Boffzen und die NS-Zeit

„Der erzwungene Verlust 1931-1938. Boffzen erinnert sich an seine jüdischen Nachbarn“ – so lautet der Titel der heutigen Gedenkveranstaltung. Ist das mehr als eine der üblichen Phrasen in guter Absicht? Erinnern ist Vergegenwärtigung, ein Akt direkter Auswahl. Sich erinnern heißt, etwas dem Vergessen zu entreißen, seine Bedeutsamkeit hervorzuheben. [1] Wenn wir uns heute an die jüdischen Nachbarn in Boffzen erinnern, so erst einmal aufgrund der Erinnerungen von Ruth Gröne, die Anja Schade in einem vor kurzem erschienenen Buch eindringlich festgehalten hat. [2] Sachor! – Erinnere Dich! ist der Titel; eine Selbstverpflichtung, eine Aufforderung, auch eine Bitte.

Eine bittende Aufforderung Ruth Grönes an die Bürger und Bürgerinnen Boffzens, des Geburtsortes ihres Vaters und ihrer Großeltern, ihre Erinnerung wahrzunehmen. 1933, in ihrem Geburtsjahr, lebten kaum mehr als hundert Meter von dieser Halle entfernt drei Familien jüdischen Glaubens, die Lebenbaums, die Seligmanns, die Kleebergs. Am 31. Oktober 1939 meldete Boffzens Bürgermeister Wilhelm Korte stolz, „ dass die Gemeinde Boffzen […] frei von Juden ist.“ [3] Das war das Ende einer langen Geschichte jüdischen Lebens in Boffzen – bis heute. Die insgesamt vierzehn jüdischen Nachbarn wanderten aus, nach Palästina, den USA, Shanghai, Großbritannien. Und sie wurden ermordet, starben aufgrund von Verfolgung, wohl in Riga, in Sandbostel, anderswo, fernab. „Und der Kummer von einem ist der Kummer der Welt“ [4] schrieb einst die Sängerin Bettina Wegner. So wollen wir es halten, uns erinnern, gemeinsam, unfeindlich, wenigstens heute.

In Boffzen, einem Ort der Vertreibung der eigenen Nachbarn, kann sich Erinnerung aber nicht allein auf die Opfer konzentrieren. Neben die Opfer treten Täter, treten zugleich all die „Bystanders“, die Zuschauer und scheinbar nicht Beteiligten. Die gelungene deutsch-jüdische Symbiose im langen 19. Jahrhundert ist Teil dieser Erinnerung, die rasche Nazifizierung des Ortes, aber auch die judenfreie Zeit nach 1939, geprägt durch Schweigen, fehlendes Schuldbewusstsein und von außen anzustoßende Erkundigungen. Erinnerung dieser Art bündelt Vorarbeiten auch aus der Gemeinde und der Region, ist verbunden mit Namen wie Ulrich Ammermann und Marlis Loges, Matthias Seeliger, Detlev Creydt und Fritz Ostkämper, und insbesondere mit Klaus Kieckbusch, von dessen Arbeit wir alle zehren. [5]

Boffzen vor der NS-Zeit

Jüdisches Leben in Boffzen lässt sich bis 1620 zurückverfolgen, ein Gemeindeleben begann jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert mit der Ansiedlung braunschweigischer „Schutzjuden“. [6] Juden waren damals auf herrschaftliche Sonderrechte angewiesen. Das änderte sich erst im Königreich Westfalen, einem französischen Kunststaat, der den Juden Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Boffzen kurzzeitig die „Emanzipation“, also gleiche Rechte brachte. Als Bürger hatten sie ihre alten Namen abzulegen, neue anzunehmen. Lebenbaum ist eine Eindeutschung des alttestamentarischen „ez hachajim“ (Genesis 2, 9), Kleeberg ist einer lokalen Flurbezeichnung nachempfunden. [7] Mit der napoleonischen Herrschaft endete auch die Emanzipation. [8] Doch sie blieb Programm liberaler Reformer; und die Verfassungen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches brachten seit 1867 eine fast vollständige Gleichberechtigung der Juden. Antisemiten bekämpften sie seither, wollten sie rückgängig machen. Das war zentral für die dann 1935 erlassenen Nürnberger Gesetze.

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Moses Kleeberg als Vorsteher einer kleinen jüdischen Gemeinschaft in Boffzen (Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes 4, 1889, 60)

In Boffzen gab es eine kleine jüdische Gemeinschaft, 1872 offiziell anerkannt. Das 1882 eingerichtete Gebetshaus stand aber schon für die schwindende Zahl der Boffzener Juden. [9] Die Entleerung des ländlichen Raumes kennzeichnete jüdisches Leben im 19. Jahrhundert. Die Zahl der „Landjuden“ verminderte sich einerseits durch Wegzug in größere Städte, anderseits durch die Auswanderung in die USA. Die Zahl der Boffzener Juden sank, ihre wirtschaftliche Lage verbesserte sich aber schneller als die ihrer Mitbürger. Die Gründe lagen in der ausgeprägten Schriftlichkeit der jüdischen Religion, einem weit stärkerem Bildungsdrang, ausgeprägterem Fleiß und der Spezialisierung auf wenige Boombranchen der entstehenden Industrie- und Konsumgesellschaft. [10] In Boffzen investierten Seligmanns, Lebenbaums und Kleebergs gezielt in die Bildung ihrer Kinder. Sie konzentrieren sich auf Handel und Verkauf. Sie erzielten gute, überdurchschnittliche Einkommen.

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Boffzen: Das Dorf und die industriellen Vororte mit den beiden Glashütten 1898 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Boffzen war zu dieser Zeit ein gespaltener Ort. Im alten an der Weser gelegenen Ortskern dominierten Bauern und Handwerker. [11] Eisenbahnbau und Industrialisierung veränderten den Ort seit Mitte der 1860er Jahre. Boffzen wurde an das nationale Verkehrsnetz angeschlossen, zwei Glashütten und die Ziegelei Brückfeld entstanden. [12] Die Karte zeigt die Gleise mitten durch den Ort, die abgetrennten Unternehmen und Arbeiterwohnungen im Brückfeld. Sie zeigt nicht die Unterschiede zwischen den Menschen in beiden Teilen des Ortes: Einerseits den Alteingesessenen an der Weser, anderseits die erst aus dem Solling, dann vor allem aus dem Siegerland angeworbenen und zugewanderten Glasmacher sowie die aus dem Solling und aus Lüdenscheid zugezogenen Kapitalisten. Arbeiter und Unternehmer im Brückfeld arbeiteten anders, lebten anders, erhielten regelmäßiger Geld, wählten sozialdemokratisch und liberal. Die jüdischen Mitbürger waren in Boffzen Alteingesessene. Ihre Handelsgeschäfte überbrückten, verkauften an beide Gruppen und darüber hinaus.

Eine deutsch-jüdische Symbiose

Die jüdischen Nachbarn unterschieden sich kaum von ihrem Umfeld. Ihre Religionspraxis war nach innen gewandt, stand zwischen konservativem und Reformjudentum. Sie kochten koscher, feierten die Feste des jüdischen Jahres gemeinsam mit den Glaubensbrüdern und -schwestern in Höxter, zu denen enge verwandtschaftliche Verbindungen bestanden. Hochzeiten erfolgten zumeist innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft. Ruth Grönes Eltern Erich und Maria Kleeberg – letztere war getaufte Protestantin – erhielten daher nicht den Hochzeitssegen ihrer Großeltern, heirateten 1931 standesamtlich. [13]

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Die drei Familien führten in der Tradition ihrer Vorfahren kleine Handelsunternehmen: Kleebergs seit 1899 eine Schlachterei und Viehhandlung, Lebenbaums seit den 1890er Jahren eine Kolonialwaren- und Getreidehandlung, Seligmanns eine von Moses Kleeberg übernommene Kolonialwaren- und Fellhandlung. Das entsprach den Bedürfnissen der meisten Boffzener, die in der Regel eigenes Garten- oder Ackerland bewirtschafteten, Eigenversorgung und Hausschlachtung betrieben, in den Läden eher ein Ergänzungssortiment kauften. Doch es gab vor Ort auch andere Einkaufsmöglichkeiten: Das Adressbuch nannte 1929/30 einen weiteren Schlachter, drei weitere Kolonialwarenhandlungen, zwei Bäckereien und den Konsumverein im Brückfeld. [14]

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Das Haus mit dem Laden der Familie Seligmann kurz vor dem Abriss 1988 (l.) und das heute noch bestehende Haus der Schlachterei Kleeberg, beide in der Oberen Dorfstraße (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Diesen Läden waren allesamt klein, ohne größere Reklame. Ruth Gröne hat den der Seligmanns anschaulich beschrieben: Hier „hat es eigentümlich gerochen. Und wenn ich darüber spreche, dann rieche ich das noch. Ja, da gab es also allerhand. Erstmal war das ein kleiner Laden. Da kam vielleicht alle halbe Stunde jemand. Wenn man die Tür aufmachte, dann klingelten mehrere Schellen. Dann kam die Tante, die sich in der Wohnung oder in der Nähe des Ladens aufhielt. Sie hat zwischendurch etwas anderes gemacht. Und da standen Säcke mit Bohnen und Erbsen – das wurde alles nicht verpackt. Dann gab es noch Zucker und Salz und Haferflocken und Gries. Das war alles in Schubladen und wurde mit der Schaufel in die Tüte getan. Ich war unwahrscheinlich fasziniert, wenn das abgewogen und dann auf dem Zettel die Preise zusammengezogen wurden. Das fand ich toll. Das war ein Gemischtwarenladen. Dort konnte man alles kaufen. Harken und Spaten, Nähzeug und Knöpfe und Garn und Wolle zum Stricken, Bindfaden und … , also alles. Die Frauen, die in dem Dorf wohnten, die konnten ja nicht eben mal mit der Straßenbahn in die Stadt fahren, nach Holzminden.“ [15]

Die jüdischen Geschäfte ermöglichten bürgerliches Leben. Familie Lebenbaum dürfte um 1930 ein Jahreseinkommen von brutto etwa 6.000 RM gehabt haben. [16] Die Schlachterei von Hermann Kleeberg war deutlich größer, im Schlachthof wurden wöchentlich zwei bis drei Schweine und zwei Rinder geschlachtet.

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Wohnhaus und Wirtschaftsanbauten der Familie Kleeberg 1903 (Stadtarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Hinzu kam ein überschaubarer Viehhandel, vornehmlich Ferkel für die Glasmacher, zudem Rinder und einige Schlachtschweine für die nichtjüdische Kundschaft. Die Tiere wurden auf einer Wirtschaftsweide gehalten. Kleebergs verkauften nicht nur in Boffzen, sondern lieferten ihre Ware per Kutsche, dann per Automobil auch an Kundschaft außerhalb. [17]

Eine jüdische Vereinskultur fehlte, entsprechend waren die Boffzener Juden in praktisch allen Vereinen aktiv, als Mitglieder, Vorstände, als Spendengeber. Das galt für den 1876 gegründeten „Sängerbund der vereinigten Glashütten“, der spätere Männergesangsverein „Brunonia“, zu dessen Mitbegründern der später in Ameluxen wohnende David Kleeberg gehörte, später Schriftführer und auch 1. Vorsitzender. [18] Mehrere Kleebergs folgten. Herrmann Kleeberg pflegte beim 1879 gegründeten Männergesangsverein „Germania“ Volkslieder und Geselligkeit. [19] Das galt auch für den 1892 gegründeten Männerturnverein, bei denen er von Beginn an aktiv war. Walter Kleeberg kickte in den 1920er Jahren für den FC 08 Boffzen.

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Die Mannschaft des FC 08 Boffzen mit Walter Kleeberg (obere Reihe, 2. v. r.) (Foto: Ruth Gröne)

Auch die Frauen trafen sich. Frieda Kleeberg war Mitglied der dörflichen Frauengemeinschaft, Ruth Kleeberg turnte Seit an Seit mit ihren Kameradinnen auf dem Gauturnfest 1931.

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Ruth Kleeberg beim Gauturnfest 1931 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Vielleicht wichtiger noch war der Kriegerverein. Hier ging es um nationale Belange, den Kampf für das gemeinsame Vaterland, die Erinnerung an Kriege und eigene Opfer, teils auch um Respekt vor dem Gegner. Der Kriegerverein, später Teil des Kyffhäuser-Bundes, wurde nach den deutschen Einigungskriegen gegründet, an denen etwa vierzig Boffzener teilnahmen. Seligmann Lebenbaum, Guidos Vater, wurde Vorstandsmitglied, ab 1904 Ehrenmitglied. [20] Im Ersten Weltkrieg starben fast hundert Boffzener Männer für „Kaiser und Vaterland“. Darunter als einer der ersten in der Schlacht an der Sambre im August 1914 Albert Kleeberg, Viehhändler und Schlachter, 1912 Großer König der Schützengemeinschaft Boffzen. Er war einer von 90.000 jüdischen Soldaten, einer der 12.000 jüdischen Gefallenen. Auch Herrmann Kleeberg, Guido Lebenbaum und Robert Seligmann waren Mitglieder des Kriegervereins, letzterer erst Kassenprüfer, dann zwölf Jahre Schriftführer. [21]

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Unter Adler und Eichenlaub: Gedenken an Albert Kleeberg auf dem Kriegerdenkmal in Boffzen (Foto: Uwe Spiekermann)

Die jüdischen Familien waren integriert. Und doch war Boffzen keine Idylle. Ruth Gröne berichtete von mehreren „Streichen“. [22] Die Hochzeit von Helene Kleeberg und Robert Seligmann wurde 1904 von Bauern gestört, die den Eingang zur Feststätte mit Jauche drapierten. Hermann Kleebergs Vater Moses wurde in hohem Alter in dem Außenabort seines Hofes eingesperrt und öffentlich zur Schau gestellt. Man mag dies auf Dummheit und Grobheit zurückführen. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens betonte stets, dass der Erbfeind des Judentums die Halbbildung sei. Er setzte dabei auf den Schutz des Rechtsstaates. Es ist eine Paradoxie der auch in Boffzen gelebten deutschen-jüdischen Symbiose, dass deutsche Juden vermeintlich deutsche Tugenden gegenüber Extremisten von rechts und links hochhielten. Den plärrenden Antisemitismus konnten Gebildete nur verachten. Ihren Vertretern ging man möglichst aus dem Weg, hielt die Kinder davon fern. Antisemitische Krawalle gab es immer wieder, sie begleiteten Revolution und Inflation. Doch das legte sich. Da waren schließlich die Deutschen, die vielen anständigen, die Politiker in linken und liberalen Parteien, in Teilen des Zentrums. Und da waren die Nachbarn, von denen man geachtet wurde, mit denen man respektvoll umging. All das änderte sich ab 1930, zerbrach dann 1933.

Machtzulassung, Machtergreifung und Selbstgleichschaltung

Die deutsche Erinnerungskultur an die NS-Zeit hat eigenartige Blindstellen. Sie konzentriert sich vor allem auf die Verfolgung der deutschen Juden ab Mitte der 1930er Jahre und die Ermordung der europäischen Juden im Holocaust ab 1941. Die Bedrängung der jüdischen Mitbürger schon seit Beginn der Präsidialdiktatur 1930, dem faktischen Bürgerkrieg 1931/32 und insbesondere die massiven Verbrechen nach der Machtübergabe 1933 werden öffentlich wenig diskutiert, denn es kam ja Schlimmeres. Zwei Punkte werden so ausgeblendet: Der erfolgreiche Kampf gegen die jüdische Emanzipation war erstens nur möglich durch den erfolgreichen Kampf gegen die Vertreter von Rechtsstaatlichkeit. Zweitens setzten die NSDAP und ihre konservativen Unterstützer nach der Reichstagswahl im März 1933 auf gewaltsame Verfolgung und öffentliche Diskriminierung. Das Stummprügeln der Verteidiger von Rechtsstaatlichkeit ging einher mit kaum gebremsten Übergriffen gegen jüdisches Eigentum in aller Öffentlichkeit.

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Demütigung des SPD-Reichstagsabgeordneten und früheren Präsidenden Oldenburgs Bernhardt Kuhnt (1876-1946) in Chemnitz am 9. März 1933 – parallel zu „wilden Boykotten“ gegen die jüdische und „marxistische“ Geschäftswelt (The Indianapolis Times 1933, Nr. 292 v. 17. April, 3)

Am Anfang stand der Kampf gegen die Vertreter erst der KPD, dann, nach dem Reichstagsbrand Ende Februar, auch der SPD. Landes- und dann Stadtregierungen fielen, implodieren, die Zinnen noch vorhandener Rechtsstaatlichkeit wurden mit Zwang geschliffen, vielfach aber auch willig geräumt. Das weltweit verbreitete Bild des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Bernhardt Kuhnt ließ die Richtung erahnen.

Analog in Boffzen: Am 10. März 1933 führten die Boffzener und die Holzmindener Hilfspolizei, größtenteils die lokalen SA-Trupps, eine Razzia bei „fast allen Angehörigen der KPD und einem Teil der SPD“ [23] durch. Sie erbeuteten vermeintliche Schußwaffen, Messer, Munition und auch „verbotene Druckschriften“, verhafteten mehrere Personen, zwei davon wurden nach Holzminden gebracht. Auch die Häuser der Boffzener Juden wurden durchsucht. Bei Guido Lebenbaum und Robert Seligmann fand man Erinnerungsstücke an ihren Militärdienst, die sie nicht mehr länger behalten durften. [24] Den rechtswidrigen Hausdurchsuchungen folgten in Boffzen weitere Streiche: Die Hochzeit von Irmgard Kleeberg wurde im März 1933 von Nationalsozialisten gestört. Rechtsfolgen hatte dies nicht, denn die Polizei war nicht mehr Vertreter des Normen-, sondern des Maßnahmenstaates.

Diese Orgie der Gewalt und des Rechtsbruchs erreichte am 1. April 1933 einen neuerlichen Höhepunkt. Der Tägliche Anzeiger gab in seiner propagandistisch-verlogenen Einseitigkeit einen schlagenden Eindruck des Geschehens in Holzminden: „Der Boykott der jüdischen Geschäfte, der am heutigen Sonnabend ab 10 Uhr im ganzen Reiche als Abwehrkampf gegen die jüdische Greuelpropaganda einsetzt, wurde in Holzminden bereits am gestrigen Tage durchgeführt. Morgens kurz nach 10 Uhr zog eine Kolonne von SS-Leuten im Gänsemarsch durch die Geschäftsstraßen unserer Stadt und verteilte sich zu Doppelposten vor den jüdischen Geschäftshäusern. Die Posten trugen ein weißes Schild umgehängt mit der Aufschrift: ‚Wer beim Juden kauft, kommt an den Pranger!‘ Schon die Aufstellung der Posten wurde von der Bevölkerung mit lebhafter Anteilnahme verfolgt. Später wurden die Schaufenster der jüdischen Geschäftshäuser mit Plakaten beklebt, die die Aufschrift trugen: ‚Deutscher, das Weltjudentum hat Dir den Krieg erklärt – wehr Dich! Kauf‘ nichts beim Juden!‘ Im Verlaufe des Mittags haben dann fast sämtliche jüdischen Geschäfte geschlossen, da die Inhaber wohl einsahen, daß bei derartigen Maßnahmen ‚kein Geschäft mehr zu machen‘ war. […] Die Aufstellung der Posten erfolgte nicht nur vor den Geschäftshäusern, sondern auch vor den Büros und Wohnungen jüdischer Aerzte und Rechtsanwälte. […] Die streng und mit größter Disziplin durchgeführte Boykottaktion hatte viele Menschen auf die Straßen gelockt. Das verschärfte sich noch mehr, als in den Abendstunden vom Martinsplatz aus der angekündigte Demonstrationszug veranstaltet werden sollte. Eine SA-Kapelle spielte einleitend das Horst-Wessel-Lied und danach Militärmärsche. Danach stellten sich die nationalsozialistischen Formationen zum Zuge durch die Straßen der Stadt auf. […] Ueberall in den Straßen stand die Bevölkerung Spalier, während der Zug unter Marschweisen und Gesang vorüberzog. Ueberall wurde ganz augenscheinlich, daß auch die hiesigen Maßnahmen zur Abwehr der ekelhaften Greuel- und Boykottpropaganda der ausländischen Juden begrüßt werden.“ [25]

Auch in Boffzen gab es entsprechende Übergriffe, das Schaufenster der Schlachterei Kleeberg wurde bereits am 27. März 1933 „von Unbekannten“ eingeworfen – ein Fanal, sichtbar für jeden. In einem Ort wie Boffzen gab es keine Anonymität. Anders als in Städten, wo die Schergen Schaufenster, Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien markierten, um den Mitbürger und sein Geschäft als jüdisch zu kennzeichnen, gab es hier kein Rückzugsfeld. Die Gewaltdrohung durchdrang den Alltag, gegen sie schützte keine Polizei.

Das zeigte sich auch in den ersten Beschlüssen des seit April 1933 nationalsozialistisch dominierten Gemeinderates. Er erließ einen Bann gegen den vermeintlich sozialdemokratischen Konsumverein, gegen die vermeintlich jüdischen Warenhäuser, gegen die Geschäfte der Familien Seligmann, Lebenbaum und Kleeberg. Die Gemeinderatsprotokolle lauten:

22. April 1933: „Antrag des Gemeindevorstehers Tappe: Der Gemeinderat wolle beschließen, daß die Gemeinde Boffzen in Zukunft mit dem Konsumverein und mit jüdischen Geschäften keinerlei Geschäfte mehr tätigt. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen.“

15. Mai 1933: „Antrag des Kampfbundleiters für Mittelstand und Gewerbe Korte: Der Gemeinderat wolle beschließen, daß der Gemeindevorsteher die ev[entuelle] Genehmigung zur Neueinrichtung eines Gewerbes nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Kampfbundleiter für M[ittelstand] und G[ewerbe] erteilen darf. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen.

Antrag des Kampfbundleiters Korte: Sämtliche von hiesiger Gemeinde besoldeten Angestellte wie Gemeindevorsteher, Steuereinnehmer, Dorfdiener, Standesbeamte, Trichinenschauer u[nd] a[ndere] mehr werden dringlichst ersucht, bei Konsumvereinen und Warenhäusern ihre Einkäufe zu unterlassen, einschl[ießlich] jüdische Geschäfte. Es wird dem Antrag gemäß beschlossen; die Betreffenden sollen von dem Beschluß in Kenntnis gesetzt werden.“ [26]

Auch andere, an sich autonome Institutionen des Alltags schalteten sich selbst gleich. In Boffzen etwa die Schule: Lehrer Walter Neumann war ab 1933 SA-Mitglied, Führer des SA-Sturms, NSDAP-Ortsgruppenpropagandaleiter und Gemeinderatsmitglied. [27] Robert Lages, früheres DDP-Mitglied, trat 1933 in die NSDAP und dann in viele Parteiorganisationen ein. [28] Die lokale Volksschule unterrichtete die mehr als zweihundert Kinder seither strikt im Sinne des NS-Regimes. [29]

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Wahlwerbung der Deutschen Christen in Berlin anlässlich der Kirchenwahlen vom 24. Juli 1933 (Bundesarchiv, Bild 183-1985-0109-502)

In Boffzen galt das auch für die evangelisch-lutherische Kirche [30]: Pastor Julius Kellner verkündete hymnisch: „Die Gemeindechronik des Schicksalsjahres 1933 muß als Überschrift den Dank gegen Gott tragen für die wunderbare Errettung und Erneuerung unseres Volkes.“ [31] Die Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 ergaben in Boffzen für die Liste 2 „Deutsche Christen“ 320 Stimmen oder 96 %. [32] Diese „SA-Christi“ war strikt antisemitisch, schwärmte für die „Reinhaltung der deutschen Rasse“ und die Ausrottung des Marxismus. Die lutherischen Jungmänner- und Jungmädchenvereine wurden 1934 in die HJ bzw. BDM eingegliedert. [33] Von dieser Kirche hatten jüdische Familien keine Unterstützung zu erwarten. Aus alledem zog die Familie Lebenbaum als erste für sie schmerzliche Konsequenzen und wanderte im September 1934 nach Palästina aus.

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Die Belegschaft der Georgshütte am 1. Mai 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Gegen die Dynamik der „nationalen Erhebung“, des Vormarsches von Unrecht und Willkür gab es in Boffzen keinen direkten Widerstand. Sozialdemokratie und Gewerkschaften kapitulierten und paktierten. Gewalt und Neuheidentum drangen vor, umzuckert von einer dörflichen Festkultur, bei der fast alle mitmachten. [34] Mai- und Sonnenwendfeiern brachten „Sang und Klang“ in den Ort – doch die Gemeinschaft war brüchig, mochten sich nun auch viele Kommunisten und Sozialdemokraten unwillig und teils auch willig einreihen. Blicken wir auf die Vereine: Walter Kleeberg verließ Ende 1932 aus unbekannten Gründen den Gesangsverein „Brunonia“. 1933 schloss der MTV Boffzen seinen Mitbegründer Hermann Kleeberg aus. Auch der Boffzener Kriegerverein schritt willig mit: 1930 wurden Hermann Kleeberg und Guido Lebenbaum als Mitglied des Boffzener Kriegervereins erwähnt. Robert Seligmann war bereits am 22. Januar 1908 aufgenommen worden, war 1909 bis 1911 und 1913 bis 1916 Kassenführer. Als Schriftführer diente er dem Kriegerverein vom 2. Januar 1919 bis zum 6. Mai 1933. Am 6. Mai 1933 vermerkte das Protokollbuch: „Für den Schriftführer Robert Seligmann wurde der Kamerad Karl Grebe gewählt.“ Am 4. November folgte: „Es wurden vom Kyffhäuserbund bekannt gegeben, daß Juden den Kriegervereinen nicht beitreten dürfen. […] Die Bundesflagge soll in aller Kürze beschafft werden, auch Hakenkreuze.“ [35]

Die Vereine blieben ein wichtiger Bestandteil des geselligen Lebens, des Sports und der Feste Boffzens. Doch sie verloren ihre Autonomie, Vereinskultur und NSDAP-Herrschaft überlappten sich. Hierzu ein Auszug aus dem Täglichen Anzeiger: „Boffzen. Der Heldengedenktag wurde auch in unserer Gemeinde würdig begangen. SA, Hitler-Jugend und Kriegervereine beteiligten sich geschlossen am Gottesdienst. Anschließend fand dann eine Heldengedächtnisfeier am Gefallenendenkmal statt. Der ‚Gemischte Chor‘ und der Gesangverein ‚Germania‘ sangen einleitend ein Lied und dann gedachte Sturmführer Dr. Becker der gefallenen Helden des Krieges und der nationalen Befreiung. SA und Kriegerverein legten einen Kranz nieder. Das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied schlossen die Feierstunde.“ [36]

Die Durchdringung des Boffzener Alltags ging jedoch tiefer. Die Beflaggung der Häuser, die Teilnahme an Sammlungen und Eintopfessen, die Übernahme der vielgestaltigen NS-Parolen geschah aktiv. Man wollte dabei sein, gewöhnte sich an einen Alltag voller Zwang und Gängelung, denn in der Notstandsgemeinde Boffzen hoffte man auf den versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung.

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„Bauernnot ist Volkstod“ als Parole beim Boffzener Fest Mitte der 1930er Jahre (v.l. Karl Dietz, Rudi Sporleder, Heinrich Göbel, Willi Meier, Ernst Volger) (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Täter ohne Konturen

Unsere Erinnerungskultur blickt vorrangig auf die Opfer. Sie gilt den Ausgegrenzten, den Verfolgten. Nachträglich weiß man, auf wessen Seite man „damals“ hätte stehen müssen. Erinnerung setzt jedoch ein breiteres Bild voraus, eines in dem auch Zuschauer und insbesondere Täter ihren Platz haben. Über die genauen Täter-Verhältnisse vor Ort, im „normalen“ Leben, wissen wir allerdings wenig. Insbesondere wenn es sich um Täter in der Verwaltung oder aber der Wirtschaft handelt. Der Landkreis Holzminden lag während der Weltwirtschaftskrise am Boden, profitierte aber vom NS-System, von Aufrüstung und Kriegswirtschaft. Aromen wurden in Großküchen und Wehrmacht benötigt, die Glasindustrie nahm einen neuerlichen Aufschwung, eine Holzzuckerfabrik wurde aus dem Boden gestampft. Das prägte den Alltag, gab der Mehrzahl Zuversicht, förderte das Vertrauen in das Regime.

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Führender NSDAP-Funktionär des Weserberglandes seit 1925 – August Knop (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 180 Hildesheim, Nr. 46631)

Der wichtigste Funktionär der NSDAP im Landkreis Holzminden war der 1903 in Boffzen geborene August Knop. Sohn des wichtigsten Bauunternehmers, studiert, seit 1924 in der völkischen Bewegung aktiv, seit 1925 NSDAP-Mitglied, Agitator und Organisator, anfangs eher von Höxter aus, dann mit Macht von Holzminden. [37] In Boffzen verbindet man seinen Namen mit der Neugründung der Glashütte Noelle & von Campe 1933/34, doch er war auch Teil der Porzellanfabrik in Fürstenberg, brachte in der Holzzuckerfabrik Braunschweiger und Berliner Kapital nach Holzminden, war an vielen Infrastrukturprojekten beteiligt. [38]

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Hundestaffel der Holzmindener NSDAP beim Appell des SA-Sturmbanns III/164 in Holzminden 1932 (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 759)

Holzminden entwickelte sich schon früh zu einem Kraftzentrum der NSDAP und der SA. Die Landespolizeischule war früh auf Linie, im November 1932 errang die NSDAP 44 % der Stimmen. [39] Die SPD, der Reichsbanner, sie waren lange Zeit führend, doch ihre Bedeutung schwand während der Weltwirtschaftskrise, wurde zermahlen im faktischen Bürgerkrieg Anfang der 1930er Jahre, gegen Kommunisten und Nazis.

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Ein ganz normaler Schuhmacher: Willi Hansmann, NSDAP-Mitglied seit 1929 (Giel‘s Militaria, Nr. 165040)

In Boffzen entstand eine gesonderte NSDAP-Ortsgruppe im Oktober 1931. Boffzener waren schon früher Mitglied der NSDAP, August Knop natürlich, sein Bruder Walter Knop, später Reichstagsabgeordneter und Oberlandesgerichtsrat, aber auch der spätere Bürgermeister Wilhelm Korte oder das spätere Gemeinderatsmitglied August Dierkes. [40] Anfangs prägten vor allem Bauern und Handwerker die von Hans Bohnes, dann von Willi Tappe geleitete Ortsgruppe. Doch auch die zwei Söhne des Fabrikbesitzers der Georgshütte, des wichtigsten Arbeitgebers des Ortes, stießen hinzu. Sie machten die NSDAP vor Ort salonfähig.

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Wegbereiter der NS-Zeit: Karl August Becker, NSDAP-Mitglied seit 1. November 1931 (l.); Dr. Georg Wilhelm Becker, NSDAP-Mitglied seit 1. Oktober 1931 (Bundesarchiv Lichterfelde, NSDAP-Zentralkartei R 9361-VIII Kartei / 1450953 (l.); ebd. R 9361-II-31088)

Der Kernort Boffzens, das unmittelbare Umfeld der jüdischen Familien, war ab 1932 nationalsozialistisch geprägt. Im Brückfeld sah das noch anders aus, hier dominierten SPD und nun auch die KPD. Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 erreichte die NSDAP in Boffzen 513 (43,1 %), am 5. März dann 592 Stimmen (49,9%). [41] Das reichte für die vielbeschworene „Macht“, für die Entrechtung aller Gegner, aller Minderheiten.

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Boffzener NSDAP-Mitglieder Mitte der 1930er Jahre (Von l. nach r.: NN, Karl Thiemann, Friedrich Korte, Willi Tappe, Marie Grebe, NN, Guste Henke, Heini Henke; untere Reihe: Otto Kleine, Willi Hansmann) (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

In Boffzen gaben nun Täter wie Bürgermeister Wilhelm Korte den Takt an: Kriegsteilnehmer, Stahlhelmmitglied, dann seit 1928 SA- und NSDAP-Mitglied, ein Tischler mit einem Monatseinkommen von ganzen 100 RM. [42] Wie an anderen Orten auch, wissen wir wenig über diese Menschen. Wir kennen die Namen der führenden NSDAP-Funktionäre in Boffzen, Korte, Willi Tappe, Karl Mener, Heinrich Stapel, Fritz Tofaute, Karl Kempe, Georg Scheerer, Otto Wulf, viele mehr. [43] Wenn wir nachforschen, finden wir einige Personalbögen, ab und an Entnazifizierungsakten, Erinnerungsfetzen. Doch wie soll Erinnerung, eine breite, ehrliche und wohl auch schmerzende Erinnerung möglich sein, wenn man die Täter nur schemenhaft kennt?

Vom sichtbaren zum stillen Boykott

Womit wir zu den „Bystandern“, den Zuschauern, der großen Mehrzahl der Boffzener kommen. Es sind die, die später von Verführung redeten, von den Nöten und Härten der Zeit, von den zerbrochenen Hoffnungen. Die Gründe fanden, dass sie mitmachten, nur ein bisschen, die auf ihr eigenes Leid verwiesen. Zuschauer, die nun zu einem anderen Händler, einem anderen Schlachter wechselten, nicht mehr beim jüdischen Händler kauften. Dieser Kauf hätte mehr als Geld gekostet. Er hätte Konsequenzen haben können – für sie selbst.

Dabei gab es Widerstand in Boffzen. Neun Sektenangehörige, Zeugen Jehovas, ließen sich durch Gewalt in ihrem Umfeld nicht beirren [44] – trotz Verboten und Hausdurchsuchungen. [45] Am 7. Oktober 1934 verfasste die „Gruppe der Zeugen [Jehovas] in B[offzen]“ ein Schreiben an den „Führer“ Adolf Hitler. Der wohl von dem Glasmacher August Pöppe entworfene Brief wertete den Dienst gegenüber Gott höher als den gegenüber dem Staat: „Wir unterbreiten Ihnen folgendes: Daß wir um jeden Preis Gottes Geboten folgen werden, daß wir uns versammeln werden, um sein Wort zu erforschen, daß wir ihn anbeten und ihm dienen werden, wie er geboten hat. Wenn Ihre Regierung oder Regierungsbeamte uns Gewalt antun, weil wir Gott gehorchen, dann wird unser Blut auf Ihrem Haupte sein und Sie werden Gott, dem Allmächtigen Rechenschaft geben müssen.“ [46]

Welch ein Zeugnis von Gottvertrauen, von Bekennermut! Sein eigen Ding machen, den anderen in Frieden leben lassen – das war ein Verbrechen: Die vorrangig aus Glasarbeitern von Noelle & von Campe bestehende Gruppe wurde Anfang Februar 1935 verhaftet, in einem Schnellverfahren in Holzminden zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen in Braunschweig verurteilt, auch die Revision verworfen. Sie kehrten Ende 1935 und Anfang 1936 nach Boffzen zurück, mehrere davon gesundheitlich schwer gezeichnet. Solidarität abseits ihrer Gruppe erfuhren sie damals nicht.

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Familiennachrichten als Normalitätsanker (Israelitisches Familienblatt 34, 1932, Nr. 44, 6; ebd. 35, 1933, Nr. 18, 6; Der Israelit 76, 1935, Nr. 34, 11)

Auch die drei jüdischen Familien praktizieren ihren Glauben weiter, zunehmend privat. Diese kleinen Familienanzeigen zeugen davon. Doch ihr Alltag wurde enger, die Straße gehörte anderen, die Kontaktzonen bröckelten.

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Eindrücke vom „Judenboykott“ in Berlin am 1. April 1933 (Der Kuckuck 5, 1933, Nr. 15, 7)

Den „Judenboykott“ verbindet man gemeinhin mit Aktionen in Großstädten, mit dem 1. April 1933. Dabei vergisst man die am 9. März 1933 beginnende Fülle gewaltsamer Übergriffe nationalsozialistischer Aktivisten. [47] In Braunschweig erfolgte ein „Warenhaussturm“ am 11. März 1933. Die Boykotte sollten weitergehen, die Existenz jüdischer Geschäfte unterminieren. [48]

Boykotte sind ein vielgestaltiges Kampfmittel, sind auch heute beliebt bei Konsumenten mit Haltung. Sie entstanden als Kampfmittel der Land- und Fabrikarbeiter, wurden aber rasch von Antisemiten und Mittelstandsaktivisten übernommen. [49] Während der Weimarer Republik konnte man sich gegen Boykottaufrufe und damit verbundene Schmähungen allerdings wehren. [50] Das änderte sich seit Anfang März 1933 massiv.

In Boffzen betraf das nicht allein die drei jüdischen Geschäfte, von denen die Gemeinde nichts mehr kaufte, von denen die Gemeindebediensteten nichts mehr kaufen sollten. Es galt auch für die lokalen Glashütten – und man möchte fast sagen, ausgerechnet. Die Weltwirtschaftskrise traf die Boffzener Glasindustrie hart. Noelle & von Campe entließ 1931 seine Beschäftigten, der Glasoffen wurde kalt gelegt, die Gesellschaft im Februar 1933 aufgelöst. Die Georgshütte fuhr ihren Betrieb massiv herunter, beschäftigte zeitweilig nur noch 40 Personen. 1931/1932 war man froh, auch an das Warenhaus Hermann Tietz oder aber den Konsumverein München-Sendling liefern zu können. [51] Ihr wichtigster Kunde 1932/33 war die Mannheimer Glasgroßhandlung Hermann Gerngross. [52] Die beiden Söhne des Firmenchefs August Becker hätten sie wohl als „jüdisch“ bezeichnet. Diese Aufträge waren für den Geschäftsbetrieb in der Krise kaum verzichtbar. Doch nach Juni 1933 lieferte die Firma Becker kaum mehr. [53] Sie wusste, was sie tat. Im Entnazifizierungsverfahren betonten Karl August Beckers Rechtsanwälte, „dass der Beschwerdeführer bis zum Jahre 1938 ständig jüdische Geschäfte noch mit Glas beliefert hat“ [54]. Die Analyse ergab für die zweite Hälfte 1938, dass es damals just eine knapp 400 RM teure Lieferung an das noch vom jüdischen Besitzer geführte Münchner Kaufhaus Heinrich Uhlfelder gegeben hatte. [55] Man verkaufte, doch jeder Kauf und Verkauf war rassistisch unterlegt.

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Boykottaufrufe 1932 – umgesetzt auch in Boffzen (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 9 (links oben), 282 (links unten), 328)

Auch die Boffzener Bevölkerung wusste was sie tat: Seit 1933 gab es einen stillen Boykott der jüdischen Händler. 1960 hieß es anlässlich des Entschädigungsverfahrens von Guido Lebenbaum: „Es soll nicht bestritten werden, daß das Kolonialwarengeschäft in früheren Jahren einigen Gewinn abgeworfen hat, und daß es in den letzten Jahren vor und zu Beginn der Verfolgung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen völlig eingestellt werden mußte, weil keine Käufer mehr kamen.“ [56] Es kamen keine Käufer mehr. Das galt für 1933/34: Die Boffzener kauften zunehmend weniger, dann nur noch in Ausnahmefällen bei ihren früher hochgeschätzten jüdischen Händlern. Das galt auch, wenngleich mit Zeitverzögerung, für die Schlachterei von Hermann Kleeberg. Zu dem stillen Boykott, dem Nicht-mehr-kaufen, trat zudem ein passiver Boykott, also das Nicht-mehr-Verkaufen. Ab 1939 durften Kleebergs beispielsweise nicht mehr selbst einkaufen, dankenswerterweise erledigte das ein Junge für sie, wohl Helmut Kues.

Der stille Boykott unterminierte jüdisches Leben im Deutschen Reich und in Boffzen. Er war Teil immer weiterer Diskriminierungen und gewalttätiger Übergriffe nach dem Ende der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung 1935. Er stand im Einklang mit einer europaweiten antisemitischen Politik insbesondere in Osteuropa. [57] Doch dieser diskriminierende Gleichklang sollte 1938 enden: Die Verfolgung der österreichischen Juden gab den Takt vor, die Vertreibung der im Deutschen Reich lebenden staatenlosen Juden nach Polen die Richtung. Die Gewaltorgie der Novemberpogrome machte dann weltweit deutlich, dass Juden in Deutschland Freiwild waren. Ruth Kleeberg, die zwischenzeitlich in Peine gearbeitet hatte, emigrierte bereits im März 1938 in die USA. [58]

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Verhaftete Juden in Baden-Baden am 9. November 1938 (Yad Vashem, 102G01)

Der Bruch 1938/39

Die Novemberpogrome 1938 währten mehrere Tage, entstanden vor dem 9. November dezentral, wurden erst an diesem Tage zu einem nationalen Pogrom kanalisiert. Man denkt an SA und SS, doch vergisst man die vielen normalen Täter, insbesondere die vielen Jugendlichen. Das lange gängige Bild der „Kristallnacht“ war von den Zerstörungen zahlloser Geschäften und von mehr als 1400 Synagogen geprägt, doch daneben dominierten Plünderungen und Diebstahl, Vergewaltigungen und Morde. 31.000 jüdische Männer wurden bis zum 16. November inhaftiert und in Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen interniert. 300 Juden wurden in den Selbstmord gedrängt, etwa 400 erschlagen, erschossen, kamen in den Konzentrationslagern ums Leben. [59] Die drangsalierten Juden mussten die Schäden auf eigene Kosten beseitigen, hatten ein Fünftel ihres Vermögens abzugeben, mussten ab Jahresende ihre Geschäfte und ihren Grundbesitz verkaufen, konnten über Wertpapiere und auch private Wertgegenstände nicht mehr frei verfügen. Den deutschen Juden blieb nur noch die Wahl zwischen Auswanderung und perspektivloser Armut.

Der folgende Bericht über das Judenpogrom in Holzminden ist Teil der propagandistischen Untertreibung der NS-Propaganda: „Die von den Juden immer wieder genährte, in dem Hetzfeldzug der letzten Jahre gegen alle Deutsche gesteigerte Empörung des gesamten deutschen Volkes gegen das Judentum ist nach der verabscheuungswürdigen Mordtat des Juden Grünspan zum Ausbruch gekommen. Wir berichteten bereits gestern, daß sich in Holzminden diese wohlmotivierte Entrüstung in einem spontanen Ausbruch im Anschluß an die Kundgebung des 9. November in der Feierabendhalle Luft gemacht hat. Aehnlich wie im Reich sind dabei die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte in Trümmer gegangen, ebenso wie der Krimskrams in dem Judentempel auf dem Marktplatz in Flammen aufgegangen ist. Wie im ganzen Reich ist hierbei übrigens keinem einzigen Juden ein Haar gekrümmt worden. Wir haben bereits gestern berichtet, daß bei der Inhaftierung von Juden in ihren Wohnungen zwecks Schutzes gegen die berechtigte demonstrativ bewiesene Abscheu der Bevölkerung vor den Juden Beweise für das illegale Verhalten des Judentums gefunden wurden, u.a. Waffen in Holzminden und Boffzen (Gewehre) und Abtreibungsgeräte, wie auch Propaganda- und Aufklärungsmaterial für die Abtreibung im Kreis gefunden sein soll. In der Kreisstadt wie im Kreis sind bei diesen Zwischenfällen, die diszipliniert verliefen, Inneneinrichtungen jüdischer Geschäfte, Fensterscheiben zerstört worden. Das Judentum hat damit eine Warnung erhalten. Das deutsche Volk wird sich in Zukunft die fortgesetzte verbrecherische Tätigkeit Judas keinesfalls mehr gefallen lassen.“ [60]

In Boffzen hatte man Hermann Kleeberg und seinem Sohn bereits im Frühjahr 1938 nicht entrichtete Steuerrückstände von etwa 200 RM vorgeworfen, Walter Kleeberg wurde deswegen in Holzminden zwei Monate in Untersuchungshaft genommen. Der NS-Staat begnügte sich schließlich mit einer außergerichtlichen Einigung, mit einer Strafe von 5.100 RM. [61]

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Nächtlicher Überfall auf jüdische Bewohner in Nürnberg oder Fürth am 9. November 1938 (https://twitter.com/ElishevaAvital/status/1060914919258947584/photo/3)

Den Rest erledigte staatliche und private Gewalt: Am frühen Morgen des 10. November wurden Hermann und Walter Kleeberg sowie Robert und Arnold Seligmann verhaftet und am nächsten Tag nach Buchenwald gebracht. In Boffzen zertrümmerte ein unbenannter Mob die Schlachterei, das Kolonialwarengeschäft, auch Teile der Wohnungen. Kleebergs hatten ihr Geschäft schon im Juni 1938 eingestellt, Seligmanns folgten nun. Hören Sie seinen Bericht an Landrat August Knop vom 11. Januar 1939: „Auf Ihr Schreiben vom 9. Januar 1939 teile ich Ihnen er[gebends] mit, daß mein Fellhandel und Kolonialwarengeschäft seit dem 12. November 1938 durch den Herrn Bürgermeister (Boffzen) geschlossen und gleichzeitig von meiner Schwiegertochter abgemeldet worden ist. Derselben sind für die Felle RM 22,– ausgezahlt worden. Dieselben sind bereits am 10. November 1938 abgeholt worden. Betr. Kolonialwaren kann ich nur melden, daß mir alle Waren am 10. November 1938 beschlagnahmt und mitgenommen sind, ebenso meine Bücher. In meinem Laden befindet sich nichts mehr. Ich bemerke noch, daß ich ohne Verdienst bin und irgendwelche Kosten für einen Treuhändler nicht aufbringen kann.“ [62]

Die beiden Alten waren aufgrund ihres Kriegsdienstes Ende 1938 aus dem Konzentrationslager entlassen worden, die beiden Söhne folgten nach sechsmonatiger Haft im April 1939. Sie standen vor dem wirtschaftlichen Ruin. Kleebergs verkauften erst ihre Viehweide, dann ihr Haus. [63] Durch Intervention des Bürgermeisters Wilhelm Korte und des Finanzamtes Holzminden wurden die Preise gedrückt, der Ertrag diente nicht zuletzt zur Erstattung der Geldstrafe wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung und der den Juden auferlegten Sondersteuer. Der geringe Restwert kam auf ein Sperrkonto, war nur noch begrenzt verfügbar. Ab August hatten Frieda und Hermann Kleeberg Miete zu zahlen, im Dezember wäre ihr Bleiberecht abgelaufen. In dieser Drangsal holte sie ihr Sohn Erich im Oktober 1939 in seine 2-Zimmer-Wohnung nach Hannover. Sie verkauften Wagen und Pferde, einige Möbel und Reste des Schlachtereiinventars in Boffzen, verließen das Dorf mit Schlafzimmer, Eßzimmer, Küche und Kleidung. [64] Beim Abtransport erhielt Erich noch Hilfe von Dorfbewohnern, wohl der Familie Hinze, die Teile des Mobiliars zeitweilig bei sich unterstellten. Es war eine Geste der Menschlichkeit, doch sie blieb eine Ausnahme.

Hier könnten wir enden, denn 1939 endete jüdisches Leben in Boffzen. Doch so einfach können wir es uns nicht machen. Martha und Walter Kleeberg zogen nach seiner KZ-Entlassung in ihren Geburtsort Laer. Dort trennte sich das Ehepaar, Walter gelang die Emigration nach Großbritannien. Seligmanns erreichten, wie 20.000 weitere deutsche Juden, das international verwaltete Shanghai, überlebten die japanische Besetzung, fanden schließlich eine neue Heimat in den USA, die 1938/39 nicht bereit gewesen waren, ihre Zuwanderungskontingente zu erhöhen. Ihren Boffzener Besitz hatten sie zuvor deutlich unter Wert verkaufen müssen. [65]

23_Stadtarchiv Münster, Bestand Stadtregistratur Fach 36 Nr. 18f_Marta-Kleeberg_Deportationsliste_Riga

Deportation von Martha Kleeberg am 13. Dezember 1941 von Münster nach Riga (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur, Fach 36, Nr. 18f)

Martha Kleeberg, Walters Frau, wurde am 13. Dezember 1941 von Münster aus über Osnabrück und Bielefeld nach Riga deportiert. [66] Frieda und Hermann Kleeberg folgten in einem weiteren der jeweils etwa eintausend Menschen umfassenden Deportationszüge am 15. Dezember 1941 in ungeheizten Transportwaggons nach Riga. Zuvor waren sie in ein Hannoveraner „Judenhaus“ verfrachtet worden. Ihre Emigration in die USA stand bevor, doch am 23. Oktober wurde die Ausreise von Juden aus dem Deutschen Reich untersagt. [67]

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Deportation von Frieda und Hermann Kleeberg am 15. Dezember 1941 von Hannover nach Riga (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover Hann. 210 Acc. 160/98, Nr. 7)

Erich Kleeberg war an diesem Vorweihnachtstag am Hannoveraner Fischerbahnhof, geleitete Mitglieder der jüdischen Gemeinde in die Deportationszüge. Er ahnte den folgenden Mord an seinen Eltern, seiner Schwägerin. Kein Grab birgt ihre Körper, kein Todesdatum ist erhalten. Erich Kleeberg blieb durch seine Ehe mit einer „christlichen“ Frau von einer unmittelbaren Deportation ausgenommen. Er wurde im November 1944 von der Gestapo verhaftet, in Ahlem und Neuengamme interniert, gelangte bei einem der vielen Todestransporte schließlich nach Sandbostel. Er erlebte die Befreiung dieses Lagers, verstarb jedoch Anfang Mai 1945 an den Folgen von Typhus und Torturen. Im Januar hatte er seiner Frau und seiner Tochter noch eine in der Schmutzwäsche herausgeschmuggelte Nachricht geschrieben: „Die Sorge für euch jetzt und wer weiß, wie das Schicksal will, die Sorge für Euch in Zukunft vielleicht nicht mehr sorgen zu dürfen, oder gar nicht mehr zu können, ist meine größte Sorge. Was wird aus Euch, meine l[ie]b[en] beiden Kleinen werden wenn ich nicht mehr bin? Zu oft quälen mich die Gedanken. Zu gern möchte ich für Euch sorgen und Eure Lasten tragen. Oft sitze ich am Tag und in der Nacht an diesen Gedanken.“ [68]

Nach dem erzwungenen Verlust: Kriegs- und Nachkriegszeit

In Boffzen dürfte all das kaum jemanden mehr interessiert haben. Die Juden waren fort aus Boffzen, ihr Besitz verkauft und teils im Dorfe aufgeteilt. Die NSDAP-Ortsgruppe Boffzen sollte bald 450 Mitglieder betragen. [69] Hunderte Boffzener wurden seit 1939 zu den Waffen gerufen, folgten willig, waren Teil eines europäischen und globalen Hegemonial- und Vernichtungskrieges. Über ihre Taten ist wenig bekannt. Mehr als hundert von ihnen starben für „Führer und Vaterland“, für nichts und wieder nichts. Nein, falsch! Denn die Wehrmacht eroberte den Raum, in dem kein anderes Gesetz galt als das des Stärkeren. Auch Soldaten ermöglichten den Holocaust, bei dem der Anteil nicht-deutscher jüdischer Opfer bei 97 % lag. [70]

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Das 1938 erbaute Landjahrlager Boffzen – heute Gemeindeverwaltung, Polizei und Archiv (Postkarte, Privatbesitz)

Wirtschaftlich war auch die Kriegszeit eine des wirtschaftlichen Aufschwunges. Beide Boffzener Glashütten profitierten von Aufrüstung und Kriegsproduktion, wurden vor und während des Krieges beträchtlich modernisiert. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit in den 1950er Jahre gründete auf diesen Investitionen. Die Menschenlücken des Krieges wurden teils durch Zwangsarbeiter geschlossen. In Boffzen waren es 1943 mehr als einhundert [71], die Zahl stieg dann weiter an. [72] Insgesamt profitierten in Boffzen mehrere Dutzend Betriebe, Bauernhöfe und Haushalte von zwangspflichteten Arbeitskräften aus West- und Osteuropa. Im Landkreis Holzminden waren es über zehntausend.

Es ist fast ausgeschlossen, dass damals selbstkritische Rückfragen die Runde machten, wie sie etwa der 1945 ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer in seinem im Gefängnis Tegel verfassten Gedicht „Nächtliche Stimmen“ 1944 niedergeschrieben hat. Doch sie bringen vieles nicht Gesagtes an unsere Ohren: „Von Menschen gehetzt und gejagt, / wehrlos gemacht und verklagt, / unerträglicher Lasten Träger, / sind wir doch die Verkläger. / Wir verklagen, die uns in Sünde stießen, / die uns mitschuldig werden ließen, / die uns zu Zeugen des Unrechts machten, / um den Mitschuldigen zu verachten. / Unser Auge musste Frevel erblicken, / um uns in tiefe Schuld zu verstricken; / dann verschlossen sie uns den Mund, / wir wurden zum stummen Hund. / Wir lernten es, billig zu lügen, / Dem offenen Unrecht uns zu fügen. / Geschah dem Wehrlosen Gewalt / so blieb unser Auge kalt. / Und was uns im Herzen gebrannt, / blieb verschwiegen und ungenannt. / Wir dämpften das hitzige Blut / und zertraten die innere Glut. / Was Menschen einst heilig gebunden / das wurde zerfetzt und geschunden, / verraten Freundschaft und Treue, / verlacht waren Tränen und Reue. / Wir Söhne frommer Geschlechter, / einst des Rechts und der Wahrheit Verfechter, / wurden Gottes- und Menschenverächter / unter der Hölle Gelächter.“ [73]

Während des Krieges wandelte sich der Ort beträchtlich. 1946 hatte Boffzen 3.500 Einwohner, 1.500 mehr als 1939, stabilisierte sich dann bei etwa 3000. Kriegs- und Nachkriegszeit waren – Juden und andere Missliebige ausgenommen – Zeiten der Volks- und Notgemeinschaft. Das zu Beginn der NS-Zeit noch politisch und räumlich polarisierte Boffzen wuchs nun zusammen. War das „Dorf“ während der NS-Zeit immer auch Kulisse für die Ausgrenzung und Verfolgung, immer auch Tat- und Zuschauergemeinschaft, so mutierte das „Dorf“ nach 1945 auch zu einer Schweigegemeinschaft. Das schloss paradoxerweise auch die politisch zumeist dominierenden Sozialdemokraten mit ein, bei denen, wie bei anderen Parteien, auch ehemalige NS-Anhänger eine neue Heimstatt fanden.

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Unbedachte Wortwahl: Festwagen der Glashütte Noelle & von Campe beim Ortsjubiläum 1956 in Fortführung der NS-Parolen „Ehre die Arbeit und achte den Arbeiter“ (Maifeiertag 1933) resp. „Ehre die Arbeit – achte das Brot“ (Erntedank 1937) (Postkarte, Privatbesitz)

Die Verbrechen der NS-Zeit, des Krieges, sie wurden öffentlich nicht benannt, nicht erinnert. [74] In der Chronik von 1100 Jahren Boffzen wurde die NS-Zeit ausgeblendet, die jüdische Ortsgeschichte ignoriert. Bürgermeister Friedrich Knop und Gemeindedirektor Friedrich Böker beschworen im Vorwort „den alten Geist unseres Dorfes“ [75]. Verfasser dieser öffentlichen Erinnerungsschrift war der Lehrer Otto Ahrens, zuvor ein treuer Diener des NS-Regimes, 1945 von der Militärregierung entlassen, 1946 vom sozialdemokratisch dominierten Gemeinderat mit einer politisch tragbaren Bescheinigung versehen. [76]

Das galt in noch größerem Maße für die vielen, das Dorfgeschehen prägenden Nationalsozialisten. Die Militär-Regierung hatte anfangs zumindest einige Maßregeln erlassen, etwa gegen den Glashüttenbesitzer Karl August Becker. Sie endeten rasch. Die Entschädigungen der Verfolgten nach dem 1956 erlassenen Bundesentschädigungsgesetz kamen dagegen kaum voran. [77] Die Verfahren erst der Familie Lebenbaum, dann der Erbengemeinschaft Kleeberg zogen sich über viele Jahre hin, kamen erst Mitte der 1960er Jahre zu einem Abschluss. [78] Alle Angaben, alle Ansprüche wurden vor Ort penibel kontrolliert, vor allem aber nur schleppend bearbeitet. Im Entschädigungsfall Lebenbaum erfolgte auf ein Schreiben im Dezember 1959 fast vier Monate keine Antwort. [79]

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Schreiben des Regierungspräsidenten an die Gemeinde Boffzen vom 8. März 1960 zum Entschädigungsantrag des 89-jährigen Guido Lebenbaum (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“)

All dies erfolgte nach den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958, im Umfeld des Eichmann-Prozesses 1961, der 1963 einsetzenden Frankfurter Auschwitzprozesse. Selbst eine einfache Anfrage der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem über die Abmeldedaten wurde von der Gemeinde 1961 zuerst einmal nicht beantwortet. [80]

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1963 erstellte Liste der „Juden in der Gemeinde Boffzen“ – mit realen und später ergänzten Umzugsorten/-ländern (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“)

Für die Gemeindeverwaltung war der erzwungene Verlust Anlass für Arbeit und komplizierte Nachforschungen. In einem Schreiben an das Hannoveraner Landesrabbinat vom 13. Februar 1967 brachte Gemeindedirektor Friedrich Hansmann das Geschehen lapidar und grußlos auf den Punkt: „In der hiesigen Gemeinde waren bis zur Vertreibung der Juden 3 jüdische Familien ansässig. Der Judenfriedhof wurde nach dem Krieg aufgeräumt und wieder in Ordnung gebracht. Zur Zeit leben keine Juden in der Gemeinde Boffzen.“ [81] Erst auf nochmalige Rückfrage gab er weitere Informationen heraus, weniger aber als in obiger Liste. [82] Juden und ihre Rückfragen waren lästig, störten die Stille der Schweigegemeinschaft.

Zu dieser Zeit gab es allerdings schon private Kontakte: Ruth Gröne besuchte 1966 erstmals wieder das Haus ihrer Großeltern. [83] Doch erst unter Gemeindedirektor Ulrich Ammermann und Bürgermeisterin Marlis Loges begann in den 1980er Jahren ein auch öffentliches Interesse an der NS-Geschichte der Gemeinde, an dem erzwungenen Verlust der jüdischen Nachbarn.

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Frieda Volger (l.) trifft ihre frühere Mitschülerin Ruth Kolb, geb. Kleeberg, 1989 in Boffzen (Foto: Ruth Gröne)

Weitere Aufwendungen für den jüdischen Friedhof, offizielle Besuche von Walter Clay, geb. Kleeberg und Ruth Kolb, geb. Kleeberg, auch ein Gedenkstein folgten. Die lokalen Vereine, insbesondere der MTV und der Gesangsverein Brunonia, waren Teil all dessen. Auch die heutige Gedenkveranstaltung steht in dieser Tradition – und ich danke hierfür ausdrücklich.

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Gedenkstein der Gemeinde Boffzen von 2006 vor dem ehemaligen Landjahrlager, umrahmt mit Platten aus dem Toreingang zu Hermann Kleebergs Innenhof (Foto: Uwe Spiekermann)

Warum sich erinnern?

Können wir aus alledem etwas lernen? Als Historiker bin ich notorisch skeptisch. Krieg folgt auf Krieg, die Reden vom „Nie wieder“ ebben ab. Sieg tönt es, Kompromisse werden abgelehnt. Westliche gegen östliche Werte heißt es, wo doch mehr als die Hälfte der deutschen Juden Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion sind. Die Geschichte des Antisemitismus ist eine der steten Wiederkehr, der andauernden Gewalt und Vernichtungsdrohung. „Nie wieder“ tönt es, doch angesichts der Relativierungen antisemitischer Kunstwerke auf der diesjährigen Documenta, angesichts vielfach folgenloser Übergriffe auf Menschen mit Kippa und Davidstern, angesichts einer in breiten Bevölkerungsteilen hippen Israelkritik inklusive Boykottaufrufen reichen einfache Rückfragen nicht aus. Große Teile der Erinnerungskultur an den Holocaust dienen nicht der schmerzenden, der selbstkritischen Erinnerung, sondern dem wohligen Bewusstsein, nun endlich auf der richtigen Seite zu stehen. [84] Und ich kann Ihnen meine Erfahrungen hier in Boffzen nicht ersparen, wo die beiden Geschäftsführer des wichtigsten Arbeitgebers Noelle + von Campe eine an sich verbindliche Zusage an den Freundeskreis Glas schnöde brachen, als es um die Nennung der Herkunftsländer der von der Firma beschäftigen Zwangsarbeiter auf erinnernden Glasstelen vor ihrem Haupthaus ging – und zwar mit dem abstrusen Verweis auf die Befindlichkeiten möglicher Kunden aus Israel. Er wurde just in diesem Raum später nochmals wiederholt.

Skepsis ist angebracht, doch im Alltag geht es um praktisches Tun, um kleine Verbesserungen im überschaubaren Rahmen. Jean Goldenbaum, der diese Veranstaltung mit seiner Musik bereichert, bemüht sich von Neuhaus aus um die Revitalisierung jüdischen Lebens im Solling, im Landkreis Holzminden. Er kann sicher noch Unterstützung gebrauchen. Ruth Gröne hat immer wieder deutlich gemacht, dass Erinnern etwas anderes ist als folgenloses historisches Wissen. Es geht um die Aufgaben des Tages, des bürgerschaftlichen Miteinanders. Es geht – unausgesprochen und doch klar – um den heutigen Umgang mit Nachbarn, mit Menschen, die anders sind, nicht Teil der Mehrzahl, des konturenlosen „Dorfes“ oder gar des immer auch ausgrenzenden wohligen „Wir“.

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Familie Kleeberg, Boffzen 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Persönlich blicke ich abermals auf das Bild der Familie Kleeberg in ihrem Boffzener Innenhof: Ein kleines Kind im Kreis seiner Familie. Es ist Ruth Gröne, gewiss. Doch ich habe ähnliche Bilder vor Augen. Schauen Sie auf dieses Bild – und blicken Sie auf Sandra und Christian, auf Anna und Jan, auf Mia und Noah, auf die Lieben, für die Sie Sorge tragen. Und denken Sie vielleicht auch an Mohammed und Mara, an Wolodymyr und Wladimir. Ja, Träumen ist erlaubt, ist wichtig.

Erinnern aber erfordert mehr als Empathie mit den Opfern, als den Schutz des Eigenen. Die Boffzener haben die Last der Täter zu tragen, auch die der Zuschauer. Es gab viele nachvollziehbare Gründe, hier in Boffzen während der NS-Zeit mitzumachen, den jüdischen Nachbarn nicht beizustehen, sich abzuwenden, sich um seine eigenen Dinge zu kümmern. Zweifeln Sie bitte an derartigen Gründen, beharrlich und aus Prinzip. Und tragen sie diese Zweifel nicht nur im Herzen, sondern hinaus in ihren Alltag. Dann kann Erinnerung an einen erzwungenen Verlust vielleicht doch Frucht tragen.

Uwe Spiekermann, 19. November 2022

Dieser in der Manuskriptfassung belassene Vortrag wurde am 19. November 2022 bei einer von der Gemeinde Boffzen veranstalteten Gedenkveranstaltung gehalten. Mehrere Fotos wurden mir von Ruth Gröne zur Verfügung gestellt, wofür ich herzlich danke. Stefanie Waske und Hans Weike unterstützten dankenswerterweise die Sichtung der Quellen, Hilko Linnemann, Stefanie Waske, Walter Waske, Anja Schade und Ruth Gröne lasen den Text gegen und halfen Fehler zu tilgen. Die im Vortragstext enthaltenen Zeitdokumente wurden während der Veranstaltung von Manfred Bues, Hilko Linnemann, Marlies Linnemann, Manuela Püttcher und Stefanie Waske vorgetragen. Besonderer Dank für die Planung und Durchführung gilt Walter Waske.

Quellen- und Literaturhinweise

[1] Instruktiv hierzu Zygmunt Bauman, The Duty to Remember – But What? Afterword to the 2000 Edition, in: Ders., Modernity and the Holocaust, Ithaca und New York 2000, 222-250, 266-267; Sebastian Conrad, Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert, Merkur 75, 2021, 5-17
[2] Anja Schade, Sachor! – Erinnere Dich! Aus dem Leben der jüdischen Hannoveranerin Ruth Gröne, Hannover 2021.
[3] Landkreis Holzminden, Kreisarchiv, Bestand 1010, Nr. 232, Namentliches Verzeichnis der Juden.
[4] Bettina Wegner, Traurig bin ich sowieso. Lieder und Gedichte, Reinbek b. Hamburg 1982, 66.
[5] Ulrich Angermann (Hg.), Chronik der Gemeinde Boffzen, o.O. 2006; Fritz Ostkämper, Die Familien Kleeberg in Boffzen und Ameluxen (2017) (Die Familien Kleeberg in Boffzen und Amelunxen | Forum Jacob Pins Höxter (jacob-pins.de)).
[6] Hierzu – und auch für viele weitere Aussagen – die grundlegende Arbeit von Klaus Kieckbusch, Jüdisches Leben in Boffzen von 1620 bis 1945, Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 24, 2006, 45-140.
[7] Gustav Samuel, Die Namensgebung der westfälischen Landjudenschaft von 1808, Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 6, 1936, 47-51, hier 49-50.
[8] Hans-Heinrich Ebeling, Die Juden in Braunschweig. Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen der Jüdischen Gemeinde bis zur Emanzipation (1282-1848), Braunschweig 1987.
[9] Zu den Schwierigkeiten der Gemeindebildung und des Betraumes s. Kieckbusch, 2006, 89-94.
[10] Vgl. hierzu die allerdings nicht unumstrittenen Argumente in Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933, Frankfurt a.M. 2012, insb., 37-54, 93-96.
[11] Die in Boffzen und Höxter ansässige Firma beschäftigte 1928 80 bis 100 Personen (Volkswacht 1928, Nr. 168 v. 20. Juli, 8; Großfeuer in Boffzen, Westfälische Neueste Nachrichten 1928, Nr. 166 v. 18. Juli, 7). Zum Ortsbild s. Matthias Seeliger, Boffzen. Alte Häuser erzählen, Horb a.N. 1990.
[12] Uwe Spiekermann und Stefanie Waske, Wagemut und Kapital – Die Anfänge der Boffzener Glasindustrie 1866-1874 (2020) (https://glas-in-boffzen.com/2020/11/06/wagemut-und-kapitalmangel-die-anfange-der-boffzener-glasindustrie-1866-1874/), Uwe Spiekermann, Die Boffzener Glasindustrie offiziell – Auszüge aus dem Deutschen Reichsanzeiger 1874-1944 (https://glas-in-boffzen.com/2021/03/03/die-boffzener-glasindustrie-offiziell-auszuge-aus-dem-deutschen-reichsanzeiger-1874-1944/).
[13] Schade, 2021, 28-29.
[14] Einwohner-Adreßbuch des Kreises und der Stadt Holzminden, Ausgabe 1929/30, Stadtarchiv Holzminden, 4/E/1822.
[15] Schade, 2021, 17.
[16] Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 14. Dezember 1959, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[17] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Böker an das Landgericht Hannover, Entschädigungskammer v. 6. Juli 1963, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“. Vgl. auch Schreiben von Detlev Bronisch-Holtze an die Entschädigungskammer des Landgerichts Hannover v. 25. April 1963, Ebd.
[18] Chronik des Gemischten Chors Brunonia, Archiv der Samtgemeinde Boffzen.
[19] Schade, 2021, 23.
[20] Fritz Ostkämper, Die Häute- und Fellhändler Lebenbaum in Höxter und die Familie Lebenbaum in Boffzen (2017) (www.jacob-pins.de/?article_id=394&clang=0).
[21] Protokollbuch des Kriegervereins, 1900-1954.
[22] Schade, 2021, 18. Derartige Umgangsformen wurden reichsweit üblich, waren Teil eines seit dem Kaiserreich akuten antisemitisch grundierten Umgangs zwischen bäuerlicher Bevölkerung und jüdischen Viehhändlern, vgl. Stefanie Fischer, Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 1919-1939, Göttingen 2014; Werner Teuber, Jüdische Viehhändler in Ostfriesland und im nördlichen Emsland 1871-1942, Cloppenburg 1995.
[23] Täglicher Anzeiger Holzminden 1933, Ausgabe vom 13. März (auch für das folgende Zitat).
[24] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 130 Neu 3 Nr. 377.
[25] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[26] Archiv der Gemeinde Boffzen, Bestand A, Nr. 19 (alle drei Zeitate).
[27] Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 4 Nds. Zg. 2019/85 Nr. 75.
[28] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, 180 Hildesheim Nr. 13011.
[29] Davon findet sich nichts in Christina Becker, Die Boffzener Schule, in: Ammermann (Hg.), 2006, 180-186.
[30] Ein Aufarbeitung der in Boffzen zumindest bis 1937 im Gleichschritt mit der NSDAP agierenden evangelisch-lutherischen Gemeinde fehlt. In Christina Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, in: Ammermann (Hg.), 2006, 137-153, hier 137-146 findet sich hierzu leider nichts.
[31] Evangelische Kirchengemeinde Boffzen, Chronik.
[32] Täglicher Anzeiger Holzminden 1933, Ausg. v. 24. Juli. Zum Hintergrund s. Dietrich Kuessner (Hg.), Kirche und Nationalsozialismus in Braunschweig, Braunschweig 1980.
[33] https://kirchengemeindelexikon.de/einzelgemeinde/boffzen/.
[34] Täglicher Anzeiger 1933, Ausg. v. 4. Mai; ebd., Ausg. v. 25. Juni (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45).
[35] Protokollbuch des Kriegervereins, 1900-1954.
[36] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[37] Volkswacht 1924, Nr. 118 v. 21. Mai, 8; zur Karriere vgl. Gauleiterstellvertreter Knop im Amt, Sollinger Nachrichten 1941, Nr. 109 v. 12. Mai, 5.
[38] Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 Neu 13 Nr. 3930.
[39] Vgl. Christoph Reichardt und Wolfgang Schäfer, Nationalsozialismus im Weserbergland. Aufstieg und Herrschaft 1921 bis 1936, Holzminden 2016; Klaus Kieckbusch, Von Juden und Christen in Holzminden 1557-1945. Ein Geschichts- und Gedenkbuch, Holzminden 1998. Zum benachbarten Höxter s. Ernst Würzburger, Höxter: Verdrängte Geschichte. Zur Geschichte des Nationalsozialismus einer ostwestfälischen Kreisstadt, durchgesehene u. aktualisierte Neuausgabe, Holzminden 2014, 35-42.
[40] Stadtarchiv Hannover, 310 I A 61 I (auch für die folgenden Angaben).
[41] Täglicher Anzeiger 1933, Ausgabe vom 6. März. SPD (41,9 %) , KPD (12,9 %) , Sonstige (2,0 %) (November 1932); SPD (36,1 %), KPD (11,0 %), Sonstige (3,0 %) (1933).
[42] Niedersächsisches Landesarchiv Hannover R 9361 R 9361-III-568378.
[43] Adreßbuch der Gemeinden des Landes Braunschweig, 7. Auflage, 1938, V/9.
[44] Klaus Kieckbusch, Außerhalb der „Volksgemeinschaft“. Formen der Verfolgung während des Nationalsozialismus im Kreis Holzminden, Holzminden 2020, 163-168.
[45] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 200866; ebd. , Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 204185.
[46] Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc, 31/99 Nr. 204185.
[47] Hierzu detailliert Bundesarchiv Lichterfelde DAF NS 5-16398, Bd. 4 (Warenhäuser-Einheitspreisgeschäfte 1933); ebd., Reichswirtschaftministerium R 3101 13860 (Judenboykott, Tumultschäden 1933).
[48] Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, 2. Aufl., Göttingen 2012; Zur internationalen Diskussion vgl. Tomás Jiránek, Zbynek Bydra und Blanka Zubáková, Zidovsky bojkot nacistického Nemeck 1933-1941 [Der jüdische Boykott Nazi-Deutschlands 1933-1941], Pardubice 2020.
[49] Umfassend hierzu Peter Longerich, Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte, Bonn 2021, insb. 205-266.
[50] Vgl. etwa Hans Lazarus, In erfolgreichem Kampf gegen den Boykott, C.V.-Zeitung 10, 1931, 396.
[51] Archiv Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., Lieferbuch 1931-1935, 3, 50, 55, 86.
[52] Die 1886 gegründete, später in eine GmbH überführte Firma Hermann Gerngross wurde im Gefolge der Reichspogromnacht aufgelöst (Deutscher Reichsanzeiger 1886, Nr. 299 v. 20. Dezember, 9; ebd. 1939, Nr. 12 v. 14. Januar, 8).
[53] Archiv Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., 100, 118, 144, 165, 167, 168, 183, 220, 312, 341.
[54] Schreiben von Hattenhauer und Botterbusch an den Entnazifizierungsausschuss Holzminden v. 18. August 1947, Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 171 Hildesheim, Nr. 44787.
[55] Die Lieferung am 1. Juli 1938 umfasste Becher im Wert von 392,98 RM (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, G. Becker & Co., Lieferbuch 1938-1950, 3). Uhlfelder wurde kurz darauf „arisiert“, die Firma 1939 dann aufgelöst (Julia Schmideder, Das Kaufhaus Uhlfelder, in: Angelika Baumann und Andreas Heusler (Hg.), München arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, 127-175).
[56] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Böker vom 15. März 1960 an den Regierungspräsidenten in Hannover, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[57] Bernard Wasserstein, On the Eve. The Jews of Europe Before the Second World War, New York 2012.
[58] Kieckbusch, 2006, 125.
[59] Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011, insb. 12-16.
[60] Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45.
[61] Kieckbusch, 2006, 117-118.
[62] Landkreis Holzminden: „Abwicklung der jüdischen Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe“.
[63] Das Folgende nach Kieckbusch, 2006, 122-124.
[64] Schreiben des Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 31. Mai 1961, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[65] Kreisarchiv Holzminden, Bestand 1010, Nr. 199.
[66] Vgl. zu den Deportationen Riga. Deportationen, Tatorte, Erinnerungskultur, o.O. o.J. (2020).
[67] Schade, 2021, 57. Vgl. zur Situation in Hannover Ruth Herskovits-Gutmann, Auswanderung vorläufig nicht möglich. Die Geschichte der Familie Herskovits aus Hannover, Göttingen 2002, insb. 93-104 sowie zu den Schwierigkeiten der Emigration Armin Schmidt und Renate Schmidt, Im Labyrinth der Paragraphen. Die Geschichte einer gescheiterten Emigration, durchges. Neuausgabe Frankfurt a.M. 2002.
[68] Schade, 2021, 84.
[69] Notiz von H. Riefkuhle an Bürgermeister Ernst Bues vom 27. Mai 1945 (Landkreis Holzminden, Kassenverwalter Boffzen). Die Ortsgruppe Boffzen bestand aus den Zellen Boffzen, Fürstenberg, Derental, Meinbrexen und Neuhaus Fohlenplacken.
[70] Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, Frankfurt a.M. 2017.
[71] ITS Arolsen, Nr. 117.
[72] Betriebsüberprüfung der Firma G. Becker & Co. v. 10. Juni 1943, Erfüllungsmeldung v. 7. Juni 1944, Erfüllungsmeldung vom 6. Februar 1945; Betriebsüberprüfung der Firma Noelle & von Campe v. 10. Juni 1943, Erfüllungsmeldung vom 8. Februar 1945 (alle Bundesarchiv Lichterfelde, R 13-X-193).
[73] Dietrich Bonhoeffer, Nächtliche Stimmen in Tegel, in: Ders. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, 2. Aufl., München 1977, 383-389, hier 386-387.
[74] Michael Wildt, NS-Eliten in der Bundesrepublik, in: Ders., Wer waren die Nationalsozialisten?, Bonn 2021, 241-261.
[75] Otto Ahrens, 1100 Jahre Boffzen, o.O. 1956.
[76] Gemeindebeirats-Sitzung am 5. April 1946, Archiv des Samtgemeinde Boffzen, Gemeinderatsprotokolle.
[77] Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.
{78] Vgl. etwa Schreiben der Entschädigungsbehörde Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 7. Februar 1962, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[79] Schreiben des Regierungspräsidenten Hannover an die Gemeinde Boffzen vom 14. Dezember 1959, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[80] Schreiben von Yad Washem [sic!] an die Gemeinde Boffzen vom 12. September 1960; Schreiben von Yad Washem an die Gemeinde Boffzen vom 8. März 1961, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[81] Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[82] Schreiben des Gemeindedirektors Friedrich Hansmann an das Landesrabbinat vom 14. April und 10. Juni 1967, Archiv der Samtgemeinde Boffzen, Vorläufiger Bestand „Juden“.
[83] Neue Westfälische 1988, Nr. 144.
[84] Ulrike Jureit, Womit wir alle nicht fertig werden. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, in: Magnus Brechtgen (Hg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Bonn 2021, 171-190.

Ambivalenzen: Jüdisches Leben während der Weimarer Republik

Ein Satz hallte nach in meinem Kopf, gesprochen auf einer Buchvorstellung am 29. August 2021 im niedersächsischen Lauenförde: „Als es dann 1930 mit dem Antisemitismus so richtig los ging“. Keine Frage, der massive Bedeutungsgewinn der NSDAP nach Beginn der Weltwirtschaftskrise, nach dem Zerbrechen der Großen Koalition und nach der Etablierung einer Präsidialdiktatur ging einher mit wachsendem Druck auf die jüdische Minderheit. Doch der irritierende Widerhall kam aus dem Subtext des Satzes, der Vorstellung einer Zeit des guten gedeihlichen Miteinanders zwischen einer zumeist christlich getauften Mehrheitsgesellschaft und den Angehörigen einer religiösen Minderheit. Auch das hat einen wahren Kern, fiel der Satz doch im Lauenförder Bürger- und Kulturzentrum, einem mit viel Eigeninitiative restaurierten Gebäude, 1913 als evangelisches Gemeindehaus eingeweiht, finanziert durch eine Spende des jüdischen Möbelproduzenten Hermann Löwenherz (1854-1916) (Detlev Herbst, Von der Holzwarenfabrik zur Herlag – Die Kaufmannsfamilie Löwenherz aus Lauenförde, Holzminden 2021, 54-56). Und doch, die Ambivalenzen jüdischen Lebens während des Kaiserreichs und insbesondere während der Weimarer Republik schienen mir in den Hintergrund gedrängt. Wie also war die Stellung der Juden als Minderheit im Jahrzehnt vor 1930? Wie stellte sie sich zur Mehrheit, passte sie sich an, verlor sie ihre Identität? Und wie definierte sich die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft im Angesicht der Herausforderung, die jede Andersartigkeit mit sich bringt?

Die jüdische Minorität im Spiegel der Statistik

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Die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich (jeweilige Grenzen) 1890-1935 (Monika Richarz (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, 14)

Die Zahl der Juden nahm im Deutschen Reich seit dem späten 19. Jahrhundert erst relativ, seit 1910 auch absolut ab. Gab es kurz vor dem 1. Weltkrieg noch mehr als 600.000 Juden in Deutschland so waren es am Ende der Weimarer Republik nur noch ca. 550.000. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag damals bei etwa 0,8% – 1871, bei der Gründung des Deutschen Kaiserreiches hatte dieser Anteil noch 1,25% betragen. Dieser beträchtliche Rückgang wäre zudem ohne eine nennenswerte Zuwanderung noch deutlich stärker gewesen. Während der Weimarer Zeit war ungefähr ein Fünftel der Juden Ausländer. Diese stammten größtenteils aus den durch den Versailler Vertrag abgetretenen Gebieten im Osten des Reiches, zudem aber aus Polen und der Sowjetunion.

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Orthodoxe Zuwanderer in Berlin (Der Arbeiter-Fotograf 4, 1930, 237)

Die Statistik spiegelt die Wanderungsbewegungen nicht angemessen wieder. Das „russische“ Berlin, „Charlottengrad“, war Anfang der 1920er Jahre auch von zahlreichen jüdischen Emigranten geprägt. Mehr als 70.000 Menschen wanderten nach 1918 großenteils als Deutsche ins kleinere Deutsche Reich zurück – doch dies geben die reinen Bevölkerungsdaten nicht wieder. Die Zahlen spiegeln auch nicht die 35.000 jüdischen Zwangsarbeiter, die während des Krieges von der deutschen Armee rekrutiert und zur Arbeit ins Deutsche Reich gebracht wurden. Diese Maßregeln deuten schon darauf hin, dass die Zuwanderer aus anderen Schichten als die einheimischen Juden kamen. Sie gehörten meist der sozialen Unterschicht an, waren vielfach Fabrikarbeiter und noch häufiger Händler. Der hohe Ausländeranteil war schließlich auch Ausdruck der strikten deutschen Einwanderungsgesetze. Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1913 hatte Naturalisationen erschwert: 40% der 1933 in Deutschland lebenden ausländischen Juden waren in Deutschland geboren, nicht aber Staatsbürger.

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Demographische Entwicklung der Juden und der deutschen Gesamtbevölkerung 1880-1884, 1910-1913, 1930-1933 (Avraham Barkai, Die Juden als sozio-ökonomische Minderheitengruppe in der Weimarer Republik, in: Walter Grab und Julius Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, 330-346, hier 333)

Der Rückgang der Zahl der Juden hatte verschiedene Ursachen: Während der Weimarer Republik lag die Zahl der Austritte mit ca. 500 pro Jahr deutlich unter den Werten des Kaiserreichs. Wichtiger war die wachsende Zahl von gemischt-konfessionellen Ehen. In den 1920er Jahren wählte rund ein Drittel aller heiratenden Juden eine nichtjüdische Braut oder einen Bräutigam. Die meisten Kinder dieser sog. „Mischehen“ wurden nicht mehr jüdisch erzogen. Der Rückgang der Zahl war offenkundig auch Ausdruck einer beträchtlichen Integration der jüdischen Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft. Gleichwohl: Der wichtigste Grund für die schwindende Zahl war die geringe Reproduktion, die geringe durchschnittliche Kinderzahl in jüdischen Familien. Die Geburten reichten durchweg nicht mehr aus, um die Toten zu ersetzen. Diese Entwicklung prägte zeitversetzt auch die Mehrheitsgesellschaft. Dass die Deutschen „aussterben“ würden, war eine weit verbreitete Angst in den 1920er Jahren – für die Juden schien diese jedoch begründeter. Die demographische Folge war ein immer geringerer Anteil von Kindern und ein wachsendes Durchschnittsalter. 1925 war der durchschnittliche Jude knapp 35 Jahre alt, der nichtjüdische Deutsche dagegen 27 Jahre. All dies sorgte innerhalb der Minorität für tiefe Besorgnis, galt als Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland.

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Die zehn größten jüdischen Gemeinden Mitteleuropas 1925 (Avraham Barkai, Jüdisches Leben in seiner Umwelt, in: Ders. u. Paul Mendes-Flohr, Deutsche-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV, München 1997, 50-73, hier 60)

Parallel setzte sich die Binnenwanderung vom Land in die Städte, genauer die Großstädte, fort. War jüdisches Leben in deutschen Landen im 19. Jahrhundert noch stark von „Landjuden“, von kleinen Gemeinden in Klein- und Mittelstädten geprägt, so lebten 1910 schon 60% in Großstädten, 1933 waren es dann 70%. Landjuden gab es noch, doch deren Gemeinden konzentrierten sich vornehmlich auf Südwestdeutschland, Hessen und Thüringen. Diese Bevölkerungsverteilung unterschied die Juden signifikant von der Bevölkerungsmehrzahl. Sie waren Trendsetter der Urbanisierung, Trendsetter der Metropolenbildung. Die Hälfte der jüdischen Minderheit lebte in den sieben Hauptgemeinden in Berlin, Breslau, Hamburg, Köln, Leipzig, München und Frankfurt am Main. Dort war ihr Anteil an der Wohnbevölkerung mit 1925 über 6% am relativ höchsten. Unbestrittener Mittelpunkt jüdischen Lebens war und wurde jedoch Berlin, wo schließlich mehr als ein Drittel der Minderheit lebte.

05_Liepach_1996_p073_Juden_Berlin_Verwaltungsbezirke_Statistik_1933

Jüdische Einwohner in ausgewählten Verwaltungsbezirken Berlins im Juni 1933 (Martin Liepach, Das Wahlverhalten der jüdischen Bevölkerung, Tübingen 1996, 73)

Aber auch innerhalb dieser Metropolen gab es eine Konzentration der jüdischen Wohnbevölkerung. In den fünf in der Tabelle aufgeführten Berliner Bezirken – es gab insgesamt 20 – lebten 70% aller Berliner Juden. Dadurch war es möglich, relativ starke Gemeinden zu bilden und zu bewahren.

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Beschäftigungsstruktur deutscher Juden 1907, 1925 und 1933 (Barkai, 1986, 333)

Zugleich unterschied sich die Berufs- und Sozialstruktur der jüdischen Minorität deutlich von der Bevölkerungsmehrheit. Sie entsprach vornehmlich denen des späten 19. Jahrhunderts. Der Anteil der Bauern war marginal, besondere Bedeutung besaß dagegen die Erwerbstätigkeit in Handwerk und Industrie, vornehmlich aber die im Handel. Mit dieser Schwerpunktsetzung reagierten die Juden nicht nur auf die zahlreichen beruflichen Restriktionen, sondern waren zugleich Trendsetter der mit der Industrialisierung einhergehenden Bildung einer modernen Konsumgesellschaft. So lag die Quote der Selbständigen mit 46% dreimal höher als in der Gesamtbevölkerung. Die Mehrzahl der nicht selbständigen Juden arbeitete in eben diesen Betrieben und Geschäften. Die jüdische Minderheit war vornehmlich im Handel tätig, im gewerblichen Bereich dominierte die Bekleidungsbranche. Dies führte zu einer beachtlichen und auch sichtbaren Stellung im Einzelhandel. Bekannte Namen, wie etwa die Warenhausfirmen Tietz, Wertheim, Israel, Schocken oder Jandorf waren reichsweit bekannt; doch diese Großbetriebe waren eher Ausnahmen. Die Mehrzahl der jüdischen Handelsgeschäfte bestand aus mittelständischen Fachgeschäften und kleineren Kaufhäusern. Agrar- und Metallhandel bildeten wichtige Nischenbranchen. Die jüdische Minderheit wies außerdem überdurchschnittlich viele Angestellte auf, vornehmlich Reisende, Verkäufer und Buchhalter. Im Bankwesen konnte sie ihre herausragende Stellung bei den Privatbanken (45% 1920) behaupten, doch bei den wesentlich wichtigeren Aktienbanken lag ihr Anteil bei lediglich ein Prozent. Das Berufsspektrum umgriff ferner eine wachsende Zahl von Freiberuflern, vornehmlich Ärzten und Rechtsanwälten (11 bzw. 16%).

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Erwerbstätigkeit bei Juden und Nichtjuden in Preußen 1925 (Liepach, 1996, 75)

Die Unterschiede zur Mehrheitsgesellschaft waren also beträchtlich – vor dem Hintergrund der beruflichen Restriktionen und der auch während des Kaiserreichs weiter bestehenden Diskriminierung etwa bei der Besetzung von Beamten- und Offiziersstellen war das jedoch nicht wirklich verwunderlich. Entsprechende Spezialisierungen sind typisches Kennzeichen ethnischer und religiöser Minoritäten. Verwunderlich ist jedoch die beträchtliche Konstanz dieser Strukturen auch während der Weimarer Zeit. Die zahlenmäßig schwindende Gruppe der Juden meisterte den wirtschaftlichen Wandel nur teilweise. Bei der Konzern- und Trustbildung, im Genossenschaftswesen und im Felde der öffentlichen Wirtschaft – also in den eigentlichen Wachstumsbranchen der 1920er Jahre – fehlten jüdische Unternehmer zumeist. Ihre Stellung mochte in einzelnen Bereichen – etwa dem Pressewesen – durchaus beträchtlich gewesen sein, doch als Gruppe hatten sie, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre noch im Kaiserreich hervorstechende Innovationskraft vielfach verloren. Sie blieben vielfach bei den Berufen ihrer Väter, strebten auf Bewahrung ihrer Stellung. Entsprechend verwundert es nicht, dass in den späten 1920er Jahren keines der zehn größten Vermögen in jüdischer Hand war. Sie standen mehrheitlich für ältere Formen der Ehrsamkeit; und wandten sich entsprechend mit Entschiedenheit gegen Korruption und Bestechung. Die wenigen Fälle, etwa der Skandal um die Bestechungen der Gebrüder Sklarek in Berlin 1929, wurden gleichwohl als antisemitisches Stereotyp verwandt; und das bis weit hinein ins Bürgertum. Dieses relative Zurückfallen der jüdischen Gewerbe zeigt sich auch in ihrem während der 1920er Jahre langsam wachsenden Beamtenanteil.

Die Beschäftigungsstruktur mündete in eine von der Mehrheitsbevölkerung deutlich abweichende Sozialstruktur. Die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung war Teil des bürgerlichen Mittelstandes, wobei Wirtschafts- und Kleinbürgertum vor dem Bildungsbürgertum rangierten. Entsprechend lag die Frauenerwerbsquote deutlich unterhalb des Bevölkerungsdurchschnitts. Die Oberschicht war relativ klein, während sich die Unterschicht vornehmlich aus den Zuwanderern Osteuropas rekrutierte. Das Steueraufkommen der Minorität lag entsprechend drei- bis viermal höher als das der Gesamtbevölkerung. In Berlin stellten sie Mitte der 1920er Jahre 15% aller Steuerzahler und trugen nicht weniger als 30% aller direkten Steuern der Reichshauptstadt.

 Die jüdischen Gemeinden – Strukturen und Binnenprobleme

Dieser statistische Blick von außen ist zu ergänzen durch einem notwendigerweise groben auf die Binnenstruktur der jüdischen Minderheit. Sie fühlte sich durch die neue Verfassung, im Wesentlichen geschrieben vom jüdischen Juristen Hugo Preuß (1860-1925), erstmals in der deutschen Geschichte wirklich anerkannt. Alle Staatsbürger besaßen demnach „ohne Unterschied“ gleiche Rechte, Art. 135 garantierte ferner volle Glaubensfreiheit und eine ungestörte Religionsausübung. Damit waren nicht nur der Sabbat und die Sabbatruhe anerkannt, sondern fanden auch langwierige Debatten, etwa über die Schechita, also das religionskonforme Schlachten, ein vorläufiges Ende. Zudem wurde die jüdische Religion offiziell anerkannt, konnte also wie die christlichen Glaubensgemeinschaften Körperschaften des öffentlichen Rechtes bilden und dadurch staatliche Zuschüsse erhalten. Die Folge war eine institutionelle Neustrukturierung der jüdischen Gemeinden, etablierten sich doch nun Landesverbände als Zusammenschlüsse der lokalen Gemeinden.

Daneben organisierten sich die Juden in sehr unterschiedlichen, sich teils erbittert bekämpfenden Interessenvertretungen. Die wichtigste Organisation war der schon 1893 zur Abwehr des Antisemitismus gegründeten CV, genauer der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er vertrat die große Mehrheit der Minderheit, insgesamt ca. 300.000 Personen. Seine Ziele waren Interessenvertretung und zugleich Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft, sei es durch Aufklärungsarbeit über jüdische Religion und Tradition, sei es durch eigene Publikationen, sei es durch Rechtsbestand. Während der Weimarer Republik unterstützte er zudem finanziell und publizistisch demokratische Parteien, vorrangig die linksliberale DDP, seltener die wirtschaftsliberale DVP. Er stand für die deutschen Juden, genauer für eine deutsch-jüdische Synthese.

08_Jüdische Rundschau_34_1929_p056_Judentum_Zionismus_Palaestina_Dokumentarfilm

Heimkehr nach Erez Israel: Zionistische Werbefilm (Jüdische Rundschau 34, 1929, 56)

Das erschien den seit 1912 in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland organisierten Zionisten als Verrat an der jüdischen Sache. Sie forderten eine Rückbesinnung auf die Religion ihrer Vorväter und eine Rückkehr des Volkes Israel nach Palästina. Das jüdische Heimatland stand seit 1920 unter einem von britischen Militärs getragenen Völkerbundmandat – und lud die Juden seit 1922 explizit zur Gründung einer neuen Heimstatt, eines neuen Staates Israel ein. Diese Optionen nahmen – trotz der arabischen Bevölkerungsmehrheit und einer sehr schlechten Erschließung des Landes – in den 1920er Jahren mehr als 2.000 deutsche Juden war, doch die Hälfte davon kam wieder nach Deutschland zurück. Insgesamt repräsentierten die Zionisten nur etwa 10% der Juden in Deutschland, doch deren Jugendlichkeit, ein breites Publikationswesen und die Kooperation mit den ausländischen Juden in Deutschland sicherten ihnen beträchtliche Aufmerksamkeit.

CV und Zionisten waren die publizistisch aktivsten Vertreter der jüdischen Minderheit. Daneben war das Alltagsleben durch ein sehr ausgeprägtes Vereinsleben gekennzeichnet. Ein Großteil der Männer war im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten organisiert, hatten doch schließlich 90.000 Juden in der deutschen Armee gedient, deren Verluste mit 12.000 Toten überdurchschnittlich waren.

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Anzeige des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten 1922 (C.V.-Zeitung 1, 1922, 371)

Sie verkörperten das deutsch-nationale Element innerhalb der Minderheit, waren aber strikt republikanisch ausgerichtet, arbeiteten beispielsweise mit dem sozialdemokratischen Reichsbanner zusammen. Ein Viertel der jüdischen Frauen war im Jüdischen Frauenbund organisiert, der soziale Aufgaben in den jüdischen Gemeinden und den jeweiligen Städten übernahm, für eine breitere Berufstätigkeit der Frauen warb und vehement für das Frauenwahlrecht innerhalb der jüdischen Gemeinden eintrat, das insgesamt nur der Hälfte zustand. Das jüdische Vereinswesen etablierte und stützte ihr Milieu, so wie bei anderen gesellschaftlichen Großlagern.

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Sportfest der zionistischen Makkabi-Vereine in Berlin 1929 (Das jüdische Magazin 1, 1929, H. 3, 48)

Es gab jüdische Sportvereine, Bibliotheken, zehn jüdische Gymnasien, 1919 wurde die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gegründet, jüdische Volksschulen, Krankenhäuser, Bibliotheken runden das Bild ab. In Berlin waren Ende der 1920er Jahren 1.500 Personen innerhalb der Gemeinde beschäftigt.

Der Auf- und Ausbau dieser Einrichtungen und Vereine war jedoch zumeist umstritten. Die Konturen und Aufgaben der jüdischen Gemeinden wurden von einzelnen Fraktionen sehr unterschiedlich definiert. CV und liberale Juden verstanden ihre Gemeinden als Religionsgemeinde. Sie hatte sich vor allem um den Gottesdienst und die Weitergabe des Glaubens zu kümmern. Dagegen verlangten die Zionisten eine Fortentwicklung zu Volksgemeinden. Neben die Religionsausübung trat ein strukturell der Arbeiterkultur entlehntes Netzwerk von Selbsthilfevereinen, die für alle Belange des Lebens zuständig waren. Dieser Gegensatz von Religions- und Volksgemeinden basierte auf grundsätzlich unterschiedlichen Vorstellungen vom Judentum. Auf der einen Seite standen die Zionisten und die orthodoxen Juden. Sie verstanden sich selbst als Teil des Volkes Israel, dessen Selbstbehauptung in den jeweiligen Gastländern zentral für die Bewahrung jüdischer Identität war. Auf der anderen Seite stand die Mehrzahl liberaler Juden, für die Judentum eine Religion war, die auf einer gemeinsamen Geschichte basierte. Ihre Identität lag in der religiösen Praxis und ihrer Herkunft, doch parallel war eine enge Anlehnung an die deutsche Kultur und Nation sehr wohl möglich. Gegen diese Idee von Deutschen jüdischen Glaubens setzten die Zionisten eine gemeinsam zu erringende Zukunft, auf die Erfüllung der Verheißungen der Propheten.

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Innerreligiöse Demokratie: Wahlergebnisse in Preußen 1925 (C.V.-Zeitung 9, 1930, 626)

Um diese und andere Fragen wurde intensiv gerungen, Mitte der 1920er Jahre konnten die Zionisten in Kooperation mit den Orthodoxen gar die Gemeindewahlen in Berlin gewinnen. Andere Streitpunkte bildeten das Frauenwahlrecht innerhalb der Gemeinden, wobei Anfang der 1920er Jahre um das aktive, am Ende dagegen um das passive Wahlrecht gerungen wurde. Die Bemühungen fanden ihren Widerhall in der 1935 erfolgten Bestellung von Regina Jonas (1902-1944) als erster Rabbinerin. Erst 2010 folgte mit Alina Treiger eine zweite.

Intensive innerjüdische Debatten gab es auch um die Stellung der ausländischen Juden, auch intern vielfach Ostjuden genannt, die gemeinhin mit Bildern aus dem Berliner Scheunenviertel verbunden werden. Auch hier prallten die Gegensätze strikt aufeinander. Während der CV die traditionelle jüdische Kleidung und Haartracht in der Öffentlichkeit in Frage stellte und die Ostjuden vielfach als fremdländisch wahrnahm, urteilten Orthodoxe und Zionisten deutlich anders. Für sie verkörperten die Zugewanderten noch einen Abglanz des alten Volkes Israel mit seiner Sittenstrenge, seinem Mystizismus, seiner klaren Abgrenzung.

Bündelt man all dies, so erscheint die Binnenwelt des Judentums von all den Konfliktlinien durchfurcht, in denen um Ausmaß und Richtung der Moderne gerungen wurde. Politisch aber engagierten sich in den 1920er Jahren alle Fraktionen für die republikanischen Parteien – und hier vornehmlich für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, seltener die DVP. Die wenigen jüdischen Politiker gehörten entweder der DDP oder aber der SPD an.

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Unterminierung der politischen Repräsentanz der meisten Juden (Kladderadatsch 83, 1930, 32)

Letztere wurde nach dem Niedergang des Linksliberalismus – 1930 fusionierten DDP und der teils antisemitische Jungdeutsche Orden zur Deutschen Staatspartei – zu einer wichtigem Auffangbecken jüdischer Wähler. Diese zogen sich eben nicht in die Wahlenthaltung zurück, sondern unterstützten bewusst sogar das Zentrum, da dieses für die freie Religionsausübung stritt. Das „katholische“ Münster war dafür ein gutes Beispiel.

Erfahrung und Umgang mit dem Antisemitismus

Damit komme ich zum letzten Punkt, zur Erfahrung und zum Umgang mit dem Antisemitismus während der 1920er Jahre. Der gut gemeinte Satz „Als es dann 1930 mit dem Antisemitismus so richtig los ging“ impliziert schon, dass es ihn gab. Er unterschätzt aber, dass dieser sowohl während des Kaiserreichs als auch während der Weimarer Republik allgemein verbreitet war. Er betraf nicht nur das völkische bzw. das konservativ-nationale Milieu. Im katholischen Milieu gab es beträchtliche antijudaistische Vorbehalte, auch in den sozialdemokratischen und kommunistischen Milieus trugen die Zerrbilder des Schiebers und des Kapitalisten jüdische Züge. Im bürgerlichen Lager bestanden beträchtliche antisemitische Ressentiments, die sich etwa in Karikaturen niederschlugen, in denen das Stereotyp der vermeintlich jüdischen Nase fleißig-fröhliche Urstände feierte.

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Alltägliche Diskriminierung (Fliegende Blätter 157, 1922, 145)

Die nationale Opposition denunzierte die Weimarer Republik von Beginn an als „Judenrepublik“, wobei sie sich vor allem auf München und die dortige Räterepublik konzentrierte. Die Gewaltwelle der Jahre 1918/19 hatte immer wieder antisemitische Antriebe. In vielen Tumulten, Hungerkrawallen und Plünderungen waren jüdische Ladenbesitzer Ziele direkter Gewalt. Eine Höhepunkt fanden diese Krawalle des Anfangs mit den Pogromen im Berliner Scheunenviertel im November 1923. Die Versatzstücke des Antisemitismus wurden zu einem Dispositiv, mit dem zugleich Repräsentanten republikanischer Parteien denunziert wurden.

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Denunziation Weimars als „Judenrepublik“ (Kladderadatsch 72, 1919, Nr. 29)

Hier erscheint etwa der frühere katholische Volksschullehrer und damalige Finanzminister Matthias Erzberger (1875-1921) als Rabbi, wobei Antikapitalismus und krude Vorstellungen von Opferlamm und Blutritual eine logikarme, aber offenbar wirkungsmächtige Mixtur eingingen. Erzberger, der auch den Mut hatte, als Leiter der Waffenstillstandskommission am 7. November 1918 die notwendige Unterschrift zu leisten, wurde von völkischen Kreisen ermordet.

Wie aber gingen die jüdischen Organisationen mit dieser andauernden Herausforderung um? Während die Zionisten Antisemitismus als Argument gegen eine mögliche deutsch-jüdische Symbiose verstanden, setzte der CV auf Gegenargumente und eine positive Selbstdarstellung. Typisch hierfür waren Aufklärungsbroschüren, Hinweise auf die von Juden für ihr Vaterland Deutschland erbrachten Opfer oder aber Listen mit den Namen führender jüdischer Kulturschaffender, Wissenschaftler und Unternehmer.

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Broschüre gegen die Blutrituallüge bzw. Gedenkstein für gefallene jüdische Soldaten in Laupheim 1929 (C.V.-Zeitung (Monatsausgabe) 1929, Nr. 6, 45 (l.), ebd., Nr. 10, 70)

Diese Gegenmaßnahmen bewirkten wenig. Im Gegenteil: Auch während der sog. Stabilisierungszeit war Gewalt gegen Symbole jüdischen Lebens und jüdischen Glaubens ein dauerhafter Begleiter im Alltag. Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Friedhofsschändungen völkischer „Aktivisten“. Der CV brandmarkte dies als kulturlose Schandtat, appellierte wieder und wieder an die Landes- und Reichsregierungen, gab eigene Broschüren heraus. Die Gewalt aber ging weiter.

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Verwüsteter jüdischer Friedhof in Erfurt 1926 und Statistik der Friedhofsschändungen im Deutschen  Reich 1923-1932 (C.V.-Zeitung (Monatsausgabe) 1926, Nr. 3, 21 (l.), ebd. 1932, Nr. 7, 40)

Ende der 1920er Jahre vermehrte sich zudem der wirtschaftlicher Druck auf die jüdische Minderheit, wobei die mittelständische Agitation des späten Kaiserreichs die Blaupause bot. Typisch waren etwa Flugblätter, in denen deutsche und jüdische Geschäfte gegenüber gestellt wurden, um so den Volksgenossen Handlungsanleitungen an den Tag zu legen. Seit der Weltwirtschaftskrise intensivierte sich die Propaganda für deutsche – und das hieß stets auch nichtjüdische Geschäfte und Waren. 1930 gab es allen deutschen Großstädten sog. Deutsche Wochen. Braune Wochen schlossen sich dann an.

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Wirtschaftliche Agitation mittelständischer Kaufleute gegen ihre jüdische Konkurrenz in Osnabrück 1928 und Spott über derartige Umtriebe 1930 (Martina Krause und Michael Gander, „Arisierung“ des jüdischen Handels und Handel mit jüdischem Besitz im Regierungsbezirk Osnabrück, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich, Bramsche 2000, 226-243, hier 228 (l.); Der Wahre Jacob 51, 1930, Nr. 25)

Ein kurzer Blick noch auf die Reaktionen der meisten Juden auf diese Formen direkten Antisemitismus. Die generationsübergreifenden Erfahrung von Diskriminierung erklärten während der 1920er Jahre die meisten Juden mit Vorurteilen und mangelhaften Kenntnissen über ihre Religion. „Der Erbfeind des Judentums ist die Halbbildung“ hieß es entsprechend. Auch die innere Fraktionierung des Judentums hatte hieran ihren Anteil, entsprechend sah man vor allem die sog. Ostjuden im Fokus des Antisemitismus, der den etablierten steuerzahlenden Juden nicht galt. Teilweise wurden gar Teile der antisemitischen Propaganda bejaht, etwa die Kritik an der Börsenspekulation oder aber an einem überbordenden Materialismus.

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Antisemitische Tropen links und rechts: Kampf gegen Börse und Großkapital (Kladderadatsch 84, 1931, Nr. 5 (l.); Der Rote Stern 1929, Nr. 171 v. 5. September, 4)

Generell übernahmen und praktizierten deutsche Juden vermeintlich deutsche Tugenden in besonderem Maße. Die Dumpfheit des plärrenden Antisemitismus führte zur kulturellen Verachtung seiner Propagandisten, die mit einer Geringschätzung ihrer Negativmission einherging. Im Alltagsleben entwickelte man Strategien, um mit Antisemiten und Antisemitismus nicht direkt in Kontakt treten zu müssen. Dieser traf weniger die Erwachsenen, sondern häufiger qua Schule die Kinder. Die lange Erfahrung von Antisemitismus machte es außerdem möglich, seine Erscheinungsformen als zeitlich vorübergehend zu verstehen – die Krawalle des Anfangs 1918/19 hatten sich in dieser Intensität nicht wiederholt, die damalige völkische Mobilisierung hatte man überstanden. Außerdem setzte man auf die persönlichen Alltagserfahrungen mit vielen nicht antisemitisch gesinnten Deutschen. Dies umgriff zu Beginn der Republik auch zahlreiche Vertreter linker und liberaler Parteien sowie kleiner Teile des Zentrums. Die Zeitgenossen haben die Verschärfungen, die der Terror der NSDAP ab 1930 mit sich brachte, nicht als existenzielle Bedrohung gesehen. Wegsehen und Bildungsdünkel, das Vertrauen auf Recht und Logik, verfehlte historische Deutungen und das Setzen auf die deutschen Freunde waren dafür ursächlich.

Bevor „es dann 1930 mit dem Antisemitismus so richtig los ging“…

Vielleicht verstehen Sie nun, warum mich der Ausgangssatz irritierte. Gut gemeint, schielte er doch, blendete die Alltagsrealität jüdischen Lebens in der Weimarer Republik vielfach aus, blieb in der Wunschwelt einer gelungenen deutsch-jüdischen Symbiose stecken. Fassen wir die Aussagen zusammen, so zeigt sich ein differenziertes Bild: Die jüdische Minorität war erstens gewiss einzigartig, blickt man auf ihren speziellen Beitrag zur Kultur und Wirtschaft der Weimarer Republik. Sie war zugleich aber gekennzeichnet durch tiefgreifende innere Kämpfe, in denen Fundamentalisten gegen Vertreter des Pluralismus, Pragmatiker gegen Visionäre, Ostjuden gegen Deutschnationale standen. Die Lebenswelten waren abseits der Kerngruppe des mittleren Bürgertums äußerst unterschiedlich – und in vielem erinnert die Zerrissenheit der Minorität an die Zerrissenheit der gesamten Weimarer Gesellschaft. Und doch, im Angesicht der gemeinsamen Bedrohung war sie gleichwohl, wenngleich defensiv in der Grundhaltung, zu gemeinsamem Handeln auch über die Kampflinien des Alltags hinaus fähig. Damit legte sie im Angesicht der Bedrohung eine relative Einigkeit an den Tag, an der es der deutschen Mehrheitsbevölkerung mangelte.

Zweitens war die jüdische Minderheit die prononcierteste Verfechterin der Weimarer Republik und ihrer liberalen Verfassung. Sie wählte demokratisch, war im Angesicht der Bedrohung durch den Nationalsozialismus aber auch willens, Parteien zu wählen, die ihren wirtschaftlichen und religiösen Interessen kaum entsprachen, also die SPD und teils das katholische Zentrum. Dies verdeutlicht Lernprozesse und einen pragmatischen Realismus, der wiederum der Mehrzahl der Bevölkerung nicht zu eigen war.

Damit war die jüdische Minderheit, drittens, von einem Dualismus geprägt, wie er in modernen Gesellschaften erforderlich ist, um Einheit und Kontroverse zugleich zu gewährleisten. Innerjüdische Dispute gingen einher mit dem gemeinsamen Eintreten für die Republik. Dies ist wichtig für das Verständnis der eigenartigen deutsch-jüdischen Lebenswelt. Die jüdische Minderheit reproduzierte in ihren inneren Kontroversen die gängigen Ängste und Hoffnungen der Mehrheitsgesellschaft. In ihrem Wahlverhalten und der gemeinsamen Abwehr des Antisemitismus manifestierten sich dagegen die spezifisch jüdischen Ängste der Minderheit selbst. Sie spiegelt daher die Verwerfungen der Republik, doch zugleich steht ihr Handeln konträr zu der fehlenden Fähigkeit der meisten Nichtjuden diese Verwerfungen innerhalb eines pluralistischen demokratischen Systems zu überbrücken.

Uwe Spiekermann, 31. August 2021

 

PS Wer über die hier entwickelten Grundkonturen hinaus weiterlesen möchte, dem empfehle ich Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1913, Frankfurt a.M. 2011; Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000; Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003 und Bernard Wasserstein, On the Eve. The Jews of Europe Before the Second World War, New York 2012.