Neuntausend Kilometer mit dem Flugzeug, dann nochmals achthundert mit dem Auto: Der Aufwand war groß, um einen kleinen Ort mit etwas mehr als zweitausend Einwohnern zu besuchen. Doch als ich im Februar hörte, dass in Campo, Kalifornien, der hundertste Jahrestag der Vollendung der „unmöglichen“ Eisenbahn von San Diego nach El Centro, Arizona, gefeiert werden würde, war klar: Ich musste dabei sein.

Stationen der San Diego & Arizona Railway 1919 (San Diego & Arizona Railway, Werbebroschüre 1921, s.p.)
Warum? Es ging um ein Versprechen, ein Familientreffen und das Reenactment als solches. Das Versprechen stammte von John D. Spreckels (1853-1926), dem Präsidenten der San Diego & Arizona Railway. Als der deutsch-amerikanische Unternehmer am 15. November 1919 einen goldenen Nagel in die letzte verbindende Bohle der von Westen und von Osten vorangetriebenen Teilstücke der neuen Bahnlinie schlug, war dies mehr als eine symbolische Handlung. San Diego erhielt damit einen weiteren, nicht mehr über Los Angeles führenden Zugang zum Transkontinentalnetz. Sein in Wüstengegenden liegendes Hinterland konnte nun gezielt erschlossen werden, Touristen aus dem Osten schneller nach San Diego gelangen. Wieder und wieder waren ähnliche Eisenbahnprojekte gescheitert, 1893 etwa eine Bahnlinie von Phoenix nach San Diego. Spreckels hatte die auch über mexikanisches Gebiet führende Linie 1906 gemeinsam mit dem Bahnriesen Southern Pacific begonnen, doch letzterer stellte 1909 seine Zahlungen ein. Statt abzubrechen, übernahm Spreckels, „let me do it“ (San Diego Union 1919, Ausg. v. 16. November, 1). Dankbarkeit paarte sich mit hohen Erwartungen: „Every man, woman, and child in San Diego, Cal., is looking to him to give that town its first direct railroad connection with the east” (Chicago Daily Tribune 1909, Ausg. v. 15. August, 8).

Ikonographischer Moment: John D. Spreckels schlägt den „Golden Spike“ ein, Carrizo Gorge, 15. November 1919 (Programmbroschüre Gold Spike Centennial, Campo Railroad Park & Museum, 2019 (l.); San Francisco Chronicle 1919, Ausg. v. 5. Dezember, 16)
Dreizehn Jahre lang wurde eine 148 Meilen lange Eisenbahnlinie durch arides Ödland, durch Granitfelsen und unerschlossene Canyons vorangetrieben, obwohl sich in dieser Zeit die Rahmenbedingungen für den Gütertransport grundlegend änderten. Lastwagen und Straßenbau traten damals an die Seite der zuvor unangefochten dominierenden Eisenbahnen. Die San Diego & Arizona Railway war schon bei der Eröffnung 1919 obsolet, Gewinne waren nicht zu erwarten. Spreckels wusste dies – und dennoch pumpte er einen beträchtlichen Teil seines Milliardenvermögens in dieses Unternehmen. Die Eisenbahn war für ihn Schlusspunkt eines Konzeptes, das San Diego, um 1900 ein Städtchen mit 17.700 Einwohnern, zur führenden Metropole Südkaliforniens machen sollte. Gemeinsam mit seinem Bruder Adolph B. Spreckels (1857-1924) hatte er seit den späten 1880er Jahren Grundstücke und Land aufgekauft, übernahm und modernisierte die Straßenbahn, die Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung, baute den Hafen aus, leistete sich zwei Tageszeitungen, errichtete Geschäftshäuser, Hotels und Theater und vieles andere mehr. San Diego war eine „one-man-town“, sollte sich aber häuten, hin zu einer wirtschaftlich prosperierenden und zugleich touristisch attraktiven Stadt. Wagemut und Paternalismus kamen zusammen, fügten sich zu einer Booster-Town, größenwahnsinnig und profitabel zugleich.

Ein alter Mann erfüllt sein Versprechen: John D. Spreckels im Führerhaus einer Lok der San Diego & Arizona Railway, wohl 1919 (H. Austin Adams, The Man John D. Spreckels, San Diego 1924, nach 274)
Doch da war mehr als einem deutsch-amerikanischen Einwandererunternehmer Referenz für sein gehaltenes Versprechen zu erweisen. Die Historikerin Sandra Bonura, die im nächsten Jahr eine Biographie über John D. Spreckels veröffentlichen wird, hatte schon 2018 zahlreiche Nachfahren der Spreckelsfamilie in Coronado zusammengebracht. Nun hatte sich abermals ein knappes Dutzend angesagt. Obwohl ich die Geschichte der Familie schon seit Jahren erforsche und 2021 eine Familienbiographie vorlegen möchte, hatte ich bis dato Distanz zur Familie gehalten. Doch eine derart einfache Begegnung reizte mich.
Schließlich war ich gespannt, wie man diesen Jahrestag vor Ort begehen würde. Im Februar hörte ich das Zauberwort „Reenactment“, also das Nachspielen eines historischen Ereignisses. Wer je auf dem denkmalgesprenkelten Terrain in Gettysburg oder auch den Feldern westlich von Königgrätz herumgewandert ist, verbindet damit Schlachtenlärm, Männer in frisch geschneiderten Uniformen, auf schneidigen Pferden, Gewehrsalven und Geschützlärm. In Campo aber ging es um das Reenactment eines zivilen Ereignisses. Das wollte ich, als Zuschauer, miterleben. Als Historiker reizte mich zudem die damit verbundene Erkundung von Vergangenheit. Es war der britische Philosoph Robin George Collingwood (1889-1943), der in seinen 1919 erschienenen „Principles of History“ eine bis heute nachwirkende Theorie des „Reenactment“ vorstellte. Ihm ging es um die Kernfrage, wie man Vergangenheit erforschen und erfahren kann. Der Historiker, so Collingwood, „must re-enact the past in his own mind“ (Robin George Collingwood, Principles of History, Oxford 1919, 282). Wie schon Geschichtsphilosophen vor ihm, etwa der Stammvater der Hermeneutik Johann Gustav Droysen (1808-1884), grenzte er historische Arbeit strikt von naturwissenschaftlicher ab. Das Nachbilden sei situativ, ziele auf Gedanken und Handlungen, Ereignisse und darin eingebettete Emotionen. Es sei keine rein abstrakte Tätigkeit, kein Nachkauen im Geiste. „Reenactment“ sei praktisch, interessiert an der Logik und dem Ablauf des Geschehens, wohl wissend, dass ein vollständiges Nachempfinden ebenso wenig möglich sei wie eine im engen Sinne kausale Erklärung historischer Vorgänge.
Das Gold Spike Centennial in Campo, Kalifornien
Mir war klar, dass sich jedes Reenactment auf wesentliche Aspekte konzentrieren muss. Abstriche waren zu machen: Die Veranstaltung fand am 16. November 2019 statt, nicht am 15. Ein gutes Abendessen im ehedem Spreckelschen Hotel del Coronado tröstete darüber hinweg, eingeleitet mit einem Champagner-Toast der Historikerin Reena Deutsch. Auch der Ort war ein anderer: 1919 hatte der Sonderzug aus San Diego nicht nur 750 Gäste an Bord, sondern hielt in Carrizo Gorge, dem wohl spektakulärsten Teil der „unmöglichen Eisenbahn“. Das Reenactment 2019 fand dagegen westlich davon, in Campo, statt.
Dort gab es eine Dependance des Pacific Southwest Railroad Museums, einer 1961 im kalifornischen La Mesa gegründeten gemeinnützigen Institution. In Campo hatten Eisenbahnenthusiasten 1980 begonnen, einerseits die Geschichte der San Diego & Arizona Railway aufzuarbeiten, anderseits Lokomotiven, Wagons, Gebäude und Maschinen und Objekte zu sammeln und funktionsfähig zu halten. Sie konnten dazu Teile des früheren Camp Lockett nutzen, einer 1941 gegründeten Kaserne für die letzten Kavallerieeinheiten der US-Army. Schon in den späten 1870er Jahren und während des Ersten Weltkriegs waren in Campo Einheiten zur Grenzsicherung stationiert. 1944 wurden die US-Truppen abgezogen, Camp Lockett dann als Armeelazarett und Kriegsgefangenenlager weiterverwendet. Ab 1944 beherbergte es italienische und deutsche Soldaten, größtenteils Gefangene der Kämpfe in Nordafrika. Das Pacific Southwest Railroad Museum in Campo wird durchweg von Freiwilligen betrieben und ausgebaut. Für sie war das hundertjährige Jubiläum der Höhepunkt einer bemerkenswerten Aufbauleistung, die das ganze Jahr über gefeiert wurde. Als sich verschiedene Besucher aus den urbanen Zentren der Pazifikküste darüber mokierten, nun „in the desert“ gelandet zu sein, konnte ich mein Befremden hierüber kaum unterdrücken. Ehrenamtliche Passion ermöglichte in der Wüste schließlich etwas, was in der Millionenstadt San Diego nicht möglich gewesen wäre.
Vor Ort erwartete Besucher ein breit gefächertes Programm. Clowns und der Quacksalber Dr. Lunar sorgten für Kinderbelustigung, die Beköstigung war erwartungsgemäß fleischlastig, umgriff aber auch Veggie Burger. Zahlreiche Geschichtsvereine präsentierten ihre Arbeit, zielten nicht vorrangig auf den Verkauf von Druckwerken, sondern auf Engagement vor Ort. Darunter war auch die San Diego Electric Railway Association, die bald eine zweite „Original“-Straßenbahn restauriert und fahrfähig gemacht haben wird. John D. Spreckels hätte daran wohl seine Freude gehabt. Gemeinsam mit seinem Bruder Adolph B. hatte er 1891 die San Diego Electric Railway Company gegründet, die seine Erben 1948 schließlich verkauften. Wer lediglich schauen wollte, kam ebenso auf seine Kosten: Eine Oldtimerparade präsentierte Modelle aus der Zwischenkriegszeit, auch Traktoren durften nicht fehlen. Bands spielten auf, alte Weisen des Westens wurden gesungen, ab und an unterbrochen vom Pfeifen der Eisenbahnhörner. Weit über hundert Gäste starteten am Morgen zu einer ersten Fahrt in historischen Wagons der San Diego & Arizona Railway, am Nachmittag, nach dem „Golden Spike Reenactment“, sollte eine zweite folgen.

Gedenktafel der Native Sons of the Golden West, Campo, Kalifornien
Nicht alles verlief wie geplant. Die Native Sons of the Golden West sollten am Morgen eigentlich eine bronzene Gedenktafel der Jahrhundertfeier einweihen, doch diese war leider vergessen worden. Daher verschob man die Zeremonie auf den frühen Nachmittag, unmittelbar vor das eigentliche Reenactment. John D. Spreckels, geboren in Charleston, South Carolina, war nie Mitglied gewesen. Doch es ist unstrittig, dass er die Brüderschaft seit der Jahrhundertwende wiederholt unterstützt hatte. Die 1875 in San Francisco gegründeten Native Sons (Töchter folgten 1886) waren eine konservativ-nativistische Brüderschaft gebürtiger Kalifornier, deren Ziel die Bewahrung des Geistes der Pioniere von 1849 war. In der Zwischenkriegszeit agierte sie nationalistisch und rassistisch, grenzte sich strikt gegen Nicht-Weiße und Migranten ab. Heutzutage handelt es sich um eine patriotische Gesellschaft, gesellig und eine zentrale Stütze der Pflege des historischen Erbes Kaliforniens.

Führende Mitglieder der Native Sons of the Golden West während des einführenden Gebetes
Die Zeremonie begann mit einem Gebet, es folgten kurze, prägnante Ansprachen. Sie füllten das Motto der Organisation aus, „Loyalty, Friendship und Charity“. Von der alten Zeit war die Rede, den Gründungsjahrzehnten Kaliforniens, dem Pioniergeist dieser Tage. Mensch stand gegen Natur, sie zu zwingen war und ist Aufgabe. Wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand für alle seien die Folge. Kaliforniens Demokratie wurde hochgehalten, die Verantwortung des Einzelnen für das Wohlergehen aller beschworen. Zu spüren war etwas von einem Gemeinwesen, das auf Familie, Nachbarschaft und Gemeinden gründet. Das nicht immer nach dem Staat ruft, sondern diesen formt und lebt: „America! America! God mend thine every flaw, Confirm thy soul in self-control, Thy liberty in law!“ Mit der heimlichen Hymne „America the Beautiful“ endete die Zeremonie.

Wiederaufnahme des Eisenbahnverkehrs?! Ansprache von Manuel Herandez (Baja California Railroad) während der Grußworte
Das Vorprogramm ging weiter. Natürlich, Offizielle kamen zu Wort, mussten zu Wort kommen: Die Präsidentin des Eisenbahnmuseums, Repräsentanten der lokalen Verkehrsgesellschaften, die demokratischen Repräsentanten von Stadt, Bezirk, Staat und dem US-Senat. Das war wichtig für das Museum, denn Zuschüsse sind für dessen Betrieb unabdingbar. Doch es war auch wichtig für Stadt und Region. Die San Diego & Arizona Railway transportierte bis 1951 Passagiere, das Frachtgeschäft wurde 1983 eingestellt. Kleine Teile der Bahnlinie sind bis heute in Betrieb, darunter die in Mexiko gelegenen vierundvierzig Meilen von Tijuana bis Tecate, die 1970 verkauft worden waren. Die mexikanische Baja California Railroad will denn ab 2020/21 den Verkehr auch auf amerikanischer Seite wieder aufnehmen. Unterstützer und Fürsprecher sind dafür nötig; und die anwesenden erhielten warmen Applaus, ging es doch, wie 1919, um die Verkehrsanbindung der Region.

Die Akteure von 1919: Einstimmen auf die Ansprachen während der Intonierung der US-Nationalhymne
Nun konnte das eigentliche Reenactment beginnen. Die Szenerie folgte der detaillierten Schilderung in der San Diego Union vom 16. November 1919. Dort wurden Bilder veröffentlicht, ebenso die Kernelemente der Reden. Herren beherrschten die Szene, gekleidet in eleganten schwarzen Anzügen und den hohen, fast spitz zu nennenden Hüten dieser Zeit. Die Zeitung gehörte John D. Spreckels, sie präsentierte seine Deutung des Ereignisses. In Campo aber hatte man zwei Elemente vorgeschaltet: Zum einen fuhren Gleisarbeiter mit einer Draisine vor, verlegten die letzte Bohle, bereiteten den Spreckelsschlag vor. Zum anderen wurden die anwesenden Herren kurz mit einem herbeigelaufenen Arbeiter konfrontiert, der die Mühen der Konstruktion beschwor. Nein, von Arbeitsunfällen sprach er nicht, auch nicht vom Wassermangel auf den Baustellen. Doch er gab zumindest eine Idee davon, dass hier „Unmögliches“ gewagt und auch erreicht wurde.

Zum Einstimmen: Begleitbroschüre mit dem „San Diego Progress“-Marsch von Esther M. Bush
Die zuvor präsentierten Photos geben natürlich kein Abbild der Veranstaltung, sind auch nicht sinnlich genug. Denn das Reenactment wurde von Musik begleitet: Die San Diego City Guard Band spielte patriotische und beliebte Weisen. Ein Kalliope-Musikwerk ergänzte sie. Schon wieder also „deutsche“ Reminiszenzen, wurde die Kalliope Musikwerke AG doch 1898 in Leipzig gegründet. Ihre mechanischen Spielwerke waren auch in den USA erfolgreich. John D. Spreckels, Musikliebhaber und passionierter Orgelspieler, wird sie gekannt haben. Musik war aber nicht allein Beiwerk, emotionale Umrahmung. Musik spielte nämlich 1919 eine wichtige Rolle während der Einweihungsfeier. Eigens komponiert und aufgeführt wurde der Marsch „San Diego Progress“ von Esther Mugan Bush, einer lokalen Repräsentantin der leichten Muse. Das Lied behandelt vornehmlich das wundervolle Wetter in San Diego, die dort stets blühenden Blumen, den fantastischen Hafen und die verheißungsvolle Zukunft: „Prosperity has come to stay In San Diego at the Sea“. Die Veranstalter hatten Text und Musik eigens verteilt, doch es lag sicher nicht an der mit Verve spielenden Band, dass die Besucher nicht mitsangen. Das galt auch für zeitgenössische Schlachtrufe zu Ehren des Eisenbahndirektors: „What’s the matter with John D.? He’s all right! What’s the matter with John D.? Out of Sight! He’s a live on and full of vim, Now take it from us, we’re strong for him!“ Dennoch: Musik und Gesang prägten die Feier 1919; und sie erst gaben dem Reenactment ein Gefühl nachfolgender Anwesenheit.
Die Reden der schauspielenden Freiwilligen führten zurück in die Situation 1919. Der Weltkrieg war gewonnen, die scharfen Auseinandersetzungen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten überwunden. Die Kriegskonjunktur war Labsal für San Diego, das sich endgültig als Standort der US-Navy and der Marineflieger etablierten konnte. 1917 hatte John D. Spreckels den nördlichen Teil von Coronado an den Bundesregierung verkauft, bis heute ankern dort Flugzeugträgergruppen der amerikanischen Streitkräfte. Die Redner blickten allesamt nach vorn. Die Mühen der Bauphase, der zahlreichen Brücken und der einundzwanzig durch Felsen gesprengten Tunnel, sie verblassten angesichts einer verheißungsvollen Zukunft. Das brachte Juan P. Quemper, Richter im mexikanischen Tecate, salbungsvoll zum Ausdruck: „You have made possible dreams of long ago; you have brought into realization hopes born and cherished at the warmth of civilization. Yours is a brotherly work, yours is a patriotic and noble impulse, which will start a new era of development and betterment which will reach from one end of our country to the other. […] If God Almighty made us forever neighbors, let Him make us forever friends“ (San Diego Union 1919, Ausg. v. 16. November, 3). Auch Esteban Cantu, Governor von Baja California, unterstrich den Gedanken der Völkerfreundschaft, könne die Bahn doch Menschen miteinander verbinden, durch persönlichen Kontakt Vorurteile abbauen und diese durch Kenntnisse ersetzen. Die amerikanischen Vertreter legten größeren Wert auf die Erschließung des fruchtbaren Imperial Valley und den rascheren und preiswerteren Transport gen Osten. Der Reigen der Reden wurde beendet von David W. Pontius, dem General Manager der Bahnlinie und zugleich Repräsentanten der Southern Pacific. Spreckels wurde gelobt, doch alle Anwesenden wussten, dass man ohne das neuerliche Engagement des Bahngiganten die Linie zu diesem Zeitpunkt nicht hätte abschließen können. Dessen Kapital und Expertise brachten das Unterfangen nach der Überschwemmung von Gleisen und Depots 1916 wieder nach vorn, erlaubten zudem Sondergenehmigungen, um den Bau auch während des Weltkrieges fortzusetzen. Pontius dankte allseits, doch als er endete, brach 1919 die Menge los: „Let’s see it!“

Der Darsteller von Generalmanager David W. Pontius, Bruce Semelsberger, zeigt der Menge den „Golden Spike“
In Campo waren die Anwesenden zurückhaltender, das Rufen übernahmen die Darsteller der Offiziellen. Der „Golden Spike“, ehedem $286 teuer, nach der Feier wieder in sicheres Gewahrsam gebracht und 1967 (zusammen mit den Archivalien der Bahnlinie) der University of California, San Diego übergeben, war wahrlich ein Hingucker. Seit der Zusammenführung der Linien der Union Pacific und Central Pacific zur ersten Transkontinentalstrecke 1869 gehörte ein derart blinkendes Stück Metall zum Inventar fast aller größeren Eisenbahneinweihungen. In Campo kam eine Nachbildung zum Einsatz, doch instinktiv begriff nun jeder, um was es hier ging: Den Schlussakkord eines großen Unterfangens.

Auftritt und Rede von „John D. Spreckels“
Noch fehlte John D. Spreckels. Er kam in Gestalt von Jake Schaible, eines jovialen Deutschamerikaners, Mitglied des vierköpfigen Organisationskomitees der Jahrhundertfeierlichkeiten. Er hatte Spaß, er konnte mitreißen. Seine Rede war verhalten, Dank klang an, Stolz darauf, sein Versprechen gehalten zu haben. Spreckels war 1919 ein alter Mann, gezeichnet von Krankheiten, nicht mehr der 1,80 Meter große blonde Modellathlet früherer Zeiten. Er konnte nicht mehr kraftvoll und zielgenau zuzuschlagen. Den Nagel traf er erst im dritten Anlauf, Anwesende lachten spöttisch.

Der „Golden Spike“ an seinem Bestimmungsort

„John D. Spreckels“ vor dem ersten Schlag
Das Reenactment nahm dieses auf. Der Darsteller schlug zu, fehlte, nahm abermals Schwung, traf, trieb den Nagel nun mit zwei weiteren Schlägen in den Bohlengrund. So hatte man es sich wohl vorgestellt, das virile Ende eines Projektes, dessen Erledigung in San Diego seit Jahrzehnten herbeigesehnt wurde.

„John D. Spreckels“ schlägt den „Golden Spike“ in die letzte Bohle ein

„Well done, Mr. Spreckels“
Beifall brandete auf, die Dramaturgie riss mit, die Besucher fühlten mit dem Akteur, teilten dessen Freude, mochte sie denn auch nur gespielt sein. Anschließend waren alle eingeladen, sich in einem Panoramaphoto zu verewigen. So war es auch 1919. Wir schritten voran, reihten uns ein, standen neben einem mit Kokarden und Flaggen geschmückten Zug. Weitere Photos wurden gemacht, das Reenactment war vorüber.
Nun ja, nicht ganz. Denn es stand noch eine Bahnfahrt auf historischer Trasse an, in rollfähigen Wagons der San Diego & Arizona Railway. Gegen mein Naturell hatte ich 1. Klasse geordert, gemeinsam mit Mitgliedern der Spreckelsfamilie. Es wurde eine gemächliche Fahrt, nicht schneller als 30 Meilen die Stunde. Die Landschaft war karg und felsig. Die Sonne brannte, Wind machte sie erträglich. Eine Rundtour aber war es nicht. Die Reise endete an der mexikanischen Grenze. 1920 brauchten Passagiere keinen Ausweis, wenn sie die zwischen Mexiko und den USA oszillierende Linie nutzten. Während der Prohibition ermöglichte die lange Fahrt durch Mexiko „nasse“ Freuden. Heute ist all dies anders. Hundert Jahre Fortschritt… Wir kehrten um, zurück nach Campo. Am Grenzzaun war das Nachspielen endgültig zu Ende gegangen.

Die Grenze zwischen den USA und Mexiko nahe Tecate
Ein Familientreffen der Spreckels
Die Rücktour erlaubte weitere Gespräche mit den Mitgliedern der Spreckels-Familie. Die meisten waren Nachfahren von John D. Spreckels, fast durchweg noch an der Westküste ansässig. Sandra Bonura hat all dies ermöglicht, hat die aufgrund einer alten Familienfehde entfremdeten Nachfahren der unterschiedlichen Familienteile wieder zusammengebracht.

Eintreffen von Spreckels-Nachfahren. In der Mitte Sandra Bonura, links Stefanie Waske
Die Nachfahren kamen gern nach Campo, wurden so dessen gewahr, was einer der Ihren einst angestoßen und vollendet hatte. Genauere Kenntnisse der Familiengeschichte hatten sie jedoch nicht. Im Familienbesitz sind noch zahlreiche Photoalben, vereinzelt gibt es auch historische Ausarbeitungen zur eigenen Geschichte. Schriftquellen sind eher rar gesät.

Gruppenbild mit Spreckels-Damen und einem historischen Porträt von Claus Spreckels, der Lamstedt 1846 verließ (Photo: Stefanie Waske)
Dennoch ist ein solches Treffen auch für einen Historiker anregend. Man kann etwas lernen über Familiennarrative, über gängige Anekdoten und Erinnerungen, auch über nicht Sagbares. Man lernt mehr über Empfindlichkeiten, über das Verblassen historischer Größe und Bedeutsamkeit. Klar wird auch, stärker noch als im Quellenstudium privater Aufzeichnungen, dass die eigene Arbeit direkt bedeutsam sein kann, nicht nur analytisch korrekt. Sie gleicht einem scharfen Schwert: In einem Tage zuvor in Napa geführten Gespräch kam die Rede auf die Zuckerraffinerie von Claus Spreckels (1828-1908) in San Francisco, dem Vater von John D. Meine Gesprächspartnerin fragte, ob ich diese denn schon besucht habe. Ich verneinte, schließlich sei sie vor längerer Zeit abgetragen worden. Doch, sie liegt in Crockett. Meine Mutter hat sie uns immer gezeigt, wenn wir die Bay südlich von Vallejo überquerten. Nein, das war die Konkurrenz, war meine wehmütig korrekte Antwort. In der Tat, die 1906 von hawaiianischen Zuckerpflanzern gegründete C & H Sugar Company sollte das Monopol der Spreckelsfamilie brechen. Ich zerbrach so das familieninterne Bild vom immer noch sichtbaren Erbe.
Die andere Wahrheit des Reenactment
Damit sind wir wieder zurück beim Reenactment. Ebenso wie das Gespräch mit Nachfahren hat auch das Nachspielen historischen Geschehens eine eigene Logik. Sie liegt nicht in der korrekten Widergabe von Vergangenem. Wäre dem so, so wäre die Feier in Campo eine Ansammlung von Fehlern: Ort und Zeit falsch, vor allem aber die Zusammenführung von klar voneinander zu scheidenden Ereignissen (vgl. Patrick W. O’Bannon, Railroad Construction in the Early Twentieth Century: The San Diego and Arizona Railway, Southern California Quarterly 61, 1979, 255-290; Robert M. Hanft, San Diego & Arizona: The Impossible Railroad, Glendale 1984; Reena Deutsch, San Diego and Arizona Railway: The Impossible Railroad, Charleston 2011; Wayne M. Scarpaci, San Diego and Arizona Eastern motive power and equipment, Gardnerville 2017).
Der Festzug, der am 15. November 1919 den 1913 von der Santa Fe neu errichteten Bahnhof um 6.50 Uhr mit ca. 600 Passagieren gen Osten verließ (National City News 1919, Nr. 46 v. 21. November, 1), hielt zuerst im mexikanischen Tecate, wo Richter Quemper seine Rede hielt. Mittags traf man in Jacumba, 20 Meilen östlich von Campo, mit 150 Repräsentanten aus dem Imperial Valley zusammen, nahm ein Mittagessen zu sich und brach dann gemeinsam auf, um im nahegelegenen Carrizo Gorge die Eröffnungszeremonie zu begehen. 18 Uhr lief der Sonderzug wieder in San Diego ein.

Ziel der neuen Eisenbahn: Die Entwicklung von Imperial Valley (San Diego Union. Annual Edition 45, 1914, s.p. [60])

Das Profil der „impossible railroad“ 1919 (Los Angeles Times 1919, Ausg. v. 15. November, 13)
Wichtiger als derartige Detailkritik war das Ausblenden des historischen Kontextes, sei es das schwierige Verhältnis von Southern Pacific und der Spreckelsfamilie, sei es die strategische Bedeutung der Eisenbahn für eine wehrhafte USA. Die Golden Spike-Zeremonie war zugleich nur der Auftakt für zahlreiche Festivitäten, die am 1. Dezember in San Diego einsetzten, als der erste Passagierzug in San Diego eintraf. Vier Tage lang feierten ca. 25.000 Menschen, jeder Tag stand unter einem eigenen Motto. Am Flugtag stiegen mehrere hundert Maschinen hoch, manifestierten die Geburt eines neuen Zeitalters. Der Großraum von San Diego beherbergt heute knapp fünf Millionen Menschen, mehr als der von Berlin. John D. Spreckels genoss seine Rolle als „City-Builder“. Doch er wusste um die Probleme der Eisenbahn. In seiner Rede anlässlich des Festdiners der Stadt am 1. Dezember hieß es: „The road is built. It is at your service. […] It is now up to the people of San Diego to go ‘over the top,’ and get all they can for their city” (San Diego Weekly Union 1919, Ausg. v. 4. Dezember, 6). Die Resonanz blieb verhalten, die Geschichte der San Diego & Arizona Railway war verlustreich. Die Spreckelsfamilie verkaufte ihre Anteile 1932, konnte sich die Bahn nicht mehr leisten. 18 Millionen Dollar waren investiert worden, am Ende war der 50%ige Anteil noch 2,8 Millionen Dollar wert.
All dies sind gewiss wichtige Einwände gegen die „Wahrheit“ des Reenactment. Doch sie treffen nicht den Kern, also das Nachspielen einer historischen Situation. Das Ausblenden des Kontextes und der Nachgeschichte sind vielmehr konstitutiv für diese Form historischen Wissens. Es geht um konkrete Situationen, hier also um den Tag des eingelösten Versprechens. Allen „Fehlern“ zum Trotz wurde deutlich, dass im Gelingen eine eigene Logik lag, eine in der Feier geteilte Freude, vielleicht auch nur Erleichterung. Mochte diese auch eine freundliche Morgengabe der Manager der Southern Pacific an den Unternehmer Spreckels gewesen sein, so wurde die Situation doch anders bewertet, erlebt und wahrgenommen. Das Reenactment machte deutlich, wie ein Traum gelingen kann und welche Kräfte der Weg dorthin freizusetzen vermag. Es kennzeichnet einen Überschuss, den eine rein analytische Geschichtswissenschaft kaum einzufangen vermag. Zwischen den „Fakten“ stecken Träume und Albträume, Hoffnungen und Enttäuschungen. Um das zu visualisieren, hilft ein Blick auf die Werbung der San Diego & Arizona Railway.

Wolkenritt in der Eisenbahn. Werbezeichnung der Fahrt durch Carrizo Gorge 1921 (San Diego & Arizona Railway, Werbebroschüre 1921, s.p.)
All die Mühen des Baus und die vier Millionen Dollar, die allein das elf Meilen lange Teilstück durch Carrizo Gorge verschlang, sind in dieser Zeichnung vergessen. Der Mensch schwingt sich auf zu neuen Höhen, auch wenn er zuvor nur Bohle an Bohle reihte, Nagel nach Nagel einschlug. Im Reenactment wurde etwas von dem Faszinosum deutlich, das große Technik, große Infrastrukturen umgibt. Der Schriftsteller E.B. White (1899-1985) hat dies in prägende Worte gefasst: „For almost a hundred years the Iron Horse was America’s Mount; the continent was his range, and the sound his hoofs made in the land was the sound of stability, majesty, punctuality, and success“ (E.B. White, The Railroad [1960, 1962], in: ibid., Essays, New York et al. 1979, 208-221, hier 211). Im Eisenbahnbau kam die USA zu sich selbst, wurden die Vereinigten Staaten geformt. John D. Spreckels Einschlagen des „Golden Spike“ zeigte ihn als Pionier nach der Pionierzeit, als Amerikaner, der seine deutsche Herkunft hinter sich ließ und eine neue gewann.
Uwe Spiekermann, 5. Dezember 2019
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