS Arolsen, Nr. 117.
[72] Betriebsüberprüfung der Firma G. Becker & Co. v. 10. Juni 1943, Erfüllungsmeldung v. 7. Juni 1944, Erfüllungsmeldung vom 6. Februar 1945; Betriebsüberprüfung der Firma Noelle & von Campe v. 10. Juni 1943, Erfüllungsmeldung vom 8. Februar 1945 (alle Bundesarchiv Lichterfelde, R 13-X-193).
[73] Dietrich Bonhoeffer, Nächtliche Stimmen in Tegel, in: Ders. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, 2. Aufl., München 1977, 383-389, hier 386-387.
[74] Michael Wildt, NS-Eliten in der Bundesrepublik, in: Ders., Wer waren die Nationalsozialisten?, Bonn 2021, 241-261.
[75] Otto Ahrens, 1100 Jahre Boffzen, o.O. 1956.
[76] Gemeindebeirats-Sitzung am 5. April 1946, Archiv des Samtgemeinde Boffzen, Gemeinderatsprotokolle.
[77] Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.
{78] Vgl. etwa Schreiben der Entschädigungsbehörde Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 7. Februar 1962, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[79] Schreiben des Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 14. Dezember 1959, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[80] Schreiben von Yad Washem [sic!] an die Gemeinde Boffzen vom 12. September 1960; Schreiben von Yad Washem an die Gemeinde Boffzen vom 8. März 1961, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[81] Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[82] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Hansmann an das Landesrabbinat vom 14. April und 10. Juni 1967, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[83] Neue Westfälische 1988, Nr. 144.
[84] Ulrike Jureit, Womit wir alle nicht fertig werden. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, in: Magnus Brechtgen (Hg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Bonn 2021, 171-190.

Deutsches Kauen: Nationalsozialistisches „Rösen“ und seine Vorgeschichte

Kauen, dieses Hin und Her, Auf und Ab im Munde, ist allen Menschen gemein. Der Mund ist das Haupteintrittstor der Nahrung, hier wird sie zerkleinert und aufgeschlossen, hat auch der Geschmack einen Ort. Die Bedeutung guten Kauens für Genuss, für Verdauung und Gesundheit ist kulturübergreifendes Gemeingut. In deutschen Landen lässt sich dieses Wissen bis ins hohe Mittelalter zurückverfolgen: „De gôd kaut, de gôd daut“ hieß es im Holsteinischen (Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörter-Lexicon, Bd. 2, Leipzig 1870, Sp. 1215). Das hochdeutsche Sprichwort „Gut gekaut / Ist halb verdaut“ ziert seit Mitte des 19. Jahrhunderts die einschlägigen Lexika (Karl Simrock, Die deutschen Volkbücher, Bd. 5, Frankfurt/M. 1846, 148; Wilhelm Körte, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen, Neue Ausgabe, Leipzig 1847, 181). Adel und das aufkommende Bürgertum bauten darauf seit dem späten 18. Jahrhundert Anstandsregeln und Umgangsformen auf: „Wer gut verdauen will, muß vor allem Andern langsam essen und gut kauen“ betonte der Gastrosoph Eugen von Vaerst (1792-1855) (Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel, Leipzig 1851, 38). Sein französischer Vorgänger Alexandre Grimond de la Reynière (1758-1838) verlangte gar, dass man jeden Bissen vor dem Herunterschlucken mindestens 32mal kauen sollte – jeder Zahn sollte seine Chance erhalten. Die Medizin des 19. Jahrhundert nahm dies auf, auch um die Ordnung am Tische und im Leben sicherzustellen: „‚Esse langsam,‘ damit du hinreichend Zeit habest, Alles klein zu zerbeißen, alles Nahrhafte gut auszuquetschen, Alles Genossene gut gekaut auch richtig einzuspeicheln!“ (J[ohann] A[ugust] Schilling, Schlechte Zähne, – schlechter Magen, Augsburger Sonntags-Blatt 1877, 364-367, hier 366).

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Kauen als Arbeit des Gourmands (Fliegende Blätter 113, 1900, 176)

Sinnsprüche wie „Gut gekaut ist halb verdaut“ waren Teile einer uns heute kaum mehr geläufigen Sentenzenwelt. Zwischen „Richtiges Kochen bringt Mark in die Knochen“ und „Höre auf, wenn Dir’s am besten schmeckt“ wurde Kochen und Essen verortet, das eigene Tun mit den großen Empfehlungen verbunden. Das war nicht nur bevormundend und erzieherisch, denn auch Bekömmlichkeit, Umgangsformen und die Achtung des anderen am Tisch ließen sich damit vereinen. Die Alltäglichkeit und Unverzichtbarkeit des Essens und des Kauens erlaubten aber zugleich, unter deren breitem Denkmantel ganz andere Ziele zu verfolgen. Denken Sie nur an die Werbung: Kalodont, eine der ersten Zahnpastamarken, rundete eben nur ab, was gutes Kauen vorbereitet hatte (Wiener Salonblatt 1907, Nr. 29 v. 20. Juli, 14). Das Kauen, dem „Schlingen“ zunehmend entgegengesetzt, wurde um die Jahrhundertwende auch zum Ausdruck einer guten, alten, gemütlichen Zeit, die Distanz zur vermeintlich modernen Hast und einer ungebührlichen Eile auch beim Essen erlaubte.

Gutes Kauen war nun nicht mehr nur Zeichen eines gesunden Lebens, praktizierter Lebenskunst. Es wurde Teil einer bürgerlichen, auch kleinbürgerlichen Welt des Innehaltens: Auf dem Teller, am heimischen Tisch konnte ein wenig Widerstand geleistet, Abstand gewonnen werden: „1. Schneide dir nicht den nächsten Bissen, solange du am vorigen noch kaust oder schluckst. 2. Kaue so, daß beim Gefühl im Munde oder dein Geschmack unterscheiden, was fest und weich, was trocken und was feucht, was flüssig, salzig, süß oder sauer ist. […] 3. Kaue möglichst so lange, bis keine ungleichen Teile mehr im Bissen sind! 4. Vergiß das Atmen beim Kauen (Essen) nicht! 5. Ist dir die Zeit bei Tische wirklich knapp, so verwende sie lieber aufs wirkliche Essen als auf die Nachtischzigarre oder aufs Zeitungslesen. 6. Wenn du kannst, iß in Gesellschaft. Die hastigsten Esser sind gewöhnlich Alleinesser. 7. Wenn die Zeit oder Ruhe in ganz besonderem Maße fehlt, so gibt es nur einen Rat: Iß weniger, als du essen willst“ (Alfred Pohl, Vom richtigen Kauen, Das Rote Kreuz 16, 1908, 220-221, hier 221). Entschleunigung ist keineswegs neu.

Kauen wurde um die Jahrhundertwende vermehrt Projektionsfläche für vielfältige Veränderungen, die mit der steten Bewegung des Auf und Ab, des Hin und Her an sich wenig zu tun hatten. Kauen wurde aus der Alltagspraxis herausgelöst, in neue Zusammenhänge gestellt. Bis heute bekannt ist der „Fletcherismus“, eine auf dem rechten Kauen aufbauende, in den USA zuerst propagierte, dann aber auch weltweit praktizierte lebensreformerische, „alternative“ Gesundheitslehre. Während des Ersten Weltkriegs wurde das intensive, feine Kauen nationalisiert, galt als patriotische Pflicht, um aus der Nahrung mehr herauszuholen, um an der Heimatfront länger durchhalten zu können. Beide Bewegungen mündeten während des Nationalsozialismus in eine propagandistische Bewegung für harte Nahrung und gutes Kauen. Sie wurde schließlich „Rösen“ genannt, nach dem völkisch-nationalistischen Zahnarzt und Ernährungsreformer Carl Röse (1864-1947). Kauen wurde deutsch, war Ausdruck einer scheinbar volkswirtschaftlich sinnvollen, gesundheitlich notwendigen und rassistisch fundierten Selbstdisziplin der Deutschen. Wie das? Wie konnte es dazu kommen, dass ein alle Menschen einigendes Tun der Abgrenzung, der Selbsterhöhung galt? Wohlan, blicken wird genauer hin.

 

Horace Fletcher – oder die Ideologisierung des Kauens

Ein erster Schritt hierbei war die Ideologisierung des Kauens durch den „Fletcherismus“, eine amerikanische Gesundheitslehre. Richtiges Kauen ermögliche eine bessere, eine vollständige Nutzung der Nahrung, bringe den Menschen zurück zu seinen natürlichen Ursprüngen, so Horace Fletcher (1849-1919), ein Unternehmer mit ehedem massiven Gewichts- und Darmproblemen. Wie so viele Ernährungsreformer präsentierte auch er seit den späten 1890er Jahren eine Geschichte von Krankheit, Einsicht und Umkehr, die dann in Bekenntnis und Mission mündete. Worum ging es? Fletcher beschloss, zur Rekonvaleszenz nicht mehr zu essen als nötig. Dazu bediente er sich einer neuen Kautechnik, nahm damit tradierten Ratschläge des „Well chewed is half digested“ wörtlich. Das wenige Essen – Ideal war eine Reduktion auf die Hälfte – sollte besser genutzt, die Verdauung schon in den Mund vorverlegt werden. Zähne und Speichel sollten werken, die Nahrung sich zu einem Saft verflüssigen. War auf der Zunge nichts Festen mehr zu spüren, so wurde geschluckt – doch das erfolgte gleichsam natürlich. Der Gaumen bestimmte, wurde zur „Schildwache der Gesundheit“ (Matthaei, Das Fletchern, eine Ergänzung des Vegetarismus, Vegetarische Warte 40, 1907, 77-78, 89-91, hier 77), zum diätetischen Gewissen, zum Garanten einer natürlichen, instinktgemäßen Ernährung.

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Horace Fletcher, Kaupropagandist und Bestsellerautor (Horace Fletcher, Fletcherism […], 3. Aufl., New York 1913, II (l.), Good Health 42, 1907, Nr. 9, 13)

Fletcher schrieb seine Erfahrungen nieder, baute auf seiner Art des richtigen Kauens eine, seine Lebensphilosophie auf. Sie entsprach dem bürgerlichen Individualismus, dem Wollen und Zwingen selbstbestimmter Menschen. Kauen stand für die bewusste Wahl eines gesunden Lebens, stand für eine Rückfrage an den an sich geteilten Mainstream des modernen Daseins. Fletchers Bücher „Menticulture“, „Happiness“, „What Sense? or Economic Nutrition“ waren Bestseller der Jahrhundertwende, entfachten eine populäre Bewegung, wie sie ähnlich schon Mitte der 1860er Jahre William Banting mit seiner Korpulenz-Diät losgetreten hatte (Hillel Schwartz, Never Satisfied. A Cultural History of Diets, Fantasies and Fat, New York und London 1986, 125-131; J[ames]C. Whorton, “Physiologic optimism”: Horace Fletcher and hygienic ideology in Progressive America, Bulletin of the History of Medicine 55, 1981, 59-87). Fletcher hielt der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor, zeigte am eigenen Beispiel jedoch Auswege aus einer von Hast und Kommerz, vom Verlust der Natur und der Dominanz gesellschaftlicher Konventionen geprägten Gegenwart: “Mastication”, richtiges Kauen war Ruhepol, war Konzentration auf eigenes Tun. Fletchers Programm war breit angelegt, der Einzelne Teil einer umfassenden Sozialreform, die Effizienz und Natur harmonisch miteinander verbinden sollte. Der Reformer suchte folgerichtig nicht nur Kontakt zu anderen Reformern, etwa zu John Harvey Kellogg (1852-1943), sondern auch zu etablierten Wissenschaftlern. Er ließ sich auf physiologische Versuche ein, die er großenteils selbst bezahlte.

Die 1902 bis 1904 vom Physiologen Russell Henry Chittenden (1856-1943) in Yale durchgeführten Untersuchungen bestätigten, auch am Beispiel Fletchers, dass die starren Regeln des seit Jahrzehnten geltenden Voitschen Kostmaßes nicht immer galten. Die darin empfohlenen täglichen 118 Gramm Eiweiß waren eine schon zuvor wiederholt hinterfragte Setzung, gesundes und sparsames Leben auch mit weniger möglich (Russell H. Chittenden, Physiological Economy in Nutrition […], New York 1907; Vernon R. Young and Yong-Ming Yu, Dietary Protein Standard Can Be Halved (Chittenden, 1904), Journal of Nutrition 127, 1997, 1025S-1027S). Fletcher transformierte diese Ergebnisse in neue Bestseller („The New Glutton or Epicure“; „The new Menticulture“), unternahm nun aber auch umfangreiche Vortragsreisen durch Europa (Margaret Barnett, Fletcherism. The chew-chew fad of the Edwardian era, in: David F. Smith, Nutrition in Britain […], 6-28). Auch dort suchte er Kontakt mit geneigten Wissenschaftlern, etwa dem dänischen Mediziner Mikkel Hindhede (1862-1945). Weitere Forschungen folgten, vielfach von Fletcher finanziert. „Fletchern“ blieb auch dadurch öffentliches Thema (Jason Pickavance, Gastronomic Realism: Upton Sinclair’s The Jungle, the Fight for Pure Food, and the Magic of Mastication, Food & Foodways 11, 2003, 87-112). Was kümmerte es da, dass rückfragende Untersuchungen schon 1903 klar ergaben, dass die physiologischen Effekte intensivierten Kauens marginal, dass also Fletchers Kernbotschaft unzutreffend war (L. Margaret Barnett, ‚Every Man His Own Physician‘: Dietetic Fads, 1890-1914, in: Harmke Kamminga und Andrew Cunningham (Hg.), The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam und Atlanta 1995, 155-178, hier 171).

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„Zahnverderbnis“ humoristisch gewendet (Lustige Blätter 19, 1904, Nr. 7, 6)

Auch im Deutschen Reich wurde der Fletcherismus kontrovers diskutiert. Er passte in die Fin de Siècle-Stimmung, wie sie insbesondere von den Brotreformern gepflegt wurde. Sie verstanden die Abkehr vom (vielfach fiktiven) harten Roggenbrot der Vorfahren als Verweichlichung, als „Entartung“ (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. […], Comparativ 11, 2001, 27-50, hier 28-29). Alfred Kuhnert (1870-194?), Gustav Simons (1861-1914), Stefan Steinmetz (1858-1930) und andere mehr standen für eine völkisch-nationalistische Deutung des Übergangs zum Industriestaat und zur Konsumgesellschaft, der sich auch viele Zahnärzte anschlossen: „Wer die Nachteile vermindern will, die die verfeinerten Lebensweise mit sich bringt, muss sich schon im Kindesalter an eine möglichst kräftige Kauthätigkeit gewöhnen. […] Man wende mir nicht ein, die Kinder seien zum Genusse des harten Brotes nicht zu bewegen. Wo nur ein Wille, da ist auch ein Weg“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 28).

Hartes Brot und gutes Kauen bedingten einander, schienen den bürgerlichen Aktivisten deshalb unabdingbar für ein gesundes und zukunftsfähiges Deutsches Reich. Aber musste dies in Form eines kruden amerikanischen Kausystems erfolgen? Wo blieb da edler deutscher Sinn, die schweigende Andacht am Familientisch? Solche Rückfragen wurden zumindest innerhalb der vegetarischen Bewegung laut. Weniger Eiweiß, zumal weniger Fleisch – das war in ihrem Sinne. Gutes, geduldiges Kauen – das hatte schon der vegetarische Schriftsteller und Restaurantbesitzer Carlotto Schulz (1842-1901) angemahnt. „Gut gekaut, ist halb verdaut!“ stand auf seinen Speisekarten. Doch Fletchern? „Die übergroße Mehrzahl unserer Mitmenschen hat gar nicht die Zeit, um einer so genau zu beobachtenden Kautätigkeit obzuliegen, wie sie Fletcher verlangt. Die kärglichen Minuten, die dem im Erwerbsleben stehenden Manne außerhalb der Berufstätigkeit verbleiben, kann er doch nicht ausschließlich dem Kauen widmen. Das ist wohl Leuten möglich, die lediglich ihrer Gesundheit zu leben vermögen, wie dies bei Fletcher der Fall war, nicht aber der auf Erwerb angewiesenen Bevölkerung“ – so der Theosoph Julius Sponheimer (1868-1939), der vom Menschen mehr verlangte, als „im rein mechanisch-vegetativem Tun“ aufzugehen (Das Fletcherisieren, Vegetarische Warte 39, 1906, 41-42, für beide Zitate).

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Kauen in der lebensreformerischen Praxis (Borosini, Eßsucht, 4. Aufl., 1912, n. 192)

Während die erste Woge der Rezeption des Fletcherismus 1905/1906 abebbte, war die zweite Welle ab 1911 heftiger. Der Grund war einfach, hatte Fletcher doch mit dem Münchener Arzt August Joseph von Borosini (1874-1965) einen bekennerfreudigen Jünger gefunden. Er veröffentlichte 1911 „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung durch Horace Fletcher A.M.“, vermarktete den Fletcherismus als Diät und Verjüngungskur. Sein Fletchers Lehre kondensiertes, auch mit eigenen Ideen angereichertes Erfolgsbuch wurde zum Ankerpunkt aller Kauwilligen. Im Gedächtnis haften blieb vor allem Borosinis strikt-militärisches Kauregime, Gesundheitsarbeit, die viele spätere Wellness-Wellen vorwegnahm. Obwohl bis 1912 10.000 Exemplare gedruckt worden waren, galt der Fletcherismus damals aber eher als Absonderlichkeit, als Ausfluss eines obskuren Amerikaners und seines deutschen Künders: „Merk, du große Menschenherde: / Nur das Kauen bringt Genuss! / Dieser Kasus macht die Erde / Zu ‚nem einzigen Kau-kasus. / Der Prophet will, dass man flott / Rings im weiten Weltenbau, / Kau‘ in Moskau, Zwickau, Grottkau, / Afri- und Amerikau! / Heil dem Yankee Horace Fletcher! / Bringt ein Hoch ihm kräftigen Lauts / Schließt euch an, Kartoffelquetscher! / Wer nicht kaut, der ist ein Kauz“ (Der Kau-Boy, Die Lebenskunst 7, 1912, 532). In der Populärkultur wurde die Ideologisierung des Kauens im Rahmen eines lebensreformerischen Gesundheitsregimes gnadenlos aufgespießt. Gewiss, „gut gekaut, ist halb verdaut“ – doch man kann alles übertreiben: „Herr Fletcher predigt gutes Kau’n, / Nur so gelingt es, zu verdau’n. / Der ganze Mensch sei konzentriert / Auf jeden Gang, den man serviert. / Man lese keinen Mordbericht, / Wenn man verspeist sein Leibgericht. / Und lauf‘ nicht gleich, lärmt s‘ Telephon, / Vom Mittagstisch auf und davon! / Vor allem kaue man exakt, / Gemächlich im Larghettotakt. / Wer solchen Fletcherismus treibt, / Nochmal so lang am Leben bleibt!“ (Die Kunst des Kauens oder: Die neueste Art, das Leben zu verlängern, Nebelspalter 37, 1911, H. 2, s.p.).

 

Deutschland fletschere! – Die Nationalisierung des Kauens während des Ersten Weltkriegs

Der Erste Weltkrieg führte dennoch zu einer Nationalisierung des Kauens. Vor dem Hintergrund massiver Versorgungsprobleme wandelte sich zugleich dessen Begründung: Gutes Kauen diente nicht mehr vorrangig einer besseren Gesundheit oder dem Abnehmen. Gutes Kauen schien vielmehr angeraten, um die vorhandenen Nahrungsreserven besser auszunutzen. Horace Fletcher stand dafür weiterhin Pate, Borosini und viele Vegetarier sekundierten. Doch hinzu kamen nun zahlreiche national gesinnte Ärzte, die damit Sparsamkeit an der Heimatfront stärken, zugleich aber auch Hilfestellungen angesichts drohender Mangelernährung geben wollten.

Sparsamkeit war erforderlich, war das Deutsche Reich doch abhängig von Nahrungsmittel-, vor allem aber von Futtermittelimporten. Nur etwa 80 % des Vorkriegskonsums stammten aus eigener Produktion, Fett und Eiweiß waren besonders knapp. Die völkerrechtswidrige Seeblockade der Royal Navy nutzte dieses aus. Da man auf deutscher Seite von einem kurzen siegreichen Krieg ausging, knüpften Sparsamkeitsappelle anfangs meist an tradiertes Wissen an. In der wichtigsten Handreichung für Ernährungsmultiplikatoren hieß es schon im Herbst 1914: „Man soll weniger essen, dafür aber besser kauen“ (Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan, 17.-22. Tausend, Braunschweig 1915, 177). Doch nach dem Verlust der Marneschlacht war dies zu schwach, zu unklar, denn der Krieg würde länger dauern. Die Analysen wurden deutlicher, die Ratschläge fordernder: „Nachdem nun unserem Volke der entscheidende rücksichtslose Daseinskampf aufgezwungen wurde, ist uns dringend vonnöten die völlige Klarheit über unsere Daseinsquellen und der unbeugsame Entschluß zu ihrer möglichst restlosen Nutzbarmachung in allen Teilen der Volkswirtschaft, vor allem aber für die Lebensnotdurft“ ([Georg] Stieger, Unsere Daseinsquellen in der Kriegszeit, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 30, 1915, 105-108, hier 105).

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Propagandabilder fern der Realität (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 11, 6)

Der Berliner Bakteriologe Max Piorkowski (1859-1937) war einer von vielen, die nun Fletchers Lehre empfahlen. Essen sei schon lange nicht mehr vom Appetit geprägt, sondern verlaufe wie nach einem „mechanischen Uhrwerk“. Hier gelte es umzusteuern, die Kunst zu pflegen, „mit wenigen, aber gut gekauten Bissen auszukommen.“ Im nationalen Überschwang vergaß er die begründete Kritik am Fletcherismus, versprach vielmehr erstaunlichen „Wohlgeschmack und nie geahnte Tafelfreuden“ nach 30- bis 40maligem Kauen (Das Fletchern, Berliner Tageblatt 1915, Nr. 90 v. 18. Februar 1915, 5). Neben solche Empfehlungen trat zunehmend indirekter Zwang. Brot war als wichtigstes Lebensmittel von Beginn an Gegenstand kriegswirtschaftlicher Maßnahmen. Im Herbst 1914 wurde das K-Brot, das Kartoffelbrot, als Kriegsbrot eingeführt. Die ursprünglich 65 %ige Getreideausmahlung stieg 1915 auf 75 %, 1916 auf 82 % und 1917 schließlich auf 94 %. Die Folge waren Unverträglichkeiten und Magenprobleme, eine Bürokratie der Ausnahmegenehmigungen. Doch die Ärzte berichteten auch von Anpassungen: Die Beschwerden über hartes Brot „nahmen nicht zu, vielen tat es gut, es zwang sie, besser zu kauen. […] Ein gesunder Zug kam in viele Menschen“ (G[eorg] Klemperer, Die Krankenernährung in jetziger Zeit, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 642-643, hier 642).

Getragen von Hunderten von Zeitungsartikeln, Ratgebern und Kriegskochbüchern etablierte sich ab 1915 eine Art Wünsch-Dir-Was-Physiologie. Fletchers Vorstellungen einer umfassenden Mundverdauung wurden für bare Münze genommen: „Kauen, bis die Nahrung im Munde flüssig, schleimig und geschmacklos ist, sonst findet keine Vorverdauung derselben durch den Speichel und keine Aufschließung der in der winzigen Zelle ruhenden Nährstoffe statt“ (Georg Hiller, Wir verhungern nicht! […], Hannover 1917, 5). Begleitet wurde all dies durch Sprachpflege. Fletcher wurde eingedeutscht, mutierte zu „Fletscher“ und zum „Fletscherismus“ (E[rnst] W[alter] Trojan, Die Zukunft der deutschen Volksernährung, Vegetarische Warte 48, 1915, 63-64, hier 63). Das war Teil allgemeiner Sprachreinigung, so wie das Abschlagen von „Cinema“-Reklamen, der Ersatz von „Restaurant“ durch Gasthaus oder dem zeitweiligen Aufkommen von „Biefstücks‘ und ‚Schatobriangs“ (Hans Sachs, Der deutsche Kaufmann und die deutsche Sprache, Das Plakat 7, 1916, 210-219, hier 212). Fletschern wurde mit religiösem Fasten verglichen (E[rnst] W[alter] Trojan, Fasten und leiblich sich bereiten!, Vegetarische Warte 48, 1915, 195-196), mutierte aber auch zum „Feinkauen“. Dieses sei „eine hohe vaterländische Pflicht für Volk und Heer, sonst kommt der Körper rasch herunter; wir können nicht durchhalten und all die großen Opfer sind vergeblich gebracht“ (Adolf Mang, Streckung unserer Lebensmittel, Die Lebenskunst 12, 1917, 151-152, hier 152). Auch August von Borosini stieß ins nationale Horn, verzichtete gar auf seinen Leitbegriff „Vermunden“. Alle sollten seine Vorkriegsratschläge aufgreifen: „Ihr nützt dadurch euch selbst, euren Kindern und dem Vaterlande, denn wer fletschert, hilft durchzuhalten!“ (Fletschert!, Die Lebenskunst 12, 1917, 179-180, hier 180).

Zum meistzitierten Kaupropagandisten mutierte während des Ersten Weltkrieges allerdings der Aachener Zahnarzt und Geheimrat Georg Kersting, der sein Gewicht während des Krieges auch durch das Rösen von 216 auf 140 Pfund reduzierte. Seit Frühjahr 1915 veröffentlichten die Gazetten seine nationalistischen Artikel, in denen er von Sachkenntnissen unbelastet über die Lehre des „englischen Arztes Fletcher“ fabulierte. Umsetzungsprobleme gab es nicht: „Die Vorschrift ist einfach, kostet kein Geld, keine Mühe, keine Entbehrungen, jedermann begreift sie sofort, kann jeden Tag ohne Berufsstörung nach derselben leben und hat noch Gewinn dabei für seinen Geldbeutel, seine Gesundheit und als edelsten Gewinn das stolze Bewußtsein: auch ich helfe meinem Vaterlande siegen“ (Eßt weniger – aber richtig!, Badischer Beobachter 1915, Nr. 160 v. 8. April, 1). Kauen war für Kersting ein Kampfmittel, es konnte Schlachten gewinnen, den Schlachtgewinn sichern. Richtig Kauende benötigten nur noch die Hälfte der Nahrung, auch die österreichischen Truppen hätten ihre belagerte galizische Festung in Przemysl halten können, hätten sie nur gefletschert (Deutschland fletschere!, 19.-23. Tausend, Köln 1916, 25). Der Hamburger Hygieniker Rudolf Otto Neumann (1868-1952) sprach nach dem Kriege treffend von „Übertreibungen und Entgleisungen, die an das Pathologische streifen“ (Die im Kriege 1914-1918 verwendeten und zur Verwendung empfohlenen Brote, Brotersatz- und Brotstreckmittel […], Berlin 1920, 34). Obwohl Fletschern bis 1917 immer wieder eingefordert wurde, ebbte die publizistisch-nationalistische Welle dann massiv ab. Der Grund war einfach, denn das intensivierte Kauen war faktisch wirkungslos, wurde deshalb auch nur von kleinen Kreisen praktiziert. „Der Schlinger braucht das Doppelte“ (F[ritz] Herse, Sparsame Ernährung durch gründliches Kauen, Vegetarische Warte 49, 1916, 182-184, hier 183) – solche Wandsprüche erwiesen sich angesichts massiven Hungers als hohle Phrasen, als irreführende Wolkenkuckucksheime nationalistischer Möchtegernexperten.

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Kauen gegen den Mangel – Ratgeberliteratur (Kersting, 1916, I (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1917, Nr. 247 v. 16. Mai, 3)

Die physiologischen Effekte des Kauens wurden im Deutschen Reich während des Krieges nochmals mehrfach unabhängig voneinander untersucht – und die Ergebnisse waren eindeutig. Der damals führende Ernährungswissenschaftler Max Rubner (1854-1932) urteilte: „Ein gesunder und vernünftiger Mensch mit leidlich gesunden Zähnen verliert mit der Fletscherschen Regel nur unnötig Zeit. Die Versuche bei Brot zeigen, daß auch durch das Kauen in verstärktem Maße hier nichts mehr zu gewinnen ist. Was die beste Mühle nicht zermahlen kann, zermahlt auch nicht unser Gebiß. […] Viel wichtiger als die feinste Verteilung ist der bakterielle Eingriff, und diesen können wir nicht beeinflussen, auch erfolgt er in größerem Umfange erst dort, wo im Darm die Stellen ausgiebiger Resorption schon überschritten sind“ (Max Rubner, Untersuchungen über Vollkornbrote, Archiv für Physiologie 1917, 245-372, hier 361-362). Auch der Diätetiker Carl von Noorden (1858-1944) bewertete Fletchern als „Verschwendung. Man würde ansehnliche Massen wertvollen Materials durch den Darm treiben, das für die menschlichen Gewebe nicht greifbar ist, und man würde es Nutztieren, die es gut verarbeiten, vorenthalten“ (Carl v. Noorden und Ilse Fischer, Neuere Untersuchungen über die Verwendung der Roggenkleie für die Ernährung des Menschen, Deutsche Medizinische Wochenschrift 43, 1917, 673-676, hier 673). Dieses Wissen setzte sich langsam auch in der unter Zensur stehenden Presse durch: Fletchers Kaulehre sei nur „ein Sport und Eigengebiet eines beschränkten Kreises, ganz ebenso wie Okkultismus, Christian science, Mazdazananlehre [sic!] usw. Sie kann nicht als Methode der Allgemeinheit empfohlen werden, da keine physiologischen Gründe für sie sprechen“ (Sp. Irving, Diätheilslehren für den Krieg, Frankfurter Zeitung 1917, Ausg. v. 27. März, zit. n. Neumann, 1920, 34). Doch ebenso wie die breite Mehrzahl der Deutschen die Niederlage nicht akzeptieren konnte, blieb die Vorstellung von der wundersamen physiologischen Kraft des Kauens auch während der Weimarer Republik virulent.

 

Kauen ohne Übertreibung – Der physiologische Konsens während der Weimarer Republik

Zu Beginn der Weimarer Republik etablierte sich auf Grundlage der physiologischen Forschungsergebnisse allerdings ein Grundkonsens, den Max Rubner wiederholt unterstrich: Das Fletchern sei eine Empfehlung, „die auf dem alten Satz fußt: Gut gekaut ist halb verdaut. Die Leute, die nach ihm die Methode ausführen, sagen, und verbreiten es durch Broschüren, daß man unbedingt mit der Hälfte oder höchstens zweidrittel der Nahrung auskommen kann. Es ist Zeit, solchem Unfug ein Ende zu machen. Wie soll man denn nur die Hälfte oder nur ein Drittel mehr aus der besseren Verdauung herausschaffen können, wenn man weiß, daß im Durchschnitt von unserer Nahrung überhaupt nur 7-8% verloren gehen und von dieser Masse sind meist wieder nur 1/3 d.h. 2-3% des Genossenen unverdaut gebliebene Anteile, die selbst ein Wiederkäuer nicht viel weiter verarbeiten könnte“ (Die Kriegserfahrungen über die Volksernährung, Halbmonatsschrift für Soziale Hygiene und praktische Medizin 26, 1918, 187-189, 195-197, hier 188). Für „den hastenden Amerikaner, der sein Essen möglichst schnell hinabwürgt, [sei Fletchern, US] ganz gut. Alle Eltern wissen, daß man auch bei Kindern oft Mühe hat, ein langsames Essen zu erzielen. Also wirklich altbekannt. Aber was Fletscher [sic!] weiter behauptet – die wesentliche Verringerung des Nahrungsbedarfes war unrichtig. Während der Blockade hatte man bald erfahren, daß die Portionen mit dem Kauen nicht größer werden“ (Über neuere Strömungen in der Krankenernährung, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 28, 1931, 413-416, 451-454, 479-484, 519-526, 548-551, hier 482). Weitere Forschungen bestätigten Rubners Einschätzung (Otto Jipp, Selbstversuche über die Ausnutzung der Nahrung beim Fletschern, Zahnmed. Diss. Hamburg 1923). Fletchern blieb ein Heilverfahren insbesondere bei Magenerkrankungen und Darmentzündungen (an denen auch Horace Fletcher gelitten hatte) (Theodor Brugsch, Lehrbuch der Diätetik des Gesunden und Kranken, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1919, 278). Darüber hinaus weisende Empfehlungen schienen jedoch unbegründet (Oscar Spitta, Grundriss der Hygiene, Berlin 1920, 298).

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Schaubildimaginationen: Volkswirtschaftliche Kosten ungenügenden Kauens (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 42 v. 14. Oktober, 10)

Das Fletchern geriet dadurch ins Hintertreffen, vergessen aber wurde es nicht. Zum einen legte die volkswirtschaftlich attraktive Idee eines effizienten Gesundheitswesens die Idee besseren Kauens immer wieder nahe. Das sich etablierende System allgemeiner Ortskrankenkassen führte zu neuer Kostentransparenz, die verbesserte Schulzahnpflege machte ebenso wie neue Visualisierungstechniken die volkswirtschaftlichen Lasten kranker Zähne und verfehlten Kauens deutlich. Selbst ein so abwägender Soziologe wie Adolf Günther (1881-1958) sprach damals noch vom „Nutzeffekt“ des Fletcherns, der durch Erziehung grundsätzlich gesteigert werden könnte (Sozialpolitik, T. 1: Theorie der Sozialpolitik, Berlin und Leipzig 1922, 207).

Wichtiger als solche in Zeiten allgemeiner Rationalisierungsdebatten attraktiven Aspekte war jedoch der kontinuierliche Lobpreis des guten Kauens und des Fletcherns in der allerdings kleinen Schar der Vegetarier. Fletchern mochte aufwendig sein, doch angesichts des allgemeinen Zwangs zur Sparsamkeit könne man darauf nicht verzichten (Carl Blietz, Leben oder Tod?, Vegetarische Warte 53, 1920, 5-7, hier 6). Auch die durch Hindhede, Ragnar Berg (1873-1956) und Carl Röse weiter in Gang gehaltene Eiweißminimumdebatte sorgte für kontinuierliches öffentliche Interesse (G[ustav] Riedlin, Unser Eiweißbedarf, Ebd. 57, 1924, 61-62; Böhme, Wozu essen wir?, Ebd. 59, 1926, 71-73). An Ermahnungen zum langsamen Essen und zum guten Kauen fehlte es zudem nicht.

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Kauen als Freizeitbeschäftigung: Wrigleys Kau-Bonbons und Kaugummiautomat in Berlin (Der Volksfreund 1926, Nr. 46 v. 24. Februar, 11 (l.); Illustrierte Technik für Jedermann 5, 1927, 66)

Zugleich wurde mehr oder weniger bewusstes Kauen durch neue Konsumgüter unterstützt. Das galt für Pfefferminzbonbons, wie die Ende der 1920er Jahre immer stärker beworbenen Marken Vivil und Dr. Hillers. Das galt insbesondere aber für das Kaugummi. Der US-Konzern Wrigley produzierte von 1925 bis 1932 im Deutschen Reich, machte Jugendliche und Angestellte „kaugummireif“ (Ernst Lorsky, Die Stunde des Kaugummis, Das Tagebuch 7, 1926, 913-915, hier 913). Unter Medizinern und Drogisten wurde medizinisches Kaugummi diskutiert und empfohlen (Wolfgang Weichardt, Kaugummi zur Desinfektion der Mundhöhle, Die Medizinische Welt 3, 1929, T. 2, 1837-1838). Im Konsumsektor wurden nach den Übertreibungen des Weltkrieges transatlantische Gemeinsamkeiten erkennbar. Doch sie währten nicht lange, denn spätestens mit der Machtzulassung der Nationalsozialisten und ihrer konservativen Bündnispartner trat „Deutsches Kauen“ wieder auf die öffentliche Agenda.

 

Die Reideologisierung des Kauens während des Nationalsozialismus

1933 gilt gemeinhin als Wasserscheide zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Rechtsstaat und Maßnahmenstaat. Zerschlagung und Verbot von Gewerkschaften und Parteien, die schon vor dem „Judenboykott“ vom 1. April 1933 einsetzende Drangsalierung und schleichende Entrechtung der deutschen Juden, Massenmobilisierung und Remilitarisierung, Gewalt und Folter – Stichworte eines raschen Wandels hin zum NS-Staat. Und doch ist dies zu eng gedacht, nicht nur weil das Deutsche Reich ab 1930 in ein autoritäres Präsidialsystem transformiert wurde, sondern weil es massive Kontinuitäten in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft gab. Doch konzentrieren wir uns auf das Kauen: Charakteristisch für die NS-Zeit war das Anknüpfen an tradierte Denkmuster des Kaiserreichs, an ideologisierte und nationalistische Deutungen der Kriegszeit. Regimenahe Ernährungsreformer und Zahnärzte setzten ungeachtet anderslautender wissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf überholte, aber griffige Parolen. Das war kein Rückfall in vormoderne Zeiten, schließlich ist Wissenschaft ein Modus der begründeten Hierarchisierung von Wissen. Am Beispiel des deutschen Kauens zeigt sich, dass sich gesellschaftlich nicht hinterfragte und politisch einseitig gestützte Wissensformationen nicht nur halten, sondern dass sie revitalisiert werden können.

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Negativbild Tempo (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 8 v. 19. Februar, 13)

Ein guter Andockpunkt war die von Ernährungswissenschaftlern und Zahnärzten immer wieder beklagte Hast und Eile der Moderne. War diese während der Weimarer Republik noch Signum einer dynamischen, fortschrittsaffinen Zeit, so traten nun Denkmuster der Vorkriegszeit wieder in den Vordergrund: „Der heutige Mensch hat leider das richtige Kauen verlernt, weil die Auswahl der Nahrungsmittel und eine große Bequemlichkeit bei der Bearbeitung des Bissens, oft auch eine nervöse Hast es gar nicht zur Ausübung der Funktion des Mahlens und Zerreibens kommen läßt, sondern die Kiefer nur auf- und abwärts bewegt“ (Schönwald, Der Einfluß des systematischen Kauens auf Kiefer und Zähne, Forrog-Blätter 1, 1934, Sp. 65-78, hier 65-66). Dass sich zur gleichen Zeit Metaphern wie „jüdische Eile“ oder „jüdische Hetze“ wachsender Beliebtheit erfreuten, war eben kein Zufall, ging vielmehr einher mit der Ausgrenzung und dem Berufsverbot „marxistischer“ und „jüdischer“ Ärzte und Zahnärzte (Norbert Guggenbichler, Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz […], Frankfurt/M. 1988, 127-162). Denen half auch nicht, dass sie während des Weltkrieges gleichermaßen zum „Fletschern“ aufgerufen hatten.

Dies ging einher mit einer durch die Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise nochmals verstärkten Kritik an der Kommerzialisierung des Alltagslebens und dem damit einhergehenden Verdrängen guter, einfacher Nahrung: Das 20. Jahrhundert erschien als „das Jahrhundert des Technikers und Krämers oder […] das Jahrhundert der Ueberwucherung der werteschaffenden Arbeit durch den Handel. Handel und Industrie haben sich auch eines großen Teiles der Nahrungsmittel bemächtigt und verändern sie weitgehend, ehe sie sie dem Menschen zuführen“ (Walther Klussmann, Gebissverfall und Ernährung, Hippokrates 6, 1935, 500-505, 522-529, 721-730, 752-769, hier 528-529). Charakteristisch war jedoch keine Rückkehr zu vorindustriellen Denkmustern, sondern die paradoxe Parole „Vorwärts zur Natur!“, wie sie etwa vom führenden nationalsozialistischen Hygieniker Werner Kollath (1892-1970) ausgegeben wurde (Uwe Spiekermann, Der Naturwissenschaftler als Kulturwissenschaftler: das Beispiel Werner Kollaths, in: Gerhard Neumann, Alois Wierlacher und Rainer Wild (Hg.), Essen und Lebensqualität, Frankfurt/M. und New York 2001, 247-274, hier 253-254). An die Stelle eines technisch-zivilisatorischen Zeitalters werde ein biologisch-kulturelles treten. Das Kauen, das gute, war ein Hebel, um grundsätzlichere Fragen zunehmender „Konstitutionsverschlechterung“ (M[aximilian] Bircher-Benner, Diätetische Erfahrungen und ihre Perspektiven, Hippokrates 5, 1934, 185-191, 245-253, 280-286, 326-333, hier 185) angehen zu können.

Wichtig war dabei zweierlei: Zum einen wurde dieses Denken nun eingebunden in rassistische Deutungsmuster, wie sie insbesondere in der Neuen Deutschen Heilkunde und im Reichsverband der Zahnärzte Deutschlands offensiv vertreten wurden (Robert Jütte et al., Medizin und Nationalsozialismus […], Göttingen 2012; Dominik Groß et al. (Hg.), Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ […], Berlin 2018). Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888-1939) betonte: „Diese Weltanschauung sieht den Menschen nicht als einzelnes Individuum, sondern als Glied einer großen, deutschen, blutsverbundenen Volksfamilie, als Erben rassischer, körperlicher und geistig-seelischer Eigenschaften, die er als Träger der Zukunft seines Volkes an künftige Generationen weiterzugeben hat“ (Ausbau der deutschen Heilkunde, Hippokrates 5, 1934, 223-224, hier 223). Der als bedrohlich wahrgenommene schlechte Zahnstatus der Deutschen war ein Symbol für die Verschlechterung der völkischen Substanz. Zahnkrankheiten wie Karies bedrohten die gesamte Volksgemeinschaft, schlechte Zähne schienen „Ausdruck einer Allgemeinerkrankung“ (Walter Wegner, Mund-Fokalinfektion und Volksernährung, Deutsches Ärzteblatt 68, 1938, 178-179, hier 178). Herdinfektionen konnten Gesundheit und Leben bedrohen, spiegelten zugleich aber Gefahren für den deutschen Volkskörper. Gutes Kauen war ein einfaches und preiswertes Vorbeugungsmittel, dessen Umsetzung auch die völkische Gesinnung der Deutschen widerspiegeln sollte. Die Volksgemeinschaft war immer auch Kaugemeinschaft.

Zweitens wurde die Propaganda für gutes Kauen von Beginn an mit der Brotfrage gekoppelt (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im Dritten Reich, 1999 16, 2001, 91-128, insb. 101-107). Die Interessen der Getreidewirtschaft hatten schon während der Weimarer Republik zu breiten Kampagnen für Roggenbrot geführt, „Der Patriot ißt Roggenbrot“. Nun traten zudem Knäcke- und Vollkornbrot in das Blickfeld von Gesundheitspolitik und Ärzteschaft. 1933 wurde die Forschungsgemeinschaft für Roggenbrotforschung gegründet, die zahlreiche Studien zu Karies und Kauen finanzierte. Hartes Brot und gutes Kauen harmonierten scheinbar. Für Wilhelm Kraft (1887-1981), Gründer der Burger Knäckebrotwerke und völkisch-nationaler Ernährungsreformer, lag hier der Hebel für die Renaturierung der deutschen Menschen: „Wer gut kaut, verdaut nicht nur viel besser, sondern hat einen viel besser entwickelten, feineren, natürlichen Geschmacksinn als der ‚Schlinger‘. Er wählt sich spontan eine physiologisch richtig zusammengesetzte Nahrung und eine mäßige Nahrungsmenge“ (Kampf dem Gebißverfall!, Volksgesundheitswacht 1936, Nr. 3, 10-14, hier 13).

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Fletchern führt zu guten Gebissen: Suggestive Zahnabdrücke (Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 72 und 73)

Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass dem Kauen eine prominente Rolle auch in der Ernährungsbildung zugebilligt wurde. Die zehnte der „Zwölf wichtige[n] Regeln für Deine Ernährung“ der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung – Vorläufer der heutigen 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung – lautete: „Gut gekaut ist halb verdaut. Iß ruhig und sorgfältig, denn das Essen ist keine Nebensache“ (Reichs-Gesundheitsblatt 12, 1937, 50). Auch das Fletchern trat nun wieder hervor, wurde in ärztlichen Fachorganen neuerlich propagiert: „Wenn wir unser Volk wieder zu einer naturnahen Nahrung zurückführen wollen, dann müssen wir zuerst wieder die Wertschätzung richtig durchgeführten Kauens durchsetzen: Je ausgiebiger gekaut wird, desto besser vermag unser Körper die Nahrung auszunützen. […] Desto weniger brauchen wir ihm also Speisen zuzuführen. […] Was liegt mehr im Interesse des Vierjahresplanes, als auf dem Wege über diese Kaugewohnheit, der Wiedereinführung einer wahrhaft vorbildlichen Tischkultur, Verschwendungen zu vermeiden?“ (Heinrich Böhme, Das Fletschern. Das gründliche Kauen in seiner überragenden Gesundheitsbedeutung, Zahnärztliche Mitteilungen 28, 1937, 973-977, hier 976-977). Gutes Kauen diente der Effizienzsteigerung während des 1936 einsetzenden Vierjahresplans, war Teil der Rüstungen für den Krieg.

 

Vor der Wiederentdeckung: Zur Biographie Carl Röses

All dies erfolgte ohne Verweis auf Carl Röse, den späteren Namensgeber des „Rösens“, des bewussten deutschen Kauens. „Röse, das klingt in unserer kurzleidigen Zeit wie ein Ruf aus einer anderen Welt“ ([Alfred] Kuhnert, Röse und seine jüngste Forschertätigkeit, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 59-68, hier Sp. 59). Und doch; spätestens 1934 begann innerhalb der deutschen Zahnärzteschaft eine bemerkenswerte Wiederentdeckung – obwohl der Veteran in den 1920er Jahren nur eine nennenswerte Broschüre veröffentlicht hatte. Blicken wir mittels seiner Biographie zurück in die scheinbar andere Welt des Kaiserreichs (Detailreich, aber wissenschaftlich unzureichend Thomas Nickol, Das wissenschaftliche Werk des Arztes und Zahnarztes Carl Röse (1864-1947), Frankfurt a.M. et al. 1992, 1-10; Ute Hopfer-Lescher, Carl Röse (1864-1947). Sein Leben und Wirken unter besonderer Berücksichtigung der zahnmedizinischen Aspekte, Med. Diss. 1994, 10-41. Ebenfalls voller Fehler Sabine Merta, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult, Stuttgart 2003, 145-148).

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Annonce des Münchner Zahnarztes Carl Röse (Münchner Neueste Nachrichten 1896, Nr. 223 v. 13. Mai, 3)

Carl Röse wurde 1864 im thüringischen Clingen als Sohn eines Mühlenbesitzers und Landwirts geboren. Er studierte 1884 bis 1888 Medizin in Jena, München und Heidelberg, wo er 1888 schließlich auch promovierte. Röse begann seine ärztliche Tätigkeit erst in München, dann in Rheinhessen. Seine Schwerhörigkeit erschwerte jedoch den Umgang mit Patienten. Er sattelte um, studierte zwei Semester Zahnheilkunde in Berlin und Erlangen und ließ sich 1891 in Freiburg a.Br. nieder, wo er im Dezember habilitiert wurde. Er arbeitete dort als Privatdozent bis 1894 resp. 1896, siedelte dann nach München über, wo er eine wenig erfolgreiche Privatpraxis führte. Zwischen 1900 und 1909 leitete er die Lingnersche Zentralstelle für Zahnhygiene, parallel eine vom Odol-Produzenten ebenfalls finanzierte Schulzahnklinik ([Carl] Röse, Die Zentralstelle für Zahnhygiene und die Schul-Zahnklinik, in: Fr[iedrich] Schäfer (Hg.), Wissenschaftlicher Führer durch Dresden, Dresden 1907, 307-308). Nach der Auflösung dieser Institutionen chargierte Röse zwischen Forschungsprojekten und einer zahnärztlichen Privatpraxis, erst allein in Dresden, dann in Gemeinschaft mit seiner seit 1892 angetrauten Frau Else in Erfurt. Abermals scheiterte er an Krankheiten und den Patienten. Nach einem Selbstmordversuch zog er sich 1913 aus der Zahnarzttätigkeit zurück, kaufte mit Familienunterstützung Land im thüringischen Schirma. Röse baute Obst, Blumen- und Gemüsesamen an, verkaufte die 35 Morgen jedoch 1919. Zuvor, 1917, wurde er nach einer Affäre mit einer minderjährigen Bediensteten, schuldig geschieden, heiratete diese später, zeugte mit ihr sechs Kinder. Nach der Revolution wollte er auswandern, kehrte 1920 aber nach Deutschland zurück und erwarb im thüringischen Gebesee ein Grundstück von 38, später 43 Morgen. In den 1920er Jahren publizierte er kaum, lebte vom Ertrag des Gartenbaus, ohne aber den Kontakt insbesondere zum Dresdner Hygiene-Museum und Ragnar Berg gänzlich abbrechen zu lassen.

Liest sich die Biographie erst einmal wie eine Abfolge begrenzter Erfolge und wiederholten Scheiterns, so bilden seine Forschungsarbeiten teils originelle Beiträge zu zentralen Fragen im Grenzgebiet zwischen Zahnheilkunde und Ernährungswissenschaft. Der im universitären Betrieb gescheiterte Röse dachte eben nicht im engen Blickfeld disziplinärer Binnenlogiken, sondern verband auf Grundlage einer völkisch-nationalistischen Deutungswelt Mundhöhle, Stoffwechsel, wirtschaftlichen Wandel und „Entartung“ zu gesellschaftshygienischen Kausalgeflechten, die während des Nationalsozialismus wieder anschlussfähig wurden. Grob gesprochen lassen sich drei Forschungsperioden voneinander abgrenzen.

In den 1890er Jahren, insbesondere während seiner Privatdozentur, konzentrierte sich Röse auf zahnmedizinische Themen. Anfangs dominierten phylogenetische Fragen der Zahnentwicklung bei Tier und Mensch. In Anlehnung an die Kariestheorie des in Berlin wirkenden Zahnheilkundlers Willoughby D. Miller (1853-1907) – Ursache der „Zahnfäule“ waren von Bakterien ausgelöste Stoffwechselprozesse in der Mundhöhle – wandte sich Röse dann jedoch Fragen des Kalkstoffwechsels und des Speichelflusses zu (Katherine MacCord, Development, Evolution, and Teeth […], Phil. Diss. Arizona State University 2017, 57-78). Als gelernter Mediziner und in stetem Drang, seine Wichtigkeit in Freiburg unter Beweis zu stellen, weitete er seinen Blickwinkel auch auf erste Reihenuntersuchungen, zuerst von Schulkindern, dann auch von Rekruten (Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Oestereichisch-ungarische Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 10, 1894, 313-340; Ueber die Zahnverderbnis der Musterungspflichtigen in Bayern, ebd. 12, 1896, 381-449). Diese Arbeiten waren unter Professionalisierungsgesichtspunkten interessant, bot die sich langsam etablierende Schulzahnpflege doch Dauerstellen. Röse lieferte damit aber auch Beiträge zur damaligen Industrie-Agrarstaatsdebatte. Er griff die Angst vor einer allgemeinen „Entartung“ nicht nur der Großstädte sondern auch des Landes auf, warnte vor einer körperlichen „Degeneration“ der Menschen, die nicht zuletzt die Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches zu unterminieren schien.

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Carl Röse als Teil seiner Reihenuntersuchungen (Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 3, 1906, 120)

Während seiner Dresdener Zeit hatte Röse dann die Chance, diesen Fragen mit Hilfe von Massenuntersuchungen nachzugehen (Ulf-Norbert Funke, Leben und Wirken von Karl August Lingner […], Hamburg 2014, 57-63). Fast eine Viertelmillion Kinder und auch Erwachsene wurden auf Basis einheitlicher Frageraster untersucht – im In- und europäischen Ausland. Im Mittelpunkt dieser sozialstatistischen Erfassungen standen die Verbreitung und die Ursachen der Karies. Röse konzentrierte sich dabei auf die Bedeutung von Mineralstoffen, vornehmlich Kalk und Magnesium. Trotz eines kleinen Laboratoriums in Dresden ging es dabei vornehmlich um Trinkwasser, Nahrungsmittel und deren Auswirkungen auf Zahngesundheit und Allgemeinbefinden. Auf Grundlage seiner Hochschätzung des menschlichen Speichels als alkalisches Schutzfluidum in der Mundhöhle wandte er sich zunehmend strikter gegen eine kalkarme Ernährung, gegen zu weiches Wasser. Obwohl heute der stupende Empirismus und die apodiktische Sprache Röses irritieren, konnte er die Bedeutung des Mineralstoffwechsels für die Zahngesundheit doch genauer justieren und auch prophylaktische Maßregeln begründen. Just deshalb wurde er 1906 vom Eugeniker Gustav von Bunge (1844-1920) für den Nobelpreis für Medizin vorgeschlagen, kam aber nicht einmal auf die Kurzliste möglicher Anwärter (Dominik Gross und Nils Hansson, Carl Röse (1864-1947) […], British Dental Journal 229, 2020, 54-59, hier 55-57). Röse hatte zuvor Bunges Behauptung eines kausalen Zusammenhangs von Kariesinzidenz und Stillunfähigkeit unterstützt (G[ustav] v. Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen ihre Kinder zu stellen, 6. verm. Aufl., München 1908, 29).

Nach der Entlassung in Dresden war an Massenuntersuchungen kaum mehr zu denken. Röses Interesse lenkte sich notgedrungen auf engere Fragen, bei denen die Untersuchung des Mineralstoffwechsels mit dem des Eiweißbedarfs gekoppelt wurde. Schon zuvor hatte er eine vornehmlich basische Kost empfohlen, auch wenn er säurehaltiges Fleisch oder Brot nicht von der Tafel verbannen wollte. Von 1912 bis 1915 wurden unter der Leitung seines früheren Mitarbeiters Ragnar Berg an Röse und seinem Sohn Walter zahlreiche Versuche im Lahmannschen Sanatorium „Weißer Hirsch“ durchgeführt (C[arl] Röse und Ragnar Berg, Ueber die Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1011-1016). Auf diesen Grundlagen entwickelt Berg seine breit rezipierte Säure-Basen-Diät (Christian Rummel, Ragnar Berg. Leben und Werk des schwedischen Ernährungsforschers und Begründers der basischen Kost, Frankfurt a.M. et al. 2003, insb. 87-92, 118-119, 180). Röse zog aus den Untersuchungen eigene Schlüsse, lebte fortan von einer Kartoffel-, Gemüse- und Milchdiät mit täglich knapp 40 Gramm Eiweiß. Für ihn war dies eine Idealkost, für das darbende Vaterland eine Sparkost, mit der volkswirtschaftliche Versorgungsprobleme gemildert und die Volksgesundheit gehoben werden konnte (Carl Röse, Eiweiß-Überfütterung und Basen-Unterernährung, 2. völlig umgearb. u. erw. Aufl., Dresden 1925). Die Beziehung von Mineral- und Eiweißstoffwechsel blieb Röses Kernanliegen, auch in den 1930er Jahren, als er mit nun wieder wachsender Unterstützung offene Forschungsfragen weiter verfolgen konnte. Aus dem Kariesforscher war ein Ernährungsreformer geworden; und just dies machte ihn für nationalsozialistische Bundesgenossen interessant (dies verkennen Groß und Hannson, 2020, 57).

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Zahnkunde als Rassenkunde: Beispiel für Röses Schädelstudien (Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 131)

Während sich die Forschungsschwerpunkte Röses mehrfach veränderten, blieb das Grundmotiv seines Schaffens jedoch konstant. Der Mediziner, Zahnarzt, Sozialhygieniker und Ernährungsreformer war Sozialdarwinist, völkischer Aktivist, Rassenvorkämpfer. Schon seine im Mund verorteten Zahnstudien standen im Gesamtgefüge des Darwinismus, im „Kampfe ums Dasein“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 66). Antiurbanismus dominierte, Auslöser der „Entartung“ sei vornehmlich die städtischen Bevölkerung, seien künstliche Säuglingsernährung, Alkoholgenuss und „Stubenluftelend“ ([Carl] Röse, Über Beruf und Militärtauglichkeit [Referat], Die Umschau 9, 1905, 611-615, hier 613). Doch auch ländliche Bevölkerung und Jugend degenerierten: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 61). Zähne waren für ihn nur „der Spiegel des menschlichen Körpers oder das Wasserstandsrohr am Dampfkessel des Organismus“ (C[arl] Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Berlin 1908, 60). Röse ging es um die Bewahrung einer Deutschland noch beherrschenden „germanischen Oberschicht“, als dessen Teil er sich verstand. Doch auch in der Breite des Volkes gäbe es „noch viel nordisches Blut“, das zu fördern sei. Eugenik, Rassenhygiene und eine „kluge Rassenpolitik“ seien erforderlich, seine Arbeit Inventuren des dringend zu stoppenden und zu wendenden völkischen Niedergangs (C[arl] Röse: Beiträge zur europäischen Rassenkunde und die Beziehungen zwischen Rasse und Zahnverderbnis. V., Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 42-134, Zitate 104, 106, 108). An all dem machte der an sich wendige Röse auch später keine Abstriche. Und all dies war auch selbstgesetztes Programm der NSDAP und ihrer die Universitäten, Forschungsinstitute und Fachverbände in den 1930er Jahren zunehmend dominierenden Repräsentanten.

 

Wiederentdeckung eines Vorkämpfers: Die Rezeption Carl Röses in den 1930er Jahren

Die Wiederentdeckung Carl Röses begann schon vor 1933. Mit Unterstützung schweizerischer Kollegen – hier hatte er zuvor Zugang zu lebensreformerischen Kreisen gefunden – begann er 1930 neuerliche Selbstversuche zur Klärung der Eiweißminiumfrage, demonstrierte seine körperliche Leistungsfähigkeit 1930 und 1931 mit dem Besteigen unter anderem des Matterhorns (C[arl] Röse, Vierjährige Ernährung an der Grenze des Eiweißmindestbedarfes, Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin 94, 1934, 579-595). Wichtiger als eigene Untersuchungen war jedoch die neuerliche Rezeption einerseits durch die nun vielfach nationalsozialistisch geadelte Naturheilkundebewegung (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft […], Baden 2010, 134-150, insb. 139-143), anderseits durch eine Koalition von Brotreformern und Zahnärzten.

14_Das neue Leben_02_1930-31_p240_Berg-Vogel_1925_p222_Buecher_Rohkost_Carl-Roese_Hindhede_Fasten_Naturheilkunde_Ernaehrungsreform_Lebensregorm_Fletcher_Borosini

Werbung für Röse (und Fletcher und Borosini) im Umfeld der Ernährungsreform (Das neue Leben 2, 1930/31, 240 (l.); Ragnar Berg und Martin Vogel, Die Grundlagen einer richtigen Ernährung, 5.-7. T., Dresden s.a. [1925], 222)

Röse passte bestens in die Agrar- und Ernährungspolitik des Nationalsozialismus. Er empfahl keine Importgüter, sondern die basischen, „die natürlichen und billigen Nahrungsmittel: Milch, Quark, Eier, grüne Gemüse, Hülsenfrüchte“ (Carl Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Naturärztliche Rundschau. Physiatrie 6, 1934, 74-77, hier 76). Anders als Vegetarier lieferte Röse aber auch physiologische Begründungen für diese Wahl. Der breit publizierende Ragnar Berg, von 1902 bis 1909 Röses Mitarbeiter in Dresden, verwies immer wieder auf Röses Forderung nach genügend Kalk und Magnesium, nach harter und nährender Kost: „Daß hierbei das Brot tatsächlich von außerordentlicher Bedeutung ist, hat schon vor dreißig Jahren Röse zeigen können“ (Der Einfluß der Ernährung auf die Zähne, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 38, 1935, 654-658, hier 654). Hartes Brot konnte demnach weiches Trinkwasser überkompensieren, erfordere es doch überdurchschnittlichen Speichelfluss. Kauen sei wichtig, stärke die Kiefermuskulatur: „Fehlt diese naturgemäße Beanspruchung der Kauorgane, geht ihre Gesamtentwicklung zurück und der Speichel verliert einen guten Teil seiner nützlichen Eigenschaften“ (Ragnar Berg, Unser Brot und unsere Zähne, Die Umschau 42, 1938, 51-53, hier 52). Seitens der Naturheilkunde wurde Carl Röse als „Arzt, Rassenforscher, Bauer“, ferner als „Ernährungslehrer“ gefeiert. Hätte man 1914 auf ihn gehört, wäre man zu einer von ihm empfohlenen Kartoffel-Grüngemüse-Milch-Kost übergegangen, so wäre eine Aushungerung Deutschlands unmöglich gewesen. Sein steter Verweis auf möglichst hartes Trinkwasser, harte Möhren und hartes Brot erschien wegweisend (Der Zahnarzt Hofrat Dr. med. Carl Röse. Die Bedeutung des Trinkwassers, in: Alfred Brauchle (Hg.), Naturheilkunde in Lebensbildern, Leipzig 1937, 326-334, Zitate 332). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sah das ähnlich, gewährte dem akademischen Außenseiter 1936 und 1938 insgesamt drei Sachbeihilfen für Forschungen zum Eiweißstoffwechsel (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R 73/14038).

Auch Zahnärzte und Brotreformer würdigten Röse als einen der Ihren ([Eduard] Schrickel, Was wir wollen, Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 1-4, hier 2). Dabei bezog man sich vornehmlich auf dessen Massenuntersuchungen, zog daraus weitergehende Schlüsse: „Wie ihnen bereits aus den Arbeiten von Röse, Kunert, Kleinsorge und anderen Verfassern bekannt ist, stimmen sie alle darin überein, daß tägliche Kauübungen mit festen Speisen, konsequent bei Kindern durchgeführt, normalere Kiefer und Zähne erzeugen, als bei Kindern, die nicht zum richtigen Kauen erzogen wurden“ (Schönwald, 1934/35, Sp. 76-77). Reichszahnärzteführer Ernst Stuck (1893-1974) hielt große Stücke auf Röse, förderte ihn mit eigenen Mitteln. Auch der wichtigste Zahnarztfunktionär des Dritten Reiches, Hermann Euler (1878-1961), würdigte Röse als Wegbereiter der „Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde“ (Die Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde, eine geschichtliche Betrachtung, Zahnärztliche Mitteilungen 26, 1935, Sdr-Nr. v. 29. September, 20-23, hier 23). Ehrungen waren da nicht fern. Röse erhielt 1935 den Miller-Preis der Deutschen Zahnärzteschaft und im Folgejahr die Bronze-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.

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Lobeshymne durch den Reichszahnärzteführer (Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 365)

Mitte der 1930er Jahre hatte Carl Röse also Ehrungen wie zuletzt in Dresdner Zeiten erhalten. Doch dies war erst der Anfang. Denn seither begann vornehmlich durch nationalsozialistische Zahnärzte und Brotreformer eine Stilisierung Röses zum Vorzeigekämpfer. Dazu gehörte sein nie verhehlter Antisemitismus. Er wurde als „Feind der Juden“ (W[alther] Klußmann, Röse, ein Forscherschicksal, Zahnärztliche Mitteilungen 27, 1936, 601-605, hier 603) belobigt, habe „frühzeitig die Gefahr erkannt, die das Judentum für unser Volk bildet, und bekannte sich mannhaft zu seiner Ueberzeugung“ (Klussmann, 1935, 526). Lächerliche Gerüchte wurden gestreut, seine Forschungen seien von Juden bekämpft wurden. Das galt einem deutschen Visionär, der schon vor mehr als einem Menschenalter „mit seherischer Kraft“ (Ebd.) auf Ernährungsschäden hingewiesen habe. Die Stilisierung zum nationalsozialistischen Wissenschaftskrieger fand ihren Höhepunkt 1938 anlässlich Röses goldenen Doktorjubiläums: „Röse verbindet in seltener Harmonie eine geniale Intuition mit der Unbestechlichkeit des wahren Forschers, einen bewundernswerten Idealismus mit der unerbittlichen Fragestellung im Experiment. Nur so ist seine bedingungslose Hingabe an die Sache und seine Selbstaufopferung im Kampf um die als richtig erkannte Idee zu verstehen. […] Ueber die deutsche Zahnärzteschaft hinaus aber muß jeder deutsche Volksgenosse der mit dem wieder erstandenen fruchtbaren Leben seines Volkes im Dritten Reich verbunden ist, in Röse einen aufrechten und unerschrockenen Vorkämpfer nationalsozialistischer Prägung sehen, den uns die Vorsehung noch lange in voller Rüstigkeit erhalten möge“ ([Eduard] Schrickel, Intuition, Wissen und Selbstaufopferung: die Kennzeichen C. Röse’s […], Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 41, 479-480, Zitate 479, 480). Da lag es nahe, ihm Dank zu erweisen. Sein früherer Weggefährte Otto Escher (1863-1947) regte die Gründung einer „Zentralstelle für Ernährungswissenschaft“ an, zugleich Forschungs- und Ausbildungsstätte: „Die Lösung der Ernährungsfrage hält Röse für eine wichtige politische Angelegenheit, um unser Volk vor der nächsten großen Krisis ernährungshygienisch geschult zu haben“ (Hofrat Dr. med. Carl Röse zum 50jährigen Promotions-Jubiläum am 15. Mai 1938, Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 372-376, hier 376). Krieg stand bevor, Röse hatte wieder vorgedacht.

 

Das „Rösen“ – Ein Nebenstrang gutes Kauens für Deutschland

Kommen wir damit zum „Rösen“, dieser Ehrbezeichnung des nationalsozialistischen Deutschen Reichs an einen seiner Gesundheitsführer. Sie knüpfte an diese Stilisierung des Ernährungsreformers und Erforschers der Kariesursachen unmittelbar an. Doch sie erfolgte nicht ohne Röses Zutun. Er nahm den Lobpreis ernst, präsentierte sich als „Nationalsozialist der Tat“ (Escher, 1938, 376). Analog zu den Narrativen der nationalsozialistischen Führer deutete er seine Lebensgeschichte. Seine langjährigen Selbstversuche zielten nicht auf Stelle, Geld und Anerkennung: „Ich tue es für mein Volk, vor allem für die nordische Führerschicht unseres Volkes. Unser von allen Seiten bedrohtes und leider auch gehaßtes Volk darf nicht weiterhin tiefer im Schlammkessel von Eiweißüberfütterung und Harnsäureüberladung versinken. Es muß gesunder werden als seine Nachbarn, wenn es nicht vom Erdboden vertilgt werden soll“ (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127, hier 125). Er habe mit seinem Forschen ein Beispiel gegeben, habe dem Geldmangel getrotzt, um seine Mission für das deutsche Volk zu erfüllen: „Nicht an Ratten, sondern an meinem eigenen Leibe mußten die Versuche durchgeführt werden“ (Ebd.). Doch ihm ging es nicht mehr um sein zahnärztliches, ihm ging es um sein ernährungswissenschaftliches Wirken: „Seit 26 Jahren lebe ich nun ununterbrochen dem deutschen Volke vor, wie man bei Innehaltung vorwiegend pflanzlicher basenreicher Kost mit geradezu lächerlich geringen Mengen des teuersten Lebensmittels Eiweiß auskommen kann“ (Carl Röse, Im 75. Lebensjahr bei schmaler, eiweißarmer Kost auf Mönch und Jungfrau, Hippokrates 10, 1939, 296-297, hier 296). Dazu gehörte auch, seine eigenen Arbeiten immer wieder umzudeuten. Die Millersche Kariestheorie hatte er in den 1900er Jahren kaum mehr beachtet – kompatibel mit dem sozial- und rassehygienischen Ansätzen seines Arbeitgebers Karl August Lingner (1861-1916). Seine in den 1910er Jahren stets freundliche Bewertung des einflussreichen Doyens der Ernährungswissenschaft Max Rubner wandelte sich mit der Nähe zur Ernährungsreform in strikte Distanz zum „Eiweißfanatiker Rubner“ (C[arl] Röse, Das Märchen vom Eiweißmangel der Zittauer Weber, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 57-60, hier Sp. 57). Röses Kritik war Teil einer umfassenden Denunziation des liberal-konservativen Forschers, bis hin zu seiner Diskreditierung als „Jude“ (Prof. Dr. Max Rubner war deutschblütiger Herkunft, Hippokrates 7, 468). Es verwundert daher nicht, dass Röse auch seine Verbindungen zur Brotreform öffentlich hervorhob. Wahrheitswidrig tönte er: „44 Jahre sind bereits darüber verflossen, seitdem ich zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe. Heute endlich beginnt man die Notwendigkeit ausreichender Basenzufuhr in der menschlichen Nahrung allgemein einzusehen. […] Ich hoffe aber, es noch zu erleben, daß diese Basenlehre auch unter den Ärzten ebenso allgemein durchdringen wird, wie die Vollkornbrotlehre bereits durchgedrungen ist“ (C[arl] Röse, Tomatensaft als Kurmittel, Hippokrates 9, 1938, 985-987, hier 985).

Festzuhalten ist, dass Röse zwar für sein „nordisch-germanisches Kulturideal“ und die „Aufklärung ernährungsphysiologischer Problemstellungen“ gewürdigt wurde, nur in Ausnahmefällen aber als Propagandist des guten Kauens ([Hanns] D[erstro]ff, Hofrat Dr. med. Karl Röse feierte seinen 75. Geburtstag, Zahnärztliche Mitteilungen 30, 1939, 331-332, hier 331). Festzuhalten ist auch, dass Röses (und Bergs) basische Ernährung von der Mehrzahl der damaligen Ernährungswissenschaftler abgelehnt wurde. Der Münchner Mediziner Wilhelm Hermann Jansen (1886-1959) hatte schon 1918 die Aussagen Röses und Bergs über den Eiweißumsatz als „nicht haltbar“ kritisiert (Zur Frage der Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1112). Anfang der 1930er Jahre erneuerte und verschärfte er seine Kritik (Ueber Eiweißbedarf und Mineralstoffwechsel […], Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 7, 1932, 373-375; Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, Münchener Medizinische Wochenschrift 79, 1798-1799; Ragnar Berg und W[ilhelm] H[ermann] Jansen, Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, ebd., 2089-2090). Der Charlottenburger Arzt Benno Süßkind folgerte aus seinen Selbstversuchen mit basischer Rohkost Ende der 1920er Jahre, dass diese tendenziell gesundheitsgefährdend sei – und erwähnte Röse dabei nicht einmal (B[enno] Süßkind, Zur Frage des Eiweißbedarfs bei Rohkost, Die Volksernährung 3, 1928, 215-217; Ders., Kritische Betrachtungen zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 113-119). Auch der bestens vernetzte Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1947) kritisierte Röses „teleologische Deutung“ (Eiweißminimum und Basengehalt der Nahrung, Referat, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 71) seiner Selbstversuche scharf. Röses Antwort bot keine Gegenargumente, nur sein eigenes Lebensbeispiel (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127). Bickel antwortete kühl, „die praktische Volksernährung […] verlangt bessere Garantien für die Sicherung des Gesundheitszustandes des Volkes“ (Antwort, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 128). Er empfahl 80 Gramm Eiweiß pro Tag, ein Wert, der später auch Grundlage des Rationierungssystems werden sollte. Allen Ehrungen zum Trotz blieb Carl Röse für eine Mehrzahl auch der NS-Ärzte trotz seiner Karies- und Rasseforschungen ein eigenbrödlerischer Ernährungsreformer. Diese mochten ihre Verdienste haben, so der Physiologe Karl Eduard Rothschuh (1908-1984): „Aber die Bewährung des praktischen Handels vor der Wirklichkeit macht aus wahnhaften Theorien nicht ohne weiteres eine wissenschaftliche begründete Vorstellung“ (Wahn, Wissenschaft und Wirklichkeit in der Ernährungslehre vom ärztlichen Standpunkt, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 58-60, hier 60).

Gutes Kauen war derweil auch ohne Röse zum propagandistischen Thema geworden. Zahnmediziner und Brotreformer hatten schon seit der Weimarer Republik vermehrt auf die Bedeutung eines nahrhaften Roggenbrotes hingewiesen. 1930 gab es erbitterte Kontroversen über die Mehlbleichung, die vielfach als Krebs- und Kariesauslöser galt, die aber dennoch beibehalten wurde (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 563). Die Kariesinzidenz konnte in den 1930er Jahren nicht verringert, der Abbau der Schulzahnpflege durch die propagandistisch durchaus wirksamen neuen fahrbaren Zahnambulanzen nicht kompensiert werden. 1937 begann mit ersten regionalen Kampagnen für verstärkten Vollkornbrotverzehr ein weiterer propagandistischer Feldzug für bessere Ernährung und gutes Kauen. Relative Erfolge in Schwaben und Sachsen führten schließlich im Sommer 1939 zur Gründung des Reichsvollkornbrotausschusses, der kurz nach Kriegsbeginn fast 100 Beschäftigte aufwies und eine reichsweite, zunehmend dezentralisierte, zugleich auf viele eroberte Staaten ausgeweitete Tätigkeit aufnahm (Uwe Spiekermann, Brown Bread for Victory: German and British Wholemeal Politics in the Inter­war Period, in: Frank Trentmann und Flemming Just (Hg.), Food and Conflict in Eu­rope in the Age of the Two World Wars, Basingstoke und New York 2006, 143-171, insb. 150-155). Vollkornbrotpropaganda war immer auch Kaupropaganda:“Für die Zähne, für das Blut / ist Vollkornbrot besonders gut. / Der Zahn wird stark, wenn man gut kaut, / und gut gekaut ist halb verdaut“ (Vollkornbrotfibel, Planegg 1941, 7).

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Braune Pädagogik: Vollkornbrot erspart den Zahnarzt (Vollkornfibel, Planegg 1941, 15)

Brotpropaganda war allerdings nicht Röses Ziel. Er aß vornehmlich Kartoffeln und Gemüse, dazu ein wenig Milch. Säurehaltiges Brot verzehrte er selten. Auch sein Zahnstatus war dafür unzureichend, besaß er 1936 doch nur noch „3 völlig nutzlose Mahlzähne“ (C[arl] Röse, Warum ich persönlich das dünne Delikateß-Knäckebrot bevorzuge?, Forrog-Blätter 3, 1936, 7-8, hier 8). Just im Hauptorgan der Brotreformer betonte er: „In den Augen der neuzeitigen Ernährungslehre ist auch das beste Brot nur ein notwendiges Übel“ ([Carl] Röse, Brot oder Kartoffel?, Ebd., 76-77, hier 77).

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Carl Röse und öffentliche Werbung für das Rösen ([Georg] Kersting, Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen, Jungborn/Harz 1941, II (l.), Nationalsozialistischer Volksdienst 8, 1941, 40)

Dennoch kam es 1941 zum „Rösen“, also einer unmittelbar an Horace Fletchers Kaulehre anschließenden Empfehlung zum guten deutschen Feinkauen. Der Aachener Arzt und Zahnarzt Georg Kersting hatte ab 1915 überzeugungsstark zum allgemeinen Fletschern aufgerufen. Nun, vor dem Angriff auf die Sowjetunion, trat er wiederum in Aktion, praktizierte abermals Sprachpflege, um all das wieder einzufordern, was schon 1916/17 nicht recht Widerhall fand. Sein Büchlein „Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen“ bestand abermals aus einer Sammlung von zuvor veröffentlichen Einzelartikeln, die nun allerdings ein konzises Ganzes ergaben. Kersting hatte vor dem Krieg noch für das Fletschern getrommelt, vor dem Hintergrund des Vierjahresplans abermals immense Einsparungen durch „besseres Kauen“ versprochen (Was ist „Fletschern“?, Freie Stimmen 1938, Nr. 165 v. 20. Juli, 9).

Veröffentlicht wurde die knapp hundert Seiten starke Broschüre im lebensreformerischen Jungborn-Verlag, breit bekannt für vegetarische Kochbücher. Im nahe von Bad Harzburg gelegenen Jungborn-Sanatorium wurde ein „Nationalsozialismus der Tat“ (Rudolf Just, 40 Jahre Jungborn, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 282-285, hier 284) praktiziert. Hier war eine Zinne der Ernährungsreform, wurde pflanzlicher Kost von eigener Scholle das Wort geredet: „Ernährt sich ein Volk richtig, dann leistet es viel; lernt ein Volk einteilen und entbehren, so wird es hart und verzagt nicht in Zeiten der Not“ (Rudolf Just, Vom Brotbelag, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 51-53, hier 53). Der Sanatoriumseigner und Verleger Rudolf Just (1877-1948) stand bereits 1917 mit Kersting in Kontakt, fletcherte die von Just befehligte Kompagnie angesichts unzureichender Truppenverpflegung doch auf Grundlage von dessen Empfehlungen (Kersting, Gesundheit, 1941, 76). Bad Harzburg stand symbolisch für die 1931 erfolgte Gründung der Harzburger Front von Nationalsozialisten, Stahlhelm, Deutschnationalen, Reichslandbund und Alldeutschen. Es war aber auch die Wirkungsstätte des Zahnarztfunktionärs und Bestsellerautors Walther Klussmann. Dieser hatte Carl Röse immer wieder als NS-Vorkämpfer gewürdigt, war zugleich Autor des reich illustrierten „ABC der Zahnpflege“, das 1942 eine Auflage von 400.000 erreichte und in der Bundesrepublik eine Neuauflage erfuhr. Er hatte schon 1934 empfohlen, einen hohen Ausmahlungsgrad des Getreides vorzuschreiben ([Walther] Klussmann, Die Zukunftsaufgabe der Zahnheilkunde, Zahnärztliche Mitteilungen 25, 1934, Sp. 1327-1334, 1373-1378, hier 1329), war damit ein Wegbereiter der Vollkornbrotpolitik.

Der Begriff „Rösen“ hatte unterschiedliche Aufgaben. Erstens war er eine Ehrbezeugung gegenüber Carl Röse. Zweitens erlaubte dieser Begriff die Vermeidung des „Fletscherns“. Das war nicht nur eine Abgrenzung von den USA, sondern sollte vor allem keine Erinnerung an die unselige Zeit der Mangelversorgung im Ersten Weltkrieg hervorrufen. Fletchern, so die unausgesprochene Botschaft, sei nicht nötig, denn das Großdeutsche Reich präsentierte sich als „blockadefest“, als Zentrum einer europäischen „Großraumwirtschaft“, als gelungenes Beispiel für „Nahrungsfreiheit“. „Rösen“ diente der Unterstützung einer vermeintlich erfolgreichen Rationierungspolitik, war eine Option für diejenigen, die mehr tun wollten. Drittens war der Begriff Teil einer breiteren Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte: „Wir alle kennen den Ausdruck und den Vorgang des Fletschern und haben uns angewöhnt, gutes Kauen mit jenem Amerikaner als dessen ‚Entdecker‘ in Zusammenhang zu bringen. Dabei ist es, wenn man von dem auch in Deutschland üblichen Rat aller gewissenhafter Ärzte, gut zu kauen, absieht, nicht der Amerikaner Fletscher, sondern der deutsche Arzt und Zahnarzt Röse gewesen, die die Kunst des Kauens zuerst wissenschaftlich untersucht und seine Ergebnisse in verschiedenen Schriften niedergelegt hat.“ „Rösen“ war „eine späte, aber doch noch rechtzeitige Wiedergutmachung eines begangenen Unrechts an dem Forscher Röse“ (Gesundheit durch ‚Rösen‘, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, 220-221, hier 220 für beide Zitate). Das war Geschichtsklitterung, doch zugleich Teil einer Germanisierung (und Entjudung) der Forschungsgeschichte. Zugleich diente es dem gern gepflegten Mythos des genialen Forschers, obwohl selbst die seit dem Ersten Weltkrieg stetig zurückfallende deutsche Wissenschaft zunehmend in Forschungsverbünden organisiert war.

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Denunzierte Wissenschaftler: Max Rubner und der Stolperstein von Otto Kestner (Zeitbilder 1932, Nr. 19. v 8. Mai, 2 (l.); Wikipedia)

„Rösen“ war jedoch nicht nur ein Begriffswechsel. Es war die Transformation einer aus dem amerikanischen Individualismus stammenden Gesundheitslehre in eine nationalsozialistische Tugend. Es ging eben nicht darum, dass Kersting in seinem Buch weiterhin verkündete, dass man mit dem deutschen Kauen mal ein Drittel, mal die Hälfte der Nahrung sparen könne (Kersting, 1941, 47 bzw. 68). „Rösen“ diente der Implementierung der nationalsozialistischen Gesundheitsauffassung in die Praxis möglichst vieler. Es galt an die Stelle vermeintlicher Trägheit und Faulheit die adelnde Selbstarbeit zu setzen: „Dazu gehört bessere Arbeitsgelegenheit, in diesem Falle: weniger weiche Speisen, besseres Arbeitsgerät: bessere Zähne, und eine gute Arbeitsweise: das Rösen“ (Ebd., 45). „Rösen“ stand nicht allein für gutes Kauen. Es materialisierte „die nationalsozialistische Weltanschauung durch Erfüllung der deutschen Grundsätze und Bestrebungen, Gemeinnutz geht vor Eigennutz, Volksgemeinschaft, Blut und Boden, Rassereinheit, Vierjahresplan und durch andere wünschenswerte Folgen. Wer den Grundsatz Gemeinnutz geht vor Eigennutz befolgen will durch Verbesserung der Volksgesundheit und Ersparen von Nahrungsmittel, dem ist es durch das Rösen leicht gemacht; denn der Nutzen für die eigene Gesundheit und Geldbeutel fällt hier mit dem Gewinn für die Allgemeinheit zusammen“ (Kersting, 1941, Gesundheit, 68-69).

Die haltlose Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte machte dabei aber nicht vor Fletcher Halt. „Rösen“ war eben nicht nur lustiges „Zähneturnen“, sondern diente der Tilgung zentraler Forschungsergebnisse des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Das betraf zum einen das Voitsche Kostmaß und dessen flexiblere Fassung durch Max Rubner. Das galt auch für das in Gemeinschaft mit dem Reichsgesundheitsamt herausgegebene Buch „Die Ernährung des Menschen“ (Otto Kestner und H[ugo] W[ilhelm] Knipping, Berlin 1924), in dem eine ausgewogene Mischkost mit ausreichend tierischem Eiweiß empfohlen wurde (ebd., 27-30). Kersting – wie auch Carl Röse – verstanden darunter Asphaltkultur, Angestelltenmassen, jüdische Wissenschaft. „Rösen“ stand demnach auch für eine wissenschaftliche Verschwörungstheorie, spiegelte eine Weltverschwörung gegen das Deutschtum: „Ist diese ‚exakte‘ materialistische, plutokratische Ernährungslehre auch wissenschaftlich überwunden, so hat sie doch unter obrigkeitlichem Schutz und Förderung ein halbes Jahrhundert geherrscht, ist in die großen und kleinen Koch- und Eßgemeinschaften so tief eingedrungen, daß unsere ganze Ernährung und Eßweise darunter heute leidet. Die Schule Rubner-Cohnheim [Kestner wurde als Cohnheim geboren, US] und der durch sie Schätze häufende Handel sind die eigentlichen Verführer des Volkes in der Auswahl der Nahrung, die durch ihren Gehalt und die Vorbehandlung zum Vielessen reizt und teils mittelbar, teils unmittelbar gegen das Rösen arbeitet“ (Kersting, Gesundheit, 1941, 72).

All das fand freudigen Widerhall bei den führenden Zahnärzten. Kersting konnte seine – wir erinnern uns – „an das Pathologische“ (Neumann, 1920, 34) streifende Mär von der Halbierung der notwendigen Nahrung in führenden Fachzeitschriften unwidersprochen propagieren ([Georg] Kersting, Schlucken, Schlingen, Würgen und die entsprechenden Vorgänge beim „Rösen“, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 398-399; Ders., Das Rösen, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 668-669; Ders., Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362). Auf der 1. Reichstagung der Zahnärztlichen Arbeitsgemeinschaft für medizinisch-biologische Heilweisen in der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt-Rhese erntete Kersting „Großen Beifall“– dies mit explizitem Verweis auf den „Altmeister der Ernährungslehre, Hofrat Dr. Röse in Gebesee“ (W[ilhelm] Holzhauer, Alt-Rehse – Schule zwischen See und Wald, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, Sp. 378-381, 402-406, hier 404). Spitzenfunktionär Hermann Euler stimmte dem zu, resümierte einen Forschungsüberblick mit Verweis auf die Vollwerternährung Kollaths und die Kaulehre des „Rösens“: „Ernährung im Sinne Kollaths, Funktion im Sinne Roeses (Der neueste Stand der Kariesforschung unter besonderer Berücksichtigung der Ernährung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 635-642, hier 642). Vor diesem Hintergrund mutet es schon tapfer an, dass der Jungborn-Verlag Kerstings Broschüre eine Bemerkung voranstellte, in dem er vor „utopischen Ausschmückungen“ des Aachener Sanitätsrates warnte.

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Carl Röse als Propagandist des guten Kauens?

Bevor wir uns abschließend fragen, welche Bedeutung das „Rösen“ abseits der Binnenwelten nationalsozialistischer Funktionseliten besaß, gilt es noch einen Blick auf Carl Röses Forschungsarbeiten zu werfen. Schließlich wird dieser Protagonist einer basischen Kartoffel-Gemüse-Milch-Diät bis heute als Protagonist des guten Kauens präsentiert: „In general, he recommended thoroughly chewing food, which even became a verb in German (‘rösen’)” (Groß und Hansson, 2020, 56). „Rösen“ war jedoch etwas völlig anderes als gutes Kauen. Und Carl Röse ist in seinen Forschungsarbeiten eben kaum über den bis ins Mittelalter zurückzuverfolgenden Gemeinplatz „Gut gekaut ist halb verdaut“ hinausgekommen und -gegangen. Kersting gab für seine Aussagen keine Belege, sondern lediglich die Jahre 1894 resp. auch mal 1897 an ([Georg] Kersting, Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362, hier 360), Gross und Hannsson verwiesen neben unreflektierten Paraphrasen in Hopfer-Lescher, 1994 (wohl 120-123) auf einen Beitrag von 1896 –Seitenangaben fehlen allerdings. Sie verkennen dabei, dass guten Kauen für Röse keinen Selbstwert besaß, sondern rein funktional verstanden wurde.

Carl Röse tönte 1938, dass er 1894 „zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe“ (Röse, 1938, 985). Das ist nur richtig, wenn man diesen Satz so versteht, dass er für sich damals erstmals die Bedeutung des harten Brotes realisiert habe (vom Kauen schrieb er hier übrigens nicht). Die Bedeutung eines solchen Brotes wurde aber von vielen Gelehrten und Praktikern seit langem hervorgehoben; Röse selbst verwies damals auf Justus von Liebigs Empfehlungen (Röse, 1895, hier 76). Das Jahr 1894, von Kersting mehrfach betont, bezieht sich auf Röses erste Reihenuntersuchungen in Freiburg sowie die daraus resultierenden prophylaktischen Folgerungen. Der Privatdozent bezog sich in seiner ersten einschlägigen Arbeit explizit auf Millers Säuretheorie, daraus resultierte die Ablehnung eines „weichen klebrigen Weizenbrotes“ (Röse, 1894, 314). Er referierte anschließend Liebigs Empfehlung eines „derben Schwarzbrotes“ und zog daraus die Schlussfolgerung: „Ueberall dort, wo ein derbes Schwarzbrot gegessen wird, findet man eine straffe gesunde Mundschleimhaut trotz der mangelhaftesten Mundpflege. Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähne blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Röse, 1894, 315). Röse wiederholte damals völlig gängige Thesen führender Wissenschaftler – um dann auf sein Hauptthema zu kommen, nämlich den Zusammenhang von Kalkverzehr und Karies. Röse empfahl weder den Konsum von Vollkornbrot, noch von Brot überhaupt. Brot erschien ihm vielmehr als „die widernatürlichste und künstlichste Nahrung des Menschen“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Zahngesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 67). Wenn schon Brot, dann allerdings „ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot“ (Röse, 1894, 329). Brot war damals – wie auch später – für Röse ein Notbehelf, mit dem man pragmatisch umzugehen hatte, da es das Rückgrat der Alltagsernährung bildete. Weder gutes Kauen, noch gar Fletchern wurde hier empfohlen, sondern Röse zielte auf eine allgemein verbesserte Zahnpflege, die am besten durch eine kalkreiche Ernährung, durch den Einsatz von Zahnbürsten und eine stetige Schulgesundheitspflege zu gewährleisten sei. Röse ging es 1894/95 zudem nicht um die Allgemeinbevölkerung, sondern um Schulkinder. Entsprechend beendete er 1895 einen Aufsatz mit dem wissenschaftlich nicht gerade innovativen Hinweis: „Ein altes Sprichwort sagt mit Recht: ‚Gut gekaut ist halb verdaut‘. Und eine gute Verdauung ist bei Kindern eine unumgängliche Vorbedingung für die kräftige Entwicklung von Leib und Seele!“ (Röse, 1895, 87).

Schwarzbrot sei besser als weiches Brot, Kuchen oder Kartoffeln, doch entscheidend für die Zahngesundheit sei eine sorgsame Mundpflege (C[arl] Röse, Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Wien 1895, 17 resp. 19). In seinen Empfehlungen findet sich 1894 der danach mehrfach wiederholte Merkspruch „Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähnen blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Ebd., 3), doch dieser stand eben nicht allein, muss vielmehr im Kontext gelesen werden. Das gilt analog auch für den von Groß und Hansen herangezogenen Artikel von 1896, in dem Röse Hauptergebnisse seiner Rekrutenuntersuchungen vorstellte. Auch dort betonte er: „Unter allen stärkehaltigen Nahrungsmitteln ist ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot den Zähnen am wenigsten schädlich” (Röse, 1896, 394). Analog zu zeitgenössischen Dekadenztheorien der frühen Brotrefomer beklagte der Freiburger Zahnarzt die durch die weiche, künstlich zubereitete Nahrung erst mögliche Existenz der Träger schlechter Gebisse. „Würden beim Menschen gute Zähne zum Zerkauen harter Nahrung unbedingt erforderlich sein, dann könnte sich die Zahncaries unmöglich so weit verbreitet haben! Die schlecht bezahnten Individuen würden ihre Zähne nicht auf die Nachkommen vererben können, sondern würden infolge schwächlicher Allgemeinentwicklung aussterben“ (Röse, 1896, 428). Weiche Kost würde das Gebiss verkümmern lassen. Bei Älteren sei eine Intervention schon vergeblich, Prävention sei daher erforderlich: „Auch aus diesen Erwägungen ist daher der Schluss zu ziehen, dass es sehr wichtig ist, die Kinder an ein energisches Kauen zu gewöhnen. Man verbiete ihnen das Trinken während des Essens, da die Kinder sehr geneigt sind, sich die Mühe des Kauens dadurch zu ersparen, dass sie den Bissen mit Wasser herunterspülen; gebe ihnen kein weiches klebriges Weizenbrot, sondern ein härteres, trockenes, aus gröberen Mehlsorten bereitetes Brot u. s. w.“ (Röse, 1896, 448). Neuerlich handelte es sich um eine Empfehlung an Kinder im Zusammenhang einer breiter gefassten Mundpflege.

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Zahnpflege nach Röse: Zahnbürsteneinsatz an den Innenflächen der Zähne (Röse, 1900, 42)

In seiner späteren Handreichung für Schul- und Zahnärzte präsentierte Röse „Zehn Leitsätze der Zahn- und Mundpflege“. Kauen wurde dort als solches nicht empfohlen, einzig das „kräftige Kauen eines derben, dickrindigen Schwarzbrotes“ (Röse, 1900, 60). Röse ging es eben nicht um das Kauen als solches. Dies war sinnvoll, nicht aber sein zentrales Anliegen: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (Röse, 1900, 61). Angesichts solcher im kulturkritischen Diskurs dieser Zeit tropenhaft auftretenden Allgemeinplätze ist es nicht verwunderlich, dass Röse auch hier auf den Volksmund verwies: „Hartes Brot macht die Wangen rot“ und „Gut gekaut ist halb verdaut“ (Röse, 1900, 9) hieß es dann. Das aber hat mit dem Fletcherismus nichts zu tun, auch nichts mit dem späteren nationalsozialistischen „Rösen“.

Eine Ausnahme gab es, sie stammt aus dem Jahre 1912. In seinem erstmals in der Deutschen zahnärztlichen Wochenschrift (15, 1912, 593-598, 658-659) veröffentlichten Beitrag „Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit“ griff Röse die Thesen Horace Fletchers auf und stellte sich mit ihm in eine Reihe: Er habe „immer wieder auf die Notwendigkeit ausgiebiger Kautätigkeit hingewiesen und den Genuss harten Brotes empfohlen, das ohne ausgiebige Behandlung in der Mundhöhle überhaupt nicht gut verschluckt werden kann. Es ist mir gelungen, durch mühsame Stoffwechselversuche nachzuweisen, dass schon kalkreiche Ernährung die Menge und Wirksamkeit des Speichels steigern kann. Um wieviel günstiger wird ausgiebige Kautätigkeit von Jugend an auf die Entwicklung der Speichdrüsen einwirken! In der letzten Ausgabe meiner Zahnpflegebroschüre empfehle ich daher ausdrücklich, jeden Nahrungsbissen 80-100 mal zu kauen, ehe man ihn hinabschluckt“ (C[arl] Röse, Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit, Berlin und Heidelberg 1912, 5). Dies war ein Jahr nach der Publikation von Borosinis Buch über „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung“. Röse war ohne Festanstellung. Im sozialdemokratischen Vorwärts hieß es zum Hintergrund: „Dr. Rose [sic!], einer dieser Forscher, will jetzt die schwedischen Brotsorten, besonders das Hartbrot (Knäckebrot), untersuchen und ihre Einführung in Deutschland anbahnen“ (Vorwärts 1912, Nr. 170 v. 24. Juli, 5).

Fassen wir diesen rückfragenden Exkurs zusammen, so war Carl Röse weder Brotreformer, noch Kaupropagandist. Sein Interesse galt andern Fragen, erst im Nachhinein stilisierte er sich als Vorreiter, wurde von anderen auch als solcher präsentiert. Diese aber haben seine Arbeiten kaum gelesen, im Falle eines Falles aber missverstanden. Der Namensgeber des „Rösen“ wurde während des Kaiserreichs von Brotreformern durchaus rezipiert. Doch sie interessierten sich für seine Kariesforschungen, denn sie bestätigten scheinbar den körperlichen Niedergang der Deutschen und begründeten damit ihr Drängen nach hartem, „deutschen“ Brot (A[lfred] Kunert, Unsere heutige falsche Ernährung als letzte Ursache für die zunehmende Zahnverderbnis und die im ganzen schlechtere Entwicklung unserer Jugend, 3. Aufl., Breslau 1913, insb. 48-49).

 

Nationalsozialistische Kaupropaganda – Ein breites Unterfangen abseits des „Rösens“

George Orwell schrieb ab 1946 an seinem Roman „1984“, in dem er Erfahrungen des Stalinismus, Nationalsozialismus und auch der britischen Kriegspropaganda zu einer bis heute gültigen Dystopie verdichtete. Das „Rösen“ war ein gutes Beispiel für die Kontrolle und Umdefinition der Vergangenheit als Herrschaftsinstrument. Carl Röse, ein akademisch gescheiterter und stets umstrittener Forscher wurde während der NS-Zeit als Vorkämpfer aufgebaut und hofiert, seine Arbeiten mythologisiert und zu einem möglichen Alltagskonzept verdichtet. „Rösen“ stand für die Selbstpraxis einer rassistischen Gesundheitslehre. Sie war wissenschaftlich substanzlos, doch sie erlaubte das Wegdrängen unbequemer Wissenschaftler, unbequemer Sachverhalte. Sie erlaubte zugleich, die massiven Defizite der NS-Gesundheitspolitik und der NS-Zahngesundheitspflege zu überdecken, hatte es doch jeder Volksgenosse in Hand und Mund, sein und seines Volkes Schicksal zu wenden.

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Hartes Brot, gutes Kauen – und Zahnpflege mit Chlorodont (Illustrirte Zeitung 1940, 211)

Blicken wir abschließend zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Damals gab es im Deutschen Reich eine intensive Kaupropaganda, zumindest bis Mitte 1942, als nicht nur die Rationen deutlich gesenkt wurden (die dennoch weit über denen der beherrschten Gebiete lagen), sondern auch die Zeitungen und Anzeigen massiv schrumpften. Trotz des steten regimetreuen Zeugnisses von Ärzten und Zahnärzten war die Kaupropaganda erstens integraler Bestandteil der Vollkornbrotpolitik, erfolgte zweitens aber eher indirekt, wurde nämlich von staatsnah agierenden Unternehmen getragen. Hinzu traten drittens die vielfältigen gesundheitspolitischen Maßnahmen in der Hitler-Jugend, der NS-Frauenschaft oder des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst. Sie alle griffen jedoch nur selten das „Rösen“ auf, sondern knüpften an tradiertes Alltagswissen an, mochte dieses im Rahmen der nationalsozialistischen Denkens auch eine andere Aufladung besitzen: „Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist das Kauen an sich. ‚Gut gekaut ist halb verdaut!‘ sagt ein altes, nur zu wahres Sprichwort; denn im Munde beginnt bereits die Verdauung. Langsam essen, damit die Speicheldrüsen des Mundes ausreichende Gelegenheit zur Arbeit haben und die Nahrung gründlich durchgespeichelt wird, ist ebenso wichtig wie ein gutes Kauen, das heißt hinreichende Zerkleinerung der Nahrung“ (Mund und Magen, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 50 v 19. Februar, 24). Kauen war trotz vertrauter Sentenzen nicht mehr in das Belieben des Einzelnen gestellt, Schlingen untergrub die „Arbeitskraft des Volkes“ (Die Medizinische Welt 16, 1942, 228) und der Wirtschaft, gefährdete Wehrfähigkeit und rassistische Qualität (Franz G.M. Wirz, Lebensreform und Nationalsozialismus, Volksgesundheitswacht 1938, 313-319, insb. 316). Deutsches Kauen war im Nationalsozialismus Grundmotorik, Körperlichkeit im Umgang mit der Materie, war Behauptung in einer an sich feindlichen Umwelt.

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Kaupropaganda durch Unternehmen: Chlorodont-Werbung (Völkischer Beobachter 1941, Nr. 268 v. 25. September, 3)

Die visuelle Präsenz der Kaupropaganda garantierten vornehmlich Unternehmen, die ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse am Kauen und an Zahnpflege hatten. Herausragend dabei waren mehrere Werbekampagnen der Dresdner Firma Chlorodont. Kauen war darin notwendiger und integraler Bestandteil einer breiter gefassten Mundpflege, eine Ergänzung zu Zahnpasta, Mundwasser und Zahnbürste. Das galt ähnlich für die Burger Knäckebrotwerke. Während Chlorodont mit Parolen, erläuternden Texten und eingängigen Schaubildern warb, erinnern die illustrierten Knäckebrot-Anzeigen teils an gern gelesene Comics. Sie standen teils aber auch für eine Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in der das harte Vollkornbrot – eine Erfindung der Brotreformer, die erst um die Jahrhundertwende an Bedeutung gewann – Teil der guten alten deutschen Zeit war.

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Knäckebrot als Kau-Schule für die Jüngsten (Die Gesundheitsführung. Ziel und Weg 1943, H. 1, V)

Die Vollkornbrotpropaganda stieß in die gleiche Richtung, doch es ging hier vor allem um die Verbrauchslenkung auf ein vielfach ungeliebtes hartes Brot (Spiekermann, 2001, 117-122). Trotz vielfältiger pädagogischer Anstrengungen – „Der Vollkornbrotverzehr macht jede Brotmahlzeit zur Turn- und Gymnastikstunde für Kiefer, Zähne und Kaumuskeln“ (H. Gebhardt, Die zahnärztliche Vollkornbrot-Werbung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 354-355, hier 354) – fehlten nachhaltige und evaluierte Maßregeln über das sorgfältige Kauen. Viel wichtiger war Vitaminversorgung, waren Absatz und Qualität des Vollkornbrotes. Kauwilligkeit war Grundbedingung seiner Akzeptanz, nicht aber Wert an sich. Es ging um eine bessere Nährstoffversorgung. Gebissförderung und Kariesbekämpfung waren wichtige Nebeneffekte.

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Zahnkräftigung durch hartes, kauintensives Vollkornbrot – Kinowerbung 1940 (Mehl und Brot 40, 1940, 438)

Diese moderateren und indirekten Formen der Kaupropaganda wurden wissenschaftlich breit flankiert, doch stand die „Kaugymnastik“ (Eugen Wannenmacher, Zivilisationsschäden und Gebiß, in: Heinz Zeiss und Karl Pintschovius (Hg.), Zivilisationsschäden am Menschen, München und Wien 1940, 184-199, hier 198) nie allein, war Teil breiterer prophylaktischer Maßnahmen. „Rösen“ blieb öffentlich unbedeutend, noch unbedeutender als das wesentlich breiter propagierte Fletchern während des Ersten Weltkrieges. Das änderte nichts an der offiziellen Wertschätzung, die der Namensgeber weiter erfuhr: 1941 wurde Carl Röse Ehrenmitglied der Deutschen Zahnärzteschaft, 1944 erhielt er gar die Goethe-Medaille (Kölnische Zeitung 1944, Nr. 108 v. 19. April, 2). In beiden Fällen wurde das „Rösen“ nicht erwähnt. Carl Röse war auch nicht beteiligt, als in Berlin im Februar 1942 das Institut für Kariesforschung eröffnet wurde (Das Institut für Kariesforschung wurde in Berlin errichtet, Zahnärztliche Mitteilungen 33, 1942, 93-98). Er verbrachte die letzten fünf Jahre seines Lebens im Rollstuhl. Einen Nachruf habe ich nicht finden können.

Gutes deutsches Kauen blieb bis zum Kriegsende wichtig, wurde immer wieder eingefordert. Während der Endsieg beschworen und die Vergeltungswaffen bejubelt wurden, schien es weiterhin opportun auf die Verdopplung des Nahrungswertes durch verflüssigendes Kauen hinzuweisen (Gut kauen – sättigt besser! Die Vorteile des richtigen Kauens für die Gesundheit, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 328). „Rösen“ wurde im Deutschen Reich sporadisch propagiert, während in der Schweiz eine analoge Kaupropaganda abgelehnt wurde. Selbst im ernährungsreformerischen Lager hieß es dort: „Wie ist es möglich, dass immer wieder kluge Menschen von listigen ‚wissenschaftlichen Experimenten‘ überlistet werden?!“ (W[illy] B[ircher], Bringt sorgfältiges Kauen einen Gewinn an Nährkraft bei knapper Nahrungsversorgung?, Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 20, 1943, 69-72, hier 72). Deutsches Kauen wurde zwar bis Kriegsende empfohlen, inmitten des Bombenkrieges noch die „Hetze“ beim Essen beklagt, kämpferisches Einspeicheln gefordert (F[ritz] Blumenstein, Kauen – kriegswichtig, Deutsche Dentistische Wochenschrift und Dentistische Reform 1944, 165-167). Seit den späten 1940er Jahren hieß es dann weiter gefällig „Gut gekaut ist halb verdaut“. Es war nun wieder Verweis auf eine mythische Welt des Innehaltens und des Abstands zum Alltagsgeschehen.

Uwe Spiekermann, 14. April 2022

Ambivalenzen: Jüdisches Leben während der Weimarer Republik

Ein Satz hallte nach in meinem Kopf, gesprochen auf einer Buchvorstellung am 29. August 2021 im niedersächsischen Lauenförde: „Als es dann 1930 mit dem Antisemitismus so richtig los ging“. Keine Frage, der massive Bedeutungsgewinn der NSDAP nach Beginn der Weltwirtschaftskrise, nach dem Zerbrechen der Großen Koalition und nach der Etablierung einer Präsidialdiktatur ging einher mit wachsendem Druck auf die jüdische Minderheit. Doch der irritierende Widerhall kam aus dem Subtext des Satzes, der Vorstellung einer Zeit des guten gedeihlichen Miteinanders zwischen einer zumeist christlich getauften Mehrheitsgesellschaft und den Angehörigen einer religiösen Minderheit. Auch das hat einen wahren Kern, fiel der Satz doch im Lauenförder Bürger- und Kulturzentrum, einem mit viel Eigeninitiative restaurierten Gebäude, 1913 als evangelisches Gemeindehaus eingeweiht, finanziert durch eine Spende des jüdischen Möbelproduzenten Hermann Löwenherz (1854-1916) (Detlev Herbst, Von der Holzwarenfabrik zur Herlag – Die Kaufmannsfamilie Löwenherz aus Lauenförde, Holzminden 2021, 54-56). Und doch, die Ambivalenzen jüdischen Lebens während des Kaiserreichs und insbesondere während der Weimarer Republik schienen mir in den Hintergrund gedrängt. Wie also war die Stellung der Juden als Minderheit im Jahrzehnt vor 1930? Wie stellte sie sich zur Mehrheit, passte sie sich an, verlor sie ihre Identität? Und wie definierte sich die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft im Angesicht der Herausforderung, die jede Andersartigkeit mit sich bringt?

Die jüdische Minorität im Spiegel der Statistik

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Die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich (jeweilige Grenzen) 1890-1935 (Monika Richarz (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, 14)

Die Zahl der Juden nahm im Deutschen Reich seit dem späten 19. Jahrhundert erst relativ, seit 1910 auch absolut ab. Gab es kurz vor dem 1. Weltkrieg noch mehr als 600.000 Juden in Deutschland so waren es am Ende der Weimarer Republik nur noch ca. 550.000. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag damals bei etwa 0,8% – 1871, bei der Gründung des Deutschen Kaiserreiches hatte dieser Anteil noch 1,25% betragen. Dieser beträchtliche Rückgang wäre zudem ohne eine nennenswerte Zuwanderung noch deutlich stärker gewesen. Während der Weimarer Zeit war ungefähr ein Fünftel der Juden Ausländer. Diese stammten größtenteils aus den durch den Versailler Vertrag abgetretenen Gebieten im Osten des Reiches, zudem aber aus Polen und der Sowjetunion.

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Orthodoxe Zuwanderer in Berlin (Der Arbeiter-Fotograf 4, 1930, 237)

Die Statistik spiegelt die Wanderungsbewegungen nicht angemessen wieder. Das „russische“ Berlin, „Charlottengrad“, war Anfang der 1920er Jahre auch von zahlreichen jüdischen Emigranten geprägt. Mehr als 70.000 Menschen wanderten nach 1918 großenteils als Deutsche ins kleinere Deutsche Reich zurück – doch dies geben die reinen Bevölkerungsdaten nicht wieder. Die Zahlen spiegeln auch nicht die 35.000 jüdischen Zwangsarbeiter, die während des Krieges von der deutschen Armee rekrutiert und zur Arbeit ins Deutsche Reich gebracht wurden. Diese Maßregeln deuten schon darauf hin, dass die Zuwanderer aus anderen Schichten als die einheimischen Juden kamen. Sie gehörten meist der sozialen Unterschicht an, waren vielfach Fabrikarbeiter und noch häufiger Händler. Der hohe Ausländeranteil war schließlich auch Ausdruck der strikten deutschen Einwanderungsgesetze. Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1913 hatte Naturalisationen erschwert: 40% der 1933 in Deutschland lebenden ausländischen Juden waren in Deutschland geboren, nicht aber Staatsbürger.

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Demographische Entwicklung der Juden und der deutschen Gesamtbevölkerung 1880-1884, 1910-1913, 1930-1933 (Avraham Barkai, Die Juden als sozio-ökonomische Minderheitengruppe in der Weimarer Republik, in: Walter Grab und Julius Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, 330-346, hier 333)

Der Rückgang der Zahl der Juden hatte verschiedene Ursachen: Während der Weimarer Republik lag die Zahl der Austritte mit ca. 500 pro Jahr deutlich unter den Werten des Kaiserreichs. Wichtiger war die wachsende Zahl von gemischt-konfessionellen Ehen. In den 1920er Jahren wählte rund ein Drittel aller heiratenden Juden eine nichtjüdische Braut oder einen Bräutigam. Die meisten Kinder dieser sog. „Mischehen“ wurden nicht mehr jüdisch erzogen. Der Rückgang der Zahl war offenkundig auch Ausdruck einer beträchtlichen Integration der jüdischen Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft. Gleichwohl: Der wichtigste Grund für die schwindende Zahl war die geringe Reproduktion, die geringe durchschnittliche Kinderzahl in jüdischen Familien. Die Geburten reichten durchweg nicht mehr aus, um die Toten zu ersetzen. Diese Entwicklung prägte zeitversetzt auch die Mehrheitsgesellschaft. Dass die Deutschen „aussterben“ würden, war eine weit verbreitete Angst in den 1920er Jahren – für die Juden schien diese jedoch begründeter. Die demographische Folge war ein immer geringerer Anteil von Kindern und ein wachsendes Durchschnittsalter. 1925 war der durchschnittliche Jude knapp 35 Jahre alt, der nichtjüdische Deutsche dagegen 27 Jahre. All dies sorgte innerhalb der Minorität für tiefe Besorgnis, galt als Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland.

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Die zehn größten jüdischen Gemeinden Mitteleuropas 1925 (Avraham Barkai, Jüdisches Leben in seiner Umwelt, in: Ders. u. Paul Mendes-Flohr, Deutsche-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV, München 1997, 50-73, hier 60)

Parallel setzte sich die Binnenwanderung vom Land in die Städte, genauer die Großstädte, fort. War jüdisches Leben in deutschen Landen im 19. Jahrhundert noch stark von „Landjuden“, von kleinen Gemeinden in Klein- und Mittelstädten geprägt, so lebten 1910 schon 60% in Großstädten, 1933 waren es dann 70%. Landjuden gab es noch, doch deren Gemeinden konzentrierten sich vornehmlich auf Südwestdeutschland, Hessen und Thüringen. Diese Bevölkerungsverteilung unterschied die Juden signifikant von der Bevölkerungsmehrzahl. Sie waren Trendsetter der Urbanisierung, Trendsetter der Metropolenbildung. Die Hälfte der jüdischen Minderheit lebte in den sieben Hauptgemeinden in Berlin, Breslau, Hamburg, Köln, Leipzig, München und Frankfurt am Main. Dort war ihr Anteil an der Wohnbevölkerung mit 1925 über 6% am relativ höchsten. Unbestrittener Mittelpunkt jüdischen Lebens war und wurde jedoch Berlin, wo schließlich mehr als ein Drittel der Minderheit lebte.

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Jüdische Einwohner in ausgewählten Verwaltungsbezirken Berlins im Juni 1933 (Martin Liepach, Das Wahlverhalten der jüdischen Bevölkerung, Tübingen 1996, 73)

Aber auch innerhalb dieser Metropolen gab es eine Konzentration der jüdischen Wohnbevölkerung. In den fünf in der Tabelle aufgeführten Berliner Bezirken – es gab insgesamt 20 – lebten 70% aller Berliner Juden. Dadurch war es möglich, relativ starke Gemeinden zu bilden und zu bewahren.

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Beschäftigungsstruktur deutscher Juden 1907, 1925 und 1933 (Barkai, 1986, 333)

Zugleich unterschied sich die Berufs- und Sozialstruktur der jüdischen Minorität deutlich von der Bevölkerungsmehrheit. Sie entsprach vornehmlich denen des späten 19. Jahrhunderts. Der Anteil der Bauern war marginal, besondere Bedeutung besaß dagegen die Erwerbstätigkeit in Handwerk und Industrie, vornehmlich aber die im Handel. Mit dieser Schwerpunktsetzung reagierten die Juden nicht nur auf die zahlreichen beruflichen Restriktionen, sondern waren zugleich Trendsetter der mit der Industrialisierung einhergehenden Bildung einer modernen Konsumgesellschaft. So lag die Quote der Selbständigen mit 46% dreimal höher als in der Gesamtbevölkerung. Die Mehrzahl der nicht selbständigen Juden arbeitete in eben diesen Betrieben und Geschäften. Die jüdische Minderheit war vornehmlich im Handel tätig, im gewerblichen Bereich dominierte die Bekleidungsbranche. Dies führte zu einer beachtlichen und auch sichtbaren Stellung im Einzelhandel. Bekannte Namen, wie etwa die Warenhausfirmen Tietz, Wertheim, Israel, Schocken oder Jandorf waren reichsweit bekannt; doch diese Großbetriebe waren eher Ausnahmen. Die Mehrzahl der jüdischen Handelsgeschäfte bestand aus mittelständischen Fachgeschäften und kleineren Kaufhäusern. Agrar- und Metallhandel bildeten wichtige Nischenbranchen. Die jüdische Minderheit wies außerdem überdurchschnittlich viele Angestellte auf, vornehmlich Reisende, Verkäufer und Buchhalter. Im Bankwesen konnte sie ihre herausragende Stellung bei den Privatbanken (45% 1920) behaupten, doch bei den wesentlich wichtigeren Aktienbanken lag ihr Anteil bei lediglich ein Prozent. Das Berufsspektrum umgriff ferner eine wachsende Zahl von Freiberuflern, vornehmlich Ärzten und Rechtsanwälten (11 bzw. 16%).

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Erwerbstätigkeit bei Juden und Nichtjuden in Preußen 1925 (Liepach, 1996, 75)

Die Unterschiede zur Mehrheitsgesellschaft waren also beträchtlich – vor dem Hintergrund der beruflichen Restriktionen und der auch während des Kaiserreichs weiter bestehenden Diskriminierung etwa bei der Besetzung von Beamten- und Offiziersstellen war das jedoch nicht wirklich verwunderlich. Entsprechende Spezialisierungen sind typisches Kennzeichen ethnischer und religiöser Minoritäten. Verwunderlich ist jedoch die beträchtliche Konstanz dieser Strukturen auch während der Weimarer Zeit. Die zahlenmäßig schwindende Gruppe der Juden meisterte den wirtschaftlichen Wandel nur teilweise. Bei der Konzern- und Trustbildung, im Genossenschaftswesen und im Felde der öffentlichen Wirtschaft – also in den eigentlichen Wachstumsbranchen der 1920er Jahre – fehlten jüdische Unternehmer zumeist. Ihre Stellung mochte in einzelnen Bereichen – etwa dem Pressewesen – durchaus beträchtlich gewesen sein, doch als Gruppe hatten sie, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre noch im Kaiserreich hervorstechende Innovationskraft vielfach verloren. Sie blieben vielfach bei den Berufen ihrer Väter, strebten auf Bewahrung ihrer Stellung. Entsprechend verwundert es nicht, dass in den späten 1920er Jahren keines der zehn größten Vermögen in jüdischer Hand war. Sie standen mehrheitlich für ältere Formen der Ehrsamkeit; und wandten sich entsprechend mit Entschiedenheit gegen Korruption und Bestechung. Die wenigen Fälle, etwa der Skandal um die Bestechungen der Gebrüder Sklarek in Berlin 1929, wurden gleichwohl als antisemitisches Stereotyp verwandt; und das bis weit hinein ins Bürgertum. Dieses relative Zurückfallen der jüdischen Gewerbe zeigt sich auch in ihrem während der 1920er Jahre langsam wachsenden Beamtenanteil.

Die Beschäftigungsstruktur mündete in eine von der Mehrheitsbevölkerung deutlich abweichende Sozialstruktur. Die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung war Teil des bürgerlichen Mittelstandes, wobei Wirtschafts- und Kleinbürgertum vor dem Bildungsbürgertum rangierten. Entsprechend lag die Frauenerwerbsquote deutlich unterhalb des Bevölkerungsdurchschnitts. Die Oberschicht war relativ klein, während sich die Unterschicht vornehmlich aus den Zuwanderern Osteuropas rekrutierte. Das Steueraufkommen der Minorität lag entsprechend drei- bis viermal höher als das der Gesamtbevölkerung. In Berlin stellten sie Mitte der 1920er Jahre 15% aller Steuerzahler und trugen nicht weniger als 30% aller direkten Steuern der Reichshauptstadt.

 Die jüdischen Gemeinden – Strukturen und Binnenprobleme

Dieser statistische Blick von außen ist zu ergänzen durch einem notwendigerweise groben auf die Binnenstruktur der jüdischen Minderheit. Sie fühlte sich durch die neue Verfassung, im Wesentlichen geschrieben vom jüdischen Juristen Hugo Preuß (1860-1925), erstmals in der deutschen Geschichte wirklich anerkannt. Alle Staatsbürger besaßen demnach „ohne Unterschied“ gleiche Rechte, Art. 135 garantierte ferner volle Glaubensfreiheit und eine ungestörte Religionsausübung. Damit waren nicht nur der Sabbat und die Sabbatruhe anerkannt, sondern fanden auch langwierige Debatten, etwa über die Schechita, also das religionskonforme Schlachten, ein vorläufiges Ende. Zudem wurde die jüdische Religion offiziell anerkannt, konnte also wie die christlichen Glaubensgemeinschaften Körperschaften des öffentlichen Rechtes bilden und dadurch staatliche Zuschüsse erhalten. Die Folge war eine institutionelle Neustrukturierung der jüdischen Gemeinden, etablierten sich doch nun Landesverbände als Zusammenschlüsse der lokalen Gemeinden.

Daneben organisierten sich die Juden in sehr unterschiedlichen, sich teils erbittert bekämpfenden Interessenvertretungen. Die wichtigste Organisation war der schon 1893 zur Abwehr des Antisemitismus gegründeten CV, genauer der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er vertrat die große Mehrheit der Minderheit, insgesamt ca. 300.000 Personen. Seine Ziele waren Interessenvertretung und zugleich Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft, sei es durch Aufklärungsarbeit über jüdische Religion und Tradition, sei es durch eigene Publikationen, sei es durch Rechtsbestand. Während der Weimarer Republik unterstützte er zudem finanziell und publizistisch demokratische Parteien, vorrangig die linksliberale DDP, seltener die wirtschaftsliberale DVP. Er stand für die deutschen Juden, genauer für eine deutsch-jüdische Synthese.

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Heimkehr nach Erez Israel: Zionistische Werbefilm (Jüdische Rundschau 34, 1929, 56)

Das erschien den seit 1912 in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland organisierten Zionisten als Verrat an der jüdischen Sache. Sie forderten eine Rückbesinnung auf die Religion ihrer Vorväter und eine Rückkehr des Volkes Israel nach Palästina. Das jüdische Heimatland stand seit 1920 unter einem von britischen Militärs getragenen Völkerbundmandat – und lud die Juden seit 1922 explizit zur Gründung einer neuen Heimstatt, eines neuen Staates Israel ein. Diese Optionen nahmen – trotz der arabischen Bevölkerungsmehrheit und einer sehr schlechten Erschließung des Landes – in den 1920er Jahren mehr als 2.000 deutsche Juden war, doch die Hälfte davon kam wieder nach Deutschland zurück. Insgesamt repräsentierten die Zionisten nur etwa 10% der Juden in Deutschland, doch deren Jugendlichkeit, ein breites Publikationswesen und die Kooperation mit den ausländischen Juden in Deutschland sicherten ihnen beträchtliche Aufmerksamkeit.

CV und Zionisten waren die publizistisch aktivsten Vertreter der jüdischen Minderheit. Daneben war das Alltagsleben durch ein sehr ausgeprägtes Vereinsleben gekennzeichnet. Ein Großteil der Männer war im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten organisiert, hatten doch schließlich 90.000 Juden in der deutschen Armee gedient, deren Verluste mit 12.000 Toten überdurchschnittlich waren.

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Anzeige des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten 1922 (C.V.-Zeitung 1, 1922, 371)

Sie verkörperten das deutsch-nationale Element innerhalb der Minderheit, waren aber strikt republikanisch ausgerichtet, arbeiteten beispielsweise mit dem sozialdemokratischen Reichsbanner zusammen. Ein Viertel der jüdischen Frauen war im Jüdischen Frauenbund organisiert, der soziale Aufgaben in den jüdischen Gemeinden und den jeweiligen Städten übernahm, für eine breitere Berufstätigkeit der Frauen warb und vehement für das Frauenwahlrecht innerhalb der jüdischen Gemeinden eintrat, das insgesamt nur der Hälfte zustand. Das jüdische Vereinswesen etablierte und stützte ihr Milieu, so wie bei anderen gesellschaftlichen Großlagern.

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Sportfest der zionistischen Makkabi-Vereine in Berlin 1929 (Das jüdische Magazin 1, 1929, H. 3, 48)

Es gab jüdische Sportvereine, Bibliotheken, zehn jüdische Gymnasien, 1919 wurde die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gegründet, jüdische Volksschulen, Krankenhäuser, Bibliotheken runden das Bild ab. In Berlin waren Ende der 1920er Jahren 1.500 Personen innerhalb der Gemeinde beschäftigt.

Der Auf- und Ausbau dieser Einrichtungen und Vereine war jedoch zumeist umstritten. Die Konturen und Aufgaben der jüdischen Gemeinden wurden von einzelnen Fraktionen sehr unterschiedlich definiert. CV und liberale Juden verstanden ihre Gemeinden als Religionsgemeinde. Sie hatte sich vor allem um den Gottesdienst und die Weitergabe des Glaubens zu kümmern. Dagegen verlangten die Zionisten eine Fortentwicklung zu Volksgemeinden. Neben die Religionsausübung trat ein strukturell der Arbeiterkultur entlehntes Netzwerk von Selbsthilfevereinen, die für alle Belange des Lebens zuständig waren. Dieser Gegensatz von Religions- und Volksgemeinden basierte auf grundsätzlich unterschiedlichen Vorstellungen vom Judentum. Auf der einen Seite standen die Zionisten und die orthodoxen Juden. Sie verstanden sich selbst als Teil des Volkes Israel, dessen Selbstbehauptung in den jeweiligen Gastländern zentral für die Bewahrung jüdischer Identität war. Auf der anderen Seite stand die Mehrzahl liberaler Juden, für die Judentum eine Religion war, die auf einer gemeinsamen Geschichte basierte. Ihre Identität lag in der religiösen Praxis und ihrer Herkunft, doch parallel war eine enge Anlehnung an die deutsche Kultur und Nation sehr wohl möglich. Gegen diese Idee von Deutschen jüdischen Glaubens setzten die Zionisten eine gemeinsam zu erringende Zukunft, auf die Erfüllung der Verheißungen der Propheten.

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Innerreligiöse Demokratie: Wahlergebnisse in Preußen 1925 (C.V.-Zeitung 9, 1930, 626)

Um diese und andere Fragen wurde intensiv gerungen, Mitte der 1920er Jahre konnten die Zionisten in Kooperation mit den Orthodoxen gar die Gemeindewahlen in Berlin gewinnen. Andere Streitpunkte bildeten das Frauenwahlrecht innerhalb der Gemeinden, wobei Anfang der 1920er Jahre um das aktive, am Ende dagegen um das passive Wahlrecht gerungen wurde. Die Bemühungen fanden ihren Widerhall in der 1935 erfolgten Bestellung von Regina Jonas (1902-1944) als erster Rabbinerin. Erst 2010 folgte mit Alina Treiger eine zweite.

Intensive innerjüdische Debatten gab es auch um die Stellung der ausländischen Juden, auch intern vielfach Ostjuden genannt, die gemeinhin mit Bildern aus dem Berliner Scheunenviertel verbunden werden. Auch hier prallten die Gegensätze strikt aufeinander. Während der CV die traditionelle jüdische Kleidung und Haartracht in der Öffentlichkeit in Frage stellte und die Ostjuden vielfach als fremdländisch wahrnahm, urteilten Orthodoxe und Zionisten deutlich anders. Für sie verkörperten die Zugewanderten noch einen Abglanz des alten Volkes Israel mit seiner Sittenstrenge, seinem Mystizismus, seiner klaren Abgrenzung.

Bündelt man all dies, so erscheint die Binnenwelt des Judentums von all den Konfliktlinien durchfurcht, in denen um Ausmaß und Richtung der Moderne gerungen wurde. Politisch aber engagierten sich in den 1920er Jahren alle Fraktionen für die republikanischen Parteien – und hier vornehmlich für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, seltener die DVP. Die wenigen jüdischen Politiker gehörten entweder der DDP oder aber der SPD an.

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Unterminierung der politischen Repräsentanz der meisten Juden (Kladderadatsch 83, 1930, 32)

Letztere wurde nach dem Niedergang des Linksliberalismus – 1930 fusionierten DDP und der teils antisemitische Jungdeutsche Orden zur Deutschen Staatspartei – zu einer wichtigem Auffangbecken jüdischer Wähler. Diese zogen sich eben nicht in die Wahlenthaltung zurück, sondern unterstützten bewusst sogar das Zentrum, da dieses für die freie Religionsausübung stritt. Das „katholische“ Münster war dafür ein gutes Beispiel.

Erfahrung und Umgang mit dem Antisemitismus

Damit komme ich zum letzten Punkt, zur Erfahrung und zum Umgang mit dem Antisemitismus während der 1920er Jahre. Der gut gemeinte Satz „Als es dann 1930 mit dem Antisemitismus so richtig los ging“ impliziert schon, dass es ihn gab. Er unterschätzt aber, dass dieser sowohl während des Kaiserreichs als auch während der Weimarer Republik allgemein verbreitet war. Er betraf nicht nur das völkische bzw. das konservativ-nationale Milieu. Im katholischen Milieu gab es beträchtliche antijudaistische Vorbehalte, auch in den sozialdemokratischen und kommunistischen Milieus trugen die Zerrbilder des Schiebers und des Kapitalisten jüdische Züge. Im bürgerlichen Lager bestanden beträchtliche antisemitische Ressentiments, die sich etwa in Karikaturen niederschlugen, in denen das Stereotyp der vermeintlich jüdischen Nase fleißig-fröhliche Urstände feierte.

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Alltägliche Diskriminierung (Fliegende Blätter 157, 1922, 145)

Die nationale Opposition denunzierte die Weimarer Republik von Beginn an als „Judenrepublik“, wobei sie sich vor allem auf München und die dortige Räterepublik konzentrierte. Die Gewaltwelle der Jahre 1918/19 hatte immer wieder antisemitische Antriebe. In vielen Tumulten, Hungerkrawallen und Plünderungen waren jüdische Ladenbesitzer Ziele direkter Gewalt. Eine Höhepunkt fanden diese Krawalle des Anfangs mit den Pogromen im Berliner Scheunenviertel im November 1923. Die Versatzstücke des Antisemitismus wurden zu einem Dispositiv, mit dem zugleich Repräsentanten republikanischer Parteien denunziert wurden.

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Denunziation Weimars als „Judenrepublik“ (Kladderadatsch 72, 1919, Nr. 29)

Hier erscheint etwa der frühere katholische Volksschullehrer und damalige Finanzminister Matthias Erzberger (1875-1921) als Rabbi, wobei Antikapitalismus und krude Vorstellungen von Opferlamm und Blutritual eine logikarme, aber offenbar wirkungsmächtige Mixtur eingingen. Erzberger, der auch den Mut hatte, als Leiter der Waffenstillstandskommission am 7. November 1918 die notwendige Unterschrift zu leisten, wurde von völkischen Kreisen ermordet.

Wie aber gingen die jüdischen Organisationen mit dieser andauernden Herausforderung um? Während die Zionisten Antisemitismus als Argument gegen eine mögliche deutsch-jüdische Symbiose verstanden, setzte der CV auf Gegenargumente und eine positive Selbstdarstellung. Typisch hierfür waren Aufklärungsbroschüren, Hinweise auf die von Juden für ihr Vaterland Deutschland erbrachten Opfer oder aber Listen mit den Namen führender jüdischer Kulturschaffender, Wissenschaftler und Unternehmer.

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Broschüre gegen die Blutrituallüge bzw. Gedenkstein für gefallene jüdische Soldaten in Laupheim 1929 (C.V.-Zeitung (Monatsausgabe) 1929, Nr. 6, 45 (l.), ebd., Nr. 10, 70)

Diese Gegenmaßnahmen bewirkten wenig. Im Gegenteil: Auch während der sog. Stabilisierungszeit war Gewalt gegen Symbole jüdischen Lebens und jüdischen Glaubens ein dauerhafter Begleiter im Alltag. Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Friedhofsschändungen völkischer „Aktivisten“. Der CV brandmarkte dies als kulturlose Schandtat, appellierte wieder und wieder an die Landes- und Reichsregierungen, gab eigene Broschüren heraus. Die Gewalt aber ging weiter.

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Verwüsteter jüdischer Friedhof in Erfurt 1926 und Statistik der Friedhofsschändungen im Deutschen  Reich 1923-1932 (C.V.-Zeitung (Monatsausgabe) 1926, Nr. 3, 21 (l.), ebd. 1932, Nr. 7, 40)

Ende der 1920er Jahre vermehrte sich zudem der wirtschaftlicher Druck auf die jüdische Minderheit, wobei die mittelständische Agitation des späten Kaiserreichs die Blaupause bot. Typisch waren etwa Flugblätter, in denen deutsche und jüdische Geschäfte gegenüber gestellt wurden, um so den Volksgenossen Handlungsanleitungen an den Tag zu legen. Seit der Weltwirtschaftskrise intensivierte sich die Propaganda für deutsche – und das hieß stets auch nichtjüdische Geschäfte und Waren. 1930 gab es allen deutschen Großstädten sog. Deutsche Wochen. Braune Wochen schlossen sich dann an.

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Wirtschaftliche Agitation mittelständischer Kaufleute gegen ihre jüdische Konkurrenz in Osnabrück 1928 und Spott über derartige Umtriebe 1930 (Martina Krause und Michael Gander, „Arisierung“ des jüdischen Handels und Handel mit jüdischem Besitz im Regierungsbezirk Osnabrück, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich, Bramsche 2000, 226-243, hier 228 (l.); Der Wahre Jacob 51, 1930, Nr. 25)

Ein kurzer Blick noch auf die Reaktionen der meisten Juden auf diese Formen direkten Antisemitismus. Die generationsübergreifenden Erfahrung von Diskriminierung erklärten während der 1920er Jahre die meisten Juden mit Vorurteilen und mangelhaften Kenntnissen über ihre Religion. „Der Erbfeind des Judentums ist die Halbbildung“ hieß es entsprechend. Auch die innere Fraktionierung des Judentums hatte hieran ihren Anteil, entsprechend sah man vor allem die sog. Ostjuden im Fokus des Antisemitismus, der den etablierten steuerzahlenden Juden nicht galt. Teilweise wurden gar Teile der antisemitischen Propaganda bejaht, etwa die Kritik an der Börsenspekulation oder aber an einem überbordenden Materialismus.

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Antisemitische Tropen links und rechts: Kampf gegen Börse und Großkapital (Kladderadatsch 84, 1931, Nr. 5 (l.); Der Rote Stern 1929, Nr. 171 v. 5. September, 4)

Generell übernahmen und praktizierten deutsche Juden vermeintlich deutsche Tugenden in besonderem Maße. Die Dumpfheit des plärrenden Antisemitismus führte zur kulturellen Verachtung seiner Propagandisten, die mit einer Geringschätzung ihrer Negativmission einherging. Im Alltagsleben entwickelte man Strategien, um mit Antisemiten und Antisemitismus nicht direkt in Kontakt treten zu müssen. Dieser traf weniger die Erwachsenen, sondern häufiger qua Schule die Kinder. Die lange Erfahrung von Antisemitismus machte es außerdem möglich, seine Erscheinungsformen als zeitlich vorübergehend zu verstehen – die Krawalle des Anfangs 1918/19 hatten sich in dieser Intensität nicht wiederholt, die damalige völkische Mobilisierung hatte man überstanden. Außerdem setzte man auf die persönlichen Alltagserfahrungen mit vielen nicht antisemitisch gesinnten Deutschen. Dies umgriff zu Beginn der Republik auch zahlreiche Vertreter linker und liberaler Parteien sowie kleiner Teile des Zentrums. Die Zeitgenossen haben die Verschärfungen, die der Terror der NSDAP ab 1930 mit sich brachte, nicht als existenzielle Bedrohung gesehen. Wegsehen und Bildungsdünkel, das Vertrauen auf Recht und Logik, verfehlte historische Deutungen und das Setzen auf die deutschen Freunde waren dafür ursächlich.

Bevor „es dann 1930 mit dem Antisemitismus so richtig los ging“…

Vielleicht verstehen Sie nun, warum mich der Ausgangssatz irritierte. Gut gemeint, schielte er doch, blendete die Alltagsrealität jüdischen Lebens in der Weimarer Republik vielfach aus, blieb in der Wunschwelt einer gelungenen deutsch-jüdischen Symbiose stecken. Fassen wir die Aussagen zusammen, so zeigt sich ein differenziertes Bild: Die jüdische Minorität war erstens gewiss einzigartig, blickt man auf ihren speziellen Beitrag zur Kultur und Wirtschaft der Weimarer Republik. Sie war zugleich aber gekennzeichnet durch tiefgreifende innere Kämpfe, in denen Fundamentalisten gegen Vertreter des Pluralismus, Pragmatiker gegen Visionäre, Ostjuden gegen Deutschnationale standen. Die Lebenswelten waren abseits der Kerngruppe des mittleren Bürgertums äußerst unterschiedlich – und in vielem erinnert die Zerrissenheit der Minorität an die Zerrissenheit der gesamten Weimarer Gesellschaft. Und doch, im Angesicht der gemeinsamen Bedrohung war sie gleichwohl, wenngleich defensiv in der Grundhaltung, zu gemeinsamem Handeln auch über die Kampflinien des Alltags hinaus fähig. Damit legte sie im Angesicht der Bedrohung eine relative Einigkeit an den Tag, an der es der deutschen Mehrheitsbevölkerung mangelte.

Zweitens war die jüdische Minderheit die prononcierteste Verfechterin der Weimarer Republik und ihrer liberalen Verfassung. Sie wählte demokratisch, war im Angesicht der Bedrohung durch den Nationalsozialismus aber auch willens, Parteien zu wählen, die ihren wirtschaftlichen und religiösen Interessen kaum entsprachen, also die SPD und teils das katholische Zentrum. Dies verdeutlicht Lernprozesse und einen pragmatischen Realismus, der wiederum der Mehrzahl der Bevölkerung nicht zu eigen war.

Damit war die jüdische Minderheit, drittens, von einem Dualismus geprägt, wie er in modernen Gesellschaften erforderlich ist, um Einheit und Kontroverse zugleich zu gewährleisten. Innerjüdische Dispute gingen einher mit dem gemeinsamen Eintreten für die Republik. Dies ist wichtig für das Verständnis der eigenartigen deutsch-jüdischen Lebenswelt. Die jüdische Minderheit reproduzierte in ihren inneren Kontroversen die gängigen Ängste und Hoffnungen der Mehrheitsgesellschaft. In ihrem Wahlverhalten und der gemeinsamen Abwehr des Antisemitismus manifestierten sich dagegen die spezifisch jüdischen Ängste der Minderheit selbst. Sie spiegelt daher die Verwerfungen der Republik, doch zugleich steht ihr Handeln konträr zu der fehlenden Fähigkeit der meisten Nichtjuden diese Verwerfungen innerhalb eines pluralistischen demokratischen Systems zu überbrücken.

Uwe Spiekermann, 31. August 2021

 

PS Wer über die hier entwickelten Grundkonturen hinaus weiterlesen möchte, dem empfehle ich Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1913, Frankfurt a.M. 2011; Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000; Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003 und Bernard Wasserstein, On the Eve. The Jews of Europe Before the Second World War, New York 2012.