Trug und Weltgeschäft: Der Bierersatz Hopkos

Um 1900 konnte man mit alkoholfreien Getränken eine schnelle Mark machen. Kohlensäure, Essenzen und Aromastoffe ermöglichten neuartige Angebote, die neben Wasser, tradiertem Fruchtsirup, die Heilwässer und Heißgetränke traten. Seit 1896 entstanden zudem alkoholholfreie Weine und auch alkoholfreie Biere. Sie waren teils Werbefiktionen, entsprachen vor allem geschmacklich nur selten den alkoholhaltigen Originalen. Doch Alkoholika wurden damals verstärkt in Frage gestellt, Mäßige und Abstinente forderten eine Nüchternheitswende – und der Markt, viele Tüftler und Geschäftsleute lieferten. Sie agierten in einem gestalterischen Möglichkeitsraum, denn die uns geläufigen Produktkategorien waren noch nicht definiert und staatlich reguliert. Die Nichtalkoholika spiegelten und materialisierten denn auch die tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen und technologischen Brüche der Jahrhundertwende, des Fin de Siècle.

Die soziale Frage dominierte die Politik, der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital überwölbte und verdrängte die autoritäre Ordnung der ständischen Gesellschaft. Die Ernährungswissenschaften hatten tradierte Vorstellungen über richtiges Essen (und Trinken) in Frage gestellt. Das Wissen um chemische Stoffe und den Stoffwechsel in Pflanzen, Tieren und Menschen erlaubte überzeugende, „gesunde“ Alternativen. Neu entwickelte Maschinen ermöglichten Eingriffe in das Innere der nun gewerblich umgestaltbaren Natur. Seit den 1860er Jahren nahm die Zahl neuartiger Lebensmittel rasch zu, Rübenzucker und Säuglingskost, Margarine und Suppenpräparate sind nur plakative Beispiele für eine große und wachsende Palette immer neuer Angebote. Auch die Getränke veränderten sich: Seit den 1820er Jahren kam der Kartoffelschnaps, der „Branntwein“ auf, und das tradierte Bier veränderte sich seit den 1870er Jahren zu einem zuvor kaum denkbaren standardisierten Produkt. Auch Nichtalkoholika blieben vom Malstrom der Umgestaltung nicht unberührt: Die zunehmend separierte, gefilterte, auf hohen Fettgehalt optimierte und teils auch pasteurisierte Milch unterschied sich deutlich vom Melkertrag früherer Zeiten. Ähnliches galt für die „künstlichen“, mit Kohlensäure prickelnd gehaltenen Mineralwässer, die gegenüber ihren „natürlichen“ Namensvettern Geschmacks- und Haltbarkeitsvorteile hatten. Während aber in Großbritannien und den USA auch „Soft Drinks“, also kunstfertige Mischungen aus Wasser, Kohlensäure, Kräuterextrakten, Aromen, Zucker und Süßstoffen entstanden – Tonic Water und Coca-Cola sind bekannte Beispiele –, blieb dieses Marktsegment in Mitteleuropa unterentwickelt. Teurer Zucker, das Hausbrauen, ein weniger strikt agitierender Protestantismus und die vermeintlich „schwache“ Natur dieser Getränke bieten Erklärungen.

Der Aufschwung der alkoholfreien Getränke um die Jahrhundertwende war demnach eine nachholende Entwicklung. Sie verlief entsprechend stürmisch, schuf zugleich Wildwuchs und Marktverwerfungen. In dem neuen Marktsegment wurden nicht einfach Getränke entwickelt und verkauft, sondern zugleich Träume von Gesundheit und Nüchternheit. Das lockte Investoren, Techniker und Wissenschaftler: Hier war Neuland zu gewinnen, Vermögen anzuhäufen, ein späteres ehrsames Leben als wohlsituierter Erfinder und Unternehmer möglich.

Hopkos war eines der bekanntesten Beispiele dieser ersten Welle alkoholfreier kohlensäurehaltiger Getränke, die langfristig die hiesigen Trinkgewohnheiten tiefgreifend umgestalten und neue Probleme schaffen sollten. Doch Hopkos verkörperte erst einmal Fortschritt, zielte auf ein neues besseres Leben. Es wurde als Bierersatz vermarktet, gar als alkoholfreies Bier, schließlich bestand es – so die lockende Werbeaussage – aus Hopfen und Malz. Wohlschmeckend und alkoholfrei war es, die Tage des alten, alkoholhaltigen Bieres schienen gezählt. Doch Hopkos verschwand nach ein, zwei Jahren wieder vom Markt, wurde ersetzt durch andere, ähnliche Getränke. Die schnelle Mark machten nur wenige, denn trotz einer modernen „amerikanischen“ Werbung verloren die meisten Investoren Geld. Es ist besonders reizvoll, ein solches Scheitern historisch zu analysieren, denn gängige Lohnschreiber präsentieren vorrangig Erfolgsgeschichten. Das Beispiel Hopkos steht zugleich beispielhaft für die große Zahl von Lebensmittel-„Hypes“, die bis heute immer wieder aufköcheln, von Werbung und (nicht nur käuflichen) Medien unterstützt und forciert. Um 1900 klangen die hoffnungsfrohen Aussagen von Wandel, Reform und Transformation vielfach ähnlich wie heutzutage, die „wir“ immer noch um Antworten angesichts von Alkoholmissbrauch, globaler Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung ringen. Wir sind nur neue Hamster im alten Rad.

Dieser Beitrag ist der zweite von insgesamt vier Artikeln, in denen ich der Geschichte des alkoholfreien Bieres empirisch fundiert untersuche. Am Anfang stand eine Arbeit zum „Original alkoholfreien Bier“ des sächsisch-fränkischen Brauers Valentin Lapp (1856-1908). Damit wurde in der Tat Neuland betreten, auch wenn dieses kräftig schäumende und fast alkoholfreie Produkt nur von 1896 bis 1905 verkauft wurde. Der Ihnen vorliegende Artikel wird sich am Beispiel von Hopkos mit den nichtalkoholischen Kunstgetränken beschäftigen, die das Idealbild eines wirklichen Bierersatzes nutzten, um hochverarbeitete Markenartikel anzubieten, die einzig Trugbilder eines solchen Substituts waren. Im dritten Artikel wird es um das alkoholfreie Bier Trinkmit der Bochumer Schlegel-Brauerei gehen, um neuartige Marktchancen, die auch Alkoholproduzenten durch die Verbreiterung des Getränkemarktes erhielten. Viertens schließlich werden diese drei Beispiele in den breiten Kontext der Neugestaltung der deutschen Trinkkultur um die Jahrhundertwende gestellt werden, die ein treffliches Spiegelbild der laufenden Versuche sind, „unsere“ heutige Ernährung fundamental umzugestalten.

Britische Ursprünge – Hopkos und Gingerbeer

Der Begriff „Hopkos“ führt erst einmal ins England der 1890er Jahre. John Abbey, Sekretär der Church of England Temperence Society in Norwich, hatte in den späten 1880er Jahren in zahlreichen Pamphleten mannhaft gegen die Trunksucht der Arbeiter, insbesondere aber der Landarbeiter agitiert. Wohlbegründet verwies er auf den durch Alkohol bewirkten körperlichen und geistigen Verfall, auf die Gefahren für das Familien- und Berufsleben, auf die persönlichen und volkswirtschaftlichen Kosten (John Abbey, Thoughts for Working Men, London 1889). Doch er wusste offenkundig um die begrenzte Wirksamkeit moralischer Appelle. 1891 bot er daher auch praktische Anregungen, präsentierte Rezepte von drei griffig benannten alkoholfreien Sommergetränken: Stokos wurde aus Haferflocken, Zucker und geschnittenen Zitronen zubereitet, Cokos war ein Mischgetränk aus Haferflocken, Kakao und Zucker. Hopkos schließlich bestand aus Hopfen, Ingwer und Zucker, der namensgebende Hopfen konnte auch durch getrockneten Andorn ersetzt werden. Abbey verwies stolz darauf, dass das alkoholfreie Trio “quite popular with the crop-gatherers of 1892” geworden sei (Three Temperance Beverages, Journal of the American Medical Association 23, 1892, 677). Die Anglikaner griffen den Vorschlag auf, popularisierten ihn, Mitglieder berichteten von einer schmackhaften und erfrischenden Alternative zum schweren Porter, zum dunklen Ale: „‚That is good!‘ ‚This is better than ale!’ ‘This is something to work upon!’ ‘I should like a recipe of this!’” (C.E.T.S Work at the Rotts. Agricultural Show, Southwell Diocesan Magazine 6, 1893, 107-108, hier 108). Auch Spottgedichte über die neuen alkoholfreien Billiggetränke wurden geschrieben, auch sie halfen Stokos, Cokos und Hopkos weiter zu popularisieren.

Spottgedicht auf die Mäßigkeitsgetränke – Hopkos war billig und wirksam (Fun 53, 1891, 250)

Die Rezepte verbreiteten sich rasch über England hinaus, fanden sich in den USA, im britischen Empire (Items of Interest 15, 1893, 561; American Analyst 9, 1893, 157; Hawaiian Gazette 1893, Nr. 43 v. 24. Oktober, 4; The Cultivator & Country Gentleman 58, 1893, 661; The War Cry 4, 1898, Nr. 2, 12; Hildagonda J. Duckitt, Hilda’s Diary of a Cape Housekeeper, London 1902, 234 (Südafrika); Pearsons’ Weekly 1904, Nr. 735 v. 18. August, 118; ebd. 1905, Nr. 784 v. 27. Juli, 62; W.H. Simmonds, The Practical Grocer, Bd. 4, London 1909, 190; Everything a Lady should know, 26. Aufl., hg. v. George B. Philip & Son, Sydney s.a. [1923-24], 69 (Australien)). Stokos, Cokos und Hopkos etablierten sich, wurden die Rezepte doch immer wieder in Zeitungen und Zeitschriften reproduziert, fanden ihren Platz in gängigen Kochbüchern. Auch in Europa gab es beträchtlichen Widerhall; die Sommergetränke ließen sich zudem in den „Tropen“, also den europäischen Kolonien, häuslich zubereiten (De Baanbreker 10, 1911, Ausg. v. 12. August, 4).

Die drei Nichtalkoholika fanden auch rasch den Weg nach Österreich-Ungarn und ins Deutsche Reich, wo der Anteil der Landarbeiter deutlich höher lag als im Stammland der Industrialisierung (Englische Sommergetränke, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 18, 1891, 514-515; dass., Die Fundgrube 19, 1892, 577). Dort versuche man zeitgleich, den paraguayischen Mate-Tee einzuführen (Maté als Getränk für Landarbeiter, Das Land 3, 1894/95, 313-314). Die neuen englischen Rezepte boten ergänzende Optionen, forderten aber angesichts der noch holz- und kohlenbefeuerten Herde Hausfrauen, Köchinnen und Dienstbotinnen: „Hopkos: 25 g Hopfen und 15 g gepulverter Ingwer werden 25 Minuten hindurch in 6,75 l Wasser gekocht, dann setzt man zur Flüssigkeit 500 g Rohrzucker, kocht weitere 10 Minuten, seiht das Getränke [sic!] durch ein sauberes leinenes Tuch und füllt den Hopkos auf die Flasche“ (Josef Bersch, Chemisch-technisches Lexikon, Wien, Pest und Leipzig 1893/94, 251).

Stokos, Cokos und Hopkos standen Anfang der 1890er Jahre für eine große Zahl in den deutschen Landen bekannten und vornehmlich im Norden auch getrunkenen „englischen“ Getränken, von denen das Ginger Beer, das Ingwerbier, sicherlich das bekannteste war. Ähnlich wie Hopkos wurde es lange häuslich hergestellt. Dazu mischte und verkochte man Ingwer etwa mit Zucker, Limonensaft und Eiweiß, mengte Honig und Zitronenöl hinzu, füllte die Masse dann nach vier Tagen Lagerung ab (Die Reform 1863, Nr. 102 v. 26. August, 2). In Großbritannien, vornehmlich in Nordengland und Schottland gab es schon längst ein breit gefächertes Angebot, mehr als tausend Markennamen zeugten von einem beträchtlichen kommerziellen Erfolg. Die Hausbrauerei wurde parallel von vorgefertigten Extrakten aus Hopfen, Kräutern, zunehmend aber auch Essenzen, ätherischen Ölen, Aromen, Süß- und Farbstoffen, umgestaltet (John Burnett, Liquid Pleasures. A Social History of Drinks in Modern Britain, London und New York 1999, 97). Derartige Bierpulver hatten auch im Zollvereinsgebiet die chemisch-technische Modernisierung der Brauerei begleitet, und angesichts etwa des „Berliner Bierpulvers“ der Firma Grüne & Co. unkten Zeitgenossen schon zur Jahrhundertmitte, mit „der Bierbrauerei scheint’s zu Ende zu gehen“ (Westfälische Zeitung 1859, Nr. 167 v. 17. Juli, 2). Diese Vorhersage war verfrüht, die Bierpulver verschwanden rasch, kamen in den späten 1890er Jahren jedoch neuerlich auf, ermöglichten unmittelbar nach der Jahrhundertwende auch breit beworbene Do-it-yourself-Aktivitäten der vor allem im Spirituosenbereich boomenden Essenzenindustrie.

Ingwerbier als Medizinalgetränk (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1891, Nr. 27 v. 4. März, 4)

Schon seit Anfang 1890er Jahre, parallel mit dem englischen Hopkos-Rezept, erweiterte sich auch das Angebot von Ingwerbier. Vor allem die in Kassel ansässige Firma Dr. G. Hilgenberg Nachf., Ende 1878 vom Chemiker Gustav Hilgenberg als Mineralwasserfabrik und Laboratorium gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 5 v. 7. Januar, 4), praktizierte Konsumgütertransfer. Ingwerbier war damals vornehmlich anonyme Apothekerware. Ingwersirup wurde mit Weinsäure und Zuckercouleur versetzt, das schaumige Getränk erinnerte farblich durchaus an Bier (G. Schneider, Alkoholfreie Getränke, Deutsche Apotheker-Zeitung 18, 1903, 794-796, hier 796). Hilgenbergs Firma wurde 1885 vom Kasseler Apotheker Ludwig Scherff (1836-1899) übernommen, der neben Ginger Beer dann auch weitere „alkoholfreie Biere“ produzierte (Wiesbadener Fachausstellung für das Hotel- und Wirtschaftswesen, Wiesbadener General-Anzeiger 1896, Nr. 184 v. 8. August, 1). 1896/97 präsentierte er im Rahmen zahlreicher Ausstellungen alkoholfreies Bockbier, Ale und vor allem Bassara. Bier wurde nach dem Brauen der Alkohol entzogen und Kohlensäure zugesetzt. Das auch als Exportgetränk gedachte Bassara enthielt aus England importierte Pflanzenauszüge, das Rezept aber wurde geheim gehalten. Das schien ein Erfolgsgarant zu sein: “Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Getränke bei dem immer mehr an Terrain gewinnenden Streben nach Heilung auf ‚naturgemässe‘ Art, eine grosse Zukunft haben, und es wäre wohl angebracht, wenn die deutschen Apotheker versuchten, den Debit dieser Getränke ihrem Handverkauf zu sichern“ (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 38, 1897, 558).

Zwischen Bier und Brause: Werbung für Ingwerbier und Ingwerbier-Extrakte (Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1897, Nr. 136 v. 15. Juni, 14 (l.); Leipziger Tageblatt 1900, Nr. 273 v. 31. Mai, 4487)

Ingwerbier war aus heutiger und auch aus damaliger Sicht gewiss kein Bier, denn es war nicht gebraut worden, hatte keine Gärung durchlaufen. Es wurde dennoch als „alkoholfreies Bier“ beworben (Geschäftsblatt für den obern Teil des Kantons Bern 1899, Nr. 40 v. 20. Mai, 4). Noch gab es keine verbindlichen Definitionen der neuen Produkte, noch herrschte die Setzungsmacht der Anbieter. Die Brauer protestierten gegen derartige Anmaßungen, seien doch Bier und Wein zwingend alkoholhaltig. Auch Abstinente stimmten dem zu: „Diese Getränke verdanken nur der Rücksicht auf die Trinksitte ihren Ursprung und sind nichts als eine lächerliche Nachahmung des Bieres, ohne irgend einen besonderen Vorzug zu besitzen, der ihre Bierform entschuldigen könnte. Sie zeigen nur, wie schwer es den Menschen wird, sich sogar von der Form des Bieres, von dem braunen, schäumenden Getränk, ganz zu trennen, und müssen von der Abstinenzbewegung rücksichtslos abgelehnt werden“ (Georg Keferstein, Ueber die alkoholfreien Getränke, Der Alkoholismus 3, 1902, 266-290, hier 273). Die federführenden Mäßigen aber sahen in derartigen alkoholfreien Bieren ein wichtiges Brückenangebot, konnte man doch dem Alkohol entsagen, ohne mit seinen Trinkgewohnheiten strikt zu brechen.

Der technische Fortschritt schien zudem immer bessere, auch geschmacklich zusagende Angebote zu ermöglichen. Neben die Ingwerbiere traten Ingwerbierkonzentrate, ermöglichten rasch zuzubereitende, brausende und alkoholfreie Erfrischungen. Neue Bierpulver folgten: „Man schüttet einfach einen Eßlöffel der köstlichen Substanz in ein Glas Wasser, und der besiegte Bacchus […] verhüllt sich klagend das Haupt“ (Das Bierpulver!, Bonner Volkszeitung 1901, Nr. 224 v. 7. Juli, 9). Gewiss, noch war der Geschmack gewöhnungsbedürftig, doch grundsätzlich konnte das Trinken so auch billiger werden. Ernst Kochs Bier-Extrakt versprach alkoholfreies Bier für vier Pfennig pro Liter (Vorwärts 1901, Nr. 135 v. 13. Juni, 8). Die neuen Produktbezeichnungen unterminierten allerdings die bestehende Sprache, unterminierten zugleich die Sprache des Rechts. Ein Speisewirt lockte Kunden mit einem unentgeltlichen alkoholfreien Bier, das er „durch Auflösen von Pillen in Wasser herstellte“. Er wurde daraufhin wegen einer fehlenden Schankkonzession letztinstanzlich zu einer Geldstrafe verurteilt (Schankwirtschaft und Zuckerwasser, Kölnische Zeitung 1903, Nr. 446 v. 25. Mai, 1). Damit fügte man neue Kunstgetränke ungewollt in den Reigen des Bestehenden ein.

Intermezzo: Alkoholfreie Biere vor der Gründung der American German „Hopkos“ Company 1903

Die englischen Getränke waren alkoholfrei und wurden seit 1896 auch vermehrt als „alkoholfreie Biere“ vermarket. Deren Erfindung und Etablierung im Deutschen haben wir bereits am Beispiel des „Original alkoholfreien Bieres“ von Valentin Lapp genauer analysiert. Für unsere Analyse des neuen Hopkos sind vier Aspekte festzuhalten:

Auch wenn der Begriff des „alkoholfreien Bieres“ vereinzelt schon Mitte der 19. Jahrhunderts nachweisbar ist und – zumeist mit Bezug auf England – sich seit den späten 1880er Jahren langsam einbürgerte, handelte es sich erstens doch um ein Lehnwort einer technischen Innovation des Schweizer Önologen Hermann Müller-Thurgau (1850-1927). Er pasteurisierte frisch gepresste Fruchtsäfte bei 60-70 °C, ermöglichte dadurch sterile, nicht weiter vergärende Fruchtsäfte. Sie wurden seit 1896 mit breiter Unterstützung von Alkoholgegnern als „alkoholfreie Weine“ vermarktet. Das war sprachliches Neuland, an sich widersprüchlich, zeigte jedoch die Absicht, den Kampf gegen den alten alkoholischen Wein auch praktisch aufzunehmen. In den Anzeigen wurde daher nie nur das Fehlen des Alkohols vermerkt, sondern immer auch die mit der neuartigen Verarbeitung einhergehenden Vorteile, zumal den aufgrund des gestoppten Abbauprozesses höheren Nährwert.

Werbung für Müller-Thurgaus neu entwickelte „alkoholfreien Weine“ (Schweizer Frauen-Zeitung 18, 1896, Nr. 44, Beil., 4)

Müller-Thurgau richtete zweitens das Augenmerk der Ingenieure und Tüftler auf neue Technologien, um auch das Bier alkoholfrei zu machen. Grundsätzlich wurden seit 1895/96 drei Verfahren angewandt: Erstens folgte man dem Schweizer Vorbild, destillierte den Alkohol kunstvoll ab, frischte das Gebräu dann mit Kohlensäure auf. Ein solches Verfahren ließ sich der Chemiker, Lebensreformer, Konserven- und Fruchtsafthersteller Walther Nägeli (1851-1919) 1896 patentieren. Dieser Rechtsakt bedeutete die grundsätzliche Akzeptanz des neuen Begriffs „alkoholfreies“ Bier, gegen den nicht nur die Brauerlobby seit 1898 durchaus erfolgreich Sturm lief. Nägelis Frada-Bier hatte allerdings nur geringen Erfolg, seine Marktpräsenz blieb gering. Zweitens wurde die Bierwürze nicht weiter vergoren, auf eine Gärung also verzichtet. Dem Sud wurde Diastase und auch Hopfen zugefügt, alles zentrifugiert, gefiltert und mehrfach mit Kohlensäure imprägniert. Diesen Weg wählte Valentin Lapp für sein „Original alkoholfreies Bier“, für ein Jahrzehnt der wichtigste Vertreter der neuen Getränkesorte. Beide Verfahren waren aufwändig, erforderten hohe Investitionen. Deshalb begannen drittens insbesondere Apotheker und Mineralwasserfabrikanten an ihre recht simple Technik anzuknüpfen. Ein Mineralwasserapparat erlaubte die Imprägnierung einer Flüssigkeit mit Kohlensäure, zentral für Textur und mundkitzelnde Frische. Anstelle von Wasser konnte man auch Fruchtsäfte sättigen, ebenso Mixturen von Wasser, Malz- und Hopfenextrakten. Das perlende Getränk konnte anschließend mit Süß- und Farbstoffen oder auch Zucker weiter modifiziert werden. Diese dritte Variante hatte den Vorteil geringerer Fixkosten, einfachen Maschineneinsatzes und einer variantenreichen Ausgestaltung des Geschmacks. Der Unterschied zu den damals insbesondere für Kinder und Frauen vermehrt produzierten farbig-grellen und pappig-süßen Brauselimonaden war allerdings gering. Im Gegensatz zu den ersten beiden Verfahren bestand außerdem die Gefahr einer fortgesetzten Gärung. Der kurz nach Hopkos in Hamburg auf den Markt gebrachte Hansatrunk hatte beispielsweise 1,44 Prozent Alkohol (Pharmaceutische Praxis 6, 1907, 152) – und war Teil langwieriger Debatten über Grenzwerte und die Redlichkeit der Hersteller.

Wabernde Begriffe: Alkoholfreier „Hansatrunk“ – mit 1,44 Prozent Alkoholgehalt (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 130 v. 5. Juni, 27)

Drittens waren alkoholfreie Biere nicht nur Reflex auf eine schnelle Mark, auf die Marktchancen der Jahrhundertwende. Sie materialisierten zugleich Forderungen der Mäßigkeitsbewegung nach positiven Hilfsmitteln im Kampf gegen Trunksucht und Alkohol. Alkoholfreies Bier würde die modernde Hast, die modernde Nervosität reduzieren, würde auch die randständige Position der Enthaltsamen verringern. Einmal entwickelt, würde es sich im Lebenskampf durchsetzen: „Wo es Enthaltsame giebt, stellt sich auch bald alkoholfreies Bier und alkoholfreier Wein ein“ (Matthaei, Die Erhöhung der Kriegstüchtigkeit eines Heeres durch Enthaltung vom Alkohol, Der Alkoholismus 1, 1900, 164-184, hier 174). Die großenteils bürgerliche, von protestantischen Pfarrern, Lehrern und Notablen geprägte Bewegung erschien nicht nur als sicherer Nischenmarkt, sondern auch als ein Bundesgenosse für nichtkommerzielle Werbung und Verbreitung. Wirklich „alkoholfreie“ Biere konnten vielleicht auch die schwelenden Konflikte zwischen den bier- und weintrinkenden Mäßigen und den Abstinenten befrieden. Das galt selbst für Nahrungsmittelchemiker. Bernard Carl Niederstadt, Hamburger Chefkontrolleur, empfahl Hopkos nicht nur aufgrund seiner stofflichen Zusammensetzung, sondern auch, „da der Alkohol größere Verheerungen anrichte“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 110 v. 12. Mai, 13). Dies wurde von den Produzenten des neuen Bierersatzes unmittelbar verwertet: „Hopkos ist keine schwächliche Limonade, sondern ein bierähnliches, aber alkoholfreies Getränk. Als Kampfmittel gegen den Alkohol unvergleichlich!“ (Hamburger Echo 1903, Nr. 166 v. 19. Juli, 10)

Alkoholfreie Biere etablierten sich seit 1896 im Flaschenbierhandel, langsam auch in den alkoholfreien Cafés und Gaststätten, mochte ihr höherer Preis von den sparsamen Bürgern auch stets moniert werden. Wichtiger bleib viertens aber der ungewohnte Geschmack. Selbst in der Krankenkost urteilten einzelne Ärzte apodiktisch-ablehnend: „Die neuerdings hergestellten ‚alkoholfreien Biere‘ sind wegen ihres schlechten Geschmackes untrinkbar“ (Carl Wegele, Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke, Jena 1900, 18). Süße Bierersatzgetränke mochten davon weniger betroffen sein, doch seitens des Alkoholhandels hieß es immer noch selbstbewusst: „Alle Surrogate und Ersatzmittel für Alkohol erscheinen völlig wirkungslos. Kohlensaure Malzwürze, als alkoholfreies Bier getrunken, ist so wenig Bier, wie eine Brauselimonade ein Champagnerwein sein kann“ (Wattenscheider Zeitung 1904, Nr. 297 v. 28. Dezember, 3). Hopkos wurde folgerichtig als wohlschmeckender alkoholfreier Bierersatz angeboten.

Die American German Hopkos Company und der moderne Touch der Amerikanisierung

Warenzeichen der American German „Hopkos“ Company (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 256 v. 30. Oktober, 12)

Die „American-German Hopkos Company mit beschränkter Haftung“ wurde am 14. Januar 1903 ins Hamburger Handelsregister eingetragen, der Gesellschaftsvertrag war am 3. Januar abgeschlossen worden (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 25 v. 16. Januar, 5; Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 14 v. 17. Januar, 12). Gegenstand des Unternehmens war „die Einrichtung von Fabriken zur Herstellung des alkoholfreien, kohlensäurehaltigen, in Amerika erfundenen und unter dem Namen ‚Hopkos‘ geschützten Getränkes zum Ersatz für helle und dunkle Biere, der Vertrieb dieses Getränkes sowie die Eingehung aller mit diesem Gesellschaftszwecke zusammenhängenden Geschäfte“ (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 14 v. 17. Januar, 13). Das Stammkapital betrug 59.000 M, von den Gesellschaftern wurden nur zwei namentlich erwähnt: Der Magdeburger Unternehmer Theodor Freytag brachte Hopfen und Malzextrakt im Wert von 1250 M ein, die Weißenburger Handelsgesellschaft M. & G. Weid Maschinen im Wert von 1000 M, erhielt aber zugleich eine ungenannte Barauszahlung. Geschäftsführer wurden die beiden Kaufleute Otto Karl Heinrich Schorre und Hermann Friedrich Hannesen. Das oben abgebildete Warenzeichen war bereits am 2. Januar beantragt worden, der vor einer aufgehenden Sonne flügelschlagende Adler hielt die deutsche und die US-amerikanische Fahne in seinen Klauen. Viel Pathos angesichts einer „Limonadenfabrik“, die ein „alkoholfreies, limonadenähnliches Getränk“ produzieren wollte.

Der Firmennamen und das prangende Signet machen stutzig. Schließlich hat uns die Geschichte des Landarbeitergetränks „Hopkos“ nach England geführt, ebenso die Ingwerbiere und Bierextrakte. Doch noch Jahre nach dem Konkurs der Firma hieß es so lapidar wie selbstverständlich: „Hopkos ist ein aus Amerika eingeführtes, alkoholfreies Getränk, das aus Extrakten hergestellt wird“ (Heinrich Timm, Limonaden und alkoholfreie Getränke, Wien, Pest und Leipzig 1909, 165). Trotz emsiger Recherche gibt es jedoch keinen Beleg für diese Kommerzlegende, keine einschlägigen Patente, keine beim späteren Konkurs bevorzugten Zahlungen an Erfinder oder Lieferanten in der neuen Welt. Dennoch machte dieses auch offiziell verbreitete Narrativ wirtschaftlich Sinn. Mit dem globalen Hegemon Großbritannien befanden sich deutsche Kaufleute im Wettbewerb, ebenso die der zweiten Flügelmacht, der aufstrebenden Vereinigten Staaten. Hamburg war zwar Einfuhrplatz englischer Waren, galt als Hort englischer Ideen und Konsummuster. Bei Hopkos aber ging es um den Weltmarkt, um eine gemeinsame Anstrengung der beiden Herausforderer gegen den Hegemon. Amerika war nicht mehr länger das Land der Freiheit und neuer Chancen, in das bis 1914 insgesamt 5,5 Millionen Deutsche auswanderten, um ein besseres Leben zu führen. Es war auch ein Land neuer praktischer Massenprodukte; und diesen Anspruch sollte das neue Hopkos materialisierten. Entsprechend stellte man „American“ vor „German“ – als einzige deutsche Firma vor 1945.

Die amerikanische Invasion im Konsumgütersektor (Der Wahre Jacob 18, 1901, 3553; Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 345 v. 26. Juli, 8)

Die schutzzollbewehrte US-Wirtschaft galt bis in die 1870er Jahren vorrangig als Agrarexporteur, dessen billigen Weizen, Kühl- und Gefrierfleisch, hochwertiges Obst und Gemüse das Deutsche Reich mit Zöllen und Hygienevorschriften begrenzte (vgl. Uwe Spiekermann, Dangerous Meat? German-American quarrels over Pork and Beef, 1870-1900, Bulletin of the German Historical Institute 46, 2010, 93-110). Zunehmend traten aber auch preiswerte massenproduzierte Gebrauchsgüter hervor, etwa Nähmaschinen oder Klaviere. Die Deutschen führten dies lange auf die rührige Exporttätigkeit deutscher Auswanderer und ihrer Söhne zurück – etwa Isaac Merritt Singer (1811-1875) oder Heinrich Engelhard Steinway (1797-1871) –, verstanden aber nicht, dass sich Massenproduktion und hohe Qualität nicht zwingend ausschlossen. Dabei unterstrichen die US-Exporterfolge etwa im Bereich der Elektrotechnik und der Unterhaltungsindustrie, dass die deutsche Wirtschaft dem Hegemon Großbritannien zwar wirtschaftlich zusetzte, dass sie parallel aber unter Druck aus Übersee geriet. Selbst deutsches Bier wurde in den 1890er Jahren von US-Bier in globalen Drittmärkten erfolgreich be- und verdrängt (Stefan Manz und Uwe Spiekermann, Making Food Empires. German Technology and Global Mass Production, 1870-1914, Oxford 2026 (i. E.), Kap. 7 und 8).

US-Einflüsse auf die Trinkgewohnheiten: American Bars und Cocktails (Jugend 8, 1903, 89)

Hopkos, so meine nicht sicher zu belegende These, Hopkos wurde von den deutschen Eignern bewusst (und wahrheitswidrig) als amerikanische Innovation präsentiert, denn so konnten sie auf einer Erfolgswelle schwimmen, die seit der Jahrhundertwende nicht mehr zu ignorieren war: Billige amerikanische Haushalts- und Fitnessgeräte, Uhren und Petroleumlampen, Rechen- und Schreibmaschinen, Schuhe und Fahrräder fanden ihren Weg ins Reich, Kosmetika, Modeschmuck, Korsetts, Füllfederhalter und natürlich Kodak-Fotoapparate wären zu ergänzen. Nicht nur Karl May schuf Bilder des Wilden Westens, sondern auch der exportierte Buffalo Bill oder die gefeierten Schaustellungen von Barnum & Bailey, dem größten Zirkus der Welt. Gleichermaßen verbreiteten sich verarbeitete Nahrungsmittel, Frühstückcerealien wie Quaker Oats, Reformwaren von John Harvey Kellogg oder Maizena Maisprodukte. Die Hafenstadt Hamburg war dabei vielfach der Ausgangspunkt für die Eroberung des deutschen Marktes, etwa beim zeitgleich vermarkteten Nährmittel Force (Hannoverscher Courier 1903, Nr. 24199 v. 27. Januar, 4; Schwäbischer Merkur 1903, Nr. 91 v. 25. Februar, 10). Auch wenn die Deutschen amerikanische Limonaden und Temperenzgetränke kaum schätzten, waren diese in den US-amerikanischen Kolonien in den Großstädten durchaus gängig. Hopkos schloss an all das an, ihre Macher wollten davon profitieren.

Erträge durch angewandte Wissenschaft und Technik. Die „Macher“ von Hopkos

Meine Skepsis gegenüber den amerikanischen Ursprüngen des alkoholfreien Getränkes resultiert auch aus genaueren Informationen über die führenden Repräsentanten der neuen American-German Hopkos Company. Es handelte sich fast durchweg um junge, hochqualifizierte Naturwissenschaftler und Kaufleute, die den Märkten ihrer Zeit mit neuen Konsumgütern, mit massenfabrizierten Markenartikeln, ihren Stempel aufdrücken wollten. Schauen wir uns also die Riege quirlig begabter Herren näher an.

Theodor Freytag war nicht ohne Bedacht der erstgenannte Gesellschafter. In Magdeburg ansässig, war er gewissermaßen der „Erfinder“ von Hopkos, hatte er doch bereits am 20. September 1900 das einschlägige Warenzeichen beantragt, das ihm am 10. November 1900 dann erteilt wurde. Er dürfte zuvor von den drei englischen Temperenzgetränken gehört haben, noch 1905 sicherte er sich das erinnernde Warenzeichen Storkos (Warenzeichenblatt 1906, 49). Das Hopkos-Warenzeichen wurde allerdings erst am 25. Juli 1903 auf die Hamburger Hopkos Company übertragen (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 178 v. 31. Juli, 8). Das deutsche Hopkos hatte mit dem englischen Getränk einzig den Namen gemein.

Das offizielle Hopkos-Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 291 v. 7. Dezember, 12)

Theodor Freytag war Fabrikant von alkoholfreien Erfrischungsgetränken. Seine Magdeburger „Frucht-Sirup- und Essenzen-Fabrik“ (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 86 v. 13. April, 56), seine „Dampf-Fabrik ätherischer Öle, Essenzen, Fruchtsaftpresserei“ (Adressbuch für Magdeburg 1910, T. I, 73) koppelte die Errungenschaften der modernen Chemie, der weltweit führenden deutschen Aromenindustrie, mit dem Marktbedarf kohlensäurehaltiger alkoholfreier Markenartikel. Während er in Magdeburg nur für einen überschaubaren regionalen Markt produzierte, sollte Hopkos ein Weltgeschäft werden. Dazu aber bedurfte es Partner.

Auszüge aus Theodor Freytags wachsender Palette der immergleichen neuen Produkte (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 43 v. 19. Februar, 13 (o.); ebd., Nr. 219 v. 16. September, 11)

Die Handelsgesellschaft M. & G. Weid lieferte die maschinelle Grundausstattung der Hamburger Firma – und auch der späteren auf Lizenzbasis gegründeten Hopkos-Filialen. Sie war, abseits ihres eigentlichen Handelsgeschäfts, seit 1896 in einem Wachstumsmarkt tätig, produzierte immer wieder verbesserte Mineralwasserapparate zur selbsttätigen Abfüllung in Flaschen (Bonner Volkszeitung 1896, Nr. 28 v. 25. Januar, 3). Schon 1900 offerierten die beiden in Weißenburg im Elsass ansässigen Kaufleute reichsweit eine „Anleitung und Rezepte zur Selterswasser-, Brauselimonade-, Schaumwein- etc. Fabrikation“ (Hamburger Echo 1900, Nr. 64 v. 17. März, 8; Hamburger Neueste Nachrichten 1900, Nr. 65 v. 18. März, 14; Lippische Landes-Zeitung 1900, Nr. 64 v. 16. März, 3; Badische Presse 1900, Nr. 64 v. 17. März, 7). Der Wachstumsmarkt karbonisierter Getränke lockte, unbedingt alkoholfrei mussten diese allerdings nicht sein. Mit „Weids Ideal“ verkauften M. & G. Weid seit 1902 einen neuen Apparat, mit dem Wasser „ohne Fachkenntnisse“ mit Extrakten und Kohlensäure versetzt werden konnte. Seine Tagesproduktion lag bei 500 bis 1000 Flaschen. Eine derart bereitete Flasche Mineralwasser kostete einen Pfennig, Brauselimonaden zwei bis drei Pfennige. Schaumwein resp. Milchsekt dürften etwas teurer gewesen sein (Der Schwarzwald 14, 1902, Nr. 17, 15). Durch diesen Apparat konnte man auch Hopkos preisgünstig herstellen, konnte die damals recht hohen Handelsspannen der preisgebundenen Markenartikel problemlos tragen, zugleich einen hohen Gewinn erzielen. Die Einrichtung und die Vertragsverhandlungen forderten Präsenz in Hamburg, entsprechende Übernachtungen der Weids in Hamburger Hotels sind nachweisbar (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 4 v. 6. Januar, 8; ebd., Nr. 40 v. 17. Februar, 8; ebd., Nr. 82 v. 7. April, 20).

Preiswerte Technik für die neue alkoholfreie Getränkewelt (Der Schwarzwald 14, 1902, Nr. 17, 15)

Über die beiden Geschäftsführer ist weniger bekannt. Otto Karl Heinrich Schorre war Mitinhaber der im Jahr zuvor gegründeten nicht näher spezifizierten offenen Handelsgesellschaft Schorre & Co. (Hamburgischer Correspondent 1902, Nr. 279 v. 18. Juni, 4). Diese kümmerte sich um ein erstes werbeträchtiges Hopkos-Plakat, eventuell auch um weitere Werbeklischees (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 37 v. 12. Februar, 29). Ebenso greifbar war das Interesse an marktgängigen Konsumgütern. Schorre & Co. agierte 1904 als Generalagentur von Kummers Kuchen, einer neuen fertigen Kuchenmasse.

Neue Sensationen: Backmischung für willige Hausfrau (Hamburger Echo 1904, Nr. 118 v. 21. Mai, 12 (l.) Warenzeichenblatt 1904, 828)

Derartige Backmischungen kamen damals neu auf, Kummers Kuchen entstammte der Berliner Fabrik von Heinrich Stern (Berliner Tageblatt 1904, Nr. 617 v. 4. Dezember, 47). Sie etablierten sich rasch, basierten auf billigen und gelingsicher vermischten Zutaten. Da der zweite Geschäftsführer zuvor kaum hervorgetreten war – Hermann Friedrich Hannesen agierte lediglich als Liquidator einer Kaffee-Import-Firma (Hamburger Fremden-Blatt 1902, Nr. 89 v. 17. April, 10) – können wir zum anfangs nicht genannten Eigentümer der Hamburger Hopkos Company übergehen, dem Chemiker Bruno Friling (1870-1934). Sein Name zierte von Januar bis April alle Hamburger Hopkos-Anzeigen (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 47 v. 29. Januar, 8), ehe er sich dann auf das wohl lukrativere Feld der Backmischungen konzentrierte.

Eine sichere Sache: Frilings fertige Kuchenmasse „Backe bequem“ (Hamburger Fremdenblatt 1904, Nr. 148 v. 26. Juni, 23)

Doch der Reihe nach: Peter Julius Bruno Friling wurde im August 1899 mit einer Dissertation „Ueber β-Benzylisochinolin“ promoviert, interessierte sich also für Alkaloide des Schlafmohns – und wohl auch für die damals aus den Naturstoffen gewonnenen opiatbasierten Medikamente, die als Schmerz- und Schlafmittel einige Zeit freudig-unschuldig eingesetzt wurden. Nicht nur Cannabis war damals frei käuflich. 1901 wurde der junge Chemiker Prokurist bei Möller & Linsert, einer Hamburger Fabrik chemischer und pharmazeutischer Präparate, verließ diese aber Ende August 1902 (Hamburger Fremden-Blatt 1902, Nr. 13 v. 16. Januar; Hamburgischer Correspondent 1902, Nr. 411 v. 3. September, 5). Über seine anschließenden geschäftlichen Beziehungen zu Hopkos konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Friling, der schon parallel zur Hopkos-Etablierung eine eigene Kommanditgesellschaft gegründet hatte, beantragte Ende Juli 1903 jedenfalls das Warenzeichen seiner neuen Backmischung, das unter dem Markennamen „Backe bequem“ ein kommerzieller Erfolg wurde (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 49 v. 30. Januar, 6; Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 304 v. 29. Dezember, 12). Der Begriff zeugt von einer genauen Kenntnis der damaligen Werbesprache, in der aktivierende Slogans modisch waren: „Werde gesund“ war die Dachmarke einer Berliner Fabrik heilgymnastischer Apparate; und das den Kaiserbart festigend-stützende Bartbindenwasser „Es ist erreicht“ des Hoffriseurs Francois Haby (1861-1938) wurde gar zu einem häufig karikierten Signet der wilhelminischen Gesellschaft (Lustige Blätter 18, 1903, Nr. 19, 13; ebd., Nr. 1, 20). „Backe bequem“ enthielt, wie Hopkos, nur „beste Zutaten“, stand unter chemischer Kontrolle und ermöglichte acht verschiedene Kuchensorten zu relativ billigem Preis. 1906 siedelte die von Friling gegründete Nährmittelfabrik schließlich nach Berlin über (Hamburger Correspondent 1904, Nr. 174 v. 29. Januar, 5; Gordian 12, 1906/07, 697-698).

Unternehmen Handelschemie: Vorstellung von Carl Enochs Chemisch-hygienischem Institut (Hamburger Adressbuch 1893, Werbung, 19)

Ein „Macher“ fehlt noch. Carl Enoch (1866-1922) überwachte die Produktion von Hopkos, hatte zudem ein werbeträchtig ausgeschlachtetes Gutachten über dessen chemische Zusammensetzung erstellt. Enoch hatte im Laboratorium von Emil Fischer (1852-1919) in Würzburg gearbeitet, promovierte 1890 unter Leitung von Julius Tafel (1862-1918) in Erlangen über Säureamide. Er wechselte anschließend als Assistent an das Prager Hygienische Institut unter Ferdinand Hueppe (1852-1938), einem führenden Hygieniker, zugleich Eugeniker, Abstinenter, Antisemit und später auch erster Vorsitzender des Deutschen Fußball-Bundes. Der jüdische Chemiker Carl Enoch zog rasch nach Hamburg weiter, wo er 1892 ein Chemisch-hygienisches Institut gründete (F.W. Eitzen, Hamburger Börsenfirmen im Jahre 1898, Hamburg und Berlin s.a. [1898], 116). Mit ambivalenten Marktangeboten kannte er sich bald aus, teilte er doch die Geschäftsadresse mit der Vertriebszentrale des Malzextraktproduzenten M. Hoff, ehe er mit seinem Laboratorium 1900 umzog.

Enoch war ein erfolgreicher Unternehmer, zugleich ein glänzender Wissenschaftler, 1900 zum Ehrenmitglied der Londoner „Society of Biological Chemistry” gewählt (Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 469 v. 6. Oktober, 12). Als einer von knapp zwanzig in Hamburg vereidigten Handelschemikern übernahm er vielfältige Gutachten, bewertete dabei neue Präparate häufig positiv und anbieterfreundlich. Das betraf etwa das zum Brauen geeignete Konservierungsmittel Chinosol, das Haarfärbemittel Gloria-Wasser und das frühe Haarshampoo Javol, nach der Jahrhundertwende das Desinfektionsmittel Vitalin, das pepsinhaltige Magenmittel China-Bitter und die Angebote der Antwerpener General Wine Company. Enoch war ein Mann für das öffentlich vorzeigbare Gutachten, der seinen analytischen Blick kundennah zu begrenzen wusste. Das galt auch für Hopkos. Der weit über Hamburg geschätzte Enoch war zugleich Temperenzler und ein Mann vom Fach. Im Jahre 1900 wurden ihm gleich zwei Patente „zur Herstellung blanker, alkoholfreier Fruchtsäfte“ erteilt (Hamburger Fremden-Blatt 1901, Nr. 286 v. 6. Dezember, 21; ebd. 1902, Nr. 50 v. 28. Februar, 21).

Fasst man diese biographischen Skizzen zusammen, so handelte es sich bei den Machern von Hopkos um wissenschaftlich hochqualifizierte, um zumeist junge aufstiegsorientierte Männer, die ihre Expertise konsumnah nutzten, um gewinnträchtige Markenartikel im Massenmarkt zu etablieren. Obwohl sie sich alle um den neuen Bierersatz Hopkos scharten, besaßen sie sämtlich jedoch genügend Flexibilität und rasch zu erschließende alternative Optionen, um ihr Geschick auch mit anderen ähnlichen Produkten zu versuchen. Die Macher waren an einer schnellen Mark interessiert, nicht an einem spezifischen Produkt, das nur Mittel zum Zweck war.

Zwischen Ingwerbier, alkoholfreiem Bier und Limonade: Was war Hopkos?

Hopkos wurde in Hamburg, aber auch an allen Filialorten als ein neuartiges Getränk fernab gängiger Kategorien angeboten: „Es gleicht den Bieren im Aussehen und Farbe und ist erfrischender, bekömmlicher und äußerst wohlschmeckend“ (Pester Lloyd 1903, Nr. 124 v. 26. Mai, 4). Hopkos war ein karbonisiertes Getränk, ähnlich und doch besser als Bier, farblich erinnerte es an Ingwerbier. Den Anspruch verdeutlichen die unteren Werbezeichnungen. Hopkos wurde in zwei Varianten, als Helles und Dunkles, in kleinen mit aufwändigem Bügelverschluss versehenen Flaschen angeboten. Es stand für die Selbstbehauptung des Menschen angesichts der in der Natur, ja im Menschen selbst stetig stattfindenden Gärung, der scheinbar nicht stillzustellenden Alkoholproduktion. Dies führte zu lebensbedrohlichen Stoffwechselprozessen, zum Abbau, zum frühen, zu frühen Tod. Doch der mannhaft-beherzte Hopkostrinker konnte durch Kauf, konnte durch Konsum diese Gefahr reduzieren, dem Tod ein Schnippchen schlagen.

Den Tod bannen: Werbedarstellung als gesundheitlicher Labetrunk (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4; ebd., Nr. 169 v. 20. Juni, 4. Morgenbl., 3 (l. u. r.))

Fernab der Marktsphäre urteilten die Nahrungsmittelchemiker prosaischer, unterminierten den güldenden Glanz des vermeintlich amerikanischen Gesundheitstranks. Der schon erwähnte Bernhard Carl Niederstadt resümierte, dass Hopkos eine Mischung kohlensäurehaltigen und gefärbten Wassers mit Malz- und Hopfenextrakten sei: „Es ist davon ein dunkler Porter und ein heller Ale im Handel. […] In beiden Getränken ist gut Hopfen und Malz enthalten. Fremde Bitterstoffe, ebenso Conservierungsmittel (Salicylsäure und Borsäure) fehlen absolut. Die Biere sind absolut frei von Alkohol, sind gut kohlensäurehaltig und gesund“ (Niederstadt, Die Abstinenz und die alkoholfreien Getränke, Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 31, 1903, 343-346, hier 345-346, Bundesarchiv Lichterfelde R 86 Nr. 2032). Derartige Analysen konzentrierten sich auf das Endprodukt, die Zusammensetzung und Güte der Einzelkomponenten konnte so nicht ermittelt werden. Das schien aber kaum erforderlich, denn die Produktion folgte der gängigen Praxis der Apotheken bei ähnlichen Getränken. Bierextrakte bestanden zumeist aus dem aufkommenden kalorienhaltigen Zwischenprodukt Invertzuckersirup, zudem aus Weinsäure für einen erfrischend säuerlichen Geschmack. Die gerade im norddeutschen Braugebiet noch häufig zum Schönen der Biere verwandten Hopfenextrakte simulierten mit ihren Bitter- und Aromastoffen eine gewisse Biernähe. Schließlich fügte man Zuckerkulör oder Farbmalzextrakte hinzu, um die Farbe, aber auch den Malzgehalt einzustellen. Die fertige Mischung gab man in Flaschen, füllte dann maschinell kohlensäurehaltiges Wasser hinzu (Schneider, 1903, 796). Das gut geschüttelte Ergebnis konnte schließlich mit einem schönen Namen, etwa Hopkos, verkauft werden.

Hopkos als alkoholfreies Bier (Langenberger Zeitung 1903, Nr. 206 v. 3. September, 4)

In Hamburg konzentrierte sich das Untersuchungsamt allerdings weniger auf die Produktionstechnik. Hopkos schien kein gesundheitsschädliches Ersatzgetränk zu sein (Übersicht über die Jahresberichte der öffentlichen Anstalten zur technischen Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln für das Jahr 1903, Berlin 1906, 166). Stattdessen konzentrierten sich die Analysen auf die offenkundige Differenz zwischen den Werbeaussagen und dem Stoffgehalt, um den Hersteller wegen unlauteren Wettbewerbs, wegen Verbrauchertäuschung zu belangen. Doch derartiger Trug war schwer nachzuweisen, auch wenn an Enochs Gutachten kollegialer Anstoß genommen wurde. Erste Beanstandungen sowohl nach dem Nahrungsmittelgesetz als auch dem Gesetz gegen Unlauteren Wettbewerb blieben ohne greifbares Resultat (K. Farnsteiner et al., V. Bericht über die Nahrungsmittelkontrolle in Hamburg in den Jahren 1903 und 1903, Hamburg 1905, 70). Hinweise, dass Hopkos hell und dunkel jeweils 0,05 Prozent Alkohol enthalte, reichten angesichts der undefinierten Begriffe „alkoholfrei“ und „alkoholarm“ nicht einmal für eine öffentliche Meldung (Pharmaceutische Praxis 6, 1907, 152).

Die spätere Umfirmierung der American German Hopkos Company in Internationale Hopkos-Gesellschaft führte jedoch zu neuerlichen Untersuchungen. Wie schon 1903 stieß man sich an der intensiven Reklame, stellte bei einer offenkundig verdorbenen Probe auch einen Alkoholgehalt von 0,97 Prozent fest (Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten 18, 1908, 161). Doch das reichte nicht für den vom Nahrungsmittelgesetz verlangten Nachweis einer täuschenden Absicht. Und eine Rückfrage wegen unlauteren Wettbewerbs wurde von der Staatsanwaltschaft abschlägig behandelt, zumal keinerlei Strafanträge vorlagen (Übersicht über die Jahresberichte der öffentlichen Anstalten zur technischen Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln für das Jahr 1904, Berlin 1908, 146). Angesichts der parallel bestehenden und öffentlich immer wieder beredt beklagten Missstände bei „Geheimmitteln“ oder „Kräftigungsmitteln“ wurden zwar stetig präzisere und schärfere Gesetze gefordert, doch einzig die Novelle des Gesetzes gegen Unlauteren Wettbewerb 1909 sollte mit dem schwammigen Straftatbestand „Verstoß gegen die guten Sitten“ Wildwüchse in der Warenanpreisung etwas stutzen.

Werbeversprechen und die nachweisbare Zusammensetzung ausgesuchter „alkoholfreier Biere“ (A[dolf] Beythien, Über alkoholfreie Getränke, Sitzungsberichte und Abhandlungen der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS 1905, Dresden 1906, 70-90, hier 79)

So blieb es bei analytischen Daten in der Fachliteratur und benennenden Einschätzungen für Chemiker und Pharmazeuten: „Hopkos, ein alkoholfreier Bierersatz ist […] eine alkoholfreie, mit Kohlensäure imprägnierte Zuckerlösung, welche nur ganz geringe Mengen aus Malz und Hopfen herstammender Bestandteile enthält“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 35, 1908, 285). Die Brauer fühlten sich in ihrer strikten Ablehnung, in ihren frühen Warnungen bestätigt (Denkschrift des Zentralverbandes der österr. Brauerei-Industriellen-Vereine gegen die projektierte Biersteuererhöhung, Der Böhmische Bierbrauer 36, 1909, 334-338, hier 337). Und die Hamburger Untersuchungsbehörde beanstandete Hopkos pflichtgemäß und folgenlos auch noch 1905, als der Markt, die Verbraucher, schon längst ihr Verdikt ausgesprochen hatten (Fünfter Bericht über die Nahrungsmittel-Kontrolle in Hamburg. II. (Schluß.), Hamburger Fremden-Blatt 1906, Nr. 24 v. 30. Januar, 21). Alle beteiligten Interessenvertreter verteidigten ihre Sichtweisen, hofften auf neue oder altbewährte Konsummuster, auf einen Wandel der Begriffsbestimmungen, der angesichts der Novelle des Branntweinsteuergesetzes (und des Weingesetzes) 1907 auch kam. Es war der Steuerstaat, der Geldbedarf für die Flottenrüstung, durch den der Kranz von Normalbestimmungen auch auf alkoholfreie Getränke ausgeweitet wurde, indem man einfachen und recht willkürlichen Vorgaben der Nahrungsmittelchemiker folgte. Rückblickend führte man sich dann die wilden Zeiten fast schelmisch vor Augen: „Es ist vielleicht auf keinem Fabrikationsgebiet so viel gesündigt worden“ (Walther Schrauth, Genussmittel, ihre Surrogate und ihre Entgiftung, Technische Rundschau 14, 1908, Nr. 35, 501-503, hier 501). Die Macher von Hopkos konnten also ungefährdet und ungestraft am Rande des Rechtes agieren.

Der Geschäftsbetrieb in Hamburg

Die American German Hopkos Company residierte anfangs in einem repräsentativen Kontorhaus, dem Asia-Haus, erbaut vom Schiffsmakler Emil Theodor Lind in Hamburgs Altstadt, am Standort Alte Gröningerstraße 24-25 und Zippelhaus 10, gegenüber der Speicherstadt. Viele Firmen teilten sich die Adresse des mit kolonialen Ornamenten gezierten, vielfach im neuen Jugendstil gehaltenen Geschäftshauses, darunter das technische Büro der Hapag. Der Bau bot große, flexibel eingeteilte Kontore, zudem auch Kellerräume, Personen- und Warenaufzüge und Elektrizitätsversorgung (Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 398 v. 26. August, 15). Das Asia-Haus stand für das Weltgeschäft Hamburgs, bildete zugleich einen Informationscluster: Die dort ab 1904 ansässige Firma Handels- und Schiffsbedarfsfirma Carl Bödiker vertrieb ebenfalls alkoholfreies und auch alkoholhaltiges Bier (Warenzeichenblatt 1907, 48).

Kontorhaus Asia-Haus, Geschäftssitz der American German Hopkos-Company 1903 (Wikipedia-Dirtsc, 2011)

Die repräsentative Hülle des zerstörten, neu aufgebauten und mehrfach aufgehübschten Asia-Hauses darf jedoch nicht vergessen machen, dass die Rekonstruktion des eigentlichen Geschäftsbetriebes nur ansatzweise möglich ist. Die Hopkos-Company und ihre Macher haben keine Archivalien hinterlassen. Werbeanzeigen in einem für Übertreibungen und auch bewusste Irreführungen bekanntem Marktsegment haben nur begrenzten Aussagewert, gewerbliche An- und Abmeldungen, Warenzeichen und Patente bieten allein ein karges Informationsraster. In einem sich weitenden Marktfeld beurteilten Zeitgenossen häufig nicht die einzelnen Produkte, sondern eher die gesamte Branche. Oder erinnern Sie sich an einzelne vegane Markenartikel? Auch Hopkos war Flugsand der Geschichte.

Die Markteinführung des namensgebenden Getränks begann zwei Wochen nach der Konstituierung des Unternehmens. In den Hamburger Zeitungen tönte es weltenwendend: „Der American-German Hopkos-Company Zentrale Hamburg, ist es gelungen, ein alkoholfreies Getränk ‚Hopkos‘ herzustellen, welches in jeder Beziehung den Anforderungen an ein gesundes, wohlschmeckendes und durststillendes Getränk entspricht. Nicht nur allen Gesunden, Kranken und Rekonvalescenten ist es als ein vornehmes Tafelgetränk zu empfehlen, sondern es ist auch ein äußerst nahrhaftes und bekömmliches Volksgetränk. Es wirkt erfrischend und anregend. Da das Bier auch durchaus nicht teurer ist wie unsere billigsten Biere, darf mit der Erfindung des Hopkos ‚Ale‘ und Hopkos ‚Porter‘ die so wichtige soziale Alkoholfrage um ein gut Teil gelöster erscheinen“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 27 v. 1. Februar, 20). Das moderne Leben mit seiner Hast, seinem „vielfach rasenden Tempo“ verbrauche rasch die Kräfte, verbiete aber zugleich den Alkoholkonsum, den „so zu Herzen gehenden Trank des Gambrinus“. Hopkos erlaube Erholung und Gemütlichkeit ohne Harm, zugleich fördere es die Verdauung, verdränge die Harnsäure, fördere „das Wohlbefinden des Menschen“ (Zeitgemäße Betrachtungen, Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 53 v. 1. Februar, 3). Hopkos bekämpfe auch die bei rastlos tätigen Menschen immer wieder eintretende Erschöpfung, die bei alkoholischen Erfrischungen wie dem Bier nicht zu vermeiden sei. „Analysen erster Autoritäten der Nahrungsmittel-Branche“ würden bestätigen, dass dieses „aus reinsten Ingredienzien“ bestehende Getränk Neuland beträte (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 53 v. 1. Februar, 18). Nicht Limonade oder Selterswasser, schon gar nicht Bier, sondern Hopkos materialisiere die Zukunft des Trinkens des modernen, tätigen und vorwärtsstrebenden Menschen (Ein neues Volksgetränk, Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 28 v. 3. Februar, 5).

Hopkos wurde als neues, gesellschaftliche Probleme aufgreifendes und ansatzweise lösendes alkoholfreies Getränk präsentiert, als Substitut gleichermaßen für Bier und die alten schwachen karbonisierten Wässerchen. Hopkos wurde als Getränk für alle angeboten, mochte der Schwerpunkt des Lobpreises auch auf den modernen Bürger, den modernen Angestellten zielen. Hopkos war ein Labetrunk für Alt und Jung, für Männer und Frauen, für Gesunde und Kranke. Sein Platz war das Kontor, die Arbeitsstätte, das gemütliche Heim, die Krankenstätte, das Sanatorium. Hopkos transformierte den Getränkekonsum – so die Werbung – in eine neue Sphäre, würde die Konkurrenz daher verdrängen, galt doch auch im Markt das Gesetz des Besseren, des Stärkeren. Wir werden dies unten genauer analysieren, denn Hopkos wurde nicht mit nur mit einem schönen Werbebild präsentiert, sondern mit breit angelegten, vielfach variierten Werbemitteln.

Umzug zu einem neuen Fabrikationsgebäude und Prämienangebote zwecks Auslastung der neuen Produktionskapazitäten (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 229 v. 17. Mai, 26 (l.); Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 137 v. 14. Juni, 7)

Die Gesellschaft zog Mitte 1903 von der Altstadt in die Arndtstraße 14 im nördlich gelegenen Stadtteil Uhlenhorst um, das nicht lange zuvor erstellte Funktionsgebäude war per Fleet mit der Außenalster verbunden. Das heute denkmalgeschützte Ensemble wurde damals vornehmlich gewerblich genutzt, das Unternehmen annoncierte eine eigene „Hopfen- u. Malz-Extract-Fabrik“ (Hamburger Adressbuch 118, 1904, T. III, 13). Nicht das wahrscheinliche Aussteigen des Eigentümers Bruno Friling stand im Vordergrund, nicht die folgende Staffelstabübergabe des Alltagsgeschäftes an den Generalagenten Carl W. Meyer, der in der Brennerstraße 74-78 residierte, nahe dem Steindamm, einer quirligen Geschäftsstraße im zentralen Stadtteil St. Georg. Auch Meyers parallele Tätigkeit für Alkoholproduzenten, wie die Berliner Bockbrauerei AG, blieb unerwähnt (Verzeichnis der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen im Oberpostdirektionsbezirk Hamburg 1903, 42).

Stattdessen präsentierte die American German Hopkos Company den Umzug als Teil einer stellaren Erfolgsgeschichte des neuen Bierersatzes. Dessen „schon jetzt“ enormer Absatz habe „die Uebersiedelung in ein grösseres Fabrikgebäude und die Fabrikation des Extraktes an Ort und Stelle nötig gemacht“. Die dampfbetriebene und mit neuen Maschinen ausgestattete Fabrik habe eine „tägliche Herstellungskapazität von Extrakten zu einem für 250.000 Flaschen reichenden Quantum“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 115 v. 17. Mai, 16). Anders ausgedrückt: An der neuen Produktionsstätte wurden Extrakte gefertigt, sie war Zentrum des Versands lizensierter Grundstoffe an die parallel langsam entstehenden Filialen im In- und Ausland. Der Getränkeabsatz dürfte zu dieser Zeit allerdings nicht den erhofften Umfang erreicht haben. Einerseits fabulierte man plötzlich von der neuen Entdeckung einer eminent durststillenden Wirkung des Hopkos, um rechtszeitig zum Sommergeschäft auch Touristen, Radfahrer, Turner und körperlich Arbeitende explizit anzusprechen. Anderseits lobte man kurz nach dem Bezug der neuen Produktionsstätte Erfolgsprämien für Einzelhändler aus, um dadurch den Absatz zu steigern. Für Juli schrieb man einen Wettbewerb aus, in dem der Krämer, der zuerst 1000 Flaschen eingekauft habe, eine Prämie von 50 Mark erhielt. Zugleich zahlte man jedem Abnehmer, der diese Marke überschritt, 10 Mark (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 137 v. 14. Juni, 40). Die Firma gewährte also ohne Reduktion des Endpreises von zehn Pfennig einen Mindestrabatt von zehn Prozent (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 273 v. 14. Juni, 13; ebd., Nr. 285 v. 21. Juni, 4). Bei einer monatlichen Produktionskapazität von nominell 7,75 Millionen Flaschenportionen waren derartige Prämien für recht geringe Abnahmemengen einzig Beleg für einen recht überschaubaren Absatz in Hamburg.

Wir Konsumenten dürfen allerdings nicht ignorieren, dass das Kerngeschäft nicht allein der lokale Absatz eines alkoholfreien Bierersatzes war. Laut Telefonbuch war das Unternehmensziel „Paten[t]verwert.“, ebenso konnte man im Adressbuch lesen: „American-German Hopkos Company mit beschränkter Haftung, Patentverwerthungen“ (Verzeichnis der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen im Oberpostdirektionsbezirk Hamburg 1903, 19; Hamburger Adressbuch 117, 1903, Mai-Anhang, 103). Das Hamburger Geschäft hatte Modellcharakter, sollte möglichen Investoren nicht nur abstrakt von Marktchancen tönen, sondern ein belegbares und besichtigungsfähiges Beispiel eines Erfolgsunternehmens geben. Das Hamburger Unternehmen war ein Franchiseunternehmen, gehörte zu den Pionieren dieses heutzutage allgegenwärtigen Geschäftsmodells im Deutschen Reich. Hopkos wurde in Hamburg als Marke etabliert, einheitliche Werbeklischees entwickelt, klare Rezepturen, Maschinen und die geschmacksgebenden Extrakte. Interessierte konnten gegen regelmäßige Gebühren die Rechte für einen entsprechenden Be- und Vertrieb an einem anderen Ort, in einer anderen Region erwerben – und dann in begrenzter Eigenregie Hopkos verkaufen. Der Lizenznehmer trug eigenes unternehmerisches Risiko, nicht jedoch die Kosten für die erfolgreiche Etablierung eines Geschäfts. Der Lizenzgeber profitierte von steten Gebühren, war zugleich gegenüber lokalen Absatzschwankungen abgesichert. Im Deutschen Reich waren damals Gebietsmonopole durchaus üblich, doch diese bezogen sich zumeist auf den alleinigen Absatz eines bestimmten Markenartikels in einem klar umrissenen Gebiet. Steinway-Flügel oder Singer-Nähmaschinen konnte man vor Ort nur von einem Unternehmen kaufen, mochte dieses in Großstädten auch verschiedene Filialen eröffnet haben. Bei Hopkos aber übernahm der Lizenznehmer nicht Fertigprodukte, sondern hatte diese Produkte dezentral selbst herzustellen, erhielt dafür Extrakte und Werbemittel. Das war in den USA durchaus üblich, Coca-Cola ein gutes Beispiel. Im Deutschen Reich gewann das Franchise-System später nicht nur im Getränkesektor an Bedeutung, wo die aus Milchsäure hergestellte Limonade Chabeso seit 1911 diese Geschäftsmodell nutzte (Ueber Milchsäuregetränke und deren Nutzen für die menschliche Gesundheit, Deutsch-Englischer- Reise-Courier 9, 1912/13, H. 11, 11-13).

Auf der Suche nach Investoren „in jeder Stadt der Welt“ (Badische Presse 1903, Nr. 49 v. 27. Februar, 4 (l.); Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 57 v. 26. Februar, 3. Morgenbl., 4)

Entsprechend schaltete die Hopkos-Company seit Ende Februar erst reichsweit, seit Mai auch europaweit nahezu gleichlautende Anzeigen in führenden Wirtschaftsmedien, um potenzielle Franchisenehmer mit den neuen Geschäftschancen vertraut zu machen. Hopkos war dabei nur Mittel zum Zweck für eine schnelle Mark, für scheinbar sichere Einkommen. Der Tenor war entsprechend lockend: „Bedeutender Gewinn! Vornehmen, lukrativen Industriezweig bilden die Hopkos-Fabriken in jeder Stadt der Welt. Einheitliche Organisation!! Einheitliche Reklame!! Hopkos […] ist ein Massenconsumgetränk vorzüglichster Qualität. Verkaufspreis per Flasche franco Haus 10 Pfg. für Arm und Reich“ (Schwäbischer Merkur 1903, Nr. 91 v. 25. Februar, 10). Nicht die Reform der Gesellschaft, nicht die Transformation der Trinksitten, nein, die Rendite war treibende Kraft aller Anstrengungen. Die Hopkos-Company lieferte bei Vertragsabschluss „complette Fabrik-Anlagen mit elektrischem Betriebe sammt sämmtlichen zu einem Bierversandt-Geschäft nötigen Requisiten wie: Wagen, Flaschen etc. franco Haus“ (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1903, Nr. 48 v. 27. Februar, 7). Dieser Service hatte seinen nach Ortsgrößen gestaffelten Preis: In Städten unter 50.000 Einwohner 9000, in Großstädten 25.000 Mark. Hamburg war Vorzeigeort, doch die Gesellschaft verwies auch auf Berlin und Leipzig, auch wenn dort noch keine festen Filialen bestanden. Investoren erhielten zudem Rentabilitäts-Nachweise, also Werbeunterlagen mit ansprechend hochgerechneten lokalen Markterwartungen.

Diese erste Anzeigenwelle führte zum Aufbau von Franchiseunternehmen in Bremen, Berlin, Frankfurt a.M., Leipzig, Wiesbaden – und Ennigerloh. Im Mai begann dann der Einstieg in das europäische Lizenzgeschäft, in das Weltgeschäft. Das „bekannte alkoholfreie Erfrischungsgetränk ‚Hopkos‘“, so hieß es „wird sich bald über ganz Europa verbreitet haben. Die Verbreitung geht mit erstaunlicher Geschwindigkeit vor sich, ein Zeichen, daß dieses als Bierersatz vielgepriesene Getränk eine Lücke füllt.“ Man sprach von einer Hopkos-Vertriebs-Gesellschaft in London, einer russischen Zentrale in Lodsch, von bald folgenden russisch-finnischen, französischen, italienischen, belgischen und holländischen Pendants. Die im Deutschen Reich derweil gegründeten Filialen mutierten zu Zeugen des weitergehenden Aufschwungs, „so daß jeder Deutsche bald überall sein Hopkos trinken kann“ (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 229 v. 17. Mai, 17; Neue Hamburger Zeitung 1903, Nr. 232 v. 19. Mai, 10). Das war begleitet von neuen, allerdings kürzer gehaltenen Annoncen, die mit der wichtigsten Botschaft endeten: „Großartige Rentabilität!“ (Kölnische Zeitung 1903, Nr. 776 v. 25. August, 4; ebd., Nr. 790 v. 29. August, 4). Andernorts nannte man auch Zahlen. Über eine anvisierte Filialfabrik in Oldenburg hieß es: „Das Kapital verzinst sich mit ca. 300% pro anno“ (Nachrichten für Stadt und Land 1903, Nr. 164 v. 16. Juli, 4). Das war offenkundig illusionär, größerer Trug als der Verkauf eines karbonisierten Getränks als „Bierersatz“, als verbessertem alkoholfreiem Bier. Doch die Zahlen blendeten nur wenige. Im September versprach die American German Hopkos-Company nicht mehr länger „Große Rentabilität“, sondern hatte bereits Mittelsmänner einschaltet, das kriselnde Geschäft teils übergeben (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1903, Nr. 412 v. 6. September, 6). In der zweiten Jahreshälfte zeigte sich erst in Deutschen Reich, in der Folge auch im europäischen Ausland, dass die Verheißungen trogen, dass Hopkos ein Auslaufprodukt war. Das alkoholfreie Getränk teilte dieses Verdikt mit vielen anderen ähnlichen Produkten, auch wenn die Macher von deren Scheitern durchaus lernten.

Ein Blick auf die Konkurrenz: Methon als Beispiel

Die American German „Hopkos“ Company war als nationales, gar multinationales Franchiseunternehmen, mochte ihr auch kein durchschlagender Erfolg beschieden gewesen sein. Das alkoholfreie Getränk sollte Bier ersetzen, stand zugleich aber in erbittertem Wettbewerb mit anderen alkoholfreien Angeboten. Deren Macher annoncierten abschätzig: „Alkoholfr. Bier (Methon), sehr wohlschmeckend, nicht zu verwechseln mit Hopkos!“ (Velberter Zeitung 1903, Nr. 217 v. 16. September, 4). Hopkos präsentierte sich als Bierersatz, vereinzelt auch als alkoholfreies Bier. Dieser Anspruch war unbegründet, die Analysen hatten dies offenbar unterstrichen. Und doch stand Hopkos für zahlreiche Versuche, Bier nicht technisch, sondern chemisch nachzubilden. Uns Nachgeborenen mag dies anmaßend erscheinen, doch nicht so unseren Ahnen: Kindermehle und Säuglingsmilch bildeten seit den 1860er Jahren die Muttermilch chemisch nach, um Gewinne zu erzielen und die horrende Säuglingssterblichkeit zu verringern. Aus Sicht der Tüftler bildeten sie Stoffkonglomerate, die um Kohlehydrate resp. Eiweiß gruppiert waren, sich aber dem Ideal der Muttermilch annäherten. Das naturwissenschaftlich-chemische Denken kreiste um Gemeinsamkeiten fernab des Alltagswissens, darin waren Rohr- und Rübenzucker gleichermaßen Glukose. Alkoholfreies Bier war demnach ein Getränk, das der chemischen Zusammensetzung des Bieres möglichst nahe kam. Geschmack, Textur, Technologie und Tradition erschienen demgegenüber zweitrangig. Wer fragte schon ein Baby (einen Kunden) nach seinen Präferenzen, entscheidend war der Nährerfolg (Markterfolg).

Das oben beworbene Methon war eines der neuen alkoholfreien Getränke, dessen Absatz durch Hopkos grundsätzlich bedroht wurde. Das Warenzeichen war sieben Monate vor Hopkos im Mai 1900 für die Dresdener „Fabrik ätherischer Oele und Essenzen“ von Franz Hermann Loebel in Dresden. Sie hatte sich bis Mitte der 1890er Jahre vor allem auf Zwischenprodukte konzentriert, belieferte Bäcker, Konditoren, Destillateure, Süßwaren- und Getränkehersteller (Kölnische Zeitung 1895, Nr. 207 v. 9. März, 11). Doch in den Folgejahren öffnete sich Loebel auch dem Endkundengeschäft. Vor Methon offerierte er schon den Bierextrakt Süss-Meth-Extrakt (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 259 v. 30. Oktober, 13), 1903 folgte die Limonade Apfelborn und die Brotaufstriche Schleckerchen und Frugalin. Begleitet war all das von verbalem Klappern; ein Flugblatt über Süss-Meth tönte hoffnungsfroh, das die Herstellung alkoholfreien Bieres nun „bequem und einfach ohne irgend welche Neuanschaffungen mit denjenigen Apparaten und Einrichtungen vorgenommen werden kann, welche in jeder, auch der kleinsten Mineralwasserfabrik vorhanden sind. Das neue Volksgenußmittel, das technisch, da seine Herstellung nicht auf dem altüblichen Maisch-, Brau- und Gährverfahren beruht, nicht als ‚Bier‘ zu bezeichnen ist, gelangt unter meiner Originaletiquette Süßmeth-Extract zur Einführung.“ Das war alkoholfreies Bier in chemischer Nachbildung. Brauer urteilten abschätzig: „Wir glauben kaum, daß sich auch nur ein vernünftiger Mensch auf der Welt finden dürfte, der Lust hat, diesen sonderbaren Extract zu versuchen“ (Zitate n. Unfug mit der Wortbezeichnung ‚Bier‘, Gambrinus 27, 1900, 248-249).

Methon, suggestiv angezeigt als „Alkoholfreies Bier“ (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 83 v. 9. April, 15)

Ähnlich, doch aktiver wurde das Folgeprodukt Methon beworben: „Alkoholfreie Biere herzustellen war daher längst eine brennende Frage, bisher allerdings ungelöst im Sinne einer Bereinigung von Wohlfeilheit und Schmackhaftigkeit. Neueste Erfahrungen haben in dem würzigen, gänzlich alkoholfreien, patentamtlich geschützten Methon ein Volksgenußmittel gezeitigt, welches mit erfrischendem Geschmack, glanzheller Färbung und prickelndem, sahnigen Mouffleur den hohen Extraktgehalt und die Vollmundigkeit der besten Münchner Biere vereinigt, ohne deren durch den Alkohol bedingte Schwere und berauschende Wirkung zu besitzen. – Nicht nach dem altüblichen Brauverfahren gewonnen, daher frei von allen Gährungskeimen, aber auch frei von künstlichen Süß-. Farb- und Konservierungsmittel ist Methon ein echter Haus-, Familien-, Tafel- und Gesundheitstrank“ (Lippstädter Zeitung 1901, Nr. 41 v. 6. April, 1). Methon war demnach kein Ersatz, sondern eine alkoholfreie Fortentwicklung des Bieres. Auch weißer Rübenzucker wurde als reiner Fortschritt gegenüber dem braunen Rohrzucker voller Rückstände beworben.

Loebel produzierte Methon seit 1900, doch erst nach der Gründung der Deutschen Methon-Gesellschaft im Mai 1901 nahm der Vertrieb Geschwindigkeit auf (Bautzener Nachrichten 1901, Nr. 115 v. 20. Mai, 133). Doch die Methon-Gesellschaft produzierte keine Getränke, sondern lediglich Grundstoffe. Methon wurde unmittelbar am Verkaufsort „frisch“ hergestellt (Lippstädter Zeitung 1901, Nr. 86 v. 20. Juli, 1). Abnehmer erhielten für fünf Mark eine Kiste mit zwei Flaschen fertigem ‚Methon‘ zum Kosten, Extrakt für die Herstellung von 250 Flaschen, Etiketten und eine Erläuterung des Verfahrens (Alkoholfreies Bier, Gambrinus 28, 1901, 291-292). Glasflaschen und ein Mineralwasserapparat wurden vor Ort angekauft. Die Werbung verwies auf den biergleichen Geschmack, die Reinheit des Getränks. Für die Brauer war Methon jedoch irreführender „Pantsch“, handelte es sich doch um nichts anderes als „eine gewöhnliche Brauselimonade ohne Hopfen und Malz“ (Unfug mit der Wortbezeichnung „Bier“, Gambrinus 28, 1901, 673). Eine Analyse des Stettiner Chemikers Paul Mecke konnte im Methon dann auch weder Hopfen noch Malz nachweisen, befand es als eine „parfümirte, mit Schaumessenz versetzte Zuckercouleur“ (Pharmaceutische Presse 6, 1901, 278). Das aus Invertzucker, Saponin und dem bis heute weit verbreiteten E 150 bestehende Getränk geriet darauf unter öffentlichen Druck, musste seine Werbung moderat verändern, wurde aber weiterhin als „alkoholfreies Bier“ angeboten (Gladbecker Zeitung 1901, Nr. 212 v. 14. September, 4: Essener Volks-Zeitung 1902, Nr. 170 v. 26. Juli, 10). Die Deutsche Methon-Gesellschaft stellte ihr Produkt „den besten Bieren gleich“ (Geseker Zeitung 1903, Nr. 54 v. 7. Juli, 4). Als vermeintlichen Beleg nutzte sie dafür ein Gutachten des Dresdner Nahrungsmittelchemikers und Inhaber eines öffentlichen chemischen Laboratoriums Friedrich Schmidt.

Trotzwerbung gegen die chemischen Untersuchungsergebnisse (Dresdner Neueste Nachrichten 1906, Nr. 219 v. 15. August, 14 (l.); ebd. 1909, Nr. 225 v. 20. August, 13)

Das Konkurrenzprodukt Methon dürfte von den Machern des Hopkos präzise analysiert worden sein. Es war demnach erstens ratsam, polarisierende Begriffe wie „alkoholfreies Bier“ nicht zu verwenden, diese zu umschreiben, die Assoziationsfähigkeit der (deutschen) Sprache zu nutzen. Es war zweitens ratsam, die Überzeugungskraft der Wissenschaft von Beginn an zu nutzen, mit einem eigenen Gutachten voranzugehen, nicht auf spätere chemische Kontrollen zu warten. Drittens schien es ratsam, den bei Methon grundsätzlich noch vorhandenen Zugriff auf die wertgebenden Grundstoffe nicht aus der Hand zu geben. Die Analyse allein des Endproduktes bot viel mehr Ausflüchte – und entsprechend weniger Möglichkeiten der Regulierung oder gar sanitätspolizeilicher Intervention. Methon mochte ein irreführend beworbener Bierersatz und Konkurrent von Hopkos gewesen sein. Doch zugleich war es ein Steigbügelhalter für eine passgenauere, mit dem geltenden Recht nicht im direkten Konflikt stehende Marktpräsenz. Die für uns heute selbstverständlichen definitorischen Unterschiede zwischen Limonaden, Extrakten und alkoholfreien Bieren wurden dadurch vorgeformt.

Werbung und Vermarktung in Hamburg

Hamburg war der Geschäftssitz der American German Hopkos Company, hier musste ein Beispiel für das gegeben werden, was nachfolgend an anderen Orten und in anderen Ländern geschehen sollte. Wir hatten zuvor bereits die verbale Anpreisung des Bierersatzes genauer betrachtet, den Eigenlob, die Positionierung von Hopkos als Getränk für alle, die nicht länger am alten Bier, an schwachen Nichtalkoholika festhielten. Die Sprache war großspurig, herausfordernd, teils anmaßend – doch formal waren die ersten Anzeigen altbacken. Hopkos wurde in Hamburg nicht wirklich „amerikanisch“ beworben, fehlten doch die visuellen Marker entweder des Produktes selbst oder aber glücklich-überzeugter Konsumenten. Der Eindruck einer „amerikanischen“ Reklame gründete denn auch mehr auf der steten Präsenz der Werbebotschaften. Drei Phasen lassen sich grob unterscheiden.

Graphisch aufbereitete Kaskaden der Kaufgründe (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 47 v. 29. Januar, 8 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 91 v. 19. April, 24)

Von Ende Januar bis etwa Mitte April 1903 dominierten informierende, die Hauptanliegen der Selbstdarstellung gleichsam einhämmernde Anzeigen. Visueller Ankerpunkt war der Produktname, entweder markant wiederholt oder aber graphisch ansprechend aufbereitet. Die Annoncen erschienen in allen führenden Tageszeitungen Hamburgs, adressierten damit die gesamte Bevölkerung, Arbeiter, einfache Bürger, die urbane Kaufmannschaft. Das Einhämmern verankerte den Preis, die edle Grundlage von Hopfen und Malz, den hohen Nährwert, die Kampfstellung gegen das Bier, die repräsentative Kraft des Neuen, unbedingte Alkoholfreiheit und schließlich das duale Angebot einer hellen und einer dunklen Variante. Das war Überwältigungsreklame, zielte auf die Verankerung von Werbebotschaften im Hirn der Massen – und damit ihre bedingte Dressur für den Kauf, ging man damals doch noch von der starken Wirkungsmacht der Reklame aus.

Belehrung des Publikums über den wahren Preis (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 115 v. 10. März, 7)

Die gefühlte Überlegenheit der Hopkos-Macher führte denn auch dazu, dass man der sich in recht geringen Absatzzahlen niederschlagenden Ignoranz der Konsumenten durch belehrende Information begegnete. Hopkos war nicht billig: Zwar kosteten auch gängige Flaschenbiere zehn Pfennig pro Flasche, doch diese enthielten zwischen 0,3 und 0,4 Liter, während Hopkos in Fläschchen von lediglich 0,1 Liter verkauft wurde. In Gaststätten – und dort wurde die Masse des Bieres getrunken – lagen die Bierpreise nochmals niedriger. Außerdem verdoppelte sich der Einstiegspreis durch das Flaschenpfand von nochmals zehn Pfennigen. Die Macher ignorierten die damaligen Debatten über das Besitzrecht an gekauften Produkten und ihren Verpackungen. Und man unterstrich mit der oberen wieder und wieder geschalteten Anzeige, dass die kleine Erfrischung einen ganzen Groschen kostete. Bei Monatssalären von vielfach nur 60 bis 100 Mark, bei Frauen stetig weniger, war das eine Hürde, die den Massenabsatz deutlich begrenzte. Zudem waren derartige Nichtalkoholika auch in der Mitte der Gesellschaft vielfach noch nicht eingeführt. Die aufstrebende Hamburger Konsumgenossenschaft „Produktion“ verkaufte 1903 ihren etwa 15.000 Mitgliedern ganze 5186 Liter Saft und keine Limonaden (Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ zu Hamburg. Geschäfts-Bericht für das Fünfte Geschäftsjahr 1903, Hamburg 1904, 29).

Weg vom Alkohol, hin zur Abstinenz: Hopkos als Brückengetränk (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 159 v. 4. April, 8)

Im März/April 1903 gab es weitere Anzeigenmotive – doch ihre Größe (und die Kosten) sank gegenüber den Einführungsmonaten. Man bewarb Hopkos als idealen, als wunderbaren Bierersatz, stellte nun jedoch auch einzelne Vorteile des Getränks besonders hervor. Zugleich positionierte man es noch deutlicher als Temperenzgetränk, als Novität mit einer hohen Mission.

Vermarktung im Schlagschatten der Abstinenz (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 80 v. 4. April, 8)

Die zweite Phase reicht von Mitte April bis Mitte Mai. Den Machern dürfte damals deutlich geworden sein, dass die anvisierten Absatzzahlen kaum zu erreichen waren. Der Inhaber zog daraus Konsequenzen und sattelte auf den marktgängigeren Absatz von Backmischungen um. In dieser Phase dominierten neuerlich Textanzeigen. Im Gegensatz zur Einführungszeit bedienten sie nun jedoch höchst heterogene Themen, verbanden diese mit Hopkos. Parallel zu den Pferderennen in Hamburg Horn war es „ein totsicherer Tip im Kampfe des Lebens, im nimmer rastenden Rennen um die Gesundheit von Geist und Körper“, gleichermaßen geeignet „für Abstinenzler und Biertrinker“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 97 v. 26. März, 24). Man grenzte sich ab von Konkurrenzangeboten, insbesondere zu dem in Hamburg produzierten Apfelpräparat Pomril, bemängelte dessen moderaten Alkoholgehalt, verwies dagegen auf die gutachterlich bestätigte Alkoholfreiheit. Man bettete dies aber auch ein in den Wettstreit der Völker, bei dem sich Zivilität in den Trinksitten manifestiere (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 189 v. 24. April, 12). Hopkos, so die Aussage, erlaube „allen Alkoholgegnern die große Freude, daß sie jetzt Bier trinken dürfen, alkoholfreies Bier; denn Hopkos – der Name ist etwas schwer, und die Zunge macht jedesmal einen Hopser – enthält keinen Alkohol und besteht doch aus Malz und Hopfen“ (Hopkos, Märkischer Sprecher 1903, Nr. 111 v. 13. Mai, 7). Neben derartige redaktionelle Reklamen setzte man aber auch kleine Geschichten, gleichsam literarische Schleichwerbung, versah sie augenzwinkernd mit „Nachdruck erlaubt“: Ein Wagnersänger musste etwa trunken eine Lohengrin-Aufführung abbrechen, die gramgebeugte Gattin fragte einen alten Sanitätsrat um Rat. Nein, die Nerven seien wirklich ein Problem, Lampenfieber müsse bekämpft werden, Gesang und Durst seien eng miteinander verbunden. Einem Künstler Genüsse und Erfrischung zu verwehren sei kontraproduktiv. Nur gut, dass es Hopkos gebe, diese bierähnliche Stärkung aus der Flasche. Und der Sanitätsrat empfahl der Dame, „‚lassen Sie ihren Mann statt Bier nur noch Hopkos trinken. Er wird den Unterschied kaum merken und binnen kurzem der alte sein‘“ (Ewaldo v. Santen, Ein furchtbares Erlebnis, Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 91 v. 19. April, 27). Ja, die Welt war (und ist) einfach: Kaufen, Trinken, Gesunden…

Ein eingeführtes Getränk (Hamburger Echo 1903, Nr. 184 v. 9. August, 6)

Drittens: Nach dem erfolgreichen Umzug nach Uhlenhorst startete die Hopkos-Company dann von Mitte Mai bis Mitte August eine dritte Werbephase. Die Anzeigentaktung nahm neuerlich zu, eingesetzt wurden nun auch vereinzelte visuelle Elemente, etwa den schon oben präsentierten Wegweiser an den neuen Standort. Parallel weiteten sich die Themen, gab es formale Variationen. Hopkos wurde – im bürgerlichen Hamburg! – in vielfältigen Formen zum König der alkoholfreien Getränke gekrönt, erschien als Hilfsmittel gegen Durst und Trunkenheit, diente zugleich dem Kampf gegen „Nervosität, Armut, Zunahme der Verbrechen, Arbeitsscheu, Lebensüberdruss“ (Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 149 v. 28. Juni, 14).

Hopkos als volkswirtschaftlicher Aktivposten, als König aller alkoholfreien Getränke, als Getränk der Getränke (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 321 v. 12. Juli, 8 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 191 v. 16. August, 16)

Neuerlich wurden die Vorteile des idealen Bierersatzes Hopkos aufgelistet und mit Ausrufungszeichen versehen. Es schien, als wolle man mit diesen unten abgebildeten Anzeigen den Verbraucher nochmals aufrütteln, während parallel die Geschäfte immer schlechter liefen. Die Werbesprache blieb appellativ-trotzig: „Das Getränk der Getränke! Hopkos ist nahrhaft, da es aus Hopfen und Malz hergestellt wird, wie Bier. Hopkos ist belebend, wie Wein und kräftigt dabei die Nerven, da es absolut alkoholfrei ist. Hopkos ist erfrischend und blutreinigend und löscht wunderbar das Durstgefühl. Hopkos ist ein wissenschaftlich absolut einwandfreies modernes Getränk für die Tafel, den Hausgebrauch, das Krankenzimmer, die Restauration, den Turn- u. Spielplatz – kurz für alle Welt. […] Prosit!“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 191 v. 16. August, 16). Doch die erwünschte Resonanz blieb aus, auch wenn es an ironischer Unterstützung nicht fehlte. Ein abgelehnter Dichter musste lesen: „Ihr ‚Lied eines Wüstlings‘ ist so entsetzlich, daß wir uns nicht zum Abdruck entschließen konnten; einem Redakteur, der das durchlas, mußte sofort mit zwei Flaschen Hopkos wieder auf die Beine geholfen werden“ (Hamburgisches Fremden-Blatt 1903, Nr. 203 v. 30. August, 17).

Ein Getränk für alle (Hamburger Anzeiger 1903, Nr. 174 v. 28. Juli, 5 (l.); Hamburger Echo 1903, Nr. 178 v. 2. August, 4)

Auch in dieser dritten Phase gelang es den Hopkos-Machern nicht, ihr Produkt zielgruppengenau anzudienen, den Ersatzbiergarten für alle zu verlassen: „Für Jung und Alt, Gesunde und Kranke!“ (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 345 v. 26. Juli, 8). Ein Massengetränk müsse sich auch an die Masse der Konsumenten richten, dürfe nicht ausgrenzen. Dieses Credo mochte vielleicht in den vergleichsweise wohlhabenden, an Mittelstandsnormen und hochwertigen Standardprodukten angepassten Vereinigten Staaten gelten. In der hanseatischen Klassengesellschaft verfehlte eine derartige Werbung tendenziell die Absatzaufgaben. Die Hopkos-Macher adressierten zwar durchaus die „tapferen Frauen der arbeitenden Klasse“, präsentierten Hopkos aber nicht in deren Lebenswelt, sondern als Verbürgerlichungsgetränk, als Bestandteil einer vielfach verhassten fürsorglichen Belagerung just der Chemiker, Ärzte, Lehrer und Sozialpolitiker, die Hopkos warm empfahlen (Hamburger Echo 1903, Nr. 166 v. 19. Juli, 10).

Unterentwickelter Vertriebsweg Gaststätte: Hopkos-Bier und andere Limonaden (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1903, Nr. 172 v. 25. April, 8 (l.); ebd. 1903, Nr. 241 v. 17. Juli, 8)

Überraschend war schließlich, dass Hopkos trotz aller Bemühungen um Akzeptanz der Lebensmittelhändler auf deren eigenständige Werbeunterstützung kaum zählen konnte. Die Hopkos-Werbung erfolgte zentral, nicht dezentral. Das galt selbst für Cafés und Restaurants, auch für die langsam wachsende Zahl der alkoholfreien Gaststätten.

Werbeträchtige Scheindebatten

Die Hopkos-Macher zogen in Hamburg allerdings eine bemerkenswerte Konsequenz aus den Marktauftritten alkoholfreier Konkurrenzprodukte, nicht nur von Methon. Sie inszenierten vermeintliche Angriffe, auf die sie dann souverän öffentlich reagierten. Damit nahm die American German Hopkos Company einerseits den bürokratisch-sachlichen Hinweisen der Untersuchungsämter präventiv Wind aus den Segeln, konnte anderseits aber den Blick der Verbraucher gezielt auf die scheinbar eindeutigen Vorteile von Hopkos lenken.

Volle Breitseite gegen Kritik am neuen Getränk (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 63 v. 15. März, 15)

Anlass einer ganzseitigen „Zur Abwehr!“ übertitelten Anzeige war einerseits ein öffentlich kontrovers diskutiertes Anti-Alkoholpamphlet des Hamburger Richters Hermann Martin Popert (1871-1932), anderseits die Abwehr von nicht näher spezifizierten Vorwürfen, Hopkos sei nicht alkoholfrei. Popert hatte die negativen Auswirkungen aller Alkoholika beredt beschworen, ließ dabei das Bier nicht aus: „Vor allen Dingen sind die Brauereien und die Bierwirtschaften nicht minder Ausstrahlungspunkte schwerer nationaler Schädigung, als die Brennereien von Trinkbranntwein oder die Keller der Branntweinwirte“ (Hermann M. Popert, Hamburg und der Alkohol, Hamburg 1903, 49). Der Autor war eine schillernde Persönlichkeit, jüdischstämmiger Jurist, Schriftsteller, liberaler Bürgerschaftsabgeordneter und Guttempler. Mit seinem 1910 erschienen Erfolgsroman „Helmut Harringa“ veröffentlichte er einen Schlüsseltext der antimodernen und rassistischen Lebensreform (Kai Detlev Sievers, Antialkoholismus und Völkische Bewegung. Hermann Poperts Roman Helmut Harringa, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29, 2004, 29-54). Popert schlug präzise Maßnahmen zur Austrocknung der Alkoholwirtschaft in Hamburg vor, darunter auch die öffentliche Förderung alkoholfreier Wirtschaften. Nichtalkoholika waren für ihn Garanten einer Umkehr von allgemeiner Entartung. Ein alkoholdürstendes Volk sei nicht in der Lage Weltgeltung und „Deutsche Seeherrschaft“ (Ebd., 51) zu erlangen.

Hopkos wurde nicht erwähnt, doch Poperts Aussagen konnten dem Absatz nur förderlich sein. Entsprechend lobte der Anbieter das Produkt als „vollgültiger Ersatz des Bieres […]. Hopkos besitzt alle Vorzüge eines guten, nahrhaften Bieres und keinen seiner Nachteile“. Es sei ein „Temperenzgetränk par excellence“, ignoriere auch nicht die auch von Popert propagierte Lebensfreude. Mäßige hatten dieses Recht eingefordert, verteidigten es in der intensiv geführten öffentlichen Debatte, da Alkoholtrinker ohne Pragmatismus nicht zu gewinnen seien ([Theodor] Deneke, Dr. H. Poperts Buch „Hamburg und der Alkohol“, Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 59 v. 11. März, 13). Hopkos wurde in diesen Scharmützeln nicht erwähnt, nicht als Hilfsmittel der Umkehr benannt. Die Anzeige sollte das Getränk propagieren, entsprechend erfand die Firma nicht näher bezeichnete schädigende „Ausstreuungen“. Das bewirkte sarkastische Antworten: Forderungen eines Guttemplers nach Zwangsmitgliedschaft von Arbeitern in dieser, gerade in Hamburg wichtigsten Abstinentenvereinigung konterte ein sozialdemokratischer Redakteur übersteigernd: „Natürlich! Und zugleich sollte man ihm die Verpflichtung auferlegen, täglich mindestens fünf Liter Pomril oder Hopkos zu konsumiren“ (Hamburg und der Alkohol, Hamburger Echo 1903, Nr. 65 v. 18. März, 5).

Nachgelegt: Hopkos als alkoholfreies Substitut für Bier (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 71 v. 25. März, 24)

Derartiger Spott missfiel den Hopkos-Machern, eine weitere ganzseitige Stellungnahme folgte. Neuerlich sprach man dunkel von Schmähbriefen und Hohn. Dagegen erhob man sich wacker, betonte Wohlgeschmack und Alkoholfreiheit des Hopkos, präsentierte die Ergebnisse des bestätigenden Gutachtens des eigenen Mitarbeiters Carl Enoch. Und es folgte eine Eloge auf den „Bierersatz ersten Ranges“, billig und zukunftsträchtig. So brachte die Firmenleitung ihr Getränk in die Diskussion – zu allerdings hohen Kosten: Die beiden Inserate im Fremden-Blatt kosteten 316,80 Mark; und sie wurden auch in den günstigeren Hamburger Nachrichten veröffentlicht (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 74 v. 28. März, 17). Wie sehr es in dieser Debatte allein um Publizität ging, unterstrichen zwei gleichartige, mehr als drei Monate später mit anderen Einleitungen versehene Anzeigen der Frankfurter Hopkos-Gesellschaft (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 177 v. 28. Juni, 4. Morgenbl., 4; ebd. , Nr. 174 v. 25. Juni, 3. Morgenbl. 3). Pseudodebatten und erfundene Niedertracht gehörten zur Präsentation von Hopkos.

Verdammung durch die Brauwirtschaft

Empörung über derartige Machenschaften ist kaum angebracht, denn solches Gebaren gehörte zum wirtschaftlichen Wettbewerb. Plagiatsvorwürfe durchzogen damals die Gazetten, Verfahren wurden vielfach angestrengt, um Strafbefehle von zehn, fünfzig, hundert Mark öffentlich annoncieren zu können, um die eigene Ehrsamkeit und Rechtschaffenheit dann angemessen zu beleuchten. Die American German Hopkos-Company schwieg allerdings ihre profunden Kritiker öffentlich tot, schuf also lediglich eine Werbewelt eigener Qualität. Das betraf die Analysen und Rückfragen der Untersuchungsämter, das betraf aber vor allem die Kritik der Brauer, die am vermeintlichen Bierersatz Hopkos kein gutes Haar ließen.

Deutsche und böhmische Fachzeitschriften berichteten anfangs durchaus sachlich über die neu gegründete Hamburger Gesellschaft, um dann gleich in die Hörner der Abwehr und Verdächtigung zu stoßen: „Wieder einmal ein Ersatz für Bier! Es wäre wahrlich höchste Zeit, daß sich die Sanitätsbehörden mit derlei problematischen Erzeugnissen etwas eingehender befassen sollten, als dies bisher der Fall gewesen“ (Alkoholfreier Schwindel, Gambrinus 30, 1903, 193; Hopkos, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 26, 1903, 291). Die Einlassungen der Brauwirtschaft spiegelten die vielgestaltigen Verwerfungen des Fin de Sieclé, verteidigte sie mit dem Bier doch nicht nur ihr eigenes Geschäft, sondern zugleich das tradierte Leben vor den Herausforderungen einer rasch vorwärtsdringenden Moderne. Die Kritik war vielfach zutreffend, seitens der sich in den Jahrzehnten zuvor grundstürzend modernisierten Brauwirtschaft aber doch überraschend und selbstblind. Die Antialkoholbewegung wurde nicht als Resultat verbesserter physiologischer und medizinischer Kenntnisse verstanden und ernstgenommen, sondern als eine aus dem Norden nach Süden vordringende utopisch-kreischende Bewegung, deren Vertreter man eigentlich, wie die Vegetarier, als Sonderlinge ignorieren müsse. Produkte wie Hopkos hätten dies jedoch verändert, „die nur schlecht eingewurzelte, künstlich genährte Pflanze treibt nämlich giftige Blüten mit hochtönenden Namen, gar wundersam anzusehen.“ Hopkos verkünde lautstark, gesünder als Bier zu sein, dieses verdrängen zu können. „Diese in echt amerikanischer Manier veröffentlichte Reklame ist offenbar ein Attentat auf die Leichtgläubigkeit des Volkes, und es ist nun unsere Pflicht, in dieser Angelegenheit ein offenes fachmännisches Wort zu sprechen, damit nicht tausende von Personen, welche das gedruckte Wort als ein Evangelium betrachten, diesem Humbug zum Opfer fallen.“ das tradierte Gute stand dem anmaßenden Neuen gegenüber: „Das tatsächlich aus Hopfen und Malz erzeugte Bier, das seit Jahrhunderten von aller Welt getrunken und verehrt wurde, ist zum Kampfobjekt der Abstinenzler geworden, das ‚Hopkos‘ aber, ein auf chemischem Wege erzeugtes Getränk, das niemals aus Malz und Hopfen erzeugt sein kann, dieses Getränk also, das der Gesundheit kaum zuträglich sein kann, wird dem Volke als Genußmittel angepriesen! Eine große Gesellschaft mit bedeutenden Mitteln konstituiert sich, die Behörden geben auch noch ein Patent auf dieses Produkt, Agenten durchziehen das Reich und machen Proselyten und das Volk, welches sich zum Genuß des ‚Hopkos‘ verleiten läßt, wird geschädigt, den Vorteil einzig und allein haben die ausländischen Unternehmer, die ‚Hopkos‘-Company, welche sich mit den im Schweiße seines Angesichtes verdienenden Hellern des Arbeiters die Tasche füllen und schließlich, wenn das Volk zur Einsicht gekommen sein wird – liquidieren.“ Die Untersuchungsbehörden müssten einschreiten, denn letztlich würden solche Unternehmen den monarchischen Staat, die mittelständische Gesellschaft unterminieren. „Geradezu frech“ sei es zudem, dass derartige Produkte von Wissenschaftlern verteidigt würden. Als Sachwalter des Gemeinwohls müsse die Brauwirtschaft daher „das Volk eindringlich vor dem Genusse eines Getränkes, das bisher unbekannt war und es noch ist“ warnen (Zitate n. Ein Appell an die Sanitätsbehörden, Gambrinus 30, 1903, 704-705). Antiamerikanismus, Antikapitalismus, Ideen eines einheitlichen Volkskörpers, einer einheitlichen Wissenschaft, Vorstellungen von Überfremdung und Angst vor der Innovationsflut der Moderne; all dies findet sich hier, hatte über die damalige Mittelstandsbewegung auch beträchtliche politische Auswirkungen. Die Abwehr von Hopkos ging weit über das Trinken oder Nicht-Trinken einer trügerisch beworbenen Getränkeinnovation hinaus. Hopkos war auch Projektionsfläche vielfach nicht erwünschter, gleichwohl kaum zu stoppender Veränderungen des Alltagslebens, der Kommerzialisierung zumindest des urbanen Alltags.

Beschwörung des Alten: Selbstdarstellung der Münchener Braukunst 1905 (Münchener Bier-Chronik 1905, Ausg. v. 1. September, 1)

Entsprechend wurden die neuen alkoholfreien Getränke nicht distanziert analysiert, auch die damit verbundenen eigenen Marktchancen außer Acht gelassen: Es hieß, „die Fabrikanten der alkoholfreien Getränke treiben ein gefährliches Spiel mit ihren Anpreisungen von chemischen Produkten“ (Alkoholfrei, Gambrinus 30, 1903, 830, auch zum Folgenden). Immer wieder forderten die Brauereivertreter das scharfe Schwert der Wissenschaft, forderten Enthauptungsschläge gegen die Konkurrenz. Sie ignorierten, dass die neuen Produkte zumeist nicht gesundheitsschädlich – und wirtschaftliche Schädigungen kaum nachweisbar waren. Sie warnten vor zeittypischen Getränken, etwa Ceres-Fruchtsäften, Bilz-Brause und eben auch Hopkos, während sie die Gründe für den im Deutschen Reich seit 1900 zurückgehenden Bierkonsum nur unwillig in den Blick nahmen. Die Kritik am Neuen sollte die Reihen schließen und führte zu einer Wagenburgmentalität der Branche, die apodiktisch verteidigte statt sich zu verändern. Typisch dafür war das unausgesprochene Verbot als Brauer „alkoholfreie Biere“ zu produzieren und anzubieten. Das veränderte sich langsam, Trinkmit der Bochumer Schlegel-Brauerei war später eine seltene und doch zukunftsweisende Ausnahme.

Die Kritik der Brauer an Hopkos und ähnlichen Getränkeinnovationen unterstrich aber auch die beginnende Stagnation des Braugewerbes, dessen Symbol die rechtlich verbindliche Festschreibung des Reinheitsgebotes im gesamten deutschen Braugebiet 1906 war. Man wetterte gegen die „Abstinenzfanatiker“ (Cluss, Die wichtigsten Gesichtspunkte der Alkoholfrage vom Standpunkte der Mässigkeit. II, in: Letter on Brewing 6, 1906, 80-99, hier 91), gegen ihre unanständige Propaganda, ihre steten Unwahrheiten und Übertreibungen. Die neuen Getränke, „dargeboten unter sprechenden Phantasienamen wie „‚Methon‘, ‚Hopkos‘, ‚Pomril‘, ‚Kaiserperle‘, ‚Edelblume‘ u.s.w.“ (Ebd., 95), lehnten sie sämtlich ab, verwiesen auf das gute altbewährte Bier mit seinem nur geringen Alkoholgehalt. Anbieter wie die Hopkos-Company – aber auch die Brauer folgten den eigenen Narrativen, blickten nicht über den Glasrand hinweg (vgl. Birgit Speckle, Streit ums Bier in Bayern. Wertvorstellungen um Reinheit, Gemeinschaft und Tradition, Münster 2001, 197-206). Diese allseits bestehende Ignoranz gegenüber konfligierenden Ansprüchen begünstigte in den USA den Weg in die Prohibition, die sich die erfolgsverwöhnten Brauer letztlich nicht vorstellen konnten, gegen die sie zu spät aufbegehrten (Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010, 11-50). Die wechselseitigen Attacken von Brauern und Anbietern neuartiger Nichtalkoholika führten auch in Deutschland zu einer Versäulung der jeweiligen Vorstellungen vom richtigen und falschen Trinken.

Nationale Expansion: Hopkos-Lizenznehmer im Deutschen Reich

Die seit spätestens Februar 1903 laufenden Bemühungen um Franchisenehmer hatten im Deutschen Reich nur gegrenzten Erfolg. Die Hamburger Hopkos-Zentrale lieferte zwar Maschinen, Extrakte und Werbevorlagen, erlaubte vor Ort durchaus eigenständige Marketingmaßnahmen, doch die Verträge engten die lokalen Aktivitäten auch ein, wurden lokale Besonderheiten doch kaum berücksichtigt. Insbesondere der reichsweit einheitliche Verkaufspreis war zu hoch, schon für eine einkommensstarken Standort wie Hamburg, gewiss aber für wirtschaftlich schwächere Regionen. Auch gleichartige Werbung war im regional heterogenen deutschen Föderalstaat nicht immer ein Vorteil. Unser kurzer Überblick wird sich daher vor allem auf lokale Besonderheiten und das für ein Franchise-Geschäft typische Spannungsgefüge zwischen Lizenzgeber und -nehmer konzentrieren. Drei Beispiele also, Frankfurt a.M./Wiesbaden, Berlin und Ennigerloh, zudem ein Memento zu Beginn.

Eine Leipziger Gesellschaft wurde aller Wahrscheinlichkeit schon im Februar 1903 vertraglich vorbereitet, doch sie entfaltete vor Ort kaum Wirkung (Leipziger Tageblatt 1903, Nr. 96 v. 22. Februar, 1356). Die Bremer American German Hopkos Company wurde am 14. Mai 1903 mit einem Stammkapital von 30.000 M gegründet, das im März 1904 gar auf 39.000 M erhöht wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 117 v. 19. Mai, 13; ebd. 1904, Nr. 73 v. 25. März, 29). Die Gesellschaft bemühte sich neben dem Kerngeschäft um die Etablierung von Filialen im Großherzogtum Oldenburg (Nachrichten für Stadt und Land 1903, Nr. 164 v. 16. Juli, 4; Jeversches Wochenblatt 1903, Nr. 195 v. 21. August, 3). Der Erfolg blieb aus, die Firma wurde am 4. April 1904 aufgelöst, erlosch nach erfolgreicher Liquidation im Januar 1907 (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 104 v. 3. Mai, 25; ebd. 1907, Nr. 31 v. 2. Februar, 20).

Das erste Beispiel führt uns nach Frankfurt a. M. und die benachbarte Kur- und Residenzstadt Wiesbaden. Als Handelsstadt mit Hafen und rasch wachsender Industrie war die frühere Freie Hansestadt mit Hamburg durchaus vergleichbar. Die American German Hopkos Company W. & P. Foucar begann am 15. April 1903, Gesellschafter waren der Kaufmann Wilhelm Foucar und seine Gattin Paula (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 111 v. 12. Mai, 27). Wilhelm Foucar hatte zusammen mit seinem Bruder 1900 die zuvor von seinem Vater Heinrich Wilhelm Foucar, einem seit 1870 in der Rheinprovinz tätigen Kaufmann, geführte Firma Foucar & Bender in eine neue Handelsgesellschaft überführt (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 175 v. 27. Juli, 7; ebd. 1900, Nr. 38 v. 10. Februar, 15). Für das noch junge Ehepaar schien Hopkos eine Chance der Emanzipation vom Familienverband und eine selbstbestimmte Zukunft zu sein.

Tagesproduktion 12.500 Flaschen, Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 132 v. 13. Mai, 1. Morgenbl., 4)

Die Foucars übernahmen Technik, Grundstoffe und Flaschen aus Hamburg, setzen aber von Beginn an eigene Akzente in der Werbung. Die Charakteristika wurden dem Publikum zwar ebenso eingehämmert, doch die Werbeklischees von Beginn an variiert (Frankfurter Israelitisches Familienblatt 1, 1902/03, Nr. 28, 8). Dicke Ränder sorgten in der werblich eher rückständigen Frankfurter Zeitung für besondere Aufmerksamkeit, zudem informierte man aus Renommeegründen genauer über den Geschäftsgang. 12.500 Flaschen Hopkos sollen Anfang Mai produziert worden sein, ein beachtlicher Wert auch für eine Metropole mit mehr als 300.000 Einwohnern und einem dicht besiedelten Umfeld. Die Frankfurter Dependance listete zudem mehrfach die Hopkos-Niederlagen auf, Läden also, in denen man den Bierersatz sicher kaufen konnte. Schon im Mai standen unter den Anzeigen 89 Adressen, darunter auch der aufstrebende Lebensmittelfilialist Jakob Latscha. Parallel hatte man früh fünf Generaldepots in Hanau, Cronberg, Oberursel, Hofheim und Darmstadt eingerichtet (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4). Die Firma expandierte auch weiter gen Norden, etwa nach Gießen (Gießener Anzeiger 1903, Nr. 117 v. 20. Mai, 4).

Ein alkoholfreies Getränk in kleinen Bierflaschen – gleichwohl ein großes Kampfmittel gegen Siechtum und Tod (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 155 v. 6. Juni, 3. Morgenbl., 4 (l.); ebd., Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4)

Selbstbewusst schuf das Ehepaar Foucar eigene Werbemittel, führte Hopkos damit den Kunden genauer vor Augen, griff in Illustrierten und Karikaturzeitschriften schon länger übliche Werbetrends auf. Selbstbewusst zettelte das Duo auch Scheinfehden an, um Hopkos in der Öffentlichkeit als hochwertiges, wohlschmeckendes und vor allem alkoholfreies Getränk zu etablieren (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 174 v. 25. Mai, 3. Morgenbl., 3; ebd., Nr. 177 v. 28. Juni, 4. Morgenbl., 4).

Produktdiversifizierung als Grundlage für höhere Krisenfestigkeit (Neues Adressbuch für Frankfurt am Main und Umgebung 1904, T. III, 2 (l.); ebd., T. I, 28)

Die American German Hopkos Company W. & P. Foucar offerierte neben dem Bierersatz eine breitere Palette alkoholfreier Getränke, darunter das Kunstgetränk Calvella, Ersatz des am Main so wichtigen Apfelmosts. Entsprechend glaubte man sich von dem Konkurs der Hamburger Zentrale abkoppeln zu können, versprach nicht nur von Hopkos, sondern auch die „künstlichen Mineralwässern und Limonaden“ weiterproduzieren zu wollen (Ebd. 1904, Nr. 77 v. 17. März, 1. Morgenbl., 3). Gleichwohl musste das Frankfurter Franchise-Unternehmen kurz darauf Konkurs anmelden und wurde am 24. Januar 1905 aufgelöst (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 30 v. 3. Februar, 14). Das Ehepaar Foucar verschwand, war im August 1905 nicht mehr greifbar, als die Berliner Annoncenexpedition Haasenstein & Vogler versuchte, ausstehende Insertionszahlungen in Höhe von 2.283,77 Mark einzuklagen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 197 v. 22. August, 6).

Die Dezentralisierung des Hopkos-Lizenzgeschäftes wurde von den Foucars konsequent vorangetrieben, Hopkos war im zentralhessischen Raum allseits präsent. Wiesbaden, die Hauptstadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau, wurde dem alteingesessen Handelsunternehmen Carl Doetsch übertragen, das 1879 vom gleichnamigen Weinhändler gegründet, 1889 aber an neue Eigentümer verkauft worden war (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 46 v. 22. Februar, 6; ebd. 1889, Nr. 58 v. 28. Februar, 13). Auch in Wiesbaden griff man auf die Hamburger Werbevorlagen zurück, veränderte sie aber mit Regionalbezug. Der ‚Dorscht‘ der Hessen wurde beschworen, die hohen Preise des lokalen Apfelweins beklagt, das vermeintlich amerikanische Hopkos gepriesen. Man reduzierte den Hopkos-Preis in Gaststätten auf fünfzehn Pfennig, fünf Pfennig niedriger als andernorts (Ein billiges, nahrhaftes und erfrischendes Getränk, Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 292 v. 27. Juni, Morgenausg., 3). Einheimische und auch Touristen durften Hopkos vor Ort kostenlos probieren, Koppeleffekte auf andere Orte wurden erhofft (Wiesbadener Streifzüge, Wiesbadener General-Anzeiger 1903, Nr. 160 v. 12. Juli, 1).

Einführung in Wiesbaden mit Proben (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 280 v. 19. Juni, Abendausg., 7)

In Wiesbaden war die Werbung variantenreich, doch es blieb zumeist bei gestalteten Textanzeigen, die regelmäßig die lokalen Hopkos-Händler auflisteten. Wurden Ende Juni zwanzig Namen genannt, waren es Anfang Juli schon 93, Anfang August schließlich 109 Niederlagen (Wiesbadener General-Anzeiger 1903, Nr. 144 v. 25. Juni, 7; ebd., Nr. 156 v. 8. Juli, 6; ebd., Nr. 177 v. 1. August, 5). Hinzu kamen Anfang Juli gezielte Hinweise auf immerhin zwölf „Ausschänkstätten“ (Wiesbadener Bade-Blatt 1903, Nr. 182 v. 2. Juli, 34). Das galt auch für übliche Cafés und Gaststätten, nicht nur für das alkoholfreie Restaurant „Zur Gesundheit“ (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 561 v. 2. Dezember, Morgenausg. 12).

Aufbau eines lokalen Vertriebsnetzes in Wiesbaden (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 286 v. 23. Juni, Abendausg. 10)

Die zeitlich begrenzte Vertretung von Hopkos war für das Wiesbadener Generaldepot Carl Doetsch wahrscheinlich erfolgreich. Die Großhandelsfirma belieferte ihre Kunden mit einer ganzen Palette alkoholfreier Markenartikel und auch eigener Handelsmarken (Wiesbadner General-Anzeiger 1904, Nr. 19 v. 23. Januar, 7). Hopkos war im Vergleich zu anderen Reformwaren relativ billig, ein Einstiegprodukt für solvente Interessenten. In Wiesbaden wurde es bis Mitte 1904 verkauft (Wiesbadener General-Anzeiger 1904, Nr. 56 v. 6. März, 6: ebd. Nr. 113 v. 15. Mai, 5; ebd., Nr. 167 v. 20. Juli, 12).

Das zweite Beispiel führt uns nach Berlin, gewinnen wir dort doch nähere Informationen über die Vertragsverhältnisse, die Größe der dezentralen Betriebe und die bisher ja völlig ausgeblendeten Beschäftigungsverhältnisse. Die Berliner Hopkos-Gesellschaft mit beschränkter Haftung wurde relativ spät gegründet (Volks-Zeitung 1903, Nr. 300 v. 30. Juni, 3). Der Etablierung am 27. Juni 1903 waren jedoch lange Verhandlungen vorausgegangen, ging es doch um „den Kauf einer Fabrikanlage mit Maschinen und Zubehör und die Lizenz, betreffend die ausschließliche Herstellung und den ausschließlichen Vertrieb des ‚Hopkosgetränkes‘ für den gesamten Postbezirk Berlin (Berliner Börsen-Zeitung 1903, Nr. 304 v. 2. Juli, 21). Die Verhandlungen hatten im Februar mit einem Vorvertrag begonnen, ein Zessionsvertrag vom April regelte Kreditlinien und Anteilsrechte der Hamburger Zentrale. Das Stammkapital lag schließlich bei 120.000 M, die Geschäftsführung teilten sich der Schöneberger Kaufmann Wolf Cohn und der Berliner Ingenieur Johannes Brandes (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 154 v. 3. Juli, 13). Rasch zeigten sich Friktionen, die Geschäftsführung wurde bereits nach knapp zwei Wochen ausgetauscht (Ebd., Nr. 164 v. 15. Juli, 10).

Übernahme und Variation Hamburger Werbeklischees in der Reichshauptstadt (Vorwärts 1903, Nr. 119 v. 24. Mai, 14 (l.); ebd., Nr. 125 v. 31. Mai, 13)

Auch in Berlin war Hopkos zeitweilig breit präsent, konnte etwa in den ca. 300 Filialen der Likörfabrik, Weingroßhandlung, Fruchtsaftpresserei, Mineralwasser- und Schaumwein-Fabrik Hermann Meyer & Co. gekauft werden (Vorwärts 1903, Nr. 125 v. 31. Mai, 133). Ähnliches galt für die in Berlin besonders wichtigen Flaschenbiergroßhandlungen. Das Geschäft wurde allerdings durch ein behördliches Verkaufsverbot vom 20. Oktober bis 28. November 1903 begrenzt (Berliner Börsen-Zeitung 1903, Nr. 557 v. 28. November, 14). Ende Januar 1904 konnte man die Groß-Berliner Lizenz und den Maschinenpark dann „unter coulanten Bedingungen“ erwerben (Berliner Tageblatt 1904, Nr. 51 v. 29. Januar, 11). Es folgte die Zahlungseinstellung und am 12. April 1906 schließlich die Löschung der Berliner Hopkos-Gesellschaft (Berliner Börsen-Zeitung 1906, Nr. 179 v. 18. April, 14).

Die im Herbst 1903 auch öffentlich diskutierte Absatzkrise erlaubt genauere Einblicke in den Geschäftsgang. Die in der Chausseestraße 3 gelegene Hopkos-Fabrik beschäftigte anfangs etwa fünfzehn Arbeiter und sieben Kutscher. „Da das Unternehmen aber finanziell sehr schlecht fundiert war und das Fabrikat auch nicht genügend Abnehmer fand, verkrachte die Gesellschaft bereits nach einigen Monaten. Der Konkurs wurde zwar angemeldet, doch wegen Mangel an Masse zurückgewiesen. Schon während der ersten Monate war das Personal verringert worden, so daß zuletzt noch zwei Kutscher, drei Kellerarbeiter und eine Buchhalterin verblieben“ (Vorwärts 1903, Nr. 240 v. 14. Oktober, 9). Lohn wurde keiner mehr gezahlt, die Ansprüche addierten sich. Doch die komplexen Vertragsverhältnisse erschwerten den Regress, derweil beträchtliche Teile des Inventars verkauft wurden. Dem Rechtsanwalt der Arbeiter gelang es, die maschinelle Grundausstattung vor dem Verkauf zu retten. Dennoch bekamen seine Mandanten ihre zwischen 75 und 300 Mark liegenden Forderungen nicht erstattet, da es vorrangige Mietschulden gab. Die öffentlich angegriffene Berliner Hopkos-Gesellschaft verwies den sozialdemokratischen Vorwärts auf die bestehende Rechtslage. Der Zessionsvertrag begünstige einige Gläubiger, auch Zugriffsrechte der Hamburger Zentrale unterbänden die Lohnzahlung an die Beschäftigten (Vorwärts 1903, Nr. 251 v. 27. Oktober, 10-11). Das sind bis heute vielfach typische Folgen eines auf Franchise aufbauenden Geschäftsmodells. Deutlich wird aber auch, dass der Berliner Lizenznehmer – und gewiss nicht nur dieser – seit Spätsommer 1903 vornehmlich abwickelte. Hopkos scheiterte rasch, an fehlendem Betriebskapital, vor allem aber am fehlenden Absatz. Die anfangs ausgegebenen „Rentabilitäts-Nachweise“ trogen, gründeten auf illusionären Erwartungen.

Das dritte Beispiel führt uns von der Reichshauptstadt in die westfälische Provinz, nach Ennigerloh, einer landwirtschaftlich geprägten Gemeinde mit etwa 1.500 Einwohnern. Es erlaubt einerseits Einblicke in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Lizenznehmer, unterstreicht anderseits die trotz Verträgen nicht unbeträchtliche unternehmerische Freiheit fernab der Zentrale in Hamburg.

Bierersatzwerbung im Münsterland und in Ostfalen (Die Glocke 1903, Nr. 106 v. 9. Mai, 3 (l.); Bielefelder Volks-Zeitung 1903, Nr. 128 v. 6. Juni, 8)

Die American-German ‚Hopkos‘ Company Badde & Schlemann in Ennigerloh hatte bereits am 1. April 1904 ihren Betrieb aufgenommen (Münsterischer Anzeiger 1903, Nr. 253 v. 1. Mai, 3). Die treibende Kraft war der als Prokurist fungierende Heinrich Schlemann. Er war ehedem Landwirt, seit 1900 Mitinhaber eines lokalen Wasserkalkwerks (Bielefelder Volks-Zeitung 1900, Nr. 79 v. 3. April, 5). Der Betrieb scheiterte, über das Vermögen Schlemanns wurde 1902 der Konkurs eröffnet, 1905 schließlich aufgehoben (Ebd. 1902, Nr. v. 20. Mai, 4; ebd. 1904, Nr. 52 v. 4. März, 3; Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 44 v. 20. Februar, 42). Der lokale Absatz des alkoholfreien Bieres verlief in den gängigen Bahnen, Hopkos-Klischees buhlten in der westfälischen Provinz um Käufe. Der Absatz dürfte überschaubar gewesen sein.

Doch Schlemann sah, ebenso wie zuvor Konstantin Delpy in Hamburg, im Hopkos-Konkurs eine Chance. Er gründete im September 1904 mit Hilfe seiner Frau Anna die Mineralwasserfabrik Dr. Tietzsch u. Schlemann (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 264 v. 8. November 1904, 29). Sie produzierte das von Carl Enoch entwickelte, von der Hopkos-Gesellschaft vermarktete Erfrischungsgetränk Calvina und das neu kreierte Mineralwasser Heinrichs-Sprudel, ein mit Kohlensäure angereicherten Trinkwasser. Die Geschäftsidee war, die „teueren natürlichen Mineralwässer“ durch „ein billiges Tafelwasser“ zu ersetzen; ein Geschäft, das heutzutage Groß- und Handelskonzernen hohe Gewinne sichert (Bielefelder Volks-Zeitung 1904, Nr. 266 v. 19. November, 12).

Angebote über Bande: Calvina, Mineralwasser und Alkoholika (Die Glocke 1904, Nr. 243 v. 21. Oktober, 4)

Nach dem beendeten Konkurs und dem Selbstmord des Kompagnons Rudolf Tietzsch, der, „ein bedauernswerter Mann ohne sittlichen Halt“, zuvor in Berlin die „letzten Reste seines Vermögens durchgebracht hatte“ (Bielefelder Volks-Zeitung 1905, Nr. 96 v. 27. April, 2) gründete der wieder voll handlungsfähige Heinrich Schlemann im August 1905 die Schlemann & Co. GmbH. Mit einem Stammkapital von 21.000 Mark produzierte sie, wie die Internationale Hopkos-Gesellschaft, alkoholfreie Fruchtextrakte und weitere alkoholfreie Getränke.

Fortsetzung Calvinas unter neuem Namen und neuer Flagge (Warenzeichenblatt 1906, 51)

Schlemanns Kalvina war eine eingedeutschte Reminiszenz an die American German Hopkos Company, in dessen im August 1905 beantragten Warenzeichen der Adler nunmehr allein die deutsche Fahne in seinen Klauen hielt. Es ist unklar, wie lange dieses alkoholfreie Erfrischungsgetränk in der westfälischen Provinz verkauft wurde. Die Ennigloher American-German Hopkos Company erlosch jedenfalls am 10. Januar 1909 (Bielefelder Volks-Zeitung 1909, Nr. 12 v. 16. Januar, 4). Sie war der letzte noch bestehende deutsche Lizenznehmer der einstmals verheißungsvoll gestarteten Hamburger Hopkos-Zentrale. Schlemann arbeitete anschließend wohl als Landwirt resp. im lokalen Hotel seines Bruders und nach dem Krieg unter anderem als Repräsentant einer Weinfirma (Die Glocke 1922, Nr. 17 v. 21. Januar, 5). Die schnelle Mark dürfte er nicht gemacht haben, auch wenn er auf die Disruptionen seines Umfeldes professionell reagiert hatte.

Weltgeschäft: Hopkos in Auslandsmärkten

Weltgeschäft… Dieser Begriff ist bei Franchiseunternehmen wie Hopkos eigentlich immer mitzudenken, selbst im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus. Es galt ein erfolgreiches Modell zu etablieren, dieses dann wieder und wieder zu reproduzieren. Franchiseunternehmen sind Spekulationen auf geringe Unterschiede im Konsumverhalten großer Konsumentengruppen. Die Macher sahen Hopkos als einen innovativen Traditionsbrecher, der länderübergreifend Erfolg haben würde. In der Tat gelang der Verkauf von Hopkos-Lizenzen auch außerhalb des Deutschen Reiches. Hopkos repräsentierte in allerdings gebrochener Weise den für viele Nahrungsmittelbranchen typischen Erfolg deutscher Grundstoffe und Maschinen (Manz und Spiekermann, Making Food Empires, Oxford 2026 (i.E.)). In den meisten anvisierten Ländern scheiterte Hopkos jedoch.

Der Blick über die Grenzen lehrt erst einmal, dass das seit 1900 geschützte Warenzeichen schon vor dem Ankauf der Rechte durch die American German Hopkos Company genutzt wurde. 1901 wurde die Ausfuhr von „Hopkos (Ersatz für Weizen-Malz-Bier)“ nach Russland offiziell genehmigt (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 275 v. 19. November, 6; Deutsches Handels-Archiv 1902, 54). 1902 konnte man es durch den Zürcher Unternehmer Albert Bruhin beziehen. Er gehörte zu den Pionieren der Produktion alkoholfreien Bieres in der Schweiz, verkaufte seine Schweizerische Fabrik zur Herstellung alkoholfreier kohlensäurehaltiger Getränke jedoch bereits im Folgejahr (Der Freisinnige 1903, Nr. 75 v. 1. Juli, 4).

Frühe Präsenz in der Schweiz (Neue Zürcher Zeitung 1902, Nr. 300 v. 29. Oktober, 7)

Im wichtigsten europäischen Markt, in Großbritannien, wurde keine Hopkos-Vertriebs-Gesellschaft gegründet, der Bierersatz lediglich als eine „new alcohol-free popular drink“ (The National Druggist 35, 1905, 275) wahrgenommen. Die Hamburger Hopkos-Company plante dagegen die Expansion nach Frankreich. Schon am 6. April 1903 erhielt sie ein fünfzehnjähriges Patent für Flaschenabfülleinrichtung mit vorgelagerter Mischung von Fruchtsirup und kohlensäurehaltigen Flüssigkeiten (Bulletin des Lois de le République Francaise 69, 1904, 428). Über die Nutzung dieses Patents Nr. 330.953 ist allerdings nichts bekannt (Brevet d’Invention 1903, Nr. 14, s.p.). In dem damals noch in Personalunion mit Norwegen vereinten Schweden, einem Kernland der Temperenzbewegung, bemühte sich die Hopkos-Gesellschaft um Franchisenehmer, lud Interessenten jedoch vergeblich zu persönlichen Verhandlungen nach Stockholm ein (Stockholms Dagblad 1903, Nr. 179 v. 7. Juli, 8). Erfolg hatte die Hamburger Firma jedoch im russischen und österreichisch-ungarischen Reich.

Erfolglose Werbereise zur Etablierung von Hopkos in Schweden – erfolgreiche Investorensuche in Budapest (Dagens Nyheter 1903, Nr. 11938 v. 7. Juli, 4; Pester Lloyd 1903, Nr. 124 v. 26. Mai, 4)

Nachdem die Investorensuche im cisleithanischen Österreich ohne Erfolg geblieben war, entstand im August 1903 in Budapest die Continental-Hopkos-Company, vermeintlich aufgrund der „in den letzten Wochen in massenhafter Weise aus allen europäischen und überseeischen Ländern an uns gelangten Aufträge zur Errichtung von Anlagen zur Hopkoserzeugung“ (Neue Freie Presse 1903, Nr. 13999 v. 18. August, 19). Sie sollte das Geschäft in Ungarn, Österreich und dem Orient organisieren.

Budapest als Standort der geplanten weiteren europäischen Expansion von Hopkos (Pester Lloyd 1903, Nr. 197 v. 16. August, 3)

Am Standort Budapest waren Lizenzen zu vergeben, wurden offiziell Extrakte und Maschinen gefertigt (Die Zeit 1903, Nr. 317 v. 18. August, 13). Die dortige Werbesprache lehnte sich an die deutschen Vorlagen an, propagierte das in Flaschen zu je vierzehn Heller erhältliche Erfrischungsgetränk aber auch als ein stärkendes „Heilgetränk“ für Sanatorien und Krankenhäuser (Pester Lloyd 1903, Nr. 235 v. 30. September, 13). Der Aufbau des Geschäfts erfolgte langsam, erst im Frühjahr 1905 bemühte man sich via Anzeige um kapitalkräftige Lizenznehmer in der Habsburgischen Monarchie (Kärtner Zeitung 1905, Nr. 40 v. 7. April, 7; Kurjer Lwowski 1905, Nr. 98 v. 8. April, 8). Der Konsum in Budapest soll damals 20.000 Flaschen täglich betrugen haben (Grazer Tagblatt 1905, Nr. 95 v. 4. Mai, 14). Nach wie vor aber hatte die mittlerweile in Fabrik alkoholfreier Fruchtextrakte Delpy & Co. m.b.H. umbenannte Hamburger Zentrale die Patentrechte inne (Österreichisches Patentblatt 13, 1905, 303). Die Budapester Dependance versuchte Hopkos in Galizien, insbesondere aber an Adriaküste, in Triest und Dalmatien, zu etablieren (Il Picolo 1905, Nr. 8508 v. 30. April, 3; ebd. 1905, Nr. 8582 v. 13. Juli, 3). Dies dürfte misslungen sein. Wahrscheinlich endete die Budapester Continental-Hopkos-Company 1907/08 (Adressbuch aller Länder der Erde 10, 1908, Bd. 18, 38).

Versuche der Etablierung von Hopkos im österreichischen Triest (Il Picolo 1905, Nr. 8485 v. 7. April, 5)

Schneller erfolgte die Etablierung in Russland, genauer im russisch beherrschten Finnland. Erste Werbeanzeigen findet man im Juni 1903; Mitte Juni 1903 wurde schließlich der Gesellschaftervertrag der „Finska Hopkos Aktiebolag“ in Helsinki genehmigt (Hufvudstadsbladet 1903, Nr. 161 v. 20. Juni, 3). In den Zeitungen klang es fast wie in Hamburg: „Das neue Erfrischungsgetränk ‚Hopkos‘, das in Finnland große Aufmerksamkeit erregt und sich in ganz Europa verbreitet, wird auch in Finnland immer beliebter“. Die Sachaussagen waren oft jedoch Wunschvorstellungen: „Der Preis wird so niedrig angesetzt, dass es hoffentlich auch in unserem Land Bier verdrängen kann, wie es in Deutschland, der Heimat des Bieres, bereits der Fall ist“ (Uusi Aura 1903, Nr. 128 v. 6. Juni, 1).

Werbung für Hopkos in der finnischen Hauptstadt Helsinki und in der Gewerbestadt Turko (Hufvudstadsbladet 1903, Nr. 280 v. 18. Oktober, 5 (l.); Uusi Aura 1903, Nr. 76 v. 7. Juli, 3; ebd., 1 (r., o.))

Hopkos galt anfangs als technische Errungenschaft, neben Anzeigen bekannten Tons traten vor Ort zudem Werbebeilagen und Flugblätter (Uusi Aura 1903, Nr. 205 v. 5. September, 2; Uusi Aura 1903, Nr. 160 v. 15. Juli, 1). Hopkos galt als „Amerikkaalista raittiusjuomaa“, als „Amerikanisches Mäßigkeitsgetränk“ (Wiipuri 1904, Nr. 36 v. 4. Mai, 1), während man Hamburg in der Werbung auch mal nach Sachsen verortete (Turun Lethi 1903, Nr. 66 v. 6. Juni, 2). Wie bei vielen deutschen Lizenznehmern war das amerikanisch-deutsche Getränk meist Teil eines breiteren Angebotes alkoholfreier Getränke (Uusi Aura 1903, Nr. 86 v. 30. Juli, 4; ebd. 1904, Nr. 44 v. 19. April, 1). Auch in Finnland wurde die Alkoholfreiheit des Bierersatzes besonders betont, musste auch hervorgehoben werden, da einzelne Analysen geringe Alkoholanteile ergaben (Wiipuri 1904, Nr. 94 v. 24. April, 2; Uusi Aura 1904, Nr. 157A v. 10. Juli, 2). Die lokale Produktion in Finnland dürfte Ende 1904 eingestellt worden sein.

Scheitern, Fortsetzungen und Ende in Hamburg

Die Lizenzeinkünfte aus mehreren deutschen Filialen und zwei europäischen Staaten waren allerdings nicht ausreichend für einen weiter profitablen Geschäftsbetrieb in Hamburg. Ein Jahr nach der Gründung begann der Ausverkauf. Die Einrichtung der Hopkos-Company, ihr Maschinenpark, auch weitere Produktionsmittel wurden erst Anfang Januar, dann nochmals Anfang öffentlich versteigert. Es galt offenbar, noch bestehende Werte zu monetarisieren.

Versteigerung der Hopkos-Einrichtung Anfang 1904 (Hamburgischer Correspondent 1904, Nr. 9 v. 7. Januar, 7 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 20 v. 21. Januar, 14)

Das Weltgeschäft war vor Ort überschaubar, versteigert wurde je ein Destillier- und Pasteurisierapparat, eine Flaschenspülmaschine, ein kleiner Elektromotor, mehrere Kessel, nur 9000 Flaschen und 200 Flaschenkästen, zudem 100 Korbflaschen und schließlich drei große Fässer mit Hopkos-Extrakt. Alles musste raus, schließlich auch der eiserne Geldschrank. Parallel verkaufte man weiter Restbestände des früheren Getränks der Zukunft.

Der Verkauf geht trotz Verkauf des Interieurs und Geräteparks weiter (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 23 v. 28. Januar, 8; ebd. Nr. 25 v. 30. Januar, 8)

Mit Gesellschaftervertrag vom 1. Februar 1904 wurde die American German Hopkos Company in eine Nachfolgegesellschaft, die Internationale Hopkos Gesellschaft Delpy & Co. mbH überführt, die ein durchaus stattliches Stammkapital von 70.000 Mark aufwies (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 35 v. 10. Februar, 11). Die früheren Macher waren großenteils nicht mehr mit an Bord, Hauptgesellschafter wurde der Kaufmann und Zivilingenieur Maria Hubert Felix Marbaise, der für die für 20.000 Mark bar von der Hopkos-Company erworbenen Firmenrechte – offenkundig Lizenzverträge – einen doppelt so hohen Kapitalanteil angerechnet bekam. Marbaise war nach der Heirat 1898 in die Hamburger Fa. Wilhelm Cordts eingetreten, die unter anderem Repräsentant des Aufzügeherstellers Deutschen Otis-Gesellschaft war, dessen Stammsitz in Yonkers, New York lag, direkt neben der Zuckerraffinerie eines Sohnes des deutsch-amerikanischen Zuckermagnaten Claus Spreckels. Marbaise übernahm diese Gesellschaft später, gründete zudem eine eigene Maschinenfabrik, scheiterte damit jedoch, musste 1910 Konkurs anmelden (Hamburger Fremyden-Blatt 1898, Nr. 270 v. 18. November, 22; Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 422 v. 9. September, 23; ebd. 1905, Nr. 110 v. 1. März, 17; ebd. 1910, Nr. 131 v. 13. März, 36; Hamburger Fremdenblatt 1911, Nr. 34 v. 9. Februar, 14). Neuer Geschäftsführer wurde der Harburger Kaufmann Konstantin Delpy, Kaufmann in Harburg (Neue Hamburgische Börsen-Halle 1904, Nr. 63 v. 7. Februar, 5). Diese Nachfolgegesellschaft wickelte die bisherige Hopkos-Company ab, führte das Lizenzgeschäft weiter, begann zudem mit der Produktion und dem Vertrieb eines neuen alkoholfreien Erfrischungsgetränkes.

Veränderter Firmennamen, unveränderte Anzeige, kontinuierlicher Absatz auch im Facheinzelhandel (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 50 v. 28. Februar, 16 (l.); Bergedorfer Zeitung 1904, Nr. 73 v. 26. März, 5)

Die American German Hopkos Company mbH stellte am 13. Februar 194 ihre Zahlungen ein (Hamburgischer Correspondent 1904, Nr. 74 v. 13. Februar, 13). Die Umsetzung des Konkurses verzögerte sich mehrfach, der finale Prüfungstermin erfolgte schließlich Anfang August 1904. Die noch vorhandenen Mittel von 21.150 Mark wurden an die Gläubiger verteilt, insgesamt gab es Forderungen von 115.426,44 Mark (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 163 v. 14. Juli, 22). Der Konkurs konnte daher Ende August aufgehoben werden (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 205 v. 31. August, 11). Die American-German Hopkos Company mbH wurde schließlich am 25. September 1905 gelöscht (Ebd. 1905, Nr. 230 v. 29. September, 12).

Derweil waren ihre früheren Warenzeichen Anfang April 1904 auf die neue Internationale Hopkos-Gesellschaft übertragen worden, so dass es zumindest rechtlich keine Friktionen im parallel allerdings bröselnden Lizenzgeschäft gab (Ebd. 1904, Nr. 83 v. 8. April, 29). Doch die neue Gesellschaft präsentierte seit Ende April 1904 auch ein weiteres „nach patentiertem Verfahren aus Früchten zubereitet[es], hervorragendes Erfrischungsgetränk“ (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 102 v. 1. Mai, 44). Das Warenzeichen für Calvina war bereits am 18. Juli 1903 beantragt worden, befand sich seit Ende September im Besitz der Hopkos-Company (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 244 v. 16. Oktober, 15). Es handelte sich um gewerblich Nutzung eines der beiden 1900 an Carl Enoch erteilten Patente (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 285 v. 2. Dezember, 13; ebd. 1905, Nr. 77 v. 30. März, 18; DE130103 – Google Patents).

Erweiterung der Produktionspalette: Erfrischungsgetränk Calvina (Hamburger Nachrichten 1904, Nr. 284 v. 23. April, 4)

Das neue Getränk wurde aktiv, doch deutlich verhaltener angepriesen als Hopkos. Es hatte 0,37 Prozent Alkohol, war also durchaus „alkoholfrei“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 33, 1906, 465). Doch neben Calvina wurde weiterhin auch Hopkos angeboten, beide mit Aplomb: „Von den alkoholfreien Getränken, welche jetzt eine große Rolle spielen, gehören die Fabrikate der ‚Internationalen Hopkos-Gesellschaft‘ zu den beliebtesten. Die unter den Namen ‚Hopkos‘ und ‚Calvina‘ hergestellten Getränke zeichnen sich durch leichte Bekömmlichkeit und angenehmen Geschmack aus, sodaß namentlich für den Sommer das Getränk sehr zu empfehlen ist“ (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 102 v. 1. Mai, 30). Nur vereinzelt brachen die früheren Hopkos-Elogen sich Bahn, wurde vom Durst und der Durstnot geschrieben, bei der die „Hopkos-Gesellschaft“ helfen könne: „Wir trinken Hopkos abwechselnd hell und dunkel und zur besonderen Erbauung unserer Schluckwerkzeuge Calvina. Der ‚viele Durst‘ ist gestillt und keiner kann uns was anhaben!“ (Hopkos, Neue Hamburger Zeitung 1904, Nr. 207 v. 5. Mai, 3)

Daueranzeige für Hopkos und Calvina (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 119 v. 22. Mai, 27)

Beide Produkte wurden im Mai/Juni 1904 mit nur einem Werbeklischee kontinuierlich angezeigt, Enochs geistige Vaterschaft darin nicht näher erwähnt, wohl aber seine kontinuierliche chemische Kontrolltätigkeit. Die Getränke verschwanden anschließend langsam, erschienen noch in Annoncen einzelner Händler (Bergedorfer Zeitung 1905, Nr. 222 v. 21. September, 4). Derweil hatte sich die Internationale Hopkos-Gesellschaft umbenannt, die Warenzeichen wurden Ende August 1905 an die Fabrik alkoholfreier Frucht-Extracte Delpy & Co. mbH übertragen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 54 v. 3. März, 23). Sie währte nicht lang, wurde am 19. Januar 1907 schließlich aufgelöst und von Konstantin Delpy liquidiert (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 22 v. 25. Januar, 14).

Das Warenzeichen Hopkos überdauerte sie – zumindest formal. Es erlosch im Dezember 1910 nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist (Deutscher Reichsanzeiger 1910, Nr. 289 v. 9. Dezember, 36). Der Bedeutungsgewinn alkoholfreier karbonisierter Getränke, insbesondere von süßen Limonaden, wurde dadurch nicht gebremst, die schnelle Mark lockte weiterhin Investoren. Herbere Getränke, insbesondere die „alkoholfreien Biere“ hatten damals allerdings „noch keinen besonderen Anklang gefunden […] und es muß daher abgewartet werden, ob die Anstrengungen der Fabrikanten zur Verbesserung ihrer Erzeugnisse zum Ziele führen“ – so das Zwischenresümee der Temperenzler, die unter „alkoholfreien Bieren“ nach wie vor auch „braun gefärbte und aromatisierte Zuckerlösungen“ wie Methon und Hopkos verstanden (Mäßigkeits-Blätter 24, 1907, 202).

Uwe Spiekermann, 25. Oktober 2025

Verschwundene Welten: Hanf, Haschisch und Cannabispräparate im 19. Jahrhundert

Die Liberalisierung von Cannabis nimmt ihren Lauf. Zahllose Einwände und Bedenken wurden in den Wind geschlagen, denn es ging um ein Freiheitsrecht, um einen weniger repressiven Zugang zu einem Kraut der Erlösung. Abseits des Binnendiskurses der Parteien wurden Interessengruppen, NGOs, medizinische und sozialtechnologische Experten eingebunden; doch nicht das Abwägen zwischen offenkundigen Gefahren, dem Jugendschutz, den vertriebstechnischen Problemen und den vielfältigen medizinischen, sozialpräventiven und wirtschaftlichen Verheißungen stand dabei im Mittelpunkt. Es galt vielmehr Wahlversprechen zu halten, eine der wenigen Gemeinsamkeiten der nun kollabierten Regierung in Form zu gießen. Für den Erfahrungsschatz der Menschheit, für die in Geschichte eingewobene Demokratie der Toten interessierte man sich dabei nicht – Vergangenheit ist heutzutage überholt, gilt es doch Neuland zu schaffen, die Zukunft zu gewinnen. Dabei ist das gängige Narrativ einer repressiven Verbotsgeschichte der Droge historisch höchst problematisch: Hanf war hierzulande im 19. Jahrhundert vielmehr doppelt präsent, verschwand aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg ebenfalls doppelt.

Zum einen zerbrach die tradierte heimische kleinbäuerliche Produktions- und Konsumkultur unter dem Zangengriff von Industrialisierung und Globalisierung. Dabei handelte es sich um den einheimischen Hanf, um Cannabis sativa. Zum andern aber blieb die Bedeutung des zwar seit langem bekannten, doch erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts voll Emphase erforschten Hanfes – also der Droge Hanf – relativ gering. Cannabis indica wurde vielfältig angewendet, war Teil zahlreicher Präparate, doch die Kombination unzureichender chemischer Kenntnisse und spekulativer Wirkmechanismen schloss eine erfolgreiche Karriere als Heilmittel letztlich aus. Die Droge Hanf fiel dem Markt zum Opfer, wurde durch leistungsfähigere Pharmazeutika verdrängt – und das lange vor der ersten gesonderten Einhegung durch das Opiumgesetz 1929.

Das Verschwinden des heimischen Hanfes: Landwirtschaftliche Produktion, gewerbliche Verarbeitung und Konsumwandel

Betrachten wir zuerst den heimischen Hanf: Cannabis sativa war keine Droge, sondern Alltagskultur. Hanf wurde vielfältig angebaut, be- und verarbeitet, war typisch für die materielle Kultur vor- und frühindustrieller Gesellschaften. Wir müssen uns daher zurückversetzen in die Welt um 1800, in der 90 Prozent der Menschen auf dem Lande lebten und klein- und unterbäuerliche Betriebe dominierten. Hanf diente nicht dem unmittelbaren Überleben, anders als Getreide und dann die Kartoffel. Hanfanbau war ein landwirtschaftliches Nebengewerbe, dezentral betrieben. Er ermöglichte einerseits Gelderwerb, anderseits aber die Herstellung von Stoffen, Kleidung und vielfältiger Hilfsmittel im hauswirtschaftlichen Verbund. Hanf war die „Leinwand der Armen“, weniger marktorientiert als die konkurrierenden Gespinstpflanzen Flachs und Leinen.

Hanf war eingebunden in eine vom Jahreslauf und Wetter abhängige Wirtschaftsweise. Die vielgestaltigen Verarbeitungsschritte zwischen Aussaat, Ernte und dem Verkauf von Faserstoffen und Samen füllten die Arbeitslücken der Subsistenzwirtschaft, erhöhten damit die Produktivität dieser Agrikultur. Hanf war Teil und Ausdruck strikt funktionaler Geschlechterverhältnisse. Aussaat und Ernte waren vornehmlich Männerarbeit, die langwierige Verarbeitung lag dagegen in den Händen der Frauen und Kinder, eventuell auch der Alten. Hanfanbau war trotz der hohen Bedeutung der Hauswirtschaft Teil des langsamen Vordringens der Geldwirtschaft und einer dann im 19. Jahrhundert bedeutsamer werdenden Marktorientierung bäuerlicher Haushalte.

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Biologische Ordnung: Abbilder von Cannabis sativa (Zorn, 1790, Taf. 532 (l.); Schlechtendal, 1833, Taf. 175; Hayne, 1856, Taf. 56 (r.))

Die Bilder, die wir von dieser Übergangswelt haben, sind daher keine Bilder des Alltags. Typisch hierfür sind die Zeichnungen des Hanfes. Seit Carl von Linnés (1707-1778) Arbeiten Mitte des 18. Jahrhunderts zielten sie vor allem auf eine Ordnung und Neuordnung der Welt, auf eine Taxonomie, die kaum ein Bauer dieser Zeit verstanden hätte: Hanf sah überall etwas anders aus. Botanisch-pharmakologische Bilder waren weniger Abbilder, denn Appelle. Sie zielten auf einheitliches Saatgut, auf höhere Erträge, auf produktivere Wirtschaftsweisen. Sie waren, so schön sie auch anmuten, bürgerlichen Utopien einer wohlhabenden und gebildeteren Welt – als solche aber auch blind gegenüber der vermeintlich indolenten Lebens- und Arbeitsweise der großen Mehrzahl.

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Frühe Mechanisierung der Hanfproduktion: Hilfen für das Brechen (Hard, 1795, Anhang)

Das zeigte sich insbesondere an den vielen dutzend Beschreibungen der komplizierten Verarbeitung der bis zu zwei Meter hohen und nach männlich und weiblich, nach Faser- oder Samenertrag unterschiedenen Hanfpflanze. Ich werde Ihnen die Einzelschritte nicht vorführen, jeder eine erfahrungsgeleitete Kunst für sich: Das Rösten, also Auslaugen und Einweichen der Stängel, das Trocknen, das Dreschen und Risten, das Brechen, das folgende Quetschen und Stampfen, schließlich das Stoßen und Hecheln – ehe dann Faser, Werk und Samen verarbeitet und/oder verkauft werden konnten.

Hanfanbau war harte Arbeit und ein kunstfertiges Nebengewerbe – und das galt ebenso für die Nutzung des Arbeitsertrages. Geprägt durch den späteren Drogendiskurs betrachten wir vornehmlich den Gebrauch des Hanfes als Heilmittel, waren Hanfsamen doch Heilspeise, diente Hanföl gegen Fieber, Diarrhoe und Harnbeschwerden. Doch verarbeiteter Hanf war zudem Stoff und Kleidung, mündete in Garn, Seile, Dämm- und Baustoffe, während Hanföl als Leucht- und Futtermittel, als Schmierstoff, Seife und Waschmittel diente.

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Wachsende Produktpaletten: Seile, Hemden, „Leinwand“, Säcke, Feuereimer und Schläuche aus Hanf (Koelnische Zeitung 1861, Nr. 186 v. 7. Juli, 4 (l. o.); ebd. 1839, Nr. 160 v. 9. Juni, 7 (l. u.); Aachener Zeitung 1843, Nr. 174 v. 24. Juni, 4 (m. o.); Kölnische Zeitung 1832, Nr. 314 v. 9. November, 8 (m. u.); Lippisches Intelligenzblatt 1826, 264 (r. o.); Kölnische Zeitung 1830, Nr. 248 v. 17. Oktober, 7)

Im historischen Längsschnitt sehen wir zugleich weniger die Größe und Bedeutung der alljährlichen Aufgaben, sondern eher die Zernierung der damit verbundenen Alltags- und Konsumkultur: Die seit dem späten 18. Jahrhundert in immer wieder neuen Artikeln, Pamphleten und Handbüchern festgehaltenen und dann vorrangig mündlich verbreiteten Anregungen für einen produktiveren Hanfanbau fanden langsam Widerhall. Dies führte zur Spezialisierung, zu marktbezogener Großproduktion. Dadurch etablierten sich bestimmte Regionen als Produktionszentren – in deutschen Landen vornehmlich Baden, international Russland als Massen- und Billiganbieter, Norditalien für gehobene Qualitäten. Diese Veränderungen waren jedoch nicht Schicksal, sondern erfolgten auch und gerade durch die Bauern selbst: Sie bauten vermehrt Kartoffeln und Rüben, Zichorien, Gemüse und Obst an, investierten zunehmend auch in die Milch- und Viehwirtschaft. Diese Agrargüter boten höheren Ertrag, etwas mehr Sicherheit. Der Hanfanbau nahm relativ langsam ab, sank seit Mitte des 19. Jahrhunderts dann aber auch in absoluten Ziffern, brach seit den 1880er Jahren schließlich zunehmend weg. 1913 wurden im Deutschen Reich noch ganze 200 Hektar mit Hanf bepflanzt.

Das langsame Ende des Hanfanbaus in Deutschland bedeutete jedoch noch kein Ende des Rohstoffs Hanf. Typisch für die beginnende erste Hochphase wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Globalisierung entwickelte sich das Deutsche Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert paradoxerweise zum weltweit wichtigsten Importmarkt für Hanfprodukte. Drehscheibe des Rohwarenmarktes waren Riga, St. Petersburg und Königsberg, verarbeitet wurde in Mitteldeutschland; zudem in großem Maße in Großbritannien.

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St. Petersburg als Ausfuhrhafen für Hanf (Das Buch für Alle 3, 1868, 21)

Die Importe erklären, dass Hanfprodukte in Deutschland bis in die 1870er/80er Jahre noch eine recht hohe Alltagsbedeutung hatten, sie teils gar noch gewannen. Seile, Hemden, Leinwand und Segeltuch, Säcke, Schläuche und Feuereimer waren Beispiele für Produkte, die anfangs in den Haushalten erstellt, dann aber von der verarbeitenden Industrie übernommen wurden. Auch neue Produkte gab es; am bekanntesten war gewiss Vogelfutter für Wellensittiche und Kanarienvögel, auch wenn hier die Gefahr bestand, das die Sänger bei einseitiger Hanfsamenmast fett wurden und nicht mehr tirilierten. Mischfutter war die marktbezogene Lösung. Selbst als gebändigte Zimmerpflanze fand man Hanf, wenngleich nur als Intermezzo der Jahrhundertwende.

Diese von Cannabis sativa getragene Konsumkultur verschwand in zwei Schritten: Erstens wurde heimischer Hanf seit den 1830er Jahren durch preiswertere, teils auch leistungsfähigere koloniale Rohstoffe substituiert – paradoxerweise landeten diese Massenartikel anfangs auf Schiffen mit Hanfsegeln an. Die kolonialen Ersatzprodukte hießen anfangs noch wie die Hanfpflanze: Sisal anfangs Sisal-Hanf, Jute Bombay-Hanf. Der Sprachwandel spiegelte das Verschwinden des Hanfes.

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Substitution des Hanfes durch koloniale Roh- und Halbfertigwaren: Anbau von Sisalagave und Produktion von Jute (Tewes, 1913, 110 (l.); Woodhouse und Kilgour, 1921, 65)

Seit den 1860er Jahren wurden Hanf zweitens dann auch durch neue industriell gefertigte Waren verdrängt: Baumwolle, Drahtseile, Petroleum, Dampfer und vieles mehr drang substituierend vor. Obwohl Hanf auch im frühen 20. Jahrhundert noch globale Handelsware war, waren Produkte aus Cannabis sativa hierzulande vor dem Ersten Weltkrieg großenteils verschwunden, boten einzig noch der deutschen Exportwirtschaft moderate Erträge.

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Neue, „bessere“ Produkte: Baumwolle statt Hanffaser, Dampfer statt Segelschiffe (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2285, Beil., 1 (l.); Der Welt-Spiegel 1912, Nr. 40 v. 19. Mai, 2)

Das Verschwinden des einheimischen Hanfes war nahezu endgültig. Versuche einer Revitalisierung gab es sowohl während des Ersten Weltkrieges als auch während der NS-Zeit. Sie scheiterten recht kläglich. Verschwundene Alltags- und Konsumkulturen sind künstlich kaum wiederzubeleben. Das gilt lange Zeit auch für die zweite im langen 19. Jahrhundert verschwindende Hanfart, also den indischen Hanf, Cannabis indica, das Haschisch. Es kann allerdings erst Mitte des 19. Jahrhunderts in erwähnenswerten Mengen auf.

Der kurze Aufschwung des Indischen Hanfes: Cannabis zwischen Naturwissenschaften und Markt

Damals war das aus Indien, Ägypten und dem Nahen Osten eingeführte Haschisch – ein Extrakt des dort kulturvierten Cannabis indica – für kurze Zeit ein Modethema in der gebildeten und gelehrten Öffentlichkeit und den aufstrebenden Wissenschaften Chemie, Pharmazie und Medizin. Letztere entwickelten sich langfristig zum Taktgeber einer nicht nur fachwissenschaftlichen Debatte. Damit war das Versprechen verbunden, Hanf durch seine Reduktion auf dessen Chemie und Physiologie verstehen und einhegen, die Droge nutzen, ja sie beherrschen zu können.

Tastende Rezeption eines exotischen Rauschmittels

Dies schien rational zu sein, war zugleich aber ein Herausbrechen des Hanfs aus der Alltagskultur der Herkunftsstaaten. Der Weg von Laboratorium und Klinik zurück in die soziale, wirtschaftliche und politische Welt war lang und nicht ohne Brüche möglich. Hanf als Modethema basierte auf zahlreichen, vornehmlich in Reiseberichten beschriebenen Rauscherfahrungen, die dann hierzulande begrenzte Fortsetzungen fanden. Anders als der einheimische Hanf, eine uncharismatische Pflanze, deren Ausdünstungen einzig Schwindel und Kopfschmerzen hervorriefen, mit dem man schlimmstenfalls Hühner zum wirren Gackern und zum Tode bringen konnte, besaß Haschisch gleichsam eine Rauschgarantie und den Reiz der Sinneserweiterung.

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Der exotische Rausch als Möglichkeit (Wilhelm Busch, Krischan mit der Pipe [1864], in: Ders., Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, Hamburg 1959, 316-328, hier 321)

Im Zeitalter von Restauration und Biedermeier bewegte dies das bürgerliche Publikum – nicht aber die einheimischen Hanfbauer. Die damalige Themenkonjunktur darf allerdings nicht zum Fehlschluss verleiten, dass Haschisch damals etwas wirklich Neues war. Bereits in den zentralen Lexika des 18. Jahrhunderts finden sich ausführliche Darstellungen der „gleichsam trunken“ (Krünitz, Johann Georg, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, T. 21, 2. Aufl., Berlin 1789, 765-838, hier 826) machenden Wirkungen – und Wirkungsforschung gab es erst am heimischen, dann am indischen Hanf lange bevor die Droge hierzulande breiter verfügbar wurde.

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Sinneserweiterung und Orientinteresse: „Haschisch“ in der französischen Kultur des späten 19. Jahrhunderts (Baudelaire, 1864; Leroy, 1873; Monnier, 1877; Giraud, 1888)

Mitte des 19. Jahrhunderts bestand allerdings ein weitreichendes bürgerliches Interesse an dem exotischen Kraut, das weniger gefährlich schien als Opium beziehungsweise der hierzulande zunehmend wütende „Branntweinteufel“, also der Kartoffelschnaps. Die Folge war eine zunehmende Ästhetisierung des Haschischs, des exotischen Rausches. Die kulturellen Eliten in Frankreich und Großbritannien gingen voran, doch man folgte diesem Trend. Von diesem ästhetischen Überschuss des 19. Jahrhunderts zehrt die Droge bis heute, vom kleinen folgenarmen Lustgewinn im Rahmen der offiziell strikt disziplinierten bürgerlichen Gesellschaft.

Die kulturelle Aufladung des Haschisch ging einher mit zeittypischen Fremdbildern: Die vermeintliche Faulheit des Muselmanen fand ihren Widerhall im Drogendiskurs, die koloniale Eroberung Indiens so eine scheinbar rationale Begründung. Und der vermeintliche Gestank des russischen Hanfbauerns wurde parallel als Ausdruck slawischer Rückständigkeit gedeutet. Das gebildete Bürgertum war mythenschwanger, stellte sich an die Spitze der kulturellen und wirtschaftlichen Aufstiegsgeschichten; obwohl der parallel voll Inbrunst besungene deutsche Wein, das gesellig genossene goldene Bier Arabern, Indern und Slawen ihrerseits irritierendes Missbehagen bereitet hätte. Festzuhalten aber ist: Haschisch war nicht nur Teil eines imperialen Ausgriffs auf die naturalen Ressourcen der Welt, sondern diente auch der Rechtfertigung der europäischen Hegemonie in einer von Kolonialismus und Imperialismus zunehmend geprägten Welt.

Verwissenschaftlichung: Medizin, Pharmazie und Wirtschaft als Umgestaltungsmächte

Neben der kulturellen Aufladung unterschied sich die Rezeption des indischen Hanfes ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der früherer Zeit vorrangig durch wissenschaftliche und vor allem wirtschaftliche Interessen. Es ging um eine genauere Kenntnis der Droge, um Gesundheitsvorsorge, vor allem aber um wirtschaftlich nutzbare Anwendungsgebiete.

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Heilwirkungen des Hanfes als Forschungsproblem (Tscheppe, 1821; Freudenstein, 1841)

Gerade die deutschen Wissenschaftler waren um 1850 hoffnungsfroh, die zuvor dominierenden französischen und britischen Forscher übertreffen zu können: Selbstversuche folgten, Patientengeschichten füllten gelehrte Journale; in Berlin, Würzburg, Marburg, Erlangen und weiteren Städten wurden Experimente an Tieren und Menschen durchgeführt.

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Von der ambivalenten Exotik zur wissenschaftlichen Erforschung (Bibra, 1855; Martius, 1856; Fronmüller, 1869)

Hierzulande vermied man anfangs die in Westeuropa übliche, fast willkürliche Breite der Experimente. Man lernte aber nicht nur von den Ergebnissen dieser Vorreiter, sondern knüpfte auch an die bekannten Heilwirkungen des heimischen Hanfes an: Hanföl diente zum Einreiben, Hanfchloroform zum Inhalieren, deutsches Hanfkraut auch zum Rauchen. Hanfextrakt galt als Beruhigungsmittel, konnte Schmerzen mildern und Krämpfe stillen, diente der Therapie von Lungen- und Geschlechtskrankheiten, von Augen- und Harnleiden. Und doch: Die Begeisterung ebbte rasch ab, denn Cannabis indica war ein unsicheres Kraut. Herkunft und Zusammensetzung der Präparate waren uneinheitlich und unklar. Verlässliche Wirkungen waren kaum zu erzielen. „Die Sache schlief […] ein“ ([Georg] Fronmüller, Klinische Studien über die schlafmachende Wirkung der narkotischen Arzneimittel, Erlangen 1869, 46).

Intellektuelle Engführung: Wirkstoffsuche

Hanf blieb dennoch ein Thema: Doch die Forschung verengte sich, ging vom Naturstoff auf die Suche nach Wirkstoffen über. Dies schien der einzige Weg, um das importierte Stoffgemenge des Haschischs ordnen und neue Darreichungen bieten zu können. Angesichts der damaligen großen Erfolge etwa der Pharmazie und der Farbenchemie erscheint uns dies logisch und zielführend: Wer wollte die Leistungsfähigkeit solchen Wissens bestreiten? Doch Sie sollten vielleicht bedenken, dass die Reduktion eines dicken Buches auf wenige Passagen, gar auf nur einen Satz, vieles zur Seite drängt, vielleicht auch schlicht ignoriert.

Erste Schritte auf diesem Weg erfolgten durch die Eingliederung des Hanfes in die regulative Welt der damaligen Zeit. 1861 fanden Hanfpräparate Eingang ins preußische Arzneibuch, 1872 ins deutsche Pendant. Die Präparate wurden in Pillenform, vor allem aber in Alkohollösung verabreicht, dienten als Narkotikum, Schlaf- und Asthmamittel. Entscheidend war hierbei noch die Interaktion von Apotheker und Mediziner. Ein Risikodiskurs bestand, denn Dosierungsvorschläge unterschieden sich im späten 19. Jahrhundert um das mehr als Zehnfache.

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Versuchstiere im Haschischrausch (Fränkel, 1903, 280; Czerkis, 1907, 69)

Klarheit war von Nöten – und entsprechend entwickelte sich um die Jahrhundertwende eine recht intensive Grundlagenforschung. Durch die Suche nach dem Hauptwirkstoff verengte sich der Blick auf das Haschisch-Gemenge allerdings weiter, und eine stetig verbesserte Analytik half dabei: Damals galt das Cannabinol als Hauptwirkstoff, eine typische wissenschaftliche Modellkonstruktion, die ab 1940 ja gleichsam offiziell vom CBD, ab 1964 dann zudem vom THC übernommen wurde.

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Was ist Cannabiol? Antworten um die Jahrhundertwende

Die damalige Forschung stand allerdings vor den gleichen Problemen wie heutige Regulierungsinstanzen. Das Wissen um die kausale chemisch-pharmakologische Wirkung des Hanfs blieb begrenzt. Mangels synthetischer Stoffe war jede Standardisierung schwierig, der Naturstoff blieb widerspenstig. Man ahnte, was man verabreichte und verarbeitete, genau aber wusste man es nur ansatzweise. Wie sollte man dann kausale Wirkungen hervorrufen?

Arznei, Geheimmittel, Beigabe: Aufkommen und Verschwinden der Cannabis-Präparate im Alltag

Die intensivierte Forschung erfolgte allerdings nicht interessenlos, sondern war immer auch auf die sich rasch entwickelnden Märkte der Spezialitäten, der pharmazeutischen Präparate ausgerichtet. Hanfforschung war Markterschließung. Doch fehlende Standardisierung, unklare Wirkstoffe, ein Risikodiskurs und das stete Aufkommen pharmazeutischer Substitute begrenzten die Markterfolge sowohl der über Apotheken vertriebenen Hanfpräparate als auch der beträchtlichen Zahl neu entwickelter Pharmazeutika.

Pharmazeutische Angebote

Deren Zahl ging weit über die in der Hanfaktivistenliteratur eklektisch genannten Beispiele hinaus. Verlassen wir also die seit den 1850er Jahren etablierte Sphäre der Apothekenpräparate und blicken näher auf die Angebote der pharmazeutischen Industrie, eine der Leitbranchen der sogenannten zweiten Industrialisierung.

Am Anfang stand die 1850 in Darmstadt gegründete Firma Merck. Sie bot von Beginn an Cannabispräparate an, entwickelte in den 1880er Jahren jedoch neuartige Angebote. Cannabium tannicum, Cannabion und Cannabin waren allerdings noch keine Arzneimittel modernen Typs, sondern Pharmazeutika auf der Suche nach Anwendungsfeldern. Es waren Annäherungen an wirkstoffbasierte Präparate, deren Zusammensetzung und Aussehen sich mit der Zeit forschungsbasiert veränderte: Cannabium tannicum wurde als Schlafmittel vermarktet, auch als Beruhigungsmittel. Cannabion war deutlich höher dosiert, sollte auch gegen Hysterie und Nervenschwächen helfen. Cannabin diente vornehmlich als Grundstoff für weitere Präparate sowie als Beruhigungsmittel.

13_Pharmazeutische-Industrie_Multinationale-Konzerne_Koloniale-Rohwaren_Cannabis

Indischer Hanf als Grundstoff für aufstrebende pharmazeutische Großbetriebe

Merck ist das wichtigste deutsche Beispiel für eine wachsende Zahl multinationaler Pharmazieunternehmen, die sich anfangs auf die Verarbeitung naturaler Rohstoffe konzentrierten, sich dagegen weniger mit der Synthese möglicher Wirkstoffe befassten. Gerade die angelsächsischen Anbieter produzierten global beworbene Geheimmittel, die sie mit neuartigen Werbeformen vermarkteten. Kolonialismus, Wirtschaftsimperialismus und Heilmittelproduktion gingen Hand in Hand.

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Bromidia: Schlafmittel mit Cannabis-Zusatz (Deutsche Medicinische Wochenschrift 19, 1893, Nr. 24, Beil.)

Typisch dafür war das von der US-Firma Battle & Co. seit 1886 produzierte Schlafmittel Bromidia, das einige Jahre später auch in Deutschland angeboten wurde. Hanfextrakt und Bilsenkraut waren darin enthalten, die eigentliche Wirkung aber resultierte aus dem seit 1873 synthetisch verfügbaren Chloralhydrat. Bromidia war von schwankender Zusammensetzung, machte rasch abhängig, wurde aber erst 1907 auf die Geheimmittelliste gesetzt. Es wurde durch erste Barbiturate – etwa das seit 1903 von Bayer und Merck produzierte Veronal – jedoch vom Markt verdrängt. Bromidia war ein Hanfpräparat, stand zugleich aber für Hanf als Beigabe. Hanf war Puffer, ein dienender Stoff, der schädigende Wirkungen der Hauptwirkstoffe abschwächte.

15_Nebelspalter_20_1894_H6_sp_Ebd_52_1926_H10_p7_Neue Zuercher-Zeitung_1892_Nr166_Bl2_p4_Engadiner Post_1910_Nr16_p5_Drogerieartikel_Huehneraugen_Haschisch_Cannabis_Karrer_Zuerich

Namensgebende Beigabe: Karrers Haschisch gegen Hühneraugen (Nebelspalter 20, 1894, H. 6, s.p. (l.); Neue Zürcher-Zeitung 1892, Nr. 166, Bl. 2, 4 (m. o.); Engadiner Post 1910, Nr. 16, 5; Nebelspalter 52, 1926, H. 10, 7 (r.))

Das zeigte sich auch beim zahlenmäßig sicher wichtigsten Einsatzfeld von Cannabis, den Hühneraugenmitteln. Auch dort diente Hanf als Puffer, in diesem Fall für die 1873 erstmals synthetisierte Salicylsäure. Anfangs als Wundermittel breit eingesetzt, begann man ab den späten 1880er Jahren mit der Imprägnierung von Wundverbänden, dann seit den frühen 1890er Jahren auch von Pflastern. Hanf dämpfte die ätzende Wirkung der Säure.

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Hanf als Pufferstoff: Hühneraugenpflaster

Die Hamburger Firma Beiersdorf war nicht nur ein Pionier bei Pflastern, sondern auch bei der Etablierung global vermarkteter Markenartikel, etwa dem hanfhaltigen Cornilin. Weltweit bedeutsamer dürfte allerdings das US-Präparat Cornicide gewesen sein. Hühneraugenpflaster mit Hanf wurden parallel aber auch von vielen Versandapotheken angeboten. In den 1920er Jahren lief diese Phase aus, denn die breit beworbenen Kukirol- und insbesondere die 1905 eingeführten Lebewohl-Präparate dämpften die Wirkung der Salicylsäure auch ohne Hanf ab.

Doch blicken wir breiter, denn es gab zudem Dutzende grundsätzlich frei oder auf ärztliches Rezept käufliche weiterer Hanfpräparate. Die Einsatzgebiete waren breit gestreut: Psychopharmaka, Tuberkulose- und Beruhigungsmittel dominierten, doch Cannabis sollte auch bei Verdauungsproblemen helfen, bei Husten, der Haarpflege, bei Menstruationsbeschwerden und Geschlechtskrankheiten sowie generell bei Schmerzen. Festzuhalten ist, dass diese zahlreichen Medikamente nach relativ kurzer Zeit durch leistungsfähigere Pharmazeutika ersetzt wurden. Hanf fiel durch das Raster des Marktes, wurde substituiert, verschwand.

Cannabishaltige Asthma-Zigaretten

Während die pharmazeutischen Angebote eng an die Interaktion von Patient, Apotheker und Mediziner angelehnt waren, verwies das Marktsegment cannabishaltiger Asthma-Zigaretten auf den damaligen Übergang zur Interaktion von Patient und Produkt. Die Asthma-Zigaretten standen zugleich für veränderte Konsumformen des indischen Hanfes, der bis in die 1870er Jahre vornehmlich gegessen, geschluckt und getrunken, aber nur selten geraucht wurde.

Asthma war keine heilbare Krankheit, doch seit dem 18. Jahrhundert konnten Hustenattacken und Atemnot zumindest gemildert werden. Dazu nutzte man vor allem Bilsenkraut, Tollkirsche und Stechapfel. Diese wurden getrocknet, in Pfeifen und Zigarren geraucht, daneben mittels Inhalatoren eingeatmet. Der Markt war breit – und wurde seit den späten 1850er Jahren durch Hanfkraut erweitert. Es waren französische Anbieter, Espic und die in Deutschland ab 1871 rasch dominierende multinationale Firma Grimault, die für solvente bürgerliche Kunden einfach konsumierbare Joints anboten. Ihr regelmäßiger Konsum, zwei Stück pro Tag, sollte die Asthmaanfälle nicht nur in akuten Fällen mildern, sondern auch präventiv wirken.

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Cannabis-Zigaretten als Alltagsphänomen (Kölnische Zeitung 1871, Nr. 359 v. 28. Dezember, 4 (l.); ebd. 1876, Nr. 64 v. 4. März, 4; ebd., 1881, Nr. 5 v. 5. Januar, 4 (r.))

Die süßlich schmeckenden und riechenden Zigaretten wurden in schicken gelben Packungen angeboten und durch Anzeigen breit beworben, in denen der Wirkstoff Cannabis in den Vordergrund trat. Hauptwirkstoff waren jedoch fein zerstoßene Tollkirschenblätter. Grimaults Indische Zigaretten wurden bis 1885 in Deutschland beworben, dann wieder ab 1895. Das zeitweilige Aussetzen war Resultat begründeter Betrugsvorwürfe: Kontrollen ergaben nämlich kaum nachweisbare Mengen des im Vergleich zu Tollkirsche deutlich teureren Cannabis. Warnungen folgten, denn zu wenig Hanf bedeutete eine „Täuschung und Übervorteilung des Publikums“ (Karlsruher Tagblatt 1885, Nr. 117 v. 30. April 1891).

Neben Grimault und Espic gab es zahlreiche weitere Asthmazigaretten, darunter auch viele ohne den Pufferstoff Cannabis. Seit den 1890er Jahren mischten auch deutsche Hersteller Hanf und andere Kräuter zu Medizinalzigaretten. Das beste Beispiel hierfür ist das 1900 gegründete Berliner Startup-Unternehmen Bronchiol, welches Tabak, Stechapfel und Cannabis vermengte. Der Absatz erfolgte über die lokalen Apotheken, im Idealfall also einem Netzwerk von etwas über 5.000 Verkaufsstellen. Nicht alle führten Bronchiol, an vielen Orten gab es nur einen Verkäufer – doch im Falle eines Falles wurden die Medizinaljoints Kunden aber auch zugesandt.

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Werbung für Bronchiol-Zigaretten in Hamburg, München und Straßburg (Hamburger Nachrichten 1900, Nr. 280 v. 29. November, 11 (l.); Straßburger Post 1902, Nr. 390 v. 27. April, 7; Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 435 v. 20. September, 11 (r.))

Die Werbung wurde reichsweit geschaltet, war informativ, nicht reißerisch. Bronchiol war deutlich billiger als die Konkurrenz, denn Tabak war günstiger als die sonst üblichen Kräuter. Dies verweist auf den Preiskampf im Markt, durch den das relativ teure Cannabis unter Druck geriet.

Bronchiol zeigte, wie einfach es im Kaiserreich war, cannabishaltige Produkte nicht nur lokal, sondern reichsweit und auch international zu vermarkten. Als 1914 die Rohstoffzufuhr nicht mehr gewährleistet war, endete der Firmenbetrieb. Zu dieser Zeit hatten jedoch schon viele Anbieter auf Hanf als Pufferstoff verzichtet. Teils wurde er durch preiswertere Pflanzen – etwa Grindelien (Brachycladus Stuckerti, Merck) – substituiert, teils übernahm getränktes Zigarettenpapier dessen Aufgabe. Obwohl Asthmazigaretten noch bis in die 1950er Jahren angeboten wurden, wurden sie seit den 1920er Jahren doch durch synthetische Arzneimittel auf Ephedrin- oder Theophyllinbasis aus dem Alltag verdrängt.

Nährpräparate

Fast vernachlässigbare Bedeutung hatten dagegen Nährpräparate. Einheimischer Hanf war noch im 18. Jahrhundert in der Alltagsküche präsent, Hanfsamen wurden in Suppen gekocht, Hanföl diente zur Stärkung und zur Würze. Im späten 19. Jahrhundert gab es lediglich noch in Ostdeutschland Hanfsuppen als Weihnachtsspeise. Hanfsamen dienten lange als Kräftigungsmittel für Schwangere, als Nährmittel für Säuglinge. Dies hielt sich in der Pädiatrie bis ins frühe 20. Jahrhundert, auch wenn einschlägige Präparate in klinischen Tests durchfielen.

In der europäischen Peripherie sah das jedoch anders aus. Jedem Hanfaktivisten steht dabei gewiss Maltos Cannabis vor Augen, das der Freigabe-Lobby 2019 während der Debatten um die EU-Novel-Food-Verordnung noch als Argument für die lang zurückreichende Tradition von Nährpräparaten mit Gesundheitswirkungen gedient hat. Wer kann schon widerstehen, wenn das Präparat den Sensenmann so wunderschön bannt. Fakt ist jedoch: Es handelte sich hierbei um Cannabis sativa, nicht um indischen Hanf. Hanfbrei aus Hanfsamen galt volksmedizinisch als Heilmittel bei Tuberkulose. Evangelikale Christen in Mittelschweden empfahlen diesen Frischkornbrei, Pharmazeuten griffen diese Anregung auf, entwickelten Hampfröeextrakt, ein getrocknetes Pulver, ein Convenienceprodukt für die vielgeplagte Hausfrau. Die Stockholmer Firma Röda Korset fügte dem Pulver 1893 Malz hinzu, um es schmackhafter und nährender zu machen, um es zugleich in heiße Flüssigkeit einrühren zu können.

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Vom Hanfbreipulver zum Hanfgetränk (Amerikanska Posten 1893, Ausg. v. 23. Dezember, 28 (l. o.); Aftonbladet 1894, Ausg. v. 11. Mai, 24 (l. u.); ebd. 1894, Ausg. v. 12. Februar, 1)

Dieses Produkt war zeitweilig erfolgreich, es gab auch Nachfolgeprodukte. Als Nährpräparate wurde Maltos Cannabis 1896 jedoch von einem Nährsalzprodukt ersetzt, der getrocknete, zermahlene und fortifizierte Hanfsamen vom Anbieter selbst substituiert. Malzhaltige Hanfpulver gab es in Schweden und einigen Auslandsmärkten auch danach, doch sie blieben Ausnahmen. Wieder sehen wir das typische Muster: Hanf wurde gewerblich genutzt, verschwand jedoch nach nicht allzu langer Zeit, „bessere“ Produkte traten an dessen Stelle.

Fazit und Transfer: Das 19. Jahrhundert als Bezugsrahmen für die heutige (De-)Regulierung von Cannabis

Wir sind am Ende unseres Parforceritts angelangt – und ich will ein Fazit wagen, um die historische Entwicklung im Analogieschluss als Folie für die heutige Situation nutzen; denn unsere Vorfahren hatten durchaus ähnliche Aufgaben zu meistern wie wir heute.

Erstens: Hanf verschwand im langen 19. Jahrhundert in Deutschland doppelt: Cannabis sativa im bäuerlichen Alltag und Cannabis indica in den Waren- und Dienstleistungsangebote. Dies war Folge von Substitutions- und Marktmechanismen, nicht aber von staatlicher Regulierung.

Zweitens: Im 19. Jahrhundert entstanden gleichwohl die für die heutige Debatte über Cannabis entscheidenden Akteure: Erstens eine stofflich-reduktionistische Betrachtungsweise in Form chemisch-pharmakologischer Forschung. Zweitens ein in Einzelbereichen (Alkoholprävention, Kindersterblichkeit) erfolgreich agierender Interventionsstaat, der die Aufgaben bürgerlicher Selbstbestimmung für vermeintlich vulnerable Gruppen übernahm.

Drittens: Heutige Deregulierungsdebatten erinnern an die Zeit ab den 1860er/70er Jahren, der Hochzeit des liberalen Bürgertums und des beginnenden Imperialismus: Es geht um das Zurückdrängen des in den frühen 1970er Jahren zunehmend starken Staates unter  bürgerlichen Motiven der Selbstverwirklichung und der geregelten Nutzung aller verfügbaren stofflichen Ressourcen. Wie im 19. Jahrhundert wird dies durch global agierende Unternehmen vorangetrieben, während die Wissenschaft zwischen Risikodiskurs und häufig unklaren Wirkungen schwankt. Das marktgetriebene doppelte Verschwinden des Hanfes im 19. Jahrhundert wird dabei nicht bedacht – auch nicht, dass die vielfältigen Erwartungen an den indischen Hanf im 19. Jahrhundert letztlich trogen. Stattdessen sollen heutzutage verbesserte Produktionstechniken, vertieftes chemisch-physiologisches Wissen (inklusive Synthese) und Sozialtechnologie den Unterschied machen. Diese „Verwegenheit der Ahnungslosen“ (Jürgen Dahl) ist Ausdruck eines utopischen Gestaltungsoptimismus, der sachlich kaum belegbar, empirisch aber auch kaum falsifizierbar ist. Angesichts der vorliegenden Analyse der doppelten Verschwindens des Hanfs im langen 19. Jahrhundert, angesichts auch der historischen Erfahrungen mit unterschiedlichen Drogen ist es jedoch wahrscheinlich, dass die immensen Hoffnungen auf Entkriminalisierung, neue leistungsfähige Medikamente, wirtschaftlichen Boom und eine weniger repressive Gesellschaft trügen werden.

Uwe Spiekermann, 16. November 2024

Das vorliegende Manuskript fasst zwei Vorträge zusammen: Der erste wurde am 25. Juni 2022 anlässlich einer Fortbildungsveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie in Hamburg gehalten, der zweite, in englischer Sprache, am 25. September 2024 auf dem Annual Meeting of the German Pharmaceutical Society in Münster. Zur Vertiefung sowie für Quellen- und Literaturangaben lesen Sie bitte die vier im Text verlinkten ausführlicheren Aufsätze.

Die gebrochene Macht der Tradition. „Deutsche Küche“ zwischen Nation, Region und Internationalisierung

Vor 200 Jahren konnten und mussten sich die meisten Menschen noch selbst versorgen. Sie aber, werter Leser, werte Leserin, können dies heute nicht mehr. Ihr Leben ist elementar abhängig von der Arbeit anderer, von Versorgungsstrukturen, in denen Sie als Käufer, als Konsumentin agieren. Sie sind befreit von der Fron des Anbaus, der Produktion, oft gar des Kochens – Essen ist für Sie in der Tat nur noch Essen, sieht man einmal vom Einkaufen, Spülen, Wegwerfen ab; und natürlich vom steten Nachdenken über das, was Sie essen wollen und dürfen.

Anfang des 19. Jahrhunderts aßen fast 90 Prozent der Bevölkerung in deutschen Landen eine lokale, teils regional eingrenzbare Kost. Sie gründete auf den dort angebauten Agrarprodukten, ergänzt vorrangig durch einige Gewürze, darunter das so wichtige Salz. Die bäuerliche Hauswirtschaft verarbeitete vorrangig Getreide. Breie, Mus und Brot, Wasser und der Haustrunk dominierten die Alltagsernährung; Kartoffeln kamen wenige Jahrzehnte vorher auf und verbreiterten vorrangig im Norden den Speisezettel. Fleisch, Milch, Honig traten hinzu, ergänzt durch saisonal verfügbares Obst und Gemüse. Aus alldem wurden Speisen bereitet, die einer von Brauch, Religion, Geschlecht, Alter und Stand geprägten Ordnung folgten, von Jahreszeit und Ernteausfall. Die Speisen waren Ergebnis einer klaren Arbeitsteilung innerhalb der bäuerlichen Wirtschaft: Zubereitung, Konservierung und Würzung waren Teil der Hauswirtschaft, Aufgabe der Frauen, teils der Kinder. Es gab aber auch regelmäßige Ausbrüche aus dieser Welt eintöniger und wenig abwechslungsreicher Grundversorgung: Am Ende der Erntezeit, bei christlichen Hochfesten, Jahrmärkten und Messen, und der geselligen Festkultur von Heirat, Taufe und Beerdigungen.

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Imaginiertes Fest während der frühen Neuzeit (Illustrirte Zeitung 60, 1873, 52)

Ihr Essen sieht anders aus, denn es ist durch die Wahl des Käufers gekennzeichnet, nicht durch die Enge des Agrarproduzenten. Ihr Lebensrhythmus ist geprägt von vielen kleinen Festen, meist privater, nicht öffentlicher Natur. Auf Ihrer Tafel findet sich eine wesentlich größere Zahl von Lebensmitteln und Speisen, mit vielfältigen Geschmacksnuancen, meist stetig verfügbar. Sie sind fast durchweg präpariert und konserviert, doch Sie schmecken derartige Eingriffe kaum mehr. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es einen Zwang zu einer lokalen und regionalen Kost, heute ist sie eine Option neben anderen. Sie können aus dem Füllhorn unterschiedlicher regionaler Küchen wählen, können abseits einer deutschen Küche aber auch Lebensmittel und Speisen zahlreicher anderer Nationalküchen wählen, teils durch importierte Lebensmittel, teils durch Fertiggerichte oder „ausländische“ Restaurants, die Ihnen zugleich ein Stück Ferne, eine Prise Exotik beimengen. Man könnte es dabei belassen, sich wohlig einrichten in einer Welt, in der selbst die nicht wenigen Armen weit mehr haben als der gemeine Mann vor zwei Jahrhunderten, in der Fülle und Vielfalt als Probleme erscheinen, nicht aber als ein lange Zeit erträumtes Ideal.

Lassen Sie uns im Folgenden einigen Gründen für diesen Wandel nachgehen. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage nach dem Ort, dem Verfügungs- und Bezugsraum des Essens stehen, real und virtuell. Damit ist der Platz des Einzelnen immer mitgedacht, seine Identität, sein Bezug zu einer schwer zu fassenden Tradition. Diese erscheint als etwas vollständig Vergangenes, etwas uns nur mehr versatzstückhaft Berührendes. Blicken wir näher hin, so ergibt sich ein recht anders Bild: Tradition, das war vor 200 Jahren erst einmal Überlieferung, meist von Person zu Person, von Generation zu Generation. Wissen wurde weitergegeben, ein Wissen um das Wie der Alltagsbewältigung, um Landwirtschaft und Handwerk, um Gartenarbeit und Küchenfertigkeit. Wissen berührte immer auch Fragen der Herkunft und Identität, der Weltdeutung und der Abgrenzung von Fremden. Tradition war eingebrannt in die Rhythmen des Essens, der Ernährung. Sie ordnete das Leben, war zugleich aber offen für Ergänzungen und Verbesserungen. Tradition stand daher nicht für etwas gleichsam natürlich Bestehendes, für etwas Organisches, Originäres. Der Wandel mochte langsam sein, doch in der Kette der Überlieferung dominierte Bewegung, gab es keinen Stillstand. Vor 200 Jahren übernahmen auch einfache Menschen völlig neuartige Lebensmittel, etwa die Kartoffel, den Rübenzucker oder den Zichorienkaffee, ließen ab von der damals noch vielfach üblichen Hirse oder aber den damals weitaus üblicheren Erbsen, Bohnen und Linsen.

Deutsche Nation und „Deutsche Küche“

Wichtiger aber war, dass seit dem späten 18. Jahrhundert neue Ordnungssysteme aufkamen, die das lokale und regionale Essen in einen neuen Rahmen stellten. „Deutsch“, dieser Begriff lässt sich bis weit ins Mittelalter zurückverfolgen, war aber noch nicht staatlich verengt. Das geschah erst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert – und war ein Elitenprodukt einer neuen teils dienstfertigen, teils unabhängigen Elite, nämlich des aufkommenden Bürgertums. Sie emanzipierte sich von der Hochsprache des Adels, dem Französischen, schrieb und dichtete in deutscher Sprache, schuf zugleich ein einigendes Band für die im Alltag üblichen Dialekte. „Deutsch“ entstand als Dachbegriff für eine neue, erst zu erringende Sprach- und Kulturgemeinschaft, aus der dann, ähnlich wie in Frankreich, England oder Spanien ein Nationalstaat hervorgehen konnte, ja sollte.

Eine „Deutsche Küche“ gab es nicht, sie war eine Kopfgeburt, eine Sprachspielerei. Im herrschaftlich zersplitterten Mitteleuropa gab es, anders als in Frankreich, den Niederlanden oder England, nie eine klar konturierte Leitküche. Die Trennungslinien zwischen römischen, germanischen und slawischen Herrschaftsgebieten wirkten noch, Weizen im Süden, Roggen im Norden und Osten. Reformation und der 30-jährige Krieg hatten die Grenzen zwischen protestantischen und katholischen Gebieten auch kulinarisch vertieft. Die deutschen Lande waren vielfältig gespalten: Das 1788 erschienene Buch „Über den Umgang mit Menschen“ des Adolph Freiherrn zu Knigge (1752-1796) war eben kein moderner Ratgeber, sondern eine Handreichung, um die historische-kulturelle Vielfalt der Regionen und Menschen unterschiedlicher Stände zu überbrücken.

Das Ringen um die „Deutsche Küche“ wurde durch die Expansion Frankreichs entscheidend geprägt. 1813 fragte der Dichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860) kurz vor der Leipziger Völkerschlacht, die das Ende der französischen Herrschaft in deutschen Landen einleitete: Was ist des Deutschen Vaterland? Die Verteidigung des Eigenen hatte lange vorher eingesetzt, mündete in eine breite und kontroverse Debatte über die Identität der Deutschen. Sie setzte im Alltag an, schied strikt zwischen deutsch und nicht deutsch. Typisch war die Sprachreinigung, der erbitterte Kampf um die Tilgung französischer, englischer oder slawischer Speisebezeichnungen. Eine „Deutsche Küche“ – ein zuvor nicht gebräuchlicher Begriff – entstand damals in Abwehrhaltung, als Küche der Abgrenzung gegenüber der „Verwelschung“ und dem ungebührlichen Tafelluxus im reicheren europäischen Westen. Für den Schriftsteller Karl Julius Weber (1767-1832) war sie „stets ehrlicher, einfacher, kräftiger, wie deutscher Charakter“ (Dymocritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen, Bd. 5, Stuttgart 1835, 212), für das 1835 erschienene Damen-Conversations-Lexicon „eine Mischung und Nachahmung fremder Kost, jedoch ohne Ausartung“ (Bd. 4, Leipzig 1835, 327). „Deutsche Küche“ war Ausdruck eines breit beschworenen Volksgeistes, der auf der Tafel Gestalt annahm. Sie ließ sich daher nicht auf Räume und eine größere Zahl von Speisen reduzieren. „Deutsche Küche“ war anfangs eine Haltung, eine Stellung zur Welt. Sie war sparsam, stand für Skepsis gegenüber dem Materiellen, lenkte das wahre Sein auf Bildung von Geist und Herz, auf gemeinsamen Geschmack und eine Praxis des gelungenen Miteinanders von Menschen gleicher Sprache, Herkunft und Tradition.

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Eine Kochzeitschrift, keine Zustandsbeschreibung: Anzeige für das Wiener Periodikum „Die Deutsche Küche“ (Die deutsche Küche 1, 1864, 162)

„Deutsche Küche“ war ein Artefakt, eine erfundene Einheit, und im Schielen nach dem Fremden lag Unsicherheit. Anfangs berief man sich auf frühe Formen der Völkerpsychologie. Während die vielgestaltigen, mit Saucen und Würzen immer wieder variierten französischen und italienischen Küchen Ausdruck ihrer temperamentvollen und geistreichen Bewohner seien, müsste ein tiefsinniges, stetig reflektierendes Volk wie das Deutsche zu neutralen Lebensmittel ohne starken, reizenden Geschmack und ohne starke Belastung der Verdauung greifen, um seine besonderen Fertigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Kennerschaft und nationaler Sinn waren dafür erforderlich – und dann könne etwas Neues entstehen, so wie die deutsche Hochsprache aus den Dialekten der Alltagssprache. Doch der kulinarische Alltag war schwerer zu verändern als die Gewohnheiten der nur wenigen Hunderttausend Bürger. Die „Deutsche Küche“ blieb ein Flickenteppich: Der Naturkundler Otto Ule (1820-1876) vermerkte lapidar: „Die deutsche Küche ist so bunt, wie die deutsche Landkarte, und ebenso von fremden Einflüssen beherrscht, wie die deutsche Sitte und Politik. Im Westen ist die Küche französisch, im Norden englisch, im Osten slavisch“ (Die Chemie der Küche, Halle a.d.S. 1865, 254).

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Fusion französischer, englischer und deutscher Küchen – ein bürgerliches „Pariser“ Kochbuch (Kölnischer Zeitung 1829, Nr. 255 v. 22. November, 4)

Derartige Vorstellungen von Rückständigkeit und Abhängigkeit ebbten Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Die Frage nach der Identität der Deutschen verengte sich auf ein neues Umfeld, einen deutsch-preußischen National- und Machtstaat, der die Sprachnation verleugnete und sich mit einer kleindeutschen Lösung zufrieden gab. Nachdem aber die Einheit von oben kam, verstärkte sich im neuen Deutschen Reich eine Bewegung hin zu einer nationalen Küche. Sie ging von liberalen Bürgern aus, ging einher mit deren Streben nach einem einheitlichen deutschen Binnenmarkt, der mit dem Deutschen Zollverein seit 1832 seinen Anfang nahm, mit der Gewerbeordnung von 1871 seinen Durchbruch und mit der Integration Hamburgs ins deutsche Zollgebiet 1888 seinen vorläufigen Abschluss fand. Der nationalliberale Spitzenpolitiker Karl Braun (1822-1893) plädierte beispielsweise 1870 für ein Ende der kulinarischen Fremdherrschaft – an den meisten deutschen Höfen wurde noch französisch gekocht – und forderte eine gesellschaftpolitische Initiative, nämlich einen deutschen Küchen-Kongress (Aus der Mappe eines deutschen Reichsbürgers, Bd. 2, Hannover 1874, 83-87). Vor dem Hintergrund einer Geschichtsschreibung, die Germanen zu Deutschen machte und die moderne Geschichte auf Preußens Mission zur Gründung Deutschlands reduzierte, galt es an die eigene große Geschichte anzuknüpfen, die Stammeseigentümlichkeiten aufzugreifen, das Beste aus ihnen zu extrahieren und zu einem einheitlichen Ganzen, zu einer deutschen Küche zusammenzufassen.

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Nach der Reichsgründung: „Deutsche“ Kochbücher mit Rezepten aus ganz Europa (Der Bayerische Landbote 1871, Nr. 269 v. 7. November, 4 (o.); Kemptner Zeitung 1874, Nr. 35 v. 12. Februar, 3)

Solche Pläne fanden Widerhall, und doch blieb die „Deutsche Küche“ eine liberale bildungsbürgerliche Planungs- und Gestaltungsutopie, die in Festreden beschworen wurde, die mit der Alltagsrealität jedoch wenig gemein hatte. Hier ging es um die lokal und regional verfügbaren Speisen, um die Realität der Konsumtion, nicht das Ideal einer national korrekten Ernährung. Eines der ersten Kochbücher für „Deutsche Küche“, 1870 von Johann Nepomuk Niggl veröffentlicht, bot vornehmlich Rezepte aus anderen Ländern, entsprach dem Ideal einer kosmopolitischen Elite, die sich an der Grand Cuisine orientierte. Die Kochbuchliteratur schien dennoch ein wichtiges Erziehungsmittel, um „deutsch“ zu kochen und zu einer „Deutschen Küche“ zu kommen; ähnlich wie zuvor die Literatur der Klassik und der Romantik für die Ausprägung einer deutschen Nationalbewegung. Sie entwickelte sich aus höfischen Anfängen, stand seit dem frühen 19. Jahrhundert jedoch für die kulturelle Etablierung des städtischen Bürgertums. Die Kochbücher boten Rezepte vorrangig dieser sozialen Klasse, ließen die Alltagskost bäuerlicher und unterbürgerlicher Schichten meist außen vor. Anfangs häufig an einzelne Entstehungsorte gebunden, nahm die Zahl der Titel mit regionalem Bezug seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts rasch zu. Die in fünf-, ja auch sechsstelligen Auflagen verbreiteten Kochbücher bündelten gängige und repräsentative Rezepte einzelner Regionen und Landschaften. Sie waren jedoch kein Abbild regionaler, gar nationaler Küchen, denn sie bemühten sich um Ergänzung der am Entstehungsort üblichen Rezepte, zielten auf eine vollständige Handreichung für alle Herausforderungen des Haushalts und der Gastlichkeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verbunden mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, orientieren sich die Autorinnen und Autoren zunehmend an Großräumen, also an norddeutschen, süddeutschen, böhmischen oder mitteldeutschen Küchen. Die Kochbücher boten zunehmend einen Kanon von Rezepten mit regionaler Herkunft, die dadurch als Spezialitäten reichsweit bekannt wurden. Der böhmische Schriftsteller Julius Walter deutete das Scheitern des nationalen Elitenprojektes jedoch positiv: Diese „ganze deutsche Küche ist nur ein schlechte Uebersetzung, eine plumpe Uebertragung im Norden Deutschlands mehr aus dem Englischen, in der Mitte aus dem Französischen, im Süden aus dem Oesterreichisch-Italienischen. Ein schlechte wörtliche Uebersetzung, wobei der Geist verloren geht, aber keine freie, anempfindende Bearbeitung; was im Original süß, ist hier leckrig, was dort gewürzt, hier ätzend, hier frivol. Der Deutsche – und das ist seine schönste Eigenschaft! ist Kosmopolit, er nimmt das Gute und Schöne, wo er es findet, ohne erst nach dem Heimatschein zu fragen“ (Deutsche Table d’hote und Deutsche Tunke, Neues Wiener Tageblatt 1884, Nr. 43 v. 13. Februar, 1-2, hier 2).

Internationalisierung I: Traditionsbrüche abseits des Ernährungsalltags

Die im Vergleich zu den westlichen Nachbarstaaten spät einsetzende und kaum ertragreiche Debatte um die „Deutsche Küche“ – das Deutsche Reich blieb trotz der Vielfalt regionaler Küchen für viele Ausländer ein Wurst- und Durstland ohne Hochküche – verkannte, dass der Wandel der Nahrungsmittelversorgung und dann der Ernährung von anderen als nationalen Kräften ausging. Die langsamen Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft setzten einerseits Arbeitskräfte für die gewerbliche und industrielle Entwicklung frei, ermöglichten anderseits rasch wachsende Handels-, Handwerks- und auch Industriebetriebe. Nahrung wurde Teil eines Geldkreislaufs, Teil regionaler, nationaler und zunehmend globaler Märkte. All dies war nur möglich durch den Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, deren neuartiges, sich von Brauch und Religion emanzipierendes Wissen eine zuvor unbekannte Verfügungsmacht über Nahrung ermöglichte. Dadurch zerfielen nach und nach die Grundlagen der tradierten Ernährungsweisen, begann eine sich über viele Jahrzehnte, in Teilbereichen über ein Jahrhundert hinziehende Neudefinition der täglichen Kost und ihrer Herkunft. Der konzeptionelle Bruch mit der Tradition der vorindustriellen Zeit erfolgte bereits im späten 19., nicht erst im späten 20. Jahrhundert.

Dieser Bruch erfolgte international, die „westlichen“ Staaten waren Vorreiter und Taktgeber. Eine reale „Deutsche Küche“ konnte es vor diesem Hintergrund kaum geben, denn die Veränderungen in Wissenschaft und Wirtschaft waren tiefgreifender und prägender als gesellschaftliche und kulturelle Gegenkräfte. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann in deutschen Landen ein in England schon viel früher einsetzender Abschied von der Selbstversorgung. In England war dies durch den kolonialen Ausgriff begünstigt worden, denn die Nahrungsimporte aus Nordamerika, der Karibik und – mit deutlichen Abstrichen – Indien und Afrika vergrößerten die verfügbare Nahrungsmittelmenge, erweiterten die Palette anregender Getränke und Speisen. Die deutschen Länder besaßen keine Kolonien, ihr Weg hin zu wachsenden Nahrungsmengen erfolgte über landwirtschaftliche Reformen, eine in England und Frankreich bereits vorangeschrittene Rationalisierung und Intensivierung der Agrarwirtschaft. An die Stelle dominant für die Eigenwirtschaft arbeitender Höfe und Güter traten zunehmend bäuerliche Wirtschaften, die mittels Futterwirtschaft und Naturdüngung Marktüberschüsse produzierten. Kolonialprodukte wie Rohrzucker, Kaffee, Kakao und Tee besaßen quantitativ nur geringe Bedeutung, doch billige Surrogate wie Zuckerrüben, Zichorien (für Ersatzkaffee) und heimischer Tabak etablierten sich als erfolgreiche Handelsprodukte. Sie boten die Rohstoffgrundlage für eine verstärkt seit den 1830er Jahren einsetzende Industrialisierung, die auch die Nahrungsproduktion veränderte. Leitsektor war die Rückenzuckerindustrie, es folgten Getreide- und Ölmüllerei, dann die Tabak- und Zichorienfabrikation. Der Nahrungssektor wurde zunehmend kommerzialisiert, der Geldwert der Nahrungsprodukte zunehmend wichtiger.

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Importware aus den USA (Berliner Tageblatt 1878, Nr. 11 v. 13. Januar, 17)

Diese noch begrenzten Anfänge einer Umgestaltung der täglichen Kost wurden durch neuartiges Verfügungswissen forciert. Galt die Natur ehedem als gottgegeben, war man ihren Wechselspielen ausgeliefert, so etablierte sich spätestens seit den 1840er Jahren ein naturwissenschaftliches Wissen, das Menschen reflektierte Eingriffe in die Natur erlaubte, ja eine Neugestaltung denkbar werden ließ. Der Blick auf die Nahrung änderte sich grundlegend mit der chemisch-physiologischen Erkundung ihrer Tiefenstruktur. Nahrungsmittel waren nicht mehr Gott- und ortsgegeben, sondern Resultate universell geltender Naturgesetze. Die Chemie kannte keine Küchen. Ihre global geltenden Parameter waren Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate und Nährsalze sowie der kalorische Brennwert. Der Mensch benötigte nicht Sauerkraut oder Kartoffelknödel, Makkaroni oder Roggenbrot, sondern 2.000 bis 3.000 Kilokalorien pro Tag und eine richtige Mischung der Makronährstoffe. Der kulinarische Wert der Nahrung trat zugunsten des kalorischen zurück. Dieses chemisch-physiologische Wissen erlaubte eine neue Ordnung der Nahrung auf Basis von Nährwerten. Ungleiches konnte so gleich gemacht werden, Bewertungsmaßstäbe verschoben sich, traditionelles, ortsgebundenes Wissen wurde entwertet.

Das chemische Wissen blieb nicht auf die Nahrung begrenzt, sondern erlaubte eine neue Erklärung des Lebens – ganz ohne Schöpfergeist. Menschen, Tiere und Pflanzen waren durch einen umfassenden Stoffwechsel elementar miteinander verbunden, Nahrungsstoffe die Betriebsstoffe des Lebens. Der Agrarwirtschaft erlaubte dieses Wissen effizienteres Wirtschaften, gezielte Düngung mit Mineralstoffen und weitere Produktivitätssteigerungen. Boden, Pflanzen und Tiere wurden mittels einer neuen wissenschaftlichen Optik analysiert und optimiert, Tier- und Pflanzenzucht konnten beträchtlich verbessert werden. Die Anwendung des neuen chemischen Wissens erlaubte die gewerbliche und langsam auch maschinelle Produktion neuartiger Nahrungsmittel: Das betraf um 1850 Mineralwasser, Sekt, Konserven, Schokolade und Marmelade, die allesamt teuer blieben. Doch seit den 1860er Jahren trat die Bierproduktion hinzu, dann die Milch-, langsam auch die Fleischwirtschaft. Neue Fette, wie die später Margarine genannte Kunstbutter, traten seit den 1870er Jahren hinzu. All dies zernierte den traditionellen Zuschnitt der bäuerlichen Wirtschaft, erzwang weiteren Marktbezug, intensivierte die Geldwirtschaft und damit den Kauf anderer, zunehmend nicht aus der eigenen Region stammender Nahrungsmittel. Nestlés Kindermehl konnte beispielsweise reichsweit gekauft werden, war hygienischer und nährender als die tradierten Breie der bäuerlichen Wirtschaften.

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Nahrung fern der Mutterbrust: Werbung für Nestlés Kindermehl (Apotheker-Zeitung 14, 1879, 84 (l.); Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 17 v. 11. Januar, 8)

Während Preußen und viele Einzelstaaten bis in die 1860er Jahre Nettoexporteure von Agrarprodukten waren, wurde das Deutsche Reich seither von Nahrungs- und insbesondere Futtermitteln abhängig. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges lag der Selbstversorgungsgrad nur noch bei 80 %, sank Mitte der 1920er Jahre unter 70 %, erhöhte sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg dann wieder auf über 80 % (und liegt heute bei ca. 90 %). Der Abschied von der Selbstversorgung, der durch hohe Schutzzölle seit 1878/79 gebremst wurde, mündete also in relative Abhängigkeiten von internationalen Agrarprodukten, neben Kolonialprodukten und Pflanzenfetten zunehmend billige Futtermittel, Getreide und Fleisch. Die heimische Nahrungsmittelproduktion war vielfach von ausländischen Vorprodukten abhängig, ebenso breite Teile der Ernährungsindustrie. Das galt selbst für Marktsegmente, die sich ihrer Urtümlichkeit und Natürlichkeit rühmten, wie Reformhäuser und Naturkostanbieter. Insgesamt nahm die Variabilität der gehandelten Güter ab, denn Handelsklassen und international geltende Standards prägten seit der Zwischenkriegszeit den internationalen Nahrungsmittelhandel.

Die traditionelle Art der Ernährung zerbrach dabei kleinteilig, in immer mehr Marktsegmenten. Die Säuglingsernährung war ein Paradebeispiel für neuartige Angebote auf Grundlage chemisch-physiologischen Wissens. Der stetig billigere Rübenzucker veränderte den Geschmack der Speisen, ebenso zahlreiche Würzpräparate, von denen Maggis Würze gewiss herausragte. Synthetische Aromen wie das Vanillin sowie Süßstoffe wie Saccharin und Dulcin vereinfachten und verbilligten Hauswirtschaft und Nahrungsproduktion. Die lange Zeit üblichen nährenden Morgenbreie und -suppen wurden durch (Ersatz-)Kaffee, später auch Kakao, zurückgedrängt. Suppenpräparate gewannen seit den 1870er Jahren an Bedeutung, waren zugleich Wegbereiter für eine breiten Palette von Bequemlichkeitsprodukten wie Fleischextrakten, Back– oder Puddingpulvern sowie konservierten Fertiggerichten und Backmassen. Hinzu kamen frühe Lightprodukte, etwa entnikotinisierte Zigarren, alkoholfreie Weine und Biere und entkoffeinierter Kaffee. Auch zahllose Diätpräparate ließen den Markt anschwellen, ohne aber die Korpulenz im Bürgertum reduzieren zu können. Sie verdeutlichen zugleich die in all diesen neuen Angeboten einprogrammierte Botschaft, dass die tradierte Ernährung vielfach einseitig und überholt gewesen sei. Essen, so die implizite Botschaft der wachsenden Zahl von Nahrungsmitteln, war nichts anderes als ein Stoffwechsel, der Verzehr und die Umwandlung von Nahrungsstoffen, von Eiweiß, Fett und Kohlehydraten. Kochen vereinfache diesen Prozess, machte Nahrung verdaulicher, helfe Magen und Darm bei ihrer Arbeit – und hier sei die Industrie effizienter und kostengünstiger. Gewiss, Geschmack sei wichtig, doch eher, weil damit die Verdauungssäfte angeregt werden. Moderne Menschen würden mit industriell gefertigten Angeboten besser fahren, denn diese seien beliebig zu kombinieren, hygienisch hergestellt und flexibel handhabbar. Der moderne Mensch sei nicht mehr an einzelne Orte oder Regionen gebunden, er könne sich frei bewegen, von der Scholle emanzipieren, ein freies, ungebundenes Leben führen. Was fehle, könne übernommen werden, so die aus dem eurasischen Raum stammenden Milchprodukte Kumys, Kefir und – seit 1907/08 – Joghurt.

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Ersatzmittel und Verbilligung: „Edelwürze“ Vanillin (General-Anzeiger der Stadt Mannheim 1888, Nr. 101 v. 29. April, 3 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1902, Nr. 589 v. 19. Dezember, 9)

Viele Bürger, eine wachsende Zahl von Angestellten und vermehrt auch Facharbeiter teilten derartige Vorstellungen, kauften gewerblich produzierte Nahrung in den Städten, ließen sich in Kleinstädten oder dem nach wie vor dominierenden Lande per Post beliefern. Doch obwohl der konzeptionelle Bruch mit der traditionellen Produktions- und Ernährungsweise bäuerlicher Selbstversorger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schwerpunktmäßig um 1880 lag, so hatten die neuen Angebote doch ihre Mängel. Ihre Haltbarkeit war teils begrenzt, ihr Geschmack teils gewöhnungsbedürftig, die Kosten lagen vielfach höher. Doch für die Verfechter des Neuen waren das behebbare Kinderkrankheiten einer neuen Zeit. Die Ernährung werde sich im gesamten Westen rasch verbessern, die soziale Frage befrieden, die Arbeiter als Bürger gleicher Kost integrieren, die Deutschen auf das Wohlstandsniveau der Briten heben. Veränderte Nahrungsmittel seien die Konsequenz des wirtschaftlichen und sozialen Wandels. Die Ortsbindung habe abgenommen, die Verbraucher befänden sich häufig an den falschen Plätzen für eine tradierte Kost. Sie müssten daher aus ihren Routinen ausbrechen. Und doch blieb die räumliche Rückbindung der Ernährung hoch, höher jedenfalls als dies Unternehmer und Wissenschaftler erwarteten.

„Regionale Küchen“ zwischen Ernährungsrealität und imaginiertem Marktsegment

Die Frage bleibt, warum diese Entwicklung der Nahrung hin zum internationalen Handelsgut nicht rascher erfolgte, sondern warum parallel zum Scheitern einer „Deutschen Küche“ seit dem späten 19. Jahrhundert die Bedeutung der Region und regionaler Speisen hoch blieb, dass sie gar zum Kennzeichen für die Küche in Deutschland werden konnte. Die Antwort ist zweigeteilt: Auf der einen Seite vollzog sich die Internationalisierung von Produktion, Handel und Konsum nur relativ langsam. Wissenschaftliche Träume einer Ernährung allein mit Eiweiß- und Nährpräparaten oder aber Versuche einer synthetisierten Kost scheiterten, obwohl es an Präparaten und Forschung um 1900 nicht fehlte. Die regionalen Küchen gründeten eben nicht nur auf Herkunft, einem gewohnten Geschmack und regionaler Produktion – sie waren vielfach auch preiswerter. Raschere Veränderungen hätten den Auf- und Umbau umfassender Versorgungsketten erfordert, was an die Grenzen der damaligen Konservierungs-, Lager- und Verpackungstechnik stieß. Die regionalen Verzehrsunterschiede waren im 19. Jahrhundert noch beträchtlich, blieben es im 20. Jahrhundert, prägen auch heute noch den Ernährungsalltag. Zweitens aber wurde die regionale Herkunft zu einem Teil des Marktes, denn Spezialitäten erlaubten Wertsteigerungen und eine lukrative Verbreiterung der Angebotspalette.

Blicken wir zuerst auf die „Ernährungsrealität“, also den Nahrungsmittelkonsum. Vergleichbares Datenmaterial hierzu ist für das 19. Jahrhundert selten, denn eine Konsumstatistik der Haushalte unterschiedlicher Klassen entwickelte sich erst langsam, konzentrierte sich anfangs lediglich auf einzelne Haushalte, dann Berufe, weitete sich erst nach 1900 auf die gesamte Reichsbevölkerung aus. Betrachten wir die 1920er Jahre, so waren die Unterschiede beim Brot-, Fleisch-, Ersatzkaffee-, Eier- und Milchkonsum (in dieser Reihenfolge) am geringsten, also bei gängigen landwirtschaftlich produzierten Handels- und Handwerkswaren mit geringem Verarbeitungsgrad. Doch der Konsum in den Großregionen variierte beim Brot immerhin um 28 %, bei Eiern bereits um mehr als 100 %. Kartoffeln wurden in Pommern mehr als zweieinhalb Mal so häufig verzehrt wie in Bayern, deutlich größer waren die Unterschiede bei Butter, Kolonialkaffee oder aber Käse. Fisch variierte um mehr als das Dreifache, Teigwaren wurden im Süden fünfmal häufiger als in Ostdeutschland verwandt. Allgemein gesprochen lag der Konsum der Hauptnahrungsmittel auf relativ ähnlicher Höhe, während die Unterschiede bei seltener verzehrten Nahrungsmitteln stärker ausgeprägt waren. Regionale Unterschiede waren trotz einer insgesamt beachtlichen Integration in den Welthandel und trotz eines deutlich über 50 % liegenden Anteils gewerblich verarbeiteter Lebensmittel beträchtlich, prägten die Speisen und Mahlzeiten stärker als Schicht und Geschlecht. Die Besonderheiten regionaler Küchen zeigten sich daher weniger bei den Hauptnahrungsmitteln als bei einzelnen Produktgruppen. Fleisch wurde in recht ähnlicher Menge verzehrt, bei Wurst waren die Unterschiede schon deutlich größer, variierten dann noch stärker bei Schweine- bzw. Rindfleisch. Tierische Fette, insbesondere Speck und Schmalz, waren dagegen nicht für das Deutsche Reich, sondern nur für einzelne Regionen üblich. Anders ausgedrückt: Je differenzierter man Nahrungsmittel betrachtet, desto größer werden die regionalen Unterschiede. Das dürfte noch stärker bei den hier nicht berührten Speisen oder gar Mahlzeiten gelten.

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Regionale Speisen – eine kulinarische Landkarte Mitteldeutschlands in den 1950er Jahren (Hans W. Fischer, Das Leibgericht, Hamburg 1955, 234)

Auch für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg galt, dass regionale Unterschiede in Deutschland bedeutsam blieben – auch wenn wir über das Ausmaß mangels belastbarer Statistiken wenig Genaues sagen können. Bei Fisch, Milch und Kartoffeln bestand noch in den 1980er Jahren ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Alkohol, Nährmittel (wie Nudeln) und Fleisch wurden im Süden wesentlich häufiger genossen als im Norden. Die Unterschiede zwischen Ost und West waren demgegenüber geringer: Im Osten wurde insgesamt fetter gegessen, mehr und vor allem hochprozentiger Alkohol getrunken, mehr Kartoffeln, Schweinefleisch und Brot sowie weniger Gemüse gegessen. Regionale Verzehrsunterschiede schliffen sich allerdings weiter ab, nicht zuletzt durch eine rasch wachsende Zahl von Migranten. Doch sie sind nicht verschwunden, denn sie werden nicht nur von Gewohnheit und Geschmack getragen, sondern auch vom Handel und der Gastronomie. Die meist einfachen, auf regionalem Anbau gründenden regionalen Küchen wurden durch allseits verfügbare Industrieprodukte nicht einfach nivelliert, vielmehr fand parallel eine wechselseitige Diffusion regionaler Küchen statt. Deutsche Einheitskost gab es nie, gibt es nicht, wird es nicht geben. Die Globalisierung zerstört(e) regionale Besonderheiten eben nur bedingt. In Marktgesellschaften werden sie vielmehr gepflegt, dienen der Vermarktung und Wertschöpfung, verbreiten sich überregional.

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„Regionale Küche“ als ein historisch neuartiges Phänomen: Worthäufigkeiten auf Basis des Textkorpus des Digitalen Wörterbuches der deutschen Sprache 1800-2019 (DWDS.de)

Damit kommen wir zur zweiten Ebene der regionalen Küche, die sich weniger im Bauch als vielmehr im Kopf findet. Regionale Küche wurde von etwas Normalem zu etwas Besonderem, zur vermarktbaren Spezialität. Regionale Nahrungsmittel und Speisen etablierten sich als solche seit dem späten 19. Jahrhundert in der Gastronomie und im Versandhandel, seit der Zwischenkriegszeit auch im ladengebundenen Handel, wurden mit dem Massentourismus dann ein zentrales Werbeargument. Während heutzutage die Region demnach Teil der Werbesprache und des Urlaubserlebnisses ist, uns ein Gefühl der Nähe und des Vertrauten bietet, von Frische und Eigenem kündet, ist der Wortstamm „Region“ relativ neu; im Gegensatz zu „Provinz“, „Landschaft“ oder „Landsmannschaft“. Er tauchte vermehrt erst in den 1930er Jahren auf, war paradoxerweise Ausdruck der Zentralisierungsbestrebungen des Nationalsozialismus. Vor dem Hintergrund einer strikten, auf Wehrfähigkeit ausgerichteten Ernährungspolitik wurden regionale Küchen systematisch erforscht, denn nur so glaubten Ökonomen und Verwaltungsbeamte eine effiziente Versorgung in Frieden und Krieg sicherstellen zu können. Nationalsozialistische Volkskundler verbanden regionale Ernährungsweisen mit völkischen Charakteristika, koppelten empirische Forschung mit rassistischen Deutungsmustern, ergänzten und vertieften das kulinarische Wissen in Gastronomie und Kochbuchliteratur. Wirklich bedeutsam wurde „Region“ jedoch erst in den 1950er Jahren; nicht zuletzt mit dem Verweis auf die verlorenen Regionalküchen des Ostens und die neu zu gewinnenden Nationalküchen der nicht deutschen Welt. Von „Deutscher Küche“ war längst nicht mehr die Rede angesichts der geteilten und zerstückelten Nation. „Region“ wurde dagegen seit den 1960er Jahren zu einem Modebegriff, beherrschte damals vor allem die Planungssprache. Abseits solcher Kopfgeburten erfuhr „Region“ seit Anfang der 1970er Jahre eine neue Renaissance als Ausdruck von Heimat und Herkunft. Nostalgie und Ökologie, später Ostalgie und Bio-Boom mögen als Stichworte genügen. Sie boten ideale Anknüpfungspunkte für die Vermarktung von Lebensmitteln, ermöglichten Nischenanbietern und Direktvermarktern den Markteintritt. Seit den 1990er Jahren wurden solche Initiativen staatlich systematisch gefördert. Sie kennen gewiss einige der zahlreichen geographischen Herkunftsbezeichnungen, die seitens der EWG seit 1962 geregelt und seither von der EU vielfach präzisiert und erweitert wurden. Die meisten sind – wie etwa beim Salzwedeler Baumkuchen – historisch luftig.

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Herkunft als Produktinformation im Feinkosthandel (Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878/79, 20)

Herkunft bezeichnete im späten 19. Jahrhundert jedoch die vielfältigen Verbindungen von Produkten und Orten bzw. Regionen – und vielfach nicht mehr. Braunschweiger, Göttinger, Gothaer, Frankfurter oder Regensburger Würste mochten unterschiedlich sein, bezeichneten aber just Würste aus unterschiedlichen Städten. Während zahlreiche regionale Spezialitäten kamen und gingen – Cuxhavener Sprotten oder Weimarer Lebkuchen verschwanden einfach vom Markt – etablierten sich andere regional auch im stationären Ladenhandel, etwa Bremer Kladen, Dresdner Stollen, Paderborner Brot oder Harzer Roller (Weichkäse, nicht Kanarienvögel). Parallel drangen regionale Speisen in der Gastronomie vor, wurden um 1900 dann auch zunehmend normiert. Wirtshäuser und Gaststätten haben eine bis weit in die frühe Neuzeit zurückreichende Geschichte, doch Restaurants, Speiserestaurants mit Wahlmöglichkeiten, entstanden im Deutschen Reich in größerer Zahl erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie standen, das Fremdwort ist sprechend, vielfach noch ganz im Bann der Grand Cuisine, boten einer zahlungskräftigen Kundschaft erwartbare Speisen der internationalen Hotelküche. Allerdings ergänzten sie diese um regionale Spezialitäten. Hamburger Aalsuppe und Teltower Rübchen, Königsberger Klopse oder das Wiener Schnitzel traten als Stellvertreter einer nur imaginierten regionalen Küche auf die Speisekarten, erlaubten dem Touristen ein Kosten des Fremden. Parallel zu dem wachsenden Binnentourismus vieler Bürger entstanden Restaurants auch abseits der Herrschaftssitze und Verkehrszentren. Sie boten gängige, ehedem häuslich zubereitete Speisen, vermarkteten sie jedoch als regionale Spezialitäten. Pfefferpotthast, Himmel und Erde, Stielmus mit Pökelfleisch hieß es dann in westfälischen Restaurants und dann auch Gaststätten, während man in Hamburg gebratene Scholle, Labskaus und gefüllten grünen Hering essen konnte. Solche Speisen fanden sich zunehmend auch an anderen Orten und Regionen, teils leicht variiert, teils anderen Regionen zugeschrieben.

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Hamburger Aalsuppe als regionale Speisenmarke (Das Magazin 9, 1932/33, Nr. 98, 78)

Nachdem wachsende Märkte im 19. Jahrhundert die in Agrargesellschaften zwingende Begrenzung auf lokale und regionale Nahrungsmittel aufbrachen, erlaubten Versandgeschäfte und Restaurants deren Neudefinition. Sie erfolgte auf der Ebene von Produkten und Speisen, riss diese aber aus den Alltagszusammenhängen einer Küche heraus. Regionale Küchen wurden in „regionale Küchen“ umgewandelt, die durch recht beliebige Isolate charakterisiert wurden. Diese Neudefinition war nicht beliebig, sondern stand ansatzweise gegen den realen Bedeutungsverlust regionaler Küchen und das noch moderate Abschleifen regionaler Verzehrsunterschiede. Regional rückgebundene Produkte und Speisen standen für Urtümlichkeit und Authentizität, für Gemeinschaft und erwartbaren Genuss. Sie standen scheinbar gegen die Trends der Internationalisierung, gegen die Dominanz nationaler und internationaler Gütermärkte, gegen die entzauberte, säkulare Welt, gegen die im Restaurant sich widerspiegelnde Mobilität und den Bedeutungsverlust der heimischen Familienküche. Zugleich aber waren derartige „regionale Küchen“ Bestandteile der Zernierung just der regionalen Küchen, denn Herkunft wurde konsumierbar, war Teil eines ortsunabhängigen genüsslichen Pickens und Probierens ganz unterschiedlicher Angebote.

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Ein Zukunftsbild 1923: Ausländische Küchen als Problem (Ulk 52, 1923, Nr. 31, 4)

Die regionalen Speisen fanden ab einem gewissen Bekanntheitsgrad Eingang in die allgemeinen Kochbücher. Das betraf sowohl Klassiker der internationalen Hochküche, als auch der „regionalen Küchen“ des deutschen Raums. Kochbücher wurden so Stätten stereotyper Völker- und Stammeskunden. All dies wiederholte und intensivierte sich seit den 1950er Jahren, als der Massentourismus die gängigen Angebote der ausländischen Restaurants immer stärker integrierte und so nachholende Urlaubserlebnisse oder aber ein einfaches Schwelgen in Träumen über ferne Köstlichkeiten erlaubte. Dass es sich dabei nur selten um originäre Rezepte handelte, zeigten schon die regionalen Angebote aus deutschen Landen. Herkunftsregionen und Lebensorte bildeten dadurch immer weniger den Rahmen für das eigene Essen. Stattdessen erhöhte sich die Zahl der Länder, Regionen und Orte, von deren Eigenarten man kosten konnte. Das war dienlich, nicht nur für Bewohner kulinarisch weniger verwöhnter Gegenden. Umfassende Kommerzialisierung und Verwissenschaftlichung führten zu einem wachsenden Angebot voller Wahlmöglichkeiten.

Internationalisierung II: Die Durchdringung der Angebote und Haushalte

Die Vermarktung von Herkunft und zerbrochenen regionalen Traditionen ist Teil eines „ästhetischen Kapitalismus“ (Gernot Böhme). Verwissenschaftlichung und wirtschaftliche Homogenisierung gehen dabei einher mit ästhetischer und symbolischer Differenzierung, sei es bei Produkten und Speisen, sei es bei Küchen. Diese haben ihre Funktion, auch ihren kulturellen Sinn. Doch während sich im Kopfe vieler Konsumenten immer neue kulinarische Regionen und Nationen etablierten, war die Produktion von Lebensmitteln vornehmlich von wissenschaftlichem, technischem und ökonomischem Wissen geprägt. Dieses gründete auf den Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts, differenzierte und erweiterte sie, schuf damit ein Lebensmittelangebot bisher unbekannter Vielfalt.

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Urbane Schnellküche in der Zwischenkriegszeit (Die Damen Illustrierte 30, 1927, H. 14, 20)

Hauptlinien müssen genügen: In der Zwischenkriegszeit wurde das chemisch-physiologische Wissen durch die Entdeckung der Vitamine und die physiologische Erkundung der Mineralstoffe beträchtlich ergänzt. Dies führte nicht nur zu einer wachsenden Bedeutung von Obst, Gemüse und Frischkost für eine gesunde Ernährung, sondern hatte beträchtliche Auswirkungen auf die Konservierung von Lebensmittel. Die Hitzeführung bei der Konservenproduktion, aber auch bei der Pasteurisierung von Milch wurde schonender, erlaubte schmackhaftere Produkte. Lebensmittel wurden zunehmend sensorisch getestet, Marktforschung erkundete seit den späten 1920er Jahren ansatzweise Interessen der Konsumenten. Wichtiger noch waren neue, im Ersten Weltkrieg mit hohem Forschungsaufwand geförderte Konservierungstechniken, insbesondere die Trocknung, die Kühlung und das Tiefgefrieren. Das erlaubte neuartige Lebensmittel, etwa den gefriergetrockneten Nescafé. Tiefkühlkost etablierte sich in Deutschland in den späten 1930er Jahren, mochte die Zahl der Kühlaggregate in den Läden auch noch gering sein und der Militärbedarf vorrangig befriedigt werden. Dies ging einher mit immer stärker in Pappe, Papier und Bleche verpackten Markenartikeln (fast 50 % des Edeka-Umsatzes in den 1930er Jahren) sowie ersten Kunststoffverpackungen wie Cellophan. Wichtiger noch waren Veränderungen in der Lebensmittelindustrie selbst, wo Zwischenprodukte für Gebäcke, Suppen, Saucen und die Gemeinschaftsverpflegung das Lebensmittelangebot länger haltbar und preiswerter machten. Die Distanz zwischen Herstellung und Verzehr wuchs beträchtlich, das Wissen um Gehalt und Qualität des Angebotes wurde zu einem wachsenden Problem, das sich seither in immer neuen Debatten über die Verschlechterung der Alltagskost und die „Entwertung“ der Nahrung niederschlug.

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Trockengemüse für Großküchen (Fritz Bein, Der Feldkochunteroffizier, Berlin 1943, 274)

Während des Zweiten Weltkriegs beschleunigten sich diese Tendenzen, denn die Millionenheere waren vielfach auf verarbeitete Lebensmittel angewiesen. „Austauschstoffe“ wie Eipulver, Molkepräparate oder neue sojabasierte Konserven wurden üblich, Kartoffelflocken und Trockengemüse, ebenso – als Ausgleich – Vitamin- und Mineralstoffpräparate. Einige Erfolgsprodukte der Wirtschaftswunderzeit, etwa die Pfanni-Grundmasse für Klöße und Reibekuchen, standen in dieser wissenschaftlichen Tradition.

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Blick in einen großen Selbstbedienungsladen (So baut man heute. Ruhr, Rheydt 1960, s.p.)

In der Nachkriegszeit verstärkte sich die gewerbliche Lebensmittelproduktion beträchtlich. 1958 lag ihr Anteil bereits bei mehr als drei Vierteln des Gesamtmarktes. Unverarbeitet waren noch vorrangig Kartoffeln und Eier, gering verarbeitet Obst, Gemüse und Fleisch. Der Trend hin zu stetig verfügbaren Lebensmitteln wurde durch die in den späten 1950er Jahren sich in West- und Ostdeutschland rasch durchsetzende Selbstbedienung beschleunigt. Sichtverkauf ersetzte die Bedienungstheke, der Käufer übernahm frühere Aufgaben der Verkäufer. Dadurch änderten sich die Waren selbst, lose Angebote nahmen rapide ab. Die Läden wurden stetig größer, die sich in den 1960er Jahren etablierenden Super- und Verbrauchermärkte bildeten neuartige und zunehmend ästhetisierte Kunstwelten des Verkaufs. Kunststoffverpackungen setzten sich durch, Glas– und Verbundverpackungen machten die Angebote attraktiver. Die angebotene Warenzahl stieg von wenigen Hundert Anfang der 1950er Jahre auf fast 3.000 um 1970 und ca. 6.000 um 1990. Zugleich änderte sich die Struktur der Sortimente: Getränke und Trockenprodukte legten stark zu, Tiefkühlkost wurde, ebenso wie Konserven, Alltagsware. Mit der Technisierung der Läden und der Lieferwagen konnten dann aber auch zunehmend Frischwaren, insbesondere Obst und Gemüse, integriert werden. Diese kamen zunehmend aus dem europäischen Ausland, obwohl für einheimische Waren massiv geworben wurde („Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch“).

All dies waren internationale Trends, Teil einer Verwestlichung (in der DDR auch einer Veröstlichung) des Lebensmittelangebotes. Parallel nahm die Bedeutung der Außer-Haus-Verpflegung deutlich zu. Anfang der 1960er Jahre flossen etwa 10 % der Nahrungsaufwendungen in dieses Segment, in den 1970er Jahren waren es dann mehr als 20 %. Während anfangs Kantinen und Gaststätten dominierten, gewann seit den 1960er Jahren die Systemgastronomie an Bedeutung („Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald“), seit Anfang der 1970er Jahre auch Fast-Food-Ketten wie McDonald’s. Parallel entstand erst ein Gaststätten-, dann auch ein Fast-Food-Angebot ausländischer Speisen. Getragen von Urlaubsreisen und „Gastarbeitern“ erweiterten sie die Wahlmöglichkeiten um „authentische“ italienische, jugoslawische, spanische und dann auch türkische Angebote. Lieferdienste und vom Lebensmittelhandel betriebene Stehcafés, Backshops und Grillcenter ergänzten in den 1980er Jahren dieses Angebot um schwerpunktmäßig „heimische“ Produkte. Nicht Burger und Pizza, Döner und Sushi dominierten den deutschen Fast-Food-Markt, sondern belegte Brötchen, Würstchen aller Art, Suppen oder Pommes frites.

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Norwegische Cremesuppe: Exotik aus Tüte und Konserve (Spezialitätenküche, Köln 1973, n. 16)

Wichtig ist es, die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen all dieses Innovationen nicht deshalb zu vergessen, weil es sich um lange zuvor angelegte Veränderungen handelte. Die landwirtschaftliche Produktion wurde chemisiert, maschinisiert und kapitalisiert. Seit Mitte der 1950er Jahre zunehmend durch Zollschranken abgesichert und mit massiven Subventionen auf europäische Plangrößen gelenkt, wurden Bauern zunehmend reine Rohstofflieferanten. Ihre Produktion war von abstrakten Parametern wie Bodenzusammensetzung, Klimazonen, Zuchtzielen und Handelsklassen stärker geprägt als von Herkunft oder Region. (Futter-)Mais wurde um 1960 in Deutschland kaum angebaut, vierzig Jahre später schon 400.000 Hektar damit bepflanzt. Die gewerbliche Lebensmittelproduktion konzentrierte sich zunehmend auf Angebote mit hoher Nährstoffdichte, schmackhaft und vor allem einfach zu handhaben. Dies spiegelte eine sich veränderte Arbeitswelt, längere Fahrtwege, vor allem aber die verstärkte Integration der bürgerlichen Frauen in den gewerblichen Arbeitsmarkt. Instantprodukte beschleunigten die Getränke- und Speisenzubereitung seit den späten 1950er Jahren. Die damaligen Fertiggerichte – anfangs vor allem eingedost – wurden in den 1960er Jahren durch tiefgekühlte und vorgekochte Speisen in Aluminiumschalen und Kunststoffbeuteln abgelöst, die teils nur noch erhitzt werden mussten. Tiefgekühlte Hähnchen konnten schnell gebacken werden, standen zugleich für massive Veränderungen in der Tierhaltung. Komplettmenüs wurden ergänzt durch vorgeputzte und unmittelbar kochfertige Teilkomponenten, etwa Spinat oder Mischgemüse. Diese Convenienceprodukte – man sprach in den 1960er Jahren von der „Bequemlichkeitswelle“ – prägten zunehmend den Küchenalltag und die Rezepte der Kochbücher. Massive Wachstumsraten gab es dann wieder in den 1980er Jahren mit dem Angebot preiswerter Tiefkühlpizzen und gefrorenen Komplettmenüs fern der Aluminiumverpackung.

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Verfügbarkeit und Sicherheit: Fertiggerichte in Kunststoffverpackungen der Folienfabrik Forchheim (Absatzwirtschaft 9, 1966, 521)

Dazwischen standen zwei bis heute prägende Veränderungen, nämlich die zunehmende Aromatisierung und die wachsende Bedeutung von Lightprodukten. Mittels Gaschromatographen wurde es seit den 1950er Jahren relativ einfach, Aromenspektren zu analysieren und synthetisch nachzubilden. 1970 gab es etwa 1.100 künstliche Aromastoffe, mit denen es möglich war, Geschmacksdefizite im Angebot ansatzweise zu korrigieren, zugleich aber neuartig schmeckende Waren, etwa Kaugummi, Limonaden oder Speiseeis anzubieten. Um 1980 waren ein Achtel, um 2000 ein Fünftel aller Lebensmittel aromatisiert. Dazwischen lag ein weiterer technologischer Schub, nämlich die Verdrängung künstlicher Aromastoffe durch „natürliche“ und „naturidentische“ Substitute. Auch Lightprodukte profitierten von dem dahinter sichtbaren Trend hin zu „gesünderen“ Angeboten, der in den 1990er Jahren mit den „Functional Food“ nochmals eine paradoxe Steigerung erfuhr. Anders als im späten Kaiserreich wurden nun jedoch nicht allein Genussmittel entgiftet, wenngleich sich „leichtere“ nikotinarme Zigaretten in den 1960er Jahren, „nikotinfreie“ ab 1974 und „alkoholfreie“ Biere ab 1979 etablieren konnten. Die neuartigen Lightprodukte waren dagegen zucker- und fettreduziert. Süßstoffe gewannen an Bedeutung, Halbfettmargarine erlaubte kalorienreduzierte Ernährung ohne Reduktion des Streichfetts. Die virtuose Steuerung des Fettgehaltes erlaubte zudem zahlreiche neue Diätprodukte und eine sich ausweitende Palette von Käsearten.

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Kalorienarm und körperformend: Reformwaren Anfang der 1970er Jahre (Hamburger Abendblatt 1972, Nr. 150 v. 1. Juli, WJ2)

Hier bis zur Gegenwart fortzusetzen wäre einfach. Doch just diese teils schon wieder mit Patina versehenen Lebensmittel einer kaum vergangenen Vergangenheit verdeutlichen die Härte des Bruchs mit der Tradition. Dies gilt auch, weil die massive Technisierung der Haushalte seit den 1960er Jahren die zuvor noch beim Handel und der Gastronomie endenden Versorgungsketten nun bis in den Haushalt verlängert hat. Kühlschränke, Tiefkühlgeräte, Elektroquirle, Küchenmaschinen und Mikrowellen waren Vorleistungen, ohne die ein beträchtlicher Teil des Lebensmittelangebotes heute gar nicht mehr zu nutzen wäre. Die Wahlmöglichkeiten gründeten zugleich auf die seit dem 19. Jahrhundert etablierten, sich im 20. Jahrhundert dann durchsetzenden Versorgungsgüter Wasser, Gas, Elektrizität inklusive deren Abfuhr – all dies war vor 200 Jahren kaum denkbar, mochte man Brunnen und Quellen auch romantisch besungen haben.

Bestimmen Sie über Ihr Essen, Ihre Ernährung?

Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin, bestimmen selbstverständlich darüber, was sie essen. Doch Ihre Freiheit folgt zugleich dem bekannten Bonmot Friedrich Engels (1820-1895), dass Freiheit „Einsicht in die Notwendigkeit“ ist. Sie können sich heute nur noch unter immensen Kosten „selbst“ versorgen, würden als eremitischer Sonderling gelten, würden Sie dies tun. Und dafür gibt es Gründe, die der Publizist Wolfgang Pauser vor zwei Jahrzehnten provokant zuspitzte: „Traditionelle Ernährung ist nicht gesund, Natürlichkeit hat keine Tradition, Regionalität ist nicht natürlich und Kochen überhaupt der Inbegriff der Künstlichkeit“ (Die ›regionale Küche‹. Anatomie eines modernen Phantasmas, Voyage 5, 2002, 10-16, hier 10).

Als Historiker scheint es mir daher sinnvoll, das heutige Angebot mit gebührender Distanz zu betrachten, nicht aber einer schon im späten 19. Jahrhundert gebrochenen Tradition nachzujagen. Abseits der vielen zuvor ausgebreiteten Entwicklungen möchte ich Sie abschließend daher auf zwei Aspekte unseres heutigen Essens hinweisen, die Ihnen vielleicht als Rüstzeug für selbstbestimmte Distanz und reflektierte Wahl dienen können.

Erstens ist die moderne Ernährung durch semantische Illusionen gekennzeichnet. Hinter diesem sperrigen Begriff verstehe ich all die vielfältigen und stets widersprüchlichen Aussagen über den Wert des Essens, der Ernährung. Es scheint paradox, doch während wir völlig andere Lebensmittel, völlig andere Lebenszuschnitte als die Menschen vor 200 Jahren haben, nutzen wir vielfach noch die Sprache dieser Zeit. So als wären Kartoffeln um 1800 mit heutigen Kartoffeln gleich zu setzen. Wissenschaft und Wirtschaft haben mit der Tradition der vorindustriellen Zeit gebrochen, doch sie nutzen vielfach noch die Sprache der Alltagsernährung, um ihr Wissen und ihre Angebote marktgängig und nachvollziehbar anbieten zu können. Dies steht quer zu den ebenfalls bestehenden Fachsprachen der Wissenschaften und auch der Wirtschaft. Sprache wurde und ist heute Teil einer kommerziellen Inszenierung, während Forschung und Marketing nicht nur die vielfältigen Nahrungsstoffe anders benennen, sondern gar von so bekannten Begriffen wie „Vitaminen“ längst abgekommen sind. Ein stetig verfügbares, sich von „Küchen“, von Raum und Zeit längst emanzipiertes Lebensmittelangebot bedarf der kontinuierlichen Sinngebung und Ästhetisierung, um in den Märkten des Wissens und der Produkte bestehen zu können. Wir sahen, dass das Attribut „deutsch“ sich für die Küche des 19. Jahrhunderts nicht hat durchsetzen können. Wir sahen, dass der Wortstamm „Region“ erst im 20. Jahrhundert aufkam, doch in völlig verkürzter Form weiter fleißig Urstände feiert. Fragen wir weiter, nach dem Gehalt von anderen mit Ernährung und Essen stets verbundenen abstrakten Begriffen wie „Kraft“, „Qualität“, „Frische“, „Gesundheit“, „Genuss“ oder gar „Natur“. Unsere wahrlich schwere Aufgabe wäre dann, die den Lebensmitteln und Speisen verloren gegangenen Kontexte genauer zu benennen, ihnen Geschichte, Ernst und Wahrheit zu verleihen. Um selber wählen zu können, wäre eine Sprache zu entwickeln, die mehr enthält als ahnende Sehnsucht nach dem „Guten“, „Echten“, „Urtümlichen“, nach „Bio“, „klimaneutral“ oder „vegan“.

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Heutige „Naturkost“, „bio“ und „vegan“ (Schrot & Korn 2023, Nr. 1, 34)

Zweitens steht auch dieses Nachsinnen über die gebrochene Macht der Tradition in ähnlichen Verwendungszusammenhängen, denen in einer wissenschaftlichen, kommerzialisierten Welt und einer auf Enthäuslichung ehedem umfassend häuslicher Praktiken gründenden Alltagspraxis kaum mehr zu entkommen ist. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre haben dazu vor wenigen Jahren den Begriff einer „Bereicherungsökonomie“ geprägt, der uns abschließend helfen kann, die Beharrungskraft traditioneller und räumlicher Vorstellungen in unserem Kauf- und Essalltag zu verstehen. Demnach ist ein nicht unwichtiger Teil der heutigen Wirtschaft nicht mehr mit der Produktion von Gütern oder einschlägigen Dienstleistungen beschäftigt. Nicht allein Massenproduktion bestimmt unser Wirtschaften, Leben und Essen, sondern zugleich die Schaffung von Exklusivität. Lokale, regionale, vielfach auch nationale Traditionen werden neu belebt, revitalisiert, um dadurch Wertschöpfung zu ermöglichen. Aus altem stinkendem Käse wird ein Produkt voller Charakter, aus der Härte der handwerklichen Fron das vorbildhafte Schaffen des einfachen Könners. Dies ist ein Geschäft mit Vergangenheit, bei dem unter Verweis auf die verlorenen Welten der vorindustriellen, teils auch der hochindustriellen Zeit Besonderheiten der Alltagskultur, der Speisen und der Nahrungsmittel hervorgehoben werden, die es dann zu kultivieren und zu verfeinern gilt, um sie zu retten, zu Marken aufzubauen, auf Festivals zu präsentieren, sie landlüstig zu beschreiben und als Ziel eines kultivierten Tourismus anzuempfehlen. Vergangene, nicht mehr existierende Küchen werden so zu Habitaten, zu Verfügungsräumen einer wissenden und zahlungskräftigen Elite. In der gesellschaftlichen Breite führt dies zu bemerkenswerten Wandlungen, zum Spielen mit längst zerbrochenen Traditionen: Vor 200 Jahren knappe und begehrte Nahrungsmittel wie Fleisch werden heute von den höheren Schichten verstärkt gemieden, scheinen Kennzeichen fehlender Moral unaufgeklärter Unterschichten. Biokost und Slow Food-Aktivisten knüpfen an ein vielfach imaginäres lokales, bäuerliches Erbe an, während die Oberschicht sich vor 200 Jahren an transportintensiven kolonialen Produkten und den Angeboten der französischen Hochküche labte (also an internationalen Kostformen). Auch diese ist heute in Form von Fast Food Bestandteil der Billigkost der Unterschichten (Curry, Burger, Pizza).

Tradition ist, so hieß es anfangs, nichts Organisches, Originäres, sondern ein steter Überlieferungsfluss, die Weitergabe von Wissen um Alltagsbewältigung, um Herkunft und Identität. Neues mit Rückgriff auf eine einseitig gedeutete Vergangenheit zu schaffen, scheint mir nicht sinnvoll zu sein. Weder semantische Illusionen, noch eine wie immer artikulierte Bereichungsökonomie werden uns helfen, die Aufgaben des Tages zu bewältigen, gar selbst mitzubestimmen, was wir essen. Dazu sind einfache Frage wissend und bohrend zu stellen: Wer setzt die Strukturen unseres Essens, unserer Ernährung? Wer besitzt dabei Entscheidungsmacht? Wem nutzt dies? Und schließlich: Ist das in Ihrem, in meinem Sinne? Finden wir hierauf Antworten, so könnten an die Stelle von Trauerarbeit über gebrochene Traditionen vielleicht neue Traditionen treten.

Uwe Spiekermann, 30. Dezember 2023

Der Text ist eine überarbeitete, erweiterte und mit zusätzlichen Abbildungen versehene Version von Uwe Spiekermann, Traditionsmythen: »Deutsche Küche« zwischen Nation, Region und Internationalisierung, in: Gunther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 24-49.

Das Thema des Beitrages wurde unlängst auch von der Spiegel-Redakteurin Katja Iken aufgegriffen. Unter dem Titel „»Nationalpudding« mit Schildlaus und Schokolade“ finden sich zudem Einschätzungen der Erfurter Köchin Maria Groß, des Volkskundlers Gunther Hirschfelder und meiner Wenigkeit (Spiegel Geschichte 2024, Ausg. 1, 38-44).

Großbritanniens Vorbild und Deutschlands Beitrag: Der Deutsche Vereins-Hundekuchen aus Hannover

Hundekuchen bündelten zentrale Errungenschaften des 19. Jahrhundert, verbanden Physiologie und Enthäuslichung, Globalisierung und Kapitalismus in einem neuen, standardisierten Produkt. Es wurde in den 1860er Jahren in Großbritannien entwickelt, und das viele Monate haltbare Universalfuttermittel verbreitete sich seit den 1870er Jahren rasch in der westlichen Welt, in den USA, in Russland, in Österreich-Ungarn – und dem neu entstandenen Deutschen Reich. Dort ansässige Unternehmer übernahmen Konzept und Herstellungstechnik vom britischen Vorbilde, allüberall stand der in London produzierte Sprattsche Hundekuchen Pate. Vor Ort versuchte man dessen Qualität zu erreichen, den heimischen Markt gegen Importe zu verteidigen, ihn zugleich zu erweitern. Hierzulande entstand rasch eine größere Zahl von Hundekuchenfabriken, die aus Getreide, Gemüse und Importfleisch neue und doch gegenüber Spratt’s „Meat Fibrine Dog Cakes“ wenig veränderte Ware produzierten.

Der Hundekuchen vereinfachte die an sich aufwändige Fütterung von Tieren, die in ihrer Mehrzahl noch Funktionen und Aufgaben hatten, bei der Jagd, dem Bewachen des Eigentums, der Suche nach Verdächtigen, der Hege von Schafherden und nicht zuletzt beim Gütertransport. Die Hunde dieser Zeit waren nicht vorrangig Haustiere, vermeintliche Freunde und Gefährten, wie die ca. 12 Millionen vierbeinigen Steuermarkenträger heutzutage. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wurden Hunde vorrangig nach ihren Aufgaben und Funktionen in der bäuerlichen, bürgerlichen und adeligen Gesellschaft bewertet. Es ging nicht um Dobermann und Schäferhund, um Teckel und Spitz, sondern um Jagd- und Wachhund, um Karrenzieher und Hegehunde. Entsprechend bestand eine Trennung zwischen den edlen Hunden, die immer auch den Status ihrer Besitzer repräsentierten und den einfachen Helfern der gemeinen Leute. Folgerichtig gab es deutlich weniger Hunde, absolut und relativ: Kommt heute ein Hund auf sieben Staatsbürger, so waren es beim Aufkommen des Hundekuchens einer pro zwanzig Einwohner – etwas mehr als zwei Millionen.

Die moderne Physiologie beendete diese tradierten funktionalen Zuschreibungen nicht, doch entwickelte sie ein anderes, wissenschaftlich begründetes Bild des Tieres: Ihr Ausgangspunkt war die stoffliche Gleichheit aller Kreaturen. Mit Menschen und Pflanzen waren sie durch einen weltumspannenden und weltprägenden Stoffwechsel verbunden. Die domestizierten Hunde waren Allesfresser, hatten sich im Umfeld des Menschen vor allem mit pflanzlicher Kost und Fleischresten zu begnügen. Ihre Nahrungsbedürfnisse entsprachen in etwa denen des Menschen, die Art ihres Futters war jedoch anders, vor allem billiger, stand weit unter der Nahrung des Menschen. Hundekuchen waren demgegenüber etwas Besonders, nicht von ungefähr stammten die ersten Käufer aus dem englischen Landadel. Das neue Futter war anfangs nicht für Haustiere, für städtische „Luxushunde“ gedacht, schon dessen schiere Größe barg für kleine, schwach bezahnte Hunde massive Probleme. Hundekuchen waren vielmehr eine Fertigspeise für die Leistungsträger unter den Vierbeinern. Sie markierten zugleich aber eine Futtergrenze zum Menschen, denn Hundekuchen wurden von Beginn an mit einem Verzehrstabu belegt, mochten sie rein physiologisch auch durchaus essbar gewesen sein. Gegenüber unserer Gegenwart gab es weitere Unterschiede: Als Konsumgut waren sie eher ländlich, eher kleinstädtisch, noch nicht Kennzeichen einer urbanen Versorgungsinfrastruktur für gehätschelte Kleingefährten. Ihre Käufer waren die vermeintlich staatstragenden Eliten und der alte Mittelstand, nicht aber die Arbeiterschaft, die sich schon den Aufwand für einen Hund kaum leisten konnte. Gehen wir nun daran, diese Thesen auszufächern und empirisch an einem Beispiel zu überprüfen: Der Geschichte der Deutschen Hundekuchen-Fabrik, die erst in Hannover, dann in Berlin produzierte.

Die englische Herausforderung: Spratt’s und mehr

In den 1870er Jahren, nach der Gründung des Deutschen Reiches, erfolgte die Fütterung der Hunde hierzulande noch in tradierten Bahnen. Sie war ein abgesonderter, zugleich aber integraler Teil der häuslichen Nahrungsmittelproduktion: „Die gute Ernährung des Hundes bietet um so weniger Schwierigkeiten, als derselbe ja bekanntlich Alles frißt, was Menschen genießen. Brod, Fleisch, Knochen, Gemüse und Milch, gekocht sowohl wie roh, sind ihm die natürlichste und die ihm zusagendste Nahrung; Fett, obwohl sehr gern gefressen, ist ihm schädlich, ebenso viel Salz. Von gekochten Speisen zieht er die mehl- und zuckerhaltigen vor, und nimmt auch sehr gern süßes Obst. Nur sorge man, daß Alles, was dem Hunde vorgesetzt wird, rein, frisch und niemals zu heiß, sondern nur lau sei, versorge ihn mit reichlichem Wasser in stets reinen Geschirren und achte auch in Bezug auf sein Lager, daß dies immer reinlich und trocken sei und häufig erneuert werde“ (Otto Friedrich, Aufzucht und Pflege des edlen Hundes, 3. Aufl., Zahna 1876, 8). Hundefütterung war Aufgabe der Dienstboten, meist aber der Frauen als Teil ihrer Hausarbeit (Hermann Kaiser, Ein Hundeleben, Cloppenburg 1993, 43-46).

Während sich das Futter selbst wenig änderte, veränderte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dessen Herkunft: „Hundebrot“ war seit der frühen Neuzeit eine regelmäßige bäuerliche Abgabe an den Gutsherrn, Grundlage der Fütterung von Jagdmeuten, Abschlagszahlung für herrschaftlichen Schutz. Abzugeben war zumeist Getreide, „Hundekorn“ – und es ist nachvollziehbar, dass die Bauern versuchten, die besseren Qualitäten für sich zu behalten. „Hundebrot“ hatte daher eine weitere Bedeutung, handelte es sich doch auch um das dunkle, elende Brot der Armen, des Gesindes, gebacken aus Gerste, Buchweizen, Roggen und dem Unrat, der Spreu, der Kleie, – die Brotreform mit ihrem Lob des vollen Korns begann erst in den 1890er Jahren (vgl. etwa Johann Georg Krünitz, Das Gesindewesen, nach Grundsätzen der Oekonomie und Polizeywissenschaft abgehandelt, Berlin 1779, 92). Verstädterung und Frühindustrialisierung trugen Hundebrot vermehrt in städtische Gefilde: „Ein Art Brod, Hundebrod genannt, welches zur Fütterung von Thieren bei einigen Bäckern bereitet wird, kaufen auch arme Familien zu eigenem Verbrauch“ (Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin 48, 1845, 95). Diese Strukturen zerbrachen Mitte des Jahrhunderts, waren als „Bauernbefreiung“ Teil der Integration der bäuerlichen Wirtschaft in den modernen Steuerstaat, in die Versorgungsstrukturen arbeitsteiliger Marktgesellschaften: Die Aufhebung der preußischen Jagd-Dienste und -Gebühren bildete 1850 einen wichtigen Einschnitt, mochten sich auch Abgaben wie das „Hundebrot“ im Süden der deutschen Lande noch länger halten. Damit waren einem marktgängigen Fertigprodukt wie Hundekuchen die Wege grundsätzlich geebnet.

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Frühe Anzeigen für Spratt‘s Hundekuchen (The Field 1866, Ausg. v. 3. November, 31 (l.); The Norfolk News 1867, Nr. 1174 v. 22. Juni, 1)

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass der Begriff „Hundekuchen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon in deutschen Übersetzungen von Aristophanes, Juvenal oder aber Boccaccio auftauchte; allerdings als Gebäck der Armen. Als Hundefutter handelt es sich jedoch um eine Übersetzung des englischen Begriffs „Dog Cakes“, den der im englischen Devon geborene Erfinder James Spratt (1809-1880) für seine seit 1862 in London hergestellten „Meat Fibrine Dog Cakes“ nutzte. Die Firma entwickelte sich anfangs nur langsam, auch wenn nach der Einstellung des jungen Buchhalters und Assistenten Charles Cruft (1852-1938) das neue Produkt offensiver beworben wurde. Spratt verkaufte sein Unternehmen 1870 an eine Investorengruppe, die sich zunehmend auf den Vertrieb und Absatz der Hundekuchen konzentrierte und dadurch den Umsatz im Inland und dann auch auf dem europäischen Festland rasch erhöhen konnte (für eine detaillierte Geschichte der Firma Spratt’s in Großbritannien und dem Deutschen Reich verweise ich auf einen bald erscheinenden weiteren Artikel).

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Frühe Präsenz in Hannover (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 5992 v. v. 5. März, 1 (l.); Der Sporn 16, 1878, 336)

Nach der Gründung des Deutschen Reiches finden sich hierzulande ab spätestens 1873 Anzeigen für den Sprattschen „Hunde-Zwieback“ – auch dies eine Übersetzung des englischen Begriffes „Biscuit“, den vor allem englische Wettbewerber Spratt‘s für ihre Produkte verwandten. Deren deutsche Großhändler nutzten und prägten den Begriff „Hundekuchen“ jedoch seit 1875. Er verwies nicht auf das süße, für Menschen bestimmte Backwerk, insbesondere die hochgeschätzten Leb-, Honig- und Baumkuchen, sondern war eine Übernahme aus dem Futtermittelgewerbe. Dort ummantelten Begriffe wie Ölkuchen die Herkunft der Angebote, bei denen es sich zumeist um nutzbare Abfallstoffe handelte, die als Tierfutter und Düngemittel gleichwohl marktgängig waren. Knochenmehle dienten als Dünger, Fleischfuttermehl nährte Schweine, Rinder und auch Hunde.

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Clarke und Barr: Weitere Londoner Hundekuchen im deutschen Markt (Dresdner Journal 1877, Nr. 193 v. 22. August, 904 (l.); Hamburgischer Correspondent 1879, Nr. 64 v. 15. Juni, 18)

Hannover war für Spratt’s ein doppelt nahegelegener Markt: Zum einen von der Entfernung her, denn die Exporte gingen anfangs nach Hamburg, von dort per Bahn in Städte mit Großhandelsdepots. Dieses Netz knüpfte an bereits bestehende Großhandelsstrukturen an, nutzte die Absatzwege vornehmlich im Futtermittelsektor. Hundekuchen waren ein Ergänzungsprodukt, traten neben das Kraftfutter für Schweine und Rinder. Und trotz des Namens konnte das neue englische Produkt in gemahlener, mund- und schnabelgängiger Form auch an Geflügel und Fische verfüttert werden. Entsprechend gab es auch seitens der noch nicht allzu zahlreichen zoologischen und Vogelhandlungen ein Grundinteresse an der Importware. In Hannover orderte man sie zuerst in Hamburg, dann auch im näher gelegenen Kassel, ab spätestens 1878 auch vor Ort, in der nahe des Güterbahnhofs gelegenen Handelsgesellschaft von James Plant. Diese 1876 gegründete Firma hatte sich auf den Vertrieb von Lederwaren und Reitartikeln spezialisiert (Hannoverscher Courier 1876, Nr. 7845 v. 12. April, 3; ebd. 1881, Nr. 11063 v. 28. Juli, 5). Hochwertige Ware aus England spiegelte ein gehobenes Sortiment, aber auch die Stellung der britischen Monarchie als global führender Wirtschaftsmacht. Zweitens gab es zwischen dem 1814 zum Königreich aufgestiegenem Hannover und der britischen Krone enge dynastische Beziehungen, bestand doch seit 1714 eine Personalunion, die erst 1837 aufgelöst wurde, als Königin Victoria (1819-1901) den britischen Thron bestieg, während die hannoversche Königswürde von ihrem Onkel, dem reaktionären Ernst August I. (1771-1851) übernommen wurde. Hannover besaß weiterhin enge Beziehungen zum aufstrebenden Inselreich, die auch durch die preußische Annexion 1866 nicht unterbrochen wurde. Die frühe Übernahme des Hundekuchens stand in der Tradition dieser besonderen Beziehungen.

Spratt’s nutzte dies, förderte insbesondere die von der Firma erst in Großbritannien, dann in den Niederlanden, Belgien und Frankreich angestoßenen Hundeausstellungen. Diese zielten nicht nur auf eine Adelung der Hundezucht, der Förderung der Jagd und der Ausbildung eines rasch wachsenden Marktes von Hundeartikeln und Tiermedikamenten. Ausstellungen dienten zugleich als zentraler Werbeort für das neuartige Hundefutter. Spratt’s wurde auch im Deutschen Reich zum Förderer der Haltung leistungsfähiger Funktionshunde und rassereiner Zuchttiere. Zugleich stellten sich die Aussteller einem begrenzten Wettbewerb, an dessen Ende sie regelmäßig mit werbeträchtigen Auszeichnungen geehrt wurden. Spratt‘s & Co. erhielt auf der ersten Hannoveraner Hundeausstellung 1879 ein Diplom für „hervorragende Leistungen“ und eine „goldene Medaille“ (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9751 v. 31. Mai, 2), die als Qualitätsgarant gleich wieder in der Anzeigenwerbung hervorgehoben wurden.

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Die Hannoversche Hundeausstellung als Werbeargument (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9768 v. 12. Juni, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1880, Nr. 138 v. 25. Mai, 5)

Hundezuchtvereine und der Hannoveraner „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“

Hundekuchen standen in den 1870er Jahren für Globalisierung – und in Abwandlung einer bekannten Sentenz des just verstorbenen Henry Kissingers kann man sagen, dass Globalisierung damals nur ein anderes Wort für britische Herrschaft war. Doch insbesondere in den USA und im Deutschen Reich begannen Hundehalter und Unternehmer nach wirtschaftlichen Alternativen zu suchen, nationale Angebote zu entwickeln. Neben der 1880 gegründeten Deutsche Hundekuchen-Fabrik in Hannover gab es andere, früher gegründete Firmen, die sich teils aus Hundezuchtanstalten (Caesar & Minka, Zahna), teils aus Getreide- und Futterhandlungen (Gebrüder Herbst, Magdeburg), teils aus Mühlen- und Bäckereibetrieben (Krietsch, Wurzen) entwickelten. Hundekuchen war für sie ein neues Nebenprodukt, das sich harmonisch in die bisherige Angebotspalette integrieren ließ. Das Besondere in Hannover war, dass dort der 1878 gegründete „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“ den entscheidenden Anstoß zur lokalen Produktion gab. Er war 1839 als Hannoverscher Jagdverein gegründet worden. Das englische Vorbild einer gezielten Hundezucht stand bei der Umbenennung im Mittelpunkt, die Führung von Stammbüchern wurde zum wichtigsten Ziel (Chronik des deutschen Hundewesens – Eckdaten zur Geschichte des VDH, Dortmund 2006, 4).

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Hunde als Passion: Versammlung des Berliner Hundeliebhabervereins „Hector“ (Über Land und Meer 40, 1878, 689)

Der Hannoveraner „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“ war Teil einer sich langsam ausdifferenzierenden Vereinskultur, die eine sich langsam verändernde Beziehung von Mensch und Tier spiegelte. Moderne Hundehaltung resultierte aus einer modernen Haltung zu Hunden. Tierschutzvereine entstanden in größeren Städten in den späten 1850er Jahren, etablierten sich in den Folgejahrzehnten als bürgerliche Institutionen. Sie wurden begleitet und gefördert von zeitgenössischen Erfolgstiteln, etwa dem seit 1863 erscheinenden „Illustrirten Thierleben“ des Zoologen Alfred Brehm (1829-1884), das Tiere vermenschlichte und dem bis heute währenden Anthropomorphismus Bahn brach. Die ethisch begründete Wendung gegen Tierleid und Tierquälerei enthielt allerdings immer auch eugenische Elemente, zumal in Diskussionen über humanere Tötungsformen kranker Pferde und Hunde. Spezielle Hundezuchtvereine boten vor dem Hintergrund der „Origins of Species“, des 1859 veröffentlichten Hauptwerk Charles Darwins (1809-1882), eine positive Eugenik. In Hannover hieß dies: „Der […] Verein zur Veredelung der Hunderacen hat es sich nun unter Anderem auch zum Ziele gesetzt, die Reinhaltung aller Hunderacen zu fördern, namentlich aber für diejenigen Racen einzutreten, deren Untergang nahe scheint, also besonders für die deutschen“. Ziel war Förderung der „Racenreinheit“, der Kampf gegen „Bastardhunde“ und damit auch ein Ende des steten Imports teurer „edler Hunde“ zumal aus England (Zitate n. Internationale Ausstellung von Hunden, Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9611 v. 7. März, 2).

Die Hundezuchtvereine waren jedoch immer auch gesellige, in die Öffentlichkeit drängende Institutionen. Auch diesbezüglich war England Vorreiter gewesen, denn Hundeausstellungen gab es dort seit den späten 1850er Jahren, der 1873 gegründete Londoner Kennel Club förderte sie dann gezielt. In deutschen Landen fanden erste Hundeausstellungen in den 1860er Jahren statt, in Hamburg und Altona. In den 1870er Jahren wurden sie dann bereits durch Hundefutterproduzenten gefördert, so etwa in Cannstatt 1871 und Stuttgart 1873. Ende der 1870er Jahre entstand zudem ein breiter Kranz von Fachzeitschriften, die nicht nur die Tier- und Hundezucht förderten, sondern zugleich auch das Renommee guter Zuchthunde und ihrer Besitzer erhöhten (Wolfgang G. Theilemann, Adel im grünen Rock. Adeliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866-1914, Berlin 2004, insb. 88-120).

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Hundefutterprobe als Teil des Vereinslebens im Leipziger Hundeverein Diana (Leipziger Tageblatt 1878, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6698)

Im Deutschen Reich setzte ab 1876 der Berliner Hundeliebhaberverein „Hektor“ erste Akzente, doch der Hannoveraner Verein durchbrach von Beginn an lokale Begrenztheit, indem er eine nationale Aufgabe vorantrieb: Das Allgemeine deutschen Hundestammbuch sowie die nationale Vernetzung im Dachverband der 1888 gegründeten „Delegiertenkommission“ waren unmittelbare Folgen (Margot Klages-Stange, Der Wert unserer Hunde, Hannoverscher Kurier 1926, Nr. 41 v. 26. Januar, 6). Hundezuchtvereine verbanden öffentlich besoldete Jäger, eine adelige, der Jagd frönende Oberschicht, aufstiegswillige und erfolgreiche Bürger sowie Zoologen und Veterinärmediziner. In Hannover agierte der im deutsch-französischen Krieg bewährte Graf Alfred von Waldersee (1832-1904) als Präsident. Der Kommandeur des X. Armeekorps verkörperte zugleich die Interessen der Armee an leistungsfähigen Hunden. Präsidiumsmitglied Albrecht Prinz zu Solms-Braunfels (1841-1901) war Teil des europäischen Hochadels und ein Kenner der englischen Hundezucht. Jäger, Züchter und Veterinärärzte der Kgl. Tierarzneischule bildeten den Kern der 1879 bereits 160 Mitglieder (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9570 v. 11. Februar, 2), zu denen aber auch Vertreter des gehobenen Bürgertums gehörten, etwa der jüdische Bankier Emil Meyer (1841-1899).

Seit seiner Gründung plante der Hannoveraner Verein auch eine Hundeausstellung: Es galt den Engländern und auch den Berlinern mit ihrer 1878 veranstalteten „Elite-Ausstellung von Racehunden“ etwas mindestens Gleichwertiges an die Seite zu stellen (Hannoverscher Courier 1878, Nr. 9380 v. 18. Oktober, 2). Die beträchtlichen Kosten wurden durch eine publikumswirksame Lotterie aufgebracht (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9502 v. 2. Januar, 3; ebd., Nr. 9644 v. 26. März, 2). Hinzu traten Sachspenden für Preise, die Unterbringung und Fütterung der Hunde – wodurch sich die Beziehungen zum englischen Hundekuchenproduzenten Spratt’s und seiner Hannoveraner Niederlage vertieften.

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Kooperation des Hannoveraner Hundevereins und der Londoner Firma Spratt’s (Der Sporn 17, 1879, 56)

Für den Verein war diese erste Hundeausstellung erfolg- und lehrreich zugleich. Das Vereinsziel einer an klare Merkmale gebundenen Hundezucht wurde weiter popularisiert, damit aber zugleich die Trennung zwischen Rassehunden und der Mehrzahl der Straßen- und Gebrauchshunde vertieft. Hundesteuer und Maulkorbzwang sollten dies unterstützten, zugleich die Zahl unnützer Hunde verringern helfen (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10659 v. 26. November, 3). Die Schwierigkeiten bei der Organisation und Finanzierung der Ende Mai 1879 durchgeführten Hundeausstellung ließen es jedoch auch ratsam erscheinen, eine lokale Infrastruktur aufzubauen, mit deren Unterstützung die Vereinsziele einfacher zu erreichen waren. Dazu gehörte nicht zuletzt die 1880 umgesetzte Gründung einer vereinsnahen Hundekuchenproduktion.

Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in Hannover

Am 15. Juni 1880 wurde die „Deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl“ ins Hannoversche Handelsregister eingetragen. Inhaber war der „Kaufmann und Fabrikant“ Johannes Kühl (Berliner Börsen-Zeitung 1880, Nr. 305 v. 19. Juni, 16; Deutscher Reichsanzeiger 1880, Nr. 144 v. 22. Juni, 8).

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Reichsweite Präsenz der Werbung kurz nach der Gründung (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10400 v. 6. Juni, 4 (l.); Neueste Nachrichten 1880, Nr. 127 v. 1. Juni, 10)

Schon Wochen zuvor hatte die Werbung für das neue Produkt eingesetzt, den „Deutschen Vereins-Hundekuchen“. Der gestempelte Kuchen gab einen ersten visuellen Eindruck des Tierfutters, benannte zugleich den zentralen Unterschied zu den verschiedenen im Deutschen Reich produzierten Konkurrenzprodukten: Es handelte sich um einen vom „Verein zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“ empfohlenen und kontrollierten Futterartikel. Dazu hatte man eine gemischte Kommission eingerichtet, die soziales Prestige, finanzielle Sekurität und wissenschaftliches Renommee verkörperte. Die Hundekuchen und Rohmaterialien sollten durch einen Chemiker der lokalen Tierarzneischule ständig kontrolliert werden, so dass es sich um ein standardisiertes Nahrungskomprimat von hoher Qualität handeln würde. Zugleich war der Vereinshundekuchen relativ preiswert; günstiger jedenfalls als die meisten deutschen und die englischen Konkurrenzprodukte. Jedem Zeitgenossen war klar, dass die Markenpräsentation an zwei Londoner Vorbilder anknüpfte: Als Qualitätsprodukt erinnerte sie einerseits an den seit 1863 im uruguayischen Fray Bentos produzierten Liebigschen Fleischextrakt. Die Londoner Liebig’s Extract of Meat Company nutzte nicht nur das Renommee des Namensgebers, sondern verpflichtete mit dem Hygieniker Max von Pettenkofer (1818-1901) und dem Physiologen Carl von Voit (1831-1908) zwei führende Wissenschaftler als Kontrolleure. Andererseits spiegelte der gestempelte und perforierte Kuchen das seit 1875 reichsweit geschützte Markenzeichen von Spratt’s & Co. in London.

Der Hannoveraner Verein hatte Johannes Kühl mit der Herstellung beauftragt, weil dieser „am hiesigen Orte eine mit den besten maschinellen Einrichtungen versehene Fabrik für Hundekuchen errichtet und seinen ganzen Betrieb zur Sicherung der Consumenten unter Controle des ‚Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland‘ gestellt“ habe. Mehr noch: „Der Fabrikant ist bezüglich der Zusammensetzung der Kuchen und des Preises derselben an die Anordnungen der Commission gebunden, so daß eine die Interessen der Consumenten wahrende Garantie besteht“ (Deutsche Hundekuchenfabrik von J. Kühl in Hannover, Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4). Kühl erschien entsprechend in der Generalversammlung des Vereins, diskutierte den gemeinsamen Vertrag mit Präsidium und Mitgliedern und verwies auf „eine größere Anzahl Zuschriften hervorragender Züchter, welche sich über die Qualität der Hundekuchen lobend aussprachen“ (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10617 v. 2. November, 3).

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Kontrollierte Qualität (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4)

Offenkundig handelte es sich bei der Deutschen Hundekuchen-Fabrik um eine für beide Seiten attraktive Zusammenarbeit: Der Verein erhielt reichsweite Publizität und zudem ein preiswertes vor Ort hergestelltes Futtermittel. Der Fabrikant konnte schon bei Beginn das soziale Kapital des Vereins nutzen, gewann dadurch einen Vertrauensvorschuss insbesondere bei Adligen, Jägern und Hundezüchtern. Vor diesem Hintergrund ist auch der Name von Firma und Produkt zu verstehen. Im – wie so häufig – irreführenden Wikipediaartikel zur Firma wird ohne Quellenbelege von einem nationalistischen und antienglischen Ressentiment gesprochen. Und in der Tat handelte es sich bei den Vereinsmitgliedern zumeist um patriotisch donnernde Zeitgenossen, Vereinssekretär Emil Meyer betonte etwa: „‚Englische Hunde, und zwar recht schlechte englische Hunde, haben wir leider schon zu viele in Deutschland!“ (zit. n. Hegewald, Den Hühnerhund […], Leipzig 1881, 49). Angesichts des Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Hundezuchtvereinen zielte das doppelte Adjektiv „Deutsch“ jedoch vorrangig auf die innerdeutsche Hegemonie des Hannoverschen Vereins. England blieb, das unterstrich die frühe Werbung, ein Vorbild. Dieses zu erreichen, gar zu überholen, war Aufgabe eines beherzten Wettbewerbs. „Deutsch“ war damals Ausdruck nachholenden Bemühens, noch nicht wilhelministischer Hybris.

Wer war nun der Fabrikant Johannes Kühl? Der verdienstvolle Stadtsuperintendent Hans Werner Dannowski (1933-2016) berichtete nach Gesprächen mit dessen Nachfahren, dass dieser 1852 in Burg auf der Ostseeinsel Fehmarn geboren wurde, dann in Lübeck eine Kaufmannslehre absolvierte. Er gründete eine Familie, drei Kinder wurden geboren, seine Frau starb jedoch im Kindbett (Hans Werner Dannowski, Hannover – weit von nah, Hannover 2002, 172). 1876 übernahm er die Firma Kellinghusen & Kühl in Bergedorf, die er unmittelbar nach der Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik auflöste (Deutscher Reichsanzeiger 1876, Nr. 130 v. 3. Juni, 6; ebd. 1880, Nr. 152 v. 1. Juli, 9). Hannover, 1880 eine Großstadt mit 120.000 Einwohnern, war für ihn Chance und Herausforderung zugleich. Das Hannoveraner Adreßbuch verzeichnete für 1880 weder einen Johannes Kühl noch eine in der Glockseestraße 7A gelegene Dampfbrotbäckerei (Adreßbuch Hannover 1880, T. I, 158, 350, 354, 482). Das legt nahe, dass er die von 1881 bis 1883 erwähnte „Dampf-Brod-Bäckerei“ neben der ebenfalls ab 1881 vermerkten „Deutschen Hundekuchen-Fabrik“ betrieb (Ebd. 1881, T. I, 357; ebd. 1882, T. I, 362; ebd. 1883, T. I, 367). Die Fabrik lag im Parterre, der Unternehmer lebte als Mieter in dem eingeschossigen Haus (Ebd. 1882, T. I, 158).

Johannes Kühl heiratete am 22. Dezember 1883 in einer Ziviltrauung Anna Elise Henriette Schmidt (Evangelisches Kirchenbuchamt Hannover, Film Nr. 185137, Nr. 86, 662-663) und kaufte dann, wohl im Januar 1884, das Anwesen Füsilierstraße 30 (Amtsblatt für Hannover 1886, St. 6 v. 8. Februar, 208). Dieses lag nahe am damaligen Güterbahnhof. Der Hauskauf dürfte Folge einer erfolgreichen Geschäftstätigkeit sein. Familie Kühl wohnte in dem dreistöckigen Haus in bürgerlich-mittelständischem Umfeld im Parterre mit sieben weiteren Parteien (Adreßbuch Hannover, 1884, T. I, 157). Zugleich wurde der Sitz der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und der Dampf-Brod-Bäckerei in die Füsilierstraße verlegt, die Produktionskapazität zugleich vergrößert (Ebd. 1884, T. I, 374).

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Idealisierte Darstellung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in der Füsilierstraße 30 (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132)

Die bauliche Struktur der Hundekuchenfabrik und der weiterhin annotierten „Cakes- u. Bisquitfabrik“ ist unklar, ein Hinterhofausbau wahrscheinlich. Johannes Kühl lebte 1888 weiterhin im Parterre, gemeinsam mit sechs weiteren Hausparteien (Adreßbuch Hannover 1888, T. I, 171). Im Hinterhof war zudem die Großhandlung Wisser & Co. angesiedelt, die auch Spratt’s Hundekuchen vertrieb. Die Firma besaß eine damals noch nicht übliche Fernsprechleitung (Ebd. 1888, T. I, 414). Nach dem Verkauf der Firma im Jahre 1889 an Spratt’s Generalbevollmächtigten Erwin Stahlecker änderte sich am Firmensitz erst einmal nichts (Ebd. 1889, T. I, 158, 412). Johannes Kühl zog allerdings in eine neue Wohnung, erst in die Herschelstr. 33, im Folgejahr dann in die Höltystr. 11 (Ebd. 1889, T. I, 535; ebd. 1890, T. I, 548). Er firmiert nun als Grubenbesitzer resp. als Kiesgrubenbesitzer (Ebd. 1892, T. I, 604). Kühl zog anschließend in eine repräsentative Unternehmensvilla in die Kolonie Kühlshausen des Villenviertels Kirchrode. Er machte eine erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann, u.a. im Aufsichtsrat der 1899 gegründeten Hannoverschen Landesbank oder als Mitgründer der Hannoverschen Terraingesellschaft AG (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 20 v. 23. Januar, 15; ebd. 1901, Nr. 239 v. 8. Oktober, 10).

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen als standardisiertes wissenschaftliches Produkt

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen war ein wissenschaftlich kontrolliertes und standardisiertes Futtermittel. Es war möglich durch einen neuen Referenzrahmen, dem von der modernen organischen Chemie entwickelten Lebensmodell eines allgemeinen Stoffwechsels. Dieses veränderte nicht nur die Landwirtschaft, in der gezielte Stoffsubstitution mit mineralischen Düngemitteln zunehmend höhere Erträge ermöglichte. Davon profitierte die gewerbliche Herstellung von Nahrungsmitteln und eine von den stofflichen Erfordernissen ausgehende Ernährung der Menschen. Und dies veränderte auch die Ernährung von Nutz- und Haustieren: „Die Aufgabe lief also darauf hinaus, die eigentlichen Nährstoffe in dem Futter zu ermitteln und die Rolle festzustellen, welche sie in der Verdauung, im Stoffwechsel, in der Ernährung zu übernehmen haben“ (H[ermann] Settegast, Die landwirthschaftliche Fütterungslehre, Breslau 1872, 12). Hundekuchen waren nicht irgendein Futtermittel, sondern dienten dem „Ersatz der durch die Lebensverrichtungen umgesetzten Körperbestandtheile des Thieres“ (Martin Wilkens, Der gegenwärtige Stand der Fütterungslehre, in: Ders., Beiträge zur landwirthschaftlichen Thierzucht, Leipzig 1871, 153-174, hier 160).

Das neue Futtermittel war ein Kompaktnährmittel, das durch das Verbacken von Getreide, Gemüse und Fleischresten als Dauernahrung diente und zugleich die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Hunde garantierte. Die Fabrikanten zielten auf ein stofflich ausgewogenes Produkt, das zugleich aber relativ preiswert war. Dazu diente ein globaler Rohwareneinkauf. Weizen (und Mais) wurden zumeist aus Kanada, den USA und Russland importiert, preiswertere Getreide wie Gerste, Hafer oder Roggen stammten vielfach aus heimischem Anbau; ebenso die eingebackenen Gemüse, etwa Rüben oder Möhren. Importiert wurde meist auch der für den Eiweiß- und Fettgehalt zentrale Fleischanteil. Er stammte aus Fleischabfällen, etwa der südamerikanischen Fleischextraktproduktion in Uruguay und Argentinien oder den Schlachtereien in Cincinnati oder Chicago. Hundekuchen waren ein globales Produkt, das je nach Rohware recht unterschiedlich zusammengesetzt sein konnte.

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Stickstoff und Eiweiß: Fleischmehle als Dünger und als Futtermittel (Gladbacher Volkszeitung 1873, Nr. 96 v. 30. August, 4)

Hundekuchen hatten zahlreiche Vorläufer im Felde gewerblich hergestellter Lebensmittel. Fleischmehl und Fleischzwiebäcke wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder als Kraftspeise und Konserve für Soldaten, Reisende und Arme propagiert. Sie scheiterten zumeist an fehlendem Nährwert bzw. begrenzter Haltbarkeit. Das galt auch für bis heute bekannte Klassiker dieser Zeit, etwa des Fleischextraktes, der Erbswurst oder des Fleischpulvers Carne pura. Mangelnde Kenntnisse der Stoffzersetzung und fehlende Würzung mündeten regelmäßig in einseitigem und schlechtem Geschmack. Menschen konnte sich dem verweigern, kaum aber Tiere. Hunde würden schon fressen, sei es mangels Futteralternative, sei es nach einer gewissen Gewöhnung. Die Durchsetzung des Hundekuchens war ein Erfolg stofflichen Denkens, war Teil einer wesentlich breiter gedachten Rationalisierung der modernen Welt. Sicherheitstechniken wie die Trichinenbeschau, die Nahrungsmittelkontrolle oder der Schlachthofzwang machten das Alltagsleben berechenbarer – der Central-Schlacht- und Vieh-Hof in Hannover wurde 1879 eröffnet (Centralblatt der Bauverwaltung 1, 1881, 290-291). Auch Hunde profitierten davon.

In Hannover wurde das neue stoffliche Denken nicht zuletzt von den Mitgliedern der Kgl. Tierarzneischule getragen, die 1887 zur tierärztlichen Hochschule aufstieg (Eindrücke, aber nicht mehr, liefert Wolfgang von Engelhardt und Gerhard Breves, Die Physiologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover seit der Gründung 1778, Hannover und Gießen 2011). In Versammlungen des „Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“ waren Vorträge von Mitgliedern des Lehrkörpers, etwa des Regimentspferdearztes und Lehrbeauftragen Paul Brücher (1826-1908) oder des Direktors Karl Günther (1822-1896) stete Programmpunkte (Hannoverscher Courier 1878, Nr. 9465 v. 8. Dezember, 2 (l.); ebd. 1880, Nr. 10262 v. 4. April, 6). Letzterer gehörte, zusammen mit seinem Nachfolger Karl Dammann (1839-1914), der Kontrollkommission des Vereins an, die neben der Analyse der Rohware und des fertigen Hundekuchens auch „zweckmäßige Verbesserungen durch Versuche“ (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4) ermöglichen sollte.

Mit den Hundekuchenuntersuchungen betraut wurde Carl Arnold (1853-1929), der nach dem Studium der Pharmazie, Physik und Chemie in München, Tübingen und Heidelberg ab 1880 als Repitor an der Tierarzneischule begann und dort 1890 zum Professor für Chemie reüssierte. Sein schon vor der Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik erstellter erster Bericht machte die Zusammensetzung der Deutschen Vereins-Hundekuchen publik: „Die Kuchen werden aus Fleischmehl, Roggenmehl, Weizenkleie, etwas Kochsalz und reinem basischen Calciumphosphat dargestellt.“ Die maschinelle Mischung führte zu einem gleichmäßig zusammengesetzten Produkt, „so dass jede Abweichung von der vom Verein genehmigten Rezeptur auffallen musste.“ Zugleich verglich Arnold dessen stoffliche Zusammensetzung mit denen der Sprattschen Hundekuchen und kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis: „Die Kuchen werden von den Thieren mit grosser Begierde angenommen, und sind durch ihren höheren Phosphorsäure- und Stickstoffgehalt dem englischen Fabrikate entschieden vorzuziehen“ (beide Zitate n. C[arl] Arnold, Vergleichende Untersuchungen deutscher und englischer Hundekuchen, Jahresbericht der Königlichen Thierarzneischule zu Hannover 13, 1879/80, Hannover 1881, 27-28, hier 27). Dieses Resultat fand seinen Weg in die wissenschaftliche Literatur, vor allem aber in die Fachpresse (Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 1, 1881, 79). In der Generalversammlung des Hannoverschen Vereins wurde dagegen allein der höhere Nährwert des eigenen Produktes hervorgehoben (Hannoverscher Courier 1881, Nr. 10812 v. 26. Februar, 3; Hamburgischer Correspondent 1881, Nr. 58 v. 26. Februar, 3). Öffentlich betonte der Verein sogar nur, dass die Hannoveraner Hundekuchen „mit den besten auf gleicher Stufe“ ständen (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4). In der Werbung tönte Kühl dagegen von dem „gesundestes Hundefutter“ (Kladderadatsch 33, 1880, Nr. 38/39, 3).

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Wissenschaftliche Analysedaten mit begrenztem Aussagewert (Chemisch-technisches Repertorium 23, 1884, 147)

Weitere vergleichende Analysen folgten und wurden von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik irreführend verdichtet, betonte sie doch, dass ihre Produkte einen 20-25 Prozent höheren Nährwert wie die Konkurrenzprodukte besäßen und sie das beste „Futter zur ausschließlichen Ernährung der Hunde“ seien (Hannoverscher Courier 1885, Nr. 13697 v. 25. November, 6). „Wissenschaft“ wurde dadurch zum Argument im Kampf um den Käufer, Wissenschaftler zu Zuträgern des Güterabsatzes. Carl Arnold sollte 1894 zum Kontrolleur von Spratt’s aufsteigen und in den Folgejahren zur Gewährsperson für die vermeintlich überlegene Qualität der einst von ihm selbst verfemten englischen Hundekuchen.

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Vermeintlich höherer Nährwert als Verkaufsargument (Hannoverscher Courier 1886, Nr. 13780 v. 15. Januar, 4)

Wirtschaftlicher Flankenschutz durch Schutzzölle

Das seit den späten 1870er Jahre beträchtliche Wachstum der deutschen Hundekuchenproduzenten war allerdings nicht allein auf die immer wieder mit nationalem Pathos verbundenen Aktivitäten der deutschen Hundevereine und der wissenschaftlichen Förderung des Kompaktfutters zurückzuführen. Es war vielmehr auch Folge der vielbeschworenen zweiten Reichsgründung 1879/80, also der konservativen Wende in der deutschen Innenpolitik und dem Übergang zum Schutzzoll. Der junge deutsche Staat geriet damals durch billige Agrarimporte aus den USA und Russland unter Druck. Die teils deutlich höheren Zölle sollten vorrangig die ostelbische Agrarwirtschaft schützen, hinzu kam der Schutz (noch) nicht wettbewerbsfähiger Industriebranchen, zumal der Schwer- und der Textilindustrie.

Hundekuchen konnte von den englischen Anbietern bis Ende 1879 kostenlos ins Deutsche Reich eingeführt werden. Seit dem 1. Januar 1880 wurden sie im Zolltarif dann als „gewöhnliches Backwerk“ eingruppiert, so dass pro Zentner eine Mark Zoll anfiel. Im Mai 1880 aber versechsfachte sich dieser Wert, lag nun bei 6 Mark pro Zentner (Kölnische Zeitung 1880, Nr. 150 v. 31. Mai, 5). Hundekuchen wurde nicht mehr länger als Backwerk, sondern als Fleischware eingruppiert; oder, wie Spötter meinten, als „‚feine Fleischwaaren‘, und nicht vielmehr als ‚Conditorwaaren‘“ (Kladderadatsch 35, 1882, 107). Die Behörden waren sich zwar bewusst, dass die Kuchen vorrangig aus Mehl bestanden, doch erschienen ihnen die „beigemischten Fleischfasern“ ein weder nach der Menge, noch dem Verwendungszweck „unwesentlicher Bestandtheil“ des Futterkomprimats zu sein (Central-Blatt der Abgaben, Gewerbe- und Handels-Gesetzgebung und Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 1880, 252). Spratt’s Eingabe an den Bundestag „betr. die Zollbefreiung von Fleischfaser-Hundekuchen (§. 512 der Protokolle von 1880)“ wurde abschlägig beschieden. Damit besaßen die deutschen Anbieter einen 30%igen Preisvorteil gegenüber den leistungsfähigeren englischen Betrieben, die mit einem weit größeren Maschinenpark preiswerter arbeiteten. Ludwig Bamberger (1823-1899), liberaler Oppositionsführer und Bankier, ordnete all dies unter dem Dachbegriff Zollkuriosa ein, war der verwaltungstechnische Aufwand für eine angemessene Eingruppierung verarbeiteter Produkte doch beträchtlich. Zugleich aber schien ihm damit die Einfuhr englischen Hundekuchens unmöglich gemacht worden (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 131 v. 11. Mai, Außerordentl. Beil, 3).

14_Adressbuch aller Länder der Erde der Kaufleute_Bd7a_Westfalen_Ausg9_1884-1886_Nürnberg_sa_pI_Großhandlung_Homberg_Barmen_Hundekuchen_Spratt_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Preisnachteil durch Zollbelastung: Spratt’s versus Deutscher Vereins-Hundekuchen (Adressbuch der Kaufleute aller Länder Erde, Bd. 7a: Westfalen, Ausg. 9, 1884-86, Nürnberg s.a., I)

Bundesrat, Reichstag und Reichskanzler befassten sich mit der Affäre, war eine weitere Petition des Sprattschen Repräsentanten in Berlin doch gut begründet: Der Vorsitzende des Berliner Hundevereins „Hektor“ bezeichnete die Kuchen als „für Menschen ganz ungenießbar“, während ein chemisches Gutachten feststellte, dass „die Hundekuchen lediglich aus dem Mehle von Cerealien und Fragmenten von Leguminosen unter Zusatz von 3 Prozent Fleischfasern (Fleischabfällen, Leimbildnern, Flechsen, Sehnen etc., d.h. solchen Stoffen, die als Nahrungsmittel für Menschen nicht verwendbar sind) hergestellt seien“ (Sammlung sämmtlicher Drucksachen des Deutschen Reichstags, 5. Leg., Sess. II, Berlin 1882/83, Bd. I, Berlin 1883, Nr. 70, 1). Der Reichstag befürwortete eine zollmindernde Eingruppierung als Backwerk, doch der Bundesrat entschied negativ (Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 68 v. 21. März, 5; Amtliches Waarenverzeichniß zum Zolltarife, Berlin 1888, 162). Spratt’s zog sich allerdings nicht vom deutschen Markt zurück, sondern lieferte weiterhin mit deutlich verminderten Gewinnspannen und höheren Preisen. 1884 kosteten 50 Kg im Rheinland 23 M, während für den Deutsche Vereins-Hundekuchen dort nur 20,50 M zu zahlen waren (Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins für Rheinpreußen 52, 1884, 39). Schon vorher betonte man in Hannover offensiv, dass der Deutsche Vereins-Hundekuchen englischen Fabrikaten „entschieden vorzuziehen sei […], da durch den neuerdings erfolgten Einfuhrzoll die englischen Kuchen im Preise höher stehen wie die deutschen“ (Arnold, 1881; Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 2, 1882, 79). Doch 1885 errichtete die multinationale englische Firma eine neue Produktionsstätte in Berlin. Ohne die Zollbelastung pendelte sich der Preis anschließend auf ca. 18,50 Mark pro Zentner ein. Das setzte auch für die deutschen Anbieter einen neuen, niedrigeren Richtpreis – bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges.

Aufbau eines leistungsfähigen Vertriebsnetzes

Wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Flankenschutz beförderte den offenkundigen, leider aber nicht zu quantifizierenden Erfolg der Deutschen Hundekuchen-Fabrik. Doch die rasche Etablierung eines leistungsfähigen Vertriebsnetzes war eine bemerkenswerte Eigenleistung. Johannes Kühl gelang es binnen weniger Jahre, den Deutschen Vereins-Hundekuchen zu einer reichsweit präsenten Marke zu machen, ihn gar über die Grenzen des Reiches hinaus zu vermarkten. Das galt nicht zuletzt im Vergleich zu den deutschen Wettbewerbern: Caesar & Minka blieben auf die Nische der Hundezüchter beschränkt, die Gebrüder Herbst und Krietsch dürften trotz reichsweiter Werbung vornehmlich Regionalanbieter in Mittel- und Ostdeutschland geblieben sein. Einzig die 1883 von Julius Kayser in Tempelhof gegründete Berliner Hundekuchen-Fabrik konnte mittels zahlloser kleiner Anzeigen in Zeitungen und vor allem Zeitschriften eine ähnliche Präsenz erreichen wie die Hannoveraner Fabrik. Deren Vertriebsnetz gründete auf vier verschiedenen Säulen.

Erstens nutzte Kühl mit dem etablierten Großhandel die damals gängigste Form des Güterabsatzes. Leistungsfähige Handelsfirmen wurden vertraglich an die Hundekuchenfabrik gebunden, bezogen deren Produkte direkt aus Hannover, verkauften sie dann an Händler und auch Einzelkunden. Hundekuchen wurden zwar auch in kleineren Mengen an einzelne Hundehalter verkauft, jedoch blieb der Absatz von größeren Abnehmern geprägt: Hundezüchter, Pikeure, Heeres- und Polizeivertreter kauften das mehrere Monate haltbare Produkt nicht nur in den gängigen Zentnersäcken, sondern vielfach in weit größeren Mengen. Neben Hannover besaß die Deutsche Hundekuchen-Fabrik Mitte der 1880er Jahre einschlägige Depots in Berlin, Frankfurt a.M., Hamburg, Köln, Leipzig (Duisburger Tageblatt 1886, Nr. 195 v. 24. August, 3). Kühl vergab zudem Verkaufsrechte an dezentrale Niederlagen, die meist in Groß- und Mittelstädten residierten. Dabei handelte es sich häufig um kombinierte Groß- und Einzelhandelsgeschäfte, meist aus dem Futtermittelsektor. Sie erhielten ihre Ware mit dem üblichen Händlerrabatt von den Depots. Festzuhalten ist, dass Hundekuchen preisgebundene Artikel waren. Dies bedeutete gesicherte Margen, gab aber auch Spielraum für Mengenrabatte.

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Annoncierung des Alleinverkaufs der Bielefelder Niederlage (Bielefelder Tageblatt 1882, Nr. 303 v. 28. Dezember, 4)

Präsenz vor Ort war nicht zuletzt für die wachsende Zahl der Halter von „Luxushunden“ wichtig, denn Haustiere oder studentische Renommierhunde erforderten nur kleine Mengen, zumal Hundekuchen in diesem Falle eher Beifutter waren. Solche Kundennähe wurde eigens beworben: „Obige deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl in Hannover hat schon in größeren Städten Niederlagen errichtet, ebenso in Halle beim Kaufmann Herrn Julius Kegel“ (Saale-Zeitung 1880, Nr. 209 v. 7. September, 10). Gleichwohl hatte der Vertrieb über die ständische Kette Produzent-Großhändler-Einzelhändler einen gravierenden Nachteil. Großhändler vertraten meist Hundekuchen verschiedener Firmen. Einer produktspezifischen Werbung allein für die Deutschen Vereins-Hundekuchen und daran anschließende Markenbindung wurden so erschwert. Da Hundekuchen trotz der frühzeitigen Markenbildung grundsätzlich ein homogenes, einfach zu substituierendes Produkt waren, kam es zudem zu relativ häufigen Wechseln bei Großhändlern und Niederlagen (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1884, Nr. 131 v. 10. Mai, 6).

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Produktdominanz, keine Exklusivvertretungen (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 144 v. 26. Mai, 4)

Zweitens nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik von Beginn an auch lokale Fachgeschäfte. Hundekuchen waren ein neuartiges Produkt, das noch nicht eindeutig von bestimmten Fachgeschäften bezogen wurde – wie etwa Fleisch vom Metzger oder Charcutier. Hundekuchen war sowohl in Tier- und Futterhandlungen, in zoologischen und Mehlhandlungen als auch in Drogerien und Gemischtwarenhandlungen zu kaufen. Die Unsicherheit über das Sortiment bewirkte eine überdurchschnittliche Werbeaktivität durch Einzelhändler vor Ort – wobei dann die Marke im Mittelpunkt stand.

17_Leipziger Tageblatt_1880_07_27_Nr234_p4452_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover

Absatz per Drogerie in Leipzig (Leipziger Tageblatt 1880, Nr. 234 v. 27. Juli, 4452)

Ladengeschäfte dieser Art verankerten Hundekuchen lokal, popularisierten insbesondere deren Kauf in Städten. Im Gegensatz zum institutionellen Großabsatz war der Vertriebsaufwand jedoch höher, zumal die Verpackungsfrage anfangs kaum gelöst war. Die Ladeninhaber kauften gemeinhin Zentnersäcke und verkauften die Hundekuchen dann lose nach Gewicht, staffelten den Preis dabei nach der Verkaufsmenge. Dadurch wurden Hundekuchen für den städtischen Einzelkonsumenten nochmals teurer; und es verwundert daher kaum, dass in den Haushalten traditionelles, im Haus gekochtes Hundefutter bis weit ins 20. Jahrhundert dominierte. Die kleinteilige Struktur des Ladenabsatzes unterstützte daher grundsätzlich regionale Anbieter – die typisch waren für die deutschen Konsumgütermärkte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie konnten, auch über Vertreter, in engerem Kontakt zu den vielgestaltigen Händlern stehen.

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Händlerwerbung in Stuttgart und Heidelberg (Neues Tagblatt 1883, Nr. 144 v. 24. Juni, 5 (l.); Heidelberger Anzeiger 1883, Nr. 228 v. 29. September, 2)

Drittens bildeten Hundevereine und Hundeausstellungen einen wichtigen Bestandteil des Vertriebs für Hundekuchen und die Entwicklung der Märkte für Hundeartikel, inklusive Tiermedizin. Ähnlich wie das Wachstum der Konfektionswarenbranche durch den Vergleich der Kleidung bei geselligen Ereignissen, in der Oper oder auf Bällen institutionell gefördert wurde, etablierte die noch sportliche Wettbewerbssituation der Hundeausstellungen eine neuartige Ästhetisierung, wie man sie von Tier- oder Landwirtschaftsausstellungen so nicht kannte: „Die Ausstellung soll nämlich zunächst dem Kenner und Interessenten nach dieser oder jener Richtung hin zeigen, was durch rationelle Zucht und Pflege erreicht werden kann, bezw. erreicht worden ist; […]. Die zweite Aufgabe, der für den Augenblick noch eine erhöhte Bedeutung beigelegt werden muß, besteht darin, den Sinn des Publicums für schöne Gestalten , edle Formen und intelligente Köpfe zu stärken, seinen Geist mit Bildern und zu erstrebenden Zielen zu füllen und es so indirect zu einem treibenden Momente auf der Bahn des Fortschritts und der Vervollkommnung machen“ (Berliner Börsen-Zeitung 1880, Nr. 255 v. 24. Mai, 2). Hundekuchen waren ein wichtiges Formmittel, galt doch, dass der Hund ist, was er frisst.

Hundeausstellungen waren und blieben die Domäne von Spratt’s. Doch auch die Deutsche Hundekuchen-Fabrik wurde aktiv. Blicken wir etwa ins niederrheinische Kleve: Auch „auf die rationelle Ernährung des Hundes ist man bedacht und in der Dianahalle finden wir Fleischfuttermehl, vorzugsweise aber Hundekuchen, sowohl englisches wie deutsches Fabrikat. Kühl-Hannover hat ein Postament aus Hundekuchen, einem festen braunen Gebäck in kleinen Täfelchen zum Preise von M. 37 pro 100 Kg., errichtet und einen ausgestopften Hund darauf gestellt“ (Die Clever Jagd-Ausstellung, Rhein- und Ruhrzeitung 1881, Nr. 229 v. 1. Oktober, 1-2, hier 1). Entsprechende Präsenz gab es natürlich insbesondere im lokalen Markt, denn in Hannover fand 1882 eine zweite Ausstellung des Hannoverschen Vereins statt (Hannoverscher Courier 1883, Nr. 11945 v. 9. Januar, 3). Sie ermöglichte Kühl den direkten Kontakt mit Großkunden, die entweder direkte Lieferverträge abschlossen oder aber später in den Depots oder Niederlagen orderten.

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Verweis auf das Versandgeschäft (Westfälisches Volksblatt 1883, Nr. 266 v. 3. Oktober, 4)

Viertens schließlich entwickelte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik – wie fast alle ihre Konkurrenten – ein umfangreiches, auf Markenartikelwerbung gründendes Versandgeschäft. Der Versandhandel war Folge umfassender Postreformen Anfang der 1870er Jahre (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft, München 1999, 296-298). Insbesondere die seit 1875 breit eingeführte Nachnahme ermöglichte neue reichsweite Absatzchancen für standardisierte Konsumgüter. Eine Postkarte genügte, dann wurde der Hundekuchen sowohl in größeren Mengen als auch in der von Beginn an offerierten 5-Kilogramm-Probepackung versandt. Die Post lieferte derartige Kleinpakete für 50 Pfg. Porto in alle Orte des Deutschen Reiches.

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Probepackung per Nachnahme – für nur zwei Mark (Kölnische Zeitung 1880, Nr. 181 v. 1. Juli, 8)

Die hohe Bedeutung des Versandgeschäftes hatte für die Produzenten aber auch Nachteile. Es gab grundsätzlich keine gesicherten lokalen Märkte mehr, denn mittels Werbung konnten auch andere Hundefutteranbieter ihre Produkte anbieten. In Hannover betraf das etwa Liebigs Fleischfuttermehl, das ab spätestens 1881 von den Gebrüdern Herbst in Magdeburg angeboten wurde, ab 1883 auch von Paul Rosendorf aus Stolzenau a.d. Weser (Hannoverscher Courier 1883, Nr. 12412 v. 13. Oktober, 8). Der Kunde war umkämpft, erforderte stete Anstrengungen.

Vertrieb Deutscher Vereins-Hundekuchen im Ausland

Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik konzentrierte ihre Absatzbemühungen vorrangig auf das Deutsche Reich. Gleichwohl exportierte sie ihre Produkte zumindest auch in die Schweiz und in das cisleithanische Österreich. Das Vertriebsnetz wurde ab spätestens 1882 durch Depots in Wien und später in Zürich ergänzt. Dies war auch Folge der beiden am 23. Mai 1881 abgeschlossenen Handelsverträge zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn einerseits, der Schweiz anderseits. Ersterer beseitigte fast alle Einfuhr-, Ausfuhr- oder Durchfuhrverbote. Mit der Schweiz wurde ein Meistbegünstigungsvertrag abgeschlossen, so dass (mit etwas mehr Restriktionen) der Export von deutschen Hundekuchen aus Hannover zollfrei erfolgen konnte. Fracht- und Nachnahmegebühren lagen aber höher.

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Versandgeschäft nach Österreich-Ungarn (Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 2, 1882, 16)

Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik konzentrierte sich anfangs vor allem auf Werbung in der sich in der K.u.K.-Monarchie damals rasch entwickelnden Fachpresse. Vertrauenswerbung dominierte, entsprechend wichtig waren Verweise auf das Kontrollregimes des „Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“. Kühl zielte damit auf den Absatz größerer Mengen, denn grenzüberschreitender Versandhandel von kleineren Probepakten war deutlich teurer. Neben dem üblichen Zentner-Sack bot er gegen moderaten Rabatt auch eine halbe resp. ganze Tonne Hundekuchen an (Oesterreichische Forst-Zeitung 1, 1883, 14).

22_Das Vaterland_1884_11_15_Nr315_p12_Oesterreichische Forst-Zeitung_02_1884_p298_Hundekuchen_Deutsche-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl

Niederlage in Wien (Das Vaterland 1884, Nr. 315 v. 15. November, 12 (l.); Oesterreichische Forst-Zeitung 2, 1884, 298)

Das änderte sich 1884 mit der Vertriebsübernahme durch eine Hauptniederlage in Wien. Nun konnte man die Deutschen Hundekuchen auch per Kilo kaufen, auch 5-Kilo-Pakete wurden angeboten (Neue Freie Presse 1885, Nr. 7538 v. 24. August, 8). Angesichts der dort elaborierteren Werbung nutzte der Wiener Repräsentant vielfach visuelle Elemente, meist Hundebilder (Allgemeine Sport-Zeitung 5, 1884, 968). Die Anzeigen erläuterten das Produkt nicht, denn auch in Österreich hatte Spratt’s das Produkt schon früher eingeführt (Spratt’s Patent Fleischfaserkuchen, Illustrirte Sport-Zeitung 2, 1879, 182-183; F. Konhäuser, Futterkuchen für Hunde, Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 30, 1880, 81).

Auch in Österreich-Ungarn nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik Hundeausstellungen zur Markterschließung. Im böhmischen Badeort Teplitz-Schönau übernahm sie die werbeträchtige Fütterung der Tiere (Teplitz-Schönauer Anzeiger 1884, Nr. 65 v. 23. August, 3). Johannes Kühl präsentierte jedoch nicht allein seinen mit dem 1. Preis ausgezeichneten Hundekuchen, sondern auch seinen eigenen Bernhardiner (Die internationale Hunde-Ausstellung zu Teplitz in Böhmen, Allgemeine Sport-Zeitung 1884, 808-809, hier 809). Auch in Wien wurden die Deutschen Hundekuchen 1884 und 1885 prämiert. Gleichwohl endeten die Exportbemühungen im cisleithanischen Österreich kurz danach. Das lag wahrscheinlich an der dort insgesamt größeren Zurückhaltung gegenüber dem neuen Kompaktfutter. Österreichische Markenanbieter gab es kaum, die 1888 aus dem Zuchtgeschäft entstandene „Erste Oesterreichische Hundekuchen- und Geflügelfutter-Fabrik“ von Wilhelm Nitsche im östlich von Aussig gelegenen Großpriesen blieb von geringer Bedeutung. Erst die seit 1893 in enger Abstimmung mit Spratt’s in Wien produzierten „Patent-Fleischfaser-Hundekuchen“ der neu gegründeten Firma Fattinger etablierten einen starken österreichischen Markenartikel.

23_Zuercherische Freitagszeitung_1883_07_06_Nr27_p4_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover

Marktpräsenz auch in der Schweiz (Züricherische Freitagszeitung 1883, Nr. 27 v. 6. Juli, 4)

Noch geringere Bedeutung hatte der zeitweilige Vertrieb der Deutschen Hundekuchen in der Schweiz. Die Hundeausstellung in Zürich 1882 stand am Beginn intensivierter Exportbemühungen. 1883 etablierte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik dort ein Generaldepot, das in der deutschsprachigen Schweiz die Werbetrommel rührte (Der Bund 1883, Nr. 180 v. 2. Juli, 4).

24_Die Ostschweiz_1884_03_07_Nr56_p3_Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover

Etablierung von lokalen Niederlagen in der Schweiz (Die Ostschweiz 1884, Nr. 56 v. 7. März, 3)

Obwohl es dem Kühlschen Repräsentanten gelang, weitere Niederlagen einzurichten, endeten die Werbebemühungen wahrscheinlich Ende 1884 (Zürcherische Freitagszeitung 1884, Nr. 8 v. 22. Februar, 4). Der in der Schweiz enge Markt für Hundefutter konnte neben Spratt’s kaum weitere Anbieter nähren. Einheimische Marken, wie etwa die Ende der 1880er Jahre zeitweilig aufkommenden „Basler Hundekuchen“, blieben ohne größere Bedeutung.

Werbung für Deutsche Vereins-Hundekuchen

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen wurde in den 1880er Jahren überraschend breit und mit einer überdurchschnittlichen Variationsbreite von Reklamemotiven beworben. Von einer einheitlichen Werbestrategie kann allerdings nicht die Rede sein, denn Werbeabteilungen etablierten sich in deutschen Unternehmen erst in den 1890er Jahren. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik warb bis 1886 vorrangig mit einfachen Textanzeigen, die das Produkt, die Firma, den Preis und lobende Worte über den Deutschen Vereins-Hundekuchen enthielten. Auch Verweise auf den Hannoveraner Hundezuchtverein finden sich regelmäßig in den Anzeigen. Im Mittelpunkt stand das Produkt – und beworben wurden allein Hundekuchen.

25_Gummersbacher Zeitung_1880_09_14_Nr108_p4_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover

Zugelieferter Werbetext für einen Einzelhändler (Gummersbacher Zeitung 1880, Nr. 108 v. 14. September, 4)

Johannes Kühl warb vorrangig unter eigenem Namen und auf eigene Rechnung: Derartige Markenartikelwerbung diente dem Einkauf per Versand. Seine Werbetexte wurden jedoch auch von vielen Großhändlern genutzt, die einzig ihren Namen ergänzten, um Hundekuchen so direkt zu verkaufen. Überraschenderweise nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik das anfangs offensiv präsentierte Bild des perforierten und gestempelten Produktes nur noch selten – die Nähe zur Werbung von Spratt’s war wohl zu groß. Als Klischee, als Werbevorlage für Großhändler, wurde es jedoch weiterhin verwandt.

26_Hamburger Fremdenblatt_1884_11_16_Nr270_p16_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Bildliche Werbung für ein etabliertes und zollgeschütztes Produkt (Hamburger Fremdenblatt 1884, Nr. 270 v. 16. November, 16)

Redaktionelle Werbung findet sich nur selten. Die abseits des eigentlichen Reklameteils erscheinenden „Zusendungen“ priesen über Gebühr, starteten beim Wohl der Tieren, endeten bei kaum haltbaren Werbestanzen für die Hundekuchen: „Man hat dieses reinliche Futter stets zur Hand; es kann trocken, aufgeweicht und gekocht, in Verbindung mit Küchenabfällen und Ueberresten gefüttert werden. Alle Hunde fressen diese Kuchen mit Vorliebe und – was die Hauptsache ist – eine große Anzahl von Krankheiten wird mit dieser Fütterung entschieden vermieden. Die Engländer haben schon längst von diesem Fortschritt profitirt, aber die englischen Kuchen sind noch sehr theuer. Da ist unlängst auf Veranlassung des deutschen Hundevereins in Hannover eine deutsche Hundekuchen-Fabrik entstanden, in welcher die Fabrikation unter steter Kontrole vor sich geht“ (Saale-Zeitung 1880, Nr. 209 v. 7. September, 10). Wichtig bei derartigen Texten war die behauptete Erfahrung im Umgang mit Hunden: „Was mir an den Deutschen Vereins-Hundekuchen, gegenüber den bisher gefütterten Fabrikaten gefällt, das ist der Umstand, daß sie sich leicht mit der Hand zerbröckeln lassen, während man bei den sonstigen Fabrikaten das Messer und den Hammer tüchtig gebrauchen muß, um sie klein zu kriegen […], und diese Arbeit kann Einem die Fütterung des Hundes mit Kuchen sehr verleiden – und dann scheint mir, daß in den Kühl’schen Deutschen Vereins-Hundekuchen der Stickstoff, d.h. der wesentliche Bestandtheil aller thierischen Nahrung, in einem größeren Procentsatz enthalten sei, wie in den sonstigen Kuchen“ (Hermann Haché, Etwas über den Deutschen Vereins-Hundekuchen, Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 166). Mochte der Lobessermon derartiger Werbetexte auch frappieren, so knüpfte er doch immer auch ein Band zur praktischen Verwendung der Hundekuchen, hob deren Bequemlichkeit hervor, sprach von freudig fressenden Tieren, nutzte dabei auch vermeintlich wissenschaftliche Ergebnisse, lobte Bekömmlichkeit und Billigkeit der Deutschen Vereins-Hundekuchen (Hamburger Nachrichten 1884, Nr. 257 v. 28. Oktober, 11).

Anders als spätere Werbung dieser Art informierte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik allerdings nicht über die Zusammensetzung ihres Produktes, gewährte keinen näheren Einblick in die Produktion. Arbeitsunfälle, wie die vollständige Zermahlung der rechten Hand eines Arbeiters bei der Bestückung einer Teigwalze, blieben außen vor (Hannoverscher Courier 1885, Nr. 13582 v. 17. September, 2). Kühl nutzte auch den Umzug des Unternehmens von der Glocksee- in die Füsilierstraße 1884 nicht für Werbezwecke. Werbemittel gab es kaum, nur ein Futternapf ließe sich aufführen (Deutscher Reichsanzeiger 1886, Nr. 106 v. 5. Mai, 12). Neben den Anzeigen gab es Preiskurante und Werbezettel.

27_Leipziger Tageblatt_1886_09_12_Nr255_p5131_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover

Werbung mit Erfolg auf Hundeausstellungen (Leipziger Tageblatt 1886, Nr. 255 v. 12. September, 5131)

Widerhall fanden allerdings die Ehrungen auf den insgesamt nicht allzu zahlreichen von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik besuchten Hundeausstellungen (Heidelberger Anzeiger 1886, Nr. 142 v. 20. Juni, 2). Diese suggerierten eine hohe Qualität und eine gewisse Weltläufigkeit. Die gewonnen Medaillen zierten zwar Werbeblätter, blieben aber schon zahlenmäßig weit hinter denen vieler Wettbewerber zurück.

28_Neueste Nachrichten und Muenchner Anzeiger_1887_02_12_Nr043_p06_Hundefutter_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_Kuehl_Hannover

Deutsches Produkt, präsent auch im Ausland (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1887, Nr. 43 v. 12. Februar, 6)

Erst 1887 wandelte sich die Werbung. Sie wurde einerseits vielgestaltiger, integrierte zugleich wieder Bildelemente. Vorangegangen war seit 1885 eine deutlich höhere Taktung der Anzeigenfrequenz. Dies dürfte eine Antwort auf die Gründung von Spratt’s Patent (Germany) Limited in Berlin gewesen sein, mit der die Zollbelastungen des importierten englischen Hundekuchens beseitigt wurden.

29_General-Anzeiger Mannheim_1887_12_23_Nr303_Bl2_3_Westend-Zeitung_2_1887_Nr148_4_Augsburger Abendztg_1887_11_05_Nr305_p11_Hundekuchen_J-Kuehl

Irreführende Präsentation als größte und älteste Fabrik Deutschlands (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1887, Nr. 303 v. 23. Dezember, Bl. 2, 3 (l.o.); Westend-Zeitung 2, 1887, Nr. 148, 4 (l.u.); Augsburger Abendzeitung 1887, Nr. 305 v. 5. November, 11)

Die Werbung spiegelte seither den wachsenden Wettbewerbsdruck. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik setzte auf Superlative, faktisch auf die Irreführung des Publikums. Entgegen der eigenen Aussagen war sie weder die älteste noch die größte Fabrik Deutschlands; auch wenn präzise Daten zur Größe der damaligen Unternehmen fehlen. Auch die Aussage, dass der Deutsche Vereins-Hundekuchen „fast auf allen Ausstellungen mit ersten Preisen prämirt“ (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 192) und verfüttert worden sei, ist sachlich falsch.

30_Neue Jagd-Zeitung_01_1888_p132_Hundekuchen_Deutscher-Veriens-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Produktionsstaetten

Erweitertes Sortiment und (idealisierte) Betriebsstätte (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132)

Parallel veränderte sich 1888 das Angebot: Neben den bisher allein angebotenen Hundekuchen traten nun Hundekuchen für Puppies, also Welpen, fand sich billiger Hafermehlkuchen sowie mit Lebertran fortifizierter Hundekuchen für schwächliche und kranke Tiere. Zudem lieferte Kühl Geflügelfutter, Präriefleisch für Fasane, Fleischfaser-Fasanenfutter, Präriefleisch für Fische, Fleischfaser-Fischfutter sowie Taubenfutter (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132). Was aussieht wie eine massive Investition in das eigene Angebot spiegelt jedoch den wirtschaftlichen Niedergang der Hannoverschen Hundekuchenfabrik. Es scheint, dass sie seit 1888 nicht mehr selbstbestimmt produzierte, sondern schon vor dem Verkauf zu einem Lohnproduzenten der Spratt’s Patent (Germany) Ltd. abgesunken war.

31_Fliegende Blätter_088_1888_Nr2225_Beibl3_p3_Tierfutter_Hundefutter_Spratt_Carl-Bischoff_Gefluegelfutter_Knochenmehl

Das so ähnliche Sortiment der überlegenen englischen Konkurrenz (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2225, Beibl. 3, 3)

Zergen mit dem Marktführer Spratt’s Patent (Germany) Ltd.

Der relative Niedergang mag überraschend erscheinen, hatte sich spätestens 1887 jedoch deutlich abgezeichnet. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik war 1880 als Gegenentwurf zur Londoner Spratt‘s & Co. gegründet worden. Bis 1886 wurde die damit verbundene wirtschaftliche Rivalität einigermaßen fair ausgetragen – sieht man einmal von verfehlten „wissenschaftlichen“ Vergleichen ab. Im Großhandel wurden beide Hundekuchen teils parallel nebeneinander angeboten.

32_Koelnische Zeitung_1884_11_30_Nr333_p8_Bielefelder Zeitung_1886_09_02_Nr204_p4_Hundekuchen_Spratt_J-Kuehl

Gedeihlicher Absatz (Kölnische Zeitung 1884, Nr. 333 v. 30. November, 8 (l.); Bielefelder Zeitung 1886, Nr. 204 v. 2. September, 4)

Ab 1887 begann Johannes Kühl jedoch mit Täuschungsvorwürfen; auch weil er sich von Spratt’s seinerseits angegriffen fühlte, als diese in Annoncen vor „werthlosen Nachahmungen“ warnte. Auf Werbezetteln stichelte er gegen den Weltmarktführer: „Prämiirt wurde der Deutsche Vereins-Hundekuchen […] nicht etwa für Gratis-Fütterung auf Hunde- und Geflügel-Ausstellungen, womit sich eine englische Firma die grösste Zahl der goldenen Medaillen erwirbt, resp. erkauft, sondern für die Qualität der Waare.“ Neuerlich bemühte er die Kontrollkommission des Hannoverschen Hundezuchtvereins als Garantie, „dass demselben vor sämmtlichen Concurrenzprodukten der Vorzug zu geben ist“ (Werbefaltblatt Deutsche Hundekuchen-Fabrik 1887, Wikipedia.de). Damit legte er gewiss die Finger in die Wunde eines sich stetig schulterklopfenden und begünstigenden Oberschichtenmilieus, doch vergaß er dabei, dass er seine eigene wirtschaftliche Existenz just diesem Milieu verdankte. Spratt’s verwies damals auf „90 höchste Auszeichnungen“ (Kölnische Zeitung 1887, Nr. 29 v. 29. Januar, 4), die trotz berechtigter Skepsis gegenüber dem kommerzialisierten „Medaillenschwindel“ ein Beleg für eine gewisse Solidität dieser Hundekuchen war.

33_Hannoverscher Courier_1887_04_10_Nr14532_p06_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Patent

Attacke auf Spratt’s: Täuschungsvorwurf gegen den Marktführer (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14532 v. 10. April, 6)

Während Spratt’s schwieg, legte Johannes Kühl nach. In einer wiederholt geschalteten Anzeige verwies er nicht nur auf die Verfütterung des Deutschen Vereins-Hundekuchen auf der vom „Verein der Veredelung für die Veredlung der Hunderassen für Deutschland“ in Hannover 1887 organisierten Hundeausstellung. Er gab ferner öffentlich zu Protokoll: „Da es in Deutschland kein Patent für Hundekuchen giebt, so ist jedes Fabrikat, wenn ‚Patent‘ gezeichnet, eine Täuschung des Publikums.“ (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14547 v. 20. April, 4)

34_Hannoverscher Courier_1887_04_29_Nr14562_p08_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Spratt_Patent

Aggressives Einlenken mit nationalistischen Untertönen (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14562 v. 29. April, 8)

Dieses Mal reagierte Spratt’s Patent (Germany) Ltd.: Erwin Stahlecker, der Generalbevollmächtige der Firma, hob in einem an Kühl gerichteten Schreiben hervor, dass ein Eigenname keine Täuschung sein könne. Kühl solle in Zukunft solche Aussagen unterlassen, andernfalls werde man den eigenen Einfluss und das Firmenkapital nutzen, um dieser Bitte Nachdruck zu verleihen. Und süffisant legte er nach: „Ueberhaupt muss es mit demjenigen Fabrikanten wohl nicht allzu gut stehen, der durch derartige, von Jedermann für lächerlich gehaltene Annoncen nach Luft zu schnappen scheint.“ Zudem würden Spratt’s Hundekuchen selbst von den Vorstandsmitgliedern des Hannoverschen Hundezuchtvereins häufiger verfüttert als der Deutsche Vereins-Hundekuchen. Kühl veröffentlichte dieses Schreiben, versah es mit gekränkten Anmerkungen, verbat sich jede Kritik und verwies nochmals stolz auf den guten Ruf seines „Deutschen“ Erzeugnisses. Auch 1888 enthielten seine Anzeigen teils den Hinweis: „Jedes Zeichen ‚Patent‘ ist eine Täuschung“ (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 192). Zu diesem Zeitpunkt hatte Spratt’s jedoch in Hannover bereit die faktische Kontrolle übernommen, im Mai 1889 wurde dies auch öffentlich exekutiert.

Eine genaue Bewertung dieses Zergens zwischen der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und Spratt’s Patent (Germany) Ltd. ist angesichts der höchst lückenhaften Quellenlage kaum möglich. Kühl ließ Souveränität vermissen, fühlte sich durch wirtschaftlichen Wettbewerb in seiner Ehre bedroht und reagierte ähnlich wie zehntausende Mitglieder der damals massiv an Bedeutung gewinnenden Mittelstandsbewegung, etwa des von Hermann Schulze-Gifhorn geleiteten „Centralverbands deutscher Kaufleute und Gewerbetreibender“. Diese Mannen attackierten die kapitalistische Konkurrenz neuer Betriebsformen des Handels wie Konsumgenossenschaften, Filialbetriebe und Warenhäuser, forderten staatlichen Schutz durch Steuern und Verbote. Hetze und Verleumdung, Fehlinformationen und kruder Antisemitismus schienen ihnen berechtigt, um den Mittelstand gegen das Großkapital zu stützen, um die Grundfesten der Monarchie und des Deutschtums zu bewahren. Kühl war einer von vielen, die sich als Modernisierungsverlierer verstanden, obwohl sie in den folgenden Wachstumsphasen zu den Gewinnern gehören sollten.

Nachzutragen gilt jedoch, dass Kühls Patent-Rückfragen in veränderter Form auch vor Gericht ausgefochten wurden. Spratt’s hatte in Anzeigen seine Hundekuchen nämlich als „patentirte“ Produkte bezeichnet. Das mochte für Großbritannien zutreffen: James Spratt erhielt im November 1861 ein Patent für sein „Meat Fibrine Dog Cakes“, weitere Patente datierten von 1868 und 1881 (Maurice Baren, How Household Names Began, London 1997, 119; Spratt’s Dog Biscuits, The Chemist and Druggist 28, 1886, 299). Doch im Deutschen Reich galten diese nicht. Spratt’s wurde in einem über drei Instanzen geführten Prozess 1888 zu einer Geldstrafe wegen Vergehens gegen das deutsche Patentgesetz verurteilt und unterließ weitere Aussagen dieser Art (Berliner Tageblatt 1888, Nr. 282 v. 6. Juni, 5).

Die Übernahme und Fortführung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik durch Spratt’s

Am 27. Mai 1889 wurde die Deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl im Hannoveraner Handelsregister gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1889, Nr. 129 v. 1. Juni, 13). Sechs Tage zuvor war die „Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker“ eingetragen worden. Sie übernahm die Fabrik in Hannover, der Firmensitz aber lag nun in Berlin, im 1885 umgestalteten Alten Viehhof, am Stammsitz der Spratt’s Patent (Limited) Germany in der Usedomstraße 28 (Ebd. 1889, Nr. 123 v. 24. Mai, 11; Adreßbuch Berlin 1891, T. II, 504). Die vertraglichen Kautelen sind unklar, die in der Literatur genannte Kaufsumme von 100.000 Goldmark hochgradig unwahrscheinlich (Dannowski, 2002, 173). Trotz der veränderten Besitzverhältnisse gingen Produktion und Absatz der Deutschen Vereins-Hundekuchen in der Zweigniederlassung Hannover aber weiter.

35_Lippisches Volksblatt_1889_10_03_Nr118_p4_Echo der Gegenwart_1891_04_05_Nr081_p7_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Markenkontinuität ohne Hersteller (Lippisches Volksblatt 1889, Nr. 118 v. 3. Oktober, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1891, Nr. 81 v. 5. April, 7)

Im lokalen Adreßbuch wurde 1890 in der Füsilierstraße 30 die Spratt‘s Patent Limited AG, London, der Kaufmann Stahlecker sowie – im Hinterhof – die Großhändler Wisser & Co. verzeichnet (Adreßbuch Hannover 1890, T. I, 160). Obwohl die Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker mit ihrem Inhaber im damaligen Geschäftsanzeiger vermerkt war, lebte der Inhaber weiterhin in Berlin. Vor Ort wohnte allerdings Wilhelm Stahlecker, Erwins Bruder (Adreßbuch Hannover 1890, T. I, 419, 689). Das blieb auch 1891 und 1892 so (Adreßbuch Hannover 1891, T. 1, 166, 441, 723; ebd. 1892, T. I, 175, 757), obwohl die Hannoveraner Firma 1892 bereits unter dem Namen von Robert Baelz firmierte.

Neuer Besitzer der Hannoverschen Fabrik war aber der schon mehrfach erwähnte Erwin Stahlecker. Er wurde am 6. September 1863 als Sohn des Mühlenbesitzers Wilhelm und Maria Stahlecker im württembergischen Bietigheim geboren und am 11. Oktober evangelisch getauft (Lutherische Kirchenbücher 1500-1985, Württemberg, Dekanat Besigheim, Pfarrei Bietigheim, Taufen 1823-1875, 1863, Bl. 14, Nr. 73). Wichtiger als die persönliche Herkunft war jedoch das familiäre Umfeld. Sein Onkel Wilhelm Heinrich Stahlecker (1837-1873) hatte 1862 die ebenfalls in Bietigheim geborene Marie Caroline Friedericke Baelz (1845-1886) geheiratet. Einer ihrer Brüder war Robert Baelz (1854-1912), der seit den späten 1870er Jahren zuerst Spratt’s Produkte in Kontinentaleuropa vertrieb und 1887 zum Direktor von Spratt’s Patent Ltd. in London ernannt wurde. Es ist anzunehmen, dass er ein wichtiger Fürsprecher seines Verwandten war, der am 15. Juni 1887 zum Generalbevollmächtigten von Spratt‘s Patent (Germany) Limited ernannt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1887, Nr. 138 v. v. 16. Juni, 9).

36_Westfaelisches Volksblatt_1890_04_12_Nr099_p8_Tierartikel_Pferdestriegel_Spratt_Erwin-Stahlecker

Innovation vor dem Ausscheiden (Westfälisches Volksblatt 1890, Nr. 99 v. 12. April, 8)

Stahlecker war innerhalb Spratt’s nicht nur Manager. 1891 erhielt er ein Patent für einen seit 1890 von Spratt’s vermarkteten Patent-Pferde-Striegel (Leipziger Tageblatt 1890, Nr. 293 v. 20. Oktober, 6757; Patentblatt 16, 1892, 220), verkörperte also den Übergang vom Futtermittel- zum Tierproduktehersteller. Stahlecker erhielt Patente in den USA, in Großbritannien und weiteren Staaten, in denen das neue Gerät seit 1890 erfolgreich vermarktet wurde (Official Gazette of the United States Patent Office 66, 1891, 78; Saddlery and Harness 1, 1891/92, 24).

Für die Deutsche Hundekuchen-Fabrik war Stahlecker nur eine Übergangsfigur. Er übertrug sie am 26. November an Robert Baelz (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 281 v. 28. November, 11). Formal erlosch die Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker am 1. Dezember 1891, die dann von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik Robert Baelz fortgesetzt wurde (Ebd., Nr. 287 v. 5. Dezember, 10; Hannoverscher Courier 1891, Nr. 17374 v. 5. Dezember, 6). Stahleckers Prokura wurde am 16. Januar 1892 gelöscht (Berliner Tageblatt 1892, Nr. 282 v. 20. Januar, 5).

Stahlecker arbeitete nach dem Ausscheiden bei der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und Spratt’s zuerst als Redakteur der Jagdzeitung „St. Hubertus“ (Der Sammler 63, 1894, Nr. 74, 8), ab 1894 als Redakteur und später, bis 1937, als Chefredakteur der heute noch erscheinenden Zeitschrift „Wild und Hund“ (Heiko Hornung, Die Chefredakteursbüchse, Wild und Hund 120, 2014, H. 20, 130-135, hier 132). Nach seinem Ausscheiden organisierte er mehrere von Spratt’s unterstützte Hundeausstellungen (Hannoverscher Courier 1893, Nr. 18411 v. 17. August, 6; Berliner Börsen-Zeitung 1896, Nr. 397 v. 28. August, 4). Ähnlich wie Johannes Kühl etablierte sich auch Stahlecker in der Großindustrie. Der “Redacteur Erwin Stahlecker“ gehörte 1898 zu den Gründern der in Berlin ansässigen R. Stock’schen Kabelwerke AG (Berliner Börsen-Zeitung 1898, Nr. 600 v. 23. Dezember, 30). Er heiratete am 27. März 1902 in Berlin schließlich die 32-jährige Werkmeistertochter Anna Pauline Friederike Leese (Landesarchiv Berlin, Heiratsregister 1874-1936, Berlin V A, 1902, Nr. 202).

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Kontinuität und Ausweitung des Vertriebsnetzes (Neue Augsburger Zeitung 1889, Nr. 139 v. 16. Juni, 11 (l.); Velberter Zeitung 1890, Nr. 10 v. 23. Januar, 3)

Nach dem Verkauf ging das Geschäft mit Deutschen Vereins-Hundekuchen erst einmal weiter – auch wenn unklar ist, ob entsprechend vermarktete Produkte bereits auch in Berlin hergestellt wurden. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik weitete währenddessen ihr Vertriebsnetz aus. Die Hundeausstellung etwa in Frankfurt a.M. 1891 wurde besucht, ein Preis gewonnen (Allgemeine Sport-Zeitung 12, 1891, 0868). Der Firmenverkauf an Stahleckers Förderer und Verwandten Robert Baelz erfolgte 1891 eher unbemerkt. Das operative Geschäft übernahm Anfang 1892 Arthur Metzdorf, der zuvor schon zum Generalbevollmächtigten von Spratt’s ernannt worden war. Er sollte in den folgenden Jahrzehnten die prägende Kraft in der Firma werden (Deutscher Reichsanzeiger 1892, Nr. 17 v. 20. Januar, 9; ebd., Nr. 34 v. 8. Februar, 14).

Die Abwicklung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in Hannover

Die Übernahme der Deutschen Hundekuchen-Fabrik durch Robert Baelz läutete das Ende des Produktionsstandortes Hannover ein. Die Produktion der Deutschen Vereins-Hundekuchen wurde dort anfangs weitergeführt, 1894/95 jedoch in die neue Spratt’s-Fabrik in Berlin-Rummelsburg verlagert. Parallel harmonisierte man die Absatzwege beider Hundekuchenmarken (Augsburger Abendzeitung 1892, Nr. 64 v. 4. März, 13). Die damalige Werbung spielte zwar weiterhin mit den Kühlschen Vorlagen, doch die Standorthierarchie war eindeutig: „Alle Bestellungen nach Berlin erbeten.“

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Kontinuität der Kühlschen Werbung unter Sprattschem Vorzeichen (Deutsche Jäger-Zeitung 22, 1893-94, Nr. 1, Anhang, VI)

Der Kauf der Deutschen Vereins-Hundekuchen-Fabrik durch Robert Baelz gibt zugleich Einblicke in die Chancen von Einwanderungsunternehmern im Zeichen der „Pax Britannica“. Baelz wurde am 20. Oktober 1854 in Bietigheim geboren. 1879 heiratete er Maria Finckh (1854-1937), mit der zwei Kinder hatte. 1881 wanderten sie nach Großbritannien aus, wo Robert Baelz 1883 britischer Staatsbürger wurde. Im Rahmen der Ende der 1870er Jahre gegründeten Handelsfirma Hemans & Baelz hatte er den Absatz von Spratt’s-Produkten in Kontinentaleuropa organisiert, ehe er 1887 Direktor in der Londoner Zentrale wurde (Daily News 1887, Nr. 12751 v. 21. Februar, 2). Der Einwanderer stand für die 1884/85 erfolgten Direktinvestitionen in den USA, Russland und dem Deutschen Reich, wo allesamt leistungsfähige Produktionsstätten erreichtet wurden. Respektvoll hieß es: “He was a man of great experience and an English merchant, and possessed a very great tact and ability. He possessed a very great insight into the business” (Spratts Patent, Limited, Railway News 1887, Nr. 1209 v. 5. März, suppl., 415-416, hier 415).

Baelz war Teil einer kosmopolitischen Elite, sein Bruder Erwin (1849-1913) baute Brücken zur japanischen Medizin. Er selbst wurde einer der führenden Repräsentanten der deutschen Kolonie in London, der als „Vater der Schwaben“ (Neues Tagblatt 1908, Nr. 47 v. 26. Februar, 9) zugleich Heimatverbundenheit und Weltoffenheit verkörperte. Auch nach seinem Eintritt bei Spratt’s unterstützte er mit seiner Handelsfirma Robert Baelz & Co. die Exporterfolge der deutschen Industrie in Großbritannien, etwa des Stuttgarter Produzenten von Malzprodukten und Säuglingsernährung Eduard Loeflund (1835-1920). 1893 wurde er Direktor Co-Direktor der britischen Dependance der Stollwerckschen Verkaufsautomaten (Liverpool Journal of Commerce 1893, Nr. 9764 v. 13. Februar, 4; Gabriele Oepen-Domschky, Kölner Wirtschaftsbürger im deutschen Kaiserreich, Köln 2003, 125, 130, 247). Baelz blieb auch in der Ferne eng mit Deutschland verbunden, war langjähriger Vorsitzende des deutschen Liederkranzes in London (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1904, Nr. 299 v. 21. Dezember, 6). Kaum ein Fest der Auslandsdeutschen, auf dem er nicht den doppelten Wilhelm II. (den Kaiser und den König von Württemberg) hochleben ließ, ebenso aber Bismarck, Wilhelm I. und deutsche Künstler und Wissenschaftler. Kaum ein Empfang deutscher Monarchen, Politiker und Unternehmer, bei dem nicht auch Robert Baelz anwesend war. Er wurde 1906 Präsident von Spratt’s Patent Ltd. und starb 1912 in Stuttgart (Morning Leader 1906, Ausg. v. 9. April, 2; Schwäbischer Merkur 1912, Nr. 78 v. 16. Februar, 15). Er hinterließ ein Vermögen von fast 40.000 £, war also vielfacher Multimillionär. Seine Witwe kehrte nach Stuttgart zurück, wo sie stetig für patriotische Zwecke spendete. Dies alles zu wissen hilft die antienglische Spratt’s-Hetze des Hundekuchenherstellers Albert Latz (1855-1923) zu Kriegsbeginn einzuordnen (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1914, Nr. 8755 v. 11. September, 5), bis hin zu Enteignung der britischen Kapitaleigner und die Überführung der Firma in den Scheidemandel-Konzern 1917: Deutsche Treue…

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Übernahme der Produktion der Vereins-Hundekuchen: Die 1894 erbaute Fabrik von Spratt’s Patent (Germany) Ltd. in Berlin-Rummelsburg (Bayerische Forst- und Jagd-Zeitung 2, 1895, Nr. 9, 7)

Das lange Ende des Deutschen Vereins-Hundekuchens

Robert Baelz verlegte im Januar 1895 seine Deutsche Hundekuchenfabrik von Berlin nach dem damals noch eigenständigen Rummelsburg, der deutschen Spratt’s-Zentrale (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 27 v. 30. Januar, 12). Die Firma blieb weiterhin bestehen, das Hannoveraner Adreßbuch verzeichnete in der Füsilierstraße 30 Spratt’s und die Deutsche Hundekuchenfabrik Robert Baelz Seit an Seit (Adreßbuch 1895, T. 1, 196; ebd. 1897, T. I, 212; ebd. 1899, T. I, 223; ebd. 1901, T. I, 231). Es ist unwahrscheinlich, dass vor Ort aber 1895 weiter Hundekuchen hergestellt wurden. Stattdessen dienten die Liegenschaften seither wohl als „Versandlager“ (Ebd. 1904, T. I, 690) sowohl des Deutschen Vereins-Hundekuchens als auch der Sprattschen Produkte. Federführend hierfür war die Großhandlung Wisser & Co. Seit 1905 residierten alle nach der Neuvergabe der Straßennummern am gleichen Standort unter der Adresse Füsilierstraße 16 (Ebd. 1905, T. I, 223).

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Deutsche Vereins-Hundekuchen wurden weiter produziert und vertrieben, jedoch kaum noch beworben. Allerdings fehlte spätestens ab der Jahrhundertwende das Adjektiv „Deutsch“. Es ist anzunehmen, dass vornehmlich an Vertragskunden geliefert wurde, denn hier galt der Markenname noch etwas. Die Deutsche Hundekuchenfabrik Robert Baelz behielt ihren Namen auch nach dem Tode ihres Eigentümers 1912. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Firma selbst von der 1901 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Spratt’s Patent A.-G. übernommen wurde. 1921 tauchte der „Vereins-Hundekuchen“ jedenfalls als „Spratt’s Ersatz“ nochmals auf, jedoch nur in einer der Not geschuldeten Billigvariante aus Gramineenmehl, Hafermehl, Mastfuttermehl und kohlsaurem Kalk. Auch ein „Vereinsgeflügel- und Kükenfutter (Spratt’s Ersatz)“ wurde vom damals zuständigen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft genehmigt (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 53 v. 4. März, 1). Im November 1921 wurde die Genehmigung wieder aufgehoben, denn die Rohstoffversorgung hatte sich verbessert, so dass nun auch wieder weizenhaltige Hundekuchen produziert werden konnten, deren Herstellung zum 1. Januar 1915 eingestellt werden musste (Ebd. 1921, Nr. 269 v. 17. November, 1).

Es ist wahrscheinlich, dass Vereins-Hundekuchen anschließend nicht mehr produziert wurden. Im Mai 1928 wurde jedenfalls die Löschung der Deutschen Hundekuchenfabrik Robert Baelz aufgrund von Vermögenslosigkeit und Untätigkeit amtlich angekündigt und am 17. Oktober 1928 vollzogen (Ebd. 1928, Nr. 125 v. 31. Mai, 18; ebd., Nr. 251 v. 26. Oktober, 7). Am 8. März 1929 hieß es schließlich auch offiziell: „Die Firma ist erloschen“ (Ebd. 1929, Nr. 62 v. 14. März, 14; Hannoverscher Kurier 1929, Nr. 117 v. 10. März, 28). Am alten Fabrikationsort arbeitete „A. Wisser & Co., Spratts-Hundekuchen u. Geflügelfutter“ weiter (Adreßbuch Hannover 1927/28, 526).

Damit endete diese kleine deutsch-britische Unternehmens- und Beziehungsgeschichte. Die Deutschen Hundekuchenfabriken und der Deutsche Vereins-Hundekuchen zeugen von Wettbewerb, von Rivalität, von nationalistischem Übereifer, von Rache. Am früheren Firmensitz findet man heute keine Überbleibsel, ganz normal. Das Grundstück wurde 1956 neu bebaut. Die Liegenschaften vor Ort gingen wohl bei den verheerenden britischen Luftangriffen im September 1943 in Schutt und Asche auf.

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Keine Überbleibsel – 1956 erbautes Haus in Hannovers Bronsartstraße 30 – wohl ehedem Füsilierstraße 30 resp. 16 (Uwe Spiekermann, 26. Dezember 2020)

Uwe Spiekermann, 9. Dezember 2023

Wie die Makkaroni deutsch wurden – Eine Skizze, 1800-1930

Seit mindestens 250 Jahren fabulieren gelehrte Geister über nationale Küchen, klar definierbar, klar abgrenzbar: „Der Deutsche, der Britte, der Franzose, der Spanier, der Italiener, ein jeder hat seine Lieblingsspeisen, die man mit größtem Rechte Nationalschüsseln nennen könnte. […] Der Deutsche zumal mit seinem unwiderstehlichen Hange, sich in allem nach seinen Nachbarn umformen zu wollen, gehet hierin am weitesten, und scheint nicht selten seine Gastmahle für alle Nationen aufgetischet zu haben“ (Das Wohlleben der Alten, bis auf die Zeiten der Römer, Allgemeines Intelligenz- oder Wochenblatt für sämtliche Hochfürstlich Badische Lande 1779, Nr. 2 v. 14. Januar, 2-3, hier 3). Der Deutsche langte demnach zu, labte sich am britischen Roastbeef, den französischen Ragouts, kostete die spanische Olla podrida und auch die Lieblingsspeise der Italiener, die Makkaroni (Ch[ristian] F[riedrich] v. Bonin, Hofmeister Amor, s.l. s.a. [1785], 82; Der baierische Landbote 1790, Nr. 40, 2; allgemeiner und unspezifischer: Silvano Serventi und Francoise Sabban, Pasta: The Story of a Universal Food, New York 2002; Kantha Shelke, Pasta and Noodles. A Global History, London 2016; Massimo Montanari, A Short History of Spaghetti with Tomato Sauce, s.l. 2021).

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Makkaroni im späten 18. Jahrhundert (Friederike Luise Löffler, Neues Kochbuch […], Stuttgart 1791, 139)

In der Tat: Makkaroni-Rezepte finden sich im späten 18. Jahrhundert in weit verbreiteten Kochbüchern der Hof-, dann auch der bürgerlichen Küche (Peter Neubauer, Wienerisches Kochbuch, Wien 1791, 408-409). Eine Nudel stand symbolisch für das Ganze, obwohl es sich bei Italien keineswegs um eine Nation, sondern ein Flickenwerk regionaler Herrschaften handelte, zerfranst an den heutigen Grenzen, Teil anderer Reiche. Die Küchen Italiens waren vielgestaltig und kontrastreich – ähnlich wie die der deutschen Lande. Die Makkaroni, das wusste um 1800 der Gebildete, war eine Speise des Südens, zumal der Gegend um Neapel. Man kannte sie im Norden auch deshalb, weil die spanischen Bourbonen dort herrschten, Teil des europäischen Hochadels, eng verbunden auch mit den Habsburgern. Hinzu kam die antike, die römische Tradition, kamen der Vesuv und Herculaneum, Pompeji und Goethes Italienreise.

Ein Jahrhundert später war das radikal anders – zumindest aus Sicht derer nördlich der Alpen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren die Makkaroni deutsch geworden, eine Hohlnudel, teils aus Hartweizen, teils aber auch mit Eiern produziert – und zwar von surrenden Maschinen, ohne die im Süden zuvor bewunderte Handarbeit. Mit dem italienischen Ursprung wurde weiter werbeträchtig kokettiert, doch nur um zu unterstreichen, dass deutsche Makkaroni besser seien als die des Ursprungslandes. Gilt dies, so stellen sich viele Fragen neu, die in der Forschung so gerne auf das 20. Jahrhundert, meist gar auf die 1950er Jahre projiziert werden. Regionale und nationale Zuschreibungen von Lebensmitteln und Speisen bedürfen einer auch langfristigen historischen Perspektive, will man nicht im freudigen Erinnerungshorizont der wortmächtigen Großelterngeneration verharren.

Makkaroni und Neapel: Unbeschwertes Leben (und Essen) im Süden

Makkaroni symbolisierten im frühen 19. Jahrhundert die Fremdheit und den Lockreiz der italienischen Küchen. Ihre Anfänge reichen zurück bis in die frühe Neuzeit, die Sprache der Teigwaren bis in die Antike: Pasta stammt aus dem Griechischen, Lasagne aus dem Lateinischen (Makkaroni auf italienische Art, Damals 26, 1994, Nr. 9, 54). Der für die Makkaroni konstitutive Hartweizen wurde von Arabern eingeführt, die das zuvor byzantinische Sizilien im 9. Jahrhundert eroberten. Im Hochmittelalter noch verspotteten die Neapolitaner die Sizilianer als „Makkaronifresser“ (Ebd.). Später aber übernahmen sie die Teigwaren, konnte die Handelsstadt doch die regionale Hartweizenproduktion durch Importe aus der Levante, aus Nordafrika und der Schwarzmeerregion (Taganrog-Weizen) ganz wesentlich erweitern (Franz Schindler, Der Getreidebau auf wissenschaftlicher und praktischer Grundlage, Berlin 1909, 147). Im 19. Jahrhundert verbreiterte sich die Rohstoffgrundlage durch frühe Züchtungsforschung, einerseits durch den russischen Kubanweizen, anderseits durch den später vordringenden „Maccaroni-Weizen“ in den USA wesentlich (Maccaroni-Weizen, Bukowinaer Landwirtschaftlicher Blätter 7, 1903, Nr. 20, 153).

Derartige Entwicklungen standen nicht im Blickfeld der seit dem späten 18. Jahrhundert immer zahlreicheren Besucher von Stadt und Königreich Neapel, die dort nicht nur die antiken Stätten und Capri besuchen wollten, sondern im Nachzug Goethes eine Art Paradies zu finden hofften, in dem die Menschen in „einer Art von trunkner Selbstvergessenheit“ (Goethe’s Werke, T. 24: Italiänische Reise, hg. v. Heinrich Düntzer, Berlin 1828, 827 [1787 geschrieben, US]) lebten. Und sie fanden, was sie finden wollten: „Maccaroni seh‘ ich dampfen; / In der Pfanne schmort der Fisch; / Durch die Straßen, auf den Plätzen / Ist gedeckt ein ew’ger Tisch“ (Neapel, in: Karl August Mayer, Neapel und die Neapolitaner oder Briefe aus Neapel in die Heimat, Bd. 1, Oldenburg 1840, 246-248, hier 248; auch in Amalie Winter, Die kleinen Lazzaroni von Neapel, 2. Aufl., Berlin 1846, 141).

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Makkaronistand in Neapel (Das Pfennig-Magazin 1, 1833/34, 297)

Reiseberichte geben keine getreuen Abbilder des Alltagslebens. Stattdessen finden wir in ihnen Spiegelungen des Selbst, Bilder des gesuchten und gewollten Fremden: „Denn beschrieben wird vor allem das, was als andersartig, als ‚exotisch‘ empfunden wird, was dem Schreibenden als nicht zu seiner eigenen Lebenswelt, zu seiner Identität zugehörig erscheint“ (Ulrike Thoms, Sehnsucht nach dem guten Leben. Italienische Küche in Deutschland, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Essen und Trinken in der Moderne, Münster et al. 2006, 23-61, hier 25).

Am Anfang standen zumeist Beschreibungen einer andersartigen auf Weizen basierenden Esskultur – und das zu einer Zeit als die Getreidefixiertheit der deutschen Kost durch den zunehmenden Anbau von Kartoffeln in Mittel-, Nord- und Ostdeutschland abnahm: „Neapel und Genua sind die beiden Städte, wo alle Arten von Nudeln und Maccaroni in großer Menge verfertiget werden, weil sie eine Hauptspeise in ganz Italien sind. Genua ist mehr der kleinen Nudeln und Neapel wegen der großen, oder sogenannten Maccaroni, berühmt. Man nimmt eine Art Getreide (saragolla), vermuthlich Spelt, dazu, welches sehr harte Körner hat, röthliches Mehl und teigichtes oder festes Brot giebt“ (Neapel und die Lazzaroni, Frankfurt a.M. und Leipzig 1799, 45). „Die Größe der Nudeln hängt von dem Durchmesser dieser Löcher ab, und sie bekommen davon ihre verschiedenen Namen und Figuren. Es giebt über dreißig verschiedenen Sorten; die feinsten heißen: Permicelli, Fedelini, Sementelle, Punte d’Aghi, Stelluce, Stellette, Ochi di parnici, Acini di pepe; die größeren: Maccaroni, Trenete, Lazagnette, Pater noster, Ricci die Foretana u.s.w.“ (Ebd., 46). Derartige Sachbeschreibungen gingen stetig über in die Deutung der Einheimischen: „Der gemeine Mann in Neapel nährt sich halb von Maccaroni, daher eine unglaubliche Menge davon verzehrt wird. Sie können nicht ohne Maccaroni leben, und daher ist es kein Wunder, wenn der Spaß des Harlekins in der italiaenischen Komoedie, und zumal in Neapel, so oft auf Maccaronen hinausläuft“ (Ebd., 47). Spaß, Alltagsfreuden, Leichtigkeit, eingebettet in eine üppige Natur, umrahmt von ertragreicher Landwirtschaft und ergiebigen Fischgründen. Wer wollte da nicht jauchzen, denn „singen müssen wir alle von der Nation lernen, die die Natur zur singenden schuf, und die ohne Gesang so wenig leben kann, als ohne Makkaroni“ (Allgemeine Musikalische Zeitung 6, 1803, 143).

Die Reisenden betrachteten die Einheimischen als Naturkinder, Makkaroni erschienen als Substitut des göttlichen Manna. Das ist bemerkenswert, war Neapel 1800 mit seinen 430.000 Einwohnern doch die drittgrößte Stadt Europas, beherbergte mehr Einwohner als Wien und Berlin zusammen. Entsprechend blickten Besucher vor allem auf die städtischen Unterschichten, deren Ort- und Wohnlosigkeit ihnen als Ausdruck der Lebenslust im vermeintlich warmen Süden galt – die Reisen erfolgten ja meist nicht von Dezember bis März, wenn die Ortstemperaturen nur wenig über 10° C lagen. Die Makkaroni wurden als solche beschrieben und bewundert, insbesondere ob ihrer Formenvielfalt. Bei der anfangs liebevollen Schilderung stand das barocke Realienkabinett nicht fern (Reise-Skizzen aus Italien. Die Toledostraße in Neapel (Fortsetzung.), Wiener Zeitschrift für Kunst, Theater und Mode 22, 1837, 741-743, hier 742). Wichtiger aber als der Unterschied zu Klößen, Broten und Kartoffeln war die Präsentation der Einheimischen beim Mahl bzw. beim Verschlingen: „Es ist unglaublich, auf welch eine unanständige Art diese Maccaroni gegessen werden, sowohl an table d‘hote, als auch in Familien und bei Gastmahlen. Man legt zuerst einen aufgehäuften Teller davon vor, worüber man in Deutschland erstaunen würde, und auch in Neapel muß man es für das einzige zu erwartende Gericht halten; so groß sind die Portionen. Der echte Neapolitaner wikkelt sich dann dies mehr als ellenlange Gewürm um seine Gabel, neigt den Kopf über den Teller, füllt den Mund mit dem einen Ende der Maccaroni an, und zieht das übrige, ohne Hülfe der Gabel, immer nach, so daß, wenn nun der erste Bissen genommen ist, die andern von selber folgen. Es muß sehr oft der Fall seyn, daß das eine Ende noch auf dem Teller ist, wenn das andere schon den Magen erreicht hat. Der gemeine Mann braucht dazu überdies keine Gabel, sondern er bedient sich der Finger“ (C[arl] F[riedrich] Benkowitz, Das italienische Kabinet oder Merkwürdigkeiten aus Rom und Neapel, Leipzig 1804, 93-100, hier 94-95). Das berühmte Gericht der Italiener, diese Hauptspeise der Nation (Ebd., 93) konnte in Neapel offen studiert werden, zumal es nach Auskunft der Besucher auch die recht sparsame Tafel der Reichen prägte: „Etwas Fleisch und Fisch kommt noch hinzu, und einige Früchte – und das ist das Gewöhnliche“ (P[hilipp] J[oseph] Rehfues, Gemählde von Neapel und seinen Umgebungen, T. 1, Zürich 1808, 78). Immerhin, die höheren Schichten benutzten durchweg eine Gabel, mochte die Schüssel mit den Makkaroni auch die Tischgemeinschaft aller verkörpern (Justus Tommasini [d.i. Johannes Heinrich Christoph Westphal], Spatziergang durch Kalabrien und Apulien, Konstanz 1828, 144). Hierin spiegelte sich die Auseinandersetzung um die gemeinsame Schüssel bei deutschen Bauern und Landarbeitern, die Bürger durch eine stärker individuelle Tischkultur mit Schüsseln für die einzelnen Gerichte, Tellern und Besteck ersetzten.

Makkaroni waren in diesen Berichten ein Sammelbegriff, der zwar immer wieder aufgefächert wurde, letztlich aber nur Anlass war, um Lokalkolorit nachzuzeichnen, farbige Bilder anderer Menschen, anderer Essgewohnheiten darzustellen. Diese waren öffentlich, erfolgten in der gedrängten Dichte einer Großstadt: „Eine Schar von Lazzaroni, Fachini, Marinari etc. umlagert einen ungeheuren Kessel, in dem die Lieblingsspeise der Italiener, die Maccaroni, bereitet werden. Die Gäste nähern sich mit ihren Schüsseln, der Verkäufer streicht von einem quer über den Kessel liegenden hölzernen Stabe die schon fertigen Maccaroni in die Schüsseln, giebt etwas Brühe darauf, und streut geriebenen Käs dazu“ (Der Bayer’sche Landbote 6, 1830, 601; ähnlich Die neapolitianischen Maccaroniesser, Das Pfennig-Magazin 1, 1833/34, 297-299; Die Maccaroni in Neapel, Echo 2, 1834, 43-44). Aus dem Verzehr einer Alltagsspeise wurde eine Lust, bei der die Wirte als Zeremonienmeister agierten, auf deren Kesselspeise die Gäste sehnsüchtig warteten, die sie dann gleich Ambrosia genüsslich schlürften (Die religiösen Feste der Neapolitaner. 2. Das Fest der Madonna dell‘ Arco. (Schluß.), Das Ausland 7, 1834, 710-712, hier 711). Die Besucher konzentrierten sich aber nicht nur auf Speisen und Ambiente. Auch die Menschen selbst versuchten sie einzufangen, allerdings klischeehaft fremd: Die „weißen Schlangen“ verspeiste dann ein „braungebrannter Mann mit starkem Barte“ (Reise-Skizzen, 1837, 742), immer umgeben von Kindern, seltener von Frauen.

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Präsentation und Rückfrage: Spottblatt auf die Makkaroni, ca. 1850 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg HB 21034/1231)

All das war nicht mehr edle Einfalt, stille Größe. Geschildert wurde ein Leben ohne überbürdende Bedürfnisse, ohne Aufbegehren. Die italienischen Makkaroniesser warteten geduldig auf eine zugeworfene Münze, auf den kargen Ertrag einer Gelegenheitsarbeit (Neapel und die Neapolitaner. […], in: Meyer’s Volksbibliothek für Länder-, Völker- und Naturkunde, Bd. 48, Hildburghausen und New York o.J., 122-151, hier 137-140; Rapsodie eines Neapolitaners, Echo 3, 1835, 524; Reise- und Lebensbilder, (Fortsetzung.), Morgenblatt für gebildete Leser 33, 1839, 246-247; Maccheroni. E[duard] M[aria] Oettinger, Onkel Zebra. Memoiren eines Epicuräers, T. 3, Leipzig 1842, 277-280). Halbnackt und lumpengewandet erschienen die Neapolitaner, doch immer wieder unglaublich zufrieden (Donau-Zeitung 1847, Nr. 179 v. 1. Juli, 2). Damit ignorierte man natürlich die revolutionären Traditionen vor Ort, die Parthenopäische Republik von 1799. Und man unterschätzte das soziale Konfliktpotenzial im Königreich, das sich 1848/49 und 1860 in verschiedenen Volksaufständen niederschlug. Guiseppe Garibaldis (1807-1882) Vormarsch im zweiten Unabhängigkeitskrieg, an dessen Ende 1861 das Königreich Italien entstand, wurde dadurch begünstigt.

Makkaroni aber wurden schon zuvor als Nationalspeise beschrieben, waren ein einigendes Band während des Risorgimento: „‚Maccaroni!‘ Lieber Gott, was läßt sich bei diesen vier Sylben nicht alles denken! Welche Thaten haben zahllose Tausende, es hörend, im Geiste schon vollbracht!“ (Genrebilder aus dem neapolitanischen Volksleben. II. Maccaroni, Der Sammler 15, 1846, 289-291, hier 290). Auch das war ein Gegenentwurf zum nicht geeinigten Deutschland: „‚Grützwurst‘ mag für den Haisewenden ein melodisch klingendes Wert seyn, wenn er hungrig vom Felde heimkehrt; ‚Sauerkraut und Schweinefleisch‘ essen Schlesier und Lausitzer mit anerkennender Ausdauer und meine aufopfernden Hingebung, die einer besseren Sache werth wäre; bei ‚Schweineknöchelchen und Klößen‘ kann der eingefleischte Leipziger eben so leicht zum Schwärmer werden, als der Hamburger bei seiner ‚Rothen Grütze‘; in Gefahr und Tod, zu Kampf und Sieg lockt sie damit kein Mensch und kein Gott.“ (Friedrich Heinzelmann, Die Weltkunde […] auf Grund des Reisewerkes von Dr. Wilhelm Harnisch, Bd. 9, Leipzig 1852, 287-290, hier 288). Der deutschen Bürger Schilderung der Makkaronikultur ergötzte sich an der Leichtlebigkeit der Neapolitaner und Italiener, bewunderte ihren zielgerichteten Heißhunger. Doch sie taugten nur als Sehnsucht, nicht als Vorbild: „Bei uns legt eine rauhere Natur uns die Pflicht auf, ängstlich für unser Dach und Fach zu sorgen, uns zu schützen, und auf den Kampf mit feindlichen Elementen vorzubereiten. Die Erde schenkt uns nichts; wir müssen ihre Gaben ihr abringen. Der Winter nöthigt uns, den Körper zu wahren. Alles ringsum mahnt uns, die Hände nie in den Schooß zu legen. Alles treibt und spornt uns zu steter, rastloser Arbeit. Das Leben im Norden ist ein Kämpfen. Im Süden ist es ein Genießen“ (Bilder aus Neapel, Neue Illustrirte Zeitung 1875, Nr. 14, 10).

Gewiss, die Besucher wussten vielfach um den fiktionalen Gehalt ihrer Berichte. Selbst im Süden konnte der Besuch einer alten Makkaroni-Verkäuferin literarische Phantasien jäh zerplatzen lassen (M.G. Saphir, Die unterbrochene Phantasie. Eine burleske Skizze, Der deutsche Horizont 2, 1832, Sp. 1627-1629, hier 1629). Das rechte Menschentum war nordisch, die dortigen Gebräuche zielführend – so der immer auch auf Deutsch schreibende dänische Romantiker Adam Gottlob Oehlenschläger (1779-1850): „Ich bin der Maccaroni überdrüssig, / Mag sie nicht länger essen“ (Dramatische Dichtungen, T. 2, Hamburg 1835, 51) hieß es in seinem Stück Die italienischen Räuber: „Fleisch muß ich essen; – denn der Mensch, das ist / Ein Carnifex, wie die Gelehrten sagen; / ‚S ist ein gebornes Raubthier, wie man’s an / Den Zähnen sehen kann, / das sich durchaus nicht / Mit Maccaroni nur abspeisen läßt“ (Ebd., 52). In den Reiseberichten dieser Zeit tönte auch schon Ambivalentes an, die vermeintlich fehlende Treue des Neapolitaners, sein Hang zum Verrat (Die Maccaroni-Esser in Neapel, Augsburger Anzeigblatt 1847, Nr. 354 v. 26. Dezember, 7-8, hier 8). Aller Begeisterung über das Makkaronifestival auf den Straßen zum Trotz, wollte man sich doch darüber erheben, roch es dort und auch in den Häusern doch stets nach Käse, stach die „Unreinlichkeit“ negativ hervor. Wohltuend, dass wenigstens im Haus des Herrn von Rothschild „der Maccaroni-Geruch nicht über die Schwelle des Eßzimmers“ drang (Italien und die Italiener. (Schluß.), Münchener Unterhaltungsblatt 1840, Sp. 399-400, auch für das erste Zitat).

Kulinarische Akkulturation: Makkaroni in den deutschen Küchen

Die Reisebeschreibungen begleiteten die langsame Akkulturation der italienischen Nationalspeise in die deutschen Küchen. Im späten 18. Jahrhundert wussten Kochkundige bereits Bescheid, mochte die Begeisterung am heimischen Herd auch geringer ausfallen als in den Gassen Neapels: „Maccaroni, sind eine Art italienischer getrockneter Nudeln, welche man zu Mehlspeisen und Suppen gebrauchet“ (Neues Kochbuch, Gotha 1797, 330).

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Makkaroni als Speise aus der Fremde (Maria Klara Messenbeck, Baier‘sches Kochbuch, Augsburg und Regensburg 1810, 319-320)

Analysiert man Kochbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so tauchen Makkaroni anfangs nur vereinzelt auf. Die Autorinnen machten ihre Leserinnen mit der südlichen Speise grundsätzlich bekannt, präsentierten sie im Umfeld der im Süden Deutschlands wohlbekannten Mehlspeisenküche. Festzuhalten ist, das Nudeln bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorrangig in Bayern, Baden, Württemberg und dem Elsass gegessen wurden. Noch 1927/28 wurden dort fünfeinhalbmal mehr Nudeln verzehrt als in Ostpreußen oder Schlesien (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialge­schichte. Räume und Struk­turen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jür­gen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.), Es­sen und kulturelle Identi­tät, Berlin 1997, 247-282, hier 252-253).

Es ging in den Rezepten auch nicht um original neapolitanische resp. italienische Speisen, die Würzung mit „Zimt“ im oben angeführten Rezept macht das deutlich. Makkaroni galten damals nicht als volle Mahlzeit, als Hauptgericht. Sie hatten sich einzuordnen, etwa in eine Schinkenspeise, zumeist aber als Suppeneinlage (S[ophie] J[uliane] W[eiler], Augsburgisches Kochbuch, 2. verm. u. verb. Aufl., Augsburg 1788, 377 (Schinkenspeis); identisch in der 11., 20. und 21. Auflage 1810, 1836 und 1836; als Suppeneinlage dann ab der 25. Aufl. 1860, 353). Man darf diese Rezepte auch nicht überschätzen, denn häuslich zubereitete Makkaroni waren (anders als bei einfachen Nudeln) Ausnahmen. Viele Kochbücher erwähnten sie nicht (Ernst Meyfeld und Johann Georg Enners, Hannoverisches Kochbuch, Bd. 1, Hannover 1792; [Theodor] v. Hallberg, Deutsches Kochbuch, 2. Aufl., T. 2, Düsseldorf 1819; Neuvermehrtes Kochbuch, neue ganz umgearb. Aufl., Nürnberg 1831; Gründliches Kochbuch, 7. Aufl., München 1835; Margaretha Elisabetha Klotsch, Praktisches Kochbuch, 4. verb. u. verm. Aufl., Nürnberg 1835; Neuestes vollständiges Kochbuch für alle Stände, 2. verb. u. verm. Aufl., Nürnberg 1841). Ansonsten findet man bis zur Jahrhundertmitte nur wenige Rezepte (Maria Katharina Daisenberger, Bayer’sches Kochbuch, T. 1, München, Paßau und Regensburg 1833, 245; Dass., 14. viel verb. u. verm. Aufl., München, Paßau und Regensburg 1837, 222-223). Erst um 1850 nahm deren Zahl und damit auch die Variationsbreite zu (Anna Berger, Pfälzer Kochbuch, Mannheim 1858, 39, 144 (Makkaronisuppen, Makkaroni) sowie 603, 607, 610 (als Beilagen in Menüs)).

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Makkaroni als Auflauf (Koller, 1851, 143-144)

Zur Jahrhundertmitte standen Makkaroni noch nicht für sich, wurden in Anlehnung an eigenes Essen als eine Art Knödel des Südens vorgestellt (Allgemeine Militär-Zeitung 28, 1853, Sp. 1205). Und doch erschienen sie seither vermehrt als „ein auf jeder Tafel sehr gern gesehenes Gericht“ (Die echten Maccaroni, Regensburger Conversations-Blatt 1859, Nr. 136 v. 13. November, 4). Nun erst galten Makkaroni auch als Hauptgericht mit Schinken oder Parmesankäse. Sie wurden vermehrt in Aufläufen verwendet (Anna Koller, Neuestes vollständiges Kochbuch, München 1851). Als Beilage zum Rindfleisch ersetzten sie nun Knödel. Zugleich nutzte man sie als Bestandteil süßer Speisen, als Substitut von Reis oder mit Milch (Christine Charlotte Riedl, Lindauer Kochbuch […], Lindau 1852; Dass., 4. vielverb. u. verm. Aufl., Lindau 1865).

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Makkaroni als Suppennudeln und mit süddeutscher Würzung (Riedl, 1852, 6 (l.); ebd. 168)

Seit der Jahrhundertmitte waren Makkaroni in süddeutschen Kochbüchern unverzichtbar, drangen auch in Speisezettel vor (Obermeier et al., Sailer’sches Familien-Handbuch, München 1865, 271ff.). Doch spätestens seit den 1860er Jahren galt das auch für die gängigen Kochbücher oberhalb des früheren Limes. Henriette Davidis (1801-1876) präsentierte in ihrem Kochbuch nach der Reichsgründung bereits ein knappes Dutzend Makkaronirezepte (Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, 19. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1874, 122, 203, 257, 274-276).

07_Rhein- und Ruhrzeitung_1886_04_21_Nr094_p6_Solinger Zeitung_1881_03_04_Nr035_p3_Makkaroni_Trockenobst_Backobst

Deutsche Rekombinationen: Makkaroni mit Backobst (Rhein- und Ruhrzeitung 1886, Nr. 94 v. 21. April, 6 (l.); Solinger Zeitung 1881, Nr. 35 v. 4. März, 3)

Diese langsame Diffusion gen Norden war begleitet vom Vordringen gedörrten Obstes, insbesondere den vielfach aus den USA stammenden Apfelringen, Trockenpflaumen und einer wachsenden Palette anderen Backobstes. Das war ein schnelles, einfaches und billiges, ein deutsches Mahl. Die häusliche Verbreitung der Makkaroni ging einher mit frühen Haushaltsgeräten. Nudelmaschinen waren seit spätestens den 1880er Jahren auch mit Makkaroniaufsätzen verbunden.

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Neue Haushaltsgeräte für den bürgerlichen Haushalt: Nudelmaschine mit Makkaroniaufsatz (Wiener Caricaturen 1884, Nr. 29 v. 20. Juli, 7)

Ein sich weitendes Angebot: Makkaroni im Handel und lokalem Handwerk

Die Analyse von Kochbüchern hat ihre engen Grenzen, gibt sie doch über die Küchenpraxis und auch den Alltagskonsum nur höchst indirekt Auskunft. Makkaroni waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch präsent – und zwar als Handelsgut und gewerblich hergestellte Fertigwaren. Während die Reiseberichte immer wieder den frischen Verzehr der Nudeln hervorhoben, wurden sie in deutschen Landen als lang haltbare und käufliche Trockenware heimisch.

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Direkt vom Italiener: Jahrmarktangebote südlicher Luxuswaren (Karlsruher Zeitung 1810, Nr. 169 v. 22. Oktober, 678)

Im frühen 18. Jahrhundert gab es jedoch nur vereinzelte „Makkaronifabriken“, also kleine Handwerksbetriebe. Der schon zitierte Schriftsteller Karl Friedrich Benkowitz (1764-1807) verwies in seinem Reisebericht auf nur auf zwei Orte in deutschen Landen, nämlich Wien und Dresden (Benkowitz, 1804, 100). Auch in Prag wurden Makkaroni gewerblich hergestellt (C. Kjärböll, Kulinarische Plauderei, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 71 v. 17. Februar, 7).

Weit wichtiger waren Jahrmarkthändler meist italienischen Ursprungs, die Kostbarkeiten ihrer Heimat auf den Messen an eine zahlungskräftige Kundschaft verkauften. Ihre Zahl war im 18. Jahrhundert deutlich gewachsen, in vielen rheinischen und bayerischen Städten repräsentierten sie den Fernhandel nach Italien (Anton Schindling, Bei Hofe und als Pomeranzenhändler: Italiener in Deutschland in der Frühen Neuzeit, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, München 1992, 287-294; Christiane Reves, Von Kaufleuten, Stuckateuren und Perückenmachern. Die Präsenz von Italienern in Mainz im 17. und 18. Jahrhundert, in: http://www.regionalgeschichte.net, urn:nbn:de:0291-rzd-006468-20202212-6). Dabei findet man die üblichen Spezialisierungseffekte: Während anfangs italienische Händler wie der oben annoncierenden J. Cesar Grandi Groß- und Einzelhandel miteinander kombinierten, übernahmen in der Folge vermehrt spezialisierte Luxus- und Kolonialwarenhändler die Geschäfte (Fürstlich Lippisches Intelligenz Blatt 1812, Nr. 17 v. 25. April, 132).

10_Karlsruher Zeitung_1816_07_22_Nr022_p202_Kolonialwarenhandlung_Rastatt_Makkaroni_Nudeln_Parmesankaese_Senf_Mineralwasser_Schinken

Verstetigtes Südwarenangebot im Umfeld des Rastatter Hofes (Karlsruher Zeitung 1816, Nr. 22 v. 22. Juli, 202)

Während anfangs „Parmesankäs und Makkaroni“ (Karlsruher Zeitung 1814, Nr. 30 v. 30. Januar, 120) eine gleichsam naschbare Spezialität war, bot der Rastatter Händler Blasius Bauer schon ein breites Sortiment dauerhaft verfügbarer Feinkost aus ganz Europa. Auch Grandi folgte diesem Trend, denn in den 1820er Jahren bot er neben Käse und Makkaroni auch italienischen Reis, Maroni und Suppennudeln an (Karlsruher Zeitung 1822, Nr. 318 v. 15. November, 1476).

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Spezialitäten aus Italien – alljährlich auf der Messe (Würzburger Stadt- und Landbote 1858, Nr. 261 v. 2. November, 5)

Diese Jahrmarktpräsenz der Makkaroni lässt sich bis mindestens in die 1860er Jahre nachzeichnen (Ingolstädter Tagblatt 1863, Nr. 342 v. 9. Dezember, 1417). Sie stand im Einklang mit der wachsenden Bedeutung dieser regelmäßigen Verkaufsveranstaltungen bis zur Mitte des Jahrhunderts (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 35-36). Doch schon zuvor ging der Handel mit haltbaren Lebensmitteln aus fernen Landen an den stetig wachsenden stationären Ladenhandel über.

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Direktbezug aus Italien: Südwaren im Kolonialwarenhandel (Augsburger Tagblatt 1859, Nr. 308 v. 9. November, 6621)

Parallel konnten Interessenten spätestens seit den 1830er Jahren, wahrscheinlich aber schon deutlich früher, lokal hergestellte Makkaroni kaufen. Melber und Bäcker waren hierfür prädestiniert, nutzten die teils schon gelockerten Zunftrechte für die Herstellung auch von Makkaroni.

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Innovationen im engen Gestrüpp des Zunftwesens (Augsburger Tagblatt 1839, Nr. 334 v. 5. Dezember, 1518)

Entsprechende Absatzmärkte gab es einzig in den stetig wachsenden Städten. Als der Passauer Bäckermeister Rößl Ende der 1830er Jahre mit der Makkaronifabrikation begann, hieß es folgerichtig: „Da indeß der Absatz hier noch gering sein mag, so ist sein Fabrikat desto mehr auswärts zu empfehlen“ (Maccaroni-Fabrikation des Hrn. Rößl in Passau, Bayerische National-Zeitung 6, 1839, 106). Dabei hatte er sein junges Unternehmen echt italienisch ausgestattet, mit zwei dem eingangs gezeigten Makkaronistand nachempfundenen Werbeschildern. Noch aber waren die Preise zu hoch und/oder zu wenige bürgerliche Kunden vorhanden.

Doch die Zahl deutscher Produktionsstätten nahm seither langsam zu. Eine Ausstellung im Karlsruher Gewerbeverein präsentierte 1840 bereits heimische Makkaroni und verwies auf das Vorbild der Nachbarn: „Hessen besitzt von diesen Artikeln bereits mehrere bedeutende Fabriken“ (Allgemeine Polytechnische Zeitung und Handlungs-Zeitung 1840, 199). Ein Jahrzehnt später gewann dann gar ein fern im Norden ansässiger Fabrikant, Wittekop aus Braunschweig, Preise auf internationalen Ausstellungen. Ähnliches galt für die Firma Teichmann in Erfurt (Mittheilungen des Gewerbe-Verein für das Königreich Hannover NF 1853, Sp. 133). Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die deutlich größere Nachfrage in Süddeutschland von lokalen Produzenten befriedigt wurde.

14_Wochenblatt für Pulsnitz [...]_1867_06_22_Nr50_p201_Solinger Kreis-Intelligenzblatt_1866_03_14_Nr21_p3_Makkaroni_Deutsche-Makkaroni

Deutsch und italienisch: Doppelangebot von Makkaroni in Sachsen und dem Rheinland (Wochenblatt für Pulsnitz 1867, Nr. 50 v. 22. Juni, 201 (l.); Solinger Kreis-Intelligenzblatt 1866, Nr. 21 v. 14. März, 3)

Wurden diese Angebote anfangs unter dem allgemeinen Begriff „Makkaroni“ angeboten, ihre Güte mit der italienischer Makkaroni verglichen, so findet man spätestens ab den 1850er Jahren Annoncen „deutscher“ Makkaroni (Rhein- und Ruhrzeitung 1853, Nr. 127 v. 1. Juni, 4). Sie sollten ein Vorbote sein, denn die Durchsetzung der Makkaroni in deutschen Landen wurde von heimischen Produkten getragen, lediglich ergänzt durch die Importware aus Italien.

Risse im deutschen Italienbild

Die italienische Makkaronikultur wurde auch nach der Jahrhundertmitte weiter beschrieben, teils weiter gefeiert. Doch die Schilderungen waren nicht mehr neu, wurden teils gar als peinlich empfunden. Die Reisenden erkannten, dass auch sie beobachtet wurden, dass die Einheimischen für sie posierten: „Wer kennt nicht die entsetzlichen Aufschneidereien über das Maccheroni-Essen“ (Reisebilder auf der Heimkehr. (Fortsetzung.), Carinthia 37, 1847, 135-136).

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Der kontinuierliche Charme des Straßenverkaufs in Neapel (Neue Illustrirte Zeitung 33, 1875, Nr. 14, 9)

Das heißt nicht, dass sich in den auch weiterhin zahlreichen Berichten nicht immer noch die alten Themen wiederfinden lassen: „Nur immer allegro! O glückliches südliches, sanguinisches Temperament!“ (Ebd.; Aus den Abruzzen. I., Das Ausland 23, 1850, 29-31) galt weiterhin als passable Charakterisierung der Szenerie Neapels; und wie beim Affeneinsatz in Zirkus und bei Drehorgelmusik hieß es: „Neapel besitzt das lustigste Bettelvolk von der Welt“ (Regensburger Conversations-Blatt 1857, Nr. 50 v. 26. April, 4).

Und doch änderten sich seither mindestens vier Aspekte. Erstens beschrieben die Beobachter auch die neapolitanischen Verhältnisse verstärkt unter nationalen Aspekten, spiegelten damit den Nationalismus dieser Zeit und die wachsende Mächterivalität nach der staatlichen Einigung Italiens und der kleindeutschen Neuordnung Deutschlands unter preußischer Dominanz. Makkaroni trat als Schlachtruf an die Seite des französischen „Honneur et Patrie“ oder des polnischen „Wolnose i Niepodleglosc“ (Arthur Mueller (Hg.), Franz Freiherr Gaudy’s praktische und prosaische Werke. Neue Ausgab., Bd. 7, Berlin 1854, 47-56, hier 50). Makkaroni galt vorher schon als italienische Nationalspeise, doch nun wurde diese Zuschreibung weiter zementiert und durch die Staatsgründung unterfüttert: „Maccaroni! jedem echten Italiener von jenseits des Rubicon pocht das Herz bei diesem Namen“ (Ludwig Goldhahn, Aesthetische Wanderungen in Sicilien, Leipzig 1855, 255). Das lässt sich auch in der europäischen Populärkultur wiederfinden: Während Gioachino Rossini (1792-1868) im 1816 uraufgeführten Barbier von Sevilla die Makkaroni als Speise des Südens, als „Labsal in diesem Jammerthal“ feierte (L[eopold] K[arl] von Kohlenegg, Il Barbiere di Seviglia, in: Ders., Gesammelte Dramatische Bluetten, Stuttgart 1872, 212), stellte Jakob „Jacques“ Offenbach (1819-1880) die Makkaroni in den Kontext des Risorgimento. Seine komische Operette Coccoletto oder Die vergiftete Nudel endete mit dem Schlussgesang „Blühe, blühe und gedeihe / Maccaroni, immerdar!“ (Ed[uard] Bote und G[ustav] Bock, Coscoletto, der Lazzarone. Komische Operette in 2 Acten. Musik von J. Offenbach, Berlin 1868, 63), feierte den Frohsinn der neapolitanischen Unterschicht und schuf ein ironisches Abbild des neuen Italiens.

Zweitens weitete sich der deutsche Makkaroniblick zunehmend in das Kraftzentrum des neuen Staates. Im Norden aber untersuchte man nicht mehr die Lazzaroni, sondern das Bürgertum: „Ihr Anzug war untadelhaft: neuer Hut, schwarze Kleider, goldene Ketten, Handschuhe, Ringe an den Fingern, nichts fehlte. Die Speisekarte lag neben ihnen“ – und natürlich aßen sie ihre Makkaroni mit Gewandtheit, Gabeln und im Restaurant (Turiner Eindrücke, Ost-Deutsche Post 1864, Nr. 86 v. 26. März, 1). Makkaroni wurden eine zunehmend respektable Speise für kultivierte Menschen.

Drittens nahm man angesichts der seit den 1870er Jahren intensivierten deutschen Debatten über die soziale Frage zunehmend die Armut und das Elend der süditalienischen Bevölkerung wahr (W[ilhelm] v. Wymetal, Spaziergänge in Neapel […], Zürich 1877, 56-57). Armut war nicht anheimelnd, Lumpen dem Menschen unwürdig, die relative Armut selbst etablierter Familien erschien in Deutschland zunehmend problematisch (Neapel und seine Zustände. II, Die Gartenlaube 1857, 85-87, hier 86). Man erinnerte sich auch daran, dass Garibaldi, der als Seemann mehrere Fahrten in die Hartweizenregion Taganrog unternommen hatte, als Sozialrevolutionär die Beichtstühle in Stück schlagen wollte, um „die Makkaroni der armen Leute zu kochen“ (Der Bayerische Landbote 45, 1869, Nr. 302 v. 29. Oktober, 3). Armut bedroht(e) tendenziell bürgerliche Herrschaft.

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Der Skandal der Armut: Straßenkinder in Neapel, ca. 1890 (Foto der Gebrüder Alinari, Florenz, Wikipedia)

Viertens schließlich wurde der Süden zunehmend seiner Romantik entkleidet, erschien die dortige Makkaroniproduktion als rückständig und gesundheitsgefährdend (Genrebilder, 1846, 290). Die Trocknung glich nicht mehr länger einem auf Stangen ausgebreitetem Engelshaar, sondern als „wimmelndes Meeting lüsterner Fliegen auf […] gelben Teppichen“ (Goldhahn, 1855, 52). Im anbrechenden Zeitalter der Bakteriologie gab es neue Sensibilitäten angesichts der schwarzen Fliegenscharen: „Der Leser, welcher nebenbei ein Maccaronifreund ist – soll sich durch diese auffälligen Fliegen nicht im mindesten um seine Freude bringen lassen, denn es sind recht schöne, große, dicke, staatliche [sic!] Fliegen, und zudem genügsam, denn sie fressen ja nicht alles auf, sondern lassen immer noch soviel zurück, daß die Maccaronifreunde der ganzen Welt vollkommen genug bekommen können“ (Sebastian Brunner, Heiterte Studien in und über Italien, Bd. 1, Wien 1866, 255). Hinzu kamen die hygienischen Probleme durch die Hersteller, wurde der Teig doch auf offener Straße „von halbnackten Bengeln mit viel Mühe geschlagen, […] von grösseren fast unbekleideten Männern gepresst und mit wundersam altertümlichen Maschinen in die verlangte Form gebracht“ (F. Adler, Reisebriefe aus Italien. IV., Wochenblatt-Architekten-Verein zu Berlin 1, 1867, 114-117, hier 116). Dreck und fehlende Körperhygiene traten als gängige Marker der Unterschichten hervor, trennten die Erlebniswelt der Besucher von der Alltagswelt der Einheimischen. Da war der Weg zu anderen Imaginationen des Südens nicht mehr weit, war die „Lazzaroni- und Makkaronistadt“ doch auch eine „der Messerhelden und Kamoristen“ (Kölner Sonntags Anzeiger 1888, Nr. 613 v. 22. Juli, 2).

Trotz derartige Risse im deutschen Italienbild blieb die Faszination des Fremden aber weiterhin bestehen: Ein wenig geläutert blickte man auf die „Schooßkinder der Natur“, die „nur mitleidig auf jene nordischen Brüder sehen, die sich mit harter Arbeit, mit eisernem Fleiße im Kampfe um das Dasein bewähren müssen“ (Bilder, 1875). Das fremde Volk, es tanzte weiterhin durch die Straßen, um die Makkaronikessel: „Das Gewühl, der Oelgeruch, der Lärm, die Musik von Drehklavieren, Guitarren und Mandolinen, die Ausgelassenheit ist unbeschreiblich. Und das geht Tag für Tag, Abend für Abend so“ (Julius Stinde, Buchholzens in Italien, 27. Aufl., Berlin 1885, 115).

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Maschineneinsatz in einer mittelständischen italienischen Makkaronifabrik (Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239)

Die Kritik der Besucher lag im Trend der Zeit. Und ihr weiter dominant auf Neapel gerichteter Blick übersah viele Veränderungen just im Land der Makkaroni (Verfahren bei der Nudelfabrication in Italien, Dinglers Polytechnisches Journal 90, 1843, 80). Seit der Mitte des Jahrhunderts modernisierte sich die italienische Nudelindustrie, ermöglichten Eisenbahnen und Dampfschiffe Exporte in ganz anderen Größenordnungen, erforderte die zunehmende Urbanisierung des Nordens industriell gefertigte Angebote (Giancarla Gonizzi, La Pasta: un po’ di storia, in: Ders. (Hg.), Barilla. Centoventicinque anni di pubblicità e communicazione, Parma 2003, 1-18, hier 10-12; Giancarla Gonizzi, La technolgia del pastificio, in: ebd., 19-34). Aus lokalen handwerklichen Anfängen entwickelte sich eine exportfähige Großindustrie: Buitoni wurde 1872 gegründet, Barilla 1877, De Cecco 1886, Divella 1890, allesamt abseits von Neapel. Von den großen italienischen Herstellern reicht einzig Rummo weiter, bis 1846, zurück. Diese Firmen trugen und beschleunigten einen generellen Wandel der italienischen Kost, die immer weniger durch ländliche Märkte und handwerkliche Kleinproduktion gekennzeichnet war, sondern durch anonyme Absatzstrukturen für urbane Massenmärkte (John Dickie, Delizia! The Epic History of the Italians and their Food, London 2007, 197-232; Emanuela Scarpellini, Food and Foodways in Italy from 1861 to the Present, Houndmills 2016, 1-51). Die Makkaroni blieben dennoch italienisch, blieben Nationalspeise, mochte der Hartweizen auch zunehmend aus Russland stammen und die Maschinen vornehmlich aus der Schweiz, England, Österreich und auch Deutschland importiert werden.

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Maschinen für die Teigarbeit: Hydraulische Pressen englischer und deutscher Hersteller (Dinglers Polytechnisches Journal 159, 1861, Taf. VII (l.); Kick, 1873, p. II)

Deutsche Makkaroni – Vielgestaltige Substitute des italienischen Originals

Die neuen italienischen Firmen exportierten ihre Waren auch ins Deutschen Reich. Doch sie erlangten hier keine dominante Stellung, denn deutsche Makkaroni waren billiger, entsprachen eher den lokalen Speisegewohnheiten, mundeten der Mehrzahl offenbar besser: Um die Jahrhundertwende hieß es, „wer keine italienischen Maccaroni mag, für den gibt es deutsche Makkaroni“ (Münchner Neueste Nachrichten 1902, Nr. 190 v. 24. April, General-Anzeiger, 8).

Anders als etwa beim deutschen Rum, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Rübenzucker destilliert wurde und sich trotz niedriger Preise beim Publikum nicht durchsetzen konnte, versuchten die Hersteller hierzulange bei den Makkaroni keine ähnlichen Substitute. Bemühungen, sie aus einer Kartoffelgrundmasse herzustellen, blieben auf Frankreich begrenzt (Herrn Ternauxs Trokenstuben zu Maccaroni aus Erdäpfeln, Dinglers Polytechnisches Journal 10, 1823, 114). In Deutschland schritt man stattdessen zur Eigenproduktion aus heimischen Weichweizen. Dieser stand in der Tradition von Einkorn, Emmer und Dinkel, sein Anbau war im 19. Jahrhundert noch auf die südlichen Regionen Deutschlands begrenzt. Deutsche Makkaroni hatten anfangs daher deutlich andere küchentechnische Eigenschaften. Ihnen fehlte die für das italienische Referenzprodukt typische Festigkeit und Bissstärke.

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Makkaroni aus Standardmehl lokal hergestellt (Bayerische Landbötin 1841, Nr. 142 v. 27. November, 1242)

Die lokale Produktion konnte – wie in Neapel auch – eine größere Nachfrage bedienen. Im Münchner Konsum-Verein von 1864 wurden 1867 4949 Pfund, 1868 dann 9328 Pfund bezogen (Consum-Verein München. Rechenschaftsbericht über das IV. Quartal des Jahres 1867 und Jahresbericht für 1868, München 1868, 4). Gleichwohl blieben die frühen Makkaroni-„Fabriken“ klein. 1882 gab es in München derer siebzehn, doch in ihnen arbeiteten (inklusive der Besitzer) lediglich 30 Personen (Mittheilungen des Statistischen Bureaus der Stadt München 7, 1884, 234). Zugleich muss man sich vor Augen führen, dass diese kleinen Anbieter Makkaroni als Dachbegriff für eine breitere Formenpalette nutzten: „Sie bestehen in einer Art von Nudeln aus dem feinsten Weizenmehle, die in röhren- oder stengelartiger Form, in viereckigen, gewundenen, flachen u.s.w. Gebilden auf eigenen Maschinen bereitet werden“ (Karl Ruß, Waarenkunde für die Frauenwelt, T. 1, Breslau 1868, 318).

Wie in Italien begann eine breitere Maschinisierung der Produktion deutscher Makkaroni in den 1860er Jahren. Sie erst erlaubte billige Produkte (Prämirte Ausstellungs-Objecte, Wiener Weltausstellungs-Zeitung 3, 1873, Nr. 281, 1-2, hier 1). Schon auf der Londoner Industrie- und Kunst-Ausstellung 1862 gewannen drei deutsche Makkaroni-Fabrikanten – Bassermann, Herrschel und Dieffenbacher (Mannheim), Wittekop & Co. (Braunschweig) und C.L. Brede, Hannover – Medaillen (Amtlicher Bericht über die Industrie- und Kunst-Ausstellung zu London im Jahre 1862, H. III, Berlin 1864, 249). Das waren noch Ausnahmen. Doch auf der Wiener Weltausstellung 1873 wurde genau registriert, dass nach der Hochmüllerei nun auch die Teigwarenfabrikation Deutschlands international konkurrenzfähig zu sein schien (Friedrich Kick, Mehl, Mehlfabricate und die Maschinen und Apparate der Müllerei und Bäckerei (Gruppe IV, Section I.), Wien 1873, 4; Wilhelm Stäuber, Die Teigwarenindustrie, 3. verb. u. verm. Aufl., Wien und Leipzig 1925, 1). Das galt vor allem preislich: Gängige, aus heimischem Weizen hergestellte Faden-, Band- und auch Hohlnudeln kosteten weniger als die italienische Importware. In München hatte man für ein Pfund 1870 20 Kreuzer zu zahlen, für die deutschen Angebote dagegen nur 12½ Kreuzer (Consum-Verein München. Waaren-Preise März 1871, München 1871, 2; 1872 18 Kreuzer vers. 13 resp. 14 Kreuzer (Dass. April 1872, 2)).

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Zwei Herkunftsländer – zwei Makkaroniarten (Der Ortenauer Bote 1865, Nr. 123 v. 16. Dezember, 3 (l.); Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 74 v. 15. März, 7)

Diese höhere Preise wurde jedoch noch gezahlt, da sich die italienischen Waren „infolge der Verwendung kleberreichen Weizens […] beim Kochen weniger leicht auflösen und breiig werden“ (Kjärböll, 1907). Daher begannen die deutschen Hersteller in den 1870er Jahren ihre Rohstoffgrundlage zu erweitern und vermehrt Hartweizengrieß einzuführen – parallel zum damals intensiv diskutierten Wandel Deutschlands vom Getreideexport- zum Getreideimportland. Die neu gegründete hessische „Fabrik deutscher Maccaroni“ von August Frommel annoncierte selbstbewusst: „Unsere Maccaroni sind aus demselben Rohmaterial und auf gleiche Weise wie in Neapel bereitet; bei großer Nahrhaftigkeit haben sie den der ächten Maccaroni eigenthümlichen fleischartigen Wohlgeschmack“ (Der Bazar 21, 1875, 102). Der Hartweizen sei eben „kein italienisches Bodenerzeugnis“, entsprechend müsste man sie im Deutschen Reich in mindestens gleicher Qualität produzieren können (Ein Volksnahrungsmittel, Illustrirte Welt 29, 1881, 311).

Es sollte allerdings noch etwas dauern, bis Hartweizengrieß allgemein für deutsche Makkaroni verwandt wurden – aufgrund der dafür notwendigen leistungsfähigeren Maschinen, aber auch der andersartigen, nicht allen Konsumenten zusagenden Textur. Ein weiterer Grund lag in einer zeittypischen Innovationskultur. Fortifizierung, also die Wertsteigerung eines Produktes durch Zusatz von Nahrungsstoffen, war trotz der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten seit Mitte des Jahrhunderts zunehmend üblich. Das galt für Schokoladen, die mit Mineralstoffen und Milcheiweiß versetzt wurden. Das galt in noch stärkerem Maße für die Säuglingsnahrung und die vielgestaltigen Suppenpräparate. Eiweißzusätze, meist getrocknet und zermahlen, waren dabei besonderes wichtig. Die neuere organische Chemie pries sie als Muskelbildner, als wichtigste Nährstoffgruppe. Im Vorfeld der Pariser Weltausstellung griffen französische Hersteller dies auf, die Reststoffe der Weizenstärkeproduktion nutzten (C. v. Salviati (Hg.), Berichte über den landwirthschaftlichen Theil der Pariser Welt-Ausstellung von 1867, Bd. 1, 37). In deutschen Landen trat ab 1869 die Hammer Stärkefabrik Robert Hundhausen hervor, die ihren Kleber anfangs als Viehfutter verkaufte. Neue Absatzmöglichkeiten wurden getestet, darunter später fortifizierte Brote und Diabetikernahrung. Doch die Konkurrenz schlief nicht: Der Kölner Stärkefabrikant Carl August Guilleaume (1820-1894) nutzte seine Kleberreste seit 1877 zur Herstellung von Makkaroni von – aus ihrer Sicht – nie geahnter Vollkommenheit.

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Stolze Beschwörung überlegener Qualität: Guilleaumes mit Klebereiweiß angereicherte Makkaroni (Kölnische Zeitung 1877, Nr. 191 v. 11. Juni, 8)

Diese Makkaroni seien dem italienischen Vorbild mindestens ebenbürtig, an sich aber überlegen. Durch den Zusatz hänge deren Zusammensetzung „nicht mehr von der Beschaffenheit der Weizensorte ab […], sondern es [stehe, US] dem Fabrikanten frei[…], den Klebergehalt der Maccaroni etc. und also deren Güte zu erhöhen“ (Jahresbericht über die Leistungen der chemischen Technologie […] für das Jahr 1877 23, 1878, 645). Anders als die italienischen Makkaroni seien diese Produkte von überlegender Reinlichkeit, da durch saubere Maschinen erstellt und nicht länger auf der Straße getrocknet. Auch „an Reinheit des Geschmackes“ überträfen sie das frühere Vorbild (Volksnahrungsmittel, 1881).

Die fortifizierten Makkaroni waren allerdings dunkel, dunkler jedenfalls als gängige Nudeln und aus heimischem Weizen produzierte Makkaroni. Entsprechend testete Guilleaume weiter: Zum einen nutzte er seit Anfang der 1880er Jahre auch das Fleischpulver Carne Pura, das damals als preiswerter Ersatz des frischen Fleisches propagiert wurde. Zum anderen aber verwandte er zunehmend auch importierten Hartweizen. Er wollte seine Makkaroni dadurch zu einem Volksnahrungsmittel machen, zu einem Substitut für die so dominante Kartoffel. Deutscher Erfindergeist und deutsche Technik schienen eine neue Ernährungskultur zu ermöglichen: „Alle Kennzeichen vorzüglicher Maccaroni, Schwere, gerader, glänzender, horniger Bruch, helle durchscheinende Farbe, Elastizität, das Behalten der Röhrenform beim Kochen, unter Aufquellen bis zu ihrem dreifachen Durchmesser, ohne dabei kleisterartig zu werden, der bouillonartige Geschmack finden sich bei den Guilleaume‘schen Maccaroni wie bei den allerbesten Italienischen“ (J[ulius] Stinde, Special-Catalog für den Pavillon Carne Pura […], Berlin 1882, XVIII). Der Eiweißgehalt stieg auf bis zu 21 %, während die italienischen Makkaroni bei etwa 13 % lagen.

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Deutscher Sieg im internationalen Makkaroniwettstreit (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 359 v. 28. Dezember, 8)

Doch Guilleaumes technisch-wissenschaftliche Utopie scheiterte, „weil die Farbe der Nudeln etwas dunkler und das Vorurtheil der Käufer in diesem Punkte nicht zu überwinden war“ (Marie Ernst, Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker, Bd. 1, Leipzig 1886, 297). Hinzu kam die aus heutiger Sicht kaum ausgefeilte Werbung, die von den Vorteilen der Ware sprach, die Interessen der Käufer aber ignorierte. Noch war die Vorstellung verbreitet, dass sich ein überlegenes Produkt auch einen Markt erobern würde. Das war irrig, schon das technisch durchaus versierte Liebig-Horsfordsche Backpulver war daran gescheitert. Guilleaume schaltete zudem massenhaft Anzeigen über sein aus Makkaroni- und Nudelresten gefertigtes Tierfutter, unterminierte so Vertrauen in den Absatz und die Qualität seiner Angebote (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 65 v. 6. März, 3; ebd. 1888, Nr. 60 v. 29. Februar, 8). Aufgelöst wurde die Firma im Juli 1887, doch die Geschäfte dürften schon seit Anfang der 1880er Jahre schlecht gelaufen sein (Kölnische Zeitung 1887, Nr. 186 v. 7. Juli, 8).

Fortifizierte Makkaroni mit Klebereiweiß standen für die wachsende Bedeutung der Wissenschaft, insbesondere von Physiologie und Chemie. Gesunde, stofflich optimierte Nahrung sollte die natürlichen Vorteile der „guten Luft“ des Südens ausgleichen – und bestätigte zugleich, dass Makkaroni, diese „gebenedeite Speise“, „Gesundheit und Kraft“ gäben (Zitate n. Karl August Mayer, Neapel und die Neapolitaner oder Briefe aus Neapel in die Heimat, Bd. 2, Oldenburg 1842, 378). Das war jedenfalls das Ergebnis erster Ausnutzungsversuche im Münchener physiologischen Institut, damals das Innovationszentrum der frühen Ernährungswissenschaft. Max Rubner (1854-1932) – der bis heute für den Nobelpreis meistnominierte Wissenschaftler, der ihn nie erhalten hat – bestätigte Guilleaumes Werbetexte. Durch seine deutschen Makkaroni sei es möglich „viel Eiweiss zuzuführen und den Eiweissgehalt des Körpers zu erhalten, was mit den gewöhnlichen Maccaroni nicht möglich war“ (Ueber die Ausnützung einiger Nahrungsmittel im Darmcanale des Menschen, Zeitschrift für Biologie 15, 1879, 115-202, hier 166). Er empfahl sie daher als billigen Eiweißträger für Volksküchen, Waisenhäuser und der Militärkost (so auch Aug[ust] Guckeisen, Die modernen Principien der Ernährung nach v. Pettenkofer und Voit, Köln 1880, 47-48). Das war ein Ritterschlag für deutsche Technik, spiegelte zugleich aber die innere Rationalität der italienischen Alltagskost.

Diese Untersuchungen unterstrichen aber zugleich den Bruch, den das naturwissenschaftliche Stoffmodell sowohl für die Alltagskost, als auch die Bewertung der Makkaroni mit sich brachte. Speisen waren nicht mehr Ausdruck von Kultur, verankert im Leben und Arbeiten klar benennbarer Gruppen. Italienische Makkaroni wurden als Eiweißträger gewürdigt, konnten als Eiweißträger aber nachgemacht, substituiert und übertroffen werden. Die Folge waren die seither gängigen Vorstellungen einer wissenschaftlichen Optimierung einer Alltagskost, deren innere Rationalität nicht länger interessierte – es sei denn, sie wäre kommerziell und medial nutzbar. Man hoffte im Deutschen Reich, dass die neue deutsche Makkaroniindustrie, „namentlich wenn sich die Ansichten über rationelle Ernährung mehr Bahn brechen und der Werth ihrer Erzeugnisse als Ersatz für die oft gar zu massenhafte, inhaltslose und darum theure Kartoffelnahrung mehr erkannt wird, von nicht geringer Bedeutung werden kann“ (Die chemische Industrie 3, 1880, 327). Die oberhalb des Mains dominante Ernährung mit „unnahrhaften Kartoffeln“ (Volksnahrungsmittel, 1881) stand für Produzenten und Wissenschaftler zur Disposition. Doch selbst Italienreisende zogen da nicht mit, denn trotz ihres Lobpreises der dortigen Makkaroni finden sich in den Reiseberichten immer wieder Verweise auf „die nordischen Kartoffeln“ und auch der Sehnsucht nach “einer vernünftigen Salzkartoffel“ (Von der Saale zur Tiber. (Schluß.), Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1886, Nr. 12 v. 8. Januar, 1).

Die wachsende Bedeutung derart reduktionistischen stofflichen Denkens ermöglichte aber auch den Bedeutungsgewinn der deutschen Eier-Makkaroni. Eiernudeln waren bereits im späten 18. Jahrhundert eine Nürnberger Spezialität (Meyfeld und Enners, 1792, 32), doch dominierte die häusliche Herstellung des Suppenteigs aus heimischem Weizen, Butter und Eiern (Joseph König, Geist der Kochkunst, ueberarb. u. hg. v. C[arl] F[riedrich] von Rumohr, Stuttgart und Tübingen 1822, 59). Als gewerbliche Ware finden sie sich um 1830 beidseitig am Oberrhein und in der Schweiz (Zürcherisches Wochen-Blatt 1831/32, Nr. 41 v. 23. Mai, 3; Wochenblatt für die Amtsbezirke Offenburg […] 1840, Nr. 9 v. 28. Februar, 61). Nordbaden und das Rheinland folgten mit gebührendem zeitlichem Abstand (Karlsruher Tagblatt 1850, Nr. 141 v. 26. Mai, 729; Bonner Zeitung 1851, Nr. 302 v. 23. Dezember, 3).

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Eiernudeln als regionale Spezialität (Allgemeines Intelligenz-Blatt der Stadt Nürnberg 1826, Nr. 35 v. 22. März, 349)

Der Zusatz von Eiern zum Weizenteig – zwei bis drei Eier pro Pfund – ergab eine geschmacklich ansprechende, gelbliche Ware mit einem relativ hohen Eiweißgehalt; in gewisser Weise ersetzten die Eier den höheren Eiweißgehalt des Hartweizens italienischer Nudeln. Angesichts der ja auch öffentlich geführten Debatten über den Nährwert der Makkaroni ist es nicht verwunderlich, dass Eier-Makkaroni in den 1880er Jahren in den Anzeigen der Tageszeitungen auftauchten.

24_Duesseldorfer Volksblatt_1882_03_31_Nr088_p3_Kolonialwarenhandlung_Makkaroni_Eier-Makkaroni_Nudeln_Pflaumen_Backobst_Heinrich-Jürgens

Zwei bis drei Eier für das Pfund Makkaroni (Düsseldorfer Volksblatt 1882, Nr. 88 v. 31. März, 3)

„Deutsche Eier-Maccaroni“ (Kölner Sonntags-Anzeiger 1888, Nr. 592 v. 26. Februar, 10) waren anfangs wohl eher ein Marketingbegriff, Ausdruck überlegener heimischer Ware. Man verwandte die Hohlform, verkaufte die Langform, verarbeitete aber heimisches Mehl. Schon bald galten sie als die eigentliche „Deutsche Makkaroni“ (Eduard Baltzer, Vegetarianisches Kochbuch […], 10. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1891, 66). In den Anzeigen wurde jedoch weniger die nationale Karte gespielt als vielmehr der Hinweis auf den wertgebenden Eierzusatz. Schließlich waren Eier-Makkaroni deutlich teurer als deutsche Makkaroni sowohl aus Weich- als auch aus Hartweizen.

25_Karlsruher Tagblatt_1887_06_16_Nr162_p2109_Makkaroni_Eier-Makkaroni_Konsumgenossenschaften

Zwischen Italien und Deutschland: Eier-Makkaroni (Karlsruher Tagblatt 1887, Nr. 162 v. 16. Juni, 2109)

Die wachsende Auffächerung des Angebots deutscher Makkaroni – aus heimischem Weich- oder importiertem Hartweizen, mit Klebereiweiß oder Eiern – ging allerdings zu Lasten der Marktsicherheit. Makkaroni war nie ein klar definiertes Produkt gewesen, variierte in Form, Länge und Zusammensetzung. Angesichts fehlender Kennzeichnungspflichten mussten die Konsumenten ihren Sinnen und ihren Händlern trauen – oder aber der wachsenden Zahl regional präsenter Fabrikanten: Magdeburg, Halle a.S., Berlin, Dresden, Harzburg oder Köln waren deren Firmensitze (Brockhaus‘ Conversations-Lexikon, 13. vollst. umgearb. Aufl., Bd. 11, Leipzig 1885, 302). Makkaroni waren zwar Vorreiter verpackter Ware, wurden aber noch vielfach lose verkauft. Im Handel schied man zudem zwischen unbeschädigter Ware und sog. Bruch-Makkaroni – weniger ansehnlich, billiger, aber von gleichem Nährwert. Frühe Händlermarken bestanden, nicht aber überregional erfolgreiche Markenartikel (Chocolade- und Cacao-Fabrik von Lobeck & Co., Illustrirte Curorte-Zeitung 1893, Nr. 14 v. 20. August, 9).

26_Das Bayerland_03_1892_Nr03_p8_Versandgeschaeft_Teigwaren_Eier-Makkaroni_Bruchsal

Visuelle Rückständigkeit: Neapolitanischer Makkaronistand im späten 19. Jahrhundert (Gartenlaube 1898, 852)

Hinzu kamen die Errungenschaften der modernen Teerchemie. Die gelbe Farbe der Eiernudeln wurde schon früh mit natürlichen Farbstoffen unterstützt. Teerfarben waren billig, aber giftig. Sie wurden durch Farbengesetz von 1887 teils verboten, doch für Eier-Makkaroni gab es gewichtige Ausnahmen. Erst nach der Jahrhundertwende wuchs sich das Ringen um die Gelbfärbung der Nudeln zu einem Grundsatzkampf zwischen Nahrungsmittelkontrolle und der Teigwarenindustrie aus (A[dolf] Juckenack, Ueber die Untersuchung und Beurtheilung der Teigwaren […], Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 3, 1900, 1-17). Die Konsumenten konnten nie sicher sein, was sich hinter dem schillernden Begriff der Eiernudel, der Eier-Makkaroni verbarg (Fred Hood, Maccaroni und Konsorten, Kochkunst 6, 1904, 341-344, hier 341). Die Händler behalfen sich mit Hinweisen wie „nicht gefärbt“ oder aber „echt“ (Sächsischer Landes-Anzeiger 1889, Nr. 102 v. 3. Mai, 4), doch diese waren nicht immer glaubwürdig. Deutsche Makkaroni waren wahrlich vielgestaltig.

Diese Unsicherheit begrenzte die Verbreitung der deutschen Makkaroni, doch die wachsende Produktion führte dennoch zu einer immer breiteren Akzeptanz. Kochbücher enthielten nicht mehr länger eine Handvoll Rezepte, stattdessen konnte man durchaus zwanzig verschiedene Zubereitungsformen finden (Anna Oppre, Das neue Kochbuch für das deutsche Haus, Augsburg 1879). Weiterhin wichtig waren Suppenrezepte, nun nicht nur in Fleischbrühsuppen, sondern auch in Eintöpfen aus Erbsen oder Pastinaken. Neben den Nudeln etablierten sich die Makkaroni immer stärker als Beilage zu verschiedenen Fleischarten, aber auch Ragouts. Aufläufe blieben wichtig, ebenso Süßspeisen. Entsprechende Rezepte erschienen seither auch in den nun entstehenden hauswirtschaftlichen Zeitschriften (Die Hausfrau 3, 1879, Nr. 12, 2-3). Doch das Wirken der Frauen wurde natürlich überstrahlt von der Tafel der Allerhöchsten Majestäten.

Friedrich III. aß trotz Kehlkopfkrebs Beefsteak mit Makkaroni (Das Befinden des Kaisers, Rheinischer Merkur 1888, Nr. 97 v. 30. April, 1). Sein Nachfolger Wilhelm II. speiste kurz darauf bei seinem geliebten Frühstück „nach englischer Sitte“ Makkaroni mit Leber-Haschee, erfreute sich an deutschen Makkaroni in den von Ihm geschätzten klaren Suppen (Bensberg-Gladbacher Anzeiger 1890, Nr. 20 v. 8. März, 2). Wen wundert es da, dass die Makkaroni auch vom gehobenen Bürgertum verspeist wurden: gefüllt natürlich, gemeinsam mit Kaviar, Flusskrebsen oder Hummer (Paul von Schön[xxx], Aus der deutschen Reichshauptstadt, Münchner Neueste Nachrichten 1889, Nr. 11 v. 8. Januar, 1-2, hier 2). Die Makkaroni hatten sich in Deutschland – wie schon zuvor in Italien – abseits der Unter- und Mittelschichten etabliert; allerdings nicht als lange, schwer zu handhabende Röhren, sondern kleiner vorportioniert.

Parallel etablierten sie sich nun auch in der Krankenkost. Sie galten als „eine ganz nahrhafte, leichtverdauliche Speise, wenn sie gut durchgekocht werden“ ([Ludwig] Disque, Die diätetische Küche, Leipzig 1894, 40). Weich mussten die Makkaroni sein, sehr weich. Das bedeutete wahrlich eine ganze Stunde Kochzeit (Max Jahn, Häusliche Krankenpflege, Stuttgart 1887, 51). Zudem fanden sie sich in der Militärkost; als Menagespeise, nicht aber in den Verpflegungsvorgaben bzw. der Eisernen Portion. Da konnten, zumindest im Süden, Bäckereien kaum nachstehen. Makkaroni-Plätzchen galten als regionale Spezialitäten, auch Makkaroni-Torten und -Gebäck wurden angeboten (Peppi Bierhuber, Ein Tag in Regensburg, Regensburg s.a. [1880]; Rosenheimer Anzeiger 1907, Nr. 30 v. 6. Februar, 4). Im späten 19. Jahrhundert hatten sich die Makkaroni im Deutschen Reich allgemein durchgesetzt, wenngleich sie weder an Reis, noch gar an die Kartoffeln heranreichten (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20). Verlässliche Zahlen fehlen, da die Weizenverwendung nicht zurechenbar ist und Produktionsziffern nicht vorliegen.

Italien als armes und rückständiges Land

Italien war zu dieser Zeit ein Bundesgenosse des Deutschen Reichs, mochte der 1882 geschlossene Dreibund (mit Österreich-Ungarn, dann auch mit Rumänien) auch nicht sehr eng gewesen sein. Die Rückdeckung dieser Mächte ermöglichte dem industriell rückständigen Land eine nicht sehr erfolgreiche Kolonialpolitik in Nord-, vor allem aber in Ostafrika. Eine Großmacht wurde Italien nicht, trotz der sich im Norden langsam entwickelnden Industrie.

27_Gartenlaube_1898_p0852_Fastfood_Nudeln_Makkaroni_Straßenverkaeufer_Neapel

Visuelle Rückständigkeit: Neapolitanischer Makkaronistand im späten 19. Jahrhundert (Gartenlaube 1898, 852)

Nach wie vor bildeten die Makkaroni ein wichtiges Symbol für die deutsche Vorstellung des südlichen Landes. Die Veränderungen in der Fabrikation wurden dabei kaum berücksichtigt. Stattdessen würzte man Reiseberichte immer noch mit den alten Vorstellungen der „lüstern auf die langen gelben Makkaronischlangen“ wartenden Neapolitaner. Doch abseits des Straßenspektakels wurde die mangelnde Hygiene stetig beklagt, neben „das emsige, summende Umherschwirren und das behagliche Naschen des lieblichen Fliegengeschlechts“ traten nun auch verdreckte, unbeaufsichtigte Straßenkinder, die sich an der Trockenware labten (Neapolitanische Makkaroni, Mußestunden 2, 1905, Nr. 7, 27). Die offenkundige Armut trat immer stärker hervor, das Vertilgen der Makkaroni wurde auch als Konsequenz menschenunwürdiger Arbeits- und Lohnverhältnisse gedeutet (Die deutsche Frau im Urteil eines Italieners, Coburger Zeitung 1907, Nr. 53 v. 3. März, 5). Makkaroni, das war auch eine regionale Speise des armen agrarisch geprägten und rückständigen italienischen Südens, der damals wichtigsten Auswanderregion Italiens.

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Einzelportionen und Gabeleinsatz: Gutbürgerliche Mittagstafel (Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239)

Doch das Bild der Fremde weitete sich, einerseits durch den Aufstieg eines kultivierten Bürgertums im Norden Italiens, anderseits durch die zunehmende Präsenz von Arbeitsmigranten und ihrer Küche im Deutschen Reich. Ersteres war kultiviert, wurden ob seiner Gewandtheit im Umgang mit den glitschigen Teigwaren immer wieder gerühmt. Dagegen trat nun der für Italien konstitutive Nord-Süd-Gegensatz immer stärker hervor. Die Fotografien Wilhelm von Gloedens (1856-1931) verbanden Antikenverehrung und Homosexualität, standen für eine im deutschen Bürgertum weit verbreitete Sehnsucht nach einem längst vergangenen Arkadien. Die Einheimischen wurden Objekte, näherten sich den Eingeborenen insbesondere afrikanischer Kolonien, die eingefangen und ausgestellt wurde – in Reiseberichten, Fotografien und Völkerschauen. Das Treiben in den Straßen Neapels wurde weiter exotisiert, stand in immer deutlicherem Gegensatz zum eigenen zivilisatorischen Standard: „‚Höher geht es nicht hinauf, / Mehr erfindet Keiner drauf, / Als die grosse Herzeswonn‘ / Einer Schüssel Maccaron‘“ (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20).

29_Das Buch für Alle_30_1895_p537_Gaststaette_Italienische-Kueche_Makkaroni_Verzehrssstaetten_Wanderarbeiter

Rückzugsort für Wanderarbeiter: Italienische Gaststätte in Berlin – mit Makkaroni und Berliner Weiße (Das Buch für Alle 30, 1895, 537)

Das Treiben in Neapel gewann im späten 19. Jahrhundert jedoch eine neue Anschaulichkeit durch die wachsende Zahl von italienischen Arbeitsmigranten im Deutschen Reich. Dabei handelte es sich zunehmend um Land- und Bauarbeiter, sichtbar aber waren vor allen die zahlreichen Straßenhändler. Italienisches Speiseeis trat neben die Konditorenware der Etablierten, Südfrüchte fanden so raschen Absatz. Der Absatz war zufriedenstellend, die öffentliche Debatte aber folgte vielen Tropen der Makkaroniherstellung, insbesondere fehlender Reinlichkeit. Und doch bürgerten sich die fremden Speisen langsam ein. Für unseren Blick auf die Makkaroni sind die Koppeleffekte wichtig: Denn in den Großstädten etablierten sich ab den 1890er Jahren erste „italienische“ Restaurants, anfangs als Begegnungsorte der Wanderarbeiter, dann auch als Speiseort für interessierte Kundschaft (Eine italienische Volkskneipe in Berlin, Das Buch für Alle 30, 1895, 535; Stefano de Michielis, Osteria Italiana. Wo die Liebe zur italienischen Küche begann, München 1998). Makkaroni konnten hier vermeintlich original gegessen werden. All das war getragen durch ein Netzwerk italienischer Groß- und Einzelhändler, die Produkte aus dem Süden auch versandten. Dabei dominierten klar benennbare Weine und Spirituosen, doch neben Makkaroni (und zunehmend den zu höheren Preisen verkauften Spaghetti) traten vermehrt Parmesankäse, Olivenöl und auch Tomatenmark.

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Die Indolenz des Südländers (Lustige Blätter 25, 1910, Nr. 35, 8)

In der deutschen Öffentlichkeit verschwammen parallel Bilder des rückständigen Italiens mit denen der eher armen Arbeitsmigranten. Sie wurden denunziert, der Begriff „Makkaronifresser“ kam auf. Trotz Billiglöhnen gab es immer wieder Vorwürfe der Faulheit, der geringen Arbeitsproduktivität. Dies wurde zurückgeführt auf die vermeintlich billige Grundkost, die italienischen Makkaroni. Parallel aber wurden die deutschen Makkaroni fortentwickelt. Noch mochte man sie importieren, doch es sei nur eine Frage der Zeit, bis die billigere und bessere deutsche Ware das veraltete Original würde verdrängt haben (Wilhelmine Bird, Die Reis- und Makkaroninahrung, Die Woche 14, 1912, 1710-1711, hier 1711).

Deutschland als Makkaroniland

Aller kulinarischen Akzeptanz der Makkaroni zum Trotz fremdelten viele Deutsche mit den Makkaroni: „Der Nordeuropäer wird wohl kaum ein schwärmerischer Liebhaber der Maccaroni werden“ (Maccaroni, Kochkunst 5, 1903, 20-22, hier 20).

31_Lustige Blaetter_29_1914_Nr26_p09_Urlaub_Italien_Spiesser_Makkaroni

Wir bleiben lieber hier – Kulinarische und sonstige Vorbehalte (Lustige Blätter 29, 1914, Nr. 29, 9)

In Deutschland war man sich jedoch einerseits sicher, dass man eine billigere Ware gleicher Güte produzierte (Hood, 1904, 344). Die Bilder Italiens waren allerdings eng verbunden mit Naturnähe und frischer Kost, so dass sich deutsche Hausfrauen – wie auch bei Konserven – eine innere Reserve gegenüber den anonymen Teigwaren bewahrten (Fred Hood, Die Industrie der Nudeln, Kochkunst 4, 1902, 49-50, 65-66, hier 50). Frau war sich bewusst, dass es sich um ein „künstlich hergestelltes Nahrungsmittel“ (Maccaroni, die Nationalspeise der Italiener, Das Blatt der Hausfrau 16, 1905/06, 239-240, hier 239) handelte, dass die einfache „Mehlware“ Nährmittel fern des Südens war. Allerdings wusste man um deren küchentechnischen und zeitökonomischen Vorteile, denn die Fertignudeln waren Teil der Verlagerung häuslicher Tätigkeiten auf das Gewerbe, ermöglichten so eine schnellere Küche. Das war wichtig, zunehmend auch in Arbeiterhaushaltungen (Fleisch-Maccaroni, Frauen-Genossenschaftsblatt 6, 1907, 55): „Wo man ein schnelles, billiges, nahrhaftes Gericht bereiten will, sind Maccaroni das beste Aushilfsmittel“ (Maccaroni, 1905/06, 239).

Hauswirtschaftlerinnen wussten anderseits, dass ein Einzelprodukt immer in einem breiteren kulinarischen und gesellschaftlichen Rahmen verstanden werden muss. Denn auch in Italien veränderte sich die Pasta-Produktion, veränderten sich Nudelvorlieben und Qualitätsansprüche: „Der Italiener zieht die dünneren Röhren den stärkeren vor. Er besitzt auch einen ausgebildeteren Geschmack für die Qualität als wir. Während wir anstandslos oft schon sehr lang gelagerte Makkaroni verwenden, sucht der Italiener sie so frisch gemacht wie möglich zu erhalten, und 8 Tage alte scheinen ihm schon kaum mehr annehmbar“ (Bird, 1912, 1711). Hinzu kam der Aufstieg der Spaghetti, anfangs deutlich dünnerer Hohlnudeln, die nun als durchgängige Teigschnürchen massenhaft produziert wurden. Im Deutschen Reich gab es sie vereinzelt schon in den 1870er Jahren (Augsburger Neueste Nachrichten 1874, Nr. 24 v. 28. Januar, 299), doch setzten sie sich abseits der Spezialitätengeschäfte hierzulande erst in den 1920er Jahren durch – parallel zu sinkenden Preisen und vermehrter gewerblicher Produktion in Deutschland. Spaghetti galten zuvor als feiner „als die dicken Makkaroni, die immer etwas Teigiges behalten. Auch die kürzere Kochdauer der Spaghetti ist ein nicht zu unterschätzender Vorzug. Brauchen die dicken Makkaroni mindestens ¾ Stunden zum Garwerden, so sind die Spaghetti in dem dritten Teil der Zeit fertig“ (Makkaroni, Für unsere Mütter und Hausfrauen 1913, Nr. 15, 58). Die Fokussierung der deutschen Anbieter auf eine gleichwertig-verbesserte Makkaroni bedeutete damit eine neuerliche Entfernung vom italienischen Markt, barg aber auch neuerliche Chancen für ein neuerliches Nachahmen und Verbessern. Das galt auch für neue Beikost, denn Ketchup wurde damals noch mit Essig haltbar gemacht, mit Nelken und Muskatnuss verfeinert (H. Roßmann, Moderne Zubereitungsweisen von Tomaten-Mus, Die deutsche Essigindustrie 18, 1914, 500-501).

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Ein breit gefächertes Makkaroni-Angebot (Karlsruher Tagblatt 1904, Nr. 281 v. 9. Oktober, 6373)

Abseits dieser transkulturellen kulinarischen Debatten gewannen Makkaroni vor allen während der Teuerungsphasen im Vorkriegsjahrzehnt an Bedeutung. Makkaroni waren eine flexibel zu ergänzende Grundspeise, deren Soße mit und ohne Fleisch, mit und ohne Käse, Butter und Gemüsen zubereitet werden konnte (Rosenheimer Anzeiger 1911, Nr. 233 v. 12. Oktober, 4). Das passte zur deutschen Restküche, das erlaubte marktsensiblen Einkauf angesichts grassierender und – wie heute – politisch durchaus gewollter Inflation. Zudem etablierte sich die Makkaroni-Fabrikware als eine saisonale Übergangskost, die im Frühjahr bereits keimende eingelagerte Kartoffeln ersetzen konnten, ehe Frischware wieder verfügbar war.

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Billige deutsche Makkaroni: Anzeige des Berliner Warenhauses A. Wertheim (Vorwärts 1907, Nr. 6 v. 21. März, 8)

Nudeln und Makkaroni waren um die Jahrhundertware zumeist noch anonyme Produkte. Einzig die nationale Herkunft wurde ausgelobt, ebenso die Art der Zusätze. Deutsche Makkaroni kosteten durchweg weniger, das Attribut „italienisch“ verteuerte die Ware. Für die deutschen Hersteller war dies unbefriedigend, konkurrierten sie doch mit Angeboten eines armen Landes mit niedrigen Löhnen. Das deutsche Markenrecht wurde durch das 1894 erlassende Gesetz zum Schutz der Warenbezeichnungen modernisiert – und die Teigwarenindustrie nutzte den Markenschutz seither zur Ausbildung neuer Markenidentitäten und erhöhter Wertschöpfung.

34_Deutscher Reichsanzeiger_1914_04_16_Nr089_p18_Ebd_1913_08_15_Nr191_p15_Nudeln_Eiernudeln_Germania_Nationale-Werbung_Robert-Densow_Dresden_Otto-Kaiser_Schwarzwald_Regionale-Spezialitaeten_

Eiernudeln als Standardprodukte: Nationale und regionale Ernährungszuschreibungen (Deutscher Reichsanzeiger 1914, Nr. 89 v. 16. April, 18 (l.), ebd. 1913, Nr. 191 v. 15. August, 15)

Vorreiter waren hierbei die Eiernudelfabrikanten, deren Preise ohnehin an der Spitze lagen. Sie etablierten seit den späten 1890er Jahren zahlreichen Marken, die entweder national ausgerichtet waren, häufiger aber die regionale Nudelkultur des deutschen Südens spiegelten und stärkten. Für die Makkaroniindustrie war die Aufgabe schwieriger, war der Bezug zum italienischen Original doch ein kommunikativer Kraftakt.

35_Deutscher Reichsanzeiger_1899_09_01_Nr206_p09_Ebd_11_17_Nr273_p11_Makkaroni_Hartweißengriess_Gottfried-Niemoeller_Guetersloh_Vater_Lockwitz_Globus

Markenartikelanbieter in Nord- und Mitteldeutschland: Gottfried Niemöller, Gütersloh und Vatersche Maccaroni- und Eierwarenfabrik, Lockwitz (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 206 v. 1. September, 9 (l.); ebd., Nr. 273 v. 17. November, 11)

Die deutschen Hersteller kokettierten dabei nur selten mit den aus der Reiseliteratur bekannten Versatzstücken Italiens. Stattdessen positionierten sie ihre Makkaroni als kosmopolitische, als globale Waren. Die Hausfrau war Endpunkt einer langen Beschaffungskette, just für sie geeigneten Hartweizens. Deutsche Makkaroni hatten demnach Weltgeltung, waren moderne Produkte in einer zunehmend globalisierten Welt.

36_Deutscher Reichsanzeiger_1891_06_26_Nr148_p09_Naehrmittel_Hartweizengriess_C-H-Knorr_Makkaroni_Heilbronn

Hahn im italienischen Ambiente: Knorr-Markenzeichen 1891 (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 148 v. 26. Juni, 9)

Eine andere Markenstrategie bestand in abstrakten Markenbildern. Die 1838 in Heilbronn von Carl Heinrich Knorr (1800-1875) gegründete Firma entwickelte sich aus dem Kolonialwarenhandel, stieg in das Ersatzkaffeegeschäft ein, handelte mit Landesprodukten, insbesondere mit Mühlenfabrikaten. Knorr war einer der frühen deutschen Hersteller von Nährmitteln und Suppenpräparaten, dessen Absatz seit den 1880er Jahren durch erst regionale, dann zunehmend nationale Werbepräsenz gefördert wurde. Als Knorr 1891 auch die Teigwarenproduktion aufnahm, nutzte die Firma das bereits etablierte Dachmarkenzeichen des Hahns, bettete es jedoch noch in ein italienisches Ambiente ein. Diese „Maccheroni“ waren durchaus erfolgreich, blieben aber hinter dem Absatz anderer Präparate zurück.

37_Deutscher Reichsanzeiger_1905_02_28_Nr081_p14_Makkaroni_Kaethchen_C-H-Knorr_Heilbronn_Verpackung

Makkaroni-Verpackung von Knorr 1905 mit dem Markenbild Käthchen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 81 v. 28. Februar, 14)

Das änderte sich erst, nachdem Knorr im frühen 20. Jahrhundert in die großbetriebliche Fertigung einstieg. Von französischen Ingenieuren erwarb man neue Trocknungsverfahren (Erfolge der deutschen Maccaroni-Industrie, Kochkunst und Tafelwesen 9, 1907, 198). Damit konnte man die Makkaroni nicht nur schneller verkaufsfertig machen, sondern besaß auch ein Alleinstellungsmerkmal: „Knorrs Makkaroni […] werden aus dem besten Rohmaterial hergestellt und zwar nach besonderem, durch zwei D. R.-Patente geschütztes Verfahren. Hierbei geschieht die Anfertigung ganz automatisch, also nicht durch Händearbeit, was im Gegensatz zu den früheren Methoden ein unschätzbarer Vorteil ist“ (Unsere Nährmittel, Großer Volkskalender des Lahrer hinkenden Boten 1906, Anzeigenanhang). Die Werbung bediente damit Kernpunkte des deutschen Italienbildes: „‚Gekaufte Mehlspeisen darf meine Frau nicht kochen‘ hörte man früher allgemein und war dieser Standpunkt nicht ganz unberechtigt, wenn man bedenkt, in welcher primitiven Weise die Mehlspeisen früher erzeugt wurden. Heute gibt es jedoch modern eingerichtete Teigwarenfabriken, deren Fabrikate gegenüber das frühere Mißtrauen nicht mehr am Platze ist. So werden z.B. in der bekannten Nahrungsmittelfabrik von C.H. Knorr […] mit frischer Luft getrocknet, so daß der Teig weder mit der Hand des Arbeiters, noch mit Pappdeckeln in Berührung kommt“ (Arbeiter-Zeitung 1908, Nr. 59 v. 29. Februar, 9).

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Reichsweite Präsenz: Werbung für Knorrs Makkaroni (Der Welt-Spiegel 1912, Nr. 6 v. 11. Februar, 6)

Anfangs vor allem in Form von kleinen Werbetexten propagiert, bündelte Knorr seine zunehmend ausdifferenzierte Palette von Teigwaren unter dem Bild des Hahns, der natürlich eine Reminiszenz an die deutsche Eiernudelkultur war. Doch als Vollsortimenter bot die Firma gleichermaßen Weich-, Hartweizen- und Eier-Makkaroni an. Anders als die neapolitanischen Köche sang Knorr von der „Vervollkommnung der Maschinen“, von vollwertigen und schnell zuzubereitenden Nährmitteln (Moderne Teigwaren, Kochkunst und Tafelwesen 12, 1910, 300-302, hier 301). Auf Grundlage der schon für die Suppenpräparate etablierten Vertriebsnetze wurde Knorr zum wohl wichtigsten nationalen Makkaronianbieter im späten Kaiserreich: „Knorr-Suppen und Auto-Maccaroni nähren am besten und billigsten“ (E. Zilka, Die Schmiere. Humoreske, Der Volksfreund 1913, Nr. 34 v. 17. April, 1-2, hier 1) hieß es nun, Ausdruck auch des Größenwachstums der Nahrungsmittelindustrie: „Die Herstellung von Teigwaren oder Nudeln, die ursprünglich nur im Haushalt und mit der Hand erfolgte, ist im Laufe der letzten 25 Jahre zum Großbetrieb herangewachsen“ (Neues Verfahren zur Herstellung von Maccaroni, Kochkunst 8, 1906, 79-80, hier 80).

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Storch-Markenartikel als Qualitätsprodukt (Straßburger Neueste Nachrichten 1913, Nr. 106 v. 8. Mai, s.p.)

Knorrs Wettbewerber folgten, doch bedienten sie zumeist regionale Märkte. Das galt besonders für die Eier-Makkaroni. All diese marketingorientierten Firmen etablierten nicht nur Markenbilder (allerdings noch nicht abstrakte Markennamen), sondern setzten auch klar identifizierbare Verkaufspackungen durch.

Die Entzauberung der Makkaroni im Ersten Weltkrieg

War schon die Sprache der Markenartikelproduzenten sachlich, auf hauswirtschaftliche Vorteile ausgerichtet, so entzauberte der Weltkrieg die Makkaroni nochmals. Italien trat nicht an der Seite seiner früheren Bundesgenossen in den Krieg ein, wechselte gegen territoriale Zusagen vielmehr die Seiten und erklärte im Mai 1915 den Mittelmächten den Krieg.

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Makkaronisierung des Gegners (Wieland 1, 1915/16, Nr. 11, 9)

Dieser „Verrat“ „von landgierigen Makkaronifressern“ (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1917, Nr.282 v. 6. Dezember, 1) führte zu einer allgemeinen Schmähung des Kriegsgegners. Trotz beträchtlicher Unterstützung der Entente unterstrich der Krieg die militärisch-industrielle Rückständigkeit Italiens und mündete in sinnlose Gemetzel. Als mit massiver Unterstützung deutscher Truppen die zwölfte Isonzoschlacht 1917 mit einer fast verheerenden Niederlage der Italiener endete, wurde der Vormarsch in die Piaveebene auch im Medium des Essens zelebriert.

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Deutsche Truppen als Vorläufer der deutschen Touristen der 1950er Jahre (Ulk 46, 1917, Nr. 46, 3)

Die (virtuelle) Einverleibung der Makkaroni in eroberten italienischen Territorien war jedoch nur Teil eines breiteren Kulturkampfes. Es ging um Sprachreinigung, also nicht nur um die Tilgung der Pasta-Begriffe zugunsten edler deutscher Namen, sondern auch um die Abkehr vom nachäffenden „Makkaroni-Deutsch“ vieler Auslandsdeutscher (Eduard Engel, Weltsprachen nach dem Kriege, Daheim 52, 1915-16, Nr. 43, 10-11, hier 11). Deutsche weigerten sich „Makkaroniesser“ genannt zu werden, zumal von den als „Makkaronifressern“ attribuierten Italienern (Curt Bauer, Italienische Lebensmittel-Fata Morgana, General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1920, Nr. 10884 v. 9. Dezember, 5). Dabei ging es auch handgreiflich zu, etwa als 1919 Unter den Linden vier italienische Offiziere als „Maccaroni“ beschimpft wurden, einer davon dem Schmäher eine Ohrfeige erteilte und es nur Schutzleuten zu verdanken war, dass der folgende Auflauf nicht eskalierte (Ein neuer peinlicher Zwischenfall in Berlin, Deutsche Reichszeitung 1919, Nr. 220 v. 14. August, 2).

Die Sprachpflege zielte aber auch auf die Tilgung des Begriffs „Makkaroni“, auf dessen Ersatz etwa durch „Verrat- oder Hohlnudeln“ (J.B. Krauß, Orientfahrt im Weltkrieg. 2. Wiens wirtschaftliche Verhältnisse, Badischer Beobachter 1915, Nr. 528 v. 23. November, 2). Zahlreiche Kriegskochbücher verzichteten auf den italienischen Begriff (etwa Käthe Birke, Die fleischlose Küche in der Kriegszeit […], Karlsruhe s.a. [1917]), auch im Rahmen der Rationierungswirtschaft wurden vielfach „Hohlnudeln“ ausgegeben (Badischer Beobachter 1919, Nr. 174 v. 12. April, 4). Der Begriff fand sich zwar schon lange zuvor, begleitete die Akkulturation der Makkaroni (Tag-Blatt der Stadt Bamberg 1846, Nr. 130 v. 12. Mai, 566; Straubinger Tagblatt 1866, Nr. 220 v. 20. September, 939, Ingolstädter Tagblatt 1874, Nr. 54 v. 3. März, 216). Doch der abgrenzte Begriff der „Hohlnudel“ hielt sich bis weit in die 1920er Jahre, wurde auch von einigen Herstellern konsequent benutzt.

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Temporäre Sprachreinigung: Hohlnudel-Angebote (Karlsruher Tagblatt 1924, Nr. 382 v. 11. September, Beil., 3 (l.); ebd. Nr. 376 v. 7. September, 3)

Doch nicht nur diese Ideologisierung entzauberte die Makkaroni. Als nahrhaftes und lagerfähiges Produkt waren sie nämlich auch ein integraler Bestandteil der Rationierungswirtschaft. Dazu trugen verstärkte italienische Lieferungen 1914/15 bei (Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 185 v. 12. April, 4; Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 345 v. 17. Juli, General-Anzeiger, 1). Doch zumeist handelte es sich um deutsche Makkaroni, immer weniger aus Hart-, immer mehr aus Weichweizen. Als Mitte 1915 die deutschen Makkaroniproduzenten von der Zentralen Einkaufs-Gesellschaft Weizenkontingente zugewiesen bekamen, unterstricht dies, ebenso wie der Einbezug in die seit Oktober 1915 geltenden Höchstpreisregeln, die nicht unbedeutende Stellung des Nährmittels als Alltagsspeise (Nudeln und Makkaroni, Berliner Börsen-Zeitung 1915, Nr. 345 v. 27. Juli, 4; Preisregelung für Teigwaren, Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 556 v. 30. Oktober, 3).

Makkaroni wurden vor allem als Beikost und Suppenbestandteile verwendet, im Haushalt wohl auch als Hauptmahlzeit (Die neuen Volksküchen, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 182 v. 3. Juni, General-Anzeiger, 1). In den seit Mitte 1916 eingerichteten Volksküchen waren sie Ausdruck sowohl nationalen Durchhaltewillens als auch der schwindenden Nahrungsmittelreserven: „Wenn der Teufel in der Not auch Fliegen frißt, dann dürfte man wohl auch erwarten, daß der Münchner Fleischesser in der Not auch Makkaroni, Reis und Gemüse essen kann“ (Decker, Zentralisierung der Volksernährung, Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 299 v. 14. Juni, General-Anzeiger, 1). Weizen wurde jedoch immer knapper, so dass sich die Makkaroni-Qualität massiv verschlechterte (Makkaroni in Gefahr!, Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 59 v. 19. Februar, 3). Ersatzmittel aber gab es nicht, im Gegensatz zu Eiernudeln.

Deutsche Makkaroni als billige Alltagsspeise in den 1920er Jahre

Es dauerte bis 1922, ehe die Teigwarenproduktion wieder an alte Höhen anknüpfen konnte. Die völkerrechtswidrige Seeblockade Deutschlands wurde bis 1919 beibehalten, der Bürgerkrieg in Russland unterminierte Hartweizenimporte. Danach aber setzte eine reichsweite Gemeinschaftswerbung der Hersteller ein: Makkaroni aus Hartweizen galten dabei als „Helfer in der Not“ (C.V.-Zeitung 1, 1922, 157), als „Deutsche Ware“, der „besten Auslandsware überlegen“.

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Gemeinschaftswerbung für deutsche Teigwaren – inklusive deutscher Makkaroni (C.V.-Zeitung 1, 1922, 206 (l.); ebd., 147)

Trotz weiterer Rückschläge während der Hyperinflation boten insbesondere die großen Markenartikelproduzenten seit Mitte der 1920er das bekannt breite Sortiment deutscher Makkaroni an. Mehr schien möglich, entsprechend finden sich zu dieser Zeit vermehrte Rezeptangebote, um die Teigwaren vielfältiger einzusetzen (Gerichte von Makkaroni, Haus Hof Garten 46, 1924, 113)

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Ausbreitung starker, reichsweit präsenter Markennudeln (Vorwärts 1926, Nr. 462 v. 1. Oktober, 4)

Die deutschen Herstellen waren seit Mitte der 1920er Jahre jedenfalls mit sich im Reinen: „Die in Deutschland hergestellten Makkaroni werden selbst von den Italienern als qualitativ vorzüglich anerkannt“ (Die italienische Küche, Lippspringer Anzeiger 1933, Nr. 35 v. 11. Februar, 8). Die lange Akkulturation und die vielfältigen gewerblichen Bestrebungen hatten die italienischen Makkaroni aus ihrer Sicht letztlich überflüssig gemacht. Das zeigte sich beispielhaft in der Selbstdarstellung des damals größten deutschen Makkaroni- und Nudelproduzenten, der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Konsumvereine (GEG), die zwei Großbetriebe in Riesa und Mannheim unterhielt und ca. zehn Millionen Verbraucher versorgte. In dieser Säule der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung waren Teigwaren und Makkaroni Belege für sozialpolitischen Fortschritt sowohl durch erschwingliche Qualitätsnahrung als auch durch vorbildliche Arbeitsbedingungen: „Während wir die großen, luftigen Arbeitssäle durchschreiten, fällt uns die peinliche Sauberkeit auf, die überall herrscht. Durch hohe Fenster flutet das Licht; es mag ruhig bis in die äußerste Ecke dringen, Staub wird es nirgends finden. Alle Beschäftigten tragen weiße Arbeitskleidung, die ihnen vom Betrieb geliefert wird. Angesichts dieser bewußt und mit modernen Mitteln angewandten Hygiene erscheint es sonderbar, daß es heute noch Hausfrauen gibt, die da meinen, die Makkaroni müßten italienischen Ursprungs sein, wenn sie munden sollen“ (Der Werbegang der Makkaroni, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 8, 14).

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Massenmarkt und Sortimentsspreizung: Angebote der Konsumgenossenschaften (Vorwärts 1928, Nr. 249 v. 11. September, 10)

Der Stolz der Konsumgenossenschaften war eingebettet in die gängigen Stufentheorien der damaligen Nationalökonomie und des Marxismus. Makkaroni waren ein Beispiel für „die Vorteile hygienisch einwandfreier, maschineller Großproduktion von Nahrungsmitteln gegenüber der handwerksmäßigen Erzeugung“ (Herstellung von Makkaroni durch die GEG und – in Italien, Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 113-114).

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Hygiene und Maschinensaal: Einblick in die konsumgenossenschaftliche Teigwarenfabrik in Riesa (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 113)

Der Fortschritt im Deutschen Reich wurde durch den Gegensatz zur italienischen Originalware nochmals unterstrichen: „Vergleicht man hiermit die Bilder, welche die Herstellung der italienischen Makkaroni zeigen, dann steigt unwillkürlich ein Widerwillen gegen die sogenannten ‚echten‘ Makkaroni auf, die leider auch heutzutage immer noch gefordert werden. Straßen, Hof und Marktplätze, düstere schmutziggraue Räume ohne Licht und Luft sind die Arbeitsstätten, in denen die Nudeln noch genau so wie vor 100 Jahren produziert werden, nur daß die benutzten Werkzeuge, besonders die Stäbe zur Herstellung des Hohlraumes der Makkaroni nicht mehr aus Holz, sondern aus Eisen bestehen. Auch heute noch wird der Teig mit den Füßen geknetet, und noch immer hängt man die fertigen langen Nudeln auf Leinen zum Trocknen an die Sonne, während man die kleineren Suppennudeln auf Zeitungspaper am Boden dürr werden läßt“ (Herstellung, 1926, 114; zur Technik s. Helmut Emmerling, Die deutsche Teigwarenindustrie, Phil. Diss. Leipzig 1929).

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Überwundene Zustände: Pasta-Trocknung in den Straßen Neapels (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 19, 1926, 115)

Damit übersah man die Modernisierung auch der italienischen Großbetriebe. Doch man nutzte die bestehenden kulturellen Vorstellungen über Italien – im Falle der Konsumgenossenschaften sicher vor dem Hintergrund eines faschistischen Regimes, das als reaktionär gedeutet wurde, als Unterdrückungsregime von Landbesitzern und Industriellen. Zugleich erlaubten die nicht unbeträchtlichen Investitionen der Konsumgenossenschaften und auch der Markenartikelproduzenten einen höheren Makkaronikonsum während der Weltwirtschaftskrise. Wie schon zur Zeit der Lebensmittelteuerung vor dem Ersten Weltkrieg wurden deutsche Makkaroni neuerlich zu einer Krisenspeise.

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Nahrhaft mit und ohne Fleisch (Vobachs Frauenzeitung 38, 1935, H. 7, 16)

Sie standen neuerlich für eine varianten- und nährstoffreiche Grundversorgung, eiweißreich, leicht verdaulich, mit hohem Sättigungswert. Ergänzt durch Pflaumen, Backobst und Gemüse konnte man sich trotz Armut und Arbeitslosigkeit vitamin- und mineralstoffreich ernähren (Die Küche im Januar, Westfälische Neueste Nachrichten 1933, Nr. 15 v. 18. Januar, 11). Das blieb auch nach der Machtzulassung des „deutschen Mussolinis“ so. 1938 konsumierten die Deutschen immerhin 1,73 kg pro Kopf und Jahr gewerblich hergestellter deutscher Makkaroni (Rudolf Drescher, Die Teigware, Die Ernährungswirtschaft 2, 1955, 208-209, hier 209).

Auftakt eines neuen Sehnsuchtslandes Italien

Damit könnten wir gesättigt und ernüchtert enden. Doch um zu erklären, warum die italienische Küche weiterhin als Sehnsuchtsküche fungierte, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Touristen erobert und in Restaurants von Migranten hierzulande zunehmend „original italienisch“ dargeboten wurde, sollten wir abschließend noch auf die neuerliche Verzauberung der Makkaroni und Italiens blicken.

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Dampfende Makkaroni, dampfender Vesuv: Neapel als Reiseliteraturidylle (Agnes Harder, Capri und der Golf von Neapel, Bielefeld und Leipzig 1911, 1 (l.), 3)

Diese setzte nie wirklich aus, mochte sie auch in den Hintergrund treten und immer weniger geglaubt werden. Der Massenmarkt des bürgerlichen Tourismus unterstützte diese, ebenso die langsam wachsende Zahl von italienischen Feinkostgeschäften (Münchner Neueste Nachrichten 1911, Nr. 466 v. 5. Oktober, General-Anzeiger, 2) und italienischen Eisdielen in der Zwischenkriegszeit. Die Schönheit des Landes, der Reichtum seines kulturellen Erbes, gewiss auch die reflektierte Freundlichkeit der Einheimischen gegenüber zahlungskräftigen Gästen setzten sich immer wieder durch gegen die Überlegenheitsgelüste der deutschen Makkaroniesser: „Also wohl nach Italien. Und mit einem F-D-Zug, um möglichst schnell in das von der deutschen Seele gesuchte, heißgeliebte Land der Makkaroni zu gelangen“ (Ingolstädter Anzeiger 1927, Nr. 219 v. 24. September, 3).

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Spiel mit den widerspenstigen Makkaroni: Italiens Wendung gegen die dickmachenden und devisenträchtigen Hartweizenprodukte sowie der Kampf mit dem Objekt im Restaurant (Jugend 35, 1930, 252 (l.); Das interessante Blatt 55, 1936, Nr. 49 v. 3. Dezember, 14)

Trotz des Bedeutungsgewinns der Spaghetti und der breiteren Rezeption „italienischer“ Speisen wie etwa Olivenöl und Tomaten kreiste die Reästhetisierung Italiens allerdings immer noch um die Makkaroni. Dies unterstreicht die Langlebigkeit kultureller Vorstellungen, ihre virtuelle Kraft. Menschen leben in Träumen und Albträumen, sehen Hexen und Ufos, imaginieren die Kost der Anderen, lassen davon nicht ab, weil sie wissen, dass Traumwelten helfen, den Alltag zu bestehen. Wissenschaftliche Aufklärung steht daher in struktureller Defensive.

Der Zeitpunkt der neuerlichen Verzauberung der Makkaroni überrascht, denn in Italien standen sie unter wachsendem Druck. Das galt nicht nur für den allgemeinen Bedeutungsrückgang kohlenhydrathaltiger Lebensmittel im 20. Jahrhundert, den wir gemeinhin als Verbreiterung der Ernährungsvielfalt deuten. Das gilt insbesondere für die 1928 von Mussolini mit Spatenstich in der Po-Ebene eingeleiteten Kampagne „Reis gegen Makkaroni“ (Mussolini, der Reformator des Küchenzettels, Bergische Post 1928, Nr. 47 v. 24. Februar, 1). Der heimische Reis kostete schließlich weniger Devisen als das Importgut Hartweizen. Breite Wellen schlug der Kampf des faschistischen Künstlers Fillippo Marinetti (1876-1944), der im Umfeld der immer wieder neu aufgewärmten futuristische Küche bis heute Kulturwissenschaftler*innen in den Bann schlägt. 1930 rief der Berufsprovo jedenfalls zum Kampf gegen die Makkaroni auf: „‚Passati!‘, rief er in den Saal, ‚ihr Trottel von vorgestern! Die Makkaroni schwemmen auf: sie schaffen Spitzbäuche. Nieder mit den Spitzbäuchen!‘“ (Marinettis Kampf gegen die Makkaroni. Ein Manifest der ‚Futuristischen Küche‘, Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 319 v. 22. November, 5). Die schlichte Logik dahinter war, dass Makkaroni dick machen sollten, also träge, dass ein träges Volk aber anderen unterlegen sei. Andere Kost sei erforderlich, etwa die „wehrhafte Beweglichkeit“ der Minestrone, deren Gemüse die Vielfalt Italiens in sich vereinige (Futuristisch-faschistische Speisen, Salzburger Wacht 1931, Nr. 184 v. 13. August, 3). Die italienische Exportindustrie protestierte pflichtgemäß, eine Breitenwirkung derartiger Provokationen blieb aus.

Auch die nach der wirtschaftlichen Stabilisierung wieder einsetzende „germanische Völkerwanderung dem Süden zu“ blieb pastaumkränzt (Pasta asciutto. Ein kulinarischer Wegweiser für Italien-Reisende, Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 78 v. 22. März, 3). Die Makkaroni waren eine billige Nationalspeise, ihr Verzehr erlaubte den temporären Eintritt in die fremde Lebensweise. Die Besucher waren nicht mehr länger unbeteiligte Berichterstatter: „Fremdling, der du über die Alpen gen Süden wanderst, stecke deine Nase nicht nur in den Baedeker und laufe in den zahllosen Kirchen und Museen herum, sondern betrachte dir auch gelegentlich die Landschaft, aus der diese Kunst gewachsen ist, und, wenn du es ganz gescheit anstellen willst, dann probiere auch ihre Früchte, ihre Weine, ihre Artischocken und ihre Fischsuppen. Du versetzt dich dadurch in gehobene Stimmung und bist noch mal so aufnahmefähig für all das Schöne und Unvergeßliche, was dich umgibt“ (Karl Kornicker, Italienisches Küchenlatein, Badische Presse 1931, Nr. 198 v. 29. April, 3). Die immer wieder beschriebene Art (ja, Kunst!) des Makkaroni-Essens wurde nun Teil eines Erlebnisses, eines Erlebnisurlaubs.

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Der Zauber der italienischen Speisen – und der richtige Dreh beim Essen: Franzose, Italiener und Österreicher beim Makkaroniverzehr (Österreichische Illustrierte Zeitung 35, 1925, 404)

Die Vielfalt der Makkaroniformen wurde nicht mehr kategorisiert und weitergegeben, sondern sie war nun Teil der Entdeckerfreude, des Abenteuers. Essen wurde zur Selbsterkenntnis, die Gewandtheit mit Löffel und Gabel zeigte dem Besucher, wer er war: Sage mir, wie Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist: „Diese endlos langen, glatten Dinger wollen dir immer wieder von der Gabel entwischen. Verliere nicht die Geduld. Das will alles gelernt sein. […] Versuche es einmal mit Gabel und Löffel, so wie es die Italiener machen. Nimm erst ganz wenig, führe die Gabel senkrecht mit der Spitze nach unten auf deinen Teller und versuche dann durch Drehen der Gabel die Makkaroni elegant herumzuwickeln und festzuhalten. Mache es nicht zu schwunghaft, da sonst die schöne Soße in weitem Bogen herumspritzt und unter Umständen dein neuer Anzug […] Schaden nimmt“ (Kornicker, 1931, hier: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 228 v. 24. August, 3). Ja, „das Spaghetti-Essen ist ein Sport, der gelernt sein will. Der richtige Schlangenfraß! Glaubt man sie richtig auf der Gabel zu haben, dann rollt die ganze Spule regelmäßig wieder ab! Man muß den Löffel und den richtigen Handgriff dazu haben. Ich möchte einmal eine Schönheitskonkurrenz im Spaghetti-Essen erleben!… Es ist inzwischen Abend geworden. Die blaue Abendstunde am kleinen Hasen. Der freundlich-familiäre Feierabend im alten Fischerstädtchen. Ganz silbern glänzt die Adria und rings um mein gesättigtes Sein erwacht vor allen Türen die fröhliche Geselligkeit dieser letzten südlichen Tagesstunde. Mit Lichterglanz und Sirenenpfiff naht der abendliche Dampfer. Der kleine Platz belebt sich. Im weinumrankten Fenster über mir erscheint eine junge Mutter mit ihrem Säugling im Arm: Madonna im grünen Kranz. Die Hafenglocke läutet eiligst die Hoteldiener und Portiers herbei. In Hemdärmeln die einen, die andern mit dem gekreuzten Schlüsselpaar, dem Symbol ihrer Würde, auf dem Uniformkragen. Sie bilden in verträglichem Wettstreit Spalier, während die vollzählige Jugend des Städtchens die fremden Ankömmlinge wertkundig beäugt. Es sind meist Deutsche, und alle werden Makkaroni essen wollen!“ (R[ené] Prévot, Makkaroni im kleinen Hafen, Münchner Neueste Nachrichten 1932, Nr. 109 v. 22. April, 3) Italienische Makkaroni, wohlgemerkt.

So wandelten die Deutschen schon 1930 zwischen der Billigspeise, ihrer deutschen Makkaroni, und der Urlaubsspeise, dem einfachen Mahl in der Ferne. Auf die italienische Küche konnte man sich einigen: Ein Abglanz des Paradieses, des Menschen im friedvollen Naturzustand, in einer Umgebung der Fülle. Wen kümmert(e) es, dass solche Bilder wie Seifenblasen zerplatzen, wenn wir auch nur ein wenig nachdenken. Wir wollen nicht nachdenken. Und so essen wir bis heute lange, al dente gekochte Weizenteigware in Soße getunkt – im Kopfe schwelgend, im Magen verdauend.

Uwe Spiekermann, 20. Juni 2023

Deutscher Rum – Gestaltungsutopie, Importalternative, Billigangebot

Rum – das war ein Trank, der von Ferne und Abenteuer kündete, von der Karibik, den Kämpfen zwischen Briten, Franzosen und Spaniern; und natürlich von der Seefahrt und Piraten: Yo ho ho, und ne Buddel voll Rum… Rum stand aber auch für eine begehrte Kolonialware mit zuvor unbekanntem rauchig-süßen, scharf-milden Geschmack. Wie Zucker, Kaffee, Kakao, Tee und Arrak veränderte sie die europäische Esskultur seit dem 18. Jahrhundert. Rum verkörperte die koloniale Plantagenwirtschaft, war Anlass und Zahlungsmittel des Sklavenhandels. Adam Smith (1723-1790), Vater des modernen Wirtschaftsliberalismus, formulierte eindeutig: „Rum ist ein sehr wichtiger Artikel bey dem Handel, den die Amerikaner nach der afrikanischen Küste betreiben, von da sie Negersklaven zurück bringen“ (Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, 2. verb. Ausg., Bd. 2, Breslau und Leipzig 1799, 503).

Rum war jedoch auch ein Importgut des Ausschlusses: Die deutschen Lande mochten um 1800 bedeutende Dichter und Denker hervorbringen, sich langsam zu einer Großmacht der Wissenschaft und des Gewerbefleißes wandeln. Doch im Blick auf die beherrschte Welt der Ferne, auf die vom Westen okkupierten kolonialen Peripherien, sah man kränkende Defekte der eigenen Lebenswelten. Die Kolonialwaren waren nicht nur begehrte Ergänzungen. Sie verwiesen immer auch zurück auf die Enge des Eigenen – und seit dem späten 18. Jahrhundert setzte dies neue wissenschaftlich-industrielle Kräfte frei, um Importwaren durch Surrogate zu ersetzen.

Man begann mit der Kultivierung der Zichorie und anderer Pflanzen als Kaffeeersatz, verstärkte den heimischen Tabakanbau. Wichtiger noch war die Nutzung der gemeinen Rübe zur Zuckerproduktion. Die Extraktion war aufwändig und teuer, doch insbesondere die Kontinentalsperre 1806 – also die Wirtschaftsblockade Großbritanniens und seiner Kolonien durch die unter napoleonischer Herrschaft stehenden europäischen Staaten – intensivierte die staatliche Förderung des Rübenzuckers. Das „heimische“ Gewerbe bot eine Alternative zum britisch dominierten globalen Rohrzuckerhandel. Rübenzucker etablierte eine der ersten Industrien auf dem Lande: Die „rationale“ Landwirtschaft nutzte Wissenschaft und Technik. Geist, angewandtes Wissen über die Natur, erlaubte die Produktion moderner Süße auf eigener Scholle. Rübenzucker galt als Triumph des Menschen über die Natur, als Sieg der Agrarwissenschaft und des Maschinenbaus über die Widrigkeiten von Boden und Klima. Die Globalisierung führte eben nicht nur zur wirtschaftlichen Durchdringung und Ausbeutung kolonialer Regionen, sondern löste vielfältige Gegenreaktionen in den Zentren der westlichen Welt aus. Der Rübenzucker unterstrich, dass die klimatisch gemäßigten Länder die brutale und teure Kolonialherrschaft eigentlich nicht benötigten, dass es zumindest möglich war, viele der dortig kultivierten Produkte zu substituieren.

Rum aus Rübenzucker?

Rum war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in deutschen Landen nicht weit verbreitet. Er war teuer, passte nicht recht in eine Trinkkultur, in der das Bier dominierte, im Südwesten und der Mitte auch der Wein. Doch der für die Ernährungssicherheit so wichtige, im späten 18. Jahrhundert einsetzende Kartoffelanbau veränderte das Spirituosenangebot (Uwe Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 31-32). Am Ende der napoleonischen Zeit ging wachsende Ernährungssicherheit einher mit billigem „Branntwein“ aus Kartoffeln. Wegbereiter der rasch beklagten „Branntweinpest“ war der 1817 patentierte Pistoriussche Brennapparat (F[riedrich] Knapp, Lehrbuch der chemischen Technologie […], Bd. 2, Braunschweig 1847, 436-437). Billiger Kartoffelschnaps ermöglichte nicht nur einen massiv steigenden Alkoholkonsum, der sogar die heutigen Mengen übertraf. Hochprozentige Destillate wurden nun auch Kennzeichen und Kernproblem der deutschen Trinkkultur bis zum späten 19. Jahrhundert. Hochwertige und teure Trinkbranntweine wie der heimische Weinbrand/Kognak und die Importwaren Rum und Arrak profitierten von dieser Entwicklung indirekt, wurde ein „wärmender“ Trank doch allgemein üblich, waren die besseren Sorten bürgerliche Alternativen zum billigen Fusel der unteren Klassen.

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„Deutscher Rum“ für deutsche Bürger (Allgemeiner Anzeiger [Gotha] 1812, Nr. 117 v. 2. Mai, Sp. 1216)

„Deutscher Rum“, ein rumartiger Trinkbranntwein hergestellt aus heimischen Rohstoffen, entstand zur Zeit der Kontinentalsperre. Rumfabriken wurden schon vorher beantragt, bekannt die ablehnende Haltung Friedrich II. gegenüber dem Gesuch der Berliner Firma Krüger & Co. 1775: „Ich wünsche, daß das giftig garstigs Zeug gar nicht da wäre und getrunken würde“ (Friedrich der Große. Denkwürdigkeiten seines Lebens, Bd. 2, Leipzig 1886, 247). Doch was damals unter „Rum“ verstanden wurde, ist unklar. Das galt auch für die 1808 in Jena gegründete Deutsche Rum-Fabrik. Ziel „vaterländischen Kunstfleißes“ war jedoch, einheimische Rohstoffe so zu nutzen, dass am Ende ein dem westindischen Rum vergleichbares Getränk produziert werden konnte. Entsprechende Angebote gab es in „mehreren Gegenden Deutschlands“, doch es fehlte ihnen der charakteristische Geruch. Anders bei einem damals in Wiesbaden produzierten Trank: „Die mir zugeschickte Probe habe ich, zur Bereitung des Punsches verwendet, in Gesellschaft einiger Freunde versucht, und unser Urtheil fällt dahin aus, daß dieser vaterländische Rum dem westindischen sowohl pur, als im Punsch, an Stärke, Geschmack und Geruch ganz gleichkommt und keine Betäubung des Kopfes veranlaßt“ (J.S. Hennicke, Deutscher Rum, Allgemeiner Anzeiger (Gotha) 1813, Nr. 75 v. 17. März, Sp. 745-746). Für diesen deutschen Rum stand der Frankfurter Destillateur Johann Heinrich Rauch Pate: „Nach einer langen Reihe von Versuchen, die er mit großem Kostenaufwand viele Jahre hindurch angestellt hatte, gelang es ihm endlich, ein Verfahren zu entdecken, einen vollkommen guten Rum und Arac, welche dem Beyfall der Kenner erhalten haben, zu fabriciren“ (Berichtigungen und Streitigkeiten, Ebd., Nr. 191 v. 20. Juli, Sp. 1782). Sein Sohn Johann Carl Rauch betrieb erst mit einem Kompagnon in Wiesbaden, ab 1812 dann auf eigene Rechnung in Frankfurt a.M. die Herstellung und den Vertrieb dieses Kolonialwarensurrogats. Kontinuierlicher Erfolg blieb ihm jedoch versagt.

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Bezeichnung ohne Präzision (Mittheilungen des Gewerbevereins für das Königsreich Hannover 1834/35, Sp. 504)

„Deutscher Rum“ wurde auch in der Folgezeit aus Rübenzuckerbestandteilen hergestellt. Die seit 1828 rasch wachsende Zahl bilateraler Zollverbünde, die 1834 in den Deutschen Zollverein mündete, führte zu deutlichen Zollerhöhungen und entsprechenden Preissteigerungen des Importrums: „Seitdem man in Deutschland bemühet war, die einheimischen zuckerhaltigen Pflanzen auf Gewinnung des festen Zuckers zu behandeln, um den früherhin so hoch im Preise stehenden ausländischen zu entbehren, und in der weißen Runkelrübe ein vorzügliches Material dazu fand, war man bemüht, auch die Abgänge derselben auf Branntwein, Rum und Essig zu benutzen, und bereitete eine, wenngleich nicht dem Jamaika-Rum ganz gleichkommende, jedoch sehr ähnliche geistige Flüssigkeit“ (Albert Franz Jöcher, Vollständiges Lexikon der Waarenkunde in allen ihren Zweigen, 3. verb. u. verm. Aufl., Bd. 2, Quedlinburg und Leipzig 1840, 718-719). Derartiger „Rum“ wurde teils auch aus Rübenzucker hergestellt. Dieser wurde in Wasser aufgelöst, erhitzt, mit Hefe in Gärung versetzt. Die so hergestellte Zuckermaische destillierte man, gab reinen Alkohol hinzu, erhielt dadurch einen Branntwein. Doch nicht nur Fachleute warnten: „Dieser aus Zucker gewonnene Weingeist darf aber nicht mit dem Rum verwechselt werden“ (Wilhelm Keller, Die Branntwein-Brennerei nach ihrem gegenwärtigen Standpunkte, T. 2, Leipzig 1841, 93). Der Geschmack war deutlich anders, gehaltvoll, aber fade. „Rumfabriken“ variierten daher seit den 1830er Jahren die Grundstoffe: Teils nutzte man importierte Rohrzuckermelasse, teils Abfallprodukte der Rübenzuckerraffination. Deutsche Firmen übernahmen entsprechende Verfahren meist von Vorbildern in Großbritannien und den Niederlanden. Der in Frankreich propagierte Import von Zuckerrohr fand in deutschen Landen dagegen keinen Widerhall (Ueber die Errichtung von Baumwoll-, Kaffee- und Zukerpflanzungen in Frankreich, Polytechnisches Journal 42, 1832, 220-221, hier 221).

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Rumfabrikation aus Weingeist und mehr (Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Stralsund 1843, Nr. 31 v. 3. August, Oeffentlicher Anzeiger, 173)

Niedrige Preise waren zentral für die Vermarktung derartiger Alkoholika – und seit den 1830er Jahren nahm die Zahl sog. „Rumfabriken“ zu. Anfangs verschnitten sie importierten Rum mit Weingeist, koppelten also Rohrzucker- und Kartoffelprodukte (C[arl] F. W. Dieterici, Statistische Uebersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate […] 1831 bis 1836, Berlin, Posen und Bromberg 1838, 307). Doch seit den 1840er Jahren verzichteten sie zunehmend auf „echten“ Rum, setzten vielmehr auf aromatisierten und gefärbten Kartoffelsprit. Das Resultat war billiger als „Deutscher Rum“ aus Zucker, doch trotz aller Tricks und Zusätze „immer noch sehr schlecht“ (Rum, in: Allgemeine Encyclopädie für Kaufleute und Fabrikanten […], 3. Aufl., Leipzig 1838, 672-673, hier 673). Derartige „Rumfabriken“ entstanden zumeist im Osten Preußens, in der Nähe zur Kartoffelspritproduktion (Gewerbe-Tabelle der Fabrikations-Anstalten und Fabrik-Unternehmungen aller Art […], Beil. IV, Berlin 1847, 44). Sie nutzten die Bezeichnung „Deutscher Rum“ also nicht nur für Rübenzucker-, sondern auch für Kartoffelprodukte. Selten gebraucht, bezeichnete er in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Kunstprodukt, ein Billigangebot.

04_Saechsischer Landes-Anzeiger_1891_12_24_Nr299_p4_Dresdner Nachrichten_1885_01_25_Nr026_p5_Punsch_Rum_Deutscher-Rum_Kunstrum

Deutscher Rum als Chiffre für Kunstrum (Sächsischer Landes-Anzeiger 1891, Nr. 299 v. 24. Dezember, 4 (l.); Dresdner Nachrichten 1885, Nr. 26 v. 25. Januar, 5)

Dadurch geriet der teurere „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker ins Hintertreffen, verschwand gar vom Markte. Gleichwohl gab es ab und an weitere Versuche, Rum aus anderen heimischen Rohstoffen herzustellen. Während für Destillateure und Chemiker um die Jahrhundertmitte klar war, dass Importrum mit den vorhandenen Mitteln nicht herzustellen war, waberten die Hoffnungen auf ein mittels neuer Technik hergestelltes Rumsurrogat in der bürgerlichen Öffentlichkeit weiter. Der Aufstieg der organischen Chemie nährte solche Vorstellungen: Die Agrikulturchemie führte bereits zu höheren Erträgen, das 1856 entdeckte Mauvein öffnete die Tür zu einer neuartigen Welt künstlicher Farbstoffe, die mittelfristig auch koloniale Naturfarbstoffe ersetzen sollten. Dennoch verwundert die Geschichte der im Januar 1860 in Dresden gegründeten Sächsischen Rum-Fabrik.

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Rum aus Biertrebern: Anzeige für die Sächsische Rumfabrik (Leipziger Zeitung 1859, Nr. 252 v. 23. Oktober, 5171)

Der aus dem Landkreis Bautzen stammende Braumeister Peter Noack hatte Anfang 1859 ein Verfahren zur Herstellung von Porterbier, Arrak und insbesondere Rum vorgestellt. Ausgangsmaterial sollte Biertreber sein, ein Malzrückstand der Brauerei, die Gewinne alles Vorherige in den Schatten stellen (Dresdner Journal 1859, Nr. 32 v. 9. Februar, 127). Die anfangs für die neu zu gründende Aktiengesellschaft anvisierten 250.000 Taler ließen sich nicht realisieren, doch mit beträchtlicher Werbung und immensen Renditeversprechungen kamen stattliche 50.000 Taler zusammen. Dabei hatte es an Warnungen nicht gefehlt, „echter Jamaika-Rum werde eher aus der Erde hervorsprudeln, bevor eine Actie der besagten Rumfabrik die in Aussicht gestellten mir fabelhaften Procente bringt“ (H. Hollnack, Noch einen Nachricht wegen einer zu begründenden Rumfabrik, Ebd., Nr. 259 v. 9. November, 1044). Und so kam es: Die Produktion erbrachte gar klägliche Erträge, das Unternehmen wurde bereits Mitte März 1860 aufgelöst. Die Einlagen waren verloren, Maßregeln gegen den Patentinhaber verliefen im Sande (Dresdner Nachrichten 1860, Nr. 60 v. 29. Februar, 3; ebd., Nr. 71 v. 11. März, 2). Noack führte die Firma weiter, offerierte auch vermeintlichen Treberrum, doch dieser war wenig ansprechend (Ebd. 1860, Nr. 147 v. 26. Mai, 8). Die Regionalposse diente als Beleg für die auch nach der Weltwirtschaftskrise 1857/58 weiter bestehenden Gefahren unregulierter Aktiengesellschaften und einer zu starken Wirtschaftsliberalisierung (Th[eodor] Günther, Die Reform des Real-Credits, Dresden 1863, 69). Doch sie spiegelte zugleich eine weit verbreitete Gläubigkeit an die mythenlastigen Mächte von „Wissenschaft“ und „Technik“. An die Stelle der Alchimisten waren scheinbar großsprecherische Unternehmer getreten.

Ernüchternde Realität: Rumkonsum und Rummarkt in Deutschland im 19. Jahrhundert

Das Scheitern von Substituten des Importrums darf nun aber nicht zur Annahme verführen, dass sich im Alltag die bessere, echte Ware gegenüber den Surrogaten durchgesetzt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Gewiss, Rum wurde importiert, es gab durchaus „echten“ Rum zu kaufen. Doch er blieb eine seltene Ausnahme. Sein hoher Alkoholgehalt, ca. 72-75 % für den am höchsten geschätzten Jamaika-Rum, machte ihn zu scharf für den direkten Konsum. Echter Rum, original Rum – bei alldem handelte es sich fast durchweg um Verschnitte. Präzise Analysen fehlen, doch kann man bei den besten Sorten Trinkrum von einem Alkoholgehalt von ca. 52 bis 55 % ausgehen. Einstellen für den Verkauf hieß dann Zugabe von (destilliertem) Wasser. Das erfolgte vielfach schon in den Londoner Docks, teils in den deutschen Importhäfen, teils bei den Großhändlern, selten auch bei Gastwirten und Kolonialwarenhändlern. Was bei der Milch dank zahlloser Milchregulative im späten 19. Jahrhundert als Verfälschung galt, war bei Rum Handelsbrauch.

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Angebotspalette für den festlich-kalten Dezember (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 1875, Nr. 335 v. 1. Dezember, 6 (l.); Augsburger Neueste Nachrichten 1875, Nr. 295 v. 12. Dezember, 3424)

Rum wurde allerdings nur sehr selten pur getrunken. Er war vielmehr ein typisches Mischgetränk. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um die heute so modischen Cocktails. Diese kamen erst in den 1920er Jahren auf. Rum wurde ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts vielmehr erstens mit Essenzen und Wasser versetzt, war Alkohol- und Geschmacksträger zugleich. Obwohl ein „wärmendes“ Getränk, trank man ihn zumeist mit heißem Wasser, verdoppelte so den Energiewert. Neben der Verwendung in aromatisierten Punschen und Bowlen trat zweitens aber das für Deutschland typische Rumgetränk, der aus England übernommene Grog. Dabei handelte es sich um heißes Wasser, einen ordentlichen Schuss Rum und etwas Zucker. Verdünnter Rum verliert sein Aroma nur in Ansätzen, Hitze bringt die süßlichen, teils aber auch erfrischenden Geschmacksnuancen gar stärker zur Geltung. Grog wurde vor allem in Nord- und Ostdeutschland getrunken, doch Satirezeitschriften wie der „Münchener Grog“ belegen seine Präsenz auch im übrigen Deutschland. Grog stand dabei für den Übergang vom häufig privaten, häuslichen Verzehr aromatisierter Rumgetränke zum vermehrt öffentlichen und geselligen Konsum. Das traf auch für eine dritte Konsumart zu, die heute kaum mehr bekannt ist. „Korn mit Rum“ begann seinen zeitweiligen Siegeszug in den 1880er Jahren, war paradoxe Begleiterscheinung der Temperenzbewegung und der massiv erhöhten Branntweinsteuer 1887. Es handelte sich vornehmlich um verdünnten und aromatisierten Weingeist aus Kartoffelspiritus. Rum war Aromaträger, zumeist aber nur aufgrund zugefügter Rumessenzen (A[braham] Baer, Die Verunreinigungen des Trinkbranntweins insbesondere in hygienischer Beziehung, Bonn 1885, 71-72). Für die Präsenz von „Rum“ in der Öffentlichkeit war Korn mit Rum gleichwohl wichtig, denn es handelte sich um ein Billiggetränk für die breite Bevölkerung. Weitere modische Mischgetränke folgten, etwa die „Granate mit dem Schnellfeuer“ – eine Mixtur von Nordhäuser Korn mit Rum – oder der „Husarenkaffee“, ein Amalgam von Kümmel mit Rum (Berliner Schnäpse, Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 47), doch sie gewannen nur regionale Bedeutung. Viertens schließlich ging Rum auch eine Melange mit dem kolonialen Tee ein. Tee mit Schuss erlaubte auch Frauen eine kleine, doch merkliche Alkoholzufuhr im häuslichen Rahmen, aber auch in Teestuben und Cafés. Der für das späte Kaiserreich charakteristische Five-o-clock-Tea wäre ohne derartig unsichtbar-beschwingende Zusätze gewiss weniger beliebt gewesen.

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Grog als wärmendes Wintergetränk (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7717)

Der Rumkonsum war stark saisonal geprägt. Man trank ihn vornehmlich in der kalten Jahreszeit, die meisten Annoncen erschienen im Dezember. Dieser Saisonalität entzogen sich weitere haushaltsnahe Verwendungsformen ansatzweise. Rum wurde im 19. Jahrhundert nämlich erstens auch als Stärkungs- und Kräftigungsmittel, ja, als Heilmittel gereicht und getrunken (J[osef] Ruff, Schutz der Gesundheit für Jedermann, Straßburg i.E. 1893, 253-254). Schon die in der britischen Marine lang und intensiv geführten Debatten, ob Skorbut eher durch Zitronensaft oder aber durch Rum bekämpft werden könne, verwiesen in diese Richtung. Rum sollte beleben, gegen Bleichsucht und Schwäche helfen, einen ruhigen Schlaf einläuten. Zweitens war Rum aufgrund seines kräftigen Aromas ein gängiges Würzmittel in bürgerlichen Haushalten. Rumaromen gewannen seit dem späten 19. Jahrhundert zwar an Bedeutung, zumal beim Backen und bei Nachtischen, doch ihnen fehlte die beim Kochen und Backen immer auch wichtige Masse. Drittens schließlich diente Rum, wie auch andere Trinkbranntweine, dem Einmachen. Der Rumtopf rettete Obst vor dem Verderb, war ein Trank für eine gesellige Runde, diente als Kompott, für Nachtische, Mehlspeisen und süße Saucen.

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Rum als bewährte Einmachhilfe (Mayener Volkszeitung 1902, Nr. 156 v. 10. Juli, 3)

Rum war in deutschen Landen im 19. Jahrhundert demnach mehr Ahnung als Realität, mehr Geschmacksnuance denn pures Getränk. Rum war vielgestaltig, fluid, auch als „echtes“ Kolonialprodukt kaum zu fassen, zumal die westindischen oder (selten auch) ostindischen Produkte höchst unterschiedlich waren, abhängig von heterogenen Verfahren, Rohwaren, klimatischen Einflüssen und auch Lager- und Transportbedingungen. In deutschen Landen kannte man das importierte und bearbeitete Endprodukt, während das Wissen über die überseeische Herstellungstechnik vage blieb, lange Zeit nur auf allgemein gehaltenen Reiseberichten und Beschreibungen kolonialer Wirtschaftspraktiken gründete. Die Umwandlung des kolonialen Importrums in eine in Deutschland absetzbare alkoholische Ware setzte auch daher vor allem beim Getränk selbst an. Die Produktion von „Deutschem Rum“ aus Rübenzucker vermochte den charakteristischen Geschmack des Rums nicht nachzubilden. Daher ging man ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts zu direkten Produktmanipulationen über. Getragen von der Imagination eines „echten“ Importrums schuf und vermarktete man Produkte, die sich von Zeit und Raum der Herstellung emanzipiert hatten. „Rum“ war künstliche Kost, die mit dem „echten“ Importrum kaum mehr gemein hatte als den Namen. Und dieser half die vielfältigen Eingriffe und Veränderungen der Produktion zu überdecken, ja, vergessen zu machen.

Was genau aber war „Rum“ im langen 19. Jahrhundert? Vier nicht immer klar voneinander abgrenzbare Arten sind zu unterscheiden. Erstens gab es den „echten“ Rum. Dabei handelte es sich um nicht veränderten Importrum bzw. dessen Verschnitt auf einen Alkoholgehalt von ca. 50-55 %. Dieses obere Ende des Marktes war klein und erschien Zeitgenossen als Ausnahme.

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Grundstoffe für Kunstbranntweine, inklusive Kunstrum (Illustrierte Zeitung 1857, Nr. 743 v. 26. September, 216)

Mengenmäßig dominant dürfte stattdessen der Kunstrum gewesen sein: Rum wurde als ein stark alkoholhaltiges Getränk mit einem charakteristischen Geschmack verstanden; und dieses baute man durch Kartoffelsprit und aromatische Zusätze nach. Kunstrum war „deutscher Rum“ in charakteristischer Brechung. Es ging um ein als „Rum“ vermarktbares Getränk, nicht aber mehr um den Ersatz von Rohrzucker durch Rübenzucker. Kunstrum war ein Billigprodukt, mit Augenzwinkern als „Rum“, selten auch als „Deutscher Rum“ angeboten. Lässt man das Odium des Ersatzmittels aber beiseite, so handelte es sich bei ihm um eine preiswerte und massenkompatible heimische Alternative. Karibiksonne hatte ihn nie beschienen, doch er war Abglanz eines Zeitalters wissenschaftlicher Entdeckungen in der organischen Chemie. Der Liebig-Schüler Friedrich Knapp (1814-1903) präzisierte: „Der feine, dem Aroma des Rums sehr nahe kommende Geruch des Buttersäureäthers […] hat die Veranlassung gegeben, daß diese Verbindung gegenwärtig sehr häufig zur Nachahmung des Rums mittelst gewöhnlichen Branntweins benutzt wird“ (Knapp, 1847, 411). Und Hermann Klencke (1813-1881), der wohl auflagenstärkste Wissenschaftspopularisator der Jahrhundertmitte, benannte die Folgen dieser chemischen Entdeckung: „Der meiste Rum, der in Deutschland verkauft wird, ist künstlich fabricirt, indem man eine Portion echten Rum mit fuselfreiem Spiritus versetzt und durch gebrannten Zucker und Buttersäure-Aether Geruch, Geschmack und Farbe imitirt“ (Die Verfälschung der Nahrungsmittel und Getränke […], Leipzig 1858, 297-298). Buttersäureäther war Großchemie im Kleinen, entstand durch den Einsatz von Kalilauge und Schwefelsäure, erforderte eine Destillation. Während es der Grundlagenforschung vorrangig um die Erkundung der Materie ging, nutzen Unternehmer diese Kenntnisse für neue und preiswertere Produkte, angeleitet durch einen wachsenden Markt von Ratgebern. Seit den 1840er Jahren nahm die Zahl von Halbfertigäthern zu. Sie ermöglichten schon lange vor der Isolation natürlicher und der Synthese künstlicher Aromen die Kreation von Geschmacksprofilen.

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Deutscher Rum als billiger Kunstrum (Bensberg-Gladbacher Anzeiger 1887, Nr. 7 v. 22. Januar, 3 (l.); Märkisches Tageblatt 1888, Nr. 305 v. 29. Dezember, 4)

Die Entwicklung ging von Hautgeschmacksträgern zu nuancenreicheren Zusätzen: An der Seite des Buttersäuresäthers standen rasch Coccinsäure- oder Ameisensäureäther. Damit komponierter Kunstrum wurde mit Zuckercouleur, Sirup und/oder Eichenrinde abgerundet und braun gefärbt: “Die Leichtgläubigkeit des Publikums geht manchmal so weit, daß es einen gefärbten und mit etwas Essigsäure- oder Buttersäureäther versetzten fuselhaltigen Branntwein auch für Rum nimmt“ (Ferdinand Artmann, Die Lehre von den Nahrungsmitteln, ihrer Verfälschung und Conservirung […], Prag 1859, 456). In den Folgejahren wuchs die Zahl einsatzfähiger und fertig käuflicher Komponenten rasch an. Die Sprache der Zusätze mag uns fremd vorkommen, da wir uns vielfach kein Bild davon machen, welche (durchaus harmlosen) Chemikalien in gängigen Lebens- und Genussmitteln enthalten sind. Doch Essig- und Salpeteräther, auch Birkenöl, Glanzruss, Zimt, Veilchenwurz, Perubalsam oder Vanilleessenz, erlaubten die Produktion von durchaus ansprechendem Kunstrum (Wiederhold, Unterscheidung des echten Colonial-Rums vom unechten, sogenannten Facon-Rum, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 5, 1864, 11-12; Louis Pappenheim, Handbuch der Sanitäts-Polizei, Bd. 1, 2. neu bearb. Aufl., Berlin 1868, 360). Der Erfolg des Kunstrums basierte daher nicht nur auf dem niedrigen Preis, sondern auch auf einer dem Geschmack zusagenden und ansatzweise berechenbaren Aromatisierung mit Chemikalien und natürlichen Aromastoffen, deren Rohwaren teils aus kolonialen Kontexten stammen. In Österreich gilt entsprechender Inländerrum bis heute als geschützte Spezialität – mit Stroh-Rum als bekanntester Marke. Anders als die Parfümindustrie, deren Aufschwung seit den 1870er Jahren eng mit synthetischen Duftstoffen verbunden war, blieb die Kunstrumproduktion noch über Jahrzehnte den tradierten Zusätzen der Jahrhundertmitte verbunden. Deren allgemeine Verfügbarkeit über Apotheken und Drogerien ließ Kunstrum auch zu einem häuslich hergestellten Produkt werden. An die Seite der Fabrikanten, Destillateure und Budiker traten auch Hausfrauen, um dem Mann zu frommen oder Silvester punschig zu feiern.

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Verhäuslichung der Kunstrumproduktion (Wiener Hausfrauen-Zeitung 20, 1894, Nr. 5, 43)

Aromatisierter Kunstrum war ein künstliches Getränk eigenen Rechts, doch die Annäherung an das koloniale Referenzprodukt gelang nur unzureichend. Je nach Zusätzen dominierten einzelne Geschmackskomponenten, während andere fehlten. Kunstrum erlaubte aufgrund seines niedrigen Preises zudem keine hohe Wertschöpfung, stand unter dem Verdikt der Nahrungsmittelfälschung. Entsprechend entstand drittens mit dem Faconrum eine dritte Rumart, eine Mischung aus Verschnitt- und Kunstrum. Aromatisierung und der Einsatz von Kartoffelsprit wurden beibehalten, doch um einen mehr oder minder großen Anteil von Kolonialrum ergänzt. Gerade bei rumhaltigen Heißgetränken konnte mit überschaubarem Einsatz von fünf oder zehn Prozent „echtem“ Rum ein besseres Aroma erzielt, höhere Preise verlangt werden. Faconrum dokumentiert typische Pendelschläge bei der Entwicklung künstlicher Kost. Das teure Original wurde zuerst mittels heimischer Rohwaren versucht zu substituieren. Falls dies, wie im Falle des Rübenzuckerrums, zu keinem wettbewerbsfähigen Produkt führte, traten Kunstprodukte aus andersartigen Bestandteilen an dessen Stelle. Die offenkundigen Defizite wurden anschließend versucht abzubauen – zuerst durch verbesserte Aromatisierung mit chemischen oder natürlichen Geschmacksstoffen, dann mit einem nur begrenzten Einsatz des Originalproduktes. Lernprozesse dieser Art finden sich auch in anderen Konsumgüterindustrien dieser Zeit, etwa Fleischpulver, Kräftigungsmittel oder vegetarischer Fleischsubstitute. Sie prägen heute unser gesamtes Lebensmittelangebot, mögen uns Produktbezeichnungen und die allgemeine Ästhetisierung beworbener Nahrung auch anderes suggerieren.

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Preisdifferenzen beim Faconrum – je nach „Rum“-Gehalt (Vorwärts 1893, Nr. 214 v. 12. September, 8)

Faconrum und Kunstrum nutzten viertens vermehrt auch Rumessenzen, also Fertigprodukte der parallel zur pharmazeutischen und kosmetischen Industrie entstehenden Essenzenindustrie. Deren industriell gefertigte Angebote unterschieden sich deutlich von den Chemikalien der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie waren teils synthetisiert (wie Vanillin), vor allem aber stofflich standardisiert, waren also nicht nur in großer Menge (und damit billiger) herzustellen, sondern konnten gezielt als Vor- und Zwischenprodukte eingesetzt werden (August Gaber, Die Likör-Fabrikation, 9. verb. u. sehr verm. Aufl., Wien und Berlin 1913, 195-226, 290-324). Mit ihnen glaubte man damals, das „Reservatrecht der Natur“ (Emil Fischer, Die Chemie der Kohlenhydrate und ihre Bedeutung für die Physiologie, Berlin 1894, 23) durch Synthese durchbrechen und so zu einer neuen, vom Menschen gestalteten Welt gelangen zu können (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209).

Als Stoffkomposita hatten Rumessenzen zwar machen Makel – ihr Einsatz als Teerum und Grog scheiterte aufgrund der Hitze des Ausgusses, auch konnten sie analytisch erkannt werden (Theodor Koller, Die Ersatzstoffe der chemischen Industrie, Frankfurt a.M. 1894, 82-83). Doch sie erlaubten den Übergang von der gewerblichen in die häusliche Sphäre. Seit den 1890er Jahren ersparten sie den Käufern die lange Tüftlerphase der Produzenten, denn durch die Mischung von Wasser, Weingeist (also Kartoffelsprit) und Rumessenz konnte jeder „Rum“ zu Hause herstellten. Pointiert formuliert finden wir seither im Deutschen Reich strukturelle Analogien zur kolonialen Plantagenwirtschaft: Einerseits zahlreiche größere Produzenten, die für regionale, nationale und auch internationale Märkte produzierten, anderseits aber auch viele Kleinproduzenten, die auf Zuckerplantagen resp. in den heimischen Wänden Rum selbst bereiteten.

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Selbstbereiteter „Rum“ dank Rumessenzen (Vorwärts 1899, Nr. 230 v. 1. Oktober, 7 (l.), ebd. 1900, Nr. 303 v. 30. Dezember, 11)

Verschnitte, Kunstrum, Faconrum und Rumessenzen sind typisierende Abstraktionen, die unter diesen Begriffen im Rummarkt seit Mitte des 19. Jahrhundert vielfach nicht aufzufinden waren. Dort dominierte meist allein der lockende „Rum“, vielfach verbunden mit einer Herkunftsbezeichnung. Doch ohne derartige Ordnungsbegriffe wird man sich nicht zurechtfinden in einem Markt ohne Kennzeichnungspflichten, ohne klar definierte Produktbezeichnungen und Markenartikel. Wie bei vielen anderen Konsumgütern dieser Zeit wurde die allgemeine Marktunsicherheit vorrangig durch Händlervertrauen vermindert. Nicht umsonst stammen die meisten Anzeigen für Rum von Kolonialwaren- und Feinkosthändlern. Dies veränderte sich erst in den 1890er Jahren, mit den Herstellern von Rumextrakten als Trendsetter.

Zwei Punkte gilt es noch festzuhalten: Erstens war der deutsche Rummarkt im 19. Jahrhundert auch deshalb so vielgestaltig, weil eine leistungsfähige marktordnende Überwachung fehlte. Die damaligen Kontrollbehörden konnten einen gut gemachten Kunstrum kaum von einem Verschnitt oder einem Faconrum unterschieden. Marktvielfalt setzte den Käufer in sein Recht, barg aber immer die Gefahr der Übervorteilung. Zweitens wäre es verkürzt, würde man die unterschiedlichen Rumarten mit wertenden Kategorien belegen. Während der Importrum nicht zuletzt seit der Zollerhöhung 1889 kein Alltagsprodukt mehr sein konnte, erlaubten die billigeren Angebote den Konsum rumartiger Getränke in allen Teilen der Bevölkerung. Die Palette der Rumarten erlaubte konsumtive Teilhabe – durchaus in Analogie zum Wechselspiel von echtem Kaffee und den mengenmäßig dominierenden Surrogaten. Doch ebenso wenig wie ein Malzkaffee per se geringwertiger war als importierter Kolonialkaffee, so handelte es sich auch bei den verschiedenen Rumarten um Produkte eigenen Rechts. Surrogate hatten ihren Eigenwert: Rübenzucker war ein Ersatzmittel, setzte aber einen neuen Standard für Süße. Kolonialprodukte führten zu lokalen Aneignungsprozessen, die neue Realitäten schufen, die weit über das Ursprungsprodukt hinaus wiesen. Auch abseits der noch nicht möglichen chemischen Analyse und der Aufdeckung von Fälschung und Betrug wurde die Scheidung zwischen vermeintlich Echtem und vermeintlich Nachgemachten dadurch erschwert. Das Referenzgut Importrum konnte dafür kaum Ausgangsprodukt sein, sondern eher die Realitäten von Vermarktung und Konsumpraktiken in Deutschland selbst. Vor diesem Hintergrund war die ab 1890 wieder neu anlaufende Schaffung eines „Deutschen Rums“ aus heimischen Rübenzuckerprodukten eigentlich höchst traditionell, nicht mehr auf der Höhe des Marktgeschehens. Sie war eine typische Gestaltungsutopie von Ingenieuren und Chemikern, die auch um die Jahrhundertwende noch auf die Substitution eines „echten“ Ausgangsproduktes drängten, obwohl dieses im deutschen Rummarkt nicht dominierte und in den Importländern, ausgehend von den Standardisierungsbestrebungen in Jamaica, erst seit der Jahrhundertwende ansatzweise geschaffen wurde.

Auf der Suche nach Ordnung: Der deutsche Rummarkt um die Jahrhundertwende

Die wachsende Bedeutung von Kunst- und Faconrum im Deutschen Reich ging in den 1880er Jahren mit verstärkten Bestrebungen einher, die „normale“ Beschaffenheit aller Nahrungs- und Genussmittel zu bestimmen und quantitative Methoden ihrer Analyse zu entwickeln (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 43). Die aufstrebende Nahrungsmittelchemie zielte auf „objektives“ Wissen, grenzte sich strikt ab von regional heterogenen Handelsbräuchen und tradierten Sinnesproben. Und im Umfeld des 1879 erlassenen Nahrungsmittelgesetzes gab es zunehmend staatlichen Rückenwind, Verfälschungen systematisch zu bekämpfen und die Vielfalt der Angebote zu ordnen. Der Kunstbuttermarkt bot hierfür ein gutes Beispiel. Eine erste breit gefächerte Analyse aller Rumarten ergab allerdings, dass man mittels der gängigen Verfahren „nicht entscheiden [könne, US], ob ein Rum unverfälscht ist oder nicht“ (H[einrich] Beckurts, Mittheilungen über Untersuchungen von Rum, Monatsblatt für öffentliche Gesundheitspflege 1, 1878, 178-180, hier 180). Weitere Analysen benannten das grundsätzliche Dilemma: „Ob ein Rum eine ganz echte oder verschnittene Waare, oder gar ein reines Kunstproduct darstellt, darüber wird die Chemie heut zu Tage schwerlich Auskunft geben können, da dieselbe über wirklich brauchbare Methoden zur Erkennung solcher Zusätze oder Verfälschungen bislang nicht gebietet, ganz abgesehen davon, dass nicht einmal die Bestandtheile des echten Rums zur Zeit sammt und sonders definirbar sind“ (Heinrich Beckurts, Zur Zusammensetzung und Prüfung des Rums, Archiv der Pharmacie 60, 1881, 342-346, hier 344).

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Unerfüllte Versprechungen der chemischen Analyse (Kikeriki 23, 1883, Nr. 30 v. 15. April, 2)

Fachleute wussten, dass sich die Analytik aller Trinkbranntweine „nur in beschränktem Maaße brauchbar erwiesen“ hat (Carl Windisch, Ueber Methoden zum Nachweis und zur Bestimmung des Fuselöls in Trinkbranntweinen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt 5, 1889, 373-393, hier 373). Das lag auch daran, dass über die Rumproduktion in Westindien und über die Zusammensetzung des Importrums keine verlässlichen Daten vorlagen (Alexander Herzfeld, Bericht über die Versuche zur Darstellung Rum-artiger Produkte aus Rübensaft, Melasse und Rohzucker, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Rübenzucker-Industrie 40, 1890, 645-680, hier 645). Kein geringerer als Theodor Wilhelm Fresenius (1856-1936), Leiter des wichtigsten pharmazeutischen Laboratoriums im Deutschen Reich, zog daraus den drastischen und gut belegten Schluss, dass die Kontrolle des Rums „praktisch nicht durchführbar“ sei (Beiträge zur Untersuchung und Beurtheilung der Spirituosen, Zeitschrift für analytische Chemie 29, 1890, 283-317, hier 307). Die tradierte Sinnesprobe, also das Rumschnüffeln, -schmecken und -schauen, sei nach wie vor nicht zu ersetzen. Auch eine umfassende Studie des Reichsgesundheitsamtes über das Rumwissen und die einschlägigen Kontrollmethoden bestätigte, dass es unmöglich sei, „echte Waare von unechter auf chemischem Wege zu unterscheiden, […]. Auch hier wird solchen Sachverständigen der Vorzug zu geben sein, welche ihr Urtheil auf Grund der Geschmacks – und Geruchsprobe abgeben“ (Eugen Sell, Ueber Cognak, Rum und Arrak. 2. Mittheilung. Ueber Rum, das Material zu seiner Herstellung, seine Bereitung und nachherige Behandlung unter Berücksichtigung der im Handel üblichen Gebräuche sowie seiner Ersatzmittel und Nachahmungen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 7, 1891, 210-252, hier 240).

Für die Produktion von Kunst- und Faconrum sowie von Rumextrakten war dies zeitweilig eine Art Freifahrtschein. Dennoch begann damals ein zwei Jahrzehnte währender lokaler Kampf gegen „Rumverfälschungen“, der hier nicht nachzuzeichnen ist. Er wurde als gerichtlicher Nahkampf ausgefochten, bei dem immer wieder zur Debatte stand, was als „normaler“, als „handelsüblicher“ Rum zu verstehen war. Nicht Kunst- und Faconrum standen dabei im Mittelpunkt, sondern Verschnitte des echten Importrums. Er galt als Referenzobjekt, ein heterogenes Produkt wurde gleichsam naturalisiert. Das Hinzufügen von Wasser auch bei Premiumsorten – Original Jamaica-Rum – war schließlich einfach nachzuweisen. Doch als Gegenargument führten Händler immer wieder den Wunsch der Konsumenten nach handelsüblichen trinkbaren Rumsorten von mal 38, mal 45, mal 50, mal 55 % Alkohol an. Konsumentensouveränität wurde gegen das Ordnungsbestreben der Nahrungsmittelchemie ausgespielt. Die wiederholten Niederlagen von Nahrungsmittelchemikern vor Gericht galten nach der Jahrhundertwende zunehmend als Frage der Ehre, des Renommees und der Durchschlagskraft der akademischen Zunft.

15_Deutscher Reichsanzeiger_1896_01_10_Nr008_p08_Fliegende Blaetter_119_1903_Nr3046_Beibl10_p7_Spirituosen_Rum_Jamaikarum_Aug-Kramer_Koeln_Kingston_Pekarek_Wien

Handelsmarken für Jamaika-Rum (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 8 v. 10. Januar, 8 (l.); Fliegende Blätter 119, 1903, Nr. 3046, Beibl. 10, 7)

Die erbitterten Debatten boten eigentlich Markenrum große Marktchancen. Er war im Deutschen Reich lange Zeit unüblich, teils wegen des erst seit 1894 verlässlichen Markenschutzes, teils wegen der fehlenden inländischen Produktion abseits der Verschnitte. Den kleinen, aber wachsenden Markenartikelmarkt dominierten einheimische Handelsfirmen, meist Anbieter von Verschnittware. Hinzu kamen internationale Handelsfirmen, die Importrum abfüllten und vermarkteten. Während die deutschen Handelsfirmen ab und an brasilianischen und kubanischen, zumeist aber westindischen, „englischen“ Rum anboten, mehrere in Flensburg ansässige Firmen auch dänischen Importrum, wurde der Rum französischer Kolonien zumeist von französischen Handelsfirmen vermarktet. Durchweg dominierten die kolonialen Mutterländer und ihre europäischen Handelspartner, nicht aber die Rumproduzenten der kolonialen Periphere. Trotz dutzender Rumsorten mit Warenzeichen dominierte anonymer Kunst- und Faconrum weiterhin den deutschen Markt. Ähnliches galt beim Arrak. Innerhalb der Spirituosenbranche gab es eine Scherenbewegung: Während heimisch produzierte Liköre und Weinbrände seit den 1890er Jahren zunehmend als starke Marken mit ansprechender Werbung erschienen, fehlten diese bei Importrum und Rumverschnitten. Das sollte sich erst in den 1950er Jahren ändern.

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Rum als Angebot von Großhandelsfirmen: Warenzeichen der Bergedorfer Firma Heinrich von Have (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 25 v. 26. Januar, 18)

Markenartikel besaßen den Vorteil einer gewissen Berechenbarkeit von Preis und Zusammensetzung. Markenartikelproduzenten und Großhändler sicherten die Qualität ihrer Produkte zunehmend mit Betriebslaboratorien und freiwilligen Kontrollen durch Handelschemiker. Beim Rum war dies aber kaum möglich. Umso wichtiger waren Bemühungen um verbesserte Methoden der Trinkbranntweinanalyse, die Nahrungsmittelchemiker und die in schlagkräftigen Verbänden organisierten Spirituosenhersteller durchaus kooperativ betrieben. Marktordnung mittels verbindlicher Referenzwerte war im Sinne der größeren Unternehmen, da verlässliche Mindestanforderungen der gerade im Rummarkt dominierenden Billigkonkurrenz das Wasser abgraben konnten.

Die ersten rechtsverbindlichen Vereinbarungen über die Zusammensetzung von Spirituosen zielten mangels präziser Analysen Ende der 1890er Jahre auf die Gefahrenabwehr. Festgeschrieben wurde einerseits, welche gesundheitsgefährdenden Zusätze und Rückstände im Endprodukt nicht mehr enthalten sein durften, andererseits schuf man erste Obergrenzen für unerwünschte Stoffe, etwa die gängigen Fuselöle (W[ilhelm] Fresenius und K[arl] Windisch, Branntweine und Liköre, Vereinbarungen zur einheitlichen Untersuchung und Beurtheilung von Nahrungs- und Genussmittel sowie Gebrauchsgegenständen für das Deutsche Reich. Ein Entwurf, H. II, Berlin 1899, 123-133). Parallel bemühte sich insbesondere das Reichsgesundheitsamt um ein positives Wissen über Trinkbranntweine, darunter auch Rum. Da die kolonialen Produktionsverfahren zwar zumeist als „primitiv“ abgewertet wurden, im Detail aber unbekannt waren, analysierte man weiterhin Rumproben gängiger Importware, erhielt aufgrund der Variabilität dieser Angebote jedoch nur recht allgemeine Referenzdaten (Karl Windisch, Beiträge zur Kenntnis der Edelbranntweine, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 8, 1904, 465-505, hier 482-483). Die langsam beginnende Rationalisierung der Rumproduktion in Übersee mittels westlicher Maschinen begrüßte man, hoffte man doch auf stärker standardisierte Waren. Doch man ging nicht dazu über, Erkundigungen vor Ort einzuholen, etwa bei der 1862 gegründeten kubanischen Firma Bacardi oder der in Barbados seit 1892 mit deutschen Maschinen produzierenden West India Rum Refinery der aus Peine stammenden Brüder Hermann (1856-1916) und Georg Stade (1863-1922).

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Mechanisierung der kolonialen Rumproduktion durch deutsche Maschinen (Louisiana Planter and Sugar Manufactor 11, 1893, Nr. 6, XVII)

Der auf die angebotenen Waren gerichtete Fokus führte allerdings zur raschen Übernahme französischer Analysemethoden, die seit den 1890er Jahren das Aromenspektrum der Alkoholika genauer fassten; eine Konsequenz wachsender chemischer Kenntnisse über Ester, flüchtige Säuren, Aldehyde und natürlich höhere Alkoholverbindungen. Ebenso wichtig wurden Hefeanalysen, die vornehmlich von dänischen Spezialisten vorangetrieben wurden. Die wohl wichtigste methodische Innovation war jedoch die 1908 von dem Grazer Chemiker Karl Micko (1867-1948) entwickelte fraktionierte Destillation. Der Rum wurde in acht Fraktionen eingeteilt, die dann einzeln untersucht wurden. Insbesondere die höheren Fraktionen erlaubten, das Aromenspektrum recht genau zu erfassen (Karl Micko, Über die Untersuchung des Jamaika- und Kunst-Rums und zur Kenntnis des typischen Riechstoffes des Jamaika-Rums, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 16, 1908, 433-451, insb. 434-435). Damit waren quantitativ erfassbare Referenzdaten abseits von Alkohol- und Wassergehalt möglich, ergänzende Geruchsproben erlaubten eine Feinjustierung. Mickos Methode war ausgefeilt, praktikabel, schied gut zwischen Kunst-, Facon- und Importrum – und wurde rasch auch in der englischsprachigen Welt rezipiert (Karl Micko, Researches on Jamaica and Artificial Rum, International Sugar Journal 11, 1909, 225-232, 410-414, 446-451). Die Folge war, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg sensorische Verfahren durch quantitative Verfahren ergänzt wurden und Nahrungsmittelchemiker ihre Kontrollaufgaben besser versehen konnten (A[lbert] Jonscher, Zur Kenntnis und Beurteilung von Rum, Rumverschnitten und Kunstrum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 20, 1914, 329-336, 345-349, insb. 333, 346). Mickos Methode erlaubte aber zugleich eine Feineinstellung bei der Entwicklung neuer Produkte, so auch des „Deutschen Rums“.

18_Deutscher Reichsanzeiger_1921_03_21_Nr068_p16_Spirituosen_Rum_Rumverschnitt_Jacob-Schwersenz_Berlin

Neue Begrifflichkeiten: Rum-Verschnitt (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 68 v. 21. März, 16)

Parallel veränderten sich die amtlichen resp. von den Interessenten akzeptierten Bewertungsmaßstäbe des Rums. Die Nahrungsmittelchemiker mussten dabei eine bittere Niederlage einstecken: Verschnittrum (heute als „Echter Rum“ bezeichnet) wurde in festgesetzten Grenzen vom Odium der Verfälschung befreit (W[ilhelm] Bremer, Trinkbranntweine und Liköre, in: K[arl] v. Buchka, Das Lebensmittelgewerbe, Bd. I, Leipzig 1914, 701-901, hier 799). Grund hierfür waren auch die Debatten und Festsetzungen im Rahmen der Branntweinsteuergesetzesnovelle 1909. Für Kognak wurde damals ein Mindestalkoholgehalt von 38 % festgelegt – und an diesem Wert orientierten sich auch Rumanbieter und Gerichte (Gerichtsentscheidung über die Alkoholstärke von Jamaika-Rum, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 7, 1909, 196-197). Während des Ersten Weltkrieges sank der noch nicht rechtsverbindliche Alkoholgehalt jedoch auf deutlich niedrigere Werte (Alkoholgehalt von Rum u. Arrak im Krieg, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 16, 1918, 62). Das Branntweinmonopolgesetz fixierte daraufhin 1918 den Mindestalkoholgehalt für Rum und Arrak verbindlich auf 38 % (heute 37,5 %). Das war der Auftakt für eine weitergehende Regulierung durch das 1927 erlassene Lebensmittelgesetz (Bund Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikanten und Händler, Zeitschrift für angewandte Chemie 40, 1927, 628-630, hier 628). Festgeschrieben wurden neben dem Alkoholgehalt auch Herkunftsbezeichnungen und Kennzeichnungspflichten, entstanden zudem neue Begriffsdefinitionen für die unterschiedlichen Rumarten (Begriffsbestimmungen für Branntwein und Spirituosen, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1928, 143-145, 163-165, 173-174, hier 164; G[eorg] Büttner, Über die Bezeichnung von Trinkbranntweinen, ebd. 1931, 15-16, hier 16).

Die Regulierungsbemühungen schufen recht verlässliche Rahmenbedingungen im Rummarkt just weil sie sich an der deutschen Marktrealität orientierten. Der „echte“ Importrum galt als Referenz, auch wenn er im Absatz nach wie vor eine seltene Ausnahme war. Facon- und Kunstrum prägten weiter den Markt, mochte ersterer nun auch als Rum-Verschnitt bezeichnet werden. Die Sprachspiele der Chemiker und Regulierungsbehörden erlaubten aber zugleich die Neubelebung und Umsetzung der alten Idee vom „Deutschen Rum“ aus heimischen Rohstoffen, vorrangig aus Rübenzuckermaterialien.

Neue Anläufe: „Deutscher Rum“ aus Zuckerprodukten vor dem Ersten Weltkrieg

Allerdings stellte sich im späten 19. Jahrhundert zuvor die Frage, ob „Deutscher Rum“ nicht in den deutschen Kolonien produziert werden konnte. Das wurde in der Tat versucht, scheiterte aber wie so viele Kolonialunternehmungen. Das lag teils an den klimatischen Bedingungen, teils an anderen Zielsetzungen der überraschend wenigen Kolonialgesellschaften. In Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, wurde Zucker schon vor 1885, der deutschen Inbesitznahme der Kolonie, von arabischen Geschäftsleuten mit Hilfe von Sklaven und Kontraktarbeitern angebaut. Die Plantagenwirtschaft diente ebenso wie die Rumproduktion vornehmlich dem Eigenbedarf. Das wollten die deutschen Machthaber ändern, gelang aber nur ansatzweise: „Very little is exported; but a refinery has been built at Pangani, where rum is made for export. Plantations have been started in the Wilhelmstal and Kondon Irangi Districts“ (Handbook of German East Africa, hg. v. d. Admirality War Staff. Intelligence Division, London 1916, 237).

Die 1897 aus dem Zuckersyndikat für Deutsch-Ostafrika hervorgegangene Pangani-Gesellschaft zielte darauf, in die Fußstapfen der Araber Deutsch-Ostafrikas zu treten, Sirup und Zucker für die Kolonie und ihre Nachbarn zu produzieren (Ein neuer Kolonisationsplan für Deutsch-Ostafrika, Wochenblatt für Wilsdruff […] 1897, Nr. 104 v. 4. September, 5). Aus dem Rohrzucker sollte zudem Rum für den deutschen Markt produziert werden. Die von hochrangigen Publizisten, Staatsbeamten und Unternehmern getragene und mit einem Kapital von 500.000 M ausgestattete Gesellschaft konnte sich ein fünfzehnjähriges Produktionsmonopol sichern, zudem Zoll- und Steuerfreiheit für den deutschen Kolonialrum. Die Zielsetzung war ambitioniert: „Es bietet sich hier den deutschen Rum-Importeuren, welche schon lange von London, welches das Monopol für den kolonialen Rum hat, loskommen möchten, später eine günstige Gelegenheit für direkten Bezug“ (Die Pangani-Gesellschaft, Deutsche Kolonialzeitung 14, 1897, 214). Von Beginn an gab es Kritik an dem Unterfangen, mache es doch deutschen Rübenzuckerexporteuren unnötige Konkurrenz, nur um „feine Preise von den deutschen Konsumenten zu holen“ (Pangani-Cacao, Gordian 3, 1897/98, 1101-1102, hier 1101). Doch da die Zucker- und Rumfabrik von der renommierten Firma F. Hallström aus Nienburg a.d. Saale ausgestattet wurde, setzte man auf deren Expertise, auf die Qualität ihrer Maschinen (Leipziger Tageblatt 1898, Nr. 548 v. 28. Oktober, 8073).

19_Deutsche Kolonialzeitung_16_1899_p539_Pangani-Gesellschaft_Deutsch-Ostafrika_Zuckerindustrie_Produktionsstaette_Kolonialismus

Gärstoffe für die koloniale Rumproduktion in Deutsch-Ostafrika: Die Rohrzuckerfabrik der Pangani-Gesellschaft im Bau (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Es gab allerdings unvorhergesehene Probleme, denn der Rohbau verzögerte sich aufgrund von Dürre und Hunger, so dass der Dampfer mit dem Maschinenpark nicht wie geplant entladen werden konnte. Rum, „welcher ja hochwillkommen zur Versorgung des Vaterlandes ist“ (Afrika 6, 1899, 128), konnte noch nicht produziert werden. Finanzierungsprobleme kamen hinzu, konnten aber überwunden werden (Frankenberger Tageblatt 1901, Nr. 12 v. 15. Januar, 3). Die britischen Kolonialkonkurrenten rechneten mit einem Produktionsbeginn 1901 (Germany. Report for the year 1900 on German East Africa, London 1901, 29). Doch es gab weitere Verzögerungen, so dass der frühere Siedler und Kolonialpropagandist August Seidel schließlich vermelden musste, die Pangani-Gesellschaft „fabrizierte Zucker und Rum, beide von guter Qualität, konnte sich aber nicht halten, da sie zu teuer gebaut und daher Mangel an Betriebskapital hatte“ (Unsere Kolonien, was sind sie wert, und wie können wir sie erschliessen?, 2. Ausg., Leipzig 1905, 53). Mitte 1903 trat sie in Liquidation. Deutscher Kolonialrum wurde in Deutsch-Ostafrika zwar produziert, doch gelangte er nicht nach Deutschland. Er wurde lokal verkauft, diente auch als Brennmaterial für Spirituskocher deutscher Naturforscher (A. Zimmermann, Zweiter Jahresbericht des Kaiserl. Biologisch-Landwirtschaftlichen Instituts Amani für das Jahr 1903/04, in: Berichte über Land- und Forstwirtschaft vom Kaiserlichen Gouvernement von Deutsch-Ostafrika […], Bd. 2, Heidelberg 1904-1906, 204-263, hier 253).

20_Deutsche Kolonialzeitung_16_1899_p539_Pangani-Gesellschaft_Deutsch-Ostafrika_Zuckerindustrie_Produktionsstaette_Rumproduktion_Kolonialismus

Die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss kurz vor der Fertigstellung (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Gleichwohl war die Rumfabrik am Pangani-Fluss auch nach dem Konkurs ein Experimentierort für deutsche Zuckerexperten, wurde sie doch weniger ambitioniert fortgeführt (V[iktor] v. Lignitz (Hg.), Die deutschen Kolonien ein Teil des deutschen Vaterlandes, Berlin 1908, 35). Anfang der 1920er Jahre berichtete der Frankfurter Chemiker Georg Popp (1861-1943) über die schwierigen Versuche in der kolonialen Peripherie: „Wahrscheinlich waren die Gärungsorganismen nicht die gleichen“ ([Hugo] Haupt, Ueber Deutschen Rum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 27, 1921, 253-261 (inkl. Disk.), hier 260). Die klimatischen Unterschiede zur Karibik versuchte man aber durch den Einsatz von kubanischer Reinzuchthefe wettzumachen. Der Frankfurter Chemiker Heinrich Becker (1861-1931) berichtete später jedenfalls stolz, dass es dadurch vor Ort gelungen sei “die Herstellung eines vorzüglichen Rums zu ermöglichen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Bundesarchiv (= BA) R 86, Nr. 5340). Obwohl die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss ökonomisch scheiterte, gewannen deutsche Experten hier Wissen, das später helfen sollte, „Deutschen Rum“ aus heimischen Zuckerprodukten herzustellen.

Das Scheitern des deutschen Kolonialrums bedeutete zudem nicht, dass „Deutscher Rum“ nicht schon im späten 19. Jahrhundert ein Handelsprodukt war – allerdings nicht im Sinne eines rumgleichen heimischen Trinkbranntweins. Das Gegenteil war der Fall. Zum einen war „Deutscher Rum“ eine global recht erfolgreiche Handelsware. Dabei aber handelte es sich aber nicht um edle Tropfen, sondern um preiswerten Kunstrum. Hamburg allein exportierte Anfang der 1890er Jahre jährlich ca. 10.000 hl Kunstrum nach Westafrika, eine Zahl, die man ins Verhältnis zum gesamte Rumimport Deutschlands setzten muss. Dieser betrug 33.000 hl (inklusive Transfer) (Rum, in: Brockhaus‘ Konversations-Lexikon, 14. vollständig neu bearb. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1895, 13). Deutsche, aber auch französische Produzenten dominierten mit ihren Rumimitaten koloniale Peripherien, setzten dabei auf aromatische Zusätze und billigen Kartoffelspiritus, mochte die Qualität der Ware auch „of the worst description“ sein (Liberia 1896, Nr. 8, 54).

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Destillationsblase und Retorten zur Rumproduktion in einer Zuckerplantage in Jamaika 1904 (Library of Congress, LC-DIG-stereo-1s30276)

In derartigen Exporten waren auch beträchtliche Mengen „German Rum“ enthalten. Darunter verstand man eine vornehmlich von kleineren Anbietern in Jamaika hergestellte Rumvariante, die einen besonders hohen Gehalt an Aromastoffen besaß und daher hohe Preise erzielte. Die Bezeichnung spiegelte die Handelsströme – „‚German Rum’—because it all goes to Germany“ (The Sugar Cane 19, 1887, 262-263, hier 262). Diese Rumart war praktisch nicht trinkbar, sondern diente der massenhaften Produktion von Fassonrum in Deutschland (Percival H. Greg, Contribution to the Study of the Production of the Aroma in Rum. III., The Sugar Cane 28, 1896, 397-404, hier 402; Commercial Relations of the United States with Foreign Countries during the Years 1896 and 1897, Bd. 1, Washington 1898, 646-647). In der britischen Kolonie versuchte man die Produktion von „German Rum” einzudämmen, denn er wurde in traditioneller Weise gefertigt und beschädigte das Renommee des Jamaikanischen Rums: „‚German rum’ has prejudiced the sale-value and public estimation of Jamaica rum. It also makes it impossible to protect the valuable asset of the name possessed by Jamaica rum, since certain Jamaica rums are undrinkable as such and serve solely to flavour multiple puncheons of continental potato spirit” (West India Bulletin 8, 1902, 50). Auch auf deutscher Seite war Kritik am Export derartigen Faconrums zu vernehmen, entsprachen sie doch lang gehegten Vorurteilen von deutscher Imitations- und gewerblicher Epigonenkunst (Commercial Travelers in Foreign Countries […], T. 1, Salesmanship 2, 1904, 127-135, hier 127). Der jamaikanische „Imitation rum“ (British Medical Journal 1909, T. 2, 399-404, hier 403) war zugleich aber Anlass für jamaikanische Bemühungen um die Maschinisierung und Verwissenschaftlichung der Rumproduktion im wichtigsten Rumproduktionsland des Britischen Reiches (H.H. Cousins, Jamaica Rum, in: Minutes of Evidence taken by the Royal Commission on Whiskey and other potable Spirits with Appendices, Bd. 2, London 1909, 210-212, hier 211).

Deutscher Kolonialrum scheiterte, der „German Rum“ war Steigbügelhalter vermeintlicher deutscher Billigangebote und renommeeschädigend. Doch drittens setzten 1890 neuerliche Versuche ein, „Deutschen Rum“ aus heimischem Rübenzucker herzustellen – nicht als Abklatsch einer Kolonialware, sondern als gleichwertige Alternative. Der (Wieder-)Beginn entsprechender Forschung gründete auf zwei wichtigen Veränderungen: Zum einen setzte die US-Regierung 1890 mit dem McKinley-Zolltarif auf einen noch stärkeren Schutzzoll, verteuerte dadurch die deutschen Rübenzuckerimporte, gab zugleich den Startschuss für den Aufbau einer eigenen US-Rübenzuckerindustrie. Die hochsubventionierte deutsche Exportindustrie musste nach neuen Absatzmöglichkeiten Ausschau halten. Zum anderen hatten sich die wissenschaftlich-technischen Rahmenbedingungen deutlich gewandelt. Deutsche Zuckerexperten hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren französischen Kollegen den Rang abgelaufen, die deutsche Maschinenbauindustrie war innovationsstark, überholte auf den Weltmärkten die böhmische, belgische und französische Konkurrenz. Die Produktion höchst heterogener Rumarten mittels Zusätzen und Essenzen hatte das Wissen um die Vorgänge bei der Gärung und der Destillation deutlich erweitert. Man wusste auch – zumindest theoretisch – warum der „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker die Qualität des westindischen Kolonialrums nicht erreicht hatte (so schon Johannes Rudolf Wagner, Die chemische Technologie, 4. umgearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1859, 459).

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Alexander Herzfeld und die frühere Spritbrennerei in Alt-Ranft (Universitätsarchiv TU Berlin 601, Nr. 272: Wikipedia)

Alexander Herzfeld (1854-1928), Leiter des Laboratoriums des Vereins der deutschen Zuckerindustrie und späterer Professor an der TH Charlottenburg, versuchte 1889/90, konkrete Verfahren für die Produktion von „Deutschem Rum“ zu entwickeln. Anders als die Produzenten im frühen 19. Jahrhundert wusste er mehr über die alkoholische Gärung und die dabei entstehenden Geschmackstoffe. Obwohl die koloniale Produktion für ihn hoffnungslos überholt war, nutzte er doch deren Grundstruktur, zumal der in Jamaika. Dies bedeutete neben der Rohware den Einsatz von weiteren Gärmaterialien, des sog. Dunders, um dem Rum einen charakteristischen Geschmack zu geben. Dessen genaue Zusammensetzung war unklar, doch über die Vergärung der eingesetzten Abfallstoffe und des Abschaums der Zuckerproduktion wusste man einiges. Die Gärungstechnologie dieser Zeit hatte durch den Einsatz von (vornehmlich dänischer) Reinhefe bemerkenswerte Erfolge beim Bierbrauen und in der Milchwirtschaft erzielt. Das Scheitern des Liebig-Horsfordschen Backpulvers hatte zuvor gezeigt, dass im unspezifischen Sauerteig sich Stoffe befanden, die einem daraus bereiteten Brot ein wesentlich breiteres Aroma verliehen als chemisch berechenbare Treibstoffe.

Herzfeld initiierte drei Versuchsreihen mit unterschiedlichen Rohmaterialen. In der Weender Brennerei des Gutsbesitzers Georg Werner nutzte man Rübensaft aus der Zuckerfabrik Nörten. Diese Versuche erfolgten in enger Kooperation mit der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Weende (einem Vorort von Göttingen), die sich seit ihrer Gründung 1857 zu einem Wissens- und Technologiezentrum in Norddeutschland entwickelt hatte. Lange geprägt von dem chemischen Technologen und Zuckerexperten Friedrich Stohmann (1832-1897), erweiterte der Agrarwissenschaftler Wilhelm Henneberg (1825-1890) dessen Forschungsfeld auch auf die Tierernährung – also einem wichtigen Feld der Reststoffverwertung von Zuckerschnitzeln, Rübenschlempe und Rübenblättern. Im brandenburgischen Alt-Reft stand dagegen Zuckermelasse im Mittelpunkt. In dem nahe von Bad Freienwalde gelegenen Örtchen bestand seit Anfang der 1860er Jahre eine Brennerei und eine Zuckerfabrik im Besitz von Graf Edwin von Hacke (1821-1890), einem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten. Drittens ließ Herzfeld auch den Einsatz von Rohzucker testen. Die Versuche waren nicht wirklich erfolgreich, doch sie eröffneten einen klaren Blick auf die notwendigen Bedingungen der Produktion „Deutschen Rums“. Rübensaft und Melasse schieden aus Herzfelds Sicht als Grundstoffe aus, da ihre Gärung eine zu breite Palette von nicht kontrollierbaren Aromastoffen hervorrief. Rübenzucker aber schien eine vielversprechende Ausgangsbasis zu bilden, allerdings in deutlich reinerer Form als üblich. Dann aber könne man hoffen, „dass durch Anwendung geeigneten Dunders, der unter Zusatz ähnlicher Stoffe wie in Indien gebräuchlich sind […], sich durchaus ein Rum von guter Qualität wird erzielen lassen“ (Herzfeld, 1890, 679).

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Lernen von fernen Vorbildern: Die Karibik Anfang der 1880er Jahre (Petermanns Mitteilungen 27, 1881, 311)

Die Resonanz auf diese Versuche war nicht unbeträchtlich: Auf der einen Seite war klar, „daß auf dem eingeschlagenen Wege die Erreichung des vorgesteckten Zieles wohl möglich sei, wenn schon im Einzelnen noch viel zu thun übrig bleibt und manche Hindernisse zu überwinden seien“ (Sell, 1891, 227). Deutsche Wissenschaft wäre handlungsfähig, könne einen „Deutschen Rum“ in akzeptabler Qualität herstellen: „Würde auch dieser R[um] dem echten nicht gleichwertig sein, so spricht doch alles dafür, daß er die außerordentlich minderwertigen Nachahmungen des Rums, die sich bei uns im Verkehr befinden, leicht verdrängen würde“ (Rum, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 19, Jahres-Supplement 1891-1892, Leipzig und Wien, Leipzig und Wien 1891, 789-790, hier 790). „Deutscher Rum“ war aus dieser Perspektive eine Art materialisierte Sozialtechnologie, war ein typisches Besserungsangebot bürgerlicher Wissenschaftler an die unwissende und irrational agierende Bevölkerungsmehrheit. Ferner wusste man, dass „Deutscher Rum“ einen Markt nur dann finden würde, wenn das Produkt mit Billigangeboten konkurrieren konnte.

Angesichts der noch erforderlichen hohen Investitionen war es nicht verwunderlich, dass sich abseits der Laboratorien und Versuchsstätten keine Unternehmer fanden, die erforderliche Investitionen wagen wollten. Es gab auch keine weiteren Versuchsreihen durch die Zuckerindustrie oder im breiten Netzwerk der landwirtschaftlichen Versuchsstationen – ein Widerhall der gerade bei Nahrungsmittelchemikern verbreiteten Skepsis, ob Herzfelds Ideen wirklich umsetzbar waren (Paul Lohmann, Lebensmittelpolizei, Leipzig 1894, 146; Fritz Elsner, Die Praxis des Chemikers […], 7. durchaus umgearb. u. wesentl. verm. Aufl., Hamburg und Leipzig 1900, 444). Sie litten unter dem Makel von „nicht zum erfolgreichen Abschluß gebrachten Experimente[n]“ (Franz Lafar, Handbuch der Technischen Mykologie, Bd. 5, 2. wesentl. erw. Jena 1905-1914, 340). Hinzu kamen zwei allgemeinere Veränderungen: Einerseits war es derweil gelungen, die Nebenprodukte der Rübenzuckerindustrie als Teil von melassehaltigen Futtergemischen erfolgreich zu vermarkten (Chr[istian] Grotewold, Die Zuckerindustrie, Stuttgart 1907, 98-100). Zum anderen schloss sich die Spiritusbranche Ende der 1890er Jahre zu einem Syndikat zusammen, so dass von einem freien Marktgeschehen nicht mehr die Rede sein konnte. Um die stetig wachsenden Mengen von Weingeist abzusetzen, wurden immer größere Mengen des Alkohols technisch verwertet. Neue Trinkbranntweine waren in diesem Umfeld kaum erwünscht – und sie wären durch die hohe steuerlich Belastung gegenüber Kunst-, Facon- und Rumessenzrum ohne Sonderregelungen auch nicht wettbewerbsfähig gewesen. „Deutscher Rum“ aus Rübenzucker blieb denkbar, doch auch angesichts des allgemein steigenden Lebensstandards schien ein solches Substitut nicht mehr zeitgemäß. In Satirebeilagen wurde er gar als Ausdruck überbürdenden Nationalismus verspottet: „Fahre hin, du stolzes Schiff, und trage deutschen Fleiß, deutsches Wesen und deutschen Rum an die fernen Gestade!“ (Aus dem Aufsatzhefte eines Schülers, Neues Wiener Journal 1900, Beilage Humor, Nr. 73, 9).

Spirituosen als überflüssiger Luxus

Der Erste Weltkrieg führte zu einem weiteren massiven Rückgang des Trinkalkoholkonsums. Alkohol diente nun vorrangig technischen Zwecken, war Teil der Sprengstoffproduktion und der chemischen Industrie, diente als Heiz- und Beleuchtungsmittel, zur Essigbereitung und für pharmazeutische Zwecke. Neue Verfahren, etwa Alkoholproduktion aus Holzabfällen oder Sulfitcellulose, schienen noch eine längere Anlaufphase zu benötigen (Protokoll einer Besprechung im Kriegsernährungsamt v. 7. Oktober 1916, BA R 86, Nr. 5339, I 2554). Trinkbranntweine wurden zwar weiter produziert, dienten aber vorrangig für Heereszwecke. Ersatzmittel drangen vor, auch für Rum, dessen Import größtenteils zum Erliegen kam.

24_Bundesarchiv R86_Nr5339_Grog_Suedpol_Dr-Oppenheim_Liebesgaben_Ersatzmittel

Liebesgabe aus „feinstem Rum“ – eine typische Irreführung im Jahre 1916 (BA R 86, Nr. 5539)

Damit versiegte erst der Nachschub für Verschnitt- und Faconrum, dann aber auch für den so weit verbreiteten Kunstrum. 1916 verbot man die Spiritusnutzung für die Trinkbranntweinversorgung der Zivilbevölkerung. Übrig blieben allein Essenzen und synthetische Aromen. In einem auf die Grundversorgung reduzierten Versorgungsalltag boten sie – zu weit überhöhten Preisen – noch ein wenig geschmackliche Abwechslung. Doch Rumersatz enthielt vielfach nicht nur keinen Rum, sondern mutierte zu dem „Surrogat eines Ersatzmittels“: „Der angebliche Rum bestand aus einer mit Saccharin versüßten Flüssigkeit, der ein wenig parfümierte Essenz beigemengt war“ (beide in Die Zeit 1918, Nr. 5681 v. 23. Juli, 5). Derartige Alkoholsubstitute waren alkoholfrei, dienten als eine überteuerte Würze für Tee, für einen virtuellen Grog (Arbeiterwille 1918, Nr. 1 v. 1. Januar, 7). Diese bedrückende Situation änderte sich auch 1919 nicht, 1920 nur langsam. Die Ersatzmittel waren Teil der Krisensituation der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu dem auch der wachsende Hass auf die Gegenwelt der Krisengewinnler gehörte: „Die wässerigen Käse, den Eiersatz, den Teeersatz, den Rumersatz, und all das andere Gemisch und Gepantsch, das unter Fluchen und Würgen als Nahrung betrachtet werden mußte, sollte jetzt ausschließlich zur Verpflegung der Schieber verwendet werden“ (Das interessante Blatt 39, 1920, Nr. 32 v. 5. August, 5). In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Importrum ein Getränk des Feindes, des inneren und äußeren. Auf der einen Seiten die Kolonialmächte der Entente, auf der anderen die vielbeschworenen Kriegsgewinnler und Schieber, die damit Geschäfte machte, ihn sich auch leisten konnten.

25_Bundesarchiv_R86_Nr5539_Kriegszeitung der 1. Armee_1918_04_28_Nr153_p07_WKI_Grog_Ersatzmittel_Rumersatz

Fehlender Trank bei der Truppe: Von der Liebesgabe zum Rauschersatz durch Rumersatz (BA R 86, Nr. 5539; Kriegszeitung der 1. Armee 1918, Nr. 153 v. 28. April, 7)

Die unmittelbare Nachkriegszeit bot der heimischen Spirituosenindustrie eigentlich ideale Rahmenbedingungen, gab es doch nach der faktischen Prohibition einen beträchtlichen Nachholbedarf. Zudem hatte die Kriegspropaganda immer wieder die Vorrangstellung der deutschen Wissenschaft, insbesondere der deutschen Chemie hervorgehoben: „Die Chemie ist die Wissenschaft der unbegrenzten Möglichkeiten; sie kann alles, man muß ihr nur Zeit lassen“ (Alfred Hasterlik, Von der Suppe in der Westentasche, Kosmos 10, 1913, 330-332, hier 332). Beides bot Marktchancen für eine Alternative zum kaum erschwinglichen Importrum, zum vielfach nicht verfügbaren und zudem deutlich verteuerten Kunstrum. Hinzu kam, dass im Jahrzehnt der Ernährungskrise die Anspruchshaltungen deutscher Konsumenten sanken, dass es um eine auskömmliche Grundversorgung ging und man der „Phrase von individuellem Geschmack“ (K[arl] B[ornstein], Hygienische Plauderei! Helfer der Hausfrau, Blätter für Volksgesundheitspflege 23, 1924, 84-86, hier 85) vielfach skeptisch gegenüberstand.

Nach dem Einschnitt des Ersten Weltkriegs verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der deutschen Spirituosenindustrie. Trotz hoher Abschöpfung schuf die mit dem Branntweinmonopol 1918 resp. 1922 einhergehende Regulierungsbehörde eine gewisse Rechtssicherheit. Parallel gewann der Außenhandel neue Bedeutung. Die begrenzten, durch die Auflösung der Heeresbestände noch unterstützten inländischen Spritbestände wurden durch Importe ergänzt. Zugleich konnten Markenprodukte insbesondere in neutralen Staaten zu attraktiven Preisen verkauft werden. Neuartige Produkte hatten daher beträchtliche Marktchancen (Die Lage der deutschen Spirituosenindustrie, Vorwärts 1920, Nr. 390 v. 6. August, 5). Die schon lange vor der Hyperinflation 1923 rasch steigenden Preise schränkten die Konsummöglichkeiten jedoch immer noch ein. Ende 1920 verzichtete man daher auf den vor Kriegsbeginn üblichen Silvesterpunsch. Verzicht blieb Bürgertugend: „So kroch mancher vorzeitig in die Federn und verschlief den Neujahrsbeginn recht gründlich“ (Amtliches Wittgensteiner Kreisblatt 1921, Nr. 1 v. 4. Januar, 3).

26_Briefs_1926_p718_Alkoholproduktion_Branntwein_Alkoholkonsum_Technischer-Alkohol_Statistik

Branntweinproduktion und -konsum im Deutschen Reich 1898-1918 (Goetz Briefs, Spiritusindustrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 4. gänzl. umgearb. Aufl., hg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber und Friedrich Wieser, Jena 1926, 713-724, hier 718)

Die Rahmenbedingungen für „Deutscher Rum“ verbesserten sich aber auch durch strikte öffentliche Kritik an unangemessenem Luxus zugunsten der siegreichen Kolonialmächte des Westens. Georg Heim (1865-1938), populistischer BVP-Politiker, wetterte in der Nationalversammlung gegen den „Aberwitz“ des Rum- und Arrakimportes: „Es ist doch heller Wahnsinn, wenn wir heute noch Luxuseinfuhr gestatten“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 331, Berlin 1920, Debatte v. 6. Dezember 1919, 3921). Angesichts von Zuckerimporten zur Weinstreckung und Schnapsbereitung und von weiteren Rum- und Arrakimporten in Höhe von 25 Millionen M forderte auch der SPD-Abgeordnete Lorenz Riedmiller (1880-1960): „diese Dinge müssen aufhören!“ (Ebd., Bd. 346, Berlin 1921, Debatte v. 10. Dezember 1920, 1611). Der Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung – die Rationierung dauerte fort – verwies entschuldigend darauf, dass das Importkontingent von 500.000 Litern Rum und Arrak vorrangig „für medizinische Zwecke“ diene, dass weitere Importe für die Versorgung der Handelsschiffe und der Exporthäuser der Hansestädte erforderlich seien (Ebd., Bd. 341, Berlin 1920, Nr. 2147, 3347; ebd., Bd. 365, Berlin 1920, Nr. 1268, 868). Doch die öffentliche Meinung repräsentierte eher der SPD-Abgeordnete Wilhelm Sollmann (1881-1951), Abstinenzler und Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Versailles, der den Import „solcher gänzlich überflüssigen Luxusgenußmittel“ für nicht mehr zeitgemäß hielt (Ebd., Bd. 364, Berlin 1920, Nr. 809, 575). Ein „Deutscher Rum“ entsprach also den Möglichkeiten und Erfordernissen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Und in der Tat präsentierte einer der führenden Spirituosenproduzenten Deutschlands, die Magdeburger und Stargarder Firma H.A. Winkelhausen, auf der Hannoveraner Anuga 1921 einen „Deutschen Rum“, hergestellt aus deutschen Rohstoffen. Das erschien als Durchbruch, als weitere Glanzleistung deutscher Wissenschaft und Technik.

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Zurückhaltende Werbung für „Deutschen Rum“ aus dem Hause Winkelhausen (Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 288 v. 24. Juni, 6)

Wissenschaftliche Präsentation eines vermeintlichen Durchbruchserfolges

Abseits dieser in zahlreichen Illustrierten und Zeitungen geschalteten redaktionellen Werbung (Jugend 26, 1921, 574; Illustrierte Zeitung 157, 1921, Nr. 4052 v. 14. Juli, 10; Münchner Neueste Nachrichten 1921, Nr. 394 v. 17. September, 21) erfuhr die Öffentlichkeit vom neuen „Deutschen Rum“ aus Rübenzucker seit Oktober 1921: „Zwei deutschen Firmen ist es gleichzeitig gelungen, nach langjährigen Versuchen unter Anwendung aller modernen Hilfsmittel und durch genauer Anpassung an die tropischen Verhältnisse in Jamaica, aus heimischen Zuckerrübenabfällen einen deutschen Rum herzustellen, der echten Auslandsrum an Güte mindestens gleichkommt, viele Importware sogar wesentlich übertrifft. Diesem Erfolg kommt eine hohe wirtschaftl. Bedeutung zu, denn die großen Vermögenswerte, die früher dem Ausland zuströmten, werden jetzt dem heimischen Gewerbe verbleiben“ (Deutscher Rum, Durlacher Tageblatt 1921, Nr. 247 v. 23. November, 4; zuvor schon Deutscher Rum, Kölnische Zeitung 1921, Nr. 737 v. 31. Oktober, 10). Derartige Artikel fassten die Ergebnisse erster nunmehr in der Fachöffentlichkeit publik werdender Informationen zusammen. Der Verband selbständiger öffentlicher Chemiker Deutschlands beschäftigte sich Mitte September mit dem Thema, präsentierte dabei die Wilthener C.T. Hünlich AG als Motor der Innovation. Diese habe bereits 1909, zwölf Jahre zuvor, mit entsprechenden Forschungen begonnen (Haupt, 1921, 253). Im Dezember 1921 wurde dies durch ein ausführliches Gutachten (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Zeitschrift für angewandte Chemie 34, 1921, 621-623, 629-634) nochmals unterstrichen. Die Forschungen der mit Hünlich eng kooperierenden Winkelhausen-Werke wurden kurz danach veröffentlicht (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, 185-186). Es folgten eine Reihe einschlägiger Berichte in Zeitungen im In- und Ausland (Deutscher Rum – eine neue Tat deutscher Technik, Meraner Tagblatt 1922, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Deutscher „Jamaika“-Rum, Niederrheinisches Tageblatt 1922, Nr. 123 v. 27. Mai, 6). Doch die Zahl enthusiastischer, preisender Artikel blieb gering. Stattdessen dominierten sachliche Wiedergaben einschlägiger Fachartikel (Jahresbericht für Agrikultur-Chemie 65, 1922, 365; Chemiker-Zeitung 46, 1922, 934, Zentralblatt für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 3, 1923, 370). Immerhin war „Deutscher Rum“ zumindest bis 1923 ein von unterschiedlichen Experten diskutiertes Thema (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Süddeutsche Apotheken-Zeitung 63, 1923, 329-330, 351-353).

28_Bundesarchiv R86_Nr5340_C-T-Huenlich_Briefkopf_Produktionsstaetten_Spirituosenindustrie_Deutscher-Rum

Produktionsstätten der C.T. Hünlich AG Anfang der 1920er Jahre (BA R 86, Nr. 5340)

Dabei ging es einerseits um die Produktionstechnik, also die eigentliche Innovation. Die C.T. Hünlich AG stand dabei im Mittelpunkt der Berichterstattung. Nähere Angaben zur Firmengeschichte übergehe ich, doch Hünlich war einer der führenden deutschen Weinbrandproduzenten des Deutschen Reiches, Carl-Albert Hünlich (1853-1916) von 1896 bis 1914 Vorsitzender des Verbandes der deutschen Cognac-Brennereien (Detaillierte Angaben enthält BA R 8127, Nr. 10823, Hünlich 1917-1930). Die Firma hatte ein breites Angebot, das weitere Spirituosen, eine Spritfabrik, aber auch Nichtalkoholika mit einschloss. Hünlich war kein Markenartikler. Tochterfirmen, wie die 1911 gegründete Oppauer E.L. Kempe & Co. bedienten diesen Markt. Im Zentrum stand die Belieferung des Großhandels mit Destillaten, die dann umgefüllt, weiterverarbeitet und unter anderen Namen vertreiben wurden. Das passte zur Struktur des Rummarktes. Versuche mit „Deutschem Rum“ begannen 1909, Fritz Hünlich (1885-1931) zeichnete hierfür verantwortlich. Auch sein Bruder Rudolf Hünlich (1883-1924), der ab 1916 die Geschicke der 1917 zur Aktiengesellschaft umgewandelten Firma leitete, unterstützte diese Forschungsarbeiten. C.T. Hünlich richtete schon vor dem Krieg eine Versuchs-Rumbrennerei ein (Erster Geschäfts-Bericht der Cognac-Brennerei C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das Geschäftsjahr 1916-1917, s.p., BA R 8127, Nr. 10823), diskutierte die Pläne eines „Deutschen Rums“ auch mit dem Reichsschatzamt. Auch innerhalb der Nahrungsmittelchemie war dies bekannt, die Begriffsbestimmungen definierten „Rum“ daher im Gegensatz zu den britischen Regeln 1912 als ein „zur Zeit“ aus Zuckerrohrmelasse hergestellten Trinkbranntwein (Bericht v. Alfred Heiduschka v. 7. März 1921, BA R 86, Nr. 5340). Anfangs gab es Misserfolge, doch schon 1914 gab es einen „echten“ Rum „nach den auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschen Gärmaterialien hergestellt“ (Mezger und Jessen, 1921, 623; Deutscher Rum, Die Glocke 1921, Nr. 268 v. 19. November, 3).

29_SLUB Dresden_Deutsche Fotothek_Nr33129766_C-T-Huenlich_Laboratorium_Spirituosenindustrie_Wilthen

Pröbeln und Testen: Laboratorium der C.T. Hünlich AG 1925 (SLUB Dresden und Deutsche Fotothek Nr. 33129766)

C.T. Hünlich bildeten die Karibik im Kunstrum der Brennerei nach: „Die Vergärung erfolgt in temperierten Räumen, bei den hohen in den Tropen üblichen Temperaturen mit spezifischen Gärungserregern in mehreren getrennten Gängen. Die Zuckerrübenmelasse wird für sich vergoren und aus den bei der Destillation vorbleibenden Schlempen unter Zusatz von Rohzucker, stickstoffhaltigen Rückständen und Früchten ein Dunder bereitet, indem man diese Mischung einer Bakteriengärung in hoch beheizten Räumen unterwirft. Hierbei bilden sich neben wohlriechenden aromatischen Substanzen auch unerwünschte Körper, deren Abtrennung nach einem besonderen Vorfahren vorgenommen wird. Dieser fertig präparierte Dunder wird nun in einem bestimmten Verhältnis der gärenden Melassemaische vor der Destillation zugesetzt. Es ist klar, daß die Art der Gärungsorganismen bei der Entwickelung des Rumaromas die grösste Rolle spielt, und es liegt nahe, dass man versucht hat, die Gärungserreger in Reinkulturen zu züchten und überzuimpfen, ähnlich wie es H. Becker s. Z. gelang, durch Einführung von Cubarumhefe in Deutsch-Ostafrika einen guten Rum zu erzeugen“ (Haupt, 1921, 253-254). Damit knüpfte Hünlich unmittelbar an die Vorarbeiten Alexander Herzfelds an ([Gustav] Dorfmüller, Ref. v. Hugo Haupt, Ueber deutschen Rum, 1921, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Zucker-Industrie 71, 1921, 813), legte aber deutlich größeren Wert auf die Gärungsmaterialien, die Prozessführung und die Koordination der Grundgärung, der Dunderproduktion und der Aromatisierung des Brenngutes.

30_Winkelhausen_Magdeburg_Produktionsstaetten_Spirituosenindustrie_Weinbrand

Die Magdeburger Betriebsstätten der H.A. Winkelhausen AG 1926

Parallele Entwicklungsarbeit gab es kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch bei H.A. Winkelhausen, 1846 als Kolonialwaren- und Destillationsgeschäft in Preußisch-Stargard gegründet und während des Kaiserreichs ebenfalls eine führende Weinbrennerei. Standorte gab es im In- und Ausland, Anfang der 1920er Jahre beschäftigte die mittlerweile nach Magdeburg verlagerte Firma ca. 1200 Beschäftige (Westfälische Zeitung 1921, Nr. 208 v. 31. August, 6). Winkelhausen produzierte erfolgreiche und breit beworbene Markenartikel, auch sie wurde Anfang der 1920er Jahre eine Aktiengesellschaft. Seither kooperierten Winkelhausen und Hünlich eng, 1930 übernahm sie dann Hünlich und siedelte nach Wilthen um, ehe die Firmen 1931 wieder getrennte Wege gingen; wobei Winkelhausen Teil der Stettiner Rückforth AG wurde (nähere Informationen finden sich in BA R 907, Nr. 4758 resp. BA R 907, Nr. 9119).

Auch bei Winkelhausen folgte man Herzfelds Anregungen. Der Direktor besuchte vor dem Weltkrieg Jamaika, um die dortigen Verfahren genauer zu studieren. Anders als Hünlich versuchte man mit Unterstützung des Reichsschatzamtes zunächst eine Rumproduktion aus importierten Rohmaterialien Westindiens, verfolgte also Ideen weiter, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert und verworfen wurden. Parallele Versuche mit deutscher Rübenzuckermelasse ergaben vorzeigbare Resultate, doch mit einen unangenehmen Geruch und Beigeschmack (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, hier 161). Der 1915 den staatlichen Behörden präsentierte Rum aus Rohrzucker überzeugte geschmacklich, konnte während des Weltkrieges aber nicht weiter hergestellt werden. Stattdessen konzentrierte man sich auf den Rum aus Rübenzuckermaterialien, verbesserte diesen, setzte nach Kriegsende allein auf dieses Verfahren, auch wenn er weiterhin einen „nicht angenehmen Beigeschmack“ (Ebd., 162) besaß. Vergleichende Verkostungen des „Deutschen Rums“ beider Produzenten ergaben jedoch bessere Werte für das Produkt des Hauses Winkelhausen (Kurt Brauer, Deutscher Rum. (Schluß.), Chemiker-Zeitung 46, 1922, 185-186, hier 186). Gleichwohl waren deutsche Experten zuversichtlich, dass das Destillat weiter zu verbessern sei; zumal durch eine längere Lagerung. Der Tenor war klar: „Sollte sich die neue Erfindung bewähren und sich deutscher Rum als Qualitätsmarke einbürgern, dann wäre unserer Volkswirtschaft wieder ein guter Dienst erwiesen“ (Deutscher Jamaika-Rum, Der Drogenhändler 1922, Nr. 6, 64, BA R 86, Nr. 5430).

31_Volksstimme_1914_12_30_Nr303_p4_Rheingauer Buergerfreund_1914_12_22_Nr153_p3_Spirituosen_Rum_Deutscher-Rum_Rumverschnitt_Faconrum_Latscha

Deutscher Rum als Handelsmarke 1914 (Volksstimme 1914, Nr. 303 v. 30 .Dezember, 4 (l.); Rheingauer Bürgerfreund 1914, Nr. 153 v. 22. Dezember, 3)

„Deutscher Rum“ als Teil deutschen Wiederaufstiegs nach dem Ersten Weltkrieg

„Deutscher Rum“ war ein wahrgewordener Wissenschaftstraum, Ausdruck beharrlicher Entwicklungsarbeit, Beleg für die Leistungsfähigkeit der deutschen Spirituosenindustrie. Das war Labsal für die durch die Niederlage gebeutelte deutsche Seele. Doch abseits schwer zu fassender Gefühle schien „Deutscher Rum“ ein volkswirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fortschritt zu sein. Mochten bisher auch vorwiegend Proben vorliegen, so war man doch schon sicher, dass „die beträchtlichen Vermögenswerte, die früher dem Ausland für Importware zugeströmt sind, […] künftig zum großen Teile im Land verbleiben, ja es steht sogar zu erwarten, daß Deutschland seine guten deutschen Rume in die benachbarten Oststaaten exportieren wird“ (Stadlinger, „Deutscher Rum“, Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 516 v. 4. November, 9). Stolzes Schulterklopfen war vernehmbar, der morgige Tag schien wieder der Deutschlands zu sein: „Wir stehen vor einer Glanzleistung der deutschen Industrie, einer Leistung, die besonders gerade in der Gegenwart allseitige Beachtung finden sollte. Es ist unbedenklich zuzugeben, daß die besten Sorten echten tropischen Rums besser sind als der deutsche Rum, aber die Industrie des deutschen Rums ist heute erst in ihren Anfängen und arbeitet, ermutigt durch den großen Erfolg, den sie errungen hat, unermüdlich an der Verbesserung ihres Erzeugnisses, und dann, wer kann heute noch die besseren Qualitäten echten Tropenrums bezahlen?“ (Werner Mecklenburg, Deutscher Rum, Berliner Tageblatt 1922, Nr. 3 v. 3. Januar, 5).

Die öffentliche Präsentation der Herstellungsverfahren sollte vor allem die in der technischen Simulation liegende Eigenleistung hervorheben. Nein, „Deutscher Rum“ sei kein Ersatzmittel, sondern ein deutsches Analogon, ähnlich, doch aus deutschen Rohmaterialien. Diese seien, das habe der Rübenzucker gezeigt, gleichwertig, doch angepasst an das so andere deutsche Klima. „Deutscher Rum“ erlaube zugleich die Reinigung des deutschen Marktes vom Kunstrum, denn das neue Produkt würde preiswert sein, zweieinhalb mal preiswerter als der Importrum. Mit Kunstrum sei es damit wettbewerbsfähig, zugleich aber aromatischer, abgerundeter. Es handele sich um „vollständige Wesensgleichheit“ (Mezger und Jesser, 1921, 634) mit Importrum, entsprechend wäre die Wahl für deutsche Konsumenten einfach. Im Reichsinnenministerium rechnete man mit verminderten Rumimporten, hoffte auf neue Exportchancen abseits des Kunstrums (Schreiben des Reichsministerium des Innern an das Reichsgesundheitsamtes v. 4. Juli 1923, BA R 86, Nr. 5430).

Begriffs- und Regulierungsprobleme

All das war aber immer noch eine Als-Ob-Diskussion. Nicht nur hatte die Massenproduktion noch nicht begonnen, sondern 1920 bis 1922 blieb offen, ob der Begriff „Deutscher Rum“ auch genehmigungsfähig war und wie er in das komplexe Rechtswerk der Branntweinregulierung zu integrieren sei. Die Debatte kann hier nicht ausgebreitet werden, obwohl sie bei vielen Bürokraten gewiss Zungenschnalzen auch abseits der Zungenprobe hervorrufen dürfte. „Deutscher Rum“ war umstritten, denn diesen konnte es eigentlich nicht geben in einer Welt, in der Rum aus der Ferne stammte, als Erzeugnis aus vergorenen Rohrzuckermaterialien galt. Hinzu kam der ausgeprägte Drang nach begrifflicher Präzision. In der ersten öffentlichen Diskussion sprach sich der langjährige Vorsitzende des Bund Deutscher Nahrungsmittelfabriken und -Händler August Ertheiler (1863-1959) dafür aus, einen Kunstbegriff (wie Weinbrand statt Kognak oder Sekt statt Champagner) zu entwickeln, parallel das Produkt zu verbessern, um dann erfolgreich zu sein (Haupt, 1921, 260-261). Albert Jonscher plädierte in einem Gutachten für „Echter Rum von C.T. Hünlich, Wilthen nach dem auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschem Gärmaterial hergestellt“ (Gutachten von A. Jonscher v. 2. März 1921, BA R 86, Nr. 5340), Heinrich Becker für „Deutscher Rum nach den für echten Jamaika-Rum üblichen Arbeitsverfahren aus Deutschem Rohstoff hergestellt von C.T. Hünlich, Aktiengesellschaft, Wilthen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Ebd.).

32_Dresdner Nachrichten_1923_12_16_Nr347_p21_Spirituosen_Deutscher-Rum_Deutscher-Arrak_C-T-Huenlich

Großhandel mit „echtem“ Deutschem Rum und Deutschem Arrak (Dresdner Nachrichten 1923, Nr. 347 v. 16. Dezember, 21)

Die C.T. Hünlich AG beharrte dagegen auf der eigenen Bezeichnung „Deutscher Rum“ (Aktennotiz v. 9. Mai 1921 betr. Deutschen Rum, Ebd.; Beschreibung der Fabrikation des Deutschen Rums, ebd.) und konnte damit die Mehrzahl der Experten für sich einnehmen. Dem Reichsgesundheitsamt wurden eine Reihe befürwortender Gutachten zugesandt, führende Gärungschemiker und Nahrungsmittelchemiker wie Karl Lintner (1855-1926) oder Alfred Heiduschka (1875-1957) leistenden Flankenschutz. Die Bezeichnung Rum war für den Hersteller als Kaufargument natürlich entscheidend, zudem wollte man nicht schlechter gestellt werden als Kunstrumhersteller. Den Ausweg bot die Vorstellung der Wesensgleichheit von Produkten, wie sie etwa bei Rohr- und Rübenzucker bestand, die chemisch beide Saccharose waren. Rum sollte auf zuckerhaltige Ausgangsprodukte begrenzt werden. Das aber bedeutete nicht zwingend Zuckerrohr, denn dies wäre „gleichbedeutend mit einer parteilichen Stellungnahme zu Gunsten der Auslandserzeugnisse, zum Nachteile jeder fortschrittlichen Arbeit in der deutschen Gärungsindustrie. Eine solche Einseitigkeit müßte für die Dauer dazu führen, daß die allergeringwertigsten, aus rohen Abfällen des Zuckerrohrs in primitiver Weise erzeugten, kaum trinkbaren Auslandsrums bei der Beurteilung besser gestellt werden, wie das einheimische, mit modernen gärungstechnischen Hilfsmitteln gewonnene, wohlschmeckende Erzeugnis aus deutschen zuckerhaltigen Pflanzenstoffen. Der deutsche Verbraucher und der deutsche Nahrungsmittelchemiker sollte sich dabei namentlich nicht zuletzt auch die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung einer solchen heimatlichen Rumerzeugung vor Augen halten und nicht sklavisch am altherkömmlichen Buchstaben des Schrifttums festkleben!“ (Laboratorium Dr. Huggenberg & Dr. Stadlinger über „Deutschen Rum“ v. 14. März 1921, BA R 86, Nr. 5340) Ohne begriffliche Flexibilität sei fortschrittliche deutsche Forschung durchweg benachteiligt. Die Experten des Reichsgesundheitsamtes pflichteten der Bezeichnung intern grundsätzlich bei, doch angesichts laufender Rechtsstreitigkeiten hielten sie sich öffentlich zurück. Ihre Analyse des „Deutschen Rums“ ergab jedoch, dass dessen Geruch und Geschmack dem guter Importrumwaren „sehr nahe“ kam (Bericht des Reichsgesundheitsamtes v. 5. Juli 1921, Ebd.).

Das Gewicht der Firmen Hünlich und Winkelhausen, die Wortmacht ihrer Gutachter und Fürsprecher und die mit dem neuen Produkt verbundenen volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Überlegungen führten dazu, dass „Deutscher Rum“ schon vor Ende der Rechtsstreitigkeiten von Regierungen und Parlamenten in geltendes Recht integriert wurde. Bei der Novelle des Branntweinmonopolgesetzes wurde eigens ein neuer § 27, Abs. 2 eingefügt, um ein Abbrennen auch aus Rübenzuckermaterialien erlauben zu können. Die Produktion des „Deutschen Rums“ aus Rüben- und auch Apfelschnitzen könne „die Einfuhr ausländischen Rums“ begrenzen. Man müsse begrifflich flexibel sein, wolle man „den Fortschritt nicht hindern“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 371, Berlin 1922, Nr. 3616, 3619). Im 1927 erlassenen Lebensmittelgesetz weitergehende finden sich weitere Begriffsbildungen, insbesondere „Deutscher Rum-Verschnitt“ (Bund, 1927, 628). Neben dem Importrum eröffnete sich eine deutsche Parallelwelt.

Juristische Fehden um „Deutschen Rum“

„Deutscher Rum“ scheint damit auch ein Beispiel für die hohe Bedeutung wirtschaftlicher Interessen in der Gesetzgebung der Weimarer Republik zu sein. Doch das wäre zu einfach, denn die wirksamste Kritik an dem Begriff kam aus der Wirtschaft selbst. Dem Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten ging es dabei vorrangig um die Verteidigung vorher allgemein akzeptierter Begrifflichkeiten – und entsprechend warnte er seine Mitglieder vor dem Kauf des neuen Produktes, eines „Kunstrums“. Hünlich verklagte daraufhin den Verband wegen Rufschädigung. Eine einstweilige Verfügung erging, wurde in Frage gestellt, vom Berliner Kammergericht dann aber bestätigt. Eine Entscheidung aber blieb weiter vakant – und sollte sich bis 1923 hinziehen. Für C.T. Hünlich ging es dabei um erhebliche Risiken. Der Spezialreservefonds wurde um 700.000 M aufgestockt, die Investitionen in Maschinen und Umbauten bezifferte die Firma auf 8 Mio. M (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 6. Geschäftsjahr 1921-1922, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Damals erwarb C.T. Hünlich unter anderem die aufgrund des Versailler Vertrages nicht mehr benötigte Zeppelin-Luftschiffhalle aus Dresden-Kaditz.

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Produktionsstätten von C.T. Hünlich Mitte der 1920er Jahre – links oben die neue Lagerhalle (Werbezettel 1928, Sächsisches Wirtschaftsarchiv BK 703)

Beide Kombattanten reüssierten in Ministerien und Reichsgesundheitsamt. Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten vertrat die Ansicht, „dass die Bezeichnung ‚Rum‘ ausschliesslich für einen aus Zuckerrohrmelasse gewonnenen Branntwein verwendet werden darf“ (Schreiben des Verbandes Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten an Dr. Günther v. 3. Juni 1921, BA R 86, Nr. 5340). Man bestritt nicht die Güte des neuen Getränks, doch müsse es präzise benannt werden, etwa als „Rum aus Rübenschnitzeln“. Es habe den Verband viel Überzeugungskraft gekostet, die vor dem Weltkrieg festgelegten Begriffe und Definitionen umzusetzen; nicht zuletzt gegen den Widerstand vieler Fasson- und Kunstrumproduzenten. „Deutscher Rum“ verkenne zudem die Macht des Auslandes, zumal der Franzosen und der Briten, die aufgrund des Versailler Vertrages erhebliche Vorbehaltsrechte besäßen. Im Reichsgesundheitsamt verteidigte man den Begriff „Deutscher Rum“ als einen Herkunftsbegriff – wie etwa Gouda oder Pilsener –, umging so die strittige Frage der Wesensgleichheit (Bericht über eine Besprechung von Reichsgesundheitsamt und Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten v. 18. Juli 1921, Ebd.)

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Deutscher Rum unklarer Herkunft und Zusammensetzung (Frankenberger Tageblatt 1922, Nr. 11 v. 3. Januar, 4)

Der Rechtsstreit gärte weiter, beschäftigte die Ministerialbürokratie. Doch die Frage wurde in der Schwebe gehalten (Aktennotiz v. 3. August 1921 Ebd.; Stellungnahme zur Frage „Deutschen Rums“ v. August 1921, BA R 86, Nr. 5340). Stattdessen verweis man auf das vom Kammergericht angeforderte Gutachten des Berliner Nahrungsmittelchemikers Adolf Juckenack (1870-1939). Er besichtigte im Oktober 1921 die Produktionsstätten in Wilthen, entnahm Proben und versprach ein Resultat bis Ende 1921 – und dann folgte eine Kaskade von Rückfragen, Ankündigungen und Vertröstungen, die bis Weihnachten 1922 währte.

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Der Nahrungsmittelchemiker Adolf Juckenack (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 28, XVI)

Juckenack betonte, dass die karibische Rumproduktion höchst heterogen sein, auch Zutaten abseits der Rohrzuckerproduktion verwende. Entscheidend sei daher nicht das Gärungsmaterial, sondern das Aroma des Rums. Dieses nachzubilden sei Ziel der langjährigen wissenschaftlichen Versuche Hünlichs gewesen. Man habe sich an die karibische Produktionsweise angelehnt, diese aber nicht nachgemacht. Hünlichs Komposition aus einem gefilterten Rauhbrand aus Rübenzuckermelasse, einem Dunders als Rübenzuckernebenprodukten und einer späteren Aromatisierung durch besondere Zusätze, Skimmings, sei eine eigenständige Leistung. Das Ergebnis stehe dem Jamaika-Rum „noch recht erheblich“ nach, doch Verbesserungen seien möglich. Juckenack konstatierte „eine weitgehende Rumähnlichkeit“, schrieb Wesensähnlichkeit fest (Adolf Juckenack, Gutachten v. 25. Dezember 1922, BA R 86, Nr. 5430). Obwohl er sich damit nicht zur strittigen Frage des in der Reichsgesetzgebung bereits verwandten Begriff „Deutscher Rum“ äußerte, stärkte er doch die Position der Firma Hünlich so sehr, dass ein Vergleich geschlossen werden konnte (Deutscher Rum anerkannt, Pharmazeutische Zentralhalle 1923, Nr. 25, 299, BA R 86, Nr. 5430). Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten erkannte den Begriff „Deutscher Rum“ an und zog den Vorwurf eines „Kunstrums“ zurück. Hünlich verzichtete dafür auf Schadenersatz (Schreiben der Hünlich-Winkelhausen-Generaldirektion Ak. Ges. an das Reichsfinanzministerium v. 23. Mai 1923, BA R 86, Nr. 5430). „Deutscher Rum“ war im Deutsche Reiche anerkannt.

Eine neue Konkurrenz? Internationale Reaktionen auf „Deutschen Rum“

Während im Deutschen Reich die Rahmenbedingungen für die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ geschaffen wurden und schließlich auch die internen juristischen Fehden überwunden worden waren, fehlte im Ausland eine breit gefächerte Reaktion auf das neue deutsche Produkt. Sie war vielmehr sachbezogen, konzentrierte sich auf die von den deutschen Experten präsentierten Grundinformationen: „A German firm is producing a beverage similar to rum in composition and flavour from the products of beet sugar manufacture, without any addition of flavouring essences or esters. It is made by the fermentation of beet juice, molasses, raw sugars, and beet-factory-by-products. Undesirable aromatic substances produced at a certain stage in the manufacture are removed by a special process, and there is an addition of sugar, nitrogenous matter, and fruits. […] The analytical figures are within the limits found in the analysis of colonial rums. The flavour of the German product has been judged by various experts to be only slightly inferior to that of first-quality Jamaica rum” (German Rum, The Pharmaceutical Journal and Pharmacists 108, 1922, 117).

Das Interesse war gleichwohl groß, einzelne Arbeiten wurden zumindest teilweise übersetzt (Hugo Haupt, Manufacture of Rum from Beet Juice, International Sugar Journal 24, 1922, 33-35). Dabei traten insbesondere die in der deutschen Diskussion kaum erörterten internationalen Harmonisierungsprobleme in den Vordergrund. Westindische Repräsentanten unterstrichen, dass aus ihrer Sicht „Rum“ ein „spirit destilled direct from sugar-cane products in sugar-cane growing countries“ sei – so wie dies 1909 bereits festgeschrieben wurde. Aus ihrer Sicht war „Deutscher Rum“ ein jamaikanisches Ersatzmittel, „imitation rum“ (“Rum” from Beet Juice, Chronicle of the West India Committee 37, 1922, 93). Anderseits goutierte man sehr wohl das Bestreben der Deutschen, ein dem Vorbild Westindiens entsprechendes Produkt zu entwickeln. Und man bestätigte durchaus die Ähnlichkeit des „Deutschen Rums“ mit dem kolonialen Vorbild (Journal of the Society of Chemical Industry 41, 1922, 73A). Zugleich aber hoben einzelne Wissenschaftler die Unterschiede des Aromas hervor, setzten das neue Produkt dadurch an die Seite einschlägigen Kunstrums (Ebd., 912A). Annäherung war eben relativ. Entsprechend präsentierte man dem Fachpublikum auch die durchaus unterschiedlichen Einschätzungen deutscher Forscher zum Begriff „Deutscher Rum“. Zugleich hielt man es für durchaus möglich, dass die klimatischen Besonderheiten der Tropen chemisch und technisch simuliert werden konnten, so dass negative Auswirkungen auf den britischen und kubanischen Export nicht ausgeschlossen wurden (Germany Investigating Rum Manufacture, Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 68, 1922, 294-295). Letztlich aber waren die karibischen Rumproduzenten recht sicher, dass die deutsche Herausforderung nur begrenzte Folgen haben werde. Eine erste Degustation ergab jedenfalls ein für „Deutschen Rum“ enttäuschendes Resultat, hieß es doch „that these samples represented an inferior grade of rum; that they appeared to be highly flavoured (the odour of amyl acetate being particularly pronounced); and that they could not really be regarded as even equal to the lower grades of Jamaica or Demerara rum” (International Sugar Journal 24, 1922, 211).

Marktpräsenz ohne Werbung und offizielle Genehmigung

Welch ein Aufwand! Und nur wenige Jahre später hieß es, leider „haben die Resultate der deutschen Rumbrennerei den Erwartungen bisher nicht entsprochen“ (Georg Lebbin, Nahrungsmittelgesetze, Bd. 2: Getränkegesetze und Getränkesteuergesetze, Berlin und Leipzig 1926, 233). Um das zu verstehen, müssen wir in die Akten blicken: Der eigentliche Anstoß für die Intensivierung der Forschungen zu „Deutschem Rum“ lag 1920 demnach in zuvor unbekannten Marktchancen. Damals hatte die Brauerei zum Felsenkeller in Dresden-Plauen den Braubetrieb wieder aufgenommen, konnte ihre Kapazitäten aufgrund von Gerstenmangel auch nicht ansatzweise nutzen. Sie kaufte daher Zuckerrübenschnitzel auf, röstete diese, stellte daraus dann Substitute von Porter und Ale dar, zudem massenhaft sog. Paheiowein. Da dieser kaum Käufer fand, griffen Hünlich und Winkelhausen zu, kauften den „Wein“ auf, ließen die noch nicht verarbeiteten Schnitzel zusätzlich von anderen Brauereien verarbeiten – all das mit Sondergenehmigungen, da die Brauerei zum Felsenkeller ohne den Verkauf in Existenznot gekommen wäre. Aus den heimischen Vorprodukten brannten sie „Deutschen Rum“, Hünlich 1,17 Million Liter Weingeist, Winkelhausen 0,97 Million, insgesamt 2,14 Million Liter Weingeist. Das war die vielfache Menge des damaligen Importkontingents für Rum (Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, BA R 86, Nr. 5430). Es ist unklar, wie viel hiervon abgesetzt wurde, Hünlich sprach lediglich von einer „ständig steigende[n] Nachfrage nach deutschem Rum im Kreise der Konsumenten“ (Eingabe der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft v. 28. Oktober 1922, BA R 86, Nr. 5430).

1923 beantragte sie die Genehmigung für die Herstellung „Deutschen Rums“ aus 500.000 Liter Weingeist aus Zuckerrübenrohware, zog diesen Antrag aber zurück, als die Branntweinmonopolverwaltung darauf beharrte, dass das Brenngut ablieferungspflichtig sei (Schreiben von C.T. Hünlich an das Reichsfinanzministerium v. 16. April 1923, Ebd.; Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, ebd.; Aktennotiz von Förster v. 12. Januar 1925, ebd.). In den hier nicht in den Details auszuführenden Auseinandersetzungen ging es letztlich um die Höhe der Abgaben und Steuern für den „Deutschen Rum“. Während die Republik vor dem Kollaps stand, brachte das Reichsfinanzministerium am 30. Oktober 1923 noch eine Sonderverordnung über die Behandlung von Rummaische als Obststoff auf den Weg, doch C.T. Hünlich beschritt diesen eigens eröffneten Weg nicht mehr (Aktennotiz vom 13. Dezember 1923, Ebd.). Die Produktion weiteren „Deutschen Rums“ scheiterte zeitweilig an der Höhe der Abgaben und Steuern. Die Zerrüttung der Geldwirtschaft und die damit zwingend einher gehende Warenzurückhaltung waren weitere Gründe für den Produktionsstopp.

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Warenzeichen von C.T. Hünlich (Geschäfts-Bericht 1927/28, IV (l.); ebd. 1928/29, IV)

C.T. Hünlich beantragte nach der Konsolidierung neuerlich Brennrechte für „Deutschen Rum“ aus der nun so bezeichneten „Rummaische“, konnte aus Sicht der Reichsmonopolverwaltung aber den Beweis nicht erbringen, „dass sie in der Lage ist, Erzeugnisse herzustellen, die den Anforderungen der Verordnung“ vom 30. Oktober 1923 entsprachen. Während der aus Paheiowein gefertigte „Deutsche Rum“ seine Abnehmer fand, gab es nun „erhebliche Zweifel darüber […], ob die bisher von der Firma hergestellten, von ihr als Deutscher Rum bezeichneten Erzeugnisse nach dem bei der Herstellung angewendeten Verfahren als ein dem echten Rum wesensähnliches Erzeugnis anzusehen ist“ (Schreiben des Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an den Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes v. 6. Januar 1925, Ebd.). Offenbar war das von so vielen Gutachtern bewertete Verfahren doch nicht wirklich ausgereift. Es ist unklar, wie diese Debatte endete, denn die Akte des Reichsgesundheitsamtes über „Kognak, Rum und Arrak“ von 1926 bis 1929 ist nicht mehr auffindbar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es zu keiner neuerlichen Massenfabrikation „Deutschen Rums“ bei C.T. Hünlich und auch bei den Winkelhausen-Werken gekommen ist. In den Geschäftsbericht 1922/23 berichtete Hünlich noch über „weitere Fortschritte“ beim Vertrieb und großen Fortschritten in der Fabrikation, „die allerdings die Festlegung beträchtlicher Kapitalien erfordern, teils für den weiteren Aufbau von Apparaten, teils für Umbauten in unserem Betriebe und für Versuche im Großen“ (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 7. Geschäftsjahr 1922-1923, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Spätere Geschäftsberichte sparten „Deutschen Rum“ aus. Das galt auch für die Winkelhausen-Werke. Weitere Firmen suchten um Brennrechte nach, einzelnen wurde die Genehmigung nicht erteilt (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 24. November 1924, BA R 86, Nr. 5430; Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an die Graubrüderhaus AG für Brennereierzeugnisse Dresden v. 6. Januar 1925, ebd.).

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Auktion von deutschem Weinbrand und deutschem Rum Winkelhausen (Hamburgische Börsen-Halle 1924, Nr. 239 v. 23. Mai, 3)

Weitergehende Aussagen über die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ haben nur begrenzten Aussagewert. „Deutscher Rum“ der Winkelhausen-Werte erschienen Mitte der 1920er Jahre regelmäßig bei Auktionen, insbesondere aber in Werbeanzeigen. Die Preise lagen deutlich unter dem echten Importrums bzw. gängiger Verschnitte.

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Winkelhausens Deutscher Rum: Teurer als Verschnitt, preiswerter als echter Jamaika-Rum (Badischer Beobachter 1925, Nr. 358 v. 30. Dezember 1925, 10)

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Deutscher Rum als Basis von Rumverschnitt (Dresdner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 291 v. 13. Dezember, 19)

Auch „Deutscher Rum-Verschnitt“ findet sich in Anzeigen insbesondere in Sachsen. Die Preise lagen unter den Angeboten mit Jamaika-Rum, so dass es nicht ausgeschlossen ist, dass er half, die Dominanz des nunmehr explizit kennzeichnungspflichten Kunstrums im deutschen Markt zu brechen.

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Deutscher Rum im Kücheneinsatz (Arbeiterstimme 1926, Nr. 266 v. 29. November, 5)

Beachtenswert ist jedoch, dass am Ende 1920er Jahre „Deutscher Rum“ bestimmten Herstellern nicht mehr zuzurechnen war. Mochte der Rechtsrahmen auch anderes vorsehen, so ist doch ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass es sich dabei doch um Kunstrum gehandelt hat.

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Deutscher Rum im Angebotskranz feinster Spirituosen (Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 131 v. 1. April, 16)

Scheitern auch im zweiten Anlauf: Qualitätsprobleme des „Deutschen Rums“ bei Winkelhausen

Anhand der vorliegenden Informationen ist es demnach kaum möglich, die Marktstellung von „Deutschem Rum“ in den 1920er Jahren genauer auszuloten. Die Spirituosenindustrie erholte sich in der Zwischenkriegszeit zwar von den Tiefständen des Weltkrieges, doch während der Nachkriegszeit gab es eine nur begrenzte Erholung, erreichte der Konsum von Spirituosen nur mehr 1,5 Liter pro Kopf und Jahr (in reinem Alkohol), während er um 1900 noch bei ca. vier Litern gelegen hatte. Die hochprozentigen Getränke, die im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Temperenzbestrebungen standen, verloren ihre frühere Dominanz im Alkoholkonsum – auch aufgrund eines gegenüber der Vorkriegszeit etwa dreimal höheren Preises (Karner, Destillateuer-Gewerbe und Branntweinmonopol, Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 102 v. 13. April, 9). Mit vier bis fünf Liter reinem Alkohol wurde zugleich ein säkularer Tiefpunkt des Konsums erreicht. Zur Einordnung: 2019 trank jeder über 15 Jahre alte Bundesbürger ca. 10,6 Liter pro Jahr (Alkoholatlas Deutschland 2022, Heidelberg 2022, 46).

Die letztlich unterbliebene massive Markteinführung des „Deutschen Rum“ durch die C.T. Hünlich AG war Resultat längerer regulativer Debatten, der Warenzurückhaltung während der Hyperinflation und der offenkundigen Probleme, einheitliche Qualitätsstandards garantieren zu können. Das galt ähnlich für die Winkelhausen-Werke. Auch sie hatte die mögliche Genehmigung seitens der Reichsmonopolverwaltung 1922/23 nicht eingeholt. Doch Winkelhausen nahm seit 1929 einen zweiten Anlauf, bemühte sich um eine bessere Qualität seines „Deutschen Rum“, bat die Behörden um fachlichen Rat. Wiederholt sandte sie der Reichsmonopolverwaltung Proben ihres „Deutschen Rum“. Diese Behörde untersuchte die Branntweine, sandte sie anschließend zur unabhängigen Begutachtung auch an das Reichsgesundheitsamt, denn die Genehmigung war von beiden einmütig zu befürworten. Die staatlichen Instanzen walteten ihres Amtes und zeigten der Firma gegenüber ein beträchtliches Wohlwollen. Die Untersuchungen betonten die an sich geringe Qualität der Rumproben, kamen dann aber dennoch zu einer positiven Gesamtwertung: „Zusammenfassend ließe sich daher sagen, daß die beiden übersandten Proben rumartige Eigenschaften in zwar geringen, jedoch auch in solchem Maße besitzen, daß sie als ein dem Rum wesensähnlicher Branntwein und daher als deutscher Rum […] angesehen werden können“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 10. Dezember 1929, BA R 86, Nr. 5341).

Die Winkelhausen-Werke erhielten dadurch wichtige Hinweise für mögliche Verbesserungen (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 5. Februar 1930, Ebd.). Doch sie nutzten sie offenkundig nicht. Im Mai 1930 war die Geduld beider Behörden schließlich erschöpft – auch wenn insbesondere die Reichsmonopolverwaltung die wirtschaftlichen Konsequenzen möglichen Scheiterns wiederholt hervorhob (Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an das Reichsgesundheitsamt v. 8. Mai 1930, Ebd.). Dennoch stelle auch sie fest, dass sich der Geschmack und Geruch der Rumproben nicht mehr gebessert habe, das von einem typischen Rumaroma nicht zu reden war. Vernichtend dann das immer noch wohlwollend formulierte abschließende Gutachten des Reichsgesundheitsamtes: „Der für echten Rum typische, juchtenlederartige Geruch konnte in keinem Destillat wahrgenommen werden. Wenn auch die beiden Proben noch als einem echten Rum wesensähnlich angesehen werden können, so muß doch festgehalten werden, daß ihre Güte im Vergleich zu derjenigen der mit dem Schreiben vom 15. Januar 1930 […] übersandten Proben nicht nur keinen Fortschritt aufweist, sondern sich solcher als etwas minderwertiger darstellt“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 21. Mai 1930, BA R 86, Nr. 5341). Weitere Proben unterblieben.

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Deutscher Rum als neuerliches Billigangebot (Arbeiterstimme 1931, Nr. 201 v. 9. Dezember, 4)

Während der Weltwirtschaftskrise gewannen derweil Autarkieforderungen zunehmend Gewicht (Spiekermann, 2018, 359-365). Schon seit 1925 hatten die neuerlichen Zollerhöhungen Importe verteuert, das Agrarmarketing rief mit amerikanischen Werbemethoden für den Kauf einheimischer Waren auf. Seit 1925 propagierten DNVP und Reichslandbund „Nahrungsfreiheit“, forderten ein Ende von Luxusimporten, zu denen immer auch Rum gehörte. Das war nicht mehrheitsfähig, vor allem nicht realistisch. Doch Maßnahmen zur Steigerung der Selbstversorgung wurden von (fast) allen Parteien geteilt. Die Weltwirtschaftskrise ließ haushälterische Vernunft auch abseits der krisenverschärfenden Deflationspolitik der Brüning-Kabinette um sich greifen, das nicht-über-seine-Verhältnisse-leben. „Deutscher Rum“ gehörte hierzu, war Ausdruck rationaler Selbstbeschränkung – mochte das Angebot auch fehlen.

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Der Traum von Kolonialprodukten von deutscher Scholle – kritisch gewendet (Uhu 9, 1932/33, H. 3, 73)

Liberale und sozialdemokratische Ökonomen hielten dagegen, in der linken Publizistik verspottete man all die vielfältigen Bemühungen um heimische Ersatzstoffe – nicht nur deutschen Rum, sondern auch Buna, synthetischen Treibstoff oder Holzzucker. Sie sollten, wie auch viele Lebensmittel aus Molke oder Magermilch während des Vierjahresplans massiv gefördert werden. Doch es gab durchaus Gründe für diese deutsche „Flucht in den Käfig“ (Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig: Deutsche Wissenschafts- und Innovationskultur 1900-1960, in: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschafts­politik, Stuttgart 2002, 52-59). Die lang zurückreichende Kritik am Luxus, die Bereitschaft für ein Zurückstecken zugunsten vermeintlich höherer, zumal nationaler Ziele sind hier zu nennen, vor allem aber eine von Wissenschaftlern, Unternehmern und vielen Staatsbediensteten getragene Kultur der Neugestaltung des scheinbar Gegebenen. Kurt Tucholsky hat darüber gespottet: „Andere Nationen machen das so: Was sie besonders gut herstellen, das exportieren sie, und was ihnen fehlt, das importieren sie. Wenn den Deutschen etwas fehlt, dann machen sie es nach. Sie haben deutsches Pilsener und deutschen Whisky und deutschen Schippendehl und Germanika-Rum […] – sie haben überhaupt alles, weil eine Zollfestung ihr Ideal darin sieht, ‚vom Ausland unabhängig zu sein‘. Der nationalistische Wahnsinn verdirbt die Warenqualität“ (Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], Deutscher Whisky, Die Weltbühne 26, 1930, 330-331). Doch dies verkannte, dass Substitute wie der „Deutsche Rum“ (und auch der seit der Vorkriegszeit immer wieder angegangene „Deutsche Whisky“) aus Sicht der Gestaltungsaktivisten eben kein Schielen nach dem Fremden war, sondern eine Selbstbesinnung auf die eigenen Fertigkeiten.

„Deutscher Rum“ war Ausdruck einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden, in der Zwischenkriegszeit aber noch immer wirkmächtigen Gestaltungsutopie von Unternehmern und Wissenschaftlern. Der Pathos des Machbaren, der Wunsch an die Stelle einer nicht kontrollierbaren Realität der Halb- und Kunstprodukte etwas Neues, etwas Eigenes  zu setzten, führte ab 1890 zu neuen Anläufen auf alter Strecke, nicht zum Innehalten, zu einer pragmatischen Gegenwartsanalyse, die zu Kompromissen und dem Arrangement mit den Lieferungen der Anderen hätte führen können, vielleicht gar müssen. Die Desillusionierung, die am Ende der Utopie des „Deutschen Rums“ um 1930 stand, führte eben nicht zur rationalen Reflektion über die Aufgaben und die Grenzen von Wissenschaft und Wirtschaft. Stattdessen begannen parallel mit der scheiternden Utopie des „Deutschen Rums“ andere, durchaus nachvollziehbare Heilslehren ihren zeitweiligen Siegeslauf, die Naturheilkunde, die Vitaminlehre, der Kampf gegen Krebs, die Schaffung von Zucker aus Holz, von Kautschuk und Benzin aus Kohle. Bis heute kann man ihren kalten emphatischen Atem verspüren, in den zahllosen Verbesserungen der künstlichen Kost, in Hafermilch, veganen Würstchen oder anderen unseren Alltag prägenden Illusionsangeboten, die völlig zurecht darauf setzen, dass die Investitionskosten von Gläubigen schon wieder eingebracht werden.

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Selbstüberschätzung aus Tradition: Schlagzeile für Deutschen Rum (Playboy 2018, Nr. 5, 24)

Und natürlich gibt es weiterhin „Deutschen Rum“. Heute nicht mehr aus Rübenzucker hergestellt, nicht mehr Mittel zur Aromatisierung von Kartoffelsprit. Heute handelt es sich bei „Deutschem Rum“ um hierzulande destillierte Getränke aus Rohrzucker, also letztlich um Verfahren, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert wurden, die man damals angesichts bestehender Transportprobleme und fehlender Technik nicht genutzt hat. Heute scheint die Wertschöpfung zu stimmen, auch wenn dieser so alte und sehnende Begriff einzig die Irrationalität heutiger Herkunftsangaben unterstreicht (Uwe Spiekermann, Traditionsmythen: »Deutsche Küche« zwischen Nation, Region und Internationalisierung, in: Gunther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 24-49). Wohl bekomm’s!

Uwe Spiekermann, 11. Januar 2023

Wissens- und Technologietransfer auf das Land: Die Anfänge der Rübenzuckerindustrie in Kalifornien, 1850-1900

„Jemand muss beginnen – wer wird der Glückliche sein? Denn es ist sicher, dass der Tag nahe ist, an dem Tausende von Tonnen Rübenzucker in Kalifornien hergestellt werden.“ [1] Als diese Frage 1857 im amerikanischen Westen aufkam, war Rübenzucker in Kontinentaleuropa bereits ein Erfolg. [2] Der Zuckergehalt der gemeinen Rübe war im 18. Jahrhundert von deutschen Praktikern nachgewiesen worden, Extraktionstechniken folgten. Züchtungsforschung und verbesserte Maschinen führten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gründung zahlreicher Fabriken. Die Rübenzuckerindustrie gründete auf staatlicher Förderung, namentlich in Frankreich, Belgien und den deutschen Staaten, nachdem die britische Seeblockade französischer Häfen die Zerbrechlichkeit globaler Versorgungsketten deutlich gemacht hatte. Das neue ländliche Gewerbe galt als „heimisch“, denn es ermöglichte wachsende Unabhängigkeit vom globalen Rohrzuckerhandel, der vom Vereinigten Königreich und seinem wachsenden Kolonialimperium dominiert wurde. Rübenzucker war eine der ersten Industrien auf dem Lande: Die „rationale“ Landwirtschaft nutzte Wissenschaft und Technik, durchaus im Sinne des großen Vorbildes Großbritannien. Geist, angewandtes Wissen über die Natur, erlaubte die Produktion moderner Süße auf eigener Scholle. Rübenzucker galt als Triumph des Menschen über die Natur, als Sieg der Agrarwissenschaft und des Maschinenbaus über die Widrigkeiten von Boden und Klima. Die frühe Globalisierung führte eben nicht nur zur wirtschaftlichen Durchdringung und Ausbeutung kolonialer Regionen, sondern löste vielfältige Gegenreaktionen in den Zentren der westlichen Welt aus. Die Aufwertung des Rübenzuckers war Teil einer breiteren Bewegung zum Ersatz von Kolonialwaren durch heimische Substitute. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren ein Nachzügler im Zuckergeschäft. Die allein nennenswerte Rohrzuckerindustrie in Louisiana war klein; fast der gesamte Zucker, den die US-Amerikaner – seit den 1860er Jahren die zweitgrößten Pro-Kopf-Verbraucher der Welt – konsumierten, stammte damals aus der Karibik, dem Pazifikraum und aus europäischen Rübenzuckerimporten. [3] Die junge Nation musste dafür hohe Beträge an Ausländer zahlen – und gemäß den vorherrschenden Narrativen in diesem Hochzollland war eine einheimische Zuckerproduktion erforderlich, um amerikanischen Wohlstand zu sichern, um weitere Agrarsektoren aufzubauen. Mitte des 19. Jahrhunderts verfügten die USA allerdings noch nicht über die technologischen und wissenschaftlichen Kapazitäten zum Aufbau einer solchen Industrie. Getreide und Baumwolle waren die Hauptexportgüter dieses aufstrebenden, aber immer noch rückständigen Preisbrechers im Westen. Wissensbasierte Produkte waren noch Ausnahmen.

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Zukunftsvisionen: Vom Zuckerimportland zum Selbstversorger (American Sugar Industry 12, 1910, 318)

US-amerikanische Fachleute und Politiker waren Mitte des 19. Jahrhundert jedoch zuversichtlich, dass sie eine eigene Zuckerindustrie aufbauen und die europäischen Mächte in naher Zukunft gar überholen könnten: Erste Versuche der Zuckerherstellung waren zwar gescheitert, etwa die 1838 vom Bostoner Journalisten David Lee Child betriebene technische Nutzung seiner belgischen Erfahrungen [4]. Doch die Eroberung und Erschließung der neuen westlichen Territorien Mitte des 19. Jahrhunderts schien neue Chancen zu eröffnen. Als 1856 in San José erstmals Rübenzucker präsentiert wurde [5], galt die Natur als wichtigster Verbündeten der Pioniere. Stolz hieß es über Kalifornien: „Das reichste Land der Welt! Von der Natur mit allem ausgestattet, was das Herz des Menschen begehrt! Reich an Bodenschätzen; unvergleichlich an fruchtbaren Böden“ [6]. Das kalifornische Klima schien für den Rübenanbau perfekt geeignet, zwei Rübenernten pro Jahr möglich. Mochten die Arbeitskosten im Westen auch hoch sein, so sei die Sonne doch Garant für kontinuierliche Ernten und erfolgreiche Produktion. [7] Erste Versuche, in San José eine Rübenzuckergesellschaft zu gründen, scheiterten 1857 allerdings am mangelnden Interesse der Farmer. [8] Der erträumte „Garten des Pazifiks“ [9] blieb erst einmal unbestellt.

„Eine Abfolge von Katastrophen“ – Die frühe Geschichte der kalifornischen Rübenzuckerindustrie

Liest man gängige Darstellungen der US-Geschichte, so wurde diese unbefriedigende Situation durch den Einfallsreichtum des amerikanischen Kapitals und amerikanischer Unternehmer geändert, die den Weg zum Erfolg ebneten und dabei schließlich von den lokalen, bundes- und nationalstaatlichen Regierungen unterstützt wurden. [10] Wahrlich, frühe Versuche, in den 1860er und 1870er Jahren eine Rübenzuckerindustrie zu etablieren, scheiterten, doch um 1900 hatte sich die Branche bereits etabliert und schien ein mehr als überlegener Konkurrent der Rohr- und Rübenzuckerimporteure werden zu können. Dieses Narrativ einer „amerikanischen“ Erfolgsgeschichte ist jedoch höchst fragwürdig. Die amerikanische Rübenzuckerindustrie war stattdessen das Ergebnis eines Wissens- und Technologietransfers aus Europa, namentlich aus Deutschland. Sie war zudem in erster Linie das Geschäft von eingewanderten Unternehmern, allen voran des deutsch-amerikanischen Einwanderers Claus Spreckels. Die Etablierung dieser „heimischen“ Industrie war zugleich integraler Teil einer breiteren Geschichte des Imperialismus und des amerikanischen Zugriff auf Protektorate und Kolonien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Um diese Thesen zu untermauern, müssen wir ins Detail gehen: Dieser Beitrag wird Ihnen zunächst einen kurzen Überblick über die Entwicklung der kalifornischen (und US-amerikanischen) Rübenzuckerindustrie vor Ende der 1880er Jahre geben, als Claus Spreckels seine erste große Rübenzuckerfabrik in Watsonville, Kalifornien, gründete. Zweitens werde ich die Gründe für dessen Erfolg erörtern und dann drittens sein Scheitern bei der Errichtung eines großen Netzwerkes dezentraler Rübenzuckerfabriken in den frühen 1890er Jahren. Dies führte viertens zur Etablierung eines stärker zentralisierten Konzepts der Zuckerproduktion um die Jahrhundertwende, materialisiert in der für viele Jahrzehnte größten Rübenzuckerfabrik im Salinas Valley. Sie wurde zur Blaupause des raschen Wachstums der ländlichen Industrie auch abseits des Vorreiterstaates Kalifornien.

Am Anfang stand das französische Beispiel. In Kalifornien gehörten französische Rübenzuckerexperten wie Eugene Delessert zu den ersten Förderern der neuen Süßpflanze, Rübenzucker galt damals als „französisches Unternehmen“ [11]. Nach dem Goldrausch und getrieben durch steten Kapital- und Arbeitskräftezufluss war es 1857 kein Problem, Kapital für die Gründung einer ersten Rübenzuckerfabrik in San José aufzubringen [12], die von der kalifornischen State Agricultural Society enthusiastisch gefördert wurde. [13] Deren Schatzmeister J.C. Cobb hatte bereits 1855 in San José mit Experimenten begonnen. Zuckerproduktion war eben nicht irgendeine neue Branche, sondern hatte massive Koppeleffekte zur Folge: Sie würde die Versorgungsbasis des neuen US-Bundesstaates verbreitern, den Agrarhandel intensivieren und Agrarwirtschaft enger mit der industriellen Entwicklung verzahnen: „Sie beschäftigt eine große Menge an Land und Arbeitskräften, erhöht die Bodenwerte, führt zu einer Verbesserung des Viehbestands, stimuliert die verarbeitende, mechanische und andere landwirtschaftliche Arbeit im Allgemeinen.“ [14] So war es in Frankreich und Deutschland geschehen, so würde es auch im amerikanischen Westen werden. Die ermutigenden Ergebnisse dieser ersten Versuche überzeugten die kalifornischen Farmer jedoch nicht davon, die neue arbeitsintensive Kulturpflanze anzubauen, die ständige Pflege und vorsichtige Behandlung erforderte. [15] Rübenzucker blieb ein Importgut aus Frankreich und Deutschland, denn die einheimischen Farmer bevorzugten den sicheren und weniger arbeitsintensiven Getreideanbau. Die State Agricultural Society „machte die Öffentlichkeit wiederholt auf die Rübenzuckerproduktion aufmerksam“ [16], doch derartige Appelle bleiben mehr als ein Jahrzehnt praktisch echolos.

Dies änderte sich nach dem Bürgerkrieg [17]. In den späten 1860er Jahren entbrannte eine ähnliche Diskussion wie im Jahrzehnt zuvor – nun aber mit explizitem Bezug auf das erstaunliche Wachstum der deutschen, insbesondere der preußischen Rübenzuckerindustrie. Drei Gruppen trieben die neue Industrie voran: Agrarwissenschaftler, Zuckerproduzenten und Risikokapitalgeber. Während die Produzenten vorrangig versuchten, die Rohstoffbasis möglicher Fabriken zu verbreitern und von den Ergebnissen ihrer Anbauversuche meist enttäuscht waren [18], wurden die Risikokapitalgeber in den späten 1860er Jahren zur dominierenden Kraft, als in Sacramento und Alvarado die ersten Rübenzuckerfabriken gebaut wurden. [19]

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Öffentliche Ankündigung der Gründung der Sacramento Valley Beet Sugar Company 1868 (Sacramento Daily Union 1868, 27. April, 5)

Wagniskapital war mehr als ausreichend vorhanden: Als die Sacramento Beet Sugar Company am 24. April 1868 gegründet wurde, war das Grundkapital von 100.000 Dollar deutlich überzeichnet. [20] Die meisten Kapitalisten hatten jedoch nicht die geringste Ahnung von der Zuckerproduktion. Wie also der gemeinen Rübe genügend Zucker extrahieren? Der fähigste der Direktoren, William Wadsworth, ehemals Redakteur einer landwirtschaftlichen Zeitschrift, reiste zunächst in die amerikanische Fabrik in Chatsworth, Illinois [21] und dann nach Frankreich und Deutschland, um die Rübenzuckerproduktion zu studieren, Maschinen und Saatgut zu kaufen und Fachleute einzustellen, die mit der Branche vertraut waren. [22] Man glaubte, dadurch die Probleme gelöst zu haben: Wadsworth kam begeistert zurück und lobte die gegenüber Rohrzucker vergleichsweise einfache und rentable Herstellung von Rübenzucker. [23] Sein Vorschlag, das 1865 von Julius Robert im mährischen Großseelowitz entwickelte Diffusionsverfahren anzuwenden, stieß jedoch auf Skepsis. Auf Anraten eines französischen Experten testete man die neue Methode in einer kleinen Versuchsanlage, so dass die Produktion erst 1871 aufgenommen wurde. [24] Unter der Leitung eines deutschen Superintendenten und Chefingenieurs war die erste fast ausschließlich auf deutschen Maschinen und deutschem Saatgut basierende Kampagne durchaus erfolgreich. Wie parallel die frühen kalifornischen Winzer – anfangs viele deutsche, später dann zunehmend italienische Einwanderer – zogen auch die Rübenbauern ihr Saatgut anschließend selbst heran. Die Rübenanbaufläche betrug 500 Hektar, die Investition von 225.000 Dollar ermöglichte eine Verarbeitungskapazität von täglich 75 Tonnen Rüben. [25] Die Zeitungen lobten den „vollen Erfolg“ [26] der Sacramento Beet Sugar Company und erwarteten weitere und noch größere Fabriken. 1871/72 pachtete die Firma 1.100 zusätzliche Hektar, doch die Ernte wurde durch den Heerwurm, einen in Europa unbekannten Schädling, nahezu vernichtet. Es folgten Umstrukturierungen und eine weitere Vergrößerung der gepachteten Rübenflächen – und in den beiden folgenden Jahren gab es geringe Gewinne. Dennoch: Eine kalifornische Rübenzuckerproduktion schien sich zu etablieren: Mehr als 650 Männer – 150 „Weiße“ in der Fabrik und 500 „Chinesen“ auf den Feldern – waren in dem Nachfolgeunternehmen Sacramento Valley Beet Sugar Factory beschäftigt. [27] Doch die Verantwortlichen bekamen die technischen Probleme nicht vollends in den Griff, scheiterten insbesondere an der Standardisierung der Produktion. Nicht weniger als sieben technische Leiter widmeten sich der Verbesserung des Rübenanbaus, des Transports und der Verarbeitungstechnik. Verbesserungen waren sichtbar, die Reinheit des Produkts nahm zu, die Farbe des raffinierten Zuckers änderte sich von Braun zu fast Weiß, und das Unternehmen konnte eine eigene Saatgutproduktion aufbauen. 1875 galt die Zuckerindustrie vielen Investoren daher als „ein sicheres Geschäft, in das sich das Kapital mit völligem Vertrauen einbringen kann“ [28] – auch wenn es immer noch schwierig war, qualifizierte Arbeiter zu finden. Doch eine Dürre veränderte die natürlichen Rahmenbedingungen, und ein heftiger Preiskampf zwischen den Rohrzuckerraffinerien in San Francisco, darunter auch der von Claus Spreckels, führte zu Preissenkungen. Außerdem wollten die meisten Direktoren und Investoren nach dem Tod von William Wadsworth im Jahr 1874 auch erste Dividenden für ihr eingezahltes Kapital sehen. Das führte zum raschen Ende: Fabrik und Gelände wurden 1875 für 74.000 Dollar verkauft; die Maschinen brachten 45.000 Dollar ein und wurden für eine neue Rübenzuckerfabrik in Soquel verwendet. [29] Die landwirtschaftliche Presse, die das Unternehmen jahrelang als kalifornischen Vorzeigebetrieb gepriesen hatte, klagte nun über den „Mangel an sorgfältiger Betriebsführung“ [30] und dass man den offenbar minderwertigen Boden im Vorfeld nicht geprüft hatte. Bis zum letzten Kampagne 1875 stockte die Produktion immer wieder, während zugleich lukrative Führungspositionen mit Investoren und Politikern besetzt wurden, denen es an der nötigen Erfahrung und Kompetenz fehlte. [31]

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Die gängige Melange von Korruption und Geschäftssinn: Rückfragende Karikatur 1876 (Wasp 1, 1876, 81)

Günstiger war die Entwicklung der Zuckerfabrik Alvarado, die gemeinhin als die erste erfolgreiche Rübenzuckerfabrik in der kalifornischen und amerikanischen Geschichte gilt. Sie wurde 1870 mit einem Investitionsvolumen von 130.000 Dollar errichtet und nahm noch im selben Jahr die Produktion auf. [32] Die Maschinen, einschließlich der bereits veralteten Zentrifugentechnologie, wurden von der gescheiterten Fond Du Lac-Fabrik in Wisconsin gekauft. Zwei deutsche Einwanderer, die Maschinenbauer Andreas Otto und Ewald Lineau, übernahmen die Leitung des neuen Unternehmens. [33] Die mit einer Tageskapazität von 50 Tonnen Rüben eher kleine Fabrik arbeitete in den ersten vier Jahren erfolgreich und konnte die Zuckerproduktion von 500.000 Pfund im Jahr 1870 auf mehr als 1.000.000 im Jahr 1872 verdoppeln. [34] Interne Probleme führten jedoch zum Rückzug der Investoren aus Wisconsin; damit verlor man zugleich Fachwissen, zumal parallel große Teile des Maschinenparks in ein neues Werk in Soquel transferiert wurden. Im Jahr 1876 vernichtete eine weitere Dürre die gesamte Ernte, und die Fabrik wurde geschlossen. Die Alvarado Company blieb allerdings formal bestehen. Der Neuengländer Ebenezer Dyer reorganisierte das Unternehmen 1879, organisierte neues Kapital und führte die Standard Sugar Manufacturing Co. mit Maschinen aus Sacramento zum Erfolg. Unterstützt von dem deutschen Einwanderer Ernst T. Gennert war das Unternehmen das einzige kalifornische und amerikanische Rübenzuckerunternehmen, das in den 1880er Jahren erfolgreich arbeitete. Dyer etablierte sich parallel als Propagandist für den Rübenzucker, doch angesichts regelmäßig scheiternder Firmen war das Interesse potenzieller Investoren gering. [35]

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Produktionsstätten der Beet Sugar Factory Alvarado (Pacific Rural Press 30, 1885, 57)

In den 1870er Jahren gab es allerdings weitere Unternehmungen. Am wichtigsten war die bereits erwähnte Fabrik in Soquel. Sie wurde oft mit dem Namen von Claus Spreckels in Verbindung gebracht, doch gibt es keine Belege für eine etwaige finanzielle Beteiligung. [36] Rübenzucker wurde in Soquel erstmals 1869 hergestellt. Aber auch nach der Umstrukturierung der Firma im Jahr 1874 war die Santa Cruz Beet Sugar Company mit 70 Arbeitern und einer Tageskapazität von 50 Tonnen Rüben ein noch recht kleines Unternehmen. [37] Allerdings gab es zwei wichtige Besonderheiten: Erstens war es das erste kalifornische Unternehmen, das ein Vertragssystem nutzte, um Farmer für den Rübenanbau zu gewinnen – man etablierte damit das europäische System, das schon lange vor der Ernte feste Lieferungen privatrechtlich festschrieb. Zweitens regten die bis 1880 ökonomisch recht erfolgreichen fünf Kampagnen den führenden Rohrzuckerproduzenten Claus Spreckels an. Seine große Aptos-Ranch lag in der Nähe, im nahe gelegenen Watsonville sollte er sein erstes Rübenzuckerunternehmen gründen.

Misserfolge dominierten jedoch – zum Beispiel in Isleton und Alameda [38]. Wichtiger als Details zu den dortigen Firmen ist es jedoch, die Hauptgründe für die enttäuschende Entwicklung der kalifornischen und amerikanischen Rübenzuckerindustrie in den 1870er und 1880er Jahren herauszuarbeiten. Obwohl Boden und Klima – und die wachsende Nachfrage nach Zucker – an sich ideale Rahmenbedingungen für ein schnelles Wachstum der Industrie boten, waren fünf Hindernisse entscheidend für stete Misserfolge und geringe Fortschritte der neuen Industrie:

Erstens besaßen die meisten Produzenten keine fundierten Fachkenntnisse über den komplexen Prozess des Anbaus, der Herstellung und der Raffination von Rübenzucker. Importierte Maschinen und Saatgut konnten nicht effizient eingesetzt werden, denn es mangelte am Know-how, an der unaufwändigen selbständigen Regelung an sich kleiner Herausforderungen. Die angeworbenen deutschen Experten waren nicht in der Lage, diese Lücke zu schließen, zumal einige von ihnen kein Englisch sprachen, so dass sie Arbeiter und Farmer kaum anleiten konnten. [39]

Noch gravierender war zweitens der Mangel an Rüben für die Verarbeitung. Den ersten Unternehmen fehlten durchweg Rohprodukte. Die Farmer scheuten das Risiko statt der dominanten Getreidearten eine neue arbeitsintensive Hackfrucht zu kultivieren, die viel Pflege erforderte und neue Schädlinge mit sich brachte. Die Rübenpreise mochten zwar etwas höher gelegen haben als bei den bisherigen Agrarprodukten – doch für eine Umstellung hätte es stärkerer Pull- und Pushfaktoren bedurft. Das lag nicht nur an den Farmern selbst, sondern auch an einer nur gering entwickelten Beratung durch die Unternehmen oder aber bundesstaatliche agrarwissenschaftliche Institute. Dadurch nutzte man bestehende Bewässerungsmöglichkeiten nur unzureichend, blieb der Pflanzenschutz in den Kinderschuhen stecken und stellten wechselnde Witterungsbedingungen die Farmer immer wieder vor große Probleme.

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Zuckerrüben vor der Zuckerrübenraffinerie in Alvarado (Pacific Rural Press 30, 1885, 57)

Drittens war die Rübe in den 1860er und 1870er Jahren nur eine von vielen Pflanzen, die als Rohstoffbasis für eine heimische Zuckerindustrie propagiert wurden. Sorghum wurde vom Federal Bureau of Agriculture intensiv gefördert. Auch Wassermelonen schienen in den südlichen Regionen eine gute Alternative zu sein. [40]

Im Gegensatz zu Europa, wo die Rübenzuckerproduktion ein integraler Bestandteil der privatwirtschaftlichen oder genossenschaftlichen Landwirtschaft war, waren die frühen Unternehmen viertens kaum mit der landwirtschaftlichen Wissensbasis in Kalifornien verbunden – dies gewiss eine Folge der hohen Bedeutung von Wagniskapital. Die Zeitungen und auch die landwirtschaftlichen Fachzeitschriften kommentierten die bestehenden Herausforderungen und Probleme mangels Fachkompetenz kaum. Sie waren stattdessen lediglich an einer weiteren großen einheimischen Industrie interessiert, zeichneten immer wieder Wunschwelten, versprachen Investoren irreale Geschäfte.

Fünftens schmälerte schließlich der damalige, durch die Preiskämpfe der Zuckerraffinerien und ein wachsendes Rohrzuckerangebot von den Sandwich-Inseln und den Philippinen verursachte Preisverfall die Gewinne der Rübenzuckerindustrie. Verbraucher und Erzeuger wichen auf preiswerten Rohzucker aus, sahen für sich kaum Vorteile einer „heimischen“ Industrie. [41]

Ein neuer Anfang: Claus Spreckels Western Beet Sugar Company

Allen Misserfolgen zum Trotz wurde Kalifornien in den 1880er Jahren weiterhin als „das Zuckerland schlechthin“ [42] angepriesen. Doch ein neuer Realismus beendete diese „Ära der Übertreibung“ [43], das naive Lob der Rübenzuckerproduktion. Die Kalifornier waren zwar immer noch stolz darauf, über die einzige Fabrik in den Vereinigten Staaten zu verfügen, doch es war offensichtlich, dass Breitenwachstum ein anderes Geschäftsmodell erforderte.

Es war der deutsche Einwanderer Claus Spreckels, der den Unterschied machte. Er wurde in dem kleinen norddeutschen Dorf Lamstedt als Sohn von Kleinbauern geboren. Bevor er 1846 in die USA kam, erhielt er eine Volksschulausbildung und arbeitete als Landarbeiter. In seinem neuen Vaterland betätigte er sich zunächst im Einzel- und Großhandel. Im Juni 1856 siedelte Spreckels nach Kalifornien über, wo er im Einzel- und Großhandel, im Brauereiwesen und ab 1863 in der Zuckerraffination Geld verdiente. In den 1870er Jahren gelang es ihm, zum führenden Rohrzuckerproduzenten des Westens aufzusteigen. Mit Hilfe moderner Maschinen, innovativer Technik und knallharter Geschäftsprinzipien entwickelte sich seine California Sugar Refinery zum führenden kalifornischen Unternehmen. Sie bildete die industrielle Grundlage zur Verarbeitung immer größerer Importe aus dem Königreich Hawaii. Der 1876 geschlossene Reziprozitätsvertrag förderte amerikanische Direktinvestitionen, und Spreckels etablierte Zuckerplantagen in bisher unbekannter Größe. Binnen weniger Jahre schuf er einen vertikal integrierten Zuckerkonzern, der die Produktion, den Transport, die Herstellung, die Finanzierung und den Großhandel mit Rohrzucker im amerikanischen Westen beherrschte. [44]

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Herzstück des Spreckelsschen Zuckerimperiums: Die California Sugar Refinery in San Francisco 1881 (Kirk, 2000, 17)

Als „Zuckerkönig des Westens“ hatte Spreckels eine ambivalente Stellung gegenüber der kalifornischen Rübenzuckerproduktion: Ein Netzwerk einheimischer Erzeuger konnte seine beherrschende Stellung in Frage stellen. [45] Doch der deutsche Einwanderer bekämpfte die lokalen Bestrebungen nicht. Stattdessen plädierte er stets für staatlichen Zollschutz [46] und senkte in den 1880er Jahren seine Zuckerpreise nicht so weit, dass dies der Fabrik in Alvarado den Garaus gemacht hätte. [47]

Dies war für die Öffentlichkeit überraschend, den Claus Spreckels galt nicht zu Unrecht als einer der vielen rücksichtslosen und gierigen Oligarchen, die mit billigen Arbeitskräften und Preisabsprachen rasch immense Vermögen anhäuften [48]. Doch Spreckels war schon früh an Rübenzucker interessiert. Zwischen 1865 und 1867 hatte er in Preußen dessen Anbau und Herstellung studiert. [49] Sein Bruder und Geschäftspartner Peter Spreckels, nach seiner Rückkehr ins Deutsche Reich ein erfolgreicher Bankier und Investor in Sachsen, war einer der ersten Direktoren der Rübenzuckerfabrik in Alvarado. [50] Claus Spreckels nutzte zudem seine 1872 erworbene Ranch in Aptos für den Anbau von Zuckerrüben und gründete dort gar eine kleine Zuckerfabrik – die California Sugar Beet Company in Capitola –, die von 1874 bis 1879 gleichsam im Testlauf geringe Mengen Rübenzucker produzierte. [51] Zu dieser Zeit war Spreckels jedoch nicht willens, in großem Umfang in die Rübenzuckerproduktion zu investieren. In Deutschland und Frankreich war die Rübenzuckerproduktion nicht zuletzt aufgrund billiger Landarbeiter und Pächter rentabel. In Kalifornien lagen die Lohnkosten für Landarbeiter und die Preise für die von Farmern gezogenen Rüben jedoch über der Rentabilitätsschwelle. [52] Das Scheitern fast aller frühen Unternehmungen bestätigte Spreckels Bewertung.

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Spreckels Landsitz in Aptos: Versuchsort für die Rübenzuckerproduktion (Santa Cruz, 1879, n. 64)

Mitte der 1880er Jahre änderten sich jedoch die Rahmenbedingungen. Fünf Gründe bewirkten den Wandel, kaum einer davon war auf die Lage in Kalifornien zurückzuführen:

Erstens konnten aufgrund des technischen Fortschritts in Europa die Produktionskosten erheblich gesenkt werden, wenn man denn Größenvorteile nutzen konnte. [53] Das belegte auch Spreckels großbetriebliche Plantagenwirtschaft auf den Sandwich-Inseln. Trotz stetig sinkender Zuckerpreise konnte er seine Gewinne in den 1880er Jahren steigern, konnte sich dadurch zugleich gegen Wettbewerber mit ungünstigeren Kostenstrukturen durchsetzen.

Zweitens hatte der Aufbau des hawaiianischen Rohrzuckergeschäftes Spreckels gelehrt, das erfolgreiche Zuckerproduktion politische Unterstützung bedurfte. Die Vereinigten Staaten zahlten US-Investoren seit dem Reziprozitätsvertrag von 1876 eine Prämie von zwei Cent pro Pfund für die Einfuhr von Rohrzucker nach Kalifornien. Trotz einer Vertragsverlängerung 1883 war es in den späten 1880er Jahren jedoch offensichtlich, dass diese hohe Subvention nicht länger Bestand haben würde. Mit dem McKinley-Tarif von 1890 wurden sie denn auch abgeschafft. Zugleich aber etablierte er neue Subventionen für „heimische“ Produzenten: Dank der engagierten Intervention kalifornischer Interessengruppen und von Vertretern der Republikanischen Partei – in der die Familie Spreckels ein wichtiger Faktor war – erhielten amerikanische Zuckerrübenproduzenten seither eine Prämie von zwei Cent pro Pfund heimischen Zuckers. [54] Zugleich erhöhte man die Zölle für Zuckerimporte. Das waren keine Petitessen: Vor 1913 stammten bis zu zehn Prozent des US-Bundeshaushalts aus Zuckerzöllen.

Drittens erodierte in den späten 1880er Jahren die ehemals dominante Stellung von Claus Spreckels auf Hawaii. Einerseits versuchten die lokalen Plantagenbesitzer neue Wege für den Verkauf und die Raffination ihres Rohrzuckers zu finden: Bisher waren sie fast gänzlich auf die Segelschiffe und Dampfer der Spreckelsschen Oceanic Steamship Company und seine Zuckerraffinerie in San Francisco angewiesen; nun begann man angesichts sinkender Schiffsfrachtraten mit Direktsendungen nach New York, intervenierte politisch gegen die hohen Eisenfrachtraten in Washington, plante zudem eigene Raffinerien in Kalifornien. Anderseits kündigte sich ein Ende des dominanten Spreckelsschen Einflusses auf Hawaii an. 1887 brach der kalifornische „Zuckerkönig“ mit König Kalakaua, und reduzierte sein Engagement in der hawaiianischen Rohrzuckerproduktion. Zusätzlicher Rübenzucker konnte die Ressourcenbasis der Zuckerraffinerie in San Francisco zugleich verbreitern und sichern.

Viertens befand sich Spreckels ab 1887 in einem heftigen Kampf mit der neu gegründeten American Sugar Refinery Company. Nachdem er sich geweigert hatte, diesem Zuckertrust beizutreten, begann ein langer „Krieg“ zwischen dem Monopolisten im Westen und dem Quasi-Monopolisten im weitaus lukrativeren Osten. Der deutsche Immigrantenunternehmer konnte sein westliches Territorium in einem harten Preiskampf verteidigen. Dazu errichtete er in Philadelphia die größte Zuckerraffinerie der USA, griff seine Konkurrenz also an der Ostküste an, in deren Territorium. 1891 garantierte der Zuckertrust das Monopol von Spreckels im amerikanischen Westen und kaufte die Fabrik in Philadelphia für einen weit über den Investitionskosten liegenden Preis. Während dieser Auseinandersetzung war die Diversifizierung der Rohzuckerversorgung von entscheidender Bedeutung, denn man versuchte wechselseitig, die Zuckerzufuhren zu kappen. [55]

Fünftens glaubte Spreckels in den späten 1880er Jahren, dass er angesichts der seit langem währenden Agrarkrise die kalifornischen Farmer mit Versprechungen auf neuen ländlichen Wohlstand überzeugen könne. Die Getreidepreise waren beträchtlich gesunken, während die Rübenproduktion auch dank der staatlichen Subventionen eine rentable Alternative zu sein schien. Der weiterhin akute Arbeitskräftemangel sollte mit einer Kombination aus hohen garantierten Preisen, dem Anwerben nichteuropäischer Landarbeiter und neuartigen Werbemethoden gemildert, vielleicht gar überwunden werden.

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Erkundung des Landes: Mögliche Anbauflächen für Rüben- und Rohrzucker nach Untersuchungen des US-Landwirtschaftsministeriums in den späten 1880er Jahren (The Review of Reviews 15, 1897, 673)

Das Ergebnis all dieser Überlegungen war die Gründung der Western Beet Sugar Corporation am 18. Oktober 1887 mit einem Grundkapital von 500.000 Dollar. [56] Im Gegensatz zu den meisten früheren Rübenzuckerfirmen war Spreckels Unternehmung das Ergebnis sorgfältiger Vorbereitungen, einer fünfmonatigen Reise nach Deutschland, Böhmen, Belgien und Frankreich und moderner Formen der Öffentlichkeitsarbeit. Spreckels Besuch in Europa diente vor allem den Zweck, „die Durchführbarkeit der Einführung des Zuckerrübenanbaus in großem Maßstab nach europäischen Methoden in den Vereinigten Staaten zu prüfen.“ [57] Er war überzeugt, dass eine amerikanische Rübenzuckerindustrie nur mittels europäischem Wissen, Maschinen und Patenten gedeihen konnte. Zu diesem Zweck gab er 250.000 Mark für Maschinen und Patente in Köln und Prag aus und kaufte zudem 25 Tonnen Rübensamen in Frankreich und Deutschland. [58] Ebenso wichtig wie diese Investitionen in moderne Technik und den Technologietransfer von Europa nach den Vereinigten Staaten war eine breit angelegte öffentliche Kampagne für die Rübenzuckerproduktion in der Neuen Welt. Der eingewanderte Unternehmer nutzte sowohl den amerikanischen Stolz als auch die offenkundige amerikanische Rückständigkeit, um Farmer, Politiker und die Öffentlichkeit für seine Ziele zu gewinnen. Claus Spreckels präsentierte sich als starke Führungspersönlichkeit, die die Zukunft der Branche und des Landes verändern könne. Als er im September 1887 aus Europa zurückkam, erklärte er: „Ich werde niemals ruhen, bis ich die Vereinigten Staaten zum größten Rübenzuckerproduzenten, -hersteller und -markt der Welt gemacht habe, noch vor Deutschland oder Frankreich.“ [59] Die Rübenzuckerindustrie würde dazu beitragen, Abermillionen Dollar im Lande zu behalten. [60] Ähnlich wie zuvor Dyer nutzte auch Spreckels nationale und nationalistische Argumente, um für sein Privatunternehmen zu werben. Pointiert benannte er Defizite der aufstrebenden Wirtschaftsmacht: Amerikanische Mechaniker könnten zwar zahlreiche Maschinen herstellen, doch sie seien „unwissend“ [61], könnten keine moderne Rübenzuckerfabrik ausrüsten. Folgerichtig warb Spreckels Agrarchemiker und erfahrene Praktiker aus Deutschland ab. Sie würden aber nicht in typisch deutscher Manier arbeiten, sondern sich in Kalifornien mit den örtlichen Bedingungen vertraut machen, um dann sein Unternehmen optimal zu betreiben. [62] Erst so könnten die natürlichen Vorteile des Landes genutzt werden. Für Spreckels waren die Vereinigten Staaten ein Land, das Wissen aus dem Ausland benötigte, um mit den führenden europäischen Nationen, insbesondere dem Technologieführer Deutschland konkurrieren zu können. Doch einmal in die Gleise gesetzt, würde man schon an Fahrt aufnehmen, aufschließen und überholen. Selbstverständlich hatten diese an die Öffentlichkeit und Politiker gerichteten Stellungnahmen auch den Zweck, die Zollpolitik in seinem Sinne zu beeinflussen. [63]

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Die Spreckelssche Zuckerrübenfabrik in Watsonville 1889 (Shaw, 1903, 317)

Für den praktischen Erfolg waren Spreckels lokale und regionale Kampagnen in Kalifornien gewiss ebenso wichtig. Zunächst wandte er sich an lokale Politiker und Geschäftsleute, warb bei ihnen für Unterstützung seines Investitionsvorhabens. Damit schürte er bewusst den Standortwettbewerb. [64] Spreckels betonte, dass er seine Fabrik nur an dem Ort mit den besten Bedingungen und einer Mindestanbaufläche von 2.500 Acres errichten werde. [65] In zahlreichen Interviews nannte er zahlreiche Investitionsstandorte, zumeist in Kalifornien, aber auch einige in Oregon oder im Staate Washington. Die letztliche Entscheidung für Watsonville, Santa Cruz County, war nicht nur eine Folge der zuvor bestehenden und nahe gelegenen Soquel-Fabrik, den dabei gewonnen Erfahrungen vieler Farmer und den Vorarbeiten in Aptos resp. Capitola. Die Entscheidung resultierte auch aus der kostenlosen Überschreibung des Fabrikgeländes durch einen am Ort ansässigen Geschäftsmann und der ausdrücklichen Bereitschaft vieler Farmer, Verträge über die Lieferung von Rüben zu unterzeichnen. Spreckels besuchte allerdings die meisten der möglichen Standorte, traf sich dort mit lokalen Repräsentanten, um die genaueren Bedingungen seines Engagements zu erörtern. [66] Für den Kapitalisten aus San Francisco war dabei die Menge des gelieferten Rübenzuckers und die Qualität der Zuckerrüben wichtiger als die an sich nicht hohen Kosten eines Grundstücks im ländlichen Kalifornien.

Spreckels traf sich aber auch stets mit Repräsentanten der lokalen Farmer. Um diese für die neue ländliche Industrie zu gewinnen, bediente er sich im Watsonville umgebenden Pajaro-Tal einer doppelten Strategie: Zum einen verwies er auf die natürlichen Besonderheiten Kaliforniens, die einen Erfolg begünstigen würden. Für den aus Norddeutschland stammenden Spreckels waren Boden und Klima im Westen „für den Zweck günstiger als selbst in Deutschland“. [67] Die früheren Unternehmen seien aufgrund unzureichender Maschinen und mangelnder Geschäftserfahrung gescheitert. Mit ihm hätten die Farmer eine zweite Chance auf Wohlstand und höhere Einkommen als mit dem Getreideanbau. Zum anderen aber war es für Spreckels klar, dass amerikanische Farmer und Arbeiter im Anbau und in der Pflege der neuen Nutzpflanze sorgfältig zu schulen waren. [68] Der frühere Landarbeiter unterstützte so die unabhängige, freie Existenz der Farmer, während er seine eigene Rolle zurücknahm: Er sei ein Kapitalist mit Ideen, aber letztlich nur unzureichenden Fähigkeiten: „Man hat es hier vor 18 Jahren versucht und ist gescheitert, selbst als der Zucker 12 Cents pro Pfund kostete. Jetzt kann ich es schaffen, und es wird kein Misserfolg sein. Ich bin nur einer von 65.000.000 und kann nicht alles alleine machen. Ich brauche die Unterstützung der Farmer.“ [69] Spreckels predigte sein Evangelium von Wohlstand und Reichtums jedem, der bereit war, ihn zu unterstützen. Seine Fabrik in Watsonville sollte vornehmlich die Rübenzufuhren unabhängiger Farmer verarbeiten, eigenes, durch Landarbeiter bearbeitetes Rübenland sollte lediglich ergänzen. Die Lieferverträge enthielten jedoch detaillierte Vorgaben, banden so die Vertragspartner an den reibungslosen Ablauf der Produktion. Spreckels kaufte das Saatgut, Chemiker und Manager gaben Hilfestellungen, ein Prämiensystem belohnte einen höheren Zuckergehalt der abgelieferten Rüben. Der Einwandererunternehmer importierte nicht nur europäische Maschinen und Patente, sondern auch neue Formen vertragsbasierter Geschäftsbeziehungen.

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Fabrik auf dem Lande: Rübenzuckerfabrik Watsonville 1889 (The Review of Reviews 15, 1897, 677)

Die Fabrik in Watsonville war von Anfang an ein Erfolg. Obwohl die Gewinne in der ersten Kampagne bei weniger als 3.000 Dollar lagen, produzierte Spreckels fast 1.500 Tonnen Rohzucker und beschäftigte 135 Mitarbeiter. [70] Zeitgenossen lobten seinen Mut und seinen Unternehmergeist: „Die Rübenzuckerfabrik in Watsonville war die Grundlage und der Startpunkt der Rübenzuckerindustrie der Vereinigten Staaten; und Claus Spreckels war ihr Gründer und Repräsentant.“ [71] In den folgenden Jahren steigerte die Fabrik ihre Produktion, die Beschäftigtenzahl und den Gewinn. Selbst in den von Dürre geprägten späten 1890er Jahren bestätigte sie ihren Ruf als „Cash Cow“, war ihre Kostenstruktur doch günstiger als die der dann aufkommenden Konkurrenz. [72] Das Narrativ, Claus Spreckels habe „den Grundstein für einen neuen Industriezweig in Kalifornien gelegt, der dem Obstanbau an Bedeutung in nichts nachsteht“ [73] war nicht falsch. Die Gebrüder Oxnard, die 1889 in Chino eine weitere Zuckerrübenfabrik auf dem Lande gründeten, waren unmittelbare und wichtige Nachahmer. [74] Claus Spreckels unternehmerische Idee wies allerdings deutlich über Watsonville hinaus. In den späten 1880er Jahren versuchte er, Kalifornien in ein Rübenzuckerland mit einem breiten Netz dezentraler Fabriken zu transformieren. Doch diese Idee sollte erst einmal scheitern.

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Gewichtiger Nachahmer: Die Zuckerraffinerie in Chino 1895 (Los Angeles Herald 1895, Nr. 31 v. 11. November, 11)

Scheiternde Massenproduktion – Spreckels Occidental Beet Sugar Company

Für Spreckels war die Fabrik in Watsonville nur der Ausgangspunkt für ein viel größeres Unternehmen. Er glaubte an die von ihm propagierte Idee einer neuen riesigen Agrarindustrie, die ihm und vielen Kaliforniern Reichtum bringen sollte. Im April 1888 gründeten Claus Spreckels, sein ältester Sohn John D. Spreckels und einige befreundete lokale Kapitalisten die Occidental Beet Sugar Company. [75] Das Grundkapital betrug 5.000.000 Dollar, die beiden Spreckels hielten die Hälfte dieser Summe. Die Grundidee war, die Fabrik in Watsonville zu kopieren und bis zu zehn Rübenzuckerfabriken an den Orten zu errichten, an denen die Landwirte die Produktion von ausreichend Rüben für den Betrieb der Fabrik garantierten. Die Kosten für diese neuen Fabriken sollten sich auf je 400.000 bis 500.000 Dollar belaufen. Insgesamt sollte das Netzwerk 50.000 Tonnen Rübenzucker pro Jahr produzieren, wofür 350.000 bis 500.000 Tonnen Rüben benötigt worden wären. [76] Mehr als 1.500 Menschen sollten in diesen Anlagen beschäftigt werden. [77] Dies wäre eine echte Massenproduktion gewesen: Die Kosten für die Maschinen hätten erheblich gesenkt werden können, ebenso wie die Patentkosten für das Steffen-Verfahren, das fünf Jahre nach der Erfindung des Wiener Ingenieurs Carl Steffen von der Fabrik in Watsonville in Amerika eingeführt wurde. Das Netzwerk hätte den Spreckels die Möglichkeit gegeben, eine große Zahl von Facharbeitern, Führungskräften und Landwirten einzustellen und auszubilden. Das Ziel der Familie Spreckels, und damit war nun immer mehr John D. Spreckels gemeint, war es, eine auf Wissens- und Technologietransfer basierende Industrie zu entwickeln – und parallel Fachpersonal auszubilden, industrielle Kapazitäten in der Werkzeugmaschinenindustrie, im Bauwesen sowie der Agrarchemie aufzubauen. [78] Unter dem Primat wirtschaftlicher Ziele setzten diese Ideen zugleich auf Unterstützung durch Kommunal-, Landes- und Bundespolitik.

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Claus Spreckels und John D. Spreckels (Wasp 38, 1897, 18. September, 20 (l.); Hall, 1896, 748)

Für das Scheitern der Occidental Beet Sugar Company gab es zwei Hauptgründe: Erstens enttäuschte der McKinley-Tarif Claus Spreckels. Sein Sohn verkündete – natürlich auf der Suche nach politischer Unterstützung – „dass sein Vater über die Haltung des Kongresses gegenüber dem Produkt etwas beunruhigt war und dass er sich zu diesem Zeitpunkt nicht berechtigt fühlte, irgendwelche Erweiterungen in seinem Werk vorzunehmen.“ [79] Die Spreckels argumentierten, dass eine Senkung des Zuckerzolls den Ruin der Zuckerrübenindustrie in Kalifornien bedeuten würde – und konnten zumindest die zuvor lange diskutierte Prämie für die heimische Industrie sichern. [80] Es gelang ihnen jedoch weder, ein den Kongress Beine machendes „Rübenzuckerfieber“ [81] zu entfachen, noch die Senkung des in Kraft tretenden Zuckerzolls für Ausländer zu verhindern. Claus Spreckels Vision von letztlich bis zu vierhundert Rübenfabriken in den USA galt als unrealistische Fata Morgana. [82] Entsprechend nahm man mehr Rücksicht auf die deutschen Exportinteressen als es Spreckels lieb war.

Zweitens und viel wichtiger war, dass es den Spreckels nicht gelang, genügend Farmer für ihr ehrgeiziges Ziel zu gewinnen. Obwohl der Rübenzuckeranbau faktisch überwiegend von billigen asiatischen Landarbeitern betrieben wurde, konnte die weiße Farmerelite – eben keine Bauern im deutschen Sinne – nicht davon überzeugt werden, dass der arbeitsintensive Rübenanbau eine echte Alternative zum Getreide- und dem immer wichtigeren Obstanbau darstellte. Dies war nicht nur für die Familie Spreckels enttäuschend, sondern auch für staatliche Agrarwissenschaftler, die in den späten 1880er Jahren in Kalifornien mindestens zwanzig erfolgversprechende Anbaugebiete erkundet und empfohlen hatten. [83] Diese Experten argumentierten volkswirtschaftlich, mit einem abstrakten, aggregierten Nutzen des Rübenzuckeranbaus für Kalifornien und die USA. Die Spreckels versuchten dagegen, den einzelnen Farmer anzusprechen, sein individuelles Streben nach Einkommen und Wohlstand herauszukitzeln. Als Unternehmer glaubten sie an die Überzeugungskraft von Zahlen, an eine überdurchschnittliche Rendite ihrer Investitionen. So versprach Claus Spreckels, wie schon im Wettbewerb um die erste Fabrik, weitere „in jeder Ortschaft zu errichten, in der die Farmer ihm 2.500 Acres Standardrüben garantieren“ [84]. Als Investoren arbeiteten die Spreckels eng mit den örtlichen Handelskammern zusammen, die ihrerseits Farmer ansprachen und Standorte erkundeten, deren Bodenqualität die geforderte Mindestmenge an Rüben liefern konnte. Um dies zu unterstützten und zu gewährleisten, entwickelten sie einen detaillierten Aktionsplan: Sie schickten Rübensamen an die Handelskammern, diese verteilten sie an die Farmer, ergänzten die von den Spreckels erarbeiteten „Anweisungen für die Anpflanzung und den Anbau von Zuckerrüben-Samen“ um lokale Details. Die Investoren boten den Farmern zugleich eine kostenlose chemische Untersuchung ihrer Rüben im Laboratorium der California Sugar Refinery in San Francisco an. [85]

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Die kalifornische Rübenzuckerindustrie als Absatzmarkt für deutsche Maschinen (Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 7, 1891, Nr. 2, xx)

Alle diese Versuche scheiterten, mochten sie auch mit beträchtlichem Aufwand verbunden gewesen sein: San Diego war seit 1887 ein wichtiger Investitionsstandort der Spreckels geworden, erwarb man doch zahlreiche Immobilien in Coronado und der Stadt, investierte in den Hafen und die lokale Infrastruktur. An die dortige Handelskammer versandte man 800 Pakete Saatgut, die sämtlich verteilt und durch einen örtlichen Saatguthändler noch ergänzt wurden. [86] Die Spreckels lobten zudem attraktive Preise für die Rüben mit dem höchsten Saccharingehalt aus. [87] Doch das Ergebnis dieser kostenträchtigen Vorleistungen war enttäuschend: Am Ende erhielten die Spreckels nur zwei Dutzend Rübenproben zurück. Diese waren durchaus zufriedenstellend, doch es war offensichtlich, dass die Farmer des Bezirks San Diego nach anfänglichem Interesse nicht bereit waren, die neue ländliche Industrie zu unterstützen. [88] Einige Jahre später resümierte Claus Spreckels: „Ich habe versucht, Farmer in verschiedenen Teilen des Landes für Experimente mit dem Rübenanbau zu interessieren, aber es war unmöglich. Das Saatgut, das ich kostenlos verteilte, ging in den meisten Fällen verloren oder wurde als Schweinefutter verwendet, und wir hatten so gut wie keine Vorteile von unseren Anstrengungen.“ [89]

Claus und John D. Spreckels versuchten in der Tat, Farmer in ganz unterschiedlichen Regionen zu gewinnen: San Diego, Santa Cruz und Linn County, Ost-Oregon und Edmonton in Kanada waren einige der Regionen, die öffentlich diskutiert wurden. [90] In keinem dieser Orte war es möglich, eine Garantie der für den Fabrikbau erforderlichen Liefermenge zu erhalten. Obwohl aus Deutschland georderte Maschinen für mindestens eine der neuen Fabriken bereits in San Francisco lagerten [91], beschlossen die Spreckels daher, die Errichtung weiterer Rübenzuckerfabriken zu verschieben, ließen diesen Plan letztlich aber fallen. Die Occidental Beet Sugar Company wurde am 22. Dezember 1899 aufgelöst, scheiterte aber schon viel früher. [92] Claus Spreckels setzte sich dennoch weiterhin für die Rübenzuckerindustrie ein, änderte aber seine Strategie: Weihnachten 1895 warb er erneut für seine Idee: „Ich bin bereit, mich in diesem Staat durch die Errichtung von Rübenzuckerfabriken weiter zu engagieren. Ich hoffe dadurch die Kalifornier für dieses großen Thema sensibilisieren zu können, mache es aber auch zum persönlichen Vorteil.“ [93] Doch solche Appelle fruchteten nicht. Es bedurfte letztlich der Unterstützung des Staates, um Spreckels persönliche Investitionen, aber auch die kalifornische Rübenzuckerindustrie insgesamt voranzutreiben.

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Statistische Erfassung des Geschehens: Betriebsergebnisse der Spreckelsschen Western Beet Sugar Corporation 1888-1897 (Pacific Rural Press 56, 1898, 414)

„Die größte Rübenzuckerfabrik der Welt“ – Spreckels Sugar Company im Salinas Valley

In der Zwischenzeit hatte sich die Fabrik in Watsonville erfolgreich entwickelt. Von 1888 bis 1897 stieg die Menge der verarbeiteten Rüben von 15.000 auf mehr als 110.000 Tonnen, während die Menge des produzierten Rohzuckers gar auf fast 15.000 Tonnen Rohzucker verzehnfacht werden konnte. Das Unternehmen war während des gesamten Jahrzehnts rentabel, und davon profitierten nicht nur die Investoren: 1897 erhielten die Farmer 43 Dollar pro Acre mit Rüben, begonnen hatten sie 1888 mit 34 Dollar. [94] Dennoch stagnierte die kalifornische Rübenzuckerindustrie: Es gab nur drei Fabriken in Alvarado, Chino und Watsonville.

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Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft: Von Spreckels getestete Zuckerrübenvarietäten (Sacramento Daily Union 1897, Nr. 33 v. 23. September, 4)

Die Gründe hierfür spiegelten das Scheitern der Occidental Beet Sugar Company: Die Farmer zögerten und der politisch umstrittene Zollschutz machte jede Investition höchst spekulativ. Abermals preschte Claus Spreckels vor, trieb die Rübenzuckerindustrie mit neuen Investitionszusagen voran, stützte sich dabei aber nun auf eine erfolgreiche Öffentlichkeits- und politische Lobbyarbeit in Sacramento und Washington.

1896 begann er eine neue öffentliche Kampagne: Im Frühjahr gab er mehrere Interviews, in denen er seine Fähigkeit und Bereitschaft betonte, große Summen in die Rübenzuckerindustrie zu investieren. Dieses „stehende Angebot“ [95] stellte er als eine Art rational begründete Mission dar: „Ich bin bereit, meinen Glauben an den Rübenzucker mit allem Kapital zu untermauern, das erforderlich ist.“ [96] Parallel dazu erwarb Spreckels große Anbauflächen in verschiedenen Regionen des Landes. Von Mai bis Juni 1896 reiste er erneut nach Deutschland, Belgien und Frankreich, um die dortigen Technologien zu studieren und Saatgut, Patente und Maschinen zu bestellen – diesmal vor allem in Deutschland und Belgien. Anfang Juni 1896 startete er von Paris aus eine Pressekampagne und lockte in bekannter Weise kalifornische Investoren mit dem Versprechen, drei oder vier „immense Zuckerfabriken“ [97] mit einer Verarbeitungskapazität von täglich 3.000 Tonnen zu errichten. Abermals standen jedoch Farmer im Mittelpunkt seiner Vorhaben, denn ohne Rübenanbau ging nichts voran: Im Sommer startete er eine weitere Versandrunde von Saatgut an interessierte Farmer, dieses Mal allerdings gegen ein geringes Entgelt und mit einer ausführlichen Broschüre, die über den Wert der Rüben für den Boden, die Vorteile der Fruchtfolge und die wirtschaftlichen Vorteile informierte: „Je mehr sie anbauen, desto reicher werden sie sein. Ich kann alles verarbeiten, was sie anbauen können. Mein Plan wird die Rettung des Landes sein, aber es gibt viel zu tun, um dieses Ziel zu erreichen.“ [98]

Als er Ende Juli nach Kalifornien zurückkehrte, begann Claus Spreckels eine Werbetour zu mehreren Städten, die an der Errichtung derart großer Fabriken interessiert waren. Lokale Initiativen und der große Finanzier trafen sich, um eine blühende Zukunft auszumalen und von einem Leben im Überfluss zu träumen. Als Spreckels in Salinas ankam, seiner ersten Wahl, wurde er von einem Bürgerkomitee, einer großen Menschenmenge und einer Blaskapelle empfangen, die ihm den Weg zum Rathaus wies, das mit Zuckerrüben – echten und gemalten – und dem Schriftzug „Unsere Zukunftsindustrie“ [99] geschmückt war. Spreckels wurde mit einer Lobrede geehrt, in der man auf alle Erfolge des Multimillionärs verwies: „Er kennt keinen Misserfolg. […] Er ist aus einem armen Bauernjungen hervorgegangen und hat sich durch die Kraft seines eigenen unerschrockenen Geistes einen unübertroffenen Platz unter den industriellen Kräften der Welt erobert. Und doch ist er ein einfacher amerikanischer Bürger, dessen Sympathien den Arbeitern und Mechanikern gelten.“ Spreckels Pläne wurden als „der Anbruch einer neuen Ära in unserem eigenen schönen und fruchtbaren Tal“ angekündigt. In seiner Antwort präsentierte sich Spreckels als realistischer Visionär. Mantrahaft hieß es, seine Investition bräuchten Garantien für den Anbau großer Rübenmengen. Er bat um „einen gewissen Schutz“ für die aufstrebende Industrie. Er appellierte an den Stolz der Kalifornier, verwies auf deutschen Fleiß und Erfindergeist als Vorbild. Er appellierte an das Ehrgefühl der Geschäftsleute und Farmer, fragte er sie doch, ob sie in der Lage seien, mit Europäern zu konkurrieren. Ja, gewiss: Seiner Meinung nach könnten Amerikaner alles erreichen, was sie erreichen wollten. Die Rüben seien „die Rettung für die Farmer“. Spreckels beendete seine Rede mit dem Versprechen, „hier die größte Zuckerraffinerie zu errichten, die jemals auf der Erde gebaut werden wird.“ [100]

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Moderner Stahlskelettbau: Bauarbeiten im Salinas Valley 1898 (Breschini, Gudgel und Haversat, 2006, 17)

Claus Spreckels wäre nicht zur dominierenden Figur im Zuckergeschäft des Westens geworden, wenn er nur seinen eigenen Aussagen geglaubt hätte. Für Fachleute war klar, dass selbst eine Fabrik mit einer Tagesproduktion von 3.000 Tonnen Rüben kleiner sein würde als die Rübenzuckerfabriken im belgischen Wanze und im französischen Cambrai mit Kapazitäten von bis zu 4.200 Tonnen. [101] Spreckels nutzte die amerikanische Begeisterung für Superlative, um für sein neues Unternehmen zu werben, das in der Tat die mit Abstand größte amerikanische Rübenzuckerfabrik werden sollte. Parallel aber intensivierte er in den Kauf von Rübenzuckerland, denn er traute den Zusagen der regionalen Farmer nicht mehr. Als der Bau 1897 begann, besaß Spreckels 6.000 Acres Rübenzuckerland; 1919 besaß, pachtete oder betrieb das Unternehmen 66.000 Acres. [102] Die Fabrik in Watsonville wurde hauptsächlich von unabhängigen Farmern beliefert, doch zwei Drittel der Feldarbeit wurde von etwa 1000 chinesischen und japanischen Landarbeitern geleistet [103]. Das Unterfangen im Salinas Valley besaß dagegen einen eher paternalistischen Charakter. Das Unternehmen führte ein duales System ein: Zum einen ein Vertragssystem für unabhängige Farmer, zum anderen eine Art europäische Gutsstruktur, bei der Land an Kontraktnehmer verpachtet und dann von einer großen Zahl von (in diesem Fall meist asiatischen) ländlichen Vertragsarbeitern bewirtschaftet wurde. Typisch dafür war die Zusammenarbeit Spreckels mit der Heilsarmee, die im nicht fernen Fort Romie ihre erste ländliche Kolonie gründete, in der sie vor allem deutschen Einwanderern Siedlungsland zum Rübenanbau anbot. [104] Die paternalistische Haltung führte auch zur Errichtung der kleinen Stadt Spreckels unmittelbar neben der dominierenden Fabrik. Dort fanden Arbeiter, Angestellte und das Leitungspersonal ein neues Zuhause und eine Infrastruktur abseits der Firma. Diese kümmerte sich um fast alles, erwartete aber Loyalität und harte Arbeit.

Der Bau der Rübenzuckerfabrik war zugleich abhängig vom Flankenschutz durch die Bundesregierung. Der Dingley-Tarif erhöhte die Rübenzuckerzölle, schützte und förderte damit die heimische Industrie, mochten sie auch niedriger als vor 1890 liegen. [105] 1896, vor der Wahl des republikanischen Präsidenten William McKinley, setzten sich sowohl Claus Spreckels als auch John D. Spreckels – letzterer damals einer der führenden Repräsentanten der Republikanischen Partei in Kalifornien – für die Zolltariffrage ein und betrieben erfolgreich Lobbyarbeit zugunsten eines Schutzzolls. Dies erfolgte, zugleich aber wurde die Rübenzuckerindustrie indirekt unterstützt. James Wilson, der neue Landwirtschaftsminister, verstärkte die einschlägige Agrarforschung und intensivierte die Schulung und Beratung von Farmern und Investoren. Langfristig half dies, die Abhängigkeit von ausländischem Know-how, Saatgut und Maschinen zu verringern. [106] Spreckels gelang es zugleich, finanzstarke Geschäftspartner für die Finanzierung seines Vorhabens zu gewinnen. Ohne dass die Öffentlichkeit davon erfuhr, übernahm der Zuckertrust die Hälfte der Investitionen. [107]

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Die Zuckerfabrik und der neu erstellte Ort Spreckels 1899 (Myrick, 1899, VIII)

Mit lokaler, staatlicher und finanzieller Unterstützung begannen die Bauarbeiten im Jahr 1898. Es war eine Investition von 2.500.000 Dollar, die eine ganze Region veränderte. Die Spreckels Sugar Company wurde erst am 1. März 1899 mit einem Kapital von 5.000.000 $ gegründet. Damit reorganisierte Spreckels sein kalifornisches Zuckergeschäft. Die Western Beet Sugar Company wurde von ihr übernommen, dann auch die Raffinerie in San Francisco und die neue Fabrik im Salinas Valley. [108] Claus Spreckels gehörte nicht zu den Direktoren, da er den größten Teil seiner Zuckerinteressen bereits an seine Söhne John D. und Adolph B. Spreckels übertragen hatte, die Direktoren und Großaktionäre des neuen Unternehmens wurden. [109] Die neue Fabrik kombinierte moderne Bautechnologie, nämlich eine Stahlrahmenkonstruktion und die intensive Nutzung von Elektrizität mit modernen ausländischen Maschinen – mengenmäßig nicht weniger als 2.800 Tonnen. [110] Sie verfügte über ein großes Laboratorium, in dem nicht nur Rüben im Sinne der Qualitätssicherung untersucht wurden, sondern zunehmend auch die Böden und das Endprodukt. Die Fabrik war Zentrum eines riesigen Eisenbahnnetzes [111] und eines „verschlungenen Netzes von Straßen, […] Mülldeponien, Bewässerungskanälen, Brunnen und Pumpen sowie Rohrleitungen“. [112] Während der Kampagne beschäftigte das Werk fast 700 Arbeiter. Die tägliche Wasserversorgung betrug damals 13.000.000 Gallonen – die gleiche Menge wie San Francisco. Durch die konsequente Nutzung von Skaleneffekten konnten die Produktionskosten erheblich gesenkt werden. Während die Fabrik in Alvarado in den späten 1880er Jahren sechs Dollar pro Tonne Rüben aufwandte, waren es in Salinas nur noch zwei Dollar. [113] Die kontinuierliche voll mechanisierte Produktion gründete auf einem Bewässerungssystem, durch das selbst schwere Dürren wie in den späten 1890er Jahren überstanden werden konnten. Zudem hatte Spreckels dafür gesorgt, dass fast alle Nebenprodukte der Rübenzuckerproduktion verwertet wurden: Die Zuckerschnitzel boten Futter für 600 Kühe, damals noch unüblich. [114]

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Ikone des modernen Kaliforniens: Die Monsterfabrik im Salinas-Tal 1899 (San Francisco Call 1899, Nr. 93 v. 1. September, 3)

Spreckels Unternehmen in Salinas erwirtschaftete von Beginn an Gewinne – und blieb jahrzehntelang die größte amerikanische Rübenfabrik. Als eine Art siegreiche Festung in einem Umfeld langer relativer Stagnation wurde sie erst 1982 geschlossen. Wichtiger aber noch war, dass dieses „Mammut-Zuckerunternehmen“ [115] zu einem unerreichten Vorbild für die gesamte Rübenzuckerindustrie wurde – in Kalifornien und in den Vereinigten Staaten. Ab 1897 wurde eine Rübenzuckerfabrik nach der anderen gebaut: die American Beet Sugar Company, Oxnard in Ventura County, ein 500-Mann-Unternehmen, das von den Oxnards organisiert wurde, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Führung in der Branche übernehmen sollten [116]; die Los Alamitos Sugar Company, Los Angeles im Orange County; die California Beet Sugar & Refining Company, Crockett im Contra Costa County; und die Union Sugar Company in Santa Maria.

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Erfolgreiche Mitzügler: American Beet Sugar Factory, Oxnard (Out West 35, 1912, 345)

Von 1898 bis 1913 wurden in den Vereinigten Staaten insgesamt sechsundachtzig Rübenzuckerfabriken gebaut, die Hälfte davon bis 1903. [117] Kalifornien verlor seine führende Position an andere Staaten, insbesondere an Michigan und Nebraska. Die Spreckels Sugar Company blieb jedoch ein Wahrzeichen für die Pionierrolle Kaliforniens und des eingewanderten Unternehmers Claus Spreckels.

Schlussfolgerungen

Die Analyse der Entwicklung der frühen kalifornischen und amerikanischen Rübenzuckerindustrie steht nicht nur für sich allein. Sie mündet vielmehr in Thesen auch für breitere Themen:

Erstens machten Einwanderer den Unterschied. Obwohl das Kapital vielfach von amerikanischen Investoren kam, wurde die Rübenzuckerindustrie vor allem von französischen und deutschen Einwanderern vorangetrieben. Ihr Fachwissen und ihre persönlichen Netzwerke ebneten den Weg für neue Unternehmen in Kalifornien, für Arbeit und Wohlstand in der neuen Welt.

Zweitens basierte die Rübenzuckerindustrie auf einem intensiven Technologietransfer von Europa, insbesondere von Deutschland und Österreich-Ungarn nach Kalifornien. Der westliche Bundesstaat bot ein günstiges Klima und gute Böden, aber ohne moderne Maschinen, Patente und auch Saatgut hätte sich die neue Industrie auf dem Lande nicht entwickeln können. Europäisches Know-how war entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung des amerikanischen Westens.

Drittens waren die reichen Böden und das günstige Klima nicht nur ein Vorteil, sondern auch eine Belastung für die Entwicklung der kalifornischen Landwirtschaft. Die frühe Konzentration auf die Getreide- und dann auch Obstproduktion mündete in Zurückhaltung bei arbeitsintensiven Agrargütern, insbesondere bei Hackfrüchten. Die globale Wirtschaft des späten 19. Jahrhunderts führte daher nicht nur zur Spezialisierung und Nutzung naturaler Rahmenbedingungen, sondern auch zur Übernahme europäischer „Cash crops“ und entsprechender Anbauweisen.

Viertens machte die Fallstudie deutlich, dass „Amerika“ – ein Begriff ohne klar definierte Substanz – immer auch ein Mythos zur Durchsetzung von Partikularinteressen war. Das Paradoxon, dass es sich bei der „heimischen“ Industrie vorrangig um ein Geschäft erfolgreicher Einwanderer war, wurde nie reflektiert, weil der Begriff „Amerika“ der Sammlung diente und zumeist in Zukunftskontexten verwendet wurde. Ähnlich wie bei der Selbstdarstellung von Claus Spreckels als Mann ohne Fehl und Tadel, wurden Visionen einer zuckerexportierenden USA, von Wohlstand und Überfluss für alle Bürger genutzt, um Kapital, Arbeitskräfte, Subventionen, Prämien und Zölle zu mobilisieren. Der Mythos „Amerika“ (und gewiss auch „Kalifornien“) war eine dynamische Fiktion, die zur Entwicklung des Landes auch nach dem Ende der Frontier-Ära beitrug. Er wurde nicht nur von der/den Regierung(en) genutzt, um mit anderen Nationen zu konkurrieren, sondern auch von eingewanderten Unternehmern, um dadurch Ressourcen in ihrem Sinne zu erschließen.

Fünftens kann die Entwicklung der kalifornischen Rübenzuckerindustrie als Prisma für allgemeinere Themen der amerikanischen Geschichte genutzt werden: Die Erschließung und Ausbeutung des Westens, das Erstarken Amerikas im Zeitalter des Imperialismus, die Kommodifizierung von „Cash Crops“, die Nutzung (und der Missbrauch) der „Natur“, die Rassenfrage und die Idee der Vorherrschaft des weißen Mannes, die sich verändernden ethnischen Hierarchien in einer Einwanderungsgesellschaft, etc. Die erfolgreiche Entwicklung einer neuen Industrie auf dem Lande bietet damit einen Schlüssel zu all den bitteren und rückfragenden Geschichten, die für die Mehrheit der Kalifornier typischer waren als die süße Karriere des Zuckerkönigs Claus Spreckels.

Uwe Spiekermann, 14. Juli 2022

Quellen und Literatur

[1] Who will Pioneer the Manufacture of Beer Sugar?, California Farmer and Journal of Useful Sciences 8, 1857, Nr. 2.
[2] Vgl. Max-Ferdinand Krawinkel, Die Rübenzuckerwirtschaft im 19. Jahrhundert in Deutschland: Analyse und Bewertung der betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Entwicklung , Köln 1994; Herbert Pruns, Innovationen in der Rübenzuckerindustrie – Ein frühes Segment des Industrialisierungsprozesses, in Rolf Walter (Hg.), Innovationsgeschichte, Stuttgart 2007, 209-248.
[3] For details and data s. Roy A. Ballinger, A History of Sugar Marketing, Washington 1971.
[4] David Lee Child, The Culture of the Beet, Boston 1840.
[5] Beet Sugar in California, California Farmer and Journal of Useful Sciences 39, 1873, Nr. 2 v. 30. Januar.
[6] Letter from Rev. B. Corwin, Ebd. 8, 1857, Nr. 21.
[7] The Sugar Beet in California, Daily Alta California 1857, 29. August.
[8] Cultivation of the Sugar Beet Hemp and Castor Bean, California Farmer and Journal of Useful Sciences 22, 1864, Nr. 21 v. 16. Dezember.
[9] California Sugar Beet, Daily Alta California 1868, 24. Juni.
[10] Harry A. Austin, History and Development of the Beet Sugar Industry, Washington 1928, 16-21; Deborah Jean Warner, Sweet Stuff. An American History of Sweeteners from Sugar to Sucralose, Washington 2011, 85-108.
[11] Manufacture of Beet Sugar, California Farmer and Journal of Useful Sciences 6, 1856, Nr. 11. Vgl. Beet Sugar, ebd. 7, 1857, Nr. 5.
[12] Beet Sugar Manufactory, Sacramento Daily Union 1857, 13. Februar.
[13] California State Agricultural Society, California Farmer and Journal of Useful Sciences 6, 1856, Nr. 19.
[14] Beet Sugar Profits, Pacific Rural Press 1, 1871, Nr. 4 v. 28. Januar.
[15] Beet Sugar, California Farmer and Journal of Useful Sciences 7, 1857, Nr. 4.
[16] State Agricultural Society, Sacramento Daily Union 1868, 31. Januar.
[17] Vgl. hierzu und zum Folgenden bereits Uwe Spiekermann, Labor as a Bottleneck, Entangled Commodity Chains in Sugar in Hawaii and California in the Late Nineteenth Century, in Andrea Komlosy und Goran Music (Hg.), Global Commodity Chains and Labor Relations, Leiden und Boston 2021, 177-201, hier 189-196.
[18] Sugar Beet, and Beet Sugar, California Farmer and Journal of Useful Sciences 31, 1869, Nr. 4 v. 11. Februar (George Gordon). Zu Spreckels Versuchen s. den dritten Abschnitt.
[19] Einen konzisen Überblick zu Kaliforniens Landwirtschaft und Agrarwirtschaft bietet Richard Walker, The Conquest of Bread: 150 Years of Agri-Business, New York 2004.
[20] Beet Sugar in California, Daily Alta California 1868, 8. Juni.
[21] In Chatsworth etablierten die beiden deutschstämmigen Einwanderer Gottlieb and Ernst T. Gennert 1865 (oder gar schon 1863) die Germania Sugar Company, die bis 1870 in Betrieb war (vgl. Andrew Taylor Call, Jacob Bunn: Legacy of an Illinois Industrial Pioneer, Lawrenceville 2005, 119-120; H[arvey] W. Wiley, The Beet-Sugar Industry: Culture of the Sugar-Beet and Manufacture of the Beet Sugar, Washington 1890, 37; The Chatsworth Experiment, Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 30, 1903, 66).
[22] Industrial Condition of the State, Daily Alta California 1868, 28. Dezember.
[23] Industrial Condition of the State, Ebd. 1869, 9. März.
[24] Beet Sugar its Prospects—A New Process, Pacific Rural Press 1, 1871, Nr. 1, 7. Januar.
[25] California Beet Sugar, Pacific Rural Press 4, 1872, Nr. 8 v. 24. August.
[26] The Sacramento Sugarie a Success, Pacific Rural Press 2, 1871, Nr. 22 v. 2. Dezember; ähnlich Progress in Beet sugar Interest, California Farmer and Journal of Useful Sciences 36, 1871, Nr. 16 v. 19. Oktober.
[27] Vgl. Richard Street, Beasts in the Field. A Narrative of California Farmworkers, 1789-1913, Stanford 2004.
[28] Beet Sugar, Pacific Rural Press 9, 1875, Nr. 12 v. 20. März.
[29] Sacramento Daily Union 1877, 13. März.
[30] Beet Sugar in California, Pacific Rural Press 13, 1877, Nr. 14 v. 7. April.
[31] Beet Sugar in California, Ebd. 17, 1879, Nr. 24 v. 14. Juni.
[32] The Alvarado Beet Sugar, Sacramento Daily Union 1870, 22. November.
[33] The Beet Sugar Operations at Alvarado, Sacramento Daily Union 1870, 28. November.
[34] Industrial Condition of the Slope, Daily Alta California 1872, 11. November.
[35] 1887 wurde die Produktion aufgrund von Trockenheit, einem allgemeinen Preisverfall und einer großen Explosion unterbrochen, die Firma musste geschlossen werden. Dyer gelang es jedoch, das Unternehmen zu reorganisieren und zu vergrößern. 1888 wurde es als Pacific Coast Sugar Company neu gegründet und zugleich fortgeführt (Beet Sugar at Alvarado, Pacific Rural Press 35, 1888, Nr. 7 v. 18. Februar).
[36] Another Beet Sugarie, Ebd. 6, 1873, Nr. 21 v. 22. November.
[37] The Sugarie, Ebd. 14, 1877, 22. September.
[38] Beet Sugar in Isleton, Pacific Rural Press 19, 1880, 104; Sugar from Beets in California, Red Bluff Independent 1869, 20. Januar, 4; New Manufactures 1870, 27. Mai, 2 (Alvarado Beet Sugar Company).
[39] Ernst Th. Gennert, Beet sugar in California, Ebd. 17, 1879, Nr. 24 v. 14. Juni.
[40] San Francisco Market Review, Sacramento Daily Union 1868, 2. Mai; Cane-Sugar from Beets, Sacramento Daily Union 1868, 5. Mai. Vgl. William Lloyd Fox, Harvey W. Wiley’s Search for American Sugar Self-Sufficiency, Agricultural History 54, 1980, 516-26.
[41] L.D. Morse, The Beet Sugar Question, Pacific Rural Press 18, 1879, Nr. 21 v. 21. November.
[42] Ernst Th. Gennert, The Sugar Industry, Ebd., Nr. 8 v. 23. August.
[43] California Abroad, Ebd. 24, 1882, Nr. 16, 14. Oktober.
[44] Genauer hierzu Uwe Spiekermann, Claus Spreckels: A Biographical Case Study of Nineteenth-Century American Immigrant Entrepreneurship, Business and Economic History On-Line 8 (2010).
[45] Our Sugar Supply, Pacific Rural Press 1, 1871, Nr. 14 v. 8. April.
[46] Obwohl Claus Spreckels letztlich der größte Nutznießer des im Reziprozitätsvertrag festgeschriebenen Subventionssystems wurde, argumentierte er anfangs strikt gegen die neuen Regelungen. Eines seiner Argumente war, dass die kalifornische Rübenzuckerindustrie durch steigende Importe hawaiianischen Rohrzuckers stark in Mitleidenschaft gezogen werden würde: Hawaiian Reciprocity, Daily Alta California 1874, 10. Juli; The Hawaiian Treaty, Daily Alta California 1875, 2. März.
[47] Kill the New Industry, Pacific Rural Press 4, 1872, Nr. 24 v. 14. Dezember; California for Sugar, ebd. 29 1885, Nr. 2 v. 10. Januar.
[48] Uwe Spiekermann, Das gekaufte Königreich: Claus Spreckels, die Hawaiian Commercial Company und die Grenzen wirtschaftlicher Einflussnahme im Königtum Hawaii, 1875 bis 1898, in Hartmut Berghoff, Cornelia Rauh und Thomas Welskopp (Hg.), Tatort Unternehmen. Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin und Boston 2016, 47-67.
[49] Allen Collins, Rio Del Mar: A sedate residential community, the depth of its character, 225 years of local history, o.O. 1995, 7.
[50] Beetroot Sugar in California, Australian Town and Country Journal 1871, 11. Februar, 13.
[51] The Coast Countries, Daily Alta California 1872, 16. Oktober 16, 1; Our Beet Sugar Interest, Pacific Rural Press 6, 1873, Nr. 11, 13. September.
[52] Claus Spreckels, in San Francisco: Its Builders Past and Present, Bd. I, Chicago und San Francisco 1913, 3-10, hier 6.
[53] Das war den Produzenten natürlich bekannt. Fehlende Kapital- und Maschinenzufuhr begrenzten in den 1880er Jahren allerdings Pläne für größere Betriebsanlagen. Vgl. John L. Beard, The Beet Sugar Industry, Pacific Rural Press 30, 1885, Nr. 4 v. 25. Juli.
[54] Recht typisch war die Argumentation der San Francisco Chamber of Commerce. S. Beet-Root Sugar, Daily Alta California 1888, 1. Februar bzw. die Gegenargumente in Beet Sugar Bounty, Daily Alta California 1888, 3. Februar.
[55] Fighting a Trust, Daily Alta California 1888, 3. September.
[56] Beet Sugar Company, Los Angeles Herald 1887, 18. Oktober, 2.
[57] Beet Sugar, Sacramento Daily Union 1887, 24. September.
[58] Claus Spreckels’ Sugar Scheme, Chicago Daily Tribune 1887, 16. September, 5.
[59] Ebd.
[60] Great Enterprise in Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 18 v. 29. Oktober.
[61] Beet Sugar, Sacramento Daily Union 1887, Nr. 32 v. 27. September.
[62] Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 18 v. 29. Oktober.
[63] Entsprechend wurde der Bau der Zuckerfabrik durch eine große Zahl öffentlicher Feiern und Feste umkränzt, wobei die Grundsteinlegung im April 1888 herausragte. Vgl. A Great Enterprise, Daily Alta California 1888, 29. April; The Beet-Sugar Enterprise at Watsonville, Pacific Rural Press 35, 1888, Nr. 18, 5. Mai.
[64] Ventura County: Rival Localities Competing for the Sugar Factory, Los Angeles Times 1886, 3. Oktober, 13.
[65] A Beet Sugarie Established at Watsonville, Pacific Rural Press 34, 1887, 24. Dezember.
[66] Great Enterprise in Beet Sugar, Ebd. 34, 1887, Nr. 18 v. 29. Oktober.
[67] Claus Spreckels on Beet Sugar, Ebd. 35, 1888, Nr. 1 v. 7. Januar.
[68] Vgl. seinen Brief an die Farmer in Beet Sugar, Daily Alta California 1887, 23. Dezember und seine späteren Überlegungen in To Fight the Sugar Trust, New York Times 1889, 25. April.
[69] Claus Spreckels on Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 20, 12. November.
[70] The Beet Sugar Experiment, Australian Town and Country Journal 1889, 28. Februar, 29.
[71] W[illiam] W. Allen und R[ichard] B. Avery, California Gold Book, San Francisco und Chicago 1893, 367.
[72] Commercial, Los Angeles Times 1897, 22. April.
[73] The Bay of San Francisco. The Metropolis of the Pacific Coast and its Suburban Cities. A History, Bd. I, Chicago 1892, 351.
[74] Thomas J. Osborne, Claus Spreckels and The Oxnard Brothers: Pioneer Developers of California’s Beet Sugar Industry, 1890-1900, Southern California Quarterly 54, 1972, 117-125; Jeffrey Wayne Maulhardt, Oxnard Sugar Beets. Ventura County’s Lost Cash Crop, Mount Pleasant 2016. Analog zu Watsonville nutzte auch die Fabrik in Chino das Steffen-Verfahren, das ebenso von der deutschen Maschinenfabrik Grevenbroich geliefert wurde. Zum sozialhistorischen Hintergrund s. Carey McWilliams, Factories in the Field. The Story of Migratory Farm Labor in California, Berkeley, Los Angeles und London 2000.
[75] Beet Sugar Company Incorporated, Fitchburg Sentinel 1889, 17. April, 4; American Settler 1888, 11. Mai, 4.
[76] Thomas J. Vivian, The commercial, industrial, transportation, and other Interests of California, Washington 1891, 329.
[77] Sugar Refining, Daily Alta California 1889, 19. April.
[78] A Gigantic Project, Daily Alta California 1889, 19. Mai. Die Occidental Beet Sugar Company wird nicht erwähnt in Sandra E. Bonura, Empire Builder. John D. Spreckels and the Making of San Diego, Lincoln 2020.
[79] Beet Sugar, Los Angeles Herald 1889, 8. Oktober.
[80] The Beet-Sugar Industry, Daily Alta California 1890, 22. März.
[81] Agricultural and Pastoral, Queenslander 1888, 10. März, 390.
[82] Claus and the Farmers, Chicago Daily Tribune 1888, 8. März, 6. Claus Spreckels intervenierte sowohl in Kalifornien als auch in Washington. Im Untersuchungsausschuss über den Zuckertrust plädierte er offensiv für eine „heimische“ Industrie, die „unseren eigenen Zucker“ produzierten würde (Sugar Trust Investigation, Boston Daily Globe 1888, 24. März, 5).
[83] Beet Sugar, Pacific Rural Press 34, 1887, Nr. 19, 5. November.
[84] Sugar Beets, The Great Southwest 1, 1889, Nr. 5, 2.
[85] Ebd., Nr. 7, 5 und Nr. 8, 8.
[86] Ebd. 2, 1890, Nr. 2, 1.
[87] Sugar Beets: The Seed promised by Spreckels has been received, Ebd. 2, 1889, Nr. 2, 2-3, hier 2.
[88] More Beet Tests, Ebd. 2, 1890, Nr. 9, 4; National City Beets, ebd. Nr. 10, 13.
[89] Mr. Spreckels on the Sugar Beet Question, Pacific Rural Press 50, 1895, Nr. 24, 14. Dezember.
[90] Beet Sugar: An Interview With Mr. J.D. Spreckles [sic!], Los Angeles Herald 1889, 2. Januar; Sugar Beet Factories, Australian Town and Country Journal 1889, 14. September, 42; Colonies and India 1895, 3. August, 22.
[91] A Valuable Industry, Daily Alta California 1889, 14. September.
[92] San Francisco Call 1899, 24. November.
[93] Claus Spreckels, on the Sugar-Beet Industry, Northern Star 1896, 26. März, 4.
[94] Ten Years of Beet sugar at Watsonville, Pacific Rural Press 56, 1898, Nr. 26 v. 24. Dezember.
[95] The Sugar Industry, San Francisco Call 1896, 12. Mai.
[96] Beet Farming, Sausalito News 1896, 7. März.
[97] Refined Sugars Are Reduced, Boston Daily Globe 1896, 7. Juli, 9.
[98] Detailed Plans of the Sugar King, Chicago Daily Tribune 1896, 3. Juli, 1. Ähnlich Santa Claus Spreckels, Los Angeles Times 1896, 3. Juli, 1. Dieser lange Vorlauf von mehreren Jahren resultierte aus den Erfahrungen in Watsonville. Es erforderte gemeinhin zwei bis drei Jahre, um Farmer zu leistungsfähigen Rübenzuckerlieferanten umzuschulen und Fehler abzustellen.
[99] Dies und auch das Folgende nach Citizens of Salinas Unite in Honoring Claus Spreckels, San Francisco Call 1896, 2. August.
[100] Ergänzende Einblicke in dieses bemerkenswerte Treffen finden sich in Salinas Valley Citizens Applaud His Far-Reaching Enterprise, San Francisco Call 1896, 2. August.
[101] Beet Sugar Gazette 1, 1899/1900, Nr. 3, 20; Alfred Musy, The Largest Sugar Mill in the World, Beet Sugar Gazette 3, 1901/02, 135.
[102] Spreckels kaufte von Beginn an weiteres Land an. Ende 1897 gab er beispielsweise $275,000 für zusätzliche 12,000 Acres Zuckerland aus, s. News of the Big Cities, Chicago Daily Tribune 1897, 9. Dezember, 3.
[103] In Beet Fields, Pacific Commercial Advertiser 1897, 31. Juli, 2.
[104] Colony Homes, Los Angeles Herald 1897, 27. Mai; The All-Absorbing Topic, Sacramento Daily Union 1897, 17. Oktober.
[105] Senatorial Sugar, Los Angeles Herald 1897, 16. Mai.
[106] Beet Sugar, Ebd., 16. Mai. Nationalistische Slogans wie etwa „America for Americans“ waren Bestandteil dieses neuen Ansatzes.
[107] Entsprechende Gerüchte kamen 1897 auf, vgl. Commercial, Los Angeles Times 1897, 22. April; Sugar Trust Buys Up More Mills, Chicago Daily Tribune 1897, 21. April; One-Sided Hawaiian Reciprocity, Chicago Daily Tribune 1897, 24. April, 3. Eine Folge war ein Verleumdungsprozess zwischen Claus Spreckels und dem aufstrebenden Verleger William R. Hearst, den letzterer verlor.
[108] Weekly Statistical Sugar Trade Journal 23, 1899, Nr. 43, 26. Oktober, 6.
[109] Spreckels Company Organization, Chicago Daily Tribune 1897, 7. August, 7; Spreckels in Beet Field, Chicago Daily Tribune 1899, 2. März, 3.
[110] Washington Post 1898, 24. April, 22.
[111] Colossal Beet Sugar Exploitation, Chicago Daily Tribune 1896, 1. Juli, 1.
[112] Gary S. Breschini, Mona Gudgel und Trudy Haversat, Spreckels, Charleston 2006, 32.
[113] Local Benefits of the Beet Sugar Industry, Pacific Rural Press 53, 1897, Nr. 4, 23. Januar.
[114] To Produce Our Own Sugar, Beet Sugar Gazette 3, 1901/02, 120.
[115] Wheels of the Mammoth Sugar Factory at Spreckels Begin to Turn, San Francisco Call 1899, 1. September.
[116] A Visit to a Beet Sugar Factory, Pacific Rural Press 64, 1902, Nr. 7, 17. August.
[117] Leonhard J. Arrington, Science, Government, and Enterprise in Economic Development: The Western Beet Sugar Industry, Agricultural History 41, 1967, 1-18.

Deutsche Einwanderer auf dem Weg zu amerikanischen Vorzeigeunternehmern: Die Familie Spreckels, 1850-1930

Seit Gründung der USA haben mehr als siebeneinhalb Millionen „Deutsche“ ihr Vaterland verlas­sen, um jenseits des Atlantiks ein besseres Leben zu führen. Die Mehrzahl von ihnen stammte aus unteren und mittleren Verhältnissen, suchte den sozialen Aufstieg und fand ihn vielfach in einer selbständigen Existenz als Farmer, Handwerker oder Händler. Deutsche Einwanderer schufen nach dem gängigen, von der Migrationsforschung wesent­lich mitgeprägten Bild zwar eine breite mittelständische Grundlage der US-Wirt­schaft des 19. und 20. Jahrhunderts, doch die unternehmerischen Eliten entstammten demnach vorrangig „Protestant, Anglo-Saxon, native-born, well-to-do families“ [1]. Schon kurzes Nachdenken führt zur Skepsis gegenüber dieser Aufstiegsgeschichte aus den Reihen der Kolonisten vorwiegend des 18. Jahrhunderts: Pfizer, Merck, Heinz, Levi Strauss, Anheuser-Busch, Miller, Pabst, Steinway, Studebaker, Boeing – das sind zehn hingeworfene und rasch zu ergän­zende Namen bedeutender amerikanischer Firmen, die von deutschen Einwanderern erster oder zweiter Generation gegründet wurden. Im Washingtoner German Historical Institute haben unsere Recherchen 2009 eine keineswegs vollständige Liste mit mehr als achthundert „signifikanten“ deutsch-amerikanischen Unternehmern ergeben. Analoge Verzeichnisse von Einwanderer­unternehmer aus Skandinavien und Italien, Österreich-Un­garn und Russ­land, China und Mexiko dürften ebenfalls umfangreich sein.

Dies war Anlass, um 2010 das Projekt „Immigrant Entrepreneurship. Ger­man-American Busi­ness Biographies, 1720 to the Present“ zu starten. Darin sollte am Beispiel deutsch-amerikani­scher Einwanderer analysiert werden, welche Bedeutung diese für die Ausbil­dung und Etablierung der USA als führender Wirtschaftsmacht der Welt gehabt haben. [2] Das bis 2015 währende Projekt blieb gewiss hinter den selbstgesetzten Erwartungen zurück, doch die frei zugängliche Webseite [https://www.immigrantentrepreneurship.org] bietet mit knapp 180 biographischen und zahlreichen weiteren thematischen Artikeln einen einzigartigen und insbesondere empirisch fundierten Einblick in die deutsch-amerikanische Migrations- und Unternehmensgeschichte. Dennoch musste die Kernfrage nach dem spezifisch „deutschen“ Beitrag für die US-Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte offen bleiben. Zwar konnte der Mythos einer primär von den tradierten angelsächsischen Kolonisten geprägten und dominierten Wirtschaftssupermacht USA falsifiziert werden, doch die Einwanderer aus deutschen Landen bildeten eine zu heterogene und in sich vielfach widersprüchliche Gruppe, die nicht als klar konfiguriertes Gegenbild zum Establishment der jeweiligen „amerikanischen“ Unternehmer dienen kann. [3]

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Claus Spreckels (1828-1908) (San Francisco Newsletter 26, 1877, 29. Dezember, n. 16 (l.); Phelbs, 1881, vor 449)

Vom Landarbeiter zum Zuckerkönig? Die Karriere von Claus Spreckels

Umso wichtiger bleiben Fallstudien. Die Geschichte der kaliforni­schen Familie Spreckels bietet sich dazu an. Es handelt sich um eine der – nach den Astors – sicherlich erfolgreichsten deutschstäm­migen Immigrantenfamilien; einzig die in Milwaukee und Detroit ansässigen Uihleins dürften in den USA um 1900 eine ähnlich wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle gespielt haben. [4] Familien wie die Spreckels erlauben eine langfristige Analyse nicht nur unternehmerischen Erfolges resp. Misserfolges, sondern ermöglichen auch recht genaue Einblicke in die Akkulturation, die Integration und die sich wandelnde Identität von Einwanderern. [5] Das gilt insbesondere, wenn der in diesem Fall immense Wohlstand die zumeist geltenden Hemmnisse von materieller Enge, Fremdheitserfahrungen und relativer Isolation in der ethnischen oder religiösen Nische kaum zur Tragen kommen lässt: Claus Spreckels rangierte 1998 auf einer methodisch durchaus fraglichen Liste der reichsten Amerikaner aller Zeiten auf Platz 40, und seine Söhne konnten das Gesamtvermö­gen der Familie nochmals mehren.

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Visualisierte Stationen im Leben eines erfolgreichen Einwandererunternehmers (Sugar in the Making, hg. v. d. Western Sugar Refinery San Francisco, 2. Aufl., San Francisco 1932, s.p.)

Claus Spreckels wurde 1828 als ältestes von sieben Kindern einer alteingesessenen Kötnerfa­milie in Lamstedt, nahe Cuxhaven, geboren. [6] Er wuchs unter beengten Verhältnis­sen und ohne weiterführende Schulbildung auf und verdingte sich seit 1843 als Landarbeiter. 1846 wanderte über Bremen in die USA aus, obwohl er weder über Kapital noch englische Sprachkenntnisse verfügte. In seinem Zielort Charleston, South Carolina, fand er Beschäfti­gung bei einem deutschstämmigen Kolonialwaren- und Alkoholhändler, dessen Geschäft er nach wenigen Jahren übernahm. Spreckels weitere Karriere gründete auf einer Ketten­wande­rung von Lamstedt in die USA. [7] Er heiratete 1852 seine aus einem Nachbarort von Lamstedt stammende Schulkameradin Anna Christina Mangels (1830-1910), die kurz zuvor nach New York emigriert war und dort als Dienstmädchen arbeitete. Mit Hilfe seines Schwagers Claus Mangels (1832-1891), spä­ter Millionär in San Francisco, erwarb Spreckels 1855 ein Groß- und Einzelhandelsge­schäft in New York, das schnell Gewinn abwarf. Ein Jahr später folgte er seinem Bruder Bernhard (1830-1861) nach San Francisco und baute mit seinem Kapital dessen Groß- und Einzelhandels­geschäft aus. [8]

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Industrielle Anfänge im Familienverband – Anzeige der Albany Brewery (San Francisco Directory 1861, 533)

In San Francisco investierte Claus Spreckels gezielt in Wachstumsmärkte. Zusammen mit seinem Bruder Peter (1839-1922) und seinem Schwager gründete er 1857 die Albany Brauerei, die mittels moderner Technologie und innovativer Produkte rasch zu den führenden lokalen Unternehmen aufschloss. [9] Binnen weniger Jahre zu Wohlstand gekommen, zielte Spreckels jedoch auf die weitere Maximie­rung seines Vermögens. In der späteren Selbst- und Fremdstilisierung wird die Gründung zweier Zuckerraffinieren, der Bay Sugar Refinery 1863 und der California Su­gar Refinery 1867, als der eigentliche Durchbruch zum späteren Zuckerimperium gedeu­tet. Doch für Spreckels war die Zuckerbranche zu diesem Zeitpunkt nur ein Feld einer breit gestreuten Tätigkeit als Venture-Kapitalist. In den 1860er und 1870er Jah­ren inves­tierte er in eine weitere Brauerei (Lyons Brewery), Gold- und Silberminen (Virgi­nia Hill Gold and Silver Mining Company, Kennedy Mining Company), in das Diamanten­ge­schäft (Diamond Match Company), die Seidenproduktion (Union Pacific Silk Manufac­turing Company), in die lokale Gasversorgung, den Kanalbau (Mission Creek Canal Com­pany), das Versicherungsgewerbe (Fireman’ Fund Insurance Company, Commer­cial Insu­rance Company of California), Immobilien sowie das Bankgeschäft (Ger­man Savings and Loan Society). [10]

Gleichwohl, die Zuckerbranche wurde zu Spreckels Hauptdomäne. Er setzte von Beginn an moderne Maschinen ein, die er zuerst an der amerikanischen Ostküste, dann auch in Deutschland kaufte. Er nutzte konsequent Größen- und Verbundvorteile: Die California Sugar Re­finery wurde zwischen 1867 und 1881 fünfmal vergrößert, der Maschinenpark mit teils auf Spreckels Namen patentierten neuesten Maschinen bestückt. [11] Die Konkurrenz wurde mit Kampfpreisen aus dem Markt gedrängt. Standardisierte Qualitäten und neue, auf die Letztkonsumenten zugeschnittene Produktinnovationen sowie kleine Packungen gemahlenen Zuckers wa­ren Teil des Erfolgskonzeptes. Parallel knüpfte Spreckels direkte Handelsbeziehungen nach den Philippinen, Hawaii und Mittelamerika, um eine möglichst sichere und zeitli­ch länger gestreckte Rohzuckerversor­gung zu garantieren. Seit Mitte der 1870er Jahre domi­nierte Spreckels die Produktion und zunehmend auch den Außenhandel mit Rohrzucker im Westen der USA.

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California Sugar Refinery, San Francisco 1881 (San Francisco News Letter 1881, Christmas-Nr.)

Diese Position schien bedroht zu sein, als 1876 ein Reziprozitätsvertrag zwischen den USA und dem Königreich Hawaii geschlossen wurde, der für Zuckerimporte aus Hawaii nicht nur keine Zölle vorsah, sondern zudem eine Subvention von zwei Cent pro Pfund. [12] Spre­ckels hatte anfangs seinen politischen Einfluss geltend gemacht, um die­sen Vertrag zu sabotieren. Nach Abschluss stellte er sich jedoch als erster auf die neuen Verhält­nisse ein. Nach kurzer Anlaufzeit begann er mit massiven Investitionen in den Rohrzuckeran­bau. Er erwarb 40.000 Acres Land in Maui, korrumpierte dazu König und Regierung, über­zog mit Hilfe deutschstämmiger Ingenieure die Insel mit einem Netzwerk von Bewässerungska­nälen, Straßen und Eisenbahnen und gründete mehrere Raffine­rien im neu gegründeten Spreckelsville. [13] Spreckels siedelte Tausende von Arbeitern aus Portu­gal, China, Japan, aber anfangs auch Hunderte aus Norwegen und Deutschland in Maui und zahlreichen weiteren Plantagen in Big Island an. [14] Er setzte Standards für die grundlegende Veränderung der Wirtschafts- und Sozial­struktur Hawaiis und bereitete mit seinen Investitionen der späteren Annektie­rung der Inselgruppe durch die USA den Boden – mochte er selbst auch aus ökonomischen Gründen ein Verfechter der Unabhängigkeit Hawaiis gewesen sein.

Aus unternehmenshistorischer Sicht wichtiger war der rasche Aufbau eines vertikal integrier­ten Zuckerkonzerns. Die gemeinsam mit seinen ältesten Söhnen geführte Oceanic Steam­ship Company dominierte das Transport-, Personen- und Postgeschäft mit Hawaii für Jahrzehnte. Neu gegründete Großhandelsorganisationen vertrieben den Rohzucker der wachsenden Zahl hawaiianischer Zuckerplantagen. Von Spreckels kontrol­lierte Banken finanzierten das kapitalintensive Geschäft mit der süßen Rohware. Anfang der 1880er Jahre war Spreckels (nach heutigen Maßstäben) Milliar­där, Quasimachthaber in Hawaii, dessen politischer Einfluss in Kalifornien und Washing­ton die Verlängerung des Reziprozitätsvertrages 1883 auch gegen erbitterten Widerstand der Öffentlichkeit ermöglichte. [15] Zu dieser Zeit stand Spreckels Name als Syno­nym für die Gefahren von Big Business, der umstürzen­den und korrumpierenden Macht der großen Korporationen: Die Arbeitsbedingungen in seinem Plantagensystem waren Gegenstand zahlreicher Regierungsuntersuchungen, er wurde wegen der hohen Monopolpreise für Zucker stetig kritisiert, sein politischer Ein­fluss in der republikani­schen Partei schien die U.S.-Politik zu unterminieren. [16] Die Tarifpoli­tik der großen Eisenbahnlinien, die Spreckels Zuckermonopol im Westen mit Son­derta­rifen schützten, machte die Gefahr der Trusts für die Allgemeinheit nochmals offenkundig. [17]

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Trust-Regulierung als vernachlässigte staatliche Aufgabe (Puck 24, 1888, 137)

Seit Mitte der 1880er Jahren erodierte jedoch die Macht des Zuckerkönigs. Dies galt ein­mal für Hawaii, wo Wettbewerber an Boden gewannen und die Macht des auf Spre­ckels angewiese­nen Königs Kalakaua (1836-1891) spätestens seit der Revolution 1887 schwand. [18] Auch die politi­schen Rahmenbedingungen wandelten sich, die Tarifpolitik des demokratischen Präsi­den­ten Grover Cleveland (1837-1908) war hierfür nur ein Vorbote. Wichtiger noch war die 1887 er­folgte Gründung der American Sugar Refinery Company, des so genannten Zucker­trusts. All dies führte zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Spreckelschen Unterneh­men:

Erstens, verlagerte er seine Aktivitäten stärker zurück nach Kalifornien, wo er seit 1887 zum Pionier der Rübenzuckerproduktion wurde. Nach einem siebenmonatigen Studienaufent­halt in Deutschland im Jahre 1865 hatte Spreckels schon seit 1872 mit Ver­suchsanbau von Rübenzucker begonnen, doch der arbeitsintensive Zuckerrübenan­bau war aufgrund fehlender Farmer resp. Landarbei­ter noch nicht wettbewerbsfähig. [19] Das änderte sich durch den Preisverfall einschlägiger Cash Crops, hinzu kamen Subventio­nen der U.S.-Regierung, die dadurch die Abhängigkeit von Zuckerimporten vermindern wollte. Spreckels informierte sich 1887 während einer fünfmonatigen Reise durch Öster­reich, Frankreich, Belgien und Deutschland über den aktuellen Stand der Rübenzuckerin­dust­rie, importierte anschließend Patente und Technik vornehmlich aus Deutschland und baute südlich von San Francisco zuerst 1887 in Watsonville, dann seit 1898 in Salinas und der neu gegründeten Stadt Spreckels die zu ihrer Zeit jeweils größ­ten Zuckerraffinerien der USA, nach eigenem, nicht zutreffenden Bekunden, auch der Welt auf. [20]

Zweitens, nahm Spreckels publikumswirksam den Kampf mit dem Zuckertrust auf. Die Idee, auch an der Ostküste Zucker anzubieten, hatte er seit langem gehegt; und er setzte sie konsequent um, nachdem der Zuckertrust 1888 eine kleinere konkurrierende Raffine­rie in San Francisco aufgekauft hatte und einen Preiskampf begann. Spreckels zog nun gen Osten, verhandelte mit mehreren Städten wegen Subventionen und errich­tete errichtete seit 1889 die damals weltgrößte Zuckerraffinerie in Philadelphia. [21] Opera­tiv von seinen Söhnen geleitet, ermöglichte sie einen intensiven Preiskampf, der zeitwei­lig zu einer Halbierung des Zuckerpreises in den USA führte. Der vielfach umsatzstärkere und kapitalkräftigere Zuckertrust lenkte schließlich 1891 ein, überließ Spreckels den Westen der USA und kaufte die Fabrik in Philadelphia für das Doppelte der Investitionssumme. [22] Westmonopo­list Claus Spreckels wurde mit diesem Coup zu einer populären öffentlichen Figur, der die Stellung und Werte des Einzelunternehmers gegen die Trusts verteidigt hatte.

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Spreckelsche Zuckerraffinerie in Philadelphia, PA, 1893 (Frank Leslie‘s Illustrated Newspaper 1890, Nr. 1821 v. 8. September, 576)

Drittens begann Claus Spreckels, der sich seit 1893 inoffiziell aus dem operativen Ge­schäft zurückgezogen hatte, mit einer Diversifizierung seiner unternehmerischen Aktivitä­ten. Er schloss damit an die frühere Phase des Venture-Kapitalisten an. Stich­worte müssen genügen, auch wenn es sich teils um (aus heutiger Sicht) Milliardengeschäfte gehandelt hat. Spreckels investierte in verschiedene Eisenbahnunternehmen, um seine Rübenzuckerproduk­tion zu unterstützen (Pajaro Valley Railroad; Pajaro Valley Consoli­dated Railway), um das Quasi-Monopol der Southern Pacific Railway Co. zu attackieren (San Fran­cisco and San Joaquin Valley Railroad Company; Bakersfield and Los Angeles Railway Company) sowie die Infrastrukturentwicklung Südkaliforniens voranzutreiben (National City & Otay Railroad). [23] Sein öffentliches Image als Monopolbrecher erlaubte ihm lukra­tive Investitionen im Infrastruktursektor, wo er unter anderem als Preisbrecher im Gas- und Elektrizitätsgeschäft agierte (Independent Light and Power Company), um seine Aktien nach einigen Jahren mit hohem Gewinn zu verkaufen [24]. Schließlich inves­tierte er zunehmend in Immobilien, darunter den ersten Wolkenkratzer im Westen der USA, das 1897 eröffnete Claus Spreckels Building, Sinnbild des aufstrebenden San Francisco. [25]

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Der Bau der San Joaquin Valley Road als Heil für die Region – Werbemotiv für die Spreckelsche Eisenbahnlinie, 1896 (Valley Road, 1896, 67)

Herkunft als Ressource: Erfolgsfaktoren eines Multimilliardärs

Man kann diese Karriere als US-amerikanische Erfolgsgeschichte lesen, als den Übergang vom Landarbeiter zum Zuckerkönig. Dies wird jedoch weder den Besonderheiten der USA im 19. Jahrhundert noch dem Status eines Einwandererunternehmers gerecht.

Claus Spreckels war seit 1855 Bürger der USA. Er lernte rasch Englisch, auch wenn er es bis an sein Lebensende mit deutlichem deutschem, genauer niederdeutschem, Akzent sprach. Er war stolz auf sein neues Vaterland, pries dessen Freiheitsversprechen und die Unabhängigkeit seiner Bür­ger und wandte sich, je später, je mehr, gegen den US-Imperialismus und die um sich greifende Korruption in der Politik – auch wenn er diese über Jahrzehnte systematisch betrieben hatte. [26] Er war Mitglied, teils Gründungsmitglied der wichtigsten amerikani­schen Vereine der Westküste, aktiv in der Nationalgarde und ein führender Repräsen­tant der Republikaner in Kalifornien. Er förderte den lokalen Patriotismus mit Spenden für die Statuten von James A. Garfield (1831-1881), Ulysses S. Grant (1822-1885), George Dewey (1837-1917), Abraham Lincoln (1809-1865) und William McKinley (1843-1901). Zugleich aber unterstützte er ein Leben lang seine lutherische St. Markus-Gemeinde, war Mitglied im San Francisco Verein und dem Verein Arion, förderte Deutsche Tage und Wochen, das German Altenheim und das Goethe-Schiller-Denkmal. 1899 schenkte er seiner Heimatstadt 1899 ei­nen Temple of Music, nicht zuletzt zur Pflege deutscher Musik.

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Ein Ort deutscher und amerikanischer Weisen: Spreckels Temple of Music (Mark Hopkins Review of Art 1, 1899/1900, Nr. 3, 10)

Spreckels wurde bis in die 1890er Jahre vielfach als Immigrant wahrgenommen. Seine Geschäftspraktiken wurden als die eines „greedy Prussian“ [27] oder aber eines „German Jews“ [28] denunziert. Aufgrund seines Eintretens für chinesische Kontraktarbeiter oder seines Beharrens auf Hawaiis Selbstständigkeit galt er vielfach als national unsicherer Kantonist. Im Deutschen Reich und auch bei deutsch-amerikanischen Vereinigungen wurde er dage­gen vielfach national verein­nahmt, sei es als jovialer Plattdeutsch-Sprecher oder als der „deutsche Zuckerkö­nig“. [29] Deutsche Besucher vermerkten jedoch zunehmend kritisch, dass er „keine ande­ren als rein amerikanische Interessen habe“; und da half es wenig, dass sein Pfarrer ihn am Grabe mit einer deutschen Eiche verglich. [30] In der deutschsprachigen US-Presse hieß es klagend, dass er „für das hiesige Deutschtum und das Deutschtum überhaupt [nicht, US] viel übrig gehabt“ [31] habe. Das war falsch, doch Claus Spreckels achtete stets auf die öffentliche Wirkung und die soziale Bindekraft seiner Zuwendungen auch über die deutsche Nische hinaus.

In den USA wurde er seit den frühen 1890er Jahren immer stärker als ein Repräsentant erst des aufstreben­den Kaliforniens, dann auch der amerikanischen Nation und ihrer Verheißung individueller Entfaltung gese­hen. Gleichwohl, seine Karriere ist ohne seine Herkunft aus Deutschland kaum zu erklären. Deutsche Immigranten ermöglichten ihm jeweils den Start in Charleston, New York und San Francisco. Deutsch-amerikanische Ingenieure und Architekten planten die Plantagenwirt­schaft in Hawaii und die Raffinerie in Philadelphia. Spreckels beschäftigte zahlreiche Facharbeiter aus Deutschland und gab immer wieder Familienmitgliedern die Chance, in seinen Unternehmen zu arbeiten und aufzusteigen. Sein ältester Sohn wurde 1869-1871 auch in Deutschland, an der Polytechnischen Schule in Hannover, erzogen. [32] Deutsche Besucher und Politiker wurden von ihm in Hawaii und San Francisco empfangen und bewirtet.

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Sedan-Feier in San Francisco unter Leitung von Claus Spreckels (San Francisco Abend Post 1871, 30. August, 2)

Er selbst reiste mehrfach für längere Aufenthalte nach Deutschland, um dort vor Ort die Zuckerproduktion zu studieren. Seit 1867 importierte er Maschinen aus Deutschland, seine Zuckerrübenfabriken wurden fast gänzlich mit deutscher Technologie ausgestat­tet, auf kalifornischen Feldern deutsche Rübensaaten angepflanzt. Und doch: Der Grund für diese engen Beziehungen lagen in der Qualität von Know-how und Produk­ten. Spre­ckels folgte einer ökonomischen Logik, keiner nationalen. Falls Saatgut in Frankreich oder Dänemark günstiger angeboten wurde, so kauft er es dort. Zugleich nutzte er seine deutsche Herkunft vielfach geschickt aus, um insbesondere bei Verhandlun­gen um Zolltarife Vorteile zu erzielen; war er doch ein Amerikaner, der vorgab, die Deutschen zu kennen. In Hawaii positionierte er sich als Garant amerikanischer Interessen gegenüber der britischen und deutschen Konkur­renz. Die Gefahr wachsender deutscher Zuckerimp­orte instrumentalisierte er zur Subventio­nierung der US-Rübenzuckerindustrie.

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Blick in die St. Bartholomäus Kirche, Lamstedt, Taufort von Claus Spreckels (Uwe Spiekermann, 2018)

Spreckels blieb seiner Heimat eng verbunden: Er finanzierte nicht nur das Haus seiner Schwester in Lamstedt, sondern ein Jahr vor seinem Tod auch die Orgel seiner Heimatgemeinde. Doch spätes­tens seit den frühen 1890er Jahren führten ihn die regelmäßigen Transatlantikreisen immer häufiger auch nach London, dann vielfach nach Paris und den böhmischen Bädern. Seine pompöse Villa in San Francisco wurde mit französischen Kunstwerken ausgestat­tet, darin wirkten nicht nur deutsche Hausmädchen, sondern auch englische Butler und Gärtner. [33] Der deutsche Immigrant in Amerika war auch ein Freund der französischen Kü­che – und entsprach damit dem Geschmack des sich ausbildenden internationalen Smart Set.

Auf dem Weg zur reichsten und einflussreichsten Familie Kaliforniens? Die zweite Unternehmergeneration der Spreckels

Schon diese wenigen Hinweise unterstreichen die Künstlichkeit klarer nationaler Identitäten im ausgehenden 19. Jahrhundert. Claus Spreckels war im Königreich Hannover geboren worden; und eine deutsche Staatsbürgerschaft gab es formal erst 1913, also nach seinem Tode. Seit 1855 war er naturalisierter Bürger der USA, doch dabei handelte es sich um einen rasch expandierenden Staat mit unklaren Grenzen: Kalifornien wurde 1850 Teil der USA. Kalifornien selbst war noch nicht der heutige Staat mit etwa der Einwohnerzahl, die 1850 der Deutsche Bund aufwies. Für Claus Spreckels war er jedoch der wichtigste Bezugs- und auch Gestaltungsraum, während er das von ihm lange dominierte Hawaii immer als informellen Herrschaftsraum, nicht aber als eigenständigen Staat verstand, zu dem er nie eine innere Bindung hatte.

Fragen nach der Akkulturation und der Integration eines solchen Repräsentanten einer transnationalen Funktionselite zeugen schon bei einer Person von multiplen, parallel gelebten und genutzten Identitäten. Doch der eigentliche Testfall ist gewiss die zweite Einwanderergeneration. Dieser ist im Falle der Fami­lie Spreckels besonders ergiebig, denn die harte Schule des Zuckerkö­nigs führte nicht nur zu innerfamiliären Zerwürfnissen, sondern auch zur Ausbil­dung von vier unternehmeri­schen Talenten, die allesamt auf Grundlage der Arbeit und des Kapitals des Vaters ihre je eigenen Karrieren entwickelten und das Vermögen der gesam­ten Familie bis in die Mitte der 1920er Jahre nochmals vergrößerten. Skizzenar­tige Charakterisierungen müssen genügen.

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John D. Spreckels (1853-1926) (Austin, 1924, n. 74 (l.); ebd., n. 162; Coshocton Tribune 1922, 3. September, 3 (r.))

John Diederich Spreckels, der älteste 1853 in Charleston geborene Sohn, war das viel­leicht größte unternehmerische Talent der vier Brüder. [34] Er wurde von seinem Vater schon früh mit dem Management des Hawaiianischen Besitzes betraut – und führte mit seinem jüngeren Bruder Adolph B. seit den 1890er Jahren die kalifornischen Zuckerbetriebe. Parallel baute er seit 1878 die Oceanic Steamship Company auf, die nicht nur im Fracht- und Postverkehr nach Hawaii tätig war, sondern seit den 1880er Jahren erste regelmäßige Fahrten nach Neuseeland, Australien, Samoa und später auch nach Asien anbot. Die gemeinsam mit seinen Brü­dern Adolph B. und Claus A. gegründete Holding Spreckels & Bros. agierte als Agentur für viele kleinere US-Reeder und zahlreiche europäische Linien im Pazifik- bzw. im Schiffsverkehr von der Ost- zur Westküste. Breite Teile der Versorgung der Westküste mit Kohle, Koks, Düngemitteln und Metallen – von Australien, aber auch aus Großbritannien – erfolgten im Chartergeschäft durch Spreckels & Bros.

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Wirtschaftliche und touristische Erschließung des Pazifikraums durch J.D. Spreckels & Bros. (Ports, 1889, 62 (l.); Oceanic Steamship Company 1902, s.p.)

John Diederich Spreckels emanzipierte sich von seinem Vater mit 1887 einset­zenden systematischen Investitionen in San Diego; auch wenn der alte Herr diese finanziell mittrug und seine Rechte erst um die Jahrhundertwende an die beiden älteren Söhne übertrug. John D. Spreckels engagierte sich für den Ausbau der Hafeninfrastruktur, baute in den 1890er Jahren ein weit über Bedarf geplantes Straßenbahnnetz auf, gründete Elektrizitäts- und Wasserwerke, kaufte zudem die wichtigsten lokalen Tageszeitungen auf. Dies diente der Etablierung von San Diego und der vorgelagerten Insel Coronado als Touristenzentrum und Altersresidenz [35], führte mittelfristig auch zu immensen Gewinnen im Grundstücksgeschäft, da John D. Spreckels einen Großteil des zukünftigen Baulandes preiswert gekauft hatte. Nach dem Erdbeben 1906 siedelte er dauerhaft nach San Diego über und investierte einerseits in zentrale Bürogebäude, baute daneben an sich weit überdimensionierte Theater, Musikstätten und Vergnügungsparks. Parallel sicherte er die Wasserversorgung der Region durch ein Netzwerk von Staudämmen und Kanalsystemen.

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Übernahme und Ausbau bestehender Infrastruktur: Coronado und San Diego 1888 (Coronado Beach Company, 1888, s.p.)

Mit der Spreckels Savage Tire Company, der ersten amerikanischen Reifenfirma westlich vom Produktionszentrum Akron, legte er zugleich Grundlagen für die industrielle Entwicklung San Diegos und des Südwestens Kaliforniens. Als Investor ähnlich breit aufgestellt wie sein Vater, war auch John D. im Eisenbahngewerbe tätig (National City & Otay Railroad, Coquile River Road, San Diego & Southeastern Railway Company, Coos Bay, Roseburg and Eastern Railway). Die 1919 fertiggestellte San Diego and Arizona Railroad band San Diego an das transnationale Eisenbahnnetz der USA an und bildete einen Schlussstein in der verkehrstechnischen Erschließung Südkaliforniens. John Ds. Lebens­stil war aufwendig, er besaß die jeweils größten und schnellsten Yachten der West­küste, zeigte Interesse an Boxsport, Polo und Autorennen und war in den 1890er Jahren nicht nur aufgrund seines Geldes die bestimmende politische Kraft der republikani­schen Partei Kaliforniens. Dennoch stand er nach dem Tode seines Vaters mit jährlich über einer Million Dollar lange Zeit an der Spitze der Einkommenspyra­mide Kalifor­niens und hinterließ bei seinen Tode 1926 mit 25 Millionen Dollar ein aus heuti­ger Sicht Milliardenvermögen. [36]

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Adolph B. Spreckels (1857-1924) (San Francisco Call 1896, 17. September, 7; Men of the Pacific Coast 1902, 188; Jockey Club, 1923, s.p.)

Adolph Bernhard Spreckels, 1857 in San Francisco geboren, stand vielfach im Schatten seines großen Bruders; und doch finanzierte er die meisten seiner Unternehmungen auf 50-Prozent-Basis, war Kapitalist im Wortsinne. Nachdem er 1881 Michel De Young, den Besitzer des San Francisco Chronicle, auf­grund dessen einseitiger Berichterstattung über seinen Vater und insbesondere seiner Mutter niedergeschossen hatte, letztlich aber freigesprochen wurde, führte er längere Zeit ein eher zurückgezogenes Leben. [37] Seine Passion war der Pferderennsport. Er war einer der wichtigsten, vor allem aber der lange Zeit wirtschaftlich erfolgreichste kalifornische Pferde­züch­ter und gründete mehrere Pferderennbahnen in Nordkalifornien und auch – nach dem Verbot erst der Pferdewetten, dann des Alkoholkonsums in Kalifornien – in Mexiko. [38]

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Tanforan Pferderennbahn vor der Wiedereröffnung 1923 (Jockey Club, 1923, s.p.)

Adolph B. Spre­ckels agierte viele Jahre ehrenamtlich als Park Commissioner, verantwortlich für den Golden Gate Park. [39] Als einziger Spreckels dieser Generation engagierte er sich im boomenden Ölgeschäft, konnte sich aber mittelfristig nicht gegen die Konkurrenz der Standard Oil Company behaupten. [40] Obwohl ein beträchtlicher Teil seines Vermögens auf Drängen seiner Gattin Alma des Bretteville Spreckels (1881-1968) in den frankophonen California Palace of the Legion of Honor floss, dem in sei­nem Todesjahr 1924 eröffneten wichtigsten Kunstmuseum der Westküste, hinterließ er seinen Erben immerhin noch 15 Millionen Dollar. [41]

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Bohrtürme und Verarbeitungsindustrie der Sunset Monarch Oil Company, 1910 (Sunset 25, 1910, 243)

Während John D. und Adolph B. die autokratische Grundhaltung ihres Vaters lebenslang ertrugen, rebellierten die beiden jüngeren Brüder Claus Augustus und Rudolph Anfang der 1890er Jahre gegen Claus Spreckels. In jahrelangen Rechtsverfahren gelang es ihnen Millionenwerte vom Vater zu erstreiten, die sie dann für ihre eigenen Unternehmun­gen nutz­ten. [42]

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Verwerfungen im Hause Spreckels: Karikatur zur Serie von Gerichtsverfahren zwischen Claus Spreckels und seinen Söhnen Rudolph und Claus A., 1892-1896 (Oakland Tribune 1908, 10. Januar, 1)

Beide hatten für ihren Vater die Zuckerraffinerie in Philadel­phia geleitet, beide wa­ren desillusioniert von deren Verkauf an den Zuckertrust, den sie doch eigentlich bekämp­fen und besiegen wollten. Claus A. und Rudolph erhielten als Ausgleich ein Millionen-Kapital, vor allem aber die Verfü­gungsgewalt über das Herzstück des Spreckelschen Zuckergeschäft in Hawaii, der Hawaiian Commercial Sugar Company. Sie führten diese durch einen finanziellen Engpass in den frühen 1890er Jahren, um sie 1898 schließlich mit Millionengewinnen zu verkaufen, freilich gegen ihren Willen. [43]

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Claus A. Spreckels (1858-1946) (New York Journal 1897, 4. Juli, 24 (l.); Evening Telegram New York 1911, 22. Juli, s.p.; Kansas City Sun 1918, 26. Januar, 3 (r.))

Claus A. Spreckels nutzte dieses Kapital, um 1902 in Yonkers, nördlich von New York City, die Federal Sugar Refinery aufzu­bauen, die sich aufgrund neuartiger Produktionsverfahren rasch nicht nur zur größten unabhängigen Zuckerraffinerie der USA entwi­ckelte, sondern Anfang der 1920er Jahre mit mehr als 3.000 Beschäftigen auch die größte Zuckerfabrik der USA war. [44] Bevor er sich Mitte der 1920er Jahre aus dem akti­ven Geschäft zurückzog, agierte er – ein potenter Finanzier der demokrati­schen Partei – als ein politisch einflussreicher Gegenspieler des Zuckertrusts und auch der US-Kriegsernäh­rungswirtschaft unter Herbert Hoover (1874-1964).

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Federal Sugar Refining Co. – Leitbetrieb der „Unabhängigen“ in den USA, 1922 (Postkarte, Privatbesitz)

Der auch im Bankgeschäft tätige Claus A. Spre­ckels setzte sich damals in Frankreich zur Ruhe. Sein Vermögen ist nicht präzise zu taxieren. Anfang der 1920er Jahre gewiss noch (nach heutigem Maßstab) ein einfacher Milliardär, verlor er sein Vermö­gen mit dem Bankrott der Federal Sugar Refinery 1932 und starb 1946 in Paris in gesicherten, doch eher modera­ten Verhältnissen. [45]

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Rudolph Spreckels (1872-1958) (San Francisco Call 1895, 7. März, 2 (l.); Los Angeles Times 1906, 27. Oktober, I1; Who’s who in California, 1929, 33 (r.))

Dieses Schicksal teilte auch der jüngste der vier Brüder, der 1872 geborene Rudolph Spreckels. 1928 mit zeitweilig mehr als 30 Millionen Dollar das vermögendste Mitglied der zweiten Generation, brach sein neu strukturiertes Geschäftsimperium während der Weltwirtschaftskrise spektakulär zusammen. Ru­dolph hatte sich mit 1898 im Alter von 26 Jahren mit einem Vermögen von vier Millionen Dollar zur Ruhe ge­setzt und nichts deutete darauf hin, dass er vielleicht der schillerndste, sicher aber der in den USA bekann­teste Spreckelszögling werden sollte. Grund hierfür war sein Engagement erst in der Bekämpfung der Korruption in San Francisco, dann sein aktives Eintreten für die Progres­sives in den USA. [46] In der Metro­pole Kalifor­niens finanzierte Rudolph Spreckels 1906-1909 mit – nach heutigem Wert – fast 20 Millio­nen Dollar die spektakuläre An­klage gegen die Stadtregierung, die Union Labor und die Republican Party. Seine Ankündi­gung, auch die vornehmlich aus der Geschäfts­welt stammenden Korruptionsge­ber vor Gericht zu stellen, führte zur Spaltung der Gesellschaft in San Francisco.

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Rudolph Spreckels als Saubermann und „Diktator“ San Franciscos nach dem Erdbeben 1906 (New York Times 1907, 7. Juli, SM10)

Die Graft Prosecution er­reichte letztlich ihre selbstgesteck­ten Ziele nicht, doch San Fran­cisco und auch Ru­dolph Spreckels wurden zum Symbol für eine notwendige Reform der amerikanischen Politik und auch des unterneh­merischen Ethos. Rudolph Spreckels, zwischen­zeitlich als Banker, Investor und Immobilienspekulant erfolgreich etabliert [47], wurde für mehrere Jahre zu einem führenden Vertre­ter der Progressive Republi­cans. Während und nach dem Ersten Welt­krieg konzipierte er ambitionierte Infra­strukturprojekte in Kalifornien, die unter anderem die Verstaatlichung von Eisenbah­nen, den Bau moderner Fernstraßen sowie die kom­plette Übernahme des Was­ser- und Elektrizitätsgeschäftes durch den Staat Kalifornien vorsahen. Alle diese Pro­jekte scheitern seinerzeit, doch mehrere wurden in den 1930er Jahren im Rahmen des New Deal angegangen und umgesetzt. Rudolph Spreckels reorgani­sierte Mitte der 1920er Jahre seine unternehmerischen Aktivitäten, verabschie­det sich aus dem Bankge­schäft und investierte seine beträchtlichen Mittel in die Zukunfts­märkte der Radio- und TV-Branche (Federal Telegraph Company, Kolster Ra­dio) sowie in der Reorgani­sation des Spreckelschen Zuckerimperiums in New York (Spre­ckels Sugar Corpora­tion). [48] Anfäng­lich profitierte er vom Boom der Börse, doch dann wurden seine auf Expansion ausgerichteten Betriebe durch die Weltwirtschafts­krise und den Preisverfall im Zuckermarkt hart getroffen. 1930 musste erst das Radio-, anschließend auch das Zuckergeschäft einge­stellt werden. Rudolph Spreckels weigerte sich, das Familienunternehmen zu akzeptab­len Bedingungen an General Foods zu verkaufen, doch die geplante Reorganisation schei­terte am fehlenden Kapital. 1936 leis­tete der frühere Milliardär einen Offenbarungs­eid. [49]

Reminiszenz und Last: „Deutschtum“ in der zweiten Generation

Es scheint schwierig aus diesen vier kursorischen Lebensbildern das Gemeinsame ihrer Stellung als amerika­nische Einwandererunternehmer der zweiten Generation herauszuarbeiten. Es besteht kein Zweifel, dass sich alle vier Brüder als amerikanische Staatsbürger verstan­den, deren deutsche Herkunft zunehmend brüchig und irrelevant wurde. Wie ihr Va­ter, wurden auch die Söhne schon in den 1890er Jahren als Vorzeigeunternehmer des amerikani­schen Westens präsentiert und wahrgenommen – und sie nutzten ihrerseits die von ihnen teils beherrschte Presse, um ein solches Bild zu zeichnen.

Die fast zwanzigjährige Altersdifferenz zwischen John D. und Rudolph verweist aber schon auf eine sich wandelnde Sozialisation. Während der Ältere zwei Jahre in Deutschland zur Fachschule ging, vor Ort in die amerikanischen und deutsch-amerikanischen Vereine einge­führt wurde, zum Colonel der Nationalgarde avancierte und regelmäßig sowohl an Festlichkeiten im San Francisco Schuetzen­park als auch an Massenversammlungen der Deutschen in San Francisco beteiligt war [50], fokussierte sich die häusliche Erziehung des asthmatischen Ru­dolph lediglich auf Grund­kenntnisse der deutschen Sprache, Kultur und Geschichte. Er blieb den deutsch-amerikani­schen Vereinen fern, im Hause wurde mit ihm Englisch gesprochen. Sein Vater bot ihm ein Studium in Yale an, doch Rudolph zog die Verantwortung im Geschäft vor.

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Deutschstämmige Nationalgardisten in San Francisco (Wasp 3, 1878, 64)

Parallel schwand die Bindekraft kultureller Faktoren. Die zweite Generation nahm Ab­stand vom deutsch-lutherischen Glauben des Claus Spreckels, auch wenn die Brüder Mitglieder protestanti­scher Kirchen blieben. John D. und Adolph B. wurden führende Reprä­sentan­ten der kalifornischen Freimaurer, standen ansonsten der episkopalen Kir­che nahe. Claus D. brach im Heiligen Jahr 1924 zu einer Pilgerfahrt nach Rom auf, während Rudolph die methodistische Kirche unterstützte. Musik war für alle Spreckels­söhne wichtig, doch nur John D. blieb als passionierter Orgelspieler der deut­schen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts verhaftet, während seine Brüder die zeitgenös­sische europäische und amerikanische Musik zu schätzen wussten. Das zeigte sich analog bei vielen, in der Oberschicht üblichen Spenden: John D. Spreckels ermöglichte der University of Berkeley 1904/05 den Ankauf der bis heute renommierten Bibliothek des Berliner Philologen Karl Weinhold (1823-1901) mit mehr als 6000 Büchern und knapp 2.300 Manuskripten, die einen wichtigen Grundstock für die Germanistik an der Westküste bildete. [51] Er folgte dabei der Spendentradition seines Vaters, der den dortigen Büchergrundstock in den Rechts- und Staatswissenschaften legte. Rudolph hatte bereits 1902/03 vorgelegt, indem er Berkeley ein für die Berufung des damals in Chicago tätigen deutschstämmigen Physiologen Jacques Loeb (1859-1924) erforderliches physiologisches Laboratorium finanzierte. [52]

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Repräsentative Kalifornier in den 1890er Jahren: John D. Spreckels und Adolph B. Spreckels, Einwanderer der zweiter Generation (San Francisco Call 1896, 27. September 27, 1 (l.); Kirk, 2000, 21)

Im geschäftlichen Sektor war Claus Spreckels ein strikter Vertreter eines unternehmerischen Paternalismus, entsprechend fühlte er sich der großen Mehrzahl sei­ner Facharbeiter und führenden Angestellten persönlich verpflichtet. Dies galt auch noch für John D., dessen Unternehmen schon aufgrund der weit überdurchschnittlichen Löhne in den ersten Jahrzehnten kaum Arbeitskämpfe verzeichneten – was sich in den managergeführten Unternehmen in San Diego wandeln sollte. Claus A. setzte dagegen auf einen strikt antige­werkschaft­lichen Kurs und ließ seinen Neffen und Generalmanager Louis Spre­ckels (1869-1929) seine Fabrik 1913 angesichts von gewerkschaftlichen Lohnforderungen kurzfristig schlie­ßen. [53] Anderseits agierte Rudolph als sozial engagierter Unternehmer, der wäh­rend der Inflation des Weltkriegs die Löhne freiwillig erhöhte, um seiner sozialen Verantwor­tung gerecht zu werden. [54] Dies war für ihn jedoch Ausdruck ei­ner funktional-technokratischen Grundhaltung, die eine faire Bezah­lung vorsah, eine persönliche Bezie­hung zwischen Unternehmer und Bediensteten aber in Abrede stellte. Für die Söhne war Deutschland weniger die frühere Heimat als vielmehr eher ein Wettbewer­ber um Marktanteile in der Zuckerbranche und der Außenpolitik. In verschiede­nen Senatsanhörungen wurde Deutschland von ihnen stets als Konkurrent präsentiert, um auf diese Weise die Tarif- und Subventionspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen. John D. nahm im imperialen Wettstreit im Pazifik wiederholt Partei gegen die Weltpolitik Wil­helm II. und Großbritanniens und unter­stützte mit seiner Dampferflotte die US-Politik in Südamerika und den Philippinen. [55]

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John D. Spreckels Privatjacht “Venetia” als USS Venetia (SP 431) 1919 (U.S. Navy NH 85180-A)

Die schwindende Bedeutung der deutschen Herkunft zeigte sich besonders an den Ehe­frauen der Brüder. Sie alle entstammten amerikanischen Fami­lien, keine davon mit deutsch-amerikanischem, zwei dagegen aus irisch-amerikanischem (und katholischen) Hintergrund. Sie orientierten sich an den kulturellen Standards New Yorks und der westeuropäischen Gesellschaften, ihre zumeist jährlichen Auslandsreisen führ­ten sie nach London und insbesondere Paris, nach Monte Carlo, den böhmischen Bä­dern und Italien. Ihre Vorstellung von Kunst, Kultur und Mode war vornehmlich frankophon ge­prägt, dort besaß man Villen und Apart­ments, dort war man Teil der hohen Gesell­schaft. [56] Das wurde einzelnen Mitgliedern der Familie Spreckels im Deutschen Reich expli­zit verwehrt. Als Rudolph Spreckels 1913 von Wilson als U.S.-Botschaf­ter in Berlin nominiert worden war, liefen nicht nur deutsch-amerika­nische Ver­eine Sturm, sondern hielt sich auch die deutsche Regierung bedeckt. Die Spreckels erschie­nen ihnen nicht nur als Konkurrenten im Zuckergeschäft und Ru­dolph als verkappter Sozialdemokrat, sondern sie waren als Abkömmlinge von norddeut­schen Kleinbauern gesellschaftlich einfach nicht satisfaktionsfähig. [57]

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Rudolph Spreckels als Kritiker des saturierten Establishment (Salt Lake Telegram 1924, 20. September, 3)

Gleichwohl wäre es verfehlt, von einer vollständigen Integration der Einwandererunterneh­mer in die US-Gesellschaft auszugehen. „Deutschtum“ wurde an die Söhne immer wieder als Fremddeutung herangetragen. In Auseinandersetzungen um Hawaii, beim Eintreten für die Immigration asiatischer Arbeiter, beim Kampf gegen Korruption in San Francisco und anderswo – immer wieder wurden von der Presse und vielen Gegnern Vorwürfe „unamerikanischen“ Verhaltens laut. John D. und Adolph B. kompensierten dies mit besonderem Patriotismus und knüpften enge Verbindungen zum Kriegsministerium und der Marine. Das galt zumal im Ersten Weltkrieg, als sie sich schon lange vor dem US-Kriegseintritt betont patriotisch gaben. Die mit französischen Regierungsstellen eng vertraute Mrs. Adolph B. Spreckels schien deutschen Stellen seit ihrem 1915 einsetzenden Engagement für das Belgische Hilfswerk als dezidierte Gegnerin des Kaiserreichs. John D.s zum Torpedoboot umgebaute Yacht Ve­netia kämpfte 1918 im Mittelmeer erfolgreich gegen deutsche U-Boote, und der Besitzer popularisierte anschließend gar die falsche Legende, dass sie U-20 zerstört habe, das Boot, das 1915 die Lusitania versenkt hatte. [58] Rudolph dagegen geriet schon während des Ersten Weltkrieges in die Mühlen der Red Scare. Als Kriegsgegner wurde er nicht nur als Teil feindlich gesinnter „pro-German elements“ angeprangert, sondern nach den Bombenatten­tat am Prepardness Day 1916 in San Francisco in die Nähe des Anarchismus gerückt. [59] In Yonkers, NY musste der nicht naturalisierte Walter P. Spreckels (1888-1976) 1918 seine Position als stellvertretender Geschäftsführer der Federal Sugar Refinery als uner­wünsch­ter Ausländer aufgeben [60]; der unmittelbare Kontakt zu Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) von drei der Brüder konnte dem nicht entgegenwirken. Ru­dolph Spreckels Eintreten für ver­stärkte Regulierung und höhere Steuern führte wäh­rend der Weltwirtschaftskrise zu sei­ner Denunziation als Agent der Sowjetunion. [61] Auch amerikanische Vorzeigeunterneh­mer wurden wie die große Mehrzahl der Einwanderer aus Osteuropa behandelt, wenn sie sich nicht an die Spielregeln des US-Mainstreams hielten.

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Maskenspiel und Doppelbödigkeit eines etablierten Fremden – Karikatur 1908 (Oakland Tribune 1908, 8. Januar, 1)

Deutsche Herkunft und amerikanische Realität: Ein Zwischenfazit

Eine kurze Fallstudie kann nur Hinweise liefern. Doch thesenartig verdichtet ist sie für Vergleichsstudien wichtig, kann Anregungen zum Nachdenken über die fragile Identität deutscher Einwandererunternehmer geben, zugleich Rückfragen an die starren Kategorisierungen im Forschungsalltag anregen.

Im vorliegenden Falle war Amerikanisierung erst einmal die Konsequenz aus Auswanderungsentscheidung und frühem Erfolg. Familiäre und ethnische Netzwerke wurden ge­nutzt, um Erfolg im neuen amerikanischen Umfeld zu haben. Sie wurden ergänzt durch neu etablierte geschäftliche Netzwerke, zumal in der Einwandererstadt San Fran­cisco. Für diese war Kapital entscheidend, weniger die Herkunft. Die Offenheit einer Grenzland­situation erforderte zugleich aktives politisches Gestalten auf lokaler, regiona­ler und staatlicher Ebene. Dem konnte sich ein Unternehmer, zumal in der von politi­schen Rahmenbedingungen abhängigen Zuckerbranche, nicht verschlie­ßen. In einer demo­kratischen Gesellschaft ohne starken Staat war dies ein wichtiges Integrationsmo­ment. Die gesellschaftliche Anerkennung als Amerikaner, die schon früh medial in der Massen­presse verhandelt wurde, hatte für diese Elitenemigranten entsprechend hohe Bedeu­tung. Es ging nicht allein um Besitz, sondern auch um die Akzeptanz des unternehmeri­schen Handelns. Offensive Pressearbeit sowie gezieltes Mäzenatentum waren spätes­tens seit den 1880er Jahren die Folge.

Die simple Dichotomie des Deutsch-Amerikanischen verkennt die breit gefächer­ten Identi­tätsstrukturen dieser Zeit. Der jeweilige Lebensort war ebenso wichtig wie das Her­kunftsland. Kalifornien trat neben die Vereinigten Staaten von Amerika und wurde überwölbt durch neue transnationale Identitä­ten des westlichen Smart Set, einer globalen Oligarchie der Reichen und Superreichen. Der Blick auf die zweite Generation verweist auf sich stetig wandelnde Sozialisationen und kulturelle Selbstverständlichkeiten – wenngleich in unterschiedlichem Maße. Rückbezug auf das Deutschtum war für die Spre­ckels spätestens seit den 1880er Jahren lediglich ein Senti­ment, nicht mehr entschei­dend für die Alltagsgestaltung. Dies war für sie kein Verlust, sondern ein Übergang zu anderen Identitätsangeboten.

Der Bezug auf Deutschland war für die Spreckels gebrochen, weil das Vaterland Konkur­renz und Ideen- und Technologiezentrum zugleich war. Dies führte zu einer Rationali­sierung des Umgangs mit der früheren Heimat aus der Perspektive der damit verbundenen Chancen im amerika­nischen Umfeld.

Die Spreckels wurden Amerikaner von der ersten Generation an. Gleichwohl wurde der deutsche Hintergrund immer wieder von anderen Amerikanern – und auch Deutschen – thematisiert. Die Spreckels, zumal ab der dritten Generation, konnten sich jegliche Extrava­ganzen im gesell­schaftlichen Bereich leisten, ohne als Amerikaner hinterfragt zu werden. Sie praktizierten unterschiedliche Formen des Unternehmertums, die allesamt ihren Platz in der Wirtschaftsverfassung der USA hatten. Sobald sie aber den politischen Mainstream hinterfragten, wurden sie immer wieder auf den Status der Immig­ranten reduziert.

Uwe Spiekermann, 14. Juni 2022

Literatur und Anmerkungen

[1] Reinhard Bendix und Frank Howton, Social Mobility and the American Business Elite, in Seymour M. Lip­set und Reinhard Bendix (Hg.), Social Mobility in Industrial Society, New Brunswick 1992, 114-146, hier 138. Vgl. auch Walter A. Friedman und Richard S. Tedlow, Statistical Portraits of American Business Elites: A Re­view Essay, Business History 45, 2003, 89-113.
[2] Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann, Immigrant Entrepreneurship: The German-American Business Biography, 1720 to the Present. A GHI Research Project, Bulletin of the German Historical Insti­tute 47, 2010, 69-82; Uwe Spiekermann und Hartmut Berghoff, Immigrant Entrepreneurship: German American Business Biographies, 1720 to the Present. Zielsetzungen, Organisation und Herausforderungen eines Forschungsprojektes des Deutschen Historischen Instituts Washington, Jahrbuch der historischen Forschung: Berichtsjahr 2012 [2013], 53-61.
[3] Detailliert hierzu Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience since 1700, Washington 2016.
[4] Uwe Spiekermann, Family Ties in Beer Business: August Krug, Joseph Schlitz und the Uihleins, Yearbook of German-American Studies 48, 2013 [2015], 59-112.
[5] Andrea Colli, The History of Family Business, 1850-2000, Cambridge et al. 2003; Ders. und Mats Larsson, Family business and business history: An example of comparative research, Business History 56, 2014, 37-53; Andrea Calabrò (Hg.), A Research Agenda for Family Business. A Way Ahead for the Field, Glos und Northampton, MA 2020; Hartmut Berghoff und Ingo Köhler, Verdienst und Vermächtnis. Familienunternehmen in Deutschland und den USA, Frankfurt/M. und New York 2020.
[6] Uwe Spiekermann, Claus Spreckels: A Biographical Case Study of Nineteenth-Century American Immigrant Entrepreneurship, Business and Economic History On-Line 8 (2010); Ders., Claus Spreckels: Robber Baron and Sugar King (2011) Claus Spreckels: Robber Baron and Sugar King | Immigrant Entrepreneurship (immigrantentrepreneurship.org) [12.06.2022].
[7] Allen Collins, Rio Del Mar, Aptos 1995 (Ms.), 6-10.
[8] Spreckels, Claus, Bancroft Library C-D 216-230, reel 25, C-D 230. Vgl. auch die hagiographische aber materialreiche Arbeit von William Woodrow Corday, Claus Spreckels of California, Phil. Diss. University of Southern California 1955 (Ms.).
[9] Die gängigen Angaben einer raschen Marktführerschaft lassen sich nicht bestätigen. Ende der 1860er Jahre besaß die Albany Brewery vielmehr einen lokalen Marktanteil von 10-12%, vgl. The Brewers, Daily Alta California (DAC) 1869, 20. Januar; The Brewers, ebd., 5. Februar.
[10] Angaben nach Claus Spreckels, in San Francisco. Its Builders Past and Present, Bd. I, Chicago und San Fran­cisco 1913, 3-10, hier 5; DAC 1864, 3. April; Kennedy Mining Company, DAC 1876, 31. Mai; Profits Show a Decrease, Chicago Daily Tribune (CDT) 1899, 2. Februar, 9; A Meeting of the Stockholders, DAC 1874, 10. März; Mission Creek Canal Company, DAC 1868, 10. Mai; DAC 1866, 10. Mai; DAC 1868, 20. März; Sacramento Daily Union (SDU) 1868, 6. April.
[11] John S. Hittell, The Commerce and Industries of the Pacific Coast, San Francisco 1883, 547, 550.
[12] Jacob Adler, Claus Spreckels. The Sugar King in Hawaii, Honolulu 1966, 3-15.
[13] Jon M. Van Dyke, Who owns the Crown Lands of Hawai’i?, Hawai’i 2008, 100-110; Jessica B. Teisch, Engineering Nature: Water, Development, & Global Spread of American [sic!] Environmental Expertise, Chapel Hill 2011, 134-150, insb. 137-141; Uwe Spiekermann, Das gekaufte Königreich: Claus Spreckels, die Hawaiian Commercial Company und die Grenzen wirtschaftlicher Einflussnahme im Königtum Hawaii, 1875 bis 1898, in Hartmut Berghoff, Cornelia Rauh und Thomas Welskopp (Hg.), Tat­ort Unternehmen. Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin und Boston 2016, 47-67.
[14] Uwe Spiekermann, Labor as a Bottleneck. Entangled Commodity Chains of Sugar in Hawaii and California in the Late Nineteenth Century, in Andrea Komlosy und Goran Music (Hg.), Global Commodity Chains and Labor Relations, Leiden und Boston 2021, 177-201.
[15] Vgl. etwa Outragous Monopoly, CDT 1882, 7. November, 8; Spreckels’ Monopoly, CDT 1883, 15. Januar, 6. Zur Stellungnahme der Zuckerpflanzer s. The Hawaiian Reciprocity Treaty, The Planters’ Monthly 1882, 188-196. Spreckels wies Vorstellungen eines etwaigen Monopols stets zurück, vgl. Claus Spreckels: The Sugar Monopoly, CDT 1882, 16. Dezember, 15.
[16] Prononciert etwa der Erfahrungsbericht Slave or Starve, CDT 1881, 18. Oktober, 5. Ankla­gend hieß es: „His monopoly is based upon injustice, corruption, and bribery” (Claus Spreckels’ Monopoly, CDT 1883, 9. Januar, 4). Zusammenfassend und starker abwägend John Tyler Morgan: Report from the Committee on Foreign Relations and Appendix in Relation to the Hawaiian Islands, Washing­ton 1894, 67-77.
[17] The Sugar Fraud, CDT 1882, 12. Februar, 2; A Hawaiian Sugar Monopoly, New York Times (NYT), 1882, 12. April. Zur allgemeinen Debatte s. Richard R. John, Robber Barons Redux: Antimonopoly Reconsidered, Enterprise and Society 13, 2012, 1-38.
[18] Sugar. Opposition to Claus Spreckels, CDT 1884, 20. Februar, 3; The Far West, CDT 1885, 4. November, 6; The Two Sandwich Kings, CDT 1887, 2. Mai, 9.
[19] The Coast Countries, DAC 1872, 16. Oct., 1.
[20] The Tariff on Sugar. Claus Spreckels tells about his Beet Sugar Business, NYT 1889, 10. Januar; Jimmie Don Conway, Spreckels Sugar Company: The first Fifty Years, Thesis San Jose State Univer­sity 1999 (Ms.); Gary S. Breschini, Mona Dudgel und Trudy Haversat, Images of America: Spreckels, Charleston et al. 2006. Zur Gesamtentwicklung der Branche s. Progress of the Beet-sugar Industry in the United States in 1902, Washington 1903.
[21] Spreckels in New York, CDT 1888, 7. März, 6; Claus Spreckels’ Idea, ebd., 13. Mai, 9.
[22] Spreckels‘ Refinery Absorbed, Washington Post (WP) 1892, 28. März, 1; There Will Be No More Competition Between Them, CDT 1891, 7. April, 5; Spreckels Tells of Money Disbursed, CDT 1895, 12. April, 5; David Genesove and Wallace P. Mullin, Predation and its rate of return: the sugar industry, 1887-1914, RAND Journal of Economics 37, 2006, 47-69.
[23] The Valley Road, San Francisco 1896; New Transcontinental Road, CDT 1898, 21. September, 10; Southern California Growing, Wall Street Journal (WSJ) 1906, 26. August, 7.
[24] Pacific Gas and Electric and the Men who made it, San Francisco 1926, 34-35.
[25] Alfred Darner: A Factor in the New San Francisco. The Claus Spreckels Building, Overland Monthly 30, 1897, 571-576; Michael R. Corbett, The Claus Spreckels Building, San Francisco, San Francisco 2013.
[26] Vgl. etwa Spreckels Ausführungen in Defies the Sugar Trust, CDT 1891, 9. August, 2; Hawaiian would fight, WP 1893, 18. September, 1; Claus Spreckels’ Indifference, ebd., 23. Oktober, 4.
[27] Spreckel’s Sugar, NYT 1883, 6. Januar.
[28] Stevens to Blount, CDT 1893, 30. November, 2.
[29] Die Zucker-Industrie in den Vereinigten Staaten von Amerika, Die chemische Industrie 24, 1901, 520-525, 563-569, hier 524. Die vorherige Einschätzung aus Der Zuckerkönig, Hansa 21, 1884, 128.
[30] Zitat n. Albrecht Wirth, Californische Zustände, Deutsche Rundschau 92, 1897, 65-85, hier 68; Noted Pioneer is Buried with Simple Rites, San Francisco Call (SFC) 1908, 29. Dezember, 3.
[31] Emil Ließ, Aus Kalifornien, Abendpost 1916, Nr. 268 v. 10. November, 3.
[32] Archiv der TIB/Universitätsarchiv Hannover, Best. 9, Nr. 45 und 46.
[33] National Archives and Records Administration, 1900 U.S. Federal Population Census, Line 97, Enumeration District 0113, Sheet B, 2.
[34] Hagiographisch: H. Austin Adams, The man, John D. Spreckels, San Diego 1924. Biographisch fundiert, doch mit vielen unternehmenshistorischen Lücken: Sandra E. Bonura, Empire Builder. John D. Spreckels and the Making of San Diego, Lincoln 2020.
[35] Hotel des Coronado History, hg. v. Hotel del Coronado Heritage Department, Coronado 2013.
[36] Million a Year List Still Growing, NYT 1914, 25. Oktober, 14.
[37] Vgl. Mike De Young Shot, CDT 1884, 20. November, 1; The Far West, CDT 1885, 7. Juni, 11; Young Spreckels Free, ebd., 2. Juli, 1; The Spreckels Trial, Los Angeles Times (LAT) 1885, 6. Juni, 4.
[38] California Jockey Club Organizes, CDT 1893, 4. Januar, 7; Day of Upsets at Bay District, CDT 1894, 22. März, 11; Ingleside Track Owners Disagree, CDT 1897, 12. März, 8; Another California Track, CDT 1901, 17. Mai, 7.
[39] Adolph Bernhard Spreckels, in San Francisco. Its Builders Past and Present, Bd. I, Chicago und San Fran­cisco 1913, 20-24, hier 22-23.
[40] Anthony Kirk, A Flier in Oil. Adolph B. Spreckels and the Rise of the California Petroleum Industry, San Francisco 2000.
[41] Legion of Honor. Inside and Out, hg. v. Fine Arts Museums of San Francisco, San Francisco 2013; Spreckels Leaves $14,944,495 Estate, Ogden Standard Examiner 1926, 14. Oktober, 13.
[42] Claus Spreckels Sued, NYT 1893, 26. November, 8; The Disgusting Squabble in the Spreckels Family, CDT 1895, 31. Mai, 16; At War with Two Sons, WP 1896, 19. Januar, 20.
[43] Maui’s Cane Fields, CDT 1898, 14. August, 33; Hearings held before the Special Committee on the Investigation of the American Sugar Refining Co. and others. House of Representatives, Bd. III, Washington 1911, 2209-2216.
[44] To Build Big Sugar Refinery, CDT 1902, 22. Juli, 3; Financial Notes, CDT 1922, 6. Dezember, 28; Detailliert hierzu Uwe Spiekermann, An Ordinary Man among Titans: The Life of Walter P. Spreckels (2015) (An Ordinary Man among Titans: The Life of Walter P. Spreckels | Immigrant Entrepreneurship (immigrantentrepreneurship.org) [12. Juni 2022]; Huge Judgment Against Spreckels, San Mateo Times and Daily News Leader 1940, 3. Februar, 12).
[45] ‚Gus‘ Spreckels Dies in Paris, Oakland Tribune 1946, 10. November, A-13.
[46] Vgl. Uwe Spiekermann, Cleaning San Francisco, cleaning the United States: The graft prosecutions of 1906-1909 and their nationwide consequences, Business History 60, 2018, 361-380.
[47] Slope Briefs, LAT 1906, 5. Mai, I3; Rudolph Spreckels, Christian Science Monitor (CSM) 1922, 15. August, 10.
[48] United Bank & Trust Co. of California, WSJ 1923, 21. August, 4; California Bank Merger, WSJ 1927, 23. März, 8; Kolster Radio Obtains Rights to 600 Patents, CSM 1928, 17. November, 1; Coast Frosts, Time 1929, 22. April; Broken Caneheart, Time 1932, 1. Februar; District Court of Appeal, First District, Division 2, California. Raine v. Spreckels et al., 77 Cal.App.2d 177, 174 P.2d 857.
[49] Rudolph Spreckels Tells R.C. Court of $33,000,000 Failure, San Mateo Times and Daily News Leader 1939, 26. Oktober, 1, 4.
[50] Military Items, DAC 1878, 22. Mai, 1; Horticultural Hall, DAC 1879, 27. April.
[51] Oakland Tribune 1904, 16. August, 6; Great German Library Classified, ebd. , 11. August, 12; Commemorate Gift of Great Library, ebd., 22. September, 9.
[52] Famous Physiologists Coming to California, LAT 1902, 12. November, 5. Im Gefolge gelang es auch, den Leipziger Chemiker Wilhelm Ostwald (1853-1932) für Vorträge zu gewinnen (Sends Report to Governor, SFC 1905, 22. Januar, 34; Savant will soon come to University, SFC 1905, 18. März, 6).
[53] Heads Off Sugar Strike, NYT 1913, 15. April, 20.
[54] Rudolph Spreckels Raises Salaries, LAT 1917, 4. Januar, I5.
[55] Chilean Brutality, Los Angeles Herald 1891, 22. Dezember, 1; On the Naval List, San Francisco Morning Call 1892, 26. Januar, 2; Merritt is Leader, CDT 1898, 5. Juni, 3.
[56] Bernice Scharlach, Big Alma. San Francisco’s Alma Spreckels, San Francisco 2015.
[57] Opposing Spreckels, The California Outlook 14, 1913, Nr. 24, 3; Waging War on Spreckels, LAT 1913, 8. Juni, I4. Spreckels selbst stellte in diesem, wie in allen anderen Fällen klar, dass er für ein öffentliches Amt nicht zur Verfügung stehen würde.
[58] John D. Spreckels Yacht Returns Home With Gold Star: Knocked Out the Submarine That Sank the Lusitania, Eau Claire Leader 1919, 9. März, 6.
[59] Jeanne Redman, San Francisco’s Cup of Bitterness, LAT 1916, 30. Juli, III3; The Fickert Fight, LAT 1917, 24. November, II4 (Zitat).
[60] W.P. Spreckels Barred From Sugar Plant, NYT 1918, 1. Mai, 11; Spiekermann, Walter P. Spreckels.
[61] Spreckels’ Panacea, WP 1930, 25. September, 6.

Carne pura – Fleischpulver, Volksnahrungsmittel, Fehlschlag

Carne pura, reines Fleisch… Dieser Markenname der 1880er Jahre steht für die Nöte und Visionen dieser Zeit, für Forschungsdrang, Geschäftsinteressen und einen veritablen Bankrott. Wissenschaft und eine global ausgreifende Wirtschaft waren, so die Botschaft, Garanten für die Minderung der sozialen Spannungen, strebten nach gesunder und kräftiger Ernährung auch und gerade der Ärmeren. Carne pura war neu, materialisierte die Schaffenskraft starker Männer und die Verheißungen der Moderne. 140 Jahre ist das her; und das Spiel wiederholt sich auch heute tagtäglich, wenngleich in anderem Gewande, mit anderen Marken und Begründungen.

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Der Carne pura-Pavillon auf der Berliner Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen 1883 (Die weite Welt 8, 1883, 504)

Vergegenwärtigen wir uns einmal Berlin im Sommer 1883: „Jeder Fremde muß in die ‚Hygienische!‘“, hieß es damals. „Jeder, dem ein Bädeker unter dem Arme und die Lust, Neues und Interessantes zu sehen, in der Brust saß, pilgerte nach den Anlagen und Räumen der hygienischen Ausstellung, wo das große Buch ‚von der gesunden und kranken Menschheit‘ aufgeschlagen war“ (Friedrich Schwab, Reiseplaudereien II., Prager Tagblatt 1883, Nr. 291 v. 20. Oktober, 1-3, hier 1). Berliner und Fremde blickten auf die wissenschaftlichen Errungenschaften, staunten ob der Fortschritte, freudig, da die Wissenschaft „immer weiter vorschreiten und gegen Gefahren aller Art Schutz bieten wird“ (Allgemeine deutsche Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen zu Berlin 1882/83, Die weite Welt 8, 1883, 515-516, hier 516). Teil dessen war der glänzende Carne pura-Pavillon, ein Muss auf der Hygienischen. Dort wurde man kundig aufgeklärt, konnte kosten von einem neuen Fleischpulver, von zahllosen damit bereiteten Speisen. Kräftig, ja würzig im Geschmack, wurde es als unbegrenzt haltbar gepriesen, war zudem billiger als Frischfleisch. War man im Pavillon Zeuge eines anbrechenden neuen Zeitalters preiswerter Ernährung, allseitiger Verfügbarkeit der teuren und begehrten Essenz des Rindfleisches? Die Macher, allesamt veritable Männer, waren davon überzeugt. Sie waren seriöse Mitglieder der bürgerlichen Klassen. Gegen die massiven Überschwemmungen im Rheinland hatten sie schon im Winter 10.000 Portionen Carne pura gespendet und in eigens errichteten Suppenanstalten den Flutopfern Beistand geleistet (Carne pura, Wiener Presse 1882, Nr. 1 v. 17. Dezember, 5). Die Welt würde besser werden – und Carne pura Teil davon.

Fleischgier und der Ausgriff nach Südamerika

Ja, die Welt. Die Besucher kosteten in Berlin tatsächlich das Endprodukt eines weltweiten Ausgriffs auf die Fleischreserven der Welt. Wissen, können, haben. Neue Maschinen, vor allem aber die immer größeren Segelschiffe, die immer mächtigeren Dampfer machten sie verfügbar: „Die Bisonheerden der nordamerikanischen Prairien, die halbwilden Rinder der Pampas in Südamerika, der Falklandsinseln, die Millionen der Antilopen, Gazellen, Gnu’s, Springböcke etc., welche Südafrika durchwandern, die podolischen Rindviehheerden der südrussischen und asiatischen Steppen, die Schafe Australiens etc. geben noch auf Jahrhunderte Material genug her, um die Menschheit mit hinreichender Fleischnahrung zu versehen“ (Wilhelm Hamm, Nationalökonomische Zeitfragen. Zur Ernährung des Volkes: Billiges Fleisch. (Fortsetzung.), Allgemeine Rundschau 1865, Nr. 37 v. 10. September, 304).

Dieser Ausgriff auf die naturalen Ressourcen hatte viele Väter, Handelstreibende, vor allem aber Wissenschaftler. Deutsche standen hintan gegenüber Briten, Franzosen, Niederländern, doch ihre Zugriffe erfolgten trotz fehlender in den Boden gerammter Flaggen. Der im 18. Jahrhundert massiv ausgeweitete, im 19. Jahrhundert dann in große Kolonialreiche mündende Blick über die Grenzen Europas machte den Blick frei für die massiven Unterschiede zwischen den Weltregionen – und das betraf weniger Kulturen, sondern vorrangig Rohstoffe und Preise. Fleisch war in Übersee billig zu haben. Und Fleisch war knapp und teuer in den immer dichter bevölkerten Staaten Europas. Doch es war Frischware, also verderblich. Transport war erforderlich und eine Mechanik der Bewahrung.

Die dazu hierzulande bekannteste Idee der Mitte des 19. Jahrhunderts stammte vom Münchener Chemiker Justus Liebig (1803-1873). Er wusste von den großen, noch vielfach wild lebenden Rinderherden der südamerikanischen La-Plata-Regionen, die zwar zunehmend eingefangen und getötet wurden, von denen man aber lediglich die Felle zur Lederproduktion nutzte. In den 1870er Jahren schätzte man die Zahl der Rinder in den Pampas auf etwa 30 Millionen (Linzer Volksblatt 1878, Nr. 250 v. 29. Oktober, 1). Dort bestanden unabhängige Siedlerkolonien, bürgerliche Republiken, der spanischen Herrschaft entronnen. Kühltechnik war jedoch noch nicht entwickelt; Pökeln und Trocknen veränderten den Geschmack des Fleisches gravierend. Liebig empfahl daher ein zuvor in Frankreich entwickeltes Verfahren des Auskochens und Filtrierens: Am Ende würde die Essenz des Fleisches stehen, die wertvollen Inhaltsstoffe eingedickt. Von Wasser und Ballast befreit würde dieser Fleischextrakt erlauben, den Überfluss Südamerikas zumindest teilweise in Deutschlands Küchen zu lenken. Erfolgreiche multinationale Konzerne entstanden seit Mitte der 1860er Jahre, mochte Liebigs Idee vom nährenden Extrakt auch trügen. Er enthielt kein Eiweiß, keine Nährstoffe – und die mit dem Extrakt verbundenen Ideen billigen Fleisches für die minderbemittelte Bevölkerung erforderten offenkundig andere Technologien.

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Der Gaucho, die Rinder und das Markenprodukt: Nachklang des Ausgriffs auf die naturalen Ressourcen Südamerikas (Fliegende Blätter 115, 1901, Nr. 2920, Beibl., 2)

Anregungen dazu kamen aus der sog. Münchener Schule der Ernährungsphysiologie, einem Kreis von Kollegen und Schülern Liebigs, die nicht nur die Grundlagen der modernen Stoffwechsellehre etablierten, sondern die auch Wissenschaft in liberaler Verantwortung für das Gemeinwesen betrieben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 37-42). Die trotz auskömmlicher Grundversorgung stetig gefährdete Eiweißversorgung der Bevölkerung sollte mittels Expertenwissens gesichert werden. Der Physiologe Carl Voit (1831-1908) forderte 1869, dass man über den Import von Fleischextrakt und die als Dünger und Futtermittel dienenden ausgelaugten Fleischreste hinausgehen müsse, um „das ganze Fleisch trocken oder frisch auszuführen“ (zit. n. Marie Ernst, Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker. Ein Kochbuch, Bd. 1, Leipzig 1886, 515). Mangels leistungsfähiger Kühltechnik war die Fleischtrocknung offenbar der Königsweg. Das Verbrennen des nicht zu verwertenden Fleisches schien ihm, aber auch dem Agrarchemiker Julius Lehmann (1825-1894), eine Sünde wider die Natur und den menschlichen Geist zu sein (Julius Lehmann, Untersuchungen über die chemische Zusammensetzung der Fleischextract-Rückstände und über den Nährwerth derselben bei Schweinen, Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern 63, 1873, 3-16, hier 5-6). Fleischextrakt, die hier nicht zu behandelnden Fleischpeptone und das nun wieder in den Blick tretende Carne pura waren wissenschaftliche Geisteswaren, die auf Technik und Chemie gründeten. Sie waren zugleich Ausdruck eines informellen Kolonialismus, der überseeische Länder nicht direkt in Besitz nehmen musste, um einvernehmlich zugreifen zu können. Wissen, können, haben.

Ein neuartiges Fleischprodukt: Forschungen zu getrocknetem Fleischmehl

Auch Franz Adolf Hofmann (1843-1920) entstammte der Münchener Schule (C[arl] Flügge, Franz Hofmann †, Deutsche Medizinische Wochenschrift 46, 1920, 1173). Er hatte dort bei Max Pettenkofer (1818-1901) studiert. Der ist gemeinhin als Vater der modernen Hygiene bekannt, optimierte aber zwischen 1850 und 1852 auch die Herstellung des Fleischextraktes. Ab 1872 institutionalisierte Hofmann in Leipzig das neue Fach der praktischen Hygiene, wurde 1878 dann auf den dort neu eingerichteten Lehrstuhl für Hygiene berufen. Hofmann war ein liberaler Streiter für eine moderne öffentliche Gesundheitsfürsorge, engagierte sich für eine leistungsfähige Wasserversorgung, für Kläranlagen, Großmarkthallen und einen städtischen Schlachthof. Zugleich aber entwickelte er ab Mitte der 1870er Jahre ein neues Produktionsverfahren für Trockenfleisch, für Fleischmehl (Franz Hofmann, Die Bedeutung von Fleischnahrung und Fleischconserven mit Bezug auf Preisverhältnisse, Leipzig 1880, 108-118; daraus auch die folgenden Zitate).

Franz Hofmann war ein „Ritter des Fleisches“, so die Sektenklage vieler Vegetarier. Wie für alle Mitglieder der Münchener Schule war für ihn die Welt ein steter Stoffwechsel. Ernährung verstand er als rationales Unterfangen, die besten Speisen schienen die, „welche für den niedrigsten Preis das dem Menschen nöthige Nahrungsquantum in schmackhafter Form gewähren.“ Die „Körpermaschine“ verdaute aber animalische Nahrung deutlich effizienter als pflanzliche. Die Armenkost der breiten Mehrzahl sei daher defizitär, das Siechtum in den Gefängnissen und Armenhäusern belege dies hinlänglich. Animalische Kost schmecke zugleich besser. Allein die hohen Kosten schnitten die Mehrzahl vom Kauf ab. Technik könne helfen, das billige südamerikanische Fleisch auf die deutsche Tafel zu setzen.

Die Trocknung von Fleisch wurde in deutschen Landen schon seit langem praktiziert – häuslich und gewerblich (Johann Carl Leuchs, Die Kunst zu trocknen, Nürnberg 1829). Die Münchener Schule führte viele ihrer Stoffwechselversuche an Hunden durch, die in Respirationsapparaten Wasser und getrocknetes Fleischmehl erhielten. Es gab zahllose Patente (Ch[ristian] Heinzerling (Hg.), Die Conservirung der Nahrungs- und Genussmittel, Halle a.S. 1884, 147-148). Doch das Trockenfleisch war Notbehelf, sein Geschmack wurde mit wachsender Eiweiß- und Fettzersetzung zunehmend muffig, schlug schließlich ins Ekelige um. Fortschritte gab es, parallel zum verbesserten Wissen um Eiweißchemie und Sensorik. Kein geringerer als der britische Hygieniker Arthur Hill Hassall (1817-1894) hatte Mitte der 1860er Jahre mit seinem Produktionsverfahren einen neuen Standard gesetzt. Sein Fleischmehl entstand durch eine langsame Trocknung bei relativ niedrigen Temperaturen. Dies verhinderte nicht nur die Gerinnung des Eiweißes, sondern nutzte auch die Diffusionswirkung des Fleischsaftes selbst. Das Hassallsche Fleischmehl zielte vor allem auf die Schiffs- und Militärverpflegung, doch es diente auch der Fortifizierung anderer Lebensmittel. Vermengt mit Kakao oder aber Zwieback stärkte es Kranke und Rekonvaleszente (Conserviren von Nahrungsmitteln, Deutsche Industrie-Zeitung 1, 1867, 396-397).

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Trocknungsapparat zur Produktion von Fleischpulvers (Dingler’s polytechnisches Journal 247, 1883, 336)

Hofmann nahm die Grundgedanken Hassalls auf, führte sie weiter: „Das einzig richtige Verfahren des Fleischtrocknens kann somit nur darin bestehen, die Austrocknung anfangs bei niederer Temperatur einzuleiten um einen Theil des Wassers zu entfernen und am Fleisch eine äussere undurchlässigere Trocknungsschicht zu bilden, dann die Temperatur zu steigern um die vollkommene Gerinnung und Austrocknung ohne jeden Verlust zu erzielen“ (Hoffmann, 1880, 110). Während Hassall sein Fleischmehl rasch öffentlich vermarktete, setzte Hofmann allerdings auf langwierige Tests, die spätestens 1876 einsetzen und auch 1880 noch nicht beendet waren. Gleichwohl war er damals überzeugt, dass das nach seinem Verfahren hergestellte Fleischmehl, „wegen seines Geschmackswerthes sowie des Nährwerthes das geeignetste Zusatzmittel zur Pflanzenkost“ sei (Ebd., 115).

Hofmann war der Ideengeber von Carne pura – doch zum Taktgeber und Propagandisten mutierte ein Geschäftsmann ganz anderen Kalibers: Carl Alphons Meinert, 1843 in Leipzig geboren, 1888 in seinem südlich davon liegenden Gut verstorben. Hofmann war Wissenschaftler, Meinert wollte dies gerne sein. Hoffmann gestaltete, auch als Stadtverordneter, die Konturen seiner neuen Heimatstadt, Meinert wollte dagegen als Geschäftsmann die Konturen des neuen Deutschlands verändern. Hoffmann regte an, überließ die Patentierung seines Verfahrens anderen. Meinert dagegen sah eine Geschäftschance, eine Möglichkeit, einen Abdruck in der Welt zu hinterlassen.

Carl Alphons Meinert entstammte einer wohlhabenden Leipziger Kaufmannsfamilie. Er ehelichte eine Adelige, Anna Margaretha von Bünau (1843-1919), mit der er zwei Kinder, Reinhold (*1870) und Edith Pauline (*1872) hatte. Auch seine Schwester Margarethe heiratete später einen Rittergutsbesitzer (Leipziger Tageblatt 1876 v. 163 v. 11. Juni, 3355). Schon im Alter von 22 Jahren firmierte Meinert als Doktor der Rechtswissenschaften (Ebd. 1868, Nr. 94 v. 3. April, 2507), doch Zeitgenossen stellten dessen Echtheit in Frage (Ebd. 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451) – und einen Nachweis für die Promotion habe auch ich nicht finden können.

04_Der saechsische Erzähler_1873_03_08_Nr020_p4_Lübeckische Anzeigen_1874_01_28_Nr23_p4_Emil-Meinert_Fischguano_Düngemittel_Fleischextrakt_Buschenthal

Carl Alphons Meinerts Wirkungsfeld väterliches Geschäft: Anzeigen für Fischguano und Fleischextrakt (Der sächsische Erzähler 1873, Nr. 20 v. 8. März, 4 (l.); Lübeckische Anzeigen 1874, Nr. 23 v. 28. Januar, 4)

Der junge Kaufmann trat früh in das Geschäft seines Vaters Emil Meinert ein. Dieser war im Düngemittelhandel tätig, gleichsam auf den Spuren der Liebigschen Agrikulturchemie. Seit 1860 konzentrierte er sich auf den Import von norwegischem Fischguano (Grünberger Wochenblatt 37, 1861, Nr. 53 v. 4. Juli, 2). Dies war Fischkot, ein natürlicher Dünger, dessen Wirksamkeit er in agrarwissenschaftlichen Versuchen in Möckern und Proskau wissenschaftlich erproben ließ – in letzterer Versuchsanstalt war Julius Lehmann aus München Professor (Der Landwirth 9, 1873, Nr. 18 v. 3. März, 76; ebd. 11, 1875, Nr. 94 v. 23. November, 488). Trotz dieser Spezialisierung war das Meinertsche Handelsgeschäft breit aufgestellt. Kontakte nach Südamerika gab es nicht zuletzt durch den Vertrieb von üblichem Peru-Guano sowie von Chili-Salpeter (Leipziger Tageblatt 1869, Nr. 160 v. 9. Juni, 5317). Emil Meinert war zugleich ein Tüftler, aktiv in der Leipziger Polytechnischen Gesellschaft. Ab 1869 übernahm er zudem die Generalagentur für Buschenthals Fleischextrakt (E[duard] Reichardt, Ueber die chemische Untersuchung von Fleischextract, Dingler’s polytechnisches Journal 194, 1869, 505-507, hier 505). Während des russisch-osmanischen Krieges versorgte sie die russische Regierung mit dem fleischhaltigen Suppenpräparat (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 17 v. 17. Januar, 322). Carl Alphons Meinert lernte im väterlichen Geschäft also viel über internationalen Handel, über Agrarwirtschaft und Maschinentechnik – und auch über Werbung für neue wissensbasierte Kunstprodukte.

Dennoch musste Emil Meinerts derweil auch auf Zement- und Kommissionsgeschäfte ausgeweitete Firma im Juni 1877 ihre Zahlungen einstellen (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 174 v. 23. Juni, 3693). Die Firma erlosch im Juli, und der nachfolgende Konkurs betraf nicht nur sein Vermögen, sondern auch das seiner beiden Söhne Carl Emil und Carl Alphons (Ebd., Nr. 198 v. 17. Juli, 4185; ebd., Nr. 236 v. 24. August, 4905). Für letztere war dies ein gravierender Einschnitt, doch sie machten weiter. Bereits im September 1877 wurde in Leipzig die Firma M. Meinert gegründet. Carl Alphons Ehefrau fungierte als Inhaberin, sein Bruder Carl Emil als Prokurist (Ebd., Nr. 254 v. 11. September, 5268). Parallel aber intensivierte Carl Alphons Meinert seine praktische Arbeit am Hofmannschen Fleischmehl. Er etablierte eine „Versuchsstation“, in der bis 1880 mehrere Tonnen Fleisch auf unterschiedliche Arten getrocknet wurden (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, 5). Dieses Trockenfleisch wurde nach Argentinien verschifft, dort die Auswirkungen des Transportes untersucht. Wichtiger waren Tests, ob eine derartige Verarbeitung auch in Übersee möglich war. In Deutschland führte Meinert parallel physiologische Versuche an Arbeitern durch – und konnte auf diese Weise auch den Geschmack des Fleischpulvers erproben. Ende 1880 legte er seine Ergebnisse in einem zweibändigen Werk vor (Armee- und Volksernährung. Ein Versuch Professor C. von Voit’s Ernährungstheorie für die Praxis zu verwerthen, 2 T., Berlin 1880). Der Widerhall war wohlwollend.

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Werbung für Meinerts frühe Werbeschriften für Carne pura (Allgemeine Zeitung 1881, Nr. 333 v. 29. November, Beil., 4904 (l.); Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1882, Nr. 244 v. 20. Oktober, 4540)

Etablierung einer leistungsfähigen Firma

Zu diesem Zeitpunkt war das Produktionsverfahren des neuartigen Fleischmehls bereits patentiert worden. Rechts- und Urheberschutz wurde Ende 1878 von der neu gegründeten Firma M. Meinert und dem Hamburger Kaufmann Johann Conrad Warnecke jr. (1817-1893) beantragt und am 2. Dezember 1879 gewährt (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 283 v. 2. Dezember, 6). Die „Combination verschiedener Verfahren zur Herstellung einer neuen Sorte Fleischmehl“ war Ergebnis des jahrelangen Pröbelns Hofmanns und Meinerts: Frischfleisch wurde vom sichtbaren Fett befreit, dann mit 2-3 Prozent Salz bestreut, anschließend bei variablen Temperaturen zwischen 50 und 60 °C vorgetrocknet, bei 100 °C völlig getrocknet und schließlich vermahlen. Auch an die Fleischhygiene war gedacht: „Um Insekten abzuhalten, sollen die Räume, in denen das Fleisch bearbeitet wird, so stark mit Schwefelkohlenstoffdampf erfüllt werden, als die Arbeiter vertragen können“ (Herstellung von Fleischmehl, Dingler’s polytechnisches Journal 236, 1880, 85). Die Patentierung zeigte Meinert als treibende Kraft, Warnecke war vornehmlich Finanzier. Sein Handelshaus importierte Kolonialwaren und skandinavische Güter, später wurde er Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Die Firma Conrad Warnecke musste im September 1882 allerdings aufgrund beträchtlicher Verluste im Importhandel die Zahlungen einstellen (Chemiker-Zeitung 6, 1882, 1007).

Meinert und Warnecke standen nun vor der Aufgabe Wagniskapital für die Produktion und den Vertrieb des „Patentfleischpulvers“ einzuwerben – und es sollten fast zwei Jahre zwischen der Patenterteilung und der Firmengründung vergehen. Das dürfte zum einen an der komplexen Aufgabe gelegen haben, ein multinationales Unternehmen aufzubauen. Während die verschiedenen Fleischextrakte in uruguayischen oder argentinischen Hafenstädten produziert und in Europa lediglich kontrolliert wurden, sollte die Wertschöpfung des neuen Fleischmehls nicht primär in der überseeischen Peripherie, sondern vorrangig im europäischen Zentrum erfolgen. In Südamerika sollte lediglich das Fleisch getrocknet und versandfertig gemacht werden, weitere Produktionsschritte inklusive der Vermahlung und der Verarbeitung zu Carne pura-Produkten für den Letztkonsumenten dagegen im Deutschen Reich erfolgen. Zum anderen wusste man um den nur begrenzten ökonomischen Erfolg des Hassallschen Fleischmehls – auch wenn es sich bei dem Patentfleischpulver natürlich um eine verbesserte Variante handelte.

Die „Carne Pura, Patent-Fleischpulver-Fabrik, Actiengesellschaft“ wurde schließlich am 15. September 1881 in Hamburg gegründet (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 240 v. 10. Oktober, 7). Ziel war die Produktion und der Vertrieb von Fleischpulver und Conserven. Das Kapital betrug stattliche 600.000 M (Deutscher Reichsanzeiger 1881, Nr. 239 v. 12. Oktober, 8). Carl Adolph Meinert war technischer Beirat und zuständig für Produktion und – in unserer Sprache – Marketing. Der Vorstand bestand aus Hamburger Kaufleuten. Neben Warnecke und Ferdinand Kob stand Julius Richter (1836-1909), ein Bankier und Investor, der zwei Drittel der Aktien zur Subskription hielt, der dafür also weitere Investoren suchte. Auch die genaue Firmenstruktur war noch unklar: Als Produktionsländer waren anfangs Argentinien, Uruguay und Brasilien im Rennen (Carne Pura. Patent Fleischpulver-Fabrik, Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 187 v. 4. August, 2).

Der hohe Kapitalbedarf resultierte auch daraus, dass die Aktiengesellschaft erst einmal das Fleischmehlpatent für 75.000 M in bar und 25.000 M in Aktien erwerben musste. Dies sollte die bisherigen Auslagen decken. Zudem forderten M. Meinert und Warnecke eine „Rente“ von 20 Pfennig je Kilogramm Fleischpulver. Für eine Billigware war dies eine denkbar schwere Hypothek. Und doch, Venture-Capital ist immer eine Frage des in Aussicht gestellten Ertrages. 18,5% seien pro Jahr zu erwarten, die Produktion dürfte bei jährlich etwa 300,000 Kilogramm liegen. Die Aktionäre hatten 20% der Aktiensumme unmittelbar einzuzahlen, der Rest würde dann peu á peu abgerufen werden (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451). Franz Hofmann war zu diesem Zeitpunkt längst mit anderen Dingen beschäftigt, war an der Firma nicht beteiligt und hatte von den Plänen und Statuten erst aus der Zeitung erfahren (Ebd., Nr. 222 v. 10. August, 3506). Sein Name war jedoch Teil des werbenden Statuts – ebenso wie die Carl Voits, Max Pettenkofers und vieler anderer Gelehrten und Militärs. Ja, Militärs, denn Carne pura sollte zwar mit höchstens 4 M pro Kilogramm deutlich günstiger als Fleisch verkauft werden, doch die stehenden Armeen Preußens, Bayerns und Württembergs waren finanzstarke Interessenten. Wichtig auch: Die Gewinne würden vorrangig in das Unternehmen und an die Investoren fließen, erst danach müsse die „Rente“ an die ursprünglichen Patentinhaber gezahlt werden. Die Journalisten waren dennoch zwiegespalten. Doch ein Jahr vor Gründung des Deutschen Kolonialvereins war die Carne pura AG auch ein nationales Unterfangen, ein „Segen für unser deutsches Volk und unsere deutsche Armee“ (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 224 v. 12. August, 3536). Das Argument billigen Fleisches zog ebenfalls – schließlich war es erklärtes Ziel der Regierungspolitik, das Deutsche Reich zu einem mustergültigen Sozialstaat auszubauen, in dem Sozialdemokraten überflüssig waren. Entsprechend erfreuten sich die meisten Journalisten an dem noch virtuellen Produkt, sei man doch „endlich im Besitz einer Conserve, die auch dem Unbemittelten zugänglich ist.“ Und der Geschmack sei gut: „Selbst der zweite Aufguß überragt noch manche Fleischsuppe, wie sie auf dem Mittagstisch in manchen Familien erscheint“ (Zur Volksernährung, Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 233 v. 21. August, 3665-3666, hier 3665).

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Verlegung von Hamburg nach Bremen (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 286 v. 2. Dezember, 8)

Geld macht sinnlich – und die neu gegründete Firma bewegte sich: Schon im Dezember 1881 verlegte sie ihren Sitz nach Bremen, folgte damit der sich nun herauskristallisierenden Gruppe der Investoren (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 90 v. 17. April, 8). Mit dem knapp 50-Jährigen Heinrich Hollmann hatte man einen aus Bremen stammenden Direktor für die in Buenos Aires angesiedelten Trocknungsanlagen gefunden. Am 15. März 1882 wurde ein neuer Aufsichtsrat gewählt, der die Investorenstruktur widerspiegelte (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 53 v. 5. März, 8). An der Spitze stand mit Ludwig Gottfried Dyes (1831-1903) ein renommierter Bremer Kaufmann, Mitbegründer der dortigen Deutschen Nationalbank. George A. Albrecht (1834-1898) war Inhaber des Bremer Baumwoll-Handelshaus Joh. Lange Sohn Wwe. & Co., Carl August Franzius (1835-1913) Versicherungskaufmann in der Hansestadt. Franz Eduard Lax stammte dagegen aus Minden, wo sein gleichnamiger Vater ein veritables Bauunternehmen etabliert hatte. Als Inhaber einer Knochen- und Düngerfabrik (Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie, Bd. 1, Leipzig 1873, 43) war er schon länger im Südamerikahandel aktiv. Er gewann später aufgrund der wohl 1885 einsetzenden Bestechung von Marineangehörigen notorische Bekanntheit (Altonaer Nachrichten 1890, Nr. 99 v. 29. April, 4). Der Berliner Kaufmann Arthur von Genschow schloss den Reigen ab (Leonhard Volkmar, Geschichte der „Ersten Fabrik condensirter Suppen von Rudolf Scheller Hildburghausen /Thüringen“ 1871-1947, Hildburghausen 1995, 101).

Nach Klärung der Finanz- und Personalfragen nahm der Betrieb an Fahrt auf. Die getrocknete Rohware wurde von Buenos Aires nach Bremen verschifft, dort zu Fleischmehl vermahlen. Dieses konnte direkt abgesetzt werden, wurde in der Regel jedoch zu Suppentafeln bzw. Suppenpatronen weiterverarbeitet (Stinde, 1882, 6). Dazu errichtete man in Berlin eine Konserven-Fabrik, die im April 1882 ihren Betrieb aufnahm (Deutsche Bauzeitung 1882, v. 31. Mai, 254). Um dies zu finanzieren, mussten die Aktionäre ihre Einzahlungen im April und Oktober 1882 komplettieren (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 110, v. 10. Mai, 8; Hamburger Nachrichten 1882, Nr. 254 v. 26. Oktober, 3). All diese Maßnahmen zielten auf eine spektakuläre Präsentation des Carne pura auf der im Sommer 1882 geplanten Hygiene-Ausstellung in Berlin. Den Pavillon konnten Sie schon sehen, eine illustrierte Prachtbroschüre war bei dem aufstrebenden Schriftsteller Julius Stinde (1841-1905) in Auftrag gegeben worden, den ich auch deshalb erwähnen muss, weil er in meinem Geburtsort verstarb.

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Warenzeichen der Carne pura AG (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, IV)

Und doch, ein Brand machte Mitte Mai 1882 diese Pläne zunichte (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 135 v. 15. Mai, Beilage, 1981). Obwohl der Carne pura-Pavillon nicht betroffen war, sollte die Ausstellung erst 1883 öffnen. Für das Bremer Startup-Unternehmen war dies ein schwerer Schlag. Der Markteintritt musste verschoben werden, doch die Fixkosten blieben. Immerhin besaß man ab September ein offiziell eingetragenes Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 211 v. 8. September, 6), das neben die Marke Carne pura trat – und den eher technischen Begriff des Patentfleischpulvers in den Hintergrund treten ließ.

Amerikanische Werbung: Probeessen und Vortragsveranstaltungen

Carne pura wurde schließlich mit einem Knall eingeführt, mit einer großen Sause „in echt amerikanischer Weise“ (Leipziger Tageblatt 1882, Nr. 311 v. 7. November, 5192). Am Sonntag, den 5. November 1882 waren nicht weniger als 3.000 Berliner geladen worden, im Wintergarten an einem Probeessen teilzunehmen. Nun, das gleichnamige Varieté wurde erst 1887 erbaut, doch es handelte sich um formidable Räumlichkeiten des größten Hotels der Reichshauptstadt, ein wenig unterhalb des Bahnhofs Friedrichstraße gelegen: „Wer sollte einer so aparten Einladung wiederstehen? Nachher bei dem schönen Wetter einen Spaziergang, dann den Kaffee bei Bauer nehmen, wie reizend! An die Herrscherin am häuslichen Herde erging also die Weisung: Wir kommen erst Abends nach Hause! Um 12 herum fand nach dem Centralhotel eine förmliche Völkerwanderung statt. Wer dorthin wallfahrtete, ist schwerer zu sagen, als wer nicht: Officiere aller Gradem sämmtlich im Helm, die Aerzte Berlins in großer Zahl, hervorragende Beamte, Professoren, Afrikareisende, Redacteure, Kaufleute, Industrielle – kurz, binnen einer halben Stunde war der Wintergarten des Centralhotels überfüllt“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 521 v. 7. November, 6). 2.000 waren gekommen, allesamt erwartungsfroh, allesamt hungrig – darunter auch mehr als 200 Arbeiter, die in einem Nebensaal ein Carne pura-Mahl erhielten. Die wohlgewandete Menge erfreute sich an den Klängen der Hauskapelle, besichtigte die ausgestellten Präparate, durchblätterte Prospekte und Drucksachen, doch Sitzplätze waren rar. Kleine Büffets mit Proben von Carne pura-Schokolade, -Bisquits und Fleischzwieback gähnten abgegessen leer. Um 13 Uhr schließlich trat Carl Adolph Meinert auf. Er sprach über die Ernährung allgemein, deren Unzulänglichkeit im Besonderen, lobte das Fleisch und kritisierte die Kartoffel, ließ den Blick gen Südamerika schweifen, sprach von deutscher Wissenschaft und endete mit dem Ideal der Zukunft, der Carne pura-Ernährung (Carne pura, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 520 v. 6. November, 2).

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Werbung im Vorfeld des großen Berliner Probeessens (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 519 v. 5. November, 8)

Das dauerte mehr als eine Dreiviertelstunde. Doch dann lenkte Meinert den Blick der zunehmend hungrigen Menge auf das reiche Angebot: „Fleischbrühe in Tassen, Julienne-Suppe aus Carne pura, Patentfleischbohnensuppe mit geröstetem Brod, Patentfleischerbsensuppe, Patentfleischbrodsuppe, Patentfleischgemüse mit Kartoffeln und Erbsen oder Linsen, Sauerkohl mit Kartoffeln in Carne pura gekocht, Carne pura-Graupen mit Kohlrabi und Kartoffeln, gekochtes Rindfleisch in Fleischbrühe etc., ferner Croquettes, Auflauf, Bisquits und Zwieback aus Carne pura“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1882, Nr. 519 v. 6. November, 2). All das gab es, gewiss, doch nur für die Recken, die sich auf dem alimentären Schlachtfeld durchsetzen, die sich im furchtbaren Gedränge behaupten konnten. Erst Besteck und Teller erobern, dann etwas Essbares, so die Devise; und manch Kompromiss musste geschlossen werden, mit Sitte und mit Tischetikette. Wer jedoch irgend in die Nähe der nach der Rede Meinerts hereingetragenen großen Kupferkessel gelangen konnte, „der kostete von der Bouillon, den Erbsen- und Linsensuppen und den sonstigen carne-pura-Genüssen“ (Berliner Tageblatt 1882, Nr. 520 v. 6. November, 3). Diejenigen aber, die leer ausgingen, standen nicht nur vor den Damen bedröppelt da, sondern sannen auf Ersatz. So stürmten Wagemutige den dekorativen „Gabentempel“, entnahmen die dort aufgestellten Verpackungen, öffneten sie erwartungsfroh, um festzustellen, dass sie mit Sand, mit märkischem, gefüllt waren. Und doch – das Resümee der Journalisten war so schlecht nicht: Carne pura war essbar, nichts für Gourmets, doch ganz in Ordnung. Man war sich allerdings nicht sicher, ob es sich als Volksnahrungsmittel würde durchsetzen können. Die große Sause hatte Spuren, die „amerikanische Reklame“ (Dresdner Nachrichten 1882, Nr. 313 v. 9. November, 2) durchaus Eindruck hinterlassen: „Wenn die Absicht der Gesellschaft dahin ging, die Einführung ihrer Fabricate mit Eclat zu bewerkstelligen, so dürfte sie ihren Zweck erreicht haben“ (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 313 v. 9. November, Beil., 4607). Famoses Chaos, durch den „der Zweck einer blitzschnellen Verbreitung des Carne pura-Renommées vollständig“ (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15) erreicht worden sei.

Werbung dieser Art war modern, brach mit tradierten Formen. Dr. Meinert war eben kein Nachfolger der Marktschreier, sondern präsentierte ein modernes, ein deutsches Wissensprodukt auf der Höhe der Zeit. Das Probeessen wandte sich vorrangig an die höheren Kreise, an Multiplikatoren wie die geladenen, vornehmlich in Wohltätigkeitseinrichtungen aktiven Damen. Die gespeisten Arbeiterhundertschaften boten gleichsam ein Abbild ihres Appetits, ihrer Bedeutung. Sie standen kräftig malmend aber auch für die Dankbarkeit der Massen gegenüber dem Einsatz der bürgerlichen und militärischen Spitzen der Gesellschaft. Die parallel verhalten einsetzende Anzeigenwerbung verwies explizit auf die Autorität der kontrollierenden Wissenschaftler. Mit Joseph König (1843-1930) hatte man den damals wichtigsten Nahrungsmittelchemiker Norddeutschlands gewinnen können, mit Paul Jeserich (1854-1927) nicht nur Meinerts Kompagnon bei der Kreation neuer Nahrungsmittel, sondern auch einen der später wichtigsten Gerichtsmediziner des Kaiserreichs. Ihre Namen unterstützten die wissenschaftliche und soziale Aura des Carne pura.

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Wissenschaftliche Werbung für Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 55 v. 24. Februar, 8)

Meinert selbst agierte im Winter 1882/83 als Vortragsreisender in eigener Sache. Seine Publikationen boten die Versatzstücke für Carne pura-Vorträge im ganzen Land. Nach der Berliner Großveranstaltung konzentrierte er sich nun aber auf kleinere Probeessen mit teils handverlesenem Publikum. In Leipzig lud man nur 20 Personen, meist Journalisten, zu einem Mahle, bei dem das Patentfleischmehl im Mittelpunkt stand, es aber doch von Weinen, Rinderfilet, Geflügel und Kompotten umkränzt wurde (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15). Zuvor in der Presse geäußerte Kritik griff die Firma auf, denn der nicht unbeträchtlichen Unsicherheit über Herkunft und Qualität des in fernen Ländern verarbeiteten Fleisches begegnete sie mit Verweis auf strenge Regierungsbeamte und schließlich der Anstellung eines deutschen Veterinärmediziners. Die Frage des Geschmacks ging Meinert in seinen Vorträgen offensiv an, kokettierte gar mit Vorwürfen, Carne pura würde nach Seife, Teer oder gar nach eingestampften Indianern schmecken (Der Vortrag des Herrn Dr. Meinert aus Berlin über das neue Nahrungsmittel Carne pura, Badischer Beobachter 1883, Nr. 75 v. 6. April, 3). Die Geladenen sollten selber kosten, wurden als urteilsfähig angesehen, das fleischige Gut würde für sich selbst zeugen. Die Vorträge dienten zugleich aber Vertriebszwecken allgemeiner Art, nämlich erstens der Werbung für neu eingerichtete Niederlagen, also Großhandels- und Einkaufsstätten, zum anderen aber dem Kontakt mit lokalen Militärs bzw. Vertretern der Wohlfahrtspflege (Carne pura, Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 58 v. 27. Februar, 1-2, hier 1). Die Firma konzentrierte ihre Direktwerbung auf die Ober- und gehobene Mittelschicht, vergaß aber nicht die soziale Agenda des Volksnahrungsmittels. In München waren unter den dort speisenden dreihundert Personen auch zehn Arbeitervertreter aus Augsburg (Carne pura, Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, 865).

Die Direktwerbung für Carne pura erreichte im Sommer 1883 ihren Höhepunkt, denn nun fand nach einem Jahr Aufschub endlich die internationale Hygieneausstellung in Berlin statt, „aus der Asche prächtiger entstanden“ (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 115 v. 19. Mai, 3) denn zuvor. Der mit zwölf elektrischen Glühlichtlampen illuminierte Carne pura-Pavillon (Elektrotechnische Zeitschrift 1883, 372-374, hier 373) lag längs der Invalidenstraße, nahe der Kochschule des Berliner Hausfrauenvereins und dem Gebäude mit dem Siemens-Verbrennungsapparat, der sich bei Stahl- und Glasfabrikation bestens bewährt hatte und nun seine lechzenden Flammen auch auf Leichen warf, menschliche und tierische. Der Pavillon war Informationsplattform und Küche zugleich: Die Resonanz war beträchtlich, die Speisen wurden neugierig gekostet und durchweg als „ganz schmackhaft befunden, wenn auch Einzelne sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen konnten, dass man aus getrocknetem Fleischpulver wohlschmeckende Bouillon und Speisen zu bereiten im Stande ist“ (J[oseph] König und [Eugen] Sell, Ernährung und Diätetik, Lebensmittel und Kost, in: Paul Boerner (Hg.), Bericht über die Allgemeine deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens, Bd. 1, Breslau 1883, 141-226, hier 172). Wie sehr das neue Fleischprodukt lockte, sah man insbesondere am Auflauf der hohen, ja höchsten Häupter: Kaiser Wilhelm I. und Kaiserin Augusta besuchten ihn am 5. Juni 1883 (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 129 v. 5. Juni, 3). Zuvor verbeugte man sich brav vor der Großherzogin von Baden und der Erbprinzessin Charlotte von Meiningen (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 211 v. 8. Mai, 2), dem König von Sachsen und seiner Gattin mit Kronprinz Wilhelm (dem späteren Kaiser Wilhelm II.) im Schlepptau (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 114 v. 18. Mai, 3). Auch der chinesische Gesandte Li Fong Pao „machte zahlreiche Einkäufe und Bestellungen, so im Carne pura-Häuschen“ (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 230 v. 21. Mai, 3). All das und mehr wurde huldvoll berichtet – und war eine stete Werbung für das Neue.

Die Berichterstattung über Carne pura auf der Hygiene-Ausstellung erlaubt es, Werbung, Sortiment und Anspruch der Firma genauer aufzufächern. Vier Punkte sind hervorzuheben: Erstens setzten die Fleischpulverhersteller ihre Direktwerbung auch andernorts fort, luden sie doch Multiplikatoren zu einer persönlichen Führung in ihre am Küstriner Platz gelegene Konservenfabrik. Diese stellte nicht nur Carne pura-Produkte her, sondern auch gängige Fleisch- und Gemüsepräserven für Haushalte und Armeebedarf. Nun aber standen die mit Carne pura vermengten Suppenpräparate im Mittelpunkt: Das in Bremen vermahlene Fleischpulver wurde in Berlin mit getrockneten, neuerlich erhitzten und dann fein vermahlenen Hülsenfrüchten vermischt. In weiteren Mischapparaten fügten die Arbeiter geschmolzenes Fett, Salz und verschiedene Gemüse hinzu. Porree, Zwiebeln, Sellerie und andere Bodenfrüchte gaben dem Mehl zusätzlichen Geschmack. Die so zusammengefügte Masse wurde anschließend abgewogen und in Patronen von je 125 Gramm gepresst. Dieses Komprimat war zylindrisch, etwa vier Zentimeter hoch und mit einem Durchmesser von sechs Zentimetern. Die vorportionierte Patrone konnte mit Wasser in einen Topf gegeben werden und sollte nach zehn bis fünfzehn Minuten Kochen eine fleischig-schmackhafte Suppe ergeben. Die äußere Aufmachung entsprach dem wissenschaftlichen Anspruch, denn lange, lange vor einschlägigen Kennzeichnungsverordnungen enthielt die Verpackung bereits genaue Angaben zu den Nährwertgehalten, bei denen der hohe Eiweißgehalt besonders hervorstieß (Theodor Scheller, Ueber Fleischconservirungsmethoden und deren Verwendung für Heereszwecke, Med. Diss. Berlin 1883, 11). Die Modernität der Angebote wies zugleich über den Gehalt hinaus, galt es doch, „den Hausfrauen die Aufgabe des Ankaufes der einzelnen Nahrungsmittel dadurch zu ersparen, daß man ihnen die letztern entweder bereits zu Kostrationen gemischt oder in einer derartig verbreiteten Form bietet, daß es nur einer kurzen Arbeit bedarf, um daraus preiswürdige Kostrationen zu bereiten“ (H[ugo] Fleck, Hygienische Wanderungen durch die Berliner Ausstellung. IV, Berliner Tageblatt 1883, Nr. 280 v. 19. Juni, 1-2, hier 1). Doch diese für viele Neuerungen der Zeit stehende Aussage rief zugleich Puristen hervor, die Carne pura allein als Fleischpulver, nicht aber als Bestandteil moderner Convenienceprodukte verstanden (Die allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens. II., Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 2, 1883, 275-289, hier 285).

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Produktionspalette der Carne Pura Aktiengesellschaft 1882 (Stinde, 1882, IV)

Zweitens: Die Firmenvertreter, zumal aber Carl Adolph Meinert, waren keine Puristen. Sie präsentierten in ihrem Pavillon eben nicht nur ein neuartiges Fleischpulver, sondern verstanden dieses als Teil einer tiefergreifenden Verwissenschaftlichung der Nahrungsmittelproduktion. Im Pavillon konnten die Gäste gängige Fleisch- und Suppengerichte verzehren, wurden aber auch an Neuerungen wie Patent-Fleisch-Schokolade, Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen sowie Patent-Fleischbiscuits und Patent-Fleisch-Zwieback herangeführt (Stinde, 1882, 30-31). Sie sollten Alltagsspeisen werden, Volksnahrungsmittel. Das unterstrich auch die Ausstellung des Pavillons durch den Leipziger Maler und Graphiker Gustav Sundblad (1835-1891), der durch seine zahlreichen Abbildungen in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ einem Millionenpublikum gut bekannt war. Carne pura war gewiss die wichtigste Innovation, pur oder aber vermischt. Es wurde jedoch ergänzt durch einen neuen, von Meinert entwickelten süßen Kaffee-Extrakt, ein neuartiges Dauerbrot sowie eine neue Margarine namens India-Butter, die Meinert zusammen mit Jeserich entwickelt hatte und im April 1882 patentiert bekam. Sie bestand aus Kokos- und Palmkernmehl, während die meisten Kunstbuttersorten noch aus tierischen Fetten bestanden (König und Sell, 1883, 177). Auch neuartiges Büchsenfleisch war erhältlich. Diese Angebotspalette wurde ergänzt durch Auftragsproduktion anderer Firmen für das Bremer Startup-Unternehmen. Die weltweit präsente Amsterdamer Firma J. & C. Blooker lieferte einen Patent-Fleisch-Kakao, die Kölner Teigwarenproduzenten C.A. Guilleaume & Söhne mit Carne pura versetzte Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen. Auch die Wurzener Bisquitfabrik F. Krietsch verarbeitete das Fleischpulver und lieferte Patent-Fleischbiscuits, Patent-Fleisch-Zwieback und Patent-Fleisch-Schiffbrot (Ludwig Krieger, Carne pura, Rundschau für die Interessen der Pharmacie, Chemie und der verwandten Fächer 1883, 159-161, hier 160). Wissenschaftliches und unternehmerisches Ziel war die Schaffung einer um das eiweißhaltige Carne pura herum gruppierten Palette haltbarer und gehaltvoller Nahrungsmittel.

Drittens kreiste die öffentliche Diskussion immer um den Geschmack des neuen Fleischpulvers. Die im Pavillon gereichten Näpfe wurden als nährend und appetitlich beschrieben (Paul von Schönthan, Die Hygiene-Ausstellung in Berlin. II., Die Presse 1883, Nr. 147 v. 31. Mai, 1-3, hier 3), insgesamt lag die Wertung bei ordentlich bis akzeptabel. Selbst Lohnschreiber der Firma konzedierten allerdings, dass Carne pura nicht wie Frischfleisch schmecke, ja, einen „etwas eigenthümlichen Beigeschmack und Geruch“ (König und Sell, 1883, 174) besäße. Ein führender Militärarzt sprach von einem „gewissen fremdartigen Beigeschmack“ (W[ilhelm] Roth, Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens zu Berlin im Sommer 1883. (Fortsetzung), Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 16, 1884, 161-269, hier 171). Andere Besucher erinnerten sich der famosen Erbswurst von 1870/71, die anfangs gerne genommen, mit der Zeit aber aufgrund ihres immer gleichen Geschmackes (und der langsamen Fettzersetzung) immer stärkeren Widerwillen hervorgerufen hatte (Lohmann, 1883, 361). Für die Firma waren dies Aufforderungen für technische Veränderungen und verbesserte Rezepturen ihrer Produkte.

Viertens schließlich diskutierten die Besucher des Carne pura-Pavillons die Zukunftsfähigkeit des Produktes, vorrangig also seine Marktgängigkeit. Das Marktpotenzial schien beträchtlich, doch darüber würde der zukünftige „Verbrauch im Kleinen“ (Scheller, 1883, 11) entscheiden. Zentral dafür war der Preis. Ohne eine weitere Preisreduktion sei Carne pura für den Massenmarkt schlicht zu teuer, könne daher einzig in die Truppen- oder Massenverpflegung Eingang finden (Fußnote bei Lohmann, 1883, 361). Dies galt, obwohl die meisten Besucher die Meinertschen Angaben von dem gegenüber Frischfleisch vermeintlich billigeren Fleischpulver durchaus wiedergaben. Chemiker und Physiologen stimmten ihnen auf Grundlage der Stoffbilanzen zu – und Carne pura besaß einen Eiweißgehalt von knapp 70 % (J[oseph] König, Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, T. 1, 2. sehr verm. u. verb. Aufl., Berlin 1883, 72). Im Alltag aber kämen auch andere Faktoren zur Geltung. Sie würden über die Zukunft des Carne pura entscheiden.

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Eine breite Produktpalette (Hamburger Nachrichten 1883, Nr. 42 v. 18. Februar, 12)

Der steinige Weg in den Massenmarkt

Das Marketing der Carne pura Aktiengesellschaft war für die 1880er Jahre ungewöhnlich, hinterfragt gängige Erzählungen von einer vermeintlich völlig rückständigen Werbung dieser Zeit (so etwa das Zerrbild von Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, 432-435). Doch Präsenz im Massenmarkt war mit einer reichsweit beachteten Direktwerbung nicht erreicht. Dazu musste ein Vertriebsnetz aufgebaut werden – und das war schwieriger zu erhalten als Gutachten von Multiplikatoren, die Care pura „eine grosse Zukunft“ vorhersagten (Carl Rüger, Attest v. 30. August 1883, Bundesarchiv R 86 Nr. 3442).

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Neue Nahrungsmittel und bewährte Absatzstrukturen (Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, Beil., 862)

Der damalige Lebensmittelhandel war noch entlang gestufter Absatzketten organisiert. Produzenten lieferten an Großhändler, diese an Agenturen und Kolonialwarenläden. Genaue Zahlen fehlen, doch kann man 1882 von ca. 200.000 Nahrungsmittelgeschäften ausgehen (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 704). Markenartikel waren selten, nationale Märkte gab es nur für wenige Artikel, die Läden führten ein aus heutiger Sicht sehr kleines Sortiment gangbarer Waren. Carne pura war haltbar, gewiss, doch es war ein neuartiges Produkt, das tradierte Ernährungsweisen in Frage stellte. Investoren waren gewonnen worden, die Produktionsstruktur war etabliert. Ende 1882 begann zudem Überzeugungsarbeit in den wichtigsten Städten des Deutschen Reichs: Großhändler und Agenturen mussten gewonnen werden, diese dann die Kleinhändler beliefern. Die Carne pura Aktiengesellschaft bot Flankenschutz, informierte das Publikum mittels Anzeigen über die lokalen Verkaufsstätten.

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Aufbau eines Vertriebsnetzes (Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 6 v. 7. Januar, 4)

In München konnte man beispielsweise in knapp zwei Dutzend Niederlagen Carne pura-Produkte kaufen. Dabei handelte es sich durchweg um teils seit langem etablierte Kolonialwarenhandlungen. Das Netzwerk wuchs im Frühjahr auf 22 Niederlagen an, blieb auf dieser Höhe, wenngleich mit leicht sinkender Tendenz (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 73 v. 14. März, 8; ebd. 1883, Nr. 238/239 v. 26. August, 12). In der Provinz waren die Verhältnisse begrenzter. Im oberfränkischen Coburg benannten die Anzeigen lediglich einen lokalen Händler (Coburger Zeitung 1883, Nr. 123 v. 29. Mai, 541).

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Etablierung im Feinkosthandel (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 171 v. 20. Juni, 5 (l.), Ebd., Nr. 119/120 v. 29. April, 4)

Dieses Vertriebsnetz ermöglichte einen allgemeinen Absatz, begrenzte ihn aber zugleich auf eine bürgerliche Käuferschicht. Während die Werbung der Bremer Firma ihre Produktpalette als solche präsentierte, banden die einzelnen Läden das neue Fleischmehl in ein anderes Umfeld ein, nämlich das von Kolonialwaren, Genussmitteln und Feinkost, das der gehobenen bürgerlichen Tafel. Angesichts der damals (und gewiss bis heute) üblichen sozialen Segregation der Einkaufsstätten kann von einem wirklichen Massenangebot daher nicht die Rede gewesen sein.

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Fehlende graphische Durchdringung (Rosenheimer Anzeiger 1883, Nr. 289 v. 19. Dezember, 3)

Vor Ort wurden Anzeigen durchaus in Einklang mit den Grundinformationen der Carne pura AG ausgestaltet. Doch dies betraf nur den Inhalt, die Worte: „Fleischnahrungsmittel, billig, nahrhaft, schmackhaft, haltbar. Garantie für Reinheit, Güte, Gehalt und Haltbarkeit. Amtliche und tierärztliche Controle der Fabriken in Buenos Aires und Berlin. […] Bedeutende Ersparnis an Brennmaterial und Zeit“ (Düsseldorfer Volksblatt 1883, Nr. 261 v. 29. September, 4) – das waren die Kernbotschaften abseits der Nennung von Produkt und Sortiment. Das neue Präparat wurde präsentiert, nicht aber genauer vorgestellt, nicht wirklich erklärt. Zugleich gelang es der Firma nicht, einheitliche graphische Anzeigenstandards durchzusetzen. Das mag auch an den begrenzten technischen Möglichkeiten vieler Zeitungen gelegen haben, doch Klischeewerbung war damals durchaus üblich. Carne pura war zwar Markenartikel, doch eine stringente Markenführung überforderte die Bremer Vertriebsabteilung. Überraschend ist auch, dass man parallel kein Versandgeschäft aufbaute. Dabei konnte man in dieser Zeit nicht nur bei Textilversendern wie etwa Rudolph Hertzog ordern, sondern auch Weine, Zigarren, Butter, Konserven oder aber Baumkuchen per Post und Nachnahme bestellen. Gewiss, dies wäre ein Bruch mit dem vielfach gängigen Borgwesen der Mittel- und Unterschichten gewesen. Doch Carne Pura war haltbar und gut verpackt, wäre also einfach zu versenden gewesen. Stattdessen begann schon die internationale Expansion des Produktes: In Österreich wurde Carne pura im September 1883 als Marke registriert (Wiener Zeitung 1883, Nr. 213 v. 16. September, 7). Auch im westlichen Ausland, etwa den Niederlanden, wollte man den Markt erobern.

Die Carne pura AG wählte allerdings andere Wege, durchaus in Einklang mit der Direktwerbung seit November 1882. Die Anzeigen mochten keine genaueren Informationen darüber enthalten, wie das neue Fleischmehl in der Küche zu verwenden war, doch die Firma schuf Hilfsmittel für die Hauswirtschaft. So wurde erst für die Kochkunstausstellung in Leipzig, dann auch für die Berliner hygienische Ausstellung die Leiterin der hannoverschen Kochschule Lina Kux engagiert, die nicht nur vor Ort kochte, sondern die Zubereitung auch (den bürgerlichen Besuchern) erklärte (Carne pura, Industrieller Anzeiger 1883, Nr. 5 v. 18. April, 34). Ihre Mutter, eine der nicht wenigen erfolgreichen Kochbuch- und Haushaltsschriftstellerinnen, offerierte ab Mai 1883 ein spezialisiertes Kochbuch mit nicht weniger als 187 Rezepten (Auguste Kux, Carne pura-Kochbuch. Erste populäre Anleitung, naturhafte, schmackhafte und billige Speisen aus den Carne pura-Nahrungsmitteln zu bereiten, 5. Aufl., Berlin 1883). Für 50 Pfennig billig zu haben, unterstützte das Büchlein den lokalen Absatz der Produkte (Elbeblatt und Anzeiger 1883, Nr. 62 v. 29. Mai, 6). Ab 1884 war es auch in niederländischer Übersetzung erhältlich.

16_Davidis-Rosendorf_1885_p638_Kartoffelsuppe_Carne-pura_Rezept

Suppenrezept mit Carne pura (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, 638)

Wie bei den Probeessen und den Ausstellungen setzte die Carne pura AG auf eine Art Rieseleffekt. Das gute Produkt würde sich durchsetzen, sobald vernünftige Menschen darüber in Kenntnis gesetzt wären. Weitere Kochbücher berichteten nach Honorarzahlungen über das neue Fleischmehl, präsentierten einschlägige Rezepte, „wenn auch die damit gemachten Versuche und Erfahrungen noch nicht abgeschlossen sein können“ (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, III). Die redaktionelle Reklame für das neue „Nahrungsmittel von großem Werte“ (ebd., 639) war zugleich ein doppelter Appell an das Bürgertum. Auf der einen Seite ging es um den Konsum von Carne pura, zumal als Grundstoff einer Fleischbrühe. Auf der anderen Seite war dessen Verbreitung eine soziale Mission: „Die alte Erfahrung, daß fast alles Neue mit Vorurtheilen zu kämpfen hat, muß bei der Einführung des Patent-Fleischpulvers ins Auge gefaßt werden und Jeder, der ein Herz für die Nothlage des Mitmenschen besitzt, möge sich an der planmäßigen belehrenden Einwirkung auf das Volk, sei es in weiteren oder engeren Kreisen betheiligen“ (Ernst, 1886, 522).

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Das Idealbild der Arbeiterfamilie (Stinde, 1882, 11)

Neben den Ausbau der Vertriebsstruktur und der hauswirtschaftlichen Fortbildung trat ab Anfang 1883 die Preisgestaltung. Dies schien vielen Beobachtern essenziell: „Wenn es Meinert wirklich gelingt, seine Präparate um die angegebenen billigen Preise zu liefern […], dann glaube ich nicht zu viel zu sagen, dass er damit bald alle Welt sich erobern wird“ (Vogel, Rez. v. Meinert, Armee- und Volksernährung, 1880, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 13, 1881, 462-464, hier 463).

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Preissenkung zur Marktdurchdringung (Der oberschlesische Wanderer 1883, Nr. 111 v. 17. Mai, 4)

Entsprechend begann die Carne pura AG nach Etablierung des Vertriebsnetzes die Preise erheblich zu senken: Eine 30-prozentige Preisreduktion sollte den offenbar stockenden Absatz beleben, sollte nun auch der Arbeiterbevölkerung den Kauf ermöglichen (Der Wendelstein 1883, Nr. 100 v. 31. August, 4). An bezahlter Begleitpublizistik fehlte es jedenfalls nicht: „Die Präparate der Carne pura-Aktiengesellschaft in Bremen, […] sind bei ihrer Güte und erstaunlich billigen Preisen so recht berufen, ein Volksnahrungsmittel zu sein“ (Heinrich Boehnke-Reich, Künstliche Nahrungsmittel für Kinder und Erwachsene, Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 2, 1884, 441-453, hier 452).

19_Karlsruher Tagblatt_1883_04_28_Nr115_p1218_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Sortiment_Preise

Das Carne pura-Sortiment und seine Preise (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 115 v. 28. April, 1218)

Carne pura für den Arbeiter? Grenzen des Sozialpaternalismus

Ein eiweißhaltiges Fleischprodukt, billig und einfach zuzubereiten, in Verwendung auch bei höheren Klassen – wie sollte der deutsche Arbeiter sich da verweigern? Eine Antwort darauf gab vielleicht die implizite Abwertung ihrer täglichen Kost durch bürgerliche Wissenschaftler und Haushaltslehrerinnen. Gewiss, die Arbeiterernährung war objektiv vielfach unausgewogen, teils unzureichend, hätte vielfältig verbessert werden können (Uwe Spiekermann, Die Ernährung badischer Arbeiter an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483). Sie war monoton, Frauen und Kinder hatten gegenüber dem männlichen Familienoberhaupt oft das Nachsehen. Doch die bürgerlicher Reformer achteten nicht die kulturelle und ökonomische Logik der Kost der Unterschichten, wollten diese vielmehr zivilisieren und der ihren angleichen: Es „wird Mühe kosten, die an Massen von Kartoffeln gewöhnten Personen auf ein kleineres Maß von kräftiger Nahrung zu beschränken“ (Stinde, 1882, 36). Der Arbeiter wurde als Arbeitsmaschine verstanden, billiges Eiweiß war daher unverzichtbar. Bezeichnenderweise hieß es von liberaler Seite: Carne pura „könnte zur Erleichterung des ‚Kampfes ums Daseins‘ der unteren Volksklassen viel beitragen und die Schwierigkeiten der Lösung der socialen Frage erheblich verringern“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 529 v. 11. November, 5). Zugleich sollte es als Fleischbrühe das Grundübel der Arbeiterexistenz beseitigen, den überbürdenden Alkoholkonsum – der damals etwa bei der Hälfte des heutigen Durchschnittskonsums lag.

20_Karlsruher Tagblatt_1883_02_10_Nr040_p0337_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Preise_Arbeiterernaehrung

Vermarktung als Billignahrungsmittel (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 40 v. 10. Februar, 337)

Gewiss, es ist leicht, die fürsorgliche Belagerung der Arbeiter zu kritisieren, ihren bis heute nachwirkenden, in der Ernährungsbildung weiterhin üblichen Sozialpaternalismus zu beklagen. Die bürgerliche Sozialreform war ein wichtiger Anreger moderner Sozialpolitik. Doch sie war brachial, wollte nicht nur den physischen, sondern auch den moralischen Zustand der Sorgeträger nach eigenem Ideal verbessern (Das Carne pura, Hamburgische Börsen-Halle 1883, Nr. 16 v. 18. Januar, 5). Während Agrarökonomen Flurbereinigungen vorantrieben, in den Städten erste Zonenbebauungen festgeschrieben wurden, schien Carne pura „eine vorläufig in ihrer Ausdehnung und ihren Folgen noch garnicht [sic!] zu übersehende Veränderung und Verbesserung der Ernährungsverhältnisse des deutschen Arbeiters, des ländlichen wie des industriellen“ bewirken zu können (Carne Pura, Die Grenzboten 42, 1883, 559-564, hier 562). Arbeiter waren zwar beseelte Wesen, doch das Fleischmehl sollte ihnen wie Hunden Eiweiß „in einer für die Ausnutzung im Darmkanal günstigen Form“ zusetzen (Ueber Volksernährung, Social-Correspondenz 7, 1883, 36-37, hier 36). Dass dies gelingen würde, daran hatten auch bürgerliche Beobachter allerdings ihre Zweifel (Demuth, Zur Cur der Fettleibigkeit, Medizinisch-chirurgische Rundschau NF 14, 1883, 867-875, hier 870).

21_Concordia_05_1883_620_Carne-pura_Fleischpulver_Kakao_Gebaeck

Repräsentative Anzeige für bürgerliche Arbeiterwohltäter (Concordia 5, 1883, 620)

Und in der Tat, der Arbeiter, der böse Lümmel, verweigerte sich. Auf Seiten der damals staatlich massiv bekämpften Sozialdemokratie war das erwartbar, denn die „Verwohlfeilung der Nahrungsmittel“ (Arbeiterfreundlichkeit auf Irrwegen, Der Sozialdemokrat 1886, Nr. 36 v. 1. September, 1-2, hier 1) könne die Lage der Arbeiter nicht verbessern, da aufgrund des ehernen Lohngesetzes jede Preisreduktion zu niedrigeren Löhnen führen würde. Meinerts Broschüre „Wie ernährt man sich gut und billig?“ stand daher nicht für eine bessere Ernährung durch billiges Fleisch, sondern für vermehrte soziale Kontrolle: Ein rheinischer Fabrikant, der davon mehrere hundert Exemplare kaufte und seinen Arbeitern schenkte, erhielt zur Antwort: „‚Will der Kerl uns auch noch vorschreiben, was wir kochen sollen?‘“ (Dresdner Nachrichten 1889, Nr. 156 v. 5. Juni, 1). Die vom sozialreformerischen Verein „Concordia“ ausgezeichnete Broschüre hatte daher kaum praktische Resonanz (Dresdner Nachrichten 1888, Nr. 331 v. 16. November, 2). Trotz anderslautender Beschwörungen klangen bei Carne pura Vorstellungen von Armensuppe und Armenhaus mit (Julius Stinde, Naturwissenschaftliche Plaudereien, Indiana Tribüne 1883, Ausg. v. 10. Dezember, 4). Der Geschmack des Fleischmehls war gewöhnungsbedürftig, konnte die tradierte Ernährungsweise nicht ersetzen. Hinzu kamen die Defizite im Vertrieb, die in übertriebenen Aussagen gipfelten, dass Carne pura „niemals in nennenswerther Menge in den Handel gekommen“ sei (Socialpolitisches Centralblatt 3, 1893/94, 498, FN 1). Carne pura war Teil eines weit verbreiteten Sozialpaternalismus, der den Eigensinn und die Selbstbestimmtheit körperlich arbeitender Mitbürger nicht ernst nahm und der durch machtbewusste Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften und die schließlich größte Partei des Kaiserreichs langsam beiseite gedrängt wurde. Ein Volksnahrungsmittel konnte nicht gegen das Volk durchgesetzt werden.

Befohlenes Fleisch: Carne pura in der Militärverpflegung

Arbeitern konnte der Verzehr von Carne pura nicht befohlen werden, Soldaten schon. Daher ist es nicht verwunderlich, dass abseits der vielbeschworenen Volksernährung auch um eine Umgestaltung der Militärverpflegung gerungen wurde. Care pura stand dabei in einer lang zurückreichenden historischen Reihe, gab es doch zahlreiche frühere Versuche, Fleischmehl erst in Kriegs-, dann auch in Friedenszeiten einzusetzen. Die logistischen Probleme der Viehtrosse der damaligen Heere waren offenkundig, lange Haltbarkeit wurde von den Herstellern versprochen. Bereits während des Krimkrieges (1853-1856) errichteten die französischen Interventionsstreitkräfte einsatznah eine Fleischmehlfabrik, doch das Ergebnis war ernüchternd: „Das in Packeten mitgeführte Fleischpulver fand wenig Beifall. Es hat einen widerlichen Geschmack, und man muß, da sich leicht verfälschen läßt, immer fürchten, daß es von allen möglichen Thieren bereitet sei. Der Soldat empfand auch bald großen Ekel davor“ (Die sanitätischen Verhältnisse in der Krim, Allgemeine Militär-Zeitung 33, 1858, Sp. 415-418, hier Sp. 417). Fleischmehl wurde von den führenden Armeen getestet, doch das Ergebnis war durchweg negativ (Die Verpflegung im Kriege, Militär-Zeitung 12, 1859, 596-597, hier 597; Die Conservation des Mannes. (Fortsetzung.) III., Allgemeine Militär-Zeitung 38, 1863, 319-321, hier 320; Michaelis, Die Conservation des Mannes. II., Österreichische militärische Zeitschrift 3, 1862, 177-189, hier 186).

Dennoch blieb das Interesse an einer nahrhaften, billigen, schmackhaften und haltbaren Fleischration weiter hoch. Dies lockte Tüftler und Wissenschaftler. In deutschen Landen breit diskutiert wurde etwa das zuerst als Krankenkost entwickelte „Fleischbrod“ des Württembergischen Arztes Koch, das von 1867 bis 1869 vom württembergischen Kriegsministerium getestet wurde (A. Koch, Fleischbrod für den Soldaten, Algovia 1870, Nr. 31, 1-2). Trotz wiederholter Verbesserungen gab die Armee es nur selten als Teil der eisernen Portion aus (Militair-Wochenblatt 53, 1868, Nr. 102, 831-832). Auch die Vermarktung als „Universalnahrungsmittel“ scheiterte (Deutsche Klinik 21, 1869, 24). Dennoch folgten weitere Angebote, weitere Tests – in Bayern etwa durch Carl Voit (Anhaltspunkte zur Beurtheilung des sogenannten eisernen Bestandes für den Soldaten, München 1876, 14-16). Der Einsatz von Carne pura in der Militärverpflegung stand daher am Ende einer langen Reihe von Fehlschlägen. Nun aber, mit all den Verbesserungen, würde es gewiss gelingen.

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Carne pura als Militärverpflegung (Stinde, 1882, 9)

In der Tat waren zahlreiche Militärs an Carne pura interessiert, zumal Franz Hofmann und Carl Alphons Meinert ihre Innovation vernehmlich propagierten (Rez. v. C.A. Meinert, Armee- und Volks-Ernährung, 2 Bde., Berlin 1880, Neue Militärische Blätter 24, 1884, 565-566, hier 565). Ab 1880 liefen Vorgespräche mit den Kriegsministerien, ab 1882 folgten zahlreiche Tests (Zur Konservenfrage, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 11, 1882, 645-649). Die Direktwerbung 1882/83 zielte immer auch auf Sanitätsoffiziere. Das Interesse reichte weit über das Deutsche Reich hinaus: Französische Offiziere besuchten in Begleitung des Hygienikers Jules Arnould (1830-1894) den Berliner Carne pura-Pavillon und die Konservenfabrik (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 375 v. 14. August, 3). Russische Marineärzte begannen 1883 mit ihren Tests, kurz darauf auch das österreichische Militär-Comité sowie die schwedische Marine.

In Deutschland gab es einschlägigen Untersuchungen in den preußischen, bayerischen, sächsischen und württembergischen Armeen (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1883, Nr. 83 v. 17. Juli, 3; Militärzeitung 36, 1883, Nr. 69 v. 31. August, 547). Wie Chemiker und Physiologen waren auch die ersten Militärärzte voller Lob: „Carne pura empfiehlt sich durch einige hervorragende Eigenschaften von durchschlagender militärischer Wichtigkeit: Haltbarkeit, geringes Volumen und Billigkeit“ (Rönnberg, Versuche über den Nährwerth des Fleischmehls „Carne pura“, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 442-449, hier 449). Wie von Meinert angeregt, sollte das neue Fleischmehl schon während des Friedensdienstes in Menagen verabreicht werden, während im Felde die Brot- und Suppenpatronen gereicht werden könnten. Auch die ersten französischen Untersuchungen im Pariser Hospital Bicètre – nicht nur Foucault-Lesern sicher bestens bekannt – kamen zu dem Fazit, „es ist vielmehr die Verwendbarkeit desselben für die Armeeverpflegung im Felde nur noch eine Frage des Geschmacks und der Fabrication passender Zusammensetzungen“ (Rönnberg, Nachtrag zu der Arbeit über die Verwendbarkeit von Carne pura als Armee-Nahrungsmittel, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 501-503, hier 501). Ähnlich positiv urteilten die russischen Militärärzte (Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 9, 1884, 41; Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 43). Die Liste ließe sich einfach verlängern ([Salomon] Kirchenberger, Carne pura. Eine neue Fleisch-Konserve und ihre Verwendbarkeit im Felde, Neue militärische Blätter 25, 1885, 224-233).

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Fortifizierte Kompaktnahrung vom Vertragspartner F. Krietsch in Wurzen (Stinde, 1882, XIV)

Dennoch blieb der seitens der Carne pura AG erhoffte Strom von Bestellungen aus. Das hatte erst einmal strukturelle Gründe: Das aus Argentinien stammende Fleischmehl war nicht blockadefest, der Nachschub konnte im Kriegsfalle relativ leicht gestört, ja unterbunden werden (St. Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 42). Zudem gab es keine ausreichenden Kontrollen vor Ort, fehlte doch eine amtliche und militärischen Kriterien genügende Fleischkontrolle (Ref. v. M. Hassler, De l’emploi des poudres de viande dans l’alimentation du soldat, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 13, 1884, 523-524, hier 523). Den Hauptkritikpunkt brachte jedoch die österreichische Stellungnahme auf den Punkt. Sie lautete, „dass die Carne pura-Präparate für die Heeres-Verpflegung völlig unbrauchbar sind und dass alle bisher versuchten Fleischmehl-Conserven die Geruchs- und Geschmacksnerven der Versuchenden in einer Weise alterirten, dass kaum von einer Geniessbarkeit derselben zu sprechen ist“ (zit. n. Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 10, 1885, 66).

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Carne pura als Teil eines Komplettangebots: Mobile Herd-Kochkessel-Kombination ([Carl Alphons] Meinert, Fliegende Volks- und Arbeiterküche. Eine Denkschrift, Berlin 1882, 1)

Die konzeptionellen Vorteile des Carne pura wurden in der militärischen Fachliteratur weiter diskutiert (Albert Eulenburg (Hg.), Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Bd. 13, Wien und Leipzig 1888, 158). Doch die zentralen Probleme von Haltbarkeit und Geschmack, also die Folgen ranzigen Fettes und zersetzten Eiweißes konnten nicht beseitigt werden (L[udwig] Bernegau, Chemische Streifzüge durch das Konservengebiet unter besonderer Berücksichtigung von Konserven für Massenverpflegung, Apotheker-Zeitung 10, 1895, passim, hier 509). Das Fleischmehl Carne pura war der letzte Versuch, die Fleischtrocknung für die allgemeine Militärverpflegung nutzbar zu machen. Stattdessen setzte sich die Hitzesterilisierung von Fleischpräserven und dann -konserven durch.

Nur versuchsweise: Carne pura in Gefängnissen

Das relative Scheitern Carne puras in der Militärverpflegung war Ende 1883 absehbar. Für Carl Alphons Meinert war dies jedoch zusätzlicher Anreiz, sein Fleischpulver auch in anderen Einrichtungen der Massenverpflegung einzubürgern. Er konzentrierte sich insbesondere auf die Ernährung in Gefängnissen, die damals völlig unzureichend war, zu vielfältigen Krankheiten und einer hohen Sterblichkeit führte (Ulrike Thoms, Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß. Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2005).

25_Boersenblatt für den deutschen Buchhandel_1885_11_16_Nr265_p5738_Meinert_Gefangenenernaehrung_Jeserich_Ploetzensee_Carne-pura

Kontinuierliche Untersuchungen zwischen Markt und Wissenschaften (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1885, Nr. 265 v. 16. November, 5738)

Anfang 1883 begann Meinert mit chemischen Analysen der in der Strafanstalt Plötzensee üblichen Speisen, erweiterte diese dann durch Stoffwechselversuche an Gefängnisinsassen. Seine Versuche wurden großenteils von Carne pura AG finanziert, so dass die Ergebnisse teils abgelehnt wurden, da man es „mit einem Producte der im Dienste einer rührigen Reclame stehenden Wissenschaft zu thun“ habe (Rez. v. Meinert, 1885, Über Massenernährung, Organ der Militärwissenschaftlichen Vereine 33, 1886, XLIV-XLV, hier XLV). Hinzu kamen methodische Probleme (K[arl] B[ernhard] Lehmann, Rez. v. C[arl] v. Voit, Ueber die Verköstigung der Gefangenen in dem Arbeitshause Rebdorf, MMW 1885, Nr. 1-4, Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 5, 1886, 255-258, hier 258). In der Tat handelte es sich bei den Untersuchungen um Forschung im Rahmen der Fleischpulvermission. Das zeigte sich bereits 1884, als Meinert ein preiswertes dreiteiliges Kochbuch für Massenverpflegungsinstitutionen vorlegte, das Rezepte für Standardgerichte unter Nutzung von Carne pura enthielt (Internationales Kochbuch für Gefängnißanstalten, Militärmenagen, Kranken- und Irrenhäusern, T. 1: Küche für Gefängnisanstalten, Hamburg 1884, T. 2: Küche für Militärmenagen, T. 3: Küche für Kranken- und Irrenhäuser (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1884, Nr. 239 v. 13. Oktober, 4740).

Meinerts 1885 publizierte Ergebnisse waren nicht wirklich überraschend, forderte er doch höhere Eiweiß- und Fettrationen und empfahl als Gegenmittel Carne pura, Magerkäse und Hering (Ueber die Beköstigung der Gefangenen, Berliner Volksblatt 1886, Nr. 6 v. 8. Januar, 3). Fleischpulver sei ideal, da es einen hohen Eiweißgehalt habe, vollständig resorbiert würde, sich mit anderen Speisen mischen ließe und deutlich billiger als Frischfleisch sei. Carne pura würde ermöglichen, den physiologischen Mindestbedarf zu decken und zugleich dem Vorwurf zu entgehen, „»daß der Verbrecher frisches Fleisch erhält, während der ehrliche, freie Arbeiter sich solches kaum Sonntags verschaffen kann«“ (C[arl] A[lphons] Meinert, Ueber Massenernährung, Berlin 1885, 93). Im Einklang mit einer wachsenden Zahl von Gefängnisärzten und Physiologen empfahl er zudem eine strukturelle Reform der Gefängniskost: Die immer gleiche Suppenkost aus Hülsenfrüchten müsse durch gekochte feste Mehrkomponentenspeisen durchbrochen und insbesondere mehr Wert auf Würzung und Geschmack gelegt werden. Die Ernährung sollte nicht Teil der Strafe sein, sondern vielmehr die Gefangenen zu nützlicher Arbeit befähigen ([Abraham] Baer, [Ohne Titel] Blätter für Gefängniskunde 22, 1887, 10-21; Paul Jeserich, Bericht über ausgedehnte Ernährungs-Versuche in der kgl. Strafanstalt Plötzensee auf Veranlassung der Act.-Ges. Carne pura ausgeführt und bearb., Berlin s.a.). Diese Forderungen waren zukunftsweisend, wurden aber erst in der Weimarer Republik in breiterem Maße umgesetzt. Carne pura wurde in deutschen Gefängnissen jedoch nicht eingeführt, wegen des zu hohen Preises, „dem Anhaften eines unangenehmen Beigeschmacks“ und mangelhafter Haltbarkeit (A[rthur] Leppmann, Ueber zweckmässige Gefangenenbeköstigung, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 23, 1891, 413-432, hier 431).

Ein Unternehmen im Niedergang: Finanzielle Probleme und Gegenmaßnahmen

Es wird Zeit, den Blick vom Wollen der Carne pura AG zurück auf die reale Unternehmensgeschichte zu lenken. Die „ganz bedeutende Preisermäßigung“ (Teltower Kreisblatt 1883, Nr. 52 v. 30. Juni, 5) vom Mai 1883 hatte nicht die gewünschten Effekte, der Absatz der Carne pura-Präparate blieb weit hinter den Erwartungen zurück (ist aber mangels Zahlen leider nicht zu quantifizieren). Die modernen Formen der Direktwerbung machten Carne pura zwar zu einem populären Begriff, der sich auch als Synonym für nackte (weibliche) Haut sogar für einige Zeit etablierte (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 470 v. 10. Juni, 6; Edmund Rothe, Stoss- und Trostseufzer eines praktischen Arztes. (In folschen Reimen), in: Korb (Hg.), Liederbuch für Deutsche Aerzte und Naturforscher, Abschnitt 2, Hamburg 1892, 234-236, hier 235) – doch dies schlug nicht auf den Absatz durch. Die Konkurrenz frohlockte, dass Fleischpulverpräparate „gründlich zurückgewiesen“ (Leonhard, 1995, 121) wurden.

Die Auszehrung der Carne pura AG begann Mitte 1883, kurz nach Ende der Berliner Hygiene-Ausstellung. Carl Alphons Meinert und Arthur von Gerschow schieden im Juli aus dem Vorstand und der Gesellschaft aus (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 335 v. 20. Juli, 13; Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 171 v. 24. Juli, 6). Der Vorstand wurde nicht wieder erweitert (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 233 v. 4. Oktober, 8).

26_Hamburgische Boersen-Halle_1884_05_07_Nr109_p6_Carne-pura_Bremen_Bilanz

Tief in den roten Zahlen: Bilanz Ende 1883 (Hamburgische Börsen-Halle 1884, Nr. 109 v. 7. Mai, 6)

Die Bilanz wies Ende 1883 tiefrote Zahlen aus: Verluste von knapp 300.000 M waren aufgelaufen, Warenvorräte und Ausstände lagen gar noch höher. Anders ausgedrückt: In Berlin stapelte sich nicht absetzbare Ware, und die Zahlungsmoral der Großhändler und Agenturen war gering. Seit der Gründung hatte die Firma „stetig“ Verluste geschrieben (Hamburger Nachrichten 1886, Nr. 154 v. 1. Juli, 11). Bei einem Startup-Unternehmen war dies nicht ungewöhnlich, doch auch die Ergebnisse des Jahres 1884 waren mehr als ernüchternd.

27_Deutscher Reichsanzeiger_1885_07_10_Nr159_p05_Carne-Pura_Bremen_Bilanz

Rote Zahlen. Bilanz der AG Carne pura Ende 1884 (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 159 v. 10. Juli, 5)

Die Verluste waren am Jahresende auf mehr als 420.000 M angewachsen, die Warenvorräte und Ausstände konnten nur moderat vermindert werden. Wohl und Wehe der Gesellschaft hingen von den Gläubigern ab. Beunruhigend waren auch erste Wertberichtigungen, denn die Investoren hatten eben nicht – wie in der Bilanz von 1883 noch ausgewiesen – die gesamte Aktiensumme einbezahlt, sondern 80 der 600 Aktien keine Abnehmer gefunden, drei Aktien wurden nicht vollständig bedient. Dies führte Mitte 1885 zu weiteren personellen Schnitten: Dyes, Albrecht und Lax schieden aus dem Vorstand aus, Carl August Franzius blieb alleiniger Aufsichtsrat (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 239 v. 12. Oktober, 10; Berliner Börsen-Zeitung 1885, Nr. 476 v. 12. Oktober, 9). Zuvor war das Statut geändert worden und die Gesellschaft von Bremen nach Berlin umgezogen (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 181 v. 5. August, 7).

28_Neueste Nachrichten und Muenchener Anzeiger_1885_11_03_Nr307_p05_Fleischpulver_Carne-Pura_Verpackung_Berlin

Verbessertes Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1885, Nr. 307 v. 3. November, 5)

Weitere unternehmerische Maßnahmen kann man nur indirekt erschließen. Sicher ist, dass das Unternehmen einerseits die Rezepturen veränderte, um dadurch den Geschmack der Fleischpulverpräparate zu verbessern (Deutsche Medicinische Wochenschrift 12, 1886, 156). Anderseits senkte es im Herbst 1885 abermals die Preise – wobei unklar ist, ob dies nur erfolgte, um die vorhandene Ware abzusetzen.

29_Stinde_1882_p13_Carne-Pura_Reiseverpflegung_Suppenpraeparate_Touristen_Alpen

Carne pura als Suppengrundstoff für Touristen (Stinde, 1882, 13)

Werblich scheint es zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Zielgruppen gekommen zu sein. Touristen und Reisende wurden speziell angesprochen, Carne pura als schnell und unkompliziert zuzubereitender Fleischbrühgrundstoff empfohlen (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 301 v. 1. Juli, 11).

30_Berliner Tageblatt_1883_08_01_Nr353_p09_Krankenkost_Gebaeck_Biscuit_Carne-purna

Carne pura als Teil der Krankenkost (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 353 v. 1. August, 9)

Wachsende Bedeutung gewann auch die Krankenkost – wobei in diesem Marktsegment ab Herbst 1884 Kemmerichs breit beworbene Fleischpeptone rasch den Ton angaben. Dabei warb man vor allem für die in Kommission fabrizierten Gebäcke, für Kakao und Schokolade. Eine ganze Reihe von Kranken hatte einen Widerwillen gegen den zur Stärkung gereichten frisch zubereiteten Fleischsaft. Carne pura-Präparate boten eine schmackhaftere Alternative.

31_Deutsche Medizinal-Zeitung_1882_Nr47_Medizinal-Anzeiger_p4_Carne-pura_Krankenernaehrung_Fleischpulver_Eiweiß

Carne pura als Kräftigungsmittel (Deutsche Medizinal-Zeitung 1882, Nr. 47, Medizinal-Anzeiger, 4)

So nachvollziehbar derartige Maßnahmen auch waren, so zeigen sie doch zugleich, dass die ursprüngliche Idee, ein billiges Fleischpulver als Volksnahrungsmittel und als neuartiges Element der Massenverpflegung einzuführen, unrealistisch war. Zentrifugalkräfte gewannen die Oberhand, das Unternehmen war am eigenen Anspruch gescheitert.

Ein Ende mit Schrecken: Der Konkurs der Carne pura AG

Am 29. Juni 1886 wurde der Konkurs über das Vermögen der Berliner Carne pura Patent-Fleischpulver-Fabrik eröffnet (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 2272 v. 15. Juni, 16). Auf der Gläubigerversammlung wurde deutlich, dass sich die Verluste von 200.000 M 1882 auf über 450.000 M 1886 erhöht hatten. Eine nachvollziehbare Buchführung hatte es bis 1883 offenbar nicht gegeben. Aktiva von knapp 250.000 M standen Forderungen von mehr als 500.000 M gegenüber. Noch aber schien es möglich, die Firma nach Einigung mit den Gläubigern fortzuführen (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 298 v. 30. Juni, 14). Dieser Schwebezustand währte bis Oktober 1886, vielleicht etwas länger (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 476 v. 12. Oktober, 16).

Die Gläubiger zogen jedoch ein Ende mit Schrecken vor, sie sahen keine Chancen auf einen profitablen Geschäftsbetrieb nach einem notwendigen Schuldenschnitt. Man begann daher mit der Realisierung der verbliebenen Vermögensbestände. Alles was übrig blieb, kam dann im September 1887 in einer Konkursauktion unter den Hammer. Ein letztes Mal strömten Zuschauer und Händler zu einem Care pura-Ereignis zusammen: „Da sah man den ‚stilvollen Pavillon‘ wieder, der einst, mit den verschiedensten Carne-pura-Erzeugnissen ausgestattet, in der Hygieine-Ausstellung prangte; er wurde für 60 M einem Händler zugeschlagen. Dann gabs Proben der aus Conserven bereiteten Erbsensuppe in kleinen Tassen, die sich die anwesenden Käufer und Nichtkäufer gar wohl schmecken ließen. 600 Kisten von solchen Conserven wurden versteigert, immer in Posten von 5 Kisten, die je 10 bis 15 M erzielten. Im Vergleich zu der sonstigen Bewerthung der Waaren waren es geradezu Schleuderpreise, zu denen hier losgeschlagen wurde. Und dabei mußten sich die anwesenden Gesellschafter noch manchen Spott über die Conserven gefallen lassen. Auch ein großer Kochapparat, vollständig aus Messing, wurde verkauft und brachte 70 M. Alles ging fast ausschließlich in den Besitz der Händler, die nun ihrerseits einen flotten Handel mit den erworbenen 30,000 Kilogr. Carne-pura veranstalten können“ (Carne-pura-Gesellschaft, Leipziger Tageblatt 1887, Nr. 255 v. 12. September, 15). Die in Aussicht gestellte Reform der Ernährung endete in einer Farce.

32_Mittheilungen über Landwirthschaft_1887_01_14_Nr02_p12_Berliner Tageblatt_1887_09_07_Nr451_p04_Carne-pura_Konkurs_Viehfutter_Fleischmehl

Restverwertung des Fleischpulvers als Viehfutter (Mittheilungen über Landwirthschaft, Gartenbau und Hauswirtschaft nebst industrieller Anzeiger 1887, Nr. 2 v. 14. Januar, 12 (l.); Berliner Tageblatt 1887, Nr. 451 v. 7. September, 4)

Die endgültige Abwicklung zog sich noch länger hin. Im November 1889 hatte der Konkursverwalter – nach Abzug seiner Aufwendungen – 33.000 Mark erlöst, mit denen nun anteilig die Forderungen bedient werden sollten (Berliner Börsen-Zeitung 1889, Nr. 542 v. 19. November, 17). Die Schlussrechnung wurde kurz vor Weihnachten 1889 präsentiert, das Konkursverfahren anschließend beendet (Deutscher Reichsanzeiger 1889, Nr. 283 v. 26. November, 12; ebd. 1890, Nr. 11 v. 10. Januar, 10). Es folgten noch einige Nachwehen, darunter eine Nachtragsverteilung im März 1892 (Berliner Börsen-Zeitung 1892, Nr. 110 v. 5. März, 15). Die Marke der Carne pura-Gesellschaft wurde am 21. September 1892 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1892, Nr. 225 v. 23. September, 9) – und zu schlechter Letzt das General-Depot der Carne pura Nahrungsmittel, M. Meinert, Leipzig am 21. Januar 1895 (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 27 v. 30. Januar, 13).

Das kurze Nachleben des Carne pura

Mit dem Konkurs der Carne Pura AG war das Kapitel Fleischpulver keineswegs geschlossen. Nach wie vor reizte die Idee einer haltbaren und billigen Fleischkonserve Tüftler und Wissenschaftler. Gewiss, Carne pura war zu teuer gewesen, der Geschmack nicht ideal. Doch dies konnte mit Technik und Wissen verändert, verbessert werden (F. Strohmer, Fleischextract und Fleischconserven, Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 35, 1885, 211; Die Nahrung der Zukunft, Prager Tagblatt 1893, Nr. 197 v. 18. Juli, 2-4, hier 4).

33_Karlsruher Tagblatt_1888_10_04_Nr272_p3673_General-Anzeiger fuer Hamburg-Altona_1890_09_11_Nr213_p08_Fleischpulver_Schnurr-Gross_Liebig_Krankenkost_Albuminatpulver_Dr-Jervell

Neue Fleischmehl- und Fleischeiweißprodukte (Karlsruher Tagblatt 1888, Nr. 272 v. 4. Oktober, 3673 (l.); General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1890, Nr. 213 v. 11. September, 8)

Das Carne pura-Patent wurde 1887 von der Karlsruher Firma Schnurr & Gross erworben, die ihr Fleischpulver bis mindestens 1890 reichsweit als Krankenkost vermarktete (Münchener Neueste Nachrichten 1890, Nr. 492 v. 26. Oktober, 7; Hamburger Nachrichten 1890, Nr. 267 v. 9. November, 10). Es wurde abgelöst durch neue Präparate aus Schlachthofresten, wie etwa das Albuminatpulver von Dr. Jervell. Mitte der 1890er Jahre dominierte dann vor allem das US-amerikanische Mosquera‘s Fleischmehl (E[rnst] v. Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Leipzig 1897, 290), ehe mit dem Eiweißpräparat Tropon ein neuerlicher Versuch unternommen wurde, die Alltagskost mittels eines wissenschaftlichen Geniestreiches umzustürzen. Nun aber stand nicht mehr das billige Fleisch der südamerikanischen Pampas zur Diskussion, sondern die Vision einer Eiweißsynthese aus billigen Rest- und Abfallstoffen. Auch dieser Versuch, sie ahnen es, scheiterte – nach der teuersten Werbekampagne des Kaiserreichs (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209, hier 198-204).

34_Leipziger Tageblatt_1894_01_22_Nr039_p518_Vossische Zeitung_1899_12_24_Nr603_p20_Fleischmehl_Mosquera_Trockenfleisch_Tropon_Eiweißpraeparate

Substitute des Carne pura: Mosquera’s Fleischmehl und Tropon (Leipziger Tageblatt 1894, Nr. 39 v. 22. Januar, 518 (l.); Vossische Zeitung 1899, Nr. 603 v. 24. Dezember, 20)

In der Fachliteratur wurde der Carne pura-Präparate auch aufgrund dieser Nachgänger immer wieder respektvoll gedacht, mochte es sich als Volksnahrungsmittel auch nicht bewährt haben (Carl Flügge, Grundriss der Hygiene, Leipzig 1889, 309; Max Heim, Die künstlichen Nährpräparate und Anregungsmittel, Berlin 1901, 33-34). Nur wenige Wissenschaftler verstanden ihr Tun als Hybris. „Fleisch als Genussmittel zu ersetzen“ (Felix Hirschfeld, Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden und Kranken, 1900, 49) war mit derartigen Ersatzmitteln schlicht nicht möglich.

Was blieb vom Carne pura?

Die Geschichte von Carne pura zeugt von gescheiterten Träumen, zerplatzten wissenschaftlichen und ökonomischen Utopien. Der Ausgriff auf die naturalen Fleischressourcen der Welt endete als Fehlschlag. Respekt davor mag bleiben. Doch die Geschichte von Carne pura ist auch eine Geschichte unserer Zeit.

Carne pura steht für den Sozialpaternalismus des späten 19. Jahrhunderts, für eine bürgerliche Erziehungsmission, für eine scheinbar nur so denkbare Teilhabe der arbeitenden Massen an den Erträgen dieser dynamischen Zeit der Innovationen und Entdeckungen. Carne pura steht für die Differenz zwischen Wissenden und Nicht-Wissenden, für den Versuch, letzteren hierarchisch und ohne Mitsprache einen Platz in der Welt, an der bürgerlichen Tafel zuzuweisen. Teilhabe dieser Art ist an Bedingungen geknüpft, an die Moral eines rational geführten Lebens, eines Haushaltens mit dem wenigen, was man besitzt. Das häusliche Glück in Selbstbescheidung und Dankbarkeit.

Carne pura steht für die Kraft und die Schwäche gedanklicher Engführungen, für Röhrenblicke und ihre Folgen. Die Investoren hatten die Folgen ihrer Fehleinschätzungen immerhin direkt zu tragen, doch die konzeptionellen Ideen von Hofmann und Meinert wurden weitergesponnen, ebenso eng, wenngleich mit anderen Produkten und Rohwaren. Die dargebotene Geschichte ist damit ein Appell für historisches Lernen. Das Scheitern der Carne pura-Präparate war aufgrund des konzeptionellen Scheiterns des Liebigschen Fleischextraktes und des faktischen Scheiterns der vielen Fleischmehlarten bis hin zu Hassall vorhersagbar – so wie etwa das relative Scheitern vieler neuartiger Fleischsubstitute heutzutage. Doch zugleich ist gewiss, dass enggeführtes Agieren und vorhersehbares Scheitern auch weiterhin den üblichen (Fleisch-)Konsum begleiten werden. Der Mensch ist ein gläubiges Wesen, vor allem, wenn dieser Glaube auf wenigen einfachen Wahrheiten gründet.

Die Geschichte von Carne pura ist schließlich eine Geschichte auch des Eigensinns der Menschen. Der großen Mehrzahl schmeckte es nicht, mochten die Produzenten und viele Wissenschaftler auch anderes verkünden. Für die große Mehrzahl war es zu teuer – auch wenn die Präparate auf Grundlage komplexer Stoffäquivalenzberechnungen „objektiv“ billiger waren als gängiges Frischfleisch. Das Scheitern von Carne pura unterstreicht die Herrschaft von gesundem Menschenverstand bei der breiten Mehrzahl, von Selbstbehauptung trotz prekärer Rahmenbedingungen. Gilt das, so erzählt die Geschichte von Carne pura auch von Behauptungsmöglichkeiten in allseits moralisierten und kommodifizierten Lebenszuschnitten. Geschichte ist eben nicht nur eine analysierte, gezähmte, gelenkte und geglättete Dosis Vergangenheit. Sie ist vielmehr Ausgangspunkt selbstbestimmten Denkens und Handelns.

Uwe Spiekermann, 14. August 2021

Wachstum ohne kulinarische Tradition: Die Käseindustrie in Deutschland 1930-2020

Periodisierungen sind immer umstritten. Das gilt auch für die Geschichte der Agrarwirtschaft, in der gemeinhin eine politische Agenda dominiert. Die meisten Historiker heben die Bedeutung der nationalsozialistischen Machtzulassung 1933 hervor, während eine Minderheit mit guten Argumenten den Aufstieg eines außerparlamentarischen Präsidialregimes seit 1930 in den Mittelpunkt rückt. In der noch enger zu fassenden Agrarpolitik war dieses gewiss der wichtigere Einschnitt. Zölle wurden angehoben, direkte und indirekte Subventionen eingeführt und die Milchwirtschaft als erster Agrarsektor in einen planwirtschaftliche Korporatismus überführt. Diese, auch in vielen anderen Staaten zum „Schutz der Landwirtschaft“ getroffenen Maßnahmen, wurden während der NS-Zeit fortgeführt und auf andere Branchen übertragen.

Die Milchwirtschaft – im Deutschen Reich 1930 mit einem höheren Umsatz als Bergbau und Stahlerzeugung zusammen – war von der internationalen Agrarkrise 1925/26 schwer getroffen worden. Milchprodukte standen unter Marktdruck: Der Käseverbrauch der Arbeiter ging ab 1928 zurück, der allgemeine Verbrauch folgte 1929, die Käseproduktion 1930. Während der Weltwirtschaftskrise verlagerte sich der Konsum von teuren auf billigere Sorten. [1] Hartkäse und Camembert verzeichneten die größten Einbußen, während der Verbrauch des preiswerten Sauermilchkäses bis 1931 anstieg. Die Importzahlen stürzten insgesamt ab, doch der billige holländische Edamer gewann auf Kosten des teureren deutschen Tilsiters und Emmentalers. Die wirtschaftlichen Probleme der meisten der knapp 10.000 Sauermilchkäsefirmen vergrößerten sich 1930, da die noch steigende Produktion Folge sinkender Preise war, denen keine entsprechenden Gewinne folgten. Die Anbieter begannen ihre Gestehungskosten weiter zu drücken, das Gewicht des noch per Stück verkauften Sauermilchkäses wurde reduziert, manchmal von 25 auf 15 Gramm, um trotz allgemeiner Deflation den Absatz zu stabilisieren. [2] Parallel nahmen die Klagen über schwindende Qualität zu. Die strukturellen Probleme einer vorrangig kleinbetrieblichen Produktion wurden offenkundig. Im Westen des Reiches steigerten die holländischen Großkäseproduzenten ihren Absatz trotz einer 20%igen Zollbelastung. Ein „mörderischer Preiskrieg“ [3] begann, und der Staat intervenierte rigoros.

Marktordnung nach dem Milchgesetz von 1930

Das Milchgesetz von 1930, das ab 1932 in Kraft trat, führte verbindliche Qualitätsstufen und die Zwangspasteurisierung ein, reorganisierte zudem die Struktur der Molkereien in Deutschland. Regionale Milchwirtschaftsverbände wurden gegründet, Milchbauern dadurch gezwungen, ihre Milch an bestimmte Molkereien zu verkaufen, die wiederum das gesamte Angebot ihrer Region abnehmen mussten. Einkaufs- und Verkaufspreise wurden festgelegt, die Zahl der Milchbauern, Händler und Produzenten begrenzt. Auf Grundlage des Milchgesetzes wurden 1934 standardisierte Hart-, Weich- und Schmelzkäsesorten festgelegt und deren Gesamtzahl auf 48 gedeckelt. [4]

01_Kaese_1938_p17_p11_Normierung_Kaesesorten

Deutsche Käsesorten ab 1934 (Käse, o.O. 1938 (Ernährungs-Dienst F. 21), 11 (l.), 17)

Die NS-Regierung machte zudem die bereits 1924 in Württemberg und Bayern eingeführten Landesmilchgesetze verpflichtend. Das Deutsche Reich beließ es nicht mehr bei staatlich geförderten Selbsthilfemaßnahmen, die ehedem freiwilligen Maßnahmen wurden nun vielmehr erzwungen, um Produktion, Groß- und Einzelhandel zu rationalisieren. Viele flankierende Maßnahmen folgten, darunter neue Handelsmarken und eine verbindliche Kennzeichnung des Käses. Die Zahl selbständiger Betriebe wurde reduziert, staatliche Transferzahlungen an Qualitätsstandards, aber auch an politische Verlässlichkeit und rassische Zugehörigkeit gebunden. [5] Das Deutsche Reich stand mit diesen Maßnahmen nicht allein, ähnliche Interventionen erfolgten in vielen, auch demokratisch regierten Staaten, um die Agrarkrise und ihre Folgen ansatzweise bewältigen zu können. Multilaterale Abkommen ergänzten daher die nationalen Maßnahmen: Während der deutsche Markt durch steigende Zölle geschützt wurde, konnten die Käsekontrolle, Produktdefinitionen und auch die Käsekennzeichnung durch internationale Abkommen harmonisiert werden. [6] Die NS-Funktionäre argumentierten, dass das neue System Gerechtigkeit im Milchsektor schaffe und allen Akteuren faire Bedingungen, verlässliche Gewinne und eine bessere Transparenz für die Verbraucher biete. [7] Sie vergaßen zu erwähnen, dass die Landwirtschaft zugunsten der Konsumenten bevorzugt wurde und die Rationalisierungsanstrengungen immer auch strategisch erfolgten, also einer möglichen Kriegsvorbereitung dienten.

02_Nitsch_1957_p36_Molkereien_Kaeseproduzenten_Statistik_Rationalisierung

Genossenschaftliche und private Unternehmen der Milchwirtschaft im Deutschen Reich 1932-1938 (Daten n. Gerhard Nitsch, Das deutsche Molkereigenossenschaftswesen. Aufbau, Aufgaben und Leistungen, Marburg 1957, 36)

Charakteristisch für die neue Marktordnung waren nicht zuletzt Importbeschränkungen. Devisen sollten für Rohstoffe von strategischer Bedeutung verwendet werden, nicht aber für vermeintlichen Luxuskonsum. Deutschland nutzte dazu seine starke Stellung auf dem Weltmarkt – 1934 machten die bereits massiv reduzierten Importe noch 14 % des weltweiten Käsehandels aus – um günstigere Bedingungen im Außenhandel zu erhalten. Pointiert formuliert: Die Niederlande und die Schweiz kooperierten mit ihrem großen Handelspartner zu Gunsten der deutschen Wiederaufrüstung. Die staatlichen Interventionen zielten allerdings nicht auf eine strikte Planwirtschaft: Mit der Gründung regionaler Molkereiverbände wurde vielmehr ein flexibles System von Kontrolle und Wettbewerb geschaffen. Während die Bauern eine bestimmte Menge Milch mit definiertem Fettgehalt produzieren mussten, hatten die Händler Mindeststandards bei Lagerung, Kühlung und Umsatz zu garantieren. [8] Die Erzeuger waren in regionale Kontrollnetzwerke eingebunden. Wenn sie die Standards verfehlten oder zu viel Ausschussware produzierten, konnte ihr Betrieb geschlossen werden. Die neue Marktordnung ermöglichte und forcierte die Produktion regionaler Spezialitäten, etablierte zugleich aber nationale Vergleichsmargen. Auch regionale Absatzgebiete und weiterhin bewusst eingeräumte Gewinnchancen halfen dabei, die Produktion zu rationalisieren und auszuweiten. Der durch den Zollschutz verringerte Importdruck, Festpreise sowie garantierte Gewinnspannen regten die Herstellung von Hart- und Schnittkäse in den bisher von Importen dominierten sowie den eher verbrauchsarmen Regionen an. Zugleich setzten sich etablierte „deutsche“ Sorten nun reichsweit stärker durch, etwa der ostpreußische Tilsiter, der nun sowohl in Schleswig-Holstein als in auch Deutschlands Süden zu einem gängigen Verkaufsartikel wurde. [9] Deutscher Edamer und Gouda wurden gleichermaßen im Süden, Norden und Westen populär, auch deutscher Roquefort etablierte sich ab 1930 als Handelsmarke. Obwohl die Agrarpolitik die Zahl der Käsesorten reduziert hatte, erhöhte sich dadurch das regionale und lokale Angebot. Dies war erwünscht – und die Käseproduzenten wurden gezielt geschult, um steigende Mengen standardisierter Ware herzustellen.

Strukturveränderungen der Sauermilchkäseindustrie

Die beträchtlichen Folgen der Marktordnung lassen sich besser noch an den Veränderungen in der Sauermilchkäseindustrie studieren. Die selbständigen Betriebe wurden 1934 in das allgemeine System integriert, standen nun unter gleichem Anpassungsdruck wie die Molkereien. Letztere steigerten nicht nur ihre Produktion von normalem, an Konsumenten abgesetztem Quark von 33.711 Tonnen im Jahr 1932 auf 40.196 Tonnen im Jahr 1934 und 59.152 Tonnen im Jahr 1936, sondern produzierten auch die für die Sauermilchkäseproduktion notwendigen Mengen. [10] Diese hatte 1933/34 Rekordwerte von ca. 100.000 Tonnen erreicht, doch die neue Ordnung erforderte beträchtliche Investitionen. Die Produktion wurde nun statistisch präzise erfasst, verpflichtend vorzulegen war ein monatlicher Bericht über die Quarkversorgung, die Produktion und die Preise. Letztere wurden auch durch die zunehmende Einlagerung des Quarks stabilisiert – ähnlich, wie in anderen Branchen, etwa der Eierwirtschaft.

03_Die Kaese-Industrie_09_1936_p40_ebd_11_1938_p15_Kaeseproduktion_Sauermilchkaese_Maschinenbau_Kaesereimaschinen_Alfred-Luebbers_Langensalza

Leistungsfähigere Maschinen für kleinere Betriebe (Die Käse-Industrie 9, 1936, 40 (l.); ebd. 11, 1938, 15)

Die Produktion der Rohware erreichte im Herbst ihre jährlichen Spitzenwerte, doch durch die zeitliche Streckung der Weiterverarbeitung konnten die saisonalen Preisschwankungen verringert werden. Lagerhaltung, intensivierte Kontrollen und die neuen Produktstandards erhöhten allerdings die Fixkosten. Im Jahr 1935 stellten offiziell 1.700 Betriebe – viele Kleinstbetriebe wurden statistisch nicht erfasst – 90.000 Tonnen Sauerkäse her. [11] Zwei Jahre später war die Zahl der Firmen auf 1.200 gesunken, deren Produktion auf 65.000 Tonnen. [12] Obwohl Sauermilchkäse immer noch die wichtigste Käsesorte im Deutschen Reich war, erzwangen der Kapitalmangel und das recht rigide Kontrollsystem die Schließung zahlreicher kleinerer Betriebe, die den neuen Standards nicht genügen konnten. [13] Firmen, die nicht in der Lage waren, kriteriengemäß marktfähige Ware zu produzieren, wurden ebenfalls geschlossen. Die Marktordnung diente einer politisch-ideologischen Gleichschaltung, zielte darauf, „daß unzuverlässige Elemente ausgeschaltet werden und daß alle Betriebe […] gemeinsam, willig und gern an den gesteckten Zielen mitarbeiten.“ [14] Im Jahr 1937 hatte sich die Branche stabilisiert, 75.000 Tonnen Sauermilchkäse wurden damals von 1.256 Firmen hergestellt. [15] Dennoch erreichte die Branche nie wieder eine ähnliche Position wie in der Zeit vor der Marktbereinigung. Lokale und regionale Sorten ließen eine wirklich einheitliche Produktqualität kaum zu, und die Behörden drohten weiterhin: „Wer nicht hält Schritt, kommt nicht mit!“ [16]

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Sensorische Qualitätsprüfung von Käse (Die Käse-Industrie 9, 1936, 72)

Schmelzkäse und Kriegsplanungen

Charakteristisch für die Zeit des Nationalsozialismus war demnach eine reduzierte Zahl von Käsesorten und einer allgemeinen Abkehr von Sonderwünschen seitens der Verbraucher (natürlich mit Ausnahme von NSDAP-Funktionären und Günstlingen des Regimes). [17] Dennoch waren Produktinnovation weiterhin zentral für Umfang und Struktur des Konsums. Der in den 1920er Jahren sehr erfolgreich eingeführte Schmelzkäse wurde in den 1930er Jahren noch wichtiger. [18] Der aufnahmefähige deutsche Markt zog nun vermehrt ausländische Investoren an: 1934 errichtete die US-amerikanische Kraft Cheese Company eine neue Schmelzkäsefabrik in Lindenberg im Allgäu. [19] Sie produzierte seit 1937 mit Velveta den bekanntesten und umsatzstärksten Markenartikel der Branche, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg Marktführer in der Bundesrepublik Deutschland blieb. Auch dieses Produkt hatte strategische Bedeutung: Schmelzkäse wurde von Wehrmachtvertretern und Vertretern der immer stärker ausgebauten Gemeinschaftsverpflegung gegenüber anderen Sorten bevorzugt, denn er war leicht zu handhaben, verursachte nur geringe Verluste und war einfach zu lagern.

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Schmelzkäsewerbung während des Zweiten Weltkrieges (NS Frauen-Warte 10, 1941/42, 14)

Die Kriegsplanung von NS-Regime und Wehrmacht ging von einem gespaltenen Käsemarkt aus. Einerseits war der Käse ein wichtiger Faktor, um die noch in großen Mengen verfügbare Magermilch für die menschliche Ernährung zu nutzen. Als solcher gewann er in der Gastronomie und im Haushalt an Bedeutung. Billiger Koch-, Sauermilch-, Weich- und Hüttenkäse wurden beliebter und als gesunde Nahrungsmittel beworben. [20] Andererseits war haltbarer und nahrhafter Hartkäse – neben dem Schmelzkäse – integraler Bestandteil der Wehrmachtsverpflegung. Die massiv geförderte Lebensmitteltechnologie entwickelte zudem gebrauchsfertigen Koch- und Schmelzkäse in Dosen sowie Käsepulver. All dies wurde durch beträchtliche Forschungsanstrengungen umkränzt und ermöglicht, durch die insbesondere Produktions- und Reifezeiten beschleunigt werden konnten. [21] Den Verbrauchern war jedoch nicht zu vermitteln, warum sie auf die gehaltvolleren Käsesorten verzichten sollten: 1938 wurden pro Kopf immerhin 2,19 Kilogramm Hartkäse verzehrt, also 40 % des durchschnittlichen Gesamtverbrauchs von 5,5 Kilogramm. [22]

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Auslage eines Milchfachgeschäftes 1938 (Die Käse-Industrie 11, 1938, 84)

Käsewerbung in tradierten Formen

Die staatlich unterstützte Käsewerbung wurde auch während der NS-Zeit fortgesetzt, nationale Gemeinschaftswerbung durch regionale Kampagnen ergänzt, ab und an auch einzelne Sorten gezielt vermarktet. [23] Daneben lief die privatwirtschaftliche Werbung weiter, mochte sie mangels starker Markenartikel (Ausnahme: Schmelzkäse) auch nicht sehr breitenwirksam war. Käse wurde zudem in rassistisch begründete Gesundheitskampagnen integriert. [24] Neuartige und kleinere Verpackungen kamen weiterhin auf, wurden genutzt, um neue Verbrauchergruppen anzusprechen. [25] Insgesamt konnte der Käse seine Stellung in der täglichen Kost während der 1930er Jahre weiter ausbauen. Er galt immer noch als Beikost, wurde nun aber sowohl zum Frühstück als auch zum Abendessen verzehrt. Er wurde in die Gemeinschaftsverpflegung eingebunden, galt als strategisch wichtiges Gut und billigster tierischer Eiweißträger. Die Strukturreformen in der Molkereiwirtschaft hatten den Verbrauch dennoch nur moderat gesteigert. Von 1935 bis 1938 wurden lediglich 4 % der deutschen Vollmilch zu Käse und Quark verarbeitet, während der Butteranteil auf 53 % angewachsen war. [26]

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Käsewerbung während der Reichskäsewoche 1938 (Käse, 1938, I (l.); Die Käse-Industrie 11, 1938, 84)

Käseversorgung während des Zweiten Weltkrieges

Für das NS-Regime war jedoch entscheidend, dass sich die strikte Marktordnung der deutschen Milchwirtschaft während des Zweiten Weltkriegs bewährte. In den Molkereien stieg die deutsche Käseproduktion (Grenzen von 1938) von 138.800 Tonnen (66.600 Tonnen Hartkäse, 72.200 Tonnen Weichkäse) in den Jahren 1935/38 auf 180.600 (106.000, 74.700) 1941 und 200.000 (130.500, 69.500) im Jahre 1944. Parallel dazu wurde die bäuerliche Käseproduktion offiziell von 8.500 Tonnen (1935/38) auf 2.400 (1941) und 2.300 (1944) reduziert. Die Produktion von Sauermilchkäse blieb relativ stabil (56.000 Tonnen 1935/38, 53.000 (1941), 59.500 (1944)). Außerdem stieg die Quarkproduktion von 114.200 Tonnen (1935/38) auf 137.000 (1941) und 145.300 (1943; 1944 keine Angaben). [27] Noch 1944 wurden fast 80 % der deutschen Vollmilch von Molkereien verarbeitet, der Erfassungsgrad konnte also deutlich erhöht werden. Für die Stabilität der vielbeschworenen Heimatfront war es ferner wichtig, dass im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg der Käsekonsum der Zivilbevölkerung nicht einbrach. Obwohl die Herstellung von Fettkäse zu Beginn des Krieges verboten wurde [28], blieb der Gesamtverbrauch bis 1944 auf einem relativ hohen Niveau: Im Jahr 1939/40 verbrauchten die Deutschen (in den Grenzen vom 31. August 1939) 5,5 Kilogramm pro Kopf, gefolgt von 5,4 1940/41, 5,2 1941/42, 5,0 1942/43, 4,9 1943/44 und schließlich 4,4 kg 1944/45. Dieser über das Rationierungssystem per Karte zugeteilte Käse wurde zunehmend aus entrahmter Milch hergestellt, wurde also fettärmer. [29] Während des Zweiten Weltkrieges gewann zudem die häusliche Käseproduktion wieder an Bedeutung. [30] Die dezentral angesiedelte Industrie selbst war bis zum Frühjahr 1945 in der Lage, Hartkäse an die Wehrmacht zu liefern. [31]

Wiederaufbau und verstärkter Importdruck

Die totale Niederlage des Deutschen Reichs im Mai 1945 änderte nichts an der Struktur der landwirtschaftlichen Produktion. Die Planwirtschaft des Reichsnährstandes wurde bis 1948 fortgeführt und dann durch ein komplexes korporativ organisiertes Produktionssystem ersetzt, dessen Hauptziel eine erhöhte Produktion von Lebensmitteln und Rohwaren war – und das deshalb recht großzügig subventioniert wurde. Wie in den Jahrzehnten zuvor war die Fett- und Eiweißproduktion unzureichend. Dies führte trotz hoher Zusatzlieferungen der Alliierten 1946/47 zu allgemeiner Mangel- und Unterernährung.

In den ersten Jahren des im Mai 1949 gegründeten neuen westdeutschen Staates versuchten die amerikanische Besatzungsmacht und liberale Politiker noch, die Landwirtschaft im Allgemeinen und die Käseproduktion im Besonderen zu deregulieren. Die Rationierung sah bis Juni 1949 eine monatliche Lieferung von 125 g Käse pro Kopf vor, ab Juli wurde diese auf 250 g verdoppelt – und endete dann bereits im September 1949. Dies gab einen starken Anreiz für eine Produktionssteigerung, doch nach einem kurzen Boom 1949 flachten Herstellung und Absatz 1950 deutlich ab. [32] Hohe Inflation, steigende Arbeitslosigkeit und eine wachsende Zahl von Streiks standen am Anfang des fast zwei Jahrzehnte währenden „Wirtschaftswunders“. Es schien daher konsequent, mit dem Milchgesetz von 1951 die Marktstruktur der NS-Zeit wiederherzustellen. Die Milchpreise wurden neuerlich festgesetzt, Lieferung, Anlieferung und Außenhandel von Milch und Milchprodukten blieben eng reguliert – und selbst die Zahl der Käsesorten blieb konstant. Die meisten Fachleute waren bewährte (und ab und an verbrecherische) NS-Experten, die wie zuvor auf eine striktere Rationalisierung nach staatlichen Vorgaben setzten, einschließlich einer weiteren Reduktion der Zahl der Käsesorten im Verbrauchermarkt. [33]

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Nachkriegsidyllen und Schmelzkäse (Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 10, 29 (l.); ebd., H. 8, 31)

Aber es gab Anfang der 1950er Jahre einen wichtigen Unterschied zur Präsidialdiktatur und der NS-Zeit: Auf Drängen vornehmlich amerikanischer Fachleute blieb die Liberalisierung des Außenhandels ein zentrales, auch die Agrarpolitik prägendes Thema. Westdeutschlands Devisenmangel und der strukturelle Zwang, angesichts unzureichender Nahrungs- und Futtermittel Industriegüter exportieren zu müssen, führten zu Zugeständnissen im Bereich der Landwirtschaft, die auch von der weiterhin starken Agrarlobby nicht verhindert werden konnten. Die Zollschranken fielen langsam, aber merklich: Im April 1953 wurde die Einfuhr von Schnittkäse liberalisiert. Obwohl die 30%igen Importzölle noch in Kraft blieben, fielen nun Mengenbeschränkungen bzw. Importquoten. [34] Niederländische und dänische Importeure gewannen rasch größere Marktanteile, obwohl deutscher Käse billiger war. Die importierte Ware war von höherer und standardisierter Qualität, die ehedem deutsch besetzten Länder konnten ihre bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Wettbewerbsvorteile rasch wieder ausspielen. Ihre Angebote setzten die größeren Produzenten aus dem Rheinland, Norddeutschland und dem Allgäu unter starken Wettbewerbsdruck. [35]

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Werbung für Importkäse 1958 (Ratgeber für Haus und Familie 52, 1958, 459)

Agrarischer Wettbewerb fand im vermeintlich vom Ordoliberalismus geprägten Westdeutschland jedoch in einem engen staatlichen Rahmen ab. Der 1955 implementierte Landwirtschaftsplan sah massive und kontinuierliche Subventionen vor, um einerseits die Produktion von Getreide, Fleisch und Milch zu steigern, um andererseits die Einkommenssituation der Landwirtschaft zu stabilisieren. Eine marktwirtschaftlich gebotene Schocktherapie für die personell überbesetzte und im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarn wenig effiziente Landwirtschaft wurde aus sozialpolitischen Gründen verworfen. Die künstlich hochgeschraubten Preise mussten letztlich die Verbraucher zahlen. Diese setzten sich durchaus zur Wehr, doch selbst Milchboykotte entfalteten keine Wirkung. [36] Allerdings stritt man öffentlich weniger um Käse, sondern – wie bis heute – vorrangig um Milch- und Butterpreise. [37] Die neue Marktordnung und der Importdruck hielten die Verbraucherpreise tendenziell stabil und machten Käse dadurch vergleichsweise billig(er).

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Camembert, Edamer und Tilsiter: Angebote aus den frühen 1950er Jahren (Heinz Mahn, Der Käsemarkt in Deutschland, Frankfurt a.M. 1952, 57)

Der Trend zu mehr und preiswertem Käse

Der Käsekonsum war in der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgegangen und erreichte 1948/49 nur noch 3,1 Kilogramm pro Kopf. Doch die Mengen stiegen rasch wieder an, schon 1950/51 schlugen 5 Kilogramm pro Kopf zu Buche. Dabei dominierte Hartkäse, gefolgt von Schmelzkäse. Sauermilchkäse hatte an Bedeutung verloren, Quark war dagegen wieder auf dem Vormarsch. [38] 1952 erreichte der Verbrauch die Vorkriegszahlen, und das folgende Jahrzehnt verzeichnete einen Anstieg um 40 % auf 7,7 kg pro Kopf im Jahr 1962. [39] Dies war allerdings nicht eine quasi natürliche Folge der höheren Reallöhne, sondern Folge eines nun einsetzenden strukturellen Wandels im Käsekonsum: Die deutsche Produktion von Hart-, Schnitt-, Weich- und Sauermilchkäse stieg zwischen 1952 und 1962 lediglich um 5,5 %. Die Herstellung von billigem Quark und Frischkäse verdoppelte sich dagegen. Leichtere und fettärmere Sorten gewannen also an Bedeutung. Parallel verzeichneten aber auch fette und teurere Sorten, wie Emmentaler und Camembert, ein überdurchschnittliches Wachstum. Schnittkäse, insbesondere Tilsiter, Edamer und Gouda, konnte mit der Importware nicht wirklich konkurrieren. Stark riechende Käsesorten mit geringem Fettgehalt, wie Limburger, Romadur und auch Sauermilchkäse, verloren deutlich an Boden, denn Käse entwickelte sich zu einer eher moderaten Speise. Insgesamt profitierte die Käseproduktion auch von den überdurchschnittlich steigenden Preisen für Schinken und Wurstwaren. Beim Käse gab es also ein „Wirtschaftswunder“, doch der Aufschwung betraf vorrangig die unteren, weniger die mittleren Segmente des Marktes. Der Importkäse, der Anfang der 1960er Jahre fast die Hälfte der deutschen Käseproduktion erreichte, war nämlich billig, Resultat zunehmender Massenproduktion in mittleren und großen Unternehmen. [40] Angesichts des Wachstums auch bei teureren Sorten haben wir es also mit einer frühen Polarisierung des Marktes zu Lasten der mittleren Preissegmente zu tun. Dies passt nicht recht zum Mythos des Aufschwungs für alle – und so blieb eine Nahrungsinnovation das wichtigste mit dieser Zeit verbundene Käseprodukt: Kraft führte 1956 die Scheibletten ein, die allgemein zum Toasten oder Überbacken verwendet wurden und auch die wachsende Grillleidenschaft befeuerten. Schmelzkäse, dessen Verbrauch Anfang der 1960er Jahre bei etwa ein Kilogramm pro Kopf und Jahr stagnierte, war auch der erste deutsche Käse, der auf internationalen Märkten erfolgreich war. 1957 wurden 3.500 Tonnen exportiert, 1962 bereits 12.000 Tonnen. [41] Während der Milchverbrauch in den 1950er Jahren zurückging, der Butterverbrauch stagnierte und der Käseverbrauch angesichts seines relativ geringen Anteils an der Milchwirtschaft hier kaum Abhilfe schaffen konnte, wurde der Export seither zu einem wichtigen Element, um die immer weiter wachsende Milchproduktion zu bewältigen.

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Markterfolg Scheibenkäse – hier von der Scheibletten-Konkurrent Milkana (Der Verbraucher 18, 1964, 175)

Käsesorten als Begriffshüllen

Kraft stand zugleich für eine weitere wichtige Änderung des Marktes: Eine Revision der Käseverordnung hatte 1957 festgelegt, dass Emmentaler nur noch aus mäßig erhitzter Rohmilch hergestellt werden durfte. Drei Konkurrenten, die außerhalb des Allgäus produzierten und für ihren „Emmentaler“ pasteurisierte Milch verwendeten, klagten gegen diese Vorschrift – und waren nach langen Gerichtsprozessen erfolgreich. [42] Während der „Allgäuer Emmentaler“ auf traditionelle Art hergestellt werden musste, konnte für die Herstellung von Käse à la Emmentaler pasteurisierte oder technisch anders verarbeitete Milch eingesetzt werden. Dies war Folge der wachsenden technologischen Möglichkeiten bei der Käseproduktion, die vorrangig von größeren Molkereien und Käsefirmen genutzt wurden. Die Käsesorten selbst wurden Anfang der 1950er Jahre durch das Stresa-Abkommen harmonisiert, das international anerkannte Kategorien von Frischkäse, Sauermilchkäse (oder Käse mit Milchgerinnung, der ohne Lab hergestellt wird), gereiftem Käse, Käse aus Molke oder Buttermilch und Schmelzkäse festlegte. [43] Die Definition regionaler Sorten war eine weitere zentrale Harmonisierungsaufgabe, denn keine der in Europa dominierenden Käsesorten war im 19. Jahrhundert als Handelsmarke geschützt worden. Deutsche Produzenten konnten daher mit Fug und Recht darauf verweisen, dass Emmentaler, Edamer, Gouda, Limburger, etc. bereits im späten 19. Jahrhundert im Deutschen Reich hergestellt wurden. [44] Verbessere Produktionstechnologien sowie Zusatz- und Austauschstoffe machten einschlägige Definitionen noch schwieriger. Damals machte man aus der Not eine Tugend und schützte nunmehr regionale Spezialitäten durch Herkunftsbezeichnungen. Die wichtigsten Käsesorten konnten aber weiterhin ohne größere Einschränkungen der Kennzeichnungen verkauft werden. Käse emanzipierte sich also zunehmend sowohl von tradierten Herstellungsweisen und Rohstoffen als auch von bestimmten Produktionsräumen – sieht man von einem kleinen höherwertigen Angebot ab.

Defizitäre Marketingorientierung

Die Emmentaler-Debatte verdeutlichte ein weiteres Kernproblem der deutschen Käsewirtschaft in der Nachkriegszeit. Für die meisten Produzenten war die Käseherstellung immer noch ein Handwerk, eine „handwerkliche Kunst” [45]. Zwar wurden die Käsereien in den 1950er Jahren modernisiert, doch die neuen Maschinen waren meist verbesserte Ersatzgeräte, standen also nicht für veränderte Produktionsweisen. [46] Dies war keineswegs Folge eines kruden Traditionalismus, sondern ließ sich auch auf die große Zahl von Käseproduzenten zurückführen, die aus den östlichen Teilen des Deutschen Reiches vor allem nach Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Oldenburg gekommen waren und dort ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten. Aus westdeutscher Perspektive gingen durch die Gebietsverluste und die Gründung der DDR etwa 50 % der Hartkäse-, 25 % der Weichkäse- und 60 % der Sauerkäseproduktion verloren. [47] Wichtiger waren jedoch unterschiedliche Zielsetzungen der Agrarpolitik. Nach 1930 hatte man durch Rationalisierung versucht, die Zahl der Produzenten zu reduzieren, um dadurch Größenvorteile nutzen zu können. Die Allparteienkoalition der westdeutschen Agrarpolitiker versuchte dagegen, den wirtschaftlichen Wandel der Landwirtschaft zu bremsen und sozial zu befrieden. Auch dadurch waren die meisten Milch- und Käseproduzenten nicht in der Lage, modernes und eigenständiges Marketing zu betreiben. 1950 wurde in Frankfurt/M. daher der Verein für Förderung des Milchverbrauchs gegründet, dessen Jahresetat anfangs drei, 1969 dann acht Millionen DM betrug. [48] Die Broschüren und Plakate knüpften an die Vorgänger der späten 1920er und 1930er Jahre an – und waren entsprechend folgenlos. Die regionalen Verbände der Milchwirtschaft gaben parallel jährlich weitere 20 Millionen DM pro Jahr aus, doch mangels starker Marken verbanden sich zumeist Appelle für mehr Konsum mit einschlägigen Zubereitungsweisen (wobei ich bei alledem die Förderung von Milchbars, Milch- und Kakaoautomaten und Schulmilch außer Acht lasse).

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Alles gut – Gemeinschaftswerbung für Käse 1963 (Der Volkswirt 17, 1963, 2382 (l.); ebd., 2470)

Die neue alte europäische Milchmarktordnung

Die westdeutsche Milchmarktordnung hielt bis 1964 – und wurde dann durch die Verordnung über die Schaffung einer gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse durch die Europäische Wirtschaftgemeinschaft (EWG) auf eine neue Stufe gehoben. [49] Die neue Ordnung wurde anfangs als Maßnahme präsentiert, die bestehende Milcherzeugung in ein wettbewerbsfähiges Marktsystem zu überführen. Sie schuf einen gemeinsamen EWG-Milchmarkt, legte Preisempfehlungen für Milch und ein Subventionssystem fest, führte vor allem aber ein Interventionssystem ein, um einen bestimmten Butterpreis zu garantieren, eine europaweite Lagerhaltung zu initiieren und neue Zollschranken für Nicht-EWG-Mitglieder zu errichten. [50] Damit setzte die EWG lukrative Anreize für eine höhere Produktion von Milch und Milchprodukten. Auf diese Art transformierte sie Kernelemente der früheren deutschen Milchordnungen in ein europäisches System. [51] Die wirtschaftlichen Folgen lagen auf der Hand: Nun war ein steter Rohstofffluss gewährleistet. Angesichts des stagnierenden Milch- und Butterverbrauchs und abgesehen von der Herstellung von Milchpulver oder technischen Produkten bot Käse die einzige wirkliche Chance für Wachstum innerhalb der Milchwirtschaft. Der Importdruck durch die übermächtigen EWG-Partner würde zugleich weiter anhalten, ja tendenziell zunehmen. Entsprechend waren gravierende Änderungen in Produktion und Marketing unabdingbar, um massive Verluste innerhalb der heimischen Käseindustrie zu vermeiden. Die dänische und schweizerische Konkurrenz war zwar vorübergehend ausgeschaltet, aber die EWG-EFTA-Verhandlungen würden schließlich zu Kompromissen und anhaltendem Importdruck führen. Andererseits bot die EWG insbesondere für Deutschland neuartige Exportchancen, war man doch das Mitgliedsland mit dem niedrigsten Milch- und Käsepreisniveau. Aufgrund der EWG-Mindestpreisgarantien war der Export in Nicht-EWG-Mitgliedsländer gleichsam erzwungen, wollte man sich denn im Markt behaupten.

Es ist hier nicht der Ort, die katastrophalen Folgen dieses Kernelements der europäischen Agrarpolitik zu diskutieren, die neue Begriffe wie „Milchsee“ oder „Butterberg“ rasch auf den Punkt brachten. In unserem Zusammenhang wichtig ist, dass für die Käseindustrie neue unternehmerische Chancen geschaffen wurden, mochten diese auch zu Lasten der Verbraucher resp. der Steuerzahler gehen. Dabei war das Kernproblem der hiesigen Anbieter die nach wie vor einseitig dominierende Produktorientierung. Qualität war seit 1930 zum Mantra der Molkereifachleute geworden, während die garantierten Preise die Marketingperspektive des Geschäfts vernachlässigen ließen. [52] Es war eben kein Zufall, dass nicht zuletzt die Werbung in den 1950er und auch noch Anfang der 1960er Jahre altmodisch war und in überkommen Bahnen verlief.

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Aufholen der deutschen Molkereien: Milram, 1963 eingeführt (Der Verbraucher 1976, Nr. 16, 43)

Marktchancen in einem einseitig regulierten Markt

In den 1960er Jahren erkannten jedoch private Käseproduzenten und zunehmend auch große Genossenschaften ihre Marktchancen. Ein gutes Beispiel dafür war 1964 das „delicando“-Programm von Hamburgs größtem Käseproduzenten, dem Milch-, Fett- und Eierkontor. Es konzentrierte sich auf Schnittkäse, eine Stärke der niederländischen und dänischen Importeure. Natürlich verbesserte man erst einmal die Qualität des eigenen Angebotes und führte strenge Qualitätskontrollen ein. Zugleich aber schuf man eine neue Handelsmarke und reduzierte das Angebot auf nur vier gängige Sorten. [53] Delicando war auch eine Antwort auf die neuen Selbstbedienungs-Supermärkte, die in den frühen 1960er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. In diesem Fall schlossen sich letztlich 42 mittelständische Käseproduzenten zusammen, mit 28 % der westdeutschen Schnittkäseproduktion. Weitere regionale Verbände führten ähnliche Programme ein, zum Beispiel „frischli“ in Niedersachsen. Diese Molkereien folgten dabei ähnlichen Handelsmarkenprogrammen wie etwa die der Einkaufsgenossenschaften Edeka oder Rewe. Wie schon während der NS-Zeit hieß es nun wieder diesen Programmen zu folgen oder aber aus dem Geschäft auszusteigen.

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Käseprodukte für die neue Welt der Supermärkte: Frischkäsemarken Cheesy und frischette (Der Verbraucher 1974, Nr. 4, 13 (l.); ebd., Nr. 20, 5)

Die Folge war ein schneller und stetiger Anstieg der Größe der bestehenden Molkereien. Das erforderte Fusionen von Molkereien und Molkereiverbänden – und eine wachsende Zentralisierung der Käseproduktion. Im Jahr 1967 fusionierten beispielsweise fünf südwestliche Verbände, die zusammen mehr als 120 Produktionsstandorte umfassten. [54] Massive Schließungen kleinerer Hersteller folgten. Damit traten die westdeutschen Käseproduzenten in eine neue Ära des nationalen und internationalen Wettbewerbs ein. Es war vielleicht kein Zufall, dass Ende der 1960er Jahre auch die Eigenproduktion von Käse an ein Ende kam, als die Molkereien beschlossen, an die Milchbauern keinen Quark mehr zu liefern. [55]

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Wachsende Warenvielfalt in neuartigen Kühlregalen (So baut man heute an der Ruhr, Rheydt 1960, s.p.)

Käse in einer neuen Welt des Güterabsatzes

Doch in den 1960er Jahren veränderten sich nicht nur die für einen wachsenden Käsekonsum in Deutschland und potenziellen Auslandsmärkten zentralen politischen Rahmenbedingungen. Damals setzte sich zudem die Kühltechnik sowohl im Handel als auch in den Haushalten durch. [56] Frischkäse gewann dadurch neue Marktchancen, und zugleich sanken die nicht geringen Warenverluste in den Geschäften und zu Hause. Der Aufstieg der Supermärkte führte zu größeren Verkaufsstätten und einer immensen Sortimentserweiterung gerade bei Milchprodukten. Von 1963 bis 1969 stieg deren Zahl in den Supermärkten von durchschnittlich 127 auf 309. [57] Parallel mit der Einbindung in rasch expandierende Selbstbedienungssysteme änderte sich das Erscheinungsbild des Käses neuerlich: Plastikverpackungen erlaubten den direkten Blick auf die Ware, schützten zudem den immer häufiger vorgeschnittenen Inhalt.

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Vorgeschnittene „Natur“-Käsescheiben in transparenter Plastikfolie 1960 (Kristall 16, 1960, 381)

Vielleicht noch wichtiger als derartige Veränderungen im Gesichtsfeld der Konsumenten waren die Rückwirkungen der modernen Verpackung auf die Wertschöpfungsketten: Verpackungsmaschinen und hygienische Warenflüsse erforderten Kapital – und damit größere Firmen und koordinierte Lieferketten. [58] Der Wandel des Einzelhandels verstärkte also den politisch initiierten Druck auf Molkereien und Käsehersteller. Die Nachfragemacht des Handels erforderte Angebotsmacht – enge Kooperationen und Fusionen waren die rationale ökonomische Antwort. Darüber hinaus profitierte der Käsekonsum von der immer stärkeren Verwendung von Käseprodukten in der Lebensmittelproduktion: Fertiggerichte und Pizza ebneten den Weg für einen rasant steigenden Einsatz von Reibekäse und Pasta Filata. Schließlich gaben die EWG-Erweiterung und Produktinnovationen wichtige Anreize für die Vervierfachung des deutschen Käsekonsums von 1960 bis 2000. Neue Sorten, etwa Mozzarella, Feta oder Leerdamer, wurden in die deutsche Esskultur integriert – und sofort von deutschen und anderen Käseproduzenten kopiert. [59] Der deutsche Frischkäse- und Quarkverbrauch verdoppelte sich von 2,6 Kilogramm pro Kopf im Jahr 1962 auf 5,1 im Jahr 1973. [60] Der Gesamtkäseverbrauch stieg 1973 auf 10,6 Kilogramm, lag 1983 bei 14,7 Kilogramm und überschritt 1996 die 20-Kilogramm-Marke (mit 20,1 Kilogramm pro Kopf). [61]

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Strukturwandel der Käseproduktion in Bayern 1950-2019 (Statistik der Bayerischen Milchwirtschaft 2019, hg. v. d. Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft, Freising 2020, 28)

Käseexport als Wachstumsmotor

Für dieses Wachstum entscheidend war der Außenhandel. Die Bundesrepublik Deutschland war bereits in den 1960er Jahren der zweitgrößte Käseimporteur der Welt. Hauptnutznießer waren die Niederlande – sie lieferten 90 % der westdeutschen Schnittkäseimporte – und Frankreich, das die Weichkäseimporte vollständig dominierte. [62] Vor den EWG-Milchmarktreformen waren die deutschen Exporte niedrig und wurden von Schmelzkäse (bzw. der Firma Kraft) dominiert. 1963 betrug der Weltmarktanteil westdeutscher Käseexporte nur 3,5 %. Doch nun begann ein rasantes Wachstum: Die Ausfuhren stiegen zwischen 1963 und 1973 von 18.900 auf 81.900 Tonnen. [63] Italien wurde das mit Abstand wichtigste Zielland, gefolgt von den USA. Schmelzkäse blieb wichtig, wurde aber in den 1960er Jahren von Hart-, Schnitt- und Weichkäse übertroffen. Mit anderen Worten: In Deutschland ansässige Firmen drangen mit Produkten und Strategien in die italienischen Märkte ein, die zuvor von niederländischen Produzenten in Deutschland genutzt wurden. Es waren vor allem Anbieter aus dem bayerischen Allgäu, die billigen und massenindustriell gefertigten Käse in einen wachsenden nahe gelegenen ausländischen Massenmarkt exportierten.

Der Exporthandel wurde von größeren und effizienteren Firmen dominiert. Zum einen fusionierten viele Molkereien zu größeren Einheiten. Die Zahl der Molkereien halbierte sich von mehr als 800 im Jahr 1970 auf rund 400 im Jahr 1980. Im Jahr 1991 gab es im vereinigten Deutschland 379 milcherzeugende Betriebe, davon 207 genossenschaftliche Molkereien. Bis 2003 sank diese Zahl auf 230, davon 106 Kapitalgesellschaften, 2015 betrug die Gesamtzahl 102. [64] Begleitet wurde dieser Wandel von einer zunehmenden Spezialisierung. Während multinationale Konzerne – etwa Danone oder Unilever – die gesamte Produktionspalette von Milchprodukten anboten und weltweit vermarkteten, etablierten sich parallel Hersteller von Markenprodukten und Handelsmarken. Erstere, etwa Bauer oder Hochland, produzierten Premiumprodukte mit relativ hohem Mehrwert für einen internationalen Markt. Die zweite Gruppe etablierte keine Markenidentität, sondern konzentrierte sich auf den unteren, den preiswerteren Bereich des Marktes. Alle diese Unternehmen kooperierten eng mit führenden deutschen Einzelhändlern, die innerhalb Europas und im letzten Jahrzehnt auch in den USA eine führende, teils dominierende Stellung einnahmen. Ähnliche Muster entwickelten sich auf regionaler Ebene, wo regionale Akteure entweder versuchten, eine starke Markenidentität zu etablieren, oder sich mittelständische Unternehmen auf massenhaft hergestellte Billigprodukte für regionale Märkte konzentrierten. [65]

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Kraft-Fabrik Schwabmünchen 1958 (Der Spiegel 1958, Nr. 16, 25)

Dieser rasche Wandel wäre ohne beträchtliche ausländische Direktinvestitionen nicht möglich gewesen. Nur drei deutsche Unternehmen – Deutsches Milchkontor, Müller und Arla – waren 2018 unter den zwanzig global führenden Molkereien. Aber zehn dieser zwanzig Unternehmen produzierten an insgesamt 37 Standorten in Deutschland. [66] Es ist daher eine typische semantische Illusion, von „deutschem“ Käse zu sprechen. Dabei ist der Molkereimarkt hierzulande wettbewerbsintensiv, besitzen doch mehr als ein Dutzend Firmen Marktanteile von über 3 %. [67] Acht Unternehmen – Deutsches Milchkontor, Müller, Hochwald, Arla, Hochland, FrieslandCampina, Fude + Serrahn und Zott – hatten 2017 einen Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro. [68] Es ist sehr wahrscheinlich, dass weitere Fusionen zu noch kapitalkräftigeren nationalen und multinationalen Unternehmen führen werden.

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Quintessenz moderner Milchverarbeitung: Müller-Standort Leppersdorf (https://www.muellergroup.com/die-gruppe/standortportraits/leppersdorf/ [Abruf: 23.02.2021])

Die Bundesrepublik Deutschland blieb der zweitgrößte Käseimporteur der Welt. Doch 1987 wurde es vom Nettoimporteur zum Nettoexporteur. [69] Im Jahr 2018 wurden 49 % der deutschen Käseproduktion exportiert. Fast 90 % gingen in andere Länder der Europäischen Union (EU), doch zunehmend boten auch Nicht-EU-Märkte Marktchancen. Russland, ehedem größter Abnehmer, wird seit einigen Jahren aus politischen Gründen nicht mehr beliefert, doch die Schweiz, Japan, die USA und Südkorea, Balkanstaaten und die arabische Welt können und werden wahrscheinlich wachsende Mengen „deutschen“ Käses importieren. Anderseits wurden 2018 41 % des deutschen Käsekonsums importiert, fast durchweg aus der EU. Die Verbraucherpreise sind relativ niedrig – und die Bundesbürger können alle Käsesorten dieser Welt genießen. [70] All dies veränderte den ökonomischen Stellenwert von Käse massiv: Er ist seit den frühen 1960er Jahren die treibende Kraft des Milchmarktes. Heute wird mehr als ein Drittel der hierzulande produzierten Milch zu Käse verarbeitet.

Zwei Aspekte sind zu ergänzen: Zum einen ist Deutschland heute der zweitgrößte Markt für Bio-Lebensmittel weltweit. Deutscher Bio-Käse wurde in den letzten zwei Jahrzehnten stark subventioniert, blieb jedoch ein Nischenprodukt. Sein Marktanteil wuchs lange Zeit, vor allem in Süddeutschland, lag aber mit 2,4 % im Jahr 2016 und nur mehr 2,2 % im Jahr 2019 weit unter dem durchschnittlichen Anteil von Bio-Lebensmitteln in Deutschland. [71] Auf der anderen Seite hat sich Analogkäse zu einer wichtigen und günstigen Alternative zu Käse entwickelt. Im Jahr 2015 wurden ca. 100.000 Tonnen produziert, also knapp 5 % der gesamten Käseproduktion. Die meisten dieser nicht immer präzise abzugrenzenden Ersatzprodukte werden exportiert, zumal sie hierzulande als Zugabe zu Pizza, Lasagne oder Käsebrötchen gekennzeichnet werden müssen. [72] Veganer bevorzugen solche Imitate und es ist mehr als wahrscheinlich, dass solcher Kunstkäse in Zukunft Marktanteile gewinnen werden. Vermeintlich „gesunde“ Ernährungsweisen knüpfen damit an Entwicklungen an, die vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich scheiterten.

Käse – und die Aufgabe des Historikers

Es war ein langer Weg vom Aufstieg der deutschen Molkereien und Sauerkäsereien bis zur heutigen globalen Präsenz von „deutschem“ Käse. Im Gegensatz zu Staaten mit einer reicheren kulinarischen Tradition der Käseherstellung haben „deutsche“ Produzenten gelernt, die Kernbedürfnisse des modernen Massenmarktes zu bedienen. Doch obwohl eine unüberschaubare Anzahl von Kochbüchern und Lebensmittelhandbüchern veröffentlicht wurde, um den nuancierten Geschmack dieses Milchprodukts zu preisen, ist dies nicht mehr als die ästhetische Fassade einer Lebensmittelversorgung, die vor allem von soliden, schmackhaften und standardisierten Sorten geprägt ist. Deutschland hat die meisten seiner traditionellen Spezialitäten, insbesondere Tilsiter, Sauermilchkäse und viele süddeutsche Weichkäse, bereits in den 1940er und 1950er Jahren verloren oder modifiziert. Von ausländischen Molkereien lernend, die fortschrittlichen Produktionstechnologien des Auslandes kopierend, konnte Deutschland eine hybride „deutsche“ Käseproduktion entwickeln, die dann in der Lage war, ausländische, ja Weltmärkte zu erobern. Das Fehlen und der Verlust von kulinarischen Traditionen war ein wichtiges Element für diesen Erfolg.

Dieser erstaunliche Wandel wäre ohne eine entsprechende Agrarpolitik und ohne traditionslos erfolgreich agierende Unternehmer nicht möglich gewesen – und doch standen sie in der Tradition der Molkereiexperten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die kleine, bestenfalls mittelständische Molkereien und Käsereien etablierten, um die wachsende Zahl von Menschen in Dörfern und städtischen Zentren zu versorgen. Klare Definitionen und Offenheit für ausländische Innovationen halfen, ein immenses Netzwerk von kleinen und mittleren Betrieben zu schaffen, das schon vor dem Ersten Weltkrieg als „deutsche“ Käseindustrie wahrgenommen wurde, sich selbst aber erst seit den 1920er Jahren so bezeichnete. In dieser Zeit versuchten Staat und Molkereifachleute, die Industrie zu rationalisieren. Doch von Importmacht und Wirtschaftskrisen bedrängt, schlossen sie den Markt, um die Käseproduktion nach ihren eigenen Bedingungen zu entwickeln. Nach 1930 wuchsen Verbrauch und Produktion, aber die damaligen Angebote brachten die Verbraucher nicht dazu deutlich mehr Käse zu konsumieren. Das System der kontrollierten Verbesserung begünstigte die Produzenten, und die Interessen der Agrarindustrie waren ausschlaggebend für die Wiedereinführung ähnlicher Systeme der Marktordnung in den frühen 1950er Jahren in Westdeutschland und 1964 in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Solche Systeme waren funktional, um eine Branche mit fast 15.000 Firmen oder Molkereien (1930) in eine Gruppe von heutzutage etwa 100 regionalen, nationalen und globalen Akteuren zu verwandeln. Diese Firmen können alle Käsesorten zu einem erschwinglichen Preis produzieren. Parallel dazu erzählen sie den Verbrauchern aber abstrus anmutende Geschichten von der traditionellen bäuerlichen Hausproduktion. Und sie waren sehr erfolgreich darin, Vorstellungen garantierter Herkunftsorte und spezialisierter Angebote in aufnahmefähigen Exportmärkten zu etablieren.

Die heutige deutsche Käseindustrie ist das Ergebnis eines erstaunlichen Wandels. Sie bedient die Bedürfnisse des modernen Massenmarktes und vermittelt eine fortwährende Chimäre von hochwertiger Käseproduktion durch Bauern und Senner, von einer ruhigen und stabilen Landwirtschaft, von Natur und Mensch in Harmonie. Ich mag solche Geschichten, besonders beim Genuss von vollmundigem Hartkäse und eines nuancierten Rotweins. Die Geschichtswissenschaft verweist jedoch auf eine deutlich andere Geschichte – und es ist die nüchterne Aufgabe von Historikern, just diese zu verbreiten.

Uwe Spiekermann, 27. März 2021

Anmerkungen und Nachweise

[1] Rolf Schrameier, Entwicklungstendenzen am deutschen Käsemarkt, Blätter für landwirtschaftliche Marktforschung 3, 1932/33, 85-91, hier 87.
[2] Vgl. Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Käse-Industrie, Die Käse-Industrie 3, 1930, 74-75; Kurt Kretschmer, Existenzfragen der Käse-Industrie, ebd., 97-99, hier 97; Im Kampf auf dem Käsemarkt, Die Käse-Industrie 5, 1932, 49-50, hier 49.
[3] A[rtur] Schürmann, Nachfragewandlungen am Käsemarkt des Rhein.-Westf. Industriegebietes, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 62, 1933, 33-36, 47-50, hier 48.
[4] G[ustav] Rieß und W[alter] Ludorff, Die Verordnung über die Schaffung einheitlicher Sorten von Butter und Käse, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1934, 25-27, 42-44.
[5] Vgl. Hugo Teßmer, Die neue Verordnung über den Zusammenschluß der deutschen Milchwirtschaft, Die Käse-Industrie 9, 1936, 84-86; [Oswalt] Vopelius, Neue Grundlagen des deutschen Käsemarktes, Mitteilungen für die Landwirtschaft 53, 1937, 301.
[6] Internationales Abkommen zur Vereinheitlichung der Methoden für die Entnahme von Proben und die Untersuchung von Käse. (Rom, den 26. April 1934.), Milchwirtschaftliches Zentralblatt 67, 1938, 49-53.
[7] G[erhart] Rudolph, Steigende Selbstversorgung Deutschlands mit Käse, Zeitschrift für Volksernährung 10, 1935, 140-141, hier 141.
[8] Vgl. Nathusius, Die Reform der Milchgeschäfte durch das Reichsmilchgesetz, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 62, 1933, 285-286.
[9] Heinz Mahn, Der Käsemarkt in Deutschland, Frankfurt a.M. 1952, 49.
[10] Der Quarg und seine Verwendung, Die Käse-Industrie 11, 1938, 34-37, hier 34.
[11] Kurt Kretschmer, Rückblick und Ausblick auf die Lage der Sauermilchkäsereien, Die Käse-Industrie 9, 1936, 1-3; Die Sauermilchkäserei in der Statistik, Die Käse-Industrie 11, 1938, 168-169, hier 168.
[12] Kurt Kretschmer, Die Aufgaben der Fachuntergruppe Sauermilchkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 20-21, hier 20.
[13] E. Oelkers, Sauermilchkäse-Pflichtprüfung und Fachschaftstagung der Hersteller von Sauermilchkäse im MWV. Hannover, Die Käse-Industrie 11, 1938, 22; G. Schwarz und H. Döring, Vereinheitlichung der Untersuchungsmethoden von Sauermilchquarg, ebd. 29-32. Zu ähnlichen Kontrollsystemen anderer Käsesorten s. Vorschriften und Grundsätze für das Richten von Käse beim Preiswettbewerb der Reichsnährstandsausstellung, Die Käse-Industrie 9, 1936, 29-33.
[14] Kurt Kretschmer, Aufgaben der Sauermilchkäsereien, Die Käse-Industrie 9, 1936, 141-142, hier 142.
[15] Kurt Kretschmer, Beitrag zur Verbrauchslenkung für Sauermilchkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 152-153.
[16] K[urt] Kleinböhl, Rückblick auf die Reichsprüfung für Quarg und Sauermilchkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 132-134, hier 134.
[17] Georg Bergler, Absatzmethoden des Einzelhandels von vorgestern, gestern und heute, Deutsche Handels-Warte 1934, 102-106, 129-133, hier 105.
[18] Walter Ludorff, Schmelzkäse, seine Herstellung und Bedeutung für Ernährung und Wirtschaft, Reichs-Gesundheitsblatt 13, 1938, 245-247; Erzeugung von Schmelzkäse im Jahre 1937, Die Käse-Industrie 11, 1938, 763-764.
[19] Zum ersten Male der volle Wert der Milch im Käse, Die Zeit 1952, Ausg. v. 6. November.
[20] Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung. […], 4. überarb. und erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 212; Kurt Kretschmer, Die Herstellung von Kochkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 111-115; G. Stamm, Über Schichtkäse, Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 66, 1933, 593-599.
[21] Vgl. Kochkäse in Dosen, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 108-109; Scheiben-Käse in Dosen, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 67, 1938, 260-261; W[ilhelm] Henneberg, Die Herstellung des Käses aus pasteurisierter Milch, Der Forschungsdienst 1, 1936, 371-377.
[22] Mahn, 1952, 39.
[23] Werbung für deutschen Käse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 9; K. Noack, Werbung für Sauermilchkäse, ebd., 54-55, 71-73; O[swalt] Vopelius, Wege und Mittel der Käsewerbung, ebd., 62-63; Erfolgreiche Werbung für den Mehrverbrauch von Käse, ebd., 84-85; Werbefeldzug für den Mehrabsatz von Käse, Die Ernährung 3, 1938, 139.
[24] Vgl. J.F. Hußmann, Käse als Nahrungsmittel, Zeitschrift für Volksernährung 16, 1941, 306-307, 381-383; Hermann Ertel, Die Bedeutung des Käses für die menschliche Ernährung, Die Käse-Industrie 11, 1938, 63-64.
[25] Kurt Kretschmer, Die Kleinpackung in der Käse-Industrie, Die Käse-Industrie 11, 1938, 17-18.
[26] Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, Abschnitt: Entwicklung der Versorgung mit den wichtigsten Nahrungsmitteln, s.l. s.a. (Ms.), 30.
[27] Ebd. s.a., 2. S. n. 30.
[28] Verbot bestimmter Fettkäsesorten und Herabsetzung des Fettgehaltes für Käse, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 1939, 207.
[29] Häfner, s.a., Abschnitt: Nahrungsmittelverbrauch, 10.
[30] Hanni Stein, Käsebereitung aus Magermilchquark, Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, 68.
[31] Häfner, s.a., Abschnitt: Entwicklung, 32.
[32] Die Agrarmärkte in der Bundesrepublik. Aufbau, Arbeitsweise und bisherige Arbeitsergebnisse der Zentralen Markt- und Preisberichtstelle der Deutschen Landwirtschaft G.m.b.H., Neuwied 1951, 43.
[33] Mahn, 1952, 13.
[34] C[arl] Stoye, Zur Ernährungsdebatte, Der Verbraucher 6, 1952, 27-30, hier 30.
[35] G. Mehlem, Milchpreisdebatte im Bundestag, Der Verbraucher 7, 1953, 701.
[36] Wilhelm Merl, Die Ohnmacht der Verbraucher, Gewerkschaftliche Monatshefte 7, 1956, 547-551.
[37] 1958 war eine Ausnahme, da niederländische und dänische Importeure ihre Preise reduzierten. Eine auf Druck der Milchlobby erzielte Einigung zwischen den drei Staaten stabilisierte dann wieder das ursprüngliche Preisniveau. Vgl. Käsepreise. Das Frühstückskartell, Der Spiegel 12, 1958, Nr. 32, 18-20.
[38] Die Referenzwerte für 1948/49 waren 1,2 kg Hartkäse, 1,1 kg Schmelzkäse, 0,3 kg Sauerkäse, 0,5 kg Quark resp. für 1950/51 2,7 kg Hartkäse, 0,7 kg Schmelzkäse, 0,5 kg Sauerkäse, 1,1 kg Quark (Mahn, 1952, 39).
[39] Bärbel Heinicke, Nahrungs- und Genußmittelindustrie. Strukturelle Probleme und Wachstumschancen, Berlin-West und München 1964, 74-75 (für den gesamten Absatz).
[40] Zur Lage auf dem Milchmarkt im Bundesgebiet, Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 25, 1958, 123-124, hier 124.
[41] H[einz] Mahn, Wachsende Bedeutung der Schmelzkäse-Industrie in der Bundesrepublik Deutschland, Die Ernährungswirtschaft 11, 1964, 163-165, hier 164.
[42] Emmentaler. Die Käsegrenze, Der Spiegel 12, 1958, Nr. 16, 25-26.
[43] Die Käse-Konvention von Stresa und die Zusatzprotokolle von Stresa und Den Haag, Die Milchwissenschaft 7 (1952), 286-291; M[ax] E[rnst] Schulz, Klassifizierung von Käse, ebd., 292-299.
[44] Oscar Langhard, Internationale Vereinbarungen zum Schutz von Käsenamen, Die Milchwissenschaft 8, 1953, 221-223.
[45] Mahn, 1952, 24.
[46] Ebd., 25-26. Armin Boeckeler, Der Strukturwandel in der Hartkäseproduktion in Deutschland beim Übergang von der handwerklichen zur industriellen Fertigung, Konstanz 1971, 16, betonte, dass die Technologie der Weichkäseproduktion im Allgäu zwischen 1910 und 1959 stagniert habe.
[47] Berechnet n. Mahn, 1952, 30.
[48] Ebd., 35; Tribut für Cema, Der Spiegel 23, 1969, Nr. 39, 106-107, hier 106.
[49] Vgl. Wilhelm Magura (Hg.), Chronik der Agrarpolitik und Agrarwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland von 1945-1967, Hamburg und Berlin (W) 1970, 110-112. Für eine breitere Perspektive s. Kiran Klaus Patel, Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955-1973, München 2009.
[50] Hermann Bohle, Schutz für den EWG-Käse, Die Zeit 1964, Ausg. v. 24. Juli.
[51] Vgl. die Diskussion in H[ans] J[ürgen] Metzdorf, Der westdeutsche Fettmarkt, Agrarwirtschaft 11, 1962, 188-192, hier 191-192.
[52] Rudolf Hilker, Der Käsemarkt in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg und Berlin (W) 1967, 8-9.
[53] Hans Lukas, Der Deutsche Raiffeisenverband. Entwicklung, Struktur und Funktion, Berlin (W) 1972, 95-96.
[54] Max Eli, Die Nachfragekonzentration im Nahrungsmittelhandel. Ausmaß, Organisation und Auswirkungen, Berlin (W) und München 1968, 39.
[55] Ernst Esche und Manfred Drews, Der Europäische Milchmarkt, Hamburg und Berlin (W), 146; Frank Roeb, Käsezubereitung und Käsespeisen in Deutschland seit 1800, Phil. Diss. Mainz, Mainz 1976, 192.
[56] Zu den allgemeinen Trends im westdeutschen Einzelhandel dieser Zeit s. Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-129, insb. 99-116.
[57] Die Hoffmann Studie, FfH-Mitteilungen NF 4, 1963, Nr. 11, 1-3; Explosive Sortiments-Entwicklung, dynamik im handel 1970, Nr. 5, 3-15.
[58] Vgl. Hubert Bentele, Moderne Käsereien: Technische Konzeption aus gegenwärtiger Sicht, Die Ernährungswirtschaft/Lebensmitteltechnik 17, 1970, 340, 342, 344.
[59] Vgl. Tobias Piller, Mozzarella aus Deutschland?, Frankfurter Allgemeine Zeitung 2008, Nr. 280, 8. Über Feta und die Prozesse über die Verwendung des Begriffes s. Peter Holler, Als Standardprodukt etabliert, Lebensmittelzeitung 2006, Nr. 35, 50-51.
[60] G[erd] Ramm, Produktion und Verbrauch von Käse in der BRD seit 1960 und Vorausschätzungen für 1975 und 1980, Braunschweig 1974, 14.
[61] Agrarmärkte. Jahresheft 2000, Schwäbisch Gmünd 2000, M – 11.2.
[62] Ramm, 1974, 11-12.
[63] Ebd., 4.
[64] Marlen Wienert, Integrierte Kommunikation in Milch verarbeitenden Unternehmen, Wiwi. Diss. TU München, München 2007, 17. Höchst informative Karten zu diesen Veränderungen finden sich in Helmut Nuhn, Veränderungen des Produktionssystems der deutschen Milchwirtschaft im Spannungsfeld von Markt und Regulierung, in: ders. et al., Auflösung regionaler Produktionsketten und Ansätze zu einer Neuformierung. Fallstudien zur Nahrungsmittelindustrie in Deutschland, Münster 1999, 113-166 und Cordula Neiberger, Standortstrukturen und räumliche Verflechtungen in der Nahrungsmittelindustrie. Die Beispiele Molkereiprodukte und Dauerbackwaren, in: ebd., 81-111.
[65] Roland Rutz, Die deutsche Milchwirtschaft, in: Karsten Lehmann (Hg.), Wertschöpfungsketten in Deutschland und Polen – das Beispiel Milch und Gemüse, Berlin 2010, 69-82, hier 78.
[66] Richard Riester, Corina Jantke und Amelie Rieger, Milch, in: Agrarmärkte 2019, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2020, 209-238, hier 214.
[67] Andrea Wessel, Die Käsebranche formiert sich neu, Lebensmittelzeitung 2001, Nr. 39, 51-52; Cheese in Germany. Industry Profile, hg. v. Datamonitor, New York u.a. 2004, 13.
[68] Riester, Jantke und Rieger, 2020, 231.
[69] Petra Salomon, Die Märkte für Milch und Fette, Agrarwirtschaft 39, 1990, 421-439, hier 435. Zusätzliche Informationen über die Zeit des Übergangs enthält L[utz] Kersten, Die Märkte für Milch und Fette, ebd. 34, 1985, 395-409 (oder andere Ausgaben dieser Jahresüberblicke).
[70] Riester, Jantke und Rieger, 2020, insb. 233.
[71] Die Bio-Branche 2017. Zahlen, Daten, Fakten, hg. v. Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft, Berlin 2017, 15; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1774443/umfrage/käse [Abruf: 23.02.2021]. Der neueste Bericht wies lediglich den insgesamt unterdurchschnittlichen Marktanteil von Milchrahmerzeugnissen aus (4,8 %), nicht aber den gesunkenen Marktanteil von Biokäse (Branchen Report 2020 Ökologische Lebensmittelwirtschaft, hg. v. Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft, Berlin 2020, 23).
[72] Agrarmärkte 2016, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2016, 241.