Ehret das Brot! Wirtschaftlichkeit, Wertschätzung und Wehrbereitschaft 1925-1945

“Wir haben’s immer dankerfüllt geschätzt / Als unseres Volkes tiefsten Kräfteborn, / Wir hieltens wert – doch nimmer so wie jetzt, / Das deutsche Brot, aus echtem deutschem Korn” (Wochenblatt der Landesbauernschaft Westfalen 1937, 1759). So klang es beim Erntedank 1937 – und diese Wertschätzung umfasste auch eine weit längere Reihe heimischer Lebensmittel.

Wertschätzung von Lebensmitteln wird seit einigen Jahren wieder eingefordert, „in der Diskussion um die Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme und die Förderung nachhaltigeren Ernährungshandelns wird der Wertschätzung von Lebensmitteln eine zentrale Bedeutung zugeschrieben“ (Regine Rehaag und Stefan Wahlen, Call for Participation and Save the Date ‚Wertschätzung von Lebensmitteln‘ Ein Hebel für nachhaltigeres Ernährungshandeln? Tagung des Netzwerks Ernährungskultur (Esskult.net) am 13. Mai 2025). Anlass und Motive sind andere, auch wenn abermals der Staat systematisch fördert und finanziert. Der scheidende Ernährungsminister Cem Özdemir betonte während der Aktionswoche „Deutschland rettet Lebensmittel!“ im Spätsommer 2023: „Etwa 11 Millionen Tonnen Lebensmittel landen jedes Jahr in Deutschland in der Tonne – vieles davon ist noch einwandfrei genießbar. Ob zu viel gekauft, zu viel gekocht oder zu viel auf den Teller geladen: Alle können dazu beitragen, dass diese enorme Verschwendung von Lebensmitteln aufhört. Denn die meisten Abfälle – insgesamt fast 60 Prozent oder rund sechs Millionen Tonnen – fallen in Privathaushalten an“ (BMEL – Pressemitteilungen – Özdemir eröffnete Aktionswoche Deutschland rettet Lebensmittel!). Schon zuvor hatte das korporatistische Deutschland einen „Pakt gegen Lebensmittelverschwendung“ (Pakt gegen Lebensmittelverschwendung) geschlossen, in dem ambitionierte Ziele der Abfallreduktion im europäischen und internationalen Rahmen vereinbar wurden.

Wer wollte dagegen sein – auch wenn die Hauptlast der Abfallvermeidung von den offenbar verschwenderischen Privathaushalten zu schultern ist. Für einen Historiker ist es allerdings frappierend, dass derartig zukunftsgewandte appellative Aktionen öffentlich lanciert und propagiert werden, ohne den langen Schatten der Geschichte, den gesammelten Erfahrungsschatz der Lebenden und der Toten mit einzubeziehen. Gegenwärtige Probleme einer modernen, technisch und arbeitsteilig organisierten Gesellschaft werden benannt und angegangen, ambitionierte Zielsetzungen festgeschrieben und ihre Umsetzung abverlangt. Doch mit der Genese dieser Probleme, mit den vielgestaltigen bisher eingesetzten und durchaus problemvermindernden Techniken und Praktiken wird sich kaum beschäftigt. Nahrungsmittelverluste gelten vornehmlich als „Symptom unserer heutigen Überflussgesellschaft“ (Ricarda Weber, Christian Strotmann und Guido Ritter, Adressatenspezifische Kommunikationskonzepte zur Lebensmittelabfallreduktion in deutschen Privathaushalten, Österreichische Wasser- und Abfallwirtschaft 71, 2019, 246-262, hier 246). Der Klimawandel, der Welthunger, selbst der Ukrainekrieg, sie alle unterstreichen lediglich, „wie zeitkritisch die Transformation hin zu zirkulärem Wirtschaften“ (Rat für Nachhaltige Entwicklung, Zirkuläres Wirtschaft: maßgebliche Voraussetzung für eine nachhaltige Transformation, o.O. 2023, 2) und zu neuer Wertschätzung von Lebensmitteln ist. Ergebnisse der Umwelt-, Technik-, Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte werden von der neuen Transformationsforschung fast durchweg ignoriert: Vielleicht, weil alles wirklich so drängend ist, dass ergänzende Lektüre nicht einmal rudimentär erfolgen kann; vielleicht, weil von empirisch valider Reflektion anderer Disziplinen die Gefahr ausgeht, Illusionen der Machbarkeit fundiert in Frage zu stellen (Heike Weber und Melanie Jaeger-Erben, Circular Economy: Die Wende hin zu ‚geschlossenen Kreisläufen‘ als stete Fiktion, in: Heike Weber (Hg.), Technikwenden. Historische Perspektiven auf soziotechnische Um- und Aufbrüche. Baden-Baden 2023, 169-197; Stefan Krebs, Heike Weber (Hg.), The Persistence of Technology. Histories of Repair, Reuse and Disposal, Bielefeld 2021; Roman Köster, Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1990, Göttingen 2017, etc., etc.). Statt mich hier aber an einer wahrlich vielgestaltigen Transformationsliteratur abzuarbeiten, die vornehmlich durch teildisziplinäre Selbstbezüglichkeit charakterisiert ist, will ich im Folgenden versuchen, einen kleinen Teilbereich der gegenwärtigen Transformationspolitik, nämlich die heutige Wertschätzungspolitik, an einem gewiss markanten Beispiel zu historisieren. Distanz, zumal historische, macht Probleme sichtbarer, eröffnet realistischere Zugänge als die Modellprojektionen in den stets offenen Horizont der Zukunft. Womit wir wieder bei dem wertschätzenden Gedicht anlässlich des nationalsozialistischen Erntedankfestes angekommen sind.

1. Wertschätzung als bürgerlicher Begriff zwischen Markt und Moral

Ich werde dem Phänomen derartiger Wertschätzungen in fünf Schritten nachgehen. Eingangs ist der Begriff selbst genauer einzuordnen.

Wertschätzung als interpersonaler Begriff des bürgerlichen Zeitalters: Relative Worthäufigkeiten 1750-1945 (Erstellt auf Grundlage von Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache.de; mit einem allerdings sehr kleinen Textkorpus)

Wertschätzung bezeichnete in vormodernen Zeiten Untertanenverhältnisse, wurde auch religiös gedeutet (Wertschätzung, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 29, München 1984, 492). Das änderte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem bürgerlichen Zeitalter: Wertschätzung etablierte sich ab 1840 als interpersonaler Alltagsbegriff, als Ausdruck der Anerkennung von Mitbürgern, Großgruppen und Ideen: „Eine jede Wertschätzung ist eine Aussprache darüber, wie hoch eine Sache nach unserem Urteile zu halten sei; eine sittliche Wirtschätzung wäre also eine solche, welchen den Menschen oder seine Handlungen nach unserem sittlichen Urteile bemißt“ (Wilhelm Krämer, Ueber die sittliche Wertschätzung menschlicher Größe, Gera 1870, 20).

„Wertschätzung“ in Zahlen: Begriffskonjunktur insbesondere während der NS-Zeit (Zeitpunkt.NRW (l.) und Badische Landesbibliothek)

Der Begriff Wertschätzung wurde im 20. Jahrhundert nochmals wichtiger, zumindest wenn man den gängigen Zeitungsdatenbanken folgt: Gerade während der NS-Zeit machte er Karriere, wurde wie „Achtsamkeit“ oder „Haltung“ Ausdruck nationalsozialistischer Moral. Diese gab es, man diente höchsten Idealen, Sprache verlieh diesen Ausdruck (Claudia Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge 2003; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Bonn 2010; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014; Lothar Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019; Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral aus historischer Erfahrung, Freiburg/Br. und München 2020, 104-136).

„Wertschätzung“ von Lebensmitteln als Tatsache (Der fortschrittliche Landwirt 23, 1941, Nr. 18 v. 3. Mai, 208 (o.).; Die Bastion 1936, Nr. 40 v. 4. Oktober, 1)

Wertschätzung war emotionsgeladen, diente der Gefühlsmobilisierung: Zunehmend weniger gegenüber Einzelnen, sondern immer stärker gegenüber Großgruppen, Institutionen und völkisch bedeutsamen Fähigkeiten. Die Verwendungspalette war breit: In den 1930er Jahren schrieb man über die Wertschätzung des Handwerks, der Berufskameraden, des Arbeitsmanns, der Schaffenden, der deutschen Hausfrau und Mutter, der Wirtschaft, des Könnens, des politischen Menschen, des Gegners, des deutschen Volkes, und natürlich des Jubelpaars und der teuren Verstorbenen. Wertschätzung gab es aber auch im Agrar- und Ernährungssektor, bezog sich auf Lebensmittel, auf Speisen: Der Begriff stand dort Seit an Seit mit Begriffen wie „Ehre“, „Achtung“ und „Würde“ – häufig umrahmt von mobilisierenden Tugenden wie „Pflicht“, „Verantwortung“ und „Haltung“.

Wertschätzung als ökonomischer Begriff, als Kernbegriff der subjektiven Wertlehre im frühen 20. Jahrhundert

Wertschätzung war aber auch, teils vorrangig, ein wissenschaftlicher Begriff. Er kombinierte mit „Wert“ und „Schätzung“ resp. „schätzen“ zwei ökonomische Grundbegriffe (Wert, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 16, Leipzig und Wien 1890, 542-543). David Ricardo (1772-1823), Karl Marx (1818-1883) und die Wiener Grenznutzenschule stehen für bis heute lesenswerte Debatten über Wert und Wertschätzung. Sie kreisten um Markthandeln und Verteilungsfragen, waren zentral für die ökonomische Wertlehre. Ein Produkt würde nur dann gekauft, „wenn dessen Preis niedriger steht als meine Wertschätzung des Grenznutzens dieses Gutes“ (Eduard Kellenberger. Kritische Beleuchtung der modernen Wert- und Preistheorie, Phil. Diss. Basel, Tübingen 1916, 15). Schon vor 150, vor 120 Jahren wurde beherzt und kontrovers über die „Wandlung in den subjektiven Grundlagen der Wertschätzung und der Preisbildung“ diskutiert (Otto von Zwiedineck, Kritisches und Positives zur Preislehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 64, 1908, 587-654; 65, 1909, 78-128, hier 596). Die „subjektive“ Wertlehre stellte den Konsumenten gar ins Zentrum ihrer Überlegungen: „Der Preis geht auch auf Wertschätzungen der Konsumenten zurück. […] Resultat: die Kosten bestimmen weder den Wert noch den Preis, sondern Wert und Preis bestimmen die Kosten. Kostengüter haben eigentlich keinen Wert, sondern nur einen Preis. Der Preis ist aber nicht Ausdruck des Wertes. Der Preis der Kostengüter wird ausschließlich durch die Wertschätzung der Genußgüter seitens der Konsumenten bestimmt“ (Robert Liefmann, Ertrag und Einkommen auf der Grundlage einer rein subjektiven Wertlehre. Ein wirtschaftstheoretischer Versuch, Jena 1907, VIII). Der Konsument kann an sich homogene Güter heterogenisieren, vermag auch die vermeintliche Einheitlichkeit des Geldwertes zu durchbrechen (Andreas Hartmann, Unbezahlbar – Räume zwischen Preis und Wert […], in: Silke Meyer (Hg.), Money Matters. Umgang mit Geld als soziale und kulturelle Praxis, Innsbruck 2014, 241-249).

Dies schuf Marktchancen, nicht nur für Unternehmer, sondern gerade auch für zivilgesellschaftliche Akteure. Entsprechend war Marktversagen, etwa die Lebensmittelvergeudung, ein gängiges Thema: „Wieviel Lebensmittel gehen zugrunde, weil der Produzent oder der Händler sich über die momentane Nachfrage geirrt haben!“ (Robert Liefmann, Die Unternehmensformen mit Einschluß der Genossenschaften und der Sozialisierung, 2. umgearb. Aufl., Stuttgart 1921, 56). Der heute lediglich noch als Soziologe erinnerte Ökonom Emil Lederer (1882-1939) untersuchte auch theoretisch, wie die Differenz zwischen der Wertschätzung eines Gutes und des Geldes verschoben werden konnte (Aufriss der ökonomischen Theorie, Tübingen 1931, 192-252). Lebensmittelverschwendung war im Bilde der prassenden, verschwendenden Kapitalisten und des schwelgenden Gourmands schon im 19. Jahrhundert ein stetes Thema der Arbeiterbewegung, der Gesundheitsreform und auch liberaler Selbstdisziplinierung. Für unseren Fokus auf die Zwischenkriegszeit sind jedoch die öffentlichen Debatten über das demonstrative Schwelgen und Verschwenden der „Schieber“ und Neureichen nach dem Ersten Weltkrieg, dann vor allem die Preisstützungsaktionen während der Weltwirtschaftskrise relevanter. Das gezielte, nun auch fotografisch sichtbare Verbrennen großer Mengen von Weizen oder insbesondere Kaffee spiegelte für Kritiker die fehlende Werte des vermeintlich niedergehenden liberalen Kapitalismus. Doch Güterzerstörung konnte auch anders eingesetzt werden, war ein wichtiges Kampfmittel etwa der indischen Unabhängigkeitsbewegung.

Fehlende Wertschätzung: Kaffee als Heizmaterial in Brasilien (Das interessante Blatt 50, 1932, Nr. 2, 6)

Die wirtschaftliche Dimension der Wertschätzung von Lebensmittel verblieb also nicht nur in der Fachliteratur, sondern war auch Teil zentraler Alltagsdebatten. In der heutigen Wertschätzungsdebatte wird sie dennoch ignoriert, obwohl es in ihnen doch um ein zentrales ökonomisches Problem geht, nämlich um den Umgang mit Knappheit (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, 177-229; Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018). Das mag auch daran liegen, dass Wertschätzung zunehmend mathematisiert wurde (vgl. schon Walter G. Waffenschmidt, Graphische Methode in der theoretischen Oekonomie dargestellt in Anlehnung an das Tauschproblem, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39, 1914/15, 438-481, 795-818), um später im schimmernden Begriff der „Präferenzen“ universalisiert zu werden.

2. Wirtschaftlichkeit als Zwang und Aufgabe: Lebensmittelschwund- und Abfallforschung in den 1920er Jahren

Die wirtschaftliche Bedeutungsnuance der Wertschöpfung ist wichtig, um die Verbindung von subjektiven Werturteilen und gesellschaftlichen Effizienzidealen nachzuvollziehen. Verlustminderung und Schwundbekämpfung wurden während des Ersten Weltkriegs zu einer zentralen Aufgabe, um im Krieg bestehen, um diesen (möglichst siegreich) weiterführen zu können (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, insb. 235-251).

Ressourcennutzung während des Ersten Weltkrieges: Knochensammlungen und Fettabscheider (Ulk 46, 1917, Nr. 8, 4 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 39 v. 25. Januar, 10)

Das bürgerliche Zeitalter endete im Weltenbrand, und rasch zeigte sich fehlende Resilienz. Die Verluste an Front und Heimatfront waren immens, die Nutzung der eigenen Ressourcen defizitär. Gegenmaßnahmen griffen, doch was halfen Knochensammlungen oder Fettabscheider, wenn Wissen und Techniken unzureichend waren (Kriegswirtschaftliche Massnahmen u. Einrichtungen zur Abfallverwertung und Volksernährung, Die Städtereinigung 9, 1917, 6-7, 15, 46, 55, 79, 90, 102, 118; August Ertheiler und Robert Plohn, Das Sammelwesen in der Kriegswirtschaft, Berlin 1919; Robert Cohn, Fetterzeugung und Fettersparnis, ein Rückblick auf die Kriegsernährung, Zeitschrift für angewandte Chemie 32, 1919, T. 1, 193-198). Die „normale“ Zusammensetzung der Nahrungsmittel wurde chemisch um 1880 ermittelt, um 1900 kodifiziert, doch das Resorptionsgeschehen im Körper war nur schemenhaft bekannt, Daten über Nahrungsmittelschwund und -abfälle in Gewerbe und Haushalt kaum verfügbar.

Der Hygieniker und Chemiker Rudolf Otto Neumann 1928 und (mit Horst Habs) 1943 (Hamburgischer Correspondent und Hamburgische Börsen-Halle 1928, Nr. 198 v. 27. Juni, 3 (l.); Mittagsblatt 1943, Nr. 270 v. 21. Dezember, 5)

Dies änderte sich trotz umfangreicher Kriegsforschung erst in den 1920er Jahren: Der Hamburger Hygieniker Rudolf Otto Neumann (1868-1952), ein Nationalist und Antisemit, machte den Unterschied – als Teil einer Funktionselite, für die ein neuer Waffengang unvermeidlich schien; doch dieses Mal besser gerüstet (detailliert aber teils rosig Romy Steinmeier, „Hamburg hatte aber auch seine guten Seiten“. Rudolf Otto Neumann und das Hygienische Institut Hamburg, Bremen 2005). Er war bekannt als Tropenmediziner und Spezialist für Gelbfieber (Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 149 v. 29. Juni, 6; ebd., 1938, Nr. 168 v. 23. Juni, 2), doch die Kriegsaufgaben ließen ihn schon in seiner Bonner Zeit mit der umfassenden quantitativen Analyse des Schwundes und der Verluste der Lebensmittel beginnen, deren erste Teilergebnisse er 1924 veröffentlichte (R[udolf] O[tto] Neumann, Ueber die Verluste von vegetabilischen Lebensmitteln bei ihrer küchentechnischen Zubereitung und deren Bewertung, Technisches Gemeindeblatt 27, 1924, 9-13, 29-32, 44-47, 56-60, 67-71, 80-83, 92-95). Fünf Jahre später lagen Neumanns Analysen gebündelt vor.

Erforschung von Schwund und Verlusten (Ergebnisse der Hygiene, Bakteriologie, Immunitätsforschung und experimentellen Therapie 10, 1929, 1-188, hier 1)

Die in mühseliger kleinteiliger Arbeit in und außerhalb hygienischer Laboratorien ermittelten Werte blieben für Jahrzehnte Referenzmaterial über das „Vermögen im Abfalleimer“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 320-329, hier 322). Neumann untersuchte 243 animalische und 84 vegetabile Lebensmittel im Sinne der tradierten Kalorienlehre. Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgehalt wurden ermittelt, ebenso der Kaloriengehalt. Wichtiger aber war der Fokus einerseits auf die messbare Menge, anderseits auf die essbare Trockensubstanz. Das Lebensmittel wurde zu einem resorbierten Stoffgemenge reduziert – und mehr noch: Neumann (und viele Mitarbeiter) analysierten auch die nicht essbaren Bestandteile, den Wassergehalt, die Verluste durch küchentechnische Vorbereitung und Kochen; und schließlich auch die Resorptionsverluste im menschlichen Körper. Alles wurde präzise quantifiziert, zugleich aber mit Preisen gekoppelt. Das betraf nicht nur den Kaufpreis, sondern mündete zudem in einen errechneten Nährgeldwert. Dieser Indikator war bereits in den frühen 1880er vom Münsteraner Nahrungsmittelchemiker Joseph König (1843-1930) eingeführt worden, ohne aber Verluste außerhalb und innerhalb des Körpers mit einzubeziehen (Procentische Zusammensetzung und Nährgeldwerth der menschlichen Nahrungsmittel nebst Kostrationen und Verdaulichkeit einiger Nahrungsmittel, Berlin 1882).

Das Ergebnis von Neumanns Analysen war mehr als Detailwissen, denn es bot eine neue Hierarchie der Lebensmittel, einen Widerpart zur Lebensform und auch der „neuen Ernährungslehre“ mit ihrem starken Fokus auf die „neuen“ essenziellen Stoffe, auf Vitamine und Mineralstoffe. Der Nährgeldwert tierischer Nahrungsmittel war tendenziell höher als der pflanzlicher Kost. Es galt allerdings zu differenzieren, denn Kartoffeln rangierten an der Spitze der neuen Hierarchie, auch einige Kohlsorten fanden dort ihren Platz. Ansonsten stellte Neumann Milch, Innereien, Tierfette, Buttermilch, Pferdefleisch, Hering und Weichflosser sowie Fleischprodukte in den Vordergrund. Da ein solch kleinteilig ausdifferenziertes System kaum anwendbar schien, plädierte er jedoch – im Einklang mit der Ernährungswissenschaft dieser Zeit (Otto Kestner und H[ugo] W[ilhelm] Knipping, Die Ernährung des Menschen. Nahrungsbedarf. Erfordernisse der Nahrung. Nahrungsmittel. Kostberechnung, Berlin 1924) für eine saisonale und eiweißreiche Mischkost, in der Obst und Gemüse vor allem der Abwechslung dienten. „Luxuskost“ wie Endivien, Austern und Schwalbennester war dagegen möglichst zu reduzieren, zumal als devisenträchtige Importware.

Doch es waren vor allem zwei Punkte, die neue Möglichkeiten hin zur nationalsozialistischen Wertschätzungspolitik ermöglichten. Erstens plädierte Neumann für umfassende Schulungen von Einzel- und Großhaushaltungen, um so Schwund und Nahrungsmittelverluste zu minimieren (R[udolf] O[tto] Neumann, Wodurch verderben unsere Nahrungsmittel. Eine Aufklärung für weitere Bevölkerungskreise, Blätter für Volksgesundheitspflege 30, 1930, 164-166, 182-184; ders., Wirtschaftlichkeit in der Küche. Betrachtungen über den Markt- und Küchenabfall und den Nährgeldwert der vegetabilischen und animalischen Nahrungsmittel, Die Volksernährung 5, 277-280, 300-305). Dies erweiterte die ohnehin laufenden Bemühungen um eine Ökonomisierung und Rationalisierung der Hauswirtschaft (Liddy v. Zabiensky, Aus der Küchenpraxis der neuzeitlichen Ernährungslehre, Die Volksernährung 3, 1928, 9-11, 20-21; Erna Meyer, Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Hausführung, 37. wes. erg. u. erw. Aufl., Stuttgart 1929). Wichtiger war zweitens, dass Neumanns Daten mit volkswirtschaftlichen und agrarwirtschaftliche Produktions- und Konsumrechnungen gekoppelt werden konnten.

Agrarmarketing in den späten 1920er Jahren: Appelle an Gesundheit und Nationalismus (Von links nach rechts: Vorwärts 1927, Nr. 87 v. 21. Februar, 4; Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 20 v. 17. Mai, 10; Zeitbilder 1928, Nr. 48 v. 25. November, 6; Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 51 v. 19. Dezember, 19)

Das damalige öffentliche Lebensmittelmarketing nutzte vorrangig zwei an sich inhaltsleere Attribute, nämlich zum einen den Gesundheitswert, zum anderen die Herkunft, also den Nationalismus (Norwich Rüße, Absatzkrisen und Marketingkonzepte der deutschen Landwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996,I, 129-162; Spiekermann, 2018, 332-351). Sie war bereits bildreich, orientierte sich auch an amerikanischen Vorbildern, bot aber Nahrung vor allem für den Kopf. Nutzen, nicht Wertschätzung war zentral.

Benito Mussolinis (1883-1945) Stilisierung als Getreidedrescher (L’Illustrazione Italiana 65, 1938, 501)

Andere machten dies besser: Seit Mitte der 1920er Jahre blickten nicht nur Wissenschaftler und künftige NS-Politiker auf das faschistische Italien, auf die dortige Agrarpolitik, die erst den Reis, dann das Getreide verherrlichte: „Liebt das Brot / Das Herz des Hauses / Die Würze des Tisches / Die Freude des Herdes // Den Schweiß der Stirn / Den Stolz der Arbeit / Das Lob des Opfers // Ehrt das Brot / Den Ruhm der Felder / Den Geruch des Bodens / Das Fest des Lebens // Verschwendet nicht das Brot / Reichtum des Vaterlandes / Das herrlichste Geschenk Gottes / Die schönste Belohnung / der Arbeit des Menschen“ (Velberter Zeitung 1933, Nr. 157 v. 11. Juni, 9). In Mussolinis allseits gedrucktem Loblieb verband sich das christliche Erbe mit den Aufgaben der Gegenwart (Maßnahmen der italienischen Regierung zur Förderung der Landwirtschaft und insbesondere des Getreidebaues, Berichte über Landwirtschaft NF 3, 1926, 540-550; Ragnar Berg, Die Verwertung des deutschen Brotgetreides, Odal 2, 1932/33, 508-519, insb. 518-519).

Stilisierungen des heiligen Brotes: „Getreideschlacht“ in Italien (La Rivista. Illustra del Popolo d’Italia 18, 1940, Nr. 5, 91 (l.); ebd. Nr. 6, 42 (r.); Clementia Bagali, Vovi d’Italia, Mailand 1937, 120)

Das war modern, nutzte Traditionsbestände, führte sie aber in neue Bildwelten und Verpflichtungsdiskurse (Katharina Schembs, Der Arbeiter als Zukunftsträger der Nation. Bildpropaganda im faschistischen Italien und im peronistischen Argentinien in transnationaler Perspektive (1922-1955), Köln 2018, 174). Wer das Brot ehrte, war wirtschaftlich gerüstet, war auch zu anderem fähig, zu neuen Eroberungen, wie dann 1934 in Libyen, 1936 in Abessinien. Das fand breiten Widerhall.

3. Wirtschaftskreisläufe: Autarkie, Militarisierung und Erhaltungsschlacht

Wie mündeten diese Vorläufer nun in eine reichsweite „Erhaltungsschlacht“, in eine Wertschätzungsoffensive auch im Deutschen Reich?

Visualisierung von Wertschöpfungsketten – anfangs monetär (Zeitbilder 1932, Nr. 49 v. 4. Dezember, 4)

Zentral hierfür war eine neuartige Verdichtung von Laborwissenschaft, Agrar- und Außenhandelsstatistiken. Während der 1920er Jahre hatte man die schon lange vorher bestehenden Kreislaufvorstellungen der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie und der organischen Chemie visualisiert. Volkswirtschaftliche Kreisläufe, aber auch sektorale Wertschöpfungsketten traten mittels Preisen vor aller Augen. Das änderte sich dank Neumanns Daten.

Ernährungsbilanz 1936 inklusive der Verlustraten (Hans Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, 126)

In der deutschen Ernährungsbilanz 1936 finden Sie daher nun auch, rechts, Verlustdaten. Diese waren errechnet, geschätzt. Doch sie erlaubten gezielte Schwachstellenanalysen und politische Interventionen (Spiekermann, 2018, 351-365).

Stoffstromanalyse der Kartoffel – mit Verlustangaben (Schweigart, 1937, Taf. VIII)

Derartige Daten wurden visualisiert, national, regional, auch sektoral. Biologistische Vorstellungen reduzierten komplexe multisektorale Strukturdaten zu eingängigen Flussdiagrammen, die schlichte Gemüter als Abbild einer neu greifbaren Realität verstanden, die damit öffentlich und politisch handhabbar wurde. Moderne technische Gesellschaften gehen dann in den Effizienzmodus (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964). Offenbare Probleme drängen auf Handlung, auf Intervention und Optimierung.

Ergänzung der Erzeugungsschlacht: Die rettende Erhaltungsschlacht der Hausfrau (Die Gartenbauwirtschaft 53, 1936, Nr. 43 v. 22. Oktober, 1 (o.); Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 449 v. 26. September, 1)

Hinter den seit 1936 auftauchenden Schlagworten von „Erhaltungsschlacht“, von der erforderlichen „Rettung“ von Lebensmitteln standen demnach langwierige ernährungs- und wirtschaftswissenschaftliche Forschungen, die aufgegriffen wurden, weil sie politisch nützlich waren. Dies war Teil einer umfassenden nationalsozialistischen Sprachpolitik, eine bis heute gängige „Methode, Zumutungen hinter positiven Begriffen zu verstecken“ (Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, 3. Aufl., Stuttgart 2021, 87).

Schwund- und Abfallbekämpfung als Teil der Transformation von Gesellschaft und (Haus-)Wirtschaft durch den Vierjahresplan (Neckar-Bote 1936, Nr. 232 v. 3. Oktober, 6)

Um dies nachvollziehen zu können, sind einige notgedrungen rudimentäre Striche zur Agrar- und Kriegspolitik unabdingbar. Die Transformationspolitik begann schon vor der Machtzulassung der NSDAP im Januar 1933. Das Lebensmittelgesetz von 1927 mündete in zahlreiche, meist sektorale Reformen einzelner Agrarbereich mit vielen Standardisierungen. Das Milchgesetz von 1930 wurde beispielgebend, war Blaupause der Umstrukturierung und Rationalisierung von Wirtschaftszweigen auch abseits der Agrarwirtschaft. Das Handelsklassengesetz wurde 1930 schon im Rahmen einer präsidialen Notverordnung dekretiert. Der Weg in die Devisenzwangswirtschaft begann parallel, führte zu einer beträchtlichen Abschottung vom Weltmarkt, etablierte den Staat als wichtigsten Akteur. Die nationalsozialistischen Machthaber setzten viele Ideen um, die zuvor Agrar- und Ernährungswissenschaftler entwickelt hatten, der deutschnationale Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865-1951) verkörperte Interessenidentitäten tradierter und neuer Machthaber. Durch den bis 1934 leidlich etablierten Reichsnährstand gewannen Staat und NSDAP weitere Durchschlagskraft, während der zuvor schon kaum geltende Preismechanismus durch ein umfassendes System von Festpreisen und festgelegten Handelsspannen außer Kraft gesetzt wurde. Dennoch sollten die Bauern unternehmerisch im Sinne des Volksganzen handeln.

Nach der Machtzulassung 1933 und der folgenden Zerschlagung und Verfolgung der Opposition begann eine propagandistisch unterfütterte „Arbeitsschlacht“, eine „Erzeugungsschlacht“ der Landwirtschaft und der noch breiter gefasste Kampf um „Nahrungsfreiheit“, also um eine möglichst hohe Selbstversorgung. Diese lag – unter Einbezug der Futtermittelimporte – bei lediglich 81 Prozent (Hans v.d. Decken, Deutschlands Versorgung mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen […], Berlin 1935, 63).

Produktionserweiterungen und Importregulierungen boten Flankenschutz für die 1933 unmittelbar einsetzende massive Aufrüstung, die das Deutsche Reich seit Mitte 1934 stetig an den Rand des Staatsbankrotts brachte. Kritisch blieb vornehmlich die devisenträchtige Rohstoffbeschaffung, die durch Agrarimporte (40-35 Prozent) immer wieder gefährdet und gedrosselt wurde. Trotz nicht unbeträchtlicher Erfolge im Abbau der Importabhängigkeit war 1936 klar, dass eine Selbstversorgung unter den Prioritäten der Rüstungswirtschaft nicht möglich war. Das galt vor allem für Fette, für Futtermittel, bedingt für Eiweiß, das galt aber auch mit Rücksicht auf die mit wachsenden Einkommen verbundenen höheren Importe von Genussmitteln, insbesondere von Kaffee und Tabak. Der im August 1936 vorgelegte Vierjahresplan Hitlers sah daher eine rigorose Aufrüstung ohne Rücksicht auf die Kosten vor. Bis 1940 sollte die Wehrmacht kriegsfähig sein, die ökonomischen Probleme durch die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten und die Ausbeutung der okkupierten Gebiete gelöst werden.

Diese Kriegspolitik sah zudem massive Investitionen in die Ersatzmittelwirtschaft vor, vorrangig bei Gebrauchsgütern, in beträchtlichem Maße aber auch in der Agrar- und Ernährungswirtschaft. Die Kampagne „Kampf dem Verderb“ war ein flankierendes Maßnahmenbündel, das sowohl auf Sparsamkeit, als auch die Mobilisierung nicht-monetärer Arbeitsressourcen setzte. Wie die militärischen und industriellen Maßnahmen wurden sie propagandistisch ummantelt, mit semantischen Illusionen umkränzt und mit Appellen an Moral und (Rassen-)Stolz versehen. Eine höhere Wertschätzung bestimmter Lebensmittel und Haushaltspraktiken war dafür zentral. Sie zielte auf den völkisch definierten Kern der Deutschen, war Identitätspolitik einer sich von Feinden umgeben fühlenden Nation. Die eingeforderte Wertschätzung der Lebensmittel war eine ästhetische Hülle, diente der Wehr- und Kriegsbereitschaft.

4. Vermittlungspropaganda: Kampagnen, Appelle, Parolen

Der 1936 intensiv einsetzende Kampf gegen die Lebensmittelverluste war eine korporatistische Anstrengung von Partei und Staat, von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (Reichsausschuß für Volksernährung, VDI, Reichsgemeinschaft für Schadensverhütung). Expertenwissen war zu vermitteln, handlungsnah zu verankern. All das wurde umrahmt von Daueraktivität, von Müllsammlung, -trennung und -recycling, von einer Minimierung der Verluste. Eine Erhaltungsinfrastruktur von Schweinemast- und Knochenmehlverwertungsanstalten, von Kühlhäusern, Lagerhallen und Transportmitteln wurde aufgebaut. Begleitet war dies von einschlägigen Bildungs- und Erziehungsanstrengungen in Schulen, in Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel, in der NS-Frauenschaft und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Überall wurde die Wertschätzung von Lebensmitteln propagiert, der Umgang mit ihnen moralisiert.

Propaganda war angesagt: Diese war jedoch nur in ihren rassistischen, wehr- und kriegspolitischen Ausprägungen spezifisch nationalsozialistisch. Die Wertschätzungspropaganda war in ihrem Kern eine Antwort auf typische Aufgaben in arbeitsteiligen technischen Gesellschaften. Sie war, im Sinne des französischen Soziologen und Technikphilosophen Jacques Ellul (1912-1994), eine für das gesellschaftliche Leben unabdingbare Humantechnologie (Ellul, 1964, 216). Ihr Ziel sei Effizienz und Funktionalität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, sie erlaube Koordinierung und Orientierung. Daher sei der simple Dualismus von Diktatur oder Demokratie irreführend, denn es gehe um eine an sich notwendige Reduktion des Menschen auf eine Art Tier, „gebrochen, um bestimmten bedingten Reflexen zu gehorchen“ (Ebd., 375).

Die im Herbst 1936 unter dem Schlagwort „Kampf dem Verderb“ einsetzte Kaskade einander überbietender Kampagnen war modern, erfolgte auf Höhe der damaligen totalen Propaganda (Spiekermann, 2018, 388-391). Werterhaltung galt als Kernproblem völkischer Existenz, soziale und realistische Propaganda dominierten (vgl. begrifflich Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021). Zahlreiche Unterkampagnen gaben Anleitungen zu Wertschätzung und Achtsamkeit, lenkten Handlungen, erinnerten an sparsames und wirtschaftliches Ernährungshandeln. All das erfolgte multimedial, parolenhaft, in Gedichten und kleinen Geschichten, war begleitet durch harte politische Interventionen. Wertschätzung war ein Appell, eine auf völkischer Logik gründete Pflicht: Wertgeschätzt wurde nur, wer wertschätzte.

1936/37: Kampf um 1 ½ Milliarden

Visualisierung der „vergeudeten Milliarden“ (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 321 v. 14. Juli, 9)

Beispiele müssen genügen: Am Beginn stand die Bewusstmachung des Problems, also eine Art Vorpropaganda. Das Problem eines volks- und wehrwirtschaftlich nicht tragbarer Materialschwundes und hoher Lebensmittelabfälle wurde vermeintlich sachlich präsentiert. Dabei appellierte man an allgemeine Vorstellungen von Sparsamkeit. Im Rahmen völkischer Verpflichtung gewann dies eigene Qualität: Es erklärte die bestehende Weltlage, die Handlungszwänge der politischen Führung. Völkische Inklusion begründete Folgehandlungen, war Teil einer nachvollziehbaren Ordnung der Welt (Ellul, 2021, 28). All dies war Aufgabe der 1936/37 laufenden Kampagne „Kampf um 1 ½ Milliarden“, deren Ausgangspunkt die (nie klar dargelegte) Summe der jährlichen Lebensmittelverluste im Deutschen Reich. Ungefähr 50 Prozent davon verursachte die Hauswirtschaft – also weniger als heutzutage (Thomas Schmidt, Felicitas Schneider und Erika Claupein, Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten in Deutschland […], Braunschweig 2018; ders. et al., Lebensmittelabfälle in Deutschland – Baseline 2015 –, Braunschweig 2019; Helmut Hübsch, Systematische Erfassung des Lebensmittelabfalls der privaten Haushalte in Deutschland. Schlussbericht 2020, o.O. 2021). 1936 ging man von insgesamt 6,5 Mrd. RM reduzierbarer Ressourcenverlusten aus, „Kampf um 1 ½ Milliarden“ war Teil einer breiteren „Rohstoffschlacht“.

Verluste und Schwund vermeiden: eine Gemeinschaftsaufgabe (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 457 v. 1. Oktober, 6)

Der Ernährungssektor, die Hauswirtschaft, standen dennoch im Mittelpunkt der öffentlichen Propaganda. Aktionsfelder wurden allgemein, aber auch für jedes Lebensmittel einzeln präsentiert und visualisiert.

Kampagnenauftakt in Köln 1936: Schilder gegen die Verluste (Oberbergischer Bote 1936, Nr. 245 v. 16. Oktober, 7 (l.); Der Neue Tag 1936, Nr. 292 v. 21. Oktober, 5)

Am Anfang stand eine seit Ende September beworbene große Ausstellung in Köln, initiiert auch von der Stadt selbst: „Es gilt, nicht weniger als 1½ Milliarde zu retten, die jährlich in Deutschland dem Volksvermögen verlorengeht“ (Feldzug für 1½ Milliarden, Honnefer Volkszeitung 1936, Nr. 226 v. 26. September, 1). 80.000 besuchten die einwöchige Schau, jeder von ihnen sollte ein Propagandist sein (Jeder ein Propagandist!, Münsterischer Anzeiger 1936, Nr. 320 v. 11. November, 5). Wichtiger aber war die reichsweite Presseresonanz, waren die zahlreichen Schaubilder und Symbole (Um 1½ Milliarden, Der Neue Tag 1936, Nr. 293 v. 22. Oktober, 8; Dass., Hagener Zeitung 1936, Nr. 248 v. 22. Oktober, 8). Die markanten Schildzeichen symbolisierten eine Abwehrgemeinschaft, die Kraft des Volkes.

Moralische Aufladung zum Existenzkampf (Stolles Blätter für Landwirtschaft, Garten, Tierzucht 1939, Nr. 15, 3 (l.); Der Patriot 1936, Nr. 231 v. 2. Oktober, 1 (r.); Neckar-Bote 1937, Nr. 119 v. 26. Mai, 4)

Dadurch wurden Handlungsgemeinschaften konstituiert, die Binnenmoral gestärkt, doch immer auch Feinde benannt. Sie zu bekämpfen war nun Pflicht, jedes Mittel dazu recht.

1937/38: Brot als kostbarstes Volksgut

Die im November 1937 einsetzende Kampagne „Brot als kostbarstes Volksgut“ baute auf dem seit einem Jahr in immer neuen Formen präsentierten Problem des vermeidbaren Lebensmittelschwundes auf, konzentrierte sich nun aber stärker auf das Gefühlsmanagement. Es ging dabei vor allem um die urbanen Konsumenten, doch wurde der Urgrund der christlichen, bäuerlichen und (meist fiktiven) germanischen Traditionen eifrig gepflegt: Brot war „die erste und beste Frucht des Bauern“, Resultat mühseliger harter Arbeit (Heiliges Brot, Westfälische Neueste Nachrichten 1937, Nr. 24 v. 29. Januar, 1). So knüpfte man eine völkische Verpflichtung zwischen Stadt und Land: „Verludert nicht, was der Bauer mühsam erarbeiten mußte!“ (Ehret und hütet das Brot, Erkelenzer Kreisblatt 1937, Nr. 19 v. 23. Januar, 9)

Achtsamkeit gegenüber dem Brot: Presseappelle (Links: Stolzenauer Wochenblatt 1937, Nr. 292 v. 28. Oktober, 3 (o.); Zeno-Zeitung 1940, Nr. 61 v. 7. Februar, 5; rechts: Der Patriot 1937, Nr. 191 v. 18. August, 4 (o.); Der Neue Tag 1936, Nr. 355 v. 23. Dezember, 2)

Ein Blick in die staatlich gelenkten Zeitungen zeigt ein Stakkato der Achtsamkeit, der Anreize und Aufforderungen. Ehret das Brot, dann ehrt ihr euch. Wertschätzung war Einordnung ins völkische Ganze, in die „große Erde, die uns trägt und die immer gegenwärtig ist.“ Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Kling (1902-1999) bat um ein wenig Aufmerksamkeit: „Ein Stück gesellt sich zum anderen, und wenn in allen 17½ Millionen deutschen Haushalten nur einmal eine Scheibe von 50 Gramm umkäme, dann könnte man schon 3000 bis 4000 Eisenbahnwagen damit füllen“ (Brot ist kostbarstes Volksgut, Der Neue Tag 1937, Nr. 273 v. 5. Oktober, 3, auch zuvor). Jedes Krümchen müsse verwendet werden, das sei Hausfrauenehre, sei Sorgfaltspflicht der Jugend.

Brotlob in Parolen und Schlagzeilen (Links: Wittener Tageblatt 1937, Nr. 278 v. 27. November, 3 (o.); Der Gemeinnützige 1937, Nr. 276 v. 26. November, 3; Gevelsberger Zeitung 1937, Nr. 275 v. 25. November, 6 (u.); Rechts: Herner Zeitung 1937, Nr. 227 v. 29. September, 8 (o.); Buersche Zeitung 1937, Nr. 328 v. 30. November, 5; Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1937, Nr. 272 v. 5. Oktober, 2 (u.))

Brot wurde symbolisch weiter aufgeladen, eine erst regionale, dann reichs- und europaweite Vollkornbrotpolitik sollte 1937 erweiternd einsetzen (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, Comparativ 11, 2001, 27-50).

Skandalierung des weggeworfenen (Pausen-)Brotes (Von oben n. unten: Niederrheinische Volkszeitung 1937, Nr. 10 v. 10. Januar, 3; Bergisch-Märkische Zeitung 1937, Nr. 65 v. 7. März, 4; Wittener Tageblatt 1937, Nr. 220 v. 20. September, 3; Stolzenauer Wochenblatt 1937, Nr. 303 v. 29. Dezember, 6; Viernheimer Volkszeitung 1936, Nr. 263 v. 17. November, 7 (r.))

Eingängige Narrative und Antigeneralisierungen unterstützten dies: Das weggeworfene Pausenbrot, die vertrocknete Brotscheibe, sie trennten die Volksgemeinschaft von Unachtsamen, Verschwendern, Schlemmern. Die Deutschen sollten die herbeigeschriebene „geradezu unglaubliche Leichtsinnigkeit und Gleichgültigkeit“ mancher Zeitgenossen ahnden, so das Sprichwort „Geschändet‘ Brot, geschändete Ehr‘“, so die Forderung an alle, nicht nur die Schuljugend (Tremonia 1941, Nr. 17, Nr. 17 v. 21. Januar, 3). Dies bedeutete achtsamen Einkauf, Essen auch alten Brotes und Resteküche (Achtet das Brot!, Der Albtalbote 1937, Nr. 236 v. 11. Oktober, 5).

1938/39: Groschengrab – Wirtschaftlichkeit als Element der gesellschaftlichen Wehrbereitschaft

Der Nationalsozialismus war eine moderne Mobilisierungsdiktatur, deren Propaganda kleinteilig wirkte, allgegenwärtig war. Visualisierung war dafür zentral, Groschengrab die bekannteste Ausprägung.

Groschengrab: Visualisierung des schlechten Gewissens und der Nachlässigkeit (Dresdner Neueste Nachrichten 1938, Nr. 132 v. 9. Juni, 4 (l.); Die Bastion 1938, Nr. 26 v. 26. Juni, 8)

Dieses Ungeheuer prägte 1938/39 den öffentlichen, den medialen Raum. Groschengrab stand gegen Nachlässigkeit, verankerte ein schlechtes Gewissen, denn Groschengrab war überall.

Comics zur mentalen Stärkung der Sachwalter völkischer Wirtschaftlichkeit (Durlacher Wochenblatt 1939, Nr. 192 v. 18. August, 4)

Dies verdeutlichten die Comicserien, die nicht nur auf Kinder zielten, diese aber mit integrierten.

Koppeleffekte: Regionale Fortschreibungen der Comics und ein Beispiel der typischen Begleitlyrik (Von links n. rechts: Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 219 v. 15. August, 1; Sauerländisches Volksblatt 1940, Nr. 174 v. 27. Juli, 8; Altonaer Nachrichten 1939, Nr. 181 v. 5. August, 3)

Abseits dieser quasi amtlichen Serien gab es jedoch – typisch für die NS-Zeit – lokale Fortschreibungen und stete Interventionen von Aktivisten. Abfallvermeidung war Teil des eingeforderten und meist willig umgesetzten Zuarbeitens auf den Führer.

Ausweitung des Kampfes

Der Kampf gegen den Verderb hatte viele Fronten, Ernährungshandeln war Wehrhandeln.

Der stets bedrohte deutsche Mensch (Der fortschrittliche Landwirt 20, 1938, 727 (l.); Lippische Staatszeitung 1944, Nr. 320 v. 8. Dezember, 3)

Das unterstrichen Begleitserien, in denen die Deutschen von Feinden umgeben waren. Ratten standen aber nicht nur für sich, Hipplers „Der ewige Jude“ führte dies 1940 jedem vor Augen (Johannes Schmitt, Der bedrohte Arier. Anmerkungen zur nationalsozialistischen Dramaturgie der Rassenhetze, Münster 2010, 74-85).

Kampfzone Haushalt: Tod den Maden und Fliegen (Sauerländer Zeitung 1939, Nr. 177 v. 1. August, 7 (l.); Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 266 v. 14. Juni, 8)

Der Haushalt war eine Kampfzone, Kompromisse gab es nicht. Den seit langem bekannten Kartoffelkäfer galt es seit spätestens 1937 im Westen zu bekämpfen, ein eigener Kartoffelkäferabwehrdienst hielt Wacht am Rhein (Der Kartoffelkäfer an der Westgrenze Deutschlands, Die Umschau 41, 1937, 572-573; Gustav-Adolf Langenbruch, Der Kartoffelkäfer in Deutschland. Seine Erforschung und Bekämpfung […], Berlin 1998). Die Schwammigkeit des Begriffes „Schädling“ erlaubte seine fast beliebige Ausweitung, bewirkte die Akzeptanz rigider Maßnahmen auch gegen Menschen.

Feinde ringsum: Bakterien und Pilze als Bedrohung (Der Führer 1936, Nr. 314 v. 12. November, 11 (l.); NS-Frauen-Warte 10, 1941/42, 61)

Insekten dominierten die Bildwelten, doch daneben traten Pilze, Bakterien, andere Mikroben. Leben war Kampf, eine ewige Bewährungsprobe.

Haushaltskrieg bis zum Sieg: Verpflichtungsdiskurse (Hakenkreuzbanner 1937, Nr. 233 v. 25. Mai, 13 (l.); ebd., Nr. 209 v. 10. Mai, 15 (r. o.), ebd. 1936, Nr. 450 v. 27. September, 12)

Und dieser Kampf wurde eingefordert, Abseits stehen war ein moralisches, dann zunehmend auch geahndetes Verbrechen.

Positive Gefühle gegenüber Lebensmitteln

Doch die Klaviatur der Gefühle war breit, positive Gefühle leiteten den Kampf.

Den Lebensmitteln ein Gesicht geben: Installation auf der Grünen Woche 1937 (Illustrierte Weltschau 1937, Nr. 6, 3)

Lebensmittel wurde zu Helfern, erhielten menschliche Gesichter, konnten Freunde sein.

Verbrauchslenkung mit fröhlichen Lebensmitteln und Speisen (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 251 v. 2. Juni, 3)

Selbst die Verbrauchslenkung war keine Fremdbestimmung, sondern setzte die Hausfrau in Beziehung zur Jahreszeit, zur Region, zur Arbeit der Bäuerinnen, zur Natur.

Leckere, nahrhafte Speisen: Lob der Kartoffel (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Neben Lebensmittel traten zunehmend auch Speisen, einfache und ländliche, Gegenstand berechtigter Wertschätzung.

Akzeptanz durch Kochkunst: Frau Garnichtfaul gewinnt ihren Roderich für Kartoffel- und Fischspeisen (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Und auch die im Begriff der Wertschätzung mitschwingende interpersonale Beziehung wurde gezielt genutzt. Liebe ging durch den Magen, nicht nur bei Frau Garnichtfaul, der treu sorgenden, züchtigen Hausfrau, sondern auch im völkischen Verband. Deutsche Küche, einfach, sparsam, doch Basis für Wehrbereitschaft und mehr. Das war nationalsozialistisches Gefühlsmanagement, spiegelte sich auch in der geförderten Regionalküche.

5. Hausfrauen und mehr: Gesellschaftliche Aufgaben im Korporatismus

All diese Wertschätzungspropaganda diente hehren Zielen, so Wissenschaftler und Politiker. Das war offenbar verlogen – obwohl das NS-Regime seine Ziele nur verbrämte, nicht verheimlichte. Zentral für den Sieg war die Hausfrau – die als geschlechtslose Hauswirtschaft auch im Mittelpunkt des heutigen Kampfes gegen Lebensmittelabfälle steht.

Die Hausfrauen als Problemherd (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 458 v. 1. Oktober, 2)

Die Hausfrau war ein offenkundiges Risiko der völkischen Existenz, denn ihr Haushalt hatte fünf- bis zehnmal höhere Verlustraten als die gewerbliche Wirtschaft. Ihre Unachtsamkeit verschleuderte Volksvermögen. Das Schuldkonto der Hausfrau ging aber noch über die Hauswirtschaft hinaus: „Der Verlust der anderen 750 Millionen Reichsmark entsteht beim Erzeuger nach der Ernte, der verarbeitenden Industrie und beim Händler. Auch an diesem Verderb trägt die Hausfrau ein Teil Schuld durch falschen Einkauf. Manche Nahrungsmittel sind nun einmal nicht lange haltbar und müssen verderben, wenn die Hausfrau sie nicht genügend statt haltbarer Lebensmittel kauft“ (Der Albtalbote 1937, Nr. 236 v. 11. Oktober, 5).

Zuhören und sich für das Ganze überwinden: Hausfrauen als Grundlage völkischer Wehrbereitschaft (Marbacher Zeitung 1938, Nr. 34 v. 20. Februar, 3 (o.); Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 238 v. 3. September, 1 (u.); Siegblätter 1944, Nr. 101 v. 2. Mai, 4; Neckar-Bote 1939, Nr. 64 v. 16. März, 7)

Doch das musste nicht so bleiben, denn Bewährung war möglich, Folgebereitschaft vorausgesetzt. Die Hausfrau, die kluge, wurde vom NS-Regime immer wieder geehrt, stetig gewertschätzt. Sie war eine Erfinderin, konnte im Sinne des Ganzen handeln, war lernfähig, stand ihren Mann – in der wehrbereiten Küche.

Einmachen als saisonale Pflicht auf Grundlage privater Investitionen in Gefäße und Geräte (Bochumer Anzeiger 1937, Nr. 103 v. 5. Mai, 13)

Wie die Soldaten gebot sie über Waffen, die sie willig und ohne Zögern einzusetzen hatte. Mehr als 95 Prozent aller Haushalte machten 1941 ein. Broschüren gab es in Millionenauflage, heute noch farbige Flohmarktware.

Ordnung und Sauberkeit in Speisekammer und Vorratskeller (Neckar-Bote 1936, Nr. 230 v. 1. Oktober, 6; Stolzenauer Wochenblatt 1939, Nr. 82 v. 6. April, 8)

Die deutsche Hausfrau stand darin für Sauberkeit und Ordnung, in der immer stärker eingeforderten Speisekammer, im zunehmend kontrollierten Vorratskeller. Dies hob das deutsche Kulturvolk ab von der „Polenwirtschaft“, die kurz darauf unter deutsche Kontrolle geriet.

Schimmernde Wehr: Wertschätzung für die anpassungsfähige Treuhänderin der Volksernährung (Der Haushalt 12, 1940, Nr. 9, 1 (l.); Lenneper Kreisblatt 1937, Nr. 82 v. 9. April, 9)

Die kluge Hausfrau war modern, richtete sich nach den wöchentlichen Küchenzetteln, den monatlichen Übersichten der Verbrauchslenkung, reagierten flexibel auf Marktschwankungen. Sie emanzipierte sich von Großmutters Küche, schuf so die Grundlagen für Deutschland, für Großdeutschland.

Hilfestellung im Alltag

Bei dieser schweren, doch unaufschiebbaren Aufgabe gab es Hilfestellungen, starke Frauen halfen sich gegenseitig, Erfinder und Kinder taten das Ihrige.

Mutters Küchenwaffen: Verlustminimierung im Haushalt (Deutscher Garten 52, 1937, 199 (o.); ebd., 189: Rechts: ebd. 54, 1939, 152 (o.); ebd. 57, 1937, 52)

Das betraf zahllose kleine Küchenwaffen gegen den Verderb; von der Reibe über den Fliegenschrank, die Käseglocke bis hin zum Fett-Topf.

Ernährungshilfswerk: Die Volksgemeinschaft als Sammelgemeinschaft (Steirerland 1940, Nr. 11 v. 31. Dezember, 8)

Die Hausfrau war zugleich Teil einer völkischen Sammelgemeinschaft, sammelten HJ und NSV doch Küchenabfälle für die Mastanstalten des Ernährungshilfswerkes. Hunderttausende Tonnen Knochen kamen hinzu (Spiekermann, 2018, 386-393).

Hauswirtschaftliche Bildung: BDM-Schulung in Hamburg, Kochkurs der NS-Frauenschaft in Stuttgart (Mittagsblatt 1940, Nr. 95 v. 23. April, 4 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 108 v. 4. März, 41)

Zentral aber blieben die Bildungsanstrengungen der NS-Frauenschaft, des Bund Deutscher Mädel. Richtiges Kochen war nicht nur Quintessenz einer technisch-wirtschaftlich optimierten Haushaltsrationalisierung, sondern auch und gerade Wertschätzung der völkischen Gemeinschaft, Voraussetzung, „um sich als Nation überhaupt in der Zukunft zu behaupten“ (R[ichard] Walther Darré, Rede auf dem Vierten Reichsbauerntag in Goslar am 29. November 1936, in: ders., Aufbruch des Bauerntums, Berlin 1942, 63-86, hier 72).

Epilog

Ich habe Ihnen eine kleine Episode deutscher Geschichte rekonstruiert, doch ich hoffe, dass diese Fragen aufwirft, Fragen auch für den heutigen (wissenschaftlichen) Umgang mit Lebensmittelabfällen.

Die Wertschätzungs- und Abfallpolitik der NS-Zeit hat Kreise gezogen: Völkische Überbürdungen wurden entsorgt, doch der institutionell-technische Rahmen lange beibehalten (Sero-System in der DDR, Altmaterialverwendung, Mülltrennung, Kühltechnik im Haushalt), vielfach gar ausgebaut. Der Kontext der Kriegs- und Vernichtungspolitik ist zumeist vergessen, zumindest in den heutigen Verlautbarungen und Studien in Politik, Wirtschaft und den angewandten Natur- und Sozialwissenschaften.

Die NS-Experten hatten einen hohen Moralkodex, waren von ihrer Mission erfüllt, schufen neue Sprachbilder. Ihnen galten autoritäre Interventionen als Notrecht, andere Rationalitäten und Werte lediglich als zu brechende Widerstände, als Ausdruck fehlender Einsicht. Wertschätzung des Eigenen bedeutete fehlende Wertschätzung des Anderen. Wie weit sind „wir“ heute von derartigen Denk- und Handlungsweisen entfernt? Wird das nicht wertgeschätzte Andere angemessen reflektiert?

Die NS-Zeit war eine Zeit massiver Forschungsinvestitionen, in Ressortforschung, in Forschungsprojekte. Schränkt diese staatsnahe und weisungsgebundene Forschung nicht die Wissenschaftsfreiheit und damit die Zukunftsfähigkeit einer offenen Gesellschaft stark ein? Treten so nicht politische Themensetzungen und genehme Antworten in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Arbeit?

Die für die NS-Zeit übliche Schaffung lebensmittelbezogener Narrative ist auch heutzutage ein zentrales Tätigkeitsfeld wissenschaftlicher Arbeit. Passen aber semantische Illusionen nicht eher zu PR und der allgemein üblichen Bereicherungsökonomie als zu einer wissenschaftlich konstitutiven Scheidung von wahr und falsch? Läuft eine solche Wissenschaft nicht neuerlich Gefahr, Ideologien zu reproduzieren und gesellschaftliche Widersprüche zu verdecken?

Uwe Spiekermann, 12. März 2025

Dieser Beitrag ist das Grundgerüst eines am 13. März 2025 im Rahmen der Tagung „‚Wertschätzung von Lebensmitteln‘. Ein Hebel für nachhaltigeres Ernährungshandeln“ des Netzwerks Ernährungskultur (Esskult.net) an der Universität Kassel gehaltenen Vortrages.

Ernährungswissenschaft(en), Wirtschaft und Staat. Geschichte einer Symbiose

„Ernährung“ war im 18. Jahrhundert „die natürliche Verrichtung, da der Cörper durch Speiß und Tranck erhalten wird“ [1]. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ging es dann jedoch immer weniger um lebenserhaltendes Essen. Der Blick richtete sich vielmehr in den Körper, war Ernährung seither doch „die Aufnahme der Nahrungsstoffe von außen und Verwandlung derselben in organische Masse, welche zum Wachsthum und zum Wiederansatz der verlornen Theile des organischen Körpers tauglich ist“ [2]. Ernährung war nicht mehr länger eine aktive menschliche Handlung, sondern wandelte sich zu einem notwendigen Anpassungshandeln gegenüber Naturgesetzen. Ausgehend von der organischen Chemie etablierte sich seit den 1840er Jahren dann eine neue Wissenschaft, die beanspruchte, Nahrung präzise zu beschreiben, den Stoffwechsel zu analysieren und aus alledem ein optimiertes Paket für den Einzelnen, klar definierte Gruppen und das Gemeinwesen schnüren zu können. Diese Ernährungswissenschaft besaß von Anbeginn ein Janusgesicht: Sie zielte auf Folgsamkeit, auf richtige Ernährung, lebte vom Anspruch, Krankheiten präventiv verhindern und diätetisch mildern zu können. Das erfolgte echoarm durch Appelle und Ratschläge, beeinflusste das Essen der Gesunden kaum. Durchsetzungs- und Gestaltungskraft gewann das neue Wissen dennoch: Markt und Wirtschaft wurden von chemisch-stofflichem Wissen zutiefst geprägt, denn es ermöglichte einen neuen Zugriff auf die Materie, veränderte Herstellungsverfahren und Produkte, neue Formen der Marktsegmentierung und des Marketings. Heutige Lebensmittelverpackungen tragen daher nicht vorrangig Preise, sondern ernährungswissenschaftliche Produktinformationen, nämlich Stoffgehalt und Stoffwechselrelevanz.

1. Frühe Präsenz, späte Professionalisierung. Die drei Wege hin zur heutigen Ernährungswissenschaft

Die Ernährungswissenschaft etablierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie war Teil der Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften einerseits, des Aufkommens sozialer Ordnungswissenschaften anderseits. [3] Anfänge lassen sich in der Naturlehre finden, der damit eingehenden Reduktion der Welt auf kleinste Grundstoffe, zuerst der anorganischen, dann auch der organischen Natur. Ein zusammenhängendes, auf nachvollziehbaren und reproduzierbaren Fakten gründendes Gesamtbild entstand jedoch erst seit den späten 1830er Jahren. Seither trat wissenschaftliches Wissen erst neben, dann vor die Deutungshoheit früherer philosophischer Systeme der Lebenskunst, religiöser Weltdeutungen und der ordnenden Diätetik im frühneuzeitlichen Haushalt. Das gilt, auch wenn der Schlagschatten von Philosophie, Religion und Haushaltsökonomik bis heute spürbar ist – Gesundheitslehren, die Trennung der Geschlechtersphären, die jahreszeitliche Zyklik vieler Mahlzeitensysteme sowie zahlreiche Nahrungstabus zeugen davon.

Die sich neu konstituierende Ernährungswissenschaft verstand sich jedoch nicht mehr länger als Hort von Sicherheit und Tradition. Ihr Ziel war es, den Dingen auf den Grund zu gehen, bestehende Rätsel zu lösen. Wissen wurde fluid, herstellbar. Wissenschaft implizierte Forschung, wurde eine „Maschinerie zur Herstellung von Zukunft“ [4]. Das regelhafte Erschließen neuer Bezirke des Wissens war möglich durch die Abkehr vom Spekulativen, durch eine klare Reduktion auf die materielle Welt, auf sinnlich Wahrnehmbares. Neue Mess- und Experimentalsysteme halfen dabei, ergaben genauere Kenntnisse über die Nahrung und ihre Veränderungen, über die Interaktion von organischer Materie und lebendigen Körpern. Die Folge war ein Ordnungs- und Gestaltungswissen, das im sich nun etablierenden Laboratorium entstand, das darin aber nicht verblieb. [5] Historisch etablierte es sich nacheinander als Wissenssystem, als Innovations- und Ordnungssystem, schließlich auch als akademische Teildisziplin.

Ernährungswissenschaft als chemisch-physiologische Grundlegung einer im Stoffwechsel verbundenen Welt

Für die Ernährungswissenschaft konstitutiv waren Justus Liebigs (1803-1873) wagende Untersuchungen, die er ab 1840 zuerst in Lehrbüchern, dann auch in populären Darstellungen bündelte. Der Gießener Pharmazeut und Chemiker plädierte für zielgerichteten Reduktionismus. Er verstand Leben nicht mehr spirituell, sondern als einen gleichermaßen für Pflanze, Tier und Mensch geltenden Stoffwechsel. Die chemisch definierten Nährstoffe besaßen klare Aufgaben, dienten dem Körperaufbau und -betrieb, dem reibungslosen Funktionieren der organischen Lebewesen. Derartiges Wissen erlaubte stoffliche Interventionen durch Düngung der Pflanzen, Fütterung der Tiere und Ernährung der Menschen. Es war unmittelbar anwendungsbezogen, verschiedene Nährregime verwiesen auf Wahl- und Gestaltungsoptionen. Die neu aufgehende „Sonne der Ernährungswissenschaft“ [6] sollte eine vernünftige, auf Grundlage empirisch nachweisbaren Wissens geordnete Welt erleuchten.

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Liebigs Gießener Laboratorium im Deutschen Museum (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 27, VI)

Liebig und seine Kollegen waren zwar Kämpfer gegen alles Immaterielle, doch sie waren immer auch Jünger der Aufklärung, der Herrschaft des schaffenden Gedankens, des Modelldenkens. Erst die physiologisch ausgerichtete Münchner Schule der Physiologie schnürte ab den 1860er Jahren in dieses Denken ein empirisches Sicherheitskorsett ein, gewonnen durch Experimente an Tieren und Menschen, gründend auf der Messung und Wägung der Speisen, der Zufuhr und der Ausscheidungen. Nun wurde die Kalorienrechnung zur Messlatte für den notwendigen und doch variablen Nahrungskonsum. Nun etablierten sich physiologische Kostmaße, am bekanntesten das des Münchener Physiologen Carl Voit (1831-1908), mit dessen Hilfe gesellschaftliche Ordnung begründet und optimiert werden konnte. Die wissenschaftliche Gleichheit der menschlichen Tiere setzte auch soziale Dynamik frei, denn Herr und Knecht wurden mit gleicher Elle gemessen, hatten gleichermaßen Anrecht auf genügend Nahrung, genügend (tierisches) Eiweiß. [7]

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Resorptionsversuche an Hunden im Spiegel der populären Presse (Des Lahrer hinkenden Boten neuer historischer Kalender 1897, 47)

Die langwierige Durchsetzung ernährungswissenschaftlichen Denkens folgte denn auch ökonomischen und staatlichen Nutzenerwägungen. Die Chemie mochte zwar lange als „eine völlig esoterische Wissenschaft“ [8] gelten, doch die umkämpfte Einführung der Agrikulturchemie mit ihrer neuartigen Düngerlehre, die raschen Erfolge der Farbchemie und die Entwicklung pharmazeutischer Spezialitäten bahnten ihr den Weg zu einer Leitwissenschaft der sog. zweiten Industrialisierung. Im Ernährungssektor bereiteten gewerblich produzierte Nahrungsmittel dem neuen Wissen den Weg. Für den Staat aber, der viele der nun entstehenden agrikulturchemischen Institute und eine wachsende Zahl von chemischen, hygienischen und physiologischen Lehrstühlen finanzierte, ging es um gesellschaftliche Ordnung: Die Versorgung von Gefangenen und Soldaten, von Waisenkindern und Fürsorgeberechtigten konnte mit neuem Wissen optimiert, die Löhne auf einen vermeintlich gültigen Grundbedarf ausgerichtet werden. Das ernährungswissenschaftliche Wissen wurde daher rasch entgrenzt und vergesellschaftet. Es handelte sich um eine bürgerliche Errungenschaft, um eine „sehr allmälig und spät reifende Frucht des Culturlebens“ [9]. Ernährung wurde zu einer gesellschaftlichen Querschnittsaufgabe, die Anstrengungen zahlreicher, nicht nur naturwissenschaftlicher Wissenschaften erforderte. Ernährungswissenschaftliches Wissen fand Widerhall auch in Human- und Veterinärmedizin, der Pharmazie sowie den sozialen und Staats-Wissenschaften. Es waren insbesondere Statistik und Nationalökonomie, deren Effizienzideal und Knappheitsdenken dem der Ernährungswissenschaften entsprachen.

Ernährungswissenschaft als Gemeinschaftswerk des „Eisernen Dreiecks“

Trotz alledem, trotz einer weltweiten Vorreiterrolle der Münchener Schule, konnte sich der Begriff der Ernährungswissenschaften vor dem Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen. Der disziplinäre Traditionalismus der universitären Professionen war schon damals stark. Doch während des Ersten Weltkrieges änderte sich dies zumindest begrifflich. Ineffiziente Bürokratien, fehlende Expertise der Militärbefehlshaber und interessenpolitische Rücksichten gegenüber der Landwirtschaft verschärften die durch die völkerrechtswidrige Seeblockade seit 1915 hervorgerufenen Versorgungsprobleme, mündeten in ein erst 1924 beendetes Jahrzehnt der Ernährungskrise. [10] Ernährungswissenschaft etablierte sich damals als Gegenentwurf, als programmatischer Sammlungsbegriff, als Ausdruck einer nationalen Kraftanstrengung unterschiedlicher Teilwissenschaften am Tische der darbenden Nation. Das Flaggenwort stand für den Anspruch, das vorhandene Ernährungswissen zu bündeln und in praktische, krisenwendende Forschung zu lenken. Ein „tieferes geordnetes Eindringen in die Materie“ [11] sollte nicht nur eine gerechte Verteilung auf Basis des physiologischen Grundbedarfs ermöglichen, sondern Wege weisen, um mit den kargen Ressourcen angemessen haushalten zu können. Dies bedeutete vermehrte staatliche Investitionen in angewandte Grundlagenforschung. Es galt Konservierungstechniken zu optimieren, (Ersatz-)Produkte herzustellen sowie neue Nahrungsressourcen zu erschließen. Die Ergebnisse waren ernüchternd, doch die damals geforderten Strukturen prägten seit Anfang der Weimarer Republik den Ernährungssektor.

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Der Physiologe Max Rubner (1854-1932), Doyen der Ernährungswissenschaft vor und während des Ersten Weltkriegs (Zeitbilder 1928, Nr. 31, 3)

Das galt weiterhin weniger disziplinär. „Ernährungswissenschaft“ etablierte sich nach dem Ersten Weltkrieg jedoch als Interessengemeinschaft von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat zur Erforschung, Produktion und Kommunikation einer gesunden und preiswerten Volksernährung. Das damals geformte „Eiserne Dreieck“ kennzeichnet bis heute den Agrar- und Ernährungssektor. Die vom stofflichen Denken, von einem Stoffparadigma geprägte Symbiose bedeutete für alle Beteiligten Legitimation und materielle Absicherung. Die Wissenschaftler nahmen eine formal dienende, faktisch aber leitende Funktion für Nation und Bevölkerung ein, sicherten dadurch auch ihre materielle und gesellschaftliche Position. Der Staat profitierte von der Glaubwürdigkeit und dem Renommee der Wissenschaft, konnte zugleich aber die im Stoffparadigma liegenden Ordnungs- und Versorgungsaufgaben angehen, sah er sich doch zunehmend unter dem Zwang zu intervenieren und zu regulieren. Die Wirtschaft gewann durch die Kooperation verlässliche Produktionsparameter und Marktstrukturen, zudem reduzierten großenteils staatlich finanzierte Institutionen ihre Forschungs- und Entwicklungskosten deutlich. Gegenüber dem Verbraucher gewann man dadurch Vertrauen, konnte zugleich aber den ökonomischen Wettbewerb zähmen und ansatzweise lenken. Die relative Ausgrenzung des Verbrauchers wog demgegenüber gering, boten Marketing und Sozialtechniken in einem von ökonomischer Enge begrenzten Umfeld doch ausreichende Möglichkeiten der Marktintegration. Kaum verwunderlich, dass man auch seitens der Nationalökonomie wünschte, „daß der jungen Ernährungswissenschaft erhöhte Aufmerksamkeit zuteil werde und daß sie bald die Vollkommenheit der landwirtschaftlichen Fütterungslehre erlange.“ [12]

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Das Selbstbild der Wissenschaft: Auszug aus einer Waschmaschinenwerbung (Frankfurter Illustrierte 1959, Nr. 20, 31)

Die hohe Leistungsfähigkeit des Wissens und der Sozialtechnologie des „Eisernen Dreiecks“ zeigte sich nicht nur in dem bemerkenswert glatten Übergang von der tradierten kalorisch-energetischen Ernährungslehre hin zu einem dynamisch-funktionellen, Vitamine, Mineralstoffe und biochemische Prozesse integrierenden Forschungsparadigma. Die Vitamin- und Mineralstofflehre trat in die Fußstapfen der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts dominanten Bakteriologie, konnten doch viele bisher nur zu mildernde Mangelkrankheiten seit der Zwischenkriegszeit effizient bekämpft werden. Wissenschaft, Staat und Wirtschaft gewannen Gestaltungsmacht, standen für Fortschritt und Interventionen zugunsten des Volksganzen. Der Nationalsozialismus bildete dabei keinen Bruch, sondern führte bestehende Denkmuster nur konsequenter weiter. Das galt auch für zahlreiche neue Teildisziplinen, etwa die Ernährungspsychologie, die Hauswirtschaftslehre oder das weite Feld des Social Engineering. Die Ernährungswissenschaft dieser Zeit war interdisziplinär, die Fachzeitschriften „Zeitschrift für Volksernährung“ oder „Die Ernährung“ zeugten davon. Allerdings galt nicht mehr länger der bürgerlich-liberale Wertekanon der ersten Phase, trat doch nicht erst während der NS-Zeit eine rein zweckrationale, vielfach politisch determinierte Forschung in den Mittelpunkt, die in einem physiologisch-rassistischen Rationierungssystem ebenso Niederschlag fand, wie in den Verbrechen führender Ernährungswissenschaftler.

Ernährungswissenschaft als Fachdisziplin

Angesichts der massiven Versorgungsprobleme während und insbesondere unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg stand ein Austausch dieser Fachleute jedoch nicht zur Debatte – in West- und Ostdeutschland. Das „Eiserne Dreieck“ schien alternativlos – und doch änderten sich mit den beträchtlichen Wohlstandsgewinnen der 1950er Jahre die Rahmenbedingungen ernährungswissenschaftlicher Arbeit. Nicht mehr Mangel galt es zu bekämpfen und zu begrenzen, sondern Fülle. „Überernährung“ und damit verbundene „Zivilisationskrankheiten“ wurden zum zentralen Fokus einer sich neu – und nun auch zunehmend disziplinär aufstellenden Ernährungswissenschaft. [13]

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Forschungsgebiete des Gießener Instituts für Ernährungswissenschaften I 1967 (1957-1967. Zehn Jahre Institut für Ernährungswissenschaft, Gießen 1967, 12)

Ab 1962 etablierte sich, erst in Gießen, dann an zahlreichen anderen Universitäten und vor allem Fachhochschulen, die heutige Ernährungs- und Haushaltswissenschaft. Im Kern naturwissenschaftlich ausgerichtet, integrierten die ursprünglichen Konzepte auch ergänzende ökonomische, soziale und psychologische Aspekte der Humanernährung. Mangel- und Unterversorgung wurden weiterhin behandelt, sei es bei Armen, Alten und Ausländern, sei es bei der Ernährung in Entwicklungsländern. In den letzten drei Jahrzehnten gewannen biochemische Ansätze wachsende Bedeutung, wurden zudem sozialtechnologische Perspektiven gestärkt. Ausgegrenzt blieben kulturwissenschaftliche Fragestellungen: Essen als eigenständige Handlung eigensinniger Menschen war nicht Forschungsgegenstand, sondern Störgröße.

2. Unternehmerisches „Pröbeln“ auf wissenschaftlicher Grundlage, 1850-1890

Ernährungswissenschaftler und Unternehmer sind nicht getrennt zu denken. Beide waren Bürger, wissenschaftliche Erfindungen dienten immer auch dem materiellen Gewinn. Eine große Zahl erfolgreicher Erfinderunternehmer prägte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie standen für eine erste Phase individuellen „Pröbelns“, also der Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse auf eng begrenzte Märkte und namentlich gekennzeichnete Markenartikel. Wirtschaft war angewandte Forschung, praktizierte in Produkte geronnene „Menschenwirtschaft“ [14].

Erfinderunternehmer und ihre Pionierprodukte

Typisch für die neuen ökonomischen Chancen einer stoffbasierten Nahrungsmittelproduktion war bereits Liebigs Fleischextrakt, ein globaler Markenartikel, ein zum Produkt geronnenes Sozialprogramm. [15] Das Grundrezept entsprang der chemischen Analyse des Fleisches und seiner Bestandteile. Durch Kochen schien es möglich, die nährende Essenz des Fleisches gleichsam zu destillieren, ein mit Salz und Gewürzen angereichertes aromatisches Küchenprodukt zu gewinnen. [16] Das 1847 veröffentliche Grundrezept wurde mehrfach verbessert, doch aufgrund seines hohen Preises blieb der Fleischextrakt eine Münchner Apothekerware. Das änderte sich 1862, als Liebig mit finanzkräftigen Investoren übereinkam, die Produktion ins uruguayische Fray Bentos zu verlagern und mit seinem Namen für das Produkt zu werben. Die Nährkraft der dortigen Rinder sollte in einem großbetrieblich hergestellten Produkt konzentriert, ein billiges, eiweißhaltiges Volksnahrungsmittel geschaffen werden. Stoffliches Wissen und Globalisierung schienen einen Beitrag zur Lösung der zunehmend drängenden sozialen Frage leisten zu können. [17] Liebigs Fleischextrakt etablierte sich als bequemer Suppengrundstoff und als Würze. Doch die Grundannahme Liebigs trog, dass nämlich sein Produkt nähren könne. Liebigs Fleischextrakt war ökonomischer Erfolg und wissenschaftliches Desaster zugleich, denn er enthielt kein Eiweiß, lediglich Mineralstoffe.

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Liebigs Fleischextrakt: Vorreiter wissenschaftlich-industrieller Nahrung (Bonner Zeitung 1869, Nr. 236 v. 1. September, 4)

Dennoch wurde er zu einem Wegbereiter wissensbasierter Nahrung: Der wissenschaftliche Impuls war zentral, gewiss. Doch drei weitere Aspekte prägten fortan derartige „künstliche Kost“: Erstens gab es intensive Debatten über den Wert des neuen Angebotes, der eine wohlschmeckende häuslich bereitete Fleischbrühe nur ansatzweise ersetzen konnte. Bequeme Zubereitung und Gaumenkitzel durch „Nährsalze“ schienen jedoch als ausreichendes Substitut für ein Nährmittel. Zweitens bewirkte der hohe Salzgehalt eine stete Risikodiskussion. Auch wenn vom Extrakt keine Gesundheitsgefahr ausging, schien doch Vorsicht bei der Veränderung tradierter Nahrungsmittel angeraten – und damit wissenschaftliche Kontrollverfahren. Drittens wurde die soziale Positionierung des Produktes zur Marketingaufgabe. Gedacht für alle Bevölkerungsschichten, etablierte sich der Fleischextrakt just wegen seines fehlenden Nährwertes als gängiger Markenartikel bürgerlicher Käufer.

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Ein Massenprodukt lange vor Dr. Oetker: Backpulver (Leipziger Tageblatt 1879, Nr. 96 v. 6. April, 1926)

Die Diffusion des Liebigschen Fleischextraktes unterstrich, dass eine einfache und überzeugende wissenschaftliche Idee für ein erfolgreiches Produkt nicht ausreichte. Kopfgeburten dieser Art standen immer in der Gefahr, einzelne Vorteile zu stark zu gewichten, zugleich aber deren Bedeutung im Alltag der Kunden falsch einzuschätzen. Das zeigten etwa die seit den 1880er Jahren breit beworbenen Fleischpeptone, die Nährwert besaßen, deren schlechter Geschmack aber ein Vordringen abseits der Krankenernährung unmöglich machte. Die Umsetzung wissenschaftlicher Ideen in Produkte war komplexer als gedacht. Abermals kann Liebig als Beispiel dienen, stand der Münchener Ernährungswissenschaftler doch auch der gängigen Art des Brotbackens kritisch gegenüber. Wohlmeinende Ratschläge, das Brot aus „ganzem Mehl“ zu backen, um so dessen Nährstoffdichte zu erhöhen, scheiterten jedoch kläglich, da – so Liebig – Arme und Reiche gleichermaßen helles Brot aus geschmacklichen Gründen bevorzugten und „Vernunftgründe“ sehr wenig Einfluss auf den Geschmacksinn der Menschen hätten. [18] Die Versorgungskrise in Ostpreußen führte in den späten 1860er Jahren jedoch zu einem neuerlichen Anlauf für eine verbesserte, nun „chemische Methode der Brodbereitung“. Es galt, die beim Mahlen verloren gegangenen „Nährsalze“ zu substituieren, Mahlverluste also auszugleichen, ohne dabei aber den Geschmack des Brotes zu beeinträchtigen. Liebig griff dabei auf Vorarbeiten seines amerikanischen Schülers Eben Norton Horsford (1818-1893) zurück, der seit 1856 erfolgreich Backpulver produzierte. Das Produkt bestand aus zwei Pulvern, nämlich Phosphorsäure und doppelt-kohlensaurem Natron. Liebig ersetzte letzteres durch Chlorkali. Beide Komponenten waren mit dem Mehl zu vermengen, sein Zusatz ergab ein kompaktes, wohlschmeckendes Brot, das sowohl zu Hause als auch beim Bäcker hergestellt werden konnte. Gleichwohl scheiterte das 1869/70 in deutschen Landen in allen führenden Zeitungen und Publikumszeitschriften vorgestellte und annoncierte Horsford-Liebigsche Backpulver. Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien, wo Brot zunehmend in „Fabriken“ gebacken wurde, dominierten in Kontinentaleuropa noch das häusliche Backen mit Sauerteig. Bäckereien besaßen nicht das Kapital für notwendige technischen Umstellungen, auch der Geschmack des teureren Backpulverbrotes ließ zu wünschen übrig. Backpulver wurde weiter angeboten und begrenzt genutzt, doch es mutierte erst seit den 1890er Jahren zu einem Massenprodukt für das sich erst damals allgemein etablierende häusliche Kuchenbacken. [19]

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Nahrungskonzentrat Protein-Graupen (Jeversches Wochenblatt 1863, Nr. 113 v. 22. September, 7)

Diese Nähe zum Markt führte schon früher dazu, dass Unternehmer wissenschaftliche Ideen zwar aufgriffen, dass sie diesen aber nur so weit folgten, wie sie ökonomisch verantwortbar schienen. Suppenpräparate boten dafür ein gutes Beispiel: Seit den 1870er Jahren gewannen Suppenmehle an Bedeutung, Mischungen getrockneter Gemüse mit Gewürzen. Dabei ging es um nährende Suppen, meist Gemenge von Mehlen und Leguminosen. Sie standen in der Tradition der vom (Ersatz-)Kaffee verdrängten Morgensuppen, erlaubten aufgrund ihres Eiweißgehaltes auch eine billige Grundversorgung. [20] Die gewerblich hergestellten Suppenpräparate waren jedoch zu teuer, mundeten nicht recht, hatten eine nur begrenzte Haltbarkeit. Um diese Defizite zu beseitigen, lockten sozial bewegte Philanthropen Innovatoren. Der Kempthaler Unternehmer Julius Maggi (1846-1912) war einer von nicht wenigen, die eine wissenschaftlich-gewerbliche Antwort auf die sozialen Wandlungen geben wollten. Optimierung des individuellen Stoffwechsels und des gesellschaftlichen Volkskörpers verschmolzen dabei. [21] Maggi pröbelte zwei Jahre, stellte 1884 schließlich seine erste „Leguminose“ vor. Das Suppenpräparat war solide, fand Absatz, verfehlte jedoch seine Zielgruppe. [22] Nicht Arbeiter, sondern Kleinbürger griffen zu. Maggi, wie auch andere Anbieter, beließen es dabei jedoch nicht. Sie setzen den geschmacksarmen Leguminosenmehlen Gewürze und andere Zutaten zu. Würzen, Bouillonsuppen und Brühwürfel folgten bis zur Jahrhundertwende. Sie erst bahnten den Fertigsuppen den Weg, mochte der geringe Preis auch zulasten des anfangs so zentralen Eiweißgehaltes gehen. Diese Unternehmer emanzipierten sich in wissenschaftlicher Nachfolge von allzu engen stofflichen Konzepten, entwickelten neuartige Massenprodukte, fanden profitable Kompromisse zwischen Ideen nutritiver Umgestaltung und akzeptablen Veränderungen im Kernbereich menschlicher Existenz.

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Wissensbasierte Ernährungsreform: Maggis Suppen und Würzen (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2224, 11)

Neue Branchen durch neues Wissen

Ernährungswissenschaftliches Wissen ermöglichte jedoch nicht nur neuartige Einzelprodukte. Auch ganze Marktsegmente wandelten sich, so etwa seit den 1860er Jahren die Säuglingsernährung. An die Stelle der „natürlichen“ Muttermilch sollte etwas Besseres, etwas Künstliches gesetzt werden – vorausgesetzt, die Mutter war nicht in der Lage oder aber willens, ihr Kind zur Brust zu nehmen. „Künstliche“ Säuglingsernährung bezog sich nicht auf den Einsatz von Ammen oder Kuh- und Ziegenmilch, sondern umgriff gewerblich hergestellte, chemisch analysierte und häufig von Ärzten verordnete Produkte. Das Wissen von Nahrungsmittelchemie und Ernährungsphysiologie eröffnete neue Märkte, bahnte der Profession der Pädiater den Weg. „Künstliche Säuglingsernährung“ war eine Antwort auf die epidemisch verbreitete Kindersterblichkeit, neben den Infektionskrankheiten die wichtigste Todesursache im 19. Jahrhundert. In Preußen war sie seit den 1820er Jahren vergleichsweise kontinuierlich gestiegen und erreichte zwischen 1860 und 1900 Werte von etwa zwanzig Prozent.

Doch es ging nicht um Mitgefühl. Der Säugling war wissenschaftlich ein organisches Wesen mit unausgebildeter Physiologie, dessen Bedürfnisse vornehmlich um Essen und Wachsen kreisten. Dazu genügten wenige Nahrungsmittel, bei denen Verdaulichkeit und die Resorption der Nahrungsstoffe entscheidend zu sein schienen. Die Muttermilch galt lange Zeit als Ideal, schien alles zu enthalten, was der Säugling benötigte. Einerseits konnte man die Tiermilch durch Verdünnung und Substitution der menschlichen Norm anzupassen, anderseits die Muttermilch gewerblich nachbilden. Das Stoffparadigma war erkenntnisleitend, doch Nahrungsmitteltechnologie und die Erfordernisse der Bakteriologie setzten Grenzen. Die theoretischen Vorteile künstlicher Säuglingskost waren schlagend, war sie doch gleichmäßig zusammengesetzt, dauerhaft verfügbar und keimarm produziert.

Ärzte und Chemiker standen am Anfang, entlehnten ihre Präparate anfangs der häuslichen Praxis. Das galt etwa für die Liebigsche Malzsuppe, die jedoch rasch scheiterte, da ihr Geschmack zu wünschen übrig ließ, sie immer wieder frisch gekocht werden musste, zudem relativ teuer war. Davon ernüchtert begannen zahlreiche Erfinderunternehmer mit Eigenkreationen. Auf der einen Seite orientierte man sich an der Milch, auf der anderen am Mehl, also an Eiweiß oder an Kohlenhydraten. Für den ersten Weg stand das Rahmgemenge des Mediziners Philipp Biedert (1847-1916), gewerblich in Lizenz gefertigt. Sein Erfolg war begrenzt, auch aufgrund der noch kaum elaborierten Eiweißchemie bzw. der fehlenden Nahrungsmitteltechnologie. Die zweite Produktgruppe, die Kindermehle, fand seit den 1860er Jahren dagegen deutlich breiteren Widerhall. Nestlés Kindermehl war ein Leitprodukt, doch 1881 konkurrierten mehr als vierzig verschiedene Präparate um die Gunst der Käufer. [23]

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Rational zusammengesetzt und leicht verdaulich: Kindermehle (Kladderadatsch 28, 1875, Nr. 36, Beibl. 1, 3)

Die frühen Kindernährmittel wurden erst seit den 1890er Jahren auch industriell gefertigt. Es handelte sich um Fertig- und Halbfertigprodukte, entwickelt auf Grundlage ernährungswissenschaftlichen Wissens, regelmäßig untersucht und in einem möglichst hygienischen Umfeld hergestellt. Sie blieben Aushilfen, konnten schon aufgrund ihres Preises die bestehende Alltagspraxis nicht wirklich verändern und die Kindersterblichkeit reduzieren. Dennoch etablierten sie einen neue „Industrie“. Ähnlich gelagerte, teils wesentlich breiter geträumte Umgestaltungsvisionen scheiterten dagegen kläglich, etwa Ende des 19. Jahrhunderts der Versuch, gewerbliche Eiweißpräparate an die Stelle von Fleisch, Ei, Milch und Leguminosen zu setzen. [24] Synthetische Nahrung blieb dennoch ein wissenschaftliches Ziel.

Entstehung und Wandel der Ernährungsindustrie

Wissensbasierte Einzelprodukte und neue Unternehmensbranchen stehen für den langwierigen Wandel des Nahrungsmittelangebotes. Dieser aber setzte früher ein, deutlich vor der Entstehung der Ernährungswissenschaften. Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm der Konsum von Kolonialwaren, wie Rohrzucker, Kaffee, Kakao und Tee zu, doch dieser blieb lange Zeit Luxus, ein Vorrecht Begüterter. Wichtiger war der vermehrte Anbau neuer Agrarprodukte. Seit Ende des 18. Jahrhunderts trat die Kartoffel zunehmend neben das bis dahin dominante Getreide, ermöglichte billigen Kartoffelschnaps. Anfang des 19. Jahrhunderts folgten Zuckerrüben, Zichorien und Tabak. Eine Ernährungsindustrie entwickelte sich auf Basis derartiger Rohwaren, gründete zugleich auf der Ende des 18. Jahrhundert sich verstärkenden Rationalisierung und Intensivierung der Landwirtschaft. [25] Die sozialen Umschichtungen im Gefolge der Bauernbefreiungen ließen eine aufstrebende und zunehmend marktorientierte Schicht von „Agrarkapitalisten“ aufkommen, die für die Versorgung der langsam wachsenden Städte und die seit Mitte der 1830er Jahre einsetzende Industrialisierung unverzichtbar wurde.

Die Ausbildung einer frühen Ernährungsindustrie war ein wichtiger Teil des neuen Maschinenzeitalters, doch sie erfolgte nur in wenigen Branchen. Leitsektor war die Rübenzuckerindustrie, es folgten Getreide- und Ölmüllerei sowie die Tabak- und Zichorienfabrikation. Ziel war durchweg die Weiterverarbeitung und Veredelung von Pflanzen, die Einzelhaushalte nur unzureichend bearbeiten konnten. Brot- und Backwaren sowie Fleisch und Bier wurden dagegen kleingewerblich und verbrauchernah hergestellt, als Teil von Handwerk und Hausgewerbe. [26] Um die Mitte des Jahrhunderts entstanden dann Branchen, die allesamt neue Techniken und Zusatzstoffe nutzten: Mineralwässer, Sekt, Konserven, Schokolade und Konfitüren blieben jedoch lange Zeit relative Luxusprodukte von Adel und wohlsituiertem Bürgertum.

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Gesundheit für alle: Künstliches und natürliches Mineral-Wasser (Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte 15, 1885, Nr. 12, Beil.)

Gleichwohl profitierte die frühe Ernährungsindustrie vom stofflichen Reduktionismus der Ernährungswissenschaft. In der als landwirtschaftlichem Nebengewerbe betriebenen Rübenzuckerindustrie dominierten Praktiker. Sie besaßen genaue Kenntnisse des Produktionsprozesses, weniger aber der verarbeiteten Rohwaren. [27] Dies änderte sich durch ein in den deutschen Staaten schon zunehmend etabliertes Netzwerk landwirtschaftlicher Versuchsstationen. Auf Grundlage der Stöckardtschen und Liebigschen Agrikulturchemie testeten und entwickelten sie Maschinen und Geräte, verbesserten sie die Düngung und insbesondere die Pflanzenzüchtung. [28] Nicht das Kohlenhydratkomprimat Zucker stand im Mittelpunkt, sondern die Zuckerrübe, deren optimierte Varietäten beträchtliche Ertragssteigerungen ermöglichten. Größere Betriebe konnten diese nutzen, Massenproduktionsvorteile generieren und langsam preiswerteren Zucker im In- und Ausland anbieten.

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Rübenzucker, seit 1844 auch in Würfelform erhältlich (Augsburger Tagblatt 1844, Nr. 170 v. 22. Juni, 733)

Kapitalkraft war auch Grundlage für den Wandel des Bierbrauens. Um 1860 emanzipierte sich das Braugewerbe aus seinen kleingewerblichen Strukturen und wurde aufgrund von Gewerbefreiheit und zunehmend scharfen Wettbewerbs seit den 1880er Jahren zum Vorreiter großbetrieblicher Produktion. Sein rasches Wachstum basierte auf der Übernahme ernährungswissenschaftlicher und technischer Innovationen. Der Einsatz von Reinhefen, der Pasteurisierung, des Malzdarrens und der Lindeschen Kältemaschinen erlaubte seit den späten 1870er Jahren eine zuvor nicht denkbare Steuerung des Brauprozesse. Davon profitierten vornehmlich Anbieter untergäriger Biere in Bayern und Böhmen, deren Produktionsweise sich erst reichsweit, dann global verbreitete. Ähnlich wie die Rübenzuckerindustrie gründete die Bierbrauerei auf einem Jahrzehnte zuvor etablierten Netzwerk lokaler und regionaler Brauereischulen, die zu Modernisierungsagenten wurden und stoffliches Denken vermittelten, um standardisiertes Bier zu produzieren.

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Biervielfalt durch Verwissenschaftlichung: Helles Exportbier als regionale Spezialität (Essener Volks-Zeitung 1887, Nr. 124 v. 4. Juni, 2)

Die „fortschreitende Ernährungswissenschaft“ [29] erlaubte jedoch nicht nur neue Produktionstechniken, sondern etablierte bereits im 19. Jahrhundert erste für Massenversorgung unabdingbare Konservierungstechniken. [30] Das betraf vorrangig die Hitzesterilisierung. Technisch war die „Konserve“ seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannt, seit den 1840er Jahren entstandenen erste handwerklich geführte Betriebe, nennenswerte Produktionsmengen erreichte aber erst die Braunschweiger Spargelindustrie in den 1860er Jahren. Die biochemischen Veränderungen waren unklar, doch seit den 1870er Jahren ermöglichten neuartige Autoklaven Konserven für bürgerliche Abnehmer. Neben das Luxusgut Spargel traten seitdem vermehrt preiswertere Gemüse, meist Erbsen und Bohnen. Seit 1889 konnten automatische Dosenverschlussmaschinen das bisher übliche Verlöten der Konservendosen per Hand ersetzen. Erbsenlöchtemaschinen mechanisierten die Arbeit weiter. Um 1900 produzierten ca. 300 kleine und mittlere Unternehmen jährlich etwa ein Kilogramm Standardware pro Kopf. [31]

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Versandgeschäft mittels Blechdosen (Hamburger Nachrichten 1879, Nr. 53 v. 2. März, 10)

Konserven waren intransparente Waren, vielfach ohne Etiketten und Herstellerangaben, mit schwankenden Füllgewichten und hygienischen Problemen. Eine Sinnesprüfung durch den Verbraucher war erst nach dem Öffnen der Dosen möglich. Schwieriger noch gestaltete sich der Umgang mit der wachsenden Zahl von chemischen Konservierungsmitteln, die seit den 1870er Jahren an Bedeutung gewannen. Salizyl- oder Borsäure waren umstritten, unter Wissenschaftlern und auch Unternehmern. Öffentliche Debatten mündeten in frühes Risikomanagement und staatliche Interventionen, etwa durch das Blei-Zinkgesetz von 1887 und vereinzelten Verboten von Konservierungsmitteln. Für die Anbieter aber waren sie unverzichtbar, erlaubten sie doch Marktpräsenz über längere Zeit und in größeren Gebieten.

Die Ambivalenz des Fortschritts

Ernährungswissenschaftliches Wissen erweiterte den Nahrungsspielraum, erlaubte Spezialisierung, war unabdingbar für die Industrialisierung nicht nur des Ernährungssektors – für den damals mehr als die Hälfte des privaten Konsums aufgewendet werden musste. Ernährungswissenschaftliches Wissen veränderte tradiertes Wissen um Nahrung und Ernährung, um Produkte und gesundheitliche Gefahren. [32] Das Stoffparadigma erlaubte die Nachbildung einer fiktiven Natur, war daher aber auch prädestiniert für Nahrungsmittelverfälschung. „Natur“ erwies sich als Fiktion, das „Künstliche“ schuf eine neue, hybride Natur, leistungsfähiger und billiger.

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Weltfremde Forschung? (Lustige Blätter 18, 1903, Nr. 42, 13)

Das unterstrichen die zahlreichen Weinverbesserungsmethoden, deren bekannteste das Gallisieren war. Es stand einerseits für die Prägekraft der durch chemische Analysen ermittelten Normalzusammensetzung der Nahrungsmittel, wies anderseits aber auch Wege, um diese mit künstlichen Mitteln nachzubilden, also „Weinschmiererei“ [33] zu betreiben. Der Erfinder, Ludwig Gall (1791-1863), war ein pfälzischer Reformbeamter, Gewerbeförderer und Sozialpolitiker. [34] Sein Verfahren der Nasszuckerung von Weißweinen resultierte aus den akuten Absatzproblemen der Moselwinzer während der von Missernten und Kälte geprägten 1840er Jahre. Gall empfahl seit 1850 auf Basis eigener Experimente nicht ausgereiften Reben Wasser und vor Beginn der Gärung Zucker und/oder Alkohol zuzusetzen. [35] Das Gallisieren schloss sich an französische Verfahren an und war Teil eines sozialpolitischen Gesamtpaktes, das die Bildung von Absatzgenossenschaften, verbesserte Pflanzenzucht und regionale Lehr- und Versuchsanstalten vorsah: Selbsthilfe auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Methoden. Doch die Methode ließ sich nicht auf den Ausgleich lagenbedingter Defizite des Weines begrenzen. Winzer und insbesondere Zwischenhändler erhöhten die Weinmenge über Gebühr. Eine klare chemische Unterscheidung von (gallisierten) „Kunstweinen“ und „Naturweinen“ gelang erst Ende des 19. Jahrhunderts. Die Ernährungswissenschaft setzte also verschiedene und teils gegensätzliche Entwicklungen in Gang. Gallisieren blieb allerdings eine gängige Technik und wurde in der Europäischen Union erst 1984 durch einfachere Formen der nicht nur in Deutschland weiterhin üblichen Nachzuckerung abgelöst.

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Kunst statt Natur: Wein als Beispiel (Berliner Wespen 10, 1877, Nr. 38, 4 (l.); Kladderadatsch 49, 1896, 38)

Ernährungswissenschaftliches Wissen ermöglichte bereits im 19. Jahrhundert eine sowohl billigere, als auch breitere Produktpalette. Rübenzucker und Zichorienkaffee waren noch Substitute kolonialer Importwaren. Der seit 1823 gewerblich hergestellte „künstliche“ Holzessig entstand dagegen auf Basis organischer, gemeinhin nicht konsumierbarer Materialien, bildete eine scharfe Würze auch ohne langwierige Vergärung auf Apfel- oder Weinbasis. Grundlagenforschung ermöglichte schließlich auch erste synthetische Produkte, so den seit 1887 angebotenen Süßstoff Saccharin und das als Sucrol vertriebene Dulcin. Sie unterminierten ansatzweise die Stellung des frühen Wissensprodukts Rübenzucker, bis ihr Vertrieb abseits von Apotheken 1902 schließlich verboten wurde. [36]

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Neue Süßstoffe: Werbung für Saccharin (Frankfurter Zeitung 1888, Nr. 32 v. 1. Februar, Morgenbl., 4)

Die langfristig wohl wichtigste Innovation erfolgte jedoch im Fettsektor. Die Entwicklung der „Kunstbutter“ entsprang staatlicher Förderung, aber auch dem Pröbeln zahlreicher wissenschaftlich gebildeter Praktiker. Hippolyte Mège Mouriès (1817-1880) wird gemeinhin als Erfinder genannt, 1869 gilt als Jahr des Durchbruchs zur Produktionsreife. Das übergeht vieles, nicht zuletzt weit vorher einsetzende Zwischenlösungen und Produkte sowie die folgende kontinuierliche Veränderung von Produkt und Produktion in Unternehmen. Das anfangs vor allem aus Milch- und Rinderfett, nach der Jahrhundertwende dann aus kolonialen Ölen und Waltran hergestellte Kunstprodukt erhielt den heutigen Namen „Margarine“ allerdings erst 1887 per Reichstagsbeschluss. Die Produktion stieg von ca. 15.000 t 1887 über 100.000 t 1900 auf 210.000 t 1913. [37] Anders als beim Saccharin konnten Verbotsforderungen im späten 19. Jahrhundert abgewehrt werden – Folge der starken Politisierung des Billigfetts durch Linksliberale und Sozialdemokraten, Folge aber auch der Unbedenklichkeitsbescheinigungen durch die aufstrebende Nahrungsmittelchemie.

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Bakterienfreiheit als ambivalentes Produktionsziel (Apotheker-Zeitung 6, 1891, Nr. 3, Anzeigen, 24)

Dies war wichtig, denn im ökonomischen aber auch politischen Kampf gewannen wissenschaftliche Argumente im späten 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Der Grund lag nicht allein in einer zunehmend wissenschaftlich grundierten Nahrungsmittelproduktion, sondern auch in den Paradoxien, die die Ernährungswissenschaften kennzeichneten. Die Säuglingssterblichkeit wurde mittels keimfreier Angebote bekämpft, doch ohne Beikost verursachten sie, wie auch durch die weitverbreiteten Soxhletschen Milchkonservierungsapparate, Vitaminmangelkrankheiten, die vor Benennung dieser Stoffe nicht berücksichtigt werden konnten. Eine große Zahl der Eiweiß- und Kräftigungspräparate der Jahrhundertwende bestanden aus Rest- und Abfallstoffen, ohne dass dies den Verbrauchern bekannt war. Erfinderunternehmer nutzten ihren Wissensvorsprung auch zu gezielter Täuschung. Der vom Münchener Chemiker Hermann Scholl (1869-1943) 1897 eingeführte „Fleischsaft Puro“ bestand eben nicht aus Ochsenfleisch, wurde aber dennoch von zahlreichen Ärzten verschrieben, da er der Wirkung eines frisch gepressten Fleischsaftes nahe kam. Die Rolle des Staates beim Gesundheits- und Verbraucherschutz trat dadurch neuerlich hervor.

3. Nahrungsmittelchemie als Kontroll- und Setzungsinstanz, 1870-1920

Neues stoffliches Wissen und darauf beruhende Produkte hatten die seit dem Hochmittelalter geltenden Kontrollmechanismen im Nahrungsmittelsektor unterhöhlt. Die Sprache des alten Rechts, der Zunftordnungen und obrigkeitlichen Reglements entsprach immer weniger den Marktgegebenheiten. Nahrungsmittel und Ernährung differierten von Ort zu Ort, rechtliche Vorgaben griffen auf dem Lande kaum, in den Städten immer weniger. Man behalf sich mit einem Flickenteppich rechtlicher und wirtschaftlicher Maßregeln. Preistaxen, Gewichtsbestimmungen und die strikte Regelung der Konkurrenzverhältnisse sollten Konsumenten und Verkäufer vor Überteuerung schützen, Lebensmittelvisitation der „Policey“ verdorbene und verfälschte Nahrungsmittel verhüten. Der Bedarf an weiteren Rechtsnormen wuchs allerdings rasch, führten doch Verbesserungen im Transportwesen und das Ende lang bestehender Zollschranken zu einem vermehrten interregionalen Warenaustausch. Der während der frühen Neuzeit zumeist noch enge Kontakt zwischen lokaler Agrarproduktion und städtischer Versorgung wurde nach und nach durchbrochen, Versorgung im späten 19. Jahrhundert zur wissensbasierten Fremdversorgung.

Angesichts wachsender Deregulierung beschränkte sich die Nahrungsmittelkontrolle zunehmend auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit. Pharmazeuten, dann aber vor allem Chemiker waren deren Garanten. [38] Ihr Wissen setzte bereits bei der Produktion, bei neuartigen Fälschungs- und Herstellungsmethoden an, wurde zum Garanten für reine, unverfälschte Ware. Chemiker boten gerichtsverwertbare „objektive“ Dokumentationen von Abweichungen und Verfälschungen. Die Mythen von Zahl und exakter Analyse lieferten Schrittmacherdienste für eine betriebliche und öffentliche Professionalisierung von Pharmazeuten, Handels- und dann vor allem Nahrungsmittelchemikern.

19_Der Welt-Spiegel_1912_08_25_Nr068_p3_Fliegende Blaetter_115_1901_p009_Chemiker_Nahrungsmittelkontrolle_Juckenack_Honig_Laboratorium_Nahrungsmittelchemie

Nahrungsmittelchemiker im Laboratorium und im Außendienst (Der Welt-Spiegel 1912, Nr. 68 v. 25. August, 3 (l.); Fliegende Blätter 115, 1901, 9)

Der Aufschwung der Nahrungsmittelchemie setzte in den 1870er Jahren ein. Anfang der 1880er Jahre ordneten erste systematisierende Monographien die Nahrungsmittel nach ihrem Stoffgehalt. [39] Sie boten – so der Anspruch – „objektives“ Wissen, kamen der Natur auf den Grund, grenzten sich strikt ab von „Methoden qualitativer Natur, die meistens den Stempel der Oberflächlichkeit an sich tragen und zu den gröbsten Täuschungen Veranlassung geben können.“ [40] Die Scheidung zwischen der „normalen“ Beschaffenheit eines Nahrungsmittels und seiner Verfälschung wurde durch das Stoffparadigma auf eine neue Ebene des Wissens gehoben, ermöglichte verbindliche Produktdefinitionen unabhängig von Zeit und Raum. Im ersten Nahrungsmittelgesetz von 1879 gewann diese Wissenselite einen Hebel für Ordnung, für ihre Ordnung. Die vermeintliche Neutralität der Wissenschaft war hierfür zentral, konnten so doch unterschiedliche kommerzielle Interessen auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden. Das Gesetz zielte auf das „Wesen“ [41] der Nahrungsmittel. Das stoffliche Vokabular der Chemiker und Tierärzte bot hierfür einen kleinsten gemeinsamen Wissensnenner. Sie positionierten sich nun als staatlich bestellte „Wächter des Gesetzes“ [42]. Was im Bereich der Gesellschaft der Staat und die Sprache des Rechtes, schien ihnen im Felde der Ernährung die normierende Sprache der chemischen Stoffe.

Das international vorbildliche deutsche Nahrungsmittelgesetz von 1879 war allerdings überraschend folgenlos, obwohl es einige Formen der Verfälschung und Täuschung reichsweit unter Strafe stellte. Nahrungsmittelqualität blieb ein öffentliches Thema, klagestark hieß es, „daß die große Masse des Volkes nicht mehr im Stande ist, unverfälschte Nahrungsmittel zu kaufen“ [43]. Qualifiziertes Kontrollpersonal fehlte, auch das Verständnis der Gerichte. 1880 gab es reichsweit nur ca. 100 öffentlich alimentierte chemische Nahrungsmittelkontrolleure. Noch trugen Pharmazeuten, Tierärzte und Mediziner die Hauptlast der lokalen Untersuchungen, ergänzt von einer wachsenden Zahl freiberuflicher Handelschemiker. Doch bis 1909 war die Zahl promovierter Nahrungsmittelchemiker auf ca. 500 gestiegen, hinzu kamen etwa 300 in landwirtschaftlichen Untersuchungsanstalten angestellte Chemiker. [44] Diese waren regional höchst unterschiedlich verteilt. Besonders Preußen war anfangs kaum in der Lage, dem geltenden Recht Geltung zu verschaffen, während in Bayern schon seit 1876 mit Universitäten verbundene Untersuchungsanstalten bestanden.

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Kontrollaufgabe Trichinenkontrolle (Kladderadatsch 53, 1900, Nr. 41, 2)

Dieses Nord-Süd-Gefälle schliff sich langsam ab. Das war Folge einer effiziente Selbstorganisation der Nahrungsmittelchemiker, die 1883 die „Freie Vereinigung bayerischer Vertreter der angewandten Chemie“ gründeten, aus der 1901 die „Freie Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker“ hervorging. Ihre regelmäßigen Tagungen erfüllten quasiamtliche Funktionen, ihre Setzungen dienten Gerichten als Referenzmaterial. Die Professionalisierung wurde durch die 1894 eingeführte verbindliche Staatsprüfung für Nahrungsmittelchemiker wesentlich beschleunigt. Das half den staatlich alimentierten Wissenschaftlern sich zunehmend gegenüber Handelschemikern, aber auch Pharmazeuten und Medizinern durchzusetzen – und zugleich ihre Definitionen der Ernährung gegenüber der Wirtschaft selbstbewusst zu vertreten. Seit dem späten 19. Jahrhundert folgten umfassende Begriffsbestimmungen und Kennzeichnungsvorschriften im Nahrungsmittelsektor. Nicht der Staat, sondern Produzenten, Händler und Wissenschaftler legten Standards für immer mehr Nahrungsmittel fest. Diese hatten um die Jahrhundertwende in teils intensiven Konflikten um die Ordnung im Markte gerungen, doch ihre wechselseitige Anerkennung ermöglichte tragfähige Kompromisse. Die Kartellierung der deutschen Wirtschaft fand ihr Pendant in der Kooperation der „interessierten Kreise“ im Ernährungssektor.

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Werbeträchtige Kontrolle – hier bei Edeka (General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1913, Nr. 348 v. 18. Dezember, 7)

Wissenschaftliche Experten und wirtschaftliche Repräsentanten verstanden sich gleichermaßen als Sachwalter der Konsumenten. Abseits einiger weniger Konsumgenossenschaften, Käuferligen, Hausfrauenvereinigungen und dann Konsumentenkammern waren die Verbraucher jedoch an den Festschreibungen der Nahrungsmittelqualität und der Kontrollverfahren nicht beteiligt. Das änderte sich auch nicht während der Mangel- und Hungerjahre 1914-1923. Während der Weimarer Republik etablierten die Experten mit dem Lebensmittelgesetz von 1927 und seinen zahlreichen Folgeverordnungen allerdings einen verbesserten Ordnungs- und Kontrollrahmen, der auch noch für die Bundesrepublik Deutschland und die DDR Bestand haben sollte – und das Stoffparadigma rechtsverbindlich festschrieb.

4. Firmenlaboratorien und Verbundforschung, 1900-1950

Wissensbasierte Produktion war das Kennzeichen der sog. zweiten Industrialisierung: Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemikalien, Farben und Pharmazeutika – ihnen allen gemein war wissenschaftliche Expertise, waren zunehmend akademisch ausgebildete Techniker und Wissenschaftler. Naturwissenschaftlich-technische Forschung wurde Teil des Betriebes, zumal größerer Unternehmen. Das Nahrungs- und Genussmittelgewerbe übertraf die genannten Branchen zwar an Umfang – noch 1925 beschäftigte es mit 1,36 Millionen Personen mehr als viermal so viele Menschen wie die chemische Industrie –, doch es war klein- und mittelbetrieblich geprägt. Handwerk, teils Heimarbeit dominierten, ausgeprägte Gewerbecluster gab es nur in wenigen Regionen und Branchen. [45] Die Unternehmen besaßen klar abgrenzbare Sortimente, die sich meist unmittelbar an den verarbeiteten Agrarprodukten orientierten. Die Verwissenschaftlichung der Produktion war begrenzt. Größere Laboratorien wurden zumeist auf Branchenebene unterhalten, Grundlagenforschung erfolgte an Universitäten und in staatlichen Forschungsinstituten. Dies war auch Folge des deutschen Bildungssystems. Chemiker und Ingenieure waren als solche keine Fachleute für die Nahrungsmittelproduktion, Tierärzte und Pharmazeuten hatten andere Berufsbilder. Querschnittsstudiengänge für Lebensmitteltechnologen und Betriebslebensmittelchemiker wurden zwar seit Ende des Ersten Weltkrieges zunehmend gefordert, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisiert. Die Rationalisierung durch Verwissenschaftlichung blieb hinter den Verheißungen der Etablierung stofflichen Denkens in Wissenschaft und Wirtschaft zurück.

Betriebslaboratorien zwischen Qualitätssicherung und Produktentwicklung

Welche Bedeutung besaß ernährungswissenschaftliches Wissen in der Ernährungsindustrie? Die Brauindustrie war um 1900 von großen kapitalkräftigen lokalen Betrieben geprägt, generierte mehr Umsatz als die gesamte Montanindustrie. [46] Im späten 19. Jahrhundert wurde aber nicht nur die Produktion von Bier grundlegend verändert, auch das Produkt veränderte sich durch Zusatz-, Farb- und Konservierungsstoffe jenseits der Grenzen des Reinheitsgebotes. Diese kurze Phase gestalterischer Kreativität war noch vom Pröbeln geprägt, vom Ausprobieren und Austesten, führte zu öffentlichen Debatten über „Dividendenjauche“ und „Surrogatenbrühe“. Sie endete 1906 mit der Durchsetzung des Reinheitsgebotes auch im Norddeutschen Brauereigebiet. Die bayerischen Großbrauereien waren damals Vorreiter preiswerter Massenproduktion. Um Skaleneffekte zu generieren bedurfte es einer berechen- und kontrollierbaren Bierproduktion. Malz, Hopfen und dann auch Wasser mussten dazu innerhalb bestimmter stofflich definierter Qualitätsparameter verbleiben, vom „erfahrungsmäßigen Beurteilungsvermögen“ [47] der Braumeister wollte man immer weniger wissen. Kenntnisse über die agrarischen Rohstoffe wurden durch zahlreiche staatliche Lehranstalten vermittelt; allein die 1883 gegründete Berliner Versuchs- und Lehranstalt bildete bis 1907 mehr als 3.000 Fachleute aus. Für die Unternehmen ging dies einher mit einer systematischen biologischen und dann auch chemisch-technischen Untersuchung der Rohwaren. Betriebslaboratorien wurden vermehrt eingerichtet, zumeist von Chemikern geleitet. Ihre Aufgabe bestand aber eben nicht in der Produktentwicklung, sie sicherten den Brauereien vielmehr „eine sichere Schaffensbasis“ [48]. Dies garantierte eine verlässliche Qualität, etablierte aber zugleich ein Mengendenken im Immergleichen, was spätestens ab den 1960er Jahren ein Grundproblem des deutschen Braugewerbes werden sollte.

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Frauenberuf chemische Assistentin – hier, ein wenig gestellt, in der Zuckerindustrie (Die Woche 5, 1903, 592)

Eine ähnliche Entwicklung nahm auch die Schokoladenindustrie. Kakao und Schokolade waren noch im frühen 19. Jahrhundert vielfach salzig konsumierte Genussmittel, dienten zugleich als Trägerstoffe für zahllose Zumengungen, um dann Stärkungs- und Heilmittel anbieten zu können. Da die hochpreisigen Kolonialwaren schon früh verfälscht und von Surrogaten höchst unterschiedlicher Zusammensetzungen preislich unterboten wurden, setzte der 1876 gegründete „Verband deutscher Chocolade-Fabrikanten“ auf korporative Selbsthilfe. Dessen Mitglieder etablierten ein eigenes stofflich definiertes Reinheitsgebot, das sie mittels einer Gütemarke bewarben und durch ein Branchenlaboratorium kontrollieren ließen. [49] Der Marktführer Stollwerck ging 1884 dazu über, zudem ein Betriebslaboratorium einzurichten, das von einem Nahrungsmittelchemiker geleitet wurde, das zahlreiche Schokoladepräparate, Puderkakao, Fruchtzubereitungen und Backwaren entwickelte, die meist auch patentiert wurden. Die Innovationskraft ließ jedoch seit den 1890er Jahren nach, denn der Kakao- und Schokolademarkt hatte sich etabliert, Nahrungsmitteldefinitionen den Spielraum für konzeptionell neue Produkte verengt. Betriebslaboratorien übernahmen stattdessen vermehrt Kontrollaufgaben. In den 1920er Jahren schulterten sie weitere, vorwiegend kommunikative Aufgaben. Während die Lebensreform- und Schlankheitsbewegung Schokolade als Karies fördernden Dickmacher kritisierte, lobten die Firmenexperten sie als nahrhaftes und anregendes Genussmittel.

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Stoffe machen das Produkt: Schokolade ist gesund, da voller Nähr- und Anregungsstoffe (Vorwärts 1924, Nr. 577 v. 7. Dezember, 22)

Während Stollwerck seine Marktführerschaft in den 1920er Jahren durch externes Wachstum stärkte, nutzten kleinere Konkurrenten ihre Laboratorien auch für Neuentwicklungen. Ein gutes Beispiel hierfür war der „Mauxion-Trunk“ des gleichnamigen Saalfelder Unternehmens. [50] Dieser „Kakaotrunk“ bestand aus Magermilch, Zucker und Kakao, wurde in ¼ Liter-Flaschen mit Strohhalm angeboten. Der Erfolg war beträchtlich, so dass rasch ein „Schokotrunk“ nachgeschoben wurde, bestehend aus Kondensmilch, mehr Zucker und Kakao, angeboten in einer trinkfertigen Büchse. Aufgrund der vorverarbeiteten Milchprodukte konnte der Preis niedrig gehalten werden, litt der Geschmack nicht durch die Milchpasteurisierung, die damals nur sehr süße Fertigkakaogetränke ermöglichte. Der „Schokotrunk“ war Gegenstand kontroverser regulativer Debatten, war Kakao doch keine Schokolade. Doch Mauxions Markenname blieb bestehen – und stand für die marktbildenden Chancen wissensbasierter Produktinnovationen.

Korporative Strukturen von Forschung und Entwicklung

Ernährungswissenschaftliches Wissen etablierte sich demnach auch auf betrieblicher Ebene. Die im Vergleich zu anderen Branchen dennoch relativ geringen Forschungs- und Entwicklungsausgaben der Agrar- und Ernährungswirtschaft hatten ihren Grund nicht allein in der Vielzahl der Branchen, der noch stark handwerklichen Ausrichtung und der überschaubaren Zahl von Großbetrieben. Der Grund lag in einer anderen Forschungsorganisation. Der einzelne Bauer griff auf die Expertise der landwirtschaftlichen Vereine und Untersuchungsanstalten zurück, auf ein breites Netzwerk regionaler und nationaler Fachzeitschriften. Das galt analog auch für handwerkliche und industrielle Betriebe. Hinzu kam ein breiter Ratgebermarkt. Neben die Wissenschaftler trat eine wachsende Zahl von Fachjournalisten und Schriftstellern, die durch Verbreitung wissenschaftlichen Wissens Einkommen und Einfluss gewannen. Die Grenzen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staatsbediensteten waren fließend, die Konservenindustrie belegt dies. In Braunschweig etablierte sich 1889 das private Untersuchungslaboratorium Dr. Friedrich & D. Rossée, untersuchte Rohwaren und stichprobenartig Konserven. Mit der „Konserven-Zeitung“ erschien sich 1900 eine erste Fachzeitschrift, 1901 folgte der „Verein deutscher Konserven- und Präservenfabrikanten“, der die Zeitschrift, eine Auskunftsstelle für die Mitglieder und eine Versuchsstation unterhielt. Daraus entstand 1911 auch eine Versuchskonservenfabrik, die Verfahren und Maschinen prüfte, verbesserte und entwickelte, zudem Betriebsleiter ausbildete. Geleitet vom Chemiker Herrmann Serger (1884-1971) und dem Kaufmann Bruno Hempel (1882-1936) übernahm sie Forschungsaufträge, Betriebskontrollen, beriet Unternehmen und stellte betriebliche Mängel ab. In den 1920er Jahren weitete sich die Versuchsstation zum Wissenszentrum, war Mittelpunkt eines erst nationalen, dann zunehmend internationalen Expertennetzwerkes. Angesichts derart leistungsfähiger Forschungsstrukturen konnten sich auch große Konservenhersteller auf Produkt- und Prozesskontrolle konzentrieren.

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Forschungsprofil als Dienstleistung (Minerva 28, 1926, 306)

Während in Braunschweig Ernährungswissenschaftler und Betriebe miteinander kooperierten, wurden auf der anderen Ebene staatliche Akteure tätig. Die Nahrungsmittelchemiker sahen sich nicht nur als Sachwalter der Verbraucher, sondern beanspruchten Akzeptanz ihrer in langwieriger Kleinarbeit ausgearbeiteten Festlegungen analytischer Methoden und „normaler“ Zusammensetzungen von Nahrungsmitteln und Produkten. Der 1901 gegründete „Bund Deutscher Nahrungsmittelfabrikanten- und -Händler“ entwickelte konkurrierende Realdefinitionen, die den vielfach regional noch deutlich voneinander abweichenden Handelsbräuchen breiten Raum gaben und den Sinn abstrakter, reichsweit geltender chemischer Definitionen in Frage stellten. Der Staat etablierte sich als Makler zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, doch ihren gemeinsamen Nenner formulierten sie in der Sprache der Chemie, verhandelten Klagen von Verbrauchern nur in derartiger Brechung.

Grundlagenforschung im Schatten des „Eisernen Dreiecks“

Während des Ersten Weltkrieges wurde diese Kooperation anfangs nicht intensiviert. Die groben Konturen der Rationierungspolitik folgten zwar ernährungswissenschaftlichem Wissen, doch die Details der Kriegsernährungspolitik wurden von Militärs und Staatsbediensteten festgelegt. [51] Erst der Hungerwinter 1916/17 veränderte dies. Im Kriegsministerium wurde beispielsweise ein „Nährstoffausschuss“ eingerichtet, dessen Arbeitsgruppen führende Chemiker, Hygieniker und Agrarwissenschaftler zusammenführten, die über die weitere Streckung des Brotes, effizientere Nahrungsmittelproduktion und die nutritive Nutzung bisher wertloser Stoffe forschten. Die Ergebnisse waren begrenzt, folgten Wunschwelten, ökonomische Expertise fehlte. Doch im Gefolge setzten folgenreiche Institutionalisierungen ein, die dem „Eisernen Dreieck“ Gehalt und Gestalt gaben.

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Groß angelegte Planungen (Theodor Paul, Die neu errichtete Deutsche Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie in München, München 1919, 1)

Die konzeptionell bemerkenswerteste Neugründung erfolgte im April 1918: Die in München eröffnete Deutsche Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie zielte auf eine breit angelegte nationale Industrieforschung, um die im Reich verfügbaren Nahrungsressourcen möglichst optimal zu nutzen. Der Blick wurde dabei über die Produktion und die Rohwaren hinaus geweitet, umgriff auch Fragen des Geschmacks, der Verpackung, der Haltbarkeit, der Lagerhaltung und der Abfallvermeidung. Die Forschungsanstalt wurde vornehmlich staatlich finanziert, erhielt geringe Zuwendungen aber auch aus der Wirtschaft. Die Ergebnisse blieben überschaubar, der Kapitalstock schwand während der Hyperinflation, erst der NS-Staat intensivierte die Deutsche Forschungsanstalt neuerlich.

Während nationale Forschungseinrichtungen weiterhin ein Schattendasein fristeten, gewann die „Erhöhung der Erzeugung durch Geistesarbeit“ [52] auf Länderebene massiv an Gewicht. Neue Forschungsanstalten zielten auf die Fisch-, Getreide-, Milch- und Fleischwirtschaft, also auf die wichtigsten heimischen Nahrungsressourcen. Agrarwissenschaftliche Perspektiven dominierten, doch diese Ressortforschung integrierte zunehmend ernährungswissenschaftliche Expertise. Pflug und Sense, Butterfaß und Zentrifuge, Rüttelkasten und Verpackungsmaschine, Kühlaggregat und Blanchierkessel – sie alle mutierten zu Waffen im Kampf um nationale Selbstbehauptung, die ohne eine funktionierende Agrar- und Ernährungswirtschaft nicht denkbar schien.

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Forschungsinstitut für die Fischindustrie in Altona (Das Buch der Weisen 1926, 249)

Parallel setzte auch auf Reichsebene eine systematische, auf drängende Alltagsaufgaben ausgerichtete Forschungsförderung ein, von der die Wirtschaft direkt profitierte. Das 1920 gegründete Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft etablierte 1921 einen Reichausschuss für Ernährungsforschung, dem nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Mediziner, Hygieniker und Volkswirte angehörten. Versorgungssicherheit und eine preiswerte und schmackhafte Ernährung sollten durch Forschung ermöglicht, durch verbesserte Technik umgesetzt werden.

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Führungspersonal der Staatlichen Milchwirtschaftlichen Lehr- und Forschungsanstalt Wangen (Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, Festschrift, 89)

Diese Verbreiterung der Forschungsperspektiven fand in einem erweiterten stofflichen Kanon statt. Vitamine, Geschmacks- und Geruchsstoffe wurden Forschungsthemen, ihre Erhaltung und Optimierung vom Acker bis zum Verbraucher verfolgt. Staatliche Interventionen und präventive Kontrolltätigkeit gingen Hand in Hand. Nach Erlass des Lebensmittelgesetzes 1927 konnten Betriebe direkt untersucht werden. Zudem kooperierten die mehr 400 Nahrungsmittelchemiker in den Ende der 1920er Jahre knapp 140 Untersuchungsanstalten eng mit staatlichen Institutionen. [53] Auch die Forschung der Ernährungsindustrie orientierte sich formal am nutritiven Gemeinwohl. Der 1930 gegründete „Fachausschuß für Forschung in der Lebensmittelindustrie“ bündelte Expertise wissenschaftlich-technischer Fachverbände, um „plangemäße Forschung“ [54] in der Fleisch-, Milch- und Fischwirtschaft zu initiieren und zu finanzieren. Auch zahlreiche Einzelhändler, in erster Linie Konsumgenossenschaften und Filialbetriebe, etablierten Laboratorien, um ihre Produkte anhand stofflicher Kriterien oder aber äußerlicher Merkmale zu testen und eigene Handelsmarken zu entwickeln.

„Gesunde“ Ernährung als Marktchance

Die Debatten innerhalb des „Eisernen Dreiecks“ zielten sämtlich auf einen sich dynamisch verändernden Lebensmittelmarkt, in dem der Wettbewerbsdruck nicht zuletzt durch die nach Kriegsende gefallenen Zollmauern massiv zunahm. Ende der 1920er Jahre bedeutete dies umfangreiche Gemeinschaftswerbung zugunsten heimischer Waren. 1930 bewarben fünfzehn Branchen deutsche Agrarprodukte, etablierten Gütemarken, priesen die verlässliche Standardisierung ihrer Angebote, etwa den einheitlichen Fettgehalt von Butter und Milch oder die „Frische“ des deutschen „Frischeies“. Größere Betriebseinheiten, Produktions- und Absatzgenossenschaften waren erforderlich, um den Anforderungen einer neuen Warenwelt genügen zu können. Auch die Produkte der Ernährungsindustrie veränderten sich. Bei den Edeka-Einkaufsgenossenschaften stieg der Anteil der Markenartikel, der vor dem Ersten Weltkrieg etwa bei einem Viertel gelegen hatte, bis 1934 auf 44 % des Umsatzes, Eigenmarken traten hinzu. [55] Die Weltwirtschaftskrise und die NS-Autarkiepolitik setzen diese Bestrebungen nicht außer Kraft, doch milderten sie den Wettbewerbsdruck und verminderten damit den Zwang zu kontinuierlichen Innovationen. [56]

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Gemeinschaftswerbung für Obst (Vorwärts 1927, Nr. 99 v. 28. Februar, 6)

Die veränderte Form und Aufmachung der Lebensmittel mochte wissensbasierte und stofflich standardisierte Angebote begünstigen, doch wichtiger noch wurde „Gesundheit“. [57] Dieser ohne Kontext inhaltsleere Begriff verwies auf das reibungslose Funktionieren der Körpermaschine. Viele Anbieter spielten mit „Vitaminangst“ [58], mit dem Gegensatz von Gesundheit und Krankheit, mit Unterversorgungen bei essenziellen Lebensstoffen. Sie vermarkteten die expliziten und impliziten Versprechungen der Wissenschaft, obwohl die Reindarstellung der Vitamine erst 1925 einsetzte und synthetische Produkte erst 1933 verfügbar waren. Beworben wurden frische, gering verarbeitete Produkte, was nicht zuletzt Konservennahrung unter massiven öffentlichen Druck setzte und nachhaltige Veränderungen der Hitzesterilisierung nach sich zog. Vorreiter aktiver Vitamin- und Gesundheitswerbung war die sehr kleine Reformwirtschaft, die ihre meist hoch verarbeiteten Produkte als Gesundheitskost propagierte. Ein Beispiel war Vitam-R, ein Hefeextrakt, der als „Fleischextrakt des Vegetariers“ [59] und „natürliches“ Produkt vermarktet wurde. Doch konventionelle Anbieter passten ihre Werbung rasch an, argumentierten mit „Sonnenenergie“, mit „Lebenskraft“ oder anderen Werbephrasen, die durch klinische oder biochemische Studien nicht gedeckt waren, die aber von Marketingexperten immer wieder gefordert wurden, um die Wertigkeit beworbener Produkte herauszustreichen.

29_Dresdner Nachrichten_1930_04_23_Nr189_p5_Der Adler_1939_H07_p30_Vitamine_Vitaminbrot_Bestrahlung_Vitaminpraeparate_Vitalin_Eusovit_Hormo-Pharma

Vitamine im Angebot (Dresdner Nachrichten 1930, Nr. 189 v. 23. April, 5 (l.); Der Adler 1939, H. 7, 30)

Reindarstellungen und synthetische Präparate setzten allerdings neue Dynamiken frei, schienen sie doch die Fortifizierung von vitaminarmen Lebensmitteln zu ermöglichen. Margarine wurde bereits in den späten 1920er Jahren vitaminisiert. Rama im Blauband setzte man das Vitamin A-Präparat Heliozitin zu, Vitmargarin oder Vitamina enthielten Sojabohnenkonzentrate. Mittels wissenschaftlicher Kompetenz schien die Ernährungsindustrie gesunde Produkte schaffen können, lange bevor der NS-Staat die Vitaminisierung der Margarine zur öffentlichen Aufgabe erklärte. Anfang der 1930er Jahre folgten fortifizierte Kindermehle, Puddingpulver oder Lebertran. All das waren wagende Angebote, die vor dem scharfen Schwert der Lebensmittelkontrolle nicht bestehen konnten. Die neuen Präparate hielten sich durchweg nur kurze Zeit, führten nicht zu nachhaltigen Markterfolgen. Wissenschaftlich unterstrichen sie vor allem die noch geringen Kenntnisse über die Wirkungen und den Bedarf des sich ausdifferenzierenden Feldes unterschiedlicher Vitamine. Die Lebensmittelanalytik scheiterte vielfach an Nachweisen im Mikrogrammbereich. Vitamine setzten sich daher eher als pharmazeutischer Präparate, denn als fortifizierte Lebensmittel durch. Für die Ernährungsindustrie bedeutete all dies Forschungsbedarf, um möglichst große Mengen der neuen Stoffe bei der Produktion bewahren zu können, um so die „Frische“ und „Gesundheit“ ihrer Angebote weiter propagieren, um billigere Pflanzenrohware adeln zu können.

Produkte zur Lebensstilstützung

Doch es war nicht nur die Vitaminforschung, die dazu führte, dass in den 1920er Jahren eine „leichtere“ Kost propagiert wurde. Ernährungswissenschaftler verwiesen vor allem auf den veränderten Arbeitsalltag, den Rückgang schwerer manueller Arbeit, die zunehmende Frauenarbeit. All das begünstige Angebote mit einer hohen Nährstoffdichte, konzentrierte und einfach zuzubereitende Produkte mit geringem Kohlehydrat- und hohem Eiweißanteil. [60] Derartige Convenienceprodukte gab es bereits im Kaiserreich, Liebigs Fleischextrakt oder Fertigsuppen waren Wegmarken eines langen Wandels der Enthäuslichung weg vom individuellen Kochen, hin auf die vorgelagerten Produktionsstätten der Ernährungswirtschaft. Auch Backmischungen oder Fertigspeisen entstanden, beide Prototypen einer wissensbasierten Produktentwicklung. Die frühen Convenienceprodukte waren noch länger haltbare, meist pastös eingedickte oder getrocknete Waren, deren Zubereitung an hauswirtschaftlichen Praktiken angelehnt war. In den 1920er Jahren aber stiegen vor dem Hintergrund neuer Stoffwelten die Ansprüche an Gesundheitswert und Geschmack – und diese konnte die Ernährungsindustrie nur auf Basis präziserer Stoffkenntnisse und Prozessführung erfüllen.

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Picknick als Marktchance für Convenienceprodukte (Das Leben 8, 1930/31, Nr. 3, 26)

Das zeigen etwa Angebote für die Wochenendbewegung der späten 1920er Jahre. Naturerfahrung und Gemeinschaftserlebnis wurden durch verkürzte Arbeitszeiten, vor allem aber durch Nahverkehrssysteme und Motorräder möglich. Picknick-Produkte von Metzgern und Feinkostläden waren für diese Klientel oft zu teuer. Hausmannskost dominierte daher, gekochte Eier, Schmorbraten, Obst und Kuchen, dazu Limonaden und Stärkeres. Doch parallel entstanden komplexe Wissensprodukte. 1933 wurden alleine vom Marktführer Heine zehn Millionen Bockwürstchen in Dosen verkauft. [61] Gebrauchsfertig Tubensahne erlaubte verfeinerten Kuchen- und Obstgenuss auch im Freien, aromatisierte Trinktabletten ergaben durch Wasserzusatz geschmacksintensive aromatisierte Getränke. [62] Touristen- und Wochenendkonserven wurden angeboten, lockten ein Massenpublikum mit preiswertem serbischen Reisfleisch oder aber Rinderschmorbraten mit Makkaroni. Das waren einfache häusliche Gerichte mit internationalem Flair, doch technisch war es schwierig, Nährmittel und Fleisch voneinander zu trennen, Textur und Eigengeschmack trotz Hitzeeinwirkung über Monate zu bewahren.

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Vorgekocht und tafelfertig: Werbeschaufenster (Seidels Reklame 16, 1932, Nr. 1, 25)

Diese Aufgabe übernahmen vielfach mittlere Firmen, vielfach noch von Wissenschaftlern geleitet. Die forschungsstarken Großunternehmen entwickelten ihr Sortiment dagegen kontinuierlich weiter. Maggi, das 1921 allein im Singener Hauptwerk 1500 Personen beschäftigte, präsentierte nun auch Saucenprodukte, 1919 gebundene Bratensaucen, 1930 auch klare Varianten. 1935 reihte die erste Tütensuppe ohne Kochzeit an, nur zum Erhitzen in Wasser. 1935 folgte eine erste Fleischsuppe in Tablettenform, 1938 dann flüssige Dosensuppen. [63] Sie beruhten sämtlich auf ernährungswissenschaftlicher Expertise. Ihre Markteinführung wurde durch Marktforschung vorbereitet, die Rezepturen durch Verbraucherbefragungen und Produkttests optimiert. Stoffgehalt und Geschmack blieben Kernaufgaben wissensbasierter Produktentwicklung, doch die Vermarktung erforderte zunehmend neue wissenschaftliche Kompetenzen. Süßwaren, Tabakprodukte und Alkoholika mochten als „ungesund“ gelten, wurden aber dennoch massenhaft produziert, wissenschaftlich optimiert und entsprechend beworben: Ästhetischer Kapitalismus in Reinform. [64]

Goldene Zeiten als Teil des NS-Regimes

Die Zäsuren der politischen Geschichte decken sich vielfach nicht mit denen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Viele Ordnungskonzepte der Agrar- und Ernährungswirtschaft folgten den Verordnungen im Gefolge des Lebensmittelgesetzes von 1927. Das Milchgesetz von 1930 war eine Blaupause für die Umstrukturierung und Rationalisierung zentraler Bereiche der deutschen Wirtschaft. Handelsklassen und Standardisierungen veränderten die Arbeit in den Wertschöpfungsketten, waren auch für den Verbraucher spürbar. Die nationalsozialistischen Machthaber setzten viele Ideen um, die zuvor Agrar- und Ernährungswissenschaftler entwickelt hatten. Charakteristisch wurde allerdings der Trend zur Neuorganisation, zur Größe. Der bis 1934 leidlich etablierte Reichsnährstand war nicht nur eine Institutionalisierung des „Eisernen Dreiecks“, sondern kontrollierte direkt und indirekt mehr als ein Viertel des deutschen Bruttoinlandsproduktes, war damit „die größte Wirtschaftseinheit der Welt“ [65]. Der zuvor schon kaum geltende Preismechanismus wurde durch ein umfassendes System von Festpreisen und festgelegten Handelsspannen außer Kraft gesetzt, zugleich aber unternehmerische Initiative eingefordert und weiter ermöglicht. Die anfangs vor allem um Fragen der Selbstversorgung und Autarkie, der Branchenrationalisierung und stofflich ausreichender Versorgung kreisenden Planungen waren Essenzen wissenschaftlichen Denkens. Doch ihr Horizont war nicht mehr, wie noch Mitte des 19. Jahrhunderts, der sozialen Ausgleichs und globaler Arbeitsteilung, sondern der Kampf um Ressourcen, um Selbstbehauptung von Nation und Rasse und um zweckrationale Innovationen für kaum hinterfragte wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Ziele: „Alle Subjektivität muß ausgeschaltet werden, alles was die Objektivität fördert, ist willkommen.“ [66]

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Gleichschritt zwischen Wirtschaft und Ernährungswissenschaft (Der Markenartikel 6, 1939, 231)

Die NS-Herrschaft war materiell eine goldene Zeit der Ernährungswissenschaften, ihr stofflich-physiologisches Wissen entscheidend für die Intensivierung der Agrar- und Ernährungswirtschaft. [67] Lebensmitteltechnologie und Konservierungstechnik, Lagertechnik und Verpackungswesen, nutritive Prävention und Wirkstoffversorgung – überall war Neuland zu entdecken. Zivile und militärische Arbeit waren kaum mehr zu trennen, „Erzeugungsschlachten“ dienten der „Nahrungsfreiheit“, Aufrüstung und „Blockadefestigkeit“ waren ohne „Verbrauchslenkung“ nicht möglich. Dazu wurde die „deutsche“ Ernährungsforschung – auf Grundlage einer meist freudigen Selbstgleichschaltung und ideologischer Durchdringung – in neue „Gemeinschaftswerke“ institutionalisiert, die auch die Wissenschaftslandschaft der deutschen Nachfolgestaaten prägten. Der 1934 gegründete „Forschungsdienst“ bündelte die staatliche Forschung im Sinne des Regimes, seine mehr als 150 Arbeitskreise dienten der „Überwindung wissenschaftlicher Einzelgängerei“ [68]. Interdisziplinäres Arbeiten und Kooperation wurden so gestärkt, Forschung war unmittelbar anwendungsbezogen. Die 1935 gegründete „Deutsche Gesellschaft für Ernährungsforschung“ führte unter Federführung des Reichsgesundheitsamtes Chemiker, Physiologen, Mediziner und Biochemiker zusammen, stand für staats- und wehrpolitische Forschung. Die 1933 umorganisierte „Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung“ intensivierte ihre schon in der Weimarer Republik betriebene autoritative Vermittlung wissenschaftlichen Wissens, ergänzt von der in der „Deutschen Frauenschaft“ organisierten Expertise der Hauswirtschaftslehre. Ihre Testverfahren sollten eine Blaupause für die spätere „Stiftung Warentest“ bilden.

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Wissenschaftler im völkischen Staat: Der Handschlag mit Bauer und Arbeiter (Morgen-Zeitung 1933, Nr. 117 v. 1. Mai, 1)

Nach dieser ersten Welle des Zusammenschlusses entstanden zwischen 1936 und 1942 zahlreiche neue Forschungsinstitute, organisiert zumeist auf Reichsebene. Die Reichsanstalten für Fleischwirtschaft (1938), Fischerei (1938), und Getreideverarbeitung (1942) standen in der Nachfolge der Länderinstitute, zielten auf die optimale Nutzung heimischer Rohwaren, auf deren effizientere Verarbeitung. Die Reichsanstalten für Lebensmittelfrischhaltung (1936) und Gemeinschaftsverpflegung (1939) dienten der gesunden Versorgung von Großgruppen, repräsentierten zugleich das Ideal einer wissenschaftlich ernährten Volksgemeinschaft. Die Reichsanstalten für Fett- (1941) und Vitaminforschung (1942) standen für neue stoffliche Verbundforschung, zielten auf Verträglichkeit von Ersatzstoffen und die Verbesserung bestehender Lebensmittel. Sämtlich lieferten sie der Wirtschaft zu, ermöglichten zahllose wissensbasierte Lebensmittel. Sie waren erstens eng mit der staatlichen Gesundheitsführung verwoben, beschleunigten zweitens den relativen Bedeutungsverlust chemischer Lebensmittelkontrolle und den Bedeutungsgewinn der auch durch den Vierjahresplan intensivierten Industrie- und Wehrforschung. Ihre Arbeit berücksichtigte drittens, durch Befragungen und Produkttests, die Verbraucherperspektive. Durch Bromatik geschmacklich verbesserte sowie einfacher zuzubereitende Lebensmittel sollten die defizitäre Praxis der Hausfrauen verbessern, in Produkte geronnene Haushaltsrationalisierung ermöglichen. Viertens schließlich hatten alle Einrichtungen zwischen biologisch-alternativen und funktional-materialistischen Ansätzen abzuwägen. Es galt, das lebensreformerische, das „biologische Moment“ [69] dem wirtschaftlichen einzugliedern, ja überzuordnen. Fruchtsäfte, Vollkornbrot und Bratlinge waren charakteristische Ergebnisse derartiger Forschung.

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Werbliche Stilisierung des Forschers als Verkörperung deutschen Geists (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1349)

Militärverpflegung als Blaupause der NS-Konsumgesellschaft

Entsprechende Entwicklungen gab es auch in den westlichen Staaten. Was die NS-Zeit jedoch hervorhob, waren massive Investitionen in einen neuen Kranz industriell gefertigter Lebensmittel, die teils von der Wehrmacht selbst, teils von beauftragten Firmen entwickelt und produziert wurden. [70] Großunternehmen und zahlreiche, teils neu gegründete Firmen profitierten von Forschungen im Verpackungswesen, vor allem von neuen Konservierungsverfahren, namentlich der Gefrier- und Trocknungstechnik. Nicht nur die zivile Lebensmittelrationierung stand unter dem Bannstrahl der Versorgungskatastrophe im Ersten Weltkrieg. Auch das Militär hatte sich schon seit 1917 gezwungen gesehen, erst die Rationen der immobilen Truppen, dann auch der Frontsoldaten zu kürzen. Eingestellt auf einen kurzen Krieg, fehlte es seit 1914 an Expertise, um die Millionenheere ausreichend, gesund und abwechslungsreich versorgen zu können. Die Nachführung riesiger Viehherden stockte, Feldküchen fehlten, ebenso qualifiziertes Küchenpersonal. Liebesgaben aus der Heimat deckten anfangs Lücken der Grundversorgung, doch mit Alkoholika und Kaffeeextrakten, Rauchwaren und Kakao, Tee und Kräftigungsmitteln konnte die Grundversorgung nur ergänzt, nicht aber gewährleistet werden. Neben die (Frisch-)Versorgung aus den besetzen Gebieten trat nach kurzer Zeit vermehrt Konservennahrung. Die private Konservenindustrie wurde zwangsverpflichtet, die anfangs geringe Zahl der Armeekonservenfabriken bis 1918 auf ca. 30 erhöht. Gleichwohl sank die Menge der verausgabten Fleisch- und Gemüsekonserven nach zwei Kriegsjahren deutlich, konnte durch das massiv produzierte Dörrgemüse nicht kompensiert werden. [71] Es fehlte nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern insbesondere an Verpackungsmaterialien. Industriell hergestellte Ersatzmittel halfen Lücken zu schließen, doch bei Kriegsende war der körperliche Zustand der deutschen Truppen deutlich schlechter als der der Entente.

Die Aufrüstung der deutschen Militärverpflegung setzte 1933 ein, nun erst wurden die Ergebnisse der Vitaminlehre und der sog. „Neuen“ Ernährungslehre rezipiert. [72] Ausreichend Kalorien, ein hoher Eiweiß- und Fettanteil, ganzjährige Vitamin- und Mineralstoffversorgung, zudem guter Geschmack und lange Haltbarkeit, hoher Conveniencegrad und Abwechslung, all dies zu niedrigen Preisen und aus einheimischen Rohstoffen – so lautete die Wunschliste, die Militärverwaltung und Lebensmittelindustrie abzuarbeiten hatten. [73] Parallel erfolgte ein massiver Ausbau der militärischen Forschungskapazitäten, ein noch umfassenderes Netzwerk von Musterküchen und neue Institute für Lebensmitteltechnologie und -forschung, die im Dreiklang von „Wehrmacht, Wirtschaft, Wissenschaft!“ [74] marschieren sollten.

35_Die Wehrmacht_4_1940_Nr07_p19_Militaerverpflegung_Soldat

Wehr- und Nährpropaganda (Die Wehrmacht 4, 1940, Nr. 7, 19)

Das Ergebnis war ein deutscher Rüstungsvorsprung in der Militärverpflegung. [75] Die Ausbildung von 160.000 Feldköchen bis Mitte 1942 erlaubte trotz eher altertümlicher Küchentechnik eine abwechslungsreiche Vollverpflegung, in der Fleisch teils durch Fisch ersetzt wurde, Salate und Gemüse ihren Platz fanden. Neue Gewürze und schonende Zubereitung führten zu schmackhaften und vitaminhaltigen Speisen, Gefrierkonserven und schonend getrocknete Kartoffeln bzw. Gemüse unterstützten dies. Die Zahl der ausgegebenen Lebensmittel lag Mitte 1941 lag bei 138, Oktober 1942 bei 158, von denen 146 gewerblich verarbeitet waren. [76] Viele davon waren fortifiziert, Würstchen enthielten zusätzliches Sojaeiweiß, Bratlinge Stärke- und Gewürzsubstitute. [77] Ersatzmittel kamen nicht mehr von außen als Liebesgaben, sondern waren als Austauschprodukte Teil der Verpflegung. Die meisten Angebote waren so oder ähnlich auch für Zivilisten gedacht, manche als Bestandteile einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft nach dem Sieg: Gefriergetrocknete Gemüsesäfte, Käse-, Tomaten-, Apfel- oder Marmeladenpulver wurden in den 1950er Jahren zwar keine Kassenschlager, doch das darin geronnene ernährungswissenschaftliche Wissen ermögliche zahlreiche Produkte während dieser neuerlichen „Wirtschaftswunderzeit“, etwa Kartoffelpuffer und -klöße. [78] Militärplaner und die ihnen zuarbeitenden Wissenschaftler und Unternehmen verstanden die verbesserte Militärkost stets als Blaupause für eine Küchenrevolution im Zivilleben, für eine männlich-wissenschaftliche Alternative zum weiblich-ineffizienten Küchenalltag.

Zwischen- und Austauschprodukte

Charakteristisch für die NS-Zeit waren zudem zahlreiche Innovationen im rückwärtigen Produktionsprozess, bei den Zwischenprodukten. Das war Ausdruck immer kleinteiligerer Veränderungen, die sich den Verbrauchern nicht direkt erschlossen, durch die aber bestehende Angebote schmackhafter, länger haltbar oder auch billiger wurden. Beispielgebend wurde die wachsende Palette von Backhilfsmitteln, die als Teigzusätze eine einheitliche Qualität, gleichmäßiges Ausbacken, einheitliche Porung sowie ein lockereres Backwerk ermöglichten. Auch Fett konnte durch den Einsatz von Austauschstoffen auf Zucker-, Kapillärsirup- und Kunsthonigbasis eingespart werden.

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Dreibandtrockner zur automatischen Produktion von Migetti in Nürnberg (Die Milchwissenschaften 1, 1946, 60)

Andere Austauschstoffe wurden erfolgreiche Markenartikel, etwa das 1939 eingeführte kochfertige Migetti, ein reisähnliches Nährmittel für die schnelle Küche, hergestellt aus Molke, Weizen- und Kartoffelstärkemehl, also einheimischen Agrarprodukten. Konzipiert wurde es von Chemikern und Ingenieuren der Bayerischen Milchversorgung GmbH in Nürnberg, die vollautomatische Produktion erfolgte in Kooperation mit Wehrmachtsstellen. Migetti wurde mittels Kundenbefragungen optimiert, sein Vertrieb mit Rezeptbüchern begleitet, eine modern gestaltete Werbung machte das Präparat reichsweit bekannt. Die Produktion konnte während des Zweiten Weltkrieges gesteigert werden, 1943 und 1944 wurden jährlich etwa 16 Millionen Packungen hergestellt.

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Produktion und Test von Milei bei der Württ. Milchverwertung, Stuttgart (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 244 v. 27. Mai, 14)

Noch größere Bedeutung gewann das Eiaustauschprodukt Milei. Es war eines von vielen Präparaten zur Milderung der deutschen Eiernot, zur Verringerung der Abhängigkeit von devisenträchtigen Importen und der Glättung der damals noch beträchtlichen saisonalen Versorgungsunterschiede. Es bestand aus knapp 90 % Magermilch, etwa 10 % Molke sowie technischen Hilfsstoffen. Das Ende 1938 erstmals angebotene Milei war ein Verbundprodukt von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat, entstanden aus der Kooperation der Württ. Milchverwertung AG, der Vierjahresplanbehörde und dem württembergischen Wirtschaftsministerium. Milei wurde zur Dachmarke verschiedener Austauschstoffe, konnte Eiweiß und Eigelb nahezu gleichwertig ersetzen, war zudem billiger als das Hühnerei. Wie Migetti wurde es innovativ beworben, auch in Wehrmacht und Gemeinschaftsverpflegung eingesetzt. Die Firma expandierte während des Krieges erst im Reichsgebiet, dann auch in den besetzten Gebieten in West- und Osteuropa, wies knapp 20 Produktionsstätten auf. Die Produktion substituierte 1944 1,293 Mrd. Eier oder 17% des deutschen Eierkonsums 1936. Dies entsprach den damaligen Eierimporten. Während die meisten Pläne der NS-Experten Chimären waren und Aufwand und Ertrag in keinem angemessenen Verhältnis standen, war Milei eine seltene Ausnahme. Das Präparat behauptete sich in der Nachkriegszeit als gängiges Präparat in Bäckereien, Eisdielen und Kantinen.

38_Karlsruher Tagblatt_1935_04_11_Nr101_p05_Ersatzmittel_Holzzucker_Goering_Marzipan_Torte

Werbung für Austauschstoffe: Marzipantorte für das Ehepaar Göring aus Holzzucker (Karlsruher Tagblatt 1935, Nr. 101 v. 11. April, 5)

Die enge Kooperation zwischen Wirtschaft, NS-Staat und Ernährungswissenschaft mündete in zahlreiche weitere Produkte, die keine Breitenwirkung entfalteten. Zu denken ist etwa an Holzzucker, an synthetische Fette, an Biosyn-Wurst. [79] Ihre Entwicklung steht für die Hybris von Wissenschaftlern, Nahrungsmittel gleichsam selber schaffen zu können. Sie stehen für Menschenversuche, für die Tötung von KZ-Häftlingen, für Fütterungsexperimente mit Soldaten und auch der Zivilbevölkerung. Das Interesse an diesen Produkten und der zugrundeliegenden Forschung war nach dem Zweiten Weltkrieg international dennoch beträchtlich.

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Mindestbedarf hinterfragt: Öffentliche Kritik an der Rationalität der Rationierung (Simpl 3, 1948, 61)

5. Marketinggetriebene Forschung und ihre Probleme, 1950-2020

Die Wirtschaftswunderjahre waren eine Zeit außergewöhnlicher wirtschaftlicher Wachstumsraten. Die langfristige Trendentwicklung lässt das „Superwachstum“ jedoch weniger exzeptionell erscheinen, handelt es sich beim „Wiederaufbau“ doch zu beträchtlichen Teilen um die Realisierung von Wachstumspotenzialen, die vor 1945 aufgebaut worden waren. Erst nach der Bewältigung der drängenden Versorgungsaufgaben wurden die Konservierungstechnologien und das differenzierte stoffliche Wissen der Zwischenkriegszeit breitenwirksam und bestimmten immer stärker das Lebensmittelangebot. Die viel beschworenen Wirtschaftswunder in Ost- und Westdeutschland gingen dabei nicht auf eine quantitativ wachsende Zahl von Experten zurück. Anfang 1956 gab es in der Bundesrepublik ca. 250 amtliche Lebensmittelchemiker, weitere 100 arbeiteten freiberuflich, 250 dieser promovierten Fachleute verdingten sich in der Industrie und nur 50 waren in wissenschaftlichen Institutionen tätig. [80] Hinzu kamen mehrere hundert meist diplomierte Lebensmitteltechnologen. Die Industrie zehrte stark von den Forschungsergebnissen der NS-Zeit einerseits, der Adaption ausländischer Technik anderseits. Die DDR investierte mit ca. 100 amtlichen und 25 freiberuflichen Lebensmittelchemikern sowie 25 Fachleuten in wissenschaftlichen Einrichtungen deutlich mehr in die zentrale Lebensmittelkontrolle und -entwicklung, doch in der Industrie gab es nur promovierte 50 Fachwissenschaftler. [81]

Kontinuität bei Personal und Strukturen

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Temporärer Notstand oder Die Mär vom Bruch (Simpl 5, 1950, 22)

Die wichtigsten technologischen Veränderungen der 1950er Jahre liefen in den angelegten Bahnen der Vorkriegs- und Kriegszeit. Die Entnazifizierung blieb praktisch folgenlos. Die faktische Beibehaltung der Reichsnährstandsverwaltung unterstützte diese Kontinuität der Wissenseliten. Die Netzwerke zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat blieben stabil, wurden durch die deutsche Teilung wesentlich stärker beeinträchtigt als durch die Demokratisierungsbestrebungen der Besatzungsmächte. Als 1951 die „Arbeitsgemeinschaft Ernährungswissenschaftlicher Institute“ als Kooperationseinrichtung der vom Bundesernährungsministerium geförderten Forschungsinstitute gegründet wurde, waren deren Leiter größtenteils frühere Nationalsozialisten. [82] Das stoffliche Wissen schien nach wie vor unangefochten und unverzichtbar. In Ost- und Westdeutschland gab es in den jeweiligen eisernen Dreiecken einen unterschiedlich aufgeladenen Paternalismus, um den Verbraucher zu richtiger Ernährung und dem Kauf gesunder und heimischer Produkte anzuleiten. Nach mehr als einer Dekade von ihnen ersonnener und mitgetragener Austausch- und Zusatzstoffe, positionieren sich Ernährungswissenschaftler neuerlich als Sachwalter der Konsumenten. Angesichts wachsender und qualitativ stark gespreizter Angebote schien ihnen „Gesundheitsführung“ [83] weiterhin unverzichtbar. [84]

Selbstbedienung und neue Absatzwelten

Und doch, trotz der Versuche, die alten Figurationen beizubehalten, veränderte sich die Stellung des eisernen Dreiecks, da sich Wirtschaft und Gesellschaft änderten. Zentral war dabei die viel beschworene „Revolution im Einzelhandel“, der spätestens in den 1960er Jahren die Entscheidungsgewalt über die Lebensmittelsortimente übernahm. Größere Betriebe und andere Einkaufsformen folgten aber nicht nur betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten, sondern waren Konsequenzen der während der NS-Zeit entwickelten neuen Technologien und Produkte.

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Neue Absatzformen: Übergang zur Selbstbedienung bei Edeka (So baut man heute an der Ruhr, o.O. 1960, s.p.)

Trotz intensiver Diskussionen in den 1920er Jahren und praktischen Versuchen ab 1938 ließ die Selbstbedienung lange auf sich warten. In der Bundesrepublik Deutschland gab es 1950 39, 1955 erst 738 SB-Läden, in der DDR stellte man erste Läden 1951 um. Doch erst Ende der 1950er Jahre begann ein grundstürzender, bis in die frühen 1970er Jahre erstreckender Wandel. [85] Hauptgrund für die anfangs langsame Umstellung war, dass es sich bei der Selbstbedienung nicht um ein neues Verkaufssystem handelte, sondern um ein koordiniertes Absatzsystem, das Groß- und Einzelhandel, Produzenten, Verpackungsindustrie und Konsumenten gleichermaßen forderte. Die Produkte mussten nicht einfach in andere Regale gepackt werden, sondern wurden zum Verkäufer ihrer selbst. Präzises Wissen über Lebensmittel, ihre Veränderungen, ihr optimales Erscheinungsbild, ihr Verpackungskleid war erforderlich. [86] Die Verkaufsräume wurden umgestaltet, Verkaufsmöbel ersetzten die Verkaufstheken, wurden ergänzt durch Kühlmöbel und Registrierkassen. Die Ladengröße wuchs rapide, im Westen von anfangs schon bemerkenswerten 200 m² auf 1000 m² gegen Ende der 1950er Jahre. [87] Die Läden mutierten zu kalkuliert eingerichteten kommerziellen Kunsträumen, die Zahl der darin zum Verkauf arrangierten Produkte stieg rasch an: Sie betrug 1954 durchschnittlich zuvor unglaubliche 1.383 und verdoppelte sich bis 1969 auf 2.767. [88] An die Stelle mittelständischer, um eine Warengruppe herum organisierter Fachgeschäfte traten nun integrierte Lebensmittelgeschäfte. Frischwaren gewannen zahlenmäßig an Bedeutung, doch die Zahl verarbeiteter Lebensmittel nahm noch stärker zu. Die Bedeutung des Marketings für die Lebensmittelbranche wuchs weiter. Dies war auch Folge der Reintegration Westdeutschlands in den internationalen Handel, durch den Branchen wie etwa die Konserven- oder die Käseindustrie unter massiven wirtschaftlichen Druck gerieten.

Ausdifferenzierung der Nahrungs- und Genussmittelindustrie

Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie erwirtschaftete 1950 fast ein Fünftel, 1960 fast ein Siebtel des industriellen Gesamtumsatzes der Bundesrepublik Deutschland. Nachholeffekte und der vermehrte Konsum geschmacksintensiverer eiweiß- und fetthaltiger Lebensmittel führten 1950 bis 1954 zu gegenüber der Gesamtindustrie überdurchschnittlichen Wachstumsraten von jährlich 9,7 %, die von 1955 bis 1959 absolut auf 8,8 % stiegen, relativ aber zurückgingen. [89] Angesichts rasch wachsender Märkte stand im Mittelpunkt der „Massenfertigung“ [90] der Lebensmittel die betriebliche Rationalisierung. Sie erfolgte durch einen nochmals gesteigerten Mechanisierungsgrad sowie die intensivere Nutzung eingesetzter Rohware. Der beträchtliche Maschineneinsatz führte zu einem rasch steigenden Umsatz pro Beschäftigtem, der trotz relativen Rückgangs 1960 mehr als doppelt so hoch lag wie in der gesamten Industrie. Ergänzt wurde dies durch vermehrten Einsatz von elektrischen Sensoren für einfache Geruchs- und Geschmacksprofile sowie eine gegenüber der Zwischenkriegszeit deutlich verbreiterte Palette von Präzisionswaagen. [91]

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Zerstäubungstrockner für Frucht- und Gemüsepulver, Etikettensigniergerät, Verpackungsautomat (Deutsche Lebensmittel-Rundschau 60, 1964, 8 (l.); Die Ernährungswirtschaft 9, 1962, 315)

Innerhalb der Branche kam es durch die skizzierten Konsumveränderungen zu deutlichen Verschiebungen. [92] Parallel erhöhte sich der Konzentrationsgrad der insgesamt mittelständisch geprägten Branche. 1955 entfielen auf die 29 Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten lediglich 9,7 % des Branchenumsatzes, während die 934 Unternehmen mit 100-999 Beschäftigten 55,9 % auf sich vereinigten. [93] Der Konzentrationsgrad änderte sich erst in den frühen 1960er Jahren, als sich die Wachstumsraten deutlich abschwächten und zugleich höhere Investitionen erforderlich wurden. Die wachsende Nachfragemacht des Handels machte sich bemerkbar, zum anderen erreichte die Branche strukturelle Sättigungsgrenzen, die sich auch durch höherwertige Rohwaren kaum mehr durchbrechen ließen. [94] Erhöhte Wertschöpfung erforderte immer höhere Aufwendungen, insbesondere für Know-how und Technologie. Viele Unternehmen übernahmen aber auch Lohnfertigungen insbesondere von Handelsmarken.

Industrieforschung zwischen Mittelstand und Großunternehmen

Die Ernährungsforschung erfolgte in den frühen 1950er Jahren erst einmal in tradierten Bahnen. Staatliche Forschungseinrichtungen dienten der Grundlagenforschung, die Industrie kooperierte branchenbezogen, größere Betriebe unterhielten eigene Laboratorien. Anders als in den USA gab es nur selten eine enge Verbindung von Theorie und Praxis, mochte das Stoffparadigma auch die Arbeit leiten. Es fehlte die im „Forschungsdienst“ und vor allem während der Kriegswirtschaft praktizierte Gemeinschaftsforschung von Unternehmen und öffentlich finanzierten Ernährungsfachleuten. Anfang der 1950er Jahre wurde die Theorielastigkeit der Ernährungswissenschaft beredt beschworen. [95] Die Wissenschaftler beklagten wiederum eine allgemeine Unterfinanzierung, mangelndes Humankapital sowie fehlende apparative Ausstattungen.

Die wichtigste institutionelle Konsequenz hieraus war der Anfang 1953 gegründete „Forschungskreis der Ernährungsindustrie“. 30 Verbände der Lebensmittelindustrie und zehn Ressortforschungsinstitute kooperierten, gefördert zuerst vom Bundesernährungsministerium, dann auch vom Bundeswirtschaftsministerium. [96] Bis 1963 hatte sich auf dieser Basis ein Netzwerk von 33 Branchenverbänden und 34 Forschungsinstitutionen etabliert. [97] Der „Forschungskreis der Ernährungsindustrie“ war ein funktionales Äquivalent für die weggebrochene Gemeinschaftsforschung der NS-Zeit. Dem eisernen Dreieck gelang so ansatzweise die Tilgung der „schwachen Stellen“ [98] der Produktion. Kooperationen erfolgten bei den schon in der Zwischenkriegszeit dominanten Fragen der Ernährungsphysiologie, Prozesstechnik, bei neuen Analysemethoden und Qualitätsforschung.

43_FEI_2000_Forschung_Industrieforschung_Ernaehrungsindustrie

Selbstdarstellung per Flyer (FEI, Bonn o.J. (2000) (Ms.)

Gleichwohl wurden spätestens mit Ende der Jahre des leichten Wachstums die Mängel der Industrieforschung offenkundig. Hygiene- und Qualitätssicherungsverfahren mochten gut etabliert sein [99], doch die Aufwendungen der Ernährungsindustrie für Forschung und Entwicklung betrugen 1965 lediglich 0,05 % vom Umsatz (Gesamtindustrie 1,1 %) und auf 1.000 Beschäftige entfielen lediglich 1,7 Wissenschaftler (Gesamtindustrie 4,9). [100] Für die mittelständischen Unternehmen war es preiswerter, Patente und Lizenzen einzukaufen – das Negativsaldo gegenüber den USA betrug 1962 10,6 und 1970 12,1 Mio. DM – als in eigene Betriebslaboratorien zu investieren. Forschungsaktivitäten wurden zudem an den Spezialmaschinenbau und die Verpackungsindustrie gleichsam delegiert, in Branchen also, die von der neuen Berufsgruppe der Lebensmitteltechnologen geprägt waren. [101] Multinationale Konzerne investierten systematisch in Forschung und Entwicklung. Unilever beschäftigte dafür 1963 global 1.600 Personen, darunter 300 Akademiker. Das Hamburger Laboratorium, das nicht zuletzt für die Wiedereinführung der Tiefkühlkost sowie in der Fett- und Stärkeforschung Pionierarbeit leistete, war mit 200 Beschäftigten, darunter ca. 40 promovierten und diplomierten Chemikern, Physikern, Mikrobiologen und Ingenieuren, die größte einschlägige Forschungseinrichtung in der Bundesrepublik Deutschland. [102] Insgesamt verstärkte sich während der 1960er Jahre auch im Forschungs- und Entwicklungsbereich die innere Heterogenität der Branche. Während einige Großbetriebe die Trends setzen, versuchte sich die Mehrzahl der mittleren Unternehmen durch den Einkauf von technologischem Know-how sowie eine rasche Adaption von Konkurrenzprodukten auf dem Markt zu behaupten.

Institutionalisierte Ernährungswissenschaft mit schwindendem Wirtschaftsbezug

Die Ernährungswissenschaft reinstitutionalisierte sich in den 1950er Jahren unter dem Dach der „Deutschen Gesellschaft für Ernährung“ (DGE). Sie war 1953 als gemeinsame Initiative von sieben eigenständigen Organisationen gegründet worden und stand in personeller und inhaltlicher Kontinuität zur „deutschen“ Ernährungsforschung, insbesondere der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsforschung und der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung. [103] Die DGE wurde von früheren nationalsozialistischen Funktionseliten gegründet und bis Anfang der 1970er Jahre von diesen repräsentiert und entscheidend geprägt. Ihr Aufstieg erfolgte nicht zuletzt aufgrund der Förderung durch die öffentliche Hand. Ihre Zielgruppe, die Ernährungsfachleute, erreichte die DGE mittels der Zeitschrift „Ernährungs-Umschau“, wissenschaftlicher Kongresse, kleineren Fachsymposien, dann durch Arbeitstagungen sowie mit Hilfe weiterer auf Landesebene eingerichteter Sektionen. Markstein einer auch öffentlichen Anerkennung bildete die Auftragsforschung für den 1969 erstmals erscheinenden Ernährungsbericht. [104]

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Mit bewährten Kräften: Erste wissenschaftliche Tagung der DGE in Mainz 1954 (Ernährungs-Umschau 1, 1954, 3)

Während die Bedeutung der Politik hoch blieb, schwächte sich die Verbindung der Ernährungswissenschaft zur Ernährungsindustrie langsam ab. Das war auch Folge der seit 1962 erfolgten disziplinären Institutionalisierung. Das seit langem bestehende, aber spät etablierte Fach hatte sich zwischen tradierten Fächern wie der Chemie, der Human- und Tiermedizin, den Agrarwissenschaften und dem Maschinenbau zu behaupten und fokussierte sich primär auf die Erforschung und Propagierung „richtiger“ und „gesunder“ Ernährung. Hinzu kamen Nachklänge harter und ausgrenzender Debatten mit lebensreformerischen Ansätzen, die in der NS-Zeit noch wissenschaftsimmanent geführt wurden, die seit den frühen 1970er Jahren dem Fach jedoch einen konservativ-gouvernantenhaften Anstrich gab. Eine wichtige Ausnahme bildete allerdings die Vollwert-Ernährung und die darauf aufbauende Ernährungsökologie. Ihre Anfänge lagen zwar im Nationalsozialismus, doch unter der Federführung des Chemikers und Mikrobiologen Claus Leitzmann behauptete sie sich nicht nur in harten fachinternen Debatten, sondern dominiert heute die öffentliche Rede von nachhaltiger und verantwortbarer Ernährung sowie die Empfehlungen der DGE. [105] Bemerkenswert sind bis heute die beträchtlichen Unterschiede der Lehr- und Forschungsschwerpunkte der unterschiedlichen Standorte. Die Blickrichtung auf die Gefahren des Wohlstandes und einer nicht rationalen Ernährung haben zwar seit den 1960er Jahren die Bedeutung der Ernährungswissenschaft für die Politik erhöht, haben ihre Position als dynamisches Zentrum des Eisernen Dreiecks jedoch unterminiert. [106] Gerade die forschungsstarken multinationalen Konzerne prägen seit den 1980er Jahren öffentliche Ernährungsdebatten stärker als die DGE oder universitäre Wissensproduzenten, wie etwa die Debatten über Gentechnik, Functional Food und vegane Kost belegen.

Neue technische Lebensmittel für Wohlstandsbürger

Dieser Funktionswandel begann in den 1960er Jahren, zeigte sich an Instantprodukten, Fertiggerichten und Tiefkühlkost. Was früher Ersatz hier, stand nun für Fortschritt [Verweis Ersatzmittel]. Entsprechende Angebote gab es schon in den 1940er Jahren, doch erst in den SB-Läden fanden sie ein angemessenes Verkaufsumfeld, profitierten zudem vom gesellschaftlichen Wandel und der Technisierung der Haushalte. Die drei Produktgruppen unterstreichen aber auch einen zunehmend raschen Wandel der Angebote. Bei „Instant“ dachte man lange Zeit an das von Nestlé entwickelte Pionierprodukt Nescafé. In den 1950er Jahren instantisierte man zudem Milchpulver, Zucker und Mehl, in den 1960er Jahren folgten Suppen und Puddingpulver, Kakaogetränke, Kuchenmischungen und auch Fertiggerichte. Der damals in der Werbung als Modernitätsmarker gern verwandte Begriff verlor danach seine Strahlkraft, wurde üblicher Bestandteil gängiger Produkte. Nun wurden an sich bekannte Verfahren auf weitere Produktgruppen übertragen. Fertiggerichte gab es schon im 19. Jahrhundert, nicht erst seit Maggis 1958 eingeführtem Ravioli-Dosengericht. Anspruchsvoller waren Fertiggerichte in Papp- und Kunststoffbeuteln, dann in Aluminiumschalen, durch die der Geschmack besser bewahrt werden konnte. Großabnehmer dominierten anfangs den Käufermarkt, hohe Preise und der vielbeschworene Hausfrauenstolz begrenzten ihre Durchsetzung in den Haushalten. 1967 kauften immerhin 28% Fertigmenüs, während Kartoffelfertiggerichte bei 43% Anklang fanden. [107] Darin manifestierte sich aber auch ein Trend, der das quantitative Wachstum der Sortimente entscheidend bestimmen sollte. Komplettangebote trafen auf mehr Skepsis als Einzelkomponenten, mochte die dafür verwandte Technologie auch identisch sein. Entsprechend gewannen Pommes frites, Pudding oder Frikadellen als Convenienceprodukte weitere Marktanteile, kaum aber vollständige Mahlzeiten. Fertiggerichte waren dabei zugleich immer häufiger Tiefkühlwaren – der Siegeszug der in den USA entwickelten Tiefkühlpizza begann in Westdeutschland 1970. Nestlé, Unilever und die GEG bestimmten Anfang der 1960er Jahre die Trends. Von 1960 bis 1980 verzwanzigfachte sich der Verbrauch von Tiefkühlkost, die bei Hähnchen auch Wegbereiter der Massentierhaltung wurde. [108] Die Leistungsfähigkeit dieses Produktions- und Absatzsystems war auch im Systemkonflikt relevant, denn entsprechendes gelang in der DDR nicht. [109]

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Fertiggerichte aus der Dose und tiefgekühlt (Frankfurter Illustrierte 1960, Nr. 9, 48 (l.); Das Beste aus Reader’s Digest 26, 1973, Nr. 5, 196)

Investitionen in den Produktgeschmack

Diese Produktgruppen wurden seitens der Ernährungswissenschaften sehr unterschiedlich bewertet: Instantprodukte wurden erklärt, Fertiggerichte kritisiert, Tiefkühlkost gefeiert. Während sich die Politik bedeckt hielt, propagierte eine marketinggeprägte Ernährungswirtschaft ihre Produkte und verwies auf den vermeintlichen Willen der Käufer. Derartig divergierende Bewertungen wurden seit den 1970er Jahren üblicher, unterminierten den Grundguss des Eisernen Dreiecks. Wissenschaftlich gebildete Experten standen gegen wissenschaftlich gebildete Antipoden. Das zeigte sich etwa an der seit den 1960er Jahren zunehmenden Aromatisierung der Lebensmittel. Sie folgte der seit Mitte der 1950er Jahre etablierten Gaschromatographie, durch die Aromenspektren einfacher auszuloten und dann synthetisch nachzubilden waren. 1970 waren 1.100 künstliche Aromastoffe bekannt, knapp 600 davon zulässig, weitere 300 vorläufig zulässig. [110] Ihr Einsatz war die Spiegelseite längerer Haltbarkeit und höheren Conveniencegrades, denn sie verringerten die Diskrepanz zwischen den Werbeversprechen und dem realen Lebensmittel. Diese Zusatzstoffe erlaubten mittels elektronischer Nasen eine erhöhte Prozesskontrolle und zahllose neue Angebote: Liköre, Limonaden und Brausen, Süßwaren, Schokoprodukte, Speiseeis, Backwaren, Puddingpulver, Suppen und Soßen, Kaugummi sowie Tabakwaren standen dabei im Mittelpunkt. 1981 waren ca. 13 % aller Lebensmittel aromatisiert, Mitte der 1990er Jahre dagegen schon 20 %. [111] Zwei Punkte sind festzuhalten: Erstens kritisierten viele Ernährungswissenschaftler diesen Trend. Mittelfristig führte dies zu vermehrter Regulierung und zum Siegeszug „natürlicher“ Aromastoffe. Die Hersteller verwiesen – wie schon Mitte des 19. Jahrhundert die Weinverbesserer – darauf, dass sie mit ihren (gesundheitlich unbedenklichen) Zusätzen lediglich Aromaverluste ausgleichen und das Angebot in seinen Ursprungszustand versetzen würden. [112] Zweitens unterstrich die Aromatisierung die zunehmende Spezialisierung der Ernährungswirtschaft. Aromenhersteller wie Döhler, Wild, Dragoco und Haarmann & Reimer etablierten sich aber nicht nur als Zulieferer, sondern boten zunehmend komplette Produktkonzepte an. Die Auftraggeber produzierten zwar noch, Forschung, Entwicklung und auch Marketing wurden jedoch als Dienstleistungen eingekauft. All dies erfolgte zunehmend auch im europäischen und globalen Rahmen.

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Geschmacksabrundung durch nicht kennzeichnungspflichte Essenzen (Süsswaren 4, 1960, 543)

6. Wertschöpfung, Selbstoptimierung und Kontrollregime

Die Fortschreibung all dieser Entwicklungen bis in die Gegenwart ist nicht Aufgabe eines Historikers. Die Ernährungswissenschaften konzentrierten sich allerdings in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf die weitere Fortschreibung des Stoffparadigmas; nun allerdings nicht mehr in den Makrowelten von Eiweiß, Kohlenhydraten und Fetten, sondern in den Mikrowelten vieler bisher nicht erforschter Stoffgruppen. Dies diente auch der innerwissenschaftlichen Behauptung, verbleiben die Ratschläge der Ökotrophologie doch zumeist echolos, ergibt nur „harte“ Forschung Renommee im naturwissenschaftlichen Kosmos. Sie erschloss in engem Kontakt mit staatlichen Regulierungsbehörden weiterhin Märkte. Es ging dabei um neue Figurationen des seit Mitte des 19. Jahrhundert immer wieder variierten Stoffparadigmas und der damit verbundenen Leistungsfähigkeit wissenschaftlichen Reduktionismus.

In den späten 1990er Jahren begann eine anfangs vor allem von Nestlé, Danone und Unilever in Gang gesetzte Kampagne für Functional Food. Die Produktgruppe wurde mit zahlreichen anderen Neologismen umschrieben, Performance Food dürfte das (Selbst-)Optimierungsziel noch besser treffen. Inhaltlich ging es um die Entfernung von Stoffen mit unerwünschten Effekten, um die Konzentration natürlicher Inhaltsstoffe mit positiven Wirkungen, um Stoffsubstituierungen sowie eine erhöhte Bioverfügbarkeit bestimmter Stoffe. Stoffe wurden mit gesundheitlichen Wirkungen verbunden, sie virtuos zu arrangieren und rearrangieren unterstrich die Kompetenzen von Ernährungswissenschaftlern und Wirtschaft. Ein scheinbar besseres und vor allem gesünderes Leben schien möglich. Trotz massiver Werbekampagnen und breiter Präsenz in Massenmedien waren die ökonomischen Ergebnisse jedoch unbefriedigend, setzten sich einschlägige Produkte nur in Nischen durch.

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Rotwein essen – Functional-Food Werbung 2000 (Der Spiegel 2000, Nr. 43 v. 23. Oktober, 110)

Auch die Forschung für Mood Food hatte weit zurückreichende Vorgänger, vor allem in der Psychotechnik, der klinische Psychiatrie und der Neurobiologie. Genussmittelwerbung nutzte die Grundidee seit ihren Anfängen. Lebensmittelinhaltsstoffe haben demnach eindeutige Auswirkungen auf menschliche Emotionen und Stimmungen, können also genutzt werden, um die persönliche Befindlichkeit zu verbessern, um Stimmungsschwankungen auszugleichen und die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Mood Food ist – wie das heute gängige Nudging – ein mikroautoritaristisches Konzept, das auf Selbst- und Fremdsteuerung ausgerichtet ist. Die belastbaren Ergebnisse der bisherigen Forschungen sind gering, sieht man von recht banalen Aussagen ab, die in der Erfahrungsmedizin seit langem bekannt sind. Zwar wurden zahllose bioaktive Stoffe untersucht, ihre exakten Wirkungen in einem komplexen physiologischen Umfeld bleiben aber unklar. Die Effekte hängen auch stark vom Ess- und Arbeitsumfeld ab, stärker noch von der „Umwelt“. Gleichwohl ist der Reiz derartiger Forschungen kaum abgeflaut. Sie helfen das methodische Arsenal der Ernährungswissenschaften zu weiten, erlauben zugleich wissensbasierte PR. Auf der Produktebene haben sie seit der Jahrtausendwende dazu geführt, Entspannungs- und Wohlfühlaspekte in der Werbung und insbesondere in der Namensgebung hervorzuheben. Wer wollte nicht – trotz fehlenden Wirknachweises – die Teemischung „Quelle der Entspannung“ konsumieren.

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Teegetränke mit Gute-Laune-Namen (Schrot & Korn 2007, H. 6, 69)

Das tradierte Ideal einer gesunden Ernährung fand Widerhall aber auch auf mikrobiologischer Ebene. Waren für Liebig noch die chemischen Grundstoffe die Lettern im Buch des Lebens, so sind es nun DNA-Sequenzen. Sie können gewiss zu einem vertieften Verständnis zahlreicher Krankheiten führen. Doch die Nutrigenomics versprechen mehr: Auf Basis individueller Gentests lässt sich ein Risikoprofil erstellen, können Krankheitsdispositionen benannt werden. Daraus kann man rationale Ernährungsschlüsse ziehen, Lebensmittelmittelinhaltsstoffe variieren und reduzieren, um seine Chancen für ein Leben ohne Krankheit zu erhöhen. Dies bietet Wissenschaft und Wirtschaft neue Wachstumsmärkte: Auf der Grundlage verbesserter Kenntnisse der Wirkungsmechanismen der Stoffe und fortgeschrittener Technik können mittels flexibler Spezialisierung Produkte hergestellt werden, die von der Rohware über die Zusatzstoffe, den Produktionsprozess, die Verpackung, die Lagerhaltung und schließlich die Zubereitung auf die genetischen Besonderheiten des Einzelnen zugeschnitten sind. Wertschöpfungskreislauf und Stoffwechsel gehen damit eine neuartige Symbiose ein. Damit dies gelingt, muss man lediglich die Modellannahmen teilen und die Kosten tragen können. Man kann dies als Zukunftsvision feiern oder abtun, doch die „Verwegenheit der Ahnungslosen“ [113] wird weiterhin Märkte schaffen und Kunden generieren. [114]

Das Stoffparadigma trägt Wissenschaft und Wirtschaft – evaluiert und reguliert von staatlichen Akteuren – also weiter. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert wird die Wirkung einzelner Stoffe und Stoffgruppen selbstbewusst festgeschrieben, werden auf dieser Grundlage Produkte und Dienstleistungen geschaffen. Als Teil der „Bereicherungsökonomie“ [115] werden diese immer wieder mit neuen Werten versehen, materialisieren Sehnsüchte nach „Gesundheit“, „Kraft“, „Fitness“, „Genuss“, „Natur“, „Gerechtigkeit“ und anderen Plastikwörter kommerziellen Hoffens. Das erlaubt es den Akteuren des Eisernen Dreiecks sie immer wieder neu aufzuladen und mit jeweils unterschiedlichem Sinn zu versehen. Sie werden damit zugleich enträumlicht und entzeitlicht, aus ihren historisch konkreten Bezügen gelöst. Durch diese semantischen Illusionen wird Kontinuität geschaffen, wird Geschichte getilgt. Die massiven Veränderungen aller Lebensmittel und aller Produkte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden unsichtbar gemacht, können in Szenarien steten Fortschritts eingebettet werden. Die Moralisierung von Essen/Ernährung ist eine logische Folge, ebenso echoloser Paternalismus und wohlstandssteigernde Marktsegmentierungen unter Bannern von Nachhaltigkeit, Klimaschutz und einer neuen Lust am Ersatz.

Uwe Spiekermann, 25. Mai 2024

Quellen und Literatur

[1] Ernährung, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 8, Halle und Leipzig 1734, Sp. 1698.
[2] Ernährung, in: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch der gebildeten Stände, Neue Ausg., Bd. 2, Stuttgart 1818, 570.
[3] Uwe Spiekermann, Pfade in die Zukunft. Entwicklungslinien der Ernährungswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: G[esa] U. Schönberger und Ders. (Hg.), Die Zukunft der Ernährungswissenschaft, Berlin u.a. 2000, 23-46.
[4] Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, 84.
[5] Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 31-42 (auch als Bezugsrahmen für spätere Passagen).
[6] Max v. Pettenkofer, Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt, Braunschweig 1873, 33.
[7] Zuletzt Laura-Elena Keck, Fleischkonsum und Leistungskörper in Deutschland 1850-1914, Göttingen 2023.
[8] Kurt Hoesch, Emil Fischer. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1921, 140.
[9] Pettenkofer, 1873, 33.
[10] Mary Elisabeth Cox, Hunger in War and Peace. Women & Children in Germany, 1914-1924, New York 2019.
[11] Max Rubner, Die Ernährungswissenschaft, Deutsche Revue 41, 1916, 262-268, hier 268.
[12] Heinrich Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 4, Freiburg i. Br. 1922, 138, FN.
[13] Alice Weinreb, Modern Hungers. Food and Power in Twentieth-Century Germany, New York 2017, 196-236.
[14] Max v. Pettenkofer, Dr. Justus Freiherrn von Liebig zum Gedächtnis, München 1874, 49.
[15] Mark R. Finlay, Early Marketing of the Theory of Nutrition. The Science and Culture of Liebig’s Extract of Meat, in: Harmke Kamminga und Andrew Cunningham (Hg.), The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam und Atlanta 1995, 48-74; Spiekermann, 2018, 130-138.
[16] Justus Liebig, Ueber die Bestandtheile der Flüssigkeiten des Fleisches, Annalen der Chemie und Pharmacie 62, 1847, 257-369, hier 360-364.
[17] Zur Einbettung s. Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017.
[18] Zitate n. Justus v. Liebig, Eine neue Methode der Brodbereitung, Annalen der Chemie und Pharmacie 149, 1869, 49-61.
[19] Hans-Gerd Conrad, Werbung und Markenartikel am Beispiel der Markenfirma Dr. Oetker von 1891 bis 1875 in Deutschland, Berlin 2002.
[20] [Fridolin] Schuler, Ueber die Ernährung der Fabrikbevölkerung und ihre Mängel, Zürich 1883.
[21] Jakob Tanner, Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950, Zürich 1999, 90-107.
[22] Martin R. Schärer, Ernährungsanalyse, Lebensmittelindustrie und Produktinnovation: Der Fall der Leguminosenmehle, Lebensmittel-Technologie 29, 1996, 591-601; Spiekermann, 2018, 139-144.
[23] [Albert] Villaret, Von der Hygiene-Ausstellung, Berliner klinische Wochenschrift 20, 1883, 735.
[24] Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209.
[25] Karl-Peter Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie 1750-1914, Stuttgart 1993.
[26] Einseitig und oberflächlich Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung, Paderborn 2020.
[27] Ralf Schaumann, Technik und technischer Fortschritt im Industrialisierungprozeß. Dargestellt am Beispiel der Papier-, Zucker- und chemischen Industrie der nördlichen Rheinlande (1800-1875), Bonn 1977, 59-62.
[28] Thomas Wieland, »Wir beherrschen den pflanzlichen Organismus besser,…«. Wissenschaftliche Pflanzenzüchtung in Deutschland 1889-1945, München 2004.
[29] Deutsche Heeres-Zeitung 4, 1879, 490.
[30} Uwe Spiekermann, Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Industrie und Haushalt 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, Köln 1997, 30-42, hier 31-32.
[31] F[ranz] Stegemann, Die Konservenindustrie, in: Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands, Bd. III, Leipzig 1904, 830-844.
[32] Vgl. (auch als Forschungsüberblick) Veronika Settele und Norman Aselmeyer, Nicht-Essen. Gesundheit, Ernährung und Gesellschaft seit 1850, in: Dies. (Hg.), Geschichte des Nicht-Essens, Berlin und Boston 2018, 7-35.
[33] Siemens, Ueber die Verbesserung des Weins durch einen Zusatz von Zucker und Wasser, Agronomische Zeitung 9, 1854, 716-718, hier 716.
[34] Heinz Monz, Ludwig Gall. Leben und Werk, Trier 1979.
[35] Ludwig Gall, Zur Geschichte des Fortschritts der Weinbereitung, Praktische Mittheilungen zur Förderung eines rationellern Betriebs der landwirthschaftlichen Gewerbe 2, 1857, 1-9.
[36] Christoph Maria Merki, Zucker gegen Saccharin. Zur Geschichte der künstlichen Süßstoffe, Frankfurt a.M. und New York 1993.
[37] W[alther] G. Hoffmann, 100 Years of the Margarine Industry, in: J[ohannes] H[ermanns] van (Hg.), Margarine. An Economic, Social and Scientific History 1869-1969, Liverpool 1969, 9-36, hier 22.
[38] Vera Hierholzer, Nahrung nach Norm. Regulierung der Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871-1914, Göttingen 2010.
[39] Joseph König, Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, T. 2, Berlin 1883.
[40] Ebd., VIII.
[41] Gesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen, in: Stenographische Berichte […] des Deutschen Reichstags [Bd. 44]. 3. Legislaturperiode, II. Session 1878, Bd. 3, Anlagen, Berlin 1878, 766-830, hier 772.
[42] J[oseph] König, Bestand und Einrichtung der Untersuchungsämter für Nahrungs- und Genussmittel in Deutschland und außerdeutschen Staaten […], Berlin 1882, 152.
[43] Berliner Volksblatt 1885, Nr. 181 v. 6. August, 2.
[44] J[oseph] König, Die Bedeutung der Chemie in wissenschaftlicher wie wirtschaftlicher Hinsicht sowie die soziale Stellung der Chemiker, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 18, 1909, 179-188, hier 181-182.
[45] Das Nahrungs- und Genussmittelgewerbe im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der gewerblichen Berufszählung 1925, Wirtschaft und Statistik 8, 1928, 262-272.
[46] Mikulás Teich, Bier, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800-1914, Wien, Köln und Weimar 2000.
[47] F[riedrich] Hayduck, Das deutsche Brauereigewerbe im Spiegel der Wissenschaft, Der deutsche Volkswirt 8, 1933/34, Nr. 48, Sdr.-Beil., 8-10, hier 10.
[48] Concurrenz und Publikum, Deutsche Brau-Industrie 29, 1904, 465-466, hier 465.
[49] [Bruno] Kuske, Ausführliche Firmengeschichte […], Stollwerck-Archiv Köln, Bl. 17.
[50] Walter Schwädke, Schokoladenfabrik Mauxion m.b.H. Saalfeld-Saale, Berlin 1931; Claudia Streitberger, Mauxion Saalfeld, Erfurt 2016.
[51] Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan. Eine Denkschrift, Braunschweig 1914.
[52] Otto Eisinger, Die Ernährung des deutschen Volkes eine Organisationsfrage der Erzeugung, Berlin 1921, 112.
[53] Hugo Böttger, Entwurf von Grundsätzen für eine einheitliche Durchführung des Lebensmittelgesetzes, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1930, 110-114, hier 111.
[54] Fachausschuß für die Forschung in der Lebensmittelindustrie, Die Fischwirtschaft 7, 1931, 33-37, hier 33.
[55] Bericht der Edekazentralorganisationen über das Geschäftsjahr 1934, Edeka Deutsche Handels-Rundschau 28, 1935, Sdr.-Nr., 25-57, hier 49.
[56] Willi Oberkrome, Ordnung und Autarkie […], Stuttgart 2009.
[57] Corinna Treitel, German Health. Narratives between Life Reform and Medical Enlightenment, 1890-1930, Seminar 59, 2023, 69-94.
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[59] Vegetarische Warte 62, 1929, 109.
[60] Otto Kestner, Beruf, Lebensweise und Ernährung, Klinische Wochenschrift 2, 1923, 150-154; Ders., Die Rationalisierung der Ernährung, ebd. 6, 1927, 1461-1462.
[61] Halberstädter Wurst- und Fleischkonservenwerke Heine & Co., A.-G., Halberstadt, Edeka Deutsche Handels-Rundschau 27, 1934, Nr. 2, XVI.
[62] Edeka Deutsche Handels-Rundschau 27, 1934, Nr. 1, 9; Der Materialist 49, 1928, Nr. 9/10, 10.
[63] Daten aus der Entwicklung der Maggi-Unternehmung, o.O. 1983, 5.
[64] Gernot Böhme, Ästhetischer Kapitalismus. Frankfurt/M. 2016.
[65] Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, 226.
[66] H[ermann] Serger, Sinnenprüfung und chemische Analyse bei Nahrungsmitteln, Die Umschau 16, 1912, 70-73, hier 70.
[67] Gustavo Corni, Agrarpolitik, in: Marcel Boldorf und Jonas Scherner (Hg.), Handbuch Wirtschaft im Nationalsozialismus, Berlin und Boston 2023, 395-417. Oberflächlich: Ulrich Schlie, Das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Horst Möller u.a. (Hg.), Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Berlin und Boston 2020, 103-256.
[68] Konrad Meyer, Drei Jahre Forschungsdienst, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit […]. Neudamm und Berlin 1938, 1-8, hier 4.
[69] Ebd., 1.
[70] Ulrike Thoms, »Ernährung ist so wichtig wie Munition«. Die Verpflegung der deutschen Wehrmacht 1933-1945, in: Wolfgang U. Eckart und Alexander Neumann (Hg.), Medizin im Zweiten Weltkrieg […], Paderborn u.a. 2006, 207-229; Spiekermann, 2018, 580-611.
[71] [Gerhard] Lemmel, Denkschrift […], Zeitschrift für die Heeresverwaltung 5, 1940, 1-7, hier 4; Rudolf Schmidt, Die Trocknungsfragen der Gegenwart, Zeitschrift für angewandte Chemie 32, 1919, 108-113.
[72] M[ikkel] Hindhede, Die neue Ernährungslehre, Dresden 1922; E[lmer] V[erner] McCollum und Nina Simmonds, Neue Ernährungslehre, Berlin und Wien 1928.
[73] Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, Dresden und Leipzig 1936.
[74] [Hugo] Theunert, Ansprache, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 3.
[75] Zum Vergleich s. Lizzie Collingham, The Taste of War. World War Two and the Battle for Food, London 2011.
[76] [Ernst] Pieszczek, Lebensmittelforschung bei der Wehrmacht, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 3-4, hier 3.
[77] Joachim Drews, Die „Nazi-Bohne“. Anbau, Verwendung und Auswirkung der Sojabohne im Deutschen Reich und Südosteuropa (1933-1945), Münster 2004.
[78] Uwe Spiekermann, A Consumer Society Shaped by War: The German Experience, 1935-1955, in: Hartmut Berghoff, Jan Logemann und Felix Römer (Hg.), The Consumer on the Home Front: Second World War Civilian Consumption in Comparative Perspective, Oxford 2017, 301-311.
[79] Vgl. Uwe Fraunholz, »Verwertung des Wertlosen«. Biotechnologische Surrogate aus unkonventionellen Eiweißquellen im Nationalsozialismus, Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften 32, 2008, 95-116; Reinhold Reith, »Hurrah die Butter ist alle!«, »Fettlücke« und »Eiweißlücke« im Dritten Reich, in: Michael Pammer, Herta Neiß und Michael John (Hg.), Erfahrung der Moderne […], Stuttgart 2007, 403-426, hier 422-426; Christine Stahl, Sehnsucht Brot. Essen und Hungern im KZ-Lagersystem Mauthausen, Wien 2010, 294-308; Birgit Pelzer-Reith/Reinhold Reith, »Fett aus Kohle«? Die Speisefettsynthese in Deutschland 1933-1945, Technikgeschichte 69, 2002, 179-205, v.a. 182-186.
[80] Volker Hamann, Die Entwicklung der deutschen Ernährungsindustrie und ihre Beziehungen zur Lebensmittelwissenschaft, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 52, 1956, 39-42, hier 42.
[81] Ebd.
[82] Arbeitsgemeinschaft Ernährungswissenschaftlicher Institute (AEI), Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 236-237.
[83] K[arl] G[ustav] Bergner, Probleme der Lebensmittelchemie in der Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 5-7, hier 5.
[84] Oberflächlich und hagiographisch: André Cloppenburg, Konrad Lang und die Ernährungswissenschaften in der frühen Bundesrepublik (1945-1970), Göttingen 2019.
[85] Hans-Victor Schulz-Klingauf, Selbstbedienung. Der neue Weg zum Kunden, Düsseldorf 1960, 328; Lydia Langer, Revolution im Einzelhandel. Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949-1973), Köln, Weimar und Wien 2013.
[86] Mit der Selbstbedienung kam die Technik, Der Verbraucher 1977, Nr. 13, 18-23.
[87] Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-129, insb. 111-114.
[88] Sortimentspolitik. Köln und Opladen 1962, 28; Explosive Sortiments-Entwicklung […], Dynamik im Handel 1970, Nr. 5, 3-15, hier 14.
[89] G[ünther] Heinicke, Entwicklung und heutiger Stand der Ernährungsindustrie, Ernährungswirtschaft 22, 1975, A67-A71, hier A69.
[90] Hans Weiß, Ergebnisse der wissenschaftlichen Tätigkeit des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 52, 1956, 165-167, hier 165.
[91] W. Wendt, Vom möglichen Nutzen der Elektronik für die Produktion in der Ernährungsindustrie, Die Ernährungswirtschaft 1, 1954, 12-13; Carl Freybe, Die Technik in der Fleischwirtschaft, Hannover 1962.
[92] Bärbel Heinecke, Strukturwandlungen in der westdeutschen Ernährungsindustrie, Die Ernährungswirtschaft 10, 1963, 168-172, 174, hier 169.
[93] Bärbel Heinicke, Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Berlin-West und München 1964, 25.
[94] K[arl] A. Disch, Auswirkungen der Konzentration im Handel auf die Betriebe der Ernährungsindustrie und die sich hieraus ergebenden Forderungen, Die Ernährungswirtschaft 10, 1963, 668-671.
[95] Max Erich Schulz, Fritz Schmitt-Carl und Anton Kühnel, Zum Geleit! „Die Wissenschaft von heute ist die Praxis von morgen“, Milchwissenschaft 9, 1954, 2-4, hier 3.
[96] Liselotte Gau, Aufgaben und Entwicklung des Forschungskreises der Ernährungsindustrie, Die Ernährungswirtschaft 11, 1964, 78, 80, 82, hier 80.
[97] Hans Weiss, Praktische Bedeutung der durch den Forschungskreis der Ernährungsindustrie ermöglichten Forschungen, Ebd. 10, 1963, 1037-1044, 1046.
[98] Ebd., 1038.
[99] Kurt Täufel, Ernährungsphysiologie und zukünftige Lebensmittelanalytik, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 239-245; Volker Hamann, Die Entwicklung der deutschen Ernährungsindustrie und ihre Beziehungen zur Lebensmittelwissenschaft, ebd. 52, 1956, 39-42.
[100] Carsten Mahn, Kein Grund zum Jubeln: Forschung und Entwicklung in der Ernährungsindustrie, Ernährungswirtschaft/Lebensmitteltechnik 21, 1974, 778, 780, 787-788.
[101] I[wan] Kuprianoff, Die Ausbildung von Ingenieuren für die Lebensmittelindustrie, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 155-162, hier 159.
[102] Wilhelm Lederer, Lebensmittelindustrie und Forschung, Die Ernährungswirtschaft 11, 1964, 74, 76, 78, hier 78.
[103] Ulrike Thoms, Einbruch, Aufbruch, Durchbruch? Ernährungsforschung in Deutschland vor und nach 1945, in: Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt und Alexander Neumann (Hg.), Medizin im Zweiten Weltkrieg […], Paderborn u.a. 2006, 111-130.
[104] Joachim Opitz, 25 Jahre DGE – 10 Jahre Ernährungsberichte, Ernährungs-Umschau 25, 1978, 340-342.
[105] Jörg Albrecht, Vom „Kohlrabi-Apostel“ zum „Bionade-Biedermeier. Zur kulturellen Dynamik alternativer Ernährung in Deutschland, Baden-Baden 2022.
[106] Heiko Stoff, Gift in der Nahrung. Zur Genese der Verbraucherpolitik Mitte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2015; Kevin Rick, Verbraucherpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Geschichte des westdeutschen Konsumtionsregimes, 1945-1975, Baden-Baden 2018.
[107] Was kauft der Durchschnittshaushalt?, Der Markenartikel 30, 1968, 438.
[108] Verbrauch an Tiefkühlkost 1960 bis 1998 in Deutschland, hg. v. Deutschen Tiefkühlinstitut, o.O. 1999, 1-3. Vgl. Ulrike Thoms, The Introduction of Frozen Foods in West Germany and Its Integration into the Daily Diet, in: Kostas Gavroglu (Hg.), History of Artificial Cold, Scientific, Technological and Cultural Issues, Dordrecht 2014, 201-229. Zur Tierhaltung s. Veronika Settele, Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland, 1945-1990, Göttingen 2020; Barbara Wittmann, Intensivtierhaltung […], Göttingen 2021.
[109] Patrice G. Poutrus, Die Erfindung des Goldbroilers. Über den Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentenentwicklung in der DDR, Köln 2002. Vgl. allgemein Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln, Weimar und Wien 1999; Clemens Villinger, Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt? Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel von 1989/90, Berlin 2022.
[110] Hail, Die Aromastofflisten des Europarats, Ernährungswirtschaft 18, 1971, A115-A116, A137-A138.
[111] Essenzen/Aromen/Aromastoffe, Ernährungswirtschaft 1982, Nr. 1/2, 21-22, hier 22; Karl v. Koerber/Rainer Roehl/Gunther Weiss, Aromastoffe, UGB-Forum 12, 1995, 340-343, hier 340.
[112] Günter Mattheis, Aroma und Lebensmittel, Dragoco-Report 42, 1997, 157-187.
[113] Jörn Sieglerschmidt, Die Verwegenheit der Ahnungslosen, Haushalt & Bildung 76, 1999, 31.
[114] Jan Grossarth und Günther Hirschfelder, Future Food: Trends und Prognosen, in: Günther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 153-176
[115] Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018.

Großbritanniens Vorbild und Deutschlands Beitrag: Der Deutsche Vereins-Hundekuchen aus Hannover

Hundekuchen bündelten zentrale Errungenschaften des 19. Jahrhundert, verbanden Physiologie und Enthäuslichung, Globalisierung und Kapitalismus in einem neuen, standardisierten Produkt. Es wurde in den 1860er Jahren in Großbritannien entwickelt, und das viele Monate haltbare Universalfuttermittel verbreitete sich seit den 1870er Jahren rasch in der westlichen Welt, in den USA, in Russland, in Österreich-Ungarn – und dem neu entstandenen Deutschen Reich. Dort ansässige Unternehmer übernahmen Konzept und Herstellungstechnik vom britischen Vorbilde, allüberall stand der in London produzierte Sprattsche Hundekuchen Pate. Vor Ort versuchte man dessen Qualität zu erreichen, den heimischen Markt gegen Importe zu verteidigen, ihn zugleich zu erweitern. Hierzulande entstand rasch eine größere Zahl von Hundekuchenfabriken, die aus Getreide, Gemüse und Importfleisch neue und doch gegenüber Spratt’s „Meat Fibrine Dog Cakes“ wenig veränderte Ware produzierten.

Der Hundekuchen vereinfachte die an sich aufwändige Fütterung von Tieren, die in ihrer Mehrzahl noch Funktionen und Aufgaben hatten, bei der Jagd, dem Bewachen des Eigentums, der Suche nach Verdächtigen, der Hege von Schafherden und nicht zuletzt beim Gütertransport. Die Hunde dieser Zeit waren nicht vorrangig Haustiere, vermeintliche Freunde und Gefährten, wie die ca. 12 Millionen vierbeinigen Steuermarkenträger heutzutage. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wurden Hunde vorrangig nach ihren Aufgaben und Funktionen in der bäuerlichen, bürgerlichen und adeligen Gesellschaft bewertet. Es ging nicht um Dobermann und Schäferhund, um Teckel und Spitz, sondern um Jagd- und Wachhund, um Karrenzieher und Hegehunde. Entsprechend bestand eine Trennung zwischen den edlen Hunden, die immer auch den Status ihrer Besitzer repräsentierten und den einfachen Helfern der gemeinen Leute. Folgerichtig gab es deutlich weniger Hunde, absolut und relativ: Kommt heute ein Hund auf sieben Staatsbürger, so waren es beim Aufkommen des Hundekuchens einer pro zwanzig Einwohner – etwas mehr als zwei Millionen.

Die moderne Physiologie beendete diese tradierten funktionalen Zuschreibungen nicht, doch entwickelte sie ein anderes, wissenschaftlich begründetes Bild des Tieres: Ihr Ausgangspunkt war die stoffliche Gleichheit aller Kreaturen. Mit Menschen und Pflanzen waren sie durch einen weltumspannenden und weltprägenden Stoffwechsel verbunden. Die domestizierten Hunde waren Allesfresser, hatten sich im Umfeld des Menschen vor allem mit pflanzlicher Kost und Fleischresten zu begnügen. Ihre Nahrungsbedürfnisse entsprachen in etwa denen des Menschen, die Art ihres Futters war jedoch anders, vor allem billiger, stand weit unter der Nahrung des Menschen. Hundekuchen waren demgegenüber etwas Besonders, nicht von ungefähr stammten die ersten Käufer aus dem englischen Landadel. Das neue Futter war anfangs nicht für Haustiere, für städtische „Luxushunde“ gedacht, schon dessen schiere Größe barg für kleine, schwach bezahnte Hunde massive Probleme. Hundekuchen waren vielmehr eine Fertigspeise für die Leistungsträger unter den Vierbeinern. Sie markierten zugleich aber eine Futtergrenze zum Menschen, denn Hundekuchen wurden von Beginn an mit einem Verzehrstabu belegt, mochten sie rein physiologisch auch durchaus essbar gewesen sein. Gegenüber unserer Gegenwart gab es weitere Unterschiede: Als Konsumgut waren sie eher ländlich, eher kleinstädtisch, noch nicht Kennzeichen einer urbanen Versorgungsinfrastruktur für gehätschelte Kleingefährten. Ihre Käufer waren die vermeintlich staatstragenden Eliten und der alte Mittelstand, nicht aber die Arbeiterschaft, die sich schon den Aufwand für einen Hund kaum leisten konnte. Gehen wir nun daran, diese Thesen auszufächern und empirisch an einem Beispiel zu überprüfen: Der Geschichte der Deutschen Hundekuchen-Fabrik, die erst in Hannover, dann in Berlin produzierte.

Die englische Herausforderung: Spratt’s und mehr

In den 1870er Jahren, nach der Gründung des Deutschen Reiches, erfolgte die Fütterung der Hunde hierzulande noch in tradierten Bahnen. Sie war ein abgesonderter, zugleich aber integraler Teil der häuslichen Nahrungsmittelproduktion: „Die gute Ernährung des Hundes bietet um so weniger Schwierigkeiten, als derselbe ja bekanntlich Alles frißt, was Menschen genießen. Brod, Fleisch, Knochen, Gemüse und Milch, gekocht sowohl wie roh, sind ihm die natürlichste und die ihm zusagendste Nahrung; Fett, obwohl sehr gern gefressen, ist ihm schädlich, ebenso viel Salz. Von gekochten Speisen zieht er die mehl- und zuckerhaltigen vor, und nimmt auch sehr gern süßes Obst. Nur sorge man, daß Alles, was dem Hunde vorgesetzt wird, rein, frisch und niemals zu heiß, sondern nur lau sei, versorge ihn mit reichlichem Wasser in stets reinen Geschirren und achte auch in Bezug auf sein Lager, daß dies immer reinlich und trocken sei und häufig erneuert werde“ (Otto Friedrich, Aufzucht und Pflege des edlen Hundes, 3. Aufl., Zahna 1876, 8). Hundefütterung war Aufgabe der Dienstboten, meist aber der Frauen als Teil ihrer Hausarbeit (Hermann Kaiser, Ein Hundeleben, Cloppenburg 1993, 43-46).

Während sich das Futter selbst wenig änderte, veränderte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dessen Herkunft: „Hundebrot“ war seit der frühen Neuzeit eine regelmäßige bäuerliche Abgabe an den Gutsherrn, Grundlage der Fütterung von Jagdmeuten, Abschlagszahlung für herrschaftlichen Schutz. Abzugeben war zumeist Getreide, „Hundekorn“ – und es ist nachvollziehbar, dass die Bauern versuchten, die besseren Qualitäten für sich zu behalten. „Hundebrot“ hatte daher eine weitere Bedeutung, handelte es sich doch auch um das dunkle, elende Brot der Armen, des Gesindes, gebacken aus Gerste, Buchweizen, Roggen und dem Unrat, der Spreu, der Kleie, – die Brotreform mit ihrem Lob des vollen Korns begann erst in den 1890er Jahren (vgl. etwa Johann Georg Krünitz, Das Gesindewesen, nach Grundsätzen der Oekonomie und Polizeywissenschaft abgehandelt, Berlin 1779, 92). Verstädterung und Frühindustrialisierung trugen Hundebrot vermehrt in städtische Gefilde: „Ein Art Brod, Hundebrod genannt, welches zur Fütterung von Thieren bei einigen Bäckern bereitet wird, kaufen auch arme Familien zu eigenem Verbrauch“ (Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin 48, 1845, 95). Diese Strukturen zerbrachen Mitte des Jahrhunderts, waren als „Bauernbefreiung“ Teil der Integration der bäuerlichen Wirtschaft in den modernen Steuerstaat, in die Versorgungsstrukturen arbeitsteiliger Marktgesellschaften: Die Aufhebung der preußischen Jagd-Dienste und -Gebühren bildete 1850 einen wichtigen Einschnitt, mochten sich auch Abgaben wie das „Hundebrot“ im Süden der deutschen Lande noch länger halten. Damit waren einem marktgängigen Fertigprodukt wie Hundekuchen die Wege grundsätzlich geebnet.

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Frühe Anzeigen für Spratt‘s Hundekuchen (The Field 1866, Ausg. v. 3. November, 31 (l.); The Norfolk News 1867, Nr. 1174 v. 22. Juni, 1)

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass der Begriff „Hundekuchen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon in deutschen Übersetzungen von Aristophanes, Juvenal oder aber Boccaccio auftauchte; allerdings als Gebäck der Armen. Als Hundefutter handelt es sich jedoch um eine Übersetzung des englischen Begriffs „Dog Cakes“, den der im englischen Devon geborene Erfinder James Spratt (1809-1880) für seine seit 1862 in London hergestellten „Meat Fibrine Dog Cakes“ nutzte. Die Firma entwickelte sich anfangs nur langsam, auch wenn nach der Einstellung des jungen Buchhalters und Assistenten Charles Cruft (1852-1938) das neue Produkt offensiver beworben wurde. Spratt verkaufte sein Unternehmen 1870 an eine Investorengruppe, die sich zunehmend auf den Vertrieb und Absatz der Hundekuchen konzentrierte und dadurch den Umsatz im Inland und dann auch auf dem europäischen Festland rasch erhöhen konnte (für eine detaillierte Geschichte der Firma Spratt’s in Großbritannien und dem Deutschen Reich verweise ich auf einen bald erscheinenden weiteren Artikel).

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Frühe Präsenz in Hannover (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 5992 v. v. 5. März, 1 (l.); Der Sporn 16, 1878, 336)

Nach der Gründung des Deutschen Reiches finden sich hierzulande ab spätestens 1873 Anzeigen für den Sprattschen „Hunde-Zwieback“ – auch dies eine Übersetzung des englischen Begriffes „Biscuit“, den vor allem englische Wettbewerber Spratt‘s für ihre Produkte verwandten. Deren deutsche Großhändler nutzten und prägten den Begriff „Hundekuchen“ jedoch seit 1875. Er verwies nicht auf das süße, für Menschen bestimmte Backwerk, insbesondere die hochgeschätzten Leb-, Honig- und Baumkuchen, sondern war eine Übernahme aus dem Futtermittelgewerbe. Dort ummantelten Begriffe wie Ölkuchen die Herkunft der Angebote, bei denen es sich zumeist um nutzbare Abfallstoffe handelte, die als Tierfutter und Düngemittel gleichwohl marktgängig waren. Knochenmehle dienten als Dünger, Fleischfuttermehl nährte Schweine, Rinder und auch Hunde.

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Clarke und Barr: Weitere Londoner Hundekuchen im deutschen Markt (Dresdner Journal 1877, Nr. 193 v. 22. August, 904 (l.); Hamburgischer Correspondent 1879, Nr. 64 v. 15. Juni, 18)

Hannover war für Spratt’s ein doppelt nahegelegener Markt: Zum einen von der Entfernung her, denn die Exporte gingen anfangs nach Hamburg, von dort per Bahn in Städte mit Großhandelsdepots. Dieses Netz knüpfte an bereits bestehende Großhandelsstrukturen an, nutzte die Absatzwege vornehmlich im Futtermittelsektor. Hundekuchen waren ein Ergänzungsprodukt, traten neben das Kraftfutter für Schweine und Rinder. Und trotz des Namens konnte das neue englische Produkt in gemahlener, mund- und schnabelgängiger Form auch an Geflügel und Fische verfüttert werden. Entsprechend gab es auch seitens der noch nicht allzu zahlreichen zoologischen und Vogelhandlungen ein Grundinteresse an der Importware. In Hannover orderte man sie zuerst in Hamburg, dann auch im näher gelegenen Kassel, ab spätestens 1878 auch vor Ort, in der nahe des Güterbahnhofs gelegenen Handelsgesellschaft von James Plant. Diese 1876 gegründete Firma hatte sich auf den Vertrieb von Lederwaren und Reitartikeln spezialisiert (Hannoverscher Courier 1876, Nr. 7845 v. 12. April, 3; ebd. 1881, Nr. 11063 v. 28. Juli, 5). Hochwertige Ware aus England spiegelte ein gehobenes Sortiment, aber auch die Stellung der britischen Monarchie als global führender Wirtschaftsmacht. Zweitens gab es zwischen dem 1814 zum Königreich aufgestiegenem Hannover und der britischen Krone enge dynastische Beziehungen, bestand doch seit 1714 eine Personalunion, die erst 1837 aufgelöst wurde, als Königin Victoria (1819-1901) den britischen Thron bestieg, während die hannoversche Königswürde von ihrem Onkel, dem reaktionären Ernst August I. (1771-1851) übernommen wurde. Hannover besaß weiterhin enge Beziehungen zum aufstrebenden Inselreich, die auch durch die preußische Annexion 1866 nicht unterbrochen wurde. Die frühe Übernahme des Hundekuchens stand in der Tradition dieser besonderen Beziehungen.

Spratt’s nutzte dies, förderte insbesondere die von der Firma erst in Großbritannien, dann in den Niederlanden, Belgien und Frankreich angestoßenen Hundeausstellungen. Diese zielten nicht nur auf eine Adelung der Hundezucht, der Förderung der Jagd und der Ausbildung eines rasch wachsenden Marktes von Hundeartikeln und Tiermedikamenten. Ausstellungen dienten zugleich als zentraler Werbeort für das neuartige Hundefutter. Spratt’s wurde auch im Deutschen Reich zum Förderer der Haltung leistungsfähiger Funktionshunde und rassereiner Zuchttiere. Zugleich stellten sich die Aussteller einem begrenzten Wettbewerb, an dessen Ende sie regelmäßig mit werbeträchtigen Auszeichnungen geehrt wurden. Spratt‘s & Co. erhielt auf der ersten Hannoveraner Hundeausstellung 1879 ein Diplom für „hervorragende Leistungen“ und eine „goldene Medaille“ (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9751 v. 31. Mai, 2), die als Qualitätsgarant gleich wieder in der Anzeigenwerbung hervorgehoben wurden.

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Die Hannoversche Hundeausstellung als Werbeargument (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9768 v. 12. Juni, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1880, Nr. 138 v. 25. Mai, 5)

Hundezuchtvereine und der Hannoveraner „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“

Hundekuchen standen in den 1870er Jahren für Globalisierung – und in Abwandlung einer bekannten Sentenz des just verstorbenen Henry Kissingers kann man sagen, dass Globalisierung damals nur ein anderes Wort für britische Herrschaft war. Doch insbesondere in den USA und im Deutschen Reich begannen Hundehalter und Unternehmer nach wirtschaftlichen Alternativen zu suchen, nationale Angebote zu entwickeln. Neben der 1880 gegründeten Deutsche Hundekuchen-Fabrik in Hannover gab es andere, früher gegründete Firmen, die sich teils aus Hundezuchtanstalten (Caesar & Minka, Zahna), teils aus Getreide- und Futterhandlungen (Gebrüder Herbst, Magdeburg), teils aus Mühlen- und Bäckereibetrieben (Krietsch, Wurzen) entwickelten. Hundekuchen war für sie ein neues Nebenprodukt, das sich harmonisch in die bisherige Angebotspalette integrieren ließ. Das Besondere in Hannover war, dass dort der 1878 gegründete „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“ den entscheidenden Anstoß zur lokalen Produktion gab. Er war 1839 als Hannoverscher Jagdverein gegründet worden. Das englische Vorbild einer gezielten Hundezucht stand bei der Umbenennung im Mittelpunkt, die Führung von Stammbüchern wurde zum wichtigsten Ziel (Chronik des deutschen Hundewesens – Eckdaten zur Geschichte des VDH, Dortmund 2006, 4).

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Hunde als Passion: Versammlung des Berliner Hundeliebhabervereins „Hector“ (Über Land und Meer 40, 1878, 689)

Der Hannoveraner „Verein zur Veredelung der Hunderassen für Deutschland“ war Teil einer sich langsam ausdifferenzierenden Vereinskultur, die eine sich langsam verändernde Beziehung von Mensch und Tier spiegelte. Moderne Hundehaltung resultierte aus einer modernen Haltung zu Hunden. Tierschutzvereine entstanden in größeren Städten in den späten 1850er Jahren, etablierten sich in den Folgejahrzehnten als bürgerliche Institutionen. Sie wurden begleitet und gefördert von zeitgenössischen Erfolgstiteln, etwa dem seit 1863 erscheinenden „Illustrirten Thierleben“ des Zoologen Alfred Brehm (1829-1884), das Tiere vermenschlichte und dem bis heute währenden Anthropomorphismus Bahn brach. Die ethisch begründete Wendung gegen Tierleid und Tierquälerei enthielt allerdings immer auch eugenische Elemente, zumal in Diskussionen über humanere Tötungsformen kranker Pferde und Hunde. Spezielle Hundezuchtvereine boten vor dem Hintergrund der „Origins of Species“, des 1859 veröffentlichten Hauptwerk Charles Darwins (1809-1882), eine positive Eugenik. In Hannover hieß dies: „Der […] Verein zur Veredelung der Hunderacen hat es sich nun unter Anderem auch zum Ziele gesetzt, die Reinhaltung aller Hunderacen zu fördern, namentlich aber für diejenigen Racen einzutreten, deren Untergang nahe scheint, also besonders für die deutschen“. Ziel war Förderung der „Racenreinheit“, der Kampf gegen „Bastardhunde“ und damit auch ein Ende des steten Imports teurer „edler Hunde“ zumal aus England (Zitate n. Internationale Ausstellung von Hunden, Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9611 v. 7. März, 2).

Die Hundezuchtvereine waren jedoch immer auch gesellige, in die Öffentlichkeit drängende Institutionen. Auch diesbezüglich war England Vorreiter gewesen, denn Hundeausstellungen gab es dort seit den späten 1850er Jahren, der 1873 gegründete Londoner Kennel Club förderte sie dann gezielt. In deutschen Landen fanden erste Hundeausstellungen in den 1860er Jahren statt, in Hamburg und Altona. In den 1870er Jahren wurden sie dann bereits durch Hundefutterproduzenten gefördert, so etwa in Cannstatt 1871 und Stuttgart 1873. Ende der 1870er Jahre entstand zudem ein breiter Kranz von Fachzeitschriften, die nicht nur die Tier- und Hundezucht förderten, sondern zugleich auch das Renommee guter Zuchthunde und ihrer Besitzer erhöhten (Wolfgang G. Theilemann, Adel im grünen Rock. Adeliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866-1914, Berlin 2004, insb. 88-120).

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Hundefutterprobe als Teil des Vereinslebens im Leipziger Hundeverein Diana (Leipziger Tageblatt 1878, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6698)

Im Deutschen Reich setzte ab 1876 der Berliner Hundeliebhaberverein „Hektor“ erste Akzente, doch der Hannoveraner Verein durchbrach von Beginn an lokale Begrenztheit, indem er eine nationale Aufgabe vorantrieb: Das Allgemeine deutschen Hundestammbuch sowie die nationale Vernetzung im Dachverband der 1888 gegründeten „Delegiertenkommission“ waren unmittelbare Folgen (Margot Klages-Stange, Der Wert unserer Hunde, Hannoverscher Kurier 1926, Nr. 41 v. 26. Januar, 6). Hundezuchtvereine verbanden öffentlich besoldete Jäger, eine adelige, der Jagd frönende Oberschicht, aufstiegswillige und erfolgreiche Bürger sowie Zoologen und Veterinärmediziner. In Hannover agierte der im deutsch-französischen Krieg bewährte Graf Alfred von Waldersee (1832-1904) als Präsident. Der Kommandeur des X. Armeekorps verkörperte zugleich die Interessen der Armee an leistungsfähigen Hunden. Präsidiumsmitglied Albrecht Prinz zu Solms-Braunfels (1841-1901) war Teil des europäischen Hochadels und ein Kenner der englischen Hundezucht. Jäger, Züchter und Veterinärärzte der Kgl. Tierarzneischule bildeten den Kern der 1879 bereits 160 Mitglieder (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9570 v. 11. Februar, 2), zu denen aber auch Vertreter des gehobenen Bürgertums gehörten, etwa der jüdische Bankier Emil Meyer (1841-1899).

Seit seiner Gründung plante der Hannoveraner Verein auch eine Hundeausstellung: Es galt den Engländern und auch den Berlinern mit ihrer 1878 veranstalteten „Elite-Ausstellung von Racehunden“ etwas mindestens Gleichwertiges an die Seite zu stellen (Hannoverscher Courier 1878, Nr. 9380 v. 18. Oktober, 2). Die beträchtlichen Kosten wurden durch eine publikumswirksame Lotterie aufgebracht (Hannoverscher Courier 1879, Nr. 9502 v. 2. Januar, 3; ebd., Nr. 9644 v. 26. März, 2). Hinzu traten Sachspenden für Preise, die Unterbringung und Fütterung der Hunde – wodurch sich die Beziehungen zum englischen Hundekuchenproduzenten Spratt’s und seiner Hannoveraner Niederlage vertieften.

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Kooperation des Hannoveraner Hundevereins und der Londoner Firma Spratt’s (Der Sporn 17, 1879, 56)

Für den Verein war diese erste Hundeausstellung erfolg- und lehrreich zugleich. Das Vereinsziel einer an klare Merkmale gebundenen Hundezucht wurde weiter popularisiert, damit aber zugleich die Trennung zwischen Rassehunden und der Mehrzahl der Straßen- und Gebrauchshunde vertieft. Hundesteuer und Maulkorbzwang sollten dies unterstützten, zugleich die Zahl unnützer Hunde verringern helfen (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10659 v. 26. November, 3). Die Schwierigkeiten bei der Organisation und Finanzierung der Ende Mai 1879 durchgeführten Hundeausstellung ließen es jedoch auch ratsam erscheinen, eine lokale Infrastruktur aufzubauen, mit deren Unterstützung die Vereinsziele einfacher zu erreichen waren. Dazu gehörte nicht zuletzt die 1880 umgesetzte Gründung einer vereinsnahen Hundekuchenproduktion.

Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in Hannover

Am 15. Juni 1880 wurde die „Deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl“ ins Hannoversche Handelsregister eingetragen. Inhaber war der „Kaufmann und Fabrikant“ Johannes Kühl (Berliner Börsen-Zeitung 1880, Nr. 305 v. 19. Juni, 16; Deutscher Reichsanzeiger 1880, Nr. 144 v. 22. Juni, 8).

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Reichsweite Präsenz der Werbung kurz nach der Gründung (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10400 v. 6. Juni, 4 (l.); Neueste Nachrichten 1880, Nr. 127 v. 1. Juni, 10)

Schon Wochen zuvor hatte die Werbung für das neue Produkt eingesetzt, den „Deutschen Vereins-Hundekuchen“. Der gestempelte Kuchen gab einen ersten visuellen Eindruck des Tierfutters, benannte zugleich den zentralen Unterschied zu den verschiedenen im Deutschen Reich produzierten Konkurrenzprodukten: Es handelte sich um einen vom „Verein zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“ empfohlenen und kontrollierten Futterartikel. Dazu hatte man eine gemischte Kommission eingerichtet, die soziales Prestige, finanzielle Sekurität und wissenschaftliches Renommee verkörperte. Die Hundekuchen und Rohmaterialien sollten durch einen Chemiker der lokalen Tierarzneischule ständig kontrolliert werden, so dass es sich um ein standardisiertes Nahrungskomprimat von hoher Qualität handeln würde. Zugleich war der Vereinshundekuchen relativ preiswert; günstiger jedenfalls als die meisten deutschen und die englischen Konkurrenzprodukte. Jedem Zeitgenossen war klar, dass die Markenpräsentation an zwei Londoner Vorbilder anknüpfte: Als Qualitätsprodukt erinnerte sie einerseits an den seit 1863 im uruguayischen Fray Bentos produzierten Liebigschen Fleischextrakt. Die Londoner Liebig’s Extract of Meat Company nutzte nicht nur das Renommee des Namensgebers, sondern verpflichtete mit dem Hygieniker Max von Pettenkofer (1818-1901) und dem Physiologen Carl von Voit (1831-1908) zwei führende Wissenschaftler als Kontrolleure. Andererseits spiegelte der gestempelte und perforierte Kuchen das seit 1875 reichsweit geschützte Markenzeichen von Spratt’s & Co. in London.

Der Hannoveraner Verein hatte Johannes Kühl mit der Herstellung beauftragt, weil dieser „am hiesigen Orte eine mit den besten maschinellen Einrichtungen versehene Fabrik für Hundekuchen errichtet und seinen ganzen Betrieb zur Sicherung der Consumenten unter Controle des ‚Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland‘ gestellt“ habe. Mehr noch: „Der Fabrikant ist bezüglich der Zusammensetzung der Kuchen und des Preises derselben an die Anordnungen der Commission gebunden, so daß eine die Interessen der Consumenten wahrende Garantie besteht“ (Deutsche Hundekuchenfabrik von J. Kühl in Hannover, Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4). Kühl erschien entsprechend in der Generalversammlung des Vereins, diskutierte den gemeinsamen Vertrag mit Präsidium und Mitgliedern und verwies auf „eine größere Anzahl Zuschriften hervorragender Züchter, welche sich über die Qualität der Hundekuchen lobend aussprachen“ (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10617 v. 2. November, 3).

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Kontrollierte Qualität (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4)

Offenkundig handelte es sich bei der Deutschen Hundekuchen-Fabrik um eine für beide Seiten attraktive Zusammenarbeit: Der Verein erhielt reichsweite Publizität und zudem ein preiswertes vor Ort hergestelltes Futtermittel. Der Fabrikant konnte schon bei Beginn das soziale Kapital des Vereins nutzen, gewann dadurch einen Vertrauensvorschuss insbesondere bei Adligen, Jägern und Hundezüchtern. Vor diesem Hintergrund ist auch der Name von Firma und Produkt zu verstehen. Im – wie so häufig – irreführenden Wikipediaartikel zur Firma wird ohne Quellenbelege von einem nationalistischen und antienglischen Ressentiment gesprochen. Und in der Tat handelte es sich bei den Vereinsmitgliedern zumeist um patriotisch donnernde Zeitgenossen, Vereinssekretär Emil Meyer betonte etwa: „‚Englische Hunde, und zwar recht schlechte englische Hunde, haben wir leider schon zu viele in Deutschland!“ (zit. n. Hegewald, Den Hühnerhund […], Leipzig 1881, 49). Angesichts des Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Hundezuchtvereinen zielte das doppelte Adjektiv „Deutsch“ jedoch vorrangig auf die innerdeutsche Hegemonie des Hannoverschen Vereins. England blieb, das unterstrich die frühe Werbung, ein Vorbild. Dieses zu erreichen, gar zu überholen, war Aufgabe eines beherzten Wettbewerbs. „Deutsch“ war damals Ausdruck nachholenden Bemühens, noch nicht wilhelministischer Hybris.

Wer war nun der Fabrikant Johannes Kühl? Der verdienstvolle Stadtsuperintendent Hans Werner Dannowski (1933-2016) berichtete nach Gesprächen mit dessen Nachfahren, dass dieser 1852 in Burg auf der Ostseeinsel Fehmarn geboren wurde, dann in Lübeck eine Kaufmannslehre absolvierte. Er gründete eine Familie, drei Kinder wurden geboren, seine Frau starb jedoch im Kindbett (Hans Werner Dannowski, Hannover – weit von nah, Hannover 2002, 172). 1876 übernahm er die Firma Kellinghusen & Kühl in Bergedorf, die er unmittelbar nach der Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik auflöste (Deutscher Reichsanzeiger 1876, Nr. 130 v. 3. Juni, 6; ebd. 1880, Nr. 152 v. 1. Juli, 9). Hannover, 1880 eine Großstadt mit 120.000 Einwohnern, war für ihn Chance und Herausforderung zugleich. Das Hannoveraner Adreßbuch verzeichnete für 1880 weder einen Johannes Kühl noch eine in der Glockseestraße 7A gelegene Dampfbrotbäckerei (Adreßbuch Hannover 1880, T. I, 158, 350, 354, 482). Das legt nahe, dass er die von 1881 bis 1883 erwähnte „Dampf-Brod-Bäckerei“ neben der ebenfalls ab 1881 vermerkten „Deutschen Hundekuchen-Fabrik“ betrieb (Ebd. 1881, T. I, 357; ebd. 1882, T. I, 362; ebd. 1883, T. I, 367). Die Fabrik lag im Parterre, der Unternehmer lebte als Mieter in dem eingeschossigen Haus (Ebd. 1882, T. I, 158).

Johannes Kühl heiratete am 22. Dezember 1883 in einer Ziviltrauung Anna Elise Henriette Schmidt (Evangelisches Kirchenbuchamt Hannover, Film Nr. 185137, Nr. 86, 662-663) und kaufte dann, wohl im Januar 1884, das Anwesen Füsilierstraße 30 (Amtsblatt für Hannover 1886, St. 6 v. 8. Februar, 208). Dieses lag nahe am damaligen Güterbahnhof. Der Hauskauf dürfte Folge einer erfolgreichen Geschäftstätigkeit sein. Familie Kühl wohnte in dem dreistöckigen Haus in bürgerlich-mittelständischem Umfeld im Parterre mit sieben weiteren Parteien (Adreßbuch Hannover, 1884, T. I, 157). Zugleich wurde der Sitz der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und der Dampf-Brod-Bäckerei in die Füsilierstraße verlegt, die Produktionskapazität zugleich vergrößert (Ebd. 1884, T. I, 374).

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Idealisierte Darstellung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in der Füsilierstraße 30 (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132)

Die bauliche Struktur der Hundekuchenfabrik und der weiterhin annotierten „Cakes- u. Bisquitfabrik“ ist unklar, ein Hinterhofausbau wahrscheinlich. Johannes Kühl lebte 1888 weiterhin im Parterre, gemeinsam mit sechs weiteren Hausparteien (Adreßbuch Hannover 1888, T. I, 171). Im Hinterhof war zudem die Großhandlung Wisser & Co. angesiedelt, die auch Spratt’s Hundekuchen vertrieb. Die Firma besaß eine damals noch nicht übliche Fernsprechleitung (Ebd. 1888, T. I, 414). Nach dem Verkauf der Firma im Jahre 1889 an Spratt’s Generalbevollmächtigten Erwin Stahlecker änderte sich am Firmensitz erst einmal nichts (Ebd. 1889, T. I, 158, 412). Johannes Kühl zog allerdings in eine neue Wohnung, erst in die Herschelstr. 33, im Folgejahr dann in die Höltystr. 11 (Ebd. 1889, T. I, 535; ebd. 1890, T. I, 548). Er firmiert nun als Grubenbesitzer resp. als Kiesgrubenbesitzer (Ebd. 1892, T. I, 604). Kühl zog anschließend in eine repräsentative Unternehmensvilla in die Kolonie Kühlshausen des Villenviertels Kirchrode. Er machte eine erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann, u.a. im Aufsichtsrat der 1899 gegründeten Hannoverschen Landesbank oder als Mitgründer der Hannoverschen Terraingesellschaft AG (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 20 v. 23. Januar, 15; ebd. 1901, Nr. 239 v. 8. Oktober, 10).

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen als standardisiertes wissenschaftliches Produkt

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen war ein wissenschaftlich kontrolliertes und standardisiertes Futtermittel. Es war möglich durch einen neuen Referenzrahmen, dem von der modernen organischen Chemie entwickelten Lebensmodell eines allgemeinen Stoffwechsels. Dieses veränderte nicht nur die Landwirtschaft, in der gezielte Stoffsubstitution mit mineralischen Düngemitteln zunehmend höhere Erträge ermöglichte. Davon profitierte die gewerbliche Herstellung von Nahrungsmitteln und eine von den stofflichen Erfordernissen ausgehende Ernährung der Menschen. Und dies veränderte auch die Ernährung von Nutz- und Haustieren: „Die Aufgabe lief also darauf hinaus, die eigentlichen Nährstoffe in dem Futter zu ermitteln und die Rolle festzustellen, welche sie in der Verdauung, im Stoffwechsel, in der Ernährung zu übernehmen haben“ (H[ermann] Settegast, Die landwirthschaftliche Fütterungslehre, Breslau 1872, 12). Hundekuchen waren nicht irgendein Futtermittel, sondern dienten dem „Ersatz der durch die Lebensverrichtungen umgesetzten Körperbestandtheile des Thieres“ (Martin Wilkens, Der gegenwärtige Stand der Fütterungslehre, in: Ders., Beiträge zur landwirthschaftlichen Thierzucht, Leipzig 1871, 153-174, hier 160).

Das neue Futtermittel war ein Kompaktnährmittel, das durch das Verbacken von Getreide, Gemüse und Fleischresten als Dauernahrung diente und zugleich die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Hunde garantierte. Die Fabrikanten zielten auf ein stofflich ausgewogenes Produkt, das zugleich aber relativ preiswert war. Dazu diente ein globaler Rohwareneinkauf. Weizen (und Mais) wurden zumeist aus Kanada, den USA und Russland importiert, preiswertere Getreide wie Gerste, Hafer oder Roggen stammten vielfach aus heimischem Anbau; ebenso die eingebackenen Gemüse, etwa Rüben oder Möhren. Importiert wurde meist auch der für den Eiweiß- und Fettgehalt zentrale Fleischanteil. Er stammte aus Fleischabfällen, etwa der südamerikanischen Fleischextraktproduktion in Uruguay und Argentinien oder den Schlachtereien in Cincinnati oder Chicago. Hundekuchen waren ein globales Produkt, das je nach Rohware recht unterschiedlich zusammengesetzt sein konnte.

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Stickstoff und Eiweiß: Fleischmehle als Dünger und als Futtermittel (Gladbacher Volkszeitung 1873, Nr. 96 v. 30. August, 4)

Hundekuchen hatten zahlreiche Vorläufer im Felde gewerblich hergestellter Lebensmittel. Fleischmehl und Fleischzwiebäcke wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder als Kraftspeise und Konserve für Soldaten, Reisende und Arme propagiert. Sie scheiterten zumeist an fehlendem Nährwert bzw. begrenzter Haltbarkeit. Das galt auch für bis heute bekannte Klassiker dieser Zeit, etwa des Fleischextraktes, der Erbswurst oder des Fleischpulvers Carne pura. Mangelnde Kenntnisse der Stoffzersetzung und fehlende Würzung mündeten regelmäßig in einseitigem und schlechtem Geschmack. Menschen konnte sich dem verweigern, kaum aber Tiere. Hunde würden schon fressen, sei es mangels Futteralternative, sei es nach einer gewissen Gewöhnung. Die Durchsetzung des Hundekuchens war ein Erfolg stofflichen Denkens, war Teil einer wesentlich breiter gedachten Rationalisierung der modernen Welt. Sicherheitstechniken wie die Trichinenbeschau, die Nahrungsmittelkontrolle oder der Schlachthofzwang machten das Alltagsleben berechenbarer – der Central-Schlacht- und Vieh-Hof in Hannover wurde 1879 eröffnet (Centralblatt der Bauverwaltung 1, 1881, 290-291). Auch Hunde profitierten davon.

In Hannover wurde das neue stoffliche Denken nicht zuletzt von den Mitgliedern der Kgl. Tierarzneischule getragen, die 1887 zur tierärztlichen Hochschule aufstieg (Eindrücke, aber nicht mehr, liefert Wolfgang von Engelhardt und Gerhard Breves, Die Physiologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover seit der Gründung 1778, Hannover und Gießen 2011). In Versammlungen des „Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“ waren Vorträge von Mitgliedern des Lehrkörpers, etwa des Regimentspferdearztes und Lehrbeauftragen Paul Brücher (1826-1908) oder des Direktors Karl Günther (1822-1896) stete Programmpunkte (Hannoverscher Courier 1878, Nr. 9465 v. 8. Dezember, 2 (l.); ebd. 1880, Nr. 10262 v. 4. April, 6). Letzterer gehörte, zusammen mit seinem Nachfolger Karl Dammann (1839-1914), der Kontrollkommission des Vereins an, die neben der Analyse der Rohware und des fertigen Hundekuchens auch „zweckmäßige Verbesserungen durch Versuche“ (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4) ermöglichen sollte.

Mit den Hundekuchenuntersuchungen betraut wurde Carl Arnold (1853-1929), der nach dem Studium der Pharmazie, Physik und Chemie in München, Tübingen und Heidelberg ab 1880 als Repitor an der Tierarzneischule begann und dort 1890 zum Professor für Chemie reüssierte. Sein schon vor der Gründung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik erstellter erster Bericht machte die Zusammensetzung der Deutschen Vereins-Hundekuchen publik: „Die Kuchen werden aus Fleischmehl, Roggenmehl, Weizenkleie, etwas Kochsalz und reinem basischen Calciumphosphat dargestellt.“ Die maschinelle Mischung führte zu einem gleichmäßig zusammengesetzten Produkt, „so dass jede Abweichung von der vom Verein genehmigten Rezeptur auffallen musste.“ Zugleich verglich Arnold dessen stoffliche Zusammensetzung mit denen der Sprattschen Hundekuchen und kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis: „Die Kuchen werden von den Thieren mit grosser Begierde angenommen, und sind durch ihren höheren Phosphorsäure- und Stickstoffgehalt dem englischen Fabrikate entschieden vorzuziehen“ (beide Zitate n. C[arl] Arnold, Vergleichende Untersuchungen deutscher und englischer Hundekuchen, Jahresbericht der Königlichen Thierarzneischule zu Hannover 13, 1879/80, Hannover 1881, 27-28, hier 27). Dieses Resultat fand seinen Weg in die wissenschaftliche Literatur, vor allem aber in die Fachpresse (Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 1, 1881, 79). In der Generalversammlung des Hannoverschen Vereins wurde dagegen allein der höhere Nährwert des eigenen Produktes hervorgehoben (Hannoverscher Courier 1881, Nr. 10812 v. 26. Februar, 3; Hamburgischer Correspondent 1881, Nr. 58 v. 26. Februar, 3). Öffentlich betonte der Verein sogar nur, dass die Hannoveraner Hundekuchen „mit den besten auf gleicher Stufe“ ständen (Hannoverscher Courier 1880, Nr. 10384 v. 17. Juni, 4). In der Werbung tönte Kühl dagegen von dem „gesundestes Hundefutter“ (Kladderadatsch 33, 1880, Nr. 38/39, 3).

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Wissenschaftliche Analysedaten mit begrenztem Aussagewert (Chemisch-technisches Repertorium 23, 1884, 147)

Weitere vergleichende Analysen folgten und wurden von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik irreführend verdichtet, betonte sie doch, dass ihre Produkte einen 20-25 Prozent höheren Nährwert wie die Konkurrenzprodukte besäßen und sie das beste „Futter zur ausschließlichen Ernährung der Hunde“ seien (Hannoverscher Courier 1885, Nr. 13697 v. 25. November, 6). „Wissenschaft“ wurde dadurch zum Argument im Kampf um den Käufer, Wissenschaftler zu Zuträgern des Güterabsatzes. Carl Arnold sollte 1894 zum Kontrolleur von Spratt’s aufsteigen und in den Folgejahren zur Gewährsperson für die vermeintlich überlegene Qualität der einst von ihm selbst verfemten englischen Hundekuchen.

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Vermeintlich höherer Nährwert als Verkaufsargument (Hannoverscher Courier 1886, Nr. 13780 v. 15. Januar, 4)

Wirtschaftlicher Flankenschutz durch Schutzzölle

Das seit den späten 1870er Jahre beträchtliche Wachstum der deutschen Hundekuchenproduzenten war allerdings nicht allein auf die immer wieder mit nationalem Pathos verbundenen Aktivitäten der deutschen Hundevereine und der wissenschaftlichen Förderung des Kompaktfutters zurückzuführen. Es war vielmehr auch Folge der vielbeschworenen zweiten Reichsgründung 1879/80, also der konservativen Wende in der deutschen Innenpolitik und dem Übergang zum Schutzzoll. Der junge deutsche Staat geriet damals durch billige Agrarimporte aus den USA und Russland unter Druck. Die teils deutlich höheren Zölle sollten vorrangig die ostelbische Agrarwirtschaft schützen, hinzu kam der Schutz (noch) nicht wettbewerbsfähiger Industriebranchen, zumal der Schwer- und der Textilindustrie.

Hundekuchen konnte von den englischen Anbietern bis Ende 1879 kostenlos ins Deutsche Reich eingeführt werden. Seit dem 1. Januar 1880 wurden sie im Zolltarif dann als „gewöhnliches Backwerk“ eingruppiert, so dass pro Zentner eine Mark Zoll anfiel. Im Mai 1880 aber versechsfachte sich dieser Wert, lag nun bei 6 Mark pro Zentner (Kölnische Zeitung 1880, Nr. 150 v. 31. Mai, 5). Hundekuchen wurde nicht mehr länger als Backwerk, sondern als Fleischware eingruppiert; oder, wie Spötter meinten, als „‚feine Fleischwaaren‘, und nicht vielmehr als ‚Conditorwaaren‘“ (Kladderadatsch 35, 1882, 107). Die Behörden waren sich zwar bewusst, dass die Kuchen vorrangig aus Mehl bestanden, doch erschienen ihnen die „beigemischten Fleischfasern“ ein weder nach der Menge, noch dem Verwendungszweck „unwesentlicher Bestandtheil“ des Futterkomprimats zu sein (Central-Blatt der Abgaben, Gewerbe- und Handels-Gesetzgebung und Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 1880, 252). Spratt’s Eingabe an den Bundestag „betr. die Zollbefreiung von Fleischfaser-Hundekuchen (§. 512 der Protokolle von 1880)“ wurde abschlägig beschieden. Damit besaßen die deutschen Anbieter einen 30%igen Preisvorteil gegenüber den leistungsfähigeren englischen Betrieben, die mit einem weit größeren Maschinenpark preiswerter arbeiteten. Ludwig Bamberger (1823-1899), liberaler Oppositionsführer und Bankier, ordnete all dies unter dem Dachbegriff Zollkuriosa ein, war der verwaltungstechnische Aufwand für eine angemessene Eingruppierung verarbeiteter Produkte doch beträchtlich. Zugleich aber schien ihm damit die Einfuhr englischen Hundekuchens unmöglich gemacht worden (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 131 v. 11. Mai, Außerordentl. Beil, 3).

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Preisnachteil durch Zollbelastung: Spratt’s versus Deutscher Vereins-Hundekuchen (Adressbuch der Kaufleute aller Länder Erde, Bd. 7a: Westfalen, Ausg. 9, 1884-86, Nürnberg s.a., I)

Bundesrat, Reichstag und Reichskanzler befassten sich mit der Affäre, war eine weitere Petition des Sprattschen Repräsentanten in Berlin doch gut begründet: Der Vorsitzende des Berliner Hundevereins „Hektor“ bezeichnete die Kuchen als „für Menschen ganz ungenießbar“, während ein chemisches Gutachten feststellte, dass „die Hundekuchen lediglich aus dem Mehle von Cerealien und Fragmenten von Leguminosen unter Zusatz von 3 Prozent Fleischfasern (Fleischabfällen, Leimbildnern, Flechsen, Sehnen etc., d.h. solchen Stoffen, die als Nahrungsmittel für Menschen nicht verwendbar sind) hergestellt seien“ (Sammlung sämmtlicher Drucksachen des Deutschen Reichstags, 5. Leg., Sess. II, Berlin 1882/83, Bd. I, Berlin 1883, Nr. 70, 1). Der Reichstag befürwortete eine zollmindernde Eingruppierung als Backwerk, doch der Bundesrat entschied negativ (Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 68 v. 21. März, 5; Amtliches Waarenverzeichniß zum Zolltarife, Berlin 1888, 162). Spratt’s zog sich allerdings nicht vom deutschen Markt zurück, sondern lieferte weiterhin mit deutlich verminderten Gewinnspannen und höheren Preisen. 1884 kosteten 50 Kg im Rheinland 23 M, während für den Deutsche Vereins-Hundekuchen dort nur 20,50 M zu zahlen waren (Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins für Rheinpreußen 52, 1884, 39). Schon vorher betonte man in Hannover offensiv, dass der Deutsche Vereins-Hundekuchen englischen Fabrikaten „entschieden vorzuziehen sei […], da durch den neuerdings erfolgten Einfuhrzoll die englischen Kuchen im Preise höher stehen wie die deutschen“ (Arnold, 1881; Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 2, 1882, 79). Doch 1885 errichtete die multinationale englische Firma eine neue Produktionsstätte in Berlin. Ohne die Zollbelastung pendelte sich der Preis anschließend auf ca. 18,50 Mark pro Zentner ein. Das setzte auch für die deutschen Anbieter einen neuen, niedrigeren Richtpreis – bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges.

Aufbau eines leistungsfähigen Vertriebsnetzes

Wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Flankenschutz beförderte den offenkundigen, leider aber nicht zu quantifizierenden Erfolg der Deutschen Hundekuchen-Fabrik. Doch die rasche Etablierung eines leistungsfähigen Vertriebsnetzes war eine bemerkenswerte Eigenleistung. Johannes Kühl gelang es binnen weniger Jahre, den Deutschen Vereins-Hundekuchen zu einer reichsweit präsenten Marke zu machen, ihn gar über die Grenzen des Reiches hinaus zu vermarkten. Das galt nicht zuletzt im Vergleich zu den deutschen Wettbewerbern: Caesar & Minka blieben auf die Nische der Hundezüchter beschränkt, die Gebrüder Herbst und Krietsch dürften trotz reichsweiter Werbung vornehmlich Regionalanbieter in Mittel- und Ostdeutschland geblieben sein. Einzig die 1883 von Julius Kayser in Tempelhof gegründete Berliner Hundekuchen-Fabrik konnte mittels zahlloser kleiner Anzeigen in Zeitungen und vor allem Zeitschriften eine ähnliche Präsenz erreichen wie die Hannoveraner Fabrik. Deren Vertriebsnetz gründete auf vier verschiedenen Säulen.

Erstens nutzte Kühl mit dem etablierten Großhandel die damals gängigste Form des Güterabsatzes. Leistungsfähige Handelsfirmen wurden vertraglich an die Hundekuchenfabrik gebunden, bezogen deren Produkte direkt aus Hannover, verkauften sie dann an Händler und auch Einzelkunden. Hundekuchen wurden zwar auch in kleineren Mengen an einzelne Hundehalter verkauft, jedoch blieb der Absatz von größeren Abnehmern geprägt: Hundezüchter, Pikeure, Heeres- und Polizeivertreter kauften das mehrere Monate haltbare Produkt nicht nur in den gängigen Zentnersäcken, sondern vielfach in weit größeren Mengen. Neben Hannover besaß die Deutsche Hundekuchen-Fabrik Mitte der 1880er Jahre einschlägige Depots in Berlin, Frankfurt a.M., Hamburg, Köln, Leipzig (Duisburger Tageblatt 1886, Nr. 195 v. 24. August, 3). Kühl vergab zudem Verkaufsrechte an dezentrale Niederlagen, die meist in Groß- und Mittelstädten residierten. Dabei handelte es sich häufig um kombinierte Groß- und Einzelhandelsgeschäfte, meist aus dem Futtermittelsektor. Sie erhielten ihre Ware mit dem üblichen Händlerrabatt von den Depots. Festzuhalten ist, dass Hundekuchen preisgebundene Artikel waren. Dies bedeutete gesicherte Margen, gab aber auch Spielraum für Mengenrabatte.

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Annoncierung des Alleinverkaufs der Bielefelder Niederlage (Bielefelder Tageblatt 1882, Nr. 303 v. 28. Dezember, 4)

Präsenz vor Ort war nicht zuletzt für die wachsende Zahl der Halter von „Luxushunden“ wichtig, denn Haustiere oder studentische Renommierhunde erforderten nur kleine Mengen, zumal Hundekuchen in diesem Falle eher Beifutter waren. Solche Kundennähe wurde eigens beworben: „Obige deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl in Hannover hat schon in größeren Städten Niederlagen errichtet, ebenso in Halle beim Kaufmann Herrn Julius Kegel“ (Saale-Zeitung 1880, Nr. 209 v. 7. September, 10). Gleichwohl hatte der Vertrieb über die ständische Kette Produzent-Großhändler-Einzelhändler einen gravierenden Nachteil. Großhändler vertraten meist Hundekuchen verschiedener Firmen. Einer produktspezifischen Werbung allein für die Deutschen Vereins-Hundekuchen und daran anschließende Markenbindung wurden so erschwert. Da Hundekuchen trotz der frühzeitigen Markenbildung grundsätzlich ein homogenes, einfach zu substituierendes Produkt waren, kam es zudem zu relativ häufigen Wechseln bei Großhändlern und Niederlagen (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1884, Nr. 131 v. 10. Mai, 6).

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Produktdominanz, keine Exklusivvertretungen (Kölnische Zeitung 1883, Nr. 144 v. 26. Mai, 4)

Zweitens nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik von Beginn an auch lokale Fachgeschäfte. Hundekuchen waren ein neuartiges Produkt, das noch nicht eindeutig von bestimmten Fachgeschäften bezogen wurde – wie etwa Fleisch vom Metzger oder Charcutier. Hundekuchen war sowohl in Tier- und Futterhandlungen, in zoologischen und Mehlhandlungen als auch in Drogerien und Gemischtwarenhandlungen zu kaufen. Die Unsicherheit über das Sortiment bewirkte eine überdurchschnittliche Werbeaktivität durch Einzelhändler vor Ort – wobei dann die Marke im Mittelpunkt stand.

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Absatz per Drogerie in Leipzig (Leipziger Tageblatt 1880, Nr. 234 v. 27. Juli, 4452)

Ladengeschäfte dieser Art verankerten Hundekuchen lokal, popularisierten insbesondere deren Kauf in Städten. Im Gegensatz zum institutionellen Großabsatz war der Vertriebsaufwand jedoch höher, zumal die Verpackungsfrage anfangs kaum gelöst war. Die Ladeninhaber kauften gemeinhin Zentnersäcke und verkauften die Hundekuchen dann lose nach Gewicht, staffelten den Preis dabei nach der Verkaufsmenge. Dadurch wurden Hundekuchen für den städtischen Einzelkonsumenten nochmals teurer; und es verwundert daher kaum, dass in den Haushalten traditionelles, im Haus gekochtes Hundefutter bis weit ins 20. Jahrhundert dominierte. Die kleinteilige Struktur des Ladenabsatzes unterstützte daher grundsätzlich regionale Anbieter – die typisch waren für die deutschen Konsumgütermärkte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie konnten, auch über Vertreter, in engerem Kontakt zu den vielgestaltigen Händlern stehen.

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Händlerwerbung in Stuttgart und Heidelberg (Neues Tagblatt 1883, Nr. 144 v. 24. Juni, 5 (l.); Heidelberger Anzeiger 1883, Nr. 228 v. 29. September, 2)

Drittens bildeten Hundevereine und Hundeausstellungen einen wichtigen Bestandteil des Vertriebs für Hundekuchen und die Entwicklung der Märkte für Hundeartikel, inklusive Tiermedizin. Ähnlich wie das Wachstum der Konfektionswarenbranche durch den Vergleich der Kleidung bei geselligen Ereignissen, in der Oper oder auf Bällen institutionell gefördert wurde, etablierte die noch sportliche Wettbewerbssituation der Hundeausstellungen eine neuartige Ästhetisierung, wie man sie von Tier- oder Landwirtschaftsausstellungen so nicht kannte: „Die Ausstellung soll nämlich zunächst dem Kenner und Interessenten nach dieser oder jener Richtung hin zeigen, was durch rationelle Zucht und Pflege erreicht werden kann, bezw. erreicht worden ist; […]. Die zweite Aufgabe, der für den Augenblick noch eine erhöhte Bedeutung beigelegt werden muß, besteht darin, den Sinn des Publicums für schöne Gestalten , edle Formen und intelligente Köpfe zu stärken, seinen Geist mit Bildern und zu erstrebenden Zielen zu füllen und es so indirect zu einem treibenden Momente auf der Bahn des Fortschritts und der Vervollkommnung machen“ (Berliner Börsen-Zeitung 1880, Nr. 255 v. 24. Mai, 2). Hundekuchen waren ein wichtiges Formmittel, galt doch, dass der Hund ist, was er frisst.

Hundeausstellungen waren und blieben die Domäne von Spratt’s. Doch auch die Deutsche Hundekuchen-Fabrik wurde aktiv. Blicken wir etwa ins niederrheinische Kleve: Auch „auf die rationelle Ernährung des Hundes ist man bedacht und in der Dianahalle finden wir Fleischfuttermehl, vorzugsweise aber Hundekuchen, sowohl englisches wie deutsches Fabrikat. Kühl-Hannover hat ein Postament aus Hundekuchen, einem festen braunen Gebäck in kleinen Täfelchen zum Preise von M. 37 pro 100 Kg., errichtet und einen ausgestopften Hund darauf gestellt“ (Die Clever Jagd-Ausstellung, Rhein- und Ruhrzeitung 1881, Nr. 229 v. 1. Oktober, 1-2, hier 1). Entsprechende Präsenz gab es natürlich insbesondere im lokalen Markt, denn in Hannover fand 1882 eine zweite Ausstellung des Hannoverschen Vereins statt (Hannoverscher Courier 1883, Nr. 11945 v. 9. Januar, 3). Sie ermöglichte Kühl den direkten Kontakt mit Großkunden, die entweder direkte Lieferverträge abschlossen oder aber später in den Depots oder Niederlagen orderten.

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Verweis auf das Versandgeschäft (Westfälisches Volksblatt 1883, Nr. 266 v. 3. Oktober, 4)

Viertens schließlich entwickelte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik – wie fast alle ihre Konkurrenten – ein umfangreiches, auf Markenartikelwerbung gründendes Versandgeschäft. Der Versandhandel war Folge umfassender Postreformen Anfang der 1870er Jahre (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft, München 1999, 296-298). Insbesondere die seit 1875 breit eingeführte Nachnahme ermöglichte neue reichsweite Absatzchancen für standardisierte Konsumgüter. Eine Postkarte genügte, dann wurde der Hundekuchen sowohl in größeren Mengen als auch in der von Beginn an offerierten 5-Kilogramm-Probepackung versandt. Die Post lieferte derartige Kleinpakete für 50 Pfg. Porto in alle Orte des Deutschen Reiches.

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Probepackung per Nachnahme – für nur zwei Mark (Kölnische Zeitung 1880, Nr. 181 v. 1. Juli, 8)

Die hohe Bedeutung des Versandgeschäftes hatte für die Produzenten aber auch Nachteile. Es gab grundsätzlich keine gesicherten lokalen Märkte mehr, denn mittels Werbung konnten auch andere Hundefutteranbieter ihre Produkte anbieten. In Hannover betraf das etwa Liebigs Fleischfuttermehl, das ab spätestens 1881 von den Gebrüdern Herbst in Magdeburg angeboten wurde, ab 1883 auch von Paul Rosendorf aus Stolzenau a.d. Weser (Hannoverscher Courier 1883, Nr. 12412 v. 13. Oktober, 8). Der Kunde war umkämpft, erforderte stete Anstrengungen.

Vertrieb Deutscher Vereins-Hundekuchen im Ausland

Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik konzentrierte ihre Absatzbemühungen vorrangig auf das Deutsche Reich. Gleichwohl exportierte sie ihre Produkte zumindest auch in die Schweiz und in das cisleithanische Österreich. Das Vertriebsnetz wurde ab spätestens 1882 durch Depots in Wien und später in Zürich ergänzt. Dies war auch Folge der beiden am 23. Mai 1881 abgeschlossenen Handelsverträge zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn einerseits, der Schweiz anderseits. Ersterer beseitigte fast alle Einfuhr-, Ausfuhr- oder Durchfuhrverbote. Mit der Schweiz wurde ein Meistbegünstigungsvertrag abgeschlossen, so dass (mit etwas mehr Restriktionen) der Export von deutschen Hundekuchen aus Hannover zollfrei erfolgen konnte. Fracht- und Nachnahmegebühren lagen aber höher.

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Versandgeschäft nach Österreich-Ungarn (Zeitschrift des Vereins für Hundezucht und Dressur im Königreiche Böhmen 2, 1882, 16)

Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik konzentrierte sich anfangs vor allem auf Werbung in der sich in der K.u.K.-Monarchie damals rasch entwickelnden Fachpresse. Vertrauenswerbung dominierte, entsprechend wichtig waren Verweise auf das Kontrollregimes des „Vereins zur Veredelung der Hunderacen für Deutschland“. Kühl zielte damit auf den Absatz größerer Mengen, denn grenzüberschreitender Versandhandel von kleineren Probepakten war deutlich teurer. Neben dem üblichen Zentner-Sack bot er gegen moderaten Rabatt auch eine halbe resp. ganze Tonne Hundekuchen an (Oesterreichische Forst-Zeitung 1, 1883, 14).

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Niederlage in Wien (Das Vaterland 1884, Nr. 315 v. 15. November, 12 (l.); Oesterreichische Forst-Zeitung 2, 1884, 298)

Das änderte sich 1884 mit der Vertriebsübernahme durch eine Hauptniederlage in Wien. Nun konnte man die Deutschen Hundekuchen auch per Kilo kaufen, auch 5-Kilo-Pakete wurden angeboten (Neue Freie Presse 1885, Nr. 7538 v. 24. August, 8). Angesichts der dort elaborierteren Werbung nutzte der Wiener Repräsentant vielfach visuelle Elemente, meist Hundebilder (Allgemeine Sport-Zeitung 5, 1884, 968). Die Anzeigen erläuterten das Produkt nicht, denn auch in Österreich hatte Spratt’s das Produkt schon früher eingeführt (Spratt’s Patent Fleischfaserkuchen, Illustrirte Sport-Zeitung 2, 1879, 182-183; F. Konhäuser, Futterkuchen für Hunde, Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 30, 1880, 81).

Auch in Österreich-Ungarn nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik Hundeausstellungen zur Markterschließung. Im böhmischen Badeort Teplitz-Schönau übernahm sie die werbeträchtige Fütterung der Tiere (Teplitz-Schönauer Anzeiger 1884, Nr. 65 v. 23. August, 3). Johannes Kühl präsentierte jedoch nicht allein seinen mit dem 1. Preis ausgezeichneten Hundekuchen, sondern auch seinen eigenen Bernhardiner (Die internationale Hunde-Ausstellung zu Teplitz in Böhmen, Allgemeine Sport-Zeitung 1884, 808-809, hier 809). Auch in Wien wurden die Deutschen Hundekuchen 1884 und 1885 prämiert. Gleichwohl endeten die Exportbemühungen im cisleithanischen Österreich kurz danach. Das lag wahrscheinlich an der dort insgesamt größeren Zurückhaltung gegenüber dem neuen Kompaktfutter. Österreichische Markenanbieter gab es kaum, die 1888 aus dem Zuchtgeschäft entstandene „Erste Oesterreichische Hundekuchen- und Geflügelfutter-Fabrik“ von Wilhelm Nitsche im östlich von Aussig gelegenen Großpriesen blieb von geringer Bedeutung. Erst die seit 1893 in enger Abstimmung mit Spratt’s in Wien produzierten „Patent-Fleischfaser-Hundekuchen“ der neu gegründeten Firma Fattinger etablierten einen starken österreichischen Markenartikel.

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Marktpräsenz auch in der Schweiz (Züricherische Freitagszeitung 1883, Nr. 27 v. 6. Juli, 4)

Noch geringere Bedeutung hatte der zeitweilige Vertrieb der Deutschen Hundekuchen in der Schweiz. Die Hundeausstellung in Zürich 1882 stand am Beginn intensivierter Exportbemühungen. 1883 etablierte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik dort ein Generaldepot, das in der deutschsprachigen Schweiz die Werbetrommel rührte (Der Bund 1883, Nr. 180 v. 2. Juli, 4).

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Etablierung von lokalen Niederlagen in der Schweiz (Die Ostschweiz 1884, Nr. 56 v. 7. März, 3)

Obwohl es dem Kühlschen Repräsentanten gelang, weitere Niederlagen einzurichten, endeten die Werbebemühungen wahrscheinlich Ende 1884 (Zürcherische Freitagszeitung 1884, Nr. 8 v. 22. Februar, 4). Der in der Schweiz enge Markt für Hundefutter konnte neben Spratt’s kaum weitere Anbieter nähren. Einheimische Marken, wie etwa die Ende der 1880er Jahre zeitweilig aufkommenden „Basler Hundekuchen“, blieben ohne größere Bedeutung.

Werbung für Deutsche Vereins-Hundekuchen

Der Deutsche Vereins-Hundekuchen wurde in den 1880er Jahren überraschend breit und mit einer überdurchschnittlichen Variationsbreite von Reklamemotiven beworben. Von einer einheitlichen Werbestrategie kann allerdings nicht die Rede sein, denn Werbeabteilungen etablierten sich in deutschen Unternehmen erst in den 1890er Jahren. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik warb bis 1886 vorrangig mit einfachen Textanzeigen, die das Produkt, die Firma, den Preis und lobende Worte über den Deutschen Vereins-Hundekuchen enthielten. Auch Verweise auf den Hannoveraner Hundezuchtverein finden sich regelmäßig in den Anzeigen. Im Mittelpunkt stand das Produkt – und beworben wurden allein Hundekuchen.

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Zugelieferter Werbetext für einen Einzelhändler (Gummersbacher Zeitung 1880, Nr. 108 v. 14. September, 4)

Johannes Kühl warb vorrangig unter eigenem Namen und auf eigene Rechnung: Derartige Markenartikelwerbung diente dem Einkauf per Versand. Seine Werbetexte wurden jedoch auch von vielen Großhändlern genutzt, die einzig ihren Namen ergänzten, um Hundekuchen so direkt zu verkaufen. Überraschenderweise nutzte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik das anfangs offensiv präsentierte Bild des perforierten und gestempelten Produktes nur noch selten – die Nähe zur Werbung von Spratt’s war wohl zu groß. Als Klischee, als Werbevorlage für Großhändler, wurde es jedoch weiterhin verwandt.

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Bildliche Werbung für ein etabliertes und zollgeschütztes Produkt (Hamburger Fremdenblatt 1884, Nr. 270 v. 16. November, 16)

Redaktionelle Werbung findet sich nur selten. Die abseits des eigentlichen Reklameteils erscheinenden „Zusendungen“ priesen über Gebühr, starteten beim Wohl der Tieren, endeten bei kaum haltbaren Werbestanzen für die Hundekuchen: „Man hat dieses reinliche Futter stets zur Hand; es kann trocken, aufgeweicht und gekocht, in Verbindung mit Küchenabfällen und Ueberresten gefüttert werden. Alle Hunde fressen diese Kuchen mit Vorliebe und – was die Hauptsache ist – eine große Anzahl von Krankheiten wird mit dieser Fütterung entschieden vermieden. Die Engländer haben schon längst von diesem Fortschritt profitirt, aber die englischen Kuchen sind noch sehr theuer. Da ist unlängst auf Veranlassung des deutschen Hundevereins in Hannover eine deutsche Hundekuchen-Fabrik entstanden, in welcher die Fabrikation unter steter Kontrole vor sich geht“ (Saale-Zeitung 1880, Nr. 209 v. 7. September, 10). Wichtig bei derartigen Texten war die behauptete Erfahrung im Umgang mit Hunden: „Was mir an den Deutschen Vereins-Hundekuchen, gegenüber den bisher gefütterten Fabrikaten gefällt, das ist der Umstand, daß sie sich leicht mit der Hand zerbröckeln lassen, während man bei den sonstigen Fabrikaten das Messer und den Hammer tüchtig gebrauchen muß, um sie klein zu kriegen […], und diese Arbeit kann Einem die Fütterung des Hundes mit Kuchen sehr verleiden – und dann scheint mir, daß in den Kühl’schen Deutschen Vereins-Hundekuchen der Stickstoff, d.h. der wesentliche Bestandtheil aller thierischen Nahrung, in einem größeren Procentsatz enthalten sei, wie in den sonstigen Kuchen“ (Hermann Haché, Etwas über den Deutschen Vereins-Hundekuchen, Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 166). Mochte der Lobessermon derartiger Werbetexte auch frappieren, so knüpfte er doch immer auch ein Band zur praktischen Verwendung der Hundekuchen, hob deren Bequemlichkeit hervor, sprach von freudig fressenden Tieren, nutzte dabei auch vermeintlich wissenschaftliche Ergebnisse, lobte Bekömmlichkeit und Billigkeit der Deutschen Vereins-Hundekuchen (Hamburger Nachrichten 1884, Nr. 257 v. 28. Oktober, 11).

Anders als spätere Werbung dieser Art informierte die Deutsche Hundekuchen-Fabrik allerdings nicht über die Zusammensetzung ihres Produktes, gewährte keinen näheren Einblick in die Produktion. Arbeitsunfälle, wie die vollständige Zermahlung der rechten Hand eines Arbeiters bei der Bestückung einer Teigwalze, blieben außen vor (Hannoverscher Courier 1885, Nr. 13582 v. 17. September, 2). Kühl nutzte auch den Umzug des Unternehmens von der Glocksee- in die Füsilierstraße 1884 nicht für Werbezwecke. Werbemittel gab es kaum, nur ein Futternapf ließe sich aufführen (Deutscher Reichsanzeiger 1886, Nr. 106 v. 5. Mai, 12). Neben den Anzeigen gab es Preiskurante und Werbezettel.

27_Leipziger Tageblatt_1886_09_12_Nr255_p5131_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover

Werbung mit Erfolg auf Hundeausstellungen (Leipziger Tageblatt 1886, Nr. 255 v. 12. September, 5131)

Widerhall fanden allerdings die Ehrungen auf den insgesamt nicht allzu zahlreichen von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik besuchten Hundeausstellungen (Heidelberger Anzeiger 1886, Nr. 142 v. 20. Juni, 2). Diese suggerierten eine hohe Qualität und eine gewisse Weltläufigkeit. Die gewonnen Medaillen zierten zwar Werbeblätter, blieben aber schon zahlenmäßig weit hinter denen vieler Wettbewerber zurück.

28_Neueste Nachrichten und Muenchner Anzeiger_1887_02_12_Nr043_p06_Hundefutter_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_Kuehl_Hannover

Deutsches Produkt, präsent auch im Ausland (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1887, Nr. 43 v. 12. Februar, 6)

Erst 1887 wandelte sich die Werbung. Sie wurde einerseits vielgestaltiger, integrierte zugleich wieder Bildelemente. Vorangegangen war seit 1885 eine deutlich höhere Taktung der Anzeigenfrequenz. Dies dürfte eine Antwort auf die Gründung von Spratt’s Patent (Germany) Limited in Berlin gewesen sein, mit der die Zollbelastungen des importierten englischen Hundekuchens beseitigt wurden.

29_General-Anzeiger Mannheim_1887_12_23_Nr303_Bl2_3_Westend-Zeitung_2_1887_Nr148_4_Augsburger Abendztg_1887_11_05_Nr305_p11_Hundekuchen_J-Kuehl

Irreführende Präsentation als größte und älteste Fabrik Deutschlands (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1887, Nr. 303 v. 23. Dezember, Bl. 2, 3 (l.o.); Westend-Zeitung 2, 1887, Nr. 148, 4 (l.u.); Augsburger Abendzeitung 1887, Nr. 305 v. 5. November, 11)

Die Werbung spiegelte seither den wachsenden Wettbewerbsdruck. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik setzte auf Superlative, faktisch auf die Irreführung des Publikums. Entgegen der eigenen Aussagen war sie weder die älteste noch die größte Fabrik Deutschlands; auch wenn präzise Daten zur Größe der damaligen Unternehmen fehlen. Auch die Aussage, dass der Deutsche Vereins-Hundekuchen „fast auf allen Ausstellungen mit ersten Preisen prämirt“ (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 192) und verfüttert worden sei, ist sachlich falsch.

30_Neue Jagd-Zeitung_01_1888_p132_Hundekuchen_Deutscher-Veriens-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Produktionsstaetten

Erweitertes Sortiment und (idealisierte) Betriebsstätte (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132)

Parallel veränderte sich 1888 das Angebot: Neben den bisher allein angebotenen Hundekuchen traten nun Hundekuchen für Puppies, also Welpen, fand sich billiger Hafermehlkuchen sowie mit Lebertran fortifizierter Hundekuchen für schwächliche und kranke Tiere. Zudem lieferte Kühl Geflügelfutter, Präriefleisch für Fasane, Fleischfaser-Fasanenfutter, Präriefleisch für Fische, Fleischfaser-Fischfutter sowie Taubenfutter (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 132). Was aussieht wie eine massive Investition in das eigene Angebot spiegelt jedoch den wirtschaftlichen Niedergang der Hannoverschen Hundekuchenfabrik. Es scheint, dass sie seit 1888 nicht mehr selbstbestimmt produzierte, sondern schon vor dem Verkauf zu einem Lohnproduzenten der Spratt’s Patent (Germany) Ltd. abgesunken war.

31_Fliegende Blätter_088_1888_Nr2225_Beibl3_p3_Tierfutter_Hundefutter_Spratt_Carl-Bischoff_Gefluegelfutter_Knochenmehl

Das so ähnliche Sortiment der überlegenen englischen Konkurrenz (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2225, Beibl. 3, 3)

Zergen mit dem Marktführer Spratt’s Patent (Germany) Ltd.

Der relative Niedergang mag überraschend erscheinen, hatte sich spätestens 1887 jedoch deutlich abgezeichnet. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik war 1880 als Gegenentwurf zur Londoner Spratt‘s & Co. gegründet worden. Bis 1886 wurde die damit verbundene wirtschaftliche Rivalität einigermaßen fair ausgetragen – sieht man einmal von verfehlten „wissenschaftlichen“ Vergleichen ab. Im Großhandel wurden beide Hundekuchen teils parallel nebeneinander angeboten.

32_Koelnische Zeitung_1884_11_30_Nr333_p8_Bielefelder Zeitung_1886_09_02_Nr204_p4_Hundekuchen_Spratt_J-Kuehl

Gedeihlicher Absatz (Kölnische Zeitung 1884, Nr. 333 v. 30. November, 8 (l.); Bielefelder Zeitung 1886, Nr. 204 v. 2. September, 4)

Ab 1887 begann Johannes Kühl jedoch mit Täuschungsvorwürfen; auch weil er sich von Spratt’s seinerseits angegriffen fühlte, als diese in Annoncen vor „werthlosen Nachahmungen“ warnte. Auf Werbezetteln stichelte er gegen den Weltmarktführer: „Prämiirt wurde der Deutsche Vereins-Hundekuchen […] nicht etwa für Gratis-Fütterung auf Hunde- und Geflügel-Ausstellungen, womit sich eine englische Firma die grösste Zahl der goldenen Medaillen erwirbt, resp. erkauft, sondern für die Qualität der Waare.“ Neuerlich bemühte er die Kontrollkommission des Hannoverschen Hundezuchtvereins als Garantie, „dass demselben vor sämmtlichen Concurrenzprodukten der Vorzug zu geben ist“ (Werbefaltblatt Deutsche Hundekuchen-Fabrik 1887, Wikipedia.de). Damit legte er gewiss die Finger in die Wunde eines sich stetig schulterklopfenden und begünstigenden Oberschichtenmilieus, doch vergaß er dabei, dass er seine eigene wirtschaftliche Existenz just diesem Milieu verdankte. Spratt’s verwies damals auf „90 höchste Auszeichnungen“ (Kölnische Zeitung 1887, Nr. 29 v. 29. Januar, 4), die trotz berechtigter Skepsis gegenüber dem kommerzialisierten „Medaillenschwindel“ ein Beleg für eine gewisse Solidität dieser Hundekuchen war.

33_Hannoverscher Courier_1887_04_10_Nr14532_p06_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Patent

Attacke auf Spratt’s: Täuschungsvorwurf gegen den Marktführer (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14532 v. 10. April, 6)

Während Spratt’s schwieg, legte Johannes Kühl nach. In einer wiederholt geschalteten Anzeige verwies er nicht nur auf die Verfütterung des Deutschen Vereins-Hundekuchen auf der vom „Verein der Veredelung für die Veredlung der Hunderassen für Deutschland“ in Hannover 1887 organisierten Hundeausstellung. Er gab ferner öffentlich zu Protokoll: „Da es in Deutschland kein Patent für Hundekuchen giebt, so ist jedes Fabrikat, wenn ‚Patent‘ gezeichnet, eine Täuschung des Publikums.“ (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14547 v. 20. April, 4)

34_Hannoverscher Courier_1887_04_29_Nr14562_p08_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_J-Kuehl_Hannover_Spratt_Patent

Aggressives Einlenken mit nationalistischen Untertönen (Hannoverscher Courier 1887, Nr. 14562 v. 29. April, 8)

Dieses Mal reagierte Spratt’s Patent (Germany) Ltd.: Erwin Stahlecker, der Generalbevollmächtige der Firma, hob in einem an Kühl gerichteten Schreiben hervor, dass ein Eigenname keine Täuschung sein könne. Kühl solle in Zukunft solche Aussagen unterlassen, andernfalls werde man den eigenen Einfluss und das Firmenkapital nutzen, um dieser Bitte Nachdruck zu verleihen. Und süffisant legte er nach: „Ueberhaupt muss es mit demjenigen Fabrikanten wohl nicht allzu gut stehen, der durch derartige, von Jedermann für lächerlich gehaltene Annoncen nach Luft zu schnappen scheint.“ Zudem würden Spratt’s Hundekuchen selbst von den Vorstandsmitgliedern des Hannoverschen Hundezuchtvereins häufiger verfüttert als der Deutsche Vereins-Hundekuchen. Kühl veröffentlichte dieses Schreiben, versah es mit gekränkten Anmerkungen, verbat sich jede Kritik und verwies nochmals stolz auf den guten Ruf seines „Deutschen“ Erzeugnisses. Auch 1888 enthielten seine Anzeigen teils den Hinweis: „Jedes Zeichen ‚Patent‘ ist eine Täuschung“ (Neue Jagd-Zeitung 1, 1888, 192). Zu diesem Zeitpunkt hatte Spratt’s jedoch in Hannover bereit die faktische Kontrolle übernommen, im Mai 1889 wurde dies auch öffentlich exekutiert.

Eine genaue Bewertung dieses Zergens zwischen der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und Spratt’s Patent (Germany) Ltd. ist angesichts der höchst lückenhaften Quellenlage kaum möglich. Kühl ließ Souveränität vermissen, fühlte sich durch wirtschaftlichen Wettbewerb in seiner Ehre bedroht und reagierte ähnlich wie zehntausende Mitglieder der damals massiv an Bedeutung gewinnenden Mittelstandsbewegung, etwa des von Hermann Schulze-Gifhorn geleiteten „Centralverbands deutscher Kaufleute und Gewerbetreibender“. Diese Mannen attackierten die kapitalistische Konkurrenz neuer Betriebsformen des Handels wie Konsumgenossenschaften, Filialbetriebe und Warenhäuser, forderten staatlichen Schutz durch Steuern und Verbote. Hetze und Verleumdung, Fehlinformationen und kruder Antisemitismus schienen ihnen berechtigt, um den Mittelstand gegen das Großkapital zu stützen, um die Grundfesten der Monarchie und des Deutschtums zu bewahren. Kühl war einer von vielen, die sich als Modernisierungsverlierer verstanden, obwohl sie in den folgenden Wachstumsphasen zu den Gewinnern gehören sollten.

Nachzutragen gilt jedoch, dass Kühls Patent-Rückfragen in veränderter Form auch vor Gericht ausgefochten wurden. Spratt’s hatte in Anzeigen seine Hundekuchen nämlich als „patentirte“ Produkte bezeichnet. Das mochte für Großbritannien zutreffen: James Spratt erhielt im November 1861 ein Patent für sein „Meat Fibrine Dog Cakes“, weitere Patente datierten von 1868 und 1881 (Maurice Baren, How Household Names Began, London 1997, 119; Spratt’s Dog Biscuits, The Chemist and Druggist 28, 1886, 299). Doch im Deutschen Reich galten diese nicht. Spratt’s wurde in einem über drei Instanzen geführten Prozess 1888 zu einer Geldstrafe wegen Vergehens gegen das deutsche Patentgesetz verurteilt und unterließ weitere Aussagen dieser Art (Berliner Tageblatt 1888, Nr. 282 v. 6. Juni, 5).

Die Übernahme und Fortführung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik durch Spratt’s

Am 27. Mai 1889 wurde die Deutsche Hundekuchen-Fabrik von J. Kühl im Hannoveraner Handelsregister gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1889, Nr. 129 v. 1. Juni, 13). Sechs Tage zuvor war die „Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker“ eingetragen worden. Sie übernahm die Fabrik in Hannover, der Firmensitz aber lag nun in Berlin, im 1885 umgestalteten Alten Viehhof, am Stammsitz der Spratt’s Patent (Limited) Germany in der Usedomstraße 28 (Ebd. 1889, Nr. 123 v. 24. Mai, 11; Adreßbuch Berlin 1891, T. II, 504). Die vertraglichen Kautelen sind unklar, die in der Literatur genannte Kaufsumme von 100.000 Goldmark hochgradig unwahrscheinlich (Dannowski, 2002, 173). Trotz der veränderten Besitzverhältnisse gingen Produktion und Absatz der Deutschen Vereins-Hundekuchen in der Zweigniederlassung Hannover aber weiter.

35_Lippisches Volksblatt_1889_10_03_Nr118_p4_Echo der Gegenwart_1891_04_05_Nr081_p7_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Markenkontinuität ohne Hersteller (Lippisches Volksblatt 1889, Nr. 118 v. 3. Oktober, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1891, Nr. 81 v. 5. April, 7)

Im lokalen Adreßbuch wurde 1890 in der Füsilierstraße 30 die Spratt‘s Patent Limited AG, London, der Kaufmann Stahlecker sowie – im Hinterhof – die Großhändler Wisser & Co. verzeichnet (Adreßbuch Hannover 1890, T. I, 160). Obwohl die Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker mit ihrem Inhaber im damaligen Geschäftsanzeiger vermerkt war, lebte der Inhaber weiterhin in Berlin. Vor Ort wohnte allerdings Wilhelm Stahlecker, Erwins Bruder (Adreßbuch Hannover 1890, T. I, 419, 689). Das blieb auch 1891 und 1892 so (Adreßbuch Hannover 1891, T. 1, 166, 441, 723; ebd. 1892, T. I, 175, 757), obwohl die Hannoveraner Firma 1892 bereits unter dem Namen von Robert Baelz firmierte.

Neuer Besitzer der Hannoverschen Fabrik war aber der schon mehrfach erwähnte Erwin Stahlecker. Er wurde am 6. September 1863 als Sohn des Mühlenbesitzers Wilhelm und Maria Stahlecker im württembergischen Bietigheim geboren und am 11. Oktober evangelisch getauft (Lutherische Kirchenbücher 1500-1985, Württemberg, Dekanat Besigheim, Pfarrei Bietigheim, Taufen 1823-1875, 1863, Bl. 14, Nr. 73). Wichtiger als die persönliche Herkunft war jedoch das familiäre Umfeld. Sein Onkel Wilhelm Heinrich Stahlecker (1837-1873) hatte 1862 die ebenfalls in Bietigheim geborene Marie Caroline Friedericke Baelz (1845-1886) geheiratet. Einer ihrer Brüder war Robert Baelz (1854-1912), der seit den späten 1870er Jahren zuerst Spratt’s Produkte in Kontinentaleuropa vertrieb und 1887 zum Direktor von Spratt’s Patent Ltd. in London ernannt wurde. Es ist anzunehmen, dass er ein wichtiger Fürsprecher seines Verwandten war, der am 15. Juni 1887 zum Generalbevollmächtigten von Spratt‘s Patent (Germany) Limited ernannt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1887, Nr. 138 v. v. 16. Juni, 9).

36_Westfaelisches Volksblatt_1890_04_12_Nr099_p8_Tierartikel_Pferdestriegel_Spratt_Erwin-Stahlecker

Innovation vor dem Ausscheiden (Westfälisches Volksblatt 1890, Nr. 99 v. 12. April, 8)

Stahlecker war innerhalb Spratt’s nicht nur Manager. 1891 erhielt er ein Patent für einen seit 1890 von Spratt’s vermarkteten Patent-Pferde-Striegel (Leipziger Tageblatt 1890, Nr. 293 v. 20. Oktober, 6757; Patentblatt 16, 1892, 220), verkörperte also den Übergang vom Futtermittel- zum Tierproduktehersteller. Stahlecker erhielt Patente in den USA, in Großbritannien und weiteren Staaten, in denen das neue Gerät seit 1890 erfolgreich vermarktet wurde (Official Gazette of the United States Patent Office 66, 1891, 78; Saddlery and Harness 1, 1891/92, 24).

Für die Deutsche Hundekuchen-Fabrik war Stahlecker nur eine Übergangsfigur. Er übertrug sie am 26. November an Robert Baelz (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 281 v. 28. November, 11). Formal erlosch die Deutsche Hundekuchenfabrik Erwin Stahlecker am 1. Dezember 1891, die dann von der Deutschen Hundekuchen-Fabrik Robert Baelz fortgesetzt wurde (Ebd., Nr. 287 v. 5. Dezember, 10; Hannoverscher Courier 1891, Nr. 17374 v. 5. Dezember, 6). Stahleckers Prokura wurde am 16. Januar 1892 gelöscht (Berliner Tageblatt 1892, Nr. 282 v. 20. Januar, 5).

Stahlecker arbeitete nach dem Ausscheiden bei der Deutschen Hundekuchen-Fabrik und Spratt’s zuerst als Redakteur der Jagdzeitung „St. Hubertus“ (Der Sammler 63, 1894, Nr. 74, 8), ab 1894 als Redakteur und später, bis 1937, als Chefredakteur der heute noch erscheinenden Zeitschrift „Wild und Hund“ (Heiko Hornung, Die Chefredakteursbüchse, Wild und Hund 120, 2014, H. 20, 130-135, hier 132). Nach seinem Ausscheiden organisierte er mehrere von Spratt’s unterstützte Hundeausstellungen (Hannoverscher Courier 1893, Nr. 18411 v. 17. August, 6; Berliner Börsen-Zeitung 1896, Nr. 397 v. 28. August, 4). Ähnlich wie Johannes Kühl etablierte sich auch Stahlecker in der Großindustrie. Der “Redacteur Erwin Stahlecker“ gehörte 1898 zu den Gründern der in Berlin ansässigen R. Stock’schen Kabelwerke AG (Berliner Börsen-Zeitung 1898, Nr. 600 v. 23. Dezember, 30). Er heiratete am 27. März 1902 in Berlin schließlich die 32-jährige Werkmeistertochter Anna Pauline Friederike Leese (Landesarchiv Berlin, Heiratsregister 1874-1936, Berlin V A, 1902, Nr. 202).

37_Neue Augsburger Zeitung_1889_06_16_Nr139_p11_Velberter Zeitung_1890_01_23_Nr010_p3_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen

Kontinuität und Ausweitung des Vertriebsnetzes (Neue Augsburger Zeitung 1889, Nr. 139 v. 16. Juni, 11 (l.); Velberter Zeitung 1890, Nr. 10 v. 23. Januar, 3)

Nach dem Verkauf ging das Geschäft mit Deutschen Vereins-Hundekuchen erst einmal weiter – auch wenn unklar ist, ob entsprechend vermarktete Produkte bereits auch in Berlin hergestellt wurden. Die Deutsche Hundekuchen-Fabrik weitete währenddessen ihr Vertriebsnetz aus. Die Hundeausstellung etwa in Frankfurt a.M. 1891 wurde besucht, ein Preis gewonnen (Allgemeine Sport-Zeitung 12, 1891, 0868). Der Firmenverkauf an Stahleckers Förderer und Verwandten Robert Baelz erfolgte 1891 eher unbemerkt. Das operative Geschäft übernahm Anfang 1892 Arthur Metzdorf, der zuvor schon zum Generalbevollmächtigten von Spratt’s ernannt worden war. Er sollte in den folgenden Jahrzehnten die prägende Kraft in der Firma werden (Deutscher Reichsanzeiger 1892, Nr. 17 v. 20. Januar, 9; ebd., Nr. 34 v. 8. Februar, 14).

Die Abwicklung der Deutschen Hundekuchen-Fabrik in Hannover

Die Übernahme der Deutschen Hundekuchen-Fabrik durch Robert Baelz läutete das Ende des Produktionsstandortes Hannover ein. Die Produktion der Deutschen Vereins-Hundekuchen wurde dort anfangs weitergeführt, 1894/95 jedoch in die neue Spratt’s-Fabrik in Berlin-Rummelsburg verlagert. Parallel harmonisierte man die Absatzwege beider Hundekuchenmarken (Augsburger Abendzeitung 1892, Nr. 64 v. 4. März, 13). Die damalige Werbung spielte zwar weiterhin mit den Kühlschen Vorlagen, doch die Standorthierarchie war eindeutig: „Alle Bestellungen nach Berlin erbeten.“

38_Deutsche Jaeger-Zeitung_22_1893-94_Nr01_Anzeigen_pVI_Hundekuchen_Deutscher-Vereins-Hundekuchen_Hannover_Produktionsstaetten_Berlin

Kontinuität der Kühlschen Werbung unter Sprattschem Vorzeichen (Deutsche Jäger-Zeitung 22, 1893-94, Nr. 1, Anhang, VI)

Der Kauf der Deutschen Vereins-Hundekuchen-Fabrik durch Robert Baelz gibt zugleich Einblicke in die Chancen von Einwanderungsunternehmern im Zeichen der „Pax Britannica“. Baelz wurde am 20. Oktober 1854 in Bietigheim geboren. 1879 heiratete er Maria Finckh (1854-1937), mit der zwei Kinder hatte. 1881 wanderten sie nach Großbritannien aus, wo Robert Baelz 1883 britischer Staatsbürger wurde. Im Rahmen der Ende der 1870er Jahre gegründeten Handelsfirma Hemans & Baelz hatte er den Absatz von Spratt’s-Produkten in Kontinentaleuropa organisiert, ehe er 1887 Direktor in der Londoner Zentrale wurde (Daily News 1887, Nr. 12751 v. 21. Februar, 2). Der Einwanderer stand für die 1884/85 erfolgten Direktinvestitionen in den USA, Russland und dem Deutschen Reich, wo allesamt leistungsfähige Produktionsstätten erreichtet wurden. Respektvoll hieß es: “He was a man of great experience and an English merchant, and possessed a very great tact and ability. He possessed a very great insight into the business” (Spratts Patent, Limited, Railway News 1887, Nr. 1209 v. 5. März, suppl., 415-416, hier 415).

Baelz war Teil einer kosmopolitischen Elite, sein Bruder Erwin (1849-1913) baute Brücken zur japanischen Medizin. Er selbst wurde einer der führenden Repräsentanten der deutschen Kolonie in London, der als „Vater der Schwaben“ (Neues Tagblatt 1908, Nr. 47 v. 26. Februar, 9) zugleich Heimatverbundenheit und Weltoffenheit verkörperte. Auch nach seinem Eintritt bei Spratt’s unterstützte er mit seiner Handelsfirma Robert Baelz & Co. die Exporterfolge der deutschen Industrie in Großbritannien, etwa des Stuttgarter Produzenten von Malzprodukten und Säuglingsernährung Eduard Loeflund (1835-1920). 1893 wurde er Direktor Co-Direktor der britischen Dependance der Stollwerckschen Verkaufsautomaten (Liverpool Journal of Commerce 1893, Nr. 9764 v. 13. Februar, 4; Gabriele Oepen-Domschky, Kölner Wirtschaftsbürger im deutschen Kaiserreich, Köln 2003, 125, 130, 247). Baelz blieb auch in der Ferne eng mit Deutschland verbunden, war langjähriger Vorsitzende des deutschen Liederkranzes in London (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1904, Nr. 299 v. 21. Dezember, 6). Kaum ein Fest der Auslandsdeutschen, auf dem er nicht den doppelten Wilhelm II. (den Kaiser und den König von Württemberg) hochleben ließ, ebenso aber Bismarck, Wilhelm I. und deutsche Künstler und Wissenschaftler. Kaum ein Empfang deutscher Monarchen, Politiker und Unternehmer, bei dem nicht auch Robert Baelz anwesend war. Er wurde 1906 Präsident von Spratt’s Patent Ltd. und starb 1912 in Stuttgart (Morning Leader 1906, Ausg. v. 9. April, 2; Schwäbischer Merkur 1912, Nr. 78 v. 16. Februar, 15). Er hinterließ ein Vermögen von fast 40.000 £, war also vielfacher Multimillionär. Seine Witwe kehrte nach Stuttgart zurück, wo sie stetig für patriotische Zwecke spendete. Dies alles zu wissen hilft die antienglische Spratt’s-Hetze des Hundekuchenherstellers Albert Latz (1855-1923) zu Kriegsbeginn einzuordnen (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1914, Nr. 8755 v. 11. September, 5), bis hin zu Enteignung der britischen Kapitaleigner und die Überführung der Firma in den Scheidemandel-Konzern 1917: Deutsche Treue…

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Übernahme der Produktion der Vereins-Hundekuchen: Die 1894 erbaute Fabrik von Spratt’s Patent (Germany) Ltd. in Berlin-Rummelsburg (Bayerische Forst- und Jagd-Zeitung 2, 1895, Nr. 9, 7)

Das lange Ende des Deutschen Vereins-Hundekuchens

Robert Baelz verlegte im Januar 1895 seine Deutsche Hundekuchenfabrik von Berlin nach dem damals noch eigenständigen Rummelsburg, der deutschen Spratt’s-Zentrale (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 27 v. 30. Januar, 12). Die Firma blieb weiterhin bestehen, das Hannoveraner Adreßbuch verzeichnete in der Füsilierstraße 30 Spratt’s und die Deutsche Hundekuchenfabrik Robert Baelz Seit an Seit (Adreßbuch 1895, T. 1, 196; ebd. 1897, T. I, 212; ebd. 1899, T. I, 223; ebd. 1901, T. I, 231). Es ist unwahrscheinlich, dass vor Ort aber 1895 weiter Hundekuchen hergestellt wurden. Stattdessen dienten die Liegenschaften seither wohl als „Versandlager“ (Ebd. 1904, T. I, 690) sowohl des Deutschen Vereins-Hundekuchens als auch der Sprattschen Produkte. Federführend hierfür war die Großhandlung Wisser & Co. Seit 1905 residierten alle nach der Neuvergabe der Straßennummern am gleichen Standort unter der Adresse Füsilierstraße 16 (Ebd. 1905, T. I, 223).

40_Erzgebirgischer Volksfreund_1904_06_25_Nr145_p3_Hundefutter_Vereins-Hundekuchen

Deutsche Vereins-Hundekuchen wurden weiter produziert und vertrieben, jedoch kaum noch beworben. Allerdings fehlte spätestens ab der Jahrhundertwende das Adjektiv „Deutsch“. Es ist anzunehmen, dass vornehmlich an Vertragskunden geliefert wurde, denn hier galt der Markenname noch etwas. Die Deutsche Hundekuchenfabrik Robert Baelz behielt ihren Namen auch nach dem Tode ihres Eigentümers 1912. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Firma selbst von der 1901 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Spratt’s Patent A.-G. übernommen wurde. 1921 tauchte der „Vereins-Hundekuchen“ jedenfalls als „Spratt’s Ersatz“ nochmals auf, jedoch nur in einer der Not geschuldeten Billigvariante aus Gramineenmehl, Hafermehl, Mastfuttermehl und kohlsaurem Kalk. Auch ein „Vereinsgeflügel- und Kükenfutter (Spratt’s Ersatz)“ wurde vom damals zuständigen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft genehmigt (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 53 v. 4. März, 1). Im November 1921 wurde die Genehmigung wieder aufgehoben, denn die Rohstoffversorgung hatte sich verbessert, so dass nun auch wieder weizenhaltige Hundekuchen produziert werden konnten, deren Herstellung zum 1. Januar 1915 eingestellt werden musste (Ebd. 1921, Nr. 269 v. 17. November, 1).

Es ist wahrscheinlich, dass Vereins-Hundekuchen anschließend nicht mehr produziert wurden. Im Mai 1928 wurde jedenfalls die Löschung der Deutschen Hundekuchenfabrik Robert Baelz aufgrund von Vermögenslosigkeit und Untätigkeit amtlich angekündigt und am 17. Oktober 1928 vollzogen (Ebd. 1928, Nr. 125 v. 31. Mai, 18; ebd., Nr. 251 v. 26. Oktober, 7). Am 8. März 1929 hieß es schließlich auch offiziell: „Die Firma ist erloschen“ (Ebd. 1929, Nr. 62 v. 14. März, 14; Hannoverscher Kurier 1929, Nr. 117 v. 10. März, 28). Am alten Fabrikationsort arbeitete „A. Wisser & Co., Spratts-Hundekuchen u. Geflügelfutter“ weiter (Adreßbuch Hannover 1927/28, 526).

Damit endete diese kleine deutsch-britische Unternehmens- und Beziehungsgeschichte. Die Deutschen Hundekuchenfabriken und der Deutsche Vereins-Hundekuchen zeugen von Wettbewerb, von Rivalität, von nationalistischem Übereifer, von Rache. Am früheren Firmensitz findet man heute keine Überbleibsel, ganz normal. Das Grundstück wurde 1956 neu bebaut. Die Liegenschaften vor Ort gingen wohl bei den verheerenden britischen Luftangriffen im September 1943 in Schutt und Asche auf.

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Keine Überbleibsel – 1956 erbautes Haus in Hannovers Bronsartstraße 30 – wohl ehedem Füsilierstraße 30 resp. 16 (Uwe Spiekermann, 26. Dezember 2020)

Uwe Spiekermann, 9. Dezember 2023

Deutscher Rum – Gestaltungsutopie, Importalternative, Billigangebot

Rum – das war ein Trank, der von Ferne und Abenteuer kündete, von der Karibik, den Kämpfen zwischen Briten, Franzosen und Spaniern; und natürlich von der Seefahrt und Piraten: Yo ho ho, und ne Buddel voll Rum… Rum stand aber auch für eine begehrte Kolonialware mit zuvor unbekanntem rauchig-süßen, scharf-milden Geschmack. Wie Zucker, Kaffee, Kakao, Tee und Arrak veränderte sie die europäische Esskultur seit dem 18. Jahrhundert. Rum verkörperte die koloniale Plantagenwirtschaft, war Anlass und Zahlungsmittel des Sklavenhandels. Adam Smith (1723-1790), Vater des modernen Wirtschaftsliberalismus, formulierte eindeutig: „Rum ist ein sehr wichtiger Artikel bey dem Handel, den die Amerikaner nach der afrikanischen Küste betreiben, von da sie Negersklaven zurück bringen“ (Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, 2. verb. Ausg., Bd. 2, Breslau und Leipzig 1799, 503).

Rum war jedoch auch ein Importgut des Ausschlusses: Die deutschen Lande mochten um 1800 bedeutende Dichter und Denker hervorbringen, sich langsam zu einer Großmacht der Wissenschaft und des Gewerbefleißes wandeln. Doch im Blick auf die beherrschte Welt der Ferne, auf die vom Westen okkupierten kolonialen Peripherien, sah man kränkende Defekte der eigenen Lebenswelten. Die Kolonialwaren waren nicht nur begehrte Ergänzungen. Sie verwiesen immer auch zurück auf die Enge des Eigenen – und seit dem späten 18. Jahrhundert setzte dies neue wissenschaftlich-industrielle Kräfte frei, um Importwaren durch Surrogate zu ersetzen.

Man begann mit der Kultivierung der Zichorie und anderer Pflanzen als Kaffeeersatz, verstärkte den heimischen Tabakanbau. Wichtiger noch war die Nutzung der gemeinen Rübe zur Zuckerproduktion. Die Extraktion war aufwändig und teuer, doch insbesondere die Kontinentalsperre 1806 – also die Wirtschaftsblockade Großbritanniens und seiner Kolonien durch die unter napoleonischer Herrschaft stehenden europäischen Staaten – intensivierte die staatliche Förderung des Rübenzuckers. Das „heimische“ Gewerbe bot eine Alternative zum britisch dominierten globalen Rohrzuckerhandel. Rübenzucker etablierte eine der ersten Industrien auf dem Lande: Die „rationale“ Landwirtschaft nutzte Wissenschaft und Technik. Geist, angewandtes Wissen über die Natur, erlaubte die Produktion moderner Süße auf eigener Scholle. Rübenzucker galt als Triumph des Menschen über die Natur, als Sieg der Agrarwissenschaft und des Maschinenbaus über die Widrigkeiten von Boden und Klima. Die Globalisierung führte eben nicht nur zur wirtschaftlichen Durchdringung und Ausbeutung kolonialer Regionen, sondern löste vielfältige Gegenreaktionen in den Zentren der westlichen Welt aus. Der Rübenzucker unterstrich, dass die klimatisch gemäßigten Länder die brutale und teure Kolonialherrschaft eigentlich nicht benötigten, dass es zumindest möglich war, viele der dortig kultivierten Produkte zu substituieren.

Rum aus Rübenzucker?

Rum war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in deutschen Landen nicht weit verbreitet. Er war teuer, passte nicht recht in eine Trinkkultur, in der das Bier dominierte, im Südwesten und der Mitte auch der Wein. Doch der für die Ernährungssicherheit so wichtige, im späten 18. Jahrhundert einsetzende Kartoffelanbau veränderte das Spirituosenangebot (Uwe Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 31-32). Am Ende der napoleonischen Zeit ging wachsende Ernährungssicherheit einher mit billigem „Branntwein“ aus Kartoffeln. Wegbereiter der rasch beklagten „Branntweinpest“ war der 1817 patentierte Pistoriussche Brennapparat (F[riedrich] Knapp, Lehrbuch der chemischen Technologie […], Bd. 2, Braunschweig 1847, 436-437). Billiger Kartoffelschnaps ermöglichte nicht nur einen massiv steigenden Alkoholkonsum, der sogar die heutigen Mengen übertraf. Hochprozentige Destillate wurden nun auch Kennzeichen und Kernproblem der deutschen Trinkkultur bis zum späten 19. Jahrhundert. Hochwertige und teure Trinkbranntweine wie der heimische Weinbrand/Kognak und die Importwaren Rum und Arrak profitierten von dieser Entwicklung indirekt, wurde ein „wärmender“ Trank doch allgemein üblich, waren die besseren Sorten bürgerliche Alternativen zum billigen Fusel der unteren Klassen.

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„Deutscher Rum“ für deutsche Bürger (Allgemeiner Anzeiger [Gotha] 1812, Nr. 117 v. 2. Mai, Sp. 1216)

„Deutscher Rum“, ein rumartiger Trinkbranntwein hergestellt aus heimischen Rohstoffen, entstand zur Zeit der Kontinentalsperre. Rumfabriken wurden schon vorher beantragt, bekannt die ablehnende Haltung Friedrich II. gegenüber dem Gesuch der Berliner Firma Krüger & Co. 1775: „Ich wünsche, daß das giftig garstigs Zeug gar nicht da wäre und getrunken würde“ (Friedrich der Große. Denkwürdigkeiten seines Lebens, Bd. 2, Leipzig 1886, 247). Doch was damals unter „Rum“ verstanden wurde, ist unklar. Das galt auch für die 1808 in Jena gegründete Deutsche Rum-Fabrik. Ziel „vaterländischen Kunstfleißes“ war jedoch, einheimische Rohstoffe so zu nutzen, dass am Ende ein dem westindischen Rum vergleichbares Getränk produziert werden konnte. Entsprechende Angebote gab es in „mehreren Gegenden Deutschlands“, doch es fehlte ihnen der charakteristische Geruch. Anders bei einem damals in Wiesbaden produzierten Trank: „Die mir zugeschickte Probe habe ich, zur Bereitung des Punsches verwendet, in Gesellschaft einiger Freunde versucht, und unser Urtheil fällt dahin aus, daß dieser vaterländische Rum dem westindischen sowohl pur, als im Punsch, an Stärke, Geschmack und Geruch ganz gleichkommt und keine Betäubung des Kopfes veranlaßt“ (J.S. Hennicke, Deutscher Rum, Allgemeiner Anzeiger (Gotha) 1813, Nr. 75 v. 17. März, Sp. 745-746). Für diesen deutschen Rum stand der Frankfurter Destillateur Johann Heinrich Rauch Pate: „Nach einer langen Reihe von Versuchen, die er mit großem Kostenaufwand viele Jahre hindurch angestellt hatte, gelang es ihm endlich, ein Verfahren zu entdecken, einen vollkommen guten Rum und Arac, welche dem Beyfall der Kenner erhalten haben, zu fabriciren“ (Berichtigungen und Streitigkeiten, Ebd., Nr. 191 v. 20. Juli, Sp. 1782). Sein Sohn Johann Carl Rauch betrieb erst mit einem Kompagnon in Wiesbaden, ab 1812 dann auf eigene Rechnung in Frankfurt a.M. die Herstellung und den Vertrieb dieses Kolonialwarensurrogats. Kontinuierlicher Erfolg blieb ihm jedoch versagt.

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Bezeichnung ohne Präzision (Mittheilungen des Gewerbevereins für das Königsreich Hannover 1834/35, Sp. 504)

„Deutscher Rum“ wurde auch in der Folgezeit aus Rübenzuckerbestandteilen hergestellt. Die seit 1828 rasch wachsende Zahl bilateraler Zollverbünde, die 1834 in den Deutschen Zollverein mündete, führte zu deutlichen Zollerhöhungen und entsprechenden Preissteigerungen des Importrums: „Seitdem man in Deutschland bemühet war, die einheimischen zuckerhaltigen Pflanzen auf Gewinnung des festen Zuckers zu behandeln, um den früherhin so hoch im Preise stehenden ausländischen zu entbehren, und in der weißen Runkelrübe ein vorzügliches Material dazu fand, war man bemüht, auch die Abgänge derselben auf Branntwein, Rum und Essig zu benutzen, und bereitete eine, wenngleich nicht dem Jamaika-Rum ganz gleichkommende, jedoch sehr ähnliche geistige Flüssigkeit“ (Albert Franz Jöcher, Vollständiges Lexikon der Waarenkunde in allen ihren Zweigen, 3. verb. u. verm. Aufl., Bd. 2, Quedlinburg und Leipzig 1840, 718-719). Derartiger „Rum“ wurde teils auch aus Rübenzucker hergestellt. Dieser wurde in Wasser aufgelöst, erhitzt, mit Hefe in Gärung versetzt. Die so hergestellte Zuckermaische destillierte man, gab reinen Alkohol hinzu, erhielt dadurch einen Branntwein. Doch nicht nur Fachleute warnten: „Dieser aus Zucker gewonnene Weingeist darf aber nicht mit dem Rum verwechselt werden“ (Wilhelm Keller, Die Branntwein-Brennerei nach ihrem gegenwärtigen Standpunkte, T. 2, Leipzig 1841, 93). Der Geschmack war deutlich anders, gehaltvoll, aber fade. „Rumfabriken“ variierten daher seit den 1830er Jahren die Grundstoffe: Teils nutzte man importierte Rohrzuckermelasse, teils Abfallprodukte der Rübenzuckerraffination. Deutsche Firmen übernahmen entsprechende Verfahren meist von Vorbildern in Großbritannien und den Niederlanden. Der in Frankreich propagierte Import von Zuckerrohr fand in deutschen Landen dagegen keinen Widerhall (Ueber die Errichtung von Baumwoll-, Kaffee- und Zukerpflanzungen in Frankreich, Polytechnisches Journal 42, 1832, 220-221, hier 221).

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Rumfabrikation aus Weingeist und mehr (Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Stralsund 1843, Nr. 31 v. 3. August, Oeffentlicher Anzeiger, 173)

Niedrige Preise waren zentral für die Vermarktung derartiger Alkoholika – und seit den 1830er Jahren nahm die Zahl sog. „Rumfabriken“ zu. Anfangs verschnitten sie importierten Rum mit Weingeist, koppelten also Rohrzucker- und Kartoffelprodukte (C[arl] F. W. Dieterici, Statistische Uebersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate […] 1831 bis 1836, Berlin, Posen und Bromberg 1838, 307). Doch seit den 1840er Jahren verzichteten sie zunehmend auf „echten“ Rum, setzten vielmehr auf aromatisierten und gefärbten Kartoffelsprit. Das Resultat war billiger als „Deutscher Rum“ aus Zucker, doch trotz aller Tricks und Zusätze „immer noch sehr schlecht“ (Rum, in: Allgemeine Encyclopädie für Kaufleute und Fabrikanten […], 3. Aufl., Leipzig 1838, 672-673, hier 673). Derartige „Rumfabriken“ entstanden zumeist im Osten Preußens, in der Nähe zur Kartoffelspritproduktion (Gewerbe-Tabelle der Fabrikations-Anstalten und Fabrik-Unternehmungen aller Art […], Beil. IV, Berlin 1847, 44). Sie nutzten die Bezeichnung „Deutscher Rum“ also nicht nur für Rübenzucker-, sondern auch für Kartoffelprodukte. Selten gebraucht, bezeichnete er in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Kunstprodukt, ein Billigangebot.

04_Saechsischer Landes-Anzeiger_1891_12_24_Nr299_p4_Dresdner Nachrichten_1885_01_25_Nr026_p5_Punsch_Rum_Deutscher-Rum_Kunstrum

Deutscher Rum als Chiffre für Kunstrum (Sächsischer Landes-Anzeiger 1891, Nr. 299 v. 24. Dezember, 4 (l.); Dresdner Nachrichten 1885, Nr. 26 v. 25. Januar, 5)

Dadurch geriet der teurere „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker ins Hintertreffen, verschwand gar vom Markte. Gleichwohl gab es ab und an weitere Versuche, Rum aus anderen heimischen Rohstoffen herzustellen. Während für Destillateure und Chemiker um die Jahrhundertmitte klar war, dass Importrum mit den vorhandenen Mitteln nicht herzustellen war, waberten die Hoffnungen auf ein mittels neuer Technik hergestelltes Rumsurrogat in der bürgerlichen Öffentlichkeit weiter. Der Aufstieg der organischen Chemie nährte solche Vorstellungen: Die Agrikulturchemie führte bereits zu höheren Erträgen, das 1856 entdeckte Mauvein öffnete die Tür zu einer neuartigen Welt künstlicher Farbstoffe, die mittelfristig auch koloniale Naturfarbstoffe ersetzen sollten. Dennoch verwundert die Geschichte der im Januar 1860 in Dresden gegründeten Sächsischen Rum-Fabrik.

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Rum aus Biertrebern: Anzeige für die Sächsische Rumfabrik (Leipziger Zeitung 1859, Nr. 252 v. 23. Oktober, 5171)

Der aus dem Landkreis Bautzen stammende Braumeister Peter Noack hatte Anfang 1859 ein Verfahren zur Herstellung von Porterbier, Arrak und insbesondere Rum vorgestellt. Ausgangsmaterial sollte Biertreber sein, ein Malzrückstand der Brauerei, die Gewinne alles Vorherige in den Schatten stellen (Dresdner Journal 1859, Nr. 32 v. 9. Februar, 127). Die anfangs für die neu zu gründende Aktiengesellschaft anvisierten 250.000 Taler ließen sich nicht realisieren, doch mit beträchtlicher Werbung und immensen Renditeversprechungen kamen stattliche 50.000 Taler zusammen. Dabei hatte es an Warnungen nicht gefehlt, „echter Jamaika-Rum werde eher aus der Erde hervorsprudeln, bevor eine Actie der besagten Rumfabrik die in Aussicht gestellten mir fabelhaften Procente bringt“ (H. Hollnack, Noch einen Nachricht wegen einer zu begründenden Rumfabrik, Ebd., Nr. 259 v. 9. November, 1044). Und so kam es: Die Produktion erbrachte gar klägliche Erträge, das Unternehmen wurde bereits Mitte März 1860 aufgelöst. Die Einlagen waren verloren, Maßregeln gegen den Patentinhaber verliefen im Sande (Dresdner Nachrichten 1860, Nr. 60 v. 29. Februar, 3; ebd., Nr. 71 v. 11. März, 2). Noack führte die Firma weiter, offerierte auch vermeintlichen Treberrum, doch dieser war wenig ansprechend (Ebd. 1860, Nr. 147 v. 26. Mai, 8). Die Regionalposse diente als Beleg für die auch nach der Weltwirtschaftskrise 1857/58 weiter bestehenden Gefahren unregulierter Aktiengesellschaften und einer zu starken Wirtschaftsliberalisierung (Th[eodor] Günther, Die Reform des Real-Credits, Dresden 1863, 69). Doch sie spiegelte zugleich eine weit verbreitete Gläubigkeit an die mythenlastigen Mächte von „Wissenschaft“ und „Technik“. An die Stelle der Alchimisten waren scheinbar großsprecherische Unternehmer getreten.

Ernüchternde Realität: Rumkonsum und Rummarkt in Deutschland im 19. Jahrhundert

Das Scheitern von Substituten des Importrums darf nun aber nicht zur Annahme verführen, dass sich im Alltag die bessere, echte Ware gegenüber den Surrogaten durchgesetzt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Gewiss, Rum wurde importiert, es gab durchaus „echten“ Rum zu kaufen. Doch er blieb eine seltene Ausnahme. Sein hoher Alkoholgehalt, ca. 72-75 % für den am höchsten geschätzten Jamaika-Rum, machte ihn zu scharf für den direkten Konsum. Echter Rum, original Rum – bei alldem handelte es sich fast durchweg um Verschnitte. Präzise Analysen fehlen, doch kann man bei den besten Sorten Trinkrum von einem Alkoholgehalt von ca. 52 bis 55 % ausgehen. Einstellen für den Verkauf hieß dann Zugabe von (destilliertem) Wasser. Das erfolgte vielfach schon in den Londoner Docks, teils in den deutschen Importhäfen, teils bei den Großhändlern, selten auch bei Gastwirten und Kolonialwarenhändlern. Was bei der Milch dank zahlloser Milchregulative im späten 19. Jahrhundert als Verfälschung galt, war bei Rum Handelsbrauch.

06_Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik_1875_12_01_Nr335_p6_Augsburger Neueste Nachrichten_1875_12_12_Nr295_p3424_Spirituosen_Delikatessenhandlung_Punsch_Rum_Likoer

Angebotspalette für den festlich-kalten Dezember (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 1875, Nr. 335 v. 1. Dezember, 6 (l.); Augsburger Neueste Nachrichten 1875, Nr. 295 v. 12. Dezember, 3424)

Rum wurde allerdings nur sehr selten pur getrunken. Er war vielmehr ein typisches Mischgetränk. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um die heute so modischen Cocktails. Diese kamen erst in den 1920er Jahren auf. Rum wurde ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts vielmehr erstens mit Essenzen und Wasser versetzt, war Alkohol- und Geschmacksträger zugleich. Obwohl ein „wärmendes“ Getränk, trank man ihn zumeist mit heißem Wasser, verdoppelte so den Energiewert. Neben der Verwendung in aromatisierten Punschen und Bowlen trat zweitens aber das für Deutschland typische Rumgetränk, der aus England übernommene Grog. Dabei handelte es sich um heißes Wasser, einen ordentlichen Schuss Rum und etwas Zucker. Verdünnter Rum verliert sein Aroma nur in Ansätzen, Hitze bringt die süßlichen, teils aber auch erfrischenden Geschmacksnuancen gar stärker zur Geltung. Grog wurde vor allem in Nord- und Ostdeutschland getrunken, doch Satirezeitschriften wie der „Münchener Grog“ belegen seine Präsenz auch im übrigen Deutschland. Grog stand dabei für den Übergang vom häufig privaten, häuslichen Verzehr aromatisierter Rumgetränke zum vermehrt öffentlichen und geselligen Konsum. Das traf auch für eine dritte Konsumart zu, die heute kaum mehr bekannt ist. „Korn mit Rum“ begann seinen zeitweiligen Siegeszug in den 1880er Jahren, war paradoxe Begleiterscheinung der Temperenzbewegung und der massiv erhöhten Branntweinsteuer 1887. Es handelte sich vornehmlich um verdünnten und aromatisierten Weingeist aus Kartoffelspiritus. Rum war Aromaträger, zumeist aber nur aufgrund zugefügter Rumessenzen (A[braham] Baer, Die Verunreinigungen des Trinkbranntweins insbesondere in hygienischer Beziehung, Bonn 1885, 71-72). Für die Präsenz von „Rum“ in der Öffentlichkeit war Korn mit Rum gleichwohl wichtig, denn es handelte sich um ein Billiggetränk für die breite Bevölkerung. Weitere modische Mischgetränke folgten, etwa die „Granate mit dem Schnellfeuer“ – eine Mixtur von Nordhäuser Korn mit Rum – oder der „Husarenkaffee“, ein Amalgam von Kümmel mit Rum (Berliner Schnäpse, Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 47), doch sie gewannen nur regionale Bedeutung. Viertens schließlich ging Rum auch eine Melange mit dem kolonialen Tee ein. Tee mit Schuss erlaubte auch Frauen eine kleine, doch merkliche Alkoholzufuhr im häuslichen Rahmen, aber auch in Teestuben und Cafés. Der für das späte Kaiserreich charakteristische Five-o-clock-Tea wäre ohne derartig unsichtbar-beschwingende Zusätze gewiss weniger beliebt gewesen.

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Grog als wärmendes Wintergetränk (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7717)

Der Rumkonsum war stark saisonal geprägt. Man trank ihn vornehmlich in der kalten Jahreszeit, die meisten Annoncen erschienen im Dezember. Dieser Saisonalität entzogen sich weitere haushaltsnahe Verwendungsformen ansatzweise. Rum wurde im 19. Jahrhundert nämlich erstens auch als Stärkungs- und Kräftigungsmittel, ja, als Heilmittel gereicht und getrunken (J[osef] Ruff, Schutz der Gesundheit für Jedermann, Straßburg i.E. 1893, 253-254). Schon die in der britischen Marine lang und intensiv geführten Debatten, ob Skorbut eher durch Zitronensaft oder aber durch Rum bekämpft werden könne, verwiesen in diese Richtung. Rum sollte beleben, gegen Bleichsucht und Schwäche helfen, einen ruhigen Schlaf einläuten. Zweitens war Rum aufgrund seines kräftigen Aromas ein gängiges Würzmittel in bürgerlichen Haushalten. Rumaromen gewannen seit dem späten 19. Jahrhundert zwar an Bedeutung, zumal beim Backen und bei Nachtischen, doch ihnen fehlte die beim Kochen und Backen immer auch wichtige Masse. Drittens schließlich diente Rum, wie auch andere Trinkbranntweine, dem Einmachen. Der Rumtopf rettete Obst vor dem Verderb, war ein Trank für eine gesellige Runde, diente als Kompott, für Nachtische, Mehlspeisen und süße Saucen.

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Rum als bewährte Einmachhilfe (Mayener Volkszeitung 1902, Nr. 156 v. 10. Juli, 3)

Rum war in deutschen Landen im 19. Jahrhundert demnach mehr Ahnung als Realität, mehr Geschmacksnuance denn pures Getränk. Rum war vielgestaltig, fluid, auch als „echtes“ Kolonialprodukt kaum zu fassen, zumal die westindischen oder (selten auch) ostindischen Produkte höchst unterschiedlich waren, abhängig von heterogenen Verfahren, Rohwaren, klimatischen Einflüssen und auch Lager- und Transportbedingungen. In deutschen Landen kannte man das importierte und bearbeitete Endprodukt, während das Wissen über die überseeische Herstellungstechnik vage blieb, lange Zeit nur auf allgemein gehaltenen Reiseberichten und Beschreibungen kolonialer Wirtschaftspraktiken gründete. Die Umwandlung des kolonialen Importrums in eine in Deutschland absetzbare alkoholische Ware setzte auch daher vor allem beim Getränk selbst an. Die Produktion von „Deutschem Rum“ aus Rübenzucker vermochte den charakteristischen Geschmack des Rums nicht nachzubilden. Daher ging man ab dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts zu direkten Produktmanipulationen über. Getragen von der Imagination eines „echten“ Importrums schuf und vermarktete man Produkte, die sich von Zeit und Raum der Herstellung emanzipiert hatten. „Rum“ war künstliche Kost, die mit dem „echten“ Importrum kaum mehr gemein hatte als den Namen. Und dieser half die vielfältigen Eingriffe und Veränderungen der Produktion zu überdecken, ja, vergessen zu machen.

Was genau aber war „Rum“ im langen 19. Jahrhundert? Vier nicht immer klar voneinander abgrenzbare Arten sind zu unterscheiden. Erstens gab es den „echten“ Rum. Dabei handelte es sich um nicht veränderten Importrum bzw. dessen Verschnitt auf einen Alkoholgehalt von ca. 50-55 %. Dieses obere Ende des Marktes war klein und erschien Zeitgenossen als Ausnahme.

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Grundstoffe für Kunstbranntweine, inklusive Kunstrum (Illustrierte Zeitung 1857, Nr. 743 v. 26. September, 216)

Mengenmäßig dominant dürfte stattdessen der Kunstrum gewesen sein: Rum wurde als ein stark alkoholhaltiges Getränk mit einem charakteristischen Geschmack verstanden; und dieses baute man durch Kartoffelsprit und aromatische Zusätze nach. Kunstrum war „deutscher Rum“ in charakteristischer Brechung. Es ging um ein als „Rum“ vermarktbares Getränk, nicht aber mehr um den Ersatz von Rohrzucker durch Rübenzucker. Kunstrum war ein Billigprodukt, mit Augenzwinkern als „Rum“, selten auch als „Deutscher Rum“ angeboten. Lässt man das Odium des Ersatzmittels aber beiseite, so handelte es sich bei ihm um eine preiswerte und massenkompatible heimische Alternative. Karibiksonne hatte ihn nie beschienen, doch er war Abglanz eines Zeitalters wissenschaftlicher Entdeckungen in der organischen Chemie. Der Liebig-Schüler Friedrich Knapp (1814-1903) präzisierte: „Der feine, dem Aroma des Rums sehr nahe kommende Geruch des Buttersäureäthers […] hat die Veranlassung gegeben, daß diese Verbindung gegenwärtig sehr häufig zur Nachahmung des Rums mittelst gewöhnlichen Branntweins benutzt wird“ (Knapp, 1847, 411). Und Hermann Klencke (1813-1881), der wohl auflagenstärkste Wissenschaftspopularisator der Jahrhundertmitte, benannte die Folgen dieser chemischen Entdeckung: „Der meiste Rum, der in Deutschland verkauft wird, ist künstlich fabricirt, indem man eine Portion echten Rum mit fuselfreiem Spiritus versetzt und durch gebrannten Zucker und Buttersäure-Aether Geruch, Geschmack und Farbe imitirt“ (Die Verfälschung der Nahrungsmittel und Getränke […], Leipzig 1858, 297-298). Buttersäureäther war Großchemie im Kleinen, entstand durch den Einsatz von Kalilauge und Schwefelsäure, erforderte eine Destillation. Während es der Grundlagenforschung vorrangig um die Erkundung der Materie ging, nutzen Unternehmer diese Kenntnisse für neue und preiswertere Produkte, angeleitet durch einen wachsenden Markt von Ratgebern. Seit den 1840er Jahren nahm die Zahl von Halbfertigäthern zu. Sie ermöglichten schon lange vor der Isolation natürlicher und der Synthese künstlicher Aromen die Kreation von Geschmacksprofilen.

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Deutscher Rum als billiger Kunstrum (Bensberg-Gladbacher Anzeiger 1887, Nr. 7 v. 22. Januar, 3 (l.); Märkisches Tageblatt 1888, Nr. 305 v. 29. Dezember, 4)

Die Entwicklung ging von Hautgeschmacksträgern zu nuancenreicheren Zusätzen: An der Seite des Buttersäuresäthers standen rasch Coccinsäure- oder Ameisensäureäther. Damit komponierter Kunstrum wurde mit Zuckercouleur, Sirup und/oder Eichenrinde abgerundet und braun gefärbt: “Die Leichtgläubigkeit des Publikums geht manchmal so weit, daß es einen gefärbten und mit etwas Essigsäure- oder Buttersäureäther versetzten fuselhaltigen Branntwein auch für Rum nimmt“ (Ferdinand Artmann, Die Lehre von den Nahrungsmitteln, ihrer Verfälschung und Conservirung […], Prag 1859, 456). In den Folgejahren wuchs die Zahl einsatzfähiger und fertig käuflicher Komponenten rasch an. Die Sprache der Zusätze mag uns fremd vorkommen, da wir uns vielfach kein Bild davon machen, welche (durchaus harmlosen) Chemikalien in gängigen Lebens- und Genussmitteln enthalten sind. Doch Essig- und Salpeteräther, auch Birkenöl, Glanzruss, Zimt, Veilchenwurz, Perubalsam oder Vanilleessenz, erlaubten die Produktion von durchaus ansprechendem Kunstrum (Wiederhold, Unterscheidung des echten Colonial-Rums vom unechten, sogenannten Facon-Rum, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 5, 1864, 11-12; Louis Pappenheim, Handbuch der Sanitäts-Polizei, Bd. 1, 2. neu bearb. Aufl., Berlin 1868, 360). Der Erfolg des Kunstrums basierte daher nicht nur auf dem niedrigen Preis, sondern auch auf einer dem Geschmack zusagenden und ansatzweise berechenbaren Aromatisierung mit Chemikalien und natürlichen Aromastoffen, deren Rohwaren teils aus kolonialen Kontexten stammen. In Österreich gilt entsprechender Inländerrum bis heute als geschützte Spezialität – mit Stroh-Rum als bekanntester Marke. Anders als die Parfümindustrie, deren Aufschwung seit den 1870er Jahren eng mit synthetischen Duftstoffen verbunden war, blieb die Kunstrumproduktion noch über Jahrzehnte den tradierten Zusätzen der Jahrhundertmitte verbunden. Deren allgemeine Verfügbarkeit über Apotheken und Drogerien ließ Kunstrum auch zu einem häuslich hergestellten Produkt werden. An die Seite der Fabrikanten, Destillateure und Budiker traten auch Hausfrauen, um dem Mann zu frommen oder Silvester punschig zu feiern.

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Verhäuslichung der Kunstrumproduktion (Wiener Hausfrauen-Zeitung 20, 1894, Nr. 5, 43)

Aromatisierter Kunstrum war ein künstliches Getränk eigenen Rechts, doch die Annäherung an das koloniale Referenzprodukt gelang nur unzureichend. Je nach Zusätzen dominierten einzelne Geschmackskomponenten, während andere fehlten. Kunstrum erlaubte aufgrund seines niedrigen Preises zudem keine hohe Wertschöpfung, stand unter dem Verdikt der Nahrungsmittelfälschung. Entsprechend entstand drittens mit dem Faconrum eine dritte Rumart, eine Mischung aus Verschnitt- und Kunstrum. Aromatisierung und der Einsatz von Kartoffelsprit wurden beibehalten, doch um einen mehr oder minder großen Anteil von Kolonialrum ergänzt. Gerade bei rumhaltigen Heißgetränken konnte mit überschaubarem Einsatz von fünf oder zehn Prozent „echtem“ Rum ein besseres Aroma erzielt, höhere Preise verlangt werden. Faconrum dokumentiert typische Pendelschläge bei der Entwicklung künstlicher Kost. Das teure Original wurde zuerst mittels heimischer Rohwaren versucht zu substituieren. Falls dies, wie im Falle des Rübenzuckerrums, zu keinem wettbewerbsfähigen Produkt führte, traten Kunstprodukte aus andersartigen Bestandteilen an dessen Stelle. Die offenkundigen Defizite wurden anschließend versucht abzubauen – zuerst durch verbesserte Aromatisierung mit chemischen oder natürlichen Geschmacksstoffen, dann mit einem nur begrenzten Einsatz des Originalproduktes. Lernprozesse dieser Art finden sich auch in anderen Konsumgüterindustrien dieser Zeit, etwa Fleischpulver, Kräftigungsmittel oder vegetarischer Fleischsubstitute. Sie prägen heute unser gesamtes Lebensmittelangebot, mögen uns Produktbezeichnungen und die allgemeine Ästhetisierung beworbener Nahrung auch anderes suggerieren.

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Preisdifferenzen beim Faconrum – je nach „Rum“-Gehalt (Vorwärts 1893, Nr. 214 v. 12. September, 8)

Faconrum und Kunstrum nutzten viertens vermehrt auch Rumessenzen, also Fertigprodukte der parallel zur pharmazeutischen und kosmetischen Industrie entstehenden Essenzenindustrie. Deren industriell gefertigte Angebote unterschieden sich deutlich von den Chemikalien der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie waren teils synthetisiert (wie Vanillin), vor allem aber stofflich standardisiert, waren also nicht nur in großer Menge (und damit billiger) herzustellen, sondern konnten gezielt als Vor- und Zwischenprodukte eingesetzt werden (August Gaber, Die Likör-Fabrikation, 9. verb. u. sehr verm. Aufl., Wien und Berlin 1913, 195-226, 290-324). Mit ihnen glaubte man damals, das „Reservatrecht der Natur“ (Emil Fischer, Die Chemie der Kohlenhydrate und ihre Bedeutung für die Physiologie, Berlin 1894, 23) durch Synthese durchbrechen und so zu einer neuen, vom Menschen gestalteten Welt gelangen zu können (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209).

Als Stoffkomposita hatten Rumessenzen zwar machen Makel – ihr Einsatz als Teerum und Grog scheiterte aufgrund der Hitze des Ausgusses, auch konnten sie analytisch erkannt werden (Theodor Koller, Die Ersatzstoffe der chemischen Industrie, Frankfurt a.M. 1894, 82-83). Doch sie erlaubten den Übergang von der gewerblichen in die häusliche Sphäre. Seit den 1890er Jahren ersparten sie den Käufern die lange Tüftlerphase der Produzenten, denn durch die Mischung von Wasser, Weingeist (also Kartoffelsprit) und Rumessenz konnte jeder „Rum“ zu Hause herstellten. Pointiert formuliert finden wir seither im Deutschen Reich strukturelle Analogien zur kolonialen Plantagenwirtschaft: Einerseits zahlreiche größere Produzenten, die für regionale, nationale und auch internationale Märkte produzierten, anderseits aber auch viele Kleinproduzenten, die auf Zuckerplantagen resp. in den heimischen Wänden Rum selbst bereiteten.

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Selbstbereiteter „Rum“ dank Rumessenzen (Vorwärts 1899, Nr. 230 v. 1. Oktober, 7 (l.), ebd. 1900, Nr. 303 v. 30. Dezember, 11)

Verschnitte, Kunstrum, Faconrum und Rumessenzen sind typisierende Abstraktionen, die unter diesen Begriffen im Rummarkt seit Mitte des 19. Jahrhundert vielfach nicht aufzufinden waren. Dort dominierte meist allein der lockende „Rum“, vielfach verbunden mit einer Herkunftsbezeichnung. Doch ohne derartige Ordnungsbegriffe wird man sich nicht zurechtfinden in einem Markt ohne Kennzeichnungspflichten, ohne klar definierte Produktbezeichnungen und Markenartikel. Wie bei vielen anderen Konsumgütern dieser Zeit wurde die allgemeine Marktunsicherheit vorrangig durch Händlervertrauen vermindert. Nicht umsonst stammen die meisten Anzeigen für Rum von Kolonialwaren- und Feinkosthändlern. Dies veränderte sich erst in den 1890er Jahren, mit den Herstellern von Rumextrakten als Trendsetter.

Zwei Punkte gilt es noch festzuhalten: Erstens war der deutsche Rummarkt im 19. Jahrhundert auch deshalb so vielgestaltig, weil eine leistungsfähige marktordnende Überwachung fehlte. Die damaligen Kontrollbehörden konnten einen gut gemachten Kunstrum kaum von einem Verschnitt oder einem Faconrum unterschieden. Marktvielfalt setzte den Käufer in sein Recht, barg aber immer die Gefahr der Übervorteilung. Zweitens wäre es verkürzt, würde man die unterschiedlichen Rumarten mit wertenden Kategorien belegen. Während der Importrum nicht zuletzt seit der Zollerhöhung 1889 kein Alltagsprodukt mehr sein konnte, erlaubten die billigeren Angebote den Konsum rumartiger Getränke in allen Teilen der Bevölkerung. Die Palette der Rumarten erlaubte konsumtive Teilhabe – durchaus in Analogie zum Wechselspiel von echtem Kaffee und den mengenmäßig dominierenden Surrogaten. Doch ebenso wenig wie ein Malzkaffee per se geringwertiger war als importierter Kolonialkaffee, so handelte es sich auch bei den verschiedenen Rumarten um Produkte eigenen Rechts. Surrogate hatten ihren Eigenwert: Rübenzucker war ein Ersatzmittel, setzte aber einen neuen Standard für Süße. Kolonialprodukte führten zu lokalen Aneignungsprozessen, die neue Realitäten schufen, die weit über das Ursprungsprodukt hinaus wiesen. Auch abseits der noch nicht möglichen chemischen Analyse und der Aufdeckung von Fälschung und Betrug wurde die Scheidung zwischen vermeintlich Echtem und vermeintlich Nachgemachten dadurch erschwert. Das Referenzgut Importrum konnte dafür kaum Ausgangsprodukt sein, sondern eher die Realitäten von Vermarktung und Konsumpraktiken in Deutschland selbst. Vor diesem Hintergrund war die ab 1890 wieder neu anlaufende Schaffung eines „Deutschen Rums“ aus heimischen Rübenzuckerprodukten eigentlich höchst traditionell, nicht mehr auf der Höhe des Marktgeschehens. Sie war eine typische Gestaltungsutopie von Ingenieuren und Chemikern, die auch um die Jahrhundertwende noch auf die Substitution eines „echten“ Ausgangsproduktes drängten, obwohl dieses im deutschen Rummarkt nicht dominierte und in den Importländern, ausgehend von den Standardisierungsbestrebungen in Jamaica, erst seit der Jahrhundertwende ansatzweise geschaffen wurde.

Auf der Suche nach Ordnung: Der deutsche Rummarkt um die Jahrhundertwende

Die wachsende Bedeutung von Kunst- und Faconrum im Deutschen Reich ging in den 1880er Jahren mit verstärkten Bestrebungen einher, die „normale“ Beschaffenheit aller Nahrungs- und Genussmittel zu bestimmen und quantitative Methoden ihrer Analyse zu entwickeln (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 43). Die aufstrebende Nahrungsmittelchemie zielte auf „objektives“ Wissen, grenzte sich strikt ab von regional heterogenen Handelsbräuchen und tradierten Sinnesproben. Und im Umfeld des 1879 erlassenen Nahrungsmittelgesetzes gab es zunehmend staatlichen Rückenwind, Verfälschungen systematisch zu bekämpfen und die Vielfalt der Angebote zu ordnen. Der Kunstbuttermarkt bot hierfür ein gutes Beispiel. Eine erste breit gefächerte Analyse aller Rumarten ergab allerdings, dass man mittels der gängigen Verfahren „nicht entscheiden [könne, US], ob ein Rum unverfälscht ist oder nicht“ (H[einrich] Beckurts, Mittheilungen über Untersuchungen von Rum, Monatsblatt für öffentliche Gesundheitspflege 1, 1878, 178-180, hier 180). Weitere Analysen benannten das grundsätzliche Dilemma: „Ob ein Rum eine ganz echte oder verschnittene Waare, oder gar ein reines Kunstproduct darstellt, darüber wird die Chemie heut zu Tage schwerlich Auskunft geben können, da dieselbe über wirklich brauchbare Methoden zur Erkennung solcher Zusätze oder Verfälschungen bislang nicht gebietet, ganz abgesehen davon, dass nicht einmal die Bestandtheile des echten Rums zur Zeit sammt und sonders definirbar sind“ (Heinrich Beckurts, Zur Zusammensetzung und Prüfung des Rums, Archiv der Pharmacie 60, 1881, 342-346, hier 344).

14_Kikeriki_23_1883_04_15_Nr30_p2_Chemiker_Nahrungsmittelkontrolle_Nahrungsmitteluntersuchung

Unerfüllte Versprechungen der chemischen Analyse (Kikeriki 23, 1883, Nr. 30 v. 15. April, 2)

Fachleute wussten, dass sich die Analytik aller Trinkbranntweine „nur in beschränktem Maaße brauchbar erwiesen“ hat (Carl Windisch, Ueber Methoden zum Nachweis und zur Bestimmung des Fuselöls in Trinkbranntweinen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt 5, 1889, 373-393, hier 373). Das lag auch daran, dass über die Rumproduktion in Westindien und über die Zusammensetzung des Importrums keine verlässlichen Daten vorlagen (Alexander Herzfeld, Bericht über die Versuche zur Darstellung Rum-artiger Produkte aus Rübensaft, Melasse und Rohzucker, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Rübenzucker-Industrie 40, 1890, 645-680, hier 645). Kein geringerer als Theodor Wilhelm Fresenius (1856-1936), Leiter des wichtigsten pharmazeutischen Laboratoriums im Deutschen Reich, zog daraus den drastischen und gut belegten Schluss, dass die Kontrolle des Rums „praktisch nicht durchführbar“ sei (Beiträge zur Untersuchung und Beurtheilung der Spirituosen, Zeitschrift für analytische Chemie 29, 1890, 283-317, hier 307). Die tradierte Sinnesprobe, also das Rumschnüffeln, -schmecken und -schauen, sei nach wie vor nicht zu ersetzen. Auch eine umfassende Studie des Reichsgesundheitsamtes über das Rumwissen und die einschlägigen Kontrollmethoden bestätigte, dass es unmöglich sei, „echte Waare von unechter auf chemischem Wege zu unterscheiden, […]. Auch hier wird solchen Sachverständigen der Vorzug zu geben sein, welche ihr Urtheil auf Grund der Geschmacks – und Geruchsprobe abgeben“ (Eugen Sell, Ueber Cognak, Rum und Arrak. 2. Mittheilung. Ueber Rum, das Material zu seiner Herstellung, seine Bereitung und nachherige Behandlung unter Berücksichtigung der im Handel üblichen Gebräuche sowie seiner Ersatzmittel und Nachahmungen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 7, 1891, 210-252, hier 240).

Für die Produktion von Kunst- und Faconrum sowie von Rumextrakten war dies zeitweilig eine Art Freifahrtschein. Dennoch begann damals ein zwei Jahrzehnte währender lokaler Kampf gegen „Rumverfälschungen“, der hier nicht nachzuzeichnen ist. Er wurde als gerichtlicher Nahkampf ausgefochten, bei dem immer wieder zur Debatte stand, was als „normaler“, als „handelsüblicher“ Rum zu verstehen war. Nicht Kunst- und Faconrum standen dabei im Mittelpunkt, sondern Verschnitte des echten Importrums. Er galt als Referenzobjekt, ein heterogenes Produkt wurde gleichsam naturalisiert. Das Hinzufügen von Wasser auch bei Premiumsorten – Original Jamaica-Rum – war schließlich einfach nachzuweisen. Doch als Gegenargument führten Händler immer wieder den Wunsch der Konsumenten nach handelsüblichen trinkbaren Rumsorten von mal 38, mal 45, mal 50, mal 55 % Alkohol an. Konsumentensouveränität wurde gegen das Ordnungsbestreben der Nahrungsmittelchemie ausgespielt. Die wiederholten Niederlagen von Nahrungsmittelchemikern vor Gericht galten nach der Jahrhundertwende zunehmend als Frage der Ehre, des Renommees und der Durchschlagskraft der akademischen Zunft.

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Handelsmarken für Jamaika-Rum (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 8 v. 10. Januar, 8 (l.); Fliegende Blätter 119, 1903, Nr. 3046, Beibl. 10, 7)

Die erbitterten Debatten boten eigentlich Markenrum große Marktchancen. Er war im Deutschen Reich lange Zeit unüblich, teils wegen des erst seit 1894 verlässlichen Markenschutzes, teils wegen der fehlenden inländischen Produktion abseits der Verschnitte. Den kleinen, aber wachsenden Markenartikelmarkt dominierten einheimische Handelsfirmen, meist Anbieter von Verschnittware. Hinzu kamen internationale Handelsfirmen, die Importrum abfüllten und vermarkteten. Während die deutschen Handelsfirmen ab und an brasilianischen und kubanischen, zumeist aber westindischen, „englischen“ Rum anboten, mehrere in Flensburg ansässige Firmen auch dänischen Importrum, wurde der Rum französischer Kolonien zumeist von französischen Handelsfirmen vermarktet. Durchweg dominierten die kolonialen Mutterländer und ihre europäischen Handelspartner, nicht aber die Rumproduzenten der kolonialen Periphere. Trotz dutzender Rumsorten mit Warenzeichen dominierte anonymer Kunst- und Faconrum weiterhin den deutschen Markt. Ähnliches galt beim Arrak. Innerhalb der Spirituosenbranche gab es eine Scherenbewegung: Während heimisch produzierte Liköre und Weinbrände seit den 1890er Jahren zunehmend als starke Marken mit ansprechender Werbung erschienen, fehlten diese bei Importrum und Rumverschnitten. Das sollte sich erst in den 1950er Jahren ändern.

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Rum als Angebot von Großhandelsfirmen: Warenzeichen der Bergedorfer Firma Heinrich von Have (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 25 v. 26. Januar, 18)

Markenartikel besaßen den Vorteil einer gewissen Berechenbarkeit von Preis und Zusammensetzung. Markenartikelproduzenten und Großhändler sicherten die Qualität ihrer Produkte zunehmend mit Betriebslaboratorien und freiwilligen Kontrollen durch Handelschemiker. Beim Rum war dies aber kaum möglich. Umso wichtiger waren Bemühungen um verbesserte Methoden der Trinkbranntweinanalyse, die Nahrungsmittelchemiker und die in schlagkräftigen Verbänden organisierten Spirituosenhersteller durchaus kooperativ betrieben. Marktordnung mittels verbindlicher Referenzwerte war im Sinne der größeren Unternehmen, da verlässliche Mindestanforderungen der gerade im Rummarkt dominierenden Billigkonkurrenz das Wasser abgraben konnten.

Die ersten rechtsverbindlichen Vereinbarungen über die Zusammensetzung von Spirituosen zielten mangels präziser Analysen Ende der 1890er Jahre auf die Gefahrenabwehr. Festgeschrieben wurde einerseits, welche gesundheitsgefährdenden Zusätze und Rückstände im Endprodukt nicht mehr enthalten sein durften, andererseits schuf man erste Obergrenzen für unerwünschte Stoffe, etwa die gängigen Fuselöle (W[ilhelm] Fresenius und K[arl] Windisch, Branntweine und Liköre, Vereinbarungen zur einheitlichen Untersuchung und Beurtheilung von Nahrungs- und Genussmittel sowie Gebrauchsgegenständen für das Deutsche Reich. Ein Entwurf, H. II, Berlin 1899, 123-133). Parallel bemühte sich insbesondere das Reichsgesundheitsamt um ein positives Wissen über Trinkbranntweine, darunter auch Rum. Da die kolonialen Produktionsverfahren zwar zumeist als „primitiv“ abgewertet wurden, im Detail aber unbekannt waren, analysierte man weiterhin Rumproben gängiger Importware, erhielt aufgrund der Variabilität dieser Angebote jedoch nur recht allgemeine Referenzdaten (Karl Windisch, Beiträge zur Kenntnis der Edelbranntweine, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 8, 1904, 465-505, hier 482-483). Die langsam beginnende Rationalisierung der Rumproduktion in Übersee mittels westlicher Maschinen begrüßte man, hoffte man doch auf stärker standardisierte Waren. Doch man ging nicht dazu über, Erkundigungen vor Ort einzuholen, etwa bei der 1862 gegründeten kubanischen Firma Bacardi oder der in Barbados seit 1892 mit deutschen Maschinen produzierenden West India Rum Refinery der aus Peine stammenden Brüder Hermann (1856-1916) und Georg Stade (1863-1922).

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Mechanisierung der kolonialen Rumproduktion durch deutsche Maschinen (Louisiana Planter and Sugar Manufactor 11, 1893, Nr. 6, XVII)

Der auf die angebotenen Waren gerichtete Fokus führte allerdings zur raschen Übernahme französischer Analysemethoden, die seit den 1890er Jahren das Aromenspektrum der Alkoholika genauer fassten; eine Konsequenz wachsender chemischer Kenntnisse über Ester, flüchtige Säuren, Aldehyde und natürlich höhere Alkoholverbindungen. Ebenso wichtig wurden Hefeanalysen, die vornehmlich von dänischen Spezialisten vorangetrieben wurden. Die wohl wichtigste methodische Innovation war jedoch die 1908 von dem Grazer Chemiker Karl Micko (1867-1948) entwickelte fraktionierte Destillation. Der Rum wurde in acht Fraktionen eingeteilt, die dann einzeln untersucht wurden. Insbesondere die höheren Fraktionen erlaubten, das Aromenspektrum recht genau zu erfassen (Karl Micko, Über die Untersuchung des Jamaika- und Kunst-Rums und zur Kenntnis des typischen Riechstoffes des Jamaika-Rums, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 16, 1908, 433-451, insb. 434-435). Damit waren quantitativ erfassbare Referenzdaten abseits von Alkohol- und Wassergehalt möglich, ergänzende Geruchsproben erlaubten eine Feinjustierung. Mickos Methode war ausgefeilt, praktikabel, schied gut zwischen Kunst-, Facon- und Importrum – und wurde rasch auch in der englischsprachigen Welt rezipiert (Karl Micko, Researches on Jamaica and Artificial Rum, International Sugar Journal 11, 1909, 225-232, 410-414, 446-451). Die Folge war, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg sensorische Verfahren durch quantitative Verfahren ergänzt wurden und Nahrungsmittelchemiker ihre Kontrollaufgaben besser versehen konnten (A[lbert] Jonscher, Zur Kenntnis und Beurteilung von Rum, Rumverschnitten und Kunstrum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 20, 1914, 329-336, 345-349, insb. 333, 346). Mickos Methode erlaubte aber zugleich eine Feineinstellung bei der Entwicklung neuer Produkte, so auch des „Deutschen Rums“.

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Neue Begrifflichkeiten: Rum-Verschnitt (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 68 v. 21. März, 16)

Parallel veränderten sich die amtlichen resp. von den Interessenten akzeptierten Bewertungsmaßstäbe des Rums. Die Nahrungsmittelchemiker mussten dabei eine bittere Niederlage einstecken: Verschnittrum (heute als „Echter Rum“ bezeichnet) wurde in festgesetzten Grenzen vom Odium der Verfälschung befreit (W[ilhelm] Bremer, Trinkbranntweine und Liköre, in: K[arl] v. Buchka, Das Lebensmittelgewerbe, Bd. I, Leipzig 1914, 701-901, hier 799). Grund hierfür waren auch die Debatten und Festsetzungen im Rahmen der Branntweinsteuergesetzesnovelle 1909. Für Kognak wurde damals ein Mindestalkoholgehalt von 38 % festgelegt – und an diesem Wert orientierten sich auch Rumanbieter und Gerichte (Gerichtsentscheidung über die Alkoholstärke von Jamaika-Rum, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 7, 1909, 196-197). Während des Ersten Weltkrieges sank der noch nicht rechtsverbindliche Alkoholgehalt jedoch auf deutlich niedrigere Werte (Alkoholgehalt von Rum u. Arrak im Krieg, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 16, 1918, 62). Das Branntweinmonopolgesetz fixierte daraufhin 1918 den Mindestalkoholgehalt für Rum und Arrak verbindlich auf 38 % (heute 37,5 %). Das war der Auftakt für eine weitergehende Regulierung durch das 1927 erlassene Lebensmittelgesetz (Bund Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikanten und Händler, Zeitschrift für angewandte Chemie 40, 1927, 628-630, hier 628). Festgeschrieben wurden neben dem Alkoholgehalt auch Herkunftsbezeichnungen und Kennzeichnungspflichten, entstanden zudem neue Begriffsdefinitionen für die unterschiedlichen Rumarten (Begriffsbestimmungen für Branntwein und Spirituosen, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1928, 143-145, 163-165, 173-174, hier 164; G[eorg] Büttner, Über die Bezeichnung von Trinkbranntweinen, ebd. 1931, 15-16, hier 16).

Die Regulierungsbemühungen schufen recht verlässliche Rahmenbedingungen im Rummarkt just weil sie sich an der deutschen Marktrealität orientierten. Der „echte“ Importrum galt als Referenz, auch wenn er im Absatz nach wie vor eine seltene Ausnahme war. Facon- und Kunstrum prägten weiter den Markt, mochte ersterer nun auch als Rum-Verschnitt bezeichnet werden. Die Sprachspiele der Chemiker und Regulierungsbehörden erlaubten aber zugleich die Neubelebung und Umsetzung der alten Idee vom „Deutschen Rum“ aus heimischen Rohstoffen, vorrangig aus Rübenzuckermaterialien.

Neue Anläufe: „Deutscher Rum“ aus Zuckerprodukten vor dem Ersten Weltkrieg

Allerdings stellte sich im späten 19. Jahrhundert zuvor die Frage, ob „Deutscher Rum“ nicht in den deutschen Kolonien produziert werden konnte. Das wurde in der Tat versucht, scheiterte aber wie so viele Kolonialunternehmungen. Das lag teils an den klimatischen Bedingungen, teils an anderen Zielsetzungen der überraschend wenigen Kolonialgesellschaften. In Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, wurde Zucker schon vor 1885, der deutschen Inbesitznahme der Kolonie, von arabischen Geschäftsleuten mit Hilfe von Sklaven und Kontraktarbeitern angebaut. Die Plantagenwirtschaft diente ebenso wie die Rumproduktion vornehmlich dem Eigenbedarf. Das wollten die deutschen Machthaber ändern, gelang aber nur ansatzweise: „Very little is exported; but a refinery has been built at Pangani, where rum is made for export. Plantations have been started in the Wilhelmstal and Kondon Irangi Districts“ (Handbook of German East Africa, hg. v. d. Admirality War Staff. Intelligence Division, London 1916, 237).

Die 1897 aus dem Zuckersyndikat für Deutsch-Ostafrika hervorgegangene Pangani-Gesellschaft zielte darauf, in die Fußstapfen der Araber Deutsch-Ostafrikas zu treten, Sirup und Zucker für die Kolonie und ihre Nachbarn zu produzieren (Ein neuer Kolonisationsplan für Deutsch-Ostafrika, Wochenblatt für Wilsdruff […] 1897, Nr. 104 v. 4. September, 5). Aus dem Rohrzucker sollte zudem Rum für den deutschen Markt produziert werden. Die von hochrangigen Publizisten, Staatsbeamten und Unternehmern getragene und mit einem Kapital von 500.000 M ausgestattete Gesellschaft konnte sich ein fünfzehnjähriges Produktionsmonopol sichern, zudem Zoll- und Steuerfreiheit für den deutschen Kolonialrum. Die Zielsetzung war ambitioniert: „Es bietet sich hier den deutschen Rum-Importeuren, welche schon lange von London, welches das Monopol für den kolonialen Rum hat, loskommen möchten, später eine günstige Gelegenheit für direkten Bezug“ (Die Pangani-Gesellschaft, Deutsche Kolonialzeitung 14, 1897, 214). Von Beginn an gab es Kritik an dem Unterfangen, mache es doch deutschen Rübenzuckerexporteuren unnötige Konkurrenz, nur um „feine Preise von den deutschen Konsumenten zu holen“ (Pangani-Cacao, Gordian 3, 1897/98, 1101-1102, hier 1101). Doch da die Zucker- und Rumfabrik von der renommierten Firma F. Hallström aus Nienburg a.d. Saale ausgestattet wurde, setzte man auf deren Expertise, auf die Qualität ihrer Maschinen (Leipziger Tageblatt 1898, Nr. 548 v. 28. Oktober, 8073).

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Gärstoffe für die koloniale Rumproduktion in Deutsch-Ostafrika: Die Rohrzuckerfabrik der Pangani-Gesellschaft im Bau (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Es gab allerdings unvorhergesehene Probleme, denn der Rohbau verzögerte sich aufgrund von Dürre und Hunger, so dass der Dampfer mit dem Maschinenpark nicht wie geplant entladen werden konnte. Rum, „welcher ja hochwillkommen zur Versorgung des Vaterlandes ist“ (Afrika 6, 1899, 128), konnte noch nicht produziert werden. Finanzierungsprobleme kamen hinzu, konnten aber überwunden werden (Frankenberger Tageblatt 1901, Nr. 12 v. 15. Januar, 3). Die britischen Kolonialkonkurrenten rechneten mit einem Produktionsbeginn 1901 (Germany. Report for the year 1900 on German East Africa, London 1901, 29). Doch es gab weitere Verzögerungen, so dass der frühere Siedler und Kolonialpropagandist August Seidel schließlich vermelden musste, die Pangani-Gesellschaft „fabrizierte Zucker und Rum, beide von guter Qualität, konnte sich aber nicht halten, da sie zu teuer gebaut und daher Mangel an Betriebskapital hatte“ (Unsere Kolonien, was sind sie wert, und wie können wir sie erschliessen?, 2. Ausg., Leipzig 1905, 53). Mitte 1903 trat sie in Liquidation. Deutscher Kolonialrum wurde in Deutsch-Ostafrika zwar produziert, doch gelangte er nicht nach Deutschland. Er wurde lokal verkauft, diente auch als Brennmaterial für Spirituskocher deutscher Naturforscher (A. Zimmermann, Zweiter Jahresbericht des Kaiserl. Biologisch-Landwirtschaftlichen Instituts Amani für das Jahr 1903/04, in: Berichte über Land- und Forstwirtschaft vom Kaiserlichen Gouvernement von Deutsch-Ostafrika […], Bd. 2, Heidelberg 1904-1906, 204-263, hier 253).

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Die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss kurz vor der Fertigstellung (Deutsche Kolonialzeitung 16, 1899, 539)

Gleichwohl war die Rumfabrik am Pangani-Fluss auch nach dem Konkurs ein Experimentierort für deutsche Zuckerexperten, wurde sie doch weniger ambitioniert fortgeführt (V[iktor] v. Lignitz (Hg.), Die deutschen Kolonien ein Teil des deutschen Vaterlandes, Berlin 1908, 35). Anfang der 1920er Jahre berichtete der Frankfurter Chemiker Georg Popp (1861-1943) über die schwierigen Versuche in der kolonialen Peripherie: „Wahrscheinlich waren die Gärungsorganismen nicht die gleichen“ ([Hugo] Haupt, Ueber Deutschen Rum, Zeitschrift für öffentliche Chemie 27, 1921, 253-261 (inkl. Disk.), hier 260). Die klimatischen Unterschiede zur Karibik versuchte man aber durch den Einsatz von kubanischer Reinzuchthefe wettzumachen. Der Frankfurter Chemiker Heinrich Becker (1861-1931) berichtete später jedenfalls stolz, dass es dadurch vor Ort gelungen sei “die Herstellung eines vorzüglichen Rums zu ermöglichen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Bundesarchiv (= BA) R 86, Nr. 5340). Obwohl die Zucker- und Rumfabrik am Pangani-Fluss ökonomisch scheiterte, gewannen deutsche Experten hier Wissen, das später helfen sollte, „Deutschen Rum“ aus heimischen Zuckerprodukten herzustellen.

Das Scheitern des deutschen Kolonialrums bedeutete zudem nicht, dass „Deutscher Rum“ nicht schon im späten 19. Jahrhundert ein Handelsprodukt war – allerdings nicht im Sinne eines rumgleichen heimischen Trinkbranntweins. Das Gegenteil war der Fall. Zum einen war „Deutscher Rum“ eine global recht erfolgreiche Handelsware. Dabei aber handelte es sich aber nicht um edle Tropfen, sondern um preiswerten Kunstrum. Hamburg allein exportierte Anfang der 1890er Jahre jährlich ca. 10.000 hl Kunstrum nach Westafrika, eine Zahl, die man ins Verhältnis zum gesamte Rumimport Deutschlands setzten muss. Dieser betrug 33.000 hl (inklusive Transfer) (Rum, in: Brockhaus‘ Konversations-Lexikon, 14. vollständig neu bearb. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1895, 13). Deutsche, aber auch französische Produzenten dominierten mit ihren Rumimitaten koloniale Peripherien, setzten dabei auf aromatische Zusätze und billigen Kartoffelspiritus, mochte die Qualität der Ware auch „of the worst description“ sein (Liberia 1896, Nr. 8, 54).

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Destillationsblase und Retorten zur Rumproduktion in einer Zuckerplantage in Jamaika 1904 (Library of Congress, LC-DIG-stereo-1s30276)

In derartigen Exporten waren auch beträchtliche Mengen „German Rum“ enthalten. Darunter verstand man eine vornehmlich von kleineren Anbietern in Jamaika hergestellte Rumvariante, die einen besonders hohen Gehalt an Aromastoffen besaß und daher hohe Preise erzielte. Die Bezeichnung spiegelte die Handelsströme – „‚German Rum’—because it all goes to Germany“ (The Sugar Cane 19, 1887, 262-263, hier 262). Diese Rumart war praktisch nicht trinkbar, sondern diente der massenhaften Produktion von Fassonrum in Deutschland (Percival H. Greg, Contribution to the Study of the Production of the Aroma in Rum. III., The Sugar Cane 28, 1896, 397-404, hier 402; Commercial Relations of the United States with Foreign Countries during the Years 1896 and 1897, Bd. 1, Washington 1898, 646-647). In der britischen Kolonie versuchte man die Produktion von „German Rum” einzudämmen, denn er wurde in traditioneller Weise gefertigt und beschädigte das Renommee des Jamaikanischen Rums: „‚German rum’ has prejudiced the sale-value and public estimation of Jamaica rum. It also makes it impossible to protect the valuable asset of the name possessed by Jamaica rum, since certain Jamaica rums are undrinkable as such and serve solely to flavour multiple puncheons of continental potato spirit” (West India Bulletin 8, 1902, 50). Auch auf deutscher Seite war Kritik am Export derartigen Faconrums zu vernehmen, entsprachen sie doch lang gehegten Vorurteilen von deutscher Imitations- und gewerblicher Epigonenkunst (Commercial Travelers in Foreign Countries […], T. 1, Salesmanship 2, 1904, 127-135, hier 127). Der jamaikanische „Imitation rum“ (British Medical Journal 1909, T. 2, 399-404, hier 403) war zugleich aber Anlass für jamaikanische Bemühungen um die Maschinisierung und Verwissenschaftlichung der Rumproduktion im wichtigsten Rumproduktionsland des Britischen Reiches (H.H. Cousins, Jamaica Rum, in: Minutes of Evidence taken by the Royal Commission on Whiskey and other potable Spirits with Appendices, Bd. 2, London 1909, 210-212, hier 211).

Deutscher Kolonialrum scheiterte, der „German Rum“ war Steigbügelhalter vermeintlicher deutscher Billigangebote und renommeeschädigend. Doch drittens setzten 1890 neuerliche Versuche ein, „Deutschen Rum“ aus heimischem Rübenzucker herzustellen – nicht als Abklatsch einer Kolonialware, sondern als gleichwertige Alternative. Der (Wieder-)Beginn entsprechender Forschung gründete auf zwei wichtigen Veränderungen: Zum einen setzte die US-Regierung 1890 mit dem McKinley-Zolltarif auf einen noch stärkeren Schutzzoll, verteuerte dadurch die deutschen Rübenzuckerimporte, gab zugleich den Startschuss für den Aufbau einer eigenen US-Rübenzuckerindustrie. Die hochsubventionierte deutsche Exportindustrie musste nach neuen Absatzmöglichkeiten Ausschau halten. Zum anderen hatten sich die wissenschaftlich-technischen Rahmenbedingungen deutlich gewandelt. Deutsche Zuckerexperten hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren französischen Kollegen den Rang abgelaufen, die deutsche Maschinenbauindustrie war innovationsstark, überholte auf den Weltmärkten die böhmische, belgische und französische Konkurrenz. Die Produktion höchst heterogener Rumarten mittels Zusätzen und Essenzen hatte das Wissen um die Vorgänge bei der Gärung und der Destillation deutlich erweitert. Man wusste auch – zumindest theoretisch – warum der „Deutsche Rum“ aus Rübenzucker die Qualität des westindischen Kolonialrums nicht erreicht hatte (so schon Johannes Rudolf Wagner, Die chemische Technologie, 4. umgearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1859, 459).

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Alexander Herzfeld und die frühere Spritbrennerei in Alt-Ranft (Universitätsarchiv TU Berlin 601, Nr. 272: Wikipedia)

Alexander Herzfeld (1854-1928), Leiter des Laboratoriums des Vereins der deutschen Zuckerindustrie und späterer Professor an der TH Charlottenburg, versuchte 1889/90, konkrete Verfahren für die Produktion von „Deutschem Rum“ zu entwickeln. Anders als die Produzenten im frühen 19. Jahrhundert wusste er mehr über die alkoholische Gärung und die dabei entstehenden Geschmackstoffe. Obwohl die koloniale Produktion für ihn hoffnungslos überholt war, nutzte er doch deren Grundstruktur, zumal der in Jamaika. Dies bedeutete neben der Rohware den Einsatz von weiteren Gärmaterialien, des sog. Dunders, um dem Rum einen charakteristischen Geschmack zu geben. Dessen genaue Zusammensetzung war unklar, doch über die Vergärung der eingesetzten Abfallstoffe und des Abschaums der Zuckerproduktion wusste man einiges. Die Gärungstechnologie dieser Zeit hatte durch den Einsatz von (vornehmlich dänischer) Reinhefe bemerkenswerte Erfolge beim Bierbrauen und in der Milchwirtschaft erzielt. Das Scheitern des Liebig-Horsfordschen Backpulvers hatte zuvor gezeigt, dass im unspezifischen Sauerteig sich Stoffe befanden, die einem daraus bereiteten Brot ein wesentlich breiteres Aroma verliehen als chemisch berechenbare Treibstoffe.

Herzfeld initiierte drei Versuchsreihen mit unterschiedlichen Rohmaterialen. In der Weender Brennerei des Gutsbesitzers Georg Werner nutzte man Rübensaft aus der Zuckerfabrik Nörten. Diese Versuche erfolgten in enger Kooperation mit der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Weende (einem Vorort von Göttingen), die sich seit ihrer Gründung 1857 zu einem Wissens- und Technologiezentrum in Norddeutschland entwickelt hatte. Lange geprägt von dem chemischen Technologen und Zuckerexperten Friedrich Stohmann (1832-1897), erweiterte der Agrarwissenschaftler Wilhelm Henneberg (1825-1890) dessen Forschungsfeld auch auf die Tierernährung – also einem wichtigen Feld der Reststoffverwertung von Zuckerschnitzeln, Rübenschlempe und Rübenblättern. Im brandenburgischen Alt-Reft stand dagegen Zuckermelasse im Mittelpunkt. In dem nahe von Bad Freienwalde gelegenen Örtchen bestand seit Anfang der 1860er Jahre eine Brennerei und eine Zuckerfabrik im Besitz von Graf Edwin von Hacke (1821-1890), einem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten. Drittens ließ Herzfeld auch den Einsatz von Rohzucker testen. Die Versuche waren nicht wirklich erfolgreich, doch sie eröffneten einen klaren Blick auf die notwendigen Bedingungen der Produktion „Deutschen Rums“. Rübensaft und Melasse schieden aus Herzfelds Sicht als Grundstoffe aus, da ihre Gärung eine zu breite Palette von nicht kontrollierbaren Aromastoffen hervorrief. Rübenzucker aber schien eine vielversprechende Ausgangsbasis zu bilden, allerdings in deutlich reinerer Form als üblich. Dann aber könne man hoffen, „dass durch Anwendung geeigneten Dunders, der unter Zusatz ähnlicher Stoffe wie in Indien gebräuchlich sind […], sich durchaus ein Rum von guter Qualität wird erzielen lassen“ (Herzfeld, 1890, 679).

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Lernen von fernen Vorbildern: Die Karibik Anfang der 1880er Jahre (Petermanns Mitteilungen 27, 1881, 311)

Die Resonanz auf diese Versuche war nicht unbeträchtlich: Auf der einen Seite war klar, „daß auf dem eingeschlagenen Wege die Erreichung des vorgesteckten Zieles wohl möglich sei, wenn schon im Einzelnen noch viel zu thun übrig bleibt und manche Hindernisse zu überwinden seien“ (Sell, 1891, 227). Deutsche Wissenschaft wäre handlungsfähig, könne einen „Deutschen Rum“ in akzeptabler Qualität herstellen: „Würde auch dieser R[um] dem echten nicht gleichwertig sein, so spricht doch alles dafür, daß er die außerordentlich minderwertigen Nachahmungen des Rums, die sich bei uns im Verkehr befinden, leicht verdrängen würde“ (Rum, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 19, Jahres-Supplement 1891-1892, Leipzig und Wien, Leipzig und Wien 1891, 789-790, hier 790). „Deutscher Rum“ war aus dieser Perspektive eine Art materialisierte Sozialtechnologie, war ein typisches Besserungsangebot bürgerlicher Wissenschaftler an die unwissende und irrational agierende Bevölkerungsmehrheit. Ferner wusste man, dass „Deutscher Rum“ einen Markt nur dann finden würde, wenn das Produkt mit Billigangeboten konkurrieren konnte.

Angesichts der noch erforderlichen hohen Investitionen war es nicht verwunderlich, dass sich abseits der Laboratorien und Versuchsstätten keine Unternehmer fanden, die erforderliche Investitionen wagen wollten. Es gab auch keine weiteren Versuchsreihen durch die Zuckerindustrie oder im breiten Netzwerk der landwirtschaftlichen Versuchsstationen – ein Widerhall der gerade bei Nahrungsmittelchemikern verbreiteten Skepsis, ob Herzfelds Ideen wirklich umsetzbar waren (Paul Lohmann, Lebensmittelpolizei, Leipzig 1894, 146; Fritz Elsner, Die Praxis des Chemikers […], 7. durchaus umgearb. u. wesentl. verm. Aufl., Hamburg und Leipzig 1900, 444). Sie litten unter dem Makel von „nicht zum erfolgreichen Abschluß gebrachten Experimente[n]“ (Franz Lafar, Handbuch der Technischen Mykologie, Bd. 5, 2. wesentl. erw. Jena 1905-1914, 340). Hinzu kamen zwei allgemeinere Veränderungen: Einerseits war es derweil gelungen, die Nebenprodukte der Rübenzuckerindustrie als Teil von melassehaltigen Futtergemischen erfolgreich zu vermarkten (Chr[istian] Grotewold, Die Zuckerindustrie, Stuttgart 1907, 98-100). Zum anderen schloss sich die Spiritusbranche Ende der 1890er Jahre zu einem Syndikat zusammen, so dass von einem freien Marktgeschehen nicht mehr die Rede sein konnte. Um die stetig wachsenden Mengen von Weingeist abzusetzen, wurden immer größere Mengen des Alkohols technisch verwertet. Neue Trinkbranntweine waren in diesem Umfeld kaum erwünscht – und sie wären durch die hohe steuerlich Belastung gegenüber Kunst-, Facon- und Rumessenzrum ohne Sonderregelungen auch nicht wettbewerbsfähig gewesen. „Deutscher Rum“ aus Rübenzucker blieb denkbar, doch auch angesichts des allgemein steigenden Lebensstandards schien ein solches Substitut nicht mehr zeitgemäß. In Satirebeilagen wurde er gar als Ausdruck überbürdenden Nationalismus verspottet: „Fahre hin, du stolzes Schiff, und trage deutschen Fleiß, deutsches Wesen und deutschen Rum an die fernen Gestade!“ (Aus dem Aufsatzhefte eines Schülers, Neues Wiener Journal 1900, Beilage Humor, Nr. 73, 9).

Spirituosen als überflüssiger Luxus

Der Erste Weltkrieg führte zu einem weiteren massiven Rückgang des Trinkalkoholkonsums. Alkohol diente nun vorrangig technischen Zwecken, war Teil der Sprengstoffproduktion und der chemischen Industrie, diente als Heiz- und Beleuchtungsmittel, zur Essigbereitung und für pharmazeutische Zwecke. Neue Verfahren, etwa Alkoholproduktion aus Holzabfällen oder Sulfitcellulose, schienen noch eine längere Anlaufphase zu benötigen (Protokoll einer Besprechung im Kriegsernährungsamt v. 7. Oktober 1916, BA R 86, Nr. 5339, I 2554). Trinkbranntweine wurden zwar weiter produziert, dienten aber vorrangig für Heereszwecke. Ersatzmittel drangen vor, auch für Rum, dessen Import größtenteils zum Erliegen kam.

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Liebesgabe aus „feinstem Rum“ – eine typische Irreführung im Jahre 1916 (BA R 86, Nr. 5539)

Damit versiegte erst der Nachschub für Verschnitt- und Faconrum, dann aber auch für den so weit verbreiteten Kunstrum. 1916 verbot man die Spiritusnutzung für die Trinkbranntweinversorgung der Zivilbevölkerung. Übrig blieben allein Essenzen und synthetische Aromen. In einem auf die Grundversorgung reduzierten Versorgungsalltag boten sie – zu weit überhöhten Preisen – noch ein wenig geschmackliche Abwechslung. Doch Rumersatz enthielt vielfach nicht nur keinen Rum, sondern mutierte zu dem „Surrogat eines Ersatzmittels“: „Der angebliche Rum bestand aus einer mit Saccharin versüßten Flüssigkeit, der ein wenig parfümierte Essenz beigemengt war“ (beide in Die Zeit 1918, Nr. 5681 v. 23. Juli, 5). Derartige Alkoholsubstitute waren alkoholfrei, dienten als eine überteuerte Würze für Tee, für einen virtuellen Grog (Arbeiterwille 1918, Nr. 1 v. 1. Januar, 7). Diese bedrückende Situation änderte sich auch 1919 nicht, 1920 nur langsam. Die Ersatzmittel waren Teil der Krisensituation der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu dem auch der wachsende Hass auf die Gegenwelt der Krisengewinnler gehörte: „Die wässerigen Käse, den Eiersatz, den Teeersatz, den Rumersatz, und all das andere Gemisch und Gepantsch, das unter Fluchen und Würgen als Nahrung betrachtet werden mußte, sollte jetzt ausschließlich zur Verpflegung der Schieber verwendet werden“ (Das interessante Blatt 39, 1920, Nr. 32 v. 5. August, 5). In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Importrum ein Getränk des Feindes, des inneren und äußeren. Auf der einen Seiten die Kolonialmächte der Entente, auf der anderen die vielbeschworenen Kriegsgewinnler und Schieber, die damit Geschäfte machte, ihn sich auch leisten konnten.

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Fehlender Trank bei der Truppe: Von der Liebesgabe zum Rauschersatz durch Rumersatz (BA R 86, Nr. 5539; Kriegszeitung der 1. Armee 1918, Nr. 153 v. 28. April, 7)

Die unmittelbare Nachkriegszeit bot der heimischen Spirituosenindustrie eigentlich ideale Rahmenbedingungen, gab es doch nach der faktischen Prohibition einen beträchtlichen Nachholbedarf. Zudem hatte die Kriegspropaganda immer wieder die Vorrangstellung der deutschen Wissenschaft, insbesondere der deutschen Chemie hervorgehoben: „Die Chemie ist die Wissenschaft der unbegrenzten Möglichkeiten; sie kann alles, man muß ihr nur Zeit lassen“ (Alfred Hasterlik, Von der Suppe in der Westentasche, Kosmos 10, 1913, 330-332, hier 332). Beides bot Marktchancen für eine Alternative zum kaum erschwinglichen Importrum, zum vielfach nicht verfügbaren und zudem deutlich verteuerten Kunstrum. Hinzu kam, dass im Jahrzehnt der Ernährungskrise die Anspruchshaltungen deutscher Konsumenten sanken, dass es um eine auskömmliche Grundversorgung ging und man der „Phrase von individuellem Geschmack“ (K[arl] B[ornstein], Hygienische Plauderei! Helfer der Hausfrau, Blätter für Volksgesundheitspflege 23, 1924, 84-86, hier 85) vielfach skeptisch gegenüberstand.

Nach dem Einschnitt des Ersten Weltkriegs verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der deutschen Spirituosenindustrie. Trotz hoher Abschöpfung schuf die mit dem Branntweinmonopol 1918 resp. 1922 einhergehende Regulierungsbehörde eine gewisse Rechtssicherheit. Parallel gewann der Außenhandel neue Bedeutung. Die begrenzten, durch die Auflösung der Heeresbestände noch unterstützten inländischen Spritbestände wurden durch Importe ergänzt. Zugleich konnten Markenprodukte insbesondere in neutralen Staaten zu attraktiven Preisen verkauft werden. Neuartige Produkte hatten daher beträchtliche Marktchancen (Die Lage der deutschen Spirituosenindustrie, Vorwärts 1920, Nr. 390 v. 6. August, 5). Die schon lange vor der Hyperinflation 1923 rasch steigenden Preise schränkten die Konsummöglichkeiten jedoch immer noch ein. Ende 1920 verzichtete man daher auf den vor Kriegsbeginn üblichen Silvesterpunsch. Verzicht blieb Bürgertugend: „So kroch mancher vorzeitig in die Federn und verschlief den Neujahrsbeginn recht gründlich“ (Amtliches Wittgensteiner Kreisblatt 1921, Nr. 1 v. 4. Januar, 3).

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Branntweinproduktion und -konsum im Deutschen Reich 1898-1918 (Goetz Briefs, Spiritusindustrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 4. gänzl. umgearb. Aufl., hg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber und Friedrich Wieser, Jena 1926, 713-724, hier 718)

Die Rahmenbedingungen für „Deutscher Rum“ verbesserten sich aber auch durch strikte öffentliche Kritik an unangemessenem Luxus zugunsten der siegreichen Kolonialmächte des Westens. Georg Heim (1865-1938), populistischer BVP-Politiker, wetterte in der Nationalversammlung gegen den „Aberwitz“ des Rum- und Arrakimportes: „Es ist doch heller Wahnsinn, wenn wir heute noch Luxuseinfuhr gestatten“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 331, Berlin 1920, Debatte v. 6. Dezember 1919, 3921). Angesichts von Zuckerimporten zur Weinstreckung und Schnapsbereitung und von weiteren Rum- und Arrakimporten in Höhe von 25 Millionen M forderte auch der SPD-Abgeordnete Lorenz Riedmiller (1880-1960): „diese Dinge müssen aufhören!“ (Ebd., Bd. 346, Berlin 1921, Debatte v. 10. Dezember 1920, 1611). Der Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung – die Rationierung dauerte fort – verwies entschuldigend darauf, dass das Importkontingent von 500.000 Litern Rum und Arrak vorrangig „für medizinische Zwecke“ diene, dass weitere Importe für die Versorgung der Handelsschiffe und der Exporthäuser der Hansestädte erforderlich seien (Ebd., Bd. 341, Berlin 1920, Nr. 2147, 3347; ebd., Bd. 365, Berlin 1920, Nr. 1268, 868). Doch die öffentliche Meinung repräsentierte eher der SPD-Abgeordnete Wilhelm Sollmann (1881-1951), Abstinenzler und Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Versailles, der den Import „solcher gänzlich überflüssigen Luxusgenußmittel“ für nicht mehr zeitgemäß hielt (Ebd., Bd. 364, Berlin 1920, Nr. 809, 575). Ein „Deutscher Rum“ entsprach also den Möglichkeiten und Erfordernissen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Und in der Tat präsentierte einer der führenden Spirituosenproduzenten Deutschlands, die Magdeburger und Stargarder Firma H.A. Winkelhausen, auf der Hannoveraner Anuga 1921 einen „Deutschen Rum“, hergestellt aus deutschen Rohstoffen. Das erschien als Durchbruch, als weitere Glanzleistung deutscher Wissenschaft und Technik.

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Zurückhaltende Werbung für „Deutschen Rum“ aus dem Hause Winkelhausen (Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 288 v. 24. Juni, 6)

Wissenschaftliche Präsentation eines vermeintlichen Durchbruchserfolges

Abseits dieser in zahlreichen Illustrierten und Zeitungen geschalteten redaktionellen Werbung (Jugend 26, 1921, 574; Illustrierte Zeitung 157, 1921, Nr. 4052 v. 14. Juli, 10; Münchner Neueste Nachrichten 1921, Nr. 394 v. 17. September, 21) erfuhr die Öffentlichkeit vom neuen „Deutschen Rum“ aus Rübenzucker seit Oktober 1921: „Zwei deutschen Firmen ist es gleichzeitig gelungen, nach langjährigen Versuchen unter Anwendung aller modernen Hilfsmittel und durch genauer Anpassung an die tropischen Verhältnisse in Jamaica, aus heimischen Zuckerrübenabfällen einen deutschen Rum herzustellen, der echten Auslandsrum an Güte mindestens gleichkommt, viele Importware sogar wesentlich übertrifft. Diesem Erfolg kommt eine hohe wirtschaftl. Bedeutung zu, denn die großen Vermögenswerte, die früher dem Ausland zuströmten, werden jetzt dem heimischen Gewerbe verbleiben“ (Deutscher Rum, Durlacher Tageblatt 1921, Nr. 247 v. 23. November, 4; zuvor schon Deutscher Rum, Kölnische Zeitung 1921, Nr. 737 v. 31. Oktober, 10). Derartige Artikel fassten die Ergebnisse erster nunmehr in der Fachöffentlichkeit publik werdender Informationen zusammen. Der Verband selbständiger öffentlicher Chemiker Deutschlands beschäftigte sich Mitte September mit dem Thema, präsentierte dabei die Wilthener C.T. Hünlich AG als Motor der Innovation. Diese habe bereits 1909, zwölf Jahre zuvor, mit entsprechenden Forschungen begonnen (Haupt, 1921, 253). Im Dezember 1921 wurde dies durch ein ausführliches Gutachten (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Zeitschrift für angewandte Chemie 34, 1921, 621-623, 629-634) nochmals unterstrichen. Die Forschungen der mit Hünlich eng kooperierenden Winkelhausen-Werke wurden kurz danach veröffentlicht (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, 185-186). Es folgten eine Reihe einschlägiger Berichte in Zeitungen im In- und Ausland (Deutscher Rum – eine neue Tat deutscher Technik, Meraner Tagblatt 1922, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Deutscher „Jamaika“-Rum, Niederrheinisches Tageblatt 1922, Nr. 123 v. 27. Mai, 6). Doch die Zahl enthusiastischer, preisender Artikel blieb gering. Stattdessen dominierten sachliche Wiedergaben einschlägiger Fachartikel (Jahresbericht für Agrikultur-Chemie 65, 1922, 365; Chemiker-Zeitung 46, 1922, 934, Zentralblatt für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 3, 1923, 370). Immerhin war „Deutscher Rum“ zumindest bis 1923 ein von unterschiedlichen Experten diskutiertes Thema (O[tto] Mezger und H[ugo] Jesser, Deutscher Rum, Süddeutsche Apotheken-Zeitung 63, 1923, 329-330, 351-353).

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Produktionsstätten der C.T. Hünlich AG Anfang der 1920er Jahre (BA R 86, Nr. 5340)

Dabei ging es einerseits um die Produktionstechnik, also die eigentliche Innovation. Die C.T. Hünlich AG stand dabei im Mittelpunkt der Berichterstattung. Nähere Angaben zur Firmengeschichte übergehe ich, doch Hünlich war einer der führenden deutschen Weinbrandproduzenten des Deutschen Reiches, Carl-Albert Hünlich (1853-1916) von 1896 bis 1914 Vorsitzender des Verbandes der deutschen Cognac-Brennereien (Detaillierte Angaben enthält BA R 8127, Nr. 10823, Hünlich 1917-1930). Die Firma hatte ein breites Angebot, das weitere Spirituosen, eine Spritfabrik, aber auch Nichtalkoholika mit einschloss. Hünlich war kein Markenartikler. Tochterfirmen, wie die 1911 gegründete Oppauer E.L. Kempe & Co. bedienten diesen Markt. Im Zentrum stand die Belieferung des Großhandels mit Destillaten, die dann umgefüllt, weiterverarbeitet und unter anderen Namen vertreiben wurden. Das passte zur Struktur des Rummarktes. Versuche mit „Deutschem Rum“ begannen 1909, Fritz Hünlich (1885-1931) zeichnete hierfür verantwortlich. Auch sein Bruder Rudolf Hünlich (1883-1924), der ab 1916 die Geschicke der 1917 zur Aktiengesellschaft umgewandelten Firma leitete, unterstützte diese Forschungsarbeiten. C.T. Hünlich richtete schon vor dem Krieg eine Versuchs-Rumbrennerei ein (Erster Geschäfts-Bericht der Cognac-Brennerei C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das Geschäftsjahr 1916-1917, s.p., BA R 8127, Nr. 10823), diskutierte die Pläne eines „Deutschen Rums“ auch mit dem Reichsschatzamt. Auch innerhalb der Nahrungsmittelchemie war dies bekannt, die Begriffsbestimmungen definierten „Rum“ daher im Gegensatz zu den britischen Regeln 1912 als ein „zur Zeit“ aus Zuckerrohrmelasse hergestellten Trinkbranntwein (Bericht v. Alfred Heiduschka v. 7. März 1921, BA R 86, Nr. 5340). Anfangs gab es Misserfolge, doch schon 1914 gab es einen „echten“ Rum „nach den auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschen Gärmaterialien hergestellt“ (Mezger und Jessen, 1921, 623; Deutscher Rum, Die Glocke 1921, Nr. 268 v. 19. November, 3).

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Pröbeln und Testen: Laboratorium der C.T. Hünlich AG 1925 (SLUB Dresden und Deutsche Fotothek Nr. 33129766)

C.T. Hünlich bildeten die Karibik im Kunstrum der Brennerei nach: „Die Vergärung erfolgt in temperierten Räumen, bei den hohen in den Tropen üblichen Temperaturen mit spezifischen Gärungserregern in mehreren getrennten Gängen. Die Zuckerrübenmelasse wird für sich vergoren und aus den bei der Destillation vorbleibenden Schlempen unter Zusatz von Rohzucker, stickstoffhaltigen Rückständen und Früchten ein Dunder bereitet, indem man diese Mischung einer Bakteriengärung in hoch beheizten Räumen unterwirft. Hierbei bilden sich neben wohlriechenden aromatischen Substanzen auch unerwünschte Körper, deren Abtrennung nach einem besonderen Vorfahren vorgenommen wird. Dieser fertig präparierte Dunder wird nun in einem bestimmten Verhältnis der gärenden Melassemaische vor der Destillation zugesetzt. Es ist klar, daß die Art der Gärungsorganismen bei der Entwickelung des Rumaromas die grösste Rolle spielt, und es liegt nahe, dass man versucht hat, die Gärungserreger in Reinkulturen zu züchten und überzuimpfen, ähnlich wie es H. Becker s. Z. gelang, durch Einführung von Cubarumhefe in Deutsch-Ostafrika einen guten Rum zu erzeugen“ (Haupt, 1921, 253-254). Damit knüpfte Hünlich unmittelbar an die Vorarbeiten Alexander Herzfelds an ([Gustav] Dorfmüller, Ref. v. Hugo Haupt, Ueber deutschen Rum, 1921, Zeitschrift des Vereins der Deutschen Zucker-Industrie 71, 1921, 813), legte aber deutlich größeren Wert auf die Gärungsmaterialien, die Prozessführung und die Koordination der Grundgärung, der Dunderproduktion und der Aromatisierung des Brenngutes.

30_Winkelhausen_Magdeburg_Produktionsstaetten_Spirituosenindustrie_Weinbrand

Die Magdeburger Betriebsstätten der H.A. Winkelhausen AG 1926

Parallele Entwicklungsarbeit gab es kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch bei H.A. Winkelhausen, 1846 als Kolonialwaren- und Destillationsgeschäft in Preußisch-Stargard gegründet und während des Kaiserreichs ebenfalls eine führende Weinbrennerei. Standorte gab es im In- und Ausland, Anfang der 1920er Jahre beschäftigte die mittlerweile nach Magdeburg verlagerte Firma ca. 1200 Beschäftige (Westfälische Zeitung 1921, Nr. 208 v. 31. August, 6). Winkelhausen produzierte erfolgreiche und breit beworbene Markenartikel, auch sie wurde Anfang der 1920er Jahre eine Aktiengesellschaft. Seither kooperierten Winkelhausen und Hünlich eng, 1930 übernahm sie dann Hünlich und siedelte nach Wilthen um, ehe die Firmen 1931 wieder getrennte Wege gingen; wobei Winkelhausen Teil der Stettiner Rückforth AG wurde (nähere Informationen finden sich in BA R 907, Nr. 4758 resp. BA R 907, Nr. 9119).

Auch bei Winkelhausen folgte man Herzfelds Anregungen. Der Direktor besuchte vor dem Weltkrieg Jamaika, um die dortigen Verfahren genauer zu studieren. Anders als Hünlich versuchte man mit Unterstützung des Reichsschatzamtes zunächst eine Rumproduktion aus importierten Rohmaterialien Westindiens, verfolgte also Ideen weiter, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert und verworfen wurden. Parallele Versuche mit deutscher Rübenzuckermelasse ergaben vorzeigbare Resultate, doch mit einen unangenehmen Geruch und Beigeschmack (Kurt Brauer, Deutscher Rum, Chemiker-Zeitung 46, 1922, 161-163, hier 161). Der 1915 den staatlichen Behörden präsentierte Rum aus Rohrzucker überzeugte geschmacklich, konnte während des Weltkrieges aber nicht weiter hergestellt werden. Stattdessen konzentrierte man sich auf den Rum aus Rübenzuckermaterialien, verbesserte diesen, setzte nach Kriegsende allein auf dieses Verfahren, auch wenn er weiterhin einen „nicht angenehmen Beigeschmack“ (Ebd., 162) besaß. Vergleichende Verkostungen des „Deutschen Rums“ beider Produzenten ergaben jedoch bessere Werte für das Produkt des Hauses Winkelhausen (Kurt Brauer, Deutscher Rum. (Schluß.), Chemiker-Zeitung 46, 1922, 185-186, hier 186). Gleichwohl waren deutsche Experten zuversichtlich, dass das Destillat weiter zu verbessern sei; zumal durch eine längere Lagerung. Der Tenor war klar: „Sollte sich die neue Erfindung bewähren und sich deutscher Rum als Qualitätsmarke einbürgern, dann wäre unserer Volkswirtschaft wieder ein guter Dienst erwiesen“ (Deutscher Jamaika-Rum, Der Drogenhändler 1922, Nr. 6, 64, BA R 86, Nr. 5430).

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Deutscher Rum als Handelsmarke 1914 (Volksstimme 1914, Nr. 303 v. 30 .Dezember, 4 (l.); Rheingauer Bürgerfreund 1914, Nr. 153 v. 22. Dezember, 3)

„Deutscher Rum“ als Teil deutschen Wiederaufstiegs nach dem Ersten Weltkrieg

„Deutscher Rum“ war ein wahrgewordener Wissenschaftstraum, Ausdruck beharrlicher Entwicklungsarbeit, Beleg für die Leistungsfähigkeit der deutschen Spirituosenindustrie. Das war Labsal für die durch die Niederlage gebeutelte deutsche Seele. Doch abseits schwer zu fassender Gefühle schien „Deutscher Rum“ ein volkswirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fortschritt zu sein. Mochten bisher auch vorwiegend Proben vorliegen, so war man doch schon sicher, dass „die beträchtlichen Vermögenswerte, die früher dem Ausland für Importware zugeströmt sind, […] künftig zum großen Teile im Land verbleiben, ja es steht sogar zu erwarten, daß Deutschland seine guten deutschen Rume in die benachbarten Oststaaten exportieren wird“ (Stadlinger, „Deutscher Rum“, Dortmunder Zeitung 1921, Nr. 516 v. 4. November, 9). Stolzes Schulterklopfen war vernehmbar, der morgige Tag schien wieder der Deutschlands zu sein: „Wir stehen vor einer Glanzleistung der deutschen Industrie, einer Leistung, die besonders gerade in der Gegenwart allseitige Beachtung finden sollte. Es ist unbedenklich zuzugeben, daß die besten Sorten echten tropischen Rums besser sind als der deutsche Rum, aber die Industrie des deutschen Rums ist heute erst in ihren Anfängen und arbeitet, ermutigt durch den großen Erfolg, den sie errungen hat, unermüdlich an der Verbesserung ihres Erzeugnisses, und dann, wer kann heute noch die besseren Qualitäten echten Tropenrums bezahlen?“ (Werner Mecklenburg, Deutscher Rum, Berliner Tageblatt 1922, Nr. 3 v. 3. Januar, 5).

Die öffentliche Präsentation der Herstellungsverfahren sollte vor allem die in der technischen Simulation liegende Eigenleistung hervorheben. Nein, „Deutscher Rum“ sei kein Ersatzmittel, sondern ein deutsches Analogon, ähnlich, doch aus deutschen Rohmaterialien. Diese seien, das habe der Rübenzucker gezeigt, gleichwertig, doch angepasst an das so andere deutsche Klima. „Deutscher Rum“ erlaube zugleich die Reinigung des deutschen Marktes vom Kunstrum, denn das neue Produkt würde preiswert sein, zweieinhalb mal preiswerter als der Importrum. Mit Kunstrum sei es damit wettbewerbsfähig, zugleich aber aromatischer, abgerundeter. Es handele sich um „vollständige Wesensgleichheit“ (Mezger und Jesser, 1921, 634) mit Importrum, entsprechend wäre die Wahl für deutsche Konsumenten einfach. Im Reichsinnenministerium rechnete man mit verminderten Rumimporten, hoffte auf neue Exportchancen abseits des Kunstrums (Schreiben des Reichsministerium des Innern an das Reichsgesundheitsamtes v. 4. Juli 1923, BA R 86, Nr. 5430).

Begriffs- und Regulierungsprobleme

All das war aber immer noch eine Als-Ob-Diskussion. Nicht nur hatte die Massenproduktion noch nicht begonnen, sondern 1920 bis 1922 blieb offen, ob der Begriff „Deutscher Rum“ auch genehmigungsfähig war und wie er in das komplexe Rechtswerk der Branntweinregulierung zu integrieren sei. Die Debatte kann hier nicht ausgebreitet werden, obwohl sie bei vielen Bürokraten gewiss Zungenschnalzen auch abseits der Zungenprobe hervorrufen dürfte. „Deutscher Rum“ war umstritten, denn diesen konnte es eigentlich nicht geben in einer Welt, in der Rum aus der Ferne stammte, als Erzeugnis aus vergorenen Rohrzuckermaterialien galt. Hinzu kam der ausgeprägte Drang nach begrifflicher Präzision. In der ersten öffentlichen Diskussion sprach sich der langjährige Vorsitzende des Bund Deutscher Nahrungsmittelfabriken und -Händler August Ertheiler (1863-1959) dafür aus, einen Kunstbegriff (wie Weinbrand statt Kognak oder Sekt statt Champagner) zu entwickeln, parallel das Produkt zu verbessern, um dann erfolgreich zu sein (Haupt, 1921, 260-261). Albert Jonscher plädierte in einem Gutachten für „Echter Rum von C.T. Hünlich, Wilthen nach dem auf Jamaika üblichen Gärverfahren reell aus deutschem Gärmaterial hergestellt“ (Gutachten von A. Jonscher v. 2. März 1921, BA R 86, Nr. 5340), Heinrich Becker für „Deutscher Rum nach den für echten Jamaika-Rum üblichen Arbeitsverfahren aus Deutschem Rohstoff hergestellt von C.T. Hünlich, Aktiengesellschaft, Wilthen“ (Gutachten v. Heinrich Becker v. 11. März 1921, Ebd.).

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Großhandel mit „echtem“ Deutschem Rum und Deutschem Arrak (Dresdner Nachrichten 1923, Nr. 347 v. 16. Dezember, 21)

Die C.T. Hünlich AG beharrte dagegen auf der eigenen Bezeichnung „Deutscher Rum“ (Aktennotiz v. 9. Mai 1921 betr. Deutschen Rum, Ebd.; Beschreibung der Fabrikation des Deutschen Rums, ebd.) und konnte damit die Mehrzahl der Experten für sich einnehmen. Dem Reichsgesundheitsamt wurden eine Reihe befürwortender Gutachten zugesandt, führende Gärungschemiker und Nahrungsmittelchemiker wie Karl Lintner (1855-1926) oder Alfred Heiduschka (1875-1957) leistenden Flankenschutz. Die Bezeichnung Rum war für den Hersteller als Kaufargument natürlich entscheidend, zudem wollte man nicht schlechter gestellt werden als Kunstrumhersteller. Den Ausweg bot die Vorstellung der Wesensgleichheit von Produkten, wie sie etwa bei Rohr- und Rübenzucker bestand, die chemisch beide Saccharose waren. Rum sollte auf zuckerhaltige Ausgangsprodukte begrenzt werden. Das aber bedeutete nicht zwingend Zuckerrohr, denn dies wäre „gleichbedeutend mit einer parteilichen Stellungnahme zu Gunsten der Auslandserzeugnisse, zum Nachteile jeder fortschrittlichen Arbeit in der deutschen Gärungsindustrie. Eine solche Einseitigkeit müßte für die Dauer dazu führen, daß die allergeringwertigsten, aus rohen Abfällen des Zuckerrohrs in primitiver Weise erzeugten, kaum trinkbaren Auslandsrums bei der Beurteilung besser gestellt werden, wie das einheimische, mit modernen gärungstechnischen Hilfsmitteln gewonnene, wohlschmeckende Erzeugnis aus deutschen zuckerhaltigen Pflanzenstoffen. Der deutsche Verbraucher und der deutsche Nahrungsmittelchemiker sollte sich dabei namentlich nicht zuletzt auch die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung einer solchen heimatlichen Rumerzeugung vor Augen halten und nicht sklavisch am altherkömmlichen Buchstaben des Schrifttums festkleben!“ (Laboratorium Dr. Huggenberg & Dr. Stadlinger über „Deutschen Rum“ v. 14. März 1921, BA R 86, Nr. 5340) Ohne begriffliche Flexibilität sei fortschrittliche deutsche Forschung durchweg benachteiligt. Die Experten des Reichsgesundheitsamtes pflichteten der Bezeichnung intern grundsätzlich bei, doch angesichts laufender Rechtsstreitigkeiten hielten sie sich öffentlich zurück. Ihre Analyse des „Deutschen Rums“ ergab jedoch, dass dessen Geruch und Geschmack dem guter Importrumwaren „sehr nahe“ kam (Bericht des Reichsgesundheitsamtes v. 5. Juli 1921, Ebd.).

Das Gewicht der Firmen Hünlich und Winkelhausen, die Wortmacht ihrer Gutachter und Fürsprecher und die mit dem neuen Produkt verbundenen volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Überlegungen führten dazu, dass „Deutscher Rum“ schon vor Ende der Rechtsstreitigkeiten von Regierungen und Parlamenten in geltendes Recht integriert wurde. Bei der Novelle des Branntweinmonopolgesetzes wurde eigens ein neuer § 27, Abs. 2 eingefügt, um ein Abbrennen auch aus Rübenzuckermaterialien erlauben zu können. Die Produktion des „Deutschen Rums“ aus Rüben- und auch Apfelschnitzen könne „die Einfuhr ausländischen Rums“ begrenzen. Man müsse begrifflich flexibel sein, wolle man „den Fortschritt nicht hindern“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 371, Berlin 1922, Nr. 3616, 3619). Im 1927 erlassenen Lebensmittelgesetz weitergehende finden sich weitere Begriffsbildungen, insbesondere „Deutscher Rum-Verschnitt“ (Bund, 1927, 628). Neben dem Importrum eröffnete sich eine deutsche Parallelwelt.

Juristische Fehden um „Deutschen Rum“

„Deutscher Rum“ scheint damit auch ein Beispiel für die hohe Bedeutung wirtschaftlicher Interessen in der Gesetzgebung der Weimarer Republik zu sein. Doch das wäre zu einfach, denn die wirksamste Kritik an dem Begriff kam aus der Wirtschaft selbst. Dem Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten ging es dabei vorrangig um die Verteidigung vorher allgemein akzeptierter Begrifflichkeiten – und entsprechend warnte er seine Mitglieder vor dem Kauf des neuen Produktes, eines „Kunstrums“. Hünlich verklagte daraufhin den Verband wegen Rufschädigung. Eine einstweilige Verfügung erging, wurde in Frage gestellt, vom Berliner Kammergericht dann aber bestätigt. Eine Entscheidung aber blieb weiter vakant – und sollte sich bis 1923 hinziehen. Für C.T. Hünlich ging es dabei um erhebliche Risiken. Der Spezialreservefonds wurde um 700.000 M aufgestockt, die Investitionen in Maschinen und Umbauten bezifferte die Firma auf 8 Mio. M (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 6. Geschäftsjahr 1921-1922, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Damals erwarb C.T. Hünlich unter anderem die aufgrund des Versailler Vertrages nicht mehr benötigte Zeppelin-Luftschiffhalle aus Dresden-Kaditz.

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Produktionsstätten von C.T. Hünlich Mitte der 1920er Jahre – links oben die neue Lagerhalle (Werbezettel 1928, Sächsisches Wirtschaftsarchiv BK 703)

Beide Kombattanten reüssierten in Ministerien und Reichsgesundheitsamt. Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten vertrat die Ansicht, „dass die Bezeichnung ‚Rum‘ ausschliesslich für einen aus Zuckerrohrmelasse gewonnenen Branntwein verwendet werden darf“ (Schreiben des Verbandes Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten an Dr. Günther v. 3. Juni 1921, BA R 86, Nr. 5340). Man bestritt nicht die Güte des neuen Getränks, doch müsse es präzise benannt werden, etwa als „Rum aus Rübenschnitzeln“. Es habe den Verband viel Überzeugungskraft gekostet, die vor dem Weltkrieg festgelegten Begriffe und Definitionen umzusetzen; nicht zuletzt gegen den Widerstand vieler Fasson- und Kunstrumproduzenten. „Deutscher Rum“ verkenne zudem die Macht des Auslandes, zumal der Franzosen und der Briten, die aufgrund des Versailler Vertrages erhebliche Vorbehaltsrechte besäßen. Im Reichsgesundheitsamt verteidigte man den Begriff „Deutscher Rum“ als einen Herkunftsbegriff – wie etwa Gouda oder Pilsener –, umging so die strittige Frage der Wesensgleichheit (Bericht über eine Besprechung von Reichsgesundheitsamt und Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten v. 18. Juli 1921, Ebd.)

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Deutscher Rum unklarer Herkunft und Zusammensetzung (Frankenberger Tageblatt 1922, Nr. 11 v. 3. Januar, 4)

Der Rechtsstreit gärte weiter, beschäftigte die Ministerialbürokratie. Doch die Frage wurde in der Schwebe gehalten (Aktennotiz v. 3. August 1921 Ebd.; Stellungnahme zur Frage „Deutschen Rums“ v. August 1921, BA R 86, Nr. 5340). Stattdessen verweis man auf das vom Kammergericht angeforderte Gutachten des Berliner Nahrungsmittelchemikers Adolf Juckenack (1870-1939). Er besichtigte im Oktober 1921 die Produktionsstätten in Wilthen, entnahm Proben und versprach ein Resultat bis Ende 1921 – und dann folgte eine Kaskade von Rückfragen, Ankündigungen und Vertröstungen, die bis Weihnachten 1922 währte.

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Der Nahrungsmittelchemiker Adolf Juckenack (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 28, XVI)

Juckenack betonte, dass die karibische Rumproduktion höchst heterogen sein, auch Zutaten abseits der Rohrzuckerproduktion verwende. Entscheidend sei daher nicht das Gärungsmaterial, sondern das Aroma des Rums. Dieses nachzubilden sei Ziel der langjährigen wissenschaftlichen Versuche Hünlichs gewesen. Man habe sich an die karibische Produktionsweise angelehnt, diese aber nicht nachgemacht. Hünlichs Komposition aus einem gefilterten Rauhbrand aus Rübenzuckermelasse, einem Dunders als Rübenzuckernebenprodukten und einer späteren Aromatisierung durch besondere Zusätze, Skimmings, sei eine eigenständige Leistung. Das Ergebnis stehe dem Jamaika-Rum „noch recht erheblich“ nach, doch Verbesserungen seien möglich. Juckenack konstatierte „eine weitgehende Rumähnlichkeit“, schrieb Wesensähnlichkeit fest (Adolf Juckenack, Gutachten v. 25. Dezember 1922, BA R 86, Nr. 5430). Obwohl er sich damit nicht zur strittigen Frage des in der Reichsgesetzgebung bereits verwandten Begriff „Deutscher Rum“ äußerte, stärkte er doch die Position der Firma Hünlich so sehr, dass ein Vergleich geschlossen werden konnte (Deutscher Rum anerkannt, Pharmazeutische Zentralhalle 1923, Nr. 25, 299, BA R 86, Nr. 5430). Der Verband Deutscher Spiritus- und Spirituosen-Interessenten erkannte den Begriff „Deutscher Rum“ an und zog den Vorwurf eines „Kunstrums“ zurück. Hünlich verzichtete dafür auf Schadenersatz (Schreiben der Hünlich-Winkelhausen-Generaldirektion Ak. Ges. an das Reichsfinanzministerium v. 23. Mai 1923, BA R 86, Nr. 5430). „Deutscher Rum“ war im Deutsche Reiche anerkannt.

Eine neue Konkurrenz? Internationale Reaktionen auf „Deutschen Rum“

Während im Deutschen Reich die Rahmenbedingungen für die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ geschaffen wurden und schließlich auch die internen juristischen Fehden überwunden worden waren, fehlte im Ausland eine breit gefächerte Reaktion auf das neue deutsche Produkt. Sie war vielmehr sachbezogen, konzentrierte sich auf die von den deutschen Experten präsentierten Grundinformationen: „A German firm is producing a beverage similar to rum in composition and flavour from the products of beet sugar manufacture, without any addition of flavouring essences or esters. It is made by the fermentation of beet juice, molasses, raw sugars, and beet-factory-by-products. Undesirable aromatic substances produced at a certain stage in the manufacture are removed by a special process, and there is an addition of sugar, nitrogenous matter, and fruits. […] The analytical figures are within the limits found in the analysis of colonial rums. The flavour of the German product has been judged by various experts to be only slightly inferior to that of first-quality Jamaica rum” (German Rum, The Pharmaceutical Journal and Pharmacists 108, 1922, 117).

Das Interesse war gleichwohl groß, einzelne Arbeiten wurden zumindest teilweise übersetzt (Hugo Haupt, Manufacture of Rum from Beet Juice, International Sugar Journal 24, 1922, 33-35). Dabei traten insbesondere die in der deutschen Diskussion kaum erörterten internationalen Harmonisierungsprobleme in den Vordergrund. Westindische Repräsentanten unterstrichen, dass aus ihrer Sicht „Rum“ ein „spirit destilled direct from sugar-cane products in sugar-cane growing countries“ sei – so wie dies 1909 bereits festgeschrieben wurde. Aus ihrer Sicht war „Deutscher Rum“ ein jamaikanisches Ersatzmittel, „imitation rum“ (“Rum” from Beet Juice, Chronicle of the West India Committee 37, 1922, 93). Anderseits goutierte man sehr wohl das Bestreben der Deutschen, ein dem Vorbild Westindiens entsprechendes Produkt zu entwickeln. Und man bestätigte durchaus die Ähnlichkeit des „Deutschen Rums“ mit dem kolonialen Vorbild (Journal of the Society of Chemical Industry 41, 1922, 73A). Zugleich aber hoben einzelne Wissenschaftler die Unterschiede des Aromas hervor, setzten das neue Produkt dadurch an die Seite einschlägigen Kunstrums (Ebd., 912A). Annäherung war eben relativ. Entsprechend präsentierte man dem Fachpublikum auch die durchaus unterschiedlichen Einschätzungen deutscher Forscher zum Begriff „Deutscher Rum“. Zugleich hielt man es für durchaus möglich, dass die klimatischen Besonderheiten der Tropen chemisch und technisch simuliert werden konnten, so dass negative Auswirkungen auf den britischen und kubanischen Export nicht ausgeschlossen wurden (Germany Investigating Rum Manufacture, Louisiana Planter and Sugar Manufacturer 68, 1922, 294-295). Letztlich aber waren die karibischen Rumproduzenten recht sicher, dass die deutsche Herausforderung nur begrenzte Folgen haben werde. Eine erste Degustation ergab jedenfalls ein für „Deutschen Rum“ enttäuschendes Resultat, hieß es doch „that these samples represented an inferior grade of rum; that they appeared to be highly flavoured (the odour of amyl acetate being particularly pronounced); and that they could not really be regarded as even equal to the lower grades of Jamaica or Demerara rum” (International Sugar Journal 24, 1922, 211).

Marktpräsenz ohne Werbung und offizielle Genehmigung

Welch ein Aufwand! Und nur wenige Jahre später hieß es, leider „haben die Resultate der deutschen Rumbrennerei den Erwartungen bisher nicht entsprochen“ (Georg Lebbin, Nahrungsmittelgesetze, Bd. 2: Getränkegesetze und Getränkesteuergesetze, Berlin und Leipzig 1926, 233). Um das zu verstehen, müssen wir in die Akten blicken: Der eigentliche Anstoß für die Intensivierung der Forschungen zu „Deutschem Rum“ lag 1920 demnach in zuvor unbekannten Marktchancen. Damals hatte die Brauerei zum Felsenkeller in Dresden-Plauen den Braubetrieb wieder aufgenommen, konnte ihre Kapazitäten aufgrund von Gerstenmangel auch nicht ansatzweise nutzen. Sie kaufte daher Zuckerrübenschnitzel auf, röstete diese, stellte daraus dann Substitute von Porter und Ale dar, zudem massenhaft sog. Paheiowein. Da dieser kaum Käufer fand, griffen Hünlich und Winkelhausen zu, kauften den „Wein“ auf, ließen die noch nicht verarbeiteten Schnitzel zusätzlich von anderen Brauereien verarbeiten – all das mit Sondergenehmigungen, da die Brauerei zum Felsenkeller ohne den Verkauf in Existenznot gekommen wäre. Aus den heimischen Vorprodukten brannten sie „Deutschen Rum“, Hünlich 1,17 Million Liter Weingeist, Winkelhausen 0,97 Million, insgesamt 2,14 Million Liter Weingeist. Das war die vielfache Menge des damaligen Importkontingents für Rum (Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, BA R 86, Nr. 5430). Es ist unklar, wie viel hiervon abgesetzt wurde, Hünlich sprach lediglich von einer „ständig steigende[n] Nachfrage nach deutschem Rum im Kreise der Konsumenten“ (Eingabe der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft v. 28. Oktober 1922, BA R 86, Nr. 5430).

1923 beantragte sie die Genehmigung für die Herstellung „Deutschen Rums“ aus 500.000 Liter Weingeist aus Zuckerrübenrohware, zog diesen Antrag aber zurück, als die Branntweinmonopolverwaltung darauf beharrte, dass das Brenngut ablieferungspflichtig sei (Schreiben von C.T. Hünlich an das Reichsfinanzministerium v. 16. April 1923, Ebd.; Schreiben des Reichsmonopolamtes für Branntwein an das Reichsfinanzministerium v. 22. Februar 1923, ebd.; Aktennotiz von Förster v. 12. Januar 1925, ebd.). In den hier nicht in den Details auszuführenden Auseinandersetzungen ging es letztlich um die Höhe der Abgaben und Steuern für den „Deutschen Rum“. Während die Republik vor dem Kollaps stand, brachte das Reichsfinanzministerium am 30. Oktober 1923 noch eine Sonderverordnung über die Behandlung von Rummaische als Obststoff auf den Weg, doch C.T. Hünlich beschritt diesen eigens eröffneten Weg nicht mehr (Aktennotiz vom 13. Dezember 1923, Ebd.). Die Produktion weiteren „Deutschen Rums“ scheiterte zeitweilig an der Höhe der Abgaben und Steuern. Die Zerrüttung der Geldwirtschaft und die damit zwingend einher gehende Warenzurückhaltung waren weitere Gründe für den Produktionsstopp.

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Warenzeichen von C.T. Hünlich (Geschäfts-Bericht 1927/28, IV (l.); ebd. 1928/29, IV)

C.T. Hünlich beantragte nach der Konsolidierung neuerlich Brennrechte für „Deutschen Rum“ aus der nun so bezeichneten „Rummaische“, konnte aus Sicht der Reichsmonopolverwaltung aber den Beweis nicht erbringen, „dass sie in der Lage ist, Erzeugnisse herzustellen, die den Anforderungen der Verordnung“ vom 30. Oktober 1923 entsprachen. Während der aus Paheiowein gefertigte „Deutsche Rum“ seine Abnehmer fand, gab es nun „erhebliche Zweifel darüber […], ob die bisher von der Firma hergestellten, von ihr als Deutscher Rum bezeichneten Erzeugnisse nach dem bei der Herstellung angewendeten Verfahren als ein dem echten Rum wesensähnliches Erzeugnis anzusehen ist“ (Schreiben des Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an den Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes v. 6. Januar 1925, Ebd.). Offenbar war das von so vielen Gutachtern bewertete Verfahren doch nicht wirklich ausgereift. Es ist unklar, wie diese Debatte endete, denn die Akte des Reichsgesundheitsamtes über „Kognak, Rum und Arrak“ von 1926 bis 1929 ist nicht mehr auffindbar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es zu keiner neuerlichen Massenfabrikation „Deutschen Rums“ bei C.T. Hünlich und auch bei den Winkelhausen-Werken gekommen ist. In den Geschäftsbericht 1922/23 berichtete Hünlich noch über „weitere Fortschritte“ beim Vertrieb und großen Fortschritten in der Fabrikation, „die allerdings die Festlegung beträchtlicher Kapitalien erfordern, teils für den weiteren Aufbau von Apparaten, teils für Umbauten in unserem Betriebe und für Versuche im Großen“ (Geschäftsbericht der C.T. Hünlich Aktiengesellschaft in Wilthen i. Sa. für das 7. Geschäftsjahr 1922-1923, s.p., BA R 8127, Nr. 10823). Spätere Geschäftsberichte sparten „Deutschen Rum“ aus. Das galt auch für die Winkelhausen-Werke. Weitere Firmen suchten um Brennrechte nach, einzelnen wurde die Genehmigung nicht erteilt (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 24. November 1924, BA R 86, Nr. 5430; Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an die Graubrüderhaus AG für Brennereierzeugnisse Dresden v. 6. Januar 1925, ebd.).

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Auktion von deutschem Weinbrand und deutschem Rum Winkelhausen (Hamburgische Börsen-Halle 1924, Nr. 239 v. 23. Mai, 3)

Weitergehende Aussagen über die Marktpräsenz „Deutschen Rums“ haben nur begrenzten Aussagewert. „Deutscher Rum“ der Winkelhausen-Werte erschienen Mitte der 1920er Jahre regelmäßig bei Auktionen, insbesondere aber in Werbeanzeigen. Die Preise lagen deutlich unter dem echten Importrums bzw. gängiger Verschnitte.

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Winkelhausens Deutscher Rum: Teurer als Verschnitt, preiswerter als echter Jamaika-Rum (Badischer Beobachter 1925, Nr. 358 v. 30. Dezember 1925, 10)

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Deutscher Rum als Basis von Rumverschnitt (Dresdner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 291 v. 13. Dezember, 19)

Auch „Deutscher Rum-Verschnitt“ findet sich in Anzeigen insbesondere in Sachsen. Die Preise lagen unter den Angeboten mit Jamaika-Rum, so dass es nicht ausgeschlossen ist, dass er half, die Dominanz des nunmehr explizit kennzeichnungspflichten Kunstrums im deutschen Markt zu brechen.

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Deutscher Rum im Kücheneinsatz (Arbeiterstimme 1926, Nr. 266 v. 29. November, 5)

Beachtenswert ist jedoch, dass am Ende 1920er Jahre „Deutscher Rum“ bestimmten Herstellern nicht mehr zuzurechnen war. Mochte der Rechtsrahmen auch anderes vorsehen, so ist doch ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass es sich dabei doch um Kunstrum gehandelt hat.

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Deutscher Rum im Angebotskranz feinster Spirituosen (Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 131 v. 1. April, 16)

Scheitern auch im zweiten Anlauf: Qualitätsprobleme des „Deutschen Rums“ bei Winkelhausen

Anhand der vorliegenden Informationen ist es demnach kaum möglich, die Marktstellung von „Deutschem Rum“ in den 1920er Jahren genauer auszuloten. Die Spirituosenindustrie erholte sich in der Zwischenkriegszeit zwar von den Tiefständen des Weltkrieges, doch während der Nachkriegszeit gab es eine nur begrenzte Erholung, erreichte der Konsum von Spirituosen nur mehr 1,5 Liter pro Kopf und Jahr (in reinem Alkohol), während er um 1900 noch bei ca. vier Litern gelegen hatte. Die hochprozentigen Getränke, die im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Temperenzbestrebungen standen, verloren ihre frühere Dominanz im Alkoholkonsum – auch aufgrund eines gegenüber der Vorkriegszeit etwa dreimal höheren Preises (Karner, Destillateuer-Gewerbe und Branntweinmonopol, Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 102 v. 13. April, 9). Mit vier bis fünf Liter reinem Alkohol wurde zugleich ein säkularer Tiefpunkt des Konsums erreicht. Zur Einordnung: 2019 trank jeder über 15 Jahre alte Bundesbürger ca. 10,6 Liter pro Jahr (Alkoholatlas Deutschland 2022, Heidelberg 2022, 46).

Die letztlich unterbliebene massive Markteinführung des „Deutschen Rum“ durch die C.T. Hünlich AG war Resultat längerer regulativer Debatten, der Warenzurückhaltung während der Hyperinflation und der offenkundigen Probleme, einheitliche Qualitätsstandards garantieren zu können. Das galt ähnlich für die Winkelhausen-Werke. Auch sie hatte die mögliche Genehmigung seitens der Reichsmonopolverwaltung 1922/23 nicht eingeholt. Doch Winkelhausen nahm seit 1929 einen zweiten Anlauf, bemühte sich um eine bessere Qualität seines „Deutschen Rum“, bat die Behörden um fachlichen Rat. Wiederholt sandte sie der Reichsmonopolverwaltung Proben ihres „Deutschen Rum“. Diese Behörde untersuchte die Branntweine, sandte sie anschließend zur unabhängigen Begutachtung auch an das Reichsgesundheitsamt, denn die Genehmigung war von beiden einmütig zu befürworten. Die staatlichen Instanzen walteten ihres Amtes und zeigten der Firma gegenüber ein beträchtliches Wohlwollen. Die Untersuchungen betonten die an sich geringe Qualität der Rumproben, kamen dann aber dennoch zu einer positiven Gesamtwertung: „Zusammenfassend ließe sich daher sagen, daß die beiden übersandten Proben rumartige Eigenschaften in zwar geringen, jedoch auch in solchem Maße besitzen, daß sie als ein dem Rum wesensähnlicher Branntwein und daher als deutscher Rum […] angesehen werden können“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 10. Dezember 1929, BA R 86, Nr. 5341).

Die Winkelhausen-Werke erhielten dadurch wichtige Hinweise für mögliche Verbesserungen (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 5. Februar 1930, Ebd.). Doch sie nutzten sie offenkundig nicht. Im Mai 1930 war die Geduld beider Behörden schließlich erschöpft – auch wenn insbesondere die Reichsmonopolverwaltung die wirtschaftlichen Konsequenzen möglichen Scheiterns wiederholt hervorhob (Schreiben der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein an das Reichsgesundheitsamt v. 8. Mai 1930, Ebd.). Dennoch stelle auch sie fest, dass sich der Geschmack und Geruch der Rumproben nicht mehr gebessert habe, das von einem typischen Rumaroma nicht zu reden war. Vernichtend dann das immer noch wohlwollend formulierte abschließende Gutachten des Reichsgesundheitsamtes: „Der für echten Rum typische, juchtenlederartige Geruch konnte in keinem Destillat wahrgenommen werden. Wenn auch die beiden Proben noch als einem echten Rum wesensähnlich angesehen werden können, so muß doch festgehalten werden, daß ihre Güte im Vergleich zu derjenigen der mit dem Schreiben vom 15. Januar 1930 […] übersandten Proben nicht nur keinen Fortschritt aufweist, sondern sich solcher als etwas minderwertiger darstellt“ (Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein v. 21. Mai 1930, BA R 86, Nr. 5341). Weitere Proben unterblieben.

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Deutscher Rum als neuerliches Billigangebot (Arbeiterstimme 1931, Nr. 201 v. 9. Dezember, 4)

Während der Weltwirtschaftskrise gewannen derweil Autarkieforderungen zunehmend Gewicht (Spiekermann, 2018, 359-365). Schon seit 1925 hatten die neuerlichen Zollerhöhungen Importe verteuert, das Agrarmarketing rief mit amerikanischen Werbemethoden für den Kauf einheimischer Waren auf. Seit 1925 propagierten DNVP und Reichslandbund „Nahrungsfreiheit“, forderten ein Ende von Luxusimporten, zu denen immer auch Rum gehörte. Das war nicht mehrheitsfähig, vor allem nicht realistisch. Doch Maßnahmen zur Steigerung der Selbstversorgung wurden von (fast) allen Parteien geteilt. Die Weltwirtschaftskrise ließ haushälterische Vernunft auch abseits der krisenverschärfenden Deflationspolitik der Brüning-Kabinette um sich greifen, das nicht-über-seine-Verhältnisse-leben. „Deutscher Rum“ gehörte hierzu, war Ausdruck rationaler Selbstbeschränkung – mochte das Angebot auch fehlen.

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Der Traum von Kolonialprodukten von deutscher Scholle – kritisch gewendet (Uhu 9, 1932/33, H. 3, 73)

Liberale und sozialdemokratische Ökonomen hielten dagegen, in der linken Publizistik verspottete man all die vielfältigen Bemühungen um heimische Ersatzstoffe – nicht nur deutschen Rum, sondern auch Buna, synthetischen Treibstoff oder Holzzucker. Sie sollten, wie auch viele Lebensmittel aus Molke oder Magermilch während des Vierjahresplans massiv gefördert werden. Doch es gab durchaus Gründe für diese deutsche „Flucht in den Käfig“ (Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig: Deutsche Wissenschafts- und Innovationskultur 1900-1960, in: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschafts­politik, Stuttgart 2002, 52-59). Die lang zurückreichende Kritik am Luxus, die Bereitschaft für ein Zurückstecken zugunsten vermeintlich höherer, zumal nationaler Ziele sind hier zu nennen, vor allem aber eine von Wissenschaftlern, Unternehmern und vielen Staatsbediensteten getragene Kultur der Neugestaltung des scheinbar Gegebenen. Kurt Tucholsky hat darüber gespottet: „Andere Nationen machen das so: Was sie besonders gut herstellen, das exportieren sie, und was ihnen fehlt, das importieren sie. Wenn den Deutschen etwas fehlt, dann machen sie es nach. Sie haben deutsches Pilsener und deutschen Whisky und deutschen Schippendehl und Germanika-Rum […] – sie haben überhaupt alles, weil eine Zollfestung ihr Ideal darin sieht, ‚vom Ausland unabhängig zu sein‘. Der nationalistische Wahnsinn verdirbt die Warenqualität“ (Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], Deutscher Whisky, Die Weltbühne 26, 1930, 330-331). Doch dies verkannte, dass Substitute wie der „Deutsche Rum“ (und auch der seit der Vorkriegszeit immer wieder angegangene „Deutsche Whisky“) aus Sicht der Gestaltungsaktivisten eben kein Schielen nach dem Fremden war, sondern eine Selbstbesinnung auf die eigenen Fertigkeiten.

„Deutscher Rum“ war Ausdruck einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden, in der Zwischenkriegszeit aber noch immer wirkmächtigen Gestaltungsutopie von Unternehmern und Wissenschaftlern. Der Pathos des Machbaren, der Wunsch an die Stelle einer nicht kontrollierbaren Realität der Halb- und Kunstprodukte etwas Neues, etwas Eigenes  zu setzten, führte ab 1890 zu neuen Anläufen auf alter Strecke, nicht zum Innehalten, zu einer pragmatischen Gegenwartsanalyse, die zu Kompromissen und dem Arrangement mit den Lieferungen der Anderen hätte führen können, vielleicht gar müssen. Die Desillusionierung, die am Ende der Utopie des „Deutschen Rums“ um 1930 stand, führte eben nicht zur rationalen Reflektion über die Aufgaben und die Grenzen von Wissenschaft und Wirtschaft. Stattdessen begannen parallel mit der scheiternden Utopie des „Deutschen Rums“ andere, durchaus nachvollziehbare Heilslehren ihren zeitweiligen Siegeslauf, die Naturheilkunde, die Vitaminlehre, der Kampf gegen Krebs, die Schaffung von Zucker aus Holz, von Kautschuk und Benzin aus Kohle. Bis heute kann man ihren kalten emphatischen Atem verspüren, in den zahllosen Verbesserungen der künstlichen Kost, in Hafermilch, veganen Würstchen oder anderen unseren Alltag prägenden Illusionsangeboten, die völlig zurecht darauf setzen, dass die Investitionskosten von Gläubigen schon wieder eingebracht werden.

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Selbstüberschätzung aus Tradition: Schlagzeile für Deutschen Rum (Playboy 2018, Nr. 5, 24)

Und natürlich gibt es weiterhin „Deutschen Rum“. Heute nicht mehr aus Rübenzucker hergestellt, nicht mehr Mittel zur Aromatisierung von Kartoffelsprit. Heute handelt es sich bei „Deutschem Rum“ um hierzulande destillierte Getränke aus Rohrzucker, also letztlich um Verfahren, die in den 1820er und 1830er Jahren diskutiert wurden, die man damals angesichts bestehender Transportprobleme und fehlender Technik nicht genutzt hat. Heute scheint die Wertschöpfung zu stimmen, auch wenn dieser so alte und sehnende Begriff einzig die Irrationalität heutiger Herkunftsangaben unterstreicht (Uwe Spiekermann, Traditionsmythen: »Deutsche Küche« zwischen Nation, Region und Internationalisierung, in: Gunther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 24-49). Wohl bekomm’s!

Uwe Spiekermann, 11. Januar 2023

Backpulver vor Dr. Oetker – Ein Ausflug in das späte 19. Jahrhundert

Backpulver? Das stammt von Dr. Oetker! So dürfte der allgemeine Tenor lauten, gebunden an Bilder traditioneller glücksstrahlender Familien, versammelt am Kaffeetisch, den Kuchen freudig im Blick. Dr. Oetkers Backpulver zeugt von der Stärke stetig geschalteter und stetig umgestalteter Werbung, von der Stärke eines Markenartikels. In der Tat füllten sich um 1900 die Anzeigenspalten von Zeitungen und Zeitschriften, priesen das Backpulver eines Dr. Oetkers, machten aus der langweilig- betriebsamen Fahrräder- und Nähmaschinenstadt Bielefeld eine Nährmaschine der besonderen Art, einen Produktionsort vermeintlich billiger Backhilfsmittel und Convenienceprodukte – allesamt nährend, allesamt gelingend. Dafür bürgte der Hellkopf, der Titel des Herrn Doktor. Markenartikel wie das 1902 für Dr. A. Oetker eingetragene Backpulver „Backin“ (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 292 v. 12. Dezember, 14) drängten jedoch nicht nur ein bestimmtes Produkt in den Vordergrund, sondern sie tilgten zugleich die Erinnerung an die Vorläufer und Wettbewerber. Das galt einerseits unmittelbar, im Falle Oetkers also im Übertrumpfen der damaligen Konkurrenten, von größeren Firmen wie Reese und Sinner, Vogeley und Dr. Crato, von Marken wie Hansa und Nissan. Das galt aber auch in der Erinnerungskultur, dem Tilgen der Branchenpioniere. Gewiss, selbst das mit Firmenauskünften und Archiveinblicken notorisch geizende Familienunternehmen hat stets konzediert, dass August Oetker (1862-1918) nicht der Erfinder des Backpulvers war. Doch die Außen- und Selbstdarstellung hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihr Produkt eine neue Ära einleitete, dass Dr. Oetkers Backpulver das beste, sicherste, zielführendste war. Also denn, erweitern wir unseren Horizont, blicken wir auf die Zeit vor Dr. Oetker, fragen nach den damals angebotenen und genutzten Backpulvern.

Wie kam das Backpulver nach Deutschland?

Backpulver – dieser Begriff war ein Lehnwort, eine deutsche Übersetzung des englischen „Baking Powder“ (F.C. Calvert, Die Schwefelsäurefabrikazion [sic!], Deutsche Gewerbezeitung und Sächsisches Gewerbeblatt 14, 1849, 381-382, hier 382). Erste derartige Patente und Produkte kamen in den 1830er und 1840er Jahren auf und stammten aus England, dem Zentrum der damaligen Welt. Wie bei den meisten alltäglichen Verbesserungen fehlt es an präziser historischer Forschung (Schemenhaft: Emma Kay, A History of British Baking […], Barnsley 2020, 134). Hierzulande galt das 1837 an Whiting verliehene Patent für die Erzeugung von Brot mittels Salzsäure und kohlensaurem Natron eher als Kuriosität, denn als Beginn einer langsamen Veränderung des häuslichen Backens (Ferdinand Artmann, Die Lehre von den Nahrungsmitteln, ihrer Verfälschung und Conservirung […], Prag 1859, 301). Die Beschreibung entsprach Anleitungen zu den im späten 19. Jahrhundert so beliebten Chemiebaukästen: „Wenn man aber Salzsäure und Kohlensäure vermischt, so entwickelt sich kohlensaures Gas; wenn man daher etwas Salzsäure mit etwas Teig vermischt und mit einem andern Theile Teig etwas Kohlensäure, so versucht das kohlensaure Gas zu entweichen, wodurch das Brot locker wird“ (Weizenbrot ohne Hefen, Allgemeine Landwirthschaftliche Zeitung 1838, 108). Das war offensichtlich für die Bäckerei, gar für frühe Brotfabriken gedacht, doch die Gasentwicklung verlief zu schnell, gesundheitliche Schäden waren nicht auszuschließen ([Friedrich Ludwig] Knapp, Brod und Brodbereitung, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 10, 1878, 288-295, hier 293). Erst in den Folgejahren entstanden in England auch häuslich praktikable Angebote, ab 1842 durch George Borwick (1807-1889), ab 1843 durch Alfred Bird (1811-1878). Sie mischten andere Stoffe, Reagenz und Reaktant, zumeist Weinsteinsäure, doppelt kohlensaures Natron und Stärkeprodukte, um handhabbarere Triebmittel zu erhalten (Verschiedene Nahrungsmittel, welche in England im Handel vorkommen, Neuwieder Intelligenz- und Kreis-Blatt 1854, Nr. 35 v. 1. Mai, 3-4, hier 4). Doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis sich Backpulver in englischen Küchen breitflächig einbürgerte.

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Backpulveranzeigen im England der späten 1840er Jahren (Leeds Mercury 1848, Nr. 6001 v. 9. Dezember, 3 (l. oben); Bristol Mercury 1846, Nr. 2937 v. 4. Juli, 1 (r. oben); Newcastle Courant 1848, Nr. 9068 v. 22. September, 1)

Nicht unbeträchtliche Resonanz verursachten in Deutschland auch entsprechende Innovationen in den USA. Dabei stand die Kuchenbäckerei im Mittelpunkt, gemischt wurde Weinstein und Kreide bzw. Kali oder Ammoniak. Dadurch sei es möglich, die „Zufälligkeiten“ des Backens mit Hefe auszuschalten (Amerikanisches Backpulver, Dinglers Polytechnisches Journal 1855, T. 3, 399-400, hier 400). Solche Vorschläge befanden die untersuchenden Männer als „sehr brauchbar“, (Amerikanisches Backpulver, Archiv für Natur, Kunst, Wissenschaft und Leben 3, 1855, 63), lobten derartige Backpulver als Garant „sehr lockerer Gebäcke“ (Allgemeine Medicinische Central-Zeitung 24, 1855, Sp. 439). Doch der Anwendungsbereich war eng, ging es doch um Konditorwaren mit viel Masse, insbesondere um Zuckerwerk (Amerikanisches Backpulver, Neues Jahrbuch für Pharmacie und verwandte Fächer 3, 1855, 106; William Löbe (Hg.), Encyklopädie der gesammten Landwirthschaft […], Suppl.-Bd., Leipzig 1860, 62). Backpulver blieben ungebräuchlich, hingen ab vom chemischen Geschick weniger Fachleute, die sie als „Mittel um lockere Kuchen zu erhalten“ definierten (G[eorg] C[hristoph] Wittstein, Taschenbuch der Geheimmittellehre, Nördlingen 1867, 15). Derartige Pulver wurden meist selbst gemischt, die Zutaten stammten aus Apotheken und Drogerien (Illustrierte Zeitung 1863, Nr. 1019 v. 10. Januar, 38).

Leisten wir uns etwas Abstand, denn angesichts unserer heutigen Koch- und Backpraxis – nehmen Sie ein Päckchen Backpulver… – wissen Sie vielleicht nur ungefähr, was in dem Tütchen ist und was es letztlich bewirkt. Backen ist „eine Art Aufwallung“ (Weizenbrot, 1838), eine Kombination von recht vermischter Materie und Energie: Mehl, Wasser, Zutaten, ein Triebmittel und Hitze – zielgerichtet eingesetzt. Für das Gelingen unseres täglichen Brotes bemühen wir keine göttlichen Kräfte mehr, sondern erklären Backen aus chemischen Reaktionen einzelner Stoffe. Kohlensäure und das so verfemte Kohlendioxid (CO2) sind dabei zentral, sie bewirken ein Auftreiben und damit die Lockerung des Teigs, machen ihn bekömmlich und schmackhaft. Dieser Prozess wurde Mitte des Jahrhunderts jedoch nicht durch „Chemikalien“ in Gang gesetzt, sondern durch Sauerteig einerseits, Hefe anderseits. Backpulver – beachten Sie bitte den Plural! – traten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an deren Seite. Backpulver waren Mischungen chemischer Stoffe, die möglichst effizient eine chemische Reaktion auslösen sollten, die in der Küche, in der Bäckerei bereits zuvor erfolgte, nicht aufgrund des Kopfwissens der Experten, sondern des Handwissens von Hausfrau und Meister. Backpulver waren Ausdruck menschlicher Herrschaft über die Materie, waren unmittelbar abrufbare Abläufe, dem Menschen dienstbar, ihm frommend. Sauerteig und Hefe besaßen einen sicheren Platz im Alltag, in der Praxis von Haushalt und Backstube, nicht aber die Backpulver. Sie wirkten, gewiss. Doch über die optimale Zusammensetzung und die gesundheitlichen Folgen waren sich die Experten uneins. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es hierzulande zudem keine Produktions- und Absatzstrukturen. Sie mussten bedacht, erörtert, entwickelt und umgesetzt werden. Dr. Oetker stand ganz hinten in dieser Kette. Er war vorrangig Nutznießer, für all das andere aber unwichtig.

Ein anderer Blick auf den Alltag

Eigentlich müsste ich nun mit einem anderen großen Mann fortfahren, mit Justus Liebig (1803-1873), dem wohl wichtigsten Anreger der Naturforschung Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch seine 1868 formulierten Vorschläge für ein neues Backpulver werden nur verständlich, wenn man andere Entwicklungen dieser Zeit im Kopfe hält.

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Neue wissenschaftliche Blicke: Weizenmehl unterm Mikroskop (Habich, 1867, 42 (l.); Schimper, 1886, 13)

Erstens veränderte sich damals das Verständnis der Welt – wenngleich für die Mehrzahl nur schemenhaft. Hatten Entdecker und Astronomen die Größe der Welt und die Weiten des Firmaments erschlossen, so traten seit dem 18. Jahrhundert daneben neue Mikrowelten, teils sichtbar, teils nur mehr vorstellbar. Getreide und Mehl waren Grundbestandteile der Nahrung, das Korn Grundlage menschlicher Existenz. Doch mittels des Mikroskops veränderte sich dieser Blick, denn je genauer man blickte, desto wunderlichere Bestandteile fand man. Sie zu benennen, sie zu systematisieren, sie dann zu erklären – das waren Aufgaben der Naturforschung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Justus Liebig formulierte um 1840 ein Modell eines umfassenden Stoffwechsels, gründend auf den chemischen Stoffen, ihren Reaktionen und Umwandlungen. Ihnen war alles unterworfen, Organisches und Unorganisches, Pflanzen, Tiere und Menschen. Getreide und Mehl bestanden vornehmlich aus Stärke, wurden als solche vom Menschen aufgenommen und weiterverarbeitet, waren Teil eines ewigen Kreislaufes von Materie und in ihr erhaltener Energie (mehr in Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 32-37). Ihn galt es zu erkennen, ihm galt es sich anzupassen.

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Die rational abwägende Hausfrau – und ein Mehlsieb für die rechte Vermengung (Backpulver-Kochbuch, 1891, I; ebd., 17)

Zweitens veränderte sich damit auch die Rolle der Hausfrau. Ihre Aufgabe schien damals nicht die Erkundung der Welt zu sein, wohl aber hatte sie die dafür notwendigen häuslichen und reproduktiven Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Hausfrau war Funktionsträgerin, war Spezialistin für den Alltagsbetrieb im Familiennukleus, Wiederherstellerin des durch Arbeit Verbrauchten, eine Art Katalysator im Betriebsstoffwechsel der bürgerlichen, der menschlichen Gesellschaft. Sie hatte das neue Wissen aufzunehmen, es „naturgesetzlich“ umzusetzen, damit den Haushalt effizient zu gestalten – und das Wirtschaftsgeld so zu verwenden, dass alle mit Maß genährt wurden, es zudem schmeckte. Sie musste wissen, was sich in den Nahrungsmitteln verbarg, welche Funktion das eiweißhaltige Fleisch, die brutzelnde Butter, das stärkehaltige Brot besaß. Sie war die Energetikerin am Herde, setzte Gewürze und Ingredienzien ein, um aus Einzelteilen mehr zu machen, eine mundende Speise, Handlungsenergie für die Arbeit. Dazu nutzte sie Hilfsmittel, die Wage wie der Apotheker, das Sieb wie der Landmann. Die Hausfrau war unverzichtbarer Teil einer allgemeinen Arbeit, in der alle ihre Funktion, ihre Aufgabe hatten.

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Neue Erkenntnisse – und eine neue Welt (Industrie-Blätter 4, 1867, 81)

Drittens charakterisierte diese Zeit, dieses bürgerliche Zeitalter, eine Funktionsgruppe der gewerblichen Macher und Umsetzer, der Leute von Bildung und Kapital, der Unternehmer. Sie mochten von unterschiedlicher Herkunft sein, eigensinnigen Interessen folgen. Doch sie verkörperten die List der Vernunft, waren Ausdruck des waltenden Weltgeistes: Effizienz und Betriebsamkeit, Berechenbarkeit und Beschleunigung, all das vereinigten sie in modernen Gewerben, in Maschinen und Fabriken. Letztere mochten stationär sein, doch sie waren zugleich miteinander verbunden, durch Eisenbahn und dann auch Dampfschiffe, Teil eines regionalen, nationalen und globalen Austausches, Ausdruck zeitweiligen Gleichgewichts und stetem Vorwärtsdrängens, hin zum Neuen, hin zu Besserem. Unternehmer waren Wissende und Wagende, vorwärtsschreitend Dienende, Propheten und Gestalter eines neuen Gleichgewichts. Diesem sich zu beugen war nicht Zwang, sondern Klugheit, Einsicht in die tiefgründiger verstandene Verfasstheit der Welt. Sauerteig und Hefe hatten ihren Wert, doch die neue Zeit würde an ihre Stelle Überlegenes setzen – Backpulver.

Liebig als Anreger im Konsumsektor

Justus von Liebig, geehrt und geadelt, war mehr als ein Naturforscher. Seine Weltdeutung veränderte die Agrikultur, führte zu neuen Formen des Kunstdüngers und der Tierfütterung. Liebig war Zeit seines Lebens Arbeiter im Laboratorium, doch sein Feld war auch die Welt, war deren Anpassung an seine Weltsicht. Zahlreiche Konsumgüter entstanden aufgrund seiner Anregungen. Am bekanntesten, gewiss, der Fleischextrakt. Doch seine Malzsuppe für Säuglinge zielte auf eine rationale Nährung der Jüngsten, nahm dafür deren Mütter in harte Pflicht (Spiekermann, 2018, 91-92). Neben Fleisch und Milch trat aber auch das wichtigste Nahrungsmittel, das Brot. Seit den späten 1840er Jahren hatte sich Liebig mehrfach mit dem Brotbacken beschäftigt. Für ihn war dies nicht nur eine wissenschaftliche Aufgabe, sondern eine Antwort auf die (nicht nur) damals brennende soziale Frage. Die Sauerteig- und Hefegärung führten zu Nährstoffverlusten, diese galt es zu vermeiden. Liebig empfahl daher schon in seinen vielgelesenen Chemischen Briefen eine Art Vollkornbrot, pries den zuvor verfemten westfälischen Pumpernickel, bei dem die Kleie mit verbacken wurde (Justus von Liebig, Chemische Briefe, Leipzig und Heidelberg 1878, 304). Doch entgegen der Mär, dass derartiges Brot typisch für die alten Deutschen gewesen sei – Vollkornbrot ist ein modernes, v.a. seit den 1890er Jahren entwickeltes Produkt –, blieb die Anregung großenteils folgenlos (sieht man einmal von der Gründung der Firma Sökeland und den zahlreichen unverdienten Späthuldigungen Liebigs zur Zeit der NS-Vollkornbrotpolitik ab). An der Mehrzahl der Essenden prallte derartig rational begründete Fremdbeglückung ab, auch die Bäcker stellten ihre Arbeit nicht um. Liebig aber versuchte seine Mission auf andere Art fortzusetzen, nämlich durch den nachträglichen Zusatz der durch das Mahlen entfernten Stoffe. Das war die zentrale Aufgabe des Backpulvers.

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Idealisierte Darstellung des Müller- und Bäckerhandwerks (Müller-, Bäcker- und Conditoren-Zeitung 4, 1874, Nr. 146, 1)

Bevor wir darauf genauer eingehen, noch einige Hinweise zu der Situation in den 1860er Jahren. Erstens war Brot damals neben der Kartoffel das eigentliche Rückgrat der Alltagsversorgung. Es handelte sich zumeist um Roggen- oder Mischbrot, Weizenbrot war abseits des Südwesten und Bayerns selten, eher Vorrecht der Begüterteren. Idyllischen Bildern des alten Bäckergewerbes zum Trotz war die gewerbliche Brotproduktion in deutschen Landen gar nicht so bedeutend. Zwei Drittel des Brotes – so nicht unplausible Schätzungen für die 1860er Jahre – wurden häuslich gebacken, also im eigenen Herd, im eigenen Ofen oder im noch üblichen dörflichen Backofen (Georg von Viebahn, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Bd. 3, Berlin 1868, 589). 1861 beschäftigte das preußische Backgewerbe ca. 47.000 Personen, darunter mehr als 26.000 Meister (Bundesrepublik Deutschland 2021: unter 10.000 Betriebe mit ca. 240.000 Beschäftigten, größtenteils im Verkauf). Bäckerbrot war gemeinhin besseres Brot – und bis zur Jahrhundertwende dürfte es mindestens zwei Drittel des Marktes ausgemacht haben. Die durchschnittliche Bäckerei wurde größer, Brotfabriken blieben im Deutschen Reich aber, anders als in Großbritannien, Ausnahmen.

Zweitens hatte sich Backpulver in den 1850er und 1860er Jahren zwar nicht eingebürgert, wurde aber auch abseits des Konditorgewerbes ab und an verwandt. Gekauft wurde allerdings kein Backpulver, sondern Hirschhornsalz, Pottasche oder kohlensaures Natron und Weinstein, die dann dem Backwerk nach eigener Façon zugemischt und zugemengt wurden. Im Tenor der Zeit hieß das: „Derartige Mittel sind in der Wärme des Backofens flüchtige, der Gesundheit nicht schädliche Stoffe, z.B. das doppelt kohlensaure Ammoniak und die Kohlensäure selbst, welche man, an Wasser gebunden, dem Teige beimischt. Man hat dem Mehle auch wohl doppelt kohlensaures Natron als Pulver zugesetzt und mit dem zur Bereitung des Teiges nothwendigen Wasser so viel Salzsäure hinzugefügt, daß beide Stoffe sich zu Kochsalz verbinden. Auch die Weinsteinsäure ist in Verbindung mit Soda, Kochsalz und Zucker angewendet worden. Weit zweckmäßiger und beliebt ist es jedoch, dem Teige solche wenige Stoffe beizumischen, welche geeignet sind, denselben in weinige Gährung zu versetzen, bei welcher durch die ganze Masse des Teiges Kohlensäure und Weingeist gebildet werden: sie erzeugen schon bei geringer Wärme in dem Teig eine Menge gleichförmig vertheilter Blasen, welche dem Backwerk eine schwammige Beschaffenheit ertheilen und dasselbe leicht verdaulich machen“ (Viebahn, 1868, 584). Beim Kuchen bediente man sich als Lockerungsmittel zudem häufig Alkoholika wie Branntwein, Rum und Arak: Beim Backen entwich der Alkohol, hob und trieb so den Teig. Auch Eischnee wurde nicht nur wegen des besseren Geschmacks genutzt (R[udolf] Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 71).

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Moderne Wachstumsindustrie: Mautnersche Wiener Presshefe-Fabriken (Wiener Bäcker- und Müller-Zeitung 3, 1878, 7)

Drittens dominierten Sauerteig und Hefe weiterhin das Backen. Sauerteig war Teil steter Vorratswirtschaft, handelte es sich doch um einen getrocknet aufbewahrten Altteig, der dann in lauem Wasser aufgelöst und schließlich dem neuen Brotteig zugesetzt wurde. Damals noch nicht bekannte Milchsäurebakterien und auch Hefepilze bewirkten eine Gärung, ergaben zugleich einen leicht säuerlichen Geschmack. Sauerteig wurde vornehmlich für dunklere Brote verwandt. Hefe war zur damaligen Zeit zumeist Bierhefe, teils auch Branntwein- und Weinhefe, wurde nur selten gezielt als Backhefe gezüchtet. Der Wandel des Brauens durch Kühltechnik und Reinzuchthefen seit den 1870er Jahren stärkte die gesonderte Produktion von Preß- und Backhefe. Deren Wirkung war verlässlicher, berechenbarer. Allerdings musste ein Hefeteig über mehrere Stunden aufgehen, musste häufig am Abend vor dem Backen vorbereitet werden. Hefe wurde eher im Süden Deutschlands eingesetzt, für Kuchen und helleres Brot. Beide, Hefe und Sauerteig, führten zu Nährwertverlusten als Folge der Alkohol- und Kohlensäurebildung, gaben dem Backwerk zugleich einen charakteristischen Geschmack (I[sidor] Rosenthal, Vorlesungen über die öffentliche und private Gesundheitspflege, Erlangen 1887, 296).

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Eben Norton Horsford (1818-1893) und die Büste Justus von Liebigs in der Bayerischen Walhalla (Memoriam, 1893, 2 (l.); Illustrierte Technik für Jedermann 3, 1925, 98)

Liebig hatte sich mit Brotzusätzen schon Mitte der 1850 Jahre beschäftigt: Anstelle der nicht nur in Belgien verbreiteten Sitte, dem Mehl gesundheitsschädliches Alaun und Kupfervitriol beizumengen, empfahl er Kalkwasser – 26 bis 27 Pfund pro 100 Pfund Mehl, dazu reines Wasser und zusätzliches Salz. So könne man das an sich fehlerhaft aufgebaute Getreide physiologisch verbessern, die Knochenbildung fördern, ein auch schmackhaftes Brot backen (Justus Liebig, Ein Mittel zur Verbesserung und Entsäuerung des Roggenbrodes (Hausbrod, Commisbrod), Annalen der Chemie und Pharmacie 91, 1854, 246-249). Anfang 1868 griff er – veranlasst auch durch die Getreidemissernte 1867 und ihre Auswirkungen namentlich in Ostpreußen – neuerlich zur Feder und empfahl den Zusatz von Natriumbikarbonat und Salzsäure. Die aus der Reaktion entstehende Kohlensäure würde den Teig locker machen, das neu gewonnene Salz den Geschmack befördern (Max Rubner, Physiologie der Nahrung und der Ernährung, in: E[rnst] von Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Leipzig 1898, 20-155, hier 97). Chemisch war dies ausgeklügelt, „genial […] gedacht“, doch die „minutiöse Genauigkeit im Abwiegen der Substanzen“ (C. Raabe-Graf, Ueber Verwendbarkeit einiger Backpulver in der Bäckerei und Haushaltung, Die chemisch-technischen Mittheilungen der neuesten Zeit NF 7, 1879, 186-189, hier 187) verwies Liebigs Anregung von Beginn an in das enge Geviert eines Laboratoriums, in die Echolosigkeit der Unbedachtheit.

Doch der Münchner Chemiker ließ sich dadurch nicht beirren, sondern schlug Ende 1868 neue Verfahren vor, sorgte in der Zwischenzeit auch für deren praktische Erprobung (Justus v. Liebig, Eine neue Methode der Brodbereitung, Annalen der Chemie und Pharmacie 149, 1869, 49-61 – daraus die folgenden Zitate). Liebig war durch die Ablehnung gekränkt, polemisierte eingangs gegen die Fortschrittsresistenz der Bäcker, gegen die Indolenz der Masse, sei doch Fortschrittssinn und „ein gewisser Grad von Bildung“ erforderlich, um seinen Vorschlag aufzugreifen. Nun denn, es folgte ein neuerlicher Vorschlag, um „aus gewöhnlichem Mehle, ohne Kleie, ein schönes, schmackhaftes Brod zu bereiten von höherem Nährwerth, als dem Brode aus demselben Mehle nach jeder anderen Methode bereitet zukommt.“ Liebig verwies neuerlich auf den gesundheitlich bedenklichen Verlust wichtiger „Nährsalze“ durch das Mahlen. Der Nährwertverlust betrage etwa 12 bis 15 Prozent. Eine andere Art der Brotbereitung sei daher von immenser nationalökonomischer Bedeutung, „denn der Erfolg in der Praxis der Ernährung ist alsdann genau so, wie wenn alle Felder in einem Lande ⅟7 bis ⅛ mehr Korn geliefert hätten; mit derselben Menge Mehl wird durch diese Ergänzung eine größere Anzahl Menschen gesättigt und ernährt werden können.“ Just das leiste das Horsfordsche Backpulver, „die ich für eine der wichtigsten und segenreichsten Erfindungen halte, welche in dem letzten Jahrzehnt gemacht worden sind.“ Doch Liebig wäre nicht Liebig, hätte er nicht an einer Verbesserung des Produktionsverfahrens gearbeitet, einer Mischung von Phosphorsäure mit doppeltkohlensaurem Natron. Das sei an sich sinnvoll, doch doppeltkohlensaures Kali eigne sich besser zum Ausgleich der stofflichen Defizite des Getreidekorns, es munde zudem besser. Allein, es sei zu teuer. Stattdessen setzte Liebig auf das im anhaltinischen Staßfurt seit 1851 billig gewonnene Chlorkalium. Er errechnete nun das für die Reaktion und die Neutralisierung der zugesetzten Stoffe erforderliche Verhältnis – pro Pfund Mehl 14 Gramm Phosphorsäure und 9 Gramm Chlorkalium – und empfahl diese Stoffe als neue Backpulver, als Zusatz zum Mehl (nicht ohne ein noch besseres, letztlich aber kaum praktikables Verfahren darzulegen): „Das nach dieser Methode bereitete Brod ist von schönem Aussehen, aber schwerer wie das gewöhnliche Bäckerbrod; das letztere ist großblasig und fällt durch sein größeres Volumen mehr in die Augen.“ Gewiss, das neue Backpulver verursache Kosten von 15-18 Kreuzern [60-72 Pfennigen, US], doch nach seiner Berechnung ergäbe das Verfahren 10 bis 12 Prozent mehr Brot, sei dank der Zusätze auch deutlich nahrhafter. Liebig hatte sich auf die Brotbäckerei konzentriert, Küchengebäcke schloss er aus. Sein Ziel war nicht nur ein besseres und nahrhafteres Brot, sondern auch dessen großbetriebliche Herstellung: „Mit dem Ausschluß des Gährungsprocesses fällt das Haupthinderniß hinweg, welches dem industriellen Betriebe des Bäckergewerbes entgegenstand“. Das neue Backpulver diene der Allgemeinheit, sei für den Schiffsverkehr, das Militär, für Gefängnisse und Armenhäuser anzuraten. Die Produktion sei schon im Gange, zwei Fabrikanten damit betraut. Liebigs Artikel wurde Ende 1868 in den führenden Tageszeitungen des deutschen Sprachraums veröffentlicht (Kölnische Zeitung 1868, Nr. 355 v. 22. Dezember, 6; Der Bund 1869, Nr. 2 v. 3. Januar, Sonntagsblatt, 1-2), hinzu kamen zahllose Paraphrasen des Inhalts (etwa Zu den Brotstudien, Der Wächter 1869, Nr. 2 v. 4. Januar, 2-3).

Für die teils bis heute übliche Liebig-Hagiographie (einschlägig Jakob Volhard, Justus von Liebig, Bd. II, Leipzig 1909, 292-303) war dies ein neuerlicher Beleg für die Schaffenskraft und das soziale Engagement des hochgeehrten Innovators. Festzuhalten aber ist, dass dieser seit Mitte der 1850er Jahre in stetem Austausch mit seinem früheren amerikanischen Schüler Eben Norton Horsford (1818-1893) stand. Liebigs wusste um Horsfords Vorarbeiten, von seinem Backpulver-Patent (Nr. 14722), von dessen Übertragung in die industrielle Fertigung und seinem Bestreben, die Zusammensetzung zu optimieren (Paul R. Jones, Justus von Liebig, Eben Horsford and the development of the baking powder industry, Ambix 40, 1993, 65-74). Die zusammenfassende Broschüre (E[ben] N[orton] Horsford, The Theory and Art of Breadmaking, Cambridge 1861) hatte Horsford nach Erscheinen an Liebig gesandt. Auch danach tauschten sich beide über Backpulverfragen aus, auch 1868/69, als es darum ging, die veränderte Rezeptur Liebigs in ein verkaufsfähiges Produkt umzusetzen. Horsfords Backpulver war bereits eine Umsetzung der allgemeinen Prinzipien Liebigs, ermöglichte es doch einen rechnerisch höheren Nährwert und „scientific precision which successful bread-making requires” (Baking-Powders, The Manufacturer and Builder 2, 1870, 88). Horsfords Backpulver bestand aus zwei getrennt abgepackten Komponenten, Weinstein/doppeltkohlensaurem Natron und kalziumsaurem Phosphat/Phosphorsäure. Sie mussten ausgepackt und vermengt werden, die richtige Mischung erlaubte ein beigefügtes Zinngefäß mit zwei Kegelstümpfen unterschiedlichen Umfangs. Dieses wurde mit beiden Komponenten gefüllt, Wasser hinzugefügt, mit Mehl zum Teig verarbeitet und dann in den Ofen gegeben.

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Lange vor Horsford: Werbung für Durkee’s Baking Power (Kenosha Telegraph 1851, Nr. 50 v. 6. Juni, 3 (l. oben); Herald of the Times 1852, Nr. 1147 v. 2. September, 3 (l. unten); Wilmington Journal 1853, Nr. 51 v. 26. August, 3)

Eben Norton Horsford gilt als der Begründer der amerikanischen Backpulverindustrie, doch er war sicher nicht der erste industrielle Produzent oder gar der eigentliche „Erfinder“ des Backpulvers. Man wusste in der früheren Kolonie um die englischen Vorarbeiten. Bereits 1850 wurden erste weinsteinhaltige Backpulver von Preston & Merrill (Boston, MA) oder E.R. Durkee (New York City, NY) verkauft. 1853 folgte Vincent C. Price (Troy, NY) mit einer Mischung aus Weinstein und Natriumkarbonat (L.H. Bailey, Development and Use of Baking Powder and Baking Chemicals, Washington 1930, 2). Über den 1818 in Moscow, NY, in einer gutbürgerlichem Familie geborenen Eben Norton Horsford gäbe es viel, sehr viel zu erzählen: Eine zielstrebige Karriere im Feld von Technik und Chemie, der zweijährige Studienaufenthalt in Gießen als Schüler Liebigs, die nach der Rückkehr 1847 erfolgte Übernahme des neu geschaffenen Rumford Chair on the Application of the Useful Arts an der Harvard University, das Klonen von Liebigs Laboratorium und seiner Art des chemisch-technischen Studiums an der Lawrence Scientific School in Harvard (Charles L. Jackson, Eben Norton Horsford, Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 28, 1892/93, 340-346). Schweigen werde ich von seiner Förderung des Frauenstudiums, seine später von der Firma Borden genutzten Forschungen zur Kondensmilch und seinen höchst problematischen Beiträgen zur Siedlungsgeschichte Nordamerikas (Georg Schwedt, Liebig und seine Schüler, Berlin u.a. 2013, 213-214; William H. Brock, Justus von Liebig. The Chemical Gatekeeper, Cambridge und New York 2002, 239). Der nie promovierte Wissenschaftler hatte sich 1854 an einer von George Francis Wilson (1818-1883) initiierten chemischen Handelsfirma in Pleasant Valley, RI, beteiligt. Ging es anfangs um die Produktion des Bleichmittels Kalziumsulfat, so stand nach der Verlagerung der Firma nach Seekonk, MA, die Produktion von kalziumsaurem Phosphat im Mittelpunkt – einem Bestandteil des 1856 auf Horsford patentierten Backpulvers. Die Firma wurde in Anlehnung an seinen Lehrstuhl in Rumford Chemical Works umbenannt; in Erinnerung an den Loyalisten und naturwissenschaftlichen Forscher Benjamin Thompson, Reichsgraf von Rumford (1753-1814), dessen zeitweiliges Wirken in München mit der Rumford-Suppe für Arme und dem Englischen Garten für Bürger nur unzureichend umrissen ist. Horsford jedenfalls verließ 1862 seinen Lehrstuhl, nachdem er langjährige Patentstreitigkeiten erfolgreich abgeschlossen hatte, und konzentrierte sich bis zu seinem Lebensende auf die Leitung seines höchst lukrativen Unternehmens, andere Geschäfte und die Archäologie (Linda Civitello, Baking Powder Wars. The Cuthtroat Food Fight that Revolutionized Cooking, Campaign 2017, insb. Kap. 3).

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Liebigadepten als Backpulverproduzenten: Ludwig Clamor Marquart und Werbung der Düngermittelfabrik von Georg Carl Zimmer (Wikimedia Commons (l.); Pfälzer Bote für Stadt und Land 1870, Nr. 29 v. 8. März, 116)

Der Reigen der Macher schloss ebenso die beiden Produzenten des Horsford-Liebigschen Backpulvers ein. Der Name würdigte die entscheidenden Vorarbeiten des Amerikaners, berücksichtige aber auch Liebigs neuartige Zusammensetzung und nutzte die immense Werbekraft seines Namens. Der in Frankfurt a.M. geborene und in Heidelberg lebende Georg Carl Zimmer (1839-1895) hatte Mitte der 1860er Jahre die Kunstdüngerfabrik Clemm-Lennig von seinem Onkel, dem Liebig-Schüler Carl Clemm-Lennig (1818-1887) übernommen. 1855 gegründet, produzierte sie auf Grundlage der Liebigschen Agrikulturchemie Düngemittel, erst Knochen, dann Superphosphat und weitere Mineraldünger, schließlich auch zahlreiche chemische Grundstoffe (Heinrich Caro, Über die Entwicklung der Chemischen Industrie von Mannheim-Ludwigshafen a. Rh, in: Ders., Gesammelte Reden und Vorträge, Berlin und Heidelberg 1913, 133-178, hier 143). Zimmer sollte später auch das Hauptdepot für den Verkauf von Liebigs Fleischmehl übernehmen, einem Futtermittel aus dem Resten der Fleischextraktproduktion im uruguayischen Fray-Bentos (Adressbuch und Waarenverzeichniss der chemischen Industrie des Deutschen Reiches 1, 1888, hg. v. Otto Wenzel, Berlin s.a., Abt. II, T. I, 361). Auch der gelernte Apotheker Ludwig Clamor Marquart (1804-1881) war mit Liebig gut bekannt. Seine Karriere chargierte zwischen Köln, Heidelberg und Bonn, zwischen Apotheke, einem eigenen pharmazeutischen Institut und der 1846 gegründeten Fabrik chemischer Produkte. Liebig kooperierte also mit zwei etablierten Unternehmen, um Backpulver in deutschen Landen allgemein einzubürgern. Sie begannen Anfang 1869 mit großzügiger Anzeigenwerbung.

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Anpreisung des Neuen (Bonner Zeitung 1869, Nr. 5 v. 6. Januar, 4)

Breit gefächerte Werbung

Bevor wir näher auf die Werbung für das Horsford-Liebigsche Backpulver eingehen, sollten wir uns nochmals die Motive für das neue Produkt vor Augen führen (wobei ich den Lockreiz des Geldes außen vor lasse). Erstens ging es um nicht weniger als um eine neue menschengemachte Ordnung im Ernährungssektor. Es galt ungeregelte „natürliche“ Prozesse, die Hefe- und Sauerteiggärung, durch eine planmäßig ablaufende Reaktion klar definierter Chemikalien zu ersetzen. Dadurch erst sei gezieltes und sparsames Backen möglich. Einerseits könne so der Nährstoffverlust durch die Zersetzung der Glukose minimiert, anderseits der Beginn der Gärung unmittelbar gesteuert werden (Viktor Gräfe, Über Backhilfsmittel, Drogisten-Zeitung 36, 1921, 327-329, hier 327). Zweitens ging es um eine neue Ökonomie im Ernährungsalltag. Die Experten rechneten die Verluste durch natürliche Prozesse hoch, verdampften allein bei der Hefegärung doch 40 bis 50 Millionen Liter Alkohol. Das war ein Wert von 20 bis 25 Millionen Gulden, Kapital, das Bäcker und Haushalte rationaler investieren konnten (Rudolf Wagner, Ueber das Hefenpulver der Nordamerikaner, Industrie-Blätter 5, 1868, 182-183, hier 182). Andere rechneten mit einem Minderverbrauch von 100 Tonnen Brot pro Tag, günstigeren Preisen, mehr Nahrung (F[riedrich] Strohmer, Die Ernährung des Menschen und seine Nahrungs- und Genussmittel, Wien 1887, 198). Drittens ging es um einen weiteren Industrialisierungsschub, nun aber im vermeintlich rückständigen Kleingewerbe. Dieser Mittelstand schien durch die Industrie bedroht, hatte sich zu modernisieren, um seine wichtige gesellschaftspolitische Mittlerposition weiter ausüben zu können. Nicht umsonst war das Backpulver auch Teil der Rezeptur des später führenden Nationalökonomen Gustav Schmoller (1838-1917) für eine „professionsmäßige Bäckerei“ (Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert […], Halle/S. 1870, 415). Es ging beim Backpulver also auch um die Zukunft der Monarchie und des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Seine Einführung war Teil des Einholens der führenden Wirtschaftsmacht, des Britischen Weltreiches. Viertens schließlich handelte es sich bei der Einführung des Backpulvers um einen Test der Mehrzahl. Es ging um eine Reifeprüfung für Gewerbe und gemeinem Mann. Das liberale Bürgertum war in dieser Zeit zwischen dem deutschen Bruderkrieg 1866 und der sich abzeichnenden Gründung eines kleindeutschen Reiches unter preußischer Führung unsicher, ob es der Macht folgen oder die demokratischen Ideale weiter spinnen wollte. Konnte man ein demokratisches System wagen, wenn die Mehrzahl rationale Angebote nicht wahrnahm? Die Einführung des Backpulvers reichte zu dieser Zeit weit über Küche und Backstube hinaus.

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Münchner Anzeige gemäß der Vorlage des Mannheimer Produzenten Zimmer (Bayerischer Kurier 1869, Nr. 44 v. 13. Februar, 410)

Das Horsford-Liebigsche Backpulver wurde in einer für damalige Verhältnisse überzeugenden Weise präsentiert und beworben. Drei Ebenen gilt es zu unterscheiden, mochten sie auch miteinander verwoben sein. Beginnen wir erstens mit der Arbeit der beiden Produzenten. Sie hatten mit den Vorbereitungen für die Produktion spätestens im Frühjahr 1868 begonnen. Obwohl Zimmer und Marquart Teilkomponenten des Backpulvers selbst herstellten, bereitete deren großbetriebliche Produktion beträchtliche Schwierigkeiten (Volhard, 1909, 298-300; Jones, 1993, 69-70). Backversuche ergaben fehlerhaftes Brot, einschlägig betraute Bäckermeister verwiesen auf fehlendes Volumen. Über all das tauschten sich Liebig, Horsford, Zimmer und Marquart brieflich aus, allesamt darauf vertrauend, dass am Ende die Idee über die Widrigkeiten triumphieren würde. Das schließlich angebotene Backpulver zielte auf Brotherstellung und Bäckereien. Entsprechend wurde es in ganzen und halben Kisten von 100 und 50 Pfund zu 17 Talern und 5 Silbergroschen für 100 Pfund verkauft. Ein Konsumvereinsvorsitzender schrieb: “Probepaquete und 5 Pfund Backpulver werden zu 1 Thlr. 5 Sgr. versandt und ausführliche Gebrauchsanweisungen daneben ertheilt“ und berichtete über „befriedigende Resultate“ (Otto Krüger, Zur Brodbereitungsfrage, Blätter für Genossenschaftswesen 16, 1869, 54-55, hier 55). Das Brot würde zwar teurer, doch der Arbeitszeitgewinn in einer kleinen Konsumvereinsbäckerei gleiche das aus, zumal man auf die Aussage vom höheren Nährwert des neu bereiteten Brotes vertraue.

Die Anzeigen wiederholten im Wesentlichen die Argumente Liebigs. Es handelte sich um Ankündigungen, ja Verlautbarungen. Das Backpulver wurde als überlegenes, revolutionäres Angebot präsentiert, dessen Verwendung scheinbar für sich sprach. Die Kunden erhielten mit der Kiste resp. dem Paket eine Gebrauchsanweisung. Die getrennt abgepackten Säure- und Basekomponenten mussten vom Anwender selbst vermischt werden. Die Gewichtsrelationen hatte man durch die Zumischung von Stärke einander angeglichen, so dass man nicht – wie noch beim amerikanischen Vorbild – unterschiedliche Mengen der Einzelbestandteile abmessen musste. Wichtig war und blieb die trockene Lagerung des Inhalts der schon angebrochenen Verpackungen.

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Angebote auch in der Schweiz (Intelligenzblatt für die Stadt Bern 1869, Nr. 48 v. 18. Februar, 2 (l.); Zürcherische Freitagszeitung 1869, Nr. 9 v. 26. Februar, 3)

Marquart versuchte allerdings in dem von ihm verantworteten norddeutschen Markt Backpulver auch für den Küchengebrauch zu empfehlen, verwies dabei auf die Praxis der amerikanischen Hausfrau (Hamburger Nachrichten 1869, Nr. 46 v. 23. Februar, 10). Beiden Anbietern gelang es, das neue Produkt im Zollverein und im Norddeutschen Bund anzubieten, zudem übernahmen sie auch Offerten aus dem Ausland. Über die Anzeigen hinaus beschickten sie Fachmessen und Ausstellungen, erhielten dabei auch Auszeichnungen (Karlsruher Zeitung 1869, Nr. 229 v. 30. September, 3). An den Ständen wurden Büchsen mit Backpulver präsentiert, sollten Brotproben die Besucher überzeugen (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 157 v. 6. Juni, 5229). Der Geschmack war weniger sauer, die Resonanz allerdings überschaubar: „ Auch Sachsen hat schon hier und da dieses Backpulver praktisch eingeführt […] und soll auch […] in Dresden Herr Bäckermeister Seidel […] sich der neuen Brodbereitungsmethode angeschlossen haben“ (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 164 v. 13. Juni, 1).

Diese Firmenwerbung sollte den Anstoß nicht nur für Käufe, sondern auch für eine öffentliche Debatte sorgen und Berichterstattungen über das neue Backpulver in Gang setzten. Die Werbung gründete zweitens also auf den Institutionen des gewerblichen und öffentlichen Lebens. Das entsprach dem bürgerlichen Ideal der Debatte und wechselseitigen Aufklärung. Das lokale Brotbacken sollte damit Ereignis werden, Bildungsinstitution. Und so fand sich im badischen Weinheim eben nicht nur ein backpulverbackwilliger Bäcker, sondern auch ein erfahrener Chemiker, der das neuartige Angebot um „eine volksthümliche Beleuchtung des Brotbackens“ bereicherte (Karlsruher Zeitung 1869, Nr. 64 v. 17. März, 3). In den Zeitschriften las man zudem Glossen über die Vorteile des Backpulver auch für die Hauswirtschaft, in denen Hausfrauen darauf verwiesen wurden, dass „man neben dem Kochen Brod backen kann, ohne durch langdauernde Vorbereitungen, Gährenlassen etc., Zeit zu verlieren“ (Mannheimer Abendzeitung 1869, Nr. 85 v. 11. April, 3). Entsprechender Flankenschutz kam auch von Wissenschaftlern. Der Bonner Chemiker und Liebig-Schüler August Kekulé (1829-1896) hob etwa im Sinne seines Meisters hervor, „daß nämlich bei der jetzigen verfeinerten Lebensweise ein künstlicher Zusatz von Mineral-Substanzen zur Nahrung – eine Art Mineral-Düngung – nothwendig oder wenigstens vielfach zweckmäßig sei“ (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 113 v. 24. April, 10). Ein Ansturm Düngersüchtiger auf die Bäckereien unterblieb jedoch.

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Berichtete Brotvermehrung bei württembergischen Backversuchen (Ökonomische Fortschritte 3, 1869, 345)

Die wichtigsten Multiplikatoren waren allerdings Gewerbetreibende, organisiert in ganz Deutschland umspannenden Netzwerken von Gewerbe-, Industrie- oder polytechnischen Vereinen. Das waren die Wähler der 1. und 2. Klasse, die bestimmenden Kräfte in den Städten. Sie dachten praktisch, mit Sinn für den Nutzen. Die von Liebig angeführten Vorteile waren für sie überzeugend, doch sie diskutierten zugleich die noch bestehenden Probleme (Kerner, Ueber die Brodbereitung mit Horsford-Liebig’schem Backpulver, Gewerbeblatt aus Württemberg 1869, 83-85, hier 85). Blicken wir beispielhaft auf die Königlich Württembergische Centralstelle für Gewerbe und Handel. Sie kaufte eine große Charge Backpulver und versandte Proben an gleich 70 Adressen, bat um Prüfung und Stellungnahmen, wohl wissend, dass „die Vortheile, die es darbietet, auch mit Aufopferung gewöhnter Ansprüche erkauft werden müssen“ (Zur Horsford-Liebig’schen Brodbereitungsmethode, ebd., 101-102, hier 102). Die Rücklaufquote war hoch: Der Geschmack sei recht gut, doch das Brot durch den Zusatz auch teurer. Werte wie „Pünktlichkeit und Sorgfalt“ und „Wägen und Sieben“ seien nun gefragt, von den Bäckern eingefordert (Die Brodbereitung mittelst des Horsford-Liebig’schen Backpulvers, ebd., 120-121, hier 121). Allen Vorteilen zum Trotz war das Backpulverbrot aber weniger ansehnlich. Deshalb empfahl man es weniger den Bäckern als vielmehr den Privathaushalten, „wo man in Würdigung der erhöhten Schmackhaftigkeit und Nahrhaftigkeit auch mit einem minder ansehnlichen Aeußeren sich leichter versöhnt, während der Bäcker die Wünsche seiner Kunden zu berücksichtigen hat, sogar wenn sie auch nur auf einem Vorurtheil beruhen“ (Dass., ebd., 489-490, hier 490).

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Nährbrot und Backmehl auf Anregung des Gewerbevereins (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 153 v. 2. Juni, 4917)

Andernorts regten die Notablen nicht nur Versuche an, sondern auch Startup-Unternehmen. Die mit Backversuchen beauftragte Dresdener Bäckerei Opel beließ es nicht beim Backpulverbrot, sondern entwickelte im Gefolge einen in den 1880er Jahren recht erfolgreichen Nährzwieback für Kinder. Dem Backpulver aber schwor Familie Opel ab: „Das damit erzielte Brod verdarb jedoch schon kurz nach dem Buck zu einer kleisterartig wässerigen Masse und wurde so, trotz seines bedeutenden Nährgehalts, ungenießbar. Alle Versuche, diesen Zersetzungsproceß zu verhindern, mißglückten“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1879, Nr. 16 v. 16. Januar, 286).

Fasst man die einschlägigen Berichte zusammen, so war der Grundtenor wohlwollend, wurde die Kritik in zarten Nuancen dargeboten: „Das Brod war wohlschmeckend aber noch etwas fest“ (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 32 v. 7. Februar, 1). Vielfach wurden auch nur Liebigs Ansichten paraphrasiert (Hamburger Nachrichten 1869, Nr. 60 v. 11. März, 2; Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 98 v. 8. April, 1). In vielen Fällen wurde die Verwendung des Backpulvers allein für Brot in Frage gestellt, sollten stattdessen auch Kuchen oder Zwieback damit zubereitet werden (Das amerikanische Backpulver, Leipziger Tageblatt 1869, Nr. 143 v. 23. Mai, 4737; Hallesches Tageblatt 1869, Nr. 269 v. 18. Dezember, 1683). Immer wieder monierte man die fehlende Lockerheit des Brotes und die aus ungenügender Vermischung resultierenden braunen Stellen (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 107 v. 9. Mai, 1). Zusammengefasst boten diese Berichte viel Stoff zur Diskussion über das Horsford-Liebigsche Backpulver. Im Sinne der Macher aber war sie nicht, eher im Sinne einer Nachbesserung des Produktes.

Der bei weitem agilste Werbeträger war jedoch drittens das lokale werbetreibende Gewerbe. Bäcker, Apotheker, Drogisten und Kolonialwarenhändler begannen bereits Ende 1868 mit Anzeigen für neuartig gebackenes Brot, für das Backpulver und für Mehlmischungen, die der Hausfrau das Vermengen der Einzelkomponenten abzunehmen vorgaben. Sie erschlossen damit zugleich den häuslichen Markt abseits der Bäckereien.

16_Koelnische Ztg_1869_1_29_Nr29_p4_Bonner Ztg_1869_1_29_Nr9_p4_Waechter_1869_2_1_Nr14_p3_Echo d Gegenwart_1868_12_31_Nr358_p3_Backpulver_Liebig_Horsford

Marktpräsenz von Brot und Backpulver im Rheinland (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 29 v. 29. Januar, 4 (unten); Bonner Zeitung 1869, Nr. 9 v. 10. Januar, 4 (l.); Der Wächter 1869, Nr. 14 v. 1. Februar, 3 (r. oben); Echo der Gegenwart 1868, Nr. 358 v. 31. Dezember, 3)

Die lokalen Gewerbetreibenden nutzten dabei die Argumente von Liebig, Zimmer und Marquart, nutzten fast durchweg das Renommee des Münchener Chemikers als Qualitätsgaranten. Zumeist aber beließ man es bei kurzen Aussagen zum Nutzen, insbesondere zur Substitution der für Backwerk gebräuchlichen Hefe.

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Vom Angebot zum Ratgeber – Werbeanstrengungen der Detaillisten (Bonner Zeitung 1869, Nr. 95 v. 8. April, 4 (l.); Jeversches Wochenblatt 1869, Nr. 121 v. 5. August, 5)

Die dezentrale Werbung war dynamisch, führte zu nicht vorherzusehenden Geschäftsinitiativen. Das galt etwa für neuartige Angebote von „American Cracker“, hergestellt mit Backpulver. Die Anfang 1869 gegründete Braunschweiger Firma hatte keinen langen Bestand, doch ihre Geschäftsidee trägt bis in unsere Tage (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 77 v. 18. März, 4; Bonner Zeitung 1869, Nr. 91 v. 4. April, 2; Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 136 v. 16. Mai, 9). Erfolgreiche Karrieren begleiteten sie: Der Dresdener Apotheker J. Paul Liebe übernahm nicht nur eine Generalagentur des Backpulvers (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 164 v. 13. Juni, 2), sondern baute in den Folgejahren sein breitgefächertes Angebot von Malzprodukten, Kindernähr- und Kräftigungsmitteln weiter aus, das er trotz des energischen Protests Liebigs unter dessen Namen vermarktete (J[ustus] v. Liebig, Erklärung, Annalen der Chemie und Pharmacie 158, 1871, 136).

Vor Ort wurden die Grundinformationen also weitergesponnen, auch umgewidmet. Mochte der Name Liebigs auch die Anzeigen dominieren, so wurde doch vielfach vom „Amerikanischen Backpulver“ gesprochen (Dresdner Nachrichten 1869, Nr. 210 v. 29. Juli, 3). Die Ferne zog – wir hatten dies im englischen Falle schon an Borwick’s German Baking Powder gesehen. Zugleich spiegelte die lokale Werbung aber auch das langsame Ende des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Im oldenburgischen Jever hatte der Händler A.W. Deye seit Sommer 1869 die Vorteile des Backpulvers für das häusliche Backwerk öffentlich hervorgehoben. Er war erfolgreich, annoncierte mehrfach neu eingegangene Ware, schaltete auch Erinnerungswerbung zu den Hochfesten. Doch Ende 1870 endete diese kleine Kampagne vor Ort. Die Illusionen über die Reform der Brotbereitung verflogen, der Absatz endete.

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Beharrende und abebbende Werbung (Jeversches Wochenblatt 1869, Nr. 141 v. 9. September, 7; ebd., Nr. 147 v. 19. September, 3; ebd., Nr. 163 v. 17. Oktober, 3; ebd. 1870, Nr. 5 v. 9. Januar, 5; ebd., Nr. 111 v. 17. Juli, 3; ebd., Nr. 201 v. 22. Dezember, 3 (von oben n. unten, von l. n. r.))

Dieser Misserfolg lag kaum an der Werbung. Diese war großzügig, vielgestaltig, wandelte sich gar mit den vermeintlichen Ansprüchen der Käufer von der Bäckerei zum Haushalt. Backpulver war im ersten Halbjahr 1869, teils auch darüber hinaus, ein seriös diskutiertes Thema in der deutschen Öffentlichkeit. Doch anders als von den Machern erwartet, mündete das kritische Räsonnement eigensinniger Bürger in die Ablehnung des Horsford-Liebigschen Backpulvers.

Von der Kritik zum Fiasko: Das Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers

Das „gänzliche Fiasko des Liebigschen Backpulvers in Deutschland“ (Volhard, 1909, 303) spiegelte sich in den Absatzzahlen. Diese liegen indirekt vor, hatte die beiden Produzenten Liebig doch eine Provision von 10 Silbergroschen resp. 35 Kreuzern pro verkauftem Zentner Backpulver zu zahlen. Georg Carl Zimmer verkaufte 1868 und 1869 insgesamt 24.492 Pfund Backpulver, 1870 dann nochmals ca. 2.500 Pfund, insgesamt also ca. 27.000 Pfund oder 13,5 Tonnen. Er gab 1870 die Produktion auf, überließ seine Rechte L.C. Marquart. Dieser zahlte Liebig für 1868/69 26 Taler, 1870 31 und 1871 9 Taler (Angaben n. Volhard, 1909, 302; Jones, 1993, 72). Diese 66 Taler Provision entsprachen einer Menge von ca. 9,9 Tonnen. Auch wenn Marquart wohl bis mindestens 1874 Restbestände verkaufte (Der Bazar 20, 1874, Nr. 2, 20), bestand der Absatz schon 1871 vornehmlich aus Exportware gen Dänemark und Argentinien (ebd.). Der Gesamtabsatz des Horsford-Liebigschen Backpulvers im In- und Ausland betrug 1868 bis 1871 demnach 23,4 Tonnen – oder 468 volle Kisten. Ein Fiasko, zumal angesichts der immensen Erwartungen Liebigs. In einem Schreiben an Zimmer hatte er darüber fabuliert, dass bei einem Erfolg die deutsche Sodaproduktion verdoppelt werden würde (Volhard, 1909, 302). Diese lag 1869 im Deutschen Zollverein bei ca. 75.000 Tonnen (J[oseph] Goldstein, Deutsches Sodaindustrie in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1896, 51).

Was waren die Gründe für dieses Scheitern – auch im Hinblick auf die langsame, aber gedeihliche Aufwärtsentwicklung in England und den USA? Sieben Gründen scheinen mir evident. Wobei ich mir bewusst bin, dass ich damit nicht auf die damalige Kritik aktiver Vegetarier an der „Verliebigung des Brodes“ eingehe, die sich vornehmlich an der Herkunft der Phosphorsäure aus gebleichten und vermahlenen Tierknochen rieben, also der Transformation eines pflanzlichen Nahrungsmittels in ein tierisches (Hugo Oelbermann, Das Knochenbrod, Bonner Zeitung 1868, Nr. 352 v. 29. Dezember, 3).

Erstens war der Markteintritt verfrüht und undurchdacht. Liebigs Vorschlag für eine neue, von Horsfords Verfahren abweichende Zusammensetzung war durch seinen Kaligehalt technisch schwierig und führte 1868 zu immer neuen Nachjustierungen (Volhard, 1909, 298). Die Gründe dafür lagen gewiss in den Kosten, lagen aber auch im starren Beharren auf Liebigs vermeintlich überlegenen Vorschlag. Die Backversuche unterstrichen, dass die Mischung nicht ausgereift war, nur dann erfolgreich, wenn alle Rahmenbedingungen präzise eingehalten wurden. Um dies zu gewährleisten hatte sich Liebig in seinem Privathaus einen eigenen Spezialofen erbauen lassen, doch derartiges Engagement war nicht verallgemeinerungsfähig. Auch das Abspringen des ursprünglich geplanten dritten Produzenten wurde nicht als Warnzeichen verstanden. In dem nahe Brückfeld im Landkreis Rosenheim gelegenen Örtchen Heufeld war unter Liebigs Mitarbeit 1857 die Bayerische Actien-Gesellschaft für chemische und landwirthschaftlich-chemische Fabrikate gegründet worden, die seit 1859 Superphosphat-Dünger produzierte, die letztlich aber kein Backpulver produzieren wollte. Marktforschung unterblieb.

Zweitens konzentrierte sich die Einführung auf die Brotbereitung und die Bäcker. Damit ignorierte man die Marktentwicklung in den USA, insbesondere aber in Großbritannien. Dort bildeten Haushalte und süßes Backwerk einen wachsenden Anteil am Absatz. Mit den gut organisierten Bäckern wurde im Vorfeld nicht gesprochen, sie wurden im Gegenteil als Fortschrittsfeinde denunziert. Der Verband deutscher Müller und Mühlen-Interessenten prüfte das Backpulver 1869, konnte jedoch kein „durchweg günstiges Resultat“ erblicken, da die Brotproduktion auf diese Art nicht wirklich verbessert werden konnte (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1869, Nr. 154 v. 3. Juni, 5125). Ignoriert wurde insbesondere die Marktstellung der Bäcker: „ Der Bäcker muß den Geschmack seiner Kunden befriedigen, und es gehört eine gewisse Freiheit von Vorurtheilen dazu, sich von einem bestimmten Geschmacke des täglich genossenen Brotes abzugewöhnen“ (K[arl] Birnbaum, Das Brotbacken, Braunschweig 1878, 108).

Drittens war das stakkatohaft vorgetragene Mantra des trotz Backpulvers letztlich billigeren Brotes weder für die Bäcker noch für die Hausfrauen glaubwürdig. Backpulverbrot war kleiner und weniger ansehnlich, die Vorstellung erhöhten Nährwertes und abstrakte nationalökonomische Kostenrechnungen verpufften. Stattdessen standen die Bäcker vor dem Problem, bei Einführung die Preise für ein Brot anheben zu müssen, das weniger hermachte (Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 3, 1871, 150). Eine raschere Produktion und der teilweise Verzicht auf Nachtarbeit waren gewiss nachvollziehbare Argumente, doch die meisten Bäckereien waren Einmannbetriebe, die für ein Auskommen arbeiteten, nicht für stetig zu mehrenden Gewinn. Die Kosten für das Backpulver hätten die Bäcker tragen müssen, doch dem stand kein Ertrag gegenüber (Preußisches Handels-Archiv 1871, Nr. 11 v. 17. März, 261).

Viertens unterschätzten die Macher die beträchtliche Zusatzarbeit in Bäckereien und Haushalten – letztlich also die deutlich höheren Opportunitätskosten durch das neue Produkt. Die Mischung und Zumengung war ungewohnt und fehleranfällig – trotz Gebrauchsanweisung. Dies ging einher mit einer vornehmlich im Haushalt bestehenden Abneigung gegen den laboratoriumsgemäßen Umgang mit Chemikalien. Sie wurde als etwas Fremdes verstanden, als schwarze Kunst. Objektiv mag dies unbegründet gewesen sein, doch mit derartigen Vorbehalten hätte insbesondere Liebig rechnen müssen, dessen Malzsuppe für Säuglinge zuvor an ihrer zeitaufwändigen und fehleranfälligen Zubereitung gescheitert war.

Fünftens scheiterte das neue Backpulver am zwar zusagenden, letztlich aber doch veränderten Geschmack des Brotes. Dieser war milder, hatte weniger Ecken und Kanten, doch es war just dieser leicht säuerliche Geschmack eines Sauerteigbrotes, den viele nicht einfach aufgeben wollten (Knapp, 1878, 295). Es ging eben um das „gewisse Angenehm-Säuerliche, welches sehr schwer in dem richtigen Maße, d.h. nicht zu viel und nicht zu wenig, durch Chemikalien herzustellen ist“ (Johannes Frentzel, Ernährung und Volksnahrungsmittel, Leipzig 1900, 104). Bei Hefegebäck mochte das anders sein, doch Liebigs Angebot zielte primär auf die Substitution des Sauerteigs bei der Roggen- und Mischbrotproduktion. Auch bei Kuchen wäre dies anders gewesen, denn Zucker überdeckt Geschmacksnuancen. Kritisch vermerkt wurde auch die Missachtung der Tradition durch „dieses künstliche Salzgemisch“ (Heinrich Vogel, Die Verfälschung und Verschlechterung der Lebensmittel, Erfurt 1872, 47). Für die immigrierte New Yorker Hausfrau mochte das Neue seinen Wert haben, nicht aber für eine noch von Sitte und Herkunft geprägte Gesellschaft wie die des frühen Kaiserreichs. Entsprechend urteilten Zeitgenossen skeptisch auch über die längerfristigen Perspektiven der Backpulver (Knapp, 1878, 125).

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Inkarnation ambivalenten Forschungsdrangs: Justus von Liebig (Illustrirte Zeitung 1869, Nr. 1361 v. 31. Juli, 85)

Sechstens erwiesen sich die naturwissenschaftlichen Annahmen Liebigs zunehmend als Schall und Rauch. Das wurde unmittelbar nach dem Scheitern auch öffentlich klar benannt: „Wie Liebig, dieser sonst so klare Kopf, zur Verwirrung der Begriffe über rationelle Ernährung durch Hervorheben des Nährwerthes der Salze im Vergleich mit dem der Eiweißstoffe so viel hat beitragen können, als er neuerlich so in der Lehre von der Brodbereitung durch Backpulver, wie in der über Herstellung von Fleischextract gethan hat, bleibt um so unverständlicher, als er selber früher und zwar gerade aus den hier von uns angeführten Gründen ein ganz anderes Fleischextrakt als das beste, ja als das allein zweckentsprechende, angegeben und empfohlen hat, […]“ (Bonner Zeitung 1871, Nr. 212 v. 2. August, 6). Das Liebigsche Konstrukt der „Nährsalze“ war irreführend und unphysiologisch. Auch seine im Kampf gegen Louis Pasteur halsstarrig hochgehaltene Interpretation der Hefegärung erwies sich als haltlos (Brotbereitungs-Prozeß, Kölner Nachrichten 1884, Nr. 43 v. 19. Februar, 2). Ebenso ergaben sorgfältige Resorptionsstudien an Hunden im Münchener Physiologischen Institut, dass die Liebigschen Summenformeln spekulative Rechnereien waren (Gustav Meyer, Ernährungsversuche mit Brod am Hund und Menschen, Zeitschrift für Biologie 7, 1871, 1-48; Birnbaum, 1878, 305-306). Der rechnerisch erhöhte Nährwert war in der Praxis fiktiv, denn die zusätzlichen Nährstoffe wurden vom Organismus schlicht nicht aufgenommen, sondern ausgeschieden. Der Chemiker Liebig ignorierte basale Erkenntnisse der aufstrebenden Physiologie (A[dam] Maurizio, Die Nahrungsmittel aus Getreide, Bd. 1, Berlin 1917, 350).

Siebtens schließlich gab es auch psychologisch-biographische Gründe für das Scheitern. Liebig war zu diesem Zeitpunkt ein alter, zunehmend unbelehrbarer Mann, der mit polemischem Furor und jugendlicher Energie seine Vorstellungen verfolgte, dagegen stehende Aspekte aber ignorierte. Bezeichnend war, dass er im Mai 1868 erst durch seinen Freund, den Göttinger Chemiker Friedrich Wöhler (1800-1882), auf Horsfords Backpulver-Patent hingewiesen wurde (Volhard, 1909, 297). Liebig hatte in der Freude am eigenen Experimentieren die gesamte Vorgeschichte offenbar verdrängt. Es war daher in gewisser Weise folgerichtig, dass Zimmer und Marquart das Backpulver nicht veränderten, die Werbung nicht umgestalteten, sondern die Produktion einfach abbrachen und auslaufen ließen. Für Liebigs war das Backpulver, sein Backpulver, ein sakrales Gut, dessen Veränderung einem Sakrileg gleichgekommen wäre, war es doch bereits chemisch optimiert. Liebig war letztlich nicht mehr in der Lage, die begründeten Rationalitäten anderer Menschen ernst zu nehmen und in Rechnung zu stellen. Der große Anreger verkörperte eben auch die Hybris einer Wissenschaft, die Modelldenken und eine gegenläufige empirisch wahrnehmbare Realität nicht mehr voneinander zu scheiden wusste.

Lernerfolge oder Neukonfiguration des Backpulvermarktes

Das Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers erfolgte nicht in einem jungfräulichen Markt, denn englische Offerten, etwa Borwicks Backpulver, wurden nicht nur im Norden angeboten (Altonaer Nachrichten 1869, Nr. 136 v. 13. Juni, 4). Backpulver blieben präsent, doch es waren wie zuvor eher Konditoren, die es für Zuckerwerk und Kuchen nutzten, Hausfrauen und Köchinnen, die sich Triebmittel kauften und selbstbereiteten, schließlich Bürger, die ausländische Präparate kauften. Doch zugleich wandelte sich der Markt, veränderte sich das Angebot. Paradoxerweise entsprechen moderne Wissens- und Konsumgesellschaften durchaus Kreislaufmodellen, denn gescheiterte Ansätze werden nicht einfach vergessen, sondern aus ihnen wird gemeinhin gelernt, um die Grundprinzipien für andere Angebote neuerlich anzuwenden und aus ihnen Gewinn zu ziehen. Dass dies nicht artikuliert, sondern in Narrative der Innovation und des Fortschritts eingewoben wird, sollte später auch Dr. Oetker zeigen. Doch als Trittbrettfahrer lernte er später nicht nur und nicht primär aus dem Scheitern des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Er konnte auch auf die Erfahrungen dutzender Backpulverproduzenten zurückgreifen, die nach Liebigs Tod den Markt aus- und umgestalteten.

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Anonyme Angebote mit Verweis auf den Wissenschaftsheros Liebig (Deutsches Montags-Blatt 1877, Nr. 3 v. 16. Juli, 8)

Bevor wir einzelne Unternehmen genauer analysieren, sollten wir uns aber die Hauptveränderungen gebündelt vor Augen führen, allesamt Lehren aus dem Scheiteren des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Erstens setzte sich der schon von Marquart und zahlreichen lokalen Anbietern eingeschlagene Weg fort, Backpulver nicht in der Bäckerei, nicht beim Brotbacken, sondern in der Küche, beim Kuchenbacken und auch der Speisenbereitung einzusetzen. Es galt nicht mehr Sauerteig zu ersetzen, sondern Hefe. Das ging einher mit einer wachsenden Trennung gewerblicher und häuslicher Angebote, also der Trennung zwischen dem Angebot von Backhilfsmitteln in Fachzeitschriften und dem von Küchenbedarf in Tageszeitungen und Publikumszeitschriften.

Zweitens wurde Backpulver von einem Chemikalienmix zu einem zunehmend einfacher zu handhabenden Convenienceprodukt. Das Angebot von getrennten Säure- und Basekomponenten fiel weg, stattdessen konnten die Käuferinnen ein schon vermischtes Produkt kaufen. Der Begriff Backpulver war immer weniger Plural, wandelte sich immer stärker zum Singular, zu einem direkt nutzbaren kompakten Hilfsmittel. Dies ging einher mit deutlich kleineren Haushaltspackungen, meist kleine Pappkästchen, teils auch schon Papierbeuteln.

Drittens trat neben die Gebrauchsanweisung zunehmend das Rezept. Nach wie vor wurde die Anwendung des Backpulvers in einigen Sätzen erklärt, in den Anzeigen kurz, auf der Packung etwas ausführlicher. Die Rezepte zeigten jedoch den konkreten Nutzen. Sie konzentrierten sich auf einfache Kuchen, auf Gemische des damals immer häufiger konsumierten Zuckers mit Mehl, Eiern, Butter (oder Kunstbutter) und Wasser oder Milch. Anders als Brot wurde häuslich bereiteter Kuchen auch nicht mit einem allseits bekannten Preis verbunden, entzog sich somit ansatzweise der ökonomischen Rationalität der frühen Backpulverdebatten.

Damit veränderte sich viertens auch die soziale Zielgruppe. Während Liebig auf alle Konsumenten zielte und diese über das Backpulverbrot erreichen wollte, konzentrieren sich die Unternehmen in den 1870er und 1880er Jahre vornehmlich auf bürgerliche Haushalte. In den frühen Arbeiterkonsumvereinen wurden Backpulver nicht geführt, das änderte sich erst um 1900 (Uwe Spiekermann und Dörthe Stockhaus, Konsumvereinsberichte – Ein neue Quelle der Ernährungsgeschichte, in: Dirk Reinhardt, Uwe Spiekermann und Ulrike Thoms (Hg.), Neue Wege zur Ernährungsgeschichte, Frankfurt a.M u.a. 1993, 86-112, hier 99-100). Während Liebig Backpulver als Teil der Lösung der sozialen Frage verstand, als Anrecht auf soziale Teilhabe und Ausdruck von Bildung – also als eine gemeinsame Aufgabe von Eliten und Volk, wirkte nun der Lockreiz des bürgerlichen (Sonntags-)Kuchen (ähnlich dem (Sonntags-)Braten). Es ging um Verbürgerlichung, um individuellen sozialen Aufstieg durch Akzeptanz bürgerlichen Daseins.

Fünftens wurde Backpulver der Alleinstellung entkleidet, die ihm Liebig zugedacht hatte. Es wurde nun Teil eines immer breiteren Sortiments küchennaher Angebote. An die Seite des Backpulvers traten nun vermehrt Puddingpulver (abstrus die Aussage von Insa Schlumbohm, Die Geschichte des Puddings und wie der Pudding ins Museum kam, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Essen und Trinken in der Moderne, Münster et al. 2006, 85-98, hier 89, dass Puddingpulver um 1900 „noch nicht allgemein bekannt war“), seit den späten 1870er Jahren auch Vanillinzucker, langsam auch Konservierungsmittel und Einmachhilfen. Peu à peu bildete sich ein Backsortiment aus, welches Backpulverangebote umkränzte, die Bedeutung des verbindenden Triebmittels allerdings nochmals unterstrich.

Sechstens schließlich entwickelte sich eine für die Anfangsjahrzehnte des Kaiserreichs recht typische Marktstruktur. Auf der einen Seite einige innovative, in den Städten reichsweit präsente Markenartikelanbieter. Auf der anderen Seite aber zahlreiche kleinere regionale Anbieter, darunter einige quirlige lokaler Anbieter, meistens Apotheker und Drogeristen, die bekannte und sehr unterschiedliche Rezepturen nutzten und verkauften.

Trendsetter und Marktführer: J. Gädicke, Berlin

Thesen sind leicht zu formulieren, doch sie empirisch zu fundieren ist gewiss ebenso wichtig. In den 1870er und 1880er Jahren gab es im deutschen Sprachraum ein knappes Dutzend relevanter Backpulveranbieter, von denen hier lediglich vier genauer analysiert werden: Ein erstes und zugleich zentrales Beispiel bietet die Berliner Firma J. Gädicke & Co. Meine erste virtuelle Begegnung mit Johannes Gädicke (1836-1916) bezieht sich auf das Jahr 1873, als er künstliche Topfgewächse annoncierte (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 54/55, 1. Beiblatt, 5), einen Klassiker der Heimsurrogate. Wohl wichtiger war seine Rolle als Pionier der Photographie. 1877 wurde ihm ein Patent „auf ein Ueberzugsmittel für Glasplatten, welche mittels des Sandgebläses radirt werden sollen“ erteilt (Amtsblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1877, Nr. 29 v. 21. Juli, 251). Weit darüber hinaus ging die gemeinsam mit Adolf Miethe (1862-1927) 1887 erfolgte Erfindung und Patentierung des aus Magnesium, Kaliumchlorat und Schwefelantimon bestehenden Blitzlichtpulvers. Ganz andere Pulver vertrieb der Fotopionier seit 1874: „Das unter dem Namen Hefenmehl von J. Gädicke in Berlin, Sparwaldsbrücke 2, dargestellte Backpulver ist gut und wird zu wohlfeilen Preisen verkauft. Es gibt beim Einrühren sofort einen lockeren Teig, der beim Erhitzen stark aufgeht und eine sehr poröse Masse bildet […]. Den Pfundpacketen sind Recepte beigegeben“ (Der Bazar 20, 1874, 325). Dieses Angebot war lukrativ und gewinnträchtig, doch Gädicke verkaufte seine Firma 1878 an den Berliner Kaufmann Carl Gustav Göring (Deutscher Reichsanzeiger 1878, Nr. 237 v. 8. Oktober, 4). Dieser gewann mit Wilhelm Meienburg 1880 einen neuen Kompagnon, der kurz darauf das Geschäft übernahm (Ebd. 1880, Nr. 147 v. 25. Juni, 11; ebd., Nr. 156 v. 6. Juli, 7).

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Kuchen statt Brot: J. Gädickes Backpulver (Dortmunder Zeitung 1878, Nr. 151 v. 2. Juli, 6)

Im Gegensatz zu Horsford-Liebig zielte Gädickesche „Hefenmehl“ auf den Ersatz von Hefe, nicht den von Sauerteig. Nicht Brote sollten damit gebacken werden, es diente vielmehr der „leichten und sicheren Herstellung leicht verdaulicher Mehlspeisen und Gebäcke“ (Von der Bäckerei-Ausstellung zu Berlin 6, 1875, 445-447, hier 445). Hefe war langsam, das Hefenmehl, nach kurzer Zeit auch Backmehl, dann Backpulver genannt wurde, dagegen schnell. Das musste erklärt werden, man sprach von frei werdenden Gasen, nicht nur im Backofen, sondern schon nach Vermengung des neuen Produktes; doch man sprach kaum mehr von der chemischen Zusammensetzung des Präparates (S. Roureq, Ueber Gädicke’s Hefenmehl und Jensen’s Futterbrot, Polytechnisches Centralblatt NF 29, 1875, Sp. 653-654). Stattdessen ging es um Sicherheit im Haushalt, um Abkehr von „der so unsicher wirkenden und oft verfälschten Hefe des Handels“ (Von der Bäckereiausstellung zu Berlin, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 2, 1875, 248-250, hier 248). Das Hefenmehl wurde nicht mehr in unterschiedlichen Paketen geliefert, anfangs aber in zwei Varianten: Eine für geschmackneutrale Speisen, etwa Knödel, eine für süße und würzige Kuchen.

Der Übergang von Horsford-Liebig hin zu einem neuartigen Angebot ist offenkundig. Das Backpulver war ähnlich zusammengesetzt wie der Vorläufer, pro Kilo Mehl sollten 5,1 Gramm Phosphorsäure und 8,7 Gramm doppelt kohlensaures Natron zugesetzt werden (bei Horsford-Liebig 4,4 resp. 7,2 Gramm) (Gesundheit 4, 1878/79, 222). Gädicke bot ebenfalls Kisten von 50 Kilogramm an, allerdings mit 31 resp. 40 Mark deutlich billiger als zuvor 51,5 Mark für das reine Backpulver bei Horsford-Liebig. Doch zugleich offerierte er kleinere Pfundpakete für 1874 45 und 55 Pfennig, 1875 dann 40 und 50 Pfennig. Auch wenn man sich vor Augen führen muss, dass Umverpacken eine Kernaufgabe in Drogerien, Apotheken und Kolonialwarenhandlungen war, so näherte sich Gädicke doch der Haushaltspackung an, mochten die Preise auch noch hoch gewesen sein. Entsprechend zielte er anfangs auf ein gutbürgerliches Publikum mit Kaufkraft. Das schnellere Backen diente noch nicht der Hausherrin am Herde, wohl aber der Gastgeberin. War Besuch da, so rief die Hausfrau „ein Wort in die Küche und in 15 Minuten trägt die Köchin eine Schüssel mit frischen, sehr wohlschmeckenden Pfannkuchen auf den Tisch“ (Bäckerei-Ausstellung, 1875, 445).

Neuerlich diskutierten Experten über das neue Präparat – typisch für Wandel, typisch für langsame Akzeptanz. Gädicke setzte die fachliche Diskussion küchentechnisch um: „Ein im täglichen Leben zu verwendendes Backpulver darf nothwendig nur ein Pulver sein, welches die verschiedenen Bestandtheile in genau richtigem Verhältnis enthält“ (Raabe-Graf, 1879, 188). Statt abzumessen nahm die Köchin nun ein einfaches Maß, nämlich einen gehäuften Teelöffel Backpulver pro Pfund Mehl. Das war nicht mehr beckmesserisch-wägend, denn: „Das Mehr oder Weniger beruht auf Erfahrung“ (Backen ohne Hefe, Die Fundgrube 2, 1875, 51). Mehl und Backpulver wurden gemischt, das Gemenge zur Sicherheit durch ein grobes Sieb geschlagen. Die Zutaten kamen hinzu, der Teig wurde in die Form oder die Pfanne geschüttet und gebacken. Auch Fachleute waren überrascht, dass die trocken vermischte Säure-Basen-Komponenten auch nach vielen Monaten noch triebkräftig waren (Apotheker-Zeitung 14, 1879, 85). Dabei hatten das die englischen und amerikanischen Backpulver schon längst belegt.

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Herausstechende Anzeigen für Backpulver, Puddingpulver und mehr (Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878/79, 11 (l.); Dresdner Nachrichten 1880, Nr. 33 v. 20. Februar, 4)

Mit der Übernahme der Firma durch Göring und dann Meienburg begann eine markante Aufwärtsentwicklung. Anfangs auf den Berliner Raum konzentriert und mit dem Rest der Welt durch Versandhandel verbunden, etablierten sie ab 1878 offenbar Generaldepositairen „an allen Plätzen des In- und Auslandes“ (Kladderadatsch 32, 1879, Nr. 38, Beibl., 3). Das verbesserte Absatzsystem führte zur Vermarktung des nunmehr durchgehend Backpulver genannten Produktes im gesamten Deutschen Reich – zumindest in dessen urbanen Zentren. Die Ausbreitung im cisleithanischen Österreich blieb dagegen stecken, allein in Prag wurde ein Depot eröffnet (Prager Tagblatt 1880, Nr. 27 v. 27. Januar, 4; Prager Tagblatt 1880, Nr. 13 v. 13. Januar, 9).

Auffällig waren erstens überdurchschnittlich große Anzeigen, deren Größe fast an die Verlautbarungswerbung von Marquart und Zimmer erinnerte. Sie knüpften den Bezug zu Justus von Liebigs Vorarbeiten, präsentierten das Backpulver als Hefeersatz – der Begriff „pulverisirte Trockenhefe“ erinnerte daran. Sie hoben das Gädickesche Angebot zugleich aus den üblichen kleinen Anzeigen hervor, auch wenn sie noch keine Bilder verwandten.

Zweitens knüpfte die Werbung nun ein deutlich engeres Band zur Hausfrau – nicht nur zur bürgerlichen Köchin. Kleine Anzeigen fragten „Wer will schönen Kuchen backen“ (Echo der Gegenwart 1878, Nr. 258 v. 20. September, 3), offerierten scheinbar „Einen schönen lockeren Eierkuchen“ (ebd., Nr. 271 v. 3. Oktober, 4). Die Hausfrau sollte zur praktischen Küchentat schreiten: „Das Backen mit Backpulver ist viel einfacher als mit Hefe, Lockerheit und Gerathen des Gebäcks wird garantirt. – Dazu gehörige Küchenrecepte und Gebrauchs-Anweisung auf jedem Carton“ (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 253 v. 11. September, 4). Nun redeten und predigten nicht mehr die Experten, sondern nun wurden die imaginierten praktischen Sorgen der bürgerlichen Hausfrau unmittelbar aufgegriffen: „Welche Hausfrau hätte nicht schon über schlechte Hefe geklagt und gejammert, sich nicht schon über ‚sitzen gebliebene‘ Sonn- und Festtagskuchen halb zu Tode geärgert? Milch und Mehl, Eier und Butter, Zucker, Rosinen und Mandeln, Mühe und Arbeit – Alles, Alles verdorben und verloren! Und dann kommt noch der Mann und lacht und spottet über den prächtigen Kuchen und die Kinder, die natürlich davon essen, weil er doch einmal da ist und auch Geld gekostet hat, verderben sich ebenso natürlich den Magen an dem unverdaulichen Zeuge. Was ist da zu thun? Man nehme statt der unzuverlässigen Hefe das Backpulver von J. Gädicke & Co. […], und statt der Klagen und des Aergers wird die Hausfrau Lust und Freude an dem Werke ihrer Hände haben, und der Mann wird nicht genug des Lobes finden und die Kinder werden immer gesunder und rothbackiger werden, je mehr sie davon essen“ (Kölner Sonntags-Anzeiger 1879, Nr. 149 v. 31. August, 3; analog Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 292 v. 28. Oktober, 3; Echo der Gegenwart 1880, Nr. 42 v. 12. Februar, 3). So klischeehaft die Szenerie auch sein mochte, sie zeigte doch die wachsende Bedeutung, die Konsumentinnen um diese Zeit gewannen. Sie wurden als Akteurinnen wahrgenommen und umzirzt. Zugleich aber verdichtete man die Vorteile des nunmehr in 50 Pfennig teuren Blechbüchsen angebotenen Backpulvers fast schon sloganartig: „Die Hauptvortheile, welche das Backpulver bietet, sind: Haltbarkeit, Schnelligkeit, Wohlgeschmack, sicheres Gerathen und Billigkeit“ (Volksblatt für den Kreis Mettmann 1878, Nr. 113 v. 24. September, 3). Das waren Ansätze einer direkten Werbesprache, die sich erst Jahrzehnte später einbürgern sollte.

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Eine breite Palette neuartiger Convenienceprodukte (Neueste Nachrichten 1880, Nr. 249/250 v. 5. September, 5)

Drittens bot J. Gädicke nun immer stärker ein Sortiment an, entweder plakativ mit fett gesetztem Puddingpulver oder aber ausgefächert auf „Flammeri, Eiscrème, Gelés, Kalt- und Warm-Puddings“ (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 35 v 28. August, 11). Viertens griff man die schon bei Liebig vorhandenen Motive auf, dass es sich beim Backpulver um einen gesunden, ja gesundheitsfördernden Zusatz handelte. Phosphorsaurer Kalk und Magnesia, doppeltkohlensaures Natron, Kochsalz und Mehl: All das sollte die Knochenbildung und die Verdauung fördern. Die Anzeigen verwiesen plakativ auf die „von den ersten ärztlichen Autoritäten“ verordneten, mit Backpulver zubereiteten Mehl- und Milchsuppen, die die Knochenbildung fördern würden (Kölner Sonntags-Anzeiger 1879, Nr. 148 v. 24. August, 3). Auch Liebigs Traum einer nachträglichen Abmilderung der Folgen moderner Müllerei schien wieder auf: „Das Backpulver von J. Gädicke & Co. nun gibt in seiner Zusammenstellung einen vollständigen Ersatz für die mit der Kleie verlorenen, knochen- und zahnbildenden Phosphate, ist also ein ganz vorzüglicher Zusatz zu jeglicher Nahrung für Kinder, und erhöht zugleich die Verdaulichkeit und den Wohlgeschmack der Speisen“ (ebd., Nr. 149 v. 31. August, 3; ähnlich Bonner Zeitung 1879, Nr. 265 v. 27. September, 1069; Dresdner Nachrichten 1879, Nr. 316 v. 12. November, 2). Damit schwächte man zugleich immer wieder artikulierte Ängste, dass die Zufuhr von chemischen Stoffen „Störungen im Organismus hervorgerufen“ könnte (Max Weitz, Ueber Berliner Hefenmehl und Hefenmehle überhaupt, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 20, 1879, 81-84, hier 83). Wachsende Versorgungssicherheit war in zunehmend anonymen Nahrungsmittelmärkten immer janusgesichtig, schuf neue Ängste und wachsenden Beruhigungsbedarf.

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Schutzmarke und Generaldepot (Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 295 v. 31. Oktober, 4 (l.); Bonner Zeitung 1879, Nr. 270 v. 2. Oktober, 1090)

Doch J. Gädicke & Co. beließ es nicht bei der Beschwörung vermeintlich wissenschaftlich abgesicherter Gesundheitswirkungen. Man baute zugleich eine neue vertrauensbildende Markenidentität auf. Ab 1879 prangte auf den größeren Anzeigen eine grafisch einfach gestaltete Schutzmarke mit Wiedererkennungseffekt. Das war wahrscheinlich auch auf die Arbeit fähiger Repräsentanten zurückzuführen. Georg Geza von Indulfy und August Schleipen machten die rheinische Metropole Köln zu einem Vorzeigemarkt Gädickes.

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Dezentrale Vermarktung (Echo der Gegenwart 1880, Nr. 55 v. 25. Februar, 4 (l.); Der Wächter, Bielefelder Zeitung 1880, Nr. 184 v. 10. August, 4)

Im prosperierenden Rheinland fanden sich mehrfach neue Anzeigenmotive. Auch wenn sie die Kernbotschaften kaum variierten, symbolisierten sie zugleich Dynamik und – durch die Schutzmarke – Kontinuität und Berechenbarkeit (Kölner Sonntags-Zeitung 1880, Nr. 177 v. 14. März, 1; Rhein- und Ruhrzeitung 1880, Nr. 79 v. 5. April, 4; Dortmunder Zeitung 1880, Nr. 96 v. 8. April, 4; Bonner Zeitung 1880, Nr. 145 v. 30. Mai, 583). Neben der Firmenwerbung stand Händlerwerbung, bei der vorrangig die Marke genannt wurde (Karlsruher Zeitung 1880, Nr. 171 v. 24. Juni, 1480). Mangels fehlender Firmenunterlagen ist es nicht möglich, die Geschichte von J. Gädicke & Co. angemessen zu rekonstruieren. Doch auch in Sachsen lässt sich rasches Wachstum nachweisen. In Leipzig gab es immerhin vierzehn Verkaufsstellen, in denen man Gädickes Backpulver „zum Selbstmischen des sog. Liebig’schen selbstthätigen Backmehls“ kaufen konnte (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1880, Nr. 370 v. 10. Dezember, 7308).

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Ausverkauf für einen Groschen (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 240 v. 29. Mai, 3)

Anfang der 1880er Jahre erfolgten zwei weitere zukunftsweisende Neuerungen im Marketing des Gädickeschen Backpulvers: Einerseits präsentierte man das Produkt als einen allseits akzeptierten Grundstoff, der zunehmend weniger erklärt werden musste. Dazu bediente man sich nicht mehr nur des Verweises auf Justus von Liebig, sondern verwies auf höchste Kreise, den Hofbäcker von Kaiser Wilhelm, den Backmeister von Kronprinz Friedrich (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 234 v. 17. April, 4; Volksblatt für den Kreis Mettmann 1881, Nr. 63 v. 28. Mai, 3). Backpulver war im kaiserlichen Deutschland anscheinend angekommen. Anderseits aber entstand 1880 eine neue, wenngleich nicht sonderlich herausragende Markenbezeichnung. Prima war das Gädickesche Backpulver, Prima wurde zu dessen Namen. Diese Abkehr von der simplen Kombination von Produzent und Produkt war ein wichtiger Schritt hin zu einer auch abstrakten Markenidentität. Parallel aber trat innerhalb der Werbung das Prima Backpulver langsam zurück, während die Puddingpulver an Bedeutung gewannen (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 129 v. 17. März, 14). Neben Zusätze und Hilfsmittel traten Komplettangebote: „Einen delikaten Pudding binnen 5 Minuten ohne Eier und Butter für 25 Pf., ausreichend für 4 Personen“ (Berliner Tageblatt 1880, Nr. 1790 v. 17. April, 10).

J. Gädicke & Co. blieb weiter aktiv, auch wenn es nach dem Rückzug von Georg Geza von Indulfy und August Schleipen nur noch vereinzelte Anzeigen gab (Kölner Sonntags-Anzeiger 1881, Nr. 269 v. 18. Dezember, 2). Das Backpulver hatte sich etabliert, die Präsenz in vielen Kolonialwarenläden (Dürener Zeitung 1886, Nr. 33 v. 24. April, 7) und Drogerien wurde aber nicht mehr durch stetige Anzeigenwerbung unterstützt. Es blieb ein Alltagsprodukt, doch über seine Bedeutung sind verlässliche Aussagen nicht möglich (Woltering, Ueber Klebermehl und über ein neues sehr einfach herzustellendes Diabetiker-Brot, Der praktische Arzt 29, 1888, 173-178, hier 176). J. Gädicke produzierte mindestens bis in die 1930er Jahre weiter Prima-Backpulver, Puddingpulver und ähnliche Produkte, erschien während des Zweiten Weltkrieges noch als Mehlgroßhandlung. Für uns aber ist wichtig, dass die Firma zwanzig Jahre vor Dr. Oetker den Wandel des Backpulvers zu einem küchennah beworbenen Convenienceprodukt vorantrieb.

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Gädickes Backpulver kurz vor der Jahrhundertwende (Spezial-Katalog, 1896, Werbung, 16)

Regionale Cluster, nationaler Anspruch: Backpulver aus Hannover

Die Mehrzahl größerer Backpulverproduzenten etablierte sich in Nord- und Mitteldeutschland, oberhalb des Limes, dieser wirkmächtigen Trennlinie zwischen römischer und germanischer Welt. Hefe, das ist offenkundig, wurde und wird im Süden, nicht im globalen, wohl aber im südlichen deutschen Sprachraum, auch in Böhmen und Mähren, häufiger verwendet als im weiten Norden. Kuchen und Mehlspeisen haben dort ein größeres Gewicht, sind Teil einer auch katholisch zu nennenden Anfälligkeit für das gute Leben schon vor dem Paradies. Liebig und Horsford, Zimmer und Marquart, das nur am Rande, waren allesamt Protestanten. Auch Backpulver war prototypisch protestantisch, berechenbar und gelingend, anders als das wohlige Fläzen, das unproduktive Schwelgen in den stets „rückständigen“ katholischen Gegenden, wo man nie wusste, was nach dem Gottesdienst passierte. Nach dieser Abschweifung ist klar, wo wir enden werden: In Hannover, einer Zinne lutherischer Rechtschaffenheit. Hier lag ein frühes Zentrum der Backpulverproduktion. Und zwar schon zu Zeiten als der Lutheraner August Oetker noch seinen Vater in der Backstube wusste, während er sich langsam auf den Schliff am just umgebauten Bückeburger Adolfinum vorbereitete.

Apotheker Mühlhan & Jacobi, Hannover

Nachdem ich sie nun auf die auch in säkularen Zeiten bedenkenswerte Bedeutung von Religion verwiesen habe – damals wurden Katholiken im Deutschen Reich zudem verfolgt und diskriminiert – wollen wir wieder zur empirischen Analyse zurückkehren. Denn einer der Wettbewerber von J. Gädicke war der Hannoveraner Apotheker Louis Mühlhan. Er betrieb in den frühen 1870er Jahren zusammen mit dem Kaufmann Otto Kneist eine offene Handelsgesellschaft, die 1875 allerdings aufgelöst wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1875, Nr. 156 v. 7. Juni, 5). Mühlhan erschloss sich neue Arbeitsfelder, wandelte auf Liebigs Spuren, bot ab 1877 „Prof. Just. v. Liebig’s Backpulver“ an. Offenkundig nicht ohne Erfolg, denn er gründete 1878 zusammen mit dem Kaufmann Heinrich Jacobi in Hannover eine offenen Handelsgesellschaft mit dem Zweck der „Fabrikation von Backmitteln“ (Ebd. 1878, Nr. 11 v. 14. Januar, 6).

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Apothekerware Backpulver (Kölnische Zeitung 1877, Nr. 348 v. 15. Dezember, 4)

Mühlhan & Jacobi stehen – wie deutlich später Dr. Oetker – für den Geschäftssinn dieses kaum mehr ständisch geschützten Berufsstandes, der durch die in den späten 1860er Jahren eingeführte Gewerbefreiheit erhebliche Einbußen erlitt und sich auf neue Geschäftsmodelle einließ, ja einlassen musste. In diesem Fall aber folgte man bereits beschrittenen Pfaden, denn das neue Backpulver war nichts anderes als eine Wiederkehr des Horsford-Liebigschen Backpulvers. Derartige gewerbliche Resteverwertung war nicht unüblich. Wie zuvor stand die Brotproduktion im Mittelpunkt, wie zuvor wurden die Backpulver-Chemikalien weiterhin in zwei getrennten Packungen vertrieben – allerdings in haushaltsnahen Pfundverpackungen. Bemerkenswert war der bei lediglich einem Groschen pro Kilogramm Mehl liegende Preis. Das neue alte Backpulver war ein Preisbrecher, stand für die Verbilligung der Produktion, stand auch für die beträchtliche Überteuerung des Horsford-Liebigschen Backpulvers.

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Präsentation des Alten als das Neue (Wiener Bäcker- und Müllerei-Zeitung 3, 1878, 54; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1878, Nr. 136 v. 16. Mai, 2616)

Mit Pathos spielte Mühlhan & Jacobi damals bekannte Weisen: „Man prüfe und verschließe sich nicht dem Fortschritte!“ (Wiener Bäcker- und Müllerei-Zeitung 3, 1878, 54). Doch offenkundig wandelte sich nicht der Markt, sondern das Angebot der Hannoveraner Unternehmer. 1878 offerierten sie „echtes Justus von Liebig’s selbstthätiges Backmehl“, gingen also sprachlich auf neue Mischprodukte ein, ohne aber das Angebot zu verändern. Binnen weniger Monate änderte sich zudem der Fokus weg vom Brot, hin zum Gebäck, weg von der Bäckerei, hin zum Haushalt. Neben die Gebrauchsanweisung trat auch hier das „erprobte“ Rezept.

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Altes Produkt gegen Gädicke (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1878, Nr. 116 v. 26. April, 2155)

Mühlhan & Jacobi weiteten ihre Marktpräsenz auch nach Mitteldeutschland. Wie Gädicke setzten sie zunehmend auch auf Puddingpulver, vermarktet unter Horsfords Namen. Zugleich nahmen sie den Wettbewerb auf, polemisierten gegen Gädickes „unechtes“ Säure-Basen-Komplettpaket. Doch trotz deutlich niedrigerer Preise blieb ein nachhaltiger Erfolg aus. Bequemlichkeit wurde von den Käufern offenkundig goutiert.

Liebigs-Manufactory von Meine & Liebig, Hannover

Anders als die Apotheker erhielten die Drogisten mit der Gewerbefreiheit neue Geschäftschancen. Die 1872 von den Apothekern Albert Eduard Meine und Franz Sonnefeld in Hannover gegründete Drogenhandlung konzentrierte sich anfangs auf gängige Drogerie- und Heilartikel. Backpulver wurde erst vertrieben, nachdem die Firma Meine & Sonnenfeld 1877 unter dem Namen Meine & Liebig an Meine und Heinrich Ferdinand Georg Liebig überging, letzterer ein Neffe des verstorbenen Münchener Chemikers (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 59 v. 9. März, 6). Sie wurde im April 1878 in Liebigs-Manufactury von Meine & Liebig umbenannt (ebd., 1878, Nr. 93 v. 18. April, 6). Schon im Mai 1877 hatten sie ein Warenzeichen für „Liebig’s selbstthätigem Backmehl“ erhalten, das sie seit April 1878 reichsweit nutzten (Intelligenz-Blatt 1878, Nr. 219 v. 26. Juni, 3; Bamberger Neueste Nachrichten 1878, Nr. 317 v. 18. November, 3).

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Backmehl und Puddingpulver durch Liebigs Neffen (Central-Volksblatt für den Regierungs-Bezirk Arnsberg 1878, Nr. 78 v. 6. Juli, 3)

Anders als der lokale Wettbewerber Mühlan & Jacobi bot Meine & Liebig, die offenbar große Backpulvermengen nach Großbritannien exportierten (Ludwig Hoerner, Agenten, Bader und Copisten. Hannoversches Gewerbe-ABC 1800-1900, Hannover 1995, 24), das Backpulver vermischt in nur einem Pfundpaket an. Im Mittelpunkt der anfangs breit gestreuten, aber nur selten variierten Anzeigen standen Kuchen, stand die Bequemlichkeit und Machbarkeit im Haushalt: „Jeder Kuchen ist in einer Stunde fix und fertig, angerührt und gebacken. Vorzügliche Recepte bei jedem Pakete“ (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 350 v. 17. Dezember, 8). Liebigs Manufactury gab auch Einblick in den Produktionsbetrieb: „Der Hauptschwerpunkt, der alles zum Gelingen guter und lockerer Gebäcke bedingt, liegt in der innigen Mischung der phosphorsauren Salze etc. mit Mehl, und wird in der Liebig’s Manufactory diese Mischung durch Melangeure hergestellt, die ungarisches Weizenmehl mit den Salzen ineinandermahlend ein Hinderniß beseitigen, an welchem die meisten Backmehle leiden, und welches der Einführung der Backpulver (die von den Hausfrauen erst dem Mehle beigemengt werden sollen) entgegensteht“ (Bonner Zeitung 1879, Nr. 278 v. 10. Oktober, 1124). Dennoch war das Backmehl resp. Backpulver nur eines von vielen Produkten von Meine & Liebig. Puddingpulver gewann an Bedeutung, doch ebenso Drogerieartikel wie Amerikanische Gichtpomade und Eisen-Cakes, zudem chemische Produkte.

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Reiner Markenartikel: Liebigs selbsttätiges Backmehl als Backartikel (Rhein- und Ruhrzeitung 1883, Nr. 68 v. 21. März, 4 (l.); Karlsruher Zeitung 1894, Nr. 126 v. 9. Mai, 2278)

Anders als Mülhan & Jacobi etablierte sich Liebig’s Manufactury aber auch langfristig. Das Backmehl, das mit 8,4 Gramm doppeltkohlensaurem Natron und 18,8 Gramm Weinstein deutlich mehr Triebmittel als Horsford-Liebig oder Gädicke enthielt (Eduard Hahn und J[ohann] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel […], 5., völlig umgearb., verm. u. verb. Aufl., Berlin 1893, 274), wurde stetig und ab den 1880er Jahren auch mit Abbildungen beworben (Pfälzer Bote 1890, Nr. 175 v. 2. August, 4; Karlsruher Zeitung 1892, Nr. 79 v. 19. März, 4). Meine & Liebig begann Mitte der 1890er Jahre mit einer neuerlichen Häutung der eigenen Werbepräsenz, sicherte sich früher als Dr. Oetker Warenzeichen für Backpulver und Puddingpulver (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 72 v. 22. März, 10; ebd., Nr. 173 v. v. 23. Juli, 7). In der Folgezeit war die Firma ein wichtiger Wettbewerber, mit starkem Auslandsmarkt und regionalem Schwerpunkt in Norddeutschland. Trotz eines Konkursverfahrens 1928/29 stellte das Unternehmen bis nach dem Zweiten Weltkrieg Puddingpulver- und Backpulver her.

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Ansprechender als seinerzeit Dr. Oetker: Warenzeichen von Meine & Liebig 1895 (Warenzeichenblatt 2, 1895, 327)

Mimikry der Herkunft: Das Wiener Backpulver von M. Gesz von Indulfy & Co., Hamburg

Bei den Hannoveraner Anbietern war die regionale Herkunft stets transparent. Die Imagination eines allerorts nutzbaren und stetig verfügbaren Produktes wurde hier mit Verweis auf Justus Liebig bzw. seinem Neffen geschaffen, ebenso durch eine langsam geformte Markenidentität bis zu ansprechenden Warenzeichen. Anders war dies beim „Wiener Backpulver“ aus Hamburg. Der Name verwies auf die Caféhaus- und Mehlspeisentradition der habsburgischen Metropole, brach also den begrenzten protestantischen Charme des Backpulvers mit Verweis auf andere Formen des Essens und Lebens. Das Produkt gewann damit zugleich eine eigene Identität, die abseits der Firmenwerbung von zahlreichen Einzelhändlern genutzt werden konnte.

Die Firma M. Gesz von Indulfy wurde im Juli 1880 von den Brüdern Miska und Georg Gesz von Indulfy gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1880, Nr. 166 v. 17. Juli, 6). Sie ging im Februar 1881 an den Kaufmann Gustav Adolph Vogelsang über, Georg Gesz von Indulfy besaß jedoch Prokura. Die Firma entwickelte sich nach dem Eintritt von Vogelsangs Sohn Friedrich Heinrich zum Familienunternehmen, blieb dies auch nach dem Tode Gustav Adolph Vogelsangs im September 1902 (Ebd. 1881, Nr. 42 v. 18. Februar, 8; ebd. 1888, Nr. 232 v. 11. September, 10; ebd. 1891, Nr. 6 v. 7. Januar, 9; ebd. 1903, Nr. 27 v. 31. Januar, 13).

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Deutsches Produkt: „Wiener“ Backpulver aus Hamburg offeriert in Leipzig und Harlem (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1881, Nr. 350 v. 16. Dezember, 5584; Haarlem’s Dagblad 1887, Nr. 1163 v 21. April, 4)

Die ursprünglichen Firmeninhaber hatten ihr Geschäft als Kölner Depotleiter von J. Gädicke gelernt, der Vertrieb eigener Waren erfolgte jedoch erst ab Mitte 1881. Die Werbung ließ die gängigen Themen der späten 1870er Jahre hinter sich, kein Wort wurde mehr auf das Brotbacken verschwendet: „Wiener Backpulver […] empf. sich zur leichten und billigen Herstellung aller Backwaren“ (Kölnische Zeitung 1884, Nr. 199 v. 19. Juli, 4). Die Werbung deckte das gesamte Deutsche Reich ab, Exportmärkte in Westeuropa wurden ebenfalls bespielt (Altonaer Nachrichten 1882, Nr. 163 v. 15. Juli, 4; Jeversches Wochenblatt 1882, Nr. 186 v. 25. November, 6; Iserlohner Anzeiger 1882, Nr. 150 v. 21. Dezember, 4; Bonner Zeitung 1883, Nr. 124 v. 6. Mai, 514).

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Standardsortiment aus Hamburg (Karlsruher Zeitung 1885, Nr. 242 v. 4. September, 2764 (l.); Emscher-Zeitung 1888, Nr. 10 v. 12. Januar, 4)

Festzuhalten ist zweierlei: Zum einen unterstrich die Angebotspalette M. Gesz von Indulfys nochmals den allgemeinen Trend zum Backsortiment: Backpulver, Mehle aus unterschiedlichen Getreiden und in unterschiedlichen Mischungen, Vanillinzucker sowie verschiedene Puddingpulver wurden gemeinsam angeboten, nur noch selten einzeln. Diese Produkte standen seither für einen häuslichen Zweck: „Die seit 22 Jahren von der Firma M. Gesz v. Indulfy & Co. hier fabricierten Mehl- und Zuckerpräparate […] dienen zur billigen und leichten Herstellung feiner Bäckereien“ (Israelitisches Familienblatt 4, 1901, Nr. 31, 4). Zum anderen nutzten zahlreiche Händler in der Tat die Chance, Wiener Backpulver, Wiener Backmehl, Wiener Puddingpulver auch ohne Nennung des Produzenten anzubieten (Altonaer Nachrichten 1884, Nr. 86 v. 10. April, 5; Der Zeitungs-Bote 1889, Nr. 70 v. 13. Juni, 4). Backpulver und Backartikel wurden so schon Mitte der 1880er Jahre geschätzte und weit verbreitete Alltagshilfsmittel.

Fasst man die wenigen Firmenporträts zusammen, so erweisen sich die eingangs entwickelten Thesen als empirisch valide. Das Fiasko des Horsford-Liebigschen Backpulvers mündete nicht in eine backpulverlose Zeit, die erst durch einen Dr. Oetker durchbrochen wurde. Im Gegenteil: Seit Mitte der 1870er Jahre nahm die Zahl der Backpulverproduzenten rasch zu. Die Firmen veränderten den Zuschnitt des Marktes, fokussierten ihn auf die Küchen- und Backpraxis, überwanden dadurch die Engführungen und Fehler Justus von Liebigs und seiner Mitstreiter. Gleichwohl muss man sich vor Augen führen, dass in den ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs das häusliche Backen noch nicht die Bedeutung hatte wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die hier nur beispielhaft vorgestellten Anbieter bedienten einen noch nicht entwickelten Markt – nicht wegen ihrer Angebote und ihrer fehlenden Leistungsfähigkeit, sondern aufgrund der noch überschaubaren Nachfrage der Haushalte. Dazu bedurfte es erst des vermehrten Angebots und des höheren Konsums von Zucker, Milch und Eiern, verbesserter Herde und Backröhren, des Vordringens einfach steuerbarer Gas- und Elektroherde- und -backöfen – und auch wachsenden Wohlstandes im Kleinbürgertum und der Facharbeiterschaft.

Dr. August Oetker nutzte diese veränderten Rahmenbedingungen, die Chancen seiner Zeit – langsam seit 1894, massiv seit der Jahrhundertwende. Er nutzte sie ohne Skrupel, mit Großsprecherei, Kommerzmythen und Werbungsstakkato. Er verkörperte wilhelminische Selbstbezüglichkeit, spiegelte im Kleinen das Poltern Seiner Majestät, führte dieses hinüber in eine visuell anders funktionierende Medienwelt. Historisch gesehen war er jedoch nur Teil einer langen Reihe von „Machern“. Die Wissenschaftler und Experten vor ihm waren aus kaum anderem Holz geschnitzt, wirkten aber unter anderen Zeitläuften. Der Blick hinter die bis heute wirksamen, von den Nachfolgern stets gepflegten Werbebilder kann uns aber wohl auch abseits dieses einen Produktes sensibilisieren, uns nicht mit dem erstbesten und schön scheinenden Eindruck zufrieden zu geben. Oder, wie es der Literaturnobelpreisträger von 1953 in einer Rede im März 1944 pathetisch fasste: „The longer you can look back, the farther you can look forward.“

Uwe Spiekermann, 4. September 2022

Das Scheitern der „guten“ Bakterien: Die Acidophilusmilch und der Reformjoghurt Saya

Bakterien sind Krankheitserreger, sind Feinde des Menschen. Das war das Credo der Mikrobiologie, der Bakteriologie, als sie seit den 1870er Jahren ihren raschen Siegeszug begann. Geleitet von den Ideen und der praktischen Arbeit von Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910) wurden zahlreiche Infektionskrankheiten auf ihre kausalen Ursachen zurückgeführt. Der Mensch war offenbar Angriffspunkt eine Mikrowelt des Schreckens, denn Bakterien konnten zu Milzbrand und Cholera, Typhus und Paratyphus, Tuberkulose und Pest, Lungenentzündungen und Keuchhusten, Scharlach und Diphterie, Fleckfieber und Ruhr, etc. führen (Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890-1933, Göttingen 2009). Immer weitere Einbruchsschneisen wurden im späten 19. Jahrhundert entdeckt, der Blick auf die bakteriellen Erreger von Tier- und Sexualkrankheiten geweitet.

Die kausale Koppelung von Bakterien und Krankheiten schuf nicht nur Klarheit, sondern erlaubte auch Gegenmaßnahmen. Impfstoffe wurden entwickelt, wappneten große Gruppen gegen die drohenden Gefahren, verhießen den Sieg über den imaginären Feind (Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017). Bauten, Infrastrukturen und Versorgungsketten konnten zielgerichtet umgestaltet werden. Die neue Wissenschaft der Hygiene begleitete dies, gab Ratschläge für persönliche Gefahrenminderung. Neue Sicherungssysteme verbesserten die Alltagsversorgung, die bakteriologische Milch- und Fleischbeschau waren hierbei Vorreiter. Parallel zerbrachen tradierte Vorstellungen von Krankheit und Körper, wurden die Menschen in einen neuartigen Bezug zur Natur gesetzt (Philipp Sarasin, Die Visualisierung des Feindes. Über metaphorische Technologien der frühen Bakteriologie, Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, 250-276). Das Unsichtbare und Untergründige wurde bewusst, das Geschehen in Luft und Wasser, Darm und Zellen ward öffentlich thematisiert. Wichtiger noch: Zahllose neue Märkte, Dienstleistungen und Produkte entstanden, schufen Wachstum und Wohlstand durch zivile Vernichtung.

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Markt versus Bakterien: Anzeige für ein aseptisches Mundwasser 1890 (Berliner Tageblatt 1890, Nr. 163 v. 30. März, 22)

Und doch, trotz aller Erfolge trogen viele mit dem Aufstieg der Mikrobiologie verbundene Hoffnungen. Viele Krankheiten konnten mit diesem Wissen nicht erklärt und eingedämmt werden. Aseptische Reinheit konnte wiederum eine Krankheitsursache sein, wie die von sterilisierter Säuglingsmilch hervorgerufene Möller-Barlow-Krankheit schlagend belegte. Zudem blieben die Mikrowelten trotz aller Entdeckungen großenteils unbekannt, Vitamine und Viren harrten noch ihrer Entdeckung.

Joghurt oder das Aufkommen des „guten“ Bacillus bulgaricus

Zugleich zeigte sich, dass Bakterien nicht allein Feinde, sondern auch unverzichtbare Bestandteile eines gedeihlichen und gesunden Lebens waren. Dies jedenfalls war die Quintessenz weiterer, vor allem vom französisch-russischen Bakteriologen Elie Metchnikoff (1845-1916) popularisierten Forschungen (Elias Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. Eine optimistische Philosophie, Leipzig 1904; Ders., Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung, München 1908). Er war ein gläubiger Naturwissenschaftler, der mittels genauer Kenntnis der Mikrowelten Entzündungen abmildern, Stoffwechselprozesse optimieren und das Leben verlängern wollte. Wohlbedacht konnten Bakterien auch Helfer werden, Heinzelmännchen des Wohlbefindens und der Gesundheit. Das bis heute bekannteste Beispiel hierfür war der von Metchnikoff propagierte Joghurt (Scott Podolsky, Cultural Divergence: Elie Metchnikoff’s Bacillus Bulgaricus Theraphy and His Underlying Concept of Health, Bulletin of the History of Medicine 72, 1998, 1-27).

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Lobpreis der „guten“ Bakterien (Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 2, Beibl. 2)

Joghurt, so Metchnikoff und auch andere Forscher des Pariser Institut Pasteurs, enthielt eine Bakterienart, die er nach der Herkunft des untersuchten Fermentes Bacillus bulgaricus nannte. Verzehr von Joghurt führe diese ins Körperinnere ein. Im Darm nähmen sie dann den Kampf mit den anderen, tendenziell „bösen“ Bakterien auf, hielten sie nieder. Nachschiebender Konsum verhindere „Darmfäulnis“ und Verstopfung – und all die gravierenden Folgen einer Verseuchung des Körpers. Bulgarien war dabei nicht nur Chiffre für die Weisheit des Ostens und die Herkunft des Untersuchungsmaterials. Es stand auch für eine noch intakte bäuerliche Kultur, für einen anderen, gleichsam natürlichen Lebensstil. Entsprechend langlebig waren die bulgarischen Bauern, erreichten teils 80, teils über 100 Lebensjahre. All das waren Mythen, doch sie entsprachen einer Sehnsucht im Fin de Siècle, in den von Konventionen und dem Markt geprägten Großstadtkulturen des Westens. Breite Debatten schlossen sich an, durchaus im Einklang mit positiver Eugenik. Metchnikoff jedenfalls gab einfache Antworten auf komplexe Fragen: Ein gesundes langes Leben erfordere einen entsprechenden Lebensstil. Doch im Kern bedeutete dies den Kauf und steten Verzehr eines neuen, zuvor unbekannten Produktes. Es galt nicht anders zu essen (und zu leben), sondern es galt anderes zu essen, vor allem aber zu kaufen. Den Rest erledigten die „guten“ Bakterien.

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Joghurt zwischen „Gesundheitsmilch“ und Ferment für den Hausgebrauch (Vorwärts 1912, Nr. 144 v. 23. Juni, 19 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1913, Nr. 305 v. 18. Juni, 6)

In ganz Europa war dies Auftakt für intensive Forschung einerseits, breitgefächerte Marktbildung anderseits (Uwe Spiekermann, Twentieth-Century Product Innovations in the German Food Industry, Business History Review 83, 2009, 291-314, hier 300-302). Joghurt etablierte sich als Functional Food, also als Hybrid von Nahrung einerseits, Arznei anderseits (Uwe Spiekermann, Functional Food: Zur Vorgeschichte einer „modernen” Produktgruppe, Ernährungs-Umschau 49, 2002, 182-188, hier 185-186). Ab 1908 boten zahlreiche städtische Molkereien Joghurt einem vornehmlich bürgerlichen Publikum an. Hinzu kam ein breiter Markt der Selbstbereitung: Zahlreiche Versandgeschäfte offerierten Joghurtkulturen und -brüter, Glasfläschchen und Rezepte inklusive. Joghurtprodukte folgten, etwa mit „gutem“ Joghurt vermischte Butter oder aber einschlägig angereicherte Bonbons oder Käsevarietäten. Marktdifferenzierung also, wie es sie schon bei Schokolade oder Nährsalzen gegeben hatte. Auch bei den Milchprodukten hatte es Vorläufer gegeben, sei es bei der Einführung von Kumys, sei es bei der Etablierung von Kefir. Joghurt stand eben nicht allein, sondern war Teil einer tief gefächerten Gruppe von Sauermilchprodukten, Kommerzimporte vorrangig aus Russland und dem Orient, die nun allesamt als „Kampfstoffe gegen die Darmfäulnis“ (M[ax] Düggeli, Die Mikroflora der Sauermilcharten und deren Verwendung, Schweizerische Zeitschrift für Allgemeine Pathologie und Bakteriologie 1, 1938, 273-312, hier 282) galten. Joghurt konnte sich allerdings deutlich breiter etablieren und blieb als Naturjoghurt ohne Zucker und Fruchtzubereitung Teil des urbanen Konsumangebots vor dem Ersten Weltkrieg.

Damit war keine grundlegende Änderung der Ernährungsweise verbunden. Joghurt blieb Ergänzungsspeise, vorwiegend im Sommer. Das lag zum einen an dem üblichen Wildwuchs bei den Angeboten: „Erfolgen standen Versager gegenüber. Ein objektives Urteil war um so schwerer zu erlangen, weil die verschiedensten Sauermilchen unter dem Namen Yoghurt benutzt wurden und weil Laien und Kurpfuscher sich am Kampfe beteiligten“ (Julius Kleeberg, Die therapeutische Bedeutung von Yoghurt und Kefir in der inneren Medizin, Deutsche Medizinische Wochenschrift 53, 1927, 1093-1095, hier 1093). Kontrollverfahren wurden entwickelt, Nahrungsmittelchemiker unterstrichen ihren Anspruch als Wächter des Marktes und Beschützer der Konsumenten. Einzelne Marken etablierten sich, am bekanntesten gewiss der in Lizenz in vielen Großstädten produzierte Dr. Axelrod Joghurt. Auch das Versandgeschäft konzentrierte sich nach dem kurzen Boom auf wenige verlässliche Anbieter, etwa die Münchner Firma Dr. Klebs. Joghurt stand demnach für eine erfolgreiche Nahrungsmittelinnovation, mehr nicht. Die nutritive Revolution war ausgeblieben, der Siegeszug des „Guten“ blieb verhalten.

Der Bacillus acidophilus: Ein konkurrierendes „gutes“ Bakterium

Warum siegte die Trägersubstanz der „guten“ Bakterien nun nicht? Trägheit, Kosten, Verfügbarkeit, Geschmack? All dies, gewiss. Doch im Kern bestand Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Versprechungen. Verständlich angesichts der offenkundige Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Bulgarien mochte für manche eine Bauernidylle sein, doch die Öffentlichkeit sah es als ein rückständiges Land mit einem wankelmütigen König, als Unruhestifter auf dem Balkan. Weniger bekannt, doch zunehmend wichtiger wurden bakteriologische Rückfragen an das von Metchnikoff präsentierte Wirkungskonzept.

Einerseits ergaben Dutzende von Untersuchungsreihen, dass die vorhergesagte Harmonie im Darm auch nach regelmäßigem Joghurtverzehr nicht eintrat. Anderseits häuften Bakteriologen und Kinderärzte immer genauere Kenntnisse über die menschliche Darmflora an (Forschungsüberblick bei Leo F. Rettger und Harry A. Cheplin, Treatise of the Transformation of the Intestinal Flora with special Reference to the Implantation of Bacillus Acidophilus, New Haven 1921, 1-10). Einen Durchbruch bildete schon 1900 die Entdeckung eines neuen Darmbakteriums durch den österreichischen Pädiater Ernst Moro (1874-1951) (Ueber den Bacillus acidophilus, Jahrbuch für Kinderheilkunde 52, 1900, 38-65). Er benannte es plakativ Bacillus acidophilus, also „säureliebendes Milchbazillus“. Säurefest besiedelte er den menschlichen Darm. Eine damit versehene, „geimpfte“ Milch hatte offenbar Effekte auf Gesundheit und Wohlbefinden (Karl Leiner, Die Bakterien als Erreger von Darmerkrankungen im Säuglingsalter, Wiener klinische Wochenschrift 13, 1900, 1200 -1204, hier 1203). Doch eine genaue Scheidung und Isolation der Bakterienstämme blieb äußerst schwierig, so dass viele Forscher weiterhin von der Identität der Bulgaricus- und Acidophilusbakterien ausgingen (P.G. Heinemann und Mary Fefferan, A Study of Bacillus Bulgaricus, Journal of Infectious Diseases 6, 1909, 304-318, insb. 317-318).

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Lactobacillus acidophilus unter dem Mikroskop sichtbar gemacht (Damm, 1929, 1129)

Die Wissenschaft folgte damit der Alltagspraxis. Sauermilch war auch in Mitteleuropa eine häuslich hergestellte Alltagsspeise. Für Dickmilch, Setzmilch oder Schlippermilch goss man ungekochte Milch in ein Glas oder eine Schale, stellte sie an die (mit Bakterien durchsetzte) Luft oder fügte einen Schuss der noch verfügbaren restlichen Dickmilch zu. Auch Buttermilch gewann um die Jahrhundertwende wachsende Bedeutung als Säuglingskost. Doch Mikrobiologie war Klassifikation, Ausdifferenzierung, Scheidekunst und Isolation. Die im Alltag undifferenziert genutzten Einzelstämme sollten in ihren jeweiligen Wirkungen verstanden werden, so wie dies auch bei Nahrungsstoffen und Pharmazeutika seit längerem üblich war.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg setzten insbesondere amerikanische Forscher auf breit angelegte Tierversuche mit kontrollierten Testdiäten. Sie legten nahe, dass Metchnikoffs optimistische Annahmen trogen, denn der Bacillus bulgaricus wurde durch die körpereigenen Verdauungssäfte sicher beseitigt, konnte per Joghurt daher nicht zur Walstatt im Darm eilen. Anders jedoch der Bacillus acidophilus. Ca. 90 % der säurefesten Kleinlebewesen überwanden die Körperbarrieren (Rettger und Cheplin, 1921). Die Frage nach den „guten“ Bakterien war damit entschieden, wenngleich noch Anfang der 1920er Jahre über deren Leistungsfähigkeit gerungen wurde (Anthony Bassler und J. Raymond Lutz: Bacillus Acidophilus. Its very limited value in intestinal disorders, Journal of the American Medical Association 79, 1922, 607-608; Nicholas Keploff und Clarence O. Cheney, Studies on the Therapeutic Effect of Bacillus Acidophilus Milk and Lactose, ebd. 79, 1922, 609-611).

Derweil arbeitete man in Yale und in anderen Orten bereits an der kommerziellen Nutzung der neuen Erkenntnisse. An die Stelle der Joghurt-Milch sollte eine Acidophilus-Milch treten. Dazu war es erforderlich, Reinkulturen zu produzieren und den Produktionsprozess ohne Luftzufuhr ablaufen zu lassen, da andernfalls Verunreinigungen mit schneller wachsenden Fremdbakterien auftreten würden. „Indess, diese Schwierigkeiten sind durch die Anwendung von geeigneten Mitteln, mit Hilfe eines sorgfältigen und fähigen Arbeiters und durch strenge Beaufsichtigung seitens eines geübten Bakteriologen erfolgreich überwunden worden“ (Leo R. Rettger, Milchsäurebakterien mit besonderer Bezugnahme auf den Bacillus Acidophilus Typus, Welt-Kongress für Milchwirtschaft, 1923. Auszug, U.S. Department of Agriculture, Abstract No. 188, 2). Deutlich erkennt man hieran die zunehmende Verwissenschaftlichung der Nahrungsmittelproduktion: Dickmilch konnte jeder herstellen, Joghurt bedurfte der Milchexperten oder der bakteriologischen Versandgeschäfte, Acidophilusmilch konnte dagegen vom Konsumenten lediglich gekauft werden, erforderte akademisch gebildete Fachleute. Doch am Ende sollte nun endlich ein angenehm mundendes, nährendes, zähflüssiges Getränk stehen, dessen Wirkung im Darm gesichert war (Leo F. Rettger, Acidophilus Milk a Therapeutic Agent and Health Drink, American Food Journal 20, 1925, Nr. 6, 301-302). In den USA setzte der Vertrieb nach mehr als vierjährigen Vorarbeiten 1925/26 ein. Das neue Produkt etablierte sich im Umfeld einer größeren Zahl bakteriologischer Institute.

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Wachsende Marktpräsenz: Werbung für Walker-Gordon Acidophilusmilch (Evening Star [Washington, DC] 1926, Nr. 29878 v. 18. Februar, 6)

Amerikanisierung? Deutsche Debatten über die Acidophilusmilch

Im Deutschen Reich war derweil nach dem verlorenen Krieg, dem Abbau und der Aufhebung der Zwangswirtschaft und der Stabilisierung der Währung langsam wieder Normalität eingetreten. Joghurt wurde weiterhin angeboten, beworben mit den bekannten Vorkriegsmetaphern: „Joghurt, diese Götterspeise, / Fördert Dich in jeder Weise, / Joghurt gibt Dir neue Kräfte, / Joghurt stärkt die Magensäfte, / Joghurt tötet die Bakterien, / Die im Darm Du hast in Serien. / Joghurt ist auch leicht verträglich! / Drum, iß Joghurt Du tagtäglich […] / Und zum Aerger Deiner Erben / Wirst Du alt – wirst lang‘ nicht sterben!“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 273 v. 22. November, 9). Nun, das konnte nicht stimmen, zumindest nicht in Gänze. Doch angesichts der massiven Einbrüche, die die Milchwirtschaft während des Jahrzehnts der Ernährungskrise 1914-1923 erlitten hatte, war es nicht nur notwendig, den Milch-, Butter- und Käseabsatz wieder auf alte Höhen zu bringen. Das war volkswirtschaftlich geboten, denn die Wertschöpfung der Milchwirtschaft war damals höher als die des Bergbaus und der Stahlindustrie zusammen. Doch Zusatzangebote schienen ebenfalls erforderlich, wurden auch als eine Art Friedensdividende der umfangreichen Forschungen während der Kriegszeit verstanden: Trockenmilch, Kasein, Milchzucker sowie die Molkenverwertung gewannen an Bedeutung, neben Endprodukte traten vermehrt Zwischenprodukte (L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927).

Ein vermehrter Joghurtabsatz passte zu dieser Neuakzentuierung, doch der Markt für Sauermilchangebote war begrenzt: „In landwirtschaftlichen Kreisen war zwar das Interesse für diese Milcharten sehr rege, auch eine kleine Anzahl von Konsumenten fand sich, besonders in den großen Städten. Aber das Gros der Bevölkerung blieb teilnahmslos, auch die Mehrzahl der Aerzte. Im Beginn dieses Jahrhunderts hatte Metschnikows Eifer auch in Deutschland einigen Widerhall gefunden. Allein nach wenigen Jahren war alles vergessen, und man darf sagen, daß man die wenigen Aerzte und Laien, die ihre Kuren mit Yoghurt oder Kefir betrieben, etwas mit Spott ansah“ (Julius Kleefeld und Hans Behrend, Die Nährpräparate mit besonderer Berücksichtigung der Sauermilcharten, Stuttgart 1930, 191). Das lag an typisch deutschen Problemen, etwa einer vielfach fehlenden Marktorientierung, kaum vorhandenen Marken und Gütezeichen, einer unzureichenden Standardisierung und weiterhin akuten Qualitätsproblemen. Neben diese für fast alle Agrarsektoren geltenden ökonomischen Probleme gab es bei den technisch komplexeren Milchpräparaten aber auch naturwissenschaftliche Defizite. Die vorhandenden Reinkulturen waren höchst unterschiedlich wirksam, entsprechend hatten die Produkte trotz gleichen Namens eine recht unterschiedliche Zusammensetzung, Textur und Geschmack (Julius Kleeberg, Studien über Yoghurt und Kefir. I. , Centralblatt für Bakteriologie Abt. II 68, 1926, 321-326, hier 326; Traugott Baumgärtel, Milchspezialitäten. (Joghurt, Kefir, Acidophilusmilch, Saya), Milchwirtschaftliches Zentralblatt 59, 1930, 17-21, hier 19).

Vor diesem Hintergrund bot die Acidophilusmilch eine besondere Chance. Sie stand für die pragmatische und marktnahe Forschung in den USA, dieser Siegermacht des Weltkrieges, diesem Hort des Wohlstandes und der Fülle. Kam der Joghurt aus dem Osten, so schien es nun ein noch leistungsfähigeres Angebot aus dem Westen zu geben. Kaum beachtet wurde dabei, dass Acidophilusmilch in den USA auch Folge der Prohibitionskultur war. In Mitteleuropa wurde sie jedenfalls Anfang der 1920er Jahre bereits vereinzelt in Kliniken als Kräftigungsmittel gereicht (Wiener Medizinische Wochenschrift 74, 1924, Sp. 1719). Brückenkopf einer möglichen Amerikanisierung der deutschen Milchwirtschaft wurde die Preußische Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Kiel. Dort hatte man bereits 1924 Milchexperten versammelt, um amerikanisches Rahmeis in Deutschland einzuführen (Uwe Spiekermann, Die verfehlte Amerikanisierung. Speiseeis und Speiseisindustrie in Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: Hermann Heidrich und Sigune Kussek (Hg.), Süße Verlockung, Molfsee 2007, 31-38, hier 34). Dies scheiterte, doch davon ließ sich der Anstaltsleiter Wilhelm Henneberg (1871-1936) nicht beirren. Für ihn war die Acidophilusmilch eine Art Joghurt 2.0, ein Edel- bzw. Reformjoghurt. Am Geschmack des amerikanischen Präparates sei gewiss noch zu arbeiten, doch das Bakteriologische Institut der Forschungsanstalt würde Reinkulturen erstellen und an alle Interessenten versenden, zudem Proben des fertigen Produktes kontrollieren: „Da der ‚Reform-Yoghurt‘ (=Acidophilusmilch), der genau so einfach und auf die gleiche Weise wie der Yoghurt im kleinen oder großen Maßstab bereitet werden kann, sehr gut schmeckt, wird er sich in Deutschland leicht einführen lassen“ (Über Bacillus acidophilus und „Acidophilus-Milch“ (= Reform-Yoghurt), Molkerei-Zeitung 40, 1926, 2633-2635, hier 2635).

Das war forsch, denn Henneberg wusste gewiss von den sorgfältigen Arbeiten der amerikanischen Pioniere. Doch dem 1922 eingesetzten neuen Direktor ging es darum, einen Prozess in Gang zu setzten. Dass dies möglich war, legten aber auch erste deutsche Präparate nahe, so die bereits 1925 zur Begutachtung eingesandte „Saya-Milch“ (Bericht der Preußischen Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Kiel 1922 bis 1925, Berlin 1925, 50). Dennoch kritisierten Praktiker Hennebergs Vorpreschen, etwa der Schweizer Unternehmer J. Spohr. Er hatte 1926 im Tessin mit der Produktion von Reinkulturen begonnen und bot mit Acimil eine der ersten Marken-Acidophilusprodukte an (Schweizerisches Handelsamtblatt 44, 1926, 1265). Spohr wandte sich strikt gegen die semantischen Illusionen des Deutschen. Acidophilusmilch sei eben kein Edeljoghurt, „so wie der Bandwurm dem Regenwurm stets verschieden sein wird“ (J.L.P. Spohr, Acidophilus-Milch, Molkerei-Zeitung 41, 1927, 604-605, hier 604). Wer die gravierenden Unterschiede nicht ernst nähme, der würde im Markt zwingend scheitern. Henneberg wischte solche Kritik jedoch beiseite. Neue Bezeichnungen seien erforderlich, „da sich der Laie unter Acidophilusmilch garnichts [sic!] vorstellen kann. Ferner ist es Tatsache, daß sehr viele Menschen sich ekeln, wenn sie erfahren, daß die Acidophilusmilch durch Bakterien, die aus dem Menschendarm (Exkrementen) stammen, erzeugt wird. Bei der Bezeichnung Reformjoghurt forschen die meisten nicht weiter nach, sie erfahren, daß es sich um eine neue, verbesserte Art Joghurt handelt. Herstellungsweise und Geschmack ist ja auch fast wie bei dem alten Joghurt.“ ([Wilhelm] Henneberg, Bemerkungen zu der vorstehenden Abhandlung „Acidophilus-Milch“, Molkerei-Zeitung 41, 1927, 605). Es gäbe jedenfalls „viel Interesse“ am Reform-Yoghurt, zahlreiche Molkereien hätten Reinkulturen geordert.

Acidophilusmilch im deutschen Markt

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Dr. Pohls Acidophilusmilch in Karlsruhe (Badische Presse 1927, Nr. 310 v. 7. Juli, 13)

In der Tat boten spätestens 1927 mehrere großstädtische Molkereien vorrangig im Sommer Acidophilusmilch an. Präsentiert wurde ein wissenschaftliche Präparat: Neuere amerikanische Forschungen hätten die „die Resultate älterer Forschungen ins Wanken“ gebracht, hätten einen neuen Reform- oder Edel-Yoghurt entwickelt. Hierzulande finde dieser „ebenfalls Anklang und das Interesse, welcher dieser Heilmilch, besonders von wissenschaftlicher Seite, entgegengebracht wird“ stimme optimistisch, sei Grund für einen wagenden Kauf (O[tto] Pohl, Einiges über die Acidophilusmilch und ihre Wirkung, Karlsruher Tagblatt 1927, Nr. 185 v. 7. Juli, 7). Es folgten optimistische Verallgemeinerungen: „Schon heute werden große Mengen Acidophilus-Milch in Amerika, neuerdings auch in Deutschland, besonders in Süddeutschland, hergestellt und mit bestem Heilerfolge genossen” (Otto Druckrey, Uber Lactobacillus acidophilus und Acidophilus-Milch, Phil. Diss. Leipzig, Jena 1928, 373). Doch zugleich ergaben bakteriologische Untersuchungen der neuen deutschen Präparate, dass sie „zu therapeutischen Zwecken nicht geeignet waren“ (Ebd., 392).

Die Diskrepanz war offenkundig: Bakteriologische Forschung konnte an Tiermodellen nachweisen, dass Acidophilusmilch in der Lage war, „die Darmfäulnis und ihre schädlichen Folgen zu mindern und zu einer länger andauernden Umstimmung der Darmflora beizutragen“ (Helmut Damm, Kefir, Yoghurt und Acidophilus-Milch, Apotheker-Zeitung 1929, 1127-1130, hier 1129). Doch der Markterfolg blieb aus – obwohl die Proben des „Reform-Yoghurts“ auch geschmacklich überzeugten. Es gelang den Anbietern nämlich nicht, ihr Produkt in stetig gleicher Qualität anzubieten. Die raschen Deutschen hatten die Kernaussage der amerikanischen Forscher ignoriert: „Da jedoch nur geringfügige Abweichungen bei der Herstellungsweise eine hundertprozentige Güte in Frage stellen, wird sich die Acidophilus-Milch nur schwer ihren Weg erobern können, im Gegensatz zu der bulgarischen Milch, die zu ihrer Herstellung viel weniger Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, abgesehen davon, daß zur Ueberwachung der Entwicklungsstadien unbedingt ein Bakteriologe zugegen sein muß“ (Alfred Schreiber, Acidophilus-Milch, Milchwirtschaftliche Zeitung 1929, 1576-1577, hier 1576). Die in Kiel erstellte und vertriebene Reinkultur war offenbar regelmäßig verunreinigt. Das amüsierte die Konkurrenz, etwa den Münchener Produzenten der Dr. Axelrod Joghurt-Reinkulturen: „Als in neuerer Zeit in Amerika der Bacillus acidophilus entdeckt wurde, waren auch Fachgelehrte in Deutschland gleich der Meinung, daß dieser nun sofort den Bacillus bulgaricus verdrängen, ja den Joghurtvertrieb vollständig lahm legen können. Der Mann der Praxis lächelte hierüber. Heute darf ich sagen, daß vor allem in Deutschland der Joghurt weiter gesiegt hat. Ich will aber nicht verkennen, daß auch jene Städte, denen ich das Ferment für die Acidophilusmilch liefere, Erfolge erzielen, wenn auch bescheidene“ (Spieker, Joghurt in der Theorie und Praxis, Milchwirtschaftliche Zeitung 1929, 1505-1508, hier 1505). Doch die Qualitätsprobleme standen zugleich für die damals vielfach zu Tage tretende Unfähigkeit zahlreicher deutscher Unternehmen, die Massenproduktion hochwertiger Konsumgüter aufzunehmen.

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Wachsender Absatz von Joghurt – Ergänzungssortiment Acidophilusmilch Millacol (Der Volksfreund 1927, Nr. 171 v. 26. Juli, 9)

Die unbedachte und unzureichend vorbereitete Markteinführung der Acidophilusmilch mündete in Ablehnung seitens der Konsumenten. Der Joghurt dominierte weiter – obwohl das Narrativ der „guten“ Bakterien für dieses Produkt nicht mehr galt. Für Bakteriologen und Milchwissenschaftler war dies durchaus ein Moment der Neubesinnung. Der Staffelstab wurde nun von Vertretern der Süddeutschen Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchforschung Weihenstephan in Freising übernommen. Sie erstellten eine Reinkultur nicht nur unter bakteriologischer Aufsicht, sondern stellten sicher, dass die geimpfte Milch auch keimfrei war. Das „gute“ Acidophilus-Darmbakterium entwickelte sich nämlich langsamer als einschlägige Milchbakterien. „Ist nun die Milch nicht ganz keimfrei, so werden sich die anderen Bakterien, die darin sind, rascher als der Acidophilus entwickeln und diesen im Laufe von mehreren Umimpfungen nach wenigen Tagen vollständig unterdrücken“ (Karl J. Demeter, Ueber Acidophilus- und Joghurtmilch, Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 277 v. 14. Juni, 4).

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Produkte auf der Suche nach einem Markt (Villacher Zeitung 1928, Nr. 15 v. 18. Februar, 7)

Aufgrund verbesserter Reinkulturen bestand also durchaus eine Zukunft für die Acidophilusmilch. Die von den Amerikanern propagierten reinen Produkte wurde jedenfalls auch in gängigen Tageszeitungen gefordert – und als Vorteil der Acidophilusmilch präsentiert (Hoffmann, Der Wert der Sauermilch, Sächsische Volkszeitung 1931, Nr. 213 v. 13. September, Beilage Die praktische Hausfrau, 3). Dies wurde weiterhin begleitet vom Narrativ des Bakterienkampfes im Körperinnern: „In der Milch sind für gewöhnlich beide Gruppen von Bakterien vertreten und wenn nicht besondere Verhältnisse vorwalten, siegt auch hier das ‚Gute‘ über das ‚Böse‘. Das gute Prinzip in der Milch sind die Milchsäurebakterien, ihr Umsetzungsprodukt, die Milchsäure, ist das Gegenmittel, dem die Fäulnis- und Giftbakterien erliegen. […] Saure Milch ist also in jeder Form gut und die Milchsäurebakterien sind die Freunde der Menschen“ ([Hermann] Weigmann, Bakterien als Förderer der Gesundheit, Die Neue Zeitung 1931, Beilage der Naturarzt Nr. 2, 1). Wenn Naturwissenschaftler ihre Metaphern schleudern, dann schweigen die Kolportageautoren.

Saya: Eine deutsche Acidophilusmilch

Frischen Wind in die zwischen Kiel und Weihenstephan hin und her wogende deutsche Debatte kam jedoch auch von einem etablierten Außenseiter. Richard Wehsarg (1862-1946) hatte nach dem Medizinstudium in Gießen und München 1888 seiner Schwester Wilhelmine geholfen, eine Kuranstalt in Hobbach im bayerischen Spessart zu gründen (Heinz Linduschka, Vom »reitenden Doktor« und dem Spessart, Main-Post v. 16. November 2015). Diese scheiterte nach mehreren Jahren, doch Wehsarg etablierte sich im benachbarten Sommerau erst als Arzt, leitete dort nach der Jahrhundertwende dann sein Sanatorium, eine Nervenheilanstalt (Allgemeine Zeitung 1904, Nr. 284 v. 26. Juni, 4). Von Beginn an engagierte er sich auch für die Verbesserung der hygienischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der armen Mittelgebirgsregion. 1906 gründete der in der Heimatschutzbewegung engagierte Wehsarg die bis heute existierte Zeitschrift „Spessart“, in der Regionalgeschichte, Volkskunde, Tourismus, soziale und wirtschaftliche Themen zeittypisch gebündelt wurden. Wehsarg, der für sein Engagement den Sanitätsratstitel verliehen bekam, stand in der Tradition sozial engagierter Wissenschaftler: „Der Arzt ist gewissermaßen Pionier und muß sich an allen Lebensfragen der Bevölkerung beteiligen“ ([Richard] Wehsarg und Will, Das Ernährungsproblem im Spessart und seine wirtschaftlichen Grundlagen, Zeitschrift für Ernährung 2, 1932, 265-274, hier 265). Als solcher präsentierte er seit Mitte der 1920er Jahre eine Eigenentwicklung, die er nach einem anderen russischen Sauermilchpräparat „Saya“ nannte.

Saya war für Wehsarg ein Heilmittel, ein erprobtes Therapeutikum, Resultat ständigen bis Anfang der 1890er Jahre zurückreichenden Pröbelns (Rich[ard] Wehsarg, Moderne Milchtherapie bei Verdauungsstörungen und Tuberkulose, München 1928, 81). Wie viele andere Ärzte strebte er nach einem Alleinstellungsmerkmal, fand dieses in der Milchtherapie. Ihn störte allerdings, dass bei der Herstellung von Kefir und Joghurt „die lebendige Kraft der Rohmilch verloren“ (Ebd., 29) gehe. Saya diente erst einmal seinen Patienten, diente der Kräftigung und Erfrischung. Die Herstellung des Präparates zog sich allerdings lange hin, währte Wochen. „Das Verfahren ist nicht einfach und daher im Privathause oder in einer Krankenanstalt nicht ohne weiteres durchführbar“ (Ebd., 81). Doch am Ende stand ein lang haltbares Therapeutikum, Kern einer mittel- und langfristigen Kur. Wehsarg war vom Wert seiner Erfindung überzeugt: „Sayakuren bedeuten eine völlige Umwälzung aller seither geübten Methoden“ (Ebd., 88). Das Präparat übertraf demnach alle anderen Milchprodukte durch seinen Reichtum „an Enzymen und einer entsprechenden Flora von Verdauungsbakterien“ (Ebd.). Saya sollte stärken und prophylaktisch wirken, als Heilmittel bei Verdauungsstörungen, Verstopfung, Diabetes, Arteriosklerose, Herz- und Nierenkrankheiten, Bronchitis, Tuberkulose sowie Fieberkrankheiten dienen (Ebd., 89-92). Das war ein breites Spektrum, doch die „guten“ Enzyme und Bakterien würden es gewiss richten. Wehsarg kreiste aber nicht nur im Selbst- und Sayalob, sondern bot das Milchpräparat auch Ärzten kostenlos zum Test an.

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Richard Wehsarg und seine Gattin Maya im heimatlichen Ambiente (Main-Post 2015, Ausg. v. 16. November)

Wehsarg strebte nach Anerkennung: Zum einen betonte er, dass Saya „ein völlig neuartiges Produkt“ (Richard Wehsarg, Wesen und Bedeutung der „Saya-Milch“, Molkerei-Zeitung 43, 1929, 1989-1991, hier 1989) sei, anzusiedeln zwischen Joghurt und Kefir. Er präsentierte sich als Pionier einer neuen Arzttums, das seine Kraft aus praktischer Arbeit, nicht aus chemisch-physiologischem Wissen schöpfte. Er verstand sich als Gesundheitsführer, dem Patienten durch gleichsam natürliche Autorität übergeordnet. Entsprechend knüpfte Wehsarg nicht an die bakteriologische Debatte an, deren Details er offenkundig nicht kannte: „Ich suchte vor allem ein leicht verdauliches und trotzdem schmackhaftes Milchpräparat herzustellen, mit dessen Hilfe ich auch solchen Patienten die Nährstoffe der Milch in größeren Mengen zuführen konnte, welche die gewöhnliche Kost, Frischmilch und die bisher bekannten Sauermilchpräparate nicht vertrugen, also vor allem Kindern, alten Leuten und Magen- und Darm-Kranken. Nach langjährigen Versuchen ist mir das gelungen. Durch bestimmte Kombination von, in der Hauptsache Mikro- und Streptokokken erzielte ich unter Sauerstoffabschluß, bei langer Gärdauer und tiefer Temperatur ein Produkt, das außerordentlich leicht verdaulich ist und zu meiner eigenen Überraschung sich bei kühler Aufbewahrung monatelang unverändert hält“ (Ebd.). Doch Wehsarg wusste um seine Grenzen und übertrug die Herstellung der Reinkultur an die Süddeutsche Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft, nachdem er das Verfahren patentiert hatte.

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Kraft und Gesundheit durch trinkfertige Angebote am Milchhäuschen (Molkerei-Zeitung 49, 1929, 887)

Damit veränderte sich auch die Marktpositionierung des Milchpräparates. Für Wehsarg blieb Saya ein Heilmittel, doch 1929 trat seine Bedeutung als mögliches Volksgetränk hervor. Im Einklang mit dem 1926 gegründeten Reichsmilchausschuss propagierte er sein Milchgetränk als Massengetränk, um gleichermaßen Fleisch- und Alkoholkonsum einzugrenzen. Sauermilchpräparate sollten an die Stelle der viel zu teuren Mineralwässer und Limonaden treten. Saya sei durch seinen guten Geschmack eine Alternative für Konsumenten, „die den Geschmack der Milch und anderer Milchpräparate nicht schätzen und die lange Haltbarkeit, ferner gute Bekömmlichkeit und leichte Verdaulichkeit“ (Ebd., 1990) zu würdigen wissen. Diesem Tenor folgte auch die Saya-Werbung in der Schweiz (Von der „Saya-Milch“, Der Bund 1930, Nr. 68 v. 11. Februar, 6).

Saya und andere Milchpräparate

Saya wurde beschrieben als eine „dickflockige, sauer riechende und sauer schmeckende unmittelbar trinkfertige Milch, die nach Angaben des Herstellers monatelang haltbar ist. […] Der Geschmack ist eigenartig“ (Kleeberg und Behrendt, 1930, 259). Neben derartige Produktbeschreibungen traten nach Vertriebsbeginn chemisch-physiologische Analysen. Diese bestätigten die meisten von Wehsargs Aussagen. Saya bestand demnach aus ungekochter Vollmilch, die mit patentierten (also im Detail unbekannten) Bakterien geimpft wurden und dann bei relativ tiefen Temperaturen „eine 4wöchige spezifische Gärung […] in völlig sauerstofffreiem Milieu“ (Hermann Mohr, Milchtherapie mit dem Milchpräparat Saya, Medizinische Klinik 25, 1929, 230-231, hier 230) durchmachten. Das Milchkasein wurde dadurch größtenteils abgebaut, das Milcheiweiß in eine einfacher lösliche und leicht resorbierbare Form überführt. Anders als Kefir enthielt Saya praktisch keinen Alkohol, jedoch deutlich schmeckbare Kohlensäure (Wiener Tierärztliche Monatsschrift 17, 1930, 157).

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Visualisierung der relativen Vorteile von Saya gegenüber Frischmilch, Kefir und Joghurt (Forster, 1929, 84)

Die in verschiedenen bayerischen Kliniken und Laboratorien durchgeführten Untersuchungen waren vergleichend angelegt, auch wenn das neue Produkt im Mittelpunkt stand. Mit den damals zunehmend verwandten Visualisierungstechniken wurden die Spezifika von Saya gebührend hervorgehoben, galt das Interesse doch einem bayerischer Spezialprodukt. Deutlich wurde die gegenüber Frischmilch, Kefir und Joghurt bessere Verdaulichkeit, außerdem die schon von Wehsarg hervorgehobene lange Haltbarkeit. Deutlicher noch waren die jeweiligen Vitamingehalte, die mittels Rattenversuchen auch gut ins Bild gesetzt werden konnten. Schon die unterschiedlichen Ausgangsmaterialien (aufgekochte versus frische Milch) waren hierfür verantwortlich (A[ugust] Forster, Ueber das Sauermilchpräparat „Saya“, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 73-74; Ders., „Saya“ ein neues Sauermilchpräparat, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1929, 83-85; Ders., Vitamingehalt der Sauermilchpräparate, Süddeutsche Molkereizeitung 50, 1929, 749-751). Das quasi vorhersehbare Ergebnis lautete denn auch, dass Saya nicht nur eine wichtiges Heilmittel, sondern vor allem ein hervorragendes Volksgetränk sei (F. Kieferle, K[arl] J. Demeter und A[ugust] Forster, „Saya“, ein neues Sauermilchpräparat, Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, 101-102, hier 101).

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Der Vitamingehalt von Saya als Wachstumsgarant: Links drei 8 Wochen B-vitaminfrei gefütterte Ratten, die zudem täglich 5 gr Joghurt, Kefir bzw. Saya erhielten: rechts die jeweiligen A-, C- und D-Vitamingehalte (Molkerei-Zeitung 49, 1929, 1990 (l.); Forster, 1929, 751)

Die Saya GmbH

All dies erfolgte parallel zur Gründung einer Produktions- und Vertriebsfirma für die neuartige Acidophilusmilch. Die Saya Gesellschaft mit beschränkter Haftung wurde am 9. April 1929 in München gegründet, die Geschäftsräume lagen oberhalb des Hauptbahnhofs in der Nymphenburgerstraße 25 (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 127 v. 4. Juni, 9). Dort war auch der Kemptner Käseproduzent Alfred Hindelang ansässig, der für die neue Firma freudig warb (Gräfinger Zeitung 1929, Nr. 178 v. 3. August, 7). Das Stammkapital der Saya GmbH lag bei 24.000 Reichsmark, Geschäftsführer wurde der Diplomlandwirt Josef von Dall’Armi, Spross einer der führenden Münchner Familien. Der aus Trient stammende Andreas Michael Dall’Armi (1765-1842) war einst ein einflussreicher Bankier und Offizier, gilt zudem als Begründer des Münchner Oktoberfestes (Markus A. Denzel, Münchens Geld- und Kreditwesen in vormoderner Zeit, in Hans Pohl (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes München, München 2007, 1-40, hier 20-22).

Der Gegenstand der Saya GmbH war breit angelegt, war für Expansion offen, nämlich die „Herstellung und der Vertrieb von Saya-Milch und deren Nebenprodukten, die Vergebung von Lizenzen zu deren Herstellung und Verkauf und die Beteiligung an anderen Unternehmen, welche sich mit Milch oder Milchprodukten befassen“ (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 127 v. 4. Juni, 9). Es ist unklar, ob die nicht sehr dynamische Unternehmensentwicklung, bestehender Kapitalmangel oder persönliche Gründe dazu führten, dass Josef von Dall’Armi Anfang 1930 als Geschäftsführer zurücktrat und vom Frankfurter Kaufmann Otto Goll (1864-1953) ersetzt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 44 v. 21. Februar, 10). Dabei dürfte es sich um den gleichnamigen Chemiker gehandelt haben, der verschiedene Patente in die IG Farben einbrachte, wo er von 1926 bis 1930 Prokura besaß (Die Chemische Industrie 49, 1926, 227; Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 286 v. 12. August, 12 (Hoechst), ebd., 11 (Bayer); ebd., Nr. 300 v. 24. Dezember, 15 (BASF)). Golls Eintritt dürfte die Kapitalkraft der Saya GmbH deutlich verbessert haben, denn im April 1930 wurde das Stammkapital auf 66.000 Reichsmark erhöht (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 114 v. 17. Mai, 15).

Die Firma dürfte sich die Verwertungsrechte an den Wehsargschen Patenten gesichert haben. Saya wurde in zwei Varietäten hergestellt, nämlich auf Voll- und auf Magermilchbasis, verkauft als Kursaya resp. Saya. Das Herstellungsverfahren blieb unbekannt (Kleeberg und Behrendt, 1930, 259). Es wurde im November 1929 aber auch in der Schweiz patentiert (Schweizerisches Handelsamtblatt 49, 1931, 2034), der österreichische Markt vorrangig mittels Versandgeschäft beliefert (Pharmazeutische Monatshefte 10, 1929, 177). Zudem gab es eine Dependance im 130 Kilometer östlich von München gelegenen Grenzort Mauerkirchen (Tages-Post [Linz] 1929, Nr. 206 v. 6. September, 3).

Über den Umsatz und die Beschäftigten der Saya GmbH ist nichts bekannt. Die vielfach in Abstimmung mit der Firma durchgeführten wissenschaftlichen Analysen erbrachten aber weitere Details: Mikrokokken und Streptokokken beherrschten die Ausgangsflora, wobei letztere vorrangig aus Milch- bzw. Aromabakterien bestanden (Strept. kefir und Strept. citrovorus) (Kieferle, Demeter und Forster, 1929, 102). Die Reinkultur entstand in Weihenstephan, möglichweise auch am Produktionsort Steingaden. Dieser lag 90 Kilometer südwestlich von München, nördlich vom Ammergebirge. Die Sayaproduktion selbst wurde für eine 1932 in Dresden entstandene Dissertation auf dem sächsischen Rittergut Benndorf nachmodelliert. Die Schilderung verdeutlicht, dass Wehsarg in der Tat eine sehr eigenständige Technik entwickelt hatte, die deren weitere Verbreitung sowie das Lizenzgeschäft erschwerte: Benötigt wurden ein großer Mischkessel mit Rührwerk, komprimierte Kohlensäure und eine Flaschenabfüllvorrichtung – eine zylinderförmige Glastrommel – mit direkter Verbindung zum Mischkessel. Rohmilch von ca. 18°C wurde in den Kessel gefüllt, mit der Reinkultur vermengt, Waldmeisteressenz diente als Geschmacksveredeler. Der Deckel wurde verschlossen, unter weiterem Rühren Kohlensäure eingeleitet, um einen Überdruck zu schaffen. Nach fünf Minuten Rühren öffnete man dann die Abfüllvorrichtung, die Trommel wurde gefüllt und der Inhalt dann unter Druck und automatisch abgefüllt (Käte Kunze, Über das Sauermilchpräparat Saya, Phil. Diss., Leipzig 1932, 3).

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Gesundheit aus der Spezialflasche: Verpackung von Saya (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 8. August, 4 (l.); Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, Festschrift, 86)

„Die Saya-Flaschen sind starkwandig und ähneln in der Form der bekannten Selterswasserflasche mit Bügelverschluss, nur daß sie weithalsiger gestaltet sind; das Fassungsvermögen beträgt 3/8 Liter. Nach dem Abfüllen werden die Flaschen festverschlossen, drei bis vier Tage lang bei einer Temperatur von 15 bis 18ˆC. vorgelagert und dann vorsichtig ohne Schütteln zur Ausgärung in einen Lagerraum, dessen Temperatur auf 11ˆC. zu halten ist, gebracht. In dem Lagerraum bleiben die Flaschen sechs Wochen; vor Ablauf dieser Zeit ist die Milch nicht reif und genussfähig“ (Ebd.).

Werbung für Saya

Die mit einem Gummiring abgedichteten Saya-Flaschen waren demnach funktional, mussten sie doch hohem Druck standhalten und zugleich den eigentlichen Gärraum schützen. Doch sie waren zugleich ein wichtiger Werbeträger. Im Gegensatz zu den Mitte der 1920er Jahre zunehmend eingeführten Milcheinheitsflaschen hoben sie Saya aus dem gängigen Angebot auch von Joghurt und Kefir heraus. Die Verpackung portionierte vor, strich damit den Conveniencecharakter des unmittelbar verzehrsfähigen Produktes heraus. Das weiß-matte Fläschchen kokettierte zudem mit der wissenschaftlichen Aura von Medizinal-, Laboratoriums- und Apothekerglas. Nicht umsonst wählten auch die führenden Anbieter von Functional Food-Milchprodukten um die Jahrtausendwende ähnliche Kleinbehälter, wenngleich aus Kunststoffen. Zugleich präsentierte man das Produkt als „Gesundheitsmilch“, grenzte sich also bewusst von dem werblich beschädigten Begriff der Acidophilusmilch ab, auch wenn dieser zutreffender gewesen wäre.

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Werbung für Wehsargs Broschüre über die Milchtherapie (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1928, Nr. 171 v. 25. Juli, 6123)

Die Saya GmbH nutzte für ihre Werbung zweitens die wissenschaftliche Aura ihres Erfinders, des Sanitätsrats Dr. Wehsarg. Das war üblich für viele meist kleinere Anbieter pharmazeutischer und kosmetischer Produkte, ebenso im breiten und rechtlich kaum geregelten Grenzgebiet zwischen Nahrungs- und Heilmitteln: Dr. Axelrod (ein Phantasietitel) und Dr. Klebs wurden bereits erwähnt, eine breite Palette von Säuglingsnährmitteln wäre zu ergänzen. Mit „Sanitätsrat Dr. Wehsarg“ war das Narrativ des Tüftlers eingebettet, des letztlich erfolgreichen Visionärs (Entgiftung durch Diät, Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 4). Wehsarg hatte dieses in seinem Büchlein über die Milchtherapie unterstrichen. Hinzu kam eine gewisse öffentliche Präsenz, etwa Rundfunkvorträge über „Milch als Nahrungsmittel“ (AZ am Abend 1928, Nr. 283 v. 5. Dezember, 9). Insgesamt gelang die enge Verbindung von Wissenschaftler und wissenschaftlichem Produkt. Teils war gar die Rede von „Wehsargschen Bakterien“ (Pharmazeutische Monatshefte 11, 1930, 30).

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Werbung für die Fachleute: Produktpräsentation mit Verweis auf Ausstellungspräsenz (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 358)

Drittens war die Saya GmbH in der Anfangszeit auf mehreren landwirtschaftlichen Ausstellungen präsent. Dies diente einerseits der Popularisierung des neuen Produktes, zielte anderseits aber auf die dort breit vertretenen Molkereien: „Lizenzen zur Herstellung und zum Vertrieb von ‚Saya‘ werden für alle größeren Plätze oder Bezirke vergeben“ (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 187). Zugleich profitierte das neue Produkt von der stets umfangreichen Berichterstattung über derartige Ausstellungen. Dazu richtete man einen Saya-Ausschank ein – so wie schon in den 1880er Jahren für Carne pura-Produkte und viele andere Innovationen. Journalistischer Widerhall war damit quasi garantiert: „Die Saya-Milch ist sehr kalorienreich, sie erhält einen Zusatz von frischgewonnenem Rahm, ihr Geschmack ist angenehm säuerlich“ (Neue Milchprodukte, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 252 v. 16. September, 13). Wichtiger aber war noch die stete Wiederholung des Narrativs vom bakteriellen Krieg im Darm, für die Funktion von Saya als „Darmreinigungsmittel“ (Will, Ein modernes Milchgetränk. Saya-Gesundheitsmilch als Heil- und Genußmittel, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 252 v. 16. September, 12). Die landwirtschaftlichen Ausstellungen boten zudem breitere Absatzchancen, war doch Joghurt zu dieser Zeit ein nicht unübliches Futtermittel für malade Ferkel und Kälber (Hoenow, Vom Joghurt, Ingolstädter Anzeiger 1928, Nr. 21 v. 26. Januar, 4). Folgerichtig wurde Saya auch als Heilmittel für streptokokkenkranke Kühe getestet (Tierärztliche Rundschau 36, 1930, 553).

16_Muenchner Neueste Nachrichten_1929_06_04_Nr149_Sonderbeilage_p17_Acidophilusmilch_Gesundheitsmilch_Saya_Wehsarg_Volksgetraenk

Saya als „Volksgetränk der Zukunft“ (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 149 v. 6. April, Sonderbeilage, 17)

Viertens schließlich schaltete die Saya GmbH Anzeigen in gängigen Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Erstere dienten der Marktpflege im bayerischen, letztere der im nationalen Rahmen. Diese Anzeigen waren sachlich gehalten, einzig die fett gedruckte Überschrift propagierte einen weitergehenden Anspruch. Die Anzeigen sollten über das Produkt aufklären, seinen Nutzen und Sinn kommunizieren. Dabei bediente man sich – abseits der Bezeichnung „Gesundheitsmilch“ – jedoch keiner Werbesprache im engeren Sinne, sondern listete wissenschaftliche überprüfte Argumente auf. Die in den meisten Motiven enthaltenen elf Vorzüge von Saya (Werbefachleute hätten wohl eher zu zehn geraten) waren Destillate der Wehsargschen Schriften und parallel laufender wissenschaftlicher Studien.

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Variationen der Werbung durch „wissenschaftliche“ Gutachten (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 183 v. 8 Juli, 9)

Entsprechend finden sich in den Anzeigen abseits der Saya-Flasche keine weiteren Abbildungen. Variiert wurden die appellativen Überschriften, zusätzlicher Platz wurde mit Auszügen aus Gutachten, selten auch mit Empfehlungsschreiben gefüllt. Die Saya-Anzeigen entsprachen damit eher der pharmazeutischen Fachwerbung als etwa der damals durchaus bunten, mit Zeichnungen und Strichmännchen aufgelockerten Werbung für Joghurt. Die Bakterien, die „guten“ wie die „bösen“, waren durchaus präsent, wurden jedoch umschrieben („besondere, experimentell ermittelte Stoffe“; „Darmfäulnis“). Diese Zurückhaltung mochte mit dem faktischen Scheitern der Acidophilus-Angebote 1927/28 zusammengehangen haben, auch der schon von Henneberg betonten Reserviertheit des Publikums im Umgang mit den im Kot zahlreich vorhandenen Darmbakterien. Sie war aber auch ein Reflex auf den in der 2. Hälfte der 1920er Jahre gängigen Kampf von Interessengruppen und die wachsende Bedeutung von Experten und Gegenexperten. Die lange Haltbarkeit von Saya war gewiss ein wichtiges Argument in einem Umfeld heißer Sommer und fehlender Kühlschränke. Doch Joghurtproduzenten begegneten dem mit Kritik an der „Konservenform“ des Edeljoghurts, um stattdessen frische Kost zu propagieren (Behandlung des Joghurt in der heißen Zeit, Fürstenfeldbrucker Zeitung 1928, Nr. 157 v. 11. Juli, 3).

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Propagierung als „tägliches Getränk“ (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 4)

Die Anzeigenwerbung unterstrich dennoch das Ziel, Saya als Volksgetränk für Kranke und Gesunde zu positionieren, also die Wehsargsche Welt des Sanatoriums zu durchbrechen. Saya sollte ein „tägliches Getränk“ werden, modern und auf der Höhe der Zeit. Dabei zielte man vorrangig auf Angestellte, Akademiker und bürgerliche Konsumenten. Unklar blieb, ob die vielfach hervorgehobene „Billigkeit“ des Produktes zutraf, denn Preise konnte ich leider nicht finden.

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Einfache Präsentation als Functional Food (Münchner Hochschulalmanach WS 1929-1930, München 1929, 5)

Saya als Heil- und Kurmittel

Trotz dieser Öffnung hin zum Massenmarkt blieb Saya jedoch vorrangig ein Heil- und Kurmittel. Zahlreiche Studien verwiesen wieder und wieder auf ihren hohen diätetischen Wert (Josef Gloetzl, Beiträge zur Kenntnis der stickstoffhaltigen Bestandteile, insbesondere des Reststickstoffs der Kuhmilch, Landw. Diss. Weihenstephan 1929, Berlin und Heidelberg 1930, 53). Klinische Interventionsstudien bestätigten viele der Wehsargschen Annahmen, wenngleich die Studienanlagen aus heutiger Sicht kaum überzeugend zu nennen sind. Saya wurde gut vertragen, kaum abgelehnt. Bei Kolitis, also Darmentzündungen, siegten die „guten“ Bakterien regelmäßig (Mohr, 1929). Auch bei Gastroenteritiden sowie Magengeschwüren milderte sie die Symptome (Pharmazeutische Monatshefte 11, 1930, 63). Die Hauptbedeutung schien jedoch in „einer raschen und zuverlässigen Kräftigung des Gesamtorganismus“ (Kieferle, Demeter und Forster, 1929, 102) zu liegen, also bei unspezifischen Krankheits- und Schwächezuständen wie Rekonvaleszenz, Bleichsucht oder Blutarmut. Aufgrund ihres relativ hohen Nährwerts ermöglichte Saya auch Gewichtszunahmen (H[ans] Seel, Experimentelle Untersuchungen über das Sauermilchpräparat „Saya“, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 41, 1930/31, 294-297).

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Gewichtskurven als vermeintlicher Beleg für die Wertigkeit von Saya (Seel, 1930/31, 296)

Dennoch führten die Untersuchungen auch zu kritischen Rückfragen. Leichte Besserungen etwa bei Lungentuberkulose konnten schon deshalb nicht kausal auf den Einfluss von Saya zurückgeführt werden, da die Wirkmechanismen unklar blieben (C[arl] Funck, Nutritive Allergie als Faktor in der Pathogenese initialer Lungentuberkulose, Archiv für Verdauungskrankheiten 44, 1928, 356-361, hier 360-361). Bei Tuberkulose war Saya generell wirkungslos; so jedenfalls das Ergebnis einer Studie an 81 Kindern in der Prinzregent-Luitpold-Kinderheilstätte Scheidegg (L. Bötticher und Hans Heinrich Knüsli, Versuche mit Saya-Milch bei den verschiedenen Formen der kindlichen Tuberkulose, Zeitschrift für Tuberkulose 54, 1929, 130-131). Die damals vor allem von der sog. SHG-Diät – einer von Sauerbruch, Herrmannsdorffer und Gerson propagierten salzfreien Tuberkulosediät – geweckten Hoffnungen an eine wirksame Bekämpfung des „weißen Todes“ erwiesen sich auch im Falle von Saya als trügerisch.

Das Wehsargsche Acidophilusmilch dürfte gleichwohl von der Ende der 1920er Jahre wachsenden Bedeutung ernährungsbasierter Therapien, der Rohkostdiäten und der Vitaminlehre profitiert haben. Jedenfalls wurden Milchtherapien öffentlich häufiger empfohlen. Das galt vor allem bei Frühjahrskuren, bei denen Sauermilchpräparate – darunter auch explizit Saya-Milch – für eine „Durchspülung des ganzen Körpers und die Anregung der Nieren- und Darmtätigkeit“ (W[aldemar] Schweisheimer, Frühlingskuren mit Milch, Frauenzeitung 1931, Nr. 12 v. 4. Juni, 1) sorgen sollten. Wiederum also die helfende Symbiose von Mensch und „guten“ Bakterien. Das galt aber auch für die Schönheit der menschlichen Außenhülle. Verheißend hieß es, Milch – explizit auch Saya-Milch – „geht zum Teil in das Blut über, schafft Gesundheit, heiße Augen, frische, natürliche Gesichtsfarbe und zarte Haut“ (Hildegard G. Fritsch, Natürliche Schönheitsmittel, Internationale Frisierkunst und Schönheitspflege 20, 1932, H. 1, 18). Richard Wehsarg griff derartige Moden auf, denn er hatte Schönheitsfehler schon seit langem mittels Ernährungsumstellung und Milchtherapie behandelt. Rückgang von Gesichtspickeln und Besserung von Ekzemen waren die Folgen, ebenso regelmäßiger Stuhlgang ([Richard] Wehsarg, Hautpflege / Milch und Butter, Die Volksernährung 5, 1930, 369-370, hier 370).

Qualitätsprobleme

Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Etablierung von Saya im Massenmarkt und im klinischen Alltag waren also gut. Doch wie schon bei der Acidophilusmilch bestanden massive Qualitätsprobleme, so dass der Markenartikel nicht in stetig gleicher Güte angeboten wurde. Ausgerechnet Traugott Baumgärtel (1891-1969), damals frisch ordinierter Mikrobiologe an der TH München und später einer der wichtigsten deutschen Milchbakteriologen, erhielt im August 1928 eine Fehlcharge von Saya. Und er wetterte in heiligem Zorne gegen das „neuerdings so lebhaft propagierte Sauermilchfabrikat ‚Saya‘“ (Baumgärtel, Milchspezialitäten, hier 17): Wer „Saya-Milch etwas näher betrachtet, wird sie auf den ersten Blick für eine in Fäulnis übergegangene Flaschenmilch halten. Man erkennt deutlich die gelb-grünliche Molke, in welcher das von Gasblasen durchsetze Milcheiweiß Koagula bildet, die an der Oberfläche eine dicke Rahmdecke tragen, an welcher man mitunter mehrere Schichten wahrnehmen kann. Entsetzt wird man aber zurückfahren, wenn man die meist unter Druck stehende Flasche öffnet und den fauligen, wenn nicht jaucheartigen Geruch ihres Inhalts wahrnimmt. Nach der Gebrauchsanweisung soll der Inhalt jeder Flasche vor dem Gebrauch kräftig geschüttelt und das klümpchenhaltige Koagulum verrührt werden. Es mag sein, daß hierdurch das Präparat etwas an Appetitlichkeit gewinnt, während es seinen unangenehmen Geruch und Geschmack nach wie vor beibehält. Nach allem gehört eine starke Überwindung dazu, ein Sauermilchprodukt wie Saya zu genießen; es sei denn, daß man sich als Kranker – im festen Glauben an die Heilkraft der Arznei – an den Geruch und Geschmack der Saya gewöhnt“ (Ebd., 21). Für Baumgärtel war klar, dass Präparate, die „wegen ihres fäulnisartigen Aussehens, Geruchs und Geschmacks geradezu ekelerregend wirken“, keine Marktchancen haben, höchstens als Arznei bestehen konnten.

Baumgärtel ruderte zurück, als ihm die Kollegen aus Weihenstephan Produktionsprobleme eingestanden und ihm vorschriftsgemäß hergestellte Fläschchen lieferten. Er veröffentlichte daraufhin einen zweiten Artikel, in dem er nicht nur den säuerlich-erfrischen Geschmack lobte, sondern auch das Konzept und dessen volkswirtschaftliche und volkshygienische Bedeutung (Traugott Baumgärtel, „SAYA“ ein spezifisches Milchgärprodukt?, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 59, 1930, 137-139). Doch die Milch war in den Brunnen gefallen, denn welcher Konsument wollte sich auf das Lotteriespiel einlassen, ein verdorbenes Produkt zu erwerben, dessen Qualität er trotz der durchsichtigen Flasche eben nicht unmittelbar einschätzen konnte. Außerdem gelang es der Saya GmbH auch in der Folgezeit nicht, die Qualitätsprobleme abzustellen: „Bei der Herstellung der Saya im Grossen ist wiederholt die unliebsame Erfahrung gemacht worden, dass das Präparat nicht haltbar war und noch vor Ablauf der Reifeperiode ungeniessbar wurde. […] Der Geschmack war scharf bitter, und der Geruch stechend scharf“ (Kunze, 1932, 23). Die damalige deutsche Unfähigkeit zur Massenproduktion komplexer Gebrauchsgüter wurde dadurch nochmals unterstrichen.

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Flaschenhygiene als Qualitätsproblem: Reinigungsmaschine von Ernst Mäurich, Dresden (Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, 780)

Die Ursachen hierfür lagen allerdings nicht bei der Reinkultur, sondern offenkundig in unzureichender Hygiene. Das betraf zum einen Kessel und Abfüllanlage, vor allem jedoch Flaschen und Gummiringe. Diese mussten nämlich keimfrei sein, ansonsten setzten sich rasch die „bösen“ Bakterien durch. Das wusste jede einmachende Hausfrau, doch Saya bedurfte eines deutlich reineren Umfeldes als die gern genommene und mit Konservierungsstoffen (Zucker) versehene Marmelade. Fremdinfektionen waren auch deshalb wahrscheinlich, weil die gängigen chemischen Reinigungsmittel aufgrund ihrer Auswirkungen auf den Geschmack nicht eingesetzt werden konnten.

Praktiker und Bakteriologen empfahlen gleichermaßen regelmäßige Belehrungen der Beschäftigten, sogleich aber auch der Hausfrauen, da verdorbene Ware grundsätzlich Erkrankungen nach sich ziehen konnte (Spieker, 1929, 1506). Hefen, anaeroben Sporenbildern und vor allem die gängigen Escherichia coli-Bakterien mussten schlicht gänzlich beseitig werden, bevor Saya gelang (Karl J. Demeter, Bakteriologische und biologische Untersuchungsmethoden, in: Willibald Winkler (Hg.), Handbuch der Milchwirtschaft, Bd. 2, T. 2, Wien 1931, 397-437, hier 403). Die Qualitätsprobleme der Wehsargschen Gesundheitsmilch unterstrichen indirekt, dass die Milchwirtschaft noch einen weiten Weg hin zur aseptischen Produktion auch nur der Milchspezialitäten vor sich hatte (Tr[augott] Baumgärtel, Die Anwendung von Mikrobenreinkulturen in der Milchwirtschaft, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 67, 1938, 81-88, hier 88).

Vom Nahrungsmittel zur Arznei

Die Saya GmbH in Liquidation wurde schließlich am 3. August 1932 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1932, Nr. 186 v, 10. August, 7). Die genauen Ursachen hierfür sind unklar, doch es lag sicherlich nicht an den „guten“ Bakterien. Wie schon die einfache Acidophilusmilch scheiterte Saya wohl an fehlender Hygiene und unausgereifter Technik. „Diese Milchart wurde […] unter dem Namen ‚Reform-Joghurt‘ in Deutschland eingeführt, ohne jedoch die Verbreitung zu finden, die ihrer Bedeutung als Heilmittel zukommt“ (Heinrich Thomsen, Joghurt, Acidophilusmilch und Kefir, Hildesheim 1951, 17). Und doch, das Scheitern von Acidophilusmilch und Saya war nicht vollständig.

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Trockenprodukte im Trend: „Acidophilus“ als Kaufanreiz für häuslich einzusetzende Sauermilchkulturen (C.V.-Zeitung 9, 1930, 495)

Ähnlich wie schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als frischer Joghurt mit einer großen Zahl von rasch entwickelten Trockenpräparaten konkurrieren musste, konnten Konsumenten seit Ende der 1920er Jahre auch auf eine Reihe von Acidophiluspräparaten zurückgreifen. Aus Nahrungsmitteln wurden Heilmittel. Der Absatz von Acidophilusmilch verlagerte sich von den Milch- und Kolonialwarenhandlungen in die Drogerien, die Apotheken und Reformhäuser. Im Deutschen Reich erweiterte Dr. Klebs sein Angebot unter der Dachmarke von Joghurt-Tabletten. In Österreich bot das Wiener Laboratorium Groll mit Acidophil gar ein Trockenprodukt an, mit dem sich jeder die „guten“ Bakterien eigenverantwortlich zuführen konnte.

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Vom Nahrungsmittel zum Pharmazeutikum: Werbung für Grolls Acidophil (Neue Freie Presse 1933, Nr. 24699 v. 18. Juni, 13)

Anfang der 1930er Jahre wuchs das Arzneimittelangebot weiter. Baktolax war eine Mischung aus Lactobacillus acidophilus, Fragulaextrakt sowie Gleit- und Quellmitteln, das Darmkontrolle und innere Harmonie verhieß (Hermann Poras, Über Baktolax, ein neues Darmregulans, Wiener Medizinische Wochenschrift 85, 1935, 47-49). Im Deutschen Reich konnte man auf die Edelweiß-Tabletten oder aber Acidophilus Dr. Düll zurückgreifen (Neue Erkenntnisse im Verdauungsvorgange, Badische Presse 1933, Nr. 13 v. 1. August, 6; Pharmazeutische Wochenschrift 72, 1939, 118). Diese pulverförmigen Präparate waren einfacher herzustellen, ihr Hersteller hatten weniger heikle Hygienefragen zu klären als die Saya GmbH und viele Molkereien. Gleichwohl konnte man Acidophilusmilch weiterhin vereinzelt zu kaufen, etwa als Angebot der Wiener Molkereien (Acidolphilusmilch (Wimo), Medizinische und Pharmazeutische Rundschau 7, 1931, Nr. 145, 10). Doch all dies ummäntelte nur das Scheitern der Acidophilusmilch und des Reformjoghurts Saya in Mitteleuropa. Erst der 1957 eingeführte „Bioghurt“ sollte dies schließlich ändern.

Uwe Spiekermann, 15. November 2021

Tod durch Kinderkost? Gekochte Milch, Säuglingsskorbut und unwissende Wissenschaftler im Deutschen Reich, 1880-1930

Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich das vorwissenschaftliche Verständnis von Essen und Ernährung grundlegend. [1] Gründend auf der im späten 18. Jahrhundert einsetzenden chemischen „Revolution“ wurden neu benannte und definierte Nahrungsstoffe – Eiweiß, Kohlenhydrate und Fette – die entscheidenden Elemente für das europäische Projekt der modernen Ernährungswissenschaften. In den 1840er Jahre verband der Gießener Chemiker Justus Liebig (1803-1873) zahlreiche Einzelbeobachtungen zu einem neuen Modell der „Natur“, nämlich eines für Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen geltenden Stoffwechsels. Leben war demnach nicht primär Gottes Schöpfungswerk, sondern gründete auf Materie, auf chemischen Prozessen und steten stofflichen Reaktionen.

Auf den ersten Blick schien eine derart agnostische und rational-reduktionistische Vorstellung kaum geeignet, allgemein akzeptiert zu werden. Die Chemie galt schließlich nicht von ungefähr als „eine völlig esoterische Wissenschaft“ [2]. Gemäß dem Stoffparadigma war Essen – im Gegensatz zur Alltagserfahrung – nicht mehr länger ein integraler Bestandteil von menschlichem Leben und Gesundheit, sondern die Kombination und Zufuhr nicht direkt sichtbarer Nahrungsstoffe. Dennoch: Das neue, durch Chemiker, Physiologen, Pharmazeuten und dann auch viele Mediziner propagierte Wissen etablierte binnen weniger Jahrzehnte eine neue Vorstellung von der Alltagskost, durch die es möglich wurde, Alltagshandeln und Ernährungsweisen zu rationalisieren und zu optimieren. Der menschliche Körper schien vergleichbar mit der Dampfmaschine, benötigte er zum Funktionieren doch gleichermaßen Treibstoff. Das Ziel der verschiedenen Wissenschaften war nicht allein die Erkenntnis der vom Menschen geschaffenen Welt, sondern zunehmend die Kontrolle der menschlichen Lebensumwelt, der Nahrung und des Menschen selbst.

Die Kinderernährung war der erste Versorgungssektor, der auf Grundlage des neuen Stoffparadigmas umgestaltet wurde. [3] An die Stelle der „natürlichen“ Muttermilch sollte etwas Besseres, etwas Künstliches gesetzt werden. „Künstlich“ wird heute vor allem mit Begriffen wie Intelligenz oder aber Befruchtung verbunden. Sein Bedeutungsgewinn begann in den 1870er Jahren jedoch vor allem als „künstliche Säuglingsernährung“. Diese schien erst einmal unnatürlich zu sein, schien Muttermilch doch als Garant guter und gesunder Kinderernährung. Auch deren damals gängige Substitute waren noch „natürlich“, handelte es sich doch um die Milch von Ammen oder aber von Tieren, vornehmlich Kühen und Ziegen. „Künstliche Säuglingsernährung“ umgriff dagegen neuartige gewerblich hergestellte Produkte, die chemisch analysiert und häufig von Medizinern verordnet wurden. Es war das Wissen der Nahrungsmittelchemie und der Ernährungsphysiologie das neue Märkte schuf und der neuen Profession der Pädiater den Weg bahnte.

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Alltagsverluste: Der Tod des Erstgeborenen (The Leisure Hour 14, 1855, 817)

„Künstliche Säuglingsernährung“ war eine Antwort auf die epidemisch verbreitete Kindersterblichkeit, neben den Infektionskrankheiten die wichtigste Todesursache im 19. Jahrhundert. Die Industrialisierung mochte vorangehen, doch die jüngsten Erdenbewohner erreichten immer seltener das zweite Lebensjahr. In Preußen, dem wichtigsten deutschen Teilstaat, stieg die Kindersterblichkeit seit den 1820er Jahren vergleichsweise kontinuierlich und erreichte zwischen 1860 und 1900 eine nie wieder erreichte Höhe von etwa zwanzig Prozent.

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Deutsche Rückständigkeit: Kindersterblichkeit in Europa im späten 19. Jahrhundert (Prausnitz, 1912, 295)

Über die Gründe für diese humanitäre Katastrophe wird bis heute beredt gestritten. Historische Demographen verwiesen etwa auf ein weiter bestehendes traditionelles „system of wastage“ [4], also einer angesichts hoher Geburtenraten üblichen relativen Vernachlässigung des einzelnen Kindes, das den kulturellen Wandel, sozio-ökonomische und wissenschaftliche Veränderungen lange Zeit bremste. Sozialhistoriker verwiesen dagegen eher auf die beträchtlichen Gesundheitsprobleme der frühen Industrialisierung und Urbanisierung, die man erst ab Ende des 19. Jahrhunderts durch politische und medizinische Interventionen erfolgreich verringern konnte. [5] Wichtige Elemente einer verbesserten Alltagshygiene waren demnach die verbesserte Milchversorgung, der steigende Konsum von Nährpräparaten und die neu entstehende Pädiatrie, die im frühen 20. Jahrhundert allesamt zu sinkender Kindersterblichkeit geführt hätten. Genauere Analysen haben jedoch ergeben, dass all diese Elemente vorrangig bürgerliche Kreise betrafen, nicht jedoch die Mehrzahl der Bevölkerung. [6]

Wissenschaft als Garant für eine Reduktion der Kindersterblichkeit

Analysiert man allerdings die wissenschaftlichen und auch wirtschaftlichen Debatten des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, so ging man das Problem der Kindersterblichkeit doch anders an: Die Ernährung wurde erstens Gegenstand einer chemischen Analyse. Kulturelle und sozioökonomische Unterschiede mochten ihre Bedeutung haben, doch Veränderungen glaubte man primär durch eine Analyse der materiellen Welt der Nahrungsstoffe und Körper bewirken zu können, der Markt würde die Ergebnisse dann allseits verbreiten.

Der Säugling war kein zartes, der Zuwendung bedürftiges Menschenjunges, sondern ein organisches Wesen mit zwei Besonderheiten: Seine Physiologie war noch unausgebildet, nicht an die neue Umwelt angepasst. Und seine Bedürfnisse orientierten sich vornehmlich auf Essen und Wachsen. Babys waren einfach und auskömmlich mit nur wenigen Lebensmitteln zu ernähren. Für ihr Gedeihen schien die Verdaulichkeit und die Resorption der Nahrungsstoffe entscheidend. Trotz ihrer offenkundigen Materialismus standen die frühen Kinderärzte noch unter dem Bann der Natur, mochten sie diese auch in die Sprache der Chemie und Physiologie übersetzen. Muttermilch war deren Sinnbild, harmonisch zusammengesetzt, alles enthaltend, was der Säugling benötigte. Tiermilch schien demgegenüber nur „ein trauriger Notbehelf“ [7]. Schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten chemische Analysen die vom Menschen abweichende chemische Zusammensetzung nachgewiesen – und zugleich die Fiktion einer relativ einheitlichen Zusammensetzung der Muttermilch genährt. Während man nun einerseits versuchte, die Tiermilch etwa durch Verdünnung der menschlichen Norm anzupassen, diente die Muttermilch als Ideal einer gewerblichen Rekonstruktion.

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Führende Vertreter der Bakteriologie: Louis Pasteur (1823-1895) und Robert Koch (1843-1910) (Der Welt-Spiegel 1928, Ausg. v. 14. Oktober, 3)

Der Blick der Wissenschaftler richtete sich aber nicht allein auf die Nahrungsstoffe, sondern auch auf die Vorgänge im Körper der Neugeborenen. Zentral hierfür wurde die 1857 von Louis Pasteur (1823-1895) beschriebene Milchsäuregärung. Erst schien es undenkbar, dann, in den 1860er Jahren, wurde es Gemeinplatz, dass diese Gärung von lebendigen Bakterien verursacht wurde. Im Inneren des kindlichen Körpers tobte eine andauernder Kampf zwischen Bakterium und Mensch um die Nutzung der Nahrungsstoffe. Dies konnte die Magen- und Darmkrankheiten erklären, die insbesondere im Sommer zu zahllosen Todesfällen führten. Tiermilch war nicht nur anders zusammengesetzt als die der Mutter, sondern enthielt auch Keime, die lebensgefährlich sein konnten. Eine verbesserte Milchhygiene war unabdingbar, wollte man Menschenleben retten.

Mochten die Konturen damit klar sein, so wusste man doch nur wenig über die Details der Verdauung der Kleinkinder. [8] Physiologie und Biochemie der körperinneren Vorgänge blieben unklar. Für eine gezielte Gesundheitsprävention reichte das bestehende Wissen nicht aus, zumal man weder genauere Vorstellungen über „Eiweiß“ oder „Kohlenhydrate“ besaß. Hinzu kam ein strukturelles Problem der Stoffwechselforschung: An Durchschnitten und Gesetzmäßigkeiten interessiert, zielte sie auf allgemeine Interventionen, nicht aber auf individuelle Therapien. Die beträchtlichen Abweichungen zwischen einzelnen Säuglingen und auch einer durch Konstitution und Herkunft heterogenen Milchkost machten vieles möglich, unterstrichen vor allem aber die Vielfalt der „Natur“. Künstliche, vom Menschen nach dem Ideal der Natur hergestellte Säuglingskost schien ein Ausweg aus diesem Dilemma zu sein.

Gewerbliche Verbesserungen? Der Bedeutungsgewinn der Kindernährmittel

Muttermilch blieb das Ideal gesunder Säuglingsernährung, Selbststillen schien erforderlich. Kinderärzte forderten dies von den Wöchnerinnen, sahen sich selbst als Sachwalter der Natur. Die beträchtlichen statistischen Unterschiede zwischen der Lebenserwartung gestillter und nicht gestillter Kinder unterstützten diesen Rigorismus am Kindbett. Doch ein gewisser Anteil der Frauen war von Natur aus nicht fähig zu stillen, hinzu kamen beträchtliche soziale, konfessionelle und regionale Unterschiede. Im späten 19. Jahrhundert wurden etwa drei Viertel bis zwei Drittel der Kleinkinder mit Muttermilch aufgezogen. [9] Der große Rest erhielt vornehmlich Tiermilch, in wachsendem Maße aber auch künstliche Kindernährmittel. Menschlicher Erfindergeist war also gefragt, Ziel war die Nachbildung der Natur. Die neuen Präparate waren getragen vom neuen Stoffparadigma der Chemie, wurden begrenzt durch die vermeintlichen Erfordernisse der Bakteriologie. Es galt zu gestalten, neu zu schaffen – zugleich aber die hygienisch heiklen Substitute der Muttermilch zu ersetzen. Künstliche Nährpräparate hatten theoretisch beträchtliche Vorteile: Sie waren gleichmäßig zusammengesetzt, wurden keimarm produziert, waren im Prinzip dauerhaft verfügbar. Die betriebliche Praxis mochte zahlreiche Probleme mit sich bringen, doch schien es möglich, Wissenschaft und Technik zum Wohl des Ganzen einzusetzen und die Kindersterblichkeit deutlich zu reduzieren.

Hier ist nicht der Ort für eine genaue Analyse der frühen Produktion künstlicher Säuglingsernährung. Grobe Konturen müssen genügen. Die Zahl der Präparate stieg seit den 1860er Jahren rasch an. Den Anfang machten Nährmittel, die auf wissenschaftlichen Theorien und Ratschlägen gründeten und sich noch an die häusliche Praxis anlehnten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die von Justus von Liebig entwickelte und propagierte Malzsuppe. Chemisch war sie ein Analogon der Muttermilch, das Rezept folgte der Logik des Laboratoriums: Die Mütter sollten einen Brei kochen, in diesen dann Kali und Malz einrühren. Kochen, sieben und verfüttern schlossen sich an. [10] Das Rezept wurde – zumal von Ärzten – sehr positiv aufgenommen, das Renommee Liebigs sorgte für allgemeine Aufmerksamkeit. Doch die Malzsuppe scheiterte rasch in der haushälterischen Praxis. Der Geschmack ließ zu wünschen übrig, die suppige Textur schien geringe Nährkraft zu suggerieren. Zudem musste die Suppe immer wieder frisch gekocht werden, war relativ teuer und nicht haltbar. Liebigs Malzsuppe scheiterte als Alltagsspeise. Ihr Grundprinzip wurde allerdings vom Stuttgarter Lizenznehmer, dem Apotheker Franz Eduard Loeflund (1835-1920), aufgegriffen, der seit 1865 Kindernährmittel produzierte und die Liebigsche Malzsuppe zu einem Nährpräparat umgestaltete. [11] Auch die Dresdener Firma J. Paul Liebe bot kurz danach einen löslichen Extrakt der Liebigschen Malzsuppe an.

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Transformation einer frischen zubereiteten Suppe in ein Fertigprodukt (Die Presse 1869, Nr. 180 v. 1. Juli, 8; Kladderadatsch 24, 1871, Nr. 1, Beibl., 2)

Der offenkundig geringe Erfolg haushaltsnaher Angebote unterstützte die Neigung vieler Ärzte und Pharmazeuten, die Alltagspraxis durch neue Produkte zu verändern. Wissenschaftliche Präparate sollten an die Stelle von risikoreicher Haushaltszubereitungen treten, sollten den Alltag nach rationalen Kriterien verändern. Nicht mehr Mutters Kochlöffel, sondern die Maschinenwelt sollte das Wohl der Kinder garantieren. Dabei lassen sich zwei Entwicklungsstränge unterscheiden. Auf der einen Seite orientierte man sich an der Milch, auf der anderen am Mehl als jeweils zentralem Bestandteil der neuen künstlichen Säuglingsnahrung. Aus Sicht der Experten lautete der Unterschied anders, ging man entweder vom Nahrungseiweiß oder aber von den Kohlenhydraten aus, um Muttermilch zu ersetzen.

Für die ersten Entwicklungsstrang stand paradigmatisch Biederts Rahmgemenge. Es war Ergebnis umfangreicher physiologischer Studien des Mediziners Philipp Biedert (1847-1916), in deren Mittelpunkt die Unterschiede zwischen menschlichen und tierischem Milcheiweiß standen. [12] An die Stelle der Tiermilchverdünnung im Haushalt mit ihren „Fäulnisschäden“ setzte er eine Rahmspeise, die – wie die Liebigsche Malzsuppe – anfangs im Haushalt hergestellt werden sollte, seit 1874 aber auch als Fertigprodukt in der Büchse gekauft werden konnte. Die neue Kindernahrung war jedoch zu teuer, konnte aufgrund der sirupartigen Textur schlecht dosiert werden und barg neue Risiken, konnte die Büchse doch nicht luftdicht verschlossen werden. Es folgten vielfältige Verbesserungen und zahlreiche Präparate mit anderer Textur und Zusammensetzung. Einen Durchbruchserfolg konnte jedoch keines erzielen, mochten sie in der ärztlichen Privatpraxis auch häufig verschrieben worden sein.

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Wissenschaftliche Werbung für Biederts Kindernahrung 1880 (Berliner klinische Wochenschrift 17, 1880, vor 237)

Während der Markterfolg der Milchpräparate gering blieb, fanden Kindermehle seit den 1860er Jahren einen deutlich breiteren Widerhall. Nestlés Kindermehl war ein heute noch bekanntes Leitprodukt, doch 1881 konkurrierten mindestens 43 verschiedene Präparate um die Gunst der Käufer. [13] Sie bestanden zumeist aus erhitzter und eingedickter Kuhmilch und vorbehandelten Getreide- und Leguminosenmehlen. Die Hitzebehandlung wandelte die Stärke in Dextrin um, erleichterte dadurch die Verdauungsarbeit des Säuglings. Die Kindermehle wurden zumeist als Brei verfüttert.

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Säuglingsernährung im antiken Athen und im damaligen München: Karikatur 1886 (Fliegende Blätter 84, 1886, 130)

Die frühen Kindernährmittel wurden meist gewerblich, noch nicht industriell gefertigt. Das erfolgte erst seit den 1890er Jahren. Doch schon zuvor handelte es sich um Fertig- und Halbfertigprodukte, die auf Grundlage wissenschaftlicher Problemdefinitionen entwickelt wurden, die regelmäßig untersucht und in einem möglichst hygienischen Umfeld hergestellt wurden. Aufgrund ihrer relativ hohen Kosten waren sie jedoch Aushilfen, konnten die bestehende Alltagspraxis nicht wirklich durchbrechen und die Kindersterblichkeit reduzieren. Auch aus diesem Grunde wurde insbesondere seit den 1880er Jahren versucht, die Präparate durch neuartige Haushaltsgeräte zu ergänzen, um so die Haushaltspraxis nach hygienischen Prinzipien umzugestalten.

Sichere Kost: Milchkonservierungsapparate als Garanten häuslicher Hygiene

Die bakteriologische Gärungstheorie formulierte seit den 1860er Jahren klare Ratschläge gleichermaßen für Haushalte und Gewerbe. Milch sollte vor dem Verzehr ausreichend erhitzt werden, um gesundheitsgefährdende Keime zu töten. [14] Folgerichtig waren die frühen Kindernährmittel durchweg hitzebehandelt und damit „sicher“. Das galt jedoch nicht für die Ernährung mit Tiermilch. Fehlende Stallhygiene, häufige Streckung mit hygienisch heiklem Wasser, fragile Transportsysteme und unausgereifte Kühltechnik waren die wichtigsten Probleme einer hochwertigen Milch, einer Reduktion der Kindersterblichkeit. [15]

07_Allgemeine Zeitung 1882_02_24_p816_Saeuglingsernaehrung_Kindermilch_Milchkuranstalt_Soxhlet_Muenchen

Milchkuranstalten als Garanten hygienischer Milch (Allgemeine Zeitung 1882, Ausg. v. 24. Februar, 816)

Aus bakteriologischer Sicht schien es entscheidend, die unvermeidliche Zersetzung der Milch entweder möglichst lange zu unterbinden oder sie gar ganz zu stoppen. Seit den 1860er Jahren gab es daher vermehrte Bemühungen, alle Elemente der Milchkette zu optimieren. Dies reichte von der Hand- und Euterpflege über die Transportbehältnisse, die Marktstände und Milchläden bis hin in die Haushalte. Einfacher und rascher wirksam schien dagegen die „Pasteurisierung“ der Milch: Sie sollte erhitzt, die Bakterien dadurch nicht allein an der Vermehrung gehindert, sondern ganz beseitigt werden. Als in den 1870er Jahren die Zahl der genossenschaftlich organisierten Molkereien rasch zunahm, zeigten sich jedoch die Probleme derart einfacher Vorschläge. Milch verändert durch Erhitzung ihren Geschmack, entsprach dann nicht mehr den Vorstellungen des zahlenden Publikums. Die technisch schwer zu steuernde Pasteurisierung wurde daher das Kennzeichen sogenannter Milchkuranstalten, die sich ihre Dienste von einem urbanen Publikum jedoch gut bezahlen ließen und über das Bürgertum nicht hinausreichten. [16]

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Kampf den Keimen: Milchsterilisierer im Haushalt (Berliner Tageblatt 1886, Nr. 55 v. 31. Januar, 22)

Mit derart exklusiven Unternehmen und einer höchst heterogen organisierten Milchversorgung war es jedoch auch aus anderen Gründen kaum möglich, eine aseptische Milchproduktion sicherzustellen. Auch der Haushalt bildete eine kaum zu kontrollierenden und nur bedingt zu beeinflussende Schwachstelle. Hygienische gewonnene „Kindermilch“ und auch pasteurisierte Angebote konnten dort unangemessen behandelt und damit zu einer Gesundheitsgefahr für die Säuglinge werden. Dies führte zu einer konsequenten Antwort: Es galt, die bakterielle Keimtötung in den Haushalt zu verlegen, sie zu verhäuslichen. Neuartige Haushaltsgeräte sollten dies garantieren, also Milchkochapparate. Wenn die Mütter schon nicht fähig oder in der Lage waren, ihre Kinder zu stillen, so sollten sie zumindest lernen, wie sie diese Geräte zu bedienen hatten und Bakterien sicher töten konnten.

Entsprechende Geräte wurden seit den 1860er Jahren empfohlen, diskutiert und entwickelt. Eine punktgenaue Erhitzung war jedoch nicht einfach. Einfaches Kochen veränderte nämlich das Milcheiweiß und verursachte dadurch Magen-Darm-Probleme. Erste Apparate mit schonenderen und doch effektiven Verfahren wurden seit den frühen 1880er Jahren angeboten, ersetzten die zuvor gängigen Milchsieder unterschiedlicher Konstruktion. Der lang erwartete Durchbruch erfolgte jedoch erst 1886. Damals präsentierte der Münchener Agrarchemiker und Tierphysiologe Franz Soxhlet (1848-1926) [17] im dortigen Ärztlichen Verein „einen Sterilisirungs-Apparat, welcher ursprünglich ein Laboratoriums-Apparat war, in der Kinderstube meiner Familie aber die Wandlung zu einem relativ einfachen Hausgeräth durchgemacht und vor seiner Empfehlung die Probe der Gebrauchsfähigkeit bestanden hatte.“ [18]

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Einzelkomponenten des Soxhlet-Apparates 1886 (Münchener Medizinische Wochenschrift 33, 1886, 277)

Soxhlet bot nicht nur einen sinnreich konstruierten Milchkocher an, sondern ein komplettes Set. Der Kochtopf hatte Einsätze für die mit Messstrichen versehenen Glasflaschen. Ein Einfüllglas, zehn Kautschukstöpsel, zehn Saugvorrichtungen, ein Spritzkautschukball zum Reinigen, ein Gestell zur Aufbewahrung der Utensilien, ein Blechtopf zum Erwärmen der Milchflaschen vor der Verfütterung sowie Reinigungsbürsten zeugten von dem beträchtlichen Aufwand, um keimarme Milch herzustellen. Die Einzelkomponenten waren nicht nur präzise gearbeitet, sondern programmierten die Zubereitung, fixierten die Einzelschritte. Nach dem Kochen wurden die Glasflaschen mit den Kautschukstöpseln verschlossen, kurze Zeit stehen gelassen, dann in kaltem Wasser gekühlt werden. Dadurch zogen sich die Verschlüsse nach innen, schützten die Milch gegen Keime in der Luft. Das Kochen erfolgte einmal täglich. Die Milchflaschen wurden an einem kühlen Ort aufbewahrt, vor der Nutzung dann in warmem Wasser leicht erwärmt. Der Stöpsel wurde schließlich entfernt, durch einen Sauger ersetzt und die Flasche dann dem Baby gereicht. [19]

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Werbung für Soxhlet-Apparate 1888 (Schmidt, 1888, 31)

Der Soxhlet-Apparat war relativ teuer, kostete zwischen 13 und 20 Mark, also etwa 1,5% eines durchschnittlichen Jahreseinkommens eines Arbeiters. Absatzdaten fehlen, doch während der späten 1880er Jahre wurden mehrere tausend Apparate an bürgerliche Haushaltungen, vor allem aber an Kinderärzte, Kliniken und Milchkuranstalten verkauft. Wichtiger noch als derartige Zahlen war die breite Akzeptanz des wirkenden Grundprinzips: Der Soxhlet-Apparat materialisierte die Erkenntnisse moderner Bakteriologie, machte Milch „rein“, beseitigte Keime und Bakterien. Zugleich reorganisierte er über Messungen und Portionierungen das häusliche Tun gemäß dem vermeintlich objektiven Wissen der Experten. Der Soxhlet-Apparat lenkte die Handlungen der Hausfrauen und Dienstboten, sicherte damit die Umsetzung wissenschaftlichen Wissens ab.

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Verbesserter Apparat, modernere Werbung 1902 (Fliegende Blätter 117, 1902, Nr. 2980, Beibl., 9)

Die meisten Mediziner reagierten positiv, teils begeistert – wenngleich ab und an begleitet von Kritik an dem geschäftstüchtigen Agrarchemiker. [20] Wie bei den meisten Innovationen gab es auch beim Soxhlet-Apparat eine Reihe praktischer Probleme, die Verbesserungen und immer neue Geräte nach sich zogen, die meist unter dem Namen der Konstrukteure vermarktet wurden. [21] Wichtiger aber war, dass sie alle das Grundprinzip einer häuslichen Milchsterilisation fortspannen, dass sie alle darauf zielten, ein keimfreies Substitut für die Muttermilch zu ermöglichen. Trotz wachsender Konkurrenz blieb der Soxhlet-Apparat im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn Marktführer – und wurde zugleich in alle führenden westlichen Staaten exportiert.

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Werbung für sterilisierte Milch vor Alpenidylle 1909 (Drogisten-Zeitung 24, 1909, Nr. 45, 1)

Allen Verbesserungen zum Trotz gelang den Milchsterilisatoren jedoch kein Durchbruch hin zum Massenmarkt. Sie blieben ein „Vorrecht der Reichen“ [22]. Das galt nicht nur für die reinen Anschaffungskosten, sondern ebenso für die Nutzung. Nur bürgerliche Haushalte verfügten über Dienstboten und Zeitreserven, um die Geräte kontinuierlich zu nutzen. Die soziale Schlagseite war offenkundig, bürgerliche Experten machten Angebote für ein vorrangig bürgerliches Klientel. Eine Breitenwirkung erforderte andere Angebote, andere Institutionen. Klinisch-institutionell entstanden nun zunehmend Milchküchen und Kindermilchstationen, die aber auf Groß- und Mittelstädte begrenzt blieben. Die Kindernährmittelindustrie reagierte mit neuen Produkten, weiterhin verbunden mit dem Versprechen, damit die ansteigenden Kindersterblichkeitsraten reduzieren zu können. [23]

Auch Soxhlet wusste um die soziale Begrenztheit seiner Angebote. Er empfahl eine Doppelstrategie: Einerseits sollten die Apparate im Haushalt weiter genutzt werden, anderseits aber forderte er bessere Milch, möglichst pasteurisiert, möglichst sauber, möglichst ohne Exkremente und Straßenstaub. [24] Entsprechend intensivierten Soxhlets Lizenznehmer die Werbung für den Apparat und intensivierten ihre Exportbemühungen, um durch höheren Absatz den Verkaufspreis senken zu können. Der „Soxhlet“ wurde dadurch ein Haushaltsname und baute seine Marktführerschaft aus, doch führende Pädiater kritisierten diese kommerzielle Offensive. [25] Die wachsende Verbreitung der Apparate führte zu keinem Rückgang der auf historischen Höchstständen liegenden Kindersterblichkeit. Dies lag gewiss an Defiziten in der Milchversorgung, lag aber auch an der mit den Konservierungsapparaten verbundenen einseitigen Fokussierung auf bakteriologische Probleme. Zugleich wurde aber immer deutlicher, dass die Keimbekämpfung neue Gesundheitsgefahren hervorrief.

Kosten des Fortschritts? Der Bedeutungsgewinn der Möller-Barlowschen Krankheit

Kindernährmittel and Milchkonservierungsapparate reduzierten die Gefahren bakteriell zersetzter Milch. Seit den 1880er Jahren wurde jedoch klar, dass die „reine“ Milch ihrerseits eine Gefahr für die Kinder sein konnte. Bereits 1859 hatte der Königsberger Mediziner Julius Otto Ludwig Möller (1819-1887) verschiedenen Krankheitsfälle nach der Verfütterung gekochter Milch beobachtet. Im Rahmen der damaligen Ätiologie interpretierte er diese als „acute Rachitis“ and veröffentlichte genaue Beschreibungen der Einzelfälle. [26] Ähnliche Beobachtungen folgten. 1871 koppelte dann der Kopenhagener Mediziner V. Intergslev die von ihm untersuchten Fälle erstmals mit Skorbut, das damals als Krankheit von Erwachsenen galt. [27] Er publizierte seine Forschungen in dänischer Sprache, doch diese wurden im Ausland nicht aufgegriffen. Anders dagegen mehrere zwischen 1878 und 1883 erschienene Aufsätze des Londoner Arztes Walter Butler Cheadle (1836-1910): Er glaubte es mit einer neuen Form von mit Rachitis verbundenem Skorbut zu tun zu haben und setzte therapeutisch auf eine Diät aus rohem Fleisch, frischer Milch und Kartoffelbrei. [28] 1883 präsentierte der britische Mediziner Thomas Barlow (1845-1945) schließlich 31 klinisch und pathologisch präzise beschriebene Fallstudien und bezeichnete das Krankheitsbild als skorbutisch. [29] Die Kinder litten unter allgemeinen Gliederschmerzen, die jede Bewegung zur Pein machten. Zugleich waren Weichteile und Extremitäten deutlich angeschwollen. Barlow führte dies auf eine falsche und einseitige Ernährung zurück, doch er wusste nicht, welche der Bestandteile der gekochten Milch die Krankheit verursachte. Die Kinder erholten sich jedenfalls rasch nach Gabe frischer Milch oder anderer Frischkost.

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Great Ormond Street Hospital, London, Wirkstätte von Thomas Barlow (r.) (Bokay, 1922, 74 (l.); http://hharp.org/%5B…%5D)

Barlows Studie lenkte die Aufmerksamkeit zahlreicher Mediziner auf die Auswirkungen gekochter Milch auf die Kindesentwicklung. Im folgenden Jahrzehnt folgten einschlägige Untersuchungen in den meisten europäischen Staaten und in den USA. In Deutschland gab 1892 der Kinderarzt Otto Heubner (1843-1926) einen ersten Überblick, konstatierte zugleich aber, dass diese „eigenthümliche Erkrankung“ [30] in Deutschland bisher kaum diskutiert worden sei. Im Gegensatz zu seinen US-amerikanischen und französischen Kollegen, die sie zumeist als Skorbut bezeichneten, sprach er wie viele europäische Mediziner von „Barlow’s Krankheit“. Er vermied dadurch vorschnelle Engführungen, denn nach seiner Meinung unterschieden sich die Symptome der neuen Kinderkrankheit deutlich von denen des Skorbutes der Erwachsenen. [31] Die meisten deutschen Ärzte teilten diese Einschätzung. Zugleich aber wollten Sie Möllers erste Beschreibung der neuen Kinderkrankheit angemessen ehren, so dass sich im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung „Möller-Barlowsche Krankheit“ durchsetzte. [32]

Deutsche Forscher trugen erst relativ spät zu den internationalen Forschungsdiskussionen bei, doch in den 1890er und 1900er Jahren nahm die Zahl einschlägiger Arbeiten rasch zu. Neue “und eigenartige Krankheiten” [33] wurden untersucht. Sie verwiesen fast durchweg auf eine enge Korrelation vom Verzehr hocherhitzter Milch und Nährpräparaten und dem Siechtum vieler Säuglinge. [34] Dennoch wurde die Milcherhitzung nicht in Frage gestellt, sondern weiterhin propagiert. Der Soxhlet-Apparat wurde verbessert, weitere Konservierungsgeräte entwickelt. [35] Das spätere Weck-System wurde 1892 patentiert. Mit ihm begann der Siegeszug der Hitzesterilisierung, des sog. Einmachens in deutschen Haushalten, während parallel Kochkisten die Zubereitungspraxis der Arbeiter preiswerter gestalten sollten. [36] Das bakteriologische Paradigma war zu dieser Zeit noch dominant. Die aus späterer Sicht recht zahlreichen Hinweise auf dessen nur begrenzten Aussagewert mündeten noch nicht in neue, breitere Denkstile. Es sollte noch fast zwei Jahrzehnte dauern, bis die Vitaminlehre eine erst wagende und dann befriedigende Antwort auf die Ursache der Möller-Barlowschen Krankheit gab.

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Erste akute Krankheitsphase: Schwellungen an Gliedmaßen und im Gesicht (Bendix, 1913, 129 (l.); n. 128)

Die frühe deutsche Debatte gründete auf insgesamt fast 800 Einzelfällen, zumeist beobachtet in anderen europäischen und später dann nordamerikanischen Staaten. [37] Die Zahl der klinischen Fälle blieb vergleichsweise niedrig, erreichte ihren Höhepunkt 1902 mit 34 Berliner Erkrankungen. Im Gegensatz zu den frühen britischen Beobachtungen trat die Möller-Barlowsche Krankheit im Deutschen Reich fast ausschließlich bei bürgerlichen Kinder auf – ein wichtiger Grund für ihre recht hohe Bedeutung in der Forschung. [38] Die meisten Kinder waren sechs bis achtzehn Monate alt, die Ärzte wurden aufgrund innerer Blutungen und Druckschmerz konsultiert. Die „Kinder schreien schon aus Angst vor und noch mehr bei jedem Versuch, sie aufzunehmen, sie umzukleiden, zu baden; sie vermeiden es, ihre Glieder activ in Bewegung zu bringen, liegen wie gelähmt da, halten bestimmte Stellungen stundenlang inne, ohne sich zu rühren“ [39]. Arme, Beine und das Gesicht waren angeschwollen, die entzündeten Knochen schmerzten beträchtlich. Fast keines der betroffenen Kinder wurde gestillt. Die herbeigerufenen Ärzte änderten zumeist ihre Ernährung – und die meisten der kleinen Patienten erholten sich rasch.

Die Möller-Barlowsche Krankheit wurde in Deutschland von Beginn an mit dem Konsum von Kindernährmitteln und gekochter Milch in Verbindung gebracht. [40] Einseitige Ernährung mit Kindermehlen hatte allerdings nur sehr selten derart schmerzhafte Konsequenzen. Die meisten Krankenfälle waren mit dem Konsum erhitzter Milch verbunden: „The loss of certain fresh properties in the milk, through heating it, is one of the most important causes of this affection, and other important factors are insufficient feeding and monotony in diet“ [41]. Es war offenkundig, dass die Milchbestandteile durch Erhitzung chemisch modifiziert wurden, doch trotz breiter Forschung konnte man diese nicht genau benennen. [42] Es war offenkundig, das die neue „wissenschaftliche“ Ernährung der Kinder Tücken hatte, gefährlich, gar tödlich sein konnte. Adolf Baginsky (1843-1918), führender Berliner Pädiater, warnte eindringlich: „Es tritt neuerdings das Bestreben hervor, den Kindern eine absolut steril gemachte Milch zu verabreichen. Dieses Vorgehen halte ich für die Ernährung der Kinder für gefährlich. Es darf in der That nicht auf diesem Wege weiter geschritten werden, sonst wird die Barlow’sche Krankheit viel mehr um sich greifen, als dies bisher gewesen ist.“ [43] Allerdings konnte auch er die einfache Gegenfrage nicht überzeugend beantworten: Wenn gekochte Milch potenziell gefährlich war, warum war dann die Zahl der Krankheitsfälle so gering? Aus heutiger Sicht ist die Antwort einfach: Kindernährmittel und auch sterilisierte Milch waren keineswegs so sicher und verlässlich wie dies die Werbung versprach. [44] Produktions- und Vertriebsmängel hatten den Nebeneffekt, dass nicht alle B- und C-Vitamine zerstört wurden. Zudem war unter den deutschen Ärzten Mitte der 1890er Jahre unbestritten, dass Hitzesterilisierung tausende von Kinderleben rettete – und das Glück der großen Zahl war ein Argument für den Soxhlet-Apparat, mochte dieser auch gefährliche Nebeneffekte haben. [45]

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Selbststillen und dessen Kommerzialisierung: Werbung für Lactagol (Der Bazar 50, 1904, 370)

Entsprechend war das wichtigste Ergebnis der deutschen Forschungsdebatte über die Möller-Barlowsche Krankheit eine intensivere Stillpropaganda: „Nieder mit dem Soxhlet! Hoch die Brüste!“ [46] war ein damals populärer Slogan. Obwohl eugenische Dystopien die zunehmende Unfähigkeit der Frauen zum Stillen beschworen, betrug deren Anteil an den Gebärenden relativ stabil etwa fünf Prozent. [47] Die Stillpropaganda der Jahrhundertwende stand gegen die rasch wachsende Kindernährmittelindustrie. Ausländische Anbieter, etwa die britische Anglo-Swiss Condensed Milk Company oder die schweizer Nestlé galten als Negativsymbole für die allgemeine Kommerzialisierung des menschlichen Daseins. Die deutschen Hersteller blieben demgegenüber klein, waren mittelständisch geprägt. Es war jedoch abermals Franz von Soxhlet, der 1893 einen standardisierten Milchzucker entwickelte, den er als „Nährzucker“ breit vermarktete. Der Kampf zwischen Ärzten und Produzenten war denn auch kein grundsätzlicher Kampf um gesundheitliche Gefahren, sondern eher einer um die Dominanz auf dem Markt der Säuglingsernährung. Die „modernen“ Kindernährmittel – 1914 gab es im Deutschen Reich allein etwa einhundert Kindermehle [48] – boten den Käufern Alternativen zur tradierten Art häuslicher Säuglingspflege und der doch recht teuren Behandlung durch Ärzte und in Krankenhäusern. Kaum verwunderlich waren diese öffentlich geführten Debatten häufig antikapitalistisch aufgeladen. Auch sozialdarwinistische Positionen gewannen an Bedeutung. Für viele Eugeniker führten Kindernährmittel und hitzesterilisierte Milch zu wachsender Verweichlichung und dem Überleben geringwertiger Kinder. Verbesserte Hygiene war gewiss erforderlich, doch eine hohe Kindersterblichkeit erschien auch als ein Garant für eine starke und robuste deutsche Nation. [49]

16_Ueber Land und Meer_081_1898-99_Nr05_sp_Saeuglingsernaehrung_Kindernaehrmittel_Mellin_Amerikanisierung

Ausländische Angebote für deutsche Kleinkinder (Über Land und Meer 81, 1898/99, Nr. 5, s.p.)

All diese Kämpfe und Debatten konnten jedoch nicht die Tatsache überdecken, dass die moderne Medizin um die Jahrhundertwende nicht in der Lage war, eine kausale Erklärung für die Möller-Barlowsche Krankheit zu geben. Sie blieb ein „Rätsel“ [50]. In den USA wurde sie als eine Art von Skorbut verstanden und untersucht, während deutsche Forscher diese Annahme immer wieder kritisierten und sie stattdessen mit Rachitis in Verbindung brachten. [51] Andere Wissenschaftler waren dagegen – gemäß dem dominanten bakteriologischen Paradigma – überzeugt, dass die Möller-Barlowsche Krankheit durch ein Bakterium verursacht würde, das lediglich einzelne Kinder berühre. [52]

Erfolgreiche Therapie und rätselhafte Ursachen

Das Rätsel der Möller-Barlowschen Krankheit war auch deshalb besonders fordernd, weil die Therapie einfach und fast immer erfolgreich war. Einmal entdeckt und diagnostiziert, gab es kaum eine andere innere Krankheit, „wo die Therapie einen solch wunderbaren Erfolg hat wie hier.“ [53] Nötig war eine Umstellung der Ernährung: „Die Mehlpräparate und die künstlichen Milchpräparate sind vor Allem ganz aus der Kost zu entfernen.“ [54] Rohe oder nur kurz aufgekochte Milch, frisch gepresster Fleischsaft, Fruchtsaft, Gemüse, eine Hühnerbrühe oder aber Kartoffelmus wurden stattdessen gereicht. [55] All dies führte „to a complete revolution in the objective and subjective condition of the patient. Severe conditions and menacing appearances diminish in an almost magical manner.“ [56] Für die Babys und ihre Angehörigen war der rasche therapeutische Erfolg entscheidend, nicht jedoch für die Wissenschaftler. Sie versuchten mit Verve mehr über die mysteriöse Krankheit zu lernen. Kein Detail des Krankheitsverlaufs sollte vergessen werden, galt es doch die Ursache ausfindig zu machen. Die deutschen Forscher nutzten die modernste Medizinaltechnik ihrer Zeit, um Fortschritte zu erzielen. Mit Hilfe der ab 1896 verfügbaren Röntgenapparate wurden die entzündeten Knochen analysiert.

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Ein Blick ins Innere des Körpers: Röntgenbild eines Oberschenkels nach viermonatiger unbehandelter Möller-Barlowscher Krankheit (Salge, 1910, 335)

Während die Zahl der Krankheitsfälle langsam zurückging, wurden die erkrankten Kinder immer genauer untersucht. [57] Anatomische Zeichnungen und zahlreiche Photographien ermöglichten genauere und frühere Diagnosen. [58]

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Typische innere Blutungen eines erkrankten dreijährigen Kindes (Feer, 1922, 75)

Zudem wurde die Möller-Barlowsche Krankheit in zahlreichen Tierversuchen künstlich erzeugt – doch ohne das interpretative Wissen der noch nicht etablierten Vitaminforschung half derartiges empirisches Material nicht bei des Rätsels Lösung.

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Makakenaffe mit hämorrhagischem Ödem (Hart und Lessing, 1913, Tafel XIII)

Während die Wissenschaft weiter nach einer kausalen Ursache der Krankheit forschte, veränderten sich die Märkte für Kindernährmittel und auch die alltägliche Säuglingsernährung. Obwohl die Ärzte die Hitzesterilisierung der Milch fast durchweg als ein unaufgebbares Element einer gesunden und sicheren Kinderernährung empfahlen, warnten sie zunehmend vor einer alleinigen Ernährung mit gekochter Milch und Kindermehlen. Zunehmend hieß es, „daß alle Künsteleien in der Säuglingsernährung zu meiden sind, und daß die Sterilisation der Milch nicht zu weit getrieben und der Soxhletgebrauch im Hause nicht zu lange ausgedehnt werden soll.“ [59] Maß und Mitte schienen angemessen, solange die Wissenschaft die Krankheitsursache nicht gefunden hatte.

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„Frische“ abgekochte Milch oder Neue Milchkonservierungsapparate (Fliegende Blätter 135, 1911, Nr. 3445, Beil., 9)

Sollte es nicht möglich sein, Kindernährmittel und gekochte Milch zu vermeiden, so sollte zugleich ab und an „frische“ Kost gereicht werden. Darunter verstand man rohe oder nur kurz erhitzte Milch, Obstzubereitungen und Gemüse. Zugleich wurde den Konsumenten empfohlen, die Kochdauer im Soxhlet von vierzig auf zehn Minuten zu reduzieren. [60] Festzuhalten ist, dass sich schon vor der „Vitaminrevolution“ das Alltagshandeln und auch die Empfehlungen wandelten – dazu bedurfte es nicht einer umstürzenden Veränderung in den wissenschaftlichen Modellen einer allein stofflich zu erfassenden Welt.

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Pionier der Produktion preiswerter pasteurisierter Milch: Die Berliner Meierei Bolle 1905 (Friedel und Keller (Hg.), 1914, 116)

Vielleicht noch wichtiger waren die schon deutlich früher einsetzenden Debatten über die Hitzesterilisierung der Milch. [61] Carl Bolle (1832-1910), der mit Abstand wichtigste Hersteller von Milch und Milchprodukten in Berlin, war schon früh davon überzeugt, dass die Möller-Barlowsche Krankheit durch eine zu lange Erhitzung der Milch hervorgerufen wurde. Kurz nach der Jahrhundertwende hatte er Fütterungsexperimente mit Meerschweinchen finanziert und wurde dadurch, seiner Ansicht nach, bestätigt. [62] Aus diesem Grunde begann er in seinem Unternehmen Milch lediglich zu pasteurisieren. [63] Dies war erst einmal kostenträchtig, denn die neue Technologie war anfangs nicht einfach zu handhaben. Es galt, kurzfristig eine Temperatur von über 70 Grad sicher einzuhalten, die Milch aber eben nicht zu kochen. Bakterien konnten so abgetötet, die unbekannten Kochschäden der Milch vermieden werden. Da jedoch eine wachsende Zahl von Kunden und auch Wissenschaftlern von gekochter Milch als „Gift“ sprachen, schien ein technologischer Wandel angeraten zu sein. [64] Eine Zwangspasteurisierung der Milch wurde im Deutschen Reich jedoch erst durch das Milchgesetz von 1930 eingeführt.

Keine Selbstkritik: Neue Wege der Säuglingsernährung unter dem Vitamin-Paradigma

Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis im Deutschen Reich die Existenz der „Vitamine“ allgemein akzeptiert wurde, also einer neuen Stoffklasse, die 1911 durch den russischen Biochemiker Casimir Funk (1884-1967) erstmals benannt wurde. [65] Entsprechend dauerte es eine ganze Weile, bis die Möller-Barlowsche Krankheit als Vitamin-C-Mangelkrankheit und eine infantile Form des Skorbuts, als Säuglingsskorbut, klassifiziert wurde. Die lange Zeit weltweit führenden und in der Ideenwelt der Kalorienlehre und der Bakteriologie sozialisierten deutschen Forscher benötigten etwa ein Jahrzehnt um zu realisieren, dass ihr Modell der materiellen Welt viel zu einfach und als solches vielfach irreführend gewesen war. Für die Therapie der Möller-Barlowschen Krankheit, die während des Weltkrieges und der weiter bestehenden völkerrechtswidrigen Blockade des Deutschen Reiches wieder häufiger auftrat, hatte dieses keine unmittelbaren Konsequenzen. [66] Seit den frühen 1920er Jahren nahmen die medizinischen Lehrbücher die neue Vitaminlehre langsam auf, nach der einige Vitamine durch Hitze beschädigt und zerstört werden konnten – und das Kinder durch einseitige Ernährung mit einschlägig produzierten Kindermehlen und vor allem gekochter Milch Schaden nehmen, krank werden und sogar sterben konnten. [67] Seit den frühen 1930er Jahren wurde die Möller-Barlowsche Krankheit dann Teil der Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte der Medizin und der Biochemie: Nun hieß es, dass die krankhaften Veränderungen der Knochen, der Einsatz von Röntgentechnologie und eine detaillierte Kasuistik dazu geführt hätten, die ehedem rätselhafte Krankheit als eine Vitaminmangelkrankheit auszumachen. [68] Die neue Vitaminlehre wurde in den 1920er Jahren insbesondere von den urbanen Mittelschichten allgemein akzeptiert, leitete zunehmend die öffentliche Ernährungsberatung. Die Möller-Barlowsche Krankheit wurde selten, fand sich lediglich noch bei den Ärmsten, bei denen, die auf Fürsorgezahlungen angewiesen waren und sich „frische“ Milch, Obst und Gemüse kaum leisten konnten. [69]

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Pasteurisierte Milch für propere Babies. Werbung für Wecks Gramma-Sterilisator 1927 (Weck (Hg.), 1927, 1)

Neue Säuglingskost und Milchkonservierungsapparate gewannen weiter an Bedeutung und waren ein wichtiger Faktor für die Verringerung der Kindersterblichkeit im 20. Jahrhundert. Auf Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse wurde der Produktionsprozess verändert und die Erhitzungszeiten weiter reduziert. Die neuen Produkte waren, so die allgemein akzeptierte Meinung, mit vitaminreicher “Frischkost” zu verbinden. Die gemäß eines einseitigen medizinischen Wissens und entsprechender unternehmerischer Praxis genährten, dann erkrankten und teils verstorbenen Kleinkinder waren aus dieser Sicht eine Art Preis, der für diese Verbesserungen zu zahlen war.

Aus meiner Sicht stellt die hier kurz vorgestellte Geschichte der Möller-Barlow-Krankheit Narrative des Fortschritts jedoch strukturell in Frage. Sie präsentiert Wissenschaft und Gesellschaft in Aktion. Sie erzählt etwas über die Grenzen von Expertensystemen, die immanenten Gefahren jeglicher Arbeitsteilung, über strukturelle Gewalt, die in das Gefüge moderner Wissensgesellschaften eingewoben ist. Sie erinnert uns an den hohen Preis auch des Fortschritts, mag diesen Fortschritt auch niemand missen wollen: “Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.” [70]

Uwe Spiekermann, 20. Juli 2020

Quellen und Literatur

[1] Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 31-37.
[2] Kurt Hoesch, Emil Fischer. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1921, 140.
[3] Spiekermann, 2018, 86-103.
[4] Arthur E. Imhof, Unterschiedliche Säuglingssterblichkeit in Deutschland, 18. bis 20. Jahrhundert – Warum?, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 7, 1981, 343-382.
[5] Jörg Vögele, Sozialgeschichte städtischer Gesundheitsverhältnisse während der Urbanisierung, Berlin 2001.
[6] Samuel J. Fomon, Infant Feeding in the 20th Century: Formula and Beikost, Journal of Nutrition 131, 2001, 409S-420S.
[7] I[sidor] Rosenthal, Vorlesungen über die öffentliche und private Gesundheitspflege, Erlangen 1887, 11.
[8] Paul Zweifel, Untersuchungen über den Verdauungsapparat der Neugeborenen, Berlin 1874.
[9] Vgl. A[gnes] Bluhm, Stillfähigkeit, in: A[lfred] Grotjahn und I[gnaz] Kaup (Hg.), Handwörterbuch der Sozialen Hygiene, Bd. II, Leipzig 1912, 555-570, die auch die eugenischen Bedeutung dieser Statistiken diskutiert.
[10] Justus v. Liebig, Suppe für Säuglinge, 3. erw. Aufl., Braunschweig 1877.
[11] Armin Wankmüller, Die Firma Eduard Löflund & Co., Stuttgart, in: ders. (Hg.), Beiträge zur Württembergischen Apothekengeschichte, Bd. VIII, Tübingen 1968-70, 13-15.
[12] Vgl. Emil Görgen, Philipp Biedert und seine Bedeutung in der deutschen Pädiatrie, Düsseldorf 1939; Dorothee Vaupel, Philipp Biedert (1847-1916). Leben, Werk, Wir¬kung, Med. Diss. Hanover 1993 (Ms.).
[13] [Albert] Villaret, Von der Hygiene-Ausstellung, Berliner klinische Wochenschrift 20, 1883, passim, hier 735.
[14] Vgl. etwa Verhaltensmassregeln zur Verhinderung der Sterblichkeit neugeborner Kinder, Wiener Medizinische Wochenschrift 19, 1869, Sp. 977-980, 993-995.
[15] Th[eodor] Escherich, Ueber die Keimfreiheit der Milch nebst Demonstration von Milchsterilisirungs-Apparaten nach Soxhlet’schem Princip, Münchener Medizinische Wochenschrift 36, 1889, 783-785, 801-805, 824-827. Einen Überblick bietet Uwe Spiekermann, Zur Geschichte des Milchkleinhandels in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Helmut Ottenjahn und Karl-Heinz Ziessow (Hg.), Die Milch. […], Cloppenburg 1996, 91-109, insb. 95-98.
[16] Fr[iedrich] Dornblüth, Die Milchversorgung der Städte und ihre Reform, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 12, 1880, 413-424.
[17] Anton Mößmer, Beitrag zur Säuglingsernährung vor 100 Jahren. Erinnerungen an Franz von Soxhlet, Der Kinderarzt 15, 1984, 1203-1210.
[18] F[ranz] Soxhlet, Ein verbessertes Verfahren der Milch-Sterilisirung, Münchener Medizinische Wochenschrift 38, 1891, 335-339, 353-356, hier 335. Vgl. auch Ders., Ueber Kindermilch und Säuglings-Ernährung, Münchener Medizinische Wochenschrift 33, 1886, 253-256, 276-278.
[19] J.S. Fowler, Infant Feeding. Practical Guide to the Artificial Feeding of Infants, London 1909, 40-41.
[20] Discussion über den Vortrag des Prof. Dr. Soxhlet: Ueber ein verbessertes Verfahren der Milchsterilisirung, Münchener Medizinische Wochenschrift 38, 1891, 431 (Ranke); Ferdinand Frühwald und Hochsinger, „Ueber den Soxhlet’schen Milchkochapparat.“, Hebammen-Zeitung 3, 1889, 25-28.
[21] Vgl. etwa W. Hesse, Dampf-Sterilisierungsapparat für Laboratorium und Küche, […], Deutsche Medizinische Wochenschrift 14, 1888, 431-432; Oskar Israel, Zu Soxhlet’s Milchkochapparat, Berliner klinische Wochenschrift 26, 1889, 640-641; A[lexander] Hippius, Ein Apparat zum Sterilisiren der Milch im Hause, Berliner klinische Wochenschrift 27, 1890, 1048-1051.
[22] [Walter] Birk, Die Bedeutung der Milch als Nahrungsmittel, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 36, 1925/26, 321-328, hier 323.
[23] Vgl. [Alexander] Backhaus, Die Herstellung von Kindermilch. […], Wochenblatt des Landwirthschaftlichen Vereins im Großherzogthum Baden 1895, 632-636.
[24] F[ranz] Soxhlet, Ueber Milchverfälschung und Milchverunreinigung, Münchener Medizinische Wochenschrift 38, 1891, 537-538, hier 538.
[25] Vgl. etwa Adalbert Czerny, Die Pädiatrie meiner Zeit, Berlin 1939, 40-41.
[26] J[ulius] O[tto] L[udwig] Möller, Acute Rhachitis, Königsberger Medizinische Jahrbücher 1, 1859, 377-379; Ders., Zwei Fälle von acuter Rachitis, Königsberger Medizinische Jahrbücher 3, 1862, 136-149.
[27] Philip R. Evans, Infantile scurvy: the centenary of Barlow’s disease, British Medical Journal 287, 1983, 1862-1863. Vgl. auch Elizabeth Lomax, Difficulties in Diagnosing Infantile Scurvy before 1878, Medical History 30, 1986, 70-80.
[28] Kumaravel Rajakumar, Infantile Scurvy: A Historical Perspective, Pediatrics 108, 2001, E76. Detaillierter, manchmal allerdings anekdotenhaft ist Kenneth J. Carpenter, The History of Scurvy and Vitamin C, Cambridge et al. 1986, 158-172; Annemarie de Knecht-Van Eekelen, Naar een rationele Zuigelingenvoeding. Voedingsleer en Kindergeneeskunde in Nederland (1840-1914), Nijmegen 1984, 158-165.
[29] Thomas Barlow, On cases described as ‘acute rickets’ which are possibly a combination of rickets and scurvy, the scurvy being essential and the rickets variable, Medico-Chirurgical Transactions 66, 1883, 159-220.
[30] O[tto] Heubner, Ueber die scorbutartige Erkrankung rachitischer Säuglinge (Barlow’sche Krankheit), Jahrbuch für Kinderheilkunde 34, 1892, 361-368, hier 361.
[31] W[ilhelm] v. Starck, Infantile Scurvy, in: M[einhard] Pfaundler und A[rthur] Schlossmann (Hg.), The Diseases of Children, Bd. 2, Philadelphia und London 1912, 192-201, hier 192.
[32] H[arald] Hirschsprung, Die Möller’sche Krankheit. (Synon.: ‘Acute Rachitis’. Scorbut bei Kindern. Barlow’sche Krankheit. Cheadle-Barlow’sche Krankheit etc.), Jahrbuch für Kinderheilkunde 41, 1896, 1-43.
[33] N[athan] Zuntz, Über neuere Nährpräparate in physiologischer Hinsicht, Berichte der Deutschen Pharmaceutischen Gesellschaft 12, 1902, 363-381, hier 377.
[34] Ed. Meyer, Ueber Barlow’sche Krankheit, Berliner klinische Wochenschrift 33, 1896, 85-86; Hamburg, Ueber die Zusammensetzung der Dr. Riethschen Albumosemilch und deren Anwendung bei Kindern und Erwachsenen, Berliner klinische Wochenschrift 33, 1896, 785-790, hier 787-788.
[35] O[tto] Heubner, Lehrbuch der Kinderheilkunde, Bd. I, Leipzig 1903, insb. 67.
[36] Vgl. Uwe Spiekermann, Zeitensprünge. Lebensmittelkonservierung zwischen Industrie und Haushalt 1880-1940, in: Katalyse und Buntstift (Hg.), Ernährungskultur im Wandel der Zeit, Köln 1997, 30-42.
[37] Arthur Dräer, Die Barlow’sche Krankheit. Kurze Zusammenstellung der bisher über diese Krankheit gesammelten Erfahrungen, Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 14, 1895, 378-387, hier 378.
[38] [Wilhelm] v. Starck, Zur Casuistik der Barlow’schen Krankheit, Jahrbuch für Kinderheilkunde 37, 1894, 68-71; Carl Seitz, Kurzgefasstes Lehrbuch der Kinderheilkunde, 2. erw. u. überarb. Aufl., Berlin 1901, 278.
[39] Otto Hauser, Grundriss der Kinderheilkunde mit besonderer Berücksichtigung der Diätetik, Berlin 1894, 316.
[40] Unger, Rez. v. Cassel, Ein Fall von Scorbut bei einem 1¾ Jahre alten Kinde, AfK 15, 1893, Jahrbuch für Kinderheilkunde 36, 1893, 499-500, hier 500.
[41] Starck, 1912, 197. Ähnlich Hauser, 1894, 317.
[42] [Wilhelm] v. Strack, Barlow’sche Krankheit und sterilisirte Milch, Münchener Medizinische Wochenschrift 42, 1895, 976-978, hier 976.
[43] Meyer, 1896, 86 (Baginsky).
[44] Johannes G. Altendorf, Sterilisirung der Milch in Einzelportionen mittels des neuen Soxhlet’schen und des Olldendorff’schen Verschlusses, Bonn 1892, insb. 10-13; Andr. Carstens, Ueber Fehlerquellen bei der Ernährung der Säuglinge mit sterilirter Milch, Jahrbuch für Kinderheilkunde 36, 1893, 144-160, hier 144.
[45] Milch-Sterilisir-Apparat, Bregenzer Tagblatt 1895, Nr. 2816 v. 7. Juni, 3.
[46] Ferdinand Hueppe, Frauenmilch und Kuhmilch in der Säuglingsernährung, Deutsche Medizinische Wochenschrift 33, 1907, 1597-1603, hier 1597.
[47] Diese Angabe n. Koiti Shibata, Ueber die Häufigkeit des Stillungsvermögens und die Säugungserfolge bei den Wöchnerinnen der kgl. Universitäts-Frauenklinik zu München in den Jahren 1884 bis Ende 1887, Med. Diss. Munich 1891, während G[ustav] v. Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen ihre Kinder zu stillen. Ein Vortrag, Nachdruck der 5. Aufl., Munich 1907 ein Bestseller wurde.
[48] Max Klotz, Die Bedeutung der Getreidemehle für die Ernährung, Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde 8, 1912, 593-696, hier 682.
[49] Graßl, Ueber die Kindersterblichkeit in Bayern, Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 66, Beil., 521-524, hier 521-522.
[50] B[ernhard] Bendix, Die Barlow’sche Krankheit und ihre Behandlung, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 4, 1907, 33-40, hier 38.
[51] Alfred F. Hess, Scurvy. Past and Present, Philadelphia und London 1920, 14.
[52] Vgl. L[ivius] Fürst, Infantiler Scorbut oder hämorrhagische Rhachitis? Berliner klinische Wochenschrift 32, 1895, 389-393, hier 392; Klautsch, Ref. v. Baron: Zur Frage der Möller(Barlow)’schen Krankheit, MMW 1898, Nr 18/19, Der Kinder-Arzt 9, 1898, 204-205.
[53] E[mil] Feer, Diagnostik der Kinderkrankheiten mit besonderer Berücksichtigung des Säuglings, 2. erw. und verb. Aufl., Berlin und Heidelberg, 1922, 75.
[54] Heubner, 1892, 368.
[55] Hauser, 1894, 317; Seitz, 1901, 279.
[56] Starck, 1912, 200.
[57] Rudolf Manz, Beiträge zur Kenntnis der Möller (Barlow’schen) Krankheit, Med. Diss. Heidelberg 1899; J[ohannes] Schoedel und C[ölestin] Nauwerck, Untersuchungen über die Möller-Barlow’sche Krankheit, Jena 1900; Eugen Schlesinger, Zur Symptomalogie der Barlowschen Krankheit, Münchener Medizinische Wochenschrift 52, 1905, 2073-2075
[58] R[udolf] Hecker und J[osef] Trumpp, Atlas und Grundriss der Kinderheilkunde, München 1905, 126, 130-131.
[59] Bendix, 1907, 40.
[60] H[einrich] Finkelstein, Sammelreferate über neuere Erfahrungen in der Säuglingsernährung, Die Therapie der Gegenwart 45, 1904, 73-80, hier 75.
[61] Th. Homburger, Die jüngsten Fortschritte und der heutige Stand der Kinderheilkunde, Therapeutische Monatshefte 15, 1901, 27-31.
[62] C[arl] Bolle, Zur Therapie der Barlow’schen Krankheit, Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie 6, 1903, 354-356, hier 355-356.
[63] Dies war eine Debatte mit langer Vorgeschichte, vgl. Rowland Godfrey Freeman, Should all Milk used for Infant Feeding be heated for the Purpose of Killing Germs? If so, at what Temperature and how long continued? Archives of Pediatrics 15, 1898, 509-514.
[64] [Robert] Ostertag, Wie hat sich die Gesundheitspolizei gegenüber dem Verkauf pasteurisierter Milch zu stellen?, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 15, 1905, 293-295.
[65] Alex[ander] Lipschütz, Die Vitamine, Allgemeine Zeitung 1917, Ausg. v. 20. Mai, 210-211. Zur Geschichte s. Uwe Spiekermann, Bruch mit der alten Ernährungslehre. Die Entdeckung der Vitamine und ihre Folgen, Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen H. 4, 1999, 16-20.
[66] F[riedrich] Göppert und L[eo] Langstein, Prophylaxe und Therapie der Kinderkrankheiten, Berlin 1920, 192.
[67] H[einrich] Finkelstein, Lehrbuch der Säuglingskrankheiten, Bd. 1, 2. vollst. überarb. Aufl., Berlin und Heidelberg 1921, 357; P[aul] György, Der Skorbut im Säuglings- und Kinderalter, in: W[ilhelm] Stepp und ders. (Hg.), Avitaminosen und verwandte Krankheitszustände, Berlin und Heidelberg 1927, 403-459, hier 437-438; C. Seyfarth, Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, Bd. 2, 31. und 32. vollst. überarb. Aufl., Berlin 1934, 354.
[68] Walter Freund, Skorbut im Säuglingsalter (Möller-Barlowsche Krankheit) und im Kindesalter, in: M[einhard] Pfaundler und A[rthur] Schlossmann (Hg.), Handbuch der Kinderheilkunde, 4. Aufl., Bd. 1, Berlin 1931, 812.
[69] Julius Zapfert, Soziologie der Säugingskrankheiten, in: A[dolf] Gottstein, A[rthur] Schlossmann und L[udwig] Teleky (Hg.), Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge, Bd. 5, Berlin 1927, 556-614, hier 593; Freund, 1931, 820.
[70] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Theodor W. Adorno und ders., Integration und Desintegration, Hannover 1976, 33-46, hier 38.

„Was hat das 19. Jahrhundert gebracht?“ – Gedicht, Bilder und Kommentare

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Fortschritt und Emanzipation als Ziele des neuen Jahrhunderts (Lustige Blätter 15, 1900, Nr. 1, 1)

Anfang Januar 1900 war durchaus vergnüglich. Natürlich nicht im offiziellen Berlin. Die Neujahrsansprache Kaiser Wilhelm II. an die Offiziere der Garnison kritisierte den „Gamaschendienst“ der preußischen Armee um 1800, das ehedem „in Luxus und Wohlleben und thörichter Selbsterhebung“ verkommene Offizierskorps. Die Reorganisation des Landheeres sei Grundlage der vom Heer errungenen deutschen Einheit gewesen, nun werde er ähnliches mit der Marine vornehmen (Berliner Tageblatt 1900, Nr. 1 v. 2. Januar, 1). In Berlin hatte es zuvor eine von Hunderttausenden frequentierte Silvesterfeier gegeben: „Nach elf Uhr strömten aus den Theatern, Tingeltangels und Kaffeehäusern neue Schaaren auf die Straßen, und das Wetter war auch wie geschaffen zum Lustwandeln; denn infolge der Dunkelheit und des unerhörten Gedränges bemerkte man nicht, wie wenig erfreulich die unteren Partien der Kleidung sich rasch infolge des centimeterhoch auf den Straßen liegenden Schmutzes gestalteten, sondern man erfreute sich an der milden Luft und an dem prachtvollen Sternenhimmel“ (Berliner Tageblatt 1900, Nr. 1 v. 2. Januar, 1). Es folgten Schüsse der Gardeartillerie. Fanfarenklänge der festlich geschmückten Stadtkapelle begrüßten das neue Jahr, das neue Jahrhundert. All das war begleitetet vom rituellen Kampf gegen die Zylinder – Wichskopp! Wichskopp! –, doch die in kolossaler Stärke angerückte Polizei hielt den Schabernack im Rahmen.

Neujahr kam, der Kater, der Alltag. Und doch, es gab ein nettes Aperçu: Zuerst in der Hauptstadtpresse, dann auch in den Provinzen, zuerst in Zeitungen, dann auch in den Zeitschriften konnte man einen Abschiedsgesang auf das 19. Jahrhundert lesen, eine Art Leistungsbilanz. Was hat das 19. Jahrhundert gebracht? – So fragte ein rhythmisch-stakkatohaftes Gedicht. Darin dominierten Errungenschaften, die das Deutsche Reich zu einem Machtstaat, zugleich aber zu einer Konsumgesellschaft gemacht hatten, beides präsent bei der Feier der Jahrhundertwende. Es war mit einem Lächeln geschrieben, mit Sinn für die Eitelkeiten der Zeit, für die Abwege des Alltags. Anders als seine Majestät widmete es sich aber nicht den ach so großen Themen der Zeit, sondern ihrer Dynamik, dem immer voran Drängenden – und schlug damit durchaus einen Bogen bis heute. Die Nervosität der Zeit wurde deutlich, doch es waren Vibrationen der bürgerlichen Zivilgesellschaft, der ungestüm vorandrängenden urbanen Marktgesellschaft, die so in Reime gegossen wurden (mehr hierzu bietet Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, hg. v. Ute Frevert, Göttingen 2000; Visionen der Zukunft um 1900. Deutschland, Österreich, Russland, hg. v. Sergej Taskenov und Dirk Kemper, Paderborn 2014).

Das 19. Jahrhundert hat die Grundlagen unseres Wohlstandes, unserer Art des Lebens geschaffen – doch in der Öffentlichkeit spielt es kaum mehr eine Rolle, ist im Großen und Ganzen vergessen. Daher folgt dem Gedicht ein zweiter Reigen, einer mit Abbildungen aus dieser Zeit. Das kommt nicht so eingängig-nett daher wie diese Alltagspoetik, kann Ihnen aber vielleicht diese Zeit plastischer vor Augen führen und eventuell auch Lehrer ermutigen, dem 19. Jahrhundert abseits der Gründung des kleindeutschen Reiches und der Industrialisierung Konturen zu verleihen und auf Geschichte neugierig zu machen. Doch nun erst einmal Platz für den unbekannten Autor und seinen Betrag zur Jahrhundertwende 1900:

„Was hat das neunzehnte Jahrhundert gebracht?

Was wir sahn in hundert Jahren,
sollt prägnant ihr hier erfahren:
Neue Reiche, neue Staaten,
Gasbeleuchtung, Automaten,
Emancipation der Neger,
Wollregime von Dr. Jäger,
Seuchen, Revolutionen,
Kaffee ohne Kaffeebohnen,
Ansichtskartensammelwuth,
Weine ohne Traubenblut,
Biere ohne Malz und Hopfen,
Magenpumpe, Hoffmannstropfen,
Dichtungen von Schiller, Goethe,
Kriege, Krisen, Hungersnöthe,
Deutsche Zollvereinigung,
Dampflatrinenreinigung,
Impfzwang, Repetirgewehre,
Amateure und Masseure,
Vielerlei Assecuranzler,
Deutschen Kaiser, Deutschen Kanzler,
Deutsches Heer und Deutsche Flotte,
Anarchistische Complotte,
Pulver ohne Knall und Rauch,
Deutsche Colonien auch,
Nihilistenattentate,
Rothes Kreuz, Brutapparate,
Brod- und Wurst- und Weinfabriken,
Oertel-Curen für die Dicken,
Streichhölzer und Eisenbahnen,
Heines Lieder, Freytags „Ahnen“,
Telegraphen mit und ohne
Leitungsdrähte, Telephone,
Auch Torpedos, rasch versenkbar,
Flugmaschinen, beinah lenkbar,
Reblaus-, Schildlausinvasion,
Rotationsdruck, Secession,
Bahnhofsperre (läst‘ge Fessel!),
„Fuhrmann Henschel“, „Weißes Rössel“,
Chloroform, Antipyrin,
Morphium, Phenacetin,
Vegetarierkost — o jerum!
Diphtherie-, Pest-, Hundswuthserum,
Erbswurst, Marlitt, Sanatorien,
Panzerzüge, Crematorien,
Phonographen, Mauserflinten,
Röntgen-Strahlen,
Schnurrbartbinden,
Fahrrad-, Ski- und Kraxelsport,
Tennis, Fußball und so fort,
Sonnenbäder, Wasser-Curen,
Hygiene-Professuren,
Auerlicht, Acetylen,
Straßenbahn, Sanatogen,
Klapphornverse, Streichholzscherze,
Caviar aus Druckerschwärze,
Feuerwehren, stets bereit,
Europäische Einheitszeit,
Motordroschken, Interviews,
Bestdressirte Känguruhs,
Waarenhäuser und Basare,
Färbemittel für die Haare,
Zähne-, Waden-Surrogate,
Maggi, Soxleth-Apparate,
Lyddit-Bomben, Gasmotoren,
Fango, weibliche Doctoren,
Influenza, Heilsarmee,
Ethische Culturidee,
Bogenlampen, Glühlichtstrümpfe,
Börsenkrachs, Parteigeschimpfe,
„Hurrah“- Ruf statt „Hoch“ Geschrei,
Dr. Schenks Austüftelei,
Robert Mayers Theorie,
Falb-Prognose (stimmt fast nie!),
Dreyfus-Sache, Zola-Briefe,
Richard Wagners Leitmotive,
Nordpolfahrten, Schweizerpillen,
Reinculturen von Bacillen,
Wasmuths Hühneraugenringe
und noch tausend andere Dinge.
Dies des Säculums Bedeutung,
nach der „Magdeburger Zeitung“
(Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 4 v. 4. Januar, 9-10).

Diese Fassung stammt aus der Berliner Börsen-Zeitung vom 4. Januar 1900 – und erschien parallel in weiteren führenden Hauptzeitungen (Berliner Tageblatt, Nr. 4 v. 3. Januar, 3, Volks-Zeitung 1900, Nr. 4 v. 4. Januar, 5). Die Quelle zur „Magdeburger Zeitung“ zurückverfolgen konnte ich nicht, denn ein solcher Titel ist in der Zeitschriftendatenbank für dieses Jahr nicht nachgewiesen. Doch es gibt einen Grund für die Verwischung der Spuren. „Was hat das 19. Jahrhundert gebracht“ ist nämlich die deutlich gekürzte, umgestellte und teils auch ergänzte Fassung des Gedichtes „Ein halbes Säkulum“, erschienen mehr als anderthalb Jahre zuvor in der Münchener Kunst- und Satirezeitschrift „Jugend“ (3, 1898, Nr. 19 v. 7. Mai, n. 325). Autor war Biedermeier mit ei, ein Pseudonym des Schriftleiters Fritz von Ostini (1861-1927). Das Gedicht war eine fröhliche Selbstreflektion anlässlich eines fiktiven fünfzigsten Geburtstag, Teil eines Heftes im Andenken an das tolle Jahr 1848. Es war ein Dankesgruß dem „Wohl der Wissenschaft / Und des Menschengeistes Schläue“, eine atemlose Beschwörung der Errungenschaften und Erfindungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch der Erfolg war begrenzt, Nachdrucke gab es jedenfalls nur vereinzelt (Wochenblatt für Zschopau 1898, Nr. 61 v. 24. Mai, 6).

Angesichts der nach wie vor auf dem Stand eines Entwicklungslandes verharrenden Digitalisierung deutscher Tageszeitungen und Wochenzeitschriften kann man die Verbreitung von „Was hat das 19. Jahrhundert gebracht“ leider nicht genau nachzeichnen. Doch angesichts des breit gestreuten Abdrucks in der dank der vorzüglichen Arbeit der Österreichischen Nationalbibliothek einfach zu erschließenden deutschsprachigen Presse Österreich-Ungarns ist es recht sicher, dass das Gedicht Millionen Leser fand (Neue Freie Presse 1900, Nr. 12704 v. 5. Januar, 1, Neues Wiener Journal 1900, Nr. 227 v. 5. Januar, 5, Das Vaterland 1900, Nr. 5 v. 6. Januar, 7-8, Innsbrucker Nachrichten 1900, Nr. 5 v. 8. Januar, 10, Arbeiter-Zeitung 1900, Nr. 7 v. 9. Januar, 4, Tages-Post [Linz] 1900, Nr. 5 v. 9. Januar 3, Grazer Tagblatt 1900, Nr. 10 v. 10. Januar, 7, Leitmeritzer Zeitung 1900, Nr. 3 v. 10. Januar, 47, Volksblatt für Stadt und Land [Wien] 1900, Nr. 2 v. 11. Januar, 3; Freie Stimmen 1900, Nr. 9 v. 31. Januar, Roman-Beil., 280, Signale für die musikalische Welt 58, 1900, 122, Drogisten-Zeitung 1900, Nr. 7 v. 8. April, 154, Pharmaceutische Post 15, 1900, Nr. 33 v. 15. April, 218). Auch in der Schweiz ward es abgedruckt, etwas später, gewiss (Schweizer Sportblatt 3, 1900, Nr. 3, 3). Und selbstverständlich ergötzten sich auch Auslandsdeutsche an dem Gedicht (Der Deutsche Correspondent 1900, Nr. 21 v. 20. Januar, 9). Die rasche Verbreitung dürfte Wolffs Telegraphisches Bureau ermöglicht haben, die 1850 in Berlin gegründete führende deutsche Nachrichtenagentur. Das Gedicht tauchte auch später noch ab und an auf (Vorarlberger Tagblatt 1903, Nr. 5100 v. 2. Januar, 1, Neuigkeits-Welt-Blatt 1900, Nr. 215 v. 21. September, 10), schließlich müssen Zeitungen ja gefüllt werden.

002_Prager Tagblatt_1900_01_05_Nr004_p01_19.-Jahrhundert_Gedicht

Ein gut lesbarer Dreispalter. Die Mehrzahl der Abdrucke erfolgte im Fließtext (Prager Tagblatt 1900, Nr. 4 v. 5. Januar, 1)

Damit könnten wir es eigentlich belassen. Doch Sie haben nun die Chance, sich das Gedicht abermals zu Gemüte zu führen; dieses Mal aber mit einschlägigen Abbildungen und Werbeanzeigen dieser für uns so vergangenen Zeit. Zur Vertiefung des Zeitpanoramas habe ich die bibliographischen Fundstellen angegeben und kurze Anmerkungen hinzugefügt. Sollten Sie mehr wissen wollen, graben Sie einfach eigenständig weiter. Das 19. Jahrhundert, zumal die unmittelbare Jahrhundertwende, war die Entstehungszeit der vielfach beschworenen Moderne, in der viele der heutigen Problemlagen, gewiss modifiziert, entstanden und kontrovers diskutiert wurden (vertiefende Lektüre bietet – trotz einer Reihe von Fehlern und Fehldeutungen – Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München 2011).

Neue Reiche, neue Staaten,

003_Library of Congress_2012590219_Europa_Karte_1871

Karte von Europa 1871 (Asher & Adams new topographical atlas and gazetteer of New York—Europe, New York 1871, s.p., Library of Congress, https://lccn.loc.gov/2012590219)

1871 entstand das Deutsche Reich als eine kleindeutsche Lösung der deutschen Frage. Schon der Wiener Kongress hatte 1815 zahlreiche deutsche Staaten bestätigt, verschoben und neu arrondiert, die sog. “Einigungskriege” 1864, 1866 und 1871 weitere Grenzen verschoben. In Italien endete 1870 das Risorgimento, das Habsburger Reich etablierte sich nach der Niederlage 1866 als Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Das Osmanische Reich verlor Einfluss und auch Gebiete, Russland expandierte, in Skandinavien dominierte noch Schweden. Die westlichen Staaten vergrößerten ihre Kolonialreiche in Afrika und Asien, Spanien und Portugal verloren dagegen große Teile in Nord- und Südamerika. Nationale Bewegungen agitierten für neue Staaten. Die vom monarchischen Prinzip zusammengehaltenen Reiche dominierten noch, verloren jedoch an Legitimität.

Gasbeleuchtung, Automaten,

004_Illustrirte Zeitung_078_1882_p269_Kaufhaus_Rudolph-Hertzog_Verkaufsräume_Gasbeleuchtung

Gasbeleuchtung im Kaufhaus Rudolph Hertzog (Illustrirte Zeitung 78, 1882, 269)

Das Verbrennen von Gas zur Beleuchtung setzte Anfang des 19. Jahrhunderts in Westeuropa, namentlich in Großbritannien ein. In deutschen Landen begann Hannover 1826 mit der Gasbeleuchtung, kurz darauf folgte Berlin. Seit den 1870er Jahren gab es in allen größeren Städten Gasnetze. Sie ermöglichten neuartiges Heizen und Kochen, ebenso den Betrieb gewerblicher Maschinen. In den Haushalten verbreitete sich parallel das Gaslicht, auch wenn es vor Einführung des Gasglühlichtes recht schwach schimmerte und die Luft belastete.

005_Lustige Blaetter_14_1899_Nr06_p13_Automat_Kognak_Schömann_Köln

Rationalisierung im Alltag: Automatischer Kognak-Ausschenker (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 6, 13)

Maschinen waren ein Treibsatz des 19. Jahrhunderts, sie arbeiteten automatisch, mit Dampf, später auch mit Elektrizität, teils auch Gas. Verkaufsautomaten funktionierten dagegen mechanisch, setzten aber ebenfalls präzise Metallverarbeitung voraus. Erste automatische „Verkaufsbehälter für Cigarren“ gab es ab 1883. Einfache Schachtapparate für Süßwaren vertrieb seit den späten 1880er Jahren die Kölner Firma Stollwerck, die Vorbilder aus den USA aufgriff. Automaten verbreiteten sich im späten 19. Jahrhundert rasch, weiteten sich auf Dienstleistungen aus (Fahrkarten), die Automatenrestaurants der 1890er Jahre boten bereits „Fastfood“ in Form belegter Brote und Brötchen. Die neue Form des Verkaufs wurde allerdings durch polizeiliche Maßnahmen, durch strikt durchgehaltene Sonntagsruhe- und Landschlussgesetze sowie die geringe Bereitschaft des Einzelhandels begrenzt, Automaten kundengerecht aufzustellen.

Emancipation der Neger,

006_Deutsches Montags-Blatt_1877_10_29_p06_Unterhaltungsindustrie_Konzert_Sklaven_Spirituals_Sklavenemanzipation

Eigenartige und anheimelnde Sklavenlieder in Berlin – nach der Sklavenemanzipation in den USA (Deutsches Montags-Blatt 1877, Ausg. v. 29. Oktober, 6)

Die Sklavenbefreiung in den USA durch die Emancipation Proclamation vom 1. Januar 1863 dient heute als wichtigste Wegmarke für die Geltung universeller Menschenrechte im „Westen“, zumal sie zum zentralen Kriegsgrund des amerikanischen Bürgerkriegs mutierte. Die Sklavenemanzipation geht jedoch bis weit in das 17. Jahrhundert zurück: Portugal verbot die Sklaverei in seinem Kolonialreich bereits 1761, und der britische Slavery Abolition Act von 1833 brachte für deutlich mehr Sklaven die Freiheit. Der Abolitionismus war vor allem christlich geprägt, Quäker und Katholiken waren wichtige Wegbereiter. Im Deutschen Reich gab es im späten 19. Jahrhundert öffentlich vernehmbare Abolitionistengruppen, deutsche US-Emigranten wirkten vorher schon in den USA. Grassierender Rassismus aber war mit der Sklavenemanzipation nicht beseitigt, ebenso die massive Armut und rudimentäre Bildung.

Wollregime von Dr. Jäger,

007_Berliner Tageblatt_1886_01_31_Nr055_p21_Reformwaren_Wolle_Gustav-Jaeger_Gustav-Steidel

Wollkleidung als Gesundheitsgarant (Berliner Tageblatt 1886, Nr. 55 v. 31. Januar, 21)

Das 19. Jahrhundert war voller inspirierender Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Der österreichische, später württembergische Naturkundler Gustav Jäger (1832-1917) legte zahlreiche Überblicksdarstellungen der modernen Biologie und Physik vor, betätigte sich auch naturphilosophisch. Bekannt aber wurde er als Propagandist des Wollregimes, das er erst in Zeitschriften, dann auch in seinem weit verbreiteten Buch „Die Normalkleidung als Gesundheitsschutz“ 1881 popularisierte. Jäger lizensierte sein System seit 1879 an den Stuttgarter Textilproduzenten Wilhelm Benger, weitere Kooperationen folgten, seit 1884 auch in Großbritannien. Für Jäger war der Mensch eine Maschine, die Düfte produzierte und absonderte. Eng anliegende Wollkleidung erschien ihm gesund und artgemäß. Jägers Wollregime führte zu erbitterten Fehden, die etablierte Wissenschaft lehnte es strikt ab. Doch auch die Naturheilkunde zerfaserte im Kleiderstreit: Heinrich Lahmann (1860-1905) stritt für reine Baumwolle, die Naunhofer Excelsior-Werke für Merino-Kammgarn, etc., etc.

Seuchen, Revolutionen,

008_Kladderadatsch_045_1892_Nr18_p09_Seuchen_Cholera_Typhus_Mars_Hamburg_Infektionskrankheiten

Seuchenvorstellungen angesichts der Hamburger Choleraepidemie 1892 (Kladderadatsch 45, 1892, Nr. 18, 9)

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein traten Seuchen regelmäßig auf, konnten nur eingedämmt, nicht aber wirksam bekämpft werden. Cholera, Typhus, Diphterie, Ruhr und viele weitere Infektionskrankheiten forderten gerade in den großen Städten regelmäßig hunderte, ja tausende Tote und Versehrte. Die Bakteriologie erlaubte zunehmend Impfungen, doch es war nicht zuletzt die moderne Daseinsvorsorge (Wasserversorgung, Müllentsorgung, Nahrungsmittelüberwachung), die vor der Entdeckung von Impfstoffen und Antibiotika halfen, die Seuchen einzuschränken. Sie zu besiegen ist jedoch nichts anders als ein frommer Wunsch.

009_Duesseldorfer Monatshefte_01_1847-48_p341_Revolution_Bürgertum_Bürgerwehr

Bündnis von Bürgertum und Monarchie 1848 (Düsseldorfer Monatshefte 1, 1847/48, 341)

Revolutionen waren seit dem späten 18. Jahrhundert (USA, Frankreich) Wegbereiter der Emanzipation und Machtteilhabe des Bürgertums, der Verrechtlichung und des Parlamentarismus. In deutschen Landen blieben Revolutionen lange Zeit aus, oktroyierte Verfassungen und Verfassungsversprechungen traten an deren Stelle. Erst 1830/31 gab es massiven Aufruhr vornehmlich in Nord- und Mitteldeutschland, doch noch blieb die monarchische Ordnung dominant. Das änderte sich durch die bürgerliche Revolution 1848/49, die zu vielfältigen Änderungen in den Staaten des Deutschen Bundes führte, die zugleich aber ihr ehrgeiziges Ziel eines deutschen Verfassungsstaates nicht erreichte. Die Dynamik der Revolution führte zu einer Spaltung der bürgerlichen Kräfte in demokratisch-republikanische und monarchistisch-repräsentative Kräfte. Gleichwohl blieb der Liberalismus eine zentrale Kraft während der Jahrhundertmitte, die auch ohne neuerliche Revolution breitgefächerte Reformen anstieß und umsetzte.

Kaffee ohne Kaffeebohnen,

010_Kladderadatsch_042_1889_Nr02_Beibl1_p4_Nahrungsmittelfälschung_Kaffee_Jean-Heckhausen-Weies_Köln

Die Form stimmt, der Gehalt wohl weniger (Kladderadatsch 42, 1889, Nr. 2, Beibl. 1, 4)

Aufgrund seines Preises und der vielfach nicht ausgeprägten Kenntnisse der Verbraucher wurde Kolonialkaffee häufig verfälscht. Mischungen mit allerhand Kaffeesubstituten waren recht üblich. Zugleich entstand im späten 19. Jahrhundert mit dem Malzkaffee ein neuer industriell gefertigter Ersatzkaffee auf Gerstebasis. Gemeinsam mit dem im frühen 19. Jahrhundert popularisierten Zichorienkaffee war er bis in die 1950er Jahre hinein das wichtigste Heißgetränk in Deutschland, während andere Kaffeesubstitute, etwa der Eichelkaffee, im 19. Jahrhundert stark an Bedeutung verloren.

Ansichtskartensammelwuth,

011_Lustige Blaetter_15_1900_Nr01_p16_Jahrhundertwende_Ansichtskarten_Postkarte_Fortschritt

Da ist sie schon, die erste Ansichtskarte des neuen Jahrhunderts (Lustige Blätter 15, 1900, Nr. 1, 16)

Ansichtskarten waren ein Resultat von Postreformen und veränderter Drucktechnik. Briefmarken entstanden um die Jahrhundertmitte, ein einigermaßen einheitliches deutsches Postgebiet erst nach der Reichsgründung 1871. Damals gab es erste Postkarten, ab dem 1. Juli 1872 durften sie auch Abbildungen enthalten; und der Nürnberger Graphiker Frank Rorich (1851-1912) präsentierte erste ansprechende Entwürfe. Die Farblithographie führte seit den 1880er Jahren zu einer rasch wachsenden Zahl von Ansichtskarten, die ab den 1890er Jahre durch reproduzierte Fotografien ergänzt wurden. Illustrierte Postkarten wurden nun zum Massenphänomen, getragen von einer wachsenden Zahl von touristisch erschlossen Gebieten und von Urlaubern. Und rasch reihten sich die Ansichtskarten in Sammelalben ein – so wie schon Briefmarken, Poesie und erste Photos. 1894 entstand in Hamburg ein erster „Sammelverein für illustrierte Postkarten“, und seit 1895 bot die „Monatsschrift für Ansichtskarten-Sammler“ vertiefende Informationen über die sich rasch verbreitende Alltagspassion.

Weine ohne Traubenblut,

012_Berliner Tageblatt_1891_08_04_Nr175_p04_Wein_Kunstwein_Essenzen_Nahrungsmittelfälschung_Weinextrakt_Karl-Pollak_Prag

Weinessenz als Grundstoff eines ansprechenden Kunstweines (Berliner Tageblatt 1891, Nr. 175 v. 4. August, 4)

Im 19. Jahrhundert war Wein häufig eine Mischung, ein Cuvée verschiedener Einzelweine. Der Handel wurde von schweren Dessertweinen dominiert, etwa Sherry oder Portwein. Höhere Qualitäten verkaufte man nach Herkunftsgebieten und Lagen, dafür garantierten spezialisierte Händler, die Groß- und Einzelhandel meist verbanden. Wein wurde (wie heute auch) in der Regel gezuckert, die Verfahren von Jean-Antoine Chaptal (1756-1832), Ludwig Gall (1791-1863) und Abel Petiot (1847-1878) unterstrichen den praktischen Wert der modernen Chemie. Weinextrakte erlaubten „Kunstwein“ gar ohne Weinbau, handelte es sich doch um Aromastoffe und getrocknete Weinreste, die mit Alkohol, Wasser und Zucker dann zu einem süffigen Getränk vermengt wurden. Gegen derartige Kunstprodukte wandten sich Winzer, Händler und Gastronomen, die „naturreinen“ Wein anboten. Das Nahrungsmittelgesetz von 1879, das Weingesetz von 1892, insbesondere aber dessen Novelle von 1901 schufen notwendige Rahmenbedingungen für Qualitätswein auch in Deutschland.

Biere ohne Malz und Hopfen,

013_Industrie-Blaetter_03_1866_Nr01_p01_Nahrungsmittelkontrolle_Nahrungsmittelfälschung_Wiissenschaft

Titelblatt der 1864 gegründeten „Industrie-Blätter“, die in den Folgejahrzehnten chemisch-pharmazeutische Expertise gegen Nahrungsmittelfälschungen und „Geheimmittel“ setzte (Industrie-Blätter 3, 1866, Nr. 1, 1)

Entgegen vielfältiger Klagen über „wässeriges“ Bier wurde dieses nicht vollständige vergorene, aus den löslichen Bestandteilen des Hopfens unter Zugabe von Malz hergestellte Getränk eher selten verfälscht. Das war auch Folge des Siegeszuges des industriell produzierten hellen „bayerischen“ Lagerbiers, das weltweit die zuvor dominanten dunkleren englischen Biere verdrängte. Getrickst wurde vor allem bei der Qualität des Malzes, das trotz des eben noch nicht reichsweit geltenden Reinheitsgebotes teils nicht aus Gerste, sondern aus billigeren stärkehaltigen Ersatzmitteln bestand, etwa Reis, Mais, Kartoffelsirup oder Süßholz. Hopfensurrogate kamen noch seltener zum Einsatz. Bier ohne Hopfen und Malz war technisch möglich, war aber eher Horrorvorstellung denn reales Angebot. Qualitative Mindeststandards wurden jedoch nicht nur durch die praktische Sinneskontrolle der Zecher festgelegt, sondern seit den 1860er Jahren auch durch Pharmazeuten, seit den späten 1870er Jahren durch die sich rasch professionalisierenden Nahrungsmittelchemiker. Selbstverpflichtungen des Braugewerbes unter dem Banner des Reinheitsgebotes galten reichsweit jedoch erst ab 1906.

Magenpumpe, Hoffmannstropfen,

014_Medizinische Klinik_21_1925_p394_Medizinaltechnik_Magenpumpe_John-Weiß

Medizinische Handwerkskunst (Medizinische Klinik 21, 1925, 394)

Die 1825 von John Weiß (1773-1843), einem deutsch-englischen Einwandererunternehmer, konstruierte Magensonde erweiterte das Arsenal der noch recht kleinen Zahl der Ärzte. Das erst in den 1870er Jahren allgemein eingesetzte Instrument diente dem Auspumpen des Magens und war insbesondere bei Vergiftungen eine wirksame Hilfe. Die Magenpumpe ergänzte die schon gängigen chirurgischen Geräte und ist ein frühes Beispiel für die im späten 19. Jahrhundert rasch anschwellende Zahl medizinischer Apparate.

015_Memminger Zeitung_1875_10_27_Nr275_p3_Heilmittel_Hoffmannstropfen_Drogerieartikel_Wilhelm-Fichtner

Das breite Angebot einer Drogerie – inklusive Hoffmannstropfen (Memminger Zeitung 1875, Nr. 275 v. 27. Oktober, 3)

Hoffmannstropfen passen nicht recht in den zeitlichen Reigen des Gedichtes, war doch der „Erfinder“ Friedrich Hoffmann (1660-1742) ein Hallenser Frühaufklärer. Das stark alkoholhaltige Kräftigungsmittel bestand vornehmlich aus Ätherweingeist und war insbesondere in der Jahrhundertmitte im Bürgertum weit verbreitet. Es erweiterte die Gefäße und senkte den Blutdruck, half daher bei Schwächezuständen aller Art.

Dichtungen von Schiller, Goethe,

016_Das interessante Blatt_24_1905_04_17_Nr14_p17_Konversationslexikon_Brockhaus_Goethe_Schiller_Globus

Der käufliche Horizont des deutschen Bürgerhaushalts: Schiller, Globus, Goethe und Brockhaus (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 17 v. 27. April, 17)

Klassikerausgaben wurden seit dem späten 18. Jahrhundert Zierrat bürgerlicher Haushalte. Die Werke von Friedrich Schiller (1759-1805) und Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) ragten dabei hervor. Beide waren deutsche „Dichter und Denker“, verkörperten deutsche Bildung, führten die Denkmalsmanie des 19. Jahrhunderts an. Die Hundertjahrfeiern ihrer Geburtstage waren wichtige Wegmarken der liberalen Nationalbewegung. Goethes und Schillers Werke wurden im Schulunterricht gelesen, ihre Dramen blieben Eckpunkte des bürgerlichen Theaters während des gesamten 19. Jahrhundert. All dies sollte allerdings nicht zu dem Fehlschluss führen, ihre Werke seien abseits des veröffentlichten Lebens alltagsrelevant gewesen. Dort dominierten zeitgenössische Dichter und Schriftsteller, vor allem aber die heute vielfach vergessene Kolportageliteratur. Die Werke von Schiller und Goethe dienten dagegen bevorzugt als Steinbruch, in dem jede Zeit, nicht nur das 19. Jahrhundert, fündig wurde.

Kriege, Krisen, Hungersnöthe,

017_Kladderadatsch_045_1892_Nr41_p3_Hunger_Seuchen_Armut_Russland_Wirtschaftskrise

Hunger, Seuche und Geldnot – gezeichnet anlässlich der Hungersnöte in Russland 1892 (Kladderadatsch 45, 1892, Nr. 41, 3)

Im 19. Jahrhundert wurden Kriege noch als legitime Fortsetzung der Politik verstanden, entsprechend populär waren die nationalen Einigungskriege. Das änderte sich langsam um die Jahrhundertwende, zumal durch brutale Kolonialkriege, etwa der Briten gegen die Buren 1899-1902. 1899 kam es zu einer ersten internationalen Verrechtlichung militärischer Konflikte durch die Haager Landkriegsordnung, eine Folge auch des Drängens einer zahlenmäßig schwachen, jedoch medial recht präsenten Friedensbewegung. Auch Hunger wurde im späten 19. Jahrhundert nicht mehr länger als Schicksal akzeptiert. Insbesondere die Hungersnöte in Russland (1891/92) und Indien (1896/97) führten zu internationalen Hilfsaktionen, teils mit Geld, vor allem aber mit Nahrungsmittellieferungen.

Deutsche Zollvereinigung,

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Die Schaffung eines kleindeutschen Binnenmarktes: Entwicklung des Deutschen Zollvereins seit 1834 (Wikimedia)

Der deutsche Zollverein war wichtig für die Schaffung eines einheitlichen, durch Binnengrenzen möglichst unbeschränkten Warenverkehr. Anders als die spätere borussische Geschichtsschreibung, die in dem von Preußen geführten kleindeutschen Reich das eigentliche Ziel des Zollvereins sah, sollte man die zeitgenössischen wirtschaftlichen Vorteile der Handelsliberalisierung betonen. Der Staat verlor zwar für den Staatshaushalt noch sehr wichtige Zolleinnahmen, doch diese wurden durch wachsende Erträge aus Gewerbe- und Grundsteuern vielfach übertroffen. Zugleich erlaubte der Zollverein einheitliche Außenzölle, die für das Wachstum vieler in den 1830er bis 1870er Jahren noch nicht wettbewerbsfähigen Industriezweige notwendig erschienen. Der Zollverein war ein zukunftsweisendes Vertragswerk zwischen souveränen Staaten, eine Blaupause für die umfangreichen vornehmlich bilateralen Handelsverträge des späteren Deutschen Reiches mit anderen Staaten.

Dampflatrinenreinigung,

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Hygiene durch Maschineneinsatz: Angebote nach der Jahrhundertwende (Die Städtereinigung 1909, Nr. 6, s.a.)

Im 19. Jahrhundert gab es eine umfassende Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen. Aborte und Latrinen wurden erst am, dann im bürgerlichen Hause geplant, um Gestank zu minimieren und die Sittlichkeit zu heben. Um den öffentlichen Raum sauber zu halten, wurden zudem städtische Bedürfnisanstalten eingerichtet, damit auch Seuchenprävention betrieben. Sie waren vielfach an das öffentliche Abwassersystem angebunden, doch zumeist fehlten Spülanlagen. Ihre Reinigung wurde im späten 19. Jahrhundert breit diskutiert. Maschinenbetriebene Pumpen und Tankabfuhrwagen verringerten hygienische Probleme, schufen ein von strengen Gerüchen unbeeinträchtigtes Einkaufsumfeld. Schon im frühen 20. Jahrhundert begann jedoch ein langsamer Abbau dieser Form moderner Daseinsfürsorge, deren Betriebskosten angesichts der weiteren Verbreitung von häuslichen Aborten nicht mehr tragbar erschienen.

Impfzwang, Repetirgewehre,

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Kampf gegen den Impfzwang mit statistischen Daten (Carl Löhnert, Graphisches ABC-Buch für Impffreunde, Chemnitz 1876, 6)

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Blattern resp. Pocken eine weit verbreitete Infektionskrankheit, deren Narben auch die Überlebenden zeichneten. Die Pockenschutzimpfung des britischen Arztes Edward Jenner (1749-1823) bot seit 1796 eine einfache Möglichkeit, diese Krankheit einzudämmen. Sie verbreitete sich rasch auf dem europäischen Kontinent. Bayern und Baden machten diese Impfung 1807 verpflichtend, während die Mehrzahl der deutschen Staaten lediglich Empfehlungen aussprach. Das änderte sich nach der Pockenepidemie 1869-1871, der im Gebiet des dann gegründeten Deutschen Reich ca. 180.000 Menschen zum Opfer fielen. Das Reichsimpfgesetz von 1874 erließ einen Impfzwang für Kinder von ein bis zwölf Jahren. Das Gesetz wurde jedoch nicht durchweg begrüßt, sondern zum Anlass für eine breite Gegenbewegung von Impfgegnern. Sie plädierten für das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wiesen auch auf Mängel der vielfach nicht hygienischen Impfung hin. Die Impfgegner waren Teil einer Opposition gegen das Vordringen angewandter Naturwissenschaften und statistischer, vom Einzelfall absehender Verfahren, die in der kulturkritischen Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende ihren ersten Höhepunkt hatte.

021_Volks-Blatt_1903_01_20_Nr031_p05_Waffen_Gewehr_Mauser_Modell-98_Repetiergewehr

Das deutsche Infanteriegewehr „Modell 98“ (Volks-Blatt 1903, Nr. 31 v. 20. Januar, 5)

Der technische Fortschritt, insbesondere eine präzisere Metallverarbeitung, die Entwicklung widerstandsfähiger Stahlsorten und die Produktion von zündsicheren Patronen erlaubte seit Mitte des 19. Jahrhunderts massive Verbesserungen der Distanzwaffen, insbesondere von Gewehren und Artillerie. Repetiergewehre ermöglichten über mechanische Zieh- und Verschlusssysteme das rasche Nachladen der Waffe aus einem Patronenlager. Sie verdrängten Hinterladergewehre, wurden ihrerseits dann durch automatische Selbstladewaffen verdrängt. Seit 1898 etablierte sich im Deutschen Reich das von der württembergischen Firma Mauser produzierte „Modell 98“ als Standardgewehr, das auch viele andere Armeen übernahmen.

Amateure und Masseure,

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Jedermann kann photographieren (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2274, Beibl., 8)

Die vor allem durch die 1837 eingeführte Daguerreotypie geprägte Photobranche war ein halbes Jahrhundert ein Expertenhandwerk. In den seit 1840 auch in deutschen Landen entstehenden Photostudios hantierten Fachleute nicht nur mit schwierig zu handhabenden optischen Instrumenten, sondern auch mit giftigen und leicht entzündlichen Chemikalien. Bis weit ins 19. Jahrhundert prägten Lithographien und Holzstiche die zahlreichen illustrierten Blätter, das Photo blieb ein Prestigeprodukt für den eigenen Haushalt. Das änderte sich in den späten 1890er Jahren. Einfachere und preiswertere Kistenkameras, standardisierte Fixierflüssigkeiten und leichter handhabbare Photoplatten erlaubten nun auch bürgerlichen Enthusiasten das Photographieren. 1900 brachte der amerikanische Marktführer mit der Kodak Brownie eine tragbare Kamera auf den Markt, der die Amateurphotographie sowohl in den USA als auch im Deutschen Reich zu einem gängigen Hobby im bürgerlichen Milieu machte.

023_Schilling_1897_p242_Massage_Therapie

Die helfende Hand des Masseurs bei der Einleitungsmassage (F[riedrich] Schilling, Kompendium der Ärztlichen Technik, Leipzig 1897, 242)

Während des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Massage als Teil der physikalischen Therapie bzw. Mechanotherapie als eine etablierte ärztliche Technik. Streichen, Reiben, Kneten und Hacken wurden auf Grundlage zunehmend genauerer anatomischer Kenntnisse gezielt eingesetzt. Gegen Ende des Jahrhunderts ergänzten mechanische Instrumente die etablierten Handtechniken, während Maschinen noch außen vor blieben. Die Massage ist zugleich ein gutes Beispiel für den internationalen Transfer von Therapien. Viele stammten aus Schweden (Per Henrik Ling (1776-1839)), etablierten sich durch schwedische Auswanderer in den USA und wurden von dort auch ins Deutsche Reich übertragen (Albert Hoffa (1859-1907)). Die Naturheilkunde setzte ebenfalls stark auf Massagetechniken und popularisierte sie um die Jahrhundertwende in zahlreichen, teils in Millionenauflagen vertriebenen Gesundheitslehren.

Vielerlei Assecuranzler,

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Popularisierung der Sorge: Werbung für eine Lebensversicherung (Über Land und Meer 81, 1898/99, Nr. 5, s.p.)

Versicherungen sind Institutionen zur gemeinsamen Risikoübernahme. Sie konzentrierten sich seit der frühen Neuzeit auf elementare Risiken, etwa die in Städten weit verbreiteten Feuer oder aber Hagelschlag und Ernteverluste. Transportversicherungen entstanden parallel zur europäischen kolonialen Expansion. Die Versicherung von Besitz und Leben begleitete in deutschen Landen den Aufschwung des Bürgertums seit dem frühen 19. Jahrhundert. Die Assekuranzen benötigten beträchtliches Kapital, waren daher Pioniere der Aktiengesellschaften. Um ihr betriebliches Risiko abschätzen zu können, bedienten sie sich schon seit dem späten 18. Jahrhundert mathematischer Verfahren. Für die Mehrzahl der Deutschen hatten Assekuranzen nur geringe Bedeutung, sie zahlten eher für lokale Begräbnisvereine und Sterbekassen, während elementare Lebensrisiken (Krankheit, Unfall, Alter) von den in den 1880er Jahre eingeführten Sozialversicherungen peu a peu gemildert wurden.

Deutschen Kaiser, Deutschen Kanzler,

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Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto v. Bismarck grüßen vom Himmel (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 29, 10)

Das 1871 gegründete kleindeutsche Reich wurde als Ende der fehlenden deutschen Staatlichkeit gefeiert, als nationaler Machtstaat – obwohl es Abermillionen von Deutschen ausschloss, Abermillionen nationale Minderheiten umgriff. Die Kaiserwürde knüpfte an die mittelalterliche Geschichte an, ebenso wie schon 1849, beim vergeblichen Versuch des demokratisch gewählten Paulskirchenparlaments, dem preußischen König die Krone anzudienen. Auch 1871 hatte der spätere Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) gewichtige Bedenken, war Preußens und Hohenzollerns Mission doch nicht Deutschland. Das neue Reich war eine Monarchie eigenen Typs, die Herrschaft von Monarch, Militär und Obrigkeit war durch Verfassung und Parlament eingeschränkt. Der Kaiser regierte durch den Reichskanzler, der vom ihm ernannt und entlassen wurde, der zugleich aber beträchtliche Rechte hatte, die eine starke Persönlichkeit nutzen konnte. Der erste Kanzler, Otto von Bismarck (1815-1898), dominierte die Politik bis 1890, ohne dass diese in eine „Kanzlerdiktatur“ abglitt. Es folgte das „persönliche Regiment“ des irisierenden Wilhelm II. (1859-1941), dessen Reichskanzlern es nur selten gelang, „seine Majestät“ im Zaum und auf Kurs zu halten.

Deutsches Heer und Deutsche Flotte,

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Haubitzenbatterie während eines Manövers bei Fettehenne, heute Wuppertal (Illustrirte Zeitung 113, 1899, 211)

Die Siege in den sogenannten Einigungskriegen 1864, 1866 und vor allem 1870/71 stärkten die Stellung der Armee in der Bevölkerung, verdrängten teilweise ihre Funktion als Machtmittel der Fürsten. Die „deutsche“ Armee blieb rechtlich eine Chimäre, denn sie bestand aus Kontingenten der Einzelstaaten unter dem Oberbefehl des Kaisers. Eine parlamentarische Kontrolle erfolgte allein über die notwendige Zustimmung des Reichstags zum Militärbudget, die jedoch für immer längere Zeiträume gewährt wurde. Das Heer blieb fest in adeliger Hand, und eine gesonderte Militärgerichtsbarkeit ermöglichte die Aufrechterhaltung ständischer Formen von Ehrsamkeit und Unterordnung. Militärisch blieben die deutschen Truppen eher konventionell, besaßen keine strukturellen Vorteile gegenüber denen anderer Großmächte. Die Truppenführung mit ihrem Fokus auf Offensive und Entscheidungsschlacht sowie die – abseits der Artillerie und der Telegraphie – häufig zögerliche Einführung moderner Technik sollten sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als schwere Belastung erweisen.

027_Gartenlaube_1898_p045_Marine_Kreuzer_Ostasien_Imperialismus

Ein deutsches Kreuzergeschwader in Ostasien (Gartenlaube 1898, 45)

Eine deutsche Flotte war schon ein Ziel der liberalen Mehrheit des Paulskirchenparlaments 1848/49. Ab 1871 wurden die nicht allzu zahlreichen Einheiten des Deutschen Bundes einem einheitlichen kaiserlichen Kommando unterstellt. Sie dienten der Küstenverteidigung und dem Schutz deutscher Handelsinteressen – zumal nach Erwerb erster Kolonien. Unter dem Druck von Wilhelm II. und des Staatssekretärs im Reichsmarineamt, Alfred von Tirpitz (1849-1930), begann das Deutsche Reich jedoch 1897 mit dem Aufbau einer Schlachtflotte. Sie wurde von der bürgerlichen Öffentlichkeit enthusiastisch begrüßt, die außenpolitischen Risiken dieser gegen die Dominanz Großbritanniens gerichteten Maßnahme billigend in Kauf genommen. Neben den Militarismus trat der Navalismus. Dennoch war schon um die Jahrhundertwende absehbar, dass die „schwimmende Wehr“ ein finanzpolitisches und strategisches Desaster sein würde.

Anarchistische Complotte,

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Anarchismus als Konsequenz der Heuchelei der herrschenden Klassen (Der Wahre Jacob 18, 1901, 3620)

Der Anarchismus ist eine philosophisch-politische Lehre, die unter Flaggenwörtern wie Freiheit und Selbstbestimmung den dezentralen Aufbau der Gesellschaft in Kommunen und Syndikaten anstrebt und zugleich hierarchische staatliche Strukturen bekämpft. Entstanden vor allem in den 1840er Jahren, waren Anarchisten vielfach Teil demokratischer und dann sozialdemokratischer Bewegungen, wurden seit den 1870er Jahre jedoch zunehmend ausgegrenzt. Grund war die viel und kontrovers diskutierte „Propaganda der Tat“, also die gezielte Gewaltanwendung gegen Repräsentanten der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Die zahlreichen Attentate in Russland, Frankreich, Spanien und auch Deutschland führten zur massiven Bekämpfung der Anarchisten. Ihre Aktionen waren zugleich ein dankbar aufgegriffener Vorwand für staatliches Vorgehen gegen Sozialdemokraten und Liberale.

Pulver ohne Knall und Rauch,

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Rauchloses Pulver und Patronen für die Jagd (Kladderadatsch 45, 1892, Nr. 29, 8)

Bis in die 1880er Jahre wurde für Schusswaffen vor allem Schwarzpulver verwandt, eine Mischung aus Salpeter, Schwefel und Holzkohle. Es verbrannte recht schnell, so schnell, dass bei größeren Kalibern der Geschosslauf beeinträchtigt wurde. Langsamer explodierende, ihre Energie recht vollständig auf die Projektile übertragende Sprengstoffe veränderten dies. Zahlreiche Forscher und Unternehmer knüpften dabei an die 1867 erfolgte Erfindung des Dynamits durch den schwedischen Chemiker Alfred Nobel (1833-1896) und dessen Weiterentwicklung des Nitroglycerins an. Der französische Chemiker Paul Vieille (1854-1934) stellte 1882 mit dem „Poudre B“ ein erstes rauchschwaches Pulver vor, zahlreiche weitere Sprengstoffe folgten binnen weniger Jahre. Doch auch diese explodierten nach wie vor mit einem recht lauten Knall.

Deutsche Colonien auch,

030_Der Wahre Jacob_11_1894_p1784_Kolonialismus_Zivilisation_Menschenwürde_Rassismus

Die Peitsche als Herrschaftsinstrument des „Weißen Mannes“ (Der Wahre Jacob 11, 1894, 1784)

Das Deutsche Reich trat kurz nach seiner Gründung in den Kreis der Kolonialmächte ein. Dies wurde von einer einflussreichen bürgerlichen Kolonialbewegung gefördert und begrüßt (1882 Gründung des Deutschen Kolonialvereins), ebenso von den christlichen Kirchen. Wie schon bei der Debatte um die Sklavenhaltung gab es allerdings auch antikoloniale Vereine, deren Bedeutung aber gering blieb. Ab 1884 folgte die Fahne dem Handel, wurden doch Gebiete mit starken deutschen Handelsgesellschaften unter den Schutz des Deutschen Reichs gestellt. 1884/85 galt dies für Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika sowie die Pazifikregionen Neuguinea und die Marshallinseln. Die Kolonien waren ein ökonomisches Verlustgeschäft, verschlangen doch der Aufbau der rudimentären Infrastruktur und die Besatzungsherrschaft beträchtliche Summen. Politisch stieg die Chance für Konflikte mit den anderen Kolonialmächten beträchtlich. Moralisch wurde zwar immer wieder auf die zivilisierende Aufgabe der Deutschen verwiesen, doch die häufig militärische Brechung lokalen Widerstandes wurde schon vor den brutalen Kolonialkriegen in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika als Verletzung elementarer Menschenrechte gebrandmarkt.

Nihilistenattentate,

031_Ueber Land und Meer_040_1878_p749_Attentat_Terror_WilhelmI_Karl-Nobiling_Unter-den-Linden

Attentat von Dr. Karl Eduard Nobiling (1848-1878) auf Kaiser Wilhelm I. am 2. Juni 1878 in Berlin, Unter den Linden (Über Land und Meer 40, 1878, 749)

Wie beim Anarchismus handelte es sich auch beim Nihilismus um eine breite philosophische Bewegung, die teils die Möglichkeit der Erkenntnis, teils die Existenz des Seins negierte. Die Konsequenz war eine strikte Fokussierung auf das Individuum, seine Bedürfnisse und Triebe. Der Begriff wurde seit den 1860er Jahren von russischen Sozialrevolutionären aufgegriffen, die einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung anstrebten. Nihilismus und Anarchismus wurden daraufhin vermengt und gerade in der politischen Debatte austauschbar. Das konnte man deutlich an den beiden Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. 1878 sehen. Obwohl beide Attentäter erklärte Gegner der Sozialdemokraten waren, dienten die Gewaltakte als Vorwand für das bis 1890 währende Sozialistengesetz, durch das sozialdemokratische Vereine, Zeitungen und Verlage verboten und tausende Anhänger von ihren Wohnorten vertrieben wurden.

Rothes Kreuz, Brutapparate,

032_Fliegende Blaetter_90_1889_Nr2881_Beibl_p11_Lotterie_Rotes-Kreuz_München

Lotterie zugunsten des Roten Kreuzes in Bayern 1889 (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2281, Beibl., 11)

Selten hatte das Engagement eines Einzelnen einen größeren Effekt: Der schweizerisch-französische Geschäftsmann Henri Dunant (1828-1910) bemühte sich 1859 um ein Gespräch mit dem französischen Kaiser Napoleon III. (1808-1873), um ihm seine Kolonisierungsideen in Algerien vorzustellen. Geplant war ein Treffen im oberitalienischen Solferino, wo am 24. Juli mehr als 150.000 französisch-italienische Soldaten die Truppen Österreichs vernichtend schlugen und so den Weg zur nationalen Einigung Italiens ebneten. Dunant sah das Elend auf den Schlachtfeldern, organisierte vor Ort Hilfe und veröffentlichte 1862 „Eine Erinnerung an Solferino“ im Eigenverlag. Darin schlug er die Gründung einer neutralen Organisation freiwilliger Helfer vor, gut ausgebildet und in Kriegs- und Krisenzeiten einsetzbar. Er sprach gezielt Staatsoberhäupter an, warb in ganz Europa für seine Idee. Das spätere Rote Kreuz entstand 1863 als „Internationales Komitee der Hilfsgesellschaft für Verwundetenpflege“ in Genf, ein Jahr später regelten in der 1. Genfer Konvention zwölf Staaten die Rechte der seit 1876 „Internationales Komitee vom Rothen Kreuz“ genannten Hilfsorganisation. Es stand unter dem Banner des roten Kreuzes auf weißem Grunde (eine Spiegelung der Schweizer Flagge), 1876 ergänzt durch den roten Halbmond in der islamischen Welt. Im Deutschen Reich war die supranationale Organisation anfangs regional organisiert, seit 1879 bestand ein Zentralkomitee. Die Finanzierung erfolgte durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, Lotterien und staatliche Zuschüsse.

033_Flügge_Hg_1896_p560_Bakteriologie_Medizinaltechnik_Brutapparat_Lautenschläger_Thermoregulator

Brutapparat für Bakterienkulturen (C[arl] Flügge (Hg.), Die Mikroorganismen, 3. völlig umgearb. Aufl, T. 1, Leipzig 1896, 560)

Am Anfang war das Ei, denn Brutapparate entstanden schon in der frühen Neuzeit, um Küken für die Hühnerzucht auszubrüten. Diese einfache Aufgabe setzte zwei für die modernen Naturwissenschaften, aber auch viele Gewerbe entscheidende Techniken voraus: Temperaturmessung und Hitzeregulierung. Brutapparate für die Hühnerzucht wurden im 19. Jahrhundert immer wieder verändert und verbessert, doch der eigentliche Durchbruch zum „Inkubator“ erfolgte parallel mit dem Aufschwung der Bakteriologie. Sie setzte kontrollierte Laborbedingungen voraus, um Bakterienkulturen gezielt vermehren und auch untersuchen zu können. Typisch für die enge Verbindung von Forschung und Gerätetechnik waren in den 1880er Jahren zahlreiche im Umfeld universitärer Institute entwickelte Brutkästen, von denen der hier gezeigte „Thermoregulartor“ der 1888 gegründeten Berliner Firma F. & M. Lautenschläger die auch international weiteste Verbreitung hatte.

Brod- und Wurst- und Weinfabriken,

034_Der Bazar_43_1897_p082_Nahrungsmittelindustrie_Fleischwaren_Wurst_Schinken_Produktionsstätte_Vogt-Wolf_Gütersloh_Versandgeschäft

Einkauf per Versandgeschäft in Deutschlands größter Wurst- und Schinkenfabrik (Der Bazar 43, 1897, 82)

Der Aufstieg der Ernährungsindustrie begann in deutschen Landen in den 1830er Jahren, indem Pflanzen verarbeitet wurden, die in Haushalten kaum bearbeitet werden konnten. Im Vordergrund standen Rübenzuckerraffinerien, Getreide- und Ölmühlen, die Tabak- und Zichorienverarbeitung. Brot, Backwaren, Fleisch und auch Wein wurden dagegen kleingewerblich und verbrauchernah, vielfach auch noch zuhause hergestellt. In der Mitte des Jahrhunderts begann die Mechanisierung weiterer Nahrungsmittelbranchen, insbesondere von Bierbrauereien und dann Margarinefabriken. Maschinen wurden jedoch auch im Nahrungsmittelhandwerk eingesetzt, das seine Stellung durch direkten Verkauf gar ausbauen konnte. Die Brot- und Weinproduktion blieb daher von kleinen und mittleren Betrieben geprägt, anders als etwa in Großbritannien. Wurstfabriken gewannen im späten 19. Jahrhundert etwas größere Bedeutung. Fleischwaren waren länger haltbar, die Rohwaren durch den 1881 in Preußen erlassenen Schlachthauszwang in größeren Mengen konzentriert, und die teils von deutschen Einwandererunternehmern gegründeten US-Mammutunternehmen in Cincinnati und Chicago boten technische und kommerzielle Vorbilder für die Großproduktion. Dennoch gab es in Deutschland 1895 erst drei Fleischerbetriebe mit mehr als 100 Beschäftigten.

Oertel-Curen für die Dicken,

035_Fliegende Blaetter_090_1889_Nr2285_Beibl_p4_Kurort_Bad-Reichenhall_Oertel

Werbung für eine Kur in Bad Reichenhall – inklusive einer Oertel-Kur (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2285, Beibl., 4)

Die meisten der heutigen Diäten sind Wiedergänger einschlägiger Kuren und Ratschläge des 19. Jahrhunderts. Sie entstanden vor dem Hintergrund der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten Stoffwechsellehre, die im Körper eine Maschine, in Bewegung Energieverlust und in den Nahrungsstoffen Betriebsmittel sah. Die richtige Mischung schien im Kampf gegen die Fettsucht und die Pfunde entscheidend zu sein: Seit den 1860er Jahren propagierte die aus England stammende Banting-Diät den Verzehr vornehmlich eiweißhaltiger Nahrung, während die Ebstein-Diät der 1880er Jahre fettreich und kohlehydratarm war. Die nach dem Münchner Hals-, Nasen-, Ohrenarzt Max Joseph Oertel (1835-1897) benannte Diät verbot dagegen Fette, setzte zudem auf die Reduktion von Getränken. Nur leicht modifiziert war die Schweninger-Diät, die jedoch dank der PR seines Propagandisten – Ernst Schweninger (1850-1924) war unter anderem Leibarzt Otto von Bismarcks – große Resonanz hervorrief. Während heute Diäten individualisiert sind, der Kampf gegen das Übergewicht privat geführt wird, war es für bürgerliche Kreise im 19. Jahrhundert allerdings noch üblich, sich einer Kur in einer Privatklinik zu unterziehen.

Streichhölzer und Eisenbahnen,

036_Deutsches Montags-Blatt_1877_10_29_p08_Streichhölzer_Norrköpings Tändsticksfabriks_Kleinau-Borchardt

Schwedische Importwaren in deutschen Landen (Deutsches Montags-Blatt 1877, Ausg. v. 29.10., 8)

Die Nutzung des Feuers stand nicht nur am Beginn menschlicher Zivilisation, sondern auch für die industrielle Welt voll Kohle und Eisen. Feuer wurde bis weit in das 19. Jahrhundert hinein im Herd gehegt, leicht entzündlicher Zunder war erforderlich, um es durch Funkenschlag wieder zu entfachen. Streichhölzer haben dies wesentlich vereinfacht. Sie waren Anwendungen chemischer Forschung, Resultat steten und nicht ungefährlichen Experimentierens. Weißer Phosphor brannte hell, konnte um sich greifen und war giftig, auch Kaliumchlorat nicht ungefährlich. Reibbare Streichhölzer gab es seit den 1830er Jahren – und der Markt für Zündstoffe entwickelte sich rasch, nachdem auch roter Phosphor genutzt wurde. Wichtiger noch war die Verlagerung der gefährlicheren Chemikalien in eine Reibfläche, durch die allein das imprägnierte Holz entzündet werden konnte. Der Frankfurter Chemiker Rudolf Christian Boettger (1806-1881) entwickelte das wohl wirkmächtigste Verfahren. Er verkaufte sein Patent an schwedische Investoren, deren Sicherheitshölzer den Markt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts dominieren sollten.

037_Illustrierte Technik für Jedermann_04_1926_p043_Eisenbahn_Adler_Nürnberg_Bahnhof

Der „Dampfwagen“ Adler startet in ein neues Zeitalter des Verkehrs (Illustrierte Technik für Jedermann 4, 1926, 43)

Die Eisenbahn war die wichtigste Innovation des 19. Jahrhunderts. Sie war Leitsektor der Industrialisierung, zumal des Maschinenbaus, der Metallverarbeitung und des Bergbaus. Ihre Finanzierung mündete in ein modernes Bankensystem, etablierte die Rechtsform der Aktiengesellschaft, förderte das Börsenwesen. Die Eisenbahn veränderte die Landschaft, das Empfinden von Entfernungen, war zentral für die Bildung regionaler und nationaler Märkte. Sie erlaubte rasche Bewegungen von Truppen und Ausrüstung. Das Eisenbahnnetz erforderte überregionale Koordinierung, Fahrpläne, möglichst einheitliche Zeiten, einheitliche Spurbreiten und Standards. Sein Aufbau und seine Aufrechterhaltung benötigte eine immense Zahl von Arbeitern, un- und angelernte für die Gleisarbeiten, Facharbeiter für Lokomotiven, Waggons, Signaltechnik, Verkehrsregulierung, Gebäudebau und vieles mehr. Die anfangs vielfach privat betriebenen Eisenbahnen wurden zunehmend verstaatlicht, blieben im Deutschen Reich jedoch unter der Hoheit der Länder. Damit wurde nicht nur der Staat zu einem zentralen wirtschaftlichen Akteur, sondern es entwickelte sich eine für das Deutsche Reich typische enge Verzahnung von Banken, Unternehmern, Investoren und dem Staat.

Heines Lieder, Freytags „Ahnen“,

038_Kikeriki_33_1893_02_05_Nr11_p02_Heinrich-Heine_Illustrirte Frauen-Zeitung_22_1895_p089_Gustav-Freytag

Porträts von Heinrich Heine und Gustav Freytag (Kikeriki 33, 1893, Nr. 11 v. 5. Februar, 2; Illustrirte Frauen-Zeitung 22, 1895, 89)

Heinrich Heines (1797-1856) 1827 erschienener Gedichtband „Buch der Lieder“ bündelte die große Mehrzahl der frühen Gedichte des heutzutage vor allem als scharfsinnigen Satiriker, Zeitkritiker und demokratischen Feuilletonisten geschätzten Dichters. Er bestand vor allem aus Liebesgedichten und Landschaftsbeschreibungen und war ein Schlüsselwerk der Romantik. Dennoch blieb der seit 1831 im Pariser Exil lebende und 1835 mit Publikationsverbot im Deutschen Bunde belegte Heine eine Persona non grata für Nationalisten und engstirnige Christen, für Antisemiten und Duckmäuser. Wer jedoch die deutsche Sprache klingen hören, wer ihre utopisch-grimmige Kraft spüren möchte, der lese Heine. Gustav Freytag (1816-1895) war ein anderes Kaliber, Journalist und liberaler Politiker, Theater- und Romanschriftsteller, ein Lehrer der Künste, Biograph und populärer Geschichtsschreiber. All dies bündelte sich in seinem sechsbändigen, von 1872 bis 1880 erschienenen Romanzyklus „Die Ahnen“. Darin verfolgte er Werdegang und Wandlung der fiktiven Familie König über wahrlich stattliche 1500 Jahre. Der gefeierte „Hausdichter des deutschen Bürgertums“ verstand den Roman als Baustein eines dringend erforderlichen historischen Bewusstseins der Deutschen.

Telegraphen mit und ohne

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Damen und Herren der Morseabteilung eines Telegraphenamtes (Über Land und Meer 88, 1902, 946)

Im 19. Jahrhundert entstanden parallel zu massiven Veränderungen des Verkehrswesens neuartige Kommunikationsnetze, ohne die nationale Märkte und globale Arbeitsteilung kaum möglich gewesen wären. Telegraphie erfolgte anfangs optisch, mit Flügeltelegraphen, war damit wetterabhängig und störungsanfällig. Die elektrische Telegraphie entwickelte sich seit den 1840er Jahren dagegen parallel zur Eisenbahn, nutzte vielfach deren Trassen. Sie diente weniger strategisch-militärischen, sondern vorrangig kommerziellen Interessen, etwa der Übermittlung von Preisen und Schiffsankünften. Die Nachrichten wurden codiert, auf ihren Kern reduziert. Seit Mitte des Jahrhunderts dominierte das einfache System des US-Katholikenfeindes und Malers Samuel Morse (1791-1872), bei dem Striche und Punkte per Signalgeber auf Papier gestanzt wurden. Die elektrische Telegraphie erforderte internationale Kooperation und Zusammenarbeit, die Ausweitung europaweiter Landnetze durch internationale Unterwasserkabel ließ die Welt beträchtlich zusammenwachsen. Zunehmend wurden Informationen auch durch „Telegraphenbüros“ gebündelt und vertrieben. Diese Nachrichtenagenturen bildeten die Grundlage für ein sich rasch ausdifferenzierendes Pressewesen, das neue Möglichkeiten überregionaler Produktwerbung schuf.

Leitungsdrähte, Telephone,

040_Katalog_1883_Annoncen_p119_Telephon_G-Wehr

Werbung für Telefonanlagen 1883 (Officieller Katalog der allgemeinen deutschen Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens, Berlin 1883, Annoncen, 119)

Auch wenn hierzulande der Lehrer Johann Philipp Reis (1834-1874) als Erfinder des Telefons gilt – von ihm stammt ein Apparat zur Umwandlung elektrischer Impulse in mechanische und dann akustische Schwingungen sowie die Bezeichnung (1861) –, so wurden die Grundlagen des modernen Kommunikationssystems doch in den USA gelegt. Alexander Graham Bell (1847-1922) entwickelte nicht nur einen Apparat, mit dem man zwei Teilnehmer miteinander verbinden konnte, sondern schuf mittels der American Telephone & Telegraph Company auch einen der ersten elektrotechnischen Großkonzerne. In Deutschland wurde das 1876 patentierte Verfahren 1877 durch die staatliche Reichspost aufgegriffen und mittels der telegraphischen Infrastruktur auch eingeführt. Umfang und Leistungsfähigkeit des vorerst lokal begrenzten Telefonnetzes wurde durch Vermittlungsbüros deutlich erhöht. Bis zur Jahrhundertwende blieb das Telefon jedoch ein relativ teures, vornehmlich geschäftlich genutztes Gerät.

Auch Torpedos, rasch versenkbar,

041_Illustrierte Weltschau_1914_Nr06_p02_Marine_Ausstellung_Torpedo_Torpedonetz_Hamburg

Stolz der Kriegsmarine: Hauptwaffe eines Torpedobootes (Illustrierte Weltschau 1914, Nr. 6, 2)

Die globale Vorherrschaft der europäischen Nationalstaaten gründete vor allem auf ihrer überlegenen Militärtechnik. Torpedos, also zigarrenförmige, selbst angetriebene und mit einer Sprengladung versehene Unterwasserwaffen, entstanden in den 1860er Jahren, Wegbereiter waren österreichische und englische Militärs und Ingenieure. In Großbritannien wurden Anfang der 1870er Jahre dann gesonderte Torpedoboote entwickelt, gering gepanzerte schnelle Schiffe, die gegen Handelsschiffe eingesetzt, aber auch Großkampfschiffen gefährlich werden konnten. Torpedoboote galten rasch als Kernelement kleinerer, eher auf Küstenverteidigung setzende Marinen. Im Deutschen Reich begann ihr Bau 1882. Seit 1898 entwickelte die Kaiserliche Marine dann auch Große Torpedoboote, die mit stärkeren Geschützen ausgerüstet und hochseetauglich waren. U-Boote sollten erst im 20. Jahrhundert folgen.

Flugmaschinen, beinah lenkbar,

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Ikarus als Vorbild: Beispiel einer nur ansatzweise flugfähigen Maschine (Berliner Börsen-Zeitung 1894, Nr. 564 v. 2. Dezember, 17)

Der Welt zu entfliegen, das gelang erst im frühen 20. Jahrhundert. Doch im 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Ingenieure und Praktiker, die mittels Maschinen in die Lüfte und gar in den Weltraum aufsteigen wollten. Freiluft- und Fesselballons beflügelten seit dem späten 18. Jahrhundert die Phantasie, ein wirklicher Flug, mit Muskel- oder aber Motorkraft, gelang jedoch noch nicht. Bis heute bekannt sind die Versuche des Drachenfliegers Wilhelm Kress (1836-1913), des gescheiterten Motorfliegers Alexander Moschaiskis (1825-1890), des Gleitfliegers Otto Lilienthal (1848-1896), des Maschinengewehrentwicklers Hiram Maxim (1840-1916) und des Luftschiffers Hermann Ganswindt (1856-1934). Der Traum vom Fliegen mit lenkbaren Maschinen wurde erst im frühen 20. Jahrhundert erfüllt.

Reblaus-, Schildlausinvasion,

043_Eulenburg_Hg_1882_p616_Insekten_Reblaus

Verschiedene Entwicklungsstufen der Reblaus (D-F) sowie Schädigungen der Rebwurzel (A-C) (Hermann Eulenburg (Hg.), Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens, Bd. 2, Berlin 1882, 616)

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit wachsender Naturkenntnisse, so dass die engen Grenzen der erweiterten Subsistenzwirtschaft der frühen Neuzeit zunehmend durchbrochen werden konnten. Gleichwohl blieb man abhängig von den Unbilden der Natur, von Missernten. Das zeigte sich besonders deutlich an der Reblausinvasion der 1860er Jahre, die große Teile der europäischen Weinstöcke vernichtete. Das unscheinbare, lediglich anderthalb Millimeter große Insekt stammte aus den USA und gelangte im Wurzelwerk von Setzlingen nach 1860 über Großbritannien nach Südfrankreich, verbreitete sich dann auf dem Kontinent. Die befallenen Pflanzen wuchsen nicht mehr, die Blätter wurden gelb, verwelkten, die Trauben kamen nicht mehr zur Reife, schließlich starben die Rebstöcke ab. Es dauerte jedoch mehrere Jahre, ehe 1868 „Phylloxera rastatrix“ im Wurzelwerk der Pflanzen als Ursache erkannt wurde. Dennoch wurden die Verheerungen größer, bis 1885 waren schließlich mehr als drei Viertel der französischen Anbaufläche betroffen. Am Ende blieb nur die Kultivierung neuer, aus den USA importierter resistenter Rebstöcke. Auch in deutschen Landen waren die Schäden beträchtlich, zumal man bis Mitte der 1870er Jahre über angemessene Gegenmaßnahmen stritt.

Rotationsdruck, Secession,

044_Deutsches Montags-Blatt_1877_08_13_p08_Druckerei_Rotationsdruck_Rudolf-Mosse_Stereotypie

Neue Drucktechnik im Einsatz (Deutsches Montags-Blatt 1877, Ausg. v. 13. August, 8)

Maschinen veränderten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Grundlagen von Presse und Buchhandel. Lumpen und ab den 1860er Jahren auch Holz wurden erst manuell, dann maschinell zu Papier in immer spezialisierter Form verarbeitet. Die Drucktechnik erreichte durch den Einsatz rotierender Walzen einen neuen Aggregatzustand. Erste brauchbare Rotationsdruckmaschinen wurden in den USA und Frankreich entwickelt, doch schließlich setzten in den 1860er und 1870er Jahren britische und deutsche Anbieter die Standards. Die Folgen waren nuanciertere Illustrationen in Zeitschriften, höhere Auflagen von Büchern und das teils mehrfach tägliche Erscheinen einer Reihe meinungsbildender Tageszeitungen.

045_Lustige Blaetter_14_1899_Nr18_p03_Kunst_Ausstellung_Sezession

Neue Märkte durch neuartige Kunst (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 18, 3)

Die bildenden Künste emanzipierten sich im 19. Jahrhundert langsam von ihrer engen Bindung an Adel und Kirche, zielten zunehmend auf das kaufkräftige Bürgertum und auch den Massenmarkt. Gleichwohl blieb der Einfluss zumal der expandierenden Höfe der Hohenzollern, Wittelsbacher und auch Wettiner hoch. Die lokalen Künstlervereine wurden Anfang der 1890er Jahre noch von konservativen Historien- und Porträtmalern, wie etwa Anton von Werner (1843-1915) oder Franz Lenbach (1836-1904) angeführt. Sie hatten zudem großen Einfluss an den Kunsthochschulen, dominierten den Kunsthandel und die regelmäßigen Verkaufsausstellungen. Trotz dieser Machtstellung kam es 1892 zu einer ersten Sezession in München, also der Abspaltung einer Künstlergruppe und dem Aufbau eines konkurrierenden Ausstellungs- und Verkaufsbetriebes. In München erfolgte dies unter dem Banner der Moderne, dann des Jugendstils. 1891/92 zerbrach am Fall Munch auch die Berliner Künstlerszene, wenngleich die Berliner Sezession erst 1898 erfolgte. Ausschluss und Denunziation der Werke des norwegischen Malers Edvard Munch (1863-1944) durch Werner sowie konservative Kreise waren der Anlass insbesondere impressionistischer Künstler für die Gründung eigener sezessionistischer Strukturen. In Wien zerbrach die Künstlerszene 1897, dort allerdings unter dem klaren Banner des Jugendstils.

Bahnhofsperre (läst‘ge Fessel!),

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Ordnung hat seinen Preis: Fahrkartenhalter für das raschere Durchqueren der Bahnsteigsperre (Fliegende Blätter 104, 1896, Nr. 2240, Beibl. 1, 2)

Die Bahnhofsperre war Ordnungsfaktor und Sieb zugleich. Es handelt sich um eine kontrollierte Absperrung, meist ein Gatter oder Zaun, die eine Kontrolle der Bahnhöfe und insbesondere der Bahnsteige ermöglichte – und damit auch den Ausschluss missliebiger Besucher. Bahnhöfe waren nämlich auch öffentliche Treffpunkte, zumal am freien Sonntag. Bahnsteigsperren waren zugleich notwendiger Arbeitsschutz für Bahnschaffner. Die frühen Reisewaggons entstanden nach dem Vorbild der Kutschen, besaßen demnach klar voneinander geschiedene Abteile, die durch eine Tür zum Bahnsteig hin geöffnet werden konnten. Das nutzte den vorhandenen Raum gut aus, erlaubte einen geordneten Ein- und Ausstieg, brachte jedoch Probleme beim Kontrollieren der Fahrscheine mit sich. Schaffner mussten sich entweder von außen von Abteil zu Abteil entlanghangeln oder bei jedem Halt alle Zusteigenden kontrollieren. Die Bahnhofsperre ermöglichte demnach Zeitgewinn, konnte die Fahrkartenkontrolle doch vorverlagert werden. Sie wurde in Preußen und Sachsen ab dem 1. Oktober 1893 eingeführt, nicht aber in Bundesstaaten, die wie etwa Württemberg mit Durchgangswaggons fuhren. Die von Beginn an umstrittenen Bahnsteigsperren wurden durch die vermehrte Indienstnahme dieser in Preußen anfangs den D-Zügen vorbehaltenen Waggons mit Seitengang und Faltenbalgübergängen in der Zwischenkriegszeit peu a peu abgebaut.

„Fuhrmann Henschel“, „Weißes Rössel“,

047_Berliner Leben_01_1898_p156_Theater_Deutsches-Theater_Gerhart-Hauptmann_Fuhrmann-Henschel

Schauspieler der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Drama „Fuhrmann Henschel“ am Deutschen Theater in Berlin (Rittner als Fuhrmann Henschel, Lehmann als Hanne, Sauer als Hauswirt) (Berliner Leben 1, 1898, 156)

Im späten 19. Jahrhundert war Gerhart Hauptmann (1862-1946) Bahnbrecher des Naturalismus, ab 1933 kroch er vor den Nationalsozialisten. Der schlesische Dramatiker begann seine Laufbahn furios und mutig, „Die Weber“ (1892) werden nicht nur wegen ihres Sozialrealismus bis heute gelesen. „Fuhrmann Henschel“, 1898 uraufgeführt, kreist um die Frage nach den Konsequenzen eines gegebenen Versprechens, um das Scheitern an eigenen Ansprüchen, um ein Leben in Schuld und den Selbstmord als Konsequenz. Auf sich selbst angewandt hat es der eitle Großdichter jedoch nie.

048_Oesterreichische Musik- und Theaterzeitung_11_1898-99_Nr05_p2-3_Theater_Schwank_Im-weissen-Rössl_Oskar-Blumenthal_Gustav-Kadelburg

Ein Lustspiel aus der „Stückefabrik“: Kritik am „Weissen Rössl“ im schönen Wien (Österreichische Musik- und Theaterzeitung 11, 1898/99, Nr. 5, 2-3)

Die wahrlich große Zahl literarisch bedeutender Theater- und Opernwerke des späten 19. Jahrhunderts sollte nicht verdecken, dass die Mehrzahl der Angebote primär kurzweiliger Unterhaltung und der Abkehr vom Arbeitsalltag diente. Gemeinsam mit dem Wiener Schauspieler und Dramatiker Gustav Kadelburg (1851-1951) bediente Oskar Blumenthal (1852-1917), Kritiker, Theaterdirektor und Schachkomponist den Markt der leichten Possen virtuos: Mann und Frau, Irrungen und Wirrungen, Intrigen und Ränkespiele, Düsternis und Sonnenaufgang – und am Ende ein Happy End, lange vor dem Aufstieg Hollywoods. Als Operette wurde „Im weißen Rössl“ seit 1930 zum neuerlichen Kassenschlager, Musikfilme folgten, rätselte das Publikum in dieser himmelblauen Walzerwelt doch immer wieder von neuem, warum der Sigismund so schön war.

Chloroform, Antipyrin,

049_Leipziger Zeitung_1847_10_06_Nr253_p6517_Pharmazeutika_Chloroform

Eine Arznei mit strikter Wirkung (Leipziger Zeitung 1847, Nr. 253 v. 6. Oktober, 6517)

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte der anfangs von französischen Forschern geprägte Aufschwung der organischen Chemie zur Entdeckung und Darstellung zahlreicher Stoffe, deren medizinisches Wirkungsprofil anfangs nicht sonderlich interessierte. Der „Chlorkohlenstoff“, so nannte ihn sein deutscher Entdecker (es gab 1831 noch einen französisches und einen US-amerikanischen), der Gießener Apotheker und Chemiker Justus Liebig (1803-1873), dieser Chlorkohlenstoff sollte erst nach vielen Versuchen ab 1848 in Großbritannien zu einem Narkosemittel bei Kindergeburten werden. Nach dem kurz zuvor erstmals eingesetzten Äther gab es damit ein zweites stärker wirkendes Pharmazeutikum, mit dem Patienten betäubt werden konnten, das sie schmerzunempfindlicher machte und ihre Bewegungen einschränkte. Dies erlaubte gezielte chirurgische Eingriffe. Chloroform war gleichwohl nicht ungefährlich, die Dosierung musste auf den Patienten genau abgestimmt sein, ansonsten bestand die Gefahr von massiven Blutdruckschwankungen und Herzstillstand. „Nebenwirkungen“ waren steter Begleiter des Siegeszuges wirksamer Pharmazeutika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

050_Fliegende Blaetter_090_1889_Nr2273_Beibl_p19_Pharmazeutika_Antipyrin_Dr-Knorr_Schmerzmittel

Ein wirksames Schmerzmittel mit gewissen Nebenwirkungen (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2273, Beibl., 19)

Im späten 19. Jahrhundert nahm die Zahl wirksamer Pharmazeutika beträchtlich zu. Schon Jahrzehnte zuvor waren Naturwissenschaftler auf Distanz zu Vorstellungen von ganzheitlich wirkenden Substanzen gegangen, konzentrierte sich stattdessen zunehmend auf chemisch nachweisbare, reproduzierbare und gar synthetisierbare Wirkstoffe. Entscheidend aber wurde der Aufschwung der chemischen Industrie, die nicht nur neue Grundstoffe, sondern insbesondere neue synthetische Farben erforschte und entwickelte. In den 1880er Jahren weiteten Großproduzenten wie Hoechst und Bayer ihr Interesse auch auf Heilmittel aus, waren doch Laborkapazitäten und Grundstoffe vorhanden. Eines der neu synthetisierten Stoffe war 1883 das Antipyrin. Synthetisiert vom Chemiker Ludwig Knorr (1859-1921) wurde es im gleichen Jahr von Hoechst auf den Markt gebracht, nachdem es sich sowohl als schmerzlindernd als auch als fiebersenkend erwiesen hatte. Anfangs im Handverkauf über Apotheken vertrieben, wurde das neue Medikament jedoch schon 1891 in die Verordnung über stark wirkende Arzneimittel aufgenommen, nachdem nicht zuletzt während der Influenza 1889/90 beträchtliche Nebenwirkungen auftraten. Hoechst entwickelte das Antipyrin weiter und präsentierte 1896 das Schmerzmittel Pyramidon, das bis zum Zulassungsstopp 1978 ein Standardmedikament blieb.

Morphium, Phenacetin,

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Entziehungskuren „ohne Qualen“ (Kladderadatsch 45, 1892, Nr. 2, 6)

Morphium ist bis heute ein unverzichtbares Schmerzmittel, nicht zuletzt in der Palliativmedizin. Seine Anfänge reichen zurück bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Paderborner Apothekergehilfe Friedrich Wilhelm Sertürner (1783-1841) den Wirkstoff aus dem getrockneten Naturprodukt Opium isolierte und seine Ergebnisse 1806 veröffentlichte. Dieser Wirkstoff konnte exakt dosiert werden – doch es dauerte Jahrzehnte bis zur breiteren Anwendung. Das lag nicht nur an eitlen Wissenschaftlerfehden, sondern auch am schlechten Geschmack des Morphiums. Erst die Einführung der Infektionsspritze Anfang der 1840er Jahre ermöglichte die vermehrte Anwendung. Morphium war jedoch eine Arznei mit einem Janusgesicht. Fehldosierungen konnten zu Atemstillstand führen, ein längerer Gebrauch zu Abhängigkeit. Bürgerliche Morphinisten kurierten ihre Sucht seit den späten 1870er zumeist in spezialisierten Sanatorien. Deren Inhaber setzten vorrangig auf einen strikten schnellen Entzug, wenngleich es auch Entziehungskuren mit immer kleineren Dosen gab. Ohne Qualen verliefen beide Formen aber sicher nicht.

052_Zeitschrift des allg. österreich. Apotheker-Vereines_43_1889_01_01_Nr01_Anzeigen_p01_Pharmazeutika_Phenacetin_Sulfonal_Grippe_Bayer_Elberfeld

Innovationen von Bayer (Zeitschrift des allg. österreich. Apotheker-Vereines 43, 1889, Nr. 1 v. 1. Januar, Anzeigen, 1)

Die enge Verbindung von chemischer und pharmazeutischer Industrie unterstrich das erste Medikament der 1866 gegründeten Elberfelder Farbenfabriken Friedrich Bayer, die vor allem durch Produktion synthetischer roter und blauer Fuchsinfarben erfolgreich war. Phenacetin wurde aus einem Beiprodukt der Synthese des blauen Farbstoffes Benzoazurin G gewonnen und ab 1888 wegen seiner schmerzlindernden, vor allem aber der fiebersenkenden Wirkung vertrieben. Es diente auch als leistungssteigernde Droge. Seine Marktstellung – und damit die der 1887 neu gegründeten Arzneisparte von Bayer – wurde während der folgenden schweren Grippewellen gefestigt. Phenacetin konnte allerdings zu Nierenschädigungen führen. Ähnlich wie Antipyrin wurde es durch eine Weiterentwicklung ergänzt, nämlich das 1955 eingeführte und bis heute unverzichtbare Schmerzmittel Paracetamol.

Vegetarierkost — o jerum!

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Eine neue vegetarische Gaststätte in Berlin (Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 17, 1884, 2658)

Vegetarismus ist Alltagsernährung ohne fleischliche Lust. Der bewusste Verzicht auf Haupteiweiß- und Geschmacksträger war seit den 1860er Jahren ein öffentliches Skandalon. Die „Vegetarianer“ führten für ihre Ablehnung ethische Gründe an, stand Fleisch doch für Blut und Gewalt, für das Rohe, das Unkultivierte. Passender für den Aufschwung der Wissenschaften waren gesundheitliche Gründe, schienen doch zu viel Eiweiß und zu wenig Nährsalze krankmachend. Die wenigen tausend Überzeugten schlossen sich zu Gegenwelten zusammen, Vereinen mit teils unterschiedlichen Ausprägungen der Lehre vom reflektierten Verzicht. Zugleich etablierten sie zahllose Unternehmen und Dienstleistungen, Siedlungskolonien und diätetische Sanatorien, die weit in die feiste Mehrheitsgesellschaft hineinwirkten. Vollkornbrot wurde erfunden, Traubensaft gekeltert, Datteln und Soja importiert, Nussbutter oder Reformstiefel gefertigt. Um die Jahrhundertwende gab es fast 30 vegetarische Unternehmen, ein wachsendes Netzwerk von Reformhäusern und vegetarische Restaurants, die häufig Begegnungszentren der widerständigen Minderheit waren.

Diphtherie-, Pest-, Hundswuthserum,

054_Illustrirte Frauen-Zeitung_22_1895_p008_Bakteriologie_Laboratorium_Diphterie_Emil-Behrung_Erich-Wernicke_Meerschweinchen

Heroische Forscher mit Meerschweinchen – Emil Behring und Erich Wernicke bei der Arbeit am Diphtherieserum, wohl 1890 (Illustrirte Frauen-Zeitung 22, 1895, 8)

Diphtherie, früher Rachenbräune oder Krupp genannt, war eine der vielen tödlichen Infektionskrankheiten, gegen die es im 19. Jahrhundert keine wirklichen Hilfsmittel gab. Diphtherie tötete Kinder, in den 1880er Jahren ungefähr 25.000 ein- bis dreijährige pro Jahr. Im Gefolge des raschen Aufschwungs der Bakteriologie gelang es dem Mediziner Friedrich Löffler (1852–1915) zwar 1884 den Auslöser zu benennen, doch ein Impfstoff fehlte weiterhin. Das änderte sich von 1890 bis 1894 auf spektakuläre Art. 1890 entwickelten die Bakteriologen Emil von Behring (1854-1917) und Kitasato Shibasaburō (1853-1931) in Berlin ein neues Verfahren zur Bekämpfung von Diphtherie und von Wundstarrkrampf. Im Blut infizierter Versuchstiere fanden sie ein körpereigenes Antitoxin, also Antikörper, die die Bakterien bekämpfen konnten. Es dauerte vier Jahre, bis Behring und andere prominente Bakteriologen ein Heil-Serum aus dem Blut von Pferden entwickeln und zur Marktreife bringen konnten. Dies war eine Wegmarke für die Immunologie und ein lukrativer Markt für die aufstrebende deutsche pharmazeutische Industrie, – so auch Seren gegen die Tollwut (ab 1885) und die Pest (ab 1890).

Erbswurst, Marlitt, Sanatorien,

055_Kladderadatsch_24_1871_11_05_Nr51_Beibl1_p02_Erbswurst_Louis-Lejeune_Der Bazar_33_1887_p289_Eugenie-Marlitt

Eine schnelle Suppe für Jeden: Louis Lejeune bewirbt seine Erbswurst (Kladderadatsch 24, 1871, Nr. 51 v. 5. November, Beibl. 1, 2; Eugenie Marlitt, Bestsellerautorin (Der Bazar 33, 1887, 289))

Wer mehr zur Erbswurst, einem frühen Suppengrundstoff und Convenienceprodukt erfahren möchte, der lese „Die wahre Geschichte der Erbswurst“. Die Erbswurst schmeckte mit der Zeit allerdings etwas fad, und ähnliches galt für die Ergüsse der Königin des Kolportageromans, Eugenie Marlitt. Hinter dem Pseudonym verbarg sich die thüringische Sängerin und Gesellschaftsdame Eugenie John (1825-1887), die seit 1865 in und dann auch abseits der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ eine riesige Leserinnenschar unterhielt. Ihre Spezialität waren Romane, Liebesromane. Mehr als 200 erschienen, erreichten eine Auflage von über 30 Millionen Exemplaren, literarische Massenproduktion lange vor der Einführung des Fließbandes. Marlitts Heldinnen waren gebildete, sittsame und aufstiegsorientierte Frauen, die Männer demgegenüber furchtlos, tapfer, ehrbar. Manche Feminist*innen sahen in den Bürgersfrauen auch emanzipatorisches Potenzial: „O wunderliches Frauenherz! Unter den furchtbarsten Schicksalsschlägen ausdauernd und mit unerschöpflicher eigner Kraft sich immer wieder stählend, bäumte es sich gegen die Nadelstiche einer boshaften Zunge und fühlte den Mut erlahmen!“ Wer will, angesichts dieses Geheimnisses der alten Mansell, da nicht zustimmen und voll Andacht schweigen.

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Heil finden im Sanatorium (Kladderadatsch 45, 1892, Nr. 7, 6)

Der Psychiater Paul Landerer (1843-1915) war einer von zahlreichen Ärzten, die es bei einer gehobenen Privatpraxis nicht belassen wollten, sondern sich ihr eigenes Reich, ein Sanatorium, errichteten. In diesem Falle handelte es sich um eine 1875 erworbene Anstalt, die gezielt Kranke, ab 1892 dann nur Patientinnen aus gehobenen Kreisen versorgte und beherbergte. Sanatorien boten ein bürgerliches Gegenbild zur wachsenden Zahl von Irrenanstalten und Krankenhäusern dieser Zeit, die Kranken teils aufbewahrten, teils rasch durchschleusten. Die in der Literatur der Jahrhundertwende eloquent beschriebenen Häuser zielten auf die Heilung von realen und imaginierten Krankheiten, dienten dem modischen Ausprobieren alternativer naturheilkundlicher Verfahren, der gehobenen Geselligkeit, dem Rückzug zur Suchtbekämpfung oder nach Nervenzusammenbrüchen. Ihre rasch wachsende Zahl spiegelte auch die Ausdifferenzierung der Medizin in immer neue Spezialgebiete. Die Gewerbeordnungsnovelle von 1896 setzte den „Privatkrankenanstalten“ allerdings engere Grenzen, parallel dienten die öffentlichen Krankenhäuser zunehmend selbst der Heilung.

Panzerzüge, Crematorien,

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Britischer Panzerzug auf der Bahnstrecke Kimberley-Mafeking während des Burenkrieges (Illustrirte Zeitung 113, 1899, 642)

Die militärstrategische Bedeutung der Eisenbahn lag vor allem in der raschen Bewegung von Soldaten, Material und Nachschub. Gleichwohl wurde schon während des amerikanischen Bürgerkrieges versucht, Züge mit Artillerie zu armieren, um gegnerische Truppen aus der Distanz attackieren zu können. Die deutsche Öffentlichkeit nahm Panzerzüge jedoch vor allem während des asynchronen Kolonialkrieges britischer Truppen gegen die Buren in Südafrika 1899 zur Kenntnis. Sie dienten vornehmlich dem Truppentransport, konnten durch ihre Artillerie jedoch auch strategische Ziele, etwa Brücken und Befestigungen angreifen. Ihr Erfolg war begrenzt, denn Panzerzüge boten ihrerseits einfache Ziele, konnten durch die Zerstörung von Gleisen auch indirekt leicht bekämpft werden. Dennoch wurden sie von vielen europäischen, vor allem aber osteuropäischen Nationen bis in den Zweiten Weltkrieg hinein eingesetzt.

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Entwurf zu einem Kolumbarium mit Krematorium des Dresdener Vereins „Urne“ von Richard Michel (Architektonische Rundschau 14, 1898, Tafel 68)

Krematorien waren die Essenz bürgerlich-säkularen Denkens, Ziel einer sich seit den 1870er Jahren laut und breit entwickelnden europäischen Feuerbestattungsbewegung, Ausdruck eines vordrängenden ökonomischen und hygienischen Denkens. In Deutschland bediente man sich in den Krematorien vornehmlich des Siemenschen Regenerativofens, der ab 1864 in der Stahl- und dann in der Glasproduktion eingesetzt und für die Zwecke der Einäscherung menschlicher und tierischer Leichen modifiziert wurde. Er wurde ab 1874 für Tiere, ab 1876 auch für Menschen genutzt, zierte dann ab 1878 das erste architektonisch ansprechend ausgelegte Krematorium in Gotha, das Zielpunkt eines beträchtlichen Leichentourismus wurde. Die Feuerbestattungsvereine reagierten auf zentrale Probleme der Urbanisierung, insbesondere den wachsenden Wohnungsbedarf und die Seuchenbekämpfung. Religiöse Gegenargumente wiesen sie als überholt zurück, ebenso juristische Probleme bei möglichen Mordfällen. Krematorien wurden im 19. Jahrhundert in Deutschland dennoch kaum gebaut. Dies änderte sich erst, nachdem 1911 Preußen und 1920 Bayern die Feuerbestattung erlaubten.

Phonographen, Mauserflinten,

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Ängste vor Arbeitsplatzabbau durch Phongraphen auf deutschen Bühnen (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 23, 6)

Der Phonograph war ein Pionierprodukt sowohl der Unterhaltungselektronik als auch der Büromaschinen. Das mechanische Gerät war das Resultat von Fortschritten in der Akustik und der Werkstoffentwicklung. Patentiert wurde die „Sprechmaschine“ 1877 von dem US-amerikanischen Erfinder und Unternehmer Thomas Alva Edison (1847-1931), der auch eine deutsche Niederlassung gründete. Der Phonograph erlaubte die Aufnahme und Wiedergabe von Tönen auf Stanniol-, ab 1887 dann auf Wachswalzen. Obwohl die Qualität der Aufnahmen eher gering war, war die öffentliche Resonanz anfangs groß – der österreichische Possenspezialist Eduard J. Richter (1846-1893) verfasste schon 1879 einen ersten Schwank „Der Phonograph“. Gleichwohl blieb die Verbreitung begrenzt, denn die Walzen nutzten sich rasch ab und die Betriebskosten waren entsprechend hoch. In den 1890er Jahren gab es zwar vermehrt kopierte Walzen mit Musikaufnahmen, doch als Tonträger setzten sich kurz vor der Jahrhundertwende die haltbareren, einfacher herzustellenden und zu kopierenden Schellackplatten für Grammophone durch.

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Mauser-Gewehr in geöffnetem Zustand (Das Buch für Alle 9, 1874, 164)

Die Württembergische Waffenfabrik Mauser ist ein gutes Beispiel für das langsame Herauswachsen hochspezialisierter Firmen aus dem Handwerk und die Gründung von familiengeführten Weltmarktführern in der vielbeschworenen Provinz – hier in Oberndorf. Die 1872 gegründeten Mauserwerke konzentrierten sich anfangs auf die Produktion eines neuartigen Gewehrs mit einem deutlich verbesserten Verschluss. Als Standardgewehr M 71 in den deutschen Armeen eingeführt, half diese manuell und von hinten zu ladende Schusswaffe, den relativen technischen Rückstand gegenüber dem französischen Heer wettzumachen. Der Erfolg ermöglichte den beiden Brüdern Wilhelm (1834-1882) und Peter-Paul Mauser (1838-1914) nicht nur das Erbe ihres Vaters, des Büchsenmachers Franz-Andreas Mauser (1792-1861), fortzusetzen, sondern auch die vor Ort gelegene Königlich Württembergische Gewehrfabrik 1874 aufzukaufen. Mauser-Gewehre wurden nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Staaten eingesetzt – ähnlich wie etwa die Gewehre der Österreichisches Waffenfabriksgesellschaft in Steyr.

Röntgen-Strahlen,

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Röntgenstrahlen in der Populärkultur (Kladderadatsch 49, 1896, Nr. 4, 3)

Röntgenstrahlen sind unsichtbare elektromagnetische Wellen, haben eine hohe Energie und hinterlassen Linien, wenn sie abgebremst werden. Namensgeber war der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923), der sie Ende 1895 eher zufällig entdeckte. Röntgen verstand unmittelbar die Bedeutung seiner Entdeckung, ein Röntgenbild von Hand nebst Ehering seiner Gattin führte sie allseits vor Augen. Schon im Januar 1896 durfte er sie Wilhelm II. vorstellen, kurz darauf erfolgte die Umbenennung der „X-Strahlen“ in Röntgenstrahlen. Röntgen verzichtete auf die Patentrechte, bereitete so einer raschen Verbreitung der Strahlen in der Medizintechnik den Weg. Röntgenapparate veränderten die Diagnostik tiefgreifend, konnten Knochenbrüche oder Schießverletzungen doch zunehmend genauer eingeschätzt werden. Wichtiger noch waren die zahlreichen Anwendungen der Röntgenstrahlung in der naturwissenschaftlichen Forschung, zumal der Radioaktivität. Nicht vergessen werden sollte, dass die Dosierungen der Strahlen anfangs viel zu hoch waren und Folgeerkrankungen des Röntgens erst mit einigem Abstand erkannt und eingedämmt wurden.

Schnurrbartbinden,

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Kaisertreu und geschäftstüchtig: Ausschnitt aus der Produktpalette von François Haby (Lustige Blätter 15, 1900, Nr. 1, 12)

Im 19. Jahrhundert trug der Mann Bart – auch wenn dieser schon schrumpfte, vom Vollbart über den Kotelettenbart bis hin zum ausgezogenen Schnurrbart Kaiser Wilhelm II. Bartpflege erfolgte meist häuslich, doch zu schneiden war vielfach Aufgabe des Barbiers, des Friseurs. Dieser kam bis ins späte 19. Jahrhundert noch nach Hause, erst dann wurden eigene Salons üblich. Einer dieser aufstrebenden Haarspezialisten war François Haby (1861-1938), Nachfahre hugenottischer Zuwanderer, der aus West- und Ostpreußen stammte und dann zum Inbegriff des wilhelminischen Berliners wurde. Geschäftstüchtig, die Kundschaft umschmeichelnd, mit devot-jovialen Umgangsformen wurde er Ende 1894 königlicher Hof-Friseur, baute darauf eine überaus erfolgreiche unternehmerischer Karriere auf. Er propagierte den an den Spitzen hochgezogenen und mit Pomade in Form gebrachten Bart als Mode für den kaisertreuen Patrioten, kreierte ein Panoptikum von Pflegeprodukten, bewarb dieses mit dröhnender Reklame und markanten Figuren. Seine Kreationen hatte einprägsame Namen, wurden Alltagsbegriffe: „Donnerwetter – tadellos“, die Pomade, „Wach auf“, die Rasiercreme, vor allem aber die Schnurrbartwichse „Es ist erreicht“, die ohne nächtlich zu tragender Bartbinde – pardon, Kaiser-Binde – nicht denkbar war.

Fahrrad-, Ski- und Kraxelsport,

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Fahrradrennen im Sportpark Friedenau (Berliner Leben 1, 1898, 64)

Das Fahrrad wurde im späten 19. Jahrhundert zu einem weit verbreiteten Alltagsgegenstand – als Lieferfahrrad, als Freizeit- und Sportgerät, erst selten für den Weg zur Arbeit. All das war möglich, weil sich das „Fahrrad“ deutlich änderte: Die 1817 vorgestellte Draisine musste noch direkt mit den eigenen Füßen bewegt werden. Pedale wurden seit den 1860er Jahren eingeführt, das Hochrad war die Folge. Dieses war unsicher und schwer zu lenken, doch in den 1870er Jahren gab es schon erste Amateurrennen in Frankreich, den USA und Großbritannien. Der eigentliche Fahrradsport, dann auch von ersten Profis betrieben, entstand jedoch erst mit dem seit den späten 1880er Jahren eingeführten Niedrigrad. Dieses war wendiger, erreichte deutlich höhere Geschwindigkeiten und war wesentlich sicherer als das Hochrad. Als Konsumgut war es deutlich billiger, wurde nicht nur von Bürgern, sondern auch von Damen und Arbeitern gefahren. Sein großer Erfolg schuf nicht nur eine neue Branche der Feinmechanik, sondern war begleitet von wegweisenden Innovationen, etwa dem Luftreifen, verbesserten Bremsen, dann der Rücktrittsbremse und auch ersten Nabenschaltungen. Der Radsport wurde in Deutschland von einer breiten Vereinskultur getragen, die auch erste Radrennbahnen ermöglichte, etwa die oben abgebildete 1897 eröffnete Bahn in Friedenau. Sprints, Mannschafts- und vor allem Steherrennen über lange Strecken lockten viele Zuschauer an, reizten auch zu Sportwetten. Aufgrund der Wettereinwirkungen verlagerte sich der Radsport teils auch in Hallen, wenngleich das erste Sechstagerennen in Deutschland erst 1909 stattfand. Vorher setzten Langstreckenfahrten im Freien ein, am bedeutendsten gewiss die 1903 erstmals durchgeführte Tour de France.

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Die Gründer des Oberharzer Skiklubs 1896 auf dem Brocken (Sport im Bild 27, 1921, 358)

Skifahren wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem bürgerlichen Freizeitvergnügen. Die Sitte, sich auf Brettern schwungvoll durch den Schnee zu bewegen, stammte aus Norwegen, von dort kamen auch die ersten Skier nach Deutschland. Die in den frühen 1890er Jahren gegründeten Skivereine dienten erst einmal dem geselligen Miteinander, organisierten gemeinsame Ausflüge in die deutschen Mittelgebirge, etwa den Harz, den Thüringer Wald oder aber das Hochsauerland. Von den Einheimischen kritisch beäugt, entwickelten sich dort Grundformen touristischer Infrastruktur, Schutzhütten, Pisten, Gasthöfe und Skibedarfsgeschäfte. Ähnliches erfolgte auch in den Alpen, doch dort gab es schon früh eine Spreizung zwischen einem mondänen Wintersporttreiben, das sich nun auch auf das Skifahren erstreckte, und einem langsam wachsenden bürgerlichen Tourismus, der sich an die schon früher entstandenen Bergsteigervereine anschloss.

Tennis, Fußball und so fort,

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Schickliche Sportkleidung – Tennismode 1893 (Der Bazar 39, 1893, 205)

Großbritannien, die führende und mit Abstand reichste Nation des späten 19. Jahrhundert, setzte auch die Trends bei dem anfangs „Lawn Tennis“ genannten Freizeitvergnügen. Es war dort Mitte der 1870er Jahre aufgekommen – und hatte mit dem Luftreifen des Niedrigrades gemein, dass es ohne vulkanisierten, also flexiblen Kautschuk kaum möglich gewesen wäre, gehörte doch der Ball zum Tennis wie der Schläger. Tennis war ein Gentleman-Sport, hatte klare Regeln, sollte Körperbeherrschung und Eleganz demonstrieren, ein edler, fairer Wettbewerb sein. Mode begleitete seinen Aufstieg, zumal für das schickliche Spiel der Damen. 1877 fand das erste Turnier in Wimbledon statt, weitere folgten. Auch in Deutschland wurde dieses eigenartige Treiben beobachtet und dann ausprobiert. In deutschen Kurorten, den Treffpunkten von Adel, Offizieren, Unternehmern und Besitzenden, entstanden die ersten Tennisplätze, Vereine und erste Turniere im anglophilen Hamburg folgten. In den 1890er Jahre entstanden in Deutschland immer mehr Vereine, Meisterschaften wurden gespielt. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten blieb der „weiße Sport“ sozial begrenzt, bot lange noch einen Ort für Repräsentation und das Serve und Volley der Sportsmen and -women.

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Schickliche Sportkleidung – Fußballmode 1893 (Der Bazar 39, 1893, 362)

Auch der Fußball war Teil der englischen Sportinvasion des europäischen Kontinents im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In Deutschland hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine sehr aktive Turnbewegung etabliert, die anfangs national und demokratisch war, später jedoch zunehmend nationalistisch tönte. In England wurde „Leibesertüchtigung“ anders betrieben, zumal an den Ausbildungsstätten der gesellschaftlichen Eliten. Fußball entwickelte sich seit den 1840er Jahren aus dem Rugby, war dessen feinere, kultiviertere Form. Verbindliche Regeln entstanden erst in den 1870er Jahren, wurden dann auf dem Kontinent rasch rezipiert und leicht verändert. Auch dieser Sport entwickelte sich erst im Norden, 1874 fand ein erstes Spiel in Braunschweig statt. Fußball blieb im 19. Jahrhundert ein bürgerlicher Sport, ein Spiel von Akademikern und Burschenschaftern – anders als in England, wo die Arbeiterbewegung in den 1890er Jahre eine Fußballgegenkultur entwickelte. Gleichwohl änderte sich die soziale Exklusivität kurz vor der Jahrhundertwende. 1899 berichtete der sozialdemokratische „Vorwärts“ über allgemeine Klagen über die Behelligung von Passanten durch fußballspielende Jungen, „aber wem’s nicht paßt, der möge mit darauf hinzuwirken suchen, daß dem Spielplatzmangel in Berlin abgeholfen wird“ (Vorwärts 1899, Nr. 87 v. 14. April, 8). 1900 wurde der Deutsche Fußball-Bund gegründet und kurz darauf begann mit der Gründung von Vereinen wie Westfalia Schalke der Aufstieg auch von Arbeiterfußballvereinen, die denen der Bürgersöhnchen schon bald den Schneid abkaufen sollten.

Sonnenbäder, Wasser-Curen,

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Therapie für alle: Sonnenbad im Familienbad Wannsee 1907 (Der Welt-Spiegel 1932, Ausg. v. 5. Juni, 12)

Sonnenbäder waren im 19. Jahrhundert selten: Die Kleidung bedeckte und wärmte, Entäußerungen waren nicht schicklich. Auch wenn die Säkularisierung schon seit dem späten 18. Jahrhundert rasch voranschritt, war die schwarze, abdeckende Grundkleidung der Priester und Ordensleute doch ein wichtiger Referenzpunkt, ältere Frauen richteten sich meist danach. Eine „gesunde Bräune“ gab es noch nicht, an Stränden legte man sich voll bekleidet in die Sonne. Doch gegen Ende des Jahrhunderts änderte sich langsam die Haltung zum Licht. Ultra-violette Strahlung war schon länger bekannt, doch sie bewirkte eben nicht nur Sonnenbrand, sondern tötete auch Bakterien ab. Der dänische Mediziner Niels Ryberg Finsen (1860-1904) entwickelte das Finsenlicht, eine Vorform der Höhensonne, um Hauttuberkulose zu bekämpfen. Lauter tönten Naturheilkundler, etwa der US-Arzt John Harvey Kellogg (1852-1943), der in seinem Battle Creek-Sanitarium mit elektrischen Glühlampen therapierte. Breitere Wirkung noch entfaltete in Europa der Schweizer „Sonnendoktor“ Arnold Rikli (1823-1906), der die Heliotherapie, also intensive Sonnenbäder, mit viel Bewegung, Wasseranwendungen und Heilkost kombinierte. All dies waren Frühformen einer deutlich anderen Bewertung des Lichtes, seiner Wärme und der Wonnen des Sonnenbades im 20. Jahrhundert, die weniger von der Medizin und der Hygiene als von anderen Freizeit-, Urlaubs- und Körpervorstellungen getragen wurden.

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Patient bei einem Kastendampfbad (F[erdinand] Runge, Die Wasserkur, Leipzig 1879, 117)

Wasserkuren etablierten sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als eine ärztliche Therapie, die sowohl auf antike Vorbilder als auch auf Bäderärzte des 18. Jahrhunderts verweisen konnte. Sie wurde zunächst vor allem in den seit dem frühen 19. Jahrhundert rasch entstehenden Heilbädern angeboten, boten doch Bäder, Trinkkuren und Inhalationen von mineralstoffhaltigen Wässern Hilfe bei Rheuma und Gliederschmerzen, stärkten das Immunsystem, milderten Herz- und Kreislauferkrankungen. Die Balneologie professionalisierte sich als eine medizinische Spezialdisziplin für ein zahlungskräftiges adeliges und bürgerliches Klientel. Anders dagegen die Hydrokultur, die auf die Anwendung von Wasser selbst abzielte. Bekannt sind etwa die abhärtenden Kuren von Vincenz Prießnitz (1799-1851) oder seine kalten Kompressen gegen innere Krankheiten. Der Nassauer Hydrotherapeut Ferdinand Runge (1835-1882) schlug die Brücke hin zur empirisch arbeitenden Medizin, nicht jedoch der Bad Wörishofer Priester, Bienenzüchter und Naturheilkundler Sebastian Kneipp (1821-1897), der Wasserkuren und das Wassertreten resp. Kneippen zum Mittelpunkt einer seit den 1890er Jahren europaweit erfolgreichen Laienbewegung machte.

Hygiene-Professuren,

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Max von Pettenkofer, ab 1865 erster Hygieneprofessor in München (Gartenlaube 1898, 855)

Die Hygiene entstand Mitte des 19. Jahrhunderts als eine naturwissenschaftliche Gesundheitslehre, deren Ziel die „Herstellung von optimalen Bedingungen für das Leben“ (Max v. Gruber, 1911) war. Sie war eine Schnittpunktwissenschaft, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Formen der Kranken- und Seuchenbekämpfung mit neuen Aufgaben, etwa der städtischen Wasserver- und Müllentsorgung, mit Stadtplanung und Wohnungsbau verband. Die Hygiene institutionalisierte das Aufbegehren des Menschen gegen den scheinbar gottgewollten Tod, konzentrierte sich aber nicht auf Individuen, sondern auf das Glück der großen Zahl. Vor dem Hintergrund des Darwinismus entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert eine facettenreiche „soziale Hygiene“, deren eugenisches Gedankengut zur Jahrhundertwende Allgemeingut war.

Auerlicht, Acetylen,

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Aktive Anpreisungen des Neuen (Vossische Zeitung 1897, Nr. 460 v. 1. Oktober, 17; Berliner Leben 5, 1902, Nr. 5, s.p.)

Der Autor des Gedichts war von der Helligkeit des neuen Auer-Gas-Lichtes wohl derart überwältigt, dass er dieses gleich zweimal erwähnte. Fünfmal so hell wie im zuvor üblichen Schnittbrenner, war das Auerlicht auch weniger schädlich, da das Gas deutlich besser verbrannte. Sie erfahren unten mehr, wenn es denn um den Glühlichtstrumpf geht. Auch Acetylen wurde als Leuchtmittel genutzt. Diese Karbidlampen enthielten Gas in gebundener Form, so dass sie mobil nutzbar wurden. Seit 1894 veränderten sie erst die Beleuchtung von Fahrrädern, Motorrädern und Automobilen, wurden dann auch als Grubenlampen im Bergbau eingesetzt. Ebenso wichtig war die Verwendung des Ethins – so der chemische Name des Acetylens – in der Metallverarbeitung. Mit Sauerstoff gemischt ermöglichte das in speziellen Flaschen gelöst gelieferte Gas autogenes Schweißen. Das Verfahren erlaubte die einfache Verbindung dünner Bleche, konnte außerdem dezentral genutzt werden, so dass Reparaturen und Einsätze außerhalb von Schmieden deutlich einfacher wurden.

Straßenbahn, Sanatogen,

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Trassenbau für die Straßenbahn am Berlin-Köllnischen Fischmarkt 1886 (Berliner Leben 12, 1909, Nr. 2, 16)

Die Straßenbahn war Folge der Urbanisierung, prägte sie zugleich aber. Sie war Kern der Nahverkehrssysteme des späten 19. Jahrhunderts, definierte die Hauptverkehrsachsen, erforderte zugleich deutlich breitere Straßen. Pferdestraßenbahnen gab es in den USA und vielen europäischen Staaten seit den 1830er Jahren. Doch sie waren teuer und unhygienisch, ferner verunglückten die Tiere relativ häufig. Das eigentliche Zeitalter der Straßenbahn begann 1880 mit ihrer Elektrifizierung, wenngleich beide Systeme noch Jahrzehnte parallel bestanden. In Berlin konstruierte Werner Siemens (1816-1892) eine erste Elektrische, die 1881 den Betrieb aufnahm. Kurz darauf errichtete Siemens & Halske in Paris die erste Strecke mit elektrischer Oberleitung. Probleme mit dem Netzausbau und dem Wegerecht standen einem rasanten Wachstum jedoch entgegen; zudem wurde lange darum gerungen, ob Straßenbahnen privat oder in städtischer Regie betrieben werden sollten. Dadurch wurden die USA, in Europa auch Frankreich zu den eigentlichen Bahnbrechern des neuen Verkehrsmittels. In Deutschland nahm die Entwicklung seit der Jahrhundertwende Geschwindigkeit auf. Die Großstädte konnten nun noch rascher wachsen, Innenstadt und Vorstädte rückten auseinander, ebenso Stätten der Arbeit, der Freizeit und der Kultur.

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Werbung für Sanatogen als Kräftigungsmittel (Illustrirte Zeitung 113, 1899, 487)

Das 1898 von der Berliner chemischen Firma Bauer auf den Markt gebrachte Milcheiweißpräparat Sanatogen steht für Versuche von Medizinern, Chemikern und Unternehmern, die Alltagsernährung durch konzentrierte Nahrungsstoffe billiger und effizienter zu machen. Anders als Hunderte ähnlicher Präparate konnte sich Sanatogen jedoch langfristig behaupten, da es nicht nur als Nähr-, sondern auch als Nervenpräparat vermarktet wurde. Zum Hauptmarkt des global vertriebenen Markenartikels entwickelte sich rasch die USA, wo es als Prototyp der leistungsfähigen deutschen pharmazeutischen Industrie galt.

Klapphornverse, Streichholzscherze,

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Der erste Klapphornvers (Fliegende Blätter 69, 1878, 15)

Im vermeintlichen Land der Dichter und Denker – die Sentenz wurde von der Schriftstellerin Germaine de Stael (1766-1817) in ihrem Reisebuch „De l’Allemagne“ (1813) popularisiert – hatte die Poesie einen hohen Stellenwert. Zeitschriften und Zeitungen waren während des 19. Jahrhunderts voller Gedichte, Sprachkunst war Kern der Bildung. Doch nicht nur die hohe Kunst erfreute. Parodien und Possengesang, Spottgedichte und Persiflagen, Ironie und Satire, sie alle fanden ein breites Publikum, waren zugleich Trösterchen für die fehlende Macht der Demokraten, der unteren Stände, der Arbeiterbewegung. Der Scherz wollte jedoch immer auch Ernst sein, kein simpler Schabernack, kein spaßiges Späßchen. Nonsens war undeutsch, war britisch, wie Edward Lear (1812-1883) nicht nur in seinen Limericks immer wieder trefflich unterstrich. Und doch, es gab zumindest eine wichtige Ausnahme, einen Abglanz des Lachen Gottes auf deutscher Erde: Es handelt sich um Klapphornverse, ein Freiraum für jene, die einfach einmal blödeln wollten. Er entstand anlässlich der Gedicht-Zusendung eines hier verschämt nicht genannten Bildungsbürgers an die Redaktion der Karikaturzeitschrift „Fliegende Blätter“ im Jahre 1878. Das Gedicht „Idylle“ war misslungen. Doch dank einer schönen Zeichnung und einer (s. unten) rasch folgenden Ergänzung entstand ein neues Genre des Frohsinns und der Heiterkeit, das Schwächen adelte und dem Scheitern eine Chance gab. Vier Zeilen, drei- bis vierhebig, unreine Paar-, selten Kreuzreime, ein wenig Phantasie und – ganz wichtig! – keine Pointe: In diesem Rahmen konnten sich auch Deutsche tänzelnd bewegen, schwungvoll und unernst.

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Der Nachfolger – und damit der eigentliche Beginn der Klapphornverse (Fliegende Blätter 69, 1878, 43)

Wenn Sie mehr wissen wollen: „In Göttingen an der Alma mater, da wirkte der geistige Vater, der lieblichen Knaben, die ‘n Klappenhorn haben“ (Der Sprachdienst 22, 1978, 111).

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Weit mehr als Streichholzscherze (Volks-Zeitung 1896, Ausg. v. 11. Mai)

Während sich Klapphornverse der Pointe verweigerten, waren Scherzartikel kommerzielle Garanten für Stimmung. Das schwierig abzugrenzende Feld entstammte wohl dem Karneval, dessen Scherz in der Umkehrung der bestehenden Verhältnisse lag. Fidele Masken und originelle Mützchen fanden sich dort, ebenso Verkleidungen und Lärmartikel. Scherzartikel wurden zumal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil von Festen, seien es Bälle, Geburtstage oder aber die so beliebten Cotillons, Tanzveranstaltungen mit immer wieder wechselnden Partnern, neckischen Spielen und manchem Knalleffekt. Wichtig für die sich im späten 19. Jahrhundert etablierenden Fach- und Versandgeschäften war auch der Aprilscherz. Beliebt waren Zaubertinte, Wasserspritzen, Gummigetier, allerhand Prothesen und Körperteile. Während Streichholzscherze mit dem nie vollends zu beherrschendem Feuer spielten, kokettierten die Scherzartikel mit dem Peinlichen, Grotesken, Frivolen und Unreinen. Eingehegte Grenzüberschreitungen waren beliebt, boten sie doch neue Marktchancen und einen kleinen Freiraum innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und der bestehenden Moral.

Caviar aus Druckerschwärze,

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Chemische Analysen verschiedener Kaviarsorten in Berlin 1893 (Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 4, 1893/94, 22)

Grobe Fälschungen, wie etwa die Schwärzung von Fischlaich durch neuartige Teerfarben, waren um 1900 sehr selten, zu einfach war deren Nachweis. Die Kontrolle des zumeist aus Russland, teils aber auch aus Pillau, vom Elbeunterlauf, aus Oregon oder Alaska stammenden Rogens der großen Störarten orientierte sich allerdings noch stark an menschlichen Sinneserfahrungen. Zur Objektivierung wurden zunehmend chemisch definierte Kenngrößen entwickelt, mit denen man die Qualität und mögliche Verfälschungen von Nahrungsmitteln einfach bestimmen konnte. Die hier gezeigten Kochsalz- und Fettsäurengehalte markierten den Beginn schnellerer und einfachere Kontrollen, die angesichts der im frühen 20. Jahrhundert einsetzten Standardisierung der Kaviarsorten dann nur noch stichprobenhaft durchgeführt wurden.

Feuerwehren, stets bereit,

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Alarmsignal durch einen Feuerwehrmann mit zeittypischer Ausrüstung (Feuerwehrsignale 1, 1883, Nr. 2, 1)

Feuerwehren gehörten seit der frühen Neuzeit zum Standardarsenal der meisten Städte, waren Brände in den verdichteten und von Mauern geschützten Orten doch besonders gefährlich. Auch Feuerspritzen wurden schon im 18. Jahrhundert eingeführt, mochten die handbetriebenen Geräte auch eher für kleine Feuer geeignet sein. Dennoch wurden die Feuerwehren im 19. Jahrhundert deutlich löschkräftiger. Erstens zogen die größeren Städte nicht mehr alle Bürger zum Löschdienst heran, sondern vermehrt leistungsfähigere Männer, vielfach aus Vereinen oder Fraternitäten. Zweitens erlaubte die ausgefeiltere Wasserversorgung eine deutliche bessere Versorgung der Feuerwehren, die über Hydranten schneller und einfacher auf Löschmittel zurückgreifen konnten. Drittens entstanden im Gefolge der allgemeinen Professionalisierung der städtischen Verwaltung und der Daseinsfürsorge zunehmend professionelle Berufsfeuerwehren, deren Qualifikation und Ausstattung die der freiwilligen Feuerwehren und vor allem der Bürgerwehren deutlich übertraf. Berlin machte 1851 den Anfang, doch es dauerte noch Jahrzehnte, bis andere Großstädte folgen sollten – Hannover etwa erst 1880. Sie waren zugleich Antworten auf das rasche Wachstum der Städte nach dem Schleifen der Stadtmauern sowie die immer größeren Gebäude: Theater- und kurz vor Jahrhundertwende Warenhausbrände erforderten deutlich leistungsfähige Brandbekämpfung, auch striktere Vorgaben für den Brandschutz der Gebäude.

Europäische Einheitszeit,

078_Berliner Tageblatt_1893_03_31_Nr166_p01_Zeit_Einheitszeit_Karte_Normierung

Zeitunterschiede in Mitteleuropa (Berliner Tageblatt 1893, Nr. 166 v. 31. März, 1)

Das 19. Jahrhundert war nicht nur durch den Aufstieg von Nationalstaaten geprägt, sondern auch von intensiven Bestrebungen zwischenstaatlicher Kooperationen. Ein gutes Beispiel waren Maßeinheiten oder aber Spurbreiten für Eisenbahnen. Die Zeitmessung und -koordinierung war schwieriger, standen der wissenschaftlichen Erfassung einer dem vermeintlich natürlichen Sonnenlauf folgenden Zeiterfassung doch politische Bedenken entgegen. In deutschen Landen machte sich dies insbesondere im Eisenbahnverkehr bemerkbar, denn bis Anfang der 1890er Jahre gab Berlin die Zeit für die preußischen und elsässisch-lothringischen Bahnen vor, München für die bayerischen, Frankfurt für die hessischen, etc. Den Ausweg boten Zonenzeiten, die insbesondere von den USA vorgeschlagen wurden, um das dort bestehende Wirrwarr von mehr als siebzig Zeitzonen einzuhegen. 1884 einigten sich die führenden Staaten auf die mittlere Greenwich-Zeit als Grundlage einer auch für die Schifffahrt wichtigen Zeitbezeichnung, 1889 folgte auf einer internationalen Konferenz in Washington der Vorschlag einer verbindlichen Zonenzeit. Dies verursachte kontroverse Debatten, nicht nur im Deutschen Reich, in dem die „natürliche“ Zeitdifferenz von Ost und West siebenundsechzig Minuten betrug. Am 1. April 1893 wurde schließlich die Mitteleuropäische Zeit als gesetzliche Norm für das gesamte Reichsgebiet eingeführt: Ein Reich, eine Zeit. Das war eine große Vereinfachung für den Eisenbahn-, Post- und Telegrafenverkehr, die schwerer wog als die dadurch verursachten Probleme in den Grenzgebieten der unterschiedlichen einstündigen Zeitzonen.

Motordroschken, Interviews,

079_Der Bazar_043_1897_p041_Automobile_Droschke_Elektrofahrzeug_Repräsentation_Bürgertum

Heute Zukunft, doch schon im späten 19. Jahrhundert im Einsatz: Eine elektrische Motordroschke (Der Bazar 43, 1897, 41)

Im späten 19. Jahrhundert begann der motorisierte Individualverkehr – doch das „Töff-Töff“ war damals eher ein repräsentatives Vorzeigeobjekt der Reichen, ein Sportvehikel und ein Transportmittel. Automobile entstanden, trotz zahlreicher bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichender Versuche, in den 1880er Jahre durch Fortentwicklungen des Ottomotors. Wilhelm Maybach (1846-1929) und Gottlieb Daimler (1834-1900) waren beide Ingenieure in der Gasmotoren-Fabrik Deutz, gingen ab 1882 aber eigene Wege. Sie verbesserten den Motor, ermöglichten durch einen neuartigen Vergaser zugleich die Nutzung von Benzin. Der Ingenieur Carl Benz (1884-1929) konstruierte ebenfalls einen Viertaktmotor, doch zielte er zudem auf einen damit angetriebenen Wagen. Der dreiräderige Benz Patent-Motorwagen wurde 1886 patentiert und knatterte an erstaunten Mannheimer Bürgern vorbei. Und doch – der Markterfolg ließ auf sich warten. Der Nutzen des teuren, störungsanfälligen und recht langsamen Gefährts war nicht unmittelbar einsichtig, die Anbieter suchten nach Anwendungen. Das gelang erst in Frankreich, dann in den USA – während es in Deutschland Jahrzehnte dauern sollte, bis das Automobil zu einem Konsumgut für breitere Kreise wurde. Auch Motordroschken blieben derweil eine Ausnahme.

080_Kladderadatsch_03_1890_Nr19_Beibl2_p1_Otto-von-Bismarck_Interview_Hamburger-Nachrichten_Journalismus

Bismarck und die Presse nach einem fingierten Interview in den Hamburger Nachrichten (Kladderadatsch 43, 1890, Nr. 19, Beibl. 2, 1)

Das Interview, also eine themenbezogene Wechselrede mit dem Ziel, Informationen und Neuigkeiten zu gewinnen und zu verbreiten, entstand in Großbritannien und entwickelte sich dann vor allem in den USA, ehe es im späten 19. Jahrhundert auch im Deutschen Reich üblicher wurde. Am Beginn standen teils Nacherzählungen von Gesprächen, die dann auch die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnde qualitative Sozialforschung prägen sollten. Interviews galten als authentisch, Augenzeugenbefragungen fanden sich daher insbesondere in der frühen Boulevardpresse, während die Regierung nicht der Presse, sondern dem Parlament Rede und Antwort stehen sollte. In deutschen Landen begrenzte die Zensur eine allzu freie Pressearbeit, nicht umsonst war die Pressefreiheit ein Kernforderung der Revolution von 1848/49. Auch das 1874 erlassene Reichspressgesetz besaß zahlreiche Vorbehaltsrechte des Staates. Es wundert daher nicht, dass Interviews anfangs eher ein Herrschaftsinstrument waren: Vor allem Reichskanzler Otto von Bismarck etablierte ein System gezielter Meinungsäußerungen, das er insbesondere nach seiner Entlassung 1890 virtuos handhabte, um weiteren Einfluss auf Öffentlichkeit und Politik auszuüben. Mit Hilfe willfähriger Journalisten, insbesondere von den Hamburger Nachrichten, lancierte er Stellungnahmen und Gehässigkeiten. Die nicht autorisierten Interviews und Artikel wurden breit rezipiert, hatten jedoch den Charme, jederzeit dementiert werden zu können.

Bestdressirte Känguruhs,

081_Berliner Börsen-Zeitung_1893_03_22_Nr137_p20_Unterhaltungsindustrie_Wintergarten_Boxen_Känguru

Sensation der Schaustellerei, ein frei und ohne Netz boxendes Känguru (Berliner Börsen-Zeitung 1893, Nr. 137 v. 22. März, 20)

Die ach so trendigen „Känguru-Chroniken“ haben reale Vorgänger. Denn Anfang der 1890er Jahre waren boxende Känguruhs eine der vielen Attraktionen des Kabaretts, zu diesem Zeitpunkt bereits Teil einer europäischen Unterhaltungsindustrie. In Berlin verwies etwa die „Goldene 110“, die für Werbung in Versen bekannte „billigste und reellste Einkaufsquelle Berlins“, der großen Boxerei ein Kleinkunstwerk: „Alles boxt in heut’gen Zeiten / Boxer-Karl und Känguruh“ (Berliner Tageblatt 1893, Nr. 164 v. 30. März, 13). Doch in der Manege war manches anders: In Wien hieß es zeitgleich über den angekündigten Boxkampf zwischen Tier und „Neger“, „das Känguruh war jedoch nicht im geringsten zum Boxen aufgelegt und zog es vor, bei jeder ‚Anregung‘, die ihm der Neger mit seinen Boxhandschuhen gab, sich zu seinem Herrn und Manager zu flüchten. In Berlin kam es bei einer ähnlichen misslungenen Känguruh-Boxerei zu einem artigen Theaterscandälchen; das liebenswürdige und gut-gesittete Wiener Publicum begnügte sich, als die Sache langweilig zu werden drohte, mit einigen nicht misszuverstehenden Schlussrufen, worauf das Känguruh, sichtlich vergnügt, eiligst von der Bühne verschwand“ (Tages-Post [Linz] 1893, Nr. 72 v. 29. März, 4). Ein kluges Tier…

Waarenhäuser und Basare,

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Das erste deutsche Warenhaus: Der Berliner Kaiser-Bazar (Der Bazar 37, 1891, 152)

Ein Warenhaus kennt jeder? Falsch! Denn das Warenhaus war im Deutschen Reich etwas anderes als im europäischen Ausland, bot es doch auch Lebensmittel an. In Frankreich, Großbritannien oder den USA wäre das undenkbar gewesen, die dortigen Großgeschäfte waren also Kaufhäuser. Diese gab es in deutschen Landen seit Mitte des Jahrhunderts, von einem verspäteten Einstieg in die Konsumgesellschaft kann nicht die Rede sein. Kaufhäuser entstanden aus Magazinen, Handwerks- und Gewerbebetrieben mit einem dann stetig wachsenden Warenverkauf. Die Eigenproduktion streiften die in den späten 1860er Jahren aufkommenden Basare ab, denn sie konzentrierten sich auf das reine Verkaufsgeschäft von industriell gefertigter Massenware, meist Konfektionsware, zunehmend aber auch Gebrauchsgüter. Die Warenhäuser übernahmen diese Fokussierung auf den Verkauf, verbreiterten das Massenangebot nochmals, fabrizierten aber viele Waren weiterhin selbst. Die Trennung zwischen Kaufhaus, Basar und Warenhaus war im späten 19. Jahrhundert fließend, erst die teils massiven Warenhaussteuern gegen die von der mittelständischen Konkurrenz strikt bekämpfte „unerwünschte Betriebsform“ führte zu einer formaljuristischen Unterscheidung. Das erste dieser „Warenhäuser“ war der 1891 in Berlin eröffnete Kaiser-Bazar, der allerdings schon 1893 nach zahlreichen rechtlich höchst fraglichen Manövern Konkurs anmelden musste.

Färbemittel für die Haare,

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Der trügerische Reiz der Blondinen (Officieller Katalog für die Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene, Gesundheitspflege und Gesundheitstechnik und des Rettungswesens, Berlin 1882, Berlin o.J., Annoncenanhang, 80)

„Das Färben der Haare gehört gleich dem Schminken zu denjenigen Verschönerungsversuchen, welche nicht ohne Gefahr für die Gesundheit sind“ (G[ustav] A[dolf] Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, T. 2, 3. verm. Aufl., Berlin 1898, 176). Wie bei den Farbstoffen, traten im späten 19. Jahrhundert chemische Substitute an die Seite natürlicher Farbstoffe. Sie bestanden vorrangig aus anorganischen Silbernitratlösungen, die mit dem Haar reagierten. Blond wurde damit möglich, auch ein Ende der grauen Haare. Ab Anfang der 1880er Jahre stieg zudem das Angebot synthetischer Farbstoffe aus der Azogruppe. Die zeitgleich beworbenen US-amerikanischen „Hair Restorer“ basierten dagegen auf kleinen Mengen von Blei, das mit dem Schwefel der Haare zu einem kräftigen Schwarz reagierte. Ähnlich funktionierten Wismut-, Kupfer- und Eisenpräparate. Diese neuen Haarfärbemittel waren gesundheitsgefährdend, hinterließen teils schwer zu reinigende Flecken auf der Kleidung, wurden teils auch verboten – doch sie besaßen den Charme der satten Farbe. Die Anbieter nutzten dies, grenzten ihre Präparate gezielt von Mitteln ab, „welche wohl unschädlich sind, aber keine Wirkung haben“ (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2269, Beibl., 7). Alternativen boten vor allem Naturfarbstoffe, die jedoch nach drei bis vier Wochen wieder erneuert werden mussten. Wallnussextrakte, Henna, aber auch Torf- und Kohleextrakte waren vor 1900 weit verbreitet. Für Möchtegernblondinen gab es aber noch eine weitere Option: Wasserstoffperoxid, seit 1894 in erstklassiger Qualität verfügbar, bleichte wirksam und betörend. Was zählten dagegen schon mögliche Zell- und Gewebeschäden?

Zähne-, Waden-Surrogate,

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Werbung für Zahnersatz, leicht missverständlich (Fliegende Blätter 88, 1888, 152)

Zahnlosigkeit war im 19. Jahrhundert weit verbreitet, doch durch die langsame Etablierung von Zahnärzten und spezialisierten -technikern setzte zumindest eine umfassende Forschung für Zahnprothesen ein. Erst einmal bestand das Problem des individuellen Zahnersatzes. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden menschliche Zähne prothetisch weiterverwendet, ebenso bearbeitete tierische Zähne. Diese verschlissen jedoch recht schnell. Als Substitut entstanden seit dem späten 18. Jahrhundert Alternativen aus Porzellan. In Frankreich entwickelt, wurden sie seit Mitte des Jahrhunderts vor allem in Großbritannien und den USA eingesetzt. Die Befestigung einzelner Zähne sowie von Teilprothesen blieb ein Kernproblem, das auch durch die Vulkanisation des Kautschuks nicht gemildert werden konnte. Damit war es zwar ab der Mitte des 19. Jahrhunderts möglich, relativ passgenaue Gebisse zu erstellen, doch im feuchten Milieu der Mundhöhle war präziser Halt sowohl der Einzelzähne als auch der Zahnprothesen kaum möglich. Saugnäpfe waren weit verbreitet, führten jedoch häufig zu Deformationen in der Mundhöhle. Obwohl im späten 19. Jahrhundert zunehmend spezielle Kautschukmischungen eingesetzt wurden und auch die farbliche Variation der Kunstzähne zunahm, blieb Zahnlosigkeit eine Beschwernis im Alltag insbesondere der nicht begüterten Bevölkerung.

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Hilfe für ein normales Leben: Werbung für Beinprothesen (Officieller Katalog für die Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene, Gesundheitspflege und Gesundheitstechnik und des Rettungswesens, Berlin 1882, Berlin o.J., Annoncenanhang, 216)

Kriege, aber auch Maschinenarbeit führten immer wieder zum Verlust einzelner Gliedmaßen – und dank Verbesserungen im ärztlichen Handwerk und einer einfachen Narkose mit Chloroform nahm die Zahl derer zu, die diesen überlebten. Die meisten Versehrten erhielten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein einfaches, von Tischlern gefertigtes Holzbein. Ausnahmen gab es vor allem für zahlungskräftigere Kunden. Im späten 18. Jahrhundert entstanden mechanische Beinprothesen, die mit Saiten, Federn und Fäden ansatzweise steuerbar waren. Im 19. Jahrhundert gab es deutliche Fortschritte, für die in Preußen nicht zuletzt eine Außenseiterin stand: Margarethe Caroline Eichler (1808/09-1843) erhielt 1833 für ihre Beinprothese mit künstlichem Kniegelenk als erste Frau in Preußen ein Patent. Wichtiger noch war Eichlers künstliche Hand von 1836. Waren Prothesenbewegungen zuvor von der Unterstützung der heilen Hand, des heilen Fußes abhängig, so ermöglichte nun eine ausgefeilte Mechanik eine direkte willkürliche Bewegung des aus Neusilber gefertigten, teilbeweglichen Handersatzes. Die Kriege der 1860er Jahre, erst der amerikanische Bürgerkrieg, dann die sog. deutschen Einigungskriege, und die Bismarcksche Unfallversicherung von 1884 führten schließlich zu einer staatlichen Übernahme der nach wie vor hohen Kosten passgenauer Prothesen. Der eigentliche technische Durchbruch der Prothetik erfolgte jedoch erst während des Ersten Weltkrieges.

Maggi, Soxleth-Apparate,

086_Fliegende Blaetter_088_1888_Nr2224_p11_Suppenpräparate_Würzen_Maggi_Suppenmehle_Boullionextrakt

Neue Suppen, neue Würzen: Werbung für Maggis Suppenmehle und Bouillon-Extrakte (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2224, 11)

Der Schweizer Müller und Erfinderunternehmer Julius Maggi (1846-1912) steht bis heute für ein Würzpräparat, verlässlicher Geschmacksträger für ein einfaches, nährendes Mahl. Als Müller geriet er Anfang der 1880er Jahre unter Wettbewerbsdruck, veränderte doch die Walzentechnik und neue Billigkonkurrenz aus den USA und Russland das altehrwürdige Geschäft. Er diversifizierte, begann auf Anregung bürgerlicher Reformer 1883 an einem preiswerten Nahrungsmittel für Arbeiter zu experimentieren. Verbesserte Leguminosenmehle waren die Folge, leicht zu verkochende Suppengrundstoffe, die allerdings vorwiegend von Kleinbürgern gekauft wurden. Maggi verkaufte sein Müllereigeschäft, konzentrierte sich auf neue Suppenmehle, bemühte sich vor allem um einen besseren Geschmack. Mitte der 1880er Jahre experimentierte er mit Fleischextrakten, nicht zuletzt in der Nachfolge der Suppenkräuteressenz des Hildburghausener Unternehmers Rudolf Scheller (1822-1900). Das Ergebnis war ein Bouillon-Extrakt, der 1887 zwar als Fleischextrakt durchfiel, dessen Geschmack aber einfache Suppen wohl zu heben im Stande war. Ab 1894 als Markenartikel geschützt, war die Maggi-Würze ein Leitprodukt für ein rasch im deutschsprachigen Raum, aber auch international expandierendes multinationales Unternehmen.

087_Der Bazar_37_1891_p140_Säuglingsernährung_Milch_Soxhlet-Apparat_Pasteurisierung

Redaktionelle Reklame für den Soxhlet Milchkocher (Der Bazar 37, 1891, 140)

Die Naturwissenschaften wurden im späten 19. Jahrhundert gefeiert – und der Soxhletsche Apparat schien eine praktische Antwort auf die massive Kindersterblichkeit zu sein. Er war eine Quintessenz angewandter Bakteriologie, ähnliche Apparate gab es seit den 1880er Jahren. Ziel war die Keimtötung in der Milch durch Aufkochen, anschließende Kühlung und strikte Sauberkeit. Der Tierphysiologe Franz Soxhlet (1848-1926) entwickelte 1886 ein scheinbar wirksames Gesamtpaket und vermarktete dieses im Deutschen Reich, aber auch international. Das sollte die relativ hohen Anschaffungskosten drücken, den Apparat von dem Odium befreien, „Vorrecht der Reichen“ (Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 36, 1925/26, 323) zu sein. Doch die Innovation hatte einen Pferdefuß: Das Abkochen der Milch, die Pasteurisierung, zerstörte auch die darin enthaltenen, damals jedoch noch nicht bekannten Vitamine. Die Säuglinge und Kinder erkrankten nun vielfach an der sog. Möller-Barlowschen Krankheit, einer Vitaminmangelkrankheit, die an Skorbut erinnerte. Im Deutschen Reich gab es viele Erkrankungen, aber nur relativ wenige Todesfälle, handelte es sich doch um die Kinder von Begüterten, wurde die Milchgabe im Krankheitsfalle auch rasch durch frische Beikost ersetzt. Der Soxhlet-Apparat verkörperte schon früh das Janusgesicht der Interventionen moderner Naturwissenschaften.

Lyddit-Bomben, Gasmotoren,

088_Lustige Blaetter_15_1900_Nr08_p02_Kolonialkrieg_Burenkrieg_Großbritannien_Waffen_Lyddit_Dum-Dum_Maschinengewehr

Der britische Kolonialkrieg gegen die Buren als Einsatzfeld moderner Kriegstechnik (Lustige Blätter 15, 1900, Nr. 8, 2)

Lyddit-Granaten wurden in der deutschen Öffentlichkeit während des Burenkrieges, ähnlich wie die Dum-Dum-Geschosse, als Ausdruck der Verrohung des Kriegshandwerkes kritisiert. Lyddit, benannt nach der einschlägigen Sprengstofffabrik im englischen Kent, bestand vor allem aus Pikrinsäure und übertraf die zuvor übliche Sprengkraft. Seine Einführung erfolgte europaweit nach Patentierung des Melinit durch den französischen Chemiker Eugène Turpin (1828-1927) im Jahre 1886. Im Deutschen Reich wurde der Sprengstoff als „Granatfüllung 88“ getestet, doch ihr Einsatz blieb aufgrund der hohen Gefahr von Selbstentzündungen begrenzt.

089_Berliner Tageblatt_1886_01_31_Nr055_p22_Maschinenbau_Gasmotor_Benz_Mannheim

Neue Beweglichkeit, neue Betriebskraft (Berliner Tageblatt 1886, Nr. 55 v. 31. Januar, 22)

Im 19. Jahrhundert wurden die technischen Grundlagen für die Motorisierung und die Fließfertigung des 20. Jahrhunderts gelegt. Die Dampfmaschine dominierte, doch geringerer Wirkungsgrad und mangelnde Mobilität begrenzten ihre Einsatzmöglichkeiten. Aus Kohle gewonnenes Gas war seit den 1820er Jahren verfügbar, doch dauerte es viele Jahrzehnte, ehe der luxemburgisch-französische Erfinderunternehmer Étienne Lenoir (1822-1900) im Jahre 1860 einen ersten brauchbaren Gasmotor vorstellte, der trotz hoher Betriebskosten eine Alternative für Maschinen mit geringer Leistung bot. Der 1867 von dem Unternehmer Nicolaus Otto (1831-1891) und dem Ingenieur Eugen Langen (1833-1895) vorgestellte Flugkolbenmotor war deutlich effizienter und etablierte die 1872 als Aktiengesellschaft gegründete Gasmotoren-Fabrik Deutz als weltweit führenden Anbieter. Die beträchtlichen Defizite dieses Motors – hoher Lärmpegel und geringe PS-Leistung – wurden 1877 dann durch den Viertaktmotor, den Otto-Motor, großenteils behoben. Die mechanische Belastung war deutlich geringer, das Gas-Luft-Gemisch erreichte einen höheren Wirkungsgrad, die Lärmentwicklung schien erträglich und die Bedienung war einfacher. Bis 1886 wurde der Motor mit beträchtlichem Erfolg weltweit verkauft bzw. in Lizenz produziert. Das in diesem Jahr verlorene Patentrecht erlaubte dann wachsende Konkurrenz, deutlich niedrigere Preise, Neukonstruktionen mit höherer Leistung und schließlich auch den Einsatz im Motorfahrzeug mit Benzin als Treibstoff.

Fango, weibliche Doctoren,

090_Berliner Tageblatt_1899_01_01_Nr001_p14_Heilmittel_Fango_Sanatorium_Rheuma_Gicht

Fangokuren inmitten der Großstadt (Berliner Tageblatt 1899, Nr. 1 v. 1. Januar, 14)

Fango, also vulkanischer Schlamm, hat eine lange, bis weit in römische Antike zurückreichende Tradition. Einschlägige Kuren halfen vor allem bei Rheuma, Ischias und Gelenkentzündungen, hatten jedoch den Nachteil, dass Reisen in die Toskana oder aber Emilia-Romagna aufwändig und teuer waren. Fango war besonders fein, schmiegte sich dem Körper eng an und leitete zudem kaum Wärme. Analog den Heilwässern einzelner Bäder, die als Mineralwasser oder in Form konzentrierter Mineralsalze im letzten Drittel des 19. Jahrhundert auch zuhause anwendbar wurden, nahmen im späten 19. Jahrhundert Fangoimporte aus Italien rasch zu. Die im April 1897 gegründete Berliner Fango-Kuranstalt sowie die Fango-Importgesellschaft Walter & Co waren die Schrittmacher einer raschen Eingliederung der schweißtreibenden Fango-Behandlungen in den gängigen Kanon der Heilkunde.

091_Der Bazar_39_1893_p384_Frauenemanzipation_Frauenstudium_Medizin_Agnes-Bluhm_Franziska-Tiburtius_Emilie-Lehmus

Im Ausland promovierte, im Deutschen Reich praktizierende Doktorinnen (Der Bazar 39, 1893, 384)

Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Männer. Sie dominierten Politik und Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst. Frauen wurden als nicht gleichberechtigt angesehen, ein mögliches Wahlrecht schien undenkbar, war doch das Reich der Frau der Haushalt, die Kinderzucht, die liebende Sorge für den Mann. Die große Mehrzahl der bürgerlichen Frauen verteidigte strikt unterschiedliche Geschlechtscharaktere, die Mehrzahl der bäuerlichen und unterbürgerlichen Frauen litt dagegen unter Feld- und Fabrik- plus Hausarbeit. Ausnahmen gab es jedoch, zumal im späten 19. Jahrhundert. Die Bildungsfrage war ein wichtiges Feld der Emanzipation, erst in Volks- und Hauswirtschaftsschulen, dann in Fachschulen etwa für Krankenschwestern. Das Universitätsstudium blieb Frauen jedoch auch im späten 19. Jahrhundert noch verschlossen. Der Kampf der bürgerlichen und dann auch sozialdemokratischen Frauenbewegung um die schon im 18. Jahrhundert in Einzelfällen gewährte Zulassung zum Medizinstudium begann zwar mit zahlreichen Niederlagen, doch vereinzelt wurden Ausnahmen gewährt, kamen die jungen Damen doch oft aus gutem Hause, reüssierten lediglich als Gasthörerinnen. Rechtlich abgesichert wurde das Frauenstudium erst nach der Jahrhundertwende. Schon zuvor hatten jedoch eine kleine Zahl von Frauen im Ausland Medizin studiert, zumal in der deutlich liberaleren Schweiz. Die wenigen dann in Deutschland praktizierenden Doktorinnen dienten jedoch auch in eher konservativen Frauenzeitschriften als Rollenmodelle, widerlegten sie doch schlagend gängige Urteile über die vermeintliche Natur der Frauen.

Influenza, Heilsarmee,

092_Kladderadatsch_045_1892_Nr03_p05_Infektionskrankheiten_Influenza_Studenten_Alltagssexualität

Influenza als Entschuldigung im Alltagsleben, sei es für übergriffige Sänger oder faule Studenten (Kladderadatsch 45, 1892, Nr. 3, 5)

Während eine große Zahl von bakteriologischen Infektionskrankheiten im 19. Jahrhundert deutlich eingedämmt werden konnten, gab es gegen die Influenza nur passive Begrenzungsmöglichkeiten: Die Immunität durch überstandene Infektionen, die Separierung von anderen und eine möglichst breit angelegte Desinfektion des eigenen Umfeldes und des öffentlichen Raumes. Influenza und Grippe waren englische resp. französische Lehnwörter aus dem 18. Jahrhundert, die auf recht regelmäßige und grenzüberschreitende Epidemien verwiesen. Die Krankheit besaß ein Janusgesicht, erfolgte doch entweder rasche Heilung oder aber der Tod. Im 19. Jahrhundert gab es mindestens drei Influenza-Pandemien: 1830-1833 begann die Krankheit in China und führte vor allem in Spanien und den USA zu einer großen Zahl von Opfern. 1847-1848 startete die Pandemie wohl in Russland, traf anschließend fast den gesamten Mittelmeerraum und schließlich Westeuropa. Die gewiss folgenreichste Influenza-Pandemie des 19. Jahrhunderts war die sog. Russische Grippe, die 1889 einsetzte und erst nach verschiedenen Nachwellen 1895 endete. Ihren Höhepunkt erreichte sie 1890, als in Europa etwa 270.000-300.000 Menschen starben, darunter etwa 66.000 Deutsche. Während die Bevölkerung eine große Zahl von Geheimmitteln und den kurz zuvor auf den Markt gekommenen Fiebersenker Antipyrin schutzsuchend kaufte, koppelte der Bakteriologe Richard Pfeiffer (1858-1945) seine Entdeckung eines neuen Bakterienstammes 1892 mit der Krankheit, so dass Influenza über Jahrzehnte als bakteriologische, nicht aber virologische Infektionskrankheit galt. Nach dem Tuberkulin-Skandal 1890 war dies ein zweites krasses Fehlurteil der ansonsten so segensreichen Arbeit der bakteriologischen Schule um Robert Koch (1843-1910).

093_Das Buch für Alle_22_1887_p516-7_Protestantismus_Heilsarmee_Wohlfahrtspflege_Paris_Katie-Booth_Gaststätte_Sozialarbeit

Hilfe, Temperenz und Mission: Katie Booth als Schwester der Heilsarmee in einer Pariser Gaststätte (Das Buch für Alle 22, 1887, 516-517)

Die Heilsarmee ist eine protestantische Kirche, die den Kern der biblischen Botschaft nicht im Gottesdienst, sondern in praktischer sozialer Arbeit sieht. Die „Salvation Armee“ stammt aus London und war seit 1865 die Antwort von William und Catherine Booth (1829-1912 resp. 1829-1890) auf die Not der Unterschichten in London. Den Krieg gegen das Elend führten sie mit einer militärischen Organisation, die Armenspeisungen, Obdachlosenbetreuung, Hilfe für Prostituierte und alleinerziehende Frauen mit der Verkündigung des Evangeliums, Antialkoholismus und einem strikten Tugendkatalog verband. Bemerkenswert: Männer und Frauen hatten von Anbeginn gleiche Rechte und Pflichten. Die Heilarmee finanzierte sich vorrangig durch Spenden, setzte dafür Musik, Gesang und Präsenz in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft ein. Die uniformierten Mitglieder, teils haupt-, meist ehrenamtlich tätig, waren seit 1886 auch im Deutschen Reich aktiv, wenngleich ihr martialisch-soziales Auftreten hier weniger Anhänger fand als in der englischsprachigen protestantischen Welt: „Die Heilsarmee steht an der Spree! Gar tückisch überfallen Hat sie die Reichshauptstadt und läßt ihr Kampfgeschrei erschallen“ (Kladderadatsch 43, 1890, 165).

Ethische Culturidee,

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Auf der Suche nach der Essenz vorhandener oder anzustrebender Kulturideen (Fliegende Blätter 190, 1939, 44)

Der immense Bedeutungsgewinn der Naturwissenschaften mündete in einen weit verbreiteten Empirismus und Materialismus, den nicht nur die Religionen kritisch sahen und im Materialismusstreit der Mitte des 19. Jahrhunderts strikt bekämpften. Innerhalb der Wissenschaften entwickelte sich seit den 1860er Jahren eine theoretisch reflektierte Geisteswissenschaft. Wirkmächtig war etwa Wilhelm Diltheys (1833-1911) strikte Trennung von erklärenden und verstehenden Wissenschaften. Die Vertreter des buntscheckigen Neukantianismus zielten seit dem späten 19. Jahrhundert auf eine breiter angelegte Erkenntnistheorie im kritischen Gefolge der Philosophie Immanuel Kants (1724-1804). Kultur wurde als Grundbegriff ernstgenommen und ausdifferenziert, Bildung, Vernunft und Kritikfähigkeit schienen zum vollen Menschen zu gehören und für eine ethischen Kultur unabdingbar zu sein.

Bogenlampen, Glühlichtstrümpfe,

095_Vossische Zeitung_1891_04_15_Nr173_p17_Beleuchtungsartikel_Gasglühlicht_Gaslampe_Bogenlampe

Lampen für drinnen und draußen (Vossische Zeitung 1891, Nr. 173 v. 15. April, 17)

Im frühen 19. Jahrhundert wurden die Städte heller: Tran, vor allem aber Gas ersetzten die bisher verwandten Brennstoffe Talg und Öl. Dennoch war die öffentliche Beleuchtung aus heutiger Sicht dunkel, flackernd und betreuungsintensiv. Physiker erprobten weitere Verbesserungen: Zog man zwei gegenüberliegende Kohlestäbe auseinander, so bahnte sich die Elektrizität einen Weg durch die Luft, wurde teils in Wärme umgesetzt und bewirkte so einen verbindenden Lichtbogen. Doch an der praktischen Umsetzung dieses Phänomens scheiterten lange Zeit Theoretiker und Praktiker, galt es doch für eine regelmäßige Energiezufuhr und ein geregeltes Abbrennen der Stäbe zu sorgen. Das gelang erst mit der Kombination von Generatoren und automatisch nachregulierenden Differential-Bogenlagen, die der Erfinderunternehmer Werner Siemens 1879 in Berlin präsentierte. Das Ergebnis war gleißendes, taghelles Licht, zuerst nur für öffentliche Plätze und Straßen, für Fabrikhallen und Leuchttürme. Auch wenn sich die Straßenbeleuchtung mit Gas noch Jahrzehnte behaupten konnte, setzte sich das anfangs deutlich teurere Elektrolicht mittelfristig durch.

096_Berliner Tageblatt_1893_11_05_Nr565_p11_Beleuchtungsartikel_Gaslicht_Gasglühlicht_Auerlicht

Der Kauf als Rechenexempel oder Auf dem Weg zur Massenverbreitung des Gaslichtes (Berliner Tageblatt 1893, Nr. 565 v. 5. November, 11)

Die Gasbeleuchtung wurde Ende des 19. Jahrhunderts ganz wesentlich verbessert, wurde heller, sicherer und preiswerter. Der Grund lag in der Transformation von Wärme in Licht durch ein Medium, den sog. Glühstrumpf. Der Wiener Chemiker Carl Auer von Welsbach (1858-1929) hatte 1885 ein erstes Verfahren patentieren lassen, für das er ein Baumwollgewebe mit seltenen Erden so präparierte, dass es durch die Gasflamme zur Weißglut gebracht wurde. Es dauerte einige Jahre, bis die Lichtstärke und die Haltbarkeit des Glühstrumpfes wirklich überzeugen konnten, doch ein 1891 verbessertes Patent brachte dann den Durchbruch zu einer auch kommerziell erfolgreichen Verbreitung des Gasglühlichtes durch die 1892 gegründete Deutsche Gasglühlicht-Gesellschaft (Auer-Gesellschaft). Damit endete langsam die Zeit offenen, flackernden Lichtes.

Börsenkrachs, Parteigeschimpfe,

097_Illustrirte Zeitung_060_1873_p472_Wirtschaftskrisen_Gründerkrach_Börse_Wien_Börsenkrach

Die „Börsenkatastrophe“ in Wien am 9. Mai 1873 (Illustrirte Zeitung 60, 1873, 472)

Wirtschaftliche Rhythmen traten im langen 19. Jahrhundert an die Seite tradierter Ernterhythmen. Das neue kapitalistische System wurde geprägt von Boom und Hausse, von zyklischen Krisen und Aufschwüngen. Die Weltwirtschaftskrise von 1857 zeigte erstmals die möglichen globalen Verwerfungen von Zahlungseinstellungen lokaler Banken (damals in New York). Die Mutter aller Börsenkrachs war jedoch der der Wiener Börse 1873. Sie war die Folge einer rasch wachsenden Zahl von Aktiengesellschaften, einer geringen Regulierung, massiver Investition in Immobilien und eines durch die geplante Wiener Weltausstellung und den raschen Wirtschaftsaufschwung im benachbarten Deutschen Reich gespeisten Fortschrittsoptimismus. Die Spekulationsblase platzte Anfang Mai 1873 aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten einzelner Banken und den davon in Gang gesetzten Kaskadeneffekten. Nun purzelten die Kurse. Am 9. Mai, dem „schwarzen Freitag“ gingen zahllose Firmen insolvent, da eingegangene Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllt werden konnten. Dies war der Beginn eines globalen „Gründerkrachs“, der eine längere Phase geringeren Wachstums einleitete. Börsenkrachs kamen auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder vor, wurden jedoch – ähnlich wie Missernten – als gleichsam natürliche Reinigungsprozesse eines dynamischen Wirtschaftssystems verstanden.

098_Der Wahre Jacob_01_1884_p08_Sozialpolitik_Sozialversicherung_Unfallversicherung_Parteien_Bismarck

Parteienstreit um die Sozialversicherung 1884 anlässlich der Etablierung der Unfallversicherung (Der Wahre Jacob 1, 1884, 8)

Parteiengeschimpfe ist ein abschätziger Begriff für die Essenz politischer Parteien: Meinungen zu bilden und zu filtern, Regierungsmaßnahmen in Frage zu stellen, Alternativen zu Gesetzesvorhaben und Verwaltungshandeln aufzuzeigen. Das geschah schon durch die Fraktionen des Paulskirchenparlaments 1848/49. Nur langsam bildeten sich daraus politische Parteien, waren die damals dominierenden liberalen Kräfte doch keineswegs straff organisiert. Das galt eher für die Repräsentanten staatlich verfolgter Minderheiten, also der Sozialdemokraten und der Katholiken. Zentrum und SPD standen in Opposition zur Regierung, bekämpften die Reichspolitik unter Bismarck. Ihr „Geschimpfe“ – ebenso wie das der Linksliberalen – hatte jedoch einen wachsenden Einfluss auf die Politik und insbesondere die Öffentlichkeit.

„Hurrah“- Ruf statt „Hoch“ Geschrei,

099_Kladderadatsch_061_1908_Nr48_p190_Automat_Hurra_Bürgertum_Nationalismus

Verordneter Hurra-Patriotismus modern – Ein Hurra-Automat anlässlich des neuen Hurra-Exerzier-Reglements von 1908 (Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 48, 190)

Als 1899 eine Reihe alldeutscher Reichstagsabgeordneter den Lobgesang auf Kolonialerwerb und Zollkrieg gesungen hatten, kommentierte der sozialdemokratische Vorwärts lapidar: „Mit solchen Hurra-Komödien ist im deutschen Reichstag nichts zu machen“ (Vorwärts 1899, Nr. 88 v. 15. April, 1). Hurra – das war ein Schlachtruf, aufgekommen während der sog. Befreiungskriege gegen Napoleons Hegemonie. Theodor Körners (1791-1813) „Lützows wilde verwegene Jagd“ fasste ihn in Reime: „Das Hurrah jauchzet. Die Büchse knallt. Es stürzen die fränkischen Schergen“. Als solcher blieb der Hurra-Ruf das ganze 19. Jahrhundert Ausdruck des Patriotismus, der Pflichterfüllung im Angesicht des Feindes – und mit Hurra gingen deutsche Kavalleristen noch im Ersten Weltkrieg zum Angriff über. Das Hoch war weniger martialisch, stärker monarchistisch, insgesamt ziviler. Den König, den Schützenkönig, den ließ man hochleben. Selbst auf die Sozialdemokratie konnte man ein dreifaches Hoch ausbringen (Der Sozialdemokrat 1887, Nr. 48 v. 25. November, 4). Allseits gebräuchlich, polarisierte diese Injektion weniger. Anders das Hurra: Inbrünstig gerufen vom kaisertreuen Wilhelminer, strikt verdammt als Hurra-Patriotismus durch Linke und Linksliberale: „Ohne Schadenfreude, aber mit der Bitterkeit einer unerbittlichen Kritik muß man sich mit der Thatsache abfinden, daß der Hurrahpatriotismus die deutsche Bourgeoise in allen Gliedern verseucht“ hat (Vom Hurrahpatriotismus, Neue Zeit 18, 1900, 161-164, hier 163). Ein Hoch diesem Schreiberling!

Dr. Schenks Austüftelei,

100_Börsenblatt fuer den Deutschen Buchhandel_065_1898_03_22_Nr066_p2220_Bücher_Embryologie_Leopold-Schenk_Geschlecht_Schallehn-Wallbrück

Ankündigung einer wissenschaftlichen Sensation (Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 65, 1898, Nr. 66 v. 22. März, 2220)

1898 wurde das Buch „Einfluß auf das Geschlechtsverhältniß“ mit „ungewöhnlicher Spannung“ (General-Anzeiger für Chemnitz und Umgegend 1898, Nr. 98 v. 4. März, 2) erwartet. Der Wiener Embryologe Leopold Schenk (1840-1902) legte darin die Quintessenz seiner langjährigen Forschungen vor. Er suggerierte, das Geschlecht Neugeborener bestimmen und beeinflussen zu können. Entscheidend sei die Ernährung der Mutter. Der Harnzucker müsse verschwinden, der Eiweißkonsum steigen, dann sei die Chance sehr hoch, einen Knaben zur Welt zu bringen. Schenk argumentierte differenziert, forderte Einzeluntersuchungen, wandte sich gegen schematische allgemeingültige Ratschläge. Just das aber erfolgte in der Öffentlichkeit, dann auch in den Karikaturzeitschriften nicht nur der österreichischen Metropole. Die folgende wissenschaftliche Kritik war verheerend, führende Mediziner verdammten Schenks Theorie in Bausch und Bogen. Der bewährte und fachlich versierte außerordentliche Professor, der kurz vor der Veröffentlichung vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert war und seinen Vornamen von Samuel in Leopold geändert hatte, geriet nun unter massive Kritik an der Wiener medizinische Fakultät (Christine Schreiber, Natürlich künstliche Befruchtung? Eine Geschichte der In-vitro-Fertilisation von 1878 bis 1950, Göttingen 2007, 56-64). Schenk wurde vorgeworfen, halbgare Theorien um des eigenen Vorteils willen mittels ungebührlicher Reklame verbreitet zu haben. Die fast durchweg katholischen Kollegen forderten den Verweis von der Universität, dem Schenk unter Gejohle antisemitischer Presseorgane durch einen Antrag auf vorzeitige Pensionierung 1900 zuvor kam. Er starb kurz darauf an einem Herzschlag.

Robert Mayers Theorie,

101_Ueber Land und Meer_049_1878_p685_Physiker_Robert-Mayer_Thermodynamik

Robert Mayer, Grundlagenforscher (Über Land und Meer 49, 1878, 685)

Energie kann nicht verschwinden oder aber aus dem Nichts entstehen. In einem geschlossenen System entweicht sie nicht, kann einzig in andere Energieformen überführt werden. Dieser erste Hauptsatz der Thermodynamik stammt von dem Heilbronner Arzt Robert Mayer (1814-1878). Er bildete Grundlage für die pointiertere Formulierung des Energieerhaltungssatzes durch den Naturforscher Hermann Helmholtz (1821-1894) im Jahre 1847. Mayer war kein Universitätsgelehrter, sondern zog Schlüsse aus empirischen Beobachtungen seiner Umwelt. Wärme und Bewegung seien komplementäre Phänomene, die wechselseitig umwandelbar seien: Wasser erhitzt sich also, wenn es geschüttelt wird, Körper geben bei hohen Geschwindigkeiten weniger Wärme ab als bei niedrigen. Mayer war nicht recht in der Lage, diese Erkenntnis in eine naturwissenschaftlich akzeptable Sprache zu übersetzen. Doch seine Theorie war eine der wichtigsten Grundlagen für den Maschinenbau ab Mitte des Jahrhunderts.

Falb-Prognose (stimmt fast nie!),

102_Oesterreichisch-ungarische Buchhaendler-Correspondenz_36_1896_p116_Bücher_Sachbücher_Erdbeben_Rudolf-Falb_Wetterprognose

Rudolf Falb als populärer Sachbuchautor (Österreichisch-ungarische Buchhändler-Correspondenz 36, 1896, 116)

„Nur eine Kategorie der Wahrsagerei blüht heute noch öffentlich, hat öffentlich ihre Propheten und öffentlich auch unter den Bestgebildeten ihre Gläubigen: die Wahrsagung des Wetters“ (Ed[uard] Brückner, Wetterpropheten, Jahresbericht der Geographischen Gesellschaft von Bern 19, 1903/04, 101-115, hier 101). Dieses Verdikt zielte nicht zuletzt auf Rudolf Falb (1838-1903), einem der vielen Wissenschaftspopularisier des späten 19. Jahrhunderts. Sein Leben war bewegt: Geboren in Österreich wurde er zum katholischen Priester geweiht, geriet wegen seiner naturkundlichen Forschungen in Konflikt mit der Kirche, trat aus und 1872 zum Protestantismus über, verließ seiner Frau halber auch Österreich, wurde 1887 Sachse, starb in Schöneberg. Dazwischen lag ein kontroverses Publizisten- und Forscherleben. Falb bereiste mehrere Jahre den amerikanischen Kontinent, entwickelte danach eine Theorie der Erdbeben, die er auf Konstellationen von Sonne, Mond und Erde und den daraus resultierenden Springfluten im Magma zurückführte. Mehrere seiner Prognosen traten denn auch ein. Für Falb war dies Anlass, nach mehr zu greifen, nach einer langfristigen Vorhersage des Wetters auf Grundlage „kritischer Tage“. Diese Prognosen wurden vielfach gedruckt, trafen mal zu, mal nicht. Falb war zumal in den 1870er Jahren ein populärer Wanderredner, danach ein erfolgreicher Sachbuchautor und schrieb auch frühe Science-Fiction. Er, der immer den großen Wurf gewagt hatte, wurde 1897 durch einen Schlaganfall gelähmt und zahlungsunfähig, doch eine im deutschen Sprachraum durchgeführte Falb-Spende ergab genügend Resonanz, um ihm einen würdevollen Ausklang seines Lebens zu erlauben.

Dreyfus-Sache, Zola-Briefe,

103_Illustrirte Zeitung_113_1899_p210_Frankreich_Militärgericht_Dreyfus-Affäre_Alfred-Dreyfus

Militärverfahren gegen Hauptmann Dreyfus in Rennes 1899 (Illustrirte Zeitung 113, 1899, 210)

Kaum ein Ereignis hat Frankreich und auch die europäischen Nachbarn im späten 19. Jahrhundert stärker bewegt als die Dreyfus-Sache. Der aus dem elsässischen Mühlhausen stammende jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus (1859-1935) war 1894 von einem Kriegsgericht wegen Landesverrats zu lebenslanger Haft und dann zur Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt worden. Er wurde öffentlich degradiert. Die Indizien waren dürftig, Dreyfus beteuerte seine Unschuld. Freunde, Verwandte und seine Frau hielten den Fall in der Öffentlichkeit, 1896 wurden entlastende Indizien gefunden. Doch nun begann der eigentliche Skandal, der in seiner Perfidie nur mit einer tiefgreifenden Staatsgläubigkeit und dem Antisemitismus führender französischer Militärs und Politiker erklärt werden konnte. Der eigentliche Verräter wurde 1898 freigesprochen, der Aufklärer in der Verbannung geschickt. Als 1899 der Prozess gegen Dreyfus neuerlich aufgerollt wurde, endete er mit einem neuerlichen Schuldspruch. Die französische Öffentlichkeit war darüber strikt gespalten, gerade der katholische Klerus argumentierte mit antijudaistischen Klischees und der Autorität des Staates (statt auf den ungerechtfertigt angeklagten und verurteilten Christus zu verweisen). An den wichtigsten Fakten aber war kaum mehr zu rütteln. Dreyfus wurde 1899 begnadigt, ein Amnestiegesetz erlassen. Die eigentliche Rehabilitation zog sich jedoch bis 1906 hin. Die Dreyfus-Affäre unterstrich die immensen Probleme einer eigenständigen Militärgerichtsbarkeit, einer Politik der Gefälligkeiten und des Postentausches, einer mit dem Staat eng verwobenen Kirche. Doch es gab auch eine letztlich obsiegende kritische Gegenöffentlichkeit. Im Deutschen Reich wurde die Affäre umfassend verfolgt, denn auch dort gab es eine konservativ-reaktionäre Offizierskaste mit eigener Militärgerichtsbarkeit, eine Hofkamarilla, weit verbreiteten Antisemitismus sowie eine großenteils antisemitische protestantische Kirche, deren Oberhaupt der Monarch war.

104_Lustige Blaetter_14_1899_Nr26_p03_Schriftsteller_Emile-Zola_Dreyfus-Affäre

Der Erfolgsschriftsteller Emile Zola als Prototyp des kritischen Intellektuellen (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 26, 3)

J’Accuse…! Kaum ein Pamphlet ist bekannter als Emile Zolas (1840-1902) 1898 veröffentlichter offener Brief an den französischen Präsidenten Felix Faure (1841-1899). Anlass war der Freispruch des für deutsche Quellen spionierenden Ferdinand Walsin-Esterházy (1847-1923) durch ein Militärgericht – in offenkundiger Missachtung der Fakten. Militärs, Politiker und Klerikale hielten dagegen an der Schuld des jüdischen Hauptmannes Alfred Dreyfus fest. Vor Zola hatten mehrere Journalisten den Fall aufgerollt, doch nun klagte einer der erfolgreichsten Schriftsteller Frankreichs an. Sein 1871 bis 1893 erschienener, zwanzig Romane starker Zyklus „Die Rougon-Macquart“ war ein naturalistisches Sittengemälde Frankreichs, schilderte die Konsumgesellschaft von Paris (Der Bauch von Paris (1873), Das Paradies der Damen (1883)), aber auch die Not der Unterschichten (Germinal (1885)). J’Accuse…! war der Höhepunkt zahlreicher Artikel Zolas, die erst in „Le Figaro“ erschienen. Die Zeitschrift weigerte sich, mehr zu drucken, es folgten zwei Broschüren, dann schließlich das Pamphlet in der Literaturzeitschrift „L’Aurore“. Antijüdische Pogrome folgten, Zola wurde angeklagt. Nun aber antwortete auch das laizistisch-liberale Frankreich und die Sozialisten, stellten sich hinter Zola, forderten die Revision der Willkürurteile. Der Prozess erfolgte in aufgeheizter Stimmung, geriet trotz eines Schuldspruches zum Desaster für die Militärs. Das Urteil wurde aufgehoben, doch Zola abermals mit einer Geldstrafe und einer einjährigen Haftstrafe belegt, der er sich durch Flucht in das britische Exil entzog. Kurz danach wurde er rehabilitiert. Er kehrte zurück als Prototyp einer neuen moralischen Instanz, des unerschrockenen Intellektuellen. Als Zola 1902 starb, hielt auch der inzwischen freigelassene Alfred Dreyfus Totenwache an seinem Sarg.

Richard Wagners Leitmotive,

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Ein deutsches Leitmotiv: Richard Wagner-Denkmäler (Kikeriki 23, 1883, Nr. 17 v. 1. März, 3)

Richard Wagner (1813-1883) war ein egozentrischer Neuerer, ehrsüchtig, samt- und seidenabhängig, neidisch auf alles, was sich seinem Primat nicht fügte. Sein schillerndes Wesen kreiste um ihn selbst, auch als demokratischer Revolutionär, als Alter Ego des bayerischen Kinis, als ein notorischer Antisemit, als Mythenbilder aus Versatzstücken der nordisch-germanischen Epen. Als Komponist begann er grandios konventionell, „Rienzi“ (1842) und „Der Fliegende Holländer“ (1843) begründeten seine Stellung. Wagner war Dirigent und Musiktheoretiker, verstand sich auf kleine Formen, auch Lieder. Er wollte alles, Musik, Drama, Volkserziehung, eine neue Ästhetik. Dies mündete in der Idee des „Gesamtkunstwerks“, das 1876 eröffnete Festspielhaus in Bayreuth wurde zu dessen Tempel. Wagners Opern, zumal „Der Ring des Nibelungen“, zielten auf Entwicklung, auf Handlung, legten etwas dar, folgten schicksalsträchtigen Geschichten. Die Komposition begleitete und leitete dies, verband Personen und Themen mit wiederkehrenden Leitmotiven. Kein anderer Komponist des späten 19. Jahrhunderts war derart wirkmächtig, der Neutöner revolutionierte die Musik weltweit. Die Schönheit der Parzival-Ouvertüre, die traurige Wuchtigkeit von Siegfrieds Todesmarsch und die Innerlichkeit der Rheingold-Ouvertüre faszinieren bis heute – doch ebenso zieht sich der Antisemitismus und Rassismus von Wagner und seinem Familienclan wie ein Leitmotiv durch die Geschichte des späten 19. und des 20. Jahrhunderts.

Nordpolfahrten, Schweizerpillen,

106_Illustrirte Zeitung_078_1882_p516_Polarforschung_Nordpol_Polarstationen_Karte

Einkreisung des Ziels: Polarstationen 1882 (Illustrirte Zeitung 78, 1882, 516)

Der Mensch erforscht und entdeckt die weißen Flecken auf der Landkarte – dies war ein Leitmotiv des 19. Jahrhunderts, seiner von Abenteurerromantik und Draufgängertum gekennzeichneten geographischen Expeditionen. Das Rennen zu den Polen war Thema der Gazetten, auch wenn aus heutiger Sicht der Nordpol 1909 weder durch den US-Ingenieur Robert E. Peary (1856-1920), noch durch den US-Arzt Frederick A. Cook (1865-1940) erreicht worden ist. Der Wettlauf zum Nordpol begann allerdings deutlich früher, ging einher mit verbesserten Schiffen und leistungsfähigerer Ausrüstung. Er war ein Prestigekampf zwischen Nationen, nicht umsonst stachen bei der ersten deutschen Arktisexpedition 1869 die Germania und die Hansa in See. Weitere folgten. Dennoch war die Polarforschung nicht nur nationales, sondern auch internationales Streben, das erste internationale Polarjahr 1882/83 zeugte davon. Die Karte dokumentiert die Lage der zwölf nördlichen Stationen, allesamt von einzelnen Staaten betrieben, allesamt Ausgangspunkte für das Erreichen des Nordpols. In den 1890er Jahren gab es drei nennenswerte Versuche, die sämtlich scheiterten. Der Norweger Fritjof Nansen (1861-1930) ließ sich mit der Fram vom Packeis einschließen und schaffte es nicht, mit der Drift zum Ziel zu kommen. Der Schwede Salomon Andrée (1854-1897) starb mit zwei Kollegen beim Versuch, mittels eines Wasserballons den nördlichsten Punkt der Erde zu erreichen. Die Expedition des Italieners Luigi Amedeo von Savoyen (1873-1933) scheiterte 1899 mit der Stella Polare nur knapp. Zur Jahrhundertwende schien der Sieg über Kälte und Packeis unmittelbar bevorzustehen. Karikaturzeitschriften veröffentlichten derweil Totentänze, präsentierten hungrige Eisbären als die eigentlichen Sieger des menschlichen Strebens. Und doch war klar, es würde gelingen.

107_Fliegende Blaetter_088_1888_Nr2222_p03_Geheimmittel_Heilmittel_Schweizerpillen_Richard-Brandt

Ein unübertroffenes Geheimmittel (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2222, 3)

Die Schweizerpillen des Apothekers Richard Brandt waren ein typisches Geheimmittel, Ausdruck einerseits der Unzulänglichkeit der vorhandenen Pharmazeutika, anderseits des nicht still zu stellenden menschlichen Glaubens an lebensrettende und leidensverringernde Hilfsmittel. Ersonnen hatte dieses aus Enzian, Aloe, Moschusgarbe, Wermut, Bitterklee und Silge bestehende „blutreinigende“ und abführend wirkende Präparat der Frankfurter Kaufmann Gottfried Leonhard Daube (1842-1917) 1876 – nicht im Detail, wohl aber im Grundsatz. Der Inhaber einer Annoncenexpedition hatte schon 1874 die Handelsgesellschaft Elnain & Co. für den Vertrieb von Heilmitteln und Kosmetika gegründet. Sie verkaufte auch Produkte des Paderborner Apothekers Richard Brandt (1829-1893), der nun als seriöser Markenkopf auserwählt wurde. Dieser war im Zahlungsverzug, ging daher bereitwillig auf den Vorschlag Daubes ein, ins Schweizer Schaffhausen überzusiedeln und dort ein Kräuterpräparat zu schaffen, dass dann mit Hilfe der von Daube 1876 mitbegründeten Firma Morgenstern & Co. massiv beworben wurde. Der Erfolg gab ihm Recht, denn nach kurzer Zeit waren vierzig Beschäftigte in der Schweiz tätig, die Schweizerpillen herzustellen, zu verpacken und zu verschicken. Die Werbung schuf Nachfrage, Apotheken schien es daher ratsam, das Geheimmittel zu führen, auch wenn sie weder dessen genaue Zusammensetzung kannten und die Hauptbestandteile deutlich billiger hätten zusammenmengen können (vgl. Rudolf Schmitz und Elmar Ernst, G.L. Daube und die „Schweizerpillen“, Beiträge zur Geschichte der Pharmazie 23, 1971, 19-22). Das Markenprodukt etablierte sich rasch, wurde seinerseits verfälscht, scheinbarer Garant seiner unvergleichlichen Wirkung.

Reinculturen von Bacillen,

108_Ermengem_1886_TafII_Bakteriologie_Tuberkelbazillus_Reinkultur

Die Reinkultur des Tuberkelbazillus, mit Fuchsin gefärbt, 700-fache Vergrößerung (Emile van Ermengem, Neue Untersuchungen über die Cholera-Mikroben, Wien 1886, Tafel II)

Das 19. Jahrhundert ist geprägt durch ein Eindringen in organische und anorganische Sphären – die anders als im ordnenden und kategorisierenden späten 18. Jahrhundert zunehmend auch den nicht sichtbaren Bereich umfassten. Das 1869 vorgestellte Periodensystem der Elemente ist dafür ein gutes Beispiel. Die Erkundung der „Natur“ der Stoffe machte deutlich, dass Leben Mischung war. Dies zeigte sich in chemischen Reaktionen, aber auch an den symbiotischen Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen, etwa innerhalb der menschlichen Darmflora. Für analytische Zwecke und praktische Forschung war es jedoch unabdingbar, den Stoffen selbst auf den Grund zu gehen, sie zu isolieren und dann rein in den Blick zu nehmen. Dies setzte eine apparative Ausstattung voraus, zumal leistungsfähige Mikroskope (und damit die Kombination von optischer und feinmechanischer Industrie). Das galt insbesondere für Bakterien, also einzelligen Lebewesen. Sie wurden von dem Botaniker Ferdinand Cohn (1828-1898) in den frühen 1870er Jahren präzise beschrieben und kategorisiert. Nicht zuletzt auf dieser Grundlage konnte Robert Koch 1876 den Milzbranderreger sehen. Wichtig aber war, dass er dann aus dem Blut infizierter Tiere herausgezogen und in großen Mengen reproduziert werden konnte. Dazu bedurfte es neuer Nährmedien. Koch experimentierte, vermischte dann das Untersuchungsmaterial mit zuvor verflüssigter Nährgelatine und goss diese auf sterilisierte Glasplatten. Die abgekühlte Gelatine trennte die verschiedenen Bakterienstämme voneinander, bot ihnen aber zugleich Nährstoffe. Die einzelnen Bakterienkulturen konnten dann voneinander getrennt und gesondert analysiert werden. Auch Robert Kochs weitere Forschungen gründeten auf entsprechenden Fortschritten bei der Entwicklung von Reinkulturen. Bis heute bekannt ist etwa die von Julius Petri (1852-1921) 1887 entwickelte Petrischale.

Wasmuths Hühneraugenringe

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Werbung für Wasmuths Hühneraugenringe in der Uhr (Fliegende Blätter 103, 1895, Nr. 2629, Beibl. 4, 1)

Diese Anzeige ist altbacken konventionell, doch die 1892 mit der Markteinführung des Produktes – in origineller Blechverpackung verkaufte Hühneraugenpflaster – einsetzende Werbekampagne setzte Maßstäbe für großformatige illustrierte Anzeigen, die sowohl die „Plakatkunst“ der Jahrhundertwende (erst jugendstilartig, dann Prototypen der Neuen Sachlichkeit) vorwegnahmen, als auch die Werbung vom beworbenen Produkt trennten. Sie steht für die allgemeine Kommerzialisierung am Beginn der Massenkonsumgesellschaft.

und noch tausend andere Dinge

Nun, diesen müssen wir uns nicht widmen. Das dergestalt illustrierte und kommentierte Gedicht riss in der Tat zentrale Errungenschaften an, die das Leben um 1900 zu einem im Vergleich zu 1800 deutlich besseren gemacht haben. Es strahlt, trotz steten Augenzwinkerns, den Fortschrittsoptimismus dieser Zeit aus, nicht aber die Zweifeleien, die ansonsten den Fin de Siècle kennzeichneten. Der Autor blickte nach vorn, voll Stolz auf das Errungene, voll Hoffnung gegenüber der Zukunft. Er tat dies ohne Häme, verzichtete auf Verdammungen und Ausgrenzungen, verbreitete Optimismus nach dem Neujahrstag. Vieles, vieles fehlt, gewiss. Doch mir scheint, wir, die wir so viel reicher, so viel abgepufferter, so viel klüger sind als der Autor, könnten zumindest von dessen Grundhaltung lernen, uns erfreuen an der so faszinierenden Welt, die uns umgibt und deren Teil wir im frühen 21. Jahrhundert sind.

Uwe Spiekermann, 9. Mai 2020

PS Forschung ist mühsam, Überraschungen sind immer möglich. Und so fand ich just die Ursprungsfassung des oben recht ausführlich vorgestellten Gedichtes über die Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. „Rückblicke und Wünsche des Stuttgarter Spaziergängers“ übertitelt, erscheint es im Neuen Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1899, Nr. 305 v. 30. Dezember 1899, 1-2 (https://digital.wlb-stuttgart.de/index.php?id=6&tx_dlf%5Bid%5D=110803&tx_dlf%5Bpage%5D=1). Hinter dem Stuttgarter Spaziergänger verbarg sich der 1857 in Bamberg geborene Journalist, Theaterkritiker und Schriftsteller Wilhelm Widmann, der 1925 in Stuttgart verstarb. Sein Gedicht war, kaum zu glauben, noch umfangreicher. Hinzu kam zudem ein zweiter Teil, Widmanns Wünsche an das neue, das 20. Jahrhundert: Es ist ein liberales Plädoyer für Selbstbewusstein, Toleranz und Humanität – und steht auch damit quer zum trägen Krisengejammer unserer Tage.

Uwe Spiekermann, 18. Februar 2025

Die begrenzte Rationalisierung der Produktions- und Absatzketten im späten Kaiserreich: Das Beispiel Obst und Gemüse

Anders als Fleisch oder Milch, Brot und Getreide standen Obst und Gemüse vor dem Ersten Weltkrieg nicht im Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Sie erschienen als schwache Lebensmittel, mit nur wenig Eiweiß und wenigen Kalorien; Vitamine waren noch nicht bekannt. Obwohl Teil der täglichen Kost, rangierten sie deutlich hinter den Kernelementen bürgerlicher und auch unterbürgerlicher Kost, nämlich Fleisch, Brot und Kartoffeln. Ihre Alltagsbedeutung war weit gefächert. Obst und Gemüse waren erstens saisonale Lebensmittel, deren Konsumspitzen sich an die Erntezeiten anschlossen. Zweitens boten sie Beikost zur Variation der relativ gleichförmigen, vorrangig auf Getreide, Getreideprodukten und später auch Kartoffeln basierenden Mahlzeiten. Obst und Gemüse waren drittens soziale Marker [1] und dienten viertens als Gesundheitskost [2]. Trotz eingeschränkter saisonaler Verfügbarkeit und hoher Preise war die gesellschaftliche Bewertung beider Lebensmittelgruppen durchaus positiv, boten sie doch schmackhafte und auch süße Ergänzungen im Alltag.

Angesichts ihres relativ geringen Nährwertes ist ihr Bedeutungsgewinn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkenswert. Der Gemüsekonsum stieg bis zum Ersten Weltkrieg relativ konstant an [3]. Zwischen 1850 und 1913 verdreifachte sich der Anbau, während der jährliche Pro-Kopf-Konsum von 37 kg auf über 60 kg wuchs. Das Angebot war regional geprägt, generell dominierten im Deutschen Reich verschiedene Kohl- und Wurzelgemüse, Mohrrüben, Zwiebeln und Gurken. [4] Der Obstkonsum lag deutlich niedriger, doch verdoppelte er sich zwischen 1850 und 1913. Äpfel, Pflaumen, Birnen und Kirschen bestimmten das Angebot. Südfrüchte besaßen dagegen nur eine geringe absolute Bedeutung, auch wenn Natureis und Kühlmaschinen den Eisenbahn- und Schiffstransport insbesondere seit den 1890er Jahren wesentlich vereinfachten. Zitrusfrüchte, Ananas, Bananen, sowie getrocknete Feigen und Korinthen waren relativ teuer, aber schon vor dem Ersten Weltkrieg allgemein verbreitet [5].

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Verkauf von Messina-Apfelsinen in Berlin 1907 [6]

Die veränderten Konsummuster lassen sich auf drei vornehmlich angebotsbezogene Faktoren zurückführen, die ihrerseits wiederum auf Nachfrageimpulsen gründeten. Erstens ist die verbesserte Transportinfrastruktur zu nennen, ohne die neue leistungsfähige Versorgungsinstitutionen, etwa die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, neue Großhandelsformen und insbesondere ein sich dynamisch entwickelnder Facheinzelhandel nicht denkbar gewesen wären. Zweitens setzte schon früh eine Rationalisierung und Intensivierung des Gartenbaus ein. Es waren vor allem kleine und mittlere Produzenten, vorrangig Pomologen, die lokale und regionale, meist genossenschaftlich organisierte Netzwerke einrichteten, um die Qualität, insbesondere aber den Ertrag des angebauten Obstes und Gemüses zu erhöhen.

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Professionalisierung der landwirtschaftlichen Forschung: Landwirtschaft­li­che Experimentalstationen für Gartenbau in Deutschland im 19. Jahr­hundert [7]

Die dort, aber auch an Universitäten und in landwirtschaftlichen Betrieben arbeitenden Experten etablierten ein chemisch-physiologisches und stoffbasiertes Verständnis von Pflanzen und Agrarproduktion, auch wenn es noch lange von den empirischen Kenntnissen der Praktiker in Frage gestellt wurde. Die Zusammensetzung von Böden und Pflanzen wurde analysiert, neues Saatgut gezüchtet und verbreitet, ferner Grundzüge der Düngelehre und dann auch des Pflanzenschutzes etabliert [8]. Gleichwohl produzierte man Obst und Gemüse vorrangig im Nebengewerbe, lediglich ein Achtel des Angebotes stammte vor dem Ersten Weltkrieg von spezialisierten Betrieben. Das lag an der gegenüber Hackfrucht- und Getreideanbau wesentlich höheren Abhängigkeit vom Wetter und den nicht unerheblichen Problemen, die nach der Ernte teils schnell verderblichen Waren verkaufen zu können.

Neben den traditionellen Lager- und Verarbeitungstechniken entwickelte sich drittens die Konservierungstechnik rasch, nahm jedoch eine außergewöhnliche Entwicklung. Gewiss, die gewerbliche Dosenkonservierung gerade von Gemüse nahm zwar deutlich zu, doch die Konsummengen blieben zumal im Vergleich zu Großbritannien und den USA recht gering: 1913 wurden im Deutschen Reich ca. 80 Mio. Dosen Gemüse- und 30 Mio. Dosen Obstkonserven produziert, also etwa zwei Kilogramm pro Kopf und Jahr. [9] Von einem „Konservenzeitalter“ kann wahrlich nicht die Rede sein. Wesentlich bedeutsamer als die Konservenindustrie war die häusliche Konservierung. Die anfallenden Ernten von Gärten und Feldern wurden dezentral verarbeitet, wobei der Anteil der zugekauften Ware stetig wuchs. Dabei handelte es sich nicht um Beibehaltung tradierter Techniken des Einmachens, sondern um eine bewusste Verhäuslichung, um die Nutzung neuer Techniken in der Hauswirtschaft. Seit den 1870er Jahren gewann insbesondere im landwirtschaftlichen Milieu die heimische Dosenkonservierung an Bedeutung. Entscheidend aber wurde die Einführung von Einkochverfahren auf Grundlage der neu entwickelten Hitzesterilisierung, namentlich des Weck-Verfahrens in den späten 1890er Jahren [10]. Aufgrund des relativ hohen Preises der Konservierungsgefäße und -geräte blieb ihre Verwendung während des Kaiserreiches jedoch noch auf bürgerliche und bäuerliche Haushalte begrenzt.

Während die Fleisch- und Milchproduzenten, teils durch Zollschutz und veterinärmedizinische Vorkehrungen, teils durch die rasche Verderblichkeit der Waren, nur relativ geringer Konkurrenz ausgesetzt waren, gab es im Obst- und Gemüsesektor nicht nur vermehrte Nachfrage, sondern zugleich einen wachsenden Importdruck qualitativ höherwertiger Angebote. Der durchaus bestehende Zollschutz wurde dadurch unterminiert. Selbstbewusst hieß es etwa auf einem Eisenbahnwaggon mit Importware: „Einst waren sie im Reichstag toll, Schickten uns darum Eingangszoll, Und hofften Hollands Kohl zu wehren, Doch Deutschland kann sie nicht entbehren. Schon 1000 Wagen sandte dies Jahr Hinüber Kaufmann K. Wagenaar. Klaas Wagenaar aus Broek und Langendeich. Sandte immer beste Waren, Berliner Händler, bestellt darum sogleich. So werdet ihr viel ersparen“ [11].

03_Die Woche_13_1911_p848 und p849_Niederlande_Gemüsebau_Gurken_Glashaus_Auktion

Marktorientierte Gemüseproduktion in den Niederlanden 1911: Gurkenproduktion im beheizten Glashaus (l.) und Gemüsetransport zur Auktion (r.) [12]

Ähnlich urteilten deutsche Marktbeobachter über die Fruchtimporte: „Das [ausländische, US] Obst kommt unter bestimmten bekannten Marken in den Handel und befindet sich in den Verpackungsgefäßen in so tadelloser, gleichmäßiger Qualität, daß der Großhandel die Ware sowohl einkaufen wie verkaufen kann, ohne sie vorher in Augenschein nehmen zu müssen, und ohne ein nennenswertes Risiko zu laufen, welches bei der Versendung durch Verderben der Früchte sonst zu befürchten wäre. Der Zustand des ausländischen Obstes befähigt den Großhandel, dasselbe von den großen Handelszentren bis in die entferntesten und kleinsten Konsumplätze dem Kleinhandel zu liefern. An diesen Plätzen wird hierdurch das deutsche Obst ersetzt bezw. verdrängt.“ [13] Die wachsenden Erfolge auswärtiger Anbieter, die vor dem Ersten Weltkrieg mehr als ein Fünftel des Absatzes bestritten, führten spätestens Mitte der 1890er Jahre zu einer intensivierten Expertendiskussion. Es galt, vom Ausland zu lernen, vorrangig von den USA und den Niederlanden [14].

Die Qualitätsdefizite des eigenen Angebotes waren offenkundig: „Geht man durch die Marktstände in den Städten oder wirft einen Blick in die Schaufenster und Läden der Fruchthandlungen, so kann man sich eines Erstaunens über das Aussehen der Früchte nicht erwehren und muß sich wundern, daß derartig fleckiges, angestoßenes oder krüppeliges Obst Abnehmer findet, und zwar zu einem Preise, den der produzierende Landwirt kaum für seine allerbesten Früchte erzielt.“ [15] Abseits des Augenscheins wurden vorrangig zu geringe Anbauflächen, zu schlechte Pflege der Pflanzen, mangelnde Konservierungstechniken, zu hohe Warenverluste, zu viele Sorten, zu geringe Liefermengen und schlechte Sortierung kritisiert. [16] Das Kleinklein der Produktion galt als besonderes Problem, verlangte „der wirklich intensive Obstbau [doch, US] große Kapitalien, viel Zeit und ungeteilte Arbeitskraft […]. Er muß zu einer förmlichen ländlichen Industrie ausgestaltet werden, wenn er nennenswerte Erträgnisse liefern und volkswirtschaftliche Bedeutung erlangen soll.“ [17]

Die Antwort zahlreicher Agrarökonomen, Pomologen und Praktiker zielte auf eine Qualitätsoffensive zur Rückgewinnung der deutschen Konsumenten. Sie ging jedoch nicht von den Bedürfnissen und Erwartungen der Verbraucher aus, sondern zielte auf hochwertigere und vor allem effizienter produzierte und vermarktete Waren. Diese würden – gemäß dem Sayschen Theorem – ihren Absatz finden, da Produktqualität das beste Verkaufsargument sei. Das mag aus heutiger Sicht verwundern, spiegelte jedoch die zeitgenössischen Vorstellungen der nationalökonomischen Theorie, in denen der Konsument erst einmal als Widerpart des Produzenten verstanden wurde. [18] Er erzwang „die Waren resp. Leistungen nach Bedarf und möglichst bequem, mannigfaltig, brauchbar und preiswert zu erhalten“ – doch damit waren die Problemlagen einer Konsumentenorientierung klar benannt, biete sie denn „keine Garantie mehr für die Güte, die Qualität, die Preiswürdigkeit der Waren. Der Konsument muß selbst prüfen und ist, wenn er dies nicht thut oder nicht kann, der Gefahr der Benachteiligung ausgesetzt.“ [19] Der rational gedachte Konsument zielte auf die maximale Befriedigung seiner Bedürfnisse. Er war Auslöser ökonomischen Dynamik, die zu Qualitätsverschlechterung und überbürdenden Ansprüche führen mussten, wenn nicht andere Instanzen helfend einsprangen. Entsprechend diente er vielfach als „Prügelknabe“ [20] von Wissenschaft und Öffentlichkeit, als Projektionsfläche der inneren Debatten über die liberale Wirtschaftsordnung und den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Der „Konsument“ war meist eingebettet in moralische Debatten über Luxus und Sparsamkeit, war Gegenstand stetiger Aufklärungs- und Erziehungsbestrebungen. Sie zielten nicht zuletzt darauf, ihm einen Begriff von Qualität zu vermitteln: Es galt, „daß die sittliche Erziehung des Konsumenten darauf ausgehen muß, ihn mit den Herstellungskosten der Gegenstände vertraut zu machen, ihm einen Begriff von den Kosten volkswirtschaftlicher Produktion beizubringen, damit er nicht einfach planlos nach dem Billigsten greift.“ [21] Gegenüber diesem Hauptstrang traten andere Versuche von Ökonomen und Sozialwissenschaftler zurück, die den Begriff des „Konsumenten“ nutzten, um Kritik an der korporatistischen Wirtschaftsstruktur und seiner „Bevormundungstendenz“ [22] im Konsumgütermarkt zu üben, oder aber gar auf seinem Wollen und Streben die Grundlagen einer genossenschaftlich organisierten „sozialen Tauschgemeinschaft“ [23] zu gründen.

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Idealbild Massenproduktion – Obstzüchterei Karolinenhof in der Steiermark 1902 [24]

Der Konsument war also Billigheimer und Qualitätsverschlechterer. Sein Griff nach der schönen Auslandsware lag denn nicht an deren höherer Qualität, sondern am blendenden schönen und standardisierten Äußeren holländischer Gurken und kalifornischer Äpfel. „Gute“ deutsche Ware würde sich dagegen durchsetzen, wenn sie denn nur in größeren Chargen angeboten würde. Ziel war daher „Massenerzeugung“ [25], auch, um die Kosten zu reduzieren. Verbraucher und Marktentwicklung wurden damals nicht analysiert, sondern antizipiert: „Es ist mit erhöhten Ansprüchen der Verbraucher, mit der Einfuhr ausländischer Früchte und auch mit der räumlichen Ausdehnung der Städte zu rechnen.“ Eine präzise Marktanalyse unterblieb, entwickelte sich erst in den 1920er Jahren. [26] Die deutschen Anbieter von Obst und Gemüse blieben vor dem Ersten Weltkrieg produktorientiert, die einschlägigen Fachbücher konzentrierten sich auf Garten und Feld, nicht auf Absatz und Verkauf. [27]

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Sortenreduktion – Differenzierte Empfehlungen für den Handelsobstbau 1903 [28]

Dies bedeutete erst einmal eine Sortenreduktion, wie sie in den badischen Obstbaugebieten schon seit Ende der 1880er Jahre umgesetzt wurde. [29] Die Pomologen hatten die heimischen Sorten detailliert beschrieben, sahen darin einen Widerhall von Gottes Ordnung und nationalem Reichtum. [30] Nun aber ging es um Quasimarkenbildung, insbesondere „wenige, marktgängige Sorten. Die Obstbautechnik muß sich des bestehenden Vielerleis annehmen und hierin Wandel schaffen.“ [31] Dies betraf einerseits marktgängige Sorten, etwa die heute noch gängigen Boskop- oder Reinette-Äpfel. Anderseits sollten Markenartikel als Herstellermarken durch einzelne Obstbaugenossenschaften etabliert werden. [32] Dazu bedurfte es neuartiger Verpackungen, denn die Züchtungsprodukte mochten ähnlich aussehen und auch einheitlich sortiert worden sein, doch sie blieben eine heterogene Ware.

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Einhegung bestehender Variabilität: Williams-Äpfel vom selben Saatgut [33]

Es ging vor dem Ersten Weltkrieg also nicht allein um eine höhere Produktion von marktgängigem Obst und Gemüse zu akzeptablen Preisen. Es ging zuerst einmal um den Aufbau umfassender Produktions- und Lieferketten, um die Waren in möglichst unversehrter Form an den Konsumenten bringen zu können. Angesichts des zersplitterten Angebotes war dieses Ziel nicht passgenau zu erreichen, sondern nur annäherungsweise. Die Vielfalt und die Variabilität der Obst- und Gemüsesorten bildeten zentrale Probleme, denn die Kosten für ein derart breites und qualitativ heterogenes Angebote waren für einen profitablen Absatz schlicht zu hoch. Entsprechend gab es vor dem Ersten Weltkrieg eine Vielzahl lokaler und regionaler Initiativen, um jeweils Teile der Produktions- und Lieferketten zu verbessern. Der Konsument blieb in Deutschland dabei jedoch eine Chimäre, denn Anbieter und Händler waren überzeugt, dass „gute“ Ware ihn überzeugen würde. Sie handelten fast lehrbuchmäßig, mit einem rational agierenden homo oeconomicus als Absatzziel. Doch sie verkannten, dass auch eine in ihren Augen „gute“ Ware nicht ausgereicht hätte, die Konsumenten dem vermeintlich unter kalifornischer Sonne gereiften Obst und dem frischen Gemüse aus Holland zu entwöhnen. Zudem blieben die Initiativen im Inland häufig Stückwerk. Standardisierungsbemühungen gab es, doch die letztlich steckengebliebene Vereinheitlichung der Verpackungen unterstrich die immensen Probleme, das Angebot gefällig, transportfest und preisgünstig zu bewegen. Wo immer Produzenten und Händler begannen, trafen sie rasch auf neue Flaschenhälse, die kleinteilige Verbesserungen entwerteten.

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Einheitsverpackungen des Deutschen Pomologen-Vereins 1907 [34]

Um ein homogenes markt- und konkurrenzfähiges Produkt anbieten zu können, wurde beispielsweise von regionalen und nationalen Spitzenverbänden versucht, Transport- und Verkaufspackungen miteinander zu koppeln. Doch der jeweilige Materialaufwand sollte sich an der Qualität der Ware orientieren. Es ging also noch nicht um eine für alle Sorten gültige Einheitslösung – der Deutsche Normenausschuss entstand erst 1917 mit Fokus auf Rüstungsgüter und die Maschinenindustrie – sondern um Verpackungen für Einzelgüter. Diese konnten Transportkosten reduzieren, zumal die Tarif- und Portosätze von Reichsbahn und Reichspost einen Referenzrahmen boten. Doch zugleich stellten die vermeintlich passgenauen Verpackungen neue Aufgaben, erforderten insbesondere eine bessere Sortierung der Waren: „Je geschmackvoller und sauberer die Verpackung nun ist, ein um so höherer Preis wird gezahlt. Präsentiert sich doch gut verpacktes Obst dem Auge des Käufers viel besser als lose in Körbe geschüttete Früchte.“ [35]

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5-Kilogramm-Versandpackungen für Berliner Delikatessenläden 1904 [36]

Standardisierte Füllmengen und gestufte, meist am Gewicht und der äußeren Erscheinung der Waren orientierte Qualitätsspreizungen beschleunigten und verbilligten zugleich den Groß- und Einzelhandel – so die Schlussfolgerung der Experten. Üblich wurden vielfach 25 kg-Kisten bzw. 5 kg-Pappkartons. Die erste Qualität wurde mit Seidenpapier, Holzwolle und Papierlagen ausgelegt, bei der zweiten fehlte Seidenpapier, während es bei dritter Qualität nur eine lockere Aufhäufung gab. Die Qualitätsspreizung erfolgte jedoch auch anhand der Ware selbst: „Erste Qualität nennt man tadellos entwickelte, gleichgroße und fleckenlose Früchte, welche weder angestoßen, noch wurmstichig sein dürfen. Früchte zweiter Qualität sind auch eine gute Verkaufsware, die den obigen Ansprüchen in bezug auf Güte entsprechen, doch können sie zweiter Größe sein. Unter dritter Qualität versteht man nun den Rest des Ernteertrages, jedoch dürfen keine faulenden Früchte dabei sind“ [37].

Der hochwertige Augenschein erforderte Rationalisierungen auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette. Diese bedeutete einerseits Kooperation in Form spezialisierter Obst- und Gemüsebaugenossenschaften. [38] Damit konnten nicht nur die noch wenigen Saat-, Kultivierungs-, Reinigungs- und Sortierungsmaschinen effizienter eingesetzt, sondern auch Betriebsmittel zu geringeren Preisen eingekauft werden.

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Ertragssicherung durch Chemisierung – Baumspritze „für den Großbetrieb“ 1903 [39]

Die Genossenschaften förderten zudem eine systematischere Produktpflege, eine intensivierte Schädlingsbekämpfung und eine verbesserte Düngung: „Um Qualitätsfrüchte zu erreichen, darf man mit der Düngung von Phosphorsäure nicht sparen.“ [40] Gemeinsam mit landwirtschaftlichen Vereinen erleichterten Produktionsgenossenschaften ferner eine lokale Wissensdiffusion, die nicht nur auf Broschüren und Bücher gründete. Landwirtschaftliche Ausstellungen waren tendenziell wichtiger. [41]

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Rationalisierung der Marktbeschickung – Ausladevorkehrungen und Marktpritschen in Stuttgart 1904 [42]

Anderseits etablierten sich leistungsfähigere Großhandelsbetriebe, die sich insbesondere auf den raschen Absatz in urbanen Massenmärkten konzentrierten. Gemeinsam verbesserte man langsam auch die Lagerhaltung, um die saisonalen Angebotsspitzen abzuflachen und höhere Preise zu erzielen. Die deutschen Anstrengungen blieben jedoch weit hinter denen der europäischen und insbesondere der US-amerikanischen Anbieter zurück. Grund hierfür war auch, dass die Veränderungen des Kühlgutes während der Lagerung damals noch kaum erforscht waren. Die Forschung hatte sich im späten 19. Jahrhundert zuerst auf Fleisch und Fette, dann auch auf Fisch konzentriert, nur langsam folgten lagerfähige Gemüse und Südfrüchte wie Ananas und insbesondere Bananen. [43] Zur Verbindung von Produktion und Absatzmärkten nutzte man zudem mit Natureis gekühlte Transportmittel.

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Kühltechnik im Dienst der Obstvermarktung in den USA: Waggon mit Eiskühlung [44]

Das betraf insbesondere Eisenbahnwaggons mit Eiskühlung sowie spezialisierte Frachtschiffe. Sie halfen nicht nur Distanzen zu überwinden, sondern erforderten auch neue Absatzinfrastrukturen in den Zielorten. Lagerhäuser mutierten peu a peu zu Kühlhäusern. Hier konnte zudem „künstliche“ Kühlung eingesetzt werden, die seit den 1870er Jahren schon die Produktion von Bier grundlegend umgestaltet hatte.

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Maschinengekühlter Lagerraum mit Obstfässern und -kisten [45]

Die kleinteiligen Lagerräume erlaubten lediglich Kühlung, nicht aber das damals kaum erforschte Gefrieren von Obst und Gemüse. Kernproblem blieb die genaue Temperaturführung, gab es in den Räumen doch nicht unbeträchtliche Unterschiede von einigen Grad. Das aber gefährdete die Qualität des Kühlgutes, zumal bei kleineren Chargen. Die unterschiedlichen Verpackungen und die Lagertechnik erschwerten zudem das dadurch eigentlich erforderliche regelmäßige Umpacken.

Technische Probleme dieser Art wurden angegangen und in langwieriger Arbeit auch abgemildert. Das aber galt nicht für das eigentliche Ziel all dieser Bemühungen, den Absatz an den Konsumenten. Die Mitte der 1890er Jahre vielfach ins Leben gerufenen Verkaufsstellen für deutsches Frischobst und Obstprodukte hatten beispielsweise kaum Erfolg [46]. Die Direktvermarktung der Produzenten konnte sich gegen die schnell wachsende und hochgradig fluktuierende Zahl der Straßenhändler und Ladengeschäfte nicht durchsetzen [47]. Schon vorher waren Versuche gescheitert, den Obst- und Gemüseverkauf in Kleinhandelsmarkthallen zu konzentrieren. Dieses hätte zwar einen hygienischen und staatlich einfacher zu überwachenden Absatz erlaubt, doch angesichts der Zeitaufwendungen derartiger zentralisierter Strukturen fanden sie beim Publikum kaum Widerhall.

Großhandelsmarkthallen etablierten sich dagegen im späten 19. Jahrhundert als die eigentlichen Drehscheiben des Absatzes von Obst und Gemüse. Daneben behaupteten sich die im späten 19. Jahrhundert vielfach totgesagten Wochenmärkte insbesondere in Mittelstädten. Allerdings nahm die Zahl der vom Umland in die Stadt fahrenden Produzenten zugunsten spezialisierter Markthändler ab.

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Wochenmarkt in Würzburg im späten 19. Jahrhundert [48]

Der Ladenhandel mit Obst- und Gemüse wurde von kapitalarmen Kleinhändlern dominiert, auch wenn sich parallel spezialisierte Frucht- und Feinkosthandlungen für den gehobenen Bedarf etablieren konnten. 1907 gab es im Handel mit anderen landwirtschaftlichen Waren – Tiere, Getreide, Samen und Blumen waren ausgeschlossen – 102.607 Betriebe, doch weniger als fünf Prozent davon beschäftigten vier oder mehr Personen [49]. Parallel etablierten sich gerade in den Großstädten zahllose Straßenhändler, die Großhandelsware rasch abverkauften. Sie waren eine institutionelle Antwort auf das saisonal sehr unterschiedliche Aufkommen von Gemüse und insbesondere Obst. Obwohl innovative Absatzformen, wie etwa Verkaufsautomaten, durchaus bestanden, veränderte sich der Letztverkauf von Obst und Gemüse nur wenig [50].

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Gesunde Snacks in 31 Fächern. Obst-Automat der Berliner Firma P. de la Vari [51]

Wichtige Veränderungen gab es jedoch im Wechselspiel zwischen landwirtschaftlicher Produktion und Verarbeitungsindustrie. Parallel zum Bedeutungsgewinn der häuslichen Verarbeitung von Obst und Gemüse zu Dauerwaren etablierte sich ein rasch wachsender gewerblicher Markt. Marmeladen, Fruchtsäfte und Obstweine sowie Dosengemüse gewannen an Bedeutung, waren im Kaiserreich aber nie mehr als Nischenprodukte. [52] Das sollte sich angesichts der Versorgungsprobleme während des Ersten Weltkrieg, vor allem aber durch technische Verbesserungen während der Weimarer Republik ändern, als zudem die Vitaminforschung die Wertigkeit pflanzlicher Produkte deutlich verbesserte.

Vor dem Ersten Weltkrieg erfolgten all diese kleinteiligen Veränderungen nur langsam, blieben teils regional begrenzt, griffen nicht reichsweit. Dies war paradoxerweise aber auch Resultat eines überbordenden Nationalismus: Die begrenzten Rationalisierungsbestrebungen spiegelten nämlich immer auch Vorstellungen einer spezifisch deutschen Qualität insbesondere des Obstes. Die ausländische Konkurrenz mochte gefällige Massenware liefern, doch das eigentliche Alleinstellungsmerkmal deutscher Produkte lag nicht in der Form, sondern in ihrem Geschmack [54]. In den Quellen findet sich wieder und wieder Klagen über die Ignoranz der Konsumenten, die beispielsweise die zahllosen Nuancen einheimischer säuerlicher Äpfel oder regionaler Kohlsorten nicht würdigen würden. Es war also nicht allein Marktignoranz, sondern auch der nationale Stolz vieler Anbieter auf ihre Spezialitäten, der Rationalisierungsbestrebungen ins Leere laufen ließ [55]. Gut und reell zu liefern und das eigene Angebot zu pflegen – das mochte angehen. Doch die breiter gelagerten Qualitätsvorstellungen der Konsumenten in den Blick zu nehmen war vor dem Ersten Weltkrieg kaum verbreitet. Nicht freier Konsum nach eigenem Gustus stand im Mittelpunkt, sondern eine Einreihung in eine spezifisch deutsche Rollenerwartung, in der die Verpflichtung für das abstrakte Gemeinwohl stets bedeutsam blieb.

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Produktdifferenzierung durch Verarbeitung – Anzeigen 1914 [53]

Entsprechend wurde immer wieder versucht, den Konsumenten von den relativen Vorzügen des bestehenden deutschen Angebotes zu überzeugen, sie also zu erziehen. Die meisten bäuerlichen Produzenten sahen sich selbst in einer geordneten, ständisch differenzierten Gesellschaftsstruktur, in der sie möglichst „gute“ Ware liefern sollten, in der die Konsumenten dann aber auch verpflichtet waren, diese abzunehmen. [56] Die von zahlreichen Agrarwissenschaftlern vorgeschlagenen Rationalisierungsbestrebungen, insbesondere die intensiv diskutierte „Industrialisierung der Landwirtschaft“ [57] schien nur wenigen erstrebenswert, da sie Lebenszuschnitte unterminierte und die Gesellschaft zu zersetzen schien – fast so wie eine faule Frucht die sie umgebenden Früchte. [58]

Standardisierungsbestrebungen, Qualitätsfestlegungen und eine Orientierung auf die mit dem Produktionsumfeld und seinen Besonderheiten nicht mehr vertrauten Konsumenten hatten daher im späten Kaiserreich nur begrenzte Erfolge. Es fehlten nicht nur ihrer selbst bewusste Konsumenten, die ihre Forderungen aktiv artikulierten, sondern es fehlte zugleich seitens der Mehrzahl der Produzenten an der Bereitschaft, deren Erwartungen ernst zu nehmen, und ihnen eine Ware zu liefern, die mit großem Aufwand verbunden war. [59] Trotz ihres Kultes des Objektiven ging es den Akteuren nie nur um Richtiges, sondern immer auch um Rechtes. Die Malaise der Qualität von Obst und Gemüse lag nicht nur darin, dass die Konsumenten an deren Definition nur indirekt und virtuell beteiligt waren, sondern dass Wissenschaftler und Produzenten stets Qualitätsideale verfochten, die auf eine kleingewerblich organisierte Bürgerwelt zugeschnitten war, nicht aber auf die Herausforderungen anonymisierter Massenmärkte und damit moderner Konsumgesellschaften. Für die ausländische Konkurrenz, die schon vor dem Ersten Weltkrieg begann, Marktforschung und Marketing zu betreiben, war und blieb dies ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.

Uwe Spiekermann, 31. Januar 2020

 

Quellen- und Literaturnachweise

[1] Gustav Klemm, Allgemeine Culturwissenschaft, Leipzig 1855, 304-308.
[2] Ulrike Thoms, Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß. Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2005, 110-119.
[3] Hans J. Teuteberg, Der Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung (1850-1975). Versuch einer quantitativen Langzeitanalyse, in: Ders. und Günter Wiegelmann, Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung, Münster 1986, 225-289, hier 245. Teutebergs Sekundärzahlen basieren allerdings auf sehr unpräzisen Grundangaben. Eine Neuberechnung und Präzisierung ist ein wichtiges Forschungsdesiderat.
[4] Georg v. Viebahn, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, T. 2, Berlin 1862; Elisabeth Paetzmann-Dulon, Richard Heineke und Hermann Henke, Der Verbrauch von Obst und Gemüse in Nordwesteuropa und seine Bedeutung für die Absatzmöglichkeiten der Mittelmeerländer, Kiel 1961; Paul Seitz, Der Gemüse- und Kräuteranbau und die Speisepilzerzeugung seit dem 18. Jahrhundert, in: Günther Franz (Hg.), Geschichte des deutschen Gartenbaues, Stuttgart 1984, 365-454.
[5] Helmut Eisig, Der Verbrauch von Nahrungsmitteln in Deutschland vor und nach dem Krieg, Phil. Diss. Basel 1933, 19, 28-30.
[6] Berliner Leben 10, 1907, Nr. 1, 10.
[7] Karte erstellt anhand der Angaben von Günther Liebster, Der deutsche Obstbau seit dem 18. Jahrhundert, in: Franz (Hg.), 1984, 143-205, hier 193. Während des 20. Jahrhunderts wurden weitere Experimentalstationen in Schlachter (1903), Pillnitz (1922), Fünfhausen (1938), Osnabrück (1949) and Nürtingen (1952) errichtet. Einen guten Einblick in die Arbeitsschwerpunkte vermittelt Th[eodor] Remy, [Bernhard] Hunger und [P.] Lange, Der neue Versuchsbetrieb für Gemüse- und Obstbau an der Königl. landwirtschaftlichen Akademie in Bonn-Poppelsdorf, Berlin 1916.
[8] Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen 2010.
[9] [Bernhard Heinrich] Barg, Konservierte Nahrungsmittel, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 56-57, hier 57.
[10] Uwe Spiekermann, Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Haushalt und Industrie 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, hg. v. KATALYSE e.V. und BUNTSTIFT e.V., Köln 1997, 30-42. Zu den zuvor verwandten Haushaltstechniken s. A. Gebhardt, Das Obst als Nahrungsmittel, Leipzig 1894.
[11] Zit. n. Hayunga, Die Versorgung des deutschen Marktes mit Gemüse aus dem Auslande und Erfahrungen über Organisation im Anbau und Verkauf von Gemüse in Holland, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 25, 1910, 391-396, 420-421, hier 393.
[12] Udo Dammer, Moderne Gemüsekultur in Holland, Die Woche 13, 1911, 847-851, 848 (l.) und 849 (r).
[13] D. Sandmann, Wie kann der Absatz der deutschen Obstproduktion auf genossenschaftlichem Wege gefördert werden?, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 4, 1906, 138-140, 146-148, hier 138.
[14] Reiseberichte förderten den Informationstransfer, vgl. etwa umfassend Fr[iedrich] Oetken, Die Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika sowie die allgemein-wirthschaftlichen, sozialen und Kultur-Verhältnisse dieses Landes zur Zeit des Eintritts Amerikas in das fünfte Jahrhundert nach seiner Entdeckung, Berlin 1892; A.G. Grant, Internationaler Obstbau und der Weltmarkt. Was der rationelle Obstbau der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika den deutschen Obstzüchtern lehrt. Eine Skizze, o.O. 1905. Beispiele für unmittelbare Adaptionsvorschläge sind M. Heller, Obst-Industrie. Ein Anregung nach amerikanischem Muster, Das Land 14, 1905/06, 59-62; B[runo] Hempel, Deutschlands Gemüseeinfuhr und ihre Lehren für den heimischen Anbau, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 28, 1913, 377-381; Hans Tenhaeff, Gemüseproduktion und -Absatz nach holländischen Vorbild in Deutschland, ebd. 30, 1915, 283-286, 300-304, 322-325, 340-342. Die Veränderungen begannen zuerst im Obstsektor, griffen dann aber auch auf die Gemüseproduktion über, vgl. [Fridolin] Rebholz, Förderung des Gemüsebaus, Landwirtschaftliches Jahrbuch für Bayern 2, 1912, 1-13.
[15] O[tto] Wauer, Ernte, Aufbewahrung und Verwertung des Obstes, Landwirtschaftliche Zeitung für Westfalen und Lippe 68, 1911, 384-386, hier 384.
[16] Udo Dammer, Obstbau in Deutschland, Die Woche 1, 1899, 953-955. Zum relativer Rückstand gegenüber anderen Sektoren der Landwirtschaft, vgl. A. Hupertz, Landwirtschaftlicher Obstbau. Vorschläge zur Reorganisation, Würzburg 1902.
[17] Heller, 1905/06, 59.
[18] Vgl. etwa Karl Marlo [d.i. Karl Georg Winkelblech], Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie, 2. vollst. Aufl., Bd. 3, Tübingen 1885, insb. 294-295.
[19] G[ustav] v. Schönberg (Hg.), Handbuch der Politischen Oekonomie, 4. Aufl., Bd. 2, Halbbd. 1, Tübingen 1898, 662 (auch für das vorherige Zitat).
[20] Begriff nach Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Ergänzungsbd. 2: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Freiburg i.Br. 1903, 497.
[21] G[ottfried] Traub, Ethik und Kapitalismus. Grundzüge einer Sozialethik, 2. verb. u. verm. Aufl., Heilbronn 1909, 138.
[22] Karl Oldenberg, Die Konsumtion, in: Grundriss der Sozialökonomik, Abt. II, Tübingen 1914, 103-164, hier 120.
[23] Vgl. etwa Franz Staudinger, Die Konsumgenossenschaft, Leipzig 1908, v. a. 31-40; Ders., Die geregelte Tauschgemeinschaft als soziales Ziel, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 14, 1917, 173-175.
[24] Obstzüchterei Karolinenhof, Der Obstzüchter 1, 1903, 102-104, hier 102.
[25] M. Lindner, Ueber die Auswahl der Obstarten und -sorten bei Obstpflanzungen, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 28, 193, 120-121, hier 121 (auch für das folgende Zitat).
[26] Vgl. hierzu Uwe Spiekermann, »Der Konsument muß erobert werden!« Agrar- und Handelsmarketing in Deutschland während der 1920er und 1930er Jahre, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Marketinggeschichte, Frankfurt/M. und New York 2007, 123-147, hier 126-129.
[27] Beispiele wären Johannes Böttner, Praktische Gemüsegärtnerei, 7. verb. u. verm. Aufl., Frankfurt/O. 1913; F[lorian] Stoffert, Das Obst- und Gemüsegut der Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt/O. 1920.
[28] Der Obstzüchter 1, 1903, 16.
[29] Huber, Etwas über Obstkunde (Pomologie), Wochenblatt des Landwirthschaftlichen Vereins im Großherzogthum Baden 1899, 369-371, hier 370.
[30] Vgl. etwa Theodor Engelbrecht, Deutschlands Apfelsorten, Braunschweig 1889.
[31] Hans Pfeiffer, Einheitliche Maßnahmen zur Hebung des Obstbaues, des Obsthandels und der Obstverwertungs-Industrie, Zeitschrift für Agrarpolitik 7, 1909, Sp. 17-20, hier 17.
[32] Sandmann, 1906, 139.
[33] The Century 69, 1904/05, 833.
[34] Einheitsverpackung in Deutschland, Der Obstzüchter 5, 1907, 146-147, hier 147.
[35] Wauer, 1911, 386. Vgl. demgegenüber die Erfahrungen von Grant, 1905, 5: „In der alten urgroßväterlichen Weise reißt und schüttelt man die Kernobstfrüchte von den Bäumen, verpackt sie wie Kartoffeln in große Körbe und schickt sie auf den lokalen Markt. Ist derselbe überfüllt und lohnt sich nicht der hohen Transportkosten wegen, das solcherweise gesammelte Obst nach Frankfurt a.M. auf die Obstbörse zu senden, so verfaulen nicht selten unsere schönsten heimischen Früchte tonnenweise.“
[36] Verkehrtes Packen, Der Obstzüchter 2, 1904, 125.
[37] Wauer, 1911, 385-386.
[38] Vgl. als Beispiel Die Obstbaugenossenschaft Höbeck, Das Land 4, 1895/96, 53-54 bzw. mit idealistischem Aufbruchston Vorwärts, Genossenschaften! (Obstverwertung.), ebd., 231-232.
[39] J[osef] Löschnig, Blattkrankheiten unserer Obstbäume und ihre Bekämpfung, Der Obstzüchter 1, 1903, 65-71, 81-84, 113-115, hier 69.
[40] Hayunga, 1910, 395.
[41] Vgl. O. Bossert, Wie kann der Landmann seine Lage verbessern?, Wochenblatt des landwirthschaftlichen Vereins im Großherzogthum Baden 1896, 494-497. Auch hier waren ausländische Vorbilder maßgebend, vgl. A. Gradenwitz, Californische Ausstellungszüge, Prometheus 22, 1911, 586-588.
[42] Der Handel mit Obst in und nach Stuttgart, Der Obstzüchter 1, 1903,164 (o.) und 165 (u.).
[43] Vgl. hierzu James Troubridge Critchell und Joseph Raymond, A History of the Frozen Meat Trade, London 1912 (Nachdruck 1969); Richard Perren, Taste, Trade and Technology. The Development of the International Meat Industry since 1840, Aldershot 2006; Boris Loheide, Beef around the World – Die Globalisierung des Rindfleischhandels bis 1914, Comparativ 17, 2007, 46-67.
[44] Rich[ard] Stetefeld, Die Kälte-Industrie im Dienste des Obst- und Gartenbaus, Zeitschrift für die gesamte Kälte-Industrie 12, 1905, 40-56, hier 54. Zur technischen Entwicklung vgl. auch Karl Sajó, Fortschritte im Obstverkehre, Prometheus 17, 1906, 705-709, 724-727 und [Richard] Stetefeld, Neuerungen in Obstkühlanlagen, Zeitschrift für die gesamte Kälte-Industrie 13, 1906, 1-4.
[45] Stetefeld, 1905, 53.
[46] Vgl. Verkaufsstellen für deutsches Frischobst und Obstprodukte, Das Land 4, 1895/96, 265; Städtische Verkaufsstellen für deutsches Frischobst und Obstprodukte, ebd., 331; Hupertz, 1902, 52-55; Rebholz, 1912, 1.
[47] Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999.
[48] Illustrirte Zeitung 113, 1899, 435.
[49] Spiekermann, 1999, 708-709.
[50] Walther Schubring, Entwicklung und heutige Form des Handels mit Obst und Gemüse, Agrarwiss. Diss. Berlin, Düsseldorf 1933, 5-9.
[51] Der Obstzüchter 5, 1907, 175. Vgl. auch Ueber Obstverkaufsautomaten, Gartenflora 56, 1907, 503.
[52] Gleichwohl sind insbesondere die Rationalisierungseffekte der schon in den 1880er Jahren einsetzenden Vertragslieferungen an die Konservenindustrie nicht zu unterschätzen. Vgl. G. Brandau, Gemüsedauerwaren von den Anbauversuchen des Sonderausschusses für Feldgemüsebau, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 28, 1913, 520-521.
[53] Der Materialist 35, 1914, Nr. 2, 12.
[54] Vgl. etwa Lindner, 1913, 121.
[55] Dies galt insbesondere auf die Produktionsprofile der regionalen Anbieter: „Der Anbau im Großen von reich und regelmäßig tragenden Obstsorten und dieser in Gebieten, wo manche Obstarten besonders gut gedeihen, spezialisiert, wie am Mittelrhein, in den Bodenseegebieten, Württemberg und den Ostseeprovinzen der Apfel, an der badischen und hessischen Bergstraße, Rheingau, Rheinpfalz, die badischen Schwarzwaldtäler, am Kaiserstuhl, einige Gebiete in Thüringen die Kirschen, Pfirsiche, feine Zwetschen, in der Rheinpfalz, im Maingebiet, die Birnen vorherrschend sind, wird es in den Jahren möglich sein, in dem Konkurrenzkampf erfolgreich vorzugehen. Dazu muß aber auch der deutsche Obstzüchter lernen, kaufmännischer zu handeln, das schmackhafte deutsche Obst sorgfältiger zu ernten, sortieren und zu verpacken. Frachtermäßigungen, schneller Bahntransport, gute Wasserstraßen, zweckmäßig eingerichtete Spezialwagen für Obst, werden bessere und schnellere Absatzmöglichkeiten schaffen“ (Georg Thiem, Der Handelsobstbau, Stuttgart 1913, 2).
[56] J. Joachim, Was fehlt zur Zeit unserm Obstbau am meisten?, Das Land 3, 1894/95, 323-324, hier 323.
[57] E[milé] Vandervelde, Der Sozialismus und die kapitalistische Umwandlung der Landwirtschaft, Die Neue Zeit 18,2, 1900,260-266, 292-301, hier 297.
[58] Gleichwohl erfolgte sie, vgl. etwa F. Kunert, Die moderne Glashauskultur der Tafeltrauben, Die Umschau 14, 1910, 64-67.
[59] Zur Diskussion etwa im Bereich des Gartenbaus vgl. [Ernst] Lesser u.a., Wodurch können wir den Obstbauern gesicherte, bessere Absatzverhältnisse schaffen?, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 17, 1902, 149-151; C. Beckenhaupt, Die Qualitätsfrage und die Landwirtschaft, ebd. 18, 1903, 215-218; Müller-Diemitz, Die Ansprüche des Handels und der Industrie an den obstbauenden Landwirt, ebd. 19, 1904, 54-55; Lorgus, Maßnahmen zur Regelung und Förderung des Absatzes von deutschem Obst und Gemüse, ebd. 28, 1913, 208-212.

Zwischen Arznei und Geheimmittel: Cannabispräparate im späten 19. Jahrhundert

Hanf war im 19. Jahrhundert eine in ganz Europa angebaute Nutzpflanze, die in der bäuerlichen Hauswirtschaft und der gewerblichen Wirtschaft allüberall verwandt wurde: Hanf lieferte Faserstoffe, wurde zu Geweben und Garnen, zu Seilen und Segelzeug, zu Hartfilz und Säcken verarbeitet. Die Samen dienten der Ölgewinnung, erhellten dann in Öllampen die Stube, dienten der Herstellung von Seifen, Ölfarben und Firnis. Im 18. Jahrhundert fanden sie den Weg in die Küche, waren auch Heilmittel. All dies geriet im langen 19. Jahrhundert in den Mahlstrom von Industrialisierung und Globalisierung. Hanf, genauer der heimische Cannabis Sativa, verschwand in deutschen Landen lange bevor er Teil einer sich erst entwickelnden Anti-Drogenpolitik wurde.

Der Niedergang des heimischen Hanfanbaus war jedoch von einer kurzen, von ca. 1840 bis ins frühe 20. Jahrhundert reichenden Präsenz des Indischen Hanfes begleitet. Sie war ein Elitenprojekt, getragen von Pharmazeuten, Chemikern und Medizinern. Ihr Interesse richtete sich einerseits auf die Wirkmechanismen des im Nahen Osten, in Indien und Nordafrika aus dem dortigen Hanf hergestellten Haschisch. Anderseits zielten die Experten auf neue Anwendungen im rasch wachsenden Gesundheitsmarkt. Präparate aus Cannabis Indica sollten nicht allein das inkriminierte Opium ersetzen, sondern auch neue Märkte erschließen. Während die sperrige, ca. zwei Meter hohe und arbeitsintensive heimische Faserpflanze durch billigere koloniale Substitute und neue Werkstoffe verdrängt wurde, stieg davon unberührt das Interesse an den Inhaltsstoffen des fremden Hanfes. Dies war Teil eines intensiven Ausgriffs auf die botanischen Reichtümer peripherer und zunehmend kolonial beherrschter Regionen. Naturwissenschaftliches Wissen konnte deren stoffliche Essenz handhabbar machen, versprach Markterfolge. Die Neugier der Forscher ging Hand in Hand mit dem Ertrag der Tüftler. Und mehr noch: Cannabis stand im Ruf, zu harten, anhaltenden Arbeiten zu befähigen, Schmerzen zu stillen und Wetterunbilden besser zu vertragen. [1] Mochte sein Konsum in Nordafrika, dem Nahen Osten und in Indien auch eher für eine vermeintliche Kultur der Faulheit stehen, so schien es doch möglich, die Essenz des Hanfes für die sich ausbreitende industrielle Arbeitsgesellschaft zu nutzen.

Der eigentliche Bruch hin zur medizinischen Nutzung des Indischen Hanfes erfolgte in den 1840er Jahren – lang zurückreichenden Kenntnissen über die Cannabiskultur der Anderen zum Trotz. Er gründete auf Erfahrungsberichten englischer und auch französischer (Kolonial-)Experten, die nun in der klinischen Praxis und dem sich neu etablierenden Laboratorium ausgetestet und überprüft wurden. Derweil traten volksmedizinische und humoralpathologische Anwendungen des heimischen Hanfes in den Hintergrund. Das Haschisch hatte den Charme des Rausches, also den einer offenkundigen Wirkung. Sie einzuhegen und dann gezielt zu nutzen war attraktiver als eine grundsätzlich ebenfalls denkbare Analyse der gering eingeschätzten Heilwirkungen der heimischen Hanfpflanze. Die Folge war ein kurzer Boom erster Cannabispräparate in einem kaum regulierten Marktumfeld. Aus Bayern hieß es 1852: „Der Extract. Cannabis indicae wird jetzt auch in England, Frankreich und in einigen deutschen Städten ächt bereitet und von den Aerzten beliebig in Pillen, Tropfen oder Latwergen verabreicht. Als Narcoticum, leicht berauschendes Mittel, mag es seinen Werth haben, möglich, daß es in größerer Gabe auch krampf- und schmerzstillend wirkt.“ [2]

Bei diesen frühen Cannabispräparaten handelte es sich meist um Apothekerzubereitungen. Die Rohware stammte aus sehr unterschiedlichen Quellen. Angesichts der individuell höchst unterschiedlichen Wirkungen des Haschisch und der fehlenden Kenntnis von Wirkstoffen und Wirkmechanismen gründeten die Präparate auf Erfahrungswissen, teils aus Reiseberichten, teils aus Selbsterfahrungen, zunehmend aber auch auf chemischen und pharmakologischen Tests. Eine rasch wachsende Zahl von Patientenberichten half bei der Dosierung und erlaubte die Eingrenzung möglicher Anwendungsfelder. In den frühen 1850er Jahren nahm der Apotheker Carl Stutzbach (1789-1871) in Hohenmölsen, dann aber vor allem die kurz zuvor in Darmstadt gegründete Firma E. Merck die Produktion von Cannabisextrakten auf. Sie setzten indirekte Standards, boten Referenzen, schufen ansatzweise Verlässlichkeit. Sie dienten dann, meist noch durch Apotheker, zur lokalen Produktion von Hanföl (für Einreibungen), Opodeldok (gegen Rheumatismen) und Hanfchloroform (zum Inhalieren). Auch Hanfbutter wurde hergestellt, Stutzbach mischte zudem „Deutsches Hanfkraut“ zum Rauchen. [3] Doch noch dominierten Apotheker mit individuellen Rezepturen den Markt. 1860 bedeutete dies beispielsweise „für den inneren Gebrauch das gepulverte Hanfkraut, in Pillen- oder Pulverform, pulverisierte Haschischstückchen aus dem Orient bezogen […], harziges Hanf-Extract in Pulver- und Pillenform […], Hanfharz-Tinctur […], Hanfharz-Emulsion.“ [4] Auch Churrus war grundsätzlich erhältlich.

Nach dieser Findungsphase begann die Eingliederung der Cannabispräparate in den staatlich regulierten Arzneimittelmarkt, Ausfluss des obrigkeitlichen Gesundheitsschutzes der frühen Neuzeit. Im preußischen Arzneibuch von 1861 fanden sie ihren Platz. [5] Auch das 1872 veröffentlichte erste reichseinheitliche Arzneibuch enthielt die dann gängigen Präparate, nämlich Extractum Cannabis Indicae – Indischer Hanfextrakt, Fructus Cannabis – Hanfsamen, Herba Cannabis Indicae – Indischer Hanf und Tinctura Canabis Indicae – Indischhanftinktur. [6] Sie wurden in Pillenform, vornehmlich aber in Alkohollösung verabreicht und dienten als Narkotikum und Schlafmittel, wurden gegen Asthma eingesetzt und waren entspannend. [7] Diese Hanfpräparate mussten in jeder Apotheke vorrätig sein. [8] Sie waren Ausgangspunkt für weitere Anwendungen, die anfangs in Apotheken, zunehmend aber auch von pharmazeutischen Firmen erstellt wurden. [9] Zugleich durften Apotheken Indischen Hanf weiterverarbeiten, doch dies diente fast nur der arzneilichen Verwendung, also der Arbeit auf ärztliches Rezept. [10] Er war verschlossen in einem Giftschrank unterzubringen, über die Bestände musste detailliert Rechenschaft gegeben werden. Die damalige Arzneiverordnungslehre setzte all dem einen gewissen Rahmen, der jedoch durch Forschung und dann auch neue Produkte erweitert werden konnte. [11] Die teils um das mehr als Zehnfache differierenden Dosierungsvorschläge unterstreichen jedoch eine beträchtliche Unsicherheit im Umgang mit Hanfpräparaten. Sie führten zu einer eher langsamen Marktentwicklung, waren sich die Anbieter doch möglicher Schädigungen durch Fehldosierungen durchaus bewusst. [12] Entsprechend fehlten Hanfextrakt und Hanftinkturen auch im internationalen Verzeichnis der heroischen Arzneimittel. [13]

Im Folgenden wird es in natürlich nur groben Zügen um die Entwicklung unterschiedlicher Marktsegmente gehen. Cannabispräparate waren Teil des Gesundheitsmarktes des langen 19. Jahrhunderts, fanden einen Platz als Heil- und Nährmittel. Am Beginn stehen, im deutschsprachigen Rahmen, pharmazeutische Produkte, also die eigentlichen Arzneimittel. Zweitens gilt es sich am Beispiel der „Asthmazigaretten“ (international) vermarkteten Markenartikeln zu widmen. Als Geheimmittel fanden sie rasch ihr Publikum, standen jedoch auch unter stetem Druck nachfragender staatlicher Kontrollinstanzen. Das galt vor allem für Mitteleuropa, wo Rauchwaren nicht nur im Deutschen Reich rechtlich als Nahrungs- und Genussmittel galten. Drittens zeigt die an anderer Stelle untersuchte Geschichte des Nährpräparates „Maltos Cannabis“ den Wandel eines als Hanfsamenextraktes entwickelten Heilmittels zu einem dann ebenfalls international vermarkteten Nahrungsergänzungsmittel. In allen drei Sektoren waren Cannabispräparate integrale Elemente eines sich im späten 19. Jahrhundert erweiternden und ausdifferenzierenden Gesundheitsmarktes. Während der einheimische Hanf seine Stellung als Alltagsrohstoff verlor, verlor der Indische Hanf seinen exotischen Charme und wurde zeitweilig Grundstoff der sich im späten 19. Jahrhundert etablierenden pharmazeutischen Industrie.

Cannabis in pharmazeutischen Produkten

Cannabis war ein unsicheres Kraut. Die Herkunft der Haschischpräparate war häufig unklar, Standardisierungen gab es nur indirekt. Zwischen 1840 und 1860, also vor dem raschen Aufschwung der Bakteriologie und Pharmazie, wurden sie zur Bekämpfung zahlreicher Krankheiten eingesetzt, doch nur in wenigen Fällen konnte man kausale Heilwirkungen konstatieren. Der Entwicklung pharmazeutischer Produkte waren somit enge Grenzen gesetzt. [14] Hinzu kam, dass Cannabis, wie zahlreiche andere neue Pflanzenstoffe aus kolonialem Umfeld, weder ein klares stoffliches Profil besaß, noch klare Anwendungsgebiete. Als die pharmazeutische Industrie an Bedeutung gewann, in den 1870er Jahren, hatte sich das Einsatzspektrum schon gelichtet, galt er doch als „ein Harnwerkzeug-, Lungen-, Geschlechts- und vorzügliches Augenmittel.“ Doch das Pröbeln zielte noch auf deutlich mehr Beschwerden und Krankheiten. Verwandt wurde Cannabis, „1. bei Ermüdung nach starken Fußreisen, 2. beim beschwerlichen Urinlassen (Strangurie), 3. bei Nieren- und Blasenentzündung und beim Blutharnen, 4. bei skrophulösen Hornhauttrübungen, 5. bei Lungenentzündung, die man sich durch rasches Gehen zugezogen hat, 6. im Wadenkrampf, 7. im Typhus, der nach Cholera entsteht.“ [15]

Am Anfang der Arzneimittelentwicklung stand die Firma E. Merck in Darmstadt. Seit den frühen 1850er Jahren führender Anbieter von Cannabispräparaten in Mitteleuropa, entwickelten deren Pharmazeuten in den 1880er Jahren neuartige Angebote: Den Anfang machte 1882 das Cannabium tannicum, 1884 folgte das Cannabinon, 1889 dann das Cannabin. Sie waren allesamt noch keine Arzneimittel modernen Typs, kombinierten also noch nicht chemisch und physiologisch klar definierte Wirkstoffe, eine standardisierte Zusammensetzung und eine (erst 1894 rechtlich abgesicherte) Markenidentität. Sie waren vielmehr Pharmazeutika auf der Suche nach Anwendungsfeldern. [16] Dies entsprach der damaligen chemischen Kenntnis des Indischen Hanfes: Unter Cannabinon verstand man einen braunen Weichharz, Cannabin war ein Glykosid, galt als Essenz des Haschisch. [17] Anders ausgedrückt: Die durch eine ausdifferenzierende Forschung isolierten Stoffgruppen wurden zu Pharmazeutika verdichtet und vermarktet. Einmal angeboten, veränderte man dann die Zusammensetzung der Präparate, näherte sich dergestalt möglichen Anwendungen. Merck verbesserte Cannabium tannicum beispielsweise 1886, „so dass das Medicament nunmehr als ein kräftiges und doch milde wirkendes Schlafmittel betrachtet werden kann.“ [18] Es wurde dann auch international vermarktet. [19] Emanuel August Merck (1855-1923) knüpfte damit an länger zurückreichende und von seinem Vater geförderte Forschungen des Fürther Mediziners Georg Fronmüller (1809-1889) an. Dessen umfangreiche klinische Studien in den 1850er und 1860er Jahren zeigten die Chancen, aber auch die Grenzen von Cannabis Indica als Schlafmittel recht präzise auf. [20] Angesichts möglicher Überdosierungen durfte das Mercksche Medikament seit 1890 jedenfalls nur noch in Apotheken verkauft werden. [21]

Typisch für die Merckschen Präparate war ihr Endproduktcharakter. Cannabium tannicum war eine Art Blackbox, „über dessen chemische Natur, ja sogar über dessen Bereitungsweise bisher ebenfalls nichts Näheres bekannt ist.“ [22] Es war kein standardisiertes Präparat, sein Aussehen variierte zwischen gelblich und bräunlichgrau. Der Geschmack war bitterlich, zusammenziehend, es roch schwach nach Hanf. Noch nach dem Ersten Weltkrieg mutmaßten Pharmazeuten über die genaue Herstellung, auch wenn grundsätzlich klar, wie Merck vorging: „Indischer Hanf wird durch Destillation mit Wasserdämpfen das ätherische Oel entzogen, derselbe alsdann mit Wasser ausgezogen und der Auszug mit Gerbsäure gefällt.“ [23] Cannabium tannicum diente jedenfalls als ein leichtes Schlafmittel, Merck empfahl es auch als Beruhigungsmittel sowie bei „Hysterie, Delirium tremens und nervöser Schlaflosigkeit.“ [24] Cannabinon wirkte demgegenüber deutlich stärker, Durchschnitts- und Maximaldosen waren entsprechend niedriger. [25] Es handelte sich nicht um Pulver, sondern einen bei Wärme „dickflüssigen, braunen, in dünnen Schichten klaren durchsichtigen Balsam von starkem aromatischen Geruch und scharf bitterem, etwas kratzigen Geschmack“ [26]. Cannabinon wurde aus den Spitzen von Cannabis indica hergestellt. Cannabin diente vor allem als Grundstoff sowie als Beruhigungsmittel. [27]

Die Merckschen Präparate sind ein Beispiel für die wachsende Angebotspalette früher Vorreiterunternehmen im Geschäft mit Indischem Hanf. Ähnliche Profile finden sich bei dem 1880 gegründete Londoner Pharmaziehersteller Bourroughs, Wellcome & Co. und den US-Firmen E.R. Squibb (Brooklyn, Gründung 1858), Parke, Davies & Co. (Detroit, 1866) und Eli Lilly & Co. (Indianapolis, 1876). Schweizer Firmen folgten mit gewissem zeitlichem Abstand. In diese Reihe gehörte auch das 1875 in St. Louis von Cullen Andrews Battle (1848-1909) gegründete Unternehmen Battle & Co., Hersteller starker Markenartikel, darunter auch das Opiumpräparat Papine. 1886 begann die Produktion des Schlafmittels Bromidia, das sich in den USA und in Großbritannien rasch erfolgreich etablieren konnte. Wohl seit Anfang der 1890er Jahre war es auch in Österreich und dem Deutschen Reich erhältlich und wurde dort – anders als die Merck-Präparate – breit beworben. [28]

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Werbung für das hanfextrakthaltige Schlafmittel Bromidia 1893 (Deutsche Medicinische Wochenschrift 19, 1893, Nr. 24, Beil.)

Das süße alkoholhaltige Mittel bestand vor allem aus Chloralhydrat und Kaliumbromid, doch enthielt es auch geringe Mengen Hanf- und Bilsenkrautextrakt. [29] Die schlafbringende Wirkung resultierte vornehmlich vom seit 1873 produzierten synthetischen Chloralhydrat, nicht aber vom Hanfextrakt. Es blieb jedoch strittig, ob die Inhaltsangaben der Firma präzise waren, da es Apothekern nicht gelang, das eingängig schmeckende Präparat im Nachklang darzustellen. Analysen ergaben 1894 und 1905, dass Bromidia keinen Hanfextrakt enthielt – die Mehrzahl aber bestätigte den marginalen Zusatz. [30] Die Rezepturen lokaler Apothekervereine, gedacht zum sicheren Ersatz des US-Medikaments, enthielten jedenfalls durchweg Hanfextrakt, wenngleich in meist geringeren Anteilen als in der Produktwerbung. [31] Bromidia geriet jedoch nicht wegen der schwankenden Zusammensetzung ins Visier der Regulierungsbehörden, sondern aufgrund der nicht unbeträchtlichen Suchtgefahr, dem sog. Chloralismus. [32] Das verschreibungspflichtige Bromidia konnte zwar weiter vertrieben werden, doch es wurde 1907 Geheimmitteln gleichgestellt, so dass es nicht mehr öffentlich beworben werden durfte. [33]

Zu dieser Zeit standen cannabishaltige Schlafmittel jedoch durch die ersten Barbiturate unter wachsendem Marktdruck. Seit 1903 boten Bayer und Merck Veronal an, dass ebenso wie Bromidia ab 1908 verschreibungspflichtig wurde. Die Grenze zwischen einem erquickenden Schlaf, beträchtlichen Nebenwirkungen, Sucht und Tod waren klein – und verwies auf beträchtliche Defizite der staatlichen Aufsicht über den Arzneimittelmarkt. Dies aber war nicht das Ende von Schlafmitteln mit Cannabisextrakten, denn Merck und Battle boten ihre Medikamente weiterhin an. Es gab weiterhin zahlreiche Apothekerrezepte für Schlafmittel, bei denen Hanfextrakt Opiate ersetzte. [34] Und auch neue Präparate wurden lanciert, so das unter anderem aus Cannabis Sativa zusammengesetzte Schlaf- und Beruhigungsmittel Plantival der Leipziger pharmazeutischen und homöopathischen Firma Dr. Willmar Schwabe. [35]

Derartige „Hypnotica“ blieben jedoch nicht das einzige Anwendungsfeld von Cannabispräparaten. Deutlich größere Breitenwirkung erzielten seit den 1880er Jahren vielfältige Angebote von Hühneraugenmitteln. Sie verdeutlichen einen entscheidenden Aspekt bei der pharmazeutischen Verwendung von Cannabis, einen, der schon bei Bromidia deutlich werden sollte: Hanfbestandteile wurden nur selten als Hauptwirkstoff, sondern fast durchweg als Puffer, als Zusatzstoff eingesetzt. In der Werbung wurde dies häufig nicht sachlich kommuniziert – und entsprechend großspurig erscheinen heute viele Aussagen interessierter Kreise über die vermeintliche Ubiquität medizinischer Hanfpräparate im späten 19. Jahrhundert. Bei den Hühneraugenmitteln war Cannabisextrakt gewiss Trittbrettfahrer anderer Entwicklungen, namentlich der Isolation und Synthese der Salicylsäure.

Diese erfolgte 1873. Im Folgejahr begann die Produktion der Salicylsäure-Fabrik Dr. F. v. Heyden in Dresden und dann Radebeul. Salicylsäure schien ein neues Wundermittel zu sein, wirkte es doch „in hervorragender Weise antiseptisch, fäulnishindernd, antizymotisch, gährungshemmend und antipyretisch, fieberwidrig.“ [36] Erste Einsatzfelder lagen daher in der Veterinärmedizin und der Konservierung von Nahrungsmitteln. [37] Humanmedizinische Anwendungen erfolgten nur langsam: Als Antiseptikum wurde es als Wundheilmittel und in der Chirurgie eingesetzt, ebenso bei Gicht und Gelenkrheumatismus. [38] Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis die Brücke von der Imprägnierung von Wundverbänden hin zur Dermatologie geschlagen wurde. [39] Salicylsäure wurde als solche genutzt, ihre ätzende Wirkung konnte gegen Hautverhärtungen, Schwielen, insbesondere aber gegen die weit verbreiteten Hühneraugen eingesetzt werden. Seit den späten 1880er Jahren entwickelten zahlreiche Apotheker Tinkturen, die fast durchweg ähnlich zusammengesetzt waren: 8- bis 10prozentige Salicyclsäurelösungen wurden mit 4 bis 5 % Hanfextrakt in Kollodium (eine zähflüssige Baumwollelösung) oder Zerat (eine wächserne Salbe) getränkt. Das Cannabispräparat diente dabei als Sedativum, als Antagonist zum an sich schmerzenden Wirkstoff Salicylsäure. Der Konsument bestrich mehrere Tage die verhärtete Stelle bzw. das Hühnerauge, nahm dann ein Fußbad und schabte schließlich die inkriminierte Stelle aus. [40] Dies musste mehrfach wiederholt werden, konnte jedoch den zuvor vielfach üblichen Messereinsatz vermeiden bzw. in Grenzen halten. Die neuen Hühneraugenmittel waren nicht konkurrenzlos, auch Milch- oder Essigsäure dienten der Harthautbekämpfung. Doch ab Ende der 1880er Jahre waren die neuen Kombinationspräparate mit Hanf üblich. [41] In Österreich konnte man 1890 zwischen den Hühneraugentinkturen von Sikroski (Kollodium und Cannabis), von Kranich, Würfling, Golienski, Barkowski, Bongartz oder Esser (Kollodium, Salicylsäure und Cannabis) wählen. [42] Der führende österreichische Veterinärmedizinhersteller Kwizda bot neben einer Hühneraugen- und Warzentinktur auch Hühneraugenpflaster an. [43] Neben die Tinkturen traten nun auch dauerhaft einwirkende Präparate, vornehmlich mit Salicylsäure und Cannabis getränkte Pflaster und Pflasterringe. Sie kamen vor allem in Deutschland auf, da ihr Handverkauf in Apotheken und Drogerien erlaubt war. Führend hierbei war der Hamburger Dermatologe Paul Gerson Unna (1850-1929), der für Beiersdorf neue imprägnierte Pflaster (Guttaplast, Leukoplast) und, zusammen mit dem Unternehmer Oskar Troplowitz (1863-1918) und dem Chemiker Isaac Lifschütz (1852-1938), 1911 auch die Handcreme Nivea kreierte. [44]

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Hanfextrakt im Radlauerschen Hühneraugenmittel 1900 (Dresdner Nachrichten 1900, Nr. 147 v. 30. Mai, 22)

Im Deutschen Reich waren Hühneraugentinkturen mit Cannabisextrakten bis 1896 allerdings vom Handverkauf ausgeschlossen. [45] Aufgrund einer klaren Kennzeichnung „Nur für den äußerlichen Gebrauch“ änderte sich dies 1896 – und die einschlägigen Angebote nahmen rasch zu. [46] Auch wenn einzelne Apotheken, etwa die Radlauerscher Kronen-Apotheke in Berlin, ihre Angebote reichsweit versandten, dominierten anfangs noch tendenziell lokale Angebote, bei denen die Kunden auf die Professionalität der kleinen Hersteller setzen mussten. Doch auch hier bereitete der Cannabisextrakt Probleme. Die 1869 gegründete Chemische Fabrik Helfenberg, ein führender Produzent auch von Pflaster, konstatierte kurz nach der Jahrhundertwende: „Das Cannabis-Extrakt, welches wir für Pflaster und Hühneraugenpräparate verwenden, gehört zu den Präparaten, die wir immer auf gut Glauben hin gekauft und nicht näher untersucht haben. Verschiedene Reklamationen über die mangelhafte Wirksamkeit der Präparate und Schwierigkeiten in der Fabrikation liessen jedoch eine genauere Analyse angezeigt erscheinen. Es ergab sich hierbei […], dass die Extrakte des Handels nicht nur sehr wechselnd zusammengesetzt waren, sondern auch zum grössten Teil grosse Mengen Kupfer und Zink enthielten, also meistens künstlich gefärbt waren.“ [47] Zudem gab es immer wieder Kritik an der mangelnden Balance der Hühneraugenmittel, deren Ätzwirkung oberflächlich bliebe und nicht in die Tiefe der Haut wirke. [48]

Derartige Probleme konnten nicht wirklich gelöst werden, doch versuchten abermals größere pharmazeutische Unternehmen Markenartikel zu schaffen, die für eine relativ verlässliche Zusammensetzung und auch Wirkung standen. Am Anfang standen wiederum US-Anbieter: Das 1892 von der Rydales Remedy Co. of Newport News, Va., entwickelte Geheimmittel Cornicide wurde in Kontinentaleuropa 1894 als Hühneraugenmittel aus Salicyl- und Essigsäure, Terpentinöl, Kollodium und Hanfextrakt vertrieben. [49] Das amerikanische Präparat hatte auch 1905 noch die gleiche Zusammensetzung, lässt sich auch noch Ende der 1920er Jahre nachweisen. [50] Größere Bedeutung gewann dagegen das 1894 vorgestellte Cornilin, produziert von der zwölf Jahre zuvor in Hamburg gegründeten Pflasterfirma Beiersdorf. [51] Es handelte sich um „ein Guttapercha-Pflastermull mit Salicylsäure und Indisch Hanfextrakt zur schmerzlosen Entfernung von Hühneraugen, Hornhaut und Warzen“ [52]. Ein nahezu gleichartiges Produkt wurde auch unter dem Namen Beiersdorfs Hühneraugenpflaster vermarktet. Diese Markenartikel konnten ihre lokalen Wettbewerber allerdings nicht vom Markt verdrängen. Die mit Cannabisextrakt getränkten Hühneraugentinkturen von Esser, Kranich, Sikorski, Würfling, Golienski, Barkowski und Bongartz gab es auch noch nach dem Ersten Weltkrieg. [53] Ähnlich lange behauptete sich in der Schweiz das vom Zürcher Apotheker Karrer vertriebene Hühneraugenmittel mit dem provokanten Namen Haschisch.

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Werbung für Karrers Haschisch Hühneraugentinktur 1894 und 1926 (Nebelspalter 20, 1894, H. 6, s.p.; ebd. 52, 1926; H. 10, s.p.)

Wenngleich die Vielzahl lokaler Angebote nicht abzuschätzen ist, handelte es sich bei dem Markt für Hühneraugenmittel vor dem Ersten Weltkrieg doch um ein relativ saturiertes und wenig umkämpftes Marktsegment mit relativ wenigen Innovationen, wie etwa Backford & Spooners mit Salpeter behandeltes Hanfpräparat. [54] Die Mehrzahl auch neuer Angebote blieb dem Salicylsäure-Hanfextrakt-Standard verpflichtet, etwa das ab 1914 verkaufte Hühneraugenmittel Cannabin sowie Clavomors, ein Hühneraugenpflaster des Berliner Unternehmens Dr. Laboschin. [55] Ausnahmen bildeten fortentwickelte Medizinalpflaster. Das Arsenik-Salicyl-Cannabis-Pflastermull nach Unna diente etwa der gezielten Eindämmung krebsverdächtiger Hautstellen. [56] Während der Weimarer Republik wurde der Markt dann zwar durch das Salicylpräparat Kukirol werblich auf neue Höhen geführt, strukturell aber blieb das Angebot unverändert. [57]

Hühneraugenmittel stehen für den Einsatz von Cannabispräparaten als pharmazeutische Hilfsmittel. Sie waren Beiwerk, erfüllten ihnen zugewiesene Funktionen. Das gilt auch für die gar nicht kleine Zahl weiterer Anwendungen, allesamt Nebenmedikamente. Folgt man dem Hanfaktivisten Hans-Georg Behr (1937-2010), so gab es 1890 etwa ein Schmerzmittel namens Migränin, hergestellt von der Münchner Hof-Apotheke, versehen mit 1 % Hanfextrakttinktur. [58] Dieses ist sachlich falsch. Migränin war ein 1894 von den Hoechster Farbwerken eingeführtes Schmerzmittel, das vornehmlich gegen Migräne und Kopfschmerzen genommen verordnet wurde. Es bestand vor allem aus Antipyrin, Koffein und etwa Zitronensäure. [59] Das neue, mit beträchtlichem Werbeaufwand lancierte Präparat diente dem Aushebeln des 1891 erfolgten Verbotes des lukrativen Handverkaufs des Antipyrins (heute Phenazon) durch die Verordnung über stark wirkende Arzneimittel. Derartige Verbraucherschutzmaßnahmen ließen sich durch Produktinnovationen umgehen. [60] Eine 1897 erfolgte weitere Fortentwicklung mit dem Markennamen Pyramidon wurde schließlich 1978 aufgrund kanzerogener Wirkungen verboten. Migränin enthielt keinen Hanfextrakt. Gegen Schmerzen wirkten dagegen Antigichtmittel, so etwa der wohl 1890 eingeführte Goldstein’s Gicht- und Rheumatismusbalsam. Dies war eine Mischung von Ammoniak, Alkohol, Chloroform, Kampfer, Terpentin, fetten Ölen und wahrscheinlich auch etwas Cannabisextrakt. [61] Trotz ihrer Suchtgefahr dominierten bei den Schmerzmitteln vornehmlich Opiate und Opioide, so etwa Morphium oder das 1875 synthetisierte, 1896 von Bayer dann vermarktete Heroin. Cannabispräparate dürften als leichter wirkende Substitute ärztlich gegen Schmerzen eingesetzt worden sein, doch zu Pharmazeutika sind sie nicht verdichtet worden.

Kaum anders war dies bei den frühen Psychopharmaka, ein relativ spät entwickeltes Marktsegment. Merck empfahl Cannabinon beispielsweise bei Hysterie und Psychosen. [62] Cannabispräparte wurden ebenso in Mitteln gegen den „Weißen Tod“, die Tuberkulose eingesetzt. Sheras war ein Kombinationspräparat von Hanf, Weiderinde, Blutwurz und einigen anderen Kräutern, mit Rum und Zucker schmackhaft abgerundet. [63] Auch Mercks Extractum fluidum Cannabis indicae aquos wurde gegen die Schwindsucht empfohlen. Es wurde aus Cannabis sativa gewonnen, besaß also keine psychoaktive Wirkung. Es diente ebenfalls bei Verdauungsstörungen, wirkte als Beruhigungsmittel. Der seit Mitte der 1890er Jahre angebotene Extrakt wurde daher auch bei Kinderkrankheiten verordnet. [64] Gegen hartnäckige Verdauungsstörungen bei Erwachsenen galt das auch für das vom französischen Mediziner Germaine Sée (1818-1896) entwickelte Haschschin, das zudem Angstgefühle bei gastritischen Neurosen bekämpfen sollte. [65] Es gab weitere Anwendungsgebiete der Cannabispräparate. Doch wie schon einige der zuvor erwähnten Medikamente unterstreichen sie eher eine Zerfaserung der Anwendung. Sie verweisen nicht auf das potenziell breite Wirkungsspektrum des Cannabis, sondern waren eher eine Fortführung der Suchbewegungen der Mitte des 19. Jahrhunderts. So wurden etwa Hustenbonbons mit Hanfextrakt angereichert und dann – nur auf ärztliche Anweisung – in Apotheken verkauft. [66] Ähnliches galt für ein hanfextrakthaltiges Mittel gegen starke Schuppen resp. Haarausfall. [67] Leberkolik? Auch dagegen gab es Arznei mit Hanf. [68] Wichtig auch dessen Präsenz im Geschlechterleben: Da gab es Mittel gegen Menstruationsbeschwerden, fünf Tage vor Eintritt jeden Abend ein Stück einführen. [69] Blenorol, ein Salo-Kawa-Cannabis Santal, war ein Antigonorrhoicum, also ein Mittel gegen die meist Tripper genannte weit verbreitete Geschlechtskrankheit. [70] Chromiac Tablets, ein Präparat der in Newark, New Jersey, ansässigen, 1888 gegründeten Maltbie Chemical Company, kombinierte dagegen Chrom und Zink, Brechnuss und Hanf zur Hebung der Manneskraft. [71] Auch dem Indischen Zahnextrakt mengte man etwas Hanfextrakt bei. [72] Der kleine Reigen mag enden mit einem letzten Klassiker, nämlich dem von dem britischen Kolonialarzt John Collis Browne (1819-1884) 1848 entwickelten und seit den späten 1850er Jahren international vermarkteten Chlorodyne. Anfangs eingesetzt gegen Cholera, wurde das aus einer Mischung von Alkohol, Morphium, Chloroform, Blausäure und Hanf bestehende Medikament gegen allerhand Schmerzen und Sinnestrübungen eingesetzt, vor allem aber getrunken. [73] Aufgrund der hohen Suchtgefahr und der möglichen Toxizität wurde die Zusammensetzung zunehmend verändert und die Arznei später auch ohne Hanfextrakt und mit einem deutlich reduzierten Morphiumgehalt vertrieben.

Hält man kurz inne, so findet man gegen Ende des langen 19. Jahrhunderts eine breite Palette von pharmazeutischen Cannabispräparaten. Schlaf- und Hühneraugenmittel waren die wichtigsten Anwendungsgebiete, auch wenn die Hanfmedikamentation häufig nur ergänzenden, abpuffernden und abrundenden Charakter hatte. Sie gerieten nach der Jahrhundertwende einerseits unter starken Wettbewerbsdruck durch neue Medikamente. Anderseits ermöglichte ihr Nischencharakter eine relativ leichte Substitution. Summa summarum unterstreichen die vielfältigen Angebote vor allem die Kernprobleme der damaligen Cannabispräparate, nämlich ihre vielfach variable Zusammensetzung, vor allem aber ihre ungeklärte chemische Struktur und bestenfalls erfahrungsmedizinisch abgesicherte Wirkmechanismen. Das galt grundsätzlich auch für ein weiteres wichtiges Marktsegment, das der Asthmazigaretten.

Asthmazigaretten – Geheimmittel mit Cannabiszusätzen

Asthma, eine chronische Entzündung der Atemwege, war im langen 19. Jahrhundert eine weit verbreitete Alltagskrankheit, die zu steten Hustenattacken und Atemnot führte. [74] Seit dem 18. Jahrhundert wurden die tradierten humoralpathologischen Verfahren durch abmildernde Therapien verdrängt, in deren Mittelpunkt die Wirkkraft von Bilsenkraut, Tollkirsche (Belladonna) und Stechapfel (Stramonium) stand. Diese Kräuter wurden einerseits geraucht, zuerst als Pfeife, dann mittels Zigarren, seit den 1860er Jahren auch in Zigarettenform. Anderseits entstanden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Inhalationsapparate. Die Heilmittel wurden in ihnen verraucht, der Patient atmete den Inhalt mittels eines Schlauches ein. Beide Maßregeln halfen bei akuten Asthmaanfällen, linderten Schmerzen, konnten aber die chronische Entzündung nicht bekämpfen. [75] Die Präparate wirkten, doch sie wirkten nur begrenzt – ein Zustand, der Marktchancen für immer wieder neue, immer wieder gleichartige Angebote bot, zumal die Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts zahlreiche Atemwegserkrankungen förderte, ja hervorrief. Entsprechend gab es für die Bekämpfung von Asthma eine schier unüberschaubare Zahl von innerlich und äußerlich verordneten Mitteln. Um 1900 bedeutete dies einerseits Tees, Essenzen und Tinkturen, anderseits Asthmapapiere, -pappen, -kerzen, -pulver, -kräuter und „die verschiedenartigsten Asthmazigaretten und viele andere. Die Auswahl ist groß – der Erfolg gering.“ [76]

Der bekannteste Anbieter von Asthmazigaretten im späten 19. Jahrhundert war Grimault & Co., „einer der fruchtbarsten Specialitäten-Fabrikanten in Paris“ [77]. Das Unternehmen bot seit den 1850er Jahren eine breite Palette pharmazeutischer Artikel an, meist Stärkungsmittel aus Pflanzenextrakten und Mineralstoffen. Als Sirup oder in Pillenform wurden sie dann international vermarktet, dienten als Allzweckmittel gegen eine Vielzahl von Alltagskrankheiten. [78] Obwohl die Firma seit den frühen 1870er Jahren mehrfach den Besitzer wechselte, blieb der Name bestehen. Grimault & Co. war eine eingeführte Namensmarke und galt als Synonym für „französische Specialitäten.“ Neben die anfangs zentralen Matikopräparate traten seit 1867 die „Indischen Cigaretten“, die zum bekanntesten Produkt des Unternehmens werden sollten. Sie kamen erst im Heimatmarkt und dann in Österreich als „Hachisch-Cigaretten“ [79] auf, wurden in führenden deutschen Tageszeitungen zumindest bis vor Beginn des Ersten Weltkrieges verkauft und überstanden auch die erste Welle der Verbote Indischen Hanfes in den 1920er und 1930er Jahren. Dank etablierter Vertriebsnetze verkaufte Grimault seine Medizinalzigaretten auch in Übersee: Bereits 1867 waren sie in Australien und im frankophonen New Orleans erhältlich, ab spätestens 1869 finden sich Anzeigen in Kanada, dann auch in Großbritannien. [80]

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Anzeige von Grimaults Indian Cigarettes in Großbritannien 1872 (Lancaster Gazette 1872, Nr. 4454 v. 7. September, 7)

Die zumeist gleichlautende Werbung versprach viel: „Es genügt, den Rauch der Cigaretten aus Cannabis indica einzuathmen, um die heftigsten Anfälle von Asthma, nervösem Husten, Heiserkeit, Stimmlosigkeit, Gesichtsschmerz und Schlaflosigkeit verschwinden zu machen und gegen die Kehlkopfschwindsucht zu wirken.“ [81] Eilfertige medizinische Gutachten bestätigten positive Ergebnisse bei Bronchitis, Keuchhusten und Asthma, bei Herzklopfen, Migräne und einigem mehr. [82] Grimault richtete sich nicht nur an Ärzte und Apotheker, sondern meist direkt an die Konsumenten. Asthmaleidende sollten demnach morgens und abends die Zigaretten rauchen, „denn durch den Gebrauch dieser Cigaretten hören die Schwierigkeit des Athmens, die Erstickungsanfälle und das pfeifende Athmen baldigst auf. Ein starker Auswurf wird dadurch ohne Anstrengung hervorgerufen, der trockene Husten vermindert sich, die Beklemmung verschwindet und ein wohltuender Schlaf beendet die für den Kranken und seine Umgebung so peinlichen Symptome.“ [83] Grimault verkaufte nicht einfach Zigaretten, sondern ein ansprechend gestaltetes Produkt. Die gelb gehaltenen und mit goldener Schrift versehenen Verpackungsetuis enthielten zumeist fünfzehn Zigaretten mit aufgedrucktem Firmensignet und Mundstück. Auf der mit einer Schnalle versehenen Verpackung prangte in einer Vignette der Firmen- und Produktname: „Cigarettes indiennes au Canabis indica. Contre l’asthme, les bronchitis et les Maladies du Poumon.“ [84]

Für Kritiker und Konkurrenten war all dies typisch französisch. Französische Spezialitäten seien „in der Regel von einem sehr geringen innern Werthe […] und zu übertriebenen Preisen verkauft [… worden]. Wenn sie dennoch in der ganzen Welt die größte Rolle spielen, so liegt es darin, dass sie gewöhnlich in äusserst eleganter und geschmackvoller Form adjustirt und in einer Weise zusammengesetzt sind, welche dem Consumenten durch irgend einen Zusatz einer wohlschmeckenden oder wohlriechenden Ingredienz angenehm werden, endlich darin, dass die Reclame für diesselben in einer wohlorganisirten, meist verschwenderischen Weise betrieben wird.“ [85] Grimaults Indische Cigaretten waren ein typisches Geheimmittel. Diese waren vor allem Folge der umfassenden Liberalisierungswelle, die in fast der gesamten westlichen Welt die strikte Privilegienwirtschaft der gebundenen Wirtschaftsordnungen Mitte des 19. Jahrhunderts durchbrach und auch im Arzneimittelmarkt ansatzweise Gewerbefreiheit etablierte. [86] Dadurch gerieten die zuvor vielfach zünftig geschützten Pharmazeuten und Ärzte unter Wettbewerbsdruck, doch ihre Kritik an ungerechtfertigten Anpreisungen und überteuerten Waren traf in vielen Fällen zu.

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Werbeanzeigen für Grimaults Indische Cigaretten in Österreich 1873 (Die Neue Zeit 1873, Nr. 91 v. 20. April, 6)

Grimault lobte in seiner Werbung das eigene Produkt: „Wonderful results have been obtained from the use of these cigarettes […].“ [87] Wissenschaftliche Autoritäten waren ein wichtiger Werbeträger: „Dieses neue Heilmittel wird von den meisten Aerzten Frankreichs und des Auslandes gegen Affectionen der Athmungswege empfohlen.“ Deren Aura von Expertise koppelte man mit breiten Wirkungsbehauptungen: „Es genügt, den Rauch der Cigaretten aus Cannabis Indica einzuathmen, um die heftigsten Anfälle von Asthma, nervösem Husten, Heiserkeit, Stimmlosigkeit, Gesichtsschmerz und Schlaflosigkeit verschwinden zu machen und gegen die Kehlkopfschwindsucht zu wirken.“ [88] Typisch für derartige Referenzen war ihre Vagheit: „Recent experiments in France, England, and Germany have proved that these cigarettes are a souvereign remedy for the above distressing affections especially when Bella dona, stramonium, and opium have failed to give relief.“ [89] Zugleich aber nutzte sie offenkundig unstimmige Kollektivsingulare, so, wenn in Österreich behauptet wurde, die Asthmazigaretten seien „von den Pariser Aerzten gegen Athembeschwerden, Krampfhusten, Heiserkeit, Beklemmungen, Stimmlosigkeit und Gesichtsnervenschmerzen als unfehlbar erklärt,“ und „bis jetzt von keinem andern Heilmittel erreicht worden.“ [90]

Schließlich bedienten sich Geheimmittelanbieter wie Grimault der Breite der keineswegs einheitlichen „Wissenschaft“. Lohnschreiber besaßen häufig akademische Titel, die dann als Beleg für vermeintlich objektive Bewertungen vermarktet wurden. Sie waren einerseits mäßig im Ton, wurden jedoch an prominenter Stelle veröffentlicht. Beispiele sind frühe österreichische Gutachten, in denen es etwa hieß: „überhaupt können Grimaults Cigaretten immer Anwendung finden, wo es sich um sofortige Beruhigung der Nerven und einer Anregung der Capillaren zum erhöhten Stoffwechsel handelt, wenn Schmerz und Krampf vorherrschen.“ [91] Anderseits finden sich derartig werbende Worte auch in der „Fachliteratur“ dieser Zeit, in denen Grimaults Indische Zigaretten teils als letzter Rettungsanker für die gepeinigten und um Atem ringenden Asthmatiker erschienen: „Grimault’s cigarettes, which contain Indian hemp, […] will, in many cases of troublesome asthma, relieve when others have failed.“ [92] Insgesamt tönte die Produktwerbung weltweit ähnlich, doch je nach Markt gab es Nuancen und Abstufungen. Auffallend ist vornehmlich die wesentlich zurückhaltendere Werbung in Frankreich. Die Anzeigen waren dort durchweg kleiner als in Auslandsmärkten und stärker sachlich gehalten.

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Zurückhaltende Werbung für Grimaults „Cigarettes Indiennes“ in Frankreich (La Lanterne 1900, Ausg. v. 23. Januar, 4)

Wirkungsversprechen wurden im Grimaultschen Heimatmarkt kaum gegeben, auch wenn die vermeintlich exzellenten Resultate des Zigarettenkonsums hervorgehoben wurden. [93] Doch auch dort war der Cannabisgehalt rasch der wichtigste Werbehinweis. Für die Firma war das wichtig, da man in England und Deutschland seinerzeit Zigaretten mit Belladonna, Stramonium und anderen Inhaltsstoffe eher ablehnte. [94] Grimault nutzte die Aura und Exotik des Indischen Hanfes; doch über den genauen Inhalt der Zigaretten schwieg sich der Geheimmittelanbieter aus. Aufmerksame Marktbeobachter hätten dagegen wissen können, dass es sich nicht um Zigaretten aus Indischem Hanf handelte. 1870 hatte Grimault in vereinzelten Anzeigen sie noch korrekt als „mit dem Harze von Bengalischem Hanf und Nitrium imprägnierten Belladonnablättern“ [95] hergestellte Produkte beworben. In Frankreich warb man Anfang der 1870er Jahre auch für Waren „avec Cannabis Indien“. Doch diese kurze Phase der Ehrlichkeit endete rasch, pries man sie dananch meist als Zigaretten „au“ Hanfextrakt. [96]

Untersuchungen in Österreich ergaben 1880 jedenfalls ein deutlich anderes Stoffprofil. [97] Demnach bestand das zu rauchende Kraut fast gänzlich aus Belladonna, also Tollkirschenblättern – und kaum Cannabis. Französische Forscher ermittelten für Grimault günstigere Zusammensetzungen, nach denen die Zigaretten aus Belladonna, Bilsenkraut und Strammonium mit einem Sechstel Hanf bestanden. [98] Außerdem fanden sie Spuren von Opium, was allerdings weder in Österreich, noch im Deutschen Reich bestätigt werden konnte. Dort hieß es seither: „Die Cigarettes indiennes de Grimault sollen angeblich nur aus Herba Cannabis indicae angefertigt sein, tatsächlich enthalten sie davon aber sehr wenig, dagegen Belladonna, Nicotiana etc.“ [99]

Die Ein- und Durchfuhr der Zigaretten nach Österreich wurde daraufhin 1882 in Österreich verboten. [100] Nach Russland, wo im Rahmen einer recht strikten Anti-Geheimmittelpolitik der Import Indischer Cigaretten, aber auch anderer Grimaultsche Präparate, seit 1878 untersagt worden war, brach ein weiterer wichtiger Absatzmarkt weg. [101] Weitere Untersuchungen in Deutschland bestätigten, dass die Zigaretten „grösstentheils aus Blättern von Atropa Belladonna“ [102] bestanden, die Werbung also irreführend war. 1885 wurden die Präparate in Hamburg verboten. Dies war möglich, denn bis 1888 war die Hansestadt zollpolitisch eigenständig. Auch in Baden gab es einschlägige Untersuchungen. In Karlsruhe wurden Indische Zigaretten gekauft und untersucht. Die Nachforschungen ergaben, „daß dieselben fast ausschließlich aus den werthlosen, zu Folge der Eintrocknung unwirksamen Blättern der Tollkirsche (atropa Belladonna) und nur zum kleinsten Theile aus indischem Hanf bestehen.“ Die Quintessenz war klar: „In der Anpreisung der Cigaretten liegt daher eine Täuschung und Uebervortheilung des Publikums, auf welche wir umsomehr aufmerksam machen müssen, als der Gebrauch des Mittels in vielen Fällen von Störungen der Athmungsorgane schweren Schaden bringen kann.“ [103] Ein Verbot wurde nicht ausgesprochen, lediglich eine Warnung. Zuvor hatte die Firma Grimault noch auf die strukturellen Probleme verwiesen, wirksamen Hanfextrakt zu erhalten und vergewissert, dass sie „bei ihren in allen Weltgegenden unterhaltenden geschäftlichen Beziehungen diese Schwierigkeit überwunden habe.“ Sie gab Indischen Hanf als Material der Zigaretten an, konzidierte einzig, dass man zwecks besseren Brennens etwas salpetersaures Kali beigefügt habe. [104]

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Werbung für Grimaults Indische Zigaretten in München 1902 (Allgemeine Zeitung 1902, Nr. 46 v. 16. Februar, 10)

Die Firma Grimault & Co. bewarb auch danach ihre Produkte als Indische Cigaretten aus dem Extrakt Indischen Hanfs. Dieser kostete in Mitteleuropa fast doppelt so viel wie Belladonnaextrakt. [105] Der Differenzgewinn dürfte nicht unerheblich gewesen sein. Auch in Frankreich wurden die österreichischen Untersuchungen öffentlich thematisiert. Doch hier, wie auch in den meisten anderen Lieferstaaten, wurde das Geheimmittel nicht verboten. [106] In der Werbung hieß es weiterhin, dass die Zigaretten eine sichere Wirkung besäßen. [107] Im Deutschen Reich gab es trotz umfassender Bemühungen des Staates kein Verbot. Pharmazeuten betonten in ihren Publikationen die offenkundige Irreführung des Publikums, während Apotheker vor Ort das Präparat auf Rezept verkauften. Ärzte verordneten das Präparat, da es grundsätzlich wirkte: „Wenige Athemzüge lassen sehr oft erhebliches Asthma verschwinden, indess sind die Gefahren des Haschischrauchens bekanntlich so gross, dass man die Cannabis in Cigarettenform nur ausnahmsweise gestatten kann. Der willkürliche Verkauf dieser Cigaretten ist streng zu untersagen.“ [108] Grimaults Indische Cigaretten blieben verfügbar. Nicht als vermeintlicher Joint auf Rezept, sondern als überteuertes Geheimmittel mit gewisser Wirkung.

Grimaults Indische Cigaretten waren nur eines von vielen aus Frankreich stammenden Angeboten im internationalen Markt der Asthmazigaretten. Sie beruhten meist auf anderen Kräutermischungen, so etwa die sehr erfolgreichen Cigarettes Espic. [109] Diese enthielten Spuren von Opium, vor allem aber Stramonium, Bilsenkraut und Wasserfenchel. [110] Diese Kräuter wurden, wie auch bei Grimaults Indischen Zigaretten, sehr fein geschnitten und dann durch Umwickeln mit Zigarettenpapier in Form gebracht. Für diffizilere Präparate, zumal bei arsenhaltigen Zigaretten, stellte man dagegen aus den Inhaltsstoffen einen Aufguss her, dem man dann zum besseren Brennen Salpeter zufügte. Mit der Flüssigkeit tränkte man anschließend Papier und formte diese zur Rauchware. [111] Die französischen Asthmazigaretten prägten den Nischenmarkt in Europa. Neben Grimault standen Namensmarken wie Clery, Espic, Exibard, Trousseua, Guilt, Zematone und Boudin, die jedoch ohne Hanfzusätze produziert worden waren. Während des Ersten Weltkrieges brachen diese Importe weg und wurden bei den Mittelmächten durch eigene Angebote bzw. solcher aus neutralen Staaten ersetzt. Produzenten waren unter anderem Neumeier, Riemann, Klein, Schiffmann, Kraepelien & Holm, Fischer und Reichenhaller. [112]

All dies verweist auf eine beträchtliche Konkurrenz im deutschen Pharmaziemarkt. Dabei half der stetige Ausgriff auf „exotische“ Pflanzen, die als Heilmittel in die Verwertungsketten des Gesundheitsmarktes integriert wurden. E. Merck bot beispielsweise Blätter und Wurzel des argentinischen Brachycladus Stuckerti an. Mit Cumarin aromatisiert und etwas Salpeter hatten sie zwar eine geringere Wirkung als etwa Cannabiszigaretten, doch konnten sie ohne das ansonsten übliche Kratzen im Hals geraucht werden. [113] Doch deutsche Hersteller boten nicht nur Marktalternativen, sondern auch Asthmazigaretten mit Cannabis Indica an. Die Präparate der Chemischen Fabrik Falkenberg in Grünau, die von der französischen Konkurrenz lernten, bestanden aus einer Mischung aus Tollkirsche, Hanf und Schlafmohn. [114] Daneben wurde Inhalationspräparate angeboten. [115]

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Anzeige für Bronchiol-Zigaretten gegen Asthma 1901 (Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 39 v. 24. Januar, 13)

Andere Markenartikel folgten, etwa die von 1900 bis 1902 in führenden deutschen Tageszeitungen beworbenen Bronchiol-Cigaretten der eigens zu deren Produktion gegründeten Berliner Bronchiol-Gesellschaft. [116] Hierbei handelte es sich um ein Geheimmittel aus Hanf und Kräutern der südamerikanischen Flora. [117] Das Rezept sollte von dem in Berlin lebenden US-Zahnarzt Dr. Abbot stammen, ein Dr. Krüger belobigte das zeitgleich auch in Österreich, aber auch in den westlichen Hauptmärkten angebotene Produkt. [118]

Die Bronchiol-Gesellschaft war ein Spezialanbieter von relativ kurzem Bestand. Andere Anbieter von cannabishaltigen Asthmazigaretten blickten dagegen auf eine lange Tradition zurück. Bei der Familie von Trnkócy handelte es sich um eine wohletablierte Apothekerdynastie mit fünf leistungsstarken Apotheken in Wien, Graz und Laibach. [119] Ähnlich wie Grimault & Co. boten sie schon Mitte des 19. Jahrhunderts medizinische Zubereitungen überregional an und gewannen insbesondere mit ihren Medizinallikören einen großen Kundenstamm. Schon vor dem Verbot der Indischen Cigaretten offerierten sie einheimische Alternativen zu Importware aus Frankreich. Der Laibacher Apotheker Julius v. Trnkóczy verwies in seinen Anzeigen nicht nur auf die offizielle Bewilligung der Krainer Landesregierung, sondern präsentierte darin offensiv eine Hanfpflanze.

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Werbung für Dr. von Trnkóczys Cannabis-Zigaretten 1898 (Fremden-Zeitung 12, 1898, Nr. 10 v. 17. Dezember, 12)

Selbstbewusst – und gewiss auch in Abgrenzung zu Grimaults Zigaretten – verwies er 1881 auf das „direct echt bezogene[…] indische[…] Hanfkraut“. [120] Derartige Angebote bedeuteten aber keinen Handverkauf in der gesamten K. & K.-Monarchie. 1883, bei der ersten pharmazeutischen Ausstellung in Wien, verwies der Berichterstatter mit Schmäh auf „die hier unseres Wissens verbotenen Cannabis-Zigaretten.“ [121] Sicher ist, dass Cannabis-Zigar(ett)en in Cisleithanien, aber auch in Ungarn und Kroatien nur auf individuellen, von einem Arzt begründeten Antrag des Konsumenten hin bezogen werden konnten. [122] Gleichwohl finden sich Trnkóczys Asthmazigaretten in gängigen Großhandelsangeboten, wurden also auch auf Vorrat bezogen. [123]

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg annoncierte die Laibacher Apotheke zudem „Tubuli fumales“ mit Hanfextrakt – wobei es nicht sicher ist, ob es sich bei der seinerzeit auch von anderen Apotheker gewählten medizinischen Bezeichnung um eine Umgehung bestehender Werbeeinschränkungen für Geheimmittel oder aber um ein neues Cannabispräparat gehandelt hat.

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Marktpräsenz unter anderem Namen – Werbung für Trnkóczys Tubuli fumales 1910 (Illustrierte Kronen-Zeitung 1910, Nr. 3600 v. 8. Januar, 13)

Derartige Angebote von Spezialanbietern verweisen abermals auf die hohe Bedeutung der Apotheker und ihrer lokalen Zubereitungen auf Rezept. Schon früh kombinierten Apotheker für „Indische Zigaretten“ Tollkirsche, Stechapfel, Hanf und teils auch Opium. [124] Diese wurden aber auch auf Vorrat produziert und dann unter rasch wechselnden Namen als Geheimmittel verkauft. [125] Viele Apotheker wussten um die Resultate von Reihenuntersuchungen etwa an norwegischen Kindern, nach denen Kombinationspräparate meist bessere Effekte erzielten als reine Hanf- oder Tollkirschezubereitungen. [126] Entsprechend gab es ein in seinem Umfang nicht abzuschätzendes lokales Pröbeln. Tollkirsche und Hanf waren meist gesetzt, seit den 1890er Jahren gewannen auch Stechapfelzuwendungen an Bedeutung. [127] Die schon erwähnten Neumeierschen Präparate kombinierten Stechapfel, Männertreu, Brachycladus stuckerti, Grindelien und Hanfextrakt. [128]

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Apothekerwaren gegen Asthma 1895 (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 35, 1895, 712)

Pharmazeutische Anbieter und auch Versandapotheken vertrieben Rohwaren und auch fertige Asthmamittel an Apotheken. Cannabis stand dabei – auch aufgrund des Preises – nicht im Vordergrund, doch er war ein allgemein akzeptierter Wirkstoff. Gleichwohl unterstrich die seit den 1890er Jahren rasch zunehmende Zahl von Angeboten indirekt auch den Mangel an effizient wirkenden Asthmamitteln. Asthmazigaretten mit und ohne Hanf blieben bis in 1920er Jahre Standardangebote, medizinische Ratschläge in Tageszeitungen unterstrichen dies eindringlich: „Nehmen Sie beim asthmatischen Anfall einige Schluck Sodawasser; man bekommt in der Apotheke auch Asthmazigaretten aus Haschisch und Stramonium, welche sehr gut tun und von denen Sie täglich 1-2 rauchen können.“ [129] Sie wurden schließlich seit den 1920er Jahren zunehmend durch synthetische Arzneimittel auf Ephedrin- oder Theophyllinbasis verdrängt.

Damit könnte man diesen Abschnitt über cannabishaltige Rauchwaren eigentlich beenden. Notwendig erscheinen mir jedoch noch einige Hinweise auf „normale“ Tabakwaren, wurden (und werden) in der Hanfaktivistenliteratur doch auch gängige Zigarettenmarken erwähnt, die Beimischungen von Indischem Hanf enthalten hätten und im Handverkauf vertrieben worden seien. Genannt wurde etwa die „No. 2“ von Simon Arzt mit einem Anteil von 7 % ägyptischem Hanf. [130] Im Mittelpunkt derartiger Behauptungen steht jedoch die österreichische Tabakregie mit der 1869 eingeführten „Khedive“ (mit 5 % Hanfanteil), der seit 1873 produzierten „Nil“ (8 % ungarischer Hanf) und schließlich der „Egyptische II. Sorte“ von 1878, mit der man der „No. 2“ gezielt Konkurrenz machen wollte. Belege hierfür fehlen, ja, die Angaben sind tendenziell irreführend.

„Nil“ wurde seitens der Österreichischen Tabakregie produziert, doch erst seit dem 1. Dezember 1901. [131] Die neue Zigarette kostete sechs Heller pro Stück, konnte aber auch vorverpackt in einer Papierschachtel (20 Stück, 1 Krone und 20 Haller) oder einer Blechkassette (100 Stück für 6 Kronen) erworben werden. Nil wies einen mittleren Nikotingehalt von 0,02 Gramm pro Stück auf, doch die einschlägigen Untersuchungen berichteten nichts über Cannabiszusätze. [132] Diese aber hätten beantragt und genehmigt werden müssen – und Nachweise hierfür konnte ich nicht finden. Gleichwohl geistern entsprechende Angaben nach wie vor auch in vermeintlich wissenschaftlicher Literatur umher. [133] Bei den anderen Markenartikeln fehlen mir die Quellen für eine Falsifikation. Simon Arzt (1814-1910) produzierte in Port Said eine große Zahl von Angeboten, doch die genaue Zusammensetzung der frühen Sorten dürfte kaum zu ermitteln sein. „Egyptische II. Sorte“ wurde seitens der Österreichischen Tabakregie 1926 wieder eingeführt. [134] Sie bestand damals aus mazedonischen Rohtabaken. In den Preisverzeichnissen des Jahres 1911 ist sie nicht enthalten [135], wohl aber in Auflistungen des Jahre 1897. [136] Auch „Khedive“ wurde 1911 angeboten, doch frühere Angaben, gar mit Hinweisen auf die Zusammensetzung, konnte ich nicht finden; die österreichische Tabakregie, also das staatliche Monopol beim Tabakverkauf, diente ja auch der Reduktion von Werbekosten. [137] Da die österreichische Regierung cannabishaltige Zigaretten hätte genehmigen müssen, entsprechende Hinweise in der pharmazeutischen Literatur und auch den Tageszeitungen fehlen, scheint es mir jedoch unbegründet zu sein, unbelegten Angaben zu folgen, deren wesentlicher Zweck die Suggestion einer scheinbaren Ubiquität von Indischem Hanf im Europa des 19. Jahrhunderts war und ist.

Tabakwaren fielen unter das deutsche Nahrungsmittelgesetz von 1879, dem Vorbild für viele europäische Regelungen. Im Deutschen Reich und anderswo fehlten zu diesem Zeitpunkt explizite Nähr- und Kräftigungsmitteln aus Hanf. Hanfsamensuppen für Schwangere wurden gereicht, waren jedoch Teil diätetischer Praxis. Hanfextrakte wurden zur Geschmacksverbesserung vielfach mit Sirup oder aber Milchzucker gemischt, doch handelte es sich dann nicht um Nahrungsmittel, da der medizinische Zweck der Verabreichung im Mittelpunkt stand. [138] Auch der zu dieser Zeit rasch wegbrechende Hanfanbau lieferte abseits des Nordostens Europas (und bedingt Italiens) keine Nahrungsmittel mehr. Dies hing mit den Preisen und der schwankenden Qualität der Rohware zusammen. Gleichwohl gab es entsprechende Präparate. Am bekanntesten dürfte das aus Schweden stammende Hanfsamenpräparat Maltos Cannabis gewesen sein, über das Sie in einem gesonderten Artikel mehr erfahren können. Es bildete keine Ausnahme von der zuvor entwickelten Geschichte der Cannabispräparate, so dass ein vorläufiges Fazit gezogen werden kann.

Vom Verschwinden der Cannabispräparate im späten 19. Jahrhundert bis zur Euphorie der Gegenwart

Die Geschichte der Cannabispräparate im späten 19. Jahrhundert ist eine Geschichte eines erst relativen und dann – im frühen 20. Jahrhundert – absoluten Bedeutungsverlustes. Nachdem die erste Phase der Erkundung des Indischen Hanfes zwischen 1840 und 1860 zwar vielfältige Anwendungsfelder ergeben, doch nur eine begrenzte Zahl von Extrakten und Präparaten hervorgebracht hatte, nahm deren Zahl am Ende des Jahrhunderts deutlich zu und erreichte in den 1880er und 1890er Jahre ihren Höhepunkt. Doch schon in den 1890er Jahre kehrte sich diese Entwicklung um: Cannabispräparate wurden zunehmend ersetzt, weil sie strukturelle Defizite bei Wirkung und Dosierung hatten und die pharmazeutische Industrie leistungsfähigere und marktgängigere Alternativen offerierte. Sie verschwanden, waren kein „Opfer“ staatlicher Repressionen. Das Verbot des Indischen Hanfes 1929 war gewiss ein Einschnitt, doch auch danach konnten Cannabispräparate auf ärztliche Verschreibung genutzt werden. Sie blieben allerdings seltene Nischenprodukte, konnten nur in sehr wenigen Fällen im Sinne von Patienten sinnvoll eingesetzt werden. Cannabispräparate wurden um die Jahrhundertwende noch vielfältig verwandt, doch in den meisten Fällen übertrafen die werblichen Versprechungen den gesundheitlichen Nutzen.

Heutzutage ist die Situation anders und vertraut zugleich. Anders, weil die staatliche Regulierung de jure strikt ist, auch wenn das geltende Recht von der Exekutive vielfach nicht mehr recht umgesetzt wird. Anders aber vor allem, weil die wesentlich präziseren chemischen und pharmakologischen Kenntnisse über Hanf und Cannabispräparate gesundheitlich sinnvolle Anwendungen denkbar machen und teils auch nahelegen. Ein Blick in den heutigen Markt nicht psychoaktiver Cannabispräparate erinnert aber zugleich an das breite Feld cannabishaltiger Geheimmittel und ihrer Anpreisung im späten 19. Jahrhundert. Die Vielzahl unwissenschaftlicher, irreführender und suggestiver Beiträge zahlreicher Hanfaktivisten bezeugt vor allem die anhaltende Goldgräberstimmung im Markt, kaum jedoch seriöse Arbeit im Gesundheitsmarkt. Vielleicht kann die in diesem Artikel ausgebreitete Palette von fast durchweg über Gebühr angepriesenen Cannabispräparaten dafür sensibilisieren, dass Marktkräfte eine eigene, von den Wirksubstanzen recht unabhängige ökonomische Dynamik freisetzen. In einer Konsumgesellschaft suggerieren Begriffe wie „Gesundheit“ und „Wohlbefinden“ Hilfsversprechen, doch stehen sie primär für ein lohnendes Geschäft.

Uwe Spiekermann, 29. Oktober 2019

Quellen- und Literaturnachweise

[1] R[udolf] Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 121.
[2] Bayerisches Volksblatt 4, 1852, 900.
[3] Georg Martius, Pharmakologisch-medicinische Studien über den Hanf, Leipzig 1856, 39, 58-63.
[4] [Georg] Fronmüller, Der indische Hanf, besonders in Beziehung auf seine schlafmachende Eigenschaft, Vierteljahrsschrift für die praktische Heilkunde 16, 1860, 102-131, hier 110.
[5] O[tto] C[arl] Berg und C[arl] F[riedrich] Schmidt, Darstellung und Beschreibung sämmtlicher in der Pharmacopoea Borussica aufgeführten offizinellen Gewächse, H. 17-24, Leipzig 1861, Tafel XIXb.
[6] Pharmacopoea Germanica, Berlin 1872, 111, 160, 175, 342.
[7] Hermann Hager, Handbuch der pharmaceutischen Praxis, Bd. 1, Berlin 1876, 703.
[8] Verzeichniß derjenigen Arzneistoffe und Präparate, welche in jeder selbstständigen Apotheke vorhanden sein müssen, Königlich Bayerisches Kreis-Amtsblatt von Oberbayern 1872, Nr. 95 v. 5. November, Sp. 2106-2122, hier Sp. 2114.
[9] Die Angebote des Marktführers finden sich in Merck’s Index, 3. Aufl., Darmstadt 1910, 105, 118-119, 254.
[10] Arnold Baumann, Der Gift- und Farbwaaren-Handel, Berlin 1901, 58.
[11] Handbuch der allgemeinen und speciellen Arzneiverordnungslehre, bearb. v. L[ouis] Waldenburg und Carl Eduard Simon, 9. umgearb. u. verm. Aufl. Berlin 1877, 299, 481, 684.
[12] Vgl. etwa Zur Wirkung von Extractum Cannabis, Pharmaceutische Post 19, 1886, 372. Zu den möglichen Nebenwirkungen s. Otto Seifert, Die Nebenwirkungen der modernen Arzneimittel, Leipzig 1915, 49-50.
[13] August von Vogl, Die internationale Conferenz zur Vereinheitlichung der Formen der sogenannten heroischen Arzneimittel, Pharmaceutische Post 35, 1902, 761.
[14] Bernhard Fischer, Die Neueren Arzneimittel, 5. stark verm. Aufl., Berlin 1893, 291.
[15] Gesundheits-Lehre. Siebenter Brief, Gemeinde-Zeitung 1874, Nr. 98 v. 22. Dezember, Beilage, 2 (auch für das vorherige Zitat).
[16] Entsprechend wurde Cannabium tannicum gleich nach Erscheinen dermatologisch getestet, vgl. Zentralblatt für innere Medizin 4, 1883, 653.
[17] Fischer, 1893, 291.
[18] Pharmaceutische Post 19, 1886, 58.
[19] Congrès des médecins allemands, L’Union Medicale Ser. III 40, 1885, 135-139, hier 139; E[manuel August] Merck, Einige kurze Mittheilungen über Bismuth. peptonat., Cannabin. tannicum, Cannabinon und Pelletierin-Präparate, Pharmaceutische Post 18, 1885, 336-337.
[20] Fronmüller, 1860; [Georg] Fronmüller, Klinische Studien über die schlafmachende Wirkung der narkotischen Arzneimittel, Erlangen 1869, insb. 45-69, 90. Fronmüllers Rezept für hanfextrakthaltige Pillen wurde von Apotheken noch lange weitergenutzt, vgl. Formeln älterer und neuerer Mittel gegen Schlaflosigkeit, Wiener Medizinische Wochenschrift 39, 1889, Sp. 1458.
[21] Dies gemäß der Verordnung, betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln v. 27. Januar 1890 (Pharmaceutische Post 23, 1890, 150).
[22] Ernst Schmidt, Ausführliches Lehrbuch der pharmaceutischen Chemie, Bd. 2, 3. verm. Aufl., Braunschweig 1896, 1477.
[23] G[eorg] Arends, Neue Arzneimittel und Pharmazeutische Spezialitäten, Berlin 1903, 90; B[ernhard] Fischer und C[arl] Hartwich (Hg.), Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis, Bd. 1, Berlin 1919, 592.
[24] Merck’s Index, 1910, 70.
[25] Arends, 1903, 89-90; Alfred Fuchs, Einiges über Schlaflosigkeit und ihre Behandlung. (Schluß), Wiener klinische Wochenschrift 21, 1907, 734-736, hier 735.
[26] Merck, 1885, 377.
[27] R. Gerstenberger, Ad extract. cannabis Indic., Pharmaceutische Post 18, 1885, 189-190, hier 190.
[28] Drogisten-Zeitung 2, 1887, 153; Pharmaceutische Post 25, 1892, 1379.
[29] Drogisten-Zeitung 3, 1888, 466. Die genaue Zusammensetzung blieb strittig, vgl. Bromidia, Pharmaceutische Post 28, 1895, 558.
[30] Arends, 1903, 77-79; Bromidia, Pharmazeutische Post 38, 1905, 760; Fischer und Hartwich (Hg.), 1919, 592.
[31] Pharmaceutische Post 33, 1900, 20; Arends, 1903, 79.
[32] Fuchs, 1907, 735.
[33] Wiener klinische Rundschau 21, 1907, 735; Vorschriften über den Verkehr mit Geheimmitteln und ähnlichen Arzneimitteln. Beschluß des Bundesrats vom 27. Juni 1907, Vierteljahresschrift für praktische Pharmazie 4, 1907, 276-281, hier 280.
[34] Als Beispiel kann dienen Drogisten-Zeitung 8, 1894, 435.
[35] Pharmazeutische Presse 1930, 76; Wiener Pharmazeutische Wochenschrift 72, 1939, Folge 44, s.p. Hahnemann hatte sich schon früh mit dem Hanf beschäftigt, vgl. Samuel Hahnemann, Reine Arzneimittellehre, T. 1, 2. verm. Aufl., Dresden 1822, 145-165.
[36] F[riedrich] von Heyden, Die Salicylsäure. Kolbe’s Patent, Oesterreichische Gartenlaube 4, 1878, Nr. 27, V-VII, hier V.
[37] Uwe Spiekermannn, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 575.
[38] Salicyl, Die Hausfrau 8, 1884, Nr. 1/2, 4.
[39] Hermann Hager, Handbuch der pharmaceutischen Praxis, Ergänzungsbd., Berlin 1884, 44, verwies auf ein Hühneraugenkollodium des Apothekers Gezow mit einem Verhältnis von 3,0 Salicylsäure und 0,5 Cannabisextrakt.
[40] Drogisten-Zeitung 10, 1895, 221.
[41] Hermann Hager, Kommentar zum Arzneibuch für das Deutsche Reich, Bd. 1, Ausg. 3, Berlin 1891, 151.
[42] Pharmazeutische Post 23, 1890, 586, 589.
[43] Pharmaceutische Post 26, 1893, 23.
[44] Drogisten-Zeitung 10, 1895, 221.
[45] Otto Meissner, Die Kaiserliche Verordnung betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln vom 27. Januar 1890, Leipzig 1890, 148. Wie schwierig diese Regelung war, zeigte sich 1895 u.a. am Handverkaufsverbot der viel beworbenen Wasmuthschen Hühneraugenringe, vgl. Franz Nesemann, Der Verkehr mit Arzneimitteln und Giften ausserhalb der Apotheken, Berlin 1897, 57.
[46] Süddeutsche Apotheker-Zeitung 36, 1896, 430.
[47] Über Extractum Cannabis Indicae, Helfenberger Annalen 16, 1903, 243-245, hier 243; zum Problem der künstlichen Färbung der Hanfextrakte s. schon Gerstenberger, 1885.
[48] Internationale klinische Rundschau 8, 1894, Beilage: Therapeutische Blätter, Sp. 91.
[49] American Druggist and Pharmaceutical Record 22, 1892/93, 133; Encyclopädische Jahrbücher der gesammten Heilkunde 4, 1894, 238.
[50] American Druggist and Pharmaceutical Record 42, 1903, 68; Josef Moeller und Hermann Thoms (Hg.), Real-Encyclopädie der gesamten Pharmazie, Bd. 4, Berlin/Wien 1905, 136.
[51] Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 35, 1894, 489.
[52] Pharmaceutische Post 36, 1903, 392.
[53] Fischer und Hartwich (Hg.), 1919, 592.
[54] Ebd.
[55] Pharmazeutische Post 47, 1914, 254, 721.
[56] Arends, 1903, 55-56.
[57] Hermann Thoms (Hg.), Handbuch der praktischen und wissenschaftlichen Pharmazie, Bd. VI, Berlin 1927, 677.
[58] Hans-Georg Behr, Von Hanf ist die Rede. Kultur und Politik einer Droge, Basel 1982, 148.
[59] Ueber den therapeutischen Werth des Migränin, Wiener Medizinische Wochenschrift 44, 1894, Sp. 2026; Allgemeine Zeitung 1894, Nr. 137 v. 20. Mai, 3; Pharmaceutische Post 27, 1894, 226.
[60] Süddeutsche Apotheker-Zeitung 34, 1893, 301, 345; C[arl] Bedall, Das Mysterium des Migränin, Süddeutsche Apotheker-Zeitung 37, 1897, 905.
[61] Pharmaceutische Post 23, 1890, 587.
[62] Merck’s Index, 1910, 70.
[63] Eduard Hahn und J[ohann] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel. Ihre Herkunft und Zusammensetzung, 6. verm. u. verb. Aufl., bearb. v. G[eorg] Arends, Berlin 1906, 189-190.
[64] Merck’s Index, 1910, 118-119; G[eorg] Arends, Neue Arzneimittel und Pharmazeutische Spezialitäten, Berlin 1903, 162.
[65] Merck’s Index, 1910, 140.
[66] Pharmaceutische Post 19, 1886, 32.
[67] Pharmaceutische Post 34, 1901, 603.
[68] Wiener klinische Wochenschrift 10, 1896, 504.
[69] Wiener Medizinische Wochenschrift 40, 1890, Sp. 21.
[70] Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 46, 1905, 911; Pharmazeutische Post 38, 1905, 787.
[71] Pharmazeutische Post 43, 1910, 338.
[72] Pharmazeutische Post 39, 1906, 159.
[73] Industrie-Blätter 3, 1866, 126; Pharmaceutische Post 35, 1902, 205.
[74] M[oritz] Saenger, Über Asthma und seine Behandlung, Berlin 1910; W[ilhelm] Brügelmann, Ueber Asthma, sein Wesen und seine Behandlung, 3. verm. Aufl., Wiesbaden 1895.
[75] Vgl. zur Technik, aber auch zu den Präparaten Friedrich Fieber, Die Inhalation medicamentöser Flüssigkeiten und ihre Verwerthung bei Krankheiten der Athmungsorgane, Wien 1865; Georg Lewin, Die Inhalations-Therapie in Krankheiten der Respirations-Organe, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1865.
[76] Jaroslaw Hrach, Das Bronchialasthma und die pneumatische Kammer, Wiener Medizinische Wochenschrift 55, 1905, Sp. 2025-2028, hier Sp. 2026.
[77] Ewald Geissler und Josef Moeller (Hg.), Real-Encyclopädie der gesammten Pharmacie, Bd. 5, Wien/Leipzig 1888, 19.
[78] American Medical Times NS 2, 1861, Nr. 26, 4; Allgemeine Illustrirte Zeitung 1, 1865, 112, 136.
[79] Der Militärarzt 1, 1867, Sp 327; Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 13, 1868, 245; Der Militärarzt 2, 1868, Sp. 71.
[80] Hamilton Spectator 1867, Nr. 567 v. 20. Juli, 1; Sydney Morning Herald 1867, Nr. 9147 v. 14. September, 2; The Times-Picayune 1867, Nr. 256 v. 19. November, 4; New Orleans Crescent 1868, Nr. 685 v. 14. Juli, 14; Ottawa Citizen 1869, Nr. 7 v. 29. Mai, 3; The Times 1872, Nr. 27355 v. 19. April, 15; Lancaster Gazette 1872, Nr. 4454 v. 9. Juli, 7. Auch in Japan war Grimault präsent, vgl. The Japan Daily Mail 20, 1893, 368, 740.
[81] Würzburger Stadt- und Landbote 1873, Nr. 47 v. 24. Februar, s.p.; Innsbrucker Nachrichten 1878, Nr. 298 v. 28. Dezember, Extra-Beilage.
[82] Flusser, Cigaretten aus Cannabis indica von Grimault, Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 15, 1870, 74-75.
[83] Karlsruher Zeitung 1881, Nr. 33 v. 8. Februar, s.p.
[84] Uebersicht der bei den Handels- und Gewerbekammern der österreichischen Monarchie vom 1. Jänner bis Ende Juni 1872 registrirten gewerblichen Marken, Wien 1872, 6.
[85] Frank Wilhelm, Pharmaceutische und technische Drogen und Chemikalien, Wien 1877, 47.
[86] Vgl. Spiekermann, 2018, 173-175.
[87] The Age 1872, Nr. 5464 v. 18. Mai, 2.
[88] Internationale Ausstellungs-Zeitung der Neuen Freien Presse 1873, Nr. 3135 v. 16. Mai, 6.
[89] Daily Examiner [San Francisco] 1870, Ausg. v. 23. März, 4; auch New Orleans Crescent 1868, Nr. 685 v. 14. Juli, 14.
[90] Gemeinde-Zeitung 1874, Nr. 108 v. 10. Mai, 6.
[91] Cigaretten aus Cannabis indica, Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 15, 1870, 178-179, hier 179.
[92] John C. Thorowgood, Notes on Asthma: Its Forms, and Treatment, London, 3. Aufl., London 1878, 60.
[93] Le Rappel 1872, Ausg. v. 6. Mai, 3.
[94] Leconte 1873, 4 (Beilage).
[95] Blätter für Reform des Sanitätswesens 3, 1870, Sp. 13.
[96] Le XIXe siècle 1882, Nr. 3758 v. 15. April, 4; Le Petit Bengali 1885, Ausg. v. 28. Juli, 120.
[97] Indische Cigaretten, Dinglers Polytechnisches Journal 236, 1880, 349.
[98] Hager, 1884, 191.
[99] Josef Moeller und Hermann Thoms (Hg.), Real-Encyclopädie der gesamten Pharmazie, Bd. 2, 2. gänzl. umgearb. Aufl., Berlin/Wien 1904, 350.
[100] Bozener Zeitung 1882, Ausg. v. 21. Juni, 3.
[101] Pharmaceutische Nachricht aus Russland, Pharmaceutische Post 11, 1878, 45-46, hier 45; Schweizerisches Handelsamtsblatt 4, 1886, 611-612.
[102] Pharmaceutische Post 31, 1898, 381.
[103] Karlsruher Tagblatt 1885, Nr. 117 v. 30. April, 1891.
[104] Karlsruher Zeitung 1885, Nr. 101 v. 30. April, Beilage, s.p.
[105] Pharmaceutische Post 8, 1875, 20.
[106] E. Labbée, Composition de cigarettes indiennes, Le Reveil Medical 1, 1880, Ausg. v. 12. Juni, 30.
[107] Le Gaulois 1882, Ausg. v. 21. Februar, 4; Le Petit Journal 1895, Ausg. v. 21. März, 4.
[108] Brügelmann, 1895, 127.
[109] Vgl. Mark Jackson, „Divine Stramonium“: The Rise and Fall of Smoking for Asthma, Medical History 54, 1010, 171-194; Cecile Raynal, De la fumée contre l’asthme, histoire d’un paradoxe pharmaceutique, Revue d’histoire de la pharmacie 94, 2007, Nr. 353, 7-24.
[110] Victor Gardette, Formulaire des spécialités pharmaceutiques pour 1907, Paris 1907, 49.
[111] Thoms (Hg.), 1927, 249.
[112] C[arl] Bachem, Deutsche Ersatzpräparate für Pharmazeutische Spezialitäten des feindlichen Auslandes, Bonn 1916, 11.
[113] Arends, 1903, 214.
[114] Süddeutsche Apotheker-Zeitung 36, 1896, 413.
[115] Brügelmann, 1895, 127, Fußnote.
[116] Vgl. Hamburger Nachrichten 1900, Nr. 280 v. 29. November, 11; Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 568 v. 5. Dezember, 11.
[117] Berliner Tageblatt 1900, Nr. 419 v. 19. August, 11; Hahn und Holfert, 1906, 13.
[118] Wiener Caricaturen 20, 1900, Nr. 33 v. 12. August, 7.
[119] Eine Apotheker-Dynastie, Die Presse 1889, Nr. 15 v. 15. Januar, 10.
[120] Innsbrucker Nachrichten 1881, Nr. 137 v. 20. Juni, 2128.
[121] Richard Wittelshöfer, Die erste internationale pharmaceutische Ausstellung in Wien, Wiener Medizinische Wochenschrift 33, 1883, Sp. 1025-1027, hier Sp. 1026.
[122] Pharmaceutische Post 29, 1896, 584.
[123] Pharmazeutische Post 38, 1905, 613.
[124] Hager, 1884, 191.
[125] Pharmaceutische Post 29, 1896, 398 mit einem Beispiel aus Berlin.
[126] H.J. Vetlesen, Cannabis und Belladonna gegen Keuchhusten, Pharmazeutische Post 20, 1887, 353-354.
[127] Pharmazeutische Post 45, 1912, 175.
[128] Hahn und Holfert, 1906, 149.
[129] Neuigkeits-Welt-Blatt 1914, Nr. 283 v. 10. Dezember, 16.
[130] Diese und die folgenden Behauptungen nach Behr, 1982, 165.
[131] Freie Stimmen 1901, Nr. 97 v. 4. Dezember, 4.
[132] Der Nikotingehalt der österreichischen Zigaretten, Drogisten-Zeitung 26, 1911, 173.
[133] Franz Bibra, Asthma-Therapie anno dazumal, Österreichische Apotheker-Zeitschrift 72, 2018, 94-95, hier 94 (ohne Beleg).
[134] Die österreichische Tabakregie, Die Stunde 1926, Nr. 1047 v. 4. September, 4.
[135] Illustrierte Kronen-Zeitung 1911, Nr. 4121 v. 11. Juni, 15.
[136] Wiener Zeitung 1897, Nr. 123 v. 1. Juni, 3.
[137] Vgl. hierzu S.M. Wickett, Studien über das Oesterreichische Tabakmonopol, Stuttgart 1897, 66-68.
[138] Pharmazeutische Post 37, 1904, 757.