Heinzelmännchen in der Küche – Geschichte einer Kochkiste

Wer kennt sie nicht, die Heinzelmännchen? Diese freundlichen Hausgeister stehen in einer langen, bis in die Antike zurückreichenden Tradition. In deutschen Landen wurden sie aber erst durch den Berliner Maler und Schriftsteller August Kopisch (1799-1853) populär – und zugleich nach Köln verfrachtet (Gedichte, Berlin 1836, 98-102). Die Heinzelmännchen kamen des Nachts, vollbrachten der Menschen Tagwerk. Sie zimmerten, buken Brot, schlachteten und verwursteten Schweine, schönten den Wein, übernahmen die Schneiderarbeiten; kurzum, sie sorgen sich um die wichtigsten Konsumgüter dieser Zeit. Und man sah allein ihre Werke, nicht sie selbst. Doch dann kam des Schneiders neugieriges Weib, wollte die Heinzelmännchen sehen, sie necken. Sie streute Erbsen auf die Treppen ihres Hauses, die freundlichen Helfer kamen, doch sie stolperten, stürzten, fluchten, verschwanden – und kamen ob dieses Undankes nie wieder: „O weh nun sind sie alle fort / Und keines ist mehr hier am Ort! / Man kann nicht mehr wie sonsten ruh’n / Man muß nun Alles selber thun!“ (Kopisch, 1836, 101)

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Eine populäre Geschichte – nicht nur für Kinder (Illustrierte Welt 18, 1870, 24)

Kopischs Gedicht hatte beträchtlichen Erfolg, wurde ein fester Bestandteil der Kinderliteratur, fand Eingang in Schule und Theologie. Die Heinzelmännchengeschichte wurde vertont, Teil der Kunstmusik des Biedermeiers, eroberte in immer neuen Fassungen den Chorgesang, Konzertsäle und Bühnen, fand gleichermaßen Beifall bei Kindern und gesetzten Bürgern. Anders ausgedrückt: Die Heinzelmännchen wurden ein Konsumgut, mit ihnen wurden Märkte geschaffen, Verlage befördert, Musikalienhandlungen, Musiker und Sänger. Es gab weitere wachstumsfördernde Koppeleffekte, beispielsweise wurde Zwergwuchs marktgängig, Liliputaner Teil des Schaugeschäftes. Und schließlich nährten die kleinen Helfer auch Wissenschaftler, zumal Germanisten und Volkskundler, die Forschungen anstellten, eine frohe Erbsenzählerei auch abseits der angewandten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Ute Dettmar, Arbeit im Mythos. Heinzelmännchen-Figurationen in Märchen und Medien, in: Caroline Roeder und Christine Lötscher (Hg.), Das ganze Leben. Repräsentationen von Arbeit in Texten über Kindheit und Jugend, Berlin und Heidelberg 2022, 81-96; Werner Schäfke und Beatrix Alexander (Hg.), Heinzelmännchen. Beiträge zu einer Kölner Sage, Köln 2011; Marianne Rumpf, Wie war zu Cölln es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem, Fabula 17, 1976, 45-76; Lutz Mackensen, Heinzelmännchen (Name, Wesen, Herkunft), Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 2, 1924, 158-173).

Bei diesem emsigen und kaum beachteten Treiben fehlen wichtige Aspekte. Die Heinzelmännchen stehen eben nicht nur für eine wohlige Legende über den Zwang zur Arbeit, sind mehr als eine Mahnung angesichts gängigen Undanks. Die Heinzelmännchen markierten und symbolisierten eine Zeitenwende, eine wirkliche. Die idealisierte Welt der alten Stadt endete, das selbst begrenzte Handwerkshandeln wich langsam der Industrie und dem dynamischeren Handel. Die Gemächlichkeit der alten Zeit wurde zunehmend verdrängt durch eine neue Arbeitsethik, nicht nur der protestantischen. Das lässt sich an drei Beispielen einfach aufzeigen: Erstens der Schattenwelt der angewandten Naturwissenschaften, zweitens der Technisierung von Produktion und Haushalt sowie drittens dem Aufkommen neuer Bequemlichkeitsprodukte, propagiert als Helfer der Hausfrau.

Die seit den 1840er Jahre beschleunigte Erkundung der organischen Materie ergab ein bisher nur erahntes Binnenreich der Stoffe und stofflicher Reaktionen. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis diese in Ansätzen erforscht waren. Parallel begann die Erkundung der Kleinwelten der Bakterien, die mit dem Menschen eng verbunden waren, den Darm bevölkerten, der Verdauung halfen, doch auch Krankheiten verursachen konnten. Ähnliches galt für Pilze, insbesondere die zum Backen unabdingbare Hefe. Neue Industrien bauten auf diesen Erkenntnissen auf, die Bierbrauerei, die Brennerei, die Konservierung von Gurken. Dadurch entwickelte sich ein neues Verhältnis zur Natur, die nicht mehr vorrangig als Bedrohung, sondern zunehmend auch als Helfer verstanden wurde. Dankbar hieß es: „Die Heinzelmännchen der Gährungsgewerbe sind die Hefenpilze, welche für uns die Spaltung des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure besorgen, für eine zahlreiche Nachkommenschaft thätig sind, damit wir Preßhefe verkaufen können, und ihr Geschäft in staunenswerther Großartigkeit betreiben, wenn auch die Arbeitsleistung jedes Einzelnen nur eine sehr winzige ist“ (Unsere Heinzelmännchen, Brennerei-Zeitung 10, 1893, 1194). Ähnliches galt für neu entdeckte Stoffgruppen, wie etwa die Fermente resp. Enzyme, die Heinzelmännchen gleich die chemischen Stoffe aufspalteten, so wie einst in Köln die holzspaltenden Gnome (Bayerisches Brauer-Journal 22, 1912, 200). Wissenschaft erkundete die materielle Welt, machte sie nachvollziehbar und gestaltbar. Doch dazu bediente man sich weiterhin eines mythischen und mythologischen Überbaus. Die Heinzelmännchen waren eine Metapher für ablaufende Hintergrundprozesse, imaginierten eine Natur voller nützlicher Helfer. Gleich den nicht arbeitenden Lilien auf dem Felde wurde menschliches Leben von unsichtbaren Kräften und Abläufen bestimmt. Wissenschaftliche Forschung, sich ihres Stückwerkcharakters bewusst, mochte Gott nicht mehr beschwören, nutzte aber Zwischenfiguren wie die Heinzelmännchen. Das galt selbst für die belebte Natur, mutierten doch etwa die heute wieder zu Recht geschätzten Bienen zu Heinzelmännchen des Landmanns (Ferdinand Gerstung, Immenleben – Imkerlust, Bremen 1890, 5).

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Heinzelmännchen helfen der erschöpften Hausfrau nähen (Über Land und Meer 103, 1910, 34)

Auch die für das Maschinenzeitalter so zentrale Technik bediente sich analoger Vorstellungen, nutzte diese auch für die Vermarktung. Das galt vor allem für die wichtigste Haushaltsmaschine des 19. Jahrhunderts, für die Nähmaschine. Sie war noch per Fuß und Hand zu betreiben, erforderte stete Aufmerksamkeit und Kraft. Doch sie beschleunigte zugleich die noch mühseligere Näherei zumal im Hause. Die Nähmaschine war ein Helfer, ähnlich wie viele der Haushaltsmaschinen des späten 19. Jahrhunderts, wie Waschmaschinen und Herde, Petroleumkocher und Backöfen. Die Heinzelmännchen erschienen in neuen Formen, „als Scheuerteufelchen, als Backdämonen, sie tanzen zum Surren der rasselnden Nähmaschine und kümmern sich nicht groß um die bunte Blütenpracht, die sich draußen mit jedem werdenden Tage liebreizender entfaltet“ (An der Schwelle des Pfingstfestes, Wendelstein 1912, Nr. 118 v. 25. Mai, 2). Die Technik mochte nicht den Charme der kleinen Gesellen haben, doch die Idee des technisierten Haushalts entsprach immer auch einer Rückkehr zu den guten alten Zeiten: „Was man in Köln einst so geschätzt, / Wird durch die Technik uns ersetzt, / Als Heinzelmännchen dienen / Uns heute die Maschinen!“ (Ernst Heiter, „Moderne Heinzelmännchen!“, Bielefelder Volks-Zeitung 1907, Nr. 213 v. 14. September, 3).

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Heinzelmännchen als Alltagshelfer (Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 34, Beibl. 2, 4)

Seit der Jahrhundertwende wurden derartige Vorstellungen auch auf andere Konsummaschinen verbreitet, drangen Heinzelmännchen dadurch in nicht häusliche Sphären vor: Fahrräder erlaubten geschwinde Fahrten, ermöglichten ohne großen Eigenaufwand den grauen Wohnungen und Städten zu entfliehen. Schreibmaschinen eroberten die Büros und Verwaltungen, mochten private Briefe auch immer noch per Hand geschrieben werden. Die Heinzelmännchenmetapher ergriff gar Infrastrukturbeschreibungen der modernen Stadtmaschinen. Wasser wurde fließend, Heizung schon zentral, die Straßen waren nachts erleuchtet und morgens von Besenmännern gereinigt: „Wie die Heinzelmännchen machen sie sich unverzüglich an die Erledigung ihrer Arbeit, während der müde Bürger behaglich in seinen vier Wänden schlummert“ (Walpurgisnacht in Berlin 1907, Nr. 102 v. 2. Mai, 5). Auch die neue Welt war voller Wunder.

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Convenienceprodukte als Heinzelmännchen – Angebotspalette von Adolf Vogeley (Die Woche 3, 1901, 604)

Und doch, seit den 1890er Jahren wurden auch die Heinzelmännchen zunehmend käuflich, vorausgesetzt, man kaufte die richtigen Waren. Backpulver und Puddingpulver beschleunigten die Küchenarbeit, vermeintlich gelingsicher. Reisstärke half beim Bügeln, Maisstärke beim Verdicken der Saucen, Suppenpräparate erlaubten warme, nährende Speisen. Heinzelmännchen bevölkerten viele einschlägige Werbeanzeigen, wurden von Anbietern wie Maggi auch als Markenzeichen benutzt. Die Heinzelmännchen mochten verschwunden sein, doch moderne Produkte traten ihr Erbe an: „Wer hätte nicht schon tausendmal / Von Heinzelmännchen schon vernommen, / Wie diese Knirpse ohne Zahl / Dem Menschen einst zu Hilf‘ gekommen? / Wie sie, wenn sich die Müden legten, / Allüberall sich tüchtig regten? / Längst sind die Heinzelmännchen fort / Und keines ist mehr hier am Ort, / Doch eh‘ sie giengen [sic!], brauten sie, / Zu mildern der Hausfrau Plag‘ und Müh‘, / Die Wundertropfen, die heut‘ im Land / Als Maggiwürze sind bekannt“ (Bote für Tirol und Vorarlberg 1902, Nr. 1 v. 2. Januar, 5).

Die Kochkiste „Heinzelmännchen“

Die 1905 eingeführte Kochkiste „Heinzelmännchen“ verband diese drei Entwicklungslinien zu einem Angebot: Sie nutzte Grundkenntnisse der Naturwissenschaften, in diesem Falle einerseits der Physik, der Wärmeleitung, anderseits der chemischen Transformation der Nahrungsstoffe. Sie war eine Kochmaschine, auf externe Energie angewiesen, doch stetig den vorgesehenen Zweck erfüllend. Und sie war anscheinend Bequemlichkeit pur, befreite die Hausfrau von der Fron des langen Kochens auf dem stets zu beaufsichtigenden Herd: Ankochen, den Rest erledigte die Kochkiste, kochte durch, hielt warm, war anders als der Herd einfach zu transportieren.

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Neu und besser: Die Kochkiste Heinzelmännchen (Daheim Kalender für das Deutsche Reich 1907, Bielefeld und Leipzig 1906, Anzeiger, 61)

Doch was war eine Kochkiste? Und warum entstand das Heinzelmännchen just um diese Zeit? Dazu müssen wir uns die andere Art des Kochens um die Jahrhundertwende ins Gedächtnis rufen: Der Herd, meist Teil einer Wohnküche, zumeist mit Kohle, teils mit Holz, zunehmend aber auch mit Gas beheizt, lieferte Hitze zum Ankochen, doch dann köchelte, brutzelte, buk das Essen noch lange vor sich hin, ehe es schließlich verzehrs- und servierfertig war. Das war doppelt aufwändig, denn einerseits erforderte dies eine kontinuierliche Grundhitze, anderseits musste all das überwacht werden, denn eine präzise Hitzeführung gab es nicht, war der Augenschein am Herde daher zentral für ein gelungenes Mahl. Hinzu kam, dass in Deutschland das warme Mittagessen weiter hochgehalten wurde, während sich in England und anderen westlichen Staaten das Abendessen zunehmend als warmes Hauptmahl etablierte. Kochkisten, damals vielfach auch Selbstkocher genannt, waren gleichermaßen Garkocher und Wärmehalter. Kochkisten nutzten die Grundwärme des Herdes, boten Platz für die Töpfe mit dem angekochten Essen, schufen zugleich aber einen mit schlechten Wärmeleitern umgebenen Kunstraum, in dem die Wärmeverluste weitaus geringer waren als in dem ja vielfach auch zu Heizzwecken dienenden Herd. Die Eigenwärme von Topf und Speise wirkte so weiter, verlängerte die begonnene Tat am Herd – so lange, bis am Ende gargekochtes Essen stand, das in der Kiste zudem lange warm blieb.

Die Kochkiste hatte eine lange Vorgeschichte: Es gab sie bereits in der Antike (Die Kochkiste jüdischen Ursprungs, Jüdisches Volksblatt 7, 1905, Nr. 40, 5). Justus Liebig (1801-1873) hatte das Prinzip der Wärmeleitung in seinen Chemischen Briefen Mitte des 19. Jahrhunderts neuerlich popularisiert, selbstgebastelte „Heukisten“ wendeten es an (Wie wir zur Kochkiste kamen, Prometheus 24, 1912/13, 411-414). All das gründete auf Erfahrungswissen, doch die auf der Pariser Weltausstellung 1867 vorgestellte „Cuisine automatique norwégienne“ gab selbstbewusst vor, auf wissenschaftlichen Prinzipien zu beruhen. Sie wurde weltweit vertrieben, in Deutschland folgten genauere Untersuchungen, auch neu konstruierte Kisten ([Johann Heinrich] Meidinger, Kochkiste, Badische Gewerbezeitung 1902, 408-410). Wie bei so vielen anderen Innovationen war die Begeisterung anfangs beträchtlich, der große Erfolg aber blieb aus. Die Kochkisten waren teuer, sperrig, stellten zugleich auch das übliche routinierte Kochen in Frage. Technische und hygienische Probleme kamen hinzu. In den folgenden Jahrzehnten gab es vielfache Wiederentdeckungen, stets verbunden mit enthusiastischen Anpreisungen der vermeintlichen Wunderkisten. Die Wirkung schien unerklärlich, erinnerte an die Heinzelmännchen der guten alten Zeit.

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Hauswirtschaftliche und soziale Reform durch die Kochkiste (Karlsruher Tagblatt 1903, Nr. 242 v. 2. September, 5286 (l.); Badische Presse 1903, Nr. 286 v. 6. Dezember, 7)

Eine der vielen Revitalisierungen startete 1901 in Baden. Dort ging es bürgerlichen Sozialreformern mal wieder um die Verbesserung der Lage der Arbeiter in Stadt und Land, auch um die Entlastung der von Haus-, Erziehungs- und Erwerbsarbeit arg gebeutelten Frauen (Uwe Spiekermann, Die Ernährung städtischer Arbeiter in Baden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Monotone Einheit oder integrative Vielheit?, Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483). Es ging um ein ordentliches Mittagessen – und dabei kamen auch Reminiszenzen an die alten Heukisten auf. Der konservative Badische Frauenverein gewann Großherzogin Luise (1838-1923), die Tochter des früheren Kaisers Wilhelm I. (1797-1888), als Schirmherrin für diese Idee. Parallel konstruierten die Frauen eine hölzerne viereckige Kiste, die für 9 M verkauft wurde, die frau aber auch günstiger zu Hause herstellen und mit Papier, Holzwolle oder auch Lumpen füllen konnte. Sie war billig und transportabel, verringerte die Kochdauer und ermöglichte die Mitnahme oder den Transport an die Arbeitsstätte vor allem der Männer. All das wurde 1902/1903 durch reichsweite Kampagnen in Frauenvereinen und bürgerlichen Reformvereinigungen popularisiert, die nicht unbeträchtliche Resonanz erzielten ([Karl] Bittmann, Die Badische Kochkiste, Concordia 10, 1903, 15-17).

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Wettbewerb um verbesserte Kochkisten (Münchner Neueste Nachrichten 1904, Nr. 543 v. 20. November, 8)

Die neuen Kochkisten hatten die schon in den Jahrzehnten zuvor immer wieder kritisierten Probleme, doch angesichts des hehren Ziels einer einschneidenden Verbesserung der Volksernährung begann dieses Mal ein überraschend breiter Wettbewerb der Frauenvereine, Tischler und Tüftler, um durch verbesserte Kochleistungen, einfachere Handhabung und auch erschwingliche Preise die Kochkiste endlich zu etablieren. Unter diesen befand sich auch der zwischen Bad Nauheim und Berlin pendelnde Wilhelm Aletter (1867-1934). Er hatte sich vor allem als Musiker und Komponist der leichten Muse einen Namen gemacht und ging nun mit leichter Hand ans Werk. Ihm ging es um eine längere und sicherere Weise der Wärmeübertragung. Zwischen Herd, Topf und Kiste integrierte er, wie auch andere zuvor, zusätzliche Wärmespeicher. Aletter beantragte im April 1904 ein Patent für seine „Vorrichtung zum Schnellkochen mittels erhitzten Steines“, das ihm im November zugeteilt wurde (Deutscher Reichsanzeiger (= DRA) 1904, Nr. 263 v. 7. November, 24).

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Innenansicht der Kochkiste Heinzelmännchen (Witt, 1908, 567 (l.); Auszüge aus den Patentschriften 29, 1908, 984)

Aletters Verfahren brachte Bewegung in den Markt für Kochkisten. Ihm ging es nicht mehr um den alleinigen Wärmeschutz, sondern um einen lang währenden und mit hohen Temperaturen verbundenen Kochprozess. Er griff dabei auf Materialien zurück, die seit den 1860er Jahren die Feuerarbeit der Metall-, Stahl- und Glasindustrie verändert hatten. Schamottesteine waren feuerfest, bestanden aus einer Mischung von Ton, Steinscherben und Aluminiumoxid. Sie nahmen Hitze auf, strahlten diese lange Zeit ab, waren allerdings recht brüchig. Entsprechend sah Aletters Verfahren eine strikte Architektur innerhalb der Kochkiste vor: Die der Topfform angepassten Steine wurden unterhalb und oberhalb des Kochgutes fest eingefügt, eine Bodenplatte und die Fixierung durch Eisenstangen und einen Deckel garantierten Halt und sichere Wirkung (Auszüge aus den Patentschriften 29, 1908, 984). Die Anordnung ermöglichte höhere Temperaturen, so dass nicht nur Kochen, sondern auch Backen und Braten grundsätzlich möglich waren (G.A. Witt, „Kochkiste“ und „Thermophor“, Österreichische Wochenschrift für den öffentlichen Baudienst 14, 1908, 561-567, hier 567).

Der Weg vom Verfahren zum fertigen Produkt war allerdings lang. Die Kochkiste „Heinzelmännchen“ verband das Alettersche Verfahren mit einer passgenauen Kisten- und auch Topffunktion. Die viereckige, aus Buchenholz gefertigte Kiste war im Inneren mit Weißblech ausgestaltet, das einerseits die Dämmstoffe in Form hielt, anderseits aber auch als Brandschutz diente (Berliner Briefe. II. Die hauswirtschaftliche Ausstellung!, General-Anzeiger für Dortmund die Provinz Westfalen 1907, Nr. 59 v. 28. Februar, Unterhaltungsblatt, 4). Die aus Emaille gefertigten Töpfe besaßen keine Seitengriffe, so dass der Zwischenraum möglichst gering blieb. Die mit einem Griff versehenen Schamottesteine wurden im Herdfeuer oder auf den Herdplatten „bis zur Glut erhitzt“ (Verein Frauenbildung—Frauenerwerb, Dortmunder Zeitung 1908, Nr. 91 v. 19. Februar, 2), anschließend der Bodenstein versenkt, der Topf daraufgesetzt, dann folgte der zweite Stein, der Topfdeckel und schließlich der Deckel der Kochkiste. Das Heinzelmännchen wurde etwa ein Jahr nach der Patenterteilung als Kochkiste durch das Berliner Haushaltswarengeschäft P. Raddatz & Co. angeboten (Berliner Volks-Zeitung 1905, Nr. 561 v. 30. November, 8). Zuvor dürfte man mit einschlägigen Frauenvereinen zusammengearbeitet haben, denn schon im Dezember wurde die neue Kochkiste auch über den Vaterländischen Frauenverein vorgestellt (Dürener Zeitung 1905, Nr. 276 v. 4. Dezember, 2).

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Einführung durch das Haushaltswarengeschäft P. Raddatz Ende 1905 (Kölnische Zeitung 1905, Nr. 128 v. 28. November, 3)

Ausgliederung bei P. Raddatz & Co.: Der Weg zur Heinzelmännchen Compagnie

Das seit 1868 in Berlin tätige Manufakturwarengeschäft P. Raddatz wurde am 1. September 1873 von den Kaufleuten Peter Raddatz und Fritz Müntzel als Kommanditgesellschaft gegründet, 1891 dann in eine offene Handelsgesellschaft überführt (DRA 1873, Nr. 244 v. 16. Oktober, 5; Berliner Börsenzeitung 1883, Nr. 600 v. 22. Dezember, 6; DRA 1891, Nr. 8 v. 9. Januar, 6). Das Geschäft residierte zuerst in der Leipziger Straße 101, ehe es 1897 in ein Fritz Müntzel gehörendes Anwesen in der Leipziger Straße 123 zog. Das seit den 1880er Jahren zu den Vorzeigegeschäften der wilhelminischen Hauptstadt zählende Unternehmen konzentrierte sich von Beginn an auf den Handel mit Glas, Porzellan, Haus- und Küchengeräten, die es auch reichsweit bewarb und versandte. Erst 1903 gliederte P. Raddatz eine Produktionsstätte in der Alten Jakobsstraße 5 an, während das Verkaufsgeschäft dann auch auf die Leipziger Straße 122 ausgedehnt wurde (https://www.steinmarks.co.uk/page?id=564). Die Firma wurde 1906 in eine GmbH mit einem Stammkapital von 900.0000 M überführt. Der zuvor in das Geschäft eingestiegene Bankier Otto Ritter hatte im Vorgriff Firma und das neue Grundstück erworben. Mit einer Einlage von 540.000 M wurde er Haupteigner und allein vertretungsberechtigt, Fritz Müntzel brachte 160.000 M ein (DRA 1906, Nr. 210 v. 5. September, 7).

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Das Haushaltswarengeschäft P. Raddatz in den späten 1890er Jahren und dessen Vorläufer des „Heinzelmännchens“ (Postkarte; Die Woche 7, 1905, Nr. 14, VII)

P. Raddatz war ein Ausstattungs-Magazin, welches Haushaltsgeräte wie Eisschränke oder aber Küchenmöbel in Eigenregie fabrizierte, welches zudem eine Reihe eigener Patente hielt (Berliner Adreßbuch 1907, T. I, 1895). Die Firma war zugleich aber eine zentrale Bühne für neue Apparate, für alle Novitäten der Küche und des Haushaltes. An diesem Geschäft zeigt sich deutlich, dass der auf Kochbuchautorinnen, Frauenvereine und die meist auf die 1920er Jahre datierte Haushaltsrationalisierung fokussierte Blick der Küchenmodernisierung einseitig und zu eng ist. Der Handel machte vielfach den Unterschied. Raddatz war ein Innovationsensemble, dessen Anzeigen von den Verlockungen neuer Helfer kündeten (Berliner Tageblatt (= BT) 1906, Nr. 243 v. 17. Oktober, 17). Hier wurde nicht allein verkauft, hier war stets etwas los, wenngleich eher mit Blick auf solvente bürgerliche Kundinnen: „Der Koch-Apparat ‚Heinzelmännchen‘, die Waschmaschine ‚Weltwunder‘, Weck’s Konserven-Apparate, Eismaschinen usw. sollen in vollem Betriebe dem Publikum gezeigt werden“ (BT 1906, Nr. 530 v. 18. Oktober, 19).

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Das Spezialgeschäft als Erfahrungsort neuer Haushaltstechnik (Berliner Tageblatt 1913, Nr. 513 v. 9. Oktober, 16)

P. Raddatz & Co. hatte den Trend hin zur Kochkiste schon früh aufgegriffen. Seit Frühjahr 1905 präsentierte man einen eigenen „Selbstkocher“, der bereits einen Hitzestein oberhalb des seitengrifflosen Topfes aufwies. Es ist recht wahrscheinlich, dass zu dieser Zeit Wilhelm Aletter und Otto Richter bereits in geschäftlicher Verbindung standen, auch wenn es nicht klar ist, wann letzterer die Patentrechte gekauft hat. Raddatz bot jedenfalls für den in Berlin fest verankerten Komponisten und Musikverleger Aletter eine ideale und finanziell lukrative Multiplikationsdrehscheibe. Die Inhaber waren zudem gesellschaftlich wohl etabliert, Fritz Müntzel jr. hatte sich 1905 mit Clara Rosenthal verlobt, der Tochter des Selber Porzellanfabrikanten Philipp Rosenthal (1855-1937) (Kölnische Zeitung 1905, Nr. 281 v. 17. März, 3). Ritter griff zu, auch um sein neues Geschäft an der Berliner Spitze zu halten – die Konkurrenz der großen Warenhäuser in der Nachbarschaft war spürbar. Der Selbstkocher wurde fortentwickelt, wurde Teil eines Gesamtpaketes von Kisten, Töpfen und Steinen, das mit seinem soliden Äußeren und seiner hygienischen Metallauskleidung den Anspruch von Raddatz als führendes Haus und des neuen „Heinzelmännchens“ als führende Kochkiste des Deutschen Reiches auch visuell verkörperte.

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Eine entzückende Kochkiste (Münchner Neueste Nachrichten 1908, Nr. 577 v. 9. Dezember, General-Anzeiger, 4)

Die Berliner Heinzelmännchen GmbH

Der Anspruch zeigte sich aber nicht nur an der neuen Haushaltsmaschine selbst. Denn die seit Ende 1905 gemachten Erfahrungen mündeten in ein neues Unternehmen. Die Heinzelmännchen-Compagnie, Vertrieb selbsttätiger Koch- und Backapparate GmbH wurde am 17. April 1906 in das Handelsregister eingetragen, der Gesellschaftervertrag war bereits am 1. März unterzeichnet worden. Otto Ritter hatte in der Zwischenzeit Aletters Patent und das Gebrauchsmuster Heinzelmännchen erworben – und brachte diese in die neue GmbH mit ein (Patentblatt 20, 1906, 1055; DRA 1906, Nr. 94 v. 21. April, 11). Seine Stammeinlage betrug 15.000 M des Stammkapitals von 25.000 M (resp. 20.000 M n. BT 1906, Nr. 197 v. 19. April, 5), er agierte zugleich als Geschäftsführer (Berliner Adreßbuch 1907, T. I, 848). Der erste Firmensitz lag in der Berliner Krausenstraße 35/36, just unterhalb der Leipziger Straße, 500 Meter von Raddatz entfernt (Berliner Adreßbuch 1907, T. IV, 191). Seit 1908 residierte die Heinzelmännchen Compagnie dann in der Moabiter Heidestraße 52, gegenüber dem Invalidenfriedhof.

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Heinzelmännchen voran: Markenrechte und erste Anzeigen (Warenzeichenblatt 13, 1906, 1645 (l.); Berliner Tageblatt 1906, Nr. 385 v. 1. August, 12)

Bereits bestehende Auslandspatente wurden auf die neue GmbH übertragen, weitere in Frankreich (1906), Großbritannien (1906), USA (1906) und Österreich (1907) eingetragen (Witt, 1908, 567). Die Auslandsrepräsentation übernahmen die auch für Raddatz tätigen Gebrüder Riedel, Spezialisten in der Haushaltswarenbranche (Blom’s Engros- und Export-Adressbuch von Berlin und Vororten 3, 1907/08, 38). Die neue Firma hatte zudem schon kurz vor der Eintragung ein neues Warenzeichen beantragt – zwei Heinzelmännchen um eine heiße Kochkiste Heinzelmännchen –, das ab August auch genutzt werden konnte (DRA 1906, Nr. 209 v. 4. September, 8). „Heinzelmännchen“ wurde auch als Wortzeichen geschützt, allerdings nur für Haus- und Küchengeräte, Koch- und Back-Kisten (Warenzeichenblatt 13, 1906, 1645). Die operative Arbeit übertrug Ritter erst Wilhelm Moch, dann dem langjährigen Geschäftsführer Karl Holz (Berliner Adreßbuch 1908, T. I, 913; Berliner Börsen-Zeitung 1909, Nr. 106 v. 4. März, 30). Die Arbeit konnte beginnen, lediglich das Wortzeichen wurde nach kurzer Zeit noch erweitert (DRA 1909, Nr. 279 v. 26. November, 15).

Vermarktung eines Küchenwunders

Wie vermarktet man ein neues Haushaltsprodukt? Der Name Heinzelmännchen ließ träumen, doch vor dem Verkauf war Überzeugungsarbeit zu leisten. Es galt dabei rationale Argumente und eine gleichsam wundersame Arbeitserleichterung zu verbinden. Die Heinzelmännchen GmbH konnte auf der breiten, seit 1901 laufenden Kochkistenpropagierung aufbauen. Doch ihr Heinzelmännchen konnte mehr als eine simple Heukiste, erreichte es durch die integrierten Steine doch weit höhere Temperaturen. Kochen, aber auch Backen und Braten waren so möglich. Die neue Kochkiste ersparte Zubereitungs- und Aufsichtszeit, ebenso Brennmaterial. Sie war zudem mobil, konnte gefüllt mit zur Arbeit genommen werden, ersparte der Hausfrau eventuell den mittäglichen Gang zur Arbeitsstätte des Mannes, um diesen mit einem warmen Mahl zu versorgen. Angesichts des recht hohen Grundpreises von mehr als zehn Mark – Arbeiter besaßen damals ein Familienjahreseinkommen von ca. 1.200 bis 1.600 M – war die Mobilität der Kiste eher für die Freizeitkultur gedacht: „‚Heinzelmännchen‘ ist auch bei Ausflügen unentbehrlich und bietet den Beteiligten an besonders reizend gelegenen Raststellen im Walde ein erwünschtes ‚Tischlein deck‘ dich!“ Ebenso unersetzlich ist ‚Heinzelmännchen‘ auf der Jagd, im Manöver und auf Badereisen“ (H[ermann] Aurich, Die Industrie am Finowkanal, Bd. II, Eberswalde 1906, 60).

Rationale Nutzenargumente führen jedoch nicht zwingend zum Kauf oder gar zu einer anderen Küchenpraxis. Das war die Quintessenz der schon im späten 19. Jahrhundert immer wieder gescheiterten Belehrung der Arbeiter und ihrer Frauen durch bürgerliche Sozialreformer. Neue Produkte, neue Verfahren mussten nicht nur verstanden, sondern auch erfahrbar gemacht werden. Frauenvereine boten daher seit Jahrzehnten Kochkurse an, ländliche Wanderhaushaltungsschulen wurden um die Jahrhundertwende vermehrt gegründet. Wichtiger noch war der Direktverkauf durch Vertreter und speziell geschulte Kräfte: Suppen- und Backpräparate wurden dadurch popularisiert, ebenso das Einwecken. Am Ende stand meist die Probe, die gemeinsame Verkostung; nicht immer erfolgreich, wie etwa bei dem in den 1880er Jahren propagierten Carne pura-Fleischpulver. Doch vielfach war sie Auslöser für den Kauf und den Einsatz im eigenen Haushalt. Die Heinzelmännchen GmbH nutzte und unterstützte zwei unterschiedliche Formen derartigen Direktabsatzes: Erstens die Präsentation durch Kochschulen und Hausfrauenvereine, teils auch auf lokalen hauswirtschaftlichen Ausstellungen, zweitens Vorführungen in größeren Fachgeschäften. Daneben trat drittens die übliche Anzeigenwerbung.

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Praktische Angebote: Kochschule für das Heinzelmännchen (Münchner Neueste Nachrichten 1910, Nr. 199 v. 28. April, General-Anzeiger, 10)

Die lokalen Kochschulen, ein früher Ort auch selbständiger Frauenarbeit, wandten sich in der Regel an ein kochkundiges Publikum, vielfach an Köchinnen. Die Ankündigungen waren knapp und präzise gehalten, wie etwa die folgenden Münchener Beispiele: „Fast ohne Feuer kann gekocht, gebraten u. gebacken werden. In dieser Kochart wird Unterricht erteilt“ (Münchner Neueste Nachrichten (= MNN) 1907, Nr. 485 v. 14. Oktober, General-Anzeiger, 3). So wurde Neugier erweckt, zugleich aber auf verwertbare praktische Kenntnisse verwiesen: „Es wird gelehrt, wie Suppenfleisch, Geräuchertes mit Erbsen, Reis, Dürrobst und Knödel in der Kochkiste gekocht, wie Kalbsschnitzerl und Irishstew gedünstet werden, wie Kuchen gebacken und Braten im Heinzelmännchen ohne Feuerung gebraten werden“ (MNN 1907, Nr. 60 v. 5. Februar, General-Anzeiger, 10). Denn schließlich kostete dieses Angebot Geld, 1,25 M für vier Nachmittagstermine. In München wurden solche Kurse von sozial motivierten bürgerlichen Frauenvereinen getragen, doch auch von selbstständigen Hauswirtschaftlerinnen. Besonders rührig war dabei Katharina Micheler, die zuvor für die Heinzelmännchen GmbH ein „Heinzelmännchen-Kochbuch“ zusammengestellt und sich auch durch weitere Arbeiten zur schnellen Küche einen Namen gemacht hatte. Die Kochkistenkochkurse waren 1906/07 offenbar gut besucht, „wegen des großen Andrangs“ gab es zusätzliche Angebote (MNN 1907, Nr. 87 v. 20. Februar, General-Anzeiger, 1; ebd., Nr. 465 v. 4. Oktober, General-Anzeiger, 8). Auch in den Folgejahren wurden sie weiter angeboten (Ebd. 1909, Nr. 32 v. 21. Januar, 4). Ausstellungen ergänzten sie, in München etwa die des Frauenvereins Arbeiterinnenheim. Sie waren häufig bürgerliches Ausflugsziel, bei denen auch „der Selbst-Koch-, Brat- und Backapparat ‚Heinzelmännchen‘ […] ‚in Tätigkeit‘ vorgeführt wurde“ (Münchner Neuste Nachrichten 1906, Nr. 580 v. 12. Dezember, General-Anzeiger, 10).

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Vorführung des Neuen: Der Handel übernimmt (Münchner Neueste Nachrichten 1907, Nr. 120 v. 12. März, 9)

Ausstellungen und Kochkurse konzentrierten sich auf das jeweils Neue, ihr Angebot variierte stärker als das des Fachhandels: In München wurden auch fünf Jahre nach der Markteinführung des Heinzelmännchens weiterhin Kurse angeboten, nun aber auch die Konkurrenzkisten „Oekonom“ und „Sanogrés“ vorgestellt (MNN 1911, Nr. 173 v. 12. April, General-Anzeiger, 1). Neben den Kochkursen standen aber von Beginn an praktische Vorführungen im Fachhandel. In München fanden sie in regional bedeutsamen Geschäften wie Eduard Rau, Albert & Lindner, J.B. Däntl oder F. & R. Ehrlicher statt. Sie waren häufig mit Verkostungen verbunden. Blicken wir etwa nach Dortmund, wo sich „ca. 200 Hausfrauen aus allen Kreisen“ im Hause A.E. Decker eingefunden hatten: „Der erste Triumph war ein Kuchen. Vor den Augen der Zuschauer angerührt, dann kalt in die Backkiste gestellt, präsentierte sich derselbe pünktlich nach einer Stunde den Zuschauern fix und fertig als wohlschmeckende. Als zweites wurde ein 2 Pfund Schweinebraten in 1½ Stunden zart und gar gebraten und bot in seiner frischen braunen Farbe einen prächtigen Anblick. Dann brachte man noch eine Portion Reis zum kochen und wurde auch dieser wohlschmeckend zum Schluß verzehrt. Infolge dieses großen Erfolges waren sämtliche Damen enthusiasmiert und hielten es für kaum glaublich, daß die Heinzelmännchen-Kiste so etwas fertig brächte“ (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 95 v. 24. April, 9). Das war natürlich Werbeberichterstattung, zeigte aber doch den Lockreiz des Neuen, den Erlebnischarakter des Einkaufs. „Zutritt frei!“ hieß es in einzelne Annoncen, die Nähe von Schaustellerei und Verkauf war offenkundig (Hamburger Nachrichten 1907, Nr. 262 v. 16. April, 4).

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Präsentation des Heinzelmännchens in Berlins führendem Haushaltswarengeschäft P. Raddatz (Berliner Tageblatt 1906, Nr. 502 v. 3. Oktober, 22)

Zentrum des Absatzes blieb allerdings Berlin, wo P. Raddatz & Co. regelmäßig und über einen Zeitraum von zwanzig Jahren Heinzelmännchen präsentierte. Auch in Berlin fanden die Präsentationen anfangs vornehmlich im Fachhandel statt, in zentral gelegenen Haushaltswarengeschäften wie F.A. Schumann, C.F.W. Lademann (BT 1906, Nr. 593, v. 12. November, 34; ebd. 1907, Nr. 48 v. 27. Januar, 12), aber auch in den Vororten (Friedenauer Lokal-Anzeiger 1907, Nr. 292 v. 12. Dezember, 2). Nach einigen Jahren wurde die Kochkiste Heinzelmännchen dann auch regelmäßig in den großen Warenhäusern vorgeführt, etwa bei Hermann Tietz, Wertheim oder dem kurzlebigen Passage-Kaufhaus. Entsprechende Absatzstrukturen bestanden in den Großstädten des gesamten Deutschen Reiches (Badische Presse 1907, Nr. 103 v. 2. März, 3; Dresdner Nachrichten 1907, Nr. 112 v. 28. April, 18; Hamburger Nachrichten 1907, Nr. 262 v. 16. April, 4), wenngleich mit geringerer Werbepräsenz. Hinzu trat der Versandhandel. Die Heinzelmännchen GmbH stellte ihr Angebot in kostenlos versandten Preislisten vor, lieferte die gewünschten Kochkisten dann per Nachnahme.

Kochkurse und Ausstellungen sowie Produktvorführungen und Probeessen wurden umkränzt von direkt geschalteter Anzeigenwerbung. Sie erfolgte vor allen in Tageszeitungen, weniger in den bei Markenartikeln sonst üblichen Illustrierten und Zeitschriften. Die Heinzelmännchen GmbH setzte bei den seit Sommer 1906 geschalteten Anzeigen erst einmal auf das eigene Warenzeichen. Die kleinen Helfer sorgen für Aufmerksamkeit, wurden ergänzt durch groß tönende Anpreisungen. Abnehmer konnten das Motiv auch als Klischee in ihre eigenen Annoncen einbinden.

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Das Warenzeichen in eigenen Anzeigen und als Klischeewerbung eines Fachgeschäftes (Münchner Neueste Nachrichten 1906, Nr. 551 v. 25. November, 10 (l.); Berliner Tageblatt 1908, Nr. 168 v. 1. April, 11)

Das Heinzelmännchenmotiv trat jedoch nach ein, zwei Jahren zunehmend zurück. Als Erkennungszeichen war es weiterhin wichtig, doch die wundersame Wirkung lag in der Kiste selbst. Die Modernität der Kochmaschine und die traditionelle Figur des Küchenkobolds standen in gewisser Spannung zueinander.

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Das Produkt rückt in den Mittelpunkt der Werbung (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 41 v. 17. Februar, 4 (l.); Altonaer Nachrichten 1909, Nr. 481 v. 14. Oktober, 4)

Die Heinzelmännchen GmbH versorgte ihre Abnehmer daher mit Vorlagen für einfache resp. doppelte Kochkisten, die dann von den Händlern in Eigenregie verwandt wurden. In der eigenen Werbung aber wurde nicht allein der Nutzen der Kochkiste hervorgehoben. Im Markt etabliert, sehr wahrscheinlich die erfolgreichste Markenkochkiste dieser Zeit, wurde das Heinzelmännchen nun auch mit Beziehungsaspekten aufgeladen. Es erschien als ein großzügiges Geschenk des Bürgers an seine Frau. Deren haushälterische Sorge war immer auch Ausdruck ihrer Liebe, nun konnte sich der Ehemann mit einem praktischen Präsent revanchieren.

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Freude für die Hausfrau, Absolution für den Mann (Berliner Tageblatt 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12)

Hinzu traten vermehrt saisonale Anzeigen. Zu Weihnachten bewarb man die Kochkisten intensiv, die Pflicht zum Geschenk und der Liebeserweis durch das Geschenk bildeten eine kommerziell einfach nutzbare Beziehung (MNN 1907, Nr. 565 v. 3. Dezember, General-Anzeiger, 12; ebd. 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12). Auch Ostern geriet in diesen Fokus, die Backmöglichkeit erlaubte dies (BT 1907, Nr. 145a v. 21. März, 6). Schließlich wurden auch Anzeigen mit saisonalem Bezug geschaltet; im Sommer nahm man etwa die Hitze als Anlass, um die Hausfrauen dank der Kiste nicht der zusätzlichen Hitze am Herd auszusetzen (BT 1908, Nr. 279 v. 3. Juni, 16). Anders als in der Geheimmittelwerbung nutzte man keine Empfehlungsschreiben, verwies einzig auf bestehende Anerkennungen. Man glaubte offenbar an das eigene Produkt.

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Nützliche Weihnachtsgeschenke: Weihnachtsgeschenk Kochkiste (Berliner Tageblatt 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12)

All dies dokumentiert eine stete Interaktion mit dem im Absatz sichtbaren „Markt“. Die Heinzelmännchen GmbH ging auf Kundenwünsche ansatzweise ein, Beispiel hierfür war eine abgespeckte, aber besser transportable Variante, die als Reiseutensil für nur 8 M verkauft wurde (BT 1908, Nr. 320 v. 26. Juni, 17). Auch Schnäppchen waren möglich, die an sich preisgebundene Kochkiste gab es bei Ausverkäufen mit Rabatt (BT 1910, Nr. 8 v. 6. Januar, 24).

Die Kochkiste Heinzelmännchen im Wettbewerb

Der analytische Blick auf die Kochkiste liefert natürlich nur einen Teil der Unternehmensgeschichte der Heinzelmännchen Compagnie. Verlässliche Angaben über Umsätze und Beschäftigte der Heinzelmännchen GmbH fehlen. Indirekte Schlüsse sind jedoch durch den Vergleich der in den Anzeigen gemachten Angaben möglich. Demnach waren Ende 1909 über 25.000 Apparate im Gebrauch (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1909, Nr. 7076 v. 12. Dezember, 9; BT 1909, Nr. 644 v. 20. Dezember, 12). Diese Zahl stieg binnen Jahresfrist auf über 30.000 Ende 1910 und über 40.000 Ende 1911 (BT 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12; MNN 1911, Nr. 556 v. 28. November, 8). In den nächsten zwei Jahren wurden weitere 10.000 Kochkisten Heinzelmännchen abgesetzt (MNN 1913, Nr. 565 v. 5. November, 7). Diese recht stete Absatzbewegung von ca. 5.000 Geräten pro Jahr beschleunigte sich während und durch den Weltkrieg. Im Frühjahr 1915 waren nach Firmenangaben über 80.000 Apparate im Gebrauch, Mitte des Jahres dürfte die Marge von 100.000 verkauften Geräten überschritten worden sein (MNN 1915, Nr. 136 v. 16. März, 6; BT 1915, Nr. 312 v. 21. Mai, 6).

Markenartikel besaßen während des Kaiserreichs vielfach konstante Preise, doch beim Heinzelmännchen galt dies nicht. Die einfache Grundkiste kostete Ende 1905 10,50 M, 1910 dagegen 14 M, 1912 gar 16 M (BT 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12; ebd. 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12; ebd. 1913, Nr. 252 v. 21. Mai, 12). Diese Preissteigerung setzte sich zu Beginn des Krieges recht kontinuierlich fort: 1915 lag der Grundpreis bei 18,50 M, Anfang 1916 bei 19,50 M, am Ende dann bei 22 M (BT 1915, Nr. 136 v. 15. März, 8; ebd. 1916, Nr. 142 v. 17. März, 6; ebd. Nr. 637 v. 14. Dezember, 6). Zu beachten ist, dass parallel auch die Preisspreizung zunahm. In München gab es 1907 Heinzelmännchen Kochkisten in sechs Ausführungen zu 14, 16, 18, 24, 27 und 30 M (BT 1907, Nr. 163 v. 31. März, 33), die Palette des Passage-Kaufhauses rangierte 1909 von 7,25 und 8,50 für die Sondervariante über 14, 18, 20 bis hin zu 28 und 31 M (BT 1909, Nr. 346 v. 11. Juli, 48). Im Sommer 1915 variierten die nur noch drei Einzelkistentypen zwischen 18,50 und 23,50 M, die Doppelkisten kosteten dagegen 36,75 resp. 40,50 M (BT 1915, Nr. 427 v. 22. August, 7). Die Einnahmen der Heinzelmännchen GmbH dürften daher tendenziell gestiegen sein, vielleicht auch die Gewinne. Durch diese für einen Qualitätsführer nicht unübliche Preispolitik verschloss man sich jedoch Märkte abseits des bürgerlichen Publikums. In der wichtigsten Frauenzeitschrift der SPD hieß es entsprechend: „Die sogenannten Heinzelmännchen-Kochkisten gehören bekanntlich zu den besten Selbstkochern, die zurzeit im Handel sind. Leider sind sie zu teuer, als daß ihre Anschaffung im bescheidenen proletarischen Haushalt allgemein möglich wäre“ (Die Gleichheit 1915, Für unsere Mütter und Hausfrauen, Nr. 2, 7). Stattdessen empfahl man Selbstzimmerei und den Kauf gängiger, 1,10 bis 1,60 M teurer Schamotteplatten.

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Qualitätsführerschaft in der Werbung (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 13, 1913, III)

Diese Preispolitik erfolgte angesichts eines enorm heterogenen Marktes mit zahllosen Markenkochkisten, deren hohe Preise durch selbstgezimmerte Kisten unterboten wurden (vgl. den Überblick bei Witt, 1908). In einem der vielen Spezialkochbücher hieß es kurz vor dem Weltkrieg: „In allen Preislagen gibt es die verschiedensten Arten von ein- und mehrteiligen Kisten: leer, ausgepolstert, mit Isolierschicht und Blech ausgeschlagen, Selbstkocher in zylindrischer Form für 1-3 verschieden große Töpfe, Hartpapierkochkisten u.a.m. Namen wie: Küchenfee, Hausfreund, Phänomenal, Ideal u.a.m. reizen zum Kaufe an. Verschiedene Apparate sind auch für Backen eingerichtet. So das Heinzelmännchen der Firma Raddatz und Co., Berlin [sic!], der Freiburger zylindrische Apparat Ökonom u.a.“ (Marta Back, Die Kochkiste. Anleitung zur Herstellung und Verwertung nebst Kochvorschriften und einer Zusammenstellung von Gerichten, Leipzig o.J. [1913], 12).

Die meisten Anbieter scheiterten daran, überregionale Vertriebsnetze aufzubauen, kompensierten dies mit dem immer möglichen Versand gegen Nachnahme. Das Heinzelmännchen war anfangs technologischer Pionier, doch kurz vor dem Ersten Weltkrieg gab es zahlreiche ähnliche, vielfach preiswertere Angebote. Auch neue Technik wurden eingesetzt, anstelle der Schamottesteine verwandte die Kochkiste Oekonom Eisenplatten, die höhere Temperaturen ermöglichten, die Wärme allerdings auch früher abgaben (Wärme und Licht im Kriegswinter. II., MNN 1915, Nr. 607 v. 27. November, General-Anzeiger, 1; Franz Schacht, Die beste Kochkiste, Praktische Ratschläge für Haus und Hof 19, 1920, H. 3, 9-10).

Die Heinzelmännchen GmbH reagierte darauf einerseits mit Innovationen. Sie entwickelte eine Kochkiste mit elektrischer Heizung, die zwar „großes Interesse“ (Die erste Ausstellung der Geschäftsstelle für Elektrizitätsverwertung, Elektrotechnische Zeitschrift 32, 1911, 372) weckte, sich jedoch nicht etablieren konnte. Parallel verbesserte man die innere Struktur der Kochkiste. 1913 erhielt sie gleich vier neue Patente, für einen neuen Herdeinsatz der Steine, neue Anordnungen im Inneren der Kiste, neue Formen der Wärmeübertragung sowie neue Wärmespeicher (DRA 1913, Nr. 194 v. 18. August, 10; ebd. Nr. 218 v. 15. September, 13). Kritik am Durchrosten der Weißbleche griff man auf, verwandte Aluminiumeinsätze und bot Umrüstungen älterer Kisten an. Das Produkt wurde also verändert, auch wenn der Name gleich blieb.

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Blech versus Aluminium: Kochkistenverbesserung durch Reparatur (Berliner Tageblatt 1911, Nr. 334 v. 7. Juli, 30)

Das lag auch an den Tücken der eigenen Werbung. Die Qualitätsführerschaft wurde mit Begriffen wie dem einer „bewährten Kochkiste“ (BT 1914, Nr. 129 v. 12. März, 30) unterstrichen, bewarb das Heinzelmännchen als die „Uridee aller ähnlichen Apparate“ (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 120 v. 25. Mai, 7). Das erschwerte eine auf technische Innovation ausgerichtete Werbesprache. Anderseits änderte die Firma kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre Kundinnenansprache. Die Kochkiste wurde nun als „vollständigen Ersatz für den bisher üblichen Kochherd“ angepriesen, ferner behauptet, dass die Speisen aufgrund der kompakten indirekten Heizung einen besonders hohen Nährwert und Wohlgeschmack besäßen (Rosenheimer Anzeiger 1913, Nr. 292 v. 18. Dezember, 4). Während der Herd russig und klobig war, stand das Heinzelmännchen bereits für die weiße, reine Küche, die in der Zwischenkriegszeit zum Ideal werden sollte: „Nicht nur von außen elegant und einladend, auch von innen sieht er sich blitzblank an“ (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 121 v. 25. Mai, 3). Die Kochkiste war nützlich, gewiss, ersparte Brennmaterial und Zeit. Doch zugleich erlaubte sie die „Befreiung der Frau von den Mühsalen des täglichen Kochens“, ermöglichte nicht nur emsiges Weiterschaffen, sondern auch geistige und körperliche Erholung (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 122 v. 26. Mai, 6). Auch wenn der provokante Slogan „Die moderne Frau kocht nicht mehr“ in der Anzeige unterbrochen und umgebogen wurde, so verkörperte die Kochkiste schon vor dem Ersten Weltkrieg Rationalisierungs- und Emanzipationsideale, die erst in den 1920er Jahren allseitigen Widerhall fanden.

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Neudefinition der Hausarbeit (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 122 v. 26. Mai, 8)

Der Heinzelmännchen GmbH konsolidierte dadurch ihre Marktstellung, behauptete zugleich ihre Qualitätsführerschaft. Das war ein beträchtlicher Erfolg, denn die 1901 einsetzende Euphorie über die Kochkisten war ein Jahrzehnt später längst abgeebbt. Man „hat kein rechtes Vertrauen in die Sache gehabt“, hieß es selbstkritisch (R. Fabri de Fabris, Kleine Bilder aus großer Zeit. Die Kochkiste und anderes, Aachener Anzeiger 1915, Nr. 125 v. 30. Mai, 14): „Verlockend in ihrer blanken Frische und Neuheit schaut sie uns aus den Schaufenstern an; und in manchen Häusern begegnet man ihr und ihren billigeren Nachahmungen. In den Beratungsstellen des Nationalen Frauendienstes wurde sie unzählige Male vorgeführt; jede Frau interessierte sich für sie, jede lauschte aufmerksam, wenn man ihre Vorzüge pries, aber so recht durchzusetzen hat sie sich trotz ihrer unleugbaren Vorteile bei uns nicht vermocht“ (Die vier Heinzelmännchen in Hannoverschen Küchen, Hannoversche Hausfrau 13, 1915/16, Nr. 6, 1).

Parallel gelang es der Heinzelmännchen GmbH auch nicht, ihren Markenbegriff so zu etablieren, dass seine Nennung eindeutige Produktassoziationen mit sich brachte. Mercedes ist das um diese Zeit gelungen, denn darunter verstand man immer mehr ein Vorzeigeauto, einen kräftigen Lastwagen – während die gleichnamigen Schreibmaschinen, Schuhe, Zigaretten oder Rechenmaschinen in Nischen zurückgedrängt wurden. Dem Mercedes der Kochkisten gelang dies nicht. Die Legende der Kölner Heinzelmännchen blieb zu stark. Doch zugleich nutzten weiterhin andere Anbieter den Mythos der kleinen Helfer. Der Fensterfeststeller „Heinzelmännchen“ kam 1907 auf den Markt, gefolgt von einer gleichnamigen Möbelpolitur, einem Rasenmäher oder einem Sohlenschoner (DRA 1907, Nr. 144 v. 18. Juni, 12; 1912, Nr. 37, 14; ebd., Nr. 122 v. 22. Mai, 1; ebd. 1914, Nr. 30 v. 4. Februar, 13). Die Kochkiste Heinzelmännchen mochte zwar verbessert worden sein und sich im Markte weiter gut behaupten, doch die Unternehmensleitung vermochte ihrem Produkt kein Alleinstellungsmerkmal zu verleihen. Heinzelmännchen entwickelte sich im Gegenteil eher zu einem kaum definierbaren Gattungsbegriff.

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Heinzelmännchen als Gattungsbegriff für moderne Küchengeräte (Daheim 48, 1912, Nr. 26, 31)

Der Weltkrieg als neue Chance sparsamen Wirtschaftens

Der Weltkrieg veränderte derartige Überlegungen tiefgreifend. Einerseits führte er die Debatte um die Kochkiste wieder auf die Anfangszeit von 1901 zurück, denn nun wurden gerade einfachere Geräte wieder breit propagiert: „Nun kann man in der mit Heu oder Holzwolle gefüllten Kochkiste fast ebenso gut und schnell kochen wie in dem teuren Heinzelmännchen-Apparat“ (Die verbesserte Kochkiste, Die Gleichheit 1915/16, Für unsere Mütter und Hausfrauen, 7). Anderseits aber war Sparsamkeit seither mehr als eine Tugend, wurde mit fortschreitender Kriegsdauer ein Zwang auch für bürgerliche Haushalte.

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Das Heinzelmännchen als Hilfsmittel der sparsamen Hausfrau (Die Deutsche Frau 1, 1911, Nr. 47, 11)

Sparsames Wirtschaften war bereits vor dem Krieg ein zentrales Element der Werbung für das Heinzelmännchen (BT 1913, Nr. 550 v. 19. Oktober, 27). Dieses Mantra wurde weiter genutzt: „Unerreicht praktisch ist die Heinzelmännchen-Kochkiste durch bedeutende Ersparnis an Feuerungsmaterial und an Zeit“ (Ebd. 1914, Nr. 644 v. 19. Dezember, 12). Damit lag man im Trend, denn all das geschah nun für das Vaterland, für die Selbstbehauptung der kämpfenden, sich von einer Welt von Feinden eingekreist fühlenden Nation. Und in der Tat schnitt die völkerrechtswidrige britische Seeblockade die Deutschen von kaum ersetzbaren Nahrungs- und Futtermittelimporten ab. Die Frauenvereine und Militärbefehlshaber intensivierten die Haushaltsberatung, Kochkisten bildeten eine wichtige Waffe der Heimatfront. Im nationalen Überschwang führte dies auch zu vielfältig irrationalem Verhalten, wie man etwa an der Propagierung des vermeintlich nährstoffsparenden Fletscherns gut studieren kann. Auch die Heinzelmännchen GmbH behauptete verkaufsfördernd und wahrheitswidrig: „Die Speisen sind weit nahrhafter und ergiebiger, wie auf dem Herde zubereitete Gerichte“ (Militär-Wochenblatt 100, 1915, Anzeiger, 77). Doch die Kernargumente ihrer Werbung trafen zu, denn Brennmaterial konnte mit Hilfe des Heinzelmännchens durchaus gespart werden – im Herbst und Winter allerdings auf Kosten der Heizungswärme. Die Werbung hob zudem hervor, dass aufgrund des kaum möglichen Anbrennens der Speisen die Nahrung fast vollständig genutzt werden konnte (MNN 1915, Nr. 240 v. 12. Mai, 5).

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Hervorhebung der Vorteile, kontinuierliche Erhöhung der Preise (Haus Hof Garten 37, 1915, 231 (l.), Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 170 v. 2. April, 10)

Die Kochkiste Heinzelmännchen galt als „ein Spargeist“ (General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1915, Nr. 105 v. 6. Mai, 13). Ihr Kauf war Dienst an der Nation und würde sich angesichts der rasch steigenden Preise für Nahrung und Brennmaterialien gewiss ebenso rasch amortisieren. Das Heinzelmännchen war deutsche Wertarbeit, sein Geld wert, nicht „zu verwechseln mit wertlosen Nachahmungen“ (MNN 1917, Nr. 579 v. 15. November, 4). Entsprechend war es steter Bestandteil von Fachgeschäften und insbesondere den führenden Warenhäusern (Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 177 v. 8. April, 9; BT 1916, Nr. 493 v. 26. September).

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Die Kochkiste Heinzelmännchen als Kriegshelfer (Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 514 v. 9. Oktober, 3)

Die gerade zu Beginn des Krieges beträchtlich wachsende Nachfrage führte aber auch zu massiven Preissteigerungen. Der Preisabstand zwischen gängiger Tischlerware und dem Premiumprodukt stieg massiv an: Im Warenhaus Tietz wurden im Frühjahr 1918 einfache Kochkisten für 12,50 oder 20 M angeboten, dagegen kostete die Kochkiste Heinzelmännchen zwischen 53 und 111 M (Vorwärts 1918, Nr. 142 v. 26. Mai, 7). Die Heinzelmännchen GmbH verwies auf imaginäre Einsparungen von 70 bis 80 % Gas, sprach von der „altbewährten Heinzelmännchen-Kochkiste“ (Leipziger Tageblatt 1918, Nr. 113 v. 3. März, 24) als „Köchin ohne Lohn und Kost“ (MNN 1918, Nr. 94 v. 21. Februar, 4). Doch ist fraglich ob dies bei der Mehrzahl auch der bürgerlichen Kunden weiter verfing, zumal das Braten und Backen mangels Fett und Fleisch zunehmend in den Hintergrund trat. Viele Angehörige der Mittelschichten, insbesondere Rentner, wurden spätestens seit dem Hungerwinter 1916/17 in Mittelstandsküchen beköstigt, fielen als Käufer damit aus. Parallel gewannen sog. Kriegskochkisten an Bedeutung, „die, teils aus dem billigsten Material hergestellt, nur während der Kriegsdauer aushalten sollten, teils deswegen billig sein mußten, um bei kleinen Leuten Verwendung zu finden. Man ging sogar auf die Selbstanfertigung der Kochkiste und die Unterrichtung hierin zurück“ (Schacht, 1920, 9). Parallel aber entstand eine wachsende Palette weniger aufwändiger Kochhauben, -beutel und -glocken. Sie nutzten die gleichen physikalischen Grundprinzipien, waren aber deutlich preiswerter.

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Kriegsbedingte Alternative zur Kochkiste: Beispiel einer Kochglocke (Berliner Volks-Zeitung 1917, Nr. 541 v. 23. Oktober, 4)

Trotz dieser sich verschlechternden Rahmenbedingungen war die Heinzelmännchen GmbH zu dieser Zeit hochprofitabel. Dennoch entschieden sich die Verantwortlichem zu einer Umwandlung in eine andere Rechtsform. Anfang Januar 1916 wurde die Heinzelmännchen GmbH aufgelöst und binnen weniger Monate liquidiert (DRA 1916, Nr. 20 v. 25. Januar, 8; Berliner Börsen-Zeitung 1917, Nr. 116 v. 9. März, 21). Parallel gründete man im Januar 1916 die Heinzelmännchen Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 100.000 M (BT 1916, Nr. 27 v. 15. Januar, 8). Die Patente und Warenzeichen wurden übertragen, doch bei der im Oktober erfolgten Erhöhung des Grundkapitals auf 300.000 M knirschte es gewaltig. Otto Ritter trat kurzfristig zurück, konnte sich dann aber durchsetzen (Details in DRA 1917, Nr. 151 v. 28. Juni, 10; ebd., Nr. 238 v. 6. Oktober, 6; ebd., Nr. 260 v. 1. November, 4; ebd., Nr. 272 v. 15. November, 9; ebd., Nr. 290 v. 7. Dezember, 7).

29_Deutscher Reichsanzeiger_1918_01_31_Nr027_p19_Heinzelmaennchen_Kochkiste_Warenzeichen_Zwerge_Berlin_b

Ein altes neues Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 27 v. 31. Januar, 19)

Die Umstellung stärkte die Kapitalbasis des Unternehmens, wappnete es dadurch für neue Investitionen und die offenkundigen Marktprobleme. In der Bilanz war davon jedoch kaum etwas zu verspüren: 1916 schüttete die neue Aktiengesellschaft eine Dividende von 25 Prozent aus, 1917 waren es 15 Prozent. Der Gewinn lag 1916 bei 48.672 M und konnte 1917 auf 78.713 M gesteigert werden. Das Kassa- und Bankkonto war 1917 mit 157.924 M gut gefüllt (DRA 1918, Nr. 156 v. 5. Juli, 6; Berliner Börsen-Zeitung 1918, Nr. 311 v. 6. Juli, 10).

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Ausdifferenzierung des Angebotes: Preiswertere Heinzelmännchen Kochglocke (Berliner Tageblatt 1916, Nr. 90 v. 18. Februar, 6 (l.); ebd. 1916, Nr. 154 v. 24. März, 8)

Die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft begünstigte die Einführung und Vermarktung einer neuen Heinzelmännchen Kochglocke, die auch als „Wunderglocke“ vermarktet wurde. Sie wurde bereits Ende 1915 von der Heinzelmännchen GmbH eingeführt und kostete je nach Ausstattung 4, 5 resp. 6 M (BT 1915, Nr. 626 v. 8. Dezember, 12; ebd. 1916, Nr. 43 v. 24. Januar, 6; ebd. 1916, Nr. 281 v. 8. April, 11). Die Werbung gründete auf dem Qualitätsimage der Heinzelmännchen Kochkisten, hob daneben aber Preis und Sparsamkeit hervor: „Original-Heinzelmännchen-Kochglocken bedeutend billiger als Heinzelmännchen-Kochkisten, glänzend begutachtet, Gas und Kohlen ersparend“ (MNN 1917, Nr. 214 v. 29. April, 9).

Die Kochglocke war eine von vielen neuen Hilfs- und Ersatzmitteln, mit denen Fett und Brennmaterial gespart werden sollte. Parallel kamen Grillpfannen mit Drahtaufsätzen auf, die von P. Raddatz, F.A. Schumann oder auch Warenhäusern angeboten wurden. Typisch war etwa eine kurzfristig intensiv beworbene Heissluftpfanne, die nur 1,60 M kostete und mit der man fettlos braten können sollte (BT 1916, Nr. 266 v. 25. Mai, 11). Auch Wilhelm Aletter, der „Erfinder“ der Kochkiste Heinzelmännchen, hatte im Dezember 1915 Pfannen-Patente erhalten (DRA 1915, Nr. 287 v. 6. Dezember, 10), die dann als OBU-Rostpfanne (Abkürzung für ohne Butter) vermarktet wurden (Eine neue Rostpfanne, Die Umschau 20, 1916, 580). Beide Produkte wurden jedoch nicht von der Heinzelmännchen GmbH resp. AG vertrieben. Aletters Vorwort für Hedwig Heyls (1850-1934) Werbebroschüre erinnerte zwar an seine „Erfindung“ der Kochkiste (Bratbüchlein für Rost- und Pfannengerichte zum Braten auf der ges. gesch. Rostpfanne „OBU“, Berlin 1917), doch OBU wurde von anderen Produzenten hergestellt. Karl Kraus (1874-1936) hat diese Vermengung anschließend allerdings sprachgewaltig in die Welt getragen (Es ist alles da, Die Fackel 18, 1917, Nr. 445-453, 54-56).

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Lieferschwierigkeiten und ein Blick auf die unterschiedlichen Topfgrößen (Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 165 v. 2. April, 6)

Zurück zu den Kochglocken. Sie waren offenkundig kein Erfolg. Sie verschwanden rasch vom Markte, ohne dass dafür belastbare Gründe bekannt wären. Für die Heinzelmännchen AG wohl noch gravierender waren massive Lieferschwierigkeiten. Aluminium wurde schon länger nicht mehr verbaut, Weißblech war kaum noch vorhanden, Buchenholz strikt kontingentiert. Dies dürfte den Absatz zur Jahreswende 1917/18 deutlich verringert haben. Erst ab März konnten Fachgeschäfte und Versandhändler wieder liefern (MNN 1918, Nr. 111 v. 3. März, General-Anzeiger, 8; ebd., Nr., 121 v. 7. März, 4). Auch danach blieben Lieferschwierigkeiten üblich (Ebd. 1919, Nr. 56 v. 2. Februar, 6).

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Friedenssehnsucht und Heinzelmännchen-Verkauf (Vorwärts 1918, Nr. 105 v. 17. April, 7)

Dennoch hatte die Heinzelmännchen AG genügend Finanzkraft, um eine Reihe neugestalteter Werbeanzeigen in Auftrag zu geben (Reclams Universum 1918/19, Nr. 11, s.p.). Hatten zuvor reine Textannoncen dominiert, so wurde nun wieder mit Heinzelmännchen und dem Hauptprodukt gespielt. Dies knüpfte an die Vorkriegszeit an – und es ist nicht verwunderlich, dass die Firma 1918 auch die Friedensehnsucht der Zivilbevölkerung zumindest verbal aufgriff.

Gas- und Kohlennot als Absatzchancen

Die Mangelsituation nach 1914 war für die Heinzelmännchen AG eine unternehmerische Chance. Das galt aber weniger wegen des nun anbrechenden Jahrzehntes der Ernährungskrise, als aufgrund des Brennstoffmangels. Erst fehlte Kohle, dann zunehmend auch das daraus hergestellten Gas. Brennstoffe verteuerten sich erheblich, wurden rationiert, waren teils nicht mehr erhältlich, Sperrstunden für Gas folgten. Holzdiebstahl wurde üblich, teils unausgesprochen geduldet. Die Kochkiste, nicht nur das Heinzelmännchen, wurden ab spätestens 1916 in lauten Tönen gepriesen: „Die Tugenden der Kochkiste sind noch niemals so ins helle Licht getreten wie heute. Wie man den wahren Freund erst in der Not erkennt, hat die Hausfrau sie jetzt als Helferin in allen Verengungen und Nöten einzuschätzen gelernt und die Kochkiste hat sich heute in den meisten Haushaltungen Hausrecht erworben oder erwirbt es sich“ (Wirtschaftsprobleme, Rhein- und Ruhrzeitung 1916, Nr. 432 v. 25. August, 3).

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Energiesparen aus Vaterlandsliebe und Eigeninteresse (Reclams Universum 34, 1917/18, Nr. 7, s.p.)

Es dauerte noch geraume Zeit, ehe sich die Haushalte auf die neue Lage einstellten: „Eine mit Beginn des Krieges einsetzende Werbetätigkeit für den Feuerung sparenden Gebrauch von Kochhilfsmitteln, wie Kochkiste, Kochbeutel, Heinzelmännchen usw., denen sich die fettsparende Bratpfanne und die Kochtüte anschlossen – Einrichtungen, die Trotz der Teuerung immer neue Anschaffungen erforderlich machten – wurde erst von Erfolg gekrönt, als der eherne Zwang der Not dahinterstand“ (Martha Voß-Zietz, Praktische Hauswirtschaft im Kriege, in: Goetz Briefs, dies. und Maria Stegemann-Runk, Die Hauswirtschaft im Kriege, Berlin 1917, 39-64, hier 59-60).

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Heinzelmännchen für die Energiekrise (Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 435 v. 29. August, 5)

Die Werbung griff diese Notlage immer wieder auf, appellierte sowohl an den Patriotismus der Kundschaft als auch an simple Nutzenerwägungen. Zugleich aber versuchte die Heinzelmännchen AG ihre Kochkisten vom Odium des Notbehelfs zu befreien, handele es sich dabei doch auch um „in Friedenszeiten nützliche Wirtschaftsgegenstände“ (Haus Hof Garten 39, 1917, 265). Nach Kriegsende war Gas in vielen Städten nur zu vorher festgesetzten Zeiten am Morgen und zu Mittag verfügbar. Langes Kochen war nicht mehr möglich: „Ohne Kochkiste gibt es kein gutes Mittagessen mehr und mit ihr werden die Hausfrauen die Gas- und Kohlenknappheit in der Küche nicht so schmerzlich empfinden“ (Gassperre und Kochstunden, Badische Post 1919, Nr. 246 v. 22. Oktober, 7). Es ist anzunehmen, dass dies den Absatz der Heinzelmännchen beförderte, doch weiterhin waren diese für viele Kunden zu teuer. Die Gas- und Kohlennot mündete zwar in eine breite Nutzung der Brennstoffsparer, doch davon profitierten vor allem billige, vielfach selbst gezimmerte Kisten.

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Heinzelmännchen als Universalpaket gegen Teuerung und Energieknappheit (Reclams Universum 36, 1920, H. 36, V (l.); Illustrirte Zeitung 157, 1921, Nr. 4057 v. 22. September, 249)

Die Brennstoffversorgung normalisierte sich erst 1921 wieder. Auch die Werbeaktivitäten der Heinzelmännchen AG verliefen nun wieder in Vorkriegsbahnen. Nicht nur bei P. Raddatz gab es neuerlich regelmäßige Präsentationen des Heinzelmännchens (BT 1921, Nr. 74 v. 14. Februar, 7; ebd., Nr. 121 v. 14. März, 8). Brennstoff sollte weiter gespart werden, doch neue alte Argumente tragen wieder hervor: „Den Haushalt vereinfachen, das Kochen einschränken. Das Heinzelmännchen, die Kochkiste, muß heran. Am Morgen setzt man den kochenden Topf hinein, am Abend nimmt man das fertige Gericht heraus. Die Hauptmahlzeit ist auf den Abend zu verlegen“ (Anna Plothow, Die zu Hause bleiben, Berliner Volks-Zeitung 1920, Nr. 298 v. 27. Juni, 5). Durchgesetzt hat sich das nicht. Und es ist ebenso unwahrscheinlich, dass die vermehrten Exportbestrebungen dieser Zeit (Das Echo 40, 1921, 3375) devisenträchtigen Erfolg hatten. Die vor dem Weltkrieg noch belieferten Kolonien – die Familie Raddatz besaß enge Verbindungen zu Deutsch-Ostafrika – waren schon längst weggebrochen (Briefe aus Damuka, Friedenauer Lokal-Anzeiger 1907, Nr. 133 v. 9. Juni, 5).

Niedergang während der Hyperinflation

1921 und 1922 waren für die Heinzelmännchen AG dennoch wirtschaftlich erfolgreiche Jahre. Die Dividende betrug 1921 8 Prozent, stieg aufgrund der galoppierenden Inflation 1922 gar auf 100 Prozent. Der Gewinn lag bei 61.918 resp. inflationsbedingten 818.188 M. Auch die Kassa- und Bankbestände explodierten von 176.678 auf 1,675 Mio. M (DRA 1922, Nr. 159 v. 21. Juli, 10; ebd. 1923, Nr. 255 v. 2. November, 4). Geld verlor langsam seine Ordnungs-, insbesondere aber seine Wertaufbewahrungsfunktion.

Die Heinzelmännchen AG war an sich für die Härten der Hyperinflation finanziell gut gewappnet. Otto Ritter und die Familie Müntzel waren weiterhin die bestimmenden Kräfte bei P. Raddatz. Nach dem Ausscheiden Fritz Müntzels übernahmen seine Nachfahren 1927 dessen Anteile (DRA 1927, Nr. 278 v. 29. November, 5). Ritter schied erst 1937 aus der Gesellschaft aus (Ebd. 1937, Nr. 5 v. 8. Januar, 7). Er hatte in der Zwischenzeit weitere unternehmerische Aktivitäten begonnen, etwa als Geschäftsführer der 1919 gegründeten Gesellschaft für Zellstoffveredelung oder als Miteigentümer der Max Kray & Co. Glasindustrie Schreiber AG (Berliner Handels-Register 57, 1921, Abt. B, 803; ebd. 67, 1931, Abt. B, 838). Dennoch brach während der Hyperinflation das Geschäft der Heinzelmännchen AG zusammen, wenngleich der Bankrott noch vermieden werden konnte. Nach der Währungskonsolidierung schrieb das Unternehmen 9.542 RM Verlust, weitete diesen 1925 auf 10.490 RM aus. Dividenden wurden keine mehr gezahlt, die Kassa- und Bankbestände lagen Ende 1925 bei ganzen 156 RM (DRA 1925, Nr. 248 v. 22. Oktober, 7; ebd. 1926, Nr. 171 v, 26. Juli, 10). Ende September gelang noch die Umstellung des Grundkapitals auf nunmehr 40.000 RM (Ebd. 1925, Nr. 262 v. 7. November, 10).

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Die Kochkiste Heinzelmännchen als Teil der modernen Küche (C.V.-Zeitung 3, 1924, 271)

Eine Geschäftsbelebung aber misslang. Die Heinzelmännchen AG musste ihre Werbeausgaben von 10.820 M 1921 über 24.489 M 1922 auf ganze 925 RM im Jahre 1924 reduzieren. Kochkisten wurden zwar weiterhin als Haushaltsmaschinen verwandt und empfohlen, waren Küchenbestandteil vieler Siedlungen des Neuen Bauens und auch der vor allem heute berühmten Frankfurter Küche. Doch ihre Defizite wurden von der nunmehr Bahn greifenden Vitaminforschung pointiert benannt. Das lange Kochen bei hohen Temperaturen zerstörte B- und C-Vitamine sicher. Für den Misserfolg entscheidend aber war der zu hohe Preis. Die Heinzelmännchen AG war anders als vor dem Weltkrieg nicht mehr in der Lage ihre Kochkisten zu verbessern. Andere Anbieter boten analoge Geräte zu günstigeren Preisen. Oder, um der mir unbekannten Hilde Koslowski das Wort zu erteilen: „Also: solche Kochkiste mußte ich haben. Nun mir etwa eine ‚Heinzelmännchen‘ einfach kaufen? Das litt mein Sinn für Sparsamkeit denn doch nicht“ (Wie ich statt zu einer Kochkiste zu einem Kochkorbe kam, Thüringer Imkerbote 7, 1927, 15).

Es folgte eine längere Abwicklung. Seit 1927 residierte das Einkaufsbüro der Heinzelmännchen AG in der Leipzigerstr. 122/123, am Stammsitz von P. Raddatz (Berliner Adreßbuch 1927, TI, 1208), wurde also nebenher betrieben, mochte der Firmensitz in Moabit auch weiterhin bestehen (Ebd., T. IV, 419). Zuvor konnten die Verluste auf 1926 1504 RM und 1927 201 RM verringert werden, doch 1928 steigen sie wieder auf 6574, 1929 auf 13.683 RM (DRA 1927, Nr. 115 v. 18. Mai., 4; ebd. 1928, Nr. 144 v. 22 Juni, 9; ebd. 1929, Nr. 225 v. 26. September, 11; ebd. 1930, Nr. 208 v. 6. September, 4). Zwar hatte man in der Zwischenzeit weiterhin Kochkisten verkauft, doch Gewinne waren nicht mehr zu erwarten. Die Heinzelmännchen AG wurde am 12. September 1929 aufgelöst, Otto Ritter betrieb die sich bis 1931 hinziehende Liquidation (DRA 1929, Nr. 226 v. 27. September, 5; ebd. 1929, Nr. 231 v. 3. Oktober, 7; Berliner Handels-Register 67, 1931, Abt. B, 780).

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Weiternutzung als Gebrauchtware (MNN 1925, Nr. 214 v. 4. August, , General-Anzeiger, 2 (l. oben), ebd. 1928, Nr. 102 v. 14. April, General-Anzeiger, 4 (l. unten); Westfälische Neueste Nachrichten 1933, Nr. 59 v. 10. März, 13 (Mitte unten); Westfälische Zeitung 1933, Nr. 124 v. 18. September, 8 (r. oben); Annener Zeitung 1941, Nr. 298 v. 19. Dezember 4)

Heinzelmännchen-Kochkisten wurden auch danach noch weiter gehandelt. Sie waren jetzt aber nur noch Teil des seit langem bestehenden Gebrauchtwarenhandels. Der Mercedes unter den Kochkisten bewahrte seinen Wiederverkaufswert bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein. Aus dem Alltag der vielen war das Heinzelmännchen damals aber schon längst verschwunden; allerdings nicht so jäh wie einst die Heinzelmännchen aus Köln.

Entkoppelung: Heinzelmännchens Emanzipation von der Kochkiste

Das lange Ende der Kochkiste Heinzelmännchen bedeutete das Ende einer aus der Mode gekommenen Haushaltsmaschine, die das Odium der Kriegsnot nicht abstreifen konnte, die mit neuen Narrativen wie Frisch– und Rohkost nur schwer zu verbinden war. Auch für die Heinzelmännchen war die Kochkiste nur eine Episode. Als imaginäre Helfer konnten sie sich nicht nur in der Musik und Literatur behaupten, sie gewannen in der Konsumsphäre sogar neue Bedeutung – wenngleich die neue Sachlichkeit eigentlich eine neue Produktsprache verlangte, etwa bei der 1927 erfolgten Umbenennung des von Dr. Thompson produzierten Waschmittels Heinzelmännchen in Ozonil (Dresdner Nachrichten 1927, Nr. 214 v. 8. Mai, 19; Arbeit, die sich von selbst erledigt!, Coburger Zeitung 1929, Nr. 204 v. 31. August, 4).

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Dr. Oetker-Werbung mit Heinzelmännchen (Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 340 v. 9. Dezember, 6)

Doch die Idee von Produkten, die wie die Kölner Helfer still und bedächtig im Hintergrund arbeiteten, blieb eine werbeträchtige Verheißung auch der vermeintlich goldenen 1920er Jahre. Schuhkrem (mit deutschem k) Heinzelmännchen versah noch bei Kriegsende seinen Ersatzdienst (BT 1918, Nr. 383 v. 29. Juli, 6), während das altbewährte US-Stärkeprodukt Mondamin nach der Überwindung der Hyperinflation zum „Heinzelmännchen im Teige“ agierte: „Es arbeitet verborgen und bringt den Teig zum Treiben, bis sich ein guter Kuchen ergibt“ (Berliner Volks-Zeitung 1924, Nr. 575 v. 4. Dezember, 8). Das ließ den Konkurrenten Dr. Oetker nicht ruhen. Das stets übernahmefreundliche Bielefelder Unternehmen pries die in „ihren“ Rezepten kondensierten Erfahrungen von Kochschule und Hausfrauen, mit deren Hilfe das Backen flugs von der Hand ging. Während in Anzeigen Dr. Oetkers die Heinzelmännchen speisenbewehrt aufmarschierten, nutzte man andernorts die traute Kölner Geschichte offensiv in der Backin-Werbung (Annener Zeitung 1929, Nr. 154 v. 8. November, 6).

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Heinzelmännchen im Haushalt (Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 318 v. 17. November, 6)

Abseits des schon um 1900 besetzten Terrains gewannen die immer wieder neu, immer wieder gleich gezeichneten Hausgeister weiter Terrain: Die seitdem rasch gestiegene Zahl der Putz- und Reinigungsmittel bildete eine Armee von Helfern, gewiss größer als die auf 115.000 Soldaten gedeckelte Reichswehr. In Berlin entstand die Steglitzer Teppichreinigung Heinzelmännchen, gleichnamige Putztücher, ein in München produzierter Metallreiniger oder ein entsprechendes Berliner Metallputztuch bildeten nur Vortrupps hygienisch agierender Saubermännchen (Friedenauer Lokal-Anzeiger 1918 v. 6. September, 4; Berliner Adreßbuch 1932, T. II, 457; MNN 1926, Nr. 238 v. 28. August, 12; Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 424 v. 8. September, 8).

Auch Dienstleistungen wurden im Vergleich mit 1900 nun häufiger mit Heinzelmännchenattributen versehen, zumal wenn sie Teil der surrenden Verkaufsmaschine Stadt waren. Bäcker konnten nach dem verlorenen Weltkrieg endlich wieder normal werkeln, „wieder waren freundliche Heinzelmännchen früh geschäftig, die leckeren Brötlein zu verfertigen, auf daß sie sich rechtzeitig auf dem Frühstückstisch einfänden.“ Doch die Rolle der boshaften Schneidersgattin übernahm nun die Obrigkeiten mit ihren restriktiven Vorgaben für das nächtliche Backen. Brötchen würden nicht verschwinden, doch müssten die Bäcker selbst die „freudig schaffenden Heinzelmännchen arbeitslos auf die Straße“ werfen (Das Rundstück. Ein Märchen aus verklungenen und aus neuen Tagen, Altonaer Nachrichten 1925, Nr. 253 v. 28. Oktober, 5). Derartige Schilderungen zeugten vom sich verändernden Arbeitsethos einer rationalisierten Arbeitsgesellschaft, in der man Heinzelmännchen nicht nur ahnend beschrieb, sondern sie zur Eigenbeschreibung nutzte, sich selbst also verzwergte. Das galt auch für andere Bereiche des Handwerks, dessen Technisierung zentrale Fertigkeiten an Maschinen delegierte, denn „die Maschinen, die Heinzelmännchen unserer Zeit, erwachen aus dem Schlaf und sie rühren und schlagen, kneten und schaffen“ (Beim Weihnachtsbäcker, Westfälische Zeitung 1927, Nr. 283 v. 3. Dezember, 5). Wichtiger noch wurde der Konsumentenblick: Heinzelmännchen praktizierten Dienst am Kunden, in den Kaufhäusern surrte es tagsüber wie einst im nächtlichen Köln: „Die Menschen brauchen überhaupt nichts zu tun. Die Heinzelmännchen bei Friedmann können sich richtig bewegen, sie backen das Brot in einer Backstube, sie nähen und bügeln beim Schneider, sie zapfen die Weinflaschen voll Wein beim Küfer, sie hauen die Kohlen im Bergwerk“ (Weihnachten in der Stadt, Volkswacht 1928, Nr. 293 v. 14. Dezember, 3). Die Kunden mussten nur zahlen.

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Bedeutungstransfer: Gas als Heinzelmännchen (Coburger Zeitung 1925, Nr. 58 v. 10. März, 4)

Das galt auch für neue technische Möglichkeiten, die eine zunehmend selbstverständliche Gas- und Elektrizitätsversorgung in der Zwischenkriegszeit eröffnete. Gasherde und Elektrogeräte erschienen als Heinzelmännchen. Sie würden die Fron der Alltagsarbeit durchbrechen, manches automatisieren, vieles leichter machen, Neuland erschließen. Das galt etwa für die Höhensonne Heinzelmännchen der Münchener Firma von Georg Heinzelmann, den gleichnamigen Berliner Staubsaugerverleih oder den in Bochum entwickelten und ebenso benannten elektrischen Waschkessel (MNN 1922, Nr. 454 v. 12. November, 9; BT 1924, Nr. 544 v. 15. November, 15; MNN 1924, Nr. 210 v. 4. August, 12). Abseits derartiger Einzelprodukte wurden in den späten 1920er Jahren Elektrogeräte zu Wiedergängern der alten Heinzelmännchen. In Amerika war ihr Wirken schon Alltag, Deutschland aber würde folgen (Die Heinzelmännchen der amerikanischen Hausfrau, Berliner Börsen-Zeitung 1926, Nr. 563 v. 3. Dezember, 14; C. Hermann, Elektrische Heinzelmännchen, Hannoversche Heinzelmännchen 23, 1925/26, Nr. 45, 3-4; Heinzelmännchen im Haushalt, ebd. 29, 1931-32, Nr. 8, (9)). Eine neue Zeit schien bevorzustehen: „Sie erwacht am Morgen, erwacht in einen scheinbar so nüchternen Alltag, und empfindet, verwöhnt von den neuen Errungenschaften, vielleicht gar nicht, daß die Märchen früherer Zeit – geradezu ‚über Nacht‘ – Wirklichkeit geworden sind. Heinzelmännchen, die wirken, während der Mensch schläft? Die elektrischen Stromgeister sind unsere Heinzelmännchen“ (Richard Rieß, Die elektrische Hausfrau, Berliner Börsen-Zeitung 1930, Nr. 349 v. 28. Juli, 6). Dieses Bild hielt sich bis zur Wirtschaftswunderzeit – und den Rest können Sie vielleicht aus eigenem Erleben ergänzen.

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Kontinuierliche Träume: Haushaltsgeräte als Heinzelmännchen (Hamburger Abendblatt 1968, Nr. 103 v. 3. Mai, 19)

Lässt man sich auf diese lange Perspektive ein, so wird aus der hier genauer untersuchten Kochkiste Heinzelmännchen ein recht typisches Produkt in einer langen und seit Beginn moderner Konsumgesellschaften nie wieder abgebrochenen Reihe von Konsummythen. Sie vermengten Kindheitsträume, Vorstellungen von Muße und freiem Leben mit Glück, Lebenssinn und Wohlstand. Sie nutzen diese aber zugleich für den Absatz immer neuer, strukturell ähnlicher Produkte. Sie mochten alle ihren Wert haben, Aufgaben erfüllen, Not wehren, den Einzelnen anderen gegenüber darstellen, ihm bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben helfen. Doch sie waren und sind immer auch Teil einer imaginären Traumwelt, mit der wir uns gerne umgeben, auch wenn wir wissen, dass sie letztlich nichts anderes als eine fromme Legende ist. Bleibt uns aber anderes?

Uwe Spiekermann, 10. Dezember 2022

 

PS: Die Kochkiste „Heinzelmännchen“ im Haushalt des Architekten Otto Haesler

Museumsbesuche bilden. Das Otto-Haesler-Museum ist dafür ein Musterbeispiel. Wer sich für die Geschichte des Neuen Bauens interessiert, wird es gewiss kennen, denn dieses Celler Kleinod präsentiert nicht nur das bauliche Schaffen des namensgebenden Vordenkers eines preiswerten Siedlungsbaus Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Es erlaubt am Ort der Celler Arbeitersiedlung „Blumläger Feld“ auch direkte Einblicke in das Wohnen dieser Zeit. Haesler (1880-1962) wird in der Öffentlichkeit bis heute nicht in eine Reihe mit den bürgerlichen Säulenheiligen des Neuen Bauens und des Bauhauses gestellt – obwohl er nach der Entlassung von Hannes Mayer (1889-1954) 1930 vor Mies van der Rohe (1886-1969) die ehrende Einladung erhielt, das Bauhaus zu leiten. Otto Haesler lehnte damals ab, die vielen eigenen Bauvorhaben verpflichteten. In Celle, seiner Hauptwirkungsstätte, ist das jedoch anders. Rudolf Becker, just mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet, setzt andere, historisch präzisere Akzente. Er war und ist die treibende Kraft dieses Museums – und wenn Sie mal wieder nicht wissen, was Sie mit Ihrer Zeit anfangen sollen, dann reisen Sie doch nach Celle und nehmen an einer seiner Führungen teil. Es wird sich lohnen.

Das gilt auch abseits des sozialen Wohnungsbaus – und das erlaubt mir eine kleine Ergänzung zur oben ausgebreiteten Geschichte der Kochkiste „Heinzelmännchen“. Denn dort, im Otto-Haesler-Museum stand, nein thronte sie: Sie war Teil der gutbürgerlichen Küche Haeslers. Und Herr Becker erlaubte Stefanie Waske und mir das Zücken der Fotoapparate, um genauer festzuhalten, was zuvor nur mittels Anzeigen und Beschreibungen vor Augen geführt werden konnte.

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Die Kochkiste ist gut erhalten, trotz ihres Alters von wohl 114 Jahren. Es handelt sich um eine der frühen einfacheren Varianten – Haesler errichtete sein Wohnhaus in der Celler Wittinger Straße 4 von 1909 bis 1910. Das Schloss ist rostfrei und gut gepflegt, die Farbigkeit des Heinzelmännchen-Warenzeichens besticht und zeugt von solider Verarbeitung.

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Öffnet man die Kochkiste, so sieht man den runden, sich an den Topf anschmiegenden Einsatzschacht, die seitliche Dämmung, den Heizstein am Grunde und den wärmehaltenden Schutz im Deckel. Der aus Schamotte bestehende Heizstein hat einen integrierten, nicht überstehenden Griff und eine Werbeinschrift, die ihn als Teil des Originalangebotes ausweist.

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Die beiden Warenzeichen unterstreichen den Anspruch der Berliner Heinzelmännchen GmbH, ein hochwertiges Markenprodukt anzubieten, den Qualitätsmarktführer seiner Zeit. Das Motiv auf dem Heizstein weicht von dem 1906 geschützten Warenzeichen allerdings leicht ab; und es ist unklar, ob es sich um einen später ergänzten Einsatz handelte (die Steine konnten durch Druck und Hitze reißen) – oder ob diese generell leicht variierten.

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Auf dem Deckel prangte jedenfalls das Original-Warenzeichen und gibt heute noch einen Abglanz von der farbigen Produktwelt des Kaiserreichs, von der Strahlkraft der neuen Teerfarben auf Plakaten, Verpackungen und Gebrauchsgütern.

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Die letzten beiden Fotos geben Ihnen einen noch genaueren Eindruck von der Größe der kleinen Kochkiste „Heinzelmännchen“. Eine einfachere, aber ebenso große Kochkiste war in den späten 1920er Jahren nicht nur Teil vieler „Frankfurter Küchen“, sondern auch Bestandteil der Haeslerschen Arbeiterküchen. Wenn Sie sich davon ein eigenes Bild machen wollen, so gehen Sie ins Museum, ins Otto-Haesler-Museum oder eines in Ihrer Nähe. Denn Museumsbesuche bilden nicht nur. Sie weiten unseren Horizont und sind voller Überraschungen.

Uwe Spiekermann, 26. August 2024

Familie Pfundig meistert den Krieg – Alltagshilfe und NS-Propaganda

1940, zu Beginn der „Luftschlacht um England“, dem Angriff des Deutschen Reiches auf die britische Hauptinsel. Kriegsberichterstatter Hans-Herbert Basdorf berichtete begeistert von einem Fliegerhorst: „Immer wieder, wenn er dazu ansetzen will, wird die Tür seiner Stube aufgerissen. Ein braungebrannten Kopf guckt durch den Türspalt und ruft ihm das Wort ‚pfundig‘ zu. Was ist denn pfundig, erkundigt er sich verärgert. Na, hast Du es nicht gehört. Nein! Nun, wir fliegen nach London“ (Metropolis auf einem Vulkan. Londons Feuerschein über dem Kanal, Haaner Zeitung 1940, Nr. 217 v. 14. September, 6). Der Krieg, eine offenbar pfundige Sache. Nun ja, Kriege heißen heute militärische Spezialoperationen, Interventionen oder Friedensmissionen, Kriegsbeteiligungen gelten als Sanktionen oder Waffenlieferungen. Doch pfundig?

Fündig wird man doppelt: Zum einen sprachlich, im Worte „pfundig“ selbst. Zum anderen aber sachlich, denn nur wenige Monate vor dem Abnutzungskrieg der deutschen und britischen Luftwaffen hatte „Familie Pfundig“ vielen Deutschen freundliche Ratschläge für einen gedeihlichen Umgang mit den Problemen im Kriegsalltag gegeben. Die Anfang 1940 laufende Kampagne ist offenkundig nicht mehr bekannt, in der Fachliteratur fehlt sie in der langen Reihe der gern gestriffenen, selten näher behandelten NS-Propagandaaktionen. Nicht nur angesichts unserer heutigen Bemühungen um die Bewältigung von Kriegsfolgen scheint ein Blick in die Vergangenheit daher sinnvoll zu sein.

Der Weltkrieg verändert den Alltag

Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen angriffen, waren die wichtigsten Maßregeln für eine weiter leistungsfähige Heimatfront schon in Gang gesetzt worden. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte zu vielfältigen Planungen geführt, um die damaligen Fehler insbesondere bei der Rationierung zu vermeiden. Dazu gehörten nicht nur eine umfassende Vorratswirtschaft und die Entwicklung zahlreicher als „Austauschstoffe“ bezeichneter Ersatzmittel im Rahmen des seit 1936 laufenden Vierjahresplanes. Dazu gehörte insbesondere eine schon am 27. August 1939 beginnende Rationierung der meisten Lebensmittel und vieler Gebrauchsgüter. Der kriegerische Staat gab sich sorgend: „Um eine gerechte Verteilung lebenswichtiger Verbrauchsgüter an alle Verbraucher sicherzustellen, ist für gewisse Lebensmittel, ferner für Seife und Hausbrandkohle sowie lebenswichtige Spinnstoffwaren und Schuhwaren eine allgemeine Bezugsscheinpflicht eingeführt worden“ (Bezugsscheine garantieren Bedarfsdeckung für jedermann, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 240 v. 28. August, 7). Textil- und Schuhgeschäfte wurden zeitweilig „wegen Inventur“ geschlossen, Brot, Kartoffeln und Mehl waren dagegen noch frei käuflich. Obwohl Polen (im Einklang mit der UdSSR) rasch geschlagen werden konnte, stand der offenkundig verlustreichere Waffengang mit den Westmächten noch bevor. Diese hatten ihre anfangs massive Überlegenheit nicht genutzt, stattdessen gab es einen vielmonatigen „Sitzkrieg“ mit relativ begrenzten Kampfhandlungen vornehmlich von Marine und Luftwaffe. Er war begleitet von intensiven Luftschutzmaßnahmen, von Verdunkelung gemäß der schon im Mai 1939 erlassenen Verordnung. Allen Vorbereitungen zum Trotz veränderte sich der Alltagskonsum nicht unerheblich, denn die für den Kampf um die „Sicherheit des Reiches und seine Rechte“ (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 245 v. 2. September, 3) mobilisierten Männer fehlten: Die Werbung wurde langsam zurückgefahren, es mangelte an Gebrauchsgütern, auch die Qualität vieler Angebote ließ zu wünschen übrig. All das, so wurde versichert, wäre nur vorläufig – und wurde begleitet vom gängigen Arsenal der Kriegspropaganda: Wir wollen den Krieg nicht, die Gegner tragen dafür die Verantwortung, unsere Sache ist gerecht, die Mission heilig, unsere Berichterstattung ehrlich und nicht in Zweifel zu ziehen (Anne Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2004; Arthur Ponsonby, Falsehood in War-Time, London 1928). Zweifel und etwaige Kritik waren zu zerstreuen, Mut angesichts der kleinen Hürden des Alltags zu machen: Das war auch die Aufgabe der Pfundigs: „Die Familie Karl Pfundig / Ist fürwahr des Lebens kundig, / Weil sie innerlich begeistert, / Alle kleinen Sorgen meistert! Wie die Pfundig’s stets zufrieden, / Stolz an ihrem Glücke schmieden, / Ungestört von kleinen Dingen, / Wollen wir in Bildern bringen. Was die Pfundig’s noch erleben, / Gilt auch für dein eignes Streben!“ (Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 8 v. 6. Januar, 5). Der Tenor klang bekannt: Krisen seien Bewährungsproben, vielleicht gar Chancen. So nur zwei Jahre später auch der US-Schriftsteller Thornton Wilder (1897-1975) in seinem Drama „Wir sind noch einmal davongekommen“, hierzulande eines der wichtigsten Stücke nach der totalen Niederlage 1945.

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Die biedere Familie Pfundig (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 1 v. 5. Januar, 5)

Das Wortfeld „pfundig“

Familie Pfundig kam bieder daher, entsprach schon dadurch nicht der vermeintlichen Freude und Hochspannung von Kampffliegern vor dem Einsatz. Bei den fünf Familienmitgliedern – Vater Karl, den Kindern Inge, Fritz und Max sowie Mutter Emma – handelte es sich offenbar um ganz normale Deutsche, um den idealisierten Bevölkerungsdurchschnitt. Mit ihnen konnte man sich identifizieren, in ihnen sich wiederfinden. Was aber besagte der Name „Pfundig“?

Das Wort ist süddeutschen, vorrangig südwestdeutschen Ursprungs, bedeutet „großartig, außergewöhnlich, außerordentlich“ (Bayerisches Wörterbuch, Bd. II, hg. v. d. Kommission für Mundartforschung, München 2021, 706). Es entstand aus der bis heute bekannten Gewichtsbezeichnung, die präzise daherkam, etwa beim 5-pfündigen Brot. Doch pfündig war auch ein auf schweres, auf ansprechendes hinweisendes Eigenschaftswort, etwa bei pfündigen Forellen oder – und hieran sehen wir die einfache Verschiebung des einen Vokals – bei pfundigen Karpfen. Derartige Teichfische waren gewichtig, man freute sich sprachlich vorab schon auf ein gutes, weil mehr als auskömmliches Essen. Pfündig war lange auch Teil der Militärsprache, bezeichnete die Geschossgröße von Mörsern und Kanonen. Angesichts immer schwererer Munition lief diese Verwendung aber spätestens im Ersten Weltkrieg aus.

Pfündig wurde in der folgenden Zwischenkriegszeit inhaltlich neu aufgeladen und die Schwierigkeiten in Deutschland mit dem ü und dem u (Benutzer vs. Benützer…) ließen das Pfundige im Süden aufkommen, ehe es sich dann auch im Norden und Osten etablierte. Entsprechend habe ich vorrangig badische Zeitungen analysiert, in deren Verbreitungsraum das Wort Teil der Alltagssprache war: Pfündig wurde schon vor der NS-Zeit ein Begriff des Außeralltäglichen, des Ausfluges, des Erlebnisses: Natürlich durfte das Münchener Oktoberfest nicht fehlen, denn hier gab es auch mitten in der Weltwirtschaftskrise „eine wirkliche und ‚pfundige‘ Gaudi!“ (Badischer Beobachter 1932, Nr. 265 v. 25. September, 3). Ein alpines Studentenheim lud meist gutbürgerliche Skifahrer ein, die sich auf eine pfundige Abfahrt freuten (Badische Presse 1931, Nr. 112 v. 7. März, 7). Auch im Trendsport Kanufahren hoffte man auf eine „pfundige Strömung, heftiger Wellengang, ab und an einen annehmbaren Schwall, prächtige Floßgassen mit mehr oder weniger heimtückischen Widerwellen“, denn so „war immer etwas los“ (Badische Presse 1931, Nr. 270 v. 13. Juni, 6). Die von den Bergfilmen der späten 1920er Jahre näher gebrachten Gipfel wollten erklommen werden, Kletterer erzielten entsprechend pfundige Leistungen im Fels (Badische Presse 1933, Nr. 225 v. 16. Mai, 5).

Hier war das Beiwort aber noch abhängig von Äußerem, von einem besonderen Umfeld. Auch das legte sich in den frühen 1930er Jahren, denn pfundig mutierte zu einem zunehmend beliebigen Beiwort, mit dem man Schwere, Größe und Bedeutung von fast allem wabernd bezeichnen konnte. Es gab plötzlich pfundige Regierungskrisen, pfundigen Applaus, eine pfundige Überschrift (Der Führer 1931, Nr. 136 v. 20. Juni, 1; Karlsruher Zeitung 1931, Nr. 164 v. 17. Juli, 3; Der Führer 1931, Nr. 200 v. 20. September, 5). Der mächtig aufkommende Fußball kam ohne das Attribut kaum mehr aus, Schüsse, Lattentreffer, selbst Niederlagen waren nun „pfundig“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 78 v. 20. März, 7). Sollte aber die Verteidigung pfundig gestanden haben, so war auch eine „pfundige Ueberraschung“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 112 v. 2. Mai, 7; Badische Presse 1934, Nr. 341 v. 23. August, 7) möglich.

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Pfundiges Training, pfundige Cliquen (Badische Presse 1934, Nr. 403 v. 3. November (l.); ebd., Nr. 6 v. 8. Januar, 8)

Was sich freundlich, spielerisch anhörte hatte jedoch auch strikt politische Seiten. Pfundig wurde nämlich auch zu einem anklagenden Wort, das von der NSDAP Anfang der 1930er Jahre vielfach zur Denunziation des vermeintlich korrupten demokratischen „Systems“ genutzt wurde. Subventionsnehmer hatten ein vermeintlich „pfundiges“ Gehalt, lokale Politiker einen entsprechenden Vertrag, die Oberen nahmen sich einen pfundigen Happen aus den öffentlichen Kassen (Der Führer 1931, Nr. 284 v. 17. Dezember, 5; ebd., Nr. 293 v. 29. Dezember, 6; ebd. 1932, Nr. 61 v. 2. März, 6).

Nach der Machtzulassung wurden die öffentlichen Kassen noch stärker geplündert; und so verschwand das Adjektiv aus diesem Felde. Es wurde nun vermehrt mit Gemeinschaftshandeln im NS-Verbund verbunden, zumal in der Hitler-Jugend. Bei den Pimpfen war eine Keilerei Spaß, eine pfundige Angelegenheit, im Zeltlager herrschte pfundige Stimmung, selbst der Schlafsack wurde pfundig inmitten des Rudels (Badische Presse 1934, Nr. 301 v. 7. Juli, 13; Durlacher Wochenblatt 1934, Nr. 187 v. 13. August, 5; Der Führer 1934, Nr. 230 v. 22. August, 6). War pfundig zuvor ein Wort junger Erwachsener, so entwickelte es sich Mitte der 1930er Jahre auch zu einem der Jugend, der Bewegung. Die Jungen nahmen Elemente der bürgerlichen Freizeitkultur der späten 1920er Jahre auf, im Rahmen der zunehmend von der NSDAP dominierten Jugendverbände waren Sport und Reisen angesagt: Am Obersalzberg gab es nicht nur Hitlerplausch und Almenrausch, sondern man traf auch pfundige Mitstreiter (Ebd. 1933, Nr. 195 v. 17. Juli, 7). Eine pfundige Abfahrt lockte, den entsprechenden Sturz steckte man lachend weg (Mittelbadischer Kurier 1933, Nr. 288 v. 11. Dezember, 3; Badische Presse 1934, Nr. 19 v. 12. Januar, 7).

Pfundig war jugendbewegt, das Wort bezeichnete impulsives Leben ohne Intellekt, ohne größeren geistigen Überbau. Es stand für ein einfaches, simples Leben, ohne großes Nachdenken. Pfundig war kein Leben im Wallgraben seines Selbst, es war offen, dynamisch, stand für Teilhabe und Teilnahme, für ein Leben in Gemeinschaft, im völkischen Umfeld. So sollte das Leben sein, instinktiv. Leben als Wollen, Schaffen und Tun. Von Pfundskerlen umgeben glich das Leben einem Rausch, einem Wirbelwind: Im Augenblick leben, nur den nächsten Tag im Blick, die Vergangenheit vergessen, die Zukunft im Vertrauen auf sein Umfeld angehen. So machen das viele bis heute, das Bungeespringen steht dafür.

Der 1939 losgebrochene Krieg schien all dies zu beenden. Und doch dürften viele den Kampf als ultimativen Kick verstanden haben, mochte es einer großen Zahl Deutscher bei Kriegsbeginn auch mulmig gewesen sein. Mehr als zwei Millionen tote deutsche Soldaten waren nicht vergessen, amputierte Beine und Arme markierten Verletzungen, eine halbe Million Kriegsversehrte wurden anerkannt. Noch wusste man um die Nöte und Härten der „Heimatfront“, um die Abmagerung aller. Doch das innere Feuer löschen, die Träume vom pfundigen Leben stillstellen? Just hier setzte „Familie Pfundig“ an, denn sie bot ein anständiges Vorbild im Einklang mit den Erfordernissen der Zeit. Das innere Feuer konnte weiter brennen, die Träume der eigenen Jugend. Doch Krieg war keine Zeit der Ekstase, sondern des ruhigen, beharrlichen Handelns. Der Feind würde jede Unbedachtheit nutzen, es galt ihm zuvorzukommen – nicht in der Ferne, sondern auf dem Bewährungsgrund Heimat. Die Landser mochten in die Ferne ausschwärmen, bei Widerstand pfundig schimpfen (Der Führer 1939, Nr. 294 v. 24. Oktober, 3). Doch mit pfundiger Kameradschaft und ebensolchen Weisen auf den Lippen würde es schon gehen (Ebd., Nr. 320 v. 19. November, 5; ebd. 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 4). Der nationalsozialistische Reichsfußballtrainer Sepp Herberger (1897-1977) schrieb entsprechend an einen seiner Nationalspieler: „Sie haben ja eine schöne Irrfahrt durch ganz Frankreich gemacht. Aber pfundig muss die Sache gewesen sein“ (Gregor Hoffmann, Mitspieler der »Volksgemeinschaft«. Der FC Bayern und der Nationalsozialismus, Göttingen 2022, 246). Der Krieg war ein Spiel, mit manch pfundigem Schuss.

Anregungen und Vorbilder

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Herr Hase: Werbekampagnen für Zeitungsabonnements 1936/37 (Westfälische Neueste Nachrichten 1936, Nr. 235 v. 7. Oktober, 6 (l.); Schwerter Zeitung 1937, Nr. 73 v. 30. März, 3)

Die Anfang Januar 1940 einsetzende Kampagne mit „Familie Pfundig“ wurde vom Reichsverband der deutschen Zeitungsverlage in Kooperation mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda durchgeführt. Bezugspunkt und bedingt Vorbild war eine frühere Kampagne der Zeitungsverleger, die ebenfalls kaum mehr bekannte Herr Hase-Kampagne von 1936/37 (Herr Hase als Anzeigenwerber, Zeitungs-Verlag 37, 1936, 720; Herr Hase auf der Anklagebank, ebd. 36, 1937, 135). Dieser Herr, der von nichts wusste, weil er keine Zeitung las, wurde als Negativfigur des unbedarften, am Gemeinschaftsleben nicht teilnehmenden Sonderlings präsentiert, der am Ende zwingend mit dem Gesetz und der Gemeinschaft in Konflikt geriet und seine wirtschaftliche Existenz verlor (Gustav Lange, Schöne Grüße vom Schaefer-Ast (1890-1951). Postkarten und Geschichten für Werbekampagnen im Dritten Reich, Romerike Berge 72, 2022, H. 2, 12-31; unkritisch Werner Greiling, Werbegraphiker und Kunstprofessor in Weimar – Albert Schaefer-Ast (1890-1951), Das kulturhistorische Archiv von Weimar-Jena 1, 2008, 110-138, hier 120-125). Die Auftraggeber reagieren damit auf den massiven Auflagenrückgang der Tagespresse, einerseits Folge der Verbote der SPD- und KPD-Zeitungen und dem Ende auch liberaler Zeitungen, etwa der Vossischen Zeitung 1934. Sie war anderseits aber eine rationale Entscheidung der Leser, die ein zunehmend uniformes Nachrichten- und Propagandaangebot nicht auch noch finanzieren wollten, die sich fern hielten vom betreuten Denken in der vermeintlichen Volksgemeinschaft. Gleichwohl bemühten sich Verleger und Machthaber um höhere Abonnementzahlen, denn darauf gründete nicht nur eine einigermaßen erfolgreiche Verhaltens- und Verbrauchslenkung, sondern auch der Vertrieb zahlloser Angebote und Anzeigen (Norbert Frei und Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 1989, 36-38).

Herr Hase tauchte in zwei längeren Serien Ende 1936 und Anfang 1937 in deutschen Zeitungen auf, wurde nach der halbwilligen Besetzung Österreichs dann 1939 in der „Ostmark“ abermals aufgelegt, dabei mit neuen Motiven ergänzt. Künstlerisch war sie wenig ansprechend, inhaltlich teils peinlich. Die Gründe für das Zeitungslesen waren teils hanebüchen, konnten die strukturellen Defizite einer fast gänzlich gleichgeschalteten und von Presseanweisungen recht genau gesteuerten Zeitungslandschaft ja nicht angesprochen werden (Konrad Dussel, Wie erfolgreich war die nationalsozialistische Presselenkung?, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 543-561). Hinzu kam, dass der 1939 begonnene Krieg für die Presse fast wie ein Konjunkturprogramm wirkte, stiegen die Auflagen doch rasch an, war man durch die Rationierung und die Zivilverteidigung doch von behördlichen Informationen zunehmend abhängig. „Familie Pfundig“ knüpfte daran an. Hans Fritzsche (1900-1953), Leiter der Abteilung „Deutsche Presse“ im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, betonte, diese Serie, ähnlich wie zuvor die Serien über Herrn Hase, solle „generell von allen deutschen Zeitungen gebracht werden“ (Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970, 309). Doch sie würde positiv sein, keine Negativfiguren enthalten, Willigkeit hervorrufen. Und so geschah es…

Naja, nicht ganz. Offen bleibt die Frage, warum man den Namen „Familie Pfundig“ wählte. Die Antwort liegt wohl in der Person des Zeichners Emmerich Huber (1903-1979). Dieser, wir kommen darauf zurück, hatte sich seit Mitte der 1920er Jahren als Zeichner, Illustrator und Werbegraphiker einen Namen gemacht, versah er doch gleichermaßen Güter und Gebote mit dem Charme des Freundlichen. Seine Arbeit kombinierte – wie schon Paul Simmel (1887-1933) und Walter Trier (1890-1951) – unmittelbar eingängige Zeichnungen mit humorvollen, selten auch bissigen Kommentaren. Huber arbeitete allerdings stärker seriell, erzählte kleine Geschichten, versah sie oft mit Sprachblasen, eingefügten Textzeilen und gereimten Unterzeilen. Huber war populär und daher gleichermaßen wertvoll für das Regime und die Konsumgüterindustrie.

Einer seiner vielen Auftraggeber in den späten 1930er Jahren war der niederländische Handelskonzern C&A. Als Filialbetrieb anfangs nicht wohl gelitten, gar Boykotten ausgesetzt, passten sich die offiziell gut katholischen Besitzer dem NS-Regime rasch an, entließen 1933 jüdische Mitarbeiter, übernahmen in der Folge jüdische Konkurrenten (Kai Bosecker, Vom ‚unerwünschten Betrieb‘ zum Nutznießer des NS-Regimes […], in: C&A zieht an! Impressionen einer 100-jährigen Unternehmensgeschichte, Mettingen 2011, 94-105; Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911-1961, München 2016, insb. 132-175). Emmerich Huber war 1938 Teil einer breit gefächerten Werbekampagne für Konfektionsware und Barkauf (Dortmunder Zeitung 1938, Nr. 499 v. 26. Oktober, 9). Dabei wurde auch ein Herr Pfundig eingeführt. Den Kundinnen dürfte dies kaum im Gedächtnis haften geblieben sein, doch ein Graphiker erinnert sich solcher Namen, anregender und weiter verwertbarer Figuren.

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Ein Herr Pfundig taucht auf: rechts, sechste Zeile (Hamburger Neueste Nachrichten 1938, Nr. 298 v. 17. Dezember, 3)

Alltags- und Versorgungsprobleme zu Kriegsbeginn – Die Motive der Serie

Die NS-Propaganda hatte anfangs auf eindimensionale Identifikationsfiguren gesetzt, brachiale, biestige Figuren, kraftstrotzend und gesinnungsstark. Derart leblose Vorkämpfer waren nach der Konsolidierung der NS-Herrschaft zwar noch immer weit verbreitet, kamen im öffentlichen Raum als martialische Symbole von Sieg und Zukunft auch stetig vor. Doch in den Zeitungen dominierten eher freundliche Durchschnittspersonen, in der Werbung die schürzenbewerte Hausfrau. Gezeichnete Werbefiguren kamen schon lange vor dem Ersten Weltkrieg auf und etablierten sich seit den frühen 1920er Jahren. Das NS-Regime nutzte sie seit Mitte der 1930er Jahre. Dabei lernte man durchaus von angelsächsischen Werbegraphikern und den zahlreichen in Deutschland vertretenen US-Werbeagenturen. Doch diese waren dem deutschen Markt nicht wirklich angepasst, zudem meinte man Besseres bieten zu können. Die immer wichtigere Verbrauchslenkung nutzte vielfältige Graphiken, Schaubilder, zunehmend auch kampagnenfähige Zeichenfiguren. Im Rahmen der „Kampf dem Verderb“-Propaganda symbolisierten „Groschengrab“ und „Roderich das Leckermaul“ Gefahren und Fehlverhalten. Doch die Machthaber, die noch an die starke Wirkung von Medien glaubten, wussten, dass der erhobene Zeigefinger allein nicht ausreichte. Positive, durchaus alltägliche Gegenfiguren kamen auf, Vorbilder für ein Alltagsnudging. Auf Groschengrab folgte der allerdings wenig erfolgreiche „Übeltöter“, Roderich fand in seiner Gemahlin Garnichtfaul einen im Sinne des Volksganzen denkenden Gegenpol. Dadurch war Verhaltenslenkung möglich, ohne den Einzelnen direkt zu attackieren. „Familie Pfundig“ stand in dieser Linie hin zum zivilen Vorbild. Innerhalb der fünfköpfigen Familien konnte Fehlverhalten verdeutlicht und zugleich korrigiert werden. Durchaus konsequent folgte auf „Familie Pfundig“ Ende 1940 das ebenfalls positive „Flämmchen“, ein Helfer beim Energiesparen.

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Kiebitz: Pfundig als Modewort auch im Norden; Ankündigung einer Serie über die Familie Pfundig (Altonaer Nachrichten 1936, Nr. 53 v. 3. März, 5 (l.); Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 4 v. 5. Januar, 3)

All dieser Aufwand wurde betrieben, um letztlich den Einzelnen dazu zu bringen, seine Interessen zu Gunsten des kriegsführenden Staates zurückzustecken. Die Pfundigs machten das vor, machten voller Glauben mit, erfüllten alle an sie gestellten Anforderungen. „Familie Pfundig“ war personifizierte nationalsozialistische Moral (Lothar Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a.M. 2010). Während die Wehrmacht den Krieg gegen Frankreich und Großbritannien führte und vorbereitete, ging es an der Heimatfront um Zusammenhalt, Zurückstecken und Opferbereitschaft. Wie dies in kleiner Alltagsmünze möglich war, das zeigte „Familie Pfundig“.

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Pfundigs „verkohlen“ sich selbst (Murtaler Zeitung 1940, Nr. 2 v. 13. Januar, 5)

Blicken wir dazu auf die Einzelmotive der Serie. Sie bündelten drängende Alltagsprobleme der frühen Kriegszeit, gaben einen Widerschein der von Beginn an bestehenden Probleme in der Konsumgüterversorgung (Christoph Buchheim, Der Mythos vom „Wohlleben“. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 299-328). Nach der reichsweiten Vorstellung der Familie Pfundig am 5./6. Januar 1940 erschienen im Halbwochentakt – in manchen Fällen auch in längeren Intervallen, in Österreich später als im Norden – thematische Kleincomics. Huber verwandte in den Bildern nur selten Sprachzeilen, eigentlich sein Markenzeichen, stattdessen dominierten Unterzeilen. Die jeweils drei Bilder wurden durch eine zusammenfassende Merkspalte ergänzt, in der die Botschaft nochmals verdichtet gebündelt wurde.

Dass als erstes die Probleme des Transportwesens und der Heizstoffversorgung thematisiert wurden, war naheliegend, denn die Requirierungen für Wehrmachtszwecke hatten tiefe Lücken nicht nur bei Automobilen und Lastkraftwagen hinterlassen, sondern auch bei den nach wie vor dominierenden Pferden und Fuhrwerken. Zudem war der Winter 1939/40 besonders kalt, betrug die Durchschnittstemperatur im Januar 1940 -9 °C. Der durch die Kriegsanstrengungen und wachsende Lieferverpflichtungen an neutrale Staaten ohnehin gebeutelte Wasser- und Bahntransport der heimischen Kohle stockte. Die Antwort hierauf war Eigeninitiative, waren Aushilfen mit privaten Karren, war vor allem Verständnis für Lieferprobleme.

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„Reste-Tag“ bei Pfundig’s! (Salzburger Volksblatt 1940, Nr. 11 v. 13. Januar, 4)

Ähnlich drängend waren offenkundige, durch Transportprobleme ebenfalls verschärfte Versorgungsprobleme mit Lebensmitteln. Die Planer waren ohnehin von einem leichten Gewichtsverlust der Deutschen aufgrund der Rationierung ausgegangen. Nun aber griffen schon lange laufende Kampagnen für sparsame Haushaltsführung, praktische neue Convenienceprodukte und die vielbeschworene Resteküche (W. Plaetke, Lebensmitteleinkauf und Resteverwertung, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 92, 104-105, 119-121; Der durchdachte Haushalt. Kochplanung und Resteverwertung, Die Genossenschaftsfamilie 31, 1938, Nr. 1, 11; dass derartige Bestrebungen im letzten Jahrzehnt eine bemerkenswerte Renaissance erfuhren, sei nur am Rande vermerkt). Familie Pfundig beging nicht nur den zunehmend gängigen Reste-Tag, sondern fand das ungewohnte Essen so fabelhaft, dass sie das Rezept gleich mit den Volksgenossen teilte.

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Pfundigs „alltägliche“ Feldpostsendung (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 3 v. 18. Januar, 4)

Es folgte eine Reminiszenz Familie Pfundigs an die Herrn-Hase-Kampagne und die Interessen der auftragsgebenden Zeitungsverleger. Trotz wachsender Auflage warb man für die Tageszeitung im Felde. Wirtschaftliche Werbung und Kriegspropaganda gingen hierbei Hand in Hand, denn es ging hier nicht nur um Einnahmen, sondern auch um ein enges Band zwischen Front und Heimat. Anders als im Ersten Weltkrieg waren Liebesgaben 1939/40 zur Soldatenversorgung nicht wirklich erforderlich, wurde das enge Band zwischen Soldaten und den Zurückgeblieben vornehmlich durch einfache Feldpostbriefe gestärkt. Dass hierbei Inge Pfundig von einem wackeren Soldaten träumte, wird Uniformträger ebenso gefreut haben wie Vertreter einer pronatalistischen Politik, die immer auch an die demographischen Konsequenzen der Trennung gebärfreudiger Erwachsener dachten.

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Begleitkampagnen zu pfundigen Anregungen (Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 49 v. 27. Februar, 6)

„Familie Pfundig“ wurde von zahlreichen dezentralen Initiativen unterstützt, die die allgemeinen Zielsetzungen der Kampagne konkreter ummünzten. Das war bei der Werbung für zusätzliche Feldabonnements offenkundig, doch in den Folgewochen gab es zahlreiche ergänzende Hinweise und Angebote für fast alle Motive der Kampagne.

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Vater Pfundig wird im dunklen „Helle“! (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 4 v. 25. Januar, 5)

Moderne Kriege gründen auf einer leistungsfähigen Industrieproduktion, sind deshalb vielfach umkränzt von Sorge um Arbeiter und Angestellte. Es gilt Unfälle zu vermeiden, Vorsorge zu treffen, das Humankapital möglichst lange intakt zu halten. Nicht umsonst gewannen zu dieser Zeit Anzeigen für Heft- und Wundpflaster stark an Gewicht. Parallel aber schuf die mit Kriegsbeginn zwingend einsetzende Verdunkelung neue, bisher unbekannte Gefahren. Das betraf nicht ausgeleuchtete Gehwege, abgedunkelte Fahrrad- und Autoscheinwerfer. Herr Pfundig erlitt fast folgerichtig eine Beule als er mit jemand anderen zusammenstieß – was die Jungen gleich zu Spott veranlasste. Sie wussten nämlich um die neuen, auch in der Schule behandelten Alltagsregeln für Fußgänger. Hier galt es zu lernen, ansonsten würden die pfundigen Jungs die gebeutelten Älteren abhängen. Die Fußgänger wurden zwar faktisch belehrt und mit zehn Regeln vertraut gemacht. Doch es handelte sich um „Anregungen“, nicht um die zuvor stets tönenden „Gebote“ oder um die sprachlich schon weniger rigiden „Ratschläge“. Hier sprachen Volksgenossen miteinander, war Respekt und Freundlichkeit gewährleistet, mochte schadenfreudiges Schmunzeln über den hölzern-gutwilligen Karl Pfundig auch erlaubt sein.

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Vater Pfundig und „Minna von Barnhelm“: Auch mal im Hochformat (Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 4 (l.); spiegelverkehrt: Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4)

Diese nach innen gewandte Kameradschaftlichkeit war immer auch Ausdruck deutscher Bildung und deutscher Kultur (natürlich nur im „arteigenen“ Sinne). Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Schöpfer von „Nathan der Weise“, einem bis heute beeindruckenden Plädoyer für Toleranz und friedliches Miteinander, wäre gewiss vergrätzt gewesen, hätte er von der Aufnahme seines 1767 erschienenen Lustspiels „Minna von Barnhelm“ in die Familie-Pfundig-Kampagne erfahren. Dieses war ein Bühnenklassiker, blieb es auch während der NS-Zeit, wurde bis März 1945 wieder und wieder gespielt. Warum? Gewiss, weil es leicht und leidenschaftlich war, zu Herzen ging, einem dem Alltag entzog. Für die Kampagne aber wichtiger dürfte das Spiel gegen „den überspitzten Ehrbegriff“ gewesen sein, mit dem Ziel, „das lockende, reizende Werben aufgeschlossener Fröhlichkeit, den finsteren, verschlossenen, in Dogmen und Maximen erstarrten Ernst zu besiegen“ (Wilhelm Antropp, Akademietheater, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 287 v. 14. Oktober 1939, 4). Minna von Barnhelm war pfundig im Sinne des Begriffs; und Pfundigs zielten durch den Theaterbesuch nicht nur auf eine kriegsgemäße Work-Life-Balance, sondern sie nährten auch das pfundige Grundgefühl ihrer Jugend, das sich nun geläutert zu bewähren hatte.

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Pfundigs Kameradschaft immer guten Rat schafft! (Mittelrheinische Landes-Zeitung 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 4)

Wir könnten so fortfahren, Motiv für Motiv. Denn Entspannung war für die Pfundigs nicht nur selbstbezüglich, sondern war Nährboden für die organische Gemeinschaft, für Familie, Haus- und Volksgemeinschaft. Nachbarschaftshilfe war für sie selbstverständlich, die Sorge für den Nachwuchs weckte mütterliche Gefühle, ließ den Mann wieder zum Kinde, zum Spielkameraden werden. Dass dies die innere Seite der Hege eines nach außen aggressiven Regimes war, ist offenkundig.

Doch ebenso ermüdend wie das beigefügte Lob der Hilfsbereitschaft sein konnte – im Sommer 1942 folgte gar eine breit gefasste Kampagne des Reichspropagandaministeriums für Höflichkeit – ist eine Auflistung ohne wirklich fundiertes Eingehen auf den Inhalt der einzelnen Motive. Sie finden sie gleichwohl hier abgedruckt, denn sie spiegeln die Probleme des Deutschen Reichs schon zu Kriegsbeginn. Leder war knapp, musste geschont und gepflegt werden – entsprechend wurde für Schuhpflegemittel bis Kriegsende immer schlechterer Qualität zum Trotz geworben. Wie mit Humankapital war auch mit Sachkapital sorgfältig, achtsam umzugehen.

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Fritzen’s Schuhe stören Pfundigs Ruhe! (Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 6)

Auch die Textilproduktion diente immer stärker dem Militär, doch auch sie konnte dessen Bedarf nicht annähernd decken, wurde der Krieg gegen die UdSSR mit unzureichender Ausrüstung geführt. Während „Deutsche Mode“ zu einem devisenträchtigen Exportartikel wurde – Berlin überholte in der Folgezeit kurzfristig Paris als europäische Modehauptstadt – glich der Umgang mit Altkleidern denen mit Lebensmittelresten. Damit galt es hauszuhalten, daraus konnte aber auch Neues geschaffen werden – wenn denn die Frauen, wie Tochter Inge Pfundig, neben ihrer gewerblichen Arbeit noch Zeit fanden, selbst zu schneidern.

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Auch „alte“ Kleider machen Leute! (Briesetal-Bote 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3)

Angesichts der zu Kriegsbeginn nur sporadischen Luftangriffe auf Reichsziele ließ die Neigung zur steten Verdunkelung nach, beträchtlicher Kontrollen zum Trotz. Selbst Karl Pfundig wurde nachlässig, konnte aber wiederum mit Hilfe seines Jungen (und der ausgedünnten Polizei) auf den Pfad der Kriegsgemeinschaft zurückgebracht werden. Dass nun „Ratschläge“ erteilt wurden, verweist auf eine gewisse Renitenz zumal im ländlichen Bereich.

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Die Polizei kommt zu Pfundigs! (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1940, Nr. 16673 v. 7. Februar, 4)

Dieses Motiv war für viele Zeitungen in der Tat das letzte Motiv ihrer Familie-Pfundig-Kampagne; bereits die Streifen zur Schuhpflege und zum Kleiderschneiden waren nur noch selten gedruckt worden. Die folgenden drei Motive fanden sich nur selten – wobei immer zu berücksichtigen ist, dass die Zeitungsdigitalisierung in diesem Staate, trotz erfreulicher Fortschritte in NRW, auf dem Stand eines rückschrittlichen Landes liegt.

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Pfundigs Idee für’s Winterhilfswerk! (Baruther Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 9. Februar, 2)

Dieses Abebben und Ausfransen der Kampagne mochte auch daran liegen, dass die nun folgende Propaganda für das Winterhilfswerk und das Papiersparen ohnehin weit verbreitet war. Sammlungen waren längst der Freiwilligkeit enthoben, die aufgrund fehlenden devisenträchtigen Holzes akute Papiernot wurde durch staatliche Maßnahmen bereits zu mildern versucht (etwa die Reduktion des Zeitungsumfanges und der Größe und Ausstattung der Werbeanzeigen).

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Beim Papier sind Pfundigs „eisern“! (Fehrbelliner Zeitung 1940, Nr. 16 v. 16. Februar, 3)

Die Motive knüpften an die den NS-Alltag schon seit langem prägenden Sparsamkeitsappelle an – und der wachsende Zwang von Partei und Staat verwies schon auf die sich seither immer wieder verschärfende, nur selten sich wieder entspannende Versorgungssituation. Von einer „Wohlfühldiktatur“ kann man kaum sprechen. Obwohl sich Familie Pfundig durch die Themensetzung auch inhaltlich in die allgemeine NS-Kriegspropaganda einreihte, endete die Serie mit einem sowohl untypischen wie charakteristischen Motiv. Fritz hatte durch Unachtsamkeit seinen Anzug zerrissen, seine Mutter drängte auf eine tüchtige Tracht Prügel. Doch sein Vater beließ es bei einem eindringlichen Appell, künftig anders zu handeln. Leben war eben pfundig, nicht immer zu zügeln. Das drängende Dasein, es war durch Gewalt nicht zu einzudämmen. Ihm eine Richtung zu geben, Karl Pfundig hatte dies durch Selbstzucht erreicht. Sein Sohn würde auch ohne Prügel in seine Fußstapfen treten.

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Wie sagt’s Pfundig seinem Kinde? (Sauerländisches Volksblatt 1940, Nr. 53 v. 2. März, 4)

Die Familie-Pfundig-Kampagne ist aber – wie jede Kriegspropaganda – nicht nur spannend durch die darin enthaltenen Aussagen und Ratschläge. Historisch ebenso wichtig war, was in ihr nicht thematisiert wurde. Indem die kleinen handhabbaren Probleme des Alltags humoristisch angegangen wurden, konnte die große Frage nach dem Krieg als solchen, nach dessen Ursachen und dessen Sinn überdeckt werden. Die Einreihung in Familie, Haus- und Volksgemeinschaft, die kleinen Problembewältigungen, sie waren schon Bejahung, ein Nachjustieren, Teil der Kriegsanstrengung. Der gute Menschenverstand kam scheinbar zum Durchbruch, der Pragmatismus des Alltags; doch die Kampagne zielte zugleich auf dessen Ausschaltung zugunsten des Regimes, zugunsten eines möglichst reibungslosen Kriegsgeschehens. Bestehende Probleme des Kriegsalltages wurden in der Kampagne angerissen, doch die strukturellen Probleme der Rationierung, weiterhin bestehender Devianz, weit verbreiteter Korruption und Bereicherung, sie wurden bestenfalls angedeutet, nicht aber rückfragend aufgegriffen. Dafür gab es andernorts eine offiziöse NS-Härte, die Inklusion und Exklusion aus der Volks- und Kriegsgemeinschaft. Sie schwang immer mit: „Familie Pfundig“ stand in der Mitte, weil sie mitschwamm. Doch irgendwann wäre die Grenze überschritten gewesen, wäre eine ordentliche Tracht Prügel und mehr die Folge gewesen. Dem konnte jeder Vorbeugen, durch Handeln im Sinne des Regimes. Die unterschiedlichen Motive der Kampagne spiegeln begrenzte Sprach- und Handlungsräume innerhalb der NS-Diktatur, innerhalb der NS-Kriegspropaganda. Sie spiegeln zugleich auch die sich verengenden Sprach- und Handlungsräume innerhalb jeder Kriegssituation. „Familie Pfundig“ adelte das biedere Mitmachen, das Zähne-Zusammenbeißen, das bereitwillige Durchhalten. Aktives, freudiges, aufheiterndes und begeisterndes Handeln war weiter von Nöten – nun aber für die Volksgemeinschaft, unter Vernachlässigung der eigenen Interessen. So konnte auch der Krieg zu einer pfundigen Sache werden.

Emmerich Huber, NS-Humorist

Die NS-Propagandaserie „Familie Pfundig“ wurde ersonnen und umgesetzt vom wohl wichtigsten NS-Humoristen, von Emmerich Huber. Er ist heute nur noch wenigen bekannt, auch wenn er bis in die 1960er Jahre gut beschäftigt war (Eckart Sackmann, Emmerich Huber, Deutsche Comicforschung 2005, 56-71; Ders., Emmerich Huber – zum Zweiten, Deutsche Comicforschung 2010, 87-92). Er zog sein Ding durch, doch anders als in derart oberflächlicher Forschung suggeriert, war er während der NS-Zeit nicht allein der nette Zeichner von Nebenan, dessen kleine Episoden und Figuren kurze Freude in den tristen (Kriegs-)Alltag zeichneten, der sich nur ein wenig anpasste. Huber war ein Pendant zum Filmstar und Biedermann Heinz Rühmann (1902-1994), lieferte wie dieser bräsigen, massenkompatiblen Humor, der sich in jedem politischen System findet (Torsten Körner, Ein guter Freund Heinz Rühmann, Berlin 2003; eingängig populär: Hans Sarkowicz (Hg.), Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2004; nicht überzeugend, ja vielfach peinlich: Michael H. Kater, Kultur unterm Hakenkreuz, Darmstadt 2021). Täter wie Huber und Rühmann tönten vom Miteinander, vom Freund, dem guten Freund. Doch mit mehr Distanz erscheinen sie als Personen, denen es sich vorrangig um sich ging, um ihr Einkommen, ihre Sicherheit, ihre Uk-Stellung.

Huber wurde in den 1920er Jahren bekannt als Zeichner von Kindergeschichten, kleinen Comics in der Kundenzeitschrift Blauband-Woche, für die er neue Figuren schuf: „Das Neueste von Onkel Jup“ und „Hans und Lottchen“ waren nicht nur bei Kindern beliebt (einschlägige Digitalisate finden Sie unter Archive.org). Parallel arbeitete er schon früh für Werbekunden, etwa die Berliner Firma L.M. Baginski mit ihren Fitnessartikeln (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 50 v. 12. Dezember, 10). Man findet Hubers Zeichnungen in so herausragenden Zeitschriften wie „Sport im Bild“, vor allem aber in der Karikaturzeitschrift „Ulk“, dank der bissigen politischen Karikaturen von Rudolf Herrmann Anfang der 1930er Jahre ein wichtiges Kampfblatt für die Weimarer Republik, gegen die „Reaktion“ und die NSDAP. Huber selbst witzelte über die Enttäuschungen der Woche, zeichnete optimistisch (Ulk 61, 1932, Nr. 1, 1), half dem Ulk zu einer stärken Balance zwischen Unterhaltung und republikanischer Agitation. Auch durch Buchillustrationen gewann er den Ruf eines lustigen Zeichners, der für alles und jedes gut zu verwenden war (H[ermann] K[arl] Frenzel, Emmerich Huber. Ein lustiger Zeichner, Gebrauchsgraphik 9, 1932, Nr. 4, 4-11).

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Beispiel für Hubers Werbezeichnungen für Wybert (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1837)

Die Machtzulassung der NSDAP war für Huber kein wirklicher Bruch. Er arrangierte sich mit der neuen Lage, zeichnete Werbung etwa für die Radios von Saba (Sport im Bild 40, 1934, 1117), oder eine umfangreiche, bis 1941 fortgeführte Serie für Wyberts Pastillen. Einzelzeichnungen und Buchillustrationen festigten den Ruf, dass er „immer wieder mit seinen köstlichen Figuren die Schwächen der Menschen festzuhalten“ (Der Sächsische Erzähler 1936, Nr. 264 v. 11. November, 9) wisse. Huber prägte das, was Deutsche unter lustig verstanden, voller Schenkelklatschen, mittels strikter Geschlechtscharaktere, draller Damen und gutmütiger Kleinbürger. Heroisch war das alles nicht, ein Gegenbild zu Marschkolonnen und Arierertypen. Doch diese waren in der deutschen Unterhaltungskultur keineswegs so dominant, wie dies im Blick auf strikte NS-Propaganda erscheinen mochte. Hubers „lustigen Karikaturen“, seine Seiten „lustiger Zeichnungen“ (Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 155 v. 7. Juli, 5; Der Sächsische Erzähler 1938, Nr. 39 v. 16. Februar, 10) waren zeichnerisch gut gemacht, machten aus ihm eine Marke. Ab Mitte der 1930er Jahre etablierte er sich als einer im Graphikbereich wichtigsten, schließlich im Krieg zum wichtigsten NS-Humoristen. Er gestaltete anfangs ganze Seiten für die hochwertig gedruckte „Neue Illustrierte Zeitung“, die seine Werke in der Werbung stetig pries (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1936, Nr. 302 v. 19. Dezember, 2; Bergische Landes-Zeitung 1937, Nr. 228 v. 30. September, 3; Bergische Landes-Zeitung 1938, Nr. 35 v. 2. November, 3). Seine Zeichnungen brachen die offenkundigen Härten des NS-Regimes, der ubiquitären Verfolgung und Denunziation nicht nur von Minderheiten.

20_Die Kunst fuer alle_56_1940-41_H10_Anhang_p14_ebd_H03_Anhang_p27_Briefpapier_Papier_Sparsamkeit_Max-Krause_Emmerich-Huber

Sparsamkeit und Zurückhaltung: Werbekampagne für Max Krause 1940 (Die Kunst für alle 56, 1940/41, H. 10, Anhang, 14 (l.); ebd. H. 3, Anhang, 27)

Die zunehmenden Werbeeinschränkungen seit Beginn des Zweiten Weltkrieges ließen Werbekunden seltener werden. Emmerich Huber konnte dies kompensieren, zeichnete und textete bis 1945 für führende NS-Illustrierten, für den parteieigenen „Illustrierten Beobachter“, die „Münchener Illustrierte“, für das Magazin der Deutschen Arbeitsfront „Arbeitertum“. Der Umfang der Zeitschriften schwand, doch Emmerichs letzte Seite blieb stehen, war kriegswichtig, nicht nur für die Stimmung an der Heimatfront und im Betrieb. Die „Emmerich-Huber-Seite“ (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 6 v. 6. Januar, 5) spornte freundlich an, zielte auf ein Es-geht-noch-was, auf ein stetes in-die-Hände-Spucken, zielte ohne Knute auf beschwingtes, pfundiges Handeln der Volksgemeinschaft. Emmerich Huber war ein Meister des Selbst- und Fremdbetruges, der auch dem Leben im Bombenkrieg manch heitere Seite abgewinnen konnte.

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Die Juden als gewissenlose Geschäftemacher, als Ausdruck des jüdischen Bolschewismus – Hubers Benennung der deutschen Hauptfeinde nach dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 38)

Der biedere Emmerich Huber war jedoch mehr als ein humoristischer Sorgenbrecher des Großdeutschen Reiches. Er war auch ein antisemitischer Hetzzeichner. Das betraf etwa eine antibritische und antisemitische Propaganda-Broschüre, die er 1941 zusammen mit dem geschätzten Kollegen Hans Herbert Schweitzer (1901-1980) verfasste (Die Plutokraten-Presse. Wie sie lebt und lügt, wer sie macht, wer sie bezahlt, Berlin 1941). Unter dem Pseudonym Mjölnir, dem Namen des durch Marvel-Comics ja allseits bekanntem Hammers des nordischen Donnergottes Thor, war letzterer nicht nur seit 1926 für die NSDAP agitatorisch tätig, sondern wurde 1933 auch zum „Zeichner der Bewegung“ ernannt (Carl-Eric Linsler, Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 7, Berlin 2015, 313-316).

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Der „ewige Jude“ im ausgebombten London – Zeichnung von Emmerich Huber (Illustrierter Beobachter 16, 1941, 248)

Doch Huber hat auch in seinen wöchentlichen „heiteren“ Serien wiederholt Ideen einer jüdisch-bolschewistischen Weltherrschaft in Szene gesetzt, hat zugleich den „ewigen Juden“ gezeichnet, dessen vermeintlich zerstörerische Natur immer wieder zum Ausdruck kam. Fast pfundig ist, dass dies im Gefolge der „Luftschlacht um England“ erfolgte, die mit einer empfindlichen Niederlage der deutschen Luftwaffe endete, die ihrem britischen Gegner in fast allen Belangen unterlegen war. Huber zeichnete das Hauptquartier der siegreichen Royal Air Force als Stelldichein exzentrischer Dummköpfe, regiert von Juda. Dem Mannheimer Medienwissenschaftler Konrad Dussel, der vorgab, die Huberschen Zeichnungen im Illustrierten Beobachter durchgesehen zu haben, sind diese Karikaturen offenbar entgangen (Bilder als Botschaft, Köln 2019, 239-241) – entsprechend freundlich seine Einschätzung des biederen Herrn Huber und seines NS-Werkes.

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Juda regiert – Hubers Einblicke in das Hauptquartier der Royal Air Force (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 45)

Familie Pfundig verschwindet

Familie Pfundig verschwand Anfang März 1940 ohne viel Aufhebens, wurde vergessen. Sie war Teil der nationalsozialistischen Kriegspropaganda, zeigte deren scheinbar freundliche, verständnisvolle, pfundige Seite. Sie handelte von den Sorgen und Aufgaben des Kriegsalltags, zielte auf das für jeden Krieg erforderliche Einvernehmen, Mitmachen und Dulden der Zivilbevölkerung. „Familie Pfundig“ personifizierte nationalsozialistische Moral, deutsche Zuversicht und deutschen Optimismus. Serien wie „Familie Pfundig“ appellierten an deutsche Werte, solche der Selbstleugnung und der Pflichterfüllung. Besser als repressive und warnende Propaganda, besser als die Kampagnen gegen Hamsterei und Wucher, besser als direkte Denunziationen der „plutokratischen“, der „jüdisch-bolschewistischen“ Feinde vermochte sie Zusammenhalt zu schaffen, Verständnis für die Härten der Zeit. Sie war typisch für die frühe Phase des Krieges, in dem die Fährnisse des Alltages noch überschaubar waren, in der noch nicht täglich zehntausend deutsche Soldaten verreckten, wie in der Endphase des Höllensturzes.

„Familie Pfundig“ knüpfte an die Werte einer antiintellektuellen Erwachsenen- und Jugendkultur an, geprägt von realem, vor allem aber virtuellem Leben und Abenteuer. Die Form der Comic-Zeichnung zielte auf die große Mehrzahl, auf einfache Problem-Lösung-Strukturen, auf Aufgabe und Erfüllung. Ihr Gestalter Emmerich Huber bettete all dies in humoristische Watte, doch andere seiner Zeichnungen präsentierten auch den rassistischen Grundtenor des Nationalsozialismus. Angesichts der breiten Klaviatur der NS-Propaganda war dies all denen klar, die lesen und sehen konnten und wollten.

„Familie Pfundig“ ist eine abgeschlossene, nicht wirklich bedeutsame Episode im breiten Kranz der NS-Kriegspropaganda – mochte sie auch abermillionenfach gedruckt und verbreitet worden sein. Sie steht für die Wandlungsfähigkeit und Vielgestaltigkeit der Kriegspropaganda. Die steten Einseitigkeiten, Halbwahrheiten und offenen Irreführungen in der staatsnahen, vielfach staatsgleichen Presse waren einfacher zu erkennen als die nette Umrahmung, die freundliche Bitte zum Mitmachen, die Alltagshilfe. Und vielleicht kann der Blick auf „Familie Pfundig“ das Verständnis dafür schärfen, auf welch samten Pfoten sie uns bis heute umschleicht.

Uwe Spiekermann, 5. November 2022

Flämmchen hilft – Nationalsozialistische Propaganda für sparsames Heizen

Galoppierende Inflation, einbrechende Wachstumsprognosen, zunehmende Insolvenzen und wachsende Deindustrialisierung auch abseits der Automobilindustrie – zu alledem steht die Bundesrepublik Deutschland vor einer weit über den kommenden Winter hinausreichenden Energiekrise, genauer einer Energiepreiskrise. Sie ist vorrangig Ergebnis einer unausgegorenen, ökonomische Grundregeln verletzenden Energiewende und einer westlichen Sanktionspolitik gegen die russische Föderation, die deutsche Interessen schlicht hintanstellt – und damit zugleich eine vernünftige Klimaschutzpolitik unterminiert. Die wirtschaftlichen, sozialen und zunehmend auch politischen Folgen dieser Maßnahmen werden durch eine massive Verschuldung nur zeitweilig überdeckt. Der nicht nur für Marktwirtschaften essenzielle Preismechanismus kann langfristig nicht suspendiert werden. Es scheint, dass das politische Führungspersonal sich dieser Probleme nicht einmal ansatzweise bewusst ist.

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Kriege, Krisen und die Naturalisierung der Not (Zeitbilder 1919, Nr. 42 v. 16. November, 8 (l.); Lachen Links 1, 1924, 51)

Historisch ist diese von den üblichen Empörungs- und Erregungswellen begleitete Lage allerdings keineswegs außergewöhnlich. Die Kohle- und Gasnot von 1916 bis 1923 hat zahllose Erkrankungen und Todesfälle nach sich gezogen, trotz alledem entwickelte sich die Weimarer Republik zu einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen. Auch während der ersten Jahre des NS-Systems gab es wachsende Probleme bei der Energieversorgung der Bevölkerung und des Gewerbes. Sie intensivierten sich während des Zweiten Weltkrieges und kumulierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit als wegbrechende Fördermengen, die Bildung der Besatzungszonen und ein zusammenbrechendes Transportsystem die Versorgungsprobleme nochmals massiv verschärften. Demgegenüber war die Ölkrise weniger ein wirtschaftlicher als vielmehr ein gesellschaftshistorischer Bruch. Anders in der DDR, wo die auf Braunkohle und importiertem Erdöl basierende Energiepolitik zu einem gleichermaßen ökologischen und ökonomischen Bankrott führte; nicht zuletzt aufgrund des stetig ausgesetzten Preismechanismus.

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Selbsthilfe angesichts der Kohlennot (Simpl 1, 1946, Nr. 2, 2)

Bei all diesen Energiekrisen zielten staatliche und halbstaatliche Akteure darauf Mangellagen abzufedern, Unternehmen und Bevölkerung zu beschwichtigen und ihnen zugleich Handreichungen zur Krisenbewältigung zu geben. Die NS-Zeit ist dabei von besonderem Interesse, denn damals kam die Energiekrise überraschend: Einheimische Stein- und Braunkohle war im Deutschen Reich nämlich in großen Mengen und zu erschwinglichen Preisen verfügbar. Sie bildete die Basis nicht nur der Chemieindustrie, der Feuerarbeit und der Eisenbahn, sondern auch der Strom- und Gasproduktion sowie des Hausbrandes. Der Vorrat schien praktisch „unbegrenzt“ (Steinkohle, in: Otto Ernst Paul und Wilhelm Claussen, Grossdeutschland und die Welt. Ein Wirtschafts-ABC in Zahlen, Berlin 1938, 399-402, hier 400; zur Einordnung Dariya Manova, »Sterbende Kohle« und »flüssiges Gold«. Rohstoffnarrative der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2021). Schwachpunkte bildeten lediglich die deutlich seltener verfeuerten Ressourcen Holz und Erdöl, denn beträchtliche Mengen mussten devisenträchtig eingeführt werden – trotz einer intensivierten Erdölförderung vorrangig in Niedersachen und Aufforstungsprojekten in großen Teilen des Deutschen Reiches.

Winternot und Versorgungsprobleme

Kohle bildete Mitte der 1930er Jahre die Rohstoffgrundlage für Zivilgesellschaft, Gewerbe und die nun vermehrt einsetzende Aufrüstung. Die Bergbaukapazitäten waren noch nicht ansatzweise ausgenutzt, die Saarkohle erweiterte sie nochmals. Die beträchtlichen Rationalisierungen in der Schwerindustrie, der Stromproduktion und der Reichsbahn reduzierten inländische Nachfrage. Stärker noch schlugen die wegbrechenden Auslandsmärkte zu Buche, Frankreich, Belgien, die Niederlande und die UdSSR (Reinhold Reith, Kohle, Strom und Propaganda im Nationalsozialismus: Die Aktion „Kohlenklau“, in: Theo Horstmann und Regina Weber (Hg.), „Hier wirkt Elektrizität“ Werbung für Strom 1890-2010, Essen 2010, 142-157, hier 145). Der zu vier Fünfteln aus Kohle gewonnene Strom sowie die in der Zwischenkriegszeit stark verbesserte Kohlevergasung bildeten dagegen Wachstumsmärkte. Auch der Vierjahresplan erforderte seit 1936 rasch wachsende Kohlemengen, weit mehr noch die Auswirkungen des Krieges. Das galt für die Reichsbahn, für neue Lieferverpflichtungen des europäischen Hegemons gegenüber besetzten, verbündeten und neutralen Staaten. Die zunehmende Stromnutzung städtischer Haushalte führte zu Belastungsspitzen, die bereits im Winter 1938/39, dann insbesondere im Kriegswinter 1939/40 nicht mehr bedient werden konnten (Reith, 2010, 146-147). Institutionelle Umgestaltungen waren die Folge (Vereinfachung der Organisation der Kohlenwirtschaft, Rhein- und Ruhrzeitung 1939, Nr. 345 v. 17. Dezember, 7), doch die Probleme blieben bestehen. Im Herbst 1940 wurde auch in der gleichgeschalteten Presse zunehmend „Sorge“ über die Kohleversorgung laut (Stand der Kohlenwirtschaft, Volksblatt (Hörde) 1940, Nr. 251 v. 24. Oktober, 1). Die offiziellen Stellen, etwa der Reichskohlekommissar Paul Walter, beruhigten, doch es war klar, dass neben die schon seit längerem bestehenden Appelle, etwa die Reichsbahn zugunsten der Wehrmacht weniger zu nutzen, striktere Sparvorgaben rücken würden, die durch das Rationierungs- und Bewirtschaftungssystem auch erzwungen konnten. Eine von November 1940 bis etwa Februar 1941 laufende Sparkampagne des Reichsausschusses für Volkswirtschaftliche Aufklärung (RVA) hielt die Bevölkerung dann zu „richtigem“ Heizen an – also zu verstärkten Sparanstrengungen. Die Zeichentrickfigur „Flämmchen“ wurde ihr freundliches Gesicht.

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Propagandafeldzüge gegen Hunger und Kälte (Illustrierte Technik 11, 1933, H. 35, XXIV (l.); Die Bewegung 4, 1936, Nr. 1, 12)

Die Brisanz der stockenden Kohlenversorgung resultierte teils aus der hämmernden und durchaus erfolgreichen Parolenwelt der frühen NS-Propaganda (Birgit Witamwas, Geklebte NS-Propaganda. Verführung und Manipulation durch das Plakat, Berlin und Boston 2016, insb. 154-159). Nach der Machtzulassung der NSDAP setzte – nach der Zerschlagung der Arbeiterbewegung – nicht nur eine „Arbeitsschlacht“ unter Parolen von „Arbeit und Brot“ ein. Der Kampf um ein auskömmliches Leben und ordentliches Essen und Wohnen griff weiter, sollte Teilhabe in der Diktatur suggerieren, eine sorgende Obrigkeit, eine gegenüber Not sensible Volksgemeinschaft. Die Sozialpolitik der verschiedenen staatlichen und NS-Wohlfahrtsorganisationen zielte daher immer auch auf die Bekämpfung der Kälte, des Frierens. Typisch hier war insbesondere die Propaganda des 1933 anlaufenden Winterhilfswerks. Eintopfessen suggerierten seit Herbst 1933 nicht nur Teilhabe, sondern boten auch etwas Warmes. Die (recht begrenzten) Hilfsleistungen der NS-Volkswohlfahrt und des Winterhilfswerkes umfassten nicht nur Geld, sondern auch und gerade warme Kleidung sowie Kohle- und Holzlieferungen (vorrangig institutionell Peter Hammerschmidt, Die NS-Wohlfahrtsverbände im NS-Staat, Wiesbaden 1999; Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380).

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Mobilisierung im Kampf gegen die Not des Winters (Baruther Anzeiger 1936, Nr. 14 v. 31. Januar, Beil., 2 (l.); Die Bewegung 4, 1936, Nr. 6, 2)

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre musste die Mehrzahl der Deutschen nicht frieren – trotz räumlich und zeitlich begrenzter Versorgungsprobleme. Die Preise waren von der kartellierten Industrie und dem Staat festgelegt, eine Mengenkrise dann mit der Rationierung des Hausbrands eingehegt. Sie begann parallel zur Lebensmittelbewirtschaftung unmittelbar vor der Kriegserklärung an Polen am 1. September 1939. Allen Vorbereitungen zum Trotz brach die Kohleversorgung im Extremwinter 1939/40 jedoch ein. Die Temperaturen lagen im Deutschen Reich zwischen fünf und zehn Prozent unter dem langjährigen Durchschnitt der 1881 begonnenen Wetteraufzeichnungen, in Europa war es kaum anders (The Severe Winter of 1939-40, Nature 145, 1940, 376-377). Der erste Kriegswinter war der kälteste seit mehr als einhundert Jahren, im Januar 1940 lag die Durchschnittstemperatur bei -9°C (https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitreihe_der_Lufttemperatur_in_Deutschland). 1940/41 und 1941/42 sollten noch zwei weitere äußerst kalte Winter folgen.

Das wusste man im Sommer 1940 noch nicht, doch vorsorgende Kampagnen schienen angesichts des Drucks auf den Kohlebergbau und das Transportsystem unabdingbar. Die beträchtlichen Auswirkungen der Witterungseinflüsse schlugen nicht allein auf die vielbeschworene „Stimmung“ durch, sondern wurden immer auch dem Regime zugerechnet. Der kleine Helfer „Flämmchen“ zielte ab Herbst 1940 auf die Mehrzahl der Haushalte. Doch schon zuvor gab es Betriebsamkeit an der Heimatfront. Die Deutsche Arbeitsfront, eine Zwangsgemeinschaft in der Nachfolge der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, begann im Sommer 1940 mit einer reichsweiten Kampagne „Heize richtig“. Sie zielte auf Fachleute, die durch Kurse und Lehrgemeinschaften dazu befähigt werden sollten, „daß das Heizen im Herbst und Winter unter sparsamster Verwendung des Heizstoffes erfolgt“ (Neue Wege zur Kohlenersparnis, Der Führer 1940, Nr. 260 v. 30. September, 4). Hauswarte und die Heizer von Zentralheizungs- und Warmwasseranlagen wurden aufgerufen, nach der Arbeit an fünftägigen, insgesamt fünfzehnstündigen Lehrgängen teilzunehmen. Die Adressaten wurden durch die Deutsche Arbeitsfront und die Reichsstelle für Kohle im Vorfeld erfasst, diesen dann Übungsleiter zugewiesen. Nach regelmäßigem Besuch erhielt jeder Teilnehmer eine Besuchsbestätigung (Richtig heizen!, Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14611 v. 20. September, 6). Man gab vor, bei privaten Hausbesitzes und Gebäuden mit nebenamtlichen Heizern dadurch Wärmeverluste von bis zu 25-30 Prozent vermeiden zu können.

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Qualifizierung zum richtigen Heizen: Lehrgänge und Lehrgemeinschaften (Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 190 v. 5. August, 3 (l.); Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 216 v. 14. September, 12)

Obwohl die Kampagne „Richtig heizen“ nicht auf die insgesamt klar dominierenden Öfen und Heizungen in den Privathaushalten zielte, stimmte sie dennoch auf die Herausforderungen eines möglichen kalten Winters ein. Die Zeitschriften enthielten vermehrt praktische Hinweise: „Vorsicht! Die Oefen immer sauber halten; wenn der Ofen raucht, den Kaminkehrer lieber zu früh holen als zu spät; die Oefen nicht überlasten: es ist nichts damit getan, daß es im Ofen ‚bullert‘, davon wird das Zimmer nicht warm. Wer richtig heizt, der heizt sparsam und zugleich gut! Und – das sei nochmals betont! – man verlasse sich nicht darauf, daß ‚schon alles in Ordnung‘ ist! Im vergangenen Winter sind unsre Oefen infolge der langen und strengen Kälteperiode stark in Anspruch genommen worden; sie müssen unbedingt nachgesehen werden, und hier sparen zu wollen, wäre sehr ungeschickt und unter Umständen sehr teuer“ (Richtig heizen – sparsam heizen – gut heizen!, Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 245 v, 5. September, 9). All das war noch Teil einer ständisch-patriarchalen Gesellschaftsordnung: Die männlichen Fachleute wurden geschult, die Großtechnik ihnen vorbehalten, die Leitung der lehrenden Ingenieure und Techniker gegenüber Handwerkern und Praktikern festgeschrieben. Die Hausfrauen (und auch ihre Männer) sollten den Ofen pfleglich behandeln, im Falle von Problemen aber die geschulten Fachleute an die Öfen rufen (Richtig heizen will gelernt sein, Kleine Volks-Zeitung 1940, Nr. 265 v. 25. September, 5).

Flämmchen – Eckpunkte einer Massenkampagne

Die Flämmchen-Kampagne lief Ende Oktober an – parallel zum damaligen Beginn der Heizperiode. Sie war seit Mai 1940 geplant worden. Die Federführung lag beim Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, der der breiten Öffentlichkeit vor allem durch die seit 1936 laufenden „Kampf-dem-Verderb“-Kampagnen bekannt war (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 388-390). In der Forschung hat sie bisher kaum Widerhall gefunden – obwohl die gesamte Bevölkerung des Großdeutschen Reiches dadurch zu einem regime- und kriegskonformem Heizen gebracht werden sollte. Gewiss, man kann den Zweck auch enger fassen, gemäß dem Motto: „Schränke den Verbrauch ein, wo und wie du nur immer kannst!“ (Sparsamkeit im Hausbrand!, Badische Presse 1940, Nr. 268 v. 4. November, 4) Doch die Kampagnenfigur Flämmchen entsprach erst einmal so gar nicht dem strikten Raster der durch die Rationierung strikt gesteuerten Hausbrandversorgung.

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Flämmchen als Helfer beim Heizen (Solinger Tageblatt 1940, Nr. 262 v. 5. November, 8 (l.); Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 264 v. 8. November, 5)

Flämmchen war eine Zeichentrickfigur, zugleich ein sympathisches Kerlchen. Die Anfang November 1940 geschalteten Anzeigenmotive erneuerten einerseits die früheren Versprechungen des NS-Regimes, dass in der vermeintlichen Volksgemeinschaft keiner werde frieren müssen (sieht man von den zahlreichen „Gemeinschaftsfremden“ einmal ab). Anderseits aber forderte Flämmchen aktives Handeln ein, richtiges Heizen. Auch wenn der Sommer 1940 deutlich wärmer war als der des vorherigen Jahres, war angesichts der recht kühlen August- und Septembertemperaturen doch neuerlich mit Versorgungsengpässen in einem kalten Winter zu rechnen: „Wir wollen zwar nicht hoffen, daß der kommende Winter wieder so bitterkalt wird wie der letzte. Aber vorsorgen wollen wir trotzdem, daß wir unsere Räume möglichst warm haben, auch wenn wir nicht beliebig viel Heizmaterial verfeuern können“ (J. Jahn, Wie halte ich die Zimmer warm?, St. Pöltener Bote 1940, Nr. 40 v. 3. Oktober, 8).

Flämmchen war ein Sympathieträger, positiv gesinnt, häuslich begrenzt, mit Blick für an der Heimatfront anstehende Aufgaben. Der Aufruf des RVA zeichnete bei Kampagnenbeginn gleichwohl ein einigermaßen realistisches Bild der Versorgungslage: „Zwar birgt der deutsche Boden genügend Vorräte an Kohlen. In den deutschen Wäldern wächst das Holz ständig nach. Und trotzdem heißt das Gebot der Stunde: Schränke den Verbrauch ein, wo und wie du nur immer kannst! Unsere Vorräte an Kohle und Holz müssen nämlich nicht nur für uns ausreichen, sie werden heute auch benötigt, um die Staaten, die mit uns in Handelsbeziehungen stehen, damit zu versorgen und andere für uns wichtige Güter dafür einzutauschen“ (Sparsamkeit im Hausbrand, Derner Lokal-Anzeiger 1940, Nr. 260 v. 2. November, 4). Doch dies hieß nicht Frieren für ein vom Deutschen Reich wohlig versorgtes Ausland. Es bedeutete das Zurückstellen eigener Interessen, um den Kriegserfolg und die europäische Vormachtstellung der Nation zu unterstützen.

Flämmchen wurde der Öffentlichkeit erst einmal mittels Anzeigen und auch einschlägigen Plakaten vorgestellt. Die Figur war ein appellativer Hingucker, verpackte die Botschaft des Sparens in eine des richtigen Umgangs mit Brennmaterial, Öfen und Wohnung. Bilder lockten, doch schriftliche Informationen dominierten, ein Wissenstransfer von Experten zu Laien. Die Anzeigen verwiesen auf ergänzende Informationen, im Rundfunk, in einer gesonderten Broschüre, in den Tageszeitungen selbst. Das entsprach dem damals geltenden Paradigmen der öffentlichen Beeinflussung, die von einem schwachen Rezipienten ausgingen, von starken Wirkungen einer breit gestreuten Botschaft. Flämmchen und daran anknüpfende Aufklärungsaktionen spiegelten sich entsprechend im Masseneinsatz der Werbemaßnahmen 1940 und 1941: „24 Millionen Faltblätter mit Anweisungen und Hilfen für richtiges Heizen an Stelle von 12 Millionen des Vorjahres, 4500 Diapositive, die in mehrmaliger Folge in allen Lichtspieltheatern mit mindestens 200 Sitzplätzen und mindestens zwei Spieltagen in der Woche vorgeführt wurden, ein Vorspann für die Kinowochenschau, Rundfunkhinweise bei den Tageszeitungen, Merkblätter mit ausführlichen Anweisungen in einer Auflage von mehreren Millionen, die von den Kohlensyndikaten bearbeitet und herausgegeben und vom Deutschen Frauenwerk verteilt und in aufklärenden Vorträgen als Unterlage benutzt wurden, eine Artikelserie im volkswirtschaftlichen Aufklärungsdienst, eine Auflage von Artikeln in der gesamten deutschen Presse, veranlaßt vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, und Anschläge an den Haustafeln der NSDAP“ (Hans Ruban, Volkswirtschaftliche Aufklärung im Kriege, Wirtschaftswerbung 9, 1942, 33-34, hier 34). Hinzu kamen zahlreiche praktische Schulungen. Während diese in den Städten teils von Heizungsfachleuten und der Deutschen Frauenschaft organisiert wurden, präsentierten auf dem Lande auch Landwirtschaftslehrerinnen die Kernbotschaften des richtigen Heizens (Kärntner Volkszeitung 1941, Nr. 26 v. 3. März, Nr. 26, 6).

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Regeln für „richtiges“ Heizen (Illustriertes Tageblatt (Ausgabe E) 1940, Nr. 260 v. 5. November 1940, 3)

Flämmchen half erst einmal, einfache Regeln zu verbreiten, beherzigenswerte und handhabbare Vorgaben. Sie standen in der Tradition der im Ersten Weltkrieg vermehrt aufkommenden, in der Zwischenkriegszeit dann ihren Höhepunkt erreichenden „Gebote“ (Zwanzig Gebote der deutschen Hausfrau, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 8, 1915, 44; Gerhard Hahn, Die 10 Gebote der Gesundheit, Blätter für Volksgesundheitspflege 21, 1921, 62-63; Zwölf Gebote für die Hausfrau, Hannoversche Hausfrau 25, 1927/28, Nr. 19, 4; Max Winckel, Die 10 Gebote der Ernährung, Die Volksernährung 3, 1928, 95-96; 10 Gebote der Sparsamkeit, Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 6, 1931, 243). Während der NS-Zeit prägten zahlreiche „Gebote“ die Ernährungs- und Gesundheitspolitik, doch sie standen trotz ihres vielfach ideologischen Gehaltes in der Tradition einer bürgerlichen Gebotskultur, die auf die Belehrung der breiten Mehrzahl durch Experten zielte (10 Gebote Kampf dem Verderb, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 382; Zwölf Gebote zweckmäßiger und sparsamer Ernährung 12, 1937, 369-370; 12 Gebote der Gesundheit, Volksgesundheitswacht 1939, 104).

Regeln, darunter auch die durch die Flämmchen-Kampagne propagierten acht Grundregeln für richtiges Heizen waren dagegen enger gefasst, verbindlicher. Gebote gaben eine Richtung vor, Regeln dagegen Handlungsanweisungen. In den späten 1930er Jahren waren sie noch eng an technische Abläufe und damit vermeintliche Sachgesetzmäßigkeiten angelehnt (Regeln für die Benutzung des elektrischen Herdes, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 43; Zwölf wichtige Regeln für deine Ernährung, Reichs-Gesundheitsblatt 12, 1937, 50). Während des Krieges machten sie auch begrifflich den wachsenden Ernst der Lage deutlich, artikulierten zugleich eine andere Erwartungshaltung an die Adressaten. Sie nicht zu beachten würde Konsequenzen nach sich ziehen. Im Falle des Heizens waren das erhöhte Kosten, geringe Wärmeffizienz, der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Wissenden und Handelnden.

Der Wertekanon der mittels Flämmchen propagierten Regeln war dabei erwartbar: Sauberkeit, Effizienz, Verlässlichkeit, Stetigkeit, Achtsamkeit, Vorsorgeorientierung und einen klaren Blick auf die Grenzen der eigenen Fähigkeiten. Heizen war 1940 eine aufwändige Angelegenheit, das Holen des Brenngutes, das Anzünden und Schüren des Feuers, das manuelle Nachlegen und die beträchtlichen Reinigungsaufgaben sind heute kaum mehr bekannt. Flämmchen lehrte Kniffe, um mit all dem effizient umzugehen, um so Ressourcen zu sparen. Doch die Regeln dienten immer auch der Stärkung und Unterstützung eines Wertekanons, der als deutsch verstanden und propagiert wurde (Grundregeln für richtiges Heizen, Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 304 v. 3. November, 7; sowie beispielsweise Wie heize ich richtig?, Durlacher Tageblatt 1940, Nr. 257 v. 31. Oktober, 5; Wie heize ich richtig?, Illustriertes Tageblatt (Ausgabe E) 1940, Nr. 260 v. 5. November, 3; Acht Grundregeln für richtiges Heizen, Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 264 v. 9. November, 5).

Flämmchen nahm diesen Regeln viel von ihrer Striktheit. Die Sanftheit und Freundlichkeit der Figur war etwas anderes als der schnarrende Ton der NS-Granden, die bürokratische Sprache der Rationierungsverordnungen. Man wusste um die Härte der Regeln, doch Flämmchen baute eine Brücke, um sie zu befolgen. Neben der steten Arbeit stand aber auch eine andere Vorstellung von Frieren, von Wärme: „Unter normalen Umständen soll das Thermometer im Raum 18 Grad anzeigen. Für ältere und kranke Personen können es auch 20 Grad Celsius sein. Friert einer dennoch bei diesen Temperaturen, so möge er sich etwas wärmer anziehen“ (Heizen im Vorwinter, Rheinisches Volksblatt 1940, Nr. 274 v. 20. November, 5).

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Gemeinschaftsaufgabe Heizen (Aachener Anzeiger 1940, Nr. 281 v. 27. November, 6)

Die Kunstfigur Flämmchen präsentierte das Heizen zugleich als eine Gemeinschaftsaufgabe. Federführend war der RVA, doch die Kampagne verkörperte die enge, ja verschworene Kooperation einer Tatgemeinschaft: „Die gesamte Aufklärungsaktion, an der der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, der Reichskohlenkommissar, der Werberat der deutschen Wirtschaft, die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz und die Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung mitarbeiten, ist ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit der behördlichen Wirtschaftsführung mit der Praxis. Alle stehen im Dienst der Aufklärung“ (Sparsamkeit, 1940). Als Akteure, als Anreger wurden der Staat, die NSDAP und die Wirtschaft präsentiert – auch wenn die eigentliche Arbeit just bei der Bevölkerung lag. Selbst eine fachlich nicht sonderlich geeignete Person wie der Reichskohlenkommissar Walter konnte sich, als Repräsentant einer dienenden Branche, als Teil der Volksgemeinschaft präsentieren: „In ‚Flämmchen‘, dem guten Hausgeist, ist den Hausfrauen, den Hausangestellten – kurz allen Personen, die häusliche Feuerstätten bedienen, ein Helfer entstanden, der sie bei der sparsamen Verwendung der festen Brennstoffe unterstützt. Fort mit Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit! Her mit guten Ratschlägen für die beste Möglichkeit der Ausnutzung der in den Brennstoffen enthaltenen Werte! […] Der deutsche Kohlenhandel und die Schornsteinfeger werden sich mit allen verfügbaren Kräften in den Dienst der notwendigen Aufklärung stellen und ihren Kunden mit Rat und Tat zur Seite stehen“ (Ebd.). Flämmchen verwies auf eine gemeinsame Herausforderung, nicht auf einen Feind. Der gezeichnete Helfer verwies zugleich aber auf eine Gemeinschaft von Helfern, in die man sich auch aus Eigeninteresse einreihen sollte.

Flämmchen war trotz seiner freundlichen Erscheinung zugleich fordernd. Sanft, doch verbindlich. Richtiges Heizen war Teil eines Verpflichtungsdiskurses, das den Einzelnen als Teil einer gemeinsamen Anstrengung auch einband. Dazu grenzte man sich einerseits von einem angesichts der Rationierung nur selten möglichen Luxus ab: Hausbrand sei verfügbar, die Lager voll, doch das „darf uns […] nicht dazu verleiten, angesichts des ‚schwarzen Segens‘ nun drauflos zu wirtschaften und etwa so einzuheizen, daß man sich in einem Treibhaus wähnt. Mit Ueberlegung und etwas Einsicht läßt sich wenigstens ein Raum jeder Wohnung ständig warmhalten, wenn man einige kleine Kniffe kennt, die das Haushalten mit den Rohstoffen ‚Kohle‘ und ‚Holz‘ erleichtern“ (Richtiges Heizen hilft Brennstoff sparen. „Flämmchen“ – der gute Geist von Herd und Ofen, General-Anzeiger. GDA 1940, Nr. 309 v. 8. November, 5). Anderseits wurde der sparsame Umgang mit Brennmaterial vornehmlich volks- und kriegswirtschaftlich begründet. Der Einzelne müsse nicht frieren, wenn er denn richtig heize. Doch durch dessen bescheidenes Opfer, dessen vermehrte Arbeit, könne der Staat seine schützend gedeutete Macht ausbauen und festigen. Richtig heizen war Kriegsdienst an der Heimatfront, war zugleich ein Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung der gesamten Wirtschaft. Mittelfristig würde sich dies verzinst auszahlen, denn nur ein mächtiges Reich könne den anvisierten hohen Lebensstandard nach Ende des Krieges auch garantieren. Versagen im Hier und Jetzt würde diese Chancen jedoch unterminieren.

Die Flämmchen-Kampagne zielte auf willige Umsetzung, präsentierte zugleich aber nachvollziehbare Begründungen für sparsames, richtiges Heizen. Das Deutsche Reich wurde nicht nur als Land der Kohle präsentiert, sondern es stand auch für eine mit dem Rohstoff verbundene Zivilisationsmission. Deutsche Forscher würden das schwarze Gold zu vielfältigen neuen Produkten umformen. Kohle war wertvoll, stand in einer Reihe mit einer wachsenden Zahl ansprechender Austauschprodukte, wie synthetischen Treibstoff, Buna, Kunstseide oder Milei. Ähnliches ließ sich für Holz sagen, für den neuen Werkstoff Holzzucker. Sparsamkeit erhielte und erweiterte diese Möglichkeiten auch während des Krieges. Doch nicht nur Technik und Erfindergeist wurden angeführt. Als Kulturvolk seien die Deutschen Lernende, die an einem Katastrophenwinter wie 1939/40 nicht zerbrechen würden, sondern die lernend derartige Unbilden wenden könnten. Jeder war davon betroffen, jeder müsse als Deutscher nun daraus Konsequenzen ziehen. Industrie und Gewerbe seien vorangegangen, die Haushalte müssten nun folgen: „Die Hausfrau hat noch nicht begriffen, ein wie wichtiger Devisenbringer die Kohle ist, wie kriegsnotwendig unsere großen Ausfuhren nach Italien sind, wie bedeutungsvoll sich die beherrschende Stellung des Reiches gerade auf dem Kohlenmarkt bei der künftigen wirtschaftlichen Neugestaltung Europas auswirken wird. Die Hausfrau heizt teilweise noch nach Regeln, die vielleicht für Urväter Zeiten einmal tragbar gewesen sein mögen. Heutzutage muß sie sich im Interesse des großen Ganzen einmal danach umsehen, wie man richtig, das heißt, wie man so sparsam wie irgend möglich heizt. […] Lohnt sich für solchen Einsatz nicht ein wenig Umsicht?“ (Wie heize ich richtig? Riesaer Tageblatt 1940, Nr. 252 v. 25. Oktober, 2). Richtig Heizen war ein Modernisierungsschub für die Gemeinschaft, lenkte auch die Hausfrau hin auf die Erfordernisse der wirtschaftlich und wissenschaftlich führenden Nation.

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Flämmchen vermittelt Ziele und Mittel der Kampagne (Der Patriot 1940, Nr. 286 v. 4. Dezember, 7 (l.); Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 292 v. 11. Dezember, 8)

Derartige Kritik an den seit jeher vermeintlich rückständigen Hausfrauen war jedoch unüblich. Flämmchen schuf nämlich einen Puffer, einen Zwischenraum, in dem Kritik artikuliert werden konnte, ohne die vermeintlichen Verursacherinnen direkt anzugehen. Die Zeichentrickfigur erlaubte ein virtuelles Gespräch, eine indirekte Lenkung, denn seine Ratschläge wurden in die Welt des Haushalts eingebettet. „Was Flämmchen dir rät, / das nützt früh und spät. / Beim Kochen, Waschen, Baden und Heizen / Sollst stets du mit dem Brennstoff geizen!“ (Hier spricht „Flämmchen“, Znaimer Tagblatt 1940, Nr. 271 v. 16. November, 11). Die richtige Wahl des einen im Winter beheizten Raumes wurde erörtert, die Abdichtung der Fenster, der Türen, der Ofenritzen im Detail besprochen. Auch die Auswahl der Dichtungsstoffe wollte bedacht sein, die Verzahnung von Verdunkelung und Dämmung. Die Ratschläge reichten über den Ofen hinaus: Sollte man nicht die Heizplatte mit mehreren Töpfen besetzen, beim Waschen mehrere Kessel hintereinander nutzen oder aber den Badetag so organisieren, das alle Familienmitglieder nacheinander vom heißen Wasser profitieren konnten? („Flämmchen“ spricht: Mach’s so wie ich!, Riesaer Tageblatt 1940, Nr. 259 v. 2. November) Flämmchen erlaubte es der Hausfrau, mit dem Familienvorstand solche Fragen auch innerfamiliär anzugehen, sie mit Verweis auf Regeln und Rationalität durchzusetzen.

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Richtiges Heizen als Thema im Rundfunk (Rundfunkwoche Wien 3, 1940, Nr. 50 v. 7. Dezember, 10)

Schließlich zielte die auf Flämmchen gerichtete Aufmerksamkeit stetig auf die Broschüre „Wie heize ich richtig“. Diese wurde Anfang November durch die NS-Volkswohlfahrt an jeden zweiten Haushalt verteilt (auch um einen Austausch zwischen Nachbarn anzuregen) („Flämmchen“ spricht: „Mach’s so wie ich!“, Sächsische Volkszeitung 1940, Nr. 258 v. 2. November, 4). Für die ab und an angeführte Auflage von zwölf Millionen (etwa Reith, 2010, 66) habe ich zwar keine sicheren Nachweise finden können. Dennoch zielte Flämmchen, zielte die gesamte Kampagne auf häusliche Lektüre, auf den konkreten Vollzug des immer wieder angesprochenen richtigen Heizens: Das betraf etwa hinleitende Rundfunkvorträge und -interviews, Hörspiele und Einspieler, vereinzelte Fernsehsendungen, Diapositive in den Kinos, populäre Kurzfilmserien wie „Tran und Helle“ und auch Klischees und Matern für Zeitungen und Zeitschriften (Ruban, 1942, 33).

Bei Analyse der Eckpunkte der Flämmchen-Kampagne dürfen zwei Punkte allerdings nicht vergessen werden – und das teilt sie mit praktisch allen Kampagnen für Energiesparen. Erstens sind die Expertenratschläge keineswegs so sakrosankt, wie sie durch autorative Kampagnen erscheinen. Aus heutiger Sicht erscheinen insbesondere die damaligen Regeln für das Lüften recht fraglich. Experten haben eigene Wahrheiten, eigene Interessen. Ihnen blindlings zu folgen mag vielfach Sinn machen, doch kritische Distanz ist stets erforderlich, gibt es vielfach doch nicht den nur einen richtigen Weg. Zweitens sind Kampagnen dieser Art immer auch Umlenkungen, verzerren Kausalitäten, die Ursachen für die scheinbar erforderliche Sparsamkeit. Folgte man Flämmchen, so waren nicht der NS-Staat, die kartellierte Kohlenindustrie, die Rationierungspolitik und die Folgen der Angriffskriege Anlass für die Kohlenkalamität, sondern der unangemessene Umgang mit den Brennstoffen in Haushalt (und Gewerbe). Grundsätzlich sinnvolle Ratschläge haben daher immer auch eine ideologische Komponente.

Flämmchen im Kontext der nationalsozialistischen Konsumpolitik

Derartig bewusste Verengungen der Blicke gelten jedoch nicht nur für die Konsumlenkung oder die Werbung. Sie gelten auch für wissenschaftliche Beiträge. Die Darstellung der Kampagne allein ist eben unterkomplex. Daher will ich drei zusätzliche Aspekte näher beleuchten, ohne die die Flämmchen-Kampagne nicht recht zu verstehen ist. Sie ist erstens in die NS-Konsumpolitik einzubetten, zweitens in die Arbeit des RVA zu integrieren und drittens gilt es sich vertieft mit der Figur des Flämmchens auseinanderzusetzen. Wenn sie eine engere Perspektive bevorzugen, so können Sie auch direkt mit der Analyse der Flämmchen-Broschüre fortfahren.

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Konsumtraum Auto – über den Volkswagen hinaus (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 204 v. 23. Juli, 12)

Die NS-Zeit erscheint im Nachhinein zu Recht als eine Periode zunehmender materieller Not, zunehmender Gängelung im Konsumsektor. Doch sie war zugleich auch eine der überwundenen Not der Weltwirtschaftskrise, einer wachsender Prosperität. Radios wurden Alltagsgegenstände, Urlaub weitete die Horizonte, das Kino zeigte Unterhaltung und die Welt, neben Motorräder traten Automobile (so schon Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin-West 1986, 498-514). Es gab das Ideal eines Lebens in Fülle, einer prosperierenden Konsumgesellschaft. Das Alltagsleben würde einfacher werden, die Arbeit belohnt, man würde die USA einholen, zugleich aber würden alle willig Arbeitenden am Wohlstand teilhaben.

In der Forschung wurde immer wieder auf das ambivalente Vorbild der USA verwiesen, zugleich auf die Brüchigkeit der konsumtiven Versprechungen angesichts der von Beginn an laufenden Kampagnen zur Regulierung des Konsums, etwa bei Tabak und Alkohol, beim Weißbrot und bei Auslandsware. Das mag eine gewisse Berechtigung haben: Doch einerseits sind moralische Regulierungen integraler Bestandteil jeder Konsumgesellschaft, und zum anderen war das konsumtive Vorbild der USA angesichts der Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise für die meisten Deutschen kaum mehr ein Vorbild. US-Firmen und amerikanische Werbeformen scheiterten im Deutschen Reich seit den späten 1920er Jahren vielfach, waren doch die Absatzmärkte anders strukturiert, waren die Vorstellungen guter Ware, preiswerter und gefälliger Produkte deutlich andere, folgten vor allem Händler und Produzenten anderen Idealen als in den vielfach fordistischen USA (vgl. hierzu Uwe Spiekermann, German-Style Consumer Engineering: Victor Vogt’s Verkaufspraxis, 1925-1950, in: Jan Logemann, Gary Cross und Ingo Köhler (Hg.), Consumer Engineering 1920s-1970s, Houndsmill und New York 2019, 117-145, insb. 128-132 sowie Versorgung in der Volksgemeinschaft). Das bedeutet nicht, die Attraktivität des US-Vorbildes zu negieren – man denke nur an das Blondieren vermeintlich arischer Frauen im Stile Hollywoods. Das bedeutet aber Abstand zu nehmen von unkundigen Aussagen über deutsche Konsumideale als treibende Kraft für Rassenkrieg und Holocaust. „Hinter jedem imaginären deutschen Rassenkrieger stand“ eben nicht! „eine imaginäre deutsche Hausfrau, die immer mehr wollte“ (Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, Frankfurt a.M. 2017, 29). Die Konsumwünsche der Bevölkerung waren realistischer als die öffentlich immer wieder artikulierten Ideale.

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Konsumwünsche auch während des Krieges (Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1941, Nr. 16950 v. 2. Januar, 5)

Auch die Flämmchen-Kampagne war Teil einer die NS-Zeit prägenden Auseinandersetzung zwischen Staat, Wirtschaft und Konsumenten über Konsumverhalten und Konsumziele – selbst unter den restriktiven Bedingungen der Rationierungen, selbst in der von der konsumhistorischen Forschung zumeist ignorierten Energiewirtschaft (Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000; Tim Schanetzky, Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich, München 2015). Konsum waren während der NS-Zeit immer auch mit Lenkungsabsichten gekoppelt (Claudius Torp, Wachstum, Sicherheit, Moral. Politische Legitimationen des Konsums im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, 65).

Das nationalsozialistische Konsummodell oszillierte eben nicht zwischen utopischer Fülle und den Härten eines regulierten Alltagskonsums, sondern war vom Eigensinn der Menschen im Rahmen immer restriktiver kapitalistischer Konsumgütermärkte geprägt. Sie wussten mit den Maßnahmen und Vorgaben der Regierung umzugehen, denn seit dem Ersten Weltkrieg hatten sie gelernt, dass Kampagnen zumeist inkonsequent durchgeführt wurden, dass der Lenkungseifer seine Grenzen hatte (Ebd., 68-69). Selbst der ideologische Überbau eines Völkerringens war aus den Debatten der Weltwirtschaftskrise wohlbekannt – doch er erhielt während des Zweiten Weltkrieges höhere Glaubwürdigkeit, denn nun ging es nicht mehr um Auslandsmärkte und Arbeitsplätze, sondern um Lebensraum und Träume von einem reichen, hegemonialen Herrenvolk. Sparsamkeitskampagnen wurden entsprechend akzeptiert und auch teils murrend befolgt, waren aber kein Bruch mit bestehenden Konsumidealen.

Dabei ging es, wie die Flämmchen-Kampagne unterstreicht, aber nicht allein um Expansion und Raub, sondern immer auch um die Nutzung von Möglichkeiten der deutschen Technik, der deutschen Volkswirtschaft: Holz und Kohle schienen konsumtiv zu wertvoll, um sie zu verbrennen: „Der wirtschaftliche Nutzen, der beim Heizen von Wohnungen, beim Kochen, Waschen und Baden erreicht wird, entspricht nicht dem wirklichen wirtschaftlichen Wert der beiden Güter, der auf anderem Wege der Gesamtwirtschaft des Volkes weit besser nutzbar gemacht werden kann“ (Sparsamkeit im Hausbrand, Derner Lokal-Anzeiger 1940, Nr. 260 v. 2. November, 4). Derartige Visionen alternativer konsumtiver Nutzungen der Brennstoffe finden sich später auch bei Erdöl und Erdgas, im Rahmen globaler Energiedebatten. Die national begrenzte Flämmchen-Kampagne entwickelte und propagierte stattdessen Vorstellungen einer Konsumgesellschaft aus deutschen Werkstoffen und deutscher Kraft. Kohle diente „zur Herstellung wichtiger Erzeugnisse der Industrie, wie von Benzin, Buna, Fetten, Arzneimitteln, Farben und verschiedenen Kunststoffen. Ebenso wertvoll ist natürlich auch das Holz, aus dem u. a. Kunstseide und Zellwolle, Papier, Zucker und sogar Alkohol hergestellt werden“ (Richtiges Heizen hilft Brennstoff sparen. „Flämmchen“ – der gute Geist von Herd und Ofen, General-Anzeiger. GDA 1940, Nr. 309 v. 8. November, 5). Einsparen bedeutete demnach größere Konsummöglichkeiten im Deutschen Reich just während des Krieges, nicht erst in einer lichten aber fernen Nachkriegszeit.

Der Flämmchen-Kampagne fehlte konsumtive Großsprecherei. Es ging um die Herstellung einer völkischen Effizienzgemeinschaft, die sich im Angesicht der Krise bewährte, die individuelle Bedürfnisse zurücknahm, um den Rüstungs- und Kriegsanstrengungen zu genügen. Das diente einer europäischen Vorrangstellung, doch es griff stärker noch real bestehende Sorgen vor dem kommenden Winter auf. Entsprechend verwies das imaginäre Flämmchen immer wieder auf Nachbarn, auf die helfenden Fachleute. Sie wurden als Leistungs- und Schicksalsgemeinschaft verstanden. Flämmchen wurde durch die ebenfalls imaginäre „kluge Nachbarin“ unterstützt, die dessen Heiz-Ratschläge schon seit langem praktizierte (Wir helfen alle zusammen, Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr.. 19 v. 19. Januar, 13).

Im Rahmen der NS-Konsumpolitik war die Kampagne aber nicht nur ein Appell für Selbsthilfe, für Nachbarschaftshandeln. Sie war auch ein Beitrag zur Fortexistenz der Werbung während des Krieges. Diese war durchaus umstritten, unterminierten doch das Rationierungssystem, die Mangelversorgung und auch wachsende Papierknappheit (Holz!) das zuvor übliche Werben um den Käufer. Die zunehmende, schon vor dem Weltkrieg einsetzende Beschränkung der privatwirtschaftlichen Werbung würde jedoch Mangellagen nicht verdecken können, gäbe es doch eine staatlich nicht stillzustellende konsumtive Alltagswahrnehmung. Um den Käufer dann nicht zum „Meckerer“ und „Miesepeter“ mutieren zu lassen, sei es erforderlich „offen und ehrlich“ (Reinhold Krause, Die Wirtschaftswerbung im Kriege mit einem Ausblick auf die zukünftigen Werbeaufgaben, Wirtschaftswerbung 8, 1941, 392-394) über Engpässe und Einschränkungen zu kommunizieren. Das blieb Aufgabe der Privatwirtschaft, führte zugleich zum Bedeutungsgewinn von Kampagnen des RVA. Staatliche Rationierung erforderte Kommunikation nicht nur über das „Warum“ bestimmter Maßnahmen, sondern zugleich auch über Regeln für gemeinschaftskonformes Handeln (F.W. Schulze, Grundsätzliches zur Werbung im Kriege, Deutsche Handels-Rundschau 33, 1940, 493-494, hier 493).

Verbrauchslenkung während des Nationalsozialismus: Der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung

13_Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung_Adler_Werbung_Verbrauchslenkung_Uwe-Spiekermann

Emblem und Namenszug des RVA (Uwe Spiekermann)

Die Flämmchen-Kampagne wurde vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung durchgeführt, dem zentralem Akteur der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung. Er ging aus dem Kuratorium deutscher Volkswirtschaftsdienst und dem Volkswirtschaftlichen Aufklärungsdienst im Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung GmbH hervor. Gegründet wurde er im März 1934 als GmbH mit einem Stammkapital von 21.000 RM in Berlin-Charlottenburg. Sein Zweck war anfangs die gemeinnützige „Förderung des Absatzes Deutscher Erzeugnisse und Leistungen, vor allem unter Berücksichtigung der deutschen Wertarbeit“ (Deutscher Reichsanzeiger 1934, Nr. 55 v. 6. März, 8). Als Geschäftsführer agierte Kurt Melcher (1881-1970), während der Weimarer Republik Polizeipräsident in Essen, nach dem „Preußenschlag“ bis Februar 1933 dann Polizeipräsident in Berlin. Während der NS-Zeit zeitweilig Oberpräsident und Mitglied des Preußischen Staatsrates war er politisch bestens vernetzt und nahm vielfältige Verwaltungsaufgaben im Rahmen der Zentralisierung von Staat und Wohlfahrtsverbänden wahr. Als Geschäftsführer wurde Melcher im Juni 1938 durch den früheren Kriegshelden und U-Boot-Kommandanten Heinrich Metzger ersetzt (Ebd., Nr. 146 v. 27. Juni, 13). Der dem Werberat der deutschen Wirtschaft und damit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellte RVA hatte zu dieser Zeit den Wirtschaftswerbedienst GmbH übernommen, ebenso die Aufgaben des Instituts für Deutsche Wirtschaftspropaganda. Heinrich Hunke (1902-2000), Präsident des Werberates, sah in ihm „eine schlagkräftige Einrichtung, die in der Überwindung von Mangellagen und bei der Einführung der neuen Werkstoffe eine rühmenswerte Leistung vollbrachte“ (Heinrich Hunke, Wandel und Gestalt der deutschen Wirtschaftswerbung in den letzten 70 Jahren, o.O. 1970 (Ms.), 19). Der RVA organisierte darüber hinaus zahlreiche Messen und Ausstellungen und unterstützte Firmen bei ihrer Exportwerbung. Bei alledem war er ein wichtiges Scharnier zwischen dem NS-Staat, der Wirtschaft, der Landwirtschaft und den Konsumenten. Typisch war die Kooperation, die „Gemeinschaftsarbeit“ mit zahllosen institutionalisierten Akteuren der NS-Zeit und die Nutzung praktisch aller existierenden Werbemittel (Alfred Heizel, Die volkswirtschaftliche Aufklärung als Staatsaufgabe. Der Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung, Werben und Verkaufen 26, 1942, 297-298; Matthias Rücker, Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. et al. 2001, 266-272). Bis heute bekannt sind seine in teils siebenstelliger Zahl aufgelegten und ehedem für ein, zwei Groschen verkauften Broschüren zu allen Fragen der Ernährung und der Haushaltsführung (Nancy Reagin, Tischkultur: Food Choices, Cooking and Diet in Nazi Germany, in: Lisa Pine (Hg.), Life and Times in Nazi Germany, London et al. 2016, 21-47; Hans Ruban, Volkswirtschaftliche Aufklärung im Kriege, Wirtschaftswerbung 9, 1942, 33-34, hier 33).

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Eine bunte Palette: Schriftenreihe des RVA für die praktische Hausfrau, Hefte 1 bis 10, 1939-1940 (Uwe Spiekermann)

Der RVA verkörperte eine ständisch strukturierte Wirtschaft (Industrie, Handwerk, Großhandel, Einzelhandel, Konsumenten) mit klaren Aufgaben für alle Beteiligten. Dennoch war er keine typisch nationalsozialistische Institution. Reichsausschüsse entwickelten sich vielmehr im Gefolge der Rationalisierungsdebatten der 1920er Jahre. Wegweisend waren etwa der 1921 gegründete Reichsausschuß für Ernährungsforschung oder der 1926 eingerichtete Reichsausschuß zur Förderung des Milchverbrauchs, der spätere Reichsmilchausschuß. Die Palette entsprechender Institutionen war breit, man denke nur an die Reichsausschüsse für Technik und Landwirtschaft, für Hygienische Volksbelehrung, für Volksgesundheitsdienst, für Hauswirtschaft, für Leistungssteigerung, etc. Gemeinsam war ihnen die enge Kooperation von Experten mit Staat und Wirtschaft. Damit gewannen sie gesellschaftliche Leitfunktionen, konnte das Wissen der Experten hierarchisiert und den Laien, Patienten, Hausfrauen und Verbrauchern übergeordnet werden. Es ist kein Zufall, dass der RVA ohne größere Häutungen in den Bundesausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung überführt werden konnte.

Der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung sah sich durchaus als Sachwalter des Konsumenten. Angesichts des auch in breiten Teilen der Wirtschaft akzeptierten Primates des Staates in der Volkswirtschaft bot er Hilfestellungen an, verdeutlichte die Zielsetzungen des NS-Staates, falls diese nicht bereits willig aufgegriffen wurden. Flämmchen und die dahinterstehende Kampagne standen in dieser Linie, denn sie versuchte nicht nur das Verhalten zu lenken, sondern auch die (geringen) Handlungsoptionen der Verbraucher zu optimieren.

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Populäre Comicfiguren für nationalsozialistisches Nudging: Groschengrab und Übeltöter (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 10, 1939, 248 (l.); Der Erft-Bote 1940, Nr. 61 v. 26. März, 5)

Flämmchen stand in einer Reihe ähnlicher Kunstfiguren, ähnlicher Kampagnen, aus denen der „Kampf dem Verderb“ gewiss herausragte (Der Werberat der Deutschen Wirtschaft im Jahre 1940, Der Markenartikel 8, 1941, 185-186, 188-190, hier 185-186). Es handelte sich um mehrere durch die Hauptparole verbundene „Werbefeldzüge“, um die Hauswirtschaft zu rationalisieren, um Einkaufen, Zubereiten, Konservieren und Entsorgen zu verändern. Werte sollten erhalten, Wohlstand dadurch vermehrt werden. Die Maßnahmen wurden evaluiert, die Werbesprache und die eingesetzten Werbemittel entsprechend angepasst. All das war „modern“, mochte es auch auf Kriegsbefähigung und -vorbereitung zielen. Das galt auch für die verschiedenen Werbefiguren. Das im Juni 1938 eingeführte „Groschengrab“ machte die vielfältigen Gefahren sichtbar, die unbedachte Vorratswirtschaft mit sich brachte. Groschengrab nutzte sie mit kindlicher Wonne, war ein Raffer ohne Selbstdisziplin. Er verkörperte, wenngleich in drastisch überzeichneter Weise, die bösen Folgen der unterlassenen Tat. Richtig böse aber war das Ungeheuer nicht, bot gar manchem Gourmand unausgesprochene Identifikationschancen. Entsprechend wurden die ausklingenden Feldzüge von Kampf dem Verderb zudem mit einer anderen, prototypisch positiven Identifikationsfigur verbunden. Der Übeltöter war ein Macher, besiegte schuppdiwupp die zahllosen Fraßschädlinge, die Ernten vernichteten, Vorräte verschlangen, Wertgegenstände zerstörten (Kampf gegen die Schädlingsbande, Der Erft-Bote 1940, Nr. 82 v. 23. April, 6). Die Figur war jedoch nicht besonders ansprechend, auch ihr Name war nicht glücklich gewählt. Flämmchen war eine Fortentwicklung, war jedoch weder Raffer oder Macher, sondern ein Helfer.

Groschengrab, Übeltöter und Flämmchen sind allesamt Beispiele für die hohe Bedeutung von Zeichenfiguren und Bildgeschichten/Comics im Alltag der NS-Zeit – auch wenn die Forschung sich zumeist lieber auf die Adaption amerikanischer Vorbilder nach 1945 beschränkt (Bernd Dolle-Weinkauff, Brita Eckert und Sylvia Asmus, Comics made in Germany. 60 Jahre Comics aus Deutschland, 1947-2007, 2. durchges. Aufl., Wiesbaden 2008; ahistorisch: Oliver Näpel und Thomas Dahms, Comics, in: Felix Hinz und Andreas Körper (Hg.), Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte, Göttingen 2020, 138-166). Flämmen steht im Zusammenhang mit populären Serien wie E.O. Plauens „Vater und Sohn“ sowie zahlreichen dann auch zu Trickfilmen ausgeweiteten Geschichten, viele davon just im Felde der Werbung und der Verbrauchslenkung (Rolf Giesen und J. P. Storm, Animation Under the Swastika. A History of Trickfilm in Nazi Germany, 1933-1945, Jefferson 2012). Das Genre reichte nicht nur in die Weimarer Republik zurück, vielmehr finden sich zahlreiche Comics und Zeichentrickfiguren in den Karikaturzeitschriften des Kaiserreichs. Gängige Werbefiguren der Markenartikelindustrie eiferten ihnen nach. Denken Sie nur an Salamanders Lurchi, den kleinen Coco oder den lustigen Fips von van den Bergh – oder mehrere Anzeigenserien von Wybert oder Schwarzkopf in den späten 1930er Jahren. Flämmchen war ein kurzfristig genutztes Kunstprodukt, doch es stand in einer langen Reihe moderner Werbemittel. Es diente kostenbewusstem und sparsamem Heizen, war nicht nur Ausdruck einer Reichsspargemeinschaft, sondern Bestandteil einer Konsumgesellschaft des reflektierten Verzichts, der situationsbedingten Konsumzurückhaltung.

Das Flämmchen: Mehr als ein netter Kobold

Flämmchen war zugleich nicht eine beliebig hingeworfene Comicfigur, sondern verkörperte einen lang zurückreichenden und alltagsbegleitenden Mythos, verkoppelte die Naturkraft der Sonne mit der des menschlich gestalteten Feuers. Die Faszination des Kunstlichtes spiegelte sich seit dem späten 19. Jahrhundert in den zahllosen Darstellungen der Elektrizität, seine gleißende Helligkeit den Fortschritt der Menschheit. Licht wurde bei öffentlichen Veranstaltungen und zunehmend auch in der politischen Selbstdarstellung genutzt. Die Machtzulassung der NSDAP wurde mit einem Fackelzug gefeiert, die Lichtdome der Reichsparteitage verkörperten Größe und Machtanspruch. Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass entsprechende Lichtinszenierungen nicht nur in der Schaufenstergestaltung oder der Städtewerbung (Berlin im Licht 1928) vorweggenommen wurden, sondern auch die Verfassungstage der Weimarer Republik prägten.

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Fackelzug auf dem NSDAP-Reichsparteitag 1935 – Lichtdom beim NSDAP-Reichsparteitag 1937 (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 251 v. 14. September, 1 (l.); Das Deutsche Mädel 1937, Nr. 10, 6)

Licht stand für Modernität und die Herrschaft über die Natur, band den Menschen aber zugleich eng an die Kräfte der Natur. Feuer war ein Grundelement der Humoralpathologie. Feuergeister erschienen nicht nur im Märchen, sondern verkörperten bis in die frühe Neuzeit im Element Feuer lebende Elementargeister. Feuer und Licht wurden im 19. Jahrhundert materialisiert, doch ein überschüssiger Bedeutungsgehalt blieb weiter präsent. Bis heute brennen wir für etwas, stehen unter Feuer, sind Feuer und Flamme für bestimmte Ziele.

Während der NS-Zeit kam es zu einer bewussten Revitalisierung dieser mythischen Grundlagen von Feuer und Licht. Das entsprach den überindividuellen und deterministischen Elementen der NS-Ideologie. Ewige Gesetze der Natur walteten hier, die Menschen waren deren Vollstrecker. Immer wieder beschworen wurde die Vorsehung, ebenso die „Eigengesetzlichkeit“ von Entwicklungen (P[aul] Kecskemeti und N[athan] Leites, Some Psychological Hypotheses in Nazi Germany, Washington 1945, insb. Kapitel 2). Krieg war demnach Schicksal, die Deutschen Teil einer Schicksalsgemeinschaft.

Derartiges Denken war nicht geduldete Esoterik, sondern Teil des Alltagslebens. Der Einzelne war eingebettet in das Walten der Zeiten, in Werden und Vergehen, die Stoffwechselmodelle der organischen Chemie des 19. Jahrhunderts entfalteten dabei paradox-sinngebende Deutungsmacht. Hans von Hülsens (1890-1968) Gedicht „Ewig Silvester!“ gibt davon eine Idee: „Das Alte / geht und das Neue beginnt. / Während ich mählich erkalte, / Reckt sich zur Flamme mein Kind. / Wachse, Flämmchen, und glühe! / Einst, wenn mein Tag mir verschwelt, / Weckt mich zu neuer Frühe / Seele, die dich beseelt. / Sei das Alte geleugnet, / Wo es im Kreislauf verfließt! / Da uns das Neue begegnet, / Sei es in Ehrfurcht begrüßt!“ (Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 361 v. 29. Dezember, 11)

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Feuergeister in einer Kindergeschichte (Der kleine Coco 9, 1926, 131)

Das Flämmchen verkörperte einen Bezug zum ewigen Walten der Natur, dem sich der Mensch anzupassen hatte, gegen den Revolte unsinnig zu sein schien. Flämmchen waren gleichwohl menschlich eingehegt, seine rot-gelbe Zeichnung spiegelte die gebende Natur, die Transformation von Sonne und Feuer in Wärme und Behaglichkeit. Die Flämmchen-Kampagne spielte mit derart mythischen Elementen. Der Ofen, die Heizung, sie waren „Feuerstätten“. Kohle und Holz enthielten mehr als einfache Kohlenstoffverbindungen mit Heizwert: „Die alte Generation der Steinkohle ist aus versunkenen Urwäldern grauer Vorzeit entstanden. Druck und Hitze im Erdinneren verwandelten sie in Kohle.“ „Deutschlands Wälder“ standen ohnehin für sich, Eichenhaine verwiesen zurück in vermeintlich germanische Zeiten (Heute etwas für jede Leserin!, Der Landbote 1940, Nr. 300 v. 7. Dezember, 17). Die freundliche Farbigkeit des Flämmchens war aber nicht nur anheimelnd, sondern auch Aufgabe. Richtiges Heizen verhinderte den Übergang zur bläulich-fahlen Flamme, zum absterbenden Flämmchen, zu Kälte und Tod.

Die Kunstfigur des Flämmchens entsprach zugleich einem modernen Denken, das politischen und wirtschaftlichen Kampf visualisierte, mit Bildern eng verband. Wie Flämmchen mussten sie ansprechend, aber nicht gar zu konkret sein. Sie mussten für etwas Allgemeineres, Größeres stehen, diesem Kontur verleihen. Ihre fehlende Klarheit gab zugleich Raum für die erforderliche Eigeninitiative, um so nicht unbedingt „dem Führer“ entgegenzuarbeiten, wohl aber die Zielsetzungen des Regimes mit den eigenen zu verschmelzen. Flämmchen war damit eine freundlich-possierliche Variante eines ideologischen Denkens, das den Krieg der Rassen, Völker und Individuen naturalisierte und damit legitimierte.

Flämmchen blieb dennoch eine ambivalente Figur. Goethes Deutung der Flämmchen als Sinnbilder genial-überirdischer Kräfte erinnerte nicht nur an stetes Werden, sondern an die Ausbildung genialischer Kräfte in jedem Menschen. Bei Friedrich Hölderlin (1770-1843) stand das „Flämmchen des Lebens“ für Achtung, Wertschätzung und Muße. Das Flämmchen umgriff den Funkensprung zwischen Menschen, verkörperte Sehnsucht und Begehren. Friedrich Nietzsche (1844-1900) dichtete bacchantisch: „Ueberallhin, wo ein Flämmchen / Für mich glüht, lauf ich, ein Lämmchen, / Meinen Weg Sehnsüchtiglich“ (Idyllen aus Messina, Internationale Monatsschrift 1, 1882, 269-275, hier 270). Das Flämmchen entwickelte sich angesichts der wachsenden Profanisierung des Weihnachtsfestes aber auch als Symbol für Geborgenheit und Frieden. Joachim Ringelnatz (1883-1934) hat dies in „Vorfreude auf Weihnachten“ berührend festgehalten: „Bald ist es Weihnacht! – Wenn der Christbaum blüht, / Dann blüht er Flämmchen. Und Flämmchen heizen. Und die Wärme stimmt / uns milde. – Es werden Lieder, Düfte fächeln. – / Wer nicht mehr Flämmchen hat, dem nur noch Fünkchen glimmt, / Wird dann doch gütig lächeln. / Wenn wir im Traume eines ewigen Traumes / Alle unfeindlich sind – einmal im Jahr! – / Uns alle Kinder fühlen eines Baumes. / Wie es sein soll, wie’s allen einmal war“ (Kunst und Wissen 1943, Dezember-Nr., 9).

Wie heize ich richtig? Eine Broschüre für Millionen

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Flämmchen-Werbung als Einstieg zur vertiefenden Lektüre (Sächsische Volkszeitung 1940, Nr. 257 v. 1. November, 4)

Flämmchen wurde – ein valider Beleg fehlt – in ca. 10.000 Anzeigen beworben (Uwe Westphal, Werbung im Dritten Reich, Berlin 1989, 144). Objektiv wohl wichtiger war die darin immer wieder angepriesene kleine, farbig-illustrierte 16-seitige Broschüre „‚Flämmchen‘ antwortet auf die Frage: Wie heize ich richtig?“. Bis zu 12 Millionen Exemplare wurden davon kostenlos verteilt, gedruckt vom Hausverlag des RVA, dem Verlag für Volkswirtschaftliche Aufklärung – Dr. Tautenhahn KG, Berlin. Diese Zahl ist nicht gesichert. Selbst in Metropolen wie Wien gelang keine flächendeckende Verbreitung. Noch im Februar hieß es: „Alle Hausfrauen und alle mit dem Heizen beschäftigten Personen sollten sich rasch das Heft ‚Wie heize ich richtig?‘ zu ihrem eigenen Nutzen beschaffen“ (Die Muskete 36, 1941, Nr. 2, 36).

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Richtig Heizen mit Flämmchen (Wie heize ich richtig?, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in Zusammenarbeit mit dem Reichskohlekommissar, der Reichsarbeitsgemeinschaft Holz E.V. und der Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung, Berlin 1940, 1)

Die Broschüre zielte erst einmal darauf, zwischen Flämmchen und der als Hausfrau erscheinenden Adressatin eine quasi-persönliche Beziehung herzustellen. Flämmchen klopfte an der Tür, sagte brav bitte, das vertrauliche Du wurde groß geschrieben: „Ich bin ein guter Hausgeist und will Dir zeigen, wie Du mit Deinem Hausbrand so sparsam und wirtschaftlich umgehen kannst, daß Du mit dem zugeteilten Vorrat sicher ausreichen wirst.“ Es folgten Informationen zu den Brennstoffen, der Bezug zum Bergmann unter Tage und deutscher Großtechnik im Tagebau wurde ebenso geknüpft wie der zum emsigen Torfstecher und den mit Axt und Säge ausgerüsteten Holzfällern. So wurde die Arbeit geadelt, dann aber deren Ertrag vorgestellt. Eine ganze Brennstoff-Familie erschien, die Segnungen des deutschen Bodens, die Hinterlassenschaften der Jahrmillionen, der Jahrtausende. Derart eingestimmt ging es dann an die oben schon angerissenen acht Grundregeln für richtiges Heizen. Sie wurden doppelt vorgestellt, einerseits in klarer, einfacher Sprache, anderseits in mehr oder minder eingängigen Reimen. Lauschen wir des Flämmchens Poesie: „1. Kannst mit Brennstoff sparsam sein, / Hältst Du Herd und Ofen rein. 2. Zum Feuermachen nimm Holz und Papier, / Auch gute Zündmittel helfen dir! 3. Gib richtig Luft mit Maß und Ziel, / Du sparst damit an Brennstoff viel! 4. Die freie Stelle auf dem Rost / Dich eine Menge Brennstoff kost‘. 5. Die Kohle brennt oft nicht ganz aus, / Drum such sie aus der Asche raus! 6. Hör auf mit Feuern früh genug, / Du merkst es bald im Wirtschaftsbuch! 7. Ein stumpfes Messer taugt nicht recht. / Kranke Öfen heizen schlecht! 8. Abfälle gib der Schweinemast, / Dem Ofen sind sie nur zur Last!“ (Heute etwas für jede Leserin!, Der Landbote 1940, Nr. 300 v. 7. Dezember, 17).

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In Zwiesprache mit dem kundig-prüfenden Hausgeist (Wie heize ich richtig?, 7, 10)

Während diese Regeln im Mittelpunkt auch der Presseartikel standen, blieb der folgende Teil über „Herd und Ofen“ fast gänzlich der Broschüre vorbehalten. Er enthielt sachlich-ansprechende Zeichnungen von Küchenherden, Kachelöfen und gängigen Brennöfen, ging auch auf andere Wärmequellen ein, auf Waschkessel, Futterdämpfer und Boiler. Während die Regeln auf die Praxis des Heizens, vor allem auf die Belegung und Handhabung der Roste verwiesen, erlaubten die herausgehobenen Kontrollpunkte eine gezielte Kontrolle der heimischer Heizinfrastruktur.

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Kontrollpunkte für die optimale Funktion gängiger Öfen (Wie heize ich richtig, 13)

Die Broschüre endete mit groben Anregungen für die Abdichtung des Hauses, also für eine den jeweiligen Wohnverhältnissen angepasste Prävention. Die Broschüre war positiv gehalten, enthielt keine Drohungen oder Warnungen. Flämmchen kam freundlich daher, wollte erst einmal helfen. Dass dahinter aber Nachdruck stand, wusste jeder Adressat selbst, denn es waren Durchschnittsmengen für das täglich vorhandene Heizmaterial enthalten, und der Verweis auf die zugewiesenen Mengen machte aus der Anregung faktisch eine Verpflichtung. Flämmchen riet, doch wer nicht auskam, der musste etwas falsch gemacht haben, konnte nicht auf zusätzliche Lieferungen rechnen. Auch der Winter 1939/40 war unausgesprochen präsent, wurde doch von einer sechs bis siebenmonatige Winterperiode ausgegangen.

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Das Haus als Wärmefestung: Lage der beheizten Zimmer und Abdichtung der Fenster (Wie heize ich richtig, 14, 15)

Am Ende stand der kurze, aber wichtige Verweis auf weitere Helfer, abseits von Flämmchen, den Nachbarn und der eigenen Willigkeit und Arbeit. Freunde und Helfer gab es auch abseits der Polizei, nämlich beim Reichsnährstand und dem Deutschen Frauenwerk, dem Kohlensyndikat und den Kohlenhändlern. Den Reigen ergänzten Schornsteinfeger, Töpfer und Ofensetzer, schließlich die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz, der Ausschuß für Technik der Forstwirtschaft und der Technische Beirat des Reichsforstmeisters: You’ll never walk alone…

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Flämmchen als vermeintliches Überich der Volksgemeinschaft (Wie heize ich richtig?, 16)

Am Ende verabschiedete sich der freundliche Hausgeist von seiner Gastgeberin, dankte für die Aufmerksamkeit, unterstrich nochmals die Nützlichkeit seiner Ausführungen und bat um Verbreitung seiner Botschaft auch bei Bekannten und Freunden. Das taten auch die Tageszeitungen, die immer wieder Auszüge verbreiteten (Heizen im Vorwinter, Rheinisches Volksblatt 1940, Nr. 274 v. 20. November, 5).

Die Broschüre blieb auch in den Folgemonaten des Winters ein steter Bezugspunkt, zumal sie erlaubte, Kritik an vermeintlich unzureichender Brennstoffversorgung abzuwehren: „Wie richtig gefeuert und geheizt wird, das kann jede Hausfrau in dem aufschlußreichen Heft, in dem das ‚Flämmchen‘ seine Ratschläge gibt, nachlesen“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1941, Nr. 23 v. 28. Januar, 4). Das galt ebenfalls für die damit verbundenen Härten, etwa die verpflichtenden Reduktion der Raumtemperaturen auf 18 °C in behördlichen Diensträumen. Dies war zu ertragen und ansonsten galt: „Im Rahmen der Maßnahmen zur Kohlenersparnis sollen die mit der Bedienung der Öfen betrauten Personen an Hand der Schrift ‚Wie heize ich richtig‘ aufgeklärt werden“ (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 35 v. 11. Februar, 5).

Nur ein Auftakt: Energiesparen mit Kohlenklau & Co.

Die Flämmchen-Kampagne erlaubte eine recht konfliktfreie Bewältigung des Winters 1940/41. Sie etablierte Routinen häuslicher Pflichten und eine Kultur der Sparsamkeit unter Kriegsbedingungen. Die Härten der überdurchschnittlich kühlen Winter erlaubten zudem – ebenso wie etwa beim Scheitern des völlig unzureichend ausgestatteten Angriffs der Wehrmacht auf Moskau – eine Naturalisierung des Geschehens. Gegen General Winter kämpften selbst Heroen vergeblich. Heroisch aber sollte man auch 1941/42 an der Heimatfront gegen die Kälte ankämpfen – langsam verringerten Brennstoffzuweisungen zum Trotz.

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Der Kampf am Herd – gewonnen von der aufmerksamen Hausfrau und der wieder hervorgeholten Kochkiste (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 19 v. 19. Januar, 13 (l.); Ernährungs-Dienst 26, 1940, 21)

In der Zwischenzeit liefen die DAF-Schulungen „Heize richtig“ weiter, bis Ende 1942 betrug ihre Zahl offiziell 150.000 (Heize mit Kohlen und – mit Hirn, Straßburger Neueste Nachrichten 1942, Nr. 346 v. 15. Dezember, 5). In den Haushalten setzte man weiter auf die bewährten Flämmchen-Ratschläge, auch die im Ersten Weltkrieg hochgelobte Kochkiste kam wieder zu Ehren. Letztlich aber konnte die Kälte nur gemildert werden, entwickelte sich ein duldender, zunehmend auch sarkastischer Umgang mit dem saisonal vorhersehbaren Geschehen. Die öffentlichen Appelle wurden zugleich strikter: „Kohle ist der Schlüssel zum Sieg, ein jeder denke daran!“ (Der Führer 1942, Nr. 318 v. 17. November, 4)

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Schlüpfrige Träume im kalten Winter: Heizbare Unterwäsche als Alltagstraum (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 44, s.p.)

Ende 1942, angesichts zunehmender Versorgungsprobleme und der absehbaren militärischen Katastrophe in Stalingrad, lancierte der RVA dann mit Kohlenklau eine ganz andere Zeichentrickfigur, mit der Sparsamkeit bei Energie und allen kriegswichtigen Ressourcen eingefordert und deren ubiquitäre Präsenz mit zweistelligen Millionensummen gefördert wurde. Dieses „Ungeheuer mit dem zugekniffenen Auge, dem gewaltigen Schnauzbart, großem Sack und bedrohlichen Krallen“ (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstedt 1943, Nr. 94 v. 18. Juni, 6) war kein Helfer, sondern visualisierte einen Feind. Sein später eingeführtes positives Pendant, der rührige Knobelmann, blieb dagegen unbeachtet, so wie viele weitere gegen Kriegsende entwickelte Kunstfiguren. Auch an Flämmchen erinnerte man sich nach Ende des NS-Regimes kaum mehr, mochten weiter zahlreiche Ratgeber für richtiges Heizen auch an die Ratschläge von 1940 anknüpfen (Walter Schulze und Heinz Weidmann, Wie heize ich richtig?, Leipzig 1962). Kohlenklau ist dagegen bis heute begrifflich bekannt – auch aufgrund der teilweisen Umdeutung der Figur in der Energiekrise der unmittelbaren Nachkriegszeit, als das Klauen von Kohle und Holz allseits gebilligt, allseits praktiziert wurde.

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Kurz vor Kriegsende: Kohlenklau trifft ein anderes Flämmchen – und richtig Heizen wird zur Pflicht (Pforzheimer Anzeiger 1945, Nr. 21 v. 25. Januar, 4 (l.); Der Führer 1944, Nr. 176 v. 28. Juni, 3)

Sie werden, verehrter Leser, verehrte Leserin, sich gewiss ihren eigenen Reim auf diese scheinbar harmlose Episode nationalsozialistischer Propaganda machen können. Das gilt für ihre analytische Einbettung in die Zeit, gilt aber auch für vergleichende Analysen bis in die Gegenwart. Die in der Flämmchen-Kampagne nicht unmittelbar angesprochenen nationalsozialistischen Imperative von Kriegsführung, Hegemonialstreben und damit verbundenen Wirtschaftsinteressen sind letztlich am britischen, US-amerikanischen und in erster Linie sowjetischen Widerstand zerbrochen. Wer im Rahmen des laufenden Krieges zwischen der angegriffenen Ukraine, ihren westlichen Unterstützern und dem keineswegs isolierten Russland „siegen“ wird, ist gegenwärtig unklar. Sicher aber ist, dass die breite Mehrzahl aller Bevölkerungen zu den Verlierern gehören wird, wenn allseits Kriegsbegeisterung herrscht und die Unfähigkeit zum Frieden dominiert.

Uwe Spiekermann, 15. Oktober 2022

Schaufenster und Schaufensterwerbung im langen 19. Jahrhundert

Werbung ist in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Thema der internationalen Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte geworden. [1] Neue, publikumswirksame Themen konnten so erschlossen werden und zugleich begann man, sich mit den Konturen der modernen Konsumgesellschaft auseinanderzusetzen. Doch die wachsende Zahl einschlägiger Publikationen kann nicht verdecken, dass es gerade in Deutschland an Grundlagenforschung mangelt. Werbung kann angemessen nur im Kontext von Konsum, Kleinhandel und Konsumgüterproduktion verstanden werden – und hier sind valide Studien dünn gesät. [2] Noch weniger wissen wir über die neu entstehende Objektwelt des 19. Jahrhunderts. Welche Waren beworben und gekauft wurden, an welchen Orten man sie erstand und in welchem Rahmen man sie sah – solche einfachen Fragen sind für die deutschen Lande kaum zu beantworten. Wir sollten sie uns jedoch stellen, hat doch nicht nur der Pariser Anthropologe Bruno Latour auf die grundlegende Bedeutung solcher Objekte für das Verständnis der Moderne hingewiesen. [3]

Eine der zentralen Innovationen der frühen Konsumgesellschaft war das Schaufenster. Dahinter wurden die Waren präsentiert und so ein Kunstraum des Käuflichen geschaffen. Doch wie so viele andere Objekte wirkte es erst in einem Gesamtensemble: „Schaufenster wurden zu den urbanen Attraktionen, sie bildeten die Anziehungspunkte der Straße, wirkten wie Magneten, die die Menschenströme in ihren Bann zogen.“ Die Schaulust des Publikums und der Zeigestolz der Händler und Produzenten trafen sich an einem gemeinsamen Ort. Hier fand die Ware zu sich selbst: „Losgelöst aus der Sphäre unmittelbaren Konsums, erschien die Ware dort im verglasten Kunstraum als Objekt, das nicht mehr wegen seines Gebrauchs- und Tauschwertes, sondern scheinbar nur um seiner selbst willen interessierte: Das Objekt will nicht benutzt und nicht gekauft, sondern betrachtet und bestaunt werden. Das Schaufenster ermöglicht die ästhetische Epiphanie der Ware.“ [4] Das Schaufenster verwandelte die schnell wachsenden Städte in Stätten von Zeichen und Bedeutungen und stand damit am Beginn eines modernen Lebensstils, unseres Lebensstils.

Derartig allgemeine Charakterisierungen findet man häufig, selten aber klare Entwicklungslinien, Periodisierungen oder gar Versuche, diese empirisch zu belegen. [5] Darum wird es im Folgenden gehen. Grundsätzlich lassen sich vier Entwicklungsstadien des Schaufensters und der Schaufensterwerbung in deutschen Städten des 19. Jahrhunderts nachzeichnen, die auch den folgenden Beitrag untergliedern: War das Schaufenster erstens bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts lediglich Repräsentationsmittel weniger Luxuswarengeschäfte, so setzte es sich zweitens bis in die 1870er Jahre in den Großstädten des Deutschen Reiches allgemein durch. Danach veränderten sich drittens sowohl das Schaufenster als auch die Dekorationsweise grundlegend. „Glaspaläste“ und „Schaufensterkunst“ fanden um die Jahrhundertwende ihren Höhe- und Wendepunkt. Denn seitdem weitete sich viertens die Werbesphäre in den Laden hinein und wurde zum Vorbild der allgemeinen Warenpräsentation. All dies hatte eine hohe Bedeutung nicht nur für die Geschichte von Werbung, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen Reiches.

Das Schaufenster vor dem Durchbruch zur Konsumgesellschaft

Das Schaufenster ist ohne einen Laden nicht denkbar. Doch der Laden, dessen Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht, hatte anfangs keine Schaufenster. [6] Seine Vorform bildete die Bude, ein fester Marktstand, der Verkäufer und Waren vor den Unbilden der Witterung schützte. Die Vorderseite bestand zumeist aus zwei hölzernen Läden, von denen der eine hoch­ und der andere heruntergeklappt wurde: Zwei Läden machten einen Laden. Dergestalt besaßen die Budenhändler einen Verkaufstisch, auf dem ein Teil der Ware ausgelegt werden konnte, sowie Käufer und Verkäufer einen begrenzten Schutz gegen Sonne und vor allem Regen. Der einfache Holzladen verband den freien Zugang zur Ware am Tage und angemessene Sicherheit des Nachts.

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Kaufladen in der frühen Neuzeit (Vorwärts! Magazin für Kaufleute NF 3, 1862, 87)

Sein Prinzip wurde auch beibehalten, als sich der Verkauf mehr und mehr in Häuser verlagerte. Hier konnten die Händler größere Warenmengen lagern, konnten Handwerker Produktion und Verkauf miteinander verbinden. Der Käufer aber blieb noch außerhalb, er betrachtete das Angebot vom öffentlichen Raum der Straße. Dieses Prinzip blieb in deutschen Landen – anders als in Frankreich, Großbritannien und Österreich – bis ins späte 18. Jahrhundert bestehen. Die seit dem 16. Jahrhundert grundsätzlich vorhandenen Butzenscheibenfenster dienten der Beleuchtung des Innenraums, nicht der Schaustellung der Ware. [7] Für kommerzielle Zwecke waren sie zu klein und ermöglichten nur einen verzerrten Blick auch auf dicht hinter der Scheibe aufgestellte Produkte. Das galt ebenso für Schiebefenster und aushängbare Fenster. Auch als 1688 vom Franzosen Louis Lucas de Néhou (?-1728) entwickelte Verfahren für die Herstellung gewalzten Gussglases blieb für den Kleinhandel im deutschen Sprachraum recht folgenlos. Allerdings erlaubten die bis zu 2 x 1,20 Meter großen Coulage-­Scheiben, anders als die mundgeblasenen und stets auch welligen Fensterscheiben, einen ziemlich klaren und kaum verzerrten Blick auf die Waren.

Die lange Dauer zwischen der Erfindung und der allgemeinen Verwendung dieser ersten Schaufensterscheiben resultierte denn auch nicht allein aus dem hohen Preis, schließlich wurden Spiegelscheiben schnell ein markantes Kennzeichen adeliger Repräsentationsarchitektur. Vielmehr benötigten die gehobenen Verkaufsläden des späten 17. Jahrhunderts, die Schaufenster durchaus hätten bezahlen können, noch keine öffentliche Warenschaustellung. Die Ansprüche des Adels waren exklusiv, sie wurden direkt geäußert und direkt befriedigt. Die Situation änderte sich erst mit dem Aufkommen einer zahlungskräftigen bürgerlichen Klientel. Sie schuf eine neue politische, zugleich aber auch kommerzielle Öffentlichkeit. Entsprechend waren es britische und französische Luxuswarengeschäfte, die zuerst Gussglasscheiben einsetzen. In Deutschland lassen sich entsprechende Läden zwar 1725 in Würzburg oder auch 1740 in Augsburg nachweisen, doch blieben diese seltene Ausnahmen. [8] Allgemeinere Verbreitung fanden Gussglasscheiben erst im frühen 19. Jahrhundert. [9]

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Verglaste Außenwände einer Kunst- und Musikalienhandlung in Hamburg um 1835 (W[ilhelm] Melhop, Alt-Hamburgische Bauweise, 2. neubearb. Aufl., Hamburg 1925, 322)

Dennoch machte die Schaustellung der Ware in deutschen Städten auch im 18. Jahrhundert Fortschritte. Innerhalb des Ladens kamen Schautische auf, die im Verkaufsraum standen. Besonders größere Läden mit Flügeltüren lockten so die Käufer in die Läden. Die Tische, auf denen stets wertvollere Waren ausgelegt wurden, übernahmen die Funktion des unteren Klappladens. Sie standen meist inmitten des Raumes, wiesen so zurück auf ihre präsentistische Funktion. Die Kunst der Warendarbietung entstand innerhalb des Verkaufsraumes. Die Ladenfassaden wurden dagegen noch durch Firmenschilder beherrscht, auf deren Reiz- und Informationskraft die meisten Händler vertrauten. [10] Die Ware lockte erst im Inneren des Ladens. Die Luxuswarengeschäfte schufen zwar Räume für den Konsum bürgerlicher Schichten, doch grenzten sie zugleich die kaum zahlungsfähige Mehrheit der Bevölkerung aus. Die Verkaufsräume betrat nur derjenige, der sich die teuren Textilien, Einrichtungsgegenstande und Apparate leisten konnte. Dem entsprach ein informeller Kaufzwang.

Die Durchsetzung des Schaufensters in deutschen Städten (ca. 1835 bis 1870)

Entscheidend für die wachsende Bedeutung des Schaufensters sollte der quantitative Aufschwung des Kleinhandels werden. Dieser lag in den 1830er Jahren, steht in seiner Bedeutung kam hinter der so einseitig gedeuteten „Industrialisierung“. [11] Diese wird fast durchweg verengt auf die Veränderungen im Produktionssektor. Die vielfaltigen Überlappungen zwischen Produktion und Absatz, die damals überproportional wachsende Zahl leistungsfähiger Handelsbetriebe und der Zwang, die im Produktionssektor arbeitenden Personen auch versorgen zu müssen, werden von bequem zusammengeschriebenen Handbüchern in der Regel nicht beachtet. Angesichts eines vielerorts noch gebundenen Gewerberechtes verortet man den nachhaltigen Aufschwung des Kleinhandels – und damit eine Konsumgesellschaft – erst in die 1870er, teils gar erst in die 1890er Jahre. [12] Das hängt eng mit der irreführenden Vorstellung einer „Warenhausgesellschaft“ zusammen. Erst diese scheinbar neuartigen Läden hätten, so die gängige These, die für Absatz, Werbung und Schaufenstergestaltung entscheidenden Maßstäbe gesetzt. [13] Blickt man jedoch auf lange vorher einsetzenden Veränderungen im Kleinhandel, so muss man dies revidieren: „Sollte je der Handel besser in der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung aufgearbeitet werden, wird wohl auch die Geschichte der Werbung in ihrer Anlaufphase neu periodisiert werden müssen.“ [14] Und zugleich erscheint die deutsche Stadt schon deutlich früher als Ort der Warenpräsentation und des demonstrativen Einkaufens.

Seit den späten 1830er Jahren nahm der Absatz von Konsumgütern in Läden mittlerer und kleinerer Händler in deutschen Landen stark zu. Wurden in Preußen beispielsweise 1837 21.782 Kaufleute mit offenen Verkaufsstellen gezählt, so hatte sich deren Zahl bis 1858 auf 48.625 erhöht. Relativ zum Bevölkerungswachstum nahm die Zahl dieser Gruppe binnen 21 Jahren um 76,4 % zu, während die Bedeutung der größtenteils ohne Läden agierenden Krämer, Höker und Trödler relativ schwand und absolut nur um 10,1 % (von 89.149 auf 98.158) zunahm. [15] Die Ladenhändler arbeiteten vorwiegend in Städten. Trotz gewerberechtlicher Beschränkungen ergänzten sie mehr und mehr das traditionelle, durch Wochen- und Jahrmärkte, Hausierer und Höker, den Handwerkshandel und Krämer geprägte Versorgungssystem, und an immer mehr Orten entwickelte sich der Laden zur dominanten Form des Kleinhandels. Die neuen Läden waren seit dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts immer häufiger mit Schaufenstern versehen. Diese entwickelte sich denn auch bis zur Reichsgründung zum wichtigsten Werbemittel eines zunehmend wettbewerbsorientierten Kleinhandels.

Wegweisend – gleichermaßen für die Produktion wie für den Absatz – war dabei das Textilgewerbe. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es beispielsweise in Berlin üblich, Kleidung entweder selbst zu nähen oder aber als Maßanfertigung vom Schneider anfertigen zu lassen. Zwar gab es seit Beginn des 18. Jahrhunderts Schneider, Händler und Verleger, die auch fertige Kleidung verkauften, doch trotz deren wachsender Bedeutung war der Handel mit gebrauchten Kleidern noch lange bedeutender. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich dies folgenreich. Die zunehmende Zahl alleinstehender (und kaufkräftiger) Männer, der wachsende Fremdenverkehr Berlins und die steigende Bedeutung der Mode, die einen schnelleren Wechsel der Garderobe erforderte, waren Grundlagen für den Aufstieg des Magazins. Hierunter ist ein Kleinhandelsgeschäft zu verstehen, welches Waren von Heimarbeitern, Handwerkern oder auch in eigenen Werkstätten produzieren ließ, dessen Hauptgeschäft aber der Verkauf bildete. Wurden anfangs vor allem Hosen, Westen und Röcke angeboten, so wurde das Sortiment seit den 1820er Jahren auch um Schlafröcke, dann um Joppen und Mäntel, Hemden und Kragen erweitert.

Das wachsende Angebot führte zu wachsender Spezialisierung: Neben Wäsche- und Leinwandhandlungen traten seit den 1830er Jahren gesonderte Herrengarderobemagazine. Adressbuchdaten verdeutlichen den tiefgreifenden Wandel: Gab es in Berlin 1830 erst 54 Wäsche- und Leinwandhandlungen, so waren es 1838 schon 116, 1847 dann 158. 1838 wurden erstmals auch zwanzig Herrengarderobemagazine aufgelistet, deren Zahl bis 1847 auf 66 stieg. [16] Berlin war Vorreiter, keine Ausnahme: In Hamburg stieg die Zahl der Kleiderhandlungen zwischen 1800 und 1822 von zehn auf 39, die der Modewarenhandlungen von 19 auf 31, und die der Manufakturwarengeschäfte gar von zehn auf 91. [17] In den wenigen Großstädten machten diese Geschäfte Schaufenster zum Alltagsphänomen. Schon 1830 glaubte die Hamburger Polizeibehörde gegen die Unsitte einschreiten zu müssen, die ausgestellte Ware mit tiefgezogenen Markisen gegen die Sonnenstrahlung zu schützen. [18]

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Schaufenster in Hamburg (Alter Jungfernstieg) 1846/47 (Hamburgs Neubau. Sammlung sämmtlicher Façaden der Gebäude an den neubebauten Strassen, Charles Fuchs, Hamburg 1846/47 (ND Hannover 1985), Bl. 39)

Die Magazine standen nicht allein für eine neue Betriebsform des Kleinhandels. Sie zeichneten sich auch durch neuartige Werbung aus. Die Hamburger Innenstadt war 1842 durch einen Brand fast vollständig zerstört worden, und die wieder aufgebauten Straßenzüge wurden 1846/47 in einer umfangreichen Lithographieserie festgehalten. Die obige Abbildung zeigt Fassaden gleich zweier Magazine. Beide verfügten über Schaufenster, in beiden fand sich wohldrapierte Ware. Diese Magazine bilden keine Ausnahmen im Straßenbild. Sie waren umrahmt von den Schaufenstern anderer Fachgeschäfte, die allesamt gewerblich gefertigte Waren anboten. Ähnliches galt auch für die Nebenstraßen der Innenstadt.

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Schaufenster in Hamburg (Bohnenstraße) 1846/47 (Hamburgs Neubau, Bl. 17)

Läden mit Schaufenstern dominierten. Gewiss, sie waren fast durchweg kleiner als in den Hauptstraßen, zudem handelte es sich zumeist um preiswertere Sprossenfenster. Die vor 1842 vielfach genutzten Erkerfenster, die sog. „Ausbauer“, fehlten hier; ihr Bau war nach dem Großen Brand verboten worden. [19] Doch nicht allein Textilwarengeschäfte stellten ihre Waren sinnfällig aus. Schuhe, Lederwaren und sogar Fleischwaren wurden in Hamburg schon vor der Jahrhundertmitte im gläsernen Ambiente präsentiert. Bemerkenswert war zudem die Kombination gewerblicher Tätigkeiten (Schuhmacher, Handschuhfabrik) mit einem schaufensterbewehrten Ladengeschäft. Auch in der Frühindustrialisierung war Güterproduktion kein Wert an sich, sondern bekam ihren Sinn erst durch den Absatz. Die Hamburger Lithographieserie enthielt Abbildungen von insgesamt 218 Läden der Innenstadt. Schaufenster fehlten fast nirgends, einzelne Läden präsentierten ihre Waren gar hinter vier großen Spiegelscheiben. Vereinzelt fanden sich schon Beleuchtungseinrichtungen; flackerndes Licht lud in Hamburg schon vor der Jahrhundertmitte zum abendlichen Schaufensterbummel. [20]

In der preußischen Hauptstadt Berlin entstanden seit den späten 1830er Jahren nicht allein deutlich mehr Magazine als in der Hansestadt Hamburg. Hier entstanden auch erste Großbetriebe des Kleinhandels, auch wenn deren Schaufenster noch nicht besonders hervorragten. Das 1836 gegründete „Modewaaren-Lager“ von Herrmann Gerson beschäftigte 1852 schon acht Aufseher/innen und 120-140 Arbeiterinnen in zwei Geschäftshäusern, 150 Meister mit ca. 1.500 Gesellen als Zulieferer und ca. 100 Personen im zweistöckigen Verkaufslokal. Doch das von 120 Gasflammen beleuchtete Magazin lockte seine Kundschaft mit nur zwei jeweils fünf Fuß breiten Spiegelscheiben. Hier zeigte sich noch deutlich die Tradition des Luxuswarengeschäftes, welches für eine feste und wohlsituierte Klientel Ware anbot. [21] Auch das 1839 entstandene Manufakturwarengeschäft Rudolph Hertzog, später größtes deutsches Kaufhaus und als Versandgeschäft in Europa führend, verfügte nur über durchschnittliche Schauflächen und konzentrierte sich stattdessen auf eine großzügige Annoncenreklame.

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Landsbergers Magazin in Berlin 1860 (Robert Springer, Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, 336)

Andere Magazine aber nutzen das neue Werbemedium des Schaufensters konsequent. Eindringlicher Beleg hierfür war das Garderobe-Magazin von Louis Landsberger. Nicht mehr zwei, nicht mehr vier, sondern zehn großformatige Spiegelscheiben schmückten den Geschäftsbau mit seinen zwei Verkaufsetagen. Die Schaufenster umrundeten den Laden, dokumentieren in ihrer Massiertheit Größe und Umfang des Angebotes. Wachsende Verkaufsflächen gingen einher mit wachsenden Schaufensterfronten. Als Kundenmagnet wirkte zusätzlich die Beleuchtung mit 316 Gasflammen, die das Magazin abends zum Blickfang werden ließ. Doch auch Landsberger bildete nur die Spitze eines breiten Ensembles. [22] Folgen wir doch einmal einem Stadtführer des Jahres 1861: „Unsere wohlgenährten Altvordern, die nur für den realen Genuß waren, kannten nicht den Schimmer der Spiegelscheiben und der Bronze, nicht die Farbenpracht, nicht den Zauber des Luxus und den Reiz der Künste. Desto besser verstehen wir uns auf solche Vorzüge. Den Unterschied zwischen Sonst und Jetzt sieht man nirgend auffälliger als an den Verkaufsläden. […] Betrachten wir jetzt jene Läden, […] wo die Waaren, von hübschen Händen geordnet, das Auge bezaubern! […] Sehen Sie dort, meine Damen, die strahlenden Fenster, die man mit Jakona und Organdis drapirt hat, mit Long-Shawls, wofür Sie ihr Lächeln verkaufen, mit venetianischen Spitzen, die Sie um ihre Liebe eintauschen! Sehen Sie hier, Dandies aus der Provinz, die prächtigen Piquéwesten! Steigen Sie hinunter in jene unterirdische Behausung: der Bärenschinken ist servirt und der Cliquot auf Eis gestellt. Hier die glänzenden Hüte à ressort, die zierlichen Ancreuhren, die Velourdecken, die riesigen Spiegel in Goldrahmen; dort kunstvolle Bronzewaaren, werthvolle Oelgemälde, Buffets mit Marmorplatten, prachtvolle Tafelservice; Blumenbouquets in schöneren Farben als die Gaben der Flora Cypris; hier die schönen wissenschaftlichen Sammelwerke in Prachtbänden, Zahn‘s Ornamente aus Pompeji, der Reliquienschein von Brügge in wundervollen Photographien. Welche Fülle von Pracht, Annehmlichkeit und Schönheit für den bevorzugten Sterblichen, der mit Sinn für die Genüsse des Lebens und mit reichlicher Rente gesegnet ist!“ [23]

Ein Schaufensterbummel war in Berlin also schon lange vor der Reichsgründung möglich und reizvoll. Der Reiseführer konzentrierte sich allerdings auf teurere, exklusive Produkte, die innerhalb der Klassengesellschaft der Hauptstadt für die meisten Bewohner unerschwinglich blieben. Und doch begannen in den 1860er Jahren auch Geschäfte mit einfacherem Angebot, vielfach auch Kolonialwaren- und Feinkostläden, mit der Um- und Neugestaltung ihrer Fassaden. Dabei gingen viele Kleinhandler Kompromisse ein: „Sehr oft werden gewöhnliche Fenster zur Schaustellung benutzt und wäre dann der einzige Unterschied, dass größere Scheiben in Anwendung kommen. Dass solche Anlage nur den einfachsten Forderungen entspricht, liegt auf der Hand; die Schaustellung ist hierbei sehr beeinträchtigt und ist gewöhnlich die zu hohe Lage der Fenster störend. Große Ausbreitung der Waren gestattet aber ein Fenster nicht und daher dürfte ein solches nur in Anwendung kommen, wo es darauf ankommt anzuzeigen, was für ein Geschäft sich an dem betreffenden Ort befindet.“ [24]

Die Schaufenster derartiger kleiner und mittlerer Geschäfte sind natürlich kaum mit denen der Großbetriebe zu vergleichen. Doch festzuhalten ist, dass auch etablierte Läden sich um An- und Umbauten zumindest bemühten. Zugleich wurde es in den 1860er Jahren üblich, neue Läden bereits beim Bau mit Schaufenstern auszustatten. Schaufenster wurden integraler Bestandteil des Kaufladens: „Die Schaufenster zum Ausstellen der Waaren müssen möglichst breit angelegt sein, und bedient man sich jetzt allgemein zur Unterstützung der oberen Geschosse der eisernen Säulen und Träger statt der in Stein ausgeführten Pfeiler und Bogen, weil dadurch an Raum gewonnen wird. Man ordnet dann recht oft die oberen Geschosse ganz unbekümmert von den unteren mit anderen Axen an, weil man die Axentheilung der unteren Geschosse doch kaum erkennt, indem bei der geringen Dimension des Eisens letzteres fast verschwindet und nur eine Glasflache sichtbar ist.“ [25]

Die hier schon diskutierte Verwendung von Stahl und Glas schuf ganz neue Möglichkeiten der Fassadengestaltung. Seit Anfang der 1870er Jahre wurden zunehmend auch zweigeschossige Schaufensteranlagen gebaut. [26] Ladenlokale mit Schaufenstern, die von der Mehrzahl der kleineren und mittleren Händler ja gemietet wurden, gehörten seitdem mehr und mehr zur üblichen Ausstattung größerer Geschäfts- und Wohnhäuser. Verlässliche Zahlen fehlen, so dass nicht überprüft werden kann, ob es 1880 in Berlin wirklich „3000 wirkungsvolle Schaufenster“ [27] gegeben hat, wie ein Zeitgenosse behauptete. Zweifellos aber waren in Berlin Schaufenster im Handel mit Gütern des gehobenen und periodischen Bedarfs schon vor der Reichsgründung 1871 üblich. Zwar hinkte der Kleinhandel mit Lebensmitteln dieser Entwicklung noch hinterher, doch der Delikatessen- und Kolonialwarenvertrieb erfolgte schon vielfach in Läden mit gläsernen Fronten. [28]

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Fassade des Karlshofes in Aachen 1869 (Deutsche Bauzeitung 3, 1869, 496)

Das neue Objekt des Schaufensters hatte sich zu dieser Zeit auch schon in der Provinz des Reichs fest etabliert. Die Abbildung zeigt ein „charakteristisches Beispiel der Facadenbildung von Privatbauten“ im Rheinland: Vier großformatige Schaufenster sprechen dagegen, die Durchsetzung eindringlicher Schaufenster erst in die 1890er Jahre zu datieren und mit der Entstehung der Warenhäuser zu verknüpfen. Im Gegenteil begann in Deutschland nach der allgemeinen Etablierung bereits in den 1870er Jahren eine Differenzierung der Schaufenster nach Größe, Anzahl und immer stärker nach der Dekoration. Sie entsprach nicht allein dem herrschenden Geschmack und Baustil, sondern war auch ein wichtiges Unterscheidungselement in einer gleichermaßen von Produktion und Distribution geprägten Wettbewerbsgesellschaft. Die deutschen Großstädte waren schon vor der Jahrhundertwende Stätten bürgerlichen Konsums geworden, und in den Schaufenstern lockten die Verheißungen einer Welt zunehmenden Wohlstands und allgemeinen Fortschritts.

Universalisierung und Differenzierung des Schaufensters in der Wettbewerbsgesellschaft (ca. 1870 bis 1900)

Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 war nicht allein eine politische Zäsur. Sie führte auch im Felde des Gewerberechts zu einer umfassenden Liberalisierung. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit gab es in den meisten deutschen Ländern zwar schon zuvor, doch nun setzten sich diese Prinzipien endgültig durch. Die Verstädterung nahm zu, mündete in den qualitativen Prozess umfassender Urbanisierung. Die Zusammenballung großer Menschenmassen und hoher Kaufkraft ermöglichte dem Kleinhandel ein sich beschleunigendes Wachstum. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wurde strikter, und schon während der 1873 einsetzenden Depression zeigte sich, dass eine wachsende Güterproduktion von liquidem Kapital, vor allem aber von gesichertem Absatz abhängig war. Absatz konnte jedoch nur durch ein leistungsfähiges Kleinhandelssystem gewährleistet werden, welches um die Käufer warb, welches etablierte und neue Waren an die Kunden verkaufte. Der Aufbruch in den Wettbewerb forderte vom Kleinhandel neue Lösungen nicht allein für die grundlegende Versorgungsaufgabe, sondern insbesondere für den Vertrieb der wachsenden Zahl bisher unbekannter gewerblich produzierter Produkte. Dazu bedurfte es einer Modernisierung des Betriebes, neuer Betriebsformen und einer veränderten Außendarstellung. Dem Kunden musste die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Ladens sinnenträchtig vor Augen geführt werden. [29]

Der Wettbewerb im Kleinhandel war nicht allein ein Wettbewerb der Waren, sondern auch ein Wettbewerb um das knappe Gut öffentlicher Aufmerksamkeit. Das Schaufenster nahm gerade angesichts der schnell wachsenden Bedeutung reiner Laufkundschaft einen zentralen Platz für eine erfolgreiche Arbeit vor allem im Gebrauchsgüterhandel ein. Und es war zugleich angemessenes Werbemedium einer Gesellschaft, in der die Präsentation von Warenqualität wichtiger war als die Qualität selbst. Um die Gesamtentwicklung angemessen beurteilen zu können, gilt es verschiedene, gleichwohl miteinander vernetzte Einzelentwicklungen voneinander zu scheiden:

Die Variationsbreite der Schaufensterwerbung nahm insgesamt zu. Neben die gediegene und warenzentrierte Werbung der Mehrzahl der Fachgeschäfte trat eine grelle, lärmende Reklame auch der Fassadenfronten. Das zeigt sich besonders am Beispiel der neuen Betriebsform der Bazare, die sich seit den späten 1860er Jahre aus den Magazinen entwickelten. Auch die Bazare bildeten anfangs prächtige, mit großem Prunk ausgestattete Geschäfte, doch verzichteten sie in der Regel auf eigene Güterproduktion. Sie waren durchweg mit ausladenden Schaufenstern versehen. Während der Depressionszeit entstand unter gleichem Namen jedoch auch eine Gruppe sogenannter Pfennigbazare (zumeist 50-Pfennig-Bazare), die geringerwertige Waren zu niedrigen fest umrissenen Preisen verkaufte und zugleich hohem Reklameaufwand betrieb. Der Begriff des „Bazars“ bekam dadurch einen negativen Grundton, der im seit den späten 1870er Jahren verwandten und vielfach antisemitisch grundierten Begriff der „Ramschbazare“ gespiegelt wurde. Diese in der Regel nicht allzu großen Läden nutzten Schaufenster und Gesamtfassade zu teils greller Anpreisung. Auch die ebenfalls in den 1860er Jahren aufkommenden Wanderlager sowie die Ende der 1870er Jahre entstandenen Abzahlungsbazare setzten auf eine vielfach als marktschreierisch gedeutete Reklame und provozierten damit schon früh Diskussionen über die kommerzielle „Verunstaltung“ der Innenstädte. [30]

Während sich die Bazare in der klassenspezifisch gegliederten Kleinhandelswelt des Kaiserreichs eher an Käufer aus der Mittel- und oberen Unterschicht wendeten, konzentrierten sich die aus den Magazinen entstehenden Kaufhäuser tendenziell auf die mittleren und oberen Klassen der Gesellschaft. Auch sie verzichteten zumeist auf eigene Güterproduktion, konzentrierten sich auf den Vertrieb von Waren. Doch schon aufgrund ihrer Größe besaßen sie meist eine nicht unbeträchtliche Nachfragemacht, die ihnen indirekten Einfluss auf die Lieferanten sicherte. Ihre Schaufenstergestaltung war zumeist gediegen, zurückhaltend und sachlich. Die Kaufhäuser waren jedoch zugleich Vorreiter einer allgemeinen Vergrößerung der Schaufensterflächen. Grundlage dafür boten zum einen Verbesserungen der Glasgusstechnik. Das Spiegelglas wurde glatter und durchsichtiger. Zugleich wurde es technisch möglich, größere Einzelscheiben zu produzieren. Wichtiger aber war, dass die Kaufhäuser schon in den 1870er und 1880er Jahren die neuen Möglichkeiten der Baustoffe Eisen und Stahl für eine immer prächtigere Schaufensterfront nutzten. [31] Nun entstanden rein funktionale Geschäftsbauten, die nur noch in Ausnahmefällen zu Wohnzwecken genutzt wurden. Citybildung und Schaufensterentwicklung waren eng miteinander verzahnt.

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Fassade des Geschäftshauses Rosipal in München 1884 (Zeitschrift für Baukunde 7, 1884, Bl. 9)

Die Abbildung zeigt eine 1884 neugestaltete Fassade des Münchener Kaufhauses Rosipal. Innerhalb des Geschäftes wurden rund um einen Lichthof auf drei Etagen Manufaktur-, Mode- und Schnittwaren verkauft, während sich die Verwaltung im dritten Stock befand. Dekorierte Schaufenster gab es in den ersten beiden Stockwerken, doch auch die großen Fenster im zweiten und dritten Stock dienten zu Werbezwecken.

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Obergeschosse des Berliner Kaufhauses Ascher & Münchow (1886/87) (Blätter für Architektur und Kunsthandwerk 4, 1891, Tafel 27)

Das 1887 fertiggestellte Berliner Kaufhaus Ascher & Münchow zählte in den beiden Untergeschossen elf großformatige und aufwändig dekorierte Schaufenster. Dies allein genügte nicht, denn auch im zweiten Stock nutzte man insgesamt zwölf der schmaleren Fenster zur Präsentation damals moderner Einrichtungsgegenstände (die Abbildung zeigt davon nur vier). Die Fenster im dritten und vierten Stock wurden schließlich für Reklamebeschriftungen genutzt, um dadurch die Käufer in der Leipziger Straße schon von weitem auf das Angebot aufmerksam zu machen. Die Glasflächen der Kaufhäuser wuchsen schon in den 1880er Jahren bis an die Spitze der Geschäftsgebäude, folgten dabei auch der wachsenden Monumentalität damaliger Geschäftsstraßen und Prachtboulevards. Das Prinzip gläserner Fronten wurde dann in den späten 1890er Jahren von den neu entstehenden Warenhäusern auf die Spitze getrieben. [32] Von den Kaufhäusern unterschieden sie sich durch ihr breites Angebot vermeintlich nicht zusammengehöriger Waren. Ihre Architektur war durch neue Innenraumkonzepte, die konsequente Nutzung von Lichthöfen und eine stark auf vertikale Pfeilerkonstruktionen ausgerichtete Fassadengestaltung originell und innovativ, doch in der Gestaltung der Schaufensterpartien befanden sie sich sowohl in der Tradition deutscher Kaufhäuser als auch der wesentlich prächtigeren französischen Grands magasins. [33] Das 1897 von Alfred Messel (1853-1909) erbaute Warenhaus Wertheim und das 1899/1900 errichtete, ebenfalls in Berlins Leipziger Straße gelegene Warenhaus Hermann Tietz mit seinen zwei riesigen, jeweils 460 m2 umfassenden Schaufenstern, waren gewiss die bekanntesten Vertreter dieses Typus.

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Der Kaiser-Bazar als Schaufenster (Das Buch für Alle 27, 1892, 221)

Noch konsequenter allerdings war das um 1900 entstandene Mannheimer Warenhaus Kander: Stärker als bei seinen Berliner Vorbildern verzichtete man bei diesem Glaspalast auf eine schmückende Fassadengestaltung oder auch nur auf eine abrundende Dachkonstruktion. Die Eisen-Glas-Architektur hatte hier einen seltenen Höhepunkt erreicht, das Warenhaus erschien transparent, öffnete sich allseitig den neugierigen Blicken der Kundschaft. Ästhetische, architektonische und brandschutztechnische Erwägungen führten jedoch dazu, dass diese nur noch an Monumentalität zu überbietende Steigerung der Schaufensterfronten an einen Wendepunkt geriet. [34] In der Fabrikarchitektur wurde diese Bauweise allerdings – gemäß den Fabrikbauten von Steiff (Giengen, 1903) oder Fagus (Alfeld, 1911) – zum Vorreiter des Neuen Bauens.

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Das Warenhaus Kander in Mannheim 1900 (Kilian, 1994, 336)

Doch bevor wir auf die hieraus resultierenden Konsequenzen eingehen, müssen wir uns fragen, ob sich das Schaufenster auch abseits herausragender Einzelbetriebe universell durchsetzte. Im zweiten Teil wurde betont, dass in den 1860er Jahren im Gebrauchsgüterhandel auch mittlere und kleinere Betriebe Schaufenster neu einrichteten oder sich Verkaufslokale mieteten, die üblicherweise mit Glasfronten versehen waren. Auch im Handel mit Kolonialwaren und Delikatessen war dies nachweisbar. Doch es ist nicht möglich, diese Entwicklung präzise zu quantifizieren. Allerdings betonte der liberale Politiker und Genossenschafter Eugen Richter (1838-1906) schon 1867 eindringlich, dass Konsumgenossenschaftsläden eine ähnlich hochwertige Ausstattung wie konkurrierende Kolonialwarenläden haben sollten, um zugleich aber festzuschreiben: „Der Ausstellung von Waaren in den Schaufenstern zur Anlockung der Kunden enthalten sich dagegen alle Konsumvereine nach dem Muster der englischen Vereine grundsätzlich.“ [35] Auf Fotografien des letzten Jahrhunderts findet man seit den 1860er Jahren vielfach geschlossene Schaufensterfronten, die spätestens seit den 1880er Jahren stets auch die sesshaften Lebensmittelhändler umgriffen. [36] Lediglich die Konsumgenossenschaften grenzten sich zumindest bis zur Jahrhundertwende selbstbewusst aus, verfügten sie doch über einen festen Stamm eingetragener Mitglieder. [37]

Doch zugleich muss an ihr privatwirtschaftliches Pendant erinnert werden. Massenfilialbetriebe entstanden im Genuss- und Lebensmittelsektor vornehmlich seit den 1870er Jahren. Ihr Erfolgsrezept gründete nicht allein auf zentralem Einkauf und zentraler Verwaltung. Die Einzelfilialen besaßen vielmehr zunehmend einheitliche Außenfronten, deren Blickfang immer ein oder mehrere große Schaufenster bildeten. Zwar lag der eigentliche Aufschwung dieser neuen Betriebsform in den 1890er Jahren, doch entstanden die großen Ketten – Kaiser‘s Kaffeegeschäft verfügte 1900 schon über 667 Filialen – meist aus einfachen Kleinhandelsbetrieben. [38] Es scheint daher mehr als plausibel, dass das Wissen um die Werbekraft eines anziehenden Schaufensters auch im Kolonialwarenkleinhandel schon lange vor der Jahrhundertwende fest verankert war und allgemein praktiziert wurde.

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Filiale von Kaiser’s Kaffee-Geschäft 1904/05 (1880-1980. 100 Jahre Kaiser’s, hg. v. Kaiser’s Kaffee-Geschäft AG, Viersen 1980, s.p.)

Diese Universalisierung des Schaufensters zum zentralen Werbemittel des gesamten ladengebundenen Kleinhandels ging einher mit veränderten Präsentationsformen der Ware selbst. Schon in den Hamburger Schaufenstern wurde möglichst viel Ware gestapelt. Hiermit, so die allgemeine Überzeugung, könne die Leistungsfähigkeit des Geschäftes am besten dokumentiert werden. Doch massierte Warenpräsenz hatte nur begrenzte Lockkraft. Daher begann man spätestens seit den frühen 1870er Jahren damit, ungewöhnliche und spektakuläre Phantasiefenster einzurichten. [39]

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Phantasiefenster eines Fleischwarengeschäftes (Fliegende Blätter 115, 1901, Nr. 2927, 7)

Doch die Kritik an überladenen und ohne Sachbezug eingerichteten Schaufenstern ließ nicht lange auf sich warten, zumal in den Manufaktur-, Konditorei- oder Fleischwarenbranchen. Besonders die Dekoration toten Fleisches erregte Anstoß, auch wenn sie offenbar noch um die Jahrhundertwende weit verbreitet war [40].

Die schon in den 1870er Jahren offenbare Kritik deckte sich kaum mit dem in der bisherigen Forschung gezeichneten Bild der Schaufensterwerbung. [41] Der Übergang vom Phantasiefenster zu sachlichen Stapelfenstern wird gemeinhin mit den Elitendiskursen der Jahrhundertwende verbunden. Doch lange vor programmatischen Aussagen wie „Das neue Fenster will sachlich sein“ [42] war ein Großteil der Schaufenster schon „sachlich“ gestaltet. Städtische Schaufensterfronten wurden zum allgemeinen Präsentationsort moderner Waren. Die zunehmende Spezialisierung des Kleinhandels ließ die Schaufenster zugleich Ausdruck und Träger eines warenzentrierten Angebotes werden: „Beredter als Zeitungsannoncen ladet es zum Kauf ein, denn es zeigt die Waare selbst und erinnert dadurch den Kauflustigen nicht selten erst an Bedürfnisse, deren er ohne die Mahnung des Schaufensters nicht gedacht hatte“ [43].

Die städtischen Schaufenster präsentierten die Errungenschaften des technischen Fortschritts einfach und kaum verschnörkelt: „Durch riesengrosse Spiegelscheiben, […] fällt jetzt das Auge allenthalben auf bunteste Pracht und Fülle und ein Weg besonders durch die Hauptgeschäftsstrassen Berlins gleicht einem Spaziergang durch eine kleine internationale Ausstellung. Da giebt jeder Kaufmann mit grösstem Aufwand ein möglichst charakteristisches Bild seiner Branche und taucht es zum Ueberfluss noch in ein ganzes Meer hellfluthenden Lichtes.“ [44] Die Schaufensterdekoration wurde schon früh als kommerzielle Kunst verstanden, die der Unterhaltung einer wachsenden Zahl shoppender Käufer und Käuferinnen diente: „Die Perspective eine Ladens bei Abendbeleuchtung durch die Fenster betrachtet ist eins der herrlichsten Schauspiele, welches die große Stadt bietet, und wenn das Marmorlager, wo Werke der Sculptur aufgestellt sind, den höheren Kunstsinn noch starker anzieht und inniger erfreut, als die den Werken der Manufacturisten gewidmeten Verkaufshallen, so sind diese Werke doch der Mehrzahl nach, der Kunstsphäre nahe gehoben durch den Geist, welcher heutigen Tages auch im Handwerk sich regt, und die Betrachtung derselben ist folglich ein Genuß, der durch den Namen: Kunstgenuß nicht zu schmeichelhaft benannt ist.“ [45]

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Abendbeleuchtung vor einem Eingang des Kaufhauses Rudolph Hertzog (Der Bär 20, 1894, 441)

Vor diesem Hintergrund scheint es nicht nur angesichts mangelnder Detailforschung unangemessen, dem Kleinhandel vor der Jahrhundertwende Unmaß und mangelnden Kunstsinn zuzuschreiben. Symmetrisch aufgebaute Stapelfenster waren jedenfalls schon lange vor der Jahrhundertwende Gemeingut des Kleinhandels. Warenzentrierung war innerhalb der Schaufenster üblich und keine Ausnahme. Diese Entwicklung fand ihr Pendant in einer wachsenden Zahl von Waren, die im Schaufenster mit Preisauszeichnungen versehen wurden. Schon die Schaufenster der Magazine besaßen dadurch hohen Informationswert. [46] Diese Preistransparenz war aber nicht nur Ausdruck lauterer Geschäftspraxis. Vielmehr waren es gerade die neuen Betriebsformen des Pfennig-Bazars und des Wanderlagers, die geringe Preise seit den 1870er Jahren bewusst als Werbe- und Wettbewerbsmittel einsetzten. Sie schufen Preisdruck für die Konkurrenz, der in den 1890er Jahren durch Warenhäuser und Partiewarengeschäfte nochmals verstärkt wurde. Die Rechenhaftigkeit des Kunden wurde durch die immer häufigere Preisauszeichnung gerade in mittleren und kleineren Läden unterstützt: „Wenn wir in Berlin durch die Strassen gehen und vor einem Schaufenster eine ausserordentliche grosse Fülle sehen, so will ich darauf wetten, dass in dieser Auslage die Waaren mit Preisen versehen sind. Die Preisbezeichnung veranlasst eine Menge Leute, des Studiums halber stehen zu bleiben, auch solche, die im Augenblick gar nicht auf einem Kaufwege sind. Dieses Studium kostet dem Kaufmann nichts, aber es bringt ihm Vortheil; denn nachher heisst es zu Haus: ‚Da und da habe ich das und das zu dem Preise gesehen!‘ womit sich eine neue Kundschaft anbahnt. Um die misstrauischen und ängstlichen Käufer zu beruhigen, giebt es aber kein Mittel, als ihnen an allen Waaren, drinnen wie draussen, die lesbare Preisbezeichnung entgegenzuleuchten zu lassen. Das giebt auch demjenigen, der sich wegen Mangels an Sachkenntnis schwach fühlt, die angenehme Gewissheit, dass man ihm nicht mehr abnimmt, als den getriebenen Kunden.“ [47]

Die nachhaltigen Veränderungen der Dekoration der Schaufenster spiegelten sich aber auch im Entstehen eines neuen Berufszweiges – des teils noch semiprofessionellen Dekorateurs [48] – und einem immer bedeutenderen Angebot von Dekorationsmitteln. Gestelle, Ständer, Etageren, Attrappen, Borde, Spiegel, Plakate und vieles mehr wurde speziell für die Ausstattung von Schaufenstern gefertigt. Ein Lehrbuch listete 1895 allein 103 deutsche Firmen auf, die sich auf diese Produkte spezialisiert hatten. [49] Dazu kamen Anfang der 1890er Jahre mechanische Figuren, die jedoch ebenso wie der Automatenhandel nur geringe Bedeutung gewannen. [50] Auch die Verwendung mechanischer Klopfer, die an der Ladenfassade angebracht wurden, war eine Modeerscheinung, die sich nicht durchsetzen konnte. Wesentlich wichtiger waren dagegen Rollständer und Büstenfiguren, die eine lebensnahe Präsentation von Textilien ermöglichten. Wachspuppen kamen erst nach der Jahrhundertwende auf, hatten dann jedoch durchschlagenden Erfolg bei der Dekoration der größeren Geschäfte. [51] Alle diese Mittel halfen, die Schaufenster insgesamt attraktiver zu machen. Die hohen Kosten ließen die Unterschiede zwischen den Ladenfronten zugleich aber augenfälliger werden.

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Hilfsmittel zur Schaufensterdekoration (Kölner Local-Anzeiger 1904, Nr. 332 v. 1. Dezember, 6)

Auch wenn schon vor der Jahrhundertwende das Schaufenster in deutschen Groß- und Mittelstädten Allgemeingut war, so darf nicht vergessen werden, dass die Warenpräsentation technisch keineswegs ausgefeilt war. Für die Kleinhändler bedurfte es großer Anstrengungen, um den Kunden das Erlebnis eines gelungenen Schaufensterbummels zu ermöglichen. Die Glitzerwelt der Waren musste schließlich von der Straße aus betrachtet werden. Daher galt es Vorkehrungen zu treffen, um das Schaufenster bei allen Witterungsverhältnissen attraktiv zu machen.

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Wachstumsgewerbe Ladenbau (Kladderadatsch 28, 1875, Nr. 19, Beibl. 1, 1; ebd., Nr. 22/23, Beibl. 2, 2)

Augenfälligstes Hilfsmittel der meisten Läden war die Markise. Sie bestand in der Regel aus Leinwand und war meist mit Seitenblenden versehen. [52] Die Markise bot im Sommer Schutz vor Hitze, verringerte die Sonnenblendung und schützte zumindest vor leichtem Regen. Sie diente außerdem der Temperaturregulierung innerhalb des Ladens, denn gerade während des Sommers war Lüftung ein wichtiges Problem. Markisen nötigten zugleich dazu, nahe an das Geschäft heranzutreten, da sie den Blick von weitem beeinträchtigten. [53] Auch Rollläden behinderten insbesondere an Sonn- und Feiertagen den freien Blick auf Schaufenster und Waren. Doch die in Deutschland gebräuchlichen Holz-, später dann Stahlrollläden markierten zumeist mittlere und kleinere Geschäfte. Größere ließen dagegen ihre Schaufenster durchweg offen, da hochwertige Scheiben auch gegen Einbruch guten Schutz boten. Lediglich Kunsthändler und Juweliere griffen zu zusätzlichen beweglichen Gittern, so dass die Ware immerhin noch zu betrachten war. [54] Zu beachten ist allerdings, dass die Schaufenster bis zur Jahrhundertwende in den meisten Städten während der Hauptgottesdienstzeiten verhängt bzw. verschlossen werden mussten. Lokal blieben entsprechende Regelungen teilweise bis zum Ende des Kaiserreiches bestehen. [55]

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Eisverhangene Schaufenster selbst im Frühling (Fliegende Blätter 88, 1888, Beibl., 5)

Ein besonderes Problem bildeten außerdem Hitze und Kälte. Die Schaufenster bestanden in der Regel aus festen, schwer zu lüftenden Holzkästen. Kleine Lüftungslöcher halfen da wenig. Regelmäßig entstand Schwitzwasser, so dass ohne Gegenmaßnahmen die Fenster im Sommer beschlagen, im Winter dagegen gefroren waren. Im Laufe der Jahrzehnte wurden immer neue Hilfsmittel ersonnen, doch keines hatte einen nachhaltigen Effekt. Da offene Gasflammen im Fensterkasten eine hohe Brandgefahr bargen, wurden die Glasscheiben in der Regel alle paar Tage mit Glyzerin oder starken Chemikalien bestrichen. Trotzdem aber stand der Kunde häufig vor Schaufenstern, die nur teilweise einzusehen waren. [56]

Ein weiteres Naturhindernis bildete die Dunkelheit. Schaufenster mussten beleuchtet werden, um auch abends zu gefallen. Aufgrund der bis in die 1890er Jahre kaum beschränkten Ladenöffnungszeiten wurden viele Schaufenster anfangs von innen mit Kerzen und Petroleumleuchten, später dann mit Gasbrennern beleuchtet. Brandgefahr bestand stets, außerdem ließ das offene Feuer die Scheiben beschlagen. Gerade leistungsfähigere Geschäfte setzten daher schon frühzeitig auf die Außenbeleuchtung der Schaufenster. Dadurch konnten die Schaufenster jedoch schlechter ausgeleuchtet werden, außerdem blendeten die Lichter häufig. Gas- und Petroleumlicht schien gelblich, so dass sich die Farben der ausgestellten Waren grundlegend änderten. Seit den späten 1880er Jahren kamen dann elektrische Bogenlampen auf, in den späten 1890er Jahren auch das Gasglühlicht. Beide leuchteten weiß, doch verliehen sie den Waren einen kreidigen Charakter. Schon aus diesem Grunde waren kräftige Farben notwendig, erschien die Farbgestaltung der Schaufenster teilweise unnatürlich. [57] So bedeutsam die mit dem Schaufenster verbundenen Innovationen waren, so muss das Einkaufserlebnis der damaligen Zeit doch auch unter diesen Aspekten betrachtet werden, um nicht voreilig Vorstellungen unserer Zeit in die Vergangenheit zu projizieren. Kommerzielle Traumwelten stießen auch damals immer an die Grenzen natürlicher Gegebenheiten.

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Das Warenhaus Hermann Tietz (Berlin, Leipziger Straße) in nächtlichem Glanz (Die Woche 12, 1910, 373)

Diese Einschränkungen sind wichtig, um nicht der Apologie der urbanen Konsumgesellschaft zu verfallen. Die gläsernen Schaufenster zogen gewiss immer größere Kreise der Bevölkerung in ihren Bann. Doch trotz der steigenden Realeinkünfte waren die Barrieren von Klasse und Einkommen weniger durchlässig als die transparenten Scheiben der Läden.

Schaufenster und Läden als kommerzielle Ensembles (seit ca. 1900)

Die Entwicklung des Schaufensters war um die Jahrhundertwende an einer quantitativen Grenze angelangt. Neue Impulse, wie sie seit der Reichsgründung stets von neuen Betriebsformen des Kleinhandels erfolgt waren, blieben aus. Gewiss, spätestens seit den 1890er Jahren verbreiteten sich Schaufenster nicht nur in Mittelstädten, sondern waren auch immer häufiger in Kleinstädten anzutreffen. [58] Auch die kleineren Geschäfte der urbanen Außenbezirke glaubten nicht mehr auf gläserne Fronten verzichten zu können. Dennoch schritt die Entwicklung des Schaufensters weiter voran. Denn die Universalisierung des Schaufensters in den deutschen Großstädten um die Jahrhundertwende bewirkte einen qualitativen Sprung: Die Prinzipien der Schaufenstergestaltung griffen seither über in den Verkaufsraum, die „Schaufenster-Qualität der Dinge“ [59] erfüllte den gesamten Laden, prägte Ausstattung und Personal.

Den Hintergrund dieses Umschwungs bildete ein generelles qualitatives Wachstum des deutschen Kleinhandels, das spätestens zu Beginn der 1890er Jahre bestimmend wurde. Der intensivierte Wettbewerb führte zu geringeren Handelsspannen, steigerte zugleich aber die allgemeinen Kosten des Geschäftes. Daran hatte das Schaufenster einen wichtigen Anteil: „Enorme Summen verschlingt das moderne Schaufenster. Man macht sich im allgemeinen gar keine Vorstellung davon, wieviel verschiedene Dinge, von der riesigen Spiegelscheibe bis hin zu den kaum beachteten Warenständern benötigt werden, und wieviel Hände sich regen müssen, damit ein leidliches Schaufenster zustande kommt. Bloß die Einrichtung eines solchen kommt durchschnittlich für kleinere Maßstäbe von 150 Mk. bis auf 200 Mk. und für größere auf 1000 Mk., ja mehr zu stehen. Dazu kommen die Löhne für die Arrangeure.“ [60]

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Markenartikelwerbung als Alternative zur Eigendekoration (Über Land und Meer 103, 1910, 96)

Da schon zu Beginn der 1890er Jahre die Schaufensterdekoration auch in mittleren Geschäften durchschnittlich alle zwei Wochen neu gestaltet wurde [61], erhöhten sich die Fixkosten. Umsatzsteigerungen wurden betriebswirtschaftlich notwendig, um diese Kosten degressiv gestalten zu können. Parallel erhöhten sich die fachlichen Anforderungen an die Schaufenstergestaltung. Moden traten an die Stelle von Jahreszeiten und die Dekorationswarenindustrie bot immer neue, stets aber kostspielige Produkte an. Markenartikelanbieter nutzten dies, machten sich dadurch zumal bei Drogerieartikeln und Lebensmitteln unentbehrlich. Größere Betriebe konnten für die Dekoration eigenes Personal einstellen, der Dekorateur trat hier an die Stelle des dekorierenden Kleinhändlers bzw. Handlungsgehilfen. Lehrbücher und die Fachpresse des Kleinhandels boten zugleich einen immer größeren Wissensfundus, um Schaufenster ansprechend und im Einklang mit dem herrschenden Geschmack zu gestalten. [62] Doch diese Aufgaben ließen sich nicht einfach beschränken. Der Kunde sollte ja nicht allein zum Geschäft gelockt werden, um dort die gefällige Auslage zu betrachten. Er sollte den Laden betreten und dort kaufen. Dazu aber musste ihm mit fortschreitender Dekorationstechnik auch im Inneren des Geschäftes ein Ambiente geboten werden, welches gegenüber dem des Schaufensters zumindest nicht abfiel. Das Äußere des Ladens wurde zum Modell für die Neugestaltung des Inneren. Grundlage hierfür waren abermals neue Bautechniken. Die Kaufhäuser besaßen zwar schon frühzeitig große Verkaufsflächen; Rudolph Hertzog offerierte 1878 schon auf 3.710 m2 und das Berliner Kaufhaus Heinrich Jordan brachte es 1893 auf stolze 8.000 m2. [63] Doch erst die Verwendung von Stahlbeton ermöglichte den Bau weiter Verkaufshallen.

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Heizanlage inmitten des Ladens der Bremer Firma Oehlckers & Rabe (Der Manufacturist 24, 1901, s.p.)

Zwischenwände konnten nun beseitigt, die Zahl der Pfeiler wesentlich verringert werden. Bildeten bisher Laden- und Kassiertisch, Stellagen und Regale die Hauptmöbel auch größerer Geschäfte, so kamen nun große Verkaufs- und Präsentationstische auf, die inmitten der Räume platziert wurden. Parallel ersetzten Zentralheizungen die Öfen im Laden, wurden große Treppenhäuser, Galerien und Balkons gebaut. So konnte nicht nur die Ware von Ferne betrachtet werden, sondern auch der Kauf der Anderen geriet ins Blickfeld. [64] Für den Innenraum und die Warendarbietung stellten sich dadurch völlig neue Aufgaben, die in Rückgriff auf die bewährte Schaufenstergestaltung gelöst wurden. Bei den Warenhäusern war dieser Prozess offenkundig. [65] Doch auch und gerade mittlere und größere Kaufhäuser folgten diesem Trend und hoben damit die Schaufensterwerbung auf eine neue, umfassendere Ebene.

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Verkaufsräume der Berliner Firma H. Esders & Dyckhoff 1901 (Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 23, 9)

Die Verkaufsräume der Berliner Firma Esders & Dyckhoff waren nicht nur deutlich größer und besser beleuchtet als frühere Läden. Sie enthielten auch neue Möbel, Verkaufsschränke, teils mit Glas versehen, die mitten im Raume standen. Das Regalprinzip war für größere Raume allein ungeeignet und Schautische boten nur wenigen Waren Platz. Der Laden wurde daher neu möbliert, mit Spiegeln bekränzt, dem Kunden die Ware sichtbar gemacht. Selbstbedienung aber gab es nicht. Analog zum Schaufenster konnte man die Ware zwar betrachten, doch durfte man sie nicht ohne Beisein eines Verkäufers, einer Verkäuferin berühren.

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Verkaufsräume der Berliner Firma Kersten & Tuteur 1914 (Berliner Architekturwelt 16, 1914, 148)

Auch das stetig wachsende Sortiment industriell hergestellter Produkte begünstigte die Warenpräsentation innerhalb des Ladens. Die Ausstellung neuer Hüte und Blusen in den Verkaufsräumen der Berliner Firma Kersten & Tuteur verwies nicht nur durch die Präsenz von Warenständern und Büsten auf die direkte Nähe zur Schaufensterwerbung. Schautische und Glasauslagen erlaubten vielmehr ein Art Schaufensterbummel im Laden.

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Verkaufsräume der Hallenser Firma H.C. Weddy-Pönicke 1901 (Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 25, 13)

Umfassendere Möglichkeiten der neuen Innendekoration zeigt eine Bettenpräsentation des Kaufhauses Weddy-Pönicke. Die dekorierte Ware konnte nicht nur besehen werden, sondern gewann ihre spätere räumliche Qualität zurück, wurde begehbar, erfahrbar. Wunschwelten konnten nun abseits des engen Gevierts des Schaufensters aufgebaut, deren „Natürlichkeit“ somit erhöht werden.

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Innenansicht der Kölner Firma A. Böheimer (Der Manufacturist 24, 1901, s.p.)

Diese Entwicklung der Innendekoration wurde durch Verbesserungen der Lichttechnik unterstützt. Nicht mehr Petroleumleuchten oder einfaches Gaslicht wurden verwandt, sondern die hellen elektrischen Bogenlichter, vorrangig aber das neue Gasglühlicht. Der Laden konnte so gänzlich ausgeleuchtet werden, Waren und Dekoration dadurch ihre Pracht entfalten. Zugleich verschwanden die großen Öfen aus vielen Läden. Sie wurden durch Zentralheizungen ersetzt. Damit wurde weiterer Präsentationsraum gewonnen, das Verkaufsambiente angenehmer gestaltet. Weiterhin störend waren die bautechnisch notwendigen Pfeiler, doch bei Neubauten traten an die Stelle gemauerter Stützpfeiler mehr und mehr gusseiserne Säulen oder eiserne Träger, durch die auch mittlere Geschäfte größere Freiräume gewannen. [66] Die geschmackvolle Inneneinrichtung wurde mit Farbe abgerundet. Manche Ladenbesitzer stimmten Decken, Wände und getöntes Glas farblich aufeinander ab, ließen sie teils mit einfachen Mitteln ausmalen. Der Jugendstil drang gerade in gehobenen Gebrauchsgüterläden vor. [67] Der Laden entwickelte sich nach der Jahrhundertwende zumindest im Gebrauchsgüterhandel zu einer für den Zweck des Verkaufs gestalteten Kunstwelt. Auch wenn die Mehrzahl der kleinen Läden den bedeutenden Vorbildern gerade der Warenhäuser nicht das Wasser reichen konnte, so muss man doch auch deren Veränderungen – die auf niedrigerem Niveau auch den Lebensmittelkleinhandel prägten – in ihrer Gesamtheit würdigen. Analog zum Schaufenster wurde der Laden wurde immer mehr zum reflexiv-kalkulierten Mittel des Absatzes und glich sich diesem dekorativ an.

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Innere Glasfronten des Berliner Spezialgeschäftes Kopp & Joseph (Der Welt-Spiegel 1910, Nr. 101 v. 18. Dezember, 8)

Erst dadurch wurde der urbane Schaufensterbummel zum eigentlichen Einkaufserlebnis. Bewusst wurden dabei Klassengrenzen durchbrochen, um so auch Kundenkreise anzusprechen, für die die dargebotenen Waren meist unerschwinglich waren. Neue kommerzielle Sinnhorizonte entstanden, der nun rasch um sich greifende Ladendiebstahl spiegelte dies. [68] Eine „Demokratisierung des Konsums“ war mit diesen Laden allerdings kaum verbunden, denn die Möglichkeit des Kaufs höherwertiger Gebrauchsgegenstande war für die Mehrheit der Bevölkerung trotz steigender Reallöhne, trotz Abzahlungsgeschäften und Teilzahlung nur ansatzweise gegeben. Gleichwohl bildete sich insbesondere im gehobenen Mittelstand eine neue urbane Konsumkultur aus, in der die Schaufenster gewiss noch lockten, in der jedoch der seinem Vorbild gemäß gestaltete Verkaufsraum das Ziel bildete: „Was hat ein trüber unausstehlicher Wintertag in den lichterfüllten Geschäftsstraßen der Großstadt mit den lockenden Auslagen, den tausend schönen und kostbaren Dingen noch für Schrecken? Ein Hagelschauer, nasse Füße? Man tritt in den erstbesten Laden, wohlige Wärme, helles unaufdringliches Licht, angenehme Eindrücke überall! Man fühlt sich als Besitzer weicher Teppiche, prächtiger Spiegel, schöner und komfortabler Möbel, man weiß, die geschmackvolle Anordnung der Waren ist lediglich für den Käufer da. Alle vorhandenen Annehmlichkeiten stehen zu seiner unbeschränkten Verfügung. Warum soll man da nicht eine Kleinigkeit kaufen? Man braucht vielleicht nichts. Aber was soll man schon an solchem Tage daheim, wo es nicht halb so hübsch und modern ist, wo es nichts Neues mehr zu sehen gibt; was tut man bei dem unfreundlichen Wetter auf der Straße?“ [69]

Die Ausbreitung des Schaufensterprinzips in das Innere des Ladens ermöglichte zugleich, die Front des Ladens unter stärker qualitativen Aspekten zu sehen. Dadurch begann ein Prozess wechselseitiger Abstimmung, der die Einheitlichkeit der Werbung einzelner Geschäfte wesentlich vorantrieb – neudeutsch würde man vom Corporate Design sprechen. Die Zeit der Glaspaläste endete, an ihre Stelle traten Geschäfte mit kleineren Schaufensterfronten. Mehrere Warenhausbrände verdeutlichten die geringe Hitzestabilität reiner Stahl-Eisen-Konstruktionen, so dass nun die vertikalen Pfeiler fast durchgehend mit Stein verblendet wurden. Die Zahl zwei-, insbesondere aber dreigeschossiger Schaufensteranlagen sank rasch, da derart hoch gelegene Fenster kaum beachtet wurden. [70]

Neue Möglichkeiten eröffneten sich seit der Jahrhundertwende aber auch durch die Verwendung stark gebogener Spiegelscheiben. Dadurch konnte der Weg von der Straße hinein in den Laden durch Schaufenster umrahmt werden, wobei gerade gehobene Fachgeschäfte diese Möglichkeit nutzten. [71] Zugleich aber passten sich die Schaufenster stärker den ausgestellten Waren an: „Die Art der Ware wird entscheiden, ob ein großdimensioniertes Schaufenster passend sei oder ein kleiner Ausschnitt genügt. Die Schaufenstergestaltung erfordert beim Modenhaus andere Ueberlegung bei der Warenauslage als beim Juwelierladen, wo der Wert des Stückes in der Einzigkeit besteht. Und indem man der Theorie von der bildlichen Einheit der Warenauslage zuneigte, kam man auf die Idee der Konzentration, der Isolation, der Rahmenbildung für das Schaufensterstilleben. Die Fassung des Fensters wurde zugleich die Fassung der Ware.“ [72]

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Zurückgenommene Schaufensterzeile beim Seidenhaus Maassen 1912 (Berliner Leben 16, 1913, Nr. 2, III)

Auch die Verwendung des Lichtes erlaubte neue Formen der Schaufensterwerbung. Die gleißenden Fassaden der großen Häuser führten zu vermehrter Kritik am „Helligkeitswahn“. Diesem galt es mit schwächerer, aber gezielter eingesetzter Beleuchtung zu begegnen. [73] Die Außenbeleuchtung wurde immer mehr von einer indirekten Innenbeleuchtung abgelöst. Hinter Blindglas angebracht verursachten die elektrischen Bogenlampen kaum noch Schwitzwasser, tauchten die Waren zugleich aber in einen „mystischen Zauber“ [74].

Schließlich änderte sich die Stellung der Ware innerhalb der Dekoration. Die herausragende Rolle der Einzelware, die massierte Warenstapel noch verstärken sollten, schwand angesichts eines Verkaufsambientes, das generell zum Kauf animieren wollte und nur den Rahmen für den Kauf des Einzelproduktes abgab. Während beachtliche Teile der Unterschichten an Mangelernährung litten und der Lebensstandard der großen Mehrzahl der Konsumenten durch Lebensmittelteuerungen immer wieder beeinträchtigt wurde, setzte sich in den Auslagen der großen Geschäfte die Abstraktionskraft der Reklame immer stärker durch: „Die heutige Auslage ist Reklame geworden, Reklame so sehr, daß viele Geschäfte darauf verzichten, verkäufliche Ware zu zeigen.“ [75] Das Schaufenster hatte in diesem Rahmen nur noch appellativen Charakter, war Teil einer größeren Werbemaschinerie geworden.

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Blusen in der sie adelnden Abteilung des Seidenhauses Maassen (Berliner Leben 16, 1903, Nr. 2, III)

Am Ende unseres Rückblicks steht daher nicht mehr die einzelne Ware, deren Lockkraft das Schaufenster einst einen visuellen Rahmen bot. Am Ende steht der kommerzielle Kult um die Ware selbst. Die großen Geschäfte mutierten zu Kathedralen des Konsums, die Dekorateure zu Priestern des neuen Mysteriums und die Auslagen waren ihre Altäre: „Dem Kaufmann, der seine Ware verkaufen will, kann es nicht gleichgültig sein, ob der defilierende Menschenstrom sich nur an der Atmosphäre von Glanz und Licht berauscht. Er will ihn fesseln, locken, in Hemmung versetzen; die Ware soll für ihn Bedeutung gewinnen, soll sich durchsetzen, den ganzen berauschenden Glanz vergessen machen und allein sein mit Jedermann. So allein, dass die magische Suggestion ihre Faden spinnt und der Gebannte nicht loskommt von dem Gedanken: Dich muß ich besitzen. Aber dies Mysterium der Vermählung des Käufers mit der Ware verlangt Konzentration. Es müssen alle Mittel spielen, um die Ware zu isolieren. Vor allem braucht das Fenster einen Rahmen. Endell, der größte Magier unter den Schaufensterkünstlern Berlins, hat dies Erfordernis am besten begriffen. Wo er die Möglichkeit hatte, die Fassaden seiner Läden zu gestalten, hat er breite Pfeilerflächen zwischen die Fenster gelegt und den Einbau des Fensters selbst mit so kostbarer Fassung geschmückt, daß wir die Empfindung eines Wunders haben, schon ehe wir an die Scheiben herantreten. Endell war es auch, der der Beleuchtung ihre beste Lösung gab. In der Beseitigung der äußeren Bogenlampen, die blenden statt zu bestrahlen, hatten ihm andere vorgegriffen. Die verdeckte Beleuchtung, die dem Beschauer die Lichtquelle verbirgt, um die Ware um so heller hervortreten zu lassen, war als Vermächtnis der Bühne schon in die Auslagen eingetreten. In Endells Händen aber gewann das Licht erst seinen mystischen Zauber. Mit funkelnden Flächen tieffarbiger Gläser verschloss es die Beleuchtungskasten gegen die Straße, aus denen das Licht von oben über die Ware herabrieselt. Warenzeichen gleißen, zu magischen Zeichen gewandelt, mit heißen Zügen daraus hervor. Das Ganze atmet jene Stimmung, die das Kind vor dem Vorhange empfindet, der ihm zum ersten Male die Welt der Träume erschließen soll. Was in diesem Zauberschrein dargeboten wird, ist allemal etwas Kostbares, und wären es nur Stiefel aus schwarzem Leder.“ [76]

Zur Stellung von Schaufenstern und Schaufensterwerbung im 19. Jahrhundert

Die empirische Analyse der Entwicklung von Schaufenstern und Schaufensterwerbung im 19. Jahrhundert scheint zwar eindeutig, doch ist sie je nach Perspektive unterschiedlich zu deuten. Schaufenster und Schaufensterwerbung sind in der Tat Hilfsmittel allgemeinerer Fragen: Denken wir an die kulturkritische Variante, die kritisch wendet, was eben im Zitat noch positiv klang: Erhaben stand der moderne Konsument dann vor der leistungsfähigen Schau der scheinbar nur für ihn produzierten Guter. Waren wurden göttergleich, schufen erst im Rahmen der Schaufenster, dann im Rahmen des Ladens, schließlich als symbolische Lebensbegleiter ein neues Mysterium allgegenwärtigen transzendenten Wirkens. Die Rationalität moderner Warenpräsentation kreierte demnach das irrational Rationale des modernen Konsums. Die Entzauberung der Welt fand ihr paradoxes Pendant in allgemeiner Verzauberung durch die Schaufenster, Läden und Waren.

Doch Werbung und Konsum als Ersatzreligion einer kapitalistischen Gesellschaft werden der lustvollen Seite von Kauf und Kaufen, von Schauen und Entdecken sicher nicht gerecht. In der Entwicklung des Schaufensters zeigte sich aber nicht nur Entfremdung, sondern auch das Bemühen einer Vielzahl von Menschen, die Naturkräfte zu beherrschen und in einem kleinen gläsernen Geviert eine eigene, eine menschliche Kunstwelt zu schaffen. Konsum, gar Massenkonsum war im 19. Jahrhundert vielfach auch Ausdruck der Fortschrittsfähigkeit des Menschen. Das Kaufen, Besitznehmen und Einverleiben bestätigte ihn als Herren der Welt, zumal auch der kolonalisierten. Im Schaufenster sahen selbst der Mann, die Frau mit geringem Einkommen, dass die Welt ihm doch zu Füßen liegen konnte. Das hierauf gründende Selbstbewusstsein ist uns heute abhanden gekommen, war jedoch Teil der Faszination des Schaufensters im langen 19. Jahrhundert.

Vielleicht aber sollten wir auch der Leistung der Kleinhändler gedenken, die in der historischen Forschung so häufig übergangen werden. Sie waren es schließlich, die mit viel Energie und Liebe zum Detail kommerzielle Traumwelten schufen und damit wichtige Elemente der modernen Stadt prägten. Durch eine einfache, durchsichtige Scheibe trennten sie Käufer und Ware, schufen so Ungewissheit, versahen die Produkte mit einem unbestimmten Geheimnis. Ob sie aber über sich, über ihre Repräsentationskraft Rechenschaft gegeben haben?

Wir könnten weitere Rollen einnehmen: Historiker sind vielleicht überrascht von der neuartigen Periodisierung in dieser Arbeit. Stimmt sie, dürfte eine große Zahl bisheriger Forschungen falsch fokussiert worden sein. Nicht am Ende, sondern in der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es demgemäß entscheidende Veränderungen von Kleinhandel, Schaufensterwerbung und Konsum. Damit wird das weithin akzeptierte Bild einer erst in den 1890er Jahren entstehenden Konsumgesellschaft fraglich, denn in deutschen Städten setzte sich zumindest ein bürgerlicher Konsumstil schon wesentlich früher durch. Auch die vielfach kolportierte Vorstellung einer neuen visuellen Kultur der Jahrhundertwende wäre zumindest falsch datiert. Vermehrt müsste dann nach den Trägern dieser Veränderungen gefragt werden – unabhängig davon, ob es sich um Produzenten, Händler oder Konsumenten oder aber um Läden, Schaufenster oder Produkte handelt. Menschen und Dinge gehören trotz Eigenleben zusammen. Vielleicht geriete schließlich auch das einseitig von der Produktion beherrschte Bild der „Industrialisierung“ in den Blick, nicht zuletzt um so den Städten als Handels- und Konsumzentren gerecht zu werden. Und auch für die Verortung des Deutschen Reiches als europäische Wirtschaftsmacht ergäben sich möglicherweise überraschende Perspektiven. Viele denkbare Folgerungen, die Sie weiterspinnen, denen Sie gewiss noch weitere hinzufügen können.

Uwe Spiekermann, 25. September 2022

Anmerkungen, Literatur und Quellen

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und mit weiteren Abbildungen versehene Fassung des in englischer Sprache erschienenen Artikels Display Windows and Window Displays in German Cities of the Nineteenth Century: Towards the History of a Commercial Breakthrough, in: Clemens Wischermann und Elliott Shore (Hg.), Advertising and the European City. Historical Perspectives, Aldershot et al. 2000, 139-171.

[1] Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995; David Ciarlo, Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge und London 2011; Pamela E. Swett (Hg.), Selling under the Swastika. Advertising and Commercial Culture in Nazi Germany, Stanford 2014; Alexander Schug, Braune Verführer. Wie sich die deutsche Werbebranche den Nationalsozialisten andiente, Berlin 2015.
[2] Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993; Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt a.M. und New York, 1997; Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999; Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990, Frankfurt/Main und New York 2009; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln und Weimar 2009; Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann (Hg.), Decoding Modern Consumer Societes, New York 2012; Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017; Christian Kleinschmidt und Jan Logemann (Hg.), Konsum im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2021.
[3] Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.
[4] Dieses und das voranstehende Zitat aus Hans-Walter Schmidt, Schaufenster des Ostens. Anmerkungen zur Konsumkultur der DDR, Deutschland-Archiv 27, 1994, 364-372, hier 364.
[5] Dieser fehlt bei Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums, hg. v. Württembergischen Kunstverein, Stuttgart 1974 bzw. Heidrun Großjohann, Die Karriere des stummen Spektakels. Zur Geschichte des Schaufensters, in: Christel Köhle-Hezinger und Gabriele Mentges (Hg.), Der neuen Welt ein neuer Rock, Stuttgart 1993, 252-256.
[6] Vgl. hierzu Johann Georg Krünitz, Kauf-Laden, in: Ders., Oekonomisch-technologische Encyklopädie, Bd. 36, Berlin 1786, 482-486; Margot Aschenbrenner, Buden und Läden, Biberach/Riss 1951; Gerhard Kaufmann, Alte Läden, in: Max Galli (Hg.), Vom Charme der alten Warenwelt, Dortmund 1992, 115-153.
[7] Vgl. Heinrich Sasse, Das bremische Krameramt, Bremisches Jahrbuch 33, 1931, 108-157, hier 135, Anm. 1. Zur Gesamtentwicklung vgl. H.W. Bahn, Studienbeitrag zur Entwicklungsgeschichte des Schaufensters in Deutschland, Ing. Diss. Braunschweig 1923 (Ms.).
[8] Vgl. Bahn, 1923, s.p.; Hermann Weidemann, Skizze zur Geschichte des Glases, Prometheus 24, 1913, 340-342, 358-361, 378-381, 394-395, hier 341.
[9] Vgl. [Josef Kirchner], Münchener Kaufläden von einst und jetzt, Münchener Rundschau 4, 1907, 1-5, hier 1. Die Malerische Topographie des Königreichs Bayern, München 1830, enthält allerdings schon mehrere Zeichnungen von Münchener Läden mit Schaufenstern.
[10] Vgl. Boris Röhrl, Ladenbeschriftungen des 19. Jahrhunderts. Versuch einer Systematisierung, Volkskunst 13, 1990, H. 3, 39-43.
[11] Umfassende Belege hierfür enthält Spiekermann, 1999.
[12] Vgl. demgegenüber Ulrich Lange, Krämer, Höker und Hausierer. Die Anfänge des Massenkonsums in Schleswig-Holstein, in: Werner Paravicini (Hg.), Mare Balticum, Sigmaringen 1992, 315-327 sowie (trotz anderer Fragestellung) Heidrun Homburg, Heidrun, Werbung – „eine Kunst, die gelernt sein will“. Aufbrüche in eine neue Warenwelt 1750-1850, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997/I, 11-52.
[13] Reinhardt, 1993, 271 betonte: „Bis zu den 1890er Jahren blieben die modernen, großflächigen Schaufenster jedoch vereinzelte Farbtupfer in den deutschen Städten“, während er an anderer Stelle (Dirk Reinhardt, Vom Intelligenzblatt zum Satellitenfernsehen. Stufen der Werbung als Stufen der Gesellschaft, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 44-63, hier 46) schrieb: „Die Gründerzeit hatte bereits in den 1870er Jahren durch die beginnende Umwandlung der Geschäftsfronten für eine Wandlung des großstädtischen Straßenbildes gesorgt.“ Zu beachten ist, dass diese Periodisierung nur dann sinnvoll ist, wenn das Warenhaus sehr eng als „eine großbetriebliche, kapitalistische Unternehmung für den Kleinhandel mit Waren verschiedenster, innerlich nicht zusammenhängender Art in einheitlichen Verkaufsraumen/-häusern“ definiert wird (Uwe Spiekermann, Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im spaten Kaiserreich, Frankfurt a.M. et al. 1994, 29). Eine allgemeiner gehaltene Definition – etwa analog zu den französischen Grands magasins – hätte dagegen zur Folge, dass die deutsche Warenhausgeschichte schon während der Frühindustrialisierung einsetzen würde.
[14] Wilfried Reininghaus, Rez. v. Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83, 1996, 239-240, hier 239.
[15] Zahlen nach C[arl] F[riedrich] W[ilhelm] Dieterici, Statistische Uebersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate und im deutschen Zollvereine in dem Zeitraume von 1837 bis 1839, Berlin, Posen und Bromberg 1842, 399-400; Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preussischen Staat für Jahr 1858, hg. v.d. statistischen Bureau zu Berlin, Berlin, 1860, S. 322-323.
[16] Zahlen nach H[ans] Grandtke, Die Entstehung der Berliner Wäsche-Industrie im 19. Jahrhundert, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich NF 20, 1896, 587-607, hier 596.
[17] Eigene Auswertung von Hamburgisches Adress-Buch auf das Jahr 1800, Hamburg o.J.; Hamburgisches Adreßbuch für das Jahr 1822, Hamburg o.J.
[18] Polizey-Bekanntmachung, die bequemere Passage der Stra6en betreffend v. 15.05.1830, in: J[ohann] M[artin] Lappenberg (Hg.), Sammlung der Verordnungen der freyen Hanse-Stadt Hamburg seit 1814, Bd. 11, Hamburg 1832, 170-171, hier 170.
[19] Melhop, 1925, 326. Darin auch eine Reihe weiterer Abbildungen sowie Fotographien aus den 1870er Jahren.
[20] Allerdings war in Hamburg eine einfache, vergleichsweise sachliche Ausgestaltung der Schaufenster allgemein üblich, vgl. Robert Geissler, Hamburg. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, v.a. 53.
[21] Das Gerson’sche Modewaaren-Lager zu Berlin, Werderscher Markt No. 5, Zeitschrift für Bauwesen 1, 1851, Sp. 131-137; Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle/S. 1870, 646.
[22] Entsprechend betonte Elisabeth v. Stephani-Hahn, Schaufenster-Kunst, 3. verb. Aufl., Berlin 1926, 9-10, dass die ersten spezialisierten Schaufensterdekorateure schon Mitte des 19. Jahrhunderts antraten.
[23] Springer, 1861, S. 330, 332-333.
[24] Stock, Ueber Schaufenster-Anlagen, Zeitschrift für Praktische Baukunst 24, 1864, Sp. 9-20, hier 9.
[25] Ueber Kaufläden, Zeitschrift für Bauhandwerker 7, 1863, 132-136, Bl. 17, hier 133.
[26] Vgl. Geschäftshaus in Berlin, Unter den Linden Nr. 13, für den Kaufmann Kohn, Zeitschrift für praktische Baukunde 31, 1871, Sp. 151-152, Taf. 17-20.
[27] Weidemann, 1913, 341. In London wurden dagegen nur 2.000, in Paris 1.500 und in Wien 1.000 entsprechende Schaufenster gezählt.
[28] Das belegen nicht zuletzt vielfaltige Karikaturen, etwa Fliegende Blatter 37, 1862, 40.
[29] Vgl. Bischoff et al., Das Manufakturwaarengeschäft. Fabrikation und Vertrieb, 2. wohlfeile Ausgabe, Leipzig 1869, 479.
[30] Vgl. allgemein Uwe Spiekermann, Elitenkampf um die Werbung. Staat, Heimatschutz und Reklameindustrie im frühen 20. Jahrhundert, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 126-149, v.a. 127-129.
[31] Zum technischen Hintergrund vgl. J. Schuh, Der moderne Ladenbau, Süddeutsche Bauzeitung 2, 1892, 222-224, 234-235, v.a. 222.
[32] Schon das erste Warenhaus, der 1891 gegründete Kaiser-Bazar, besaß 130 Schaufenster (Vom Kaiser­Bazar in Berlin, Wiener Bauindustrie-Zeitung 8, 1891, 323-324, hier 323).
[33] Ähnlich schon A.L. Plehn, Zur Entwicklung der Warenhausfassade, Deutsche Bauhütte 8, 1917, 113-114, 125-127, 129, hier 113. Zum französischen Vorbild vgl. Christian Schramm, Deutsche Warenhausbauten. Ursprung, Typologie und Entwicklungstendenzen, Aachen 1995, S. 28-41; Siegfried Gerlach und Dieter Sawatzki, Grands magasins oder Die Geburt des Warenhauses im Paris des 19. Jahrhunderts, Dortmund 1989, v.a. 5-38.
[34] Vgl. die vorgreifende Kritik von Hugo Koch, Schaufenster und Ladenverschlüsse, in: Handbuch der Architektur, T. 3, Bd. 3, H. 1, Darmstadt 1896, 356-382, hier 357-358. Ferner Hans Schliepmann, Das moderne Geschäftshaus, Berliner Architekturwelt 3, 1901, 423-425. Positiv dagegen Leo Nacht, Moderne Schaufensteranlagen, Berliner Architekturwelt 6, 1904, 336-340, hier 337.
[35] Eugen Richter, Die Consumvereine, Berlin 1867, 95.
[36] Vgl. etwa Richard Bauer, Das alte München. Photographien 1855-1912. Gesammelt von Karl Valentin, o.O.o.J.
[37] Zu den Gründen vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 150-189, v.a. 151- 156; Michael Prinz, Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, Göttingen 1996, 263-264.
[38] Den besten Überblick vermittelt Julius Hirsch, Die Filialbetriebe im Detailhandel, Bonn 1913.
[39] Uli Huber, Die Geschichte des Schaufensters, in: Eugen Johannes Maecker (Hg.), Werbende Fenster, Bd. 1, Berlin o.J., 5-20, hier 15.
[40] Hermann Kind, Die Fleischerei in Leipzig, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 6, Leipzig 1897, 1-178, hier 55-56. Vgl. auch die „künstlerische“ Dekoration von Schweinehälften bei Stephani-Hahn, 1926, 28 bzw. die Abbildung bei S. Thron, Der Weihnachtsmann in der Grossstadt, Die Woche 6, 1908, 2237-2242, hier 2241.
[41] So noch – aufgrund sehr einseitiger Quellennutzung – Christiane Lamberty, ‚Die Kunst im Leben des Buttergeschäfts‘. Geschmacksbildung und Reklame in Deutschland vor 1914, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997/I, 53-78.
[42] Karl Ernst Osthaus, Das Schaufenster, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913, 59-69, hier 61.
[43] Bischoff et al., 1869, 472.
[44] Schaufenster-Decorationen einst und jetzt, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 16, 7.
[45] Bischoff et al., 1869, 476-477.
[46] Geissler, 1861, 53.
[47] Soll man an den Waaren die Preise deutlich mit Ziffern bezeichnen, so dass Jedermann sofort weiss, was das betreffende Stück kostet?, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 10, 5.
[48] Entsprechende Lehrinstitute entstanden allerdings schon vor der Jahrhundertwende, vgl. Decorationsschule für Frauen, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 4, 9.
[49] J. Erhart, Der Schaufenster-Dekorateur, Frankfurt a.M. 1895, 215-220.
[50] Vgl. den Ratschlag in Wie mache ich Reklame, Der Materialist 21, 1900, Nr. 40, 2. S. n. 12.
[51] Vgl. Die Anziehungskraft des Schaufensters, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 5, 40; Stephani­ Hahn, 1926, 17.
[52] R. Goldschmidt, Kauf-, Waaren- u. Geschäftshäuser, in: Baukunde des Architekten (Deutsches Bauhandbuch.), Bd. 2, T. 5, 2. vollst. neu bearb. Aufl., Berlin 1902, 49-192, hier 71.
[53] Vgl. etwa die Abbildungen der Friedrich- bzw. Leipzigerstraße, Berliner Architekturwelt 16, 1914, 193-194.
[54] Vgl. hierzu Koch, 1896, 364, 370-376; Neue Schaufenster-Rouleaux, Der Materialist 20, 1899, Nr. 40, 2; Goldschmidt, 1902, 69-71; Franz Woas, Praktische Neuerungen im Ladenbau, Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen und Elsass-Lothringen 11, 1914, 162-164, 169-170, hier 170.
[55] Vgl. hierzu Dirk Reinhardt, Dirk, Beten oder Bummeln? Der Kampf um die Schaufensterfreiheit, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 116-125.
[56] Aus der Fülle der Ratgeberliteratur nur folgende Titel: Gefrieren der Schaufenster, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 3, 9; Gefrorene Schaufenster, ebd., Nr. 44, 8; Koch, 1896, 362; Das Beschlagen der Schaufenster, Der Materialist, Bd. 21, 1900, Nr. 1, S. 2; Das Beschlagen und Gefrieren der Schaufenster, Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 46, 12.
[57] Vgl. Ueber Schaufenster-Beleuchtung, Ebd. 16, 1893, Nr. 17, 3; Schaufenster-Beleuchtung, Der Materialist 21, 1900, Nr. 16, 2. S. n. 12; Carl Zaar und August Leo Zaar, Geschäfts-, Kauf- und Warenhäuser, in: Handbuch der Architektur, T. 4, Halbbd. 2, H. 2, Stuttgart 1902, 2-138, hier 20-24.
[58] Vgl. hierzu Max Schröder, Das Geschäftshaus der Kleinstadt, Strelitz o.J. (1911).
[59] Georg Simmel, Berliner Gewerbe-Ausstellung, Ästhetik und Kommunikation 18, 1987/89, H. 67/68, 101-105, hier 105 (Original von 1896).
[60] Dora Feigenbaum, Die Reklame, Deutschland 7, 1905/06, 427-436, 589-602, hier 595-596.
[61] Felix Steinl, Die Reklame des kleinstädtischen Manufakturwaarenhändlers, in: Robert Exner, (Hg.), Moderne Reklame, 4. Tausend, Zittau 1892, 7-10, hier 8.
[62] Gute Beispiele aus dem Lebensmittelhandel sind Fritz Grossmann, Schmücke Dein Schaufenster, Magdeburg o.J. (1901) bzw. Gustav Teller, Die Schaufenster-Dekoration für Kolonialwaren-Handlungen und verwandte Geschäftszweige, Leipzig 1909. Zur Einordnung vgl. Spiekermann, 1999, 573-585.
[63] Angaben nach Neu- und Umbau des Geschäftshauses Heinrich Jordan, Markgrafenstrasse 105-107, Deutsche Bauzeitung 27, 1893, 317-321, hier 317; Paul Lindenberg, Berlin und das Haus Rudolph Hertzog seit 1839, in: Agenda Rudolph Hertzog Berlin 1914, Berlin o.J. (1913), 3-96, hier 95.
[64] Vgl. Erwin Paneth, Entwicklung der Reklame vom Altertum bis zur Gegenwart, München und Leipzig 1926, 161.
[65] Vgl. etwa Alfred Wiener, Das Warenhaus, Berlin 1912.
[66] Karl Ross, Neubau und Umbau von Geschäftshäusern und Kaufläden, Der Manufacturist 24, 1901, passim, hier Nr. 29, 5.
[67] Vgl. ebd., Nr. 40, 5. Zur Deckenausgestaltung s. August Endell, Ladeneinrichtungen, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913, 55-58, hier 58.
[68] Näheres bei Uwe Spiekermann, Theft and Thieves in German Department Stores, 1895-1930. A Discourse about Morality, Crime and Gender, in: Geoffrey Crossick und Serge Jaumain (Hg.), Cathedrals of Consumption, London und New York 1998, 139-171.
[69] Die innere Ausstattung. Vom Werke der Raumkunst für das offene Ladengeschäft, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 8, 36.
[70] B. Haas, Das Schaufenster in ästhetischer und betriebstechnischer Beziehung (Schluss.), Deutsche Bauhütte 10, 1906, 221-223. Vgl. auch die Kritik von Hans Schliepmann, Das moderne Geschäftshaus (Schluss.), Berliner Architekturwelt 4, 1902, 52-55, 57-59, v.a. 59.
[71] Vgl. Ein schmales Bremer Geschäftshaus, Deutscher Bauhütte 5, 1901, 266-267; Goldschmidt, 1902, 60; Berliner Architekturwelt 16, 1914, 68 (Anbau bei Herrmann Gerson); Woas, 1914.
[72] Kurt Pallmann, Künstlerische Ladengestaltung als Aufgabe des Architekten, Deutsche Bauhütte 18, 1914, 108-110, 113, 122-123, hier 108.
[73] Neue Wege, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 5, 15, 17, hier 15.
[74] Pallmann, 1914, 108.
[75] Osthaus, 1913, 60. Vgl. auch Stephani-Hahn, 1926, 10-11.
[76] Osthaus, 1913, 62-63.

Eier auch im Winter – Das Konservierungsmittel Garantol

Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg sind durch eine rasche Chemisierung des Alltags gekennzeichnet. Die aufstrebende chemische Industrie konzentrierte sich nicht mehr allein auf Grundstoffe, vielmehr fanden neu handhabbare chemische Stoffe zunehmend Platz im Haushalt – erst des Bürgertums, dann aber auch der Facharbeiterschaft. Das Essen veränderte sich durch neue Aromen (Vanillin, Maggis Würze), durch Backhilfsmittel (Backpulver, Puddingpulver), durch Stärkeprodukte (Reisstärke, Maizena), Nährpräparate und Essenzen, Konservierungsmittel (Salizylsäure, Benzoesäure) und vieles andere mehr. Haarpflegemittel erlaubten zunehmend Selbstgestaltung, sei es durch Färbemittel wie Wasserstoffperoxyd, sei es durch erste Haarshampoos, vielfach auf Teerbasis. Auch Körperpflege wurde mit verbesserten Seifen, neuartigen Cremes und mannigfachen Schlankheitspräparaten vielfältiger, scheinbar auch einfacher. Es folgten bisher unbekannte Putz- und Waschmittel, Polituren, Wachse, ganz zu schweigen von zahlreichen neuen Farben und Lacken, von Heilmitteln und durchaus wirksamen Pharmazeutika.

Neue chemische Stoffe wurden in Produkte umgeformt, die jedem einzelnen versprachen, sein Leben bequemer zu machen, den Alltag zu erleichtern. Die Zukunft würde bequem werden, Ruhe und Einkehr ermöglichen. Dank der neuen Convenienceprodukte würden Hast und Eile abgemildert, könne man die angespannten Nerven erholen, sich den Wonnen des gesicherten Daseins widmen. Im Haushalt stand Arbeitserleichterung im Mittelpunkt zahlloser Reklamen. Und wer wollte die offenkundigen Fortschritte bezweifeln? Ofenanzünder statt Feuermachen, Drehscheiben statt Lichtanzünden, Schalter für Warmwasser – manches bereits Alltagsluxus, vieles allerdings noch Zukunftsmusik.

01_Die Woche_10_1908_Nr01_pIV_Lustige Blaetter_14_1899_Nr23_p14_Convenienceprodukte_Backpulver_Dr-Crato_Tee_Otto-E-Weber_Wuerfeltee

Vorbereitet und vorportioniert: Convenienceprodukte der Jahrhundertwende (Die Woche 10, 1908, Nr. 1, IV (l.); Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 23, 14)

Und doch: Diese neuen Convenienceprodukte lassen sich auch anders deuten. Es handelte sich eben immer auch um Übergangstechniken, um Wegmarken hin zu den paradiesartigen Verhältnissen, in denen all die Versprechungen eingelöst würden, die in Begriffen wie Muße, Ruhe, Lebensfreude steck(t)en. Convenienceprodukte stehen dann nicht nur für mehr Bequemlichkeit, sondern überdecken die Härten und Fährnisse des Alltags, überspielen die mangelnde Leistungsfähigkeit der Absatz- und Versorgungsketten, die im Alltagstraum des gelingenden Lebens schon längst ausgemalt wurden. Convenienceprodukte hatten und haben den Charme der Verbesserung, doch sie lenken zugleich davon ab, dass der Alltag eben weiterhin unvollkommen und beschwerlich ist. Sie stehen dann für ein Arrangement mit dem Unausgegorenen, dem Halbgaren. Convenienceprodukte sind Zwischenlösungen – die teils viele, viele Jahrzehnte Bestand haben, teils als solche nicht mehr hinterfragt werden. So verstanden, stehen Convenienceprodukte strukturellen Veränderungen entgegen, erschweren diese gar.

Ein dafür recht typisches Beispiel war das heute nicht mehr angebotene Eierkonservierungsmittel Garantol. Seit der Jahrhundertwende verfügbar, wurde es im späten Kaiserreich ein billiger Alltagshelfer. Sein Zweck war der Zeitensprung, war eine möglichst stete Präsenz von Eiern im Haushalt, auch im Winter. Das war an sich naturwidrig, denn die vermaledeiten Hühner legten Eier eben vor allem im Frühjahr und Sommer. Heute, im Zeitalter saisonaler Glättung, von energieintensiver Kühl- und Transporttechnik sowie einer von tradierten Rhythmen weitgehend entkoppelten Geflügelmassenproduktion ist das kein wirkliches Thema mehr. Garantol erlaubte seinerzeit jedoch ein einfaches und recht sicheres Einlegen der Eier – gängiges Alltagshandeln bis in die späten 1950er, frühen 1960er Jahre, bis hin zur Technisierung und Rationalisierung des Groß- und Einzelhandels. Es federte damit einen – im Vergleich etwa zur USA, Großbritannien oder den Niederlanden – Zustand zunehmender Rückständigkeit ab, in dem frische Eier im Winter seltener, teuer und schlechter wurden, wogegen sich die Haushalte aber ansatzweise wappnen konnten.

Eier als saisonale Ware oder Der Zwang zur Eierkonservierung

Eier waren Ende des 19. Jahrhunderts gewiss kein „Naturprodukt“ mehr. Doch trotz langsamer Fortschritte bei der Geflügelzucht, der Futtertechnik und der Bruttechnologie waren Eierproduktion und -versorgung noch an die natürlichen Reproduktionsrhythmen der Hühner angelehnt. Das gackernd-scharrende Federvieh legte die Masse der Eier brutlüstig im Frühjahr, während der „Eierschwemme“ in der Oster- und Nachosterzeit. Noch in den 1930er Jahren wurden hierzulande 60 Prozent aller Eier zwischen März und Juni gelegt (Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 25). Im Juli und August ebbte die Legetätigkeit ab, ebenso die nicht zu vernachlässigende Leistungsfähigkeit der Althähne. „Frische“ Eier wurden im September und Oktober rar, im November und Dezember waren sie Raritäten. Man behalf sich, gewiss. Eierimporte ermöglichten Zeitstreckungen, doch trotz ihrer Verfünffachung zwischen 1880 und 1900 handelte es sich bei diesen „Kisteneiern“ um deutlich teurere Ware, die vor allem Versorgungsengpässe im Winter abfederte.

02_Die Woche_08_1906_Nr15_pII_Eier_Eipulver_Eigelb_Eiweiß_Trocknungstechnik_L-Prenzlau_Hamburg_Convenienceprodukte

Praktisch, doch zu teuer: Eierpulver und Eipräparate (Die Woche 8, 1906, H. 15, p. II)

Die deutsche Eierwirtschaft arbeitete in den Handelszentren Berlin, Hamburg und Leipzig zwar effizient, doch in der Fläche sah das trotz einer leistungsfähigen Eisenbahn anders aus. In den noch dominierenden Mittel- und Kleinstädten sowie auf dem Lande war Selbst- und Nahversorgung üblich, war man den natürlichen saisonalen Rhythmen weit stärker als in den Städten ausgesetzt – auch weil die Kaufkraft hier niedriger lag. Zwar konservierten größere Geflügelwirtschaften, frühe Eierproduktionsgenossenschaften und auch Großhändler wachsende Teile ihres Angebotes, doch dies milderte lediglich das Auf und Ab des Angebotes, zumal in den urbanen Hauptmärkten.

Hinzu kam, dass die preismindernde Eierschwemme seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend von der Industrie genutzt wurde. Eier wurden eben nicht nur direkt verzehrt, sondern mündeten in chemische und kosmetische Produkte. Als Zwischenprodukt fand sich Eigelb etwa in Eiernudeln wieder, in Backhilfsmitteln, Margarine oder Eierkognak. Auch die wachsende Farbstoffindustrie nutzte Eier, ebenso die sich dynamisch entwickelnde Photographie (Albuminpapiere) (Emil Marian, Deutschlands Geflügelhaltung und sein Handel mit Geflügelprodukten, Phil. Diss. Leipzig, Borna-Leipzig 1906, 59-60). Die langsam präzisere Eiweißforschung erlaubte eben nicht nur Eiweißpräparate und Utopien einer synthetischen Kost, sondern schuf Eiern ganz neue Verwertungsmöglichkeiten.

Welche Verfahren der Eierkonservierung gab es nun, welche kamen neu auf? Um den Verderb möglichst lange zu verhindern, galt es die Poren der Schale gegen Lufteintritt, also gegen Schimmelpilze und bakterielle Zersetzung abzudichten. Noch herrschte die Vorstellung, das Ei gleichsam dicht machen zu können. Über die inneren Veränderungen des Eiweißes bei Lagerung wusste man kaum etwas (deutlich elaborierter schon Fr[iedrich] Prall, Über Eier-Konservierung, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 14, 1907, 445-481). Üblich und durchaus „bewährt“ war lange Zeit das Einlegen der Eier in Kalk. Der Fäulnisschutz erfolgte jedoch auf Kosten der an sich vielfältigen küchentechnischen Möglichkeiten der Eier: Das Kalkeiweiß ergab trotz emsigen Schlagens keinen rechten Schaum. Beim Kochen zerbrachen häufig die Schalen, so dass das Frühstücksei immer wieder zerbarst. Der Geschmack der Kalkeier war hässlich und dumpf (Erich Schmidt, Eier und Geflügel als Nahrungsmittel, 3. Aufl., Berlin 1913, 17). Andere Verfahren waren noch schlechter, noch ausfallbehafteter: Einlegen in Salz war verbreitet. Doch anders als die zuvor gekochten und dann mit Senf und Öl verspeisten Soleier entwickelten Salzeier nach längerer Zeit einen „widerlichen Geschmack“ (Josef Weil, Diätetisches Koch-Buch, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Freiburg i. Br. 1873, 105). Weniger invasiv war das Überziehen mit Speiseölen, etwa Leinöl, oder der in den 1870er Jahren aufkommenden Vaseline. Das Ei schmeckte besser, aber die Haltbarkeit war geringer. Derart konservierte Eier waren anfällig, mussten allwöchentlich in den Horden oder im Stroh gedreht werden, um anfällige Druckstellen zu vermeiden. Zeitensprünge hatten also eine beträchtliche Fallhöhe – und die zu Beginn des Kaiserreichs üblichen Schutzmaterialien Kalk, Salz und Fett waren bereits elaborierter als die simple Einlagerung der Eier in schützendem Sand, in Holzasche oder Häcksel sowie die winterliche Kühlung in Kellerräumen bzw. Erdmulden.

03_Der Landbote_1886_05_01_Nr051_p4_ebd_1889_Nr056_05_11_p4_Konservierungsmittel_Eier_Wasserglas

Wasserglas für den Hausgebrauch (Der Landbote 1886, Nr. 51 v. 1. Mai, 4 (l.); ebd. 1889, Nr. 56 v. 11. Mai, 4)

Diese Malaise der Eierkonservierung wurde seit den 1880er Jahren durch ein „neues“ Präparat gemildert, das Wasserglas (Hermann Mayer, Das Wasserglas, seine Eigenschaften, Fabrikation und Verwendung, Braunschweig 1925). Dabei handelte es sich um wasserlösliches kieselsaures Alkali, entstanden aus dem Verschmelzen von Quarzsand mit Kali und/oder Natron – sowie etwas Holzkohle. Wasserglas war pulverisiertes, in Wasser aufgelöstes Glas, eine gallertartige Flüssigkeit für die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer neue Verwendungen gefunden wurden: Sie half bei der Grundierung, bei Dachpappen, diente als Bleichmittel, zum Brandschutz, vermehrt auch als Kitt oder Waschmittel (H. Grothe, Ueber die Wasserglas-Industrie, Badische Gewerbezeitung 9, 1876, 169-179). Um Eier zu konservieren wurde das vom Apotheker oder Drogisten angebotene Wasserglas mit Wasser vermischt und leicht erhitzt. In diese warme Flüssigkeit legte man die Eier und imprägnierte sie ca. zehn Minuten. Dann herausnehmen und abtrocknen. Der Überzug schützte die Hühnerprodukte recht sicher, so dass man sie bis zur nächsten Eierschwemme nutzen konnte (Conservierung der Eier durch Wasserglas, Archiv der Pharmacie 179, 1867, 134). Der Wirkmechanismus war seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt, setzte sich aber erst seit den 1880er Jahren durch (Konserviren der Eier, Der Landbote 1858, Nr. 133 v. 9. November, 526). Der Wirkungsgrad war nämlich größer, legte man Eier dauerhaft in Wasserglas ein. Der Geschmack dergestalt konservierter Eier war nicht ideal, vielmehr recht kratzig. Doch verglichen mit Kalk gab es deutlich weniger Bruchfälle, zudem war das Eiweiß schlagfähig (Alfred Hasterlik, Wasserglas als Eierkonservierungs-Mittel, Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 58, 1917, 265-266, hier 266). Als Rührei, in Speisen oder Backwaren erfüllten die Eier verlässlich den zugedachten Zweck. Um die Jahrhundertwende galt Wasserglas als das beste Eierkonservierungsmittel (Die Konservirung von Eiern, Zeitschrift für Öffentliche Chemie 3, 1897, 301-302).

04_Refrigeration_1913_p082_Kuehlhaus_Eier_Berlin_Gesellschaft für Markt- und Kuehlhallen

Ausnahme: Eierkühlraum der Gesellschaft für Markt- und Kühlhallen in Berlin (Refrigeration, 1913, 82)

Die Kühlung von Eiern blieb dagegen unterentwickelt, anders als in den USA, anders als beim wichtigsten Eierlieferanten Russland. Dies galt, obwohl das Deutsche Reich die weltweit führende Kältemaschinenindustrie hatte (Hans-Liudger Dienel, Linde. History of a Technology Corporation, 1879-2004, Houndmills und New York 2004, 3-12, 28-35). Doch es fehlte abseits der Frachtzentren in Berlin, Hamburg, München und Köln an Kühlhauskapazitäten. Importe wurden rasch per Bahn weiterversandt. Am Ankunftsort aber endete die Kühlkette, insbesondere in den Läden und den Haushalten. Den Experten war bereits um die Jahrhundertwende klar, dass Eier durch Kühlung am besten „frisch“ bleiben würden, auch wenn die chemischen Abbauprozesse bei Kühllagerung noch recht unbekannt waren (Prall, 1907; L. Heyn, Konservierung der Eier durch künstliche Kälte, Die Kälte-Industrie 6, 1909, 50-51, 63-64). Doch trotz der während des Ersten Weltkriegs offen sichtbaren Versorgungsprobleme lag der Anteil der Kühlhauseier noch Ende der 1920er Jahre bei lediglich vier Prozent des Gesamtumsatzes (Einlagerung von Eiern in deutsche Kühlhäuser, Blätter für landwirtschaftliche Marktforschung 2, 1931/31, 135). Eine leistungsfähige Kühlinfrastruktur war schlicht teuer. Und die preiswerte und vermeintlich bequeme Eierkonservierung durch Wasserglas und Garantol verminderte die für Wandel erforderlichen Gewinnaussichten. Mochten die Eikonserven gegenüber gekühlten Angeboten auch schlechter schmecken und höhere Bruchraten ausweisen, so waren diese doch nicht so bedeutsam, um massive Investitionen in die Kühltechnik in Gang zu setzen. Gerade in den Haushalten stand die preiswerte Eierkonservierung somit einer verbesserten Gesamtversorgung im Wege.

Die Hamburger Garantol-Fabrik

Garantol war eines der vielen neuen Eierkonservierungsmittel, die im Nachklang von Wasserglas dessen Markterfolg wiederholen, ja, übertreffen wollten (Alexander Kossowicz, Die Zersetzung und Haltbarmachung der Eier, Wiesbaden 1913, 55-68). Seine Geschichte ist – ebenso wie die der Garantol-Fabrik in Hamburg und der anfangs in Dresden, dann in Gommern resp. Heidenau ansässigen Garantol GmbH – nur indirekt nachzuzeichnen. Archivalien fehlen – ähnlich wie für die große, große Mehrzahl der Unternehmen, zumal der Konsumgüterindustrien. Staatliche Archive interessieren sich halt vorrangig für staatliches Handeln, Wirtschafts- und Firmenarchive konzentrieren sich auf größere Unternehmen. Umso wichtiger sind Rekonstruktionen wie diese, handelte es sich beim Garantol doch um ein von Abermillionen über Jahrzehnte genutztes Convenienceprodukt.

Den Beginn des Reigens machte der in Tangermünde tätige Konditor August Utescher. Sein am 5. April 1893 beantragtes und dann am 31. Mai 1894 patentiertes „Verfahren zur Conservirung von Nahrungs- und Genußmitteln von Eiern mittels eines Eisenoxydulsalzes und Calciumhydroxydes“ (Patentblatt 1894, 54) wurde von den einschlägigen Interessenten nicht nur breit rezipiert, sondern auch positiv bewertet (R. Strauch, Das Hühnerei als Nahrungsmittel und die Conservirung der Eier, Bremen 1896, 26, 28). Eier sollten demnach mittels beider Stoffe eine „künstliche Umhüllung“ erhalten, um so die Poren zu schließen und das Eindringen von Luft und Mikroorganismen zu verhindern (Chemiker-Zeitung 18, 1894, 1097-1098). Das war das anfänglich bei Wasserglas verwandte Verfahren. August Utescher regte aber auch dauerhaftes Einlegen der Eier in Garantol-Wassergemische an – und darauf konzentrierte sich das jahrelange Pröbeln seines in Hamburg ansässigen Bruders Ernst Utescher. Dieser war ein Mann vom Fach, Handelschemiker und seit 1901 Patentanwalt (Stahl und Eisen 21, 1901, 400), Gründer der noch heute bestehenden Kanzlei Harmsen Utescher. Er war zudem Herausgeber und Leiter von Uteschers Berichte, einer industrienahen Zeitschrift der Nahrungs- und Genussmittelindustrie (Jahresbericht der Pharmacie 33, 1898, 754).

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Warenzeichenschutz für ein Konservierungsmittel 1898 (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 124 v. 27. Mai, 9)

Ernst Utescher versandte von Hamburg aus erste Packungen des Konservierungsmittels seines Bruders (Pharmaceutische Centralhalle 37, 1896, 308). Der Name Garantol wurde nach seinen Angaben seit Februar 1897 genutzt (Offizial Gazette of the United States Patent Office 100, 1902, 1106). Es handelte um einen Phantasiebegriff, der Vorstellungen sicheren Konservierens mit der zunehmend modischen Wortendung -ol koppelte.

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Kein Kassenschlager – Garantol aus Hamburg (Der Materialist 20, 1899, Nr. 16, 2. S. v. 1)

Die ersten Anzeigen wandten sich vor allem an Hühnerhalter, konzentrierten sich auf Packungen für tausend oder mehr Eier. Adressat war zugleich aber der Kolonialwarenhandel: „Im Handel fehlt bisher ein wirklich gutes Conservirungsmittel für Eier, und dieser Umstand hat für den Eierhandel und den Unterschied der Eierpreise im Sommer und Winter grossen Einfluss; gute Eier haben im Winter bekanntlich den doppelten Preis und sind oft genug selbst dafür nicht zu haben. Es ist deshalb gar kein Zweifel, dass das neue, bereits in der Praxis auf’s Beste bewährte Eierconservierungsmittel Garantol ein guter Verkaufsartikel werden wird.“ Ernst Utescher verwies auf seine langjährige Forschung, verbesserte und patentierte. Und er offerierte auch Haushaltspackungen: „Das Eierconservirungsmittel Garantol wird in kleinen Packungen von 15 Pf. an (für 15, 60 Pf. und 1 Mk.) in den Handel gebracht; […]. Der Absatz des Garantols wird durch angemessene Reklame in den gelesensten Zeitschriften, durch Prospecte etc. unterstützt“ (Garantol, Der Materialist 20, 1899, Nr. 16, 3. S. v. 1).

Garantol war zu diesem Zeitpunkt ein weißlich graues Pulver, das an „pulverisirten ungelöschten Aetzkalk“ erinnerte (Neumann, Die gemeinsame Eierverwerthung durch Vermittlung der Molkereigenossenschaften, Molkerei-Zeitung 9, 1897, 515-516, hier 516). Es musste in Wasser im Verhältnis 100 zu 1 aufgelöst werden. Gefäße aus Ton und Emaille schienen ratsam, in größeren Betrieben auch aus Zement. Anschließend musste man die frischen Eier überprüfen, denn diese mussten sauber und nicht eingeknickt sein, sollten im Idealfall auch durchleuchtet werden. Dann legte man sie vorsichtig in die Gefäße, Lage um Lage. Das Wasser musste die Eier komplett abdecken, ab 1897 enthielten die Packungen zudem ein getränktes Pergamentpapier, das die Wasseroberfläche abdecken sollte. Utescher versprach bis zu drei Jahre Haltbarkeit (Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 50, 1900, 97).

Garantol war während der 1900er Jahre ein Dachbegriff für unterschiedlich zusammengesetzte Konservierungsmittel. Ernst Utescher ging – wie sein Bruder – stets von Kalkpräparaten aus, ergänzte diese jedoch um vorwiegend metallische Stoffe. Das sollte die geschmacklichen und küchentechnischen Probleme der gängigen Kalkmilch verringern. Auf die Details der Patente 86077, 98231 und 122388 muss hier nicht eingegangen werden. Kalkmilch wurde darin mit Aluminium resp. Magnesiumsulfaltlösungen vermengt oder aber Kalkwasser mit Fett resp. Paraffin imprägniert. Das wichtigste Ergebnis des Pröbelns war gewiss das im April 1901 gewährte Patent Nr. 119575, das Eisenvitriol, Kalkmilch und Paraffinöl kombinierte (Chemisches Centralblatt 71, 1900, Nr. 25, II; ebd. 72, 1901, 980). Das Einlegen funktionierte ähnlich, doch empfahl Utescher nun einerseits eine größere Wassermenge überstehen zu lassen und anderseits am Ende nochmals etwas Pulver aufzustreuen (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 5, 1902, 213). Die fachliche Resonanz war fast durchweg positiv – auch wenn man berücksichtigen muss, dass sehr viele Experten interessenbeladen werteten bzw. solche Wertungen reproduzierten (P. Welmans, Untersuchung von Eikonserven, Pharmaceutische Zeitung 58, 1903, 804; Max Müller, Ref. v. Welmans, 1903, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 8, 1904, 751-752, hier 752). Ernst Utescher, Inhaber eines chemischen Laboratoriums, sollte in den Folgejahren jedenfalls noch zahlreiche Innovationen entwickeln, insbesondere Verfahren der Margarine- und Fettproduktion sowie der Koffeinextraktion.

Verlagerung und Konkurs: Die erste Dresdener Garantol GmbH

Die Hamburger Garantol-Werke legten die Grundlagen für den späteren Erfolg; doch dieser stellte sich erst nach der Übersiedlung nach Dresden ein – und nach dem Konkurs einer ersten Gründung in der sächsischen Hauptstadt.

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Hauptgesellschafter Hermann Leonhardt (1850-1922) und frühe Produktionsstätten in Dresden, Huttenstraße 13 (Garantol, 1953, 5 (l.); ebd., 6)

Die Verlagerung nach Dresden ging mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Initiative des Geschäftsmannes Hermann Leonhardt zurück, 1900 Geschäftsführer der dann aufgelösten Dresdner Industrie GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 91 v. 14. April, 16), zugleich Eigentümer eines Hamburger Export- und Import-Geschäftes (Ebd. 1901, Nr. 304 v. 24. Dezember, 12). Er wurde 1850 in Bremen geboren (Stadtarchiv Dresden, Einäscherungsbücher 1911-1952, Rep. Nr. 9.1.24, Bd. 1923, Nr. 10016), emigrierte möglicherweise in die USA, wurde dort Farmer, gehörte aber zu dem Fünftel der deutschen Auswanderer, die wieder zurück ins Deutsche Reich kamen. Utescher verkaufte Anfang des Jahrhunderts seine Rechte peu a peu an Leonhardt, um dann gemeinsam mit ihm ein neues Unternehmen zu gründen. Die Waagschale pendelte immer stärker Richtung Leonhardt, zumal dieser im September 1902 das Warenzeichen Garantol als Sammelbegriff beantragte, was im April 1903 gewährt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 111 v. 12. Mai, 12).

Zu diesem Zeitpunkt existierte die Garantol GmbH Dresden bereits. Der im Februar 1903 unterzeichnete Gesellschaftervertrag sah „die Verwertung der von dem Handelschemiker und Patentanwalt Ernst Utescher in Hamburg erfundenen Verfahren und Mittel zur Konservierung von Eiern […] durch Fabrikation und Vertrieb der Erfindungsrechte, durch Erteilung von Lizenzen im In- und Auslande und eventuell durch Verkauf der Auslandspatente“ (Ebd. 1903, Nr. 68 v. 20. März, 19). Das Stammkapital betrug 33.000 Mark, Leonhardt und Utescher erhielten für ihre Warenzeichen und Patente 16.000 resp. 8.000 Mark angerechnet. Leonhardt übernahm die Geschäftsführung, unterstrich damit seine dominante Stellung. Ernst Utescher übertrug 1904 weitere Patente an die Garantol GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 164 v. 14. Juli, 9; ebd., Nr. 177 v. 29. Juli, 10; ebd. Nr. 192 v. 16. August, 7).

Alles schien in Ordnung, doch am Mitte Januar 1905 wurde ein Konkursverfahren eröffnet, in dessen Folge die Garantol GmbH am 30. März 1905 gelöscht wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 12 v. 14. Januar, 16; ebd., Nr. 79 v. 1. April, 19). Was war geschehen? Quellen fehlen, doch zwei Szenarien sind plausibel. Erstens können schlechte Geschäfte ursächlich gewesen sein. In den Jahren 1903 bis 1905 finden sich kaum Werbeanzeigen, nur wenige Erwähnungen in der Fachpresse. Zweitens kann es sich um einen konsequent umgesetzten Machtkampf zwischen den Gesellschaftern gehandelt habe. Mir scheint letzteres wahrscheinlicher.

Das Konkursverfahren führte nämlich zur Umgründung, nicht zum wirklichen Ende der Garantol GmbH. Sie wurde am 4. April 1905 eingetragen, ihr Zweck war „der Erwerb der Vermögensmasse der im Konkurs befindlichen bisherigen Garantol-Gesellschaft mit beschränkter Haftung sowie die Fabrikation und der Vertrieb von Eierkonservierungsmitteln unter der Bezeichnung ‚Garantol‘, der Erwerb und Betrieb gleichartiger Unternehmungen“ (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 83 v. 6. April, 16). Das Stammkapital von 20.000 Mark bestand fast gänzlich aus der von Hermann Leonhardt aufgekauften Konkursmasse. Der Dresdener Kaufmann agierte neuerlich als Geschäftsführer, der Name konnte nach Aufhebung des Konkursverfahrens beibehalten werden (Ebd., Nr. 103 v. 2. Mai, 23). Ernst Utescher war nicht mehr mit an Bord. Mag sein, dass die Geschäftsaussichten zwischen den Gesellschaftern umstritten waren. Doch Utescher hätte sich dann auszahlen lassen und verabschieden können.

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Bild-Warenzeichen für Garantol (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 125 v. 29. Mai, 17)

Spätere Aussagen Uteschers von 1906, dass er keinerlei Beziehungen zur Garantol GmbH unterhalte (E[rnst] Utescher, Zu der Veröffentlichung von A. Beythien betr. Garantol, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 12, 1906, 660-661, hier 660), unterstreichen die These einer Art feindlichen Übernahme. Die Garantol GmbH nannte Utescher jedenfalls noch 1906 in ihrer Werbung (A[dolf] Beythien, Einige neuere Erfindungen der Nahrungsmittelindustrie, ebd. 12, 1906, 467-473, hier 468-470; Ders., Bemerkungen zu vorstehenden Ausführungen des Herrn E. Utescher-Hamburg, ebd., 661-662). Das am 16. April 1907 erteilte US-Patent seiner Eierkonservierungsmethode bezeichnete ihn als „Assignor“, also als Zessionar, als Gläubiger der Garantol GmbH (Official Gazette of the United States Patent Office 127, 1905, 2685-2686; US850693). Das deutet auf ein mögliches Zerwürfnis hin. Die bis Mai 1905 erfolgten Patentanmeldungen in Frankreich, Finnland, Dänemark und Österreich liefen allerdings allesamt noch auf die Garantol GmbH (FR343045A; DI2256A; DK7444C; AT19185B). Das im Warenzeichen enthaltene U erinnerte jedenfalls bis in die 1920er Jahre an die Erfindungen Ernst Uteschers.

Garantol mal anders

Eine kleine Abirrung sei erlaubt, inmitten des Patentzwistes, von Konkurs und Neubeginn. Denn die recht enge Warenzeichenanmeldung Uteschers erlaubte zwischen 1901 und 1902 dem gewiss streng seriösen Geheimmittelanbieter Ferdinand Kögler seinerseits Garantol anzubieten – doch es handelte sich um eines der nicht nur das Mannesantlitz, sondern insbesondere die Werbespalten des Kaiserreichs zierenden Bartwuchsmittel. Er trat damit in die Fußstapfen des berühmten Prof. Migargeés, einer weltbekannten Persönlichkeit, der dieser Branche seinerzeit ins Stammbuch schrieb: „Zweifle an der Sonne Klarheit, / Zweifle an der Sterne Licht, / Zweifl‘, ob lügen kann die Wahrheit, / Nur am Barterzeuger nicht!“ (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2220, 6). Ferdinand Kögler, pardon, sein alter ego Paul Koch, der Anbieter des Bartwuchsmittels Fixolins, versprachen „großartige Erfolge“ bei der wilhelminischen „Manneswürde“ (Lustige Blätter 16, 1901, Nr. 2, 15).

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Streng reell! Fixolin (Monika 32, 1900, 454)


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Kein Schwindel! Garantol (Badische Presse 1902, Nr. 75 v. 30. März, 8)

Das Bartwuchsmittel Garantol unterstrich jedenfalls, dass Markterfolg in einer Konsumgesellschaft auf sprachlichen Fiktionen beruhte – und ohne die Kunstwelt der Worte Unordnung und Irritation drohten. Was sollte denn der Garantol-Kunde denken, als der Vertrieb des Mittels zeitweilig aussetzte und er dann mit schmissig-bangem Schritt ab November 1902 zu Harasin greifen musste, um den zarten Erfolg der Anfangskuren zu verstetigen (Münsterische Zeitung 1902, Nr. 687 v. 16. November, 6; Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 75 v. 28. März, 22).

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Streng reell! Kein Schwindel! Harasin (Das interessante Blatt 22, 1903, Nr. 182 v. 5. Juli, 12)

Garantol hieß ehedem auch eine Dachmarke für Lacke und Farben der Firma Gottfried Grün, dann der Gebrüder Kob in Prag (Militär-Zeitung 65, 1910, 998; Färber-Zeitung 25, 1914, 67). Derartige Bedeutungsvielfalt gab es auch bei anderen bekannten Konsumgütern: Mercedes ist für uns Nachgeborene eindeutig ein Vehikel, doch vor dem Ersten Weltkrieg handelte es sich auch um eine erfolgreiche Schuhmarke, Mercedes-Zigaretten wurden mehr als ein halbes Jahrhundert angeboten, die Mercedes-Werke im thüringischen Mehlis offerierten einschlägige Büro- und Schreibmaschinen. Doch zurück zum Eierkonservierungsmittel Garantol.

Die zweite Dresdener Garantol GmbH

Unter Hermann Leonhardts alleiniger Führung konsolidierte sich die Garantol GmbH seit 1905. Sie übernahm neue, im Augst 1903 angemeldete „Verfahren zum Konservieren von Eiern“ (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 132 v. 6. Juni, 10; ebd., Nr. 244 v. 15. Oktober, 10). Ein weiteres Warenzeichen wurde im Mai 1906 erteilt, das alte Uteschersche Warenzeichen 1908 gelöscht (Ebd., Nr. 125 v. 29. Mai, 17; ebd. 1908, Nr. 109 v. 8. Mai, 13). Garantol konnte nun seine Stellung als gleichwertige Alternative zum Wasserglas festigen.

Diese war 1906 von keinem geringeren als dem Dresdener Nahrungsmittelchemiker Adolf Beythien (1867-1949) in Frage gestellt worden. Er kritisierte die Zusammensetzung des Uteschers Patentes 119575, verwies auf das Ausfällen von Eisenoxydulsalz im Kontakt mit Wasser, deduzierte schließlich, dass es sich um nichts anderes „als ein mit etwas Gips, Eisenoxyd etc. verunreinigtes Ätzkalkpulver“ handele, dass Garantol letztlich nur Kalkeier zu erzeuge (Beythien, 1906, 470). Utescher versuchte diese Bedenken beiseite zu wischen, doch seine Ausführungen waren wenig überzeugend (Utescher, 1906). Ich halte es für wahrscheinlich – auch ohne Quellenbeleg –, dass Garantol daraufhin anders hergestellt wurde, nämlich aus Kalkmilch, Eisenbestandteilen (Ferrosulfat) und schließlich sehr fein vermahlene Eierschalen. Auch dieses Patent war bereits 1903 beantragt worden (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 13, 1907, 753). Die immer wieder erwähnte rötlich-graue Farbe des Eierkonservierungsmittels deutet jedenfalls in diese Richtung. Spätere Analysen bestätigten dies, hoben zugleich aber die durch den fast 70-prozentigen Kalkanteil herrührende „Verschiedenheit der Zusammensetzung“ hervor (Ed[uard] Dinslage, Garantol, Pharmazeutische Zeitung 55, 1910, 971; auch J[ohannes] Großfeld, Handbuch der Eierkunde, Berlin 1938, 297-298).

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Ludwig Grube (1885-1935), wohl in den 1930er Jahren (Garantol, 1953, 7)

Das veränderte Produktionsverfahren wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch durch eine Personalentscheidung ergänzt, die sich als Gewinn erweisen sollte. Im Mai 1913 erhielt Ludwig Grube Prokura (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 124 v. 28. Mai, 11). Glaubt man der wohl aus der Erinnerung geschriebenen, notorisch fehlerhaften, ja irreführenden Broschüre zum 50. Firmenjubiläum, so handelte es sich bei Ludwig Grube um einen strebsamen Vollwaisen, der seit einer Gärtnerlehre an Fortbildung und beruflichen Aufstieg arbeitete. Er war demnach in mehreren Industriebetrieben tätig, wurde nach Brüssel versetzt, besuchte dort die höhere Handelsschule und bewarb sich 1910 erfolgreich als Auslandskorrespondent der Garantol GmbH. Amtliche Quellen belegen, dass er 1885 als Sohn des Lehrers Heinrich Friedrich Ludwig Grube und seiner Ehefrau Juliane Maria, geb. Knolle im 100-Seelen-Örtchen Möllensen im niedersächsischen Kreis Gronau geboren worden war. Der auf die Namen August Albert Ludwig lutherisch getaufte Grube zog spätestens 1911 nach Dresden, wo er am 23. Dezember die zwei Jahre ältere Verlagsleiterin Ottilia Carolina Hedvica Siegl heiratete. Deren Eltern stammten aus dem böhmischen Dittersbach, ihr Vater war Holzhändler (alle Angaben n. Stadtarchiv Dresden, Eheaufgebote/Eheregister 1876-1927, 1911, Nr. 381). Ludwig Grube etablierte sich in der Folge in der Garantol GmbH und erhielt im Mai 1913 Prokura; wobei er im Dresdner Adressbuch erstmals 1914 und dann noch als Korrespondent zu finden war (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 124 v. 28. Mai, 11; Adreßbuch für Dresden und seine Vororte 1914, T. I, 288).

Propagierung von Zeitensprüngen: Die doppelte Garantol-Werbung in friedlichen Zeiten

Garantol wird gemeinhin mit einigen wenigen Werbeklischees aus den 1920er Jahren und dann der Zeit des Zweiten Weltkrieges verbunden. Dies spiegelt die vergleichsweise spät einsetzende aktive Werbung des Unternehmens, unterschätzt aber die beträchtliche Alltagspräsenz von Garantol bereits während des Kaiserreichs. Im Alltag der großen Mehrzahl dominierten Tageszeitungen – und darin war das neue Eierkonservierungsmittel stetig präsent. Allerdings waren es die Verkäufer selbst, vor allem Drogisten und Apotheker, seltener Konditoren und Kolonialwarenhändler, die regelmäßig im Frühjahr mit kleinen Erinnerungsanzeigen um Käufe warben.

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Kontinuierliche Werbung für ein Produkt – abseits der wechselhaften Firmenentwicklung (Westfälische Zeitung 1899, Nr. 91 v. 19. April, 4 (l.); Mülheimer Zeitung 1904, Nr. 78 v. 2. April, 4; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1905, Nr. 118 v. 20. Mai, 12 (r.))

Die Verkäufer vor Ort präsentierten Garantol vorrangig einfach, präsentierten Namen, Zweck und Preis des Konservierungsmittels. Doch es wurde auch in ansprechenderer, appellativer Form beworben:

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Elaboriertere Werbung durch Eigeninitiative (Jeversches Wochenblatt 1907, Nr. 91 v. 19. April, 4 (l.); Münsterischer Anzeiger 1912, Nr. 272 v. 14. April, 3)

Die große Mehrzahl lokaler Anzeigen für Eierkonservierungsmittel konzentrierte sich jedoch auf den Verkauf an sich. Garantol und Wasserglas waren praktisch austauschbare Convenienceprodukte, sie waren nicht näher attributierte Angebote. Wichtig war, dass man irgendeines nutzte – welches, war auch den Verkäufern letztlich gleich, denn Preis und Handelsspannen waren ähnlich. Das spiegelte sich in der Werbung präzise wieder: Dort wurde die Illusion eines klar herausragenden Hilfsmittels aufgegeben, wurden Wasserglas und Garantol gleichwertig nebeneinander gestellt.

15_Westfaelische Zeitung_1907_04_25_Nr96_p6_Albtalbote_1922_05_11_Nr115_p4_Durlacher Wochenblatt_1913_04_04_Nr78_p3_Eier_Wasserglas_Garantol_Konservierungsmittel

Austauschbare Angebote (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 96 v. 25. April, 6 (l.); Der Albtalbote 1911, Nr. 115 v. 11. Mai, 4; Durlacher Wochenblatt 1913, Nr. 78 v. 4. April, 3 (r.))

Die Garantol GmbH bot Flankenschutz für derartige lokale Werbungen. Dazu gehörten Reklamemarken, auch erste Werbeschilder. Doch diese dürften – abseits der Sammler- und Liebhaberforen – rare Ergänzungen gewesen sein. Wichtiger waren wahrscheinlich kleine Faltblätter, auch wenn diese erst in den 1930er Jahren größere Bedeutung gewannen.

16_Die Gartenlaube_1908_Nr11_Nr19_Nr10_Beilage_sp_Garantol_Konservierungsmittel_Eier

Fehlende Einheitlichkeit (Die Gartenlaube 1908, Nr. 11, Beilage, s.p. (l.); ebd., Nr. 19, Beilage s.p.; ebd. Nr. 10, Beilage, s.p. (r.))

Gleichwohl versuchte die Dresdener Firma, ihr Produkt unmittelbar anzupreisen. Dazu nutzte sie einzelne illustrierte Massenzeitschriften. Im Gegensatz zu anderen Markenartikeln dieser Zeit wurde Garantol aber nicht in der Breite beworben, stattdessen wurden jedes Jahr nur einige wenige Zeitschriften mit Anzeigen bedacht – die dann aber recht konsequent zwischen März und Juli geschaltet wurden. Die Garantol GmbH zielte dabei offenbar auf ein (klein-)bürgerliches, vielfach auch ländliches Publikum. Charakteristisch war anfangs zweierlei: Einerseits präsentierte man gerne redaktionelle Reklame, also kleine Werbetexte, die scheinbar Rat für das nun wieder notwendige, jedoch auch sparsame Einlegen der Eier boten. Anderseits aber gab es noch keine einheitliche Produktkommunikation. Garantol wurde mit sehr verschiedenen, allesamt nicht sonderlich elaborierten Motiven präsentiert, selbst der Namenszug erschien in immer wieder anderen Schrifttypen und Größen. Eier und Hühner boten visuelle Anreize, setzten sich ab von den Attraktionen der urbanen Moderne. Garantol war hilfreich, gewiss, stand zugleich aber für tradierte Lebenszuschnitte, für ruhiges, gedeihliches Leben ohne größeren Anspruch. Es ging darum, Zeit zu überbrücken, zugleich aber, sie stillzustellen. Garantol half, die natürlichen Rhythmen der Geflügelzucht mit den Anforderungen und Herausforderungen der Marktgesellschaft zu verbinden.

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Konservierte Eier – konservierter Lebenszuschnitt (Die Woche 14, 1912, H. 17, 21 (l.) und 20)

Das galt auch für die Firmenwerbung kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Sie blieb sachlich-preisend, erinnerte dabei an Geheimmittelwerbung dieser Zeit. Das eigentliche Markensignet – ein Ei mit einem U – wurde regelmäßig eingesetzt, Kosten-Nutzen-Abwägungen durch Preise unterstützt. Das zielte auf Großverbraucher und Einzelhaushalte. Neu war allerdings, dass man das Einlegen nicht nur in dem jeder Packung hinzugefügten Beipackzettel anschaulich beschrieb, sondern dass man das Vorgehen auch in Anzeigen visuell präsentierte. Dabei zeigte man jedoch kaum handelnde Personen, sondern begnügte sich mit den für den Konservierungsakt erforderlichen Gefäßen – wobei man nun vorrangig auf Glasgefäße setzte. Anleitungen zum Konservieren würden von den Käufern gewiss als Anlass zum Kauf verstanden werden. Die Nähe zum Kunden wurde nur indirekt gesucht, dieser als rationell Rechnender verstanden.

Die Stabilität des Oligopols

Derartige Formen rationaler Erinnerungswerbung sind üblich für Oligopole, also die Marktbeherrschung durch nur wenige, meist ähnlich große Anbieter. Und in der Tat konzentrierten sich hunderte kleiner und kleinster Ratgebertexte in den haus- und gartenwirtschaftlichen Zeitschriften und den Tageszeitungen zwischen 1910 und 1940 stets auf drei Verfahren: Kalk – für größere Betriebe, da etwas billiger –, Wasserglas und Garantol. Andere Anbieter versuchten immer wieder, dieses Oligopol aufzubrechen, doch sie scheiterten. Typisch hierfür war etwa Ovodura, dessen sprechender latinisierter Name schon auf die Verzehrsdauer des Eies verwies. Es handelte sich um eine fast 80-prozentige Kochsalzlösung mit etwa zwei Prozent Kaliumpermanganat (L. Heß, Die Eierkonservierungsmittel ‚Ovodura‘ und ‚Garantol‘, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 39, 1912, 456-458, hier 457). Die Eier wurden in die Salzlake gelegt, das Kaliumpermanganat zersetzte die Keime. Ovodura wurde in kleinen Packungen á zehn Gramm verkauft, 20 Pfennig sollten für 200 Eier reichen. Sie wurden 50 Minuten der Lösung ausgesetzt, konnten dann in Papier gewickelt in Körben oder Kisten aufbewahrt werden. Ovodura funktionierte, doch das Einlegen dauerte recht lang, auch der Geschmack der Eier dürfte gelitten haben. Es scheiterte. Ähnlich weitere Anbieter: Denn auch für Pun, Ovupur, Eikonservose, Antifabrolin und andere mehr galt, dass das Brechen eines bestehenden Oligopols ein klar besseres oder billigeres Produkt erforderte – oder aber neue Vertriebsformen. Andernfalls würden Großhändler und Verkäufer die mit erweiterten oder veränderten Sortimenten einhergehenden Kosten nicht tragen wollen. Die relative Marktstärke der Convenienceprodukte Wasserglas und Garantol gründete auf berechenbarer Bequemlichkeit dieser Marktakteure, die den Markt damit vor Veränderungen schützten. Der Weltenbrand des Krieges hätte einen solchen Bruch allerdings hervorrufen können.

18_Deutscher Reichsanzeiger_1913_05_03_Nr104_p01_ebd_12_08_Nr189_p32_ebd_1912_05_07_Nr110_p18_Eier_Konservierungsmittel_Pun_Ovopur_Eikonservose

Scheiternde Konkurrenz (Deutscher Reichanzeiger 1913, Nr. 104 v. 3. Mai, 1 (l.); ebd. Nr. 189 v. 8. Dezember, 32 (oben r.); ebd. 1912, Nr. 110 v. 7. Mai, 18)

Nationale Pflicht und Eiermangel: Eierkonservierung im Ersten Weltkrieg

Die Eierversorgung im Deutschen Reich geriet von Beginn des Ersten Weltkrieges an unter Druck. Einerseits brach ein Großteil der Importe weg: Hauptlieferant Russland fiel als Kriegsgegner aus, Galizien war Kriegsgebiet und chinesische Ei(gelb)konserven wurden durch die völkerrechtswidrige Seeblockade der Alliierten unterbunden. 1915/16 dürften die Einfuhren bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte von ca. 167.000 Tonnen gelegen haben, 1917 bei nur mehr einem Viertel, 1918 ebbten sie dann weiter massiv ab (R[obert René] Kuczynski, Deutschlands Versorgung mit tierischen Nahrungs- und Futtermitteln, Berlin 1927, 138-140). Die einheimische Eierproduktion, über deren Höhe es nur unsichere Schätzungen gibt, nahm nicht zuletzt aufgrund der Rationierungsmaßnahmen mindestens ebenso schnell ab. Eine charakteristische Stimme vermerkte 1915: „Wir Geflügelliebhaber ziehen fast alle dieses Jahr keine Küken; der drohende Futtermangel und das stets wie ein Damoklesschwert über uns hängende Gerstefütterungsverbot der Staatsregierung rät uns dringend, unseren Bestand eher zu vermindern, als zu vermehren. Es ist ja auch ganz klar, daß zuerst versucht wird, das Großvieh durchzuhalten, die Hühner kommen erst in zweiter Linie. Die Kükenaufzucht wird erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht durch den Mangel an Kraftfuttermitteln und Reis, durch das Verbot der Verfütterung von Weizen und Hafer. Den Züchtern, die Brutapparate haben, mangelt das Petroleum“ (Eiereinlegen als Kriegsfürsorge, Daheim 51, 1914/15, Nr. 24, 26-27, hier 27). Während des Krieges sank die Geflügelhaltung um ein Drittel, die Zahl der Eier weit stärker. Die Preise stiegen massiv an, 1916 waren Eier zunehmend Hamsterware, wurden zum Vorrecht der „noch zahlungsfähigen, wohlhabenderen“ Kreise ([Ludwig] v. Bar, Die kriegswirtschaftliche Regelung der Eierversorgung im Deutschen Reich […], Berlin 1919, 2). Ab August 1916 wurde der Eierhandel strikt reguliert, eine Reichsverteilungsstelle für Nährmittel und Eier eingerichtet. Das Hamstern konnte so nicht eingedämmt werden, die Preise stiegen weiter, Eier wurden zunehmend als Tauschmittel genutzt. Nominell erhielt das versorgungsberechtigte Drittel der Bevölkerung im Jahr 1918 noch 25 Eier (Bar, 1919, 8).

19_Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus_19_1915-16_H35_pIV_Deutsche Kraft_1916_Nr09_p6_Eier_Konservierungsmittel_Garantol

Im Tenor der Sparsamkeit (Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus 19, 1915/16, H. 35, IV (l.); Deutsche Kraft 1916, Nr. 9, 6)

Dieser massive Einbruch führte allerdings nicht zu einem ebenso massiven Einbruch beim Absatz von Eierkonservierungsmitteln. Im Gegenteil: Der Eiermangel führte zu verstärkter Eierkonservierung. Auf der einen Seite wurde ein Großteil der begehrten Waren von den Militärbehörden beschlagnahmt – und zunehmend eingelegt. Dies betraf nicht nur Lazarette und die Sicherstellung des Prunks im Großen Hauptquartier und den Stäben, sondern diente auch einer gewissen Abwechslung in der vielfach eintönigen Militärverpflegung (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 251-263). Importeier wurden durch die bei Kriegsbeginn gegründete Reichseinkaufs-Gesellschaft (ab Dezember 1914 Zentral-Einkaufs-Gesellschaft) bewirtschaftet. Neben die Kühlung trat vermehrt die Konservierung. Verfügbare heimische Eier wurden in wachsendem Maße von den Kommunalverbänden aufgekauft, um die Verteilung saisonal zu strecken und etwa das symbolisch wichtige Weihnachtsbacken zu garantieren. Die Hühnerhalter waren angesichts steigender Preise darauf erpicht, ihre Eier zur gewinnträchtigsten Zeit anbieten zu können (Eiereinlegen als Kriegsfürsorge, Daheim 51, 1914/15, Nr. 24, 26-27, hier 27). Und schließlich wurden die Verbraucher zu vermehrter Sparsamkeit angehalten – und das bedeutete ebenfalls eine zeitliche Streckung des Eierkonsums. Garantol gewann an Alltagswert, sarkastisch festgehalten am Naturallohn für neu einzustellende Haushaltshilfen: „Puddingpulver, zuckersüße, / Eingelegte Schweinefüße, / Erbsen in Konservendosen, / Dauerwürste, die aus Posen, / Eier viel, in Garantol – / und dann massig Sauerkohl“ (Kladderadatsch 70, 1917, Nr. 46, s.p.). Doch diese, schon längst nicht mehr alltäglichen Dauerwaren reichten nicht, die Hilfe trat in die Dienste eines Haushaltes mit Trüffeln und echtem Kaffee.

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Werbung um die Eierproduzenten (Das Land 24, 1915/16, 206 (l.); ebd., 255; Haus Hof Garten 38, 1916, 76 (r.))

Die Garantol GmbH profierte trotz Eiermangels von der veränderten Versorgungslage, die Umsätze stiegen „schlagartig“ (Garantol, 1953, 6). Die Werbung in Zeitungen und Illustrierten wurde fast gänzlich zurückgefahren, geworben wurde einzig noch um Hühnerhalter und Großwirtschaften. Das Konservierungsmittel etablierte sich gleichsam offiziell, wurden Garantol- und Wasserglaseier doch definitorisch als „Eier“ anerkannt (Dresdner Nachrichten 1916, Nr. 179 v. 30. Juni, 11). Ebenso wurde Garantol seit 1916 zu den „Gegenständen des täglichen Bedarfs“ gezählt (Gesetze und Verordnungen sowie Gerichtsentscheidungen […] 9, 1917, 596-597). Die Firma exportierte weiterhin Teile der Produktion, insbesondere in die USA, die Schweiz und die Habsburger Monarchie. Als Konsequenz dieser wachsenden Nachfrage errichtete die Garantol GmbH 1915/16 eine neue vierstöckige und voll mechanisierte Fabrik im nahe Dresden gelegenen Gommern. Im Sommer 1917 verlegte sie dorthin den Firmensitz (Garantol, 1953, 8; Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 168 v. 17. Juli, 10; ebd., Nr. 186 v. 7. August, 6). Diese Kleinstadt fusionierte 1920 mit zwei benachbarten Orten zur Gemeinde Heidenau. Mit einer gewissen Verzögerung schlug sich dies auch in den Anzeigen der Garantol GmbH nieder; wenngleich man im Exportgeschäft weiterhin Dresden als Anlaufpunkt angab.

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Neubau während des Weltkrieges: Produktionsstätten in Gommern (Garantol, 1953, 8)

Die kommode Lage der Anbieter kriegswichtiger Ware rief allerdings neue Wettbewerber hervor. Ihre Produkte ergänzten, die Wirkmechanismen entsprachen grob denen von Wasserglas und Garantol. Die neuen, durchweg kleinen Produzenten reagierten dabei auf die nicht geringen Versorgungsprobleme mit Eierkonservierungsmitteln insbesondere während der zweiten Kriegshälfte und der Übergangswirtschaft. Zudem nährten verschiedene Skandale mit verdorbenen Eiern Skepsis gegenüber Wasserglas und der Kühltechnik. Der Erfolg von Eiwol und Dauer-Ei, von Eiolin und Ovumol blieb jedoch begrenzt (Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 76 v. 30. März, 25; ebd. 1917, Nr. 284 v. 30. November, 17). Sie waren gleichwertiger Ersatz, weder besser, noch billiger als Wasserglas, Garantol und natürlich Kalkmilch. Das reichte nicht.

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Temporäre Substitute für Wasserglas und Garantol (Deutscher Reichanzeiger 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 11 (l.); ebd., Nr. 284 v. 30. November, 18)

Der Erste Weltkrieg stärkte also das bestehende Oligopol der Eierkonservierungsmittelanbieter. Es fehlten preiswerte und wirksame Alternativen, nicht dagegen einschlägige Forschung. Doch auch diese ergab kaum Neues, keine Innovationen. Teils wurde gar empfohlen, die von chinesischen Anbietern genutzte Borsäure einzusetzen (Über die Konservierung von Eiern, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 27, 1916/17, 381; Röhmer, Ueber Konservierung von Nahrungs- und Genussmitteln, Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen, III. F. 56, 1918, 167-220, insb. 195-202). Die führenden Mittel behaupteten sich also auch während der Kriegs- und Übergangszeit. Die Kühltechnik hatte sich parallel bewährt, war jedoch im verarmten Deutschland nach den 1920er Jahren nur mit Auslandskapital auszuweiten.

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Wachsendes Interesse am devisenträchtigen Exportgeschäft nach dem Waffenstillstand (Velhagen & Klasings Export-Anzeiger 8, 1918/19, Nr. 12, 17)

Ein gängiges Haushaltsmittel: Garantol in den 1920er Jahren

Garantol hatte sich während des Weltkrieges in einer Notsituation bewährt, sich damit als gängiges Haushaltsmittel vollends etabliert. Für das Unternehmen bedeuteten Frieden, das langsame Ende der Rationierung und der Übergangswirtschaft allerdings ein Ende einer langwierigen Sonderkonjunktur. Großkunden brachen weg, konnten durch die langsam wachsende Zahl leistungsfähiger Eierproduktionsgenossenschaften auch nicht annähernd wettgemacht werden. Aus diesem Grunde versuchte Hermann Leonhardt, das Produktportfolio zu erweitern.

Die Garantol GmbH hatte schon während ihrer ersten Dresdener Zeit ein breites Sortiment alltagsnaher Convenienceprodukte offeriert. Es handelte sich bei diesen Angeboten um typische Folgeinnovationen, also um kundennähere Ummodellierungen bereits bestehender Geräte und Alltagsprodukte. Den Anfang machte das 1903 eingetragene Promptin (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 262 v. 6. November, 11). Die Garantol GmbH vermarktete unter diesem Namen ab spätestens 1906 einerseits einen Tascheninhalator, gläsern, mit zwei birnenförmigen Stützen zum Einatmen durch die Nase, mit einer Öffnung am Boden zum Einsaugen. Der Apparat war mit Watte gefüllt, auf die Menthol oder anderes geträufelt werden konnte (Therapeutische Monatshefte 2, 1908, 423). Unter gleichen Namen produzierte sie auch ein Schnupfpulver, bestehend aus Borsäure, Menthol, ätherischen Ölen und Aromastoffen (Pharmazeutische Praxis 7, 1908, 62). Für beide galt der frühe Slogan „Promptin wirkt prompt!“ (Hamburgischer Correspondent 1907, Nr. 621 v. 7. Dezember, 4).

24_Das interessante Blatt_24_1905_11_09_Nr45_p29_Medizinaltechnik_Inhalierapparat_Promptin_Garantol-Gesellschaft_Dresden_Asthma

Angebote abseits der Eierkonservierung (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 46, 39)

Promptin wurde in Fachzeitschriften und Illustrierten beworben, der Erfolg blieb jedoch begrenzt (Die Gartenlaube 1908, Nr. 1-4, jeweils Beilage, s.p.). Das 1904 erworbene Patent belegt, dass die Garantol GmbH anfangs breiter angelegt worden war (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 268 v. 13. November, 10). Das Eierkonservierungsmittel sollte Teil eines breiteren Angebots von Drogerieartikeln sein. Doch gerade der Asthmamarkt war hart umkämpft, so dass Flops damals die Regel, nicht die Ausnahme waren. 1930 sollte die Garantol GmbH allerdings an diesen Ausflug in die Alltagsmedizin neuerlich anknüpfen. Promptin wurde der Name einer Hustenpastille mit Lecithin. Sie gewann regionale Bedeutung (Der sächsische Erzähler 1930, Nr. 290 v. 13. Dezember, 10; Dresdner Neueste Nachrichten 1936, Nr. 268 v. 15. November, 20).

Zurück zu den Anfängen: Das ebenfalls 1903 als Sammelbegriff eingetragene Garantin mutierte anfangs zu einem Desinfektionsmittel in der Milchverarbeitung (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 262 v. 6. November, 10; Drogisten-Zeitung 22, 1907, 316). Es sollte während der Bundesrepublik als Trockenstärkesirup eine Neubelebung erfahren, als Zwischenprodukt der Lebensmittelindustrie (Hermann Koch, Die Fabrikation feiner Fleisch- und Wurstwaren, Frankfurt a.M. 1966, XXIV). Weitere Warenzeichen wurden nicht zu Produkten verdichtet: Das galt etwa für das ebenfalls 1903 beantragte Gerbholz Rosol sowie die eventuell für die Viehwirtschaft gedachten Warenzeichen Ossogen und Ossopol. Sie wurden allesamt 1913 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 187 v. 9. August, 1; ebd. Nr. 278 v. 25. November, 23).

Was 1903 begonnen und dann verworfen wurde, griff die Firma 1921 wieder auf: Im Juli weitete man den Geschäftsgegenstand auf „die Herstellung und den Vertrieb weiterer Erzeugnisse“ aus. Parallel verzehnfachte man, gewiss auch inflationsbedingt, das Stammkapital auf 200.000 Mark. Eingebracht wurde diese Summe von Hermann Leonhardt (51.000), seiner Frau Elise Leonhardt (69.000) sowie dem nun auch als Gesellschafter agierenden Prokuristen Ludwig Grube. Sie nutzten dazu bestehende Darlehensforderungen an die GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 201 v. 29. August, 12). Kurz darauf veränderte sich die Geschäftsleitung. Herrmann Leonhardt starb im Dezember 1922, schon ein Monat vorher wurde Ludwig Grube Geschäftsführer. Seine Prokura wurde aufgehoben, er durfte die GmbH nun alleine vertreten (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 274 v. 4. Dezember, 14; ebd. 1923, Nr. 40 v. 16. Februar, 14). Im Gefolge erwarb Grube zudem die Geschäftsanteile der Witwe Elise Leonhardt. Auch der Markenschutz für Garantol wurde verstärkt (Ebd., Nr. 78 v. 4. April, 1). Die Neuausrichtung und Konsolidierung der Firma endete mit der Umstellung des Stammkapitals auf 100.000 Goldmark im November 1924 (Ebd., 1924, Nr. 298 v. 18. Dezember, 16).

Grube behielt den 1921 eingeschlagenen Weg bei, mochte dieser auch auf Leonhardts Ideen zurückgehen. Dabei dürfte es auch um die Nutzung brachliegender Produktionskapazitäten handeln, stellte die Garantol GmbH bis mindestens 1924 doch auch Standardconvenienceprodukte her, etwa Vanillinzucker, Creme- und Puddingpulver (Das Leben 2, 1924/25, Nr. 15, IIb) sowie Likör- und Punschextrakte.

25_Illustrierte Familien-Zeitung_1922_Nr12_p48_Der praktische Ratgeber im Obst- und Gartenbau_37_1922_Nr18_Anzeigen_p6_Garantol_Antityphoid_Tiermedizin_Convenienceprodukte

Verbreiterte Angebote (Illustrierte Familien-Zeitung 1922, Nr. 12, 48 (l.); Der praktische Ratgeber im Obst- und Gartenbau 37, 1922, Nr. 18, Anzeigen, 6)

Langfristig folgenreicher sollte der Einstieg in den Tiermedizinmarkt werden. Ende 1920 hatte man „Lehrer Schaper’s Antityphoid“ eintragen lassen, das seit 1921 offenbar recht erfolgreich vermarktet wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 26 v. 1. Februar, 23). Es handelte sich dabei um ein Mittel gegen Durchfälle von Geflügel. Die Mischung von Eisenvitriol, Methylenblau und Salzsäure war apothekenpflichtig (Bericht über das Veterinärwesen im Freistaat Sachen für das Jahr 1921, Dresden 1922, 90). Es wurde anfangs nicht nur im Deutschen Reich, sondern insbesondere in den USA gegen Devisen vertrieben (Das Echo 41, 1922, 3207, 3701).

26_Haus Hof Garten_43_1923_p120_Deutscher Reichsanzeiger_1921_06_03_Nr127_p21_Tiermedizin_Garantol_Heidenau_Antityphoid_Essenzen_Klebstoff_Kitt_Sanril

Produkte, um die Dinge zusammenzuhalten (Haus Hof Garten 43, 1923, 120 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 127 v. 3. Juni, 21)

Neue Geschäftsfelder sollten auch durch den Klebstoff Sanril erschlossen werden. Ein gleichlautendes Sammelzeichen hatte Hermann Leonhardt bereits zwanzig Jahre zuvor für seine Hamburger Handelsfirma beantragt (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 304 v. 24. Dezember, 12). Nun wurde es durch ein Bildzeichen spezifiziert und auch für den devisenträchtigen Schweizer Markt eingetragen (Schweizerisches Handelsamtsblatt 39, 1921, 1652). Der Erfolg in dem durch Otto Rings Syndetikon dominierten Markt dürfte sich jedoch in engen Grenzen gehalten haben. Das gilt auch für die zur Schaufenster- und Messewerbung nutzbare Schokoladen- und Süßwaren-Imitationsmasse Katee, die dann unter dem Namen Garanta bis mindestens in die 1970er Jahre angeboten wurde (Deutsches Markenartikel-Adressbuch 1931, Leipzig s.a., 168; Fette, Seifen, Anstrichmittel 74, 1972, 252).

Garantol blieb das alles überragende Hauptprodukt. Angesichts des wieder steigenden Konsums – rechnerisch verbrauchte der Durchschnittsdeutsche 1900 102, 1912 111, 1925 108 und 1930 dann 139 Stück pro Jahr (Paul Gross, Der deutsche Eiermarkt, Berlin 1933, 9, 95) – hätten die Aussichten gut sein müssen. Doch die in der 2. Hälfte der 1920er Jahre engagierte geführte Debatte über qualitativ hochwertigere, vor allem auch verlässlich standardisierte Agrarprodukte verlief gegenläufig zur Haushaltskonservierung. „Frisch“ wurde zu einem immer wichtigeren Wert im Eiermarkt, die reichsweite Etablierung des „Deutschen Frischeis“ 1930 unterstrich dies. Importeier, vor dem Weltkrieg noch zu zwei Dritteln von Billiganbietern, stammten nun zu zwei Dritteln aus höherpreisigen Angeboten. Die Bedeutung der Kalkeier schwand – an sich eine Marktchance für Garantol. Doch angesichts eines qualitativ höherwertigen Gesamtangebotes sank der Stellenwert häuslich konservierter Eier.

Die Garantol-Werbung reagierte hierauf, wenngleich verhalten. Seit Mitte der 1920er Jahren wurde die Werbung einheitlicher, fokussierte sich verstärkt auf den Markenartikel als Qualitätsgarant. Das Heidenauer Unternehmen nutzte seine während des Krieges gewonnene Marktstellung, präsentierte Garantol als „bewährten“ Helfer der Hausfrau, anders als die vielen wertlosen Eiersatzmittel der „Hungerzeit“. Doch während viele der damaligen Konsumgüter nun mittels einer starken Werbefigur, eines Slogans oder aber in Alltagsituationen präsentiert wurden, warb man für Garantol öffentlich jährlich, teils mehrjährig mit nur einer, dann allerdings konsequent präsentierten Werbevorlage.

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Markenartikelwerbung Mitte der 1920er Jahre (Velhagen & Klasings Monatshefte 40, 1925/26, H. 1, 27; Meggendorfer Blätter 148, 1927, Nr. 1888, 144)

Umsatzzahlen fehlen: Rechnet man jedoch die selbst annoncierte Zahl von 500 Millionen jährlich mit Garantol eingelegten Eiern hoch, so ergeben sich 4,2 Mio. Kleinpackungen und ein Umsatz von 1,7 Millionen Reichsmark. Angesichts von Handelsspannen von etwa 40 Prozent und dem wohl dominierenden Absatz in mittleren Packungen und Großgebinden dürfte der Inlandsumsatz jedoch bei etwa 800.000 Reichsmark gelegen haben. Garantol war angesichts der geringen Herstellungskosten gewiss eine „Cash Cow“, doch zugleich war der Absatzhorizont begrenzt. Hinzuzurechnen ist allerdings das nicht unbeträchtliche Auslandsgeschäft. Vergleicht man die Angabe mit dem Gesamtverbrauch von 1927 ca. 7,8 Milliarden Eiern (Gross, 1933, 97), ergibt sich ein Anteil von 6,4 Prozent aller Eier. Nimmt man als Bezugsrahmen jedoch allein die aus dem Deutschen Reich stammenden Eiern – 1927 ca. 44 Prozent – dann wurden mehr als 14 Prozent aller „deutschen“ Eier mit Garantol konserviert.

Auslandsmärkte: Ein Blick auf die USA und die Schweiz

Während die deutschen Eierproduzenten in den 1920er Jahren trotz beträchtlicher Rationalisierungsbestrebungen, steigender Legeleistungen und vermehrter Geflügelhaltung hinter die ausländischen Wettbewerber zurückfielen, war Garantol immer auch ein erfolgreicher Exportartikel – auch wenn es an Zahlen fehlt. Die Garantol GmbH war, wie ihr Hamburger Vorgänger, ein exportorientiertes Unternehmen. Das Vorgehen im Ausland war konventionell, doch wirksam: Patente und Warenzeichen wurden angemeldet, eine Agentur beauftragt, selten selbst eingerichtet, anschließend begann der Vertrieb, flankiert von mehr oder weniger aktiver Werbung.

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Preisende Benennung in den USA (R.B. Dunning & Co. Illustrated Catalog. Seeds 1908, 47)

Dabei orientierte man sich zumeist an den Spezifika der Auslandsmärkte. Blicken wir etwa in die USA, einen Zielmarkt, der nicht nur durch seine Größe lockte. Angesichts der im Großhandel und Transportwesen bereits weit verbreiteten Kühltechnik waren die Konsumenten zumindest in den Absatzzentren im Osten und mittleren Westen kaum mehr für häusliche Eierkonservierung zu gewinnen. Ernst Utescher hatte 1904 ein erstes Patent erhalten, ein weiteres folgte 1907 (Offizial Gazette of the United States Patent Office 127, 1907, 2686-2687). Als Warenzeichen wurde Garantol bereits 1902 eingetragen (Ebd. 100, 1902, 1106). Die Garantol GmbH nutzte diese Vorarbeiten, erhielt 1911 schließlich ihr Warenzeichen (Ebd. 168, 1911, 777). Der Vertrieb setzte spätestens 1907 ein, doch konzentrierte er sich auf die in den USA bereits recht großen Hühnerfarmen. Niedrige Preise und der gegenüber Kalkwasser bessere Geschmack waren Kaufargumente. Auch in den USA war Wasserglas der wichtigste unmittelbare Konkurrent (Special Bulletin of the Food Department of the Agricultural Experiment Station North Dakota 2, 1912, 260). Garantol wurde während des gesamten Weltkrieges angeboten (R.B. Dunning & Co. Illustrated Catalog. Seeds 1917, 58; ebd., 1918, 58; ebd., 1919, 58). Die Werbung war altbacken und selbstpreisend, präsentierte überholte Bewertungen, zielte auf Erinnerung, nicht auf Überzeugung (American Poultry World 4, 1913, 900; The Progressive Farmer 28, 1913, 665). Es ist wahrscheinlich, dass die Markterfolge seit den 1920er Jahren deutlich abnahmen, da Kühltechnik in den größeren Läden dieser Zeit bereits Standard war.

29_Am haeuslichen Herd_27_1923-24_Nr9_sp_ebd_28_1924-25_Nr8_ebd_31_1927-28_Nr13_sp_Eier_Konservierungsmittel_Garantol_Schweiz

Garantolwerbung in den 1920er Jahren in der Schweiz (Am häuslichen Herd 27, 1923/24, Nr. 9, s.p. (l.); ebd. 28, 1924/25, Nr. 8, s.p.; ebd. 31, 1927/28, Nr13, s.p. (r.))

Anfangs ähnlich, dann aber ganz anders war die Marktpräsenz in der Schweiz – und das trotz der technisch fortgerittenen Konsumgenossenschaften resp. der 1925 gegründeten Migros. Garantol wurde anfangs – sicher ab 1905, nach Eintrag des Warenzeichens (Schweizerisches Handelsamtsblatt 23, 1905, 862) – wie im Deutschen Reich vorrangig über Apotheken und Drogerien vertrieben (Hauswirtschaftlicher Ratgeber 12, 1905, 159). Eine zentrale Markenartikelwerbung fehlte mehr als ein Jahrzehnt, stattdessen pries man das Konservierungsmittel in vielen redaktionellen (Reklame-)Beiträgen und überließ es den Verkäufern vor Ort Werbung zu machen. Eine Ausnahme bildete das allerdings nachfragestarke Hotelgewerbe (Schweizer Hotel-Revue 23, 1914, Nr. 21). Während des Ersten Weltkrieges nahmen die Anzeigen von Wasserglas, Garantol und des Kalziumkarbonat-Präparates Eyoline deutlich zu. Ab den 1930er Jahren trat die Markenartikel-Werbung für Garantol dann stärker hervor und erreichte während des Zweiten Weltkrieges einen Höhepunkt. Dabei verwandte man zumeist die deutschen Werbeklischees, übersetzte deren Texte einfach ins Französische oder Italienische.

30_Le Confedere_1935_05_01_Nr51_p4_Bieler Tagblatt_1935_05_04_Nr103_p7_La Voce della Rezia_1935_05_11_Nr19_p6_Garantol_Eier_Konservierungsmittel_Schweiz

Gleiche Werbung in unterschiedlichen Sprachen (La Confédéré 1935, Nr. 51 v. 1. Mai, 4; Bieler Tagblatt 1935, Nr. 103 v. 4. Mai, 7; La Voce della Rezia 1935, Nr. 19 v. 11. Mai, 6 (r.))

Garantol wurde in der Schweiz während des gesamten Zweiten Weltkrieges beworben. Auch in der Nachkriegszeit findet man einschlägige Anzeigen, wohl von Angeboten aus der Sowjetischen Besatzungszone (La Gruyère 1947, Nr. 37 v. 20. März, 8). Es folgte eine kurzfristige Werbepause, dann aber setzte der Absatz wieder ein – nun aber von Ware aus dem badischen Grötzingen, nun wieder mit den dort verwandten Werbemotiven (Le Confédéré 1950, Nr. 39 v. 31. März, 4; Walliser Volksfreund 1950, Nr. 31 v. 18. April, 3; Neue Zürcher Nachrichten 1955, Nr. 91 v. 18. April, 5).

Ressourcenoptimierung: Garantol während des Nationalsozialismus

Nach Ende der Weimarer Republik (die ich mit den Präsidialdiktaturen 1930 ansetze) und der Machtzulassung der Nationalsozialisten und ihrer konservativen Bündnispartner änderte sich für die Garantol GmbH relativ wenig – trotz der Eierverordnung von 1932, die unter anderem eine Kennzeichnungspflicht für konservierte Eier vorsah. Die Verordnung wurde während der NS-Zeit modifiziert, galt im Grundsatz aber weiter. Der Eierkonsum ging während der Weltwirtschaftskrise beträchtlich zurück, sank durch die Beschränkungen der Importe bis 1934 weiter, lag auch 1938 noch unter den Werten der Weltwirtschaftskrise. Die NS-Zeit war eine Zeit der Eierknappheit – also schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein Umfeld, das einen sorgfältigen Umgang und damit ein Konservieren der begrenzt verfügbaren Hühnerprodukte nahelegte. Das begünstigte zwar auch die Kühltechnik, die ab 1939 in eine vor allem an Wehrmachtsinteressen ausgerichteten und bis 1942 zu einer europäischen Großraumwirtschaft erweiterten Kühlwirtschaft mündete; doch gerade die dabei offenkundige Vernachlässigung der Interessen von Handel und Konsumenten bestärkte den Zwang, Eier auf tradiertem Wege für den Winter zu konservieren.

Für die Garantol GmbH verlief das Geschäft in durchaus tradierten Bahnen – auch wenn sich die Geschäftsleitung beträchtlich veränderte. 1930 wurden gleich zwei Prokuristen benannt. Zum einen die Buchhalterin Elisabeth Menzel (1895-1990), die diese Position allerdings schon nach einem Jahr wieder verlor (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 126 v. 2. Juni, 12-13; ebd. 1931, Nr. 151 v. 2. Juli, 10). Die Tochter eines Dresdener Maurers arbeitete anfangs als Verkäuferin, heiratete 1920 einen Handlungsgehilfen, 1924 einen Werkmeister, etablierte sich in der Garantol GmbH und arbeitete für diese wohl auch später – zumindest deutet ihr Sterbeort Stuttgart darauf hin, dass sie ab 1947 die Neugründung in Grötzingen mitgestaltet hat (Stadtarchiv Dresden, Geburtsregister/Geburtsanzeigen 1876-1907, Bd. 1895, Nr. 2623; ebd. Eheaufgebote/Eheregister 1876-1927, Bd. 1920, Nr. 1240; ebd., Bd. 1924, Nr. 672). Zum anderen der Kaufmann Arthur Irmer (1901-1945), Sohn eines Dresdener Produktenhändlers, der als Oberfunker kurz vor Kriegsende bei den Versuchen der Wehrmacht starb, die vordringenden US-Truppe nach dem Fall von Neuß zu stoppen (Stadtarchiv Dresden, Sterberegister/Sterbefallanzeigen 1876-1957, Bd. 1949, Nr. 2325). Er besaß ab 1931 Gesamtprokura.

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Todesanzeigen von Ludwig Grube 1935 (Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 108 v. 5. März, 14)

Gravierend war der Tod von Hauptgesellschafter und Geschäftsführer Ludwig Grube im Rudolf-Heß-Krankenhaus 1935 (Stadtarchiv Dresden, Sterberegister/Sterbefallanzeigen 1876-1957, Bd. 1935, Nr. 389). Otti Grube übernahm, die Auswirkungen auf das unmittelbare Geschäft waren begrenzt. Die Garantol GmbH wurde allerdings zwei Jahre später von einer Kapital- in eine Personalgesellschaft überführt: Sie firmierte nun als Grube & Co. Das folgte der nationalsozialistischen Idee des persönlich haftenden Kaufmannes, der Stärkung von Familienunternehmen. Derartige Übertragungen erfolgten damals massenhaft, denn die Durchführungsverordnungen des 1934 erlassenen Gesetzes über die Umwandlung von Kapitalgesellschaften lockten mit Steuererleichterungen, drängten mit einer erhöhten Körperschaftssteuer. Irmer führte weiterhin die Alltagsgeschäfte, zwei Kommanditen stärkten 1937 und 1938 die Finanzkraft der Firma (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 124 v. 3. Juni, 18; ebd. 1938, Nr. 6 v. 8. Januar, 12).

Das Geschäft von Grube & Co. beruhte damals vorrangig auf Garantol, Promptin und Antityphoid bildeten Ergänzungen. Die Firma bemühte sich allerdings auch während der 1930er Jahre um weitere Produkte. 1935 wurde Bartsch-Tee eingetragen, ein offenbar dem erfolgreichen und massiv beworbenen Dr. Ernst Richters Frühstückstee der Münchener Hermes-Fabrik nachempfundenes Produkt (Warenzeichenblatt 42, 1935, 487). Wie Garantol wurde es 1941 mit ansprechend geschalteter Serienwerbung propagiert, nun allerdings als deutsches Austauschprodukt für den fehlenden Tee aus Asien.

32_Westfaelische Neueste Nachrichten_1938_03_28_Nr073_p6_Fliegende Blaetter_195_1941_p400_Schlankheitstee_Garantol_Bartsch-Tee_Koerper_Fruehstueck

Vom Nischenmarkt zum Kriegsprodukt (Westfälische Neueste Nachrichten 1938, Nr. 73 v. 28. März, 6 (l.); Fliegende Blätter 195, 1941, 400)

Die naheliegende Frage nach den Beziehungen zwischen dem NS-Regime und der Garantol GmbH resp. der Firma Grube & Co. ist nicht seriös zu beantworten. Man dürfte sich angepasst, zugleich auf eine gewisse Distanz geachtet haben. Die Todesanzeigen Ludwig Grubes erschienen nicht im lokalen NS-Parteiorgan Freiheitskampf, sondern in den traditionell konservativen und demokratieskeptischen Dresdner Nachrichten. Sein 1915 geborener Sohn Hans Grube promovierte 1939 an der Handelshochschule Leipzig bei dem Betriebswirt Erich Schäfer (1900-1984), seit 1940 NSDAP-Mitglied, zugleich einer der intellektuellen Köpfe der Gesellschaft für Konsumforschung. Diese Gruppe, der auch der spätere ordoliberale Heros Ludwig Erhard (1897-1977) angehörte, war integraler Bestandteil des NS-Regimes, stand der Kriegs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus aber kritisch gegenüber (zu diesem Milieu vgl. Uwe Spiekermann, German-Syle Consumer Engineering: Victor Vogt’s Verkaufspraxis, 1925-1950, in: Jan Logemann, Gary Cross und Ingo Köhler (Hg.), Consumer Engineering, 1920s-1970s, Cham 2019, 117-145, insb. 128-132). Hans Grubes im Frühjahr 1939 geschriebene Dissertation (Werbung und Umsatzentwicklung bei Markenartikelunternehmungen, Leipzig 1941) ist eine solide, für damalige Verhältnisse weit überdurchschnittliche Arbeit, die dem gängigen NS-Jargon der Zeit keine Konzessionen machte. Anderseits kann man ab 1941 fast sicher von Zwangsarbeit bei Grube & Co. ausgehen, zumal sich in Heidenau viele kriegswichtige Unternehmen angesiedelt hatten und in Dohna-Heidenau ein Durchgangslager für Zwangsarbeiter bestand. Die spätere Enteignung erfolgte gemäß dem SMAD-Befehl Nr. 124/45 vom 30. Oktober 1945, der bei aller Willkür doch Maßnahmen gegen das Vermögen von „Amtspersonen der NSDAP, ihren führenden Mitgliedern und hervortretenden Anhängern“ vorsah (Bestimmungen der DDR zu Eigentumsfragen und Enteignungen, hg. v. Gesamtdeutschen Institut, Bonn 1971, 50-52, hier 50).

33_Illustrierter Beobachter_07_1932_p376_Die Frau und Mutter_23_1934_H4_p38_Konservierungsmittel_Eier_Garantol_Redaktionelle-Reklame

Appelle an die sparsame Hausfrau (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 376 (l.); Die Frau und Mutter 23, 1934, H. 4, 38)

Für die Öffentlichkeit war die Werbepräsenz der Garantol GmbH jedoch vorrangig. Während der Weltwirtschaftskrise und den ersten Jahren der NS-Herrschaft nutzte sie verstärkt einfache Textanzeigen, die regelmäßig auch als redaktionelle Reklame geschaltet wurde. Im Mittelpunkt standen wirtschaftliche Argumente. Eierkonservierung galt als einfacher und bequemer Bestandteil sparsamer Haushaltsführung. Wichtig war, dass auf diese Weise trotz bedrückender Not ein wenig Abwechslung in der Küche beibehalten, den Lieben eine kleine Freude bereitet werden konnte.

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Serienwerbung mit einfachen Mitteln (Fliegende Blätter 178, 1933, 240 (l.), 272, 336 (r.))

Die Werbung war weiterhin einfach, aufwändige Formen hätten die Kernbotschaften konterkariert. Allerdings finden sich Anfang der 1930er Jahre auch Ansätze von Werbeparolen, etwa „Garantol hält Eier über ein Jahr lang frisch“. Das klang hölzern, war nicht eingängig, war stattdessen sachbezogen und ernst. Mehr wurde versucht, etwa die Propagierung des Tätigkeitswortes „garantolen“. Das hatte beim Einwecken geklappt, ebenso beim Kukirolen, der Verwendung eines damals erfolgreichen Hühneraugenmittels. Doch beim Eiereinlegen scheiterten entsprechende Sprachspiele.

35_Israelitisches Familienblatt_36_1934_Nr11_p07_Illustrierte Nuetzliche Blaetter_1936_p99_Eier_Konservierungsmittel_Garantol

Die zufriedene Hausfrau mit ihrem Winterschatz (Israelitisches Familienblatt 36, 1934, Nr. 11, 7 (l.); Illustrierte Nützliche Blätter 1936, 99)

Die Garantol GmbH begann Anfang der 1930er Jahre zudem, ihre Markenartikelwerbung zu personalisieren. Dazu wählten sie einfach skizzierte Hausfrauen, deren Konterfei nach mehreren Jahren auch verändert wurde und bei denen durchaus zwischen urbanen und ländlichen Kundinnen unterschieden wurde. Allerdings baute die Firma keine produktspezifische Werbefigur auf, wie dies damals die Margarine- oder aber die Waschmittelindustrie vormachte. Parallel bemühte sich die Heidenauer Firma um Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit, nutzte dafür aber vorrangig Werbeblätter. Im Bereich der Haushaltskonservierung war dies schon seit langem üblich.

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Anschaulichkeit auch in der Werbung – Auszüge aus einem Werbeblatt ca. 1937 (Uwe Spiekermann)

Die NS-Zeit war für die Garantol-Werke eine neuerliche Zeit des Wachstums. Dazu mochte nicht zuletzt die Wehrmacht und die an Bedeutung rasch zunehmende Gemeinschaftsverpflegung beigetragen haben. 1937 wurde in Heidenau ein erster Erweiterungsbau errichtet, um den Versand zu beschleunigen und zu erweitern. Auf der einen Seite lag ein Eisenbahnanschluss, auf der anderen Verladerampen für Lastwagen (Garantol, 1953, 11). Zudem legte die Garantol GmbH vermehrt Wert auf eine verbesserte Ansprache der Verkäufer. Das galt insbesondere für die Drogisten und Apotheker. Es war kein Zufall, dass Ludwig Grube bis zu seinem Tode auch Vorsitzender der Velidro gewesen war, des Verbandes der Lieferanten im Drogenfach (Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 108 v. 5. März, 14).

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Werbung für die Verkäufer (Deutsche Apotheker-Zeitung 50, 1935, 530)

Die Werbung war stets mit diesen Verkaufsmultiplikatoren koordiniert, auf sie nahm man besonders Rücksicht. Die Handelsspanne lag bei ordentlichen 40 Prozent und wurde auch während des Zweitens Weltkrieges nicht gesenkt, als die gebundenen Preise 1941 um etwa ein Achtel reduziert wurden (Drogisten-Zeitung 57, 1941, Nr. 10, 4). Das entsprach dem Ideal der gebunden Wirtschaft, dem ideologisierten „Leben und leben lassen“ des deutschen Kaufmanns.

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Die Krise nutzen – Werbung um Apotheker und Drogisten (Wiener Pharmazeutische Wochenschrift 73, 1940, 125)

Überraschend war der recht eigenständige Charakter der Garantol-Werbung. Obwohl sie nah an zentralen NS-Kampagnen agierte, etwa den seit 1936 im Rahmen des Vierjahresplanes initiierten „Kampf dem Verderb“-Feldzügen, der Propagierung des häuslichen Einmachens, der Förderung von Kleinsiedlung und Kleingärten sowie einer verstärkten Wertschätzung heimischer Produkte, fanden diese höchstens indirekt Widerhall in der Garantol-Markenartikelwerbung. Referenzen etwa auf das Deutsche Frauenwerk oder die Verbrauchslenkung unterblieben. Auch während des Krieges war man nicht Teil der vielgestaltigen Kampagnen um Kohlenklau oder andere mehr oder minder populäre Figuren der Verhaltensregulierung, des völkischen Nudging.

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Visuelle Ankerpunkte für Sparsamkeit und Tradition (Kleine Volks-Zeitung 1940, Nr. 182 v. 4. Juli, 12 (l.); Wiener Pharmazeutische Wochenschrift 73, 1940, Nr. 12, 1).

Bemerkenswert ist zudem die 1940, also während des Krieges, einsetzende Ausweitung der Werbung, die seither konsequent auf ansprechende Bildvorlagen und vor allem serielle Motive setzte. Die Motive knüpften an Huhn und Ei an, doch nun wurde der Alltag der Konsumenten systematisch mit einbezogen. Dieser veränderte Markenauftritt dürfte direkt auf Hans Grube zurückzuführen sein – und es ist wahrscheinlich, dass nun auch eine Werbeagentur engagiert wurde. Grubes Dissertation behandelte die Markenartikelwerbung, setzte sich insbesondere mit den auch für Garantol charakteristischen „Saisonschwankungen“ auseinander (Grube, 1941, 25). Während des Weltkrieges war er Soldat, doch das war mehr Potemkinsche Fassade als Aussage. Das Dresdner Adressbuch verortete ihn bis 1941 noch nahe beim Heidenauer Werk in der Pirnaer Straße 32, ab 1943 dann in der Dresdener Lockwitzerstraße 30 (Dresdner Adreßbuch 1941, Heidenau, 27; ebd. 1943/44, Niedersedlitz, 84). Bereits 1937 hatte er Geschäftsanteile übernommen, wenngleich er im Adreßbuch erst ab 1943 als Mitinhaber der Garantol-Gesellschaft Grube & Co. firmierte (Garantol, 1953, 12).

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Verhaltensregulierung und Kaufappell (Illustrierter Beobachter 16, 1941, 52 (l.); ebd., 148)

Die neuen Werbeanzeigen setzten kaum neue Themen, banden die alten jedoch in die Kriegszeit, in die Eierrationierung ein. Der Eierkonsum sank damals reguliert, lag 1944/45 schließlich bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte: 1939/40 waren das durchschnittlich 140 Stück pro Kopf, 1941/42 87 und 1944/45 schließlich 68 (Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, s.l. s.a. (Ms.)). Das war wenig, doch immer noch fast das Dreifache von 1918/19.

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Winke auch abseits der Saison (Die Umschau 46, 1942, 176 (l.); ebd., 400)

Die Werbemotive waren ansprechend gestaltet, führten auch erstmals konsequent über die Legesaison hinaus. 1941 begann im August eine neuerliche Kampagne – also just in dem Monat, in dem zuvor die Werbesaison faktisch endete: Haushälterische Winke – recht typisch für die damalige Werbewelt, doch mit jahrzehntealten Vorläufern bei Convenienceartikeln wie Backhilfsmitteln oder Suppenpräparaten – erläuterten nun den Umgang mit Garantol und gaben Ratschläge für die Werterhaltung der Eier im getränkten Glase. Damit emanzipierte sich das Konservierungsmittel auch von seinem Mitbewerber Wasserglas, für den als Markenartikel nie geworben wurde. Garantol wurde als bewährter Helfer, als Kriegskamerad positioniert, der um die Schwierigkeiten des Kriegsalltags wusste, der jedoch optimistisch die Engpässe und Probleme überwand.

42_Straßburger Neueste Nachrichten_1943_04_16_Nr106_p7_Erlaftal-Bote_1943_04_09_Nr36_p8_Konservierungsmittel_Eier_Garantol

Zuversicht im Kriege (Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 106 v. 16. April, 7 (l.); Erlaftal-Bote 1943, Nr. 36 v. 9. April, 8)

Diese Grundhaltung und auch die stimmungs- und versorgungswirtschaftlich wichtigen Funktionen des Garantol führten denn auch dazu, dass das Konservierungsmittel noch 1943 und selbst 1944 mit recht großen Anzeigen mit visuellen Elementen beworben wurde. Dazu muss man wissen, dass Zeitungen und Zeitschriften Anfang und dann nochmals im Sommer 1942 die Werbemöglichkeiten deutlich reduzieren mussten, da die Anzeigengrößen gedeckelt wurden. Vielfach fanden sich nun ein Dutzend und mehr Motive auf einer Seite, die große Mehrzahl davon reine Werbetexte.

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Verpflichtungsdiskurse in der Volksgemeinschaft (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 4, Beil., 5; ebd., H. 11, Beil., 5)

Das galt auch für Garantol – doch mit deutlichem zeitlichem Verzug. Entsprechend nahm die relative Präsenz des Eierkonservierungsmittels 1943/44 zu. Es stand nun Seit an Seit mit den führenden Markenartikeln weit größerer Unternehmen. Obwohl die Heidenauer Firma bis Kriegsende kontinuierlich produzierte – Dresden wurde als letzte deutsche Großstadt am 8. Mai 1945 besetzt, also am Tag der Kapitulation der Wehrmacht – spiegelten letztlich aber auch deren Anzeigen den nahenden Verlust des Krieges.

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Dem Endsieg entgegen – abebbende Werbeanstrengungen 1944 (Westfälische Zeitung 1944, Nr. 179 v. 2. August, 2 (l. oben); Badische Presse 1944, Nr. 165 v. 17. Juli, 4 (l. unten); Garten-Zeitschrift 1944, Nr. 7/8, 68 (r. oben); Grenzbote 1944, Nr. 16 v. 16. April, 8)

Doppelte Wege: Garantol in Heidenau und Grötzingen

Grube & Co. überstand den Zweiten Weltkrieg ohne Zerstörungen, inklusive den massiven Bombenangriff auf Heidenau am letzten Kriegstag. Dennoch kam der Betrieb 1945 kurzfristig zum Erliegen. Otti Grube wurde von der sowjetischen Militäradministration von der Geschäftsführung ausgeschlossen, ihr Sohn Hans Grube übernahm nach Ende der Kriegsgefangenschaft im Dezember die Leitung des Familienbetriebes. Die Garantol-Werke reüssierten rasch, 1947 übertrafen sie den Beschäftigungsstand der Vorkriegszeit (Garantol, 1953, 12). Der Betrieb wurde 1946 erstmals, 1948 neuerlich beschlagnahmt (Who’s who in Germany, 4. Aufl., Ottobrunn 1972, Bd. 1, 502). Hans Grube wurde verhaftet und für viele Monate inhaftiert, flüchtete Ende 1948, Anfang 1949 dann in den Westen. Die Gründe für diese Entwicklung sind unklar, können in der NS-Zeit liegen, an wahrscheinlicher Beschäftigung von Zwangsarbeitern, an den Interessen der Besatzungsmacht oder aber der kollektivistischen Politik der SED und der Blockparteien. Eine Sichtung der einschlägigen Archivalien im Staatsarchiv Dresden steht noch aus.

Während in Heidenau die Garantol-Werke verstaatlicht wurden, zum VVB (L) und dann VEB Garantol mutierten und weiterhin Garantol und Antityphoid produzierten, nahm die bereits am 18. Oktober 1947 gegründete Dr. Grube GmbH im nahe von Karlsruhe gelegenen Grötzingen den Betrieb auf (Badische Neueste Nachrichten 1949, Nr. 18 v. 27. Januar, 3). Hans Grube wurde am 8. Juni 1949 zum allein vertretungsberechtigten Geschäftsführer bestellt (Ebd., Nr. 119 v. 18. Juni, 10), der zwischenzeitliche Geschäftsführer Otto Lips im Januar 1950 als Geschäftsführer entlassen (Ebd. 1950, Nr. 25 v. 4. Februar, 9). Im April 1950 etablierten Hans Grube, seine Mutter Otti und zwei Kommanditen zudem die Grube & Co. KG, restaurierten also den Status von 1937 (Ebd., Nr. 109 v. 30. Mai, 8), auch wenn die Garantol GmbH parallel bestehen blieb (Ebd. 1951, Nr. 53 v. 3. März, 5). Zwischen den Heidenauer und den Grötzinger Garantol-Werken kam es zu Rechtshändeln (Süddeutsche Juristen-Zeitung 5, 1950, 277). Am Ende gab es zwei Produzenten des Eierkonservierungsmittels Garantol, je einen in beiden deutschen Staaten.

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Werbeplakate für Garantol in Österreich (Wienbibliothek AC10534260-4201 (ca. 1950, l.); ebd. AC10534101-4201 (1950))

Beide Firmen knüpften teils bruchlos an die NS-Zeit an, auch in der DDR warb man mit den alten Werbeklischees. Sie entwickelten sich auch in der Folgezeit ähnlich, wenngleich mit unterschiedlicher Dynamik. Die Grötzinger Firma intensivierte rasch ihre Exporttätigkeit, besaß damit eine angesichts der damaligen Dollar-Lücke strategisch wichtige Einnahmequelle. Beide Firmen erweiterten ihr Sortiment, wobei Grötzingen deutlich aktiver war; auch durch den Ankauf US-amerikanischer Patente. Dominierte Anfang, in der DDR auch noch Ende der 1950er Jahre der Umsatz des namensgebenden Eierkonservierungsmittels, so mutierten mit dem Rückgang der Nachfrage seit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre beide Firmen zu Anbietern von Tiermedizin und Drogerieartikeln. Der Ausbau der Selbstbedienung, das Vordringen der Kühltechnik im Handel und dann auch den Haushalten, die „Massenproduktion“ von Geflügel und Eiern ließen „frische“ Eier zum Standard werden. Die Heidenauer Firma ging später in größere chemische Betriebe auf. Die Geschichte der Grube & Co. KG endete im Juni 1995, im Folgemonat auch die der Dr. Grube GmbH. Die 1985 gegründete Garantol GmbH wurde schließlich im Mai 1996 gelöscht. Wasserglas ist weiterhin verfügbar.

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Angebotspaletten der Grötzinger und der Heidenheimer Garantol-Werke (Garantol, 1953, 18 (l.); Werbezettel Garanta, s.a.)

Convenienceprodukte als Zwischenlösungen mit Beharrungsvermögen

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte es noch mit typisch wilhelminischem Optimismus geheißen: „Die Konservierung der Eier ist nur eine Frage der sich immer mehr und mehr entwickelnden Technik auf dem Gebiet“ (Kurt Woite, Kolonialgeflügel, Die Woche 14, 1912, 1109-1111, hier 1110). Die Geschichte des Konservierungsmittels Garantol belegt, dass die technische Verfügbarkeit einer überlegenen Konservierungstechnik – hier der Kühltechnik – für deren Durchsetzung nicht ausreichte. Wasserglas und Garantol ermöglichten Eier auch im Winter, mochten diese auch geschmacklich schlechter und küchentechnisch begrenzter als gekühlte oder gar frische Angebote gewesen sein. Diese Mängel aber waren überschaubar, an sie konnte man sich gewöhnen, ebenso an den saisonalen Rhythmus derartiger Verschlechterungen. Wasserglas und Garantol halfen Kriege und Krisen zu bewältigen, boten handhabbare Alternativen zum Verzicht, übertrafen zuvor übliche Konservierungsverfahren. Bequem waren diese Bequemlichkeitsprodukte aus heutiger Sicht vielleicht nicht, doch ihre Anwendung wurden seit der Jahrhundertwende zur üblichen Haushaltsroutine, so wie man auch das enorm aufwändige Waschen und Putzen lange, lange kaum hinterfragte, auch, weil dies unbezahlte Frauenarbeit war.

Garantol war Ausdruck begrenzter Anspruchshaltungen, eines Arrangements mit einem Leben, in dem das frische Ei kein Dauerangebot war. Man dachte im Jahresrhythmus, noch nicht mit der für uns geltenden Kurzlebigkeit der Ware. Convenienceprodukte stehen heute für die Beschleunigung des Marktes und des Konsums – einhundert Jahre zuvor standen sie für Stetigkeit und Verlässlichkeit. Heute, wo wir alte Waren nur als gereifte Edelprodukte schätzen, wo uns Frisches und Neues permanent umgibt, wo wir Waren wegwerfen, wenn sie ein zwar begründetes, aber doch auch imaginäres Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, heute können wir uns Convenienceprodukte als Entschleuniger, als Dynamikbremse kaum mehr vorstellen.

Garantol war just dies, war ein Grund für die nur verzögerte Einführung der Kühltechnik hierzulande. Garantol war eine Zwischenlösung in einer unvollkommenen Welt. Dieses scheinbar so nebensächliche Produkt kann uns aber vielleicht anregen darüber nachzudenken, dass wir uns auch mit vielen Zwischenlösungen begnügen, mögen diese uns auch anders präsentiert werden. Das gilt für unsere Ernährung, unsere Umwelt, unsere materielle Existenz. Vielleicht können wir im Kopfschütteln über die überwundene Zwischenlösung Garantol dann gar erkennen, wie wichtig es ist, sich möglichst mit Kernproblemen auseinanderzusetzen, um nicht Jahrzehnte zu verlieren.

Uwe Spiekermann, 14. August 2022

Joints im kaiserlichen Berlin? Die kurze Geschichte der Bronchiol-Asthmazigaretten

Joints im kaiserlichen Berlin? Ja, die gab es – vorausgesetzt, man denkt dabei an cannabishaltige Zigaretten. Nein, die gab es nicht – denn diese Zigaretten dienten nicht dem Vergessen und der Entspannung, sondern einem medizinischen Zweck: Cannabishaltige Zigaretten waren wichtiger Teil einer breiten Palette von Heilmitteln gegen Asthma, gegen Bronchialkatarrhe, gegen Atemnot. Asthmazigaretten dieser Art konnte man während des gesamten Kaiserreiches in Berlin und andernorts kaufen. Cannabis war damals ein gängiger Inhalts- und Wirkstoff, auch wenn dessen Bedeutung in einem Markt ohne Verbot bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges gering war und abgenommen hatte. Asthmazigaretten wurden anfangs von ausländischen Anbietern verkauft, vorwiegend Franzosen, teils auch Holländern. Doch parallel zum Aufstieg der heimischen Pharmaindustrie drangen auch deutsche Anbieter in die Marktnische. Das zeigte sich vor allem an der kurzen, von 1901 bis 1914/16 währenden Geschichte der Berliner Bronchiol GmbH. Es handelte sich um eine kleine Gruppe jüdischer Geschäftsleute, die Ideen eines kränkelnden Zahnarztes, des Hauptes der amerikanischen Kolonie in Berlin aufgriffen, um dessen „Gesundheitszigaretten“ in Berlin, im Deutschen Reich und auch im Ausland anzubieten. Die Bronchiol GmbH wird im Mittelpunkt dieses kleinen Ausfluges stehen. Doch um deren Geschichte verstehen und einordnen zu können, müssen wir mehr über ihre Vorgeschichte wissen.

Indischer Hanf gegen Asthma: Die Etablierung der Asthmazigaretten

Asthma ist eine chronische Entzündung der Atemwege, die zu steten Hustenattacken und Atemnot führt. Im 19. Jahrhundert war es eine weit verbreitete Alltagskrankheit, die in ihrer chronischen Form nicht wirklich kuriert, einzig gelindert werden konnte (W[ilhelm] Brügelmann, Ueber Asthma, sein Wesen und seine Behandlung, 3. verm. Aufl., Wiesbaden 1895). Kräutertherapien milderten die Symptome, seit dem späten 18. Jahrhundert wurden dazu vornehmlich Bilsenkraut, Tollkirsche (Belladonna) und Stechapfel (Stramonium) genutzt. Man trocknete diese Naturprodukte, zerbröselte sie, zerkleinerte sie zu Pulvern. Um die Lunge krampflösend zu erreichen, wurden sie einerseits geraucht, zuerst als Pfeife, dann in Zigarren, seit den 1850er Jahren auch in Zigaretten (Mark Jackson, „Divine Stramonium“: The Rise and Fall of Smoking for Asthma, Medical History 54, 2010, 171-194; Cecile Raynal, De la fumée contre l’asthme, histoire d’un paradoxe pharmaceutique, Revue d’histoire de la pharmacie 94, 2007, Nr. 353, 7-24). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden zudem erste Inhalationsapparate. Die Heilmittel wurden entzündet, der Patient atmete den Dampf teils direkt, teils mittels eines Tubus oder eines Schlauches ein. Rauchen und Inhalieren halfen bei akuten Asthmaanfällen, linderten Schmerzen, konnten aber die Ursachen der chronischen Entzündung nicht beseitigen. Das war ein Steilpass für Erfindergeist, für neue Marktangebote, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um 1900 gab es für die Bekämpfung von Asthma daher eine kaum überschaubare Zahl innerlich und äußerlich anwendbarer Mittel: Tees, Essenzen und Tinkturen wurden angeboten, Asthmapapiere, -pappen, -kerzen, -pulver, -kräuter, zudem zahlreiche Asthmazigaretten (Otto von Lengerken, Handbuch neuerer Arzneimittel, Frankfurt a.M. 1907, 148-149): „Die Auswahl ist groß – der Erfolg gering“ (Jaroslaw Hrach, Das Bronchialasthma und die pneumatische Kammer, Wiener Medizinische Wochenschrift 55, 1905, Sp. 2025-2028, hier Sp. 2026). Die Ärzteschaft schien therapeutisch „wehrlos“ (Paul v. Terray, Ueber Asthma bronchiale und dessen Behandlung mit Atropin, Medizinische Klinik 5, 1909, 79-83, hier 79).

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Heimapparaturen für den Selbstbetrieb (Berliner Tageblatt 1910, Nr. 501 v. 3. Oktober, 7)

Im langen 19. Jahrhundert hatten sich jedoch nicht nur die Darbietungsformen der Heilmittel geändert. Auch neue Wirkstoffe wurden eingesetzt, darunter der Mitte des 19. Jahrhunderts erst in Großbritannien, dann in Frankreich, schließlich auch im deutschsprachigen Raum bekannte und medizinisch eingesetzte indische Hanf. Anders als der einheimische Hanf, Cannabis Sativa, der seit dem Mittelalter in der Volksmedizin zur Beruhigung und gegen Entzündungen eingesetzt wurde, war Cannabis Indica von Beginn mit Rausch und der Exotik des Orients verbunden. Mediziner und Pharmazeuten untersuchten und erprobten das neue Kraut, setzten es therapeutisch ein, verdichteten es zu neuen, allerdings nicht sonderlich erfolgreichen Pharmazeutika.

Die Asthmatherapie war anfangs eine Ausnahme, denn sie wurde stark geprägt von einem weltweit präsenten Unternehmen, der Pariser Pharmafirma Grimault & Co. Ihr Geschäftserfolg basierte auf der Erschließung globaler, meist kolonialer naturaler Ressourcen für die aufstrebende pharmazeutische Industrie. Deren Stärke war es, die belebte und unbelebte Materie auf Stoffe zurückzuführen, auf Wirkstoffe, die mehr oder weniger kausale Effekte hervorrufen konnten. Grimault bot jedenfalls seit den 1850er Jahren eine rasch wachsende Palette ummantelter Wirkstoffe an, vorrangig Stärkungsmittel aus Pflanzenextrakten, wie etwa Matico oder Guarana. Als Sirup oder in Pillenform wurden sie international vermarktet, dienten als Allzweckmittel gegen eine Vielzahl von Alltagskrankheiten (American Medical Times NS 2, 1861, Nr. 26, 4; Allgemeine Illustrirte Zeitung 1, 1865, 112, 136; Über Land und Meer 23, 1869/70, 383). Obwohl die Besitzer seit den frühen 1870er Jahren mehrfach wechselten, stand der Name weltweit für „französische Specialitäten“, durchaus mundende Hilfsmittel gegen die Fährnisse des bürgerlichen Alltags. Spätestens seit 1862 bot Grimault auch „Indische Cigaretten“ aus Cannabis Indica an (Die Anwendung des Matico, hg. v. Grimault und Comp., Paris s.a. [1862], 35). Sie sollten zum bekanntesten Produkt des Unternehmens werden. Anfangs im Heimatmarkt und dann in Österreich als „Hachisch-Cigaretten“ [sic!] (Der Militärarzt 1, 1867, Sp. 327) beworben, setzten sie sich unter dem neutraleren Begriff „Indische Cigaretten“ auch in Übersee fest: Bereits 1867 waren sie in Australien und im frankophonen New Orleans erhältlich, ab 1868 in Indien, spätestens 1869 finden sich Anzeigen in Kanada, dann auch in Großbritannien. Seit 1871, just nach dem verlorenen Krieg, eroberte Grimault rasch die Marktführerschaft im neu gegründeten Deutschen Reich. Die cannabishaltigen Asthma-Zigaretten wurden bis Mitte der 1880er in deutschen Tageszeitungen breit beworben, dann auch wieder zwischen 1895 und 1906. Verfügbar waren die in schicken gelben Papierovalen angebotenen Glimmstängel bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges (C[arl] Bachem, Deutsche Ersatzpräparate für pharmaceutische Spezialitäten des feindlichen Auslandes, Bonn 1916, 11), doch auch wieder danach. Sie konnten in Apotheken direkt, ohne Rezept, gekauft werden.

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Marktführer im Nischenmarkt: Grimaults „Indische Cigaretten“ (Kölnische Zeitung 1871, Nr. 359 v. 28. Dezember, 4 (l.); ebd. 1876, Nr. 31 v. 31. Januar, 4)

Grimault etablierte cannabishaltige Asthmazigaretten im Alltag der Mittel- und Oberschicht. Andere, frühere Angebote gab es, doch es handelte sich um Apothekerware, angefertigt für eine begrenzte lokale Nachfrage, meist auf Rezept eines Arztes. Der Hohenmölsener Apotheker Carl Stutzbach (1789-1871) hatte zwar schon in den frühen 1850er Jahren „Deutsches Hanfkraut“ zum Rauchen angefertigt (Georg Martius, Pharmakologisch-medicinische Studien über den Hanf, Leipzig 1856, 39, 58-63), doch dies schuf keinen neuen Markt. Stutzbach und auch die später führende Darmstädter Firma E. Merck blieben Spezialanbieter für Cannabispräparate, die Apotheker dann zu Hanföl (für Einreibungen), Opodelbok (gegen Rheuma) und Hanfchloroform (zum Inhalieren gegen Asthma) und auch für Asthmazigaretten weiterverarbeiteten und verabreichten.

Werbung für Grimaults Indische Cigaretten in Berlin (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 194 v. 28. April, 4 (l.); Berliner Tageblatt 1905, Nr. 219 v. 1. Mai, 6)

Während lokale Apotheker nach grundsätzlich bekannten Rezepten arbeiteten, zeigten sich am Beispiel von Grimault & Co. typische Probleme eines breit angebotenen Geheimmittels. Die Pariser Firma bewarb zwar offensiv den Cannabis-Gehalt der Zigaretten, doch die genaue Zusammensetzung des Krautes war unklar. Die zunehmend üblichere pharmazeutisch-chemische Kontrolle nährte Zweifel, ob die Zigaretten tatsächlich indischen Hanf enthielten (Indische Cigaretten, Dinglers Polytechnisches Journal 236, 1880, 349). Ergänzende Untersuchungen konnten zwar geringe Mengen nachweisen, doch der Hauptwirkstoff war Belladonna, waren also fein zerstoßene Tollkirschenblätter (Hermann Hager, Handbuch der pharmaceutischen Praxis, Ergänzungsbd., Berlin 1884, 191). Die Werbung war demnach irreführend, „eine Täuschung und Uebervortheilung des Publikums“ (Karlsruher Tagblatt 1885, Nr. 117 v. 30. April, 1891). Öffentliche Warnungen folgten, denn Gesundheitsschäden konnten aufgrund der unklaren Zusammensetzung nicht ausgeschlossen werden. Die Marktstellung von Grimault wurde dadurch empfindlich getroffen, die Werbung für längere Zeit eingestellt. Dennoch verordneten viele Ärzte weiterhin das Präparat: „Wenige Athemzüge lassen sehr oft erhebliches Asthma verschwinden, indess sind die Gefahren des Haschischrauchens bekanntlich so gross, dass man die Cannabis in Cigarettenform nur ausnahmsweise gestatten kann. Der willkürliche Verkauf dieser Cigaretten ist streng zu untersagen“ (Brügelmann, 1895, 127). Grimaults Indische Cigaretten blieben dennoch verfügbar. Nicht aber als vermeintlicher Joint auf Rezept, sondern als überteuertes Geheimmittel mit gewisser Wirkung.

Französisches Pionierprodukt: Espic-Zigaretten und -Pulver (Kölnische Zeitung 1858, Nr. 194 v. 15. Juli, 6 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1893, Nr. 7 v. 5. Januar, 6)

Hauptwettbewerber von Grimault war die französische Firma Espic. Sie bot seit Mitte des 19. Jahrhunderts Inhalatoren an (Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 67, 1850, 412), spätestens seit 1858 auch Asthmazigaretten. Diese enthielten ein sehr kleine Prise Opium, bestanden vornehmlich aus Tollkirschen- und Stechapfelblättern, aus Bilsenkraut und dessen Samen, waren entsprechend atropinhaltig (Annali Universali di Medicina 166, 1858, 656; Kölnische Zeitung 1897, Nr. 209 v. 8. März, 4). Ihre Anwendung war nicht unumstritten, längerer Gebrauch bewirkte nervöses Zittern ([Carl] L]udwig] Merkel, Die neuesten Leistungen auf dem Gebiete der Lehre vom Asthma, Jahrbücher der in- und ausländischen Medicin 109, 1861, 225-247, hier 244). Auch bei Espic wurde diskutiert, ähnlich wie unter anderen Vorzeichen bei Grimault, ob der Opiumgehalt nur werbeträchtig vorgespielt sei (Drogisten-Zeitung 22, 1907, 11). Angeboten in einer schmucken Büchse, kosteten sie aufgrund der preiswerteren Inhaltsstoffe 1,70 resp. 2 Mark pro Büchse mit zehn Stück (Echo der Gegenwart 1879, Nr. 31 v. 31. Januar, 4; Sport & Salon 3, 1880, Nr. 3, 22). Das war deutlich weniger als die 2,50 Mark für ein Döschen Grimault-Zigaretten. Beide linderten Asthmaanfälle, die Kosten sprachen aber gegen das cannabishaltige Präparat. Langfristig näherten sich die Preise allerdings an, nach der Jahrhundertwende galt 1,50 Mark als Standardpreis für eine 10er-Packung Asthmazigaretten (Lengerken, 1907, 149).

Marktalternative: Holländische Asthmazigaretten mit dem Wirkstoff Tollkirsche (Illustrirte Zeitung 78, 1882, 201 (l.), Allgemeine Zeitung 1896, Nr. 97 v. 8. April, 4)

Ein früher Preisbrecher waren die „holländischen“ Asthmazigaretten der vor allem durch ihren Chinawein bekannten pharmazeutischen Firma Kraepelien & Holm aus dem holländischen Zeist, nahe Utrecht. Auch dabei handelte es sich um ein „aus verschiedenen Kräutern“ (Reichs-Medicinal-Kalender für Deutschland auf das Jahr 1890, T. 2, Leipzig 1889, Anzeigen, 58) hergestelltes Geheimmittel. Die Wirkung resultierte vornehmlich von Belladonnakräutern, während Opium und indischer Hanf außen vor blieben. Mit 1,50 Mark war es günstiger als Espic und Grimault, markierte damit einen Trend des späten 19. Jahrhunderts: Exotische Rauschgifte wie Opium und Cannabis Indica wurden durch preiswertere Kräuter substituiert. Das verhinderte nicht zwingend gefährliche Nebenwirkungen, denn der freie Verkauf von Tollkirschenpräparaten war von Verbotsforderungen und Warnungen begleitet (Germann, Asthma-Cigaretten, Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte 19, 1889, 157). Doch es galt das Leiden der Patienten mit möglichen anderen Gesundheitsgefahren abzuwägen. Im Deutschen Reich wurde die massive Deregulierung des Arzneimittelmarktes in den späten 1860er Jahren zwar mehrfach wieder zurückgenommen, doch trotz zunehmender Apothekenpflicht und begrenzter Werbeverbote für Geheimmittel blieb der deutsche Markt offen für die heute als Drogen regulierten Wirkstoffe. Die Anbieter nahmen Rücksicht auf Behörden und Apotheker, behaupteten für die aus London importierten „Joys Asthma-Cigaretten“ gar: „Garantiert unschädlich für Kinder, Damen, überhaupt für jede Constitution“ (Westfälische Zeitung 1892, Nr. 175 v. 29. Juli, 3). Ein Verbot der Asthmazigaretten stand damals nicht auf der Tagesordnung – und neue Angebote kamen schon aufgrund des Preisvorteils meist ohne Cannabis und Opium aus. Ein Beispiel hierfür waren die in Berlin produzierten Asthmazigaretten von Dr. Graff & Co. (Führer durch die Ausstellung der Chemischen Industrie Deutschlands auf der Columbischen Weltausstellung in Chicago 1893, Berlin 1893, 87).

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Indische Zigaretten als Herkunftsbezeichnung für Standardtabakwaren (Kölnische Zeitung 1899, Nr. 891 v. 12. November, 4 (l.); Iserlohner Kreisblatt 1897, Nr. 297 v. 20. Dezember, 4)

Indische Zigaretten waren trotz ihres teils süßlich-penetranten Geruchs, trotz der teils unklaren Zusammensetzung Alltagsprodukte. In einem vornehmlich von orientalischen Tabakmischungen aus dem Osmanischen Reich und Ägypten geprägten Zigarettenmarkt hatten Angebote aus der britischen Kronkolonie Indien bei „gesunden“ Rauchern durchaus Erfolg. Genuss, Exotik und Nikotin schien eine Erfolgsmischung zu sein.

Berliner Medizinaljoints: Die amerikanische Familie Abbot als Ideengeber

Als die Berliner Bronchiol GmbH im August 1900 mit der Werbung für ihre cannabishaltige Zigarette begann, baute sie auf ein für Geheimmittel typisches Narrativ: „Dr. Abbot, welcher dreißig Jahre an Asthma litt, gelang es, verschiedene Kräuter der südamerikanischen Flora zu finden, welche sich von linderndem Wesen gegen das Asthma erwiesen! Das Präparat dieser Kräuter ist nun von Dr. Abbot in Form einer Cigarette den Patienten gegeben, welche die Bronchiol-Gesellschaft Berlin, Mittelstr. 23, herstellt“ (Berliner Tageblatt 1900, Nr. 419 v. 19. August, 11). Hierin stimmte wenig, doch das war in vielen Werbungen damals üblich, det war nicht nur Berlin. Immerhin: Es gab den besagten „Dr. Abbot“.

Dabei handelte es sich um Francis Peabody Abbot (1827-1886). Er wurde 1827 in Portland, Maine, geboren, stammte aus der Oberschicht Neu-Englands. Im zarten Alter von sechs Jahren erkrankte er an Scharlach, und dies war wahrscheinlich Auslöser eines Asthmaleidens, „das ihn ein Leben lang geplagt und schließlich zu seinem relativ frühen Tod mit 59 Jahren führte“ (Julian C. Anthony, Willoughby Dayton Miller (1853 – 1907) American dentist und deutscher Zahnarzt: eine Karriere in zwei Erdteilen, Med. Diss. Regensburg 2019, 80). Abbot erhielt 1851 den „Doctor of Dental Surgery“ vom Baltimore College of Dental Surgery (Boston Medical and Surgical Journal 44, 1851, 208). Er reiste umher und ließ sich 1852 in Berlin nieder. Dort lebte und arbeitete er erst in der Oberwallstraße 20, fand seine eigentliche Wirkungsstätte dann am hundert Meter südlich gelegenen Hausvogteiplatz 2 (Adreß-Kalender für Berlin 1853, 308; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Berlin 1863, 1; Berliner Adreßbuch für das Jahr 1886, T. III, 467). Preußens Zahnärzte waren damals Virtuosen des Extrahierens, vom Plombieren aber verstanden sie wenig. Derartige Zahnrettung entwickelte sich zu Abbots Spezialgebiet. Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten erkundeten die Wirksamkeit unterschiedlicher Füllungen auf Gebiss und Mundhöhle (F[rancis] P. Abbot, Ansichten über das zu frühzeitige Extrahiren der ersten Molarzähne, Deutsche Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 17, 1877, 340-341). Die Folgen waren beträchtlich: Abbots Arbeiten machten tiefen Eindruck auf einen 1877 in Berlin weilenden Studenten, Willoughby D. Miller (1853-1907), der 1879 nicht nur seine Tochter heiratete und in seiner Praxis als Zahnarzt tätig war, sondern mit seiner Kariestheorie die Zahnheilkunde grundlegend veränderte (Die Mikroorganismen der Mundhöhle, Leipzig 1889).

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Francis P. Abbot als Werbegarant für Gustav Lohses Kampfer-Zahnpulver (Der Damen-Salon 1877, Nr. 1, 8)

Francis P. Abbot war damals eine Führungsfigur der US-Bürger in Berlin. Als „der am Längsten hier ansässige americanische Bürger“ (Coburger Zeitung 1881, Nr. 228 v. 28. September, 1) hielt er die Trauerrede auf den nach einem Attentat verstorbenen Präsidenten James A. Garfield (1831-1881). Abbots Zahnarztpraxis war seinerzeit Anlaufpunkt für Berlins höhere Gesellschaft, hohe Preise schreckten nicht. Der geschäftstüchtige Amerikaner war zugleich offen für Werbekooperationen, wie etwa mit dem Parfümhersteller Gustav Lohse, dessen Stammsitz in der Jägerstraße in unmittelbarer Nachbarschaft lag (Elisabeth Bartel und Lutz Hermann, Berliner Düfte. Parfüms, Parfümeure und Parfümhäuser, Berlin 2015, 35). Ende des 19. Jahrhunderts mischten lokale Apotheker zudem Abbotsche Zahnpulver und Mundwässer (Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 120 v. 12. März, 2). Privat aber war Abbots Leben von Asthma überschattet: Die Nächte verbrachte er nicht im Bett, sondern in einem Sessel (Anthony, 2019, 80).

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Francis P. Abbot mit Asthmazigarette (l.), rechts Willoughby D. Miller (Anthony, 2019, 91)

Francis P. Abbot griff zur Linderung unter anderem zu Asthmazigaretten. Es ist unklar, um welche Marken und Mischungen es sich gehandelt hat. Doch es ist zugleich nicht unwahrscheinlich, dass Abbot unterschiedliche Mischungen versuchte und mit ihnen experimentierte, um sein Leiden zu verringern. Die Werbung der Bronchiol-Zigaretten betonte jedenfalls: „Präparat nach Dr. Abbot“ (Kölner Local-Anzeiger 1901, Nr. 95 v. 19. April, 6). Zu diesem Zeitpunkt war Francis P. Abbot allerdings schon längst verstorben, das liebreizende Berliner Adreßbuch vermerkte Ende 1886 lapidar: „Abbot, F. P., Dr., Zahnarzt ist zu streichen“ (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1887, Nachtrag, s.p.). An seine Stelle trat sein 1862 in Berlin geborener Sohn Charles Henri Abbot. Er erhielt seinen Doctor of Dental Surgery 1885 von der Harvard University (The Dental Cosmos 27, 1885, 503), war Anfang der 1890er Jahre auch US-Vize-Generalkonsul (Berliner Tageblatt 1894, Nr. 358 v. 17. Juli, 4), etablierte sich als Zahnarzt schließlich nahe am Potsdamer Platz in der Königgrätzer Straße 140, der heutigen Stresemannstraße. Möglich, dass er das Wissen über die Mischung einer cannabishaltigen Asthmazigarette an die Gründer der Bronchiol GmbH verkauft hat. Doch mangels Quellen bleibt es bei begründeten Mutmaßungen.

Die Berliner Bronchiol-Gesellschaft mbH

Mutmaßungen? Nicht mehr? Doch, es gibt mehr, nämlich verstreute Informationen, die es einem Puzzle gleich zusammenzusetzen gilt. Nicht mutmaßen ist die Profession des Historikers, sondern eine Geschichte gut begründet zu rekonstruieren und zu erzählen. Dass dies bei einem kleinen Spezialanbieter schwieriger ist als bei Haupt- und Staatsaktionen oder gut alimentierten „Firmengeschichten“ steht außer Frage: Doch just so können wir vielleicht auch eingefahrene Denkmuster über Vergangenes in Frage stellen.

Am Anfang der Berliner Bronchiol GmbH stand eine Geschäftsidee, der Wunsch einer kleinen Gruppe jüdischer Geschäftsleute auszubrechen aus ihrem Alltagsgeschäft, neben Bestehendes Neues zu setzen, vielleicht gar den großen Coup zu landen. Heinrich Przedecki – wir werden später auf ihn, seine Kompagnons und Nachfolger zurückkommen – betrieb die Firmengründung professionell. Er meldete am 21. März 1900 das Bildzeichen „Bronchiol“ an, eingetragen wurde es am 14. Mai: Der Geschäftsbetrieb sollte kreisen um: „Heilmittel, Rauchtabak und Zigaretten, hauptsächlich Zigaretten, welche aus besonders präparierten Stoffen gefertigt werden“ (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 132 v. 5. Juni, 12). Dieses Warenzeichen Nr. 43751 verkörperte einen noch immateriellen Wert, doch Przedecki überschrieb es als Teil seiner Stammeinlage am 22. Juli 1900 auf die Bronchiol GmbH (Ebd., Nr. 198 v. 21. August, 11). Diese Gesellschaft mit beschränkter Haftung hatte er am 3. Juli 1900 gegründet. Das Stammkapital betrug 20.000 Mark, zwei Geschäftsführer wurden eingesetzt, neben Przedecki auch der Berliner Kaufmann Bernhard Hirschfeld, der zugleich Kapital einzahlte. Das stammte nämlich kaum von Przedecki, der neben dem Warenzeichen aber noch das „Verfahren, die Gesundheitszigarette Bronchiol herzustellen“ mit einbrachte (Ebd., Nr. 278 v. 28. Juli, 15). Die kommerzielle Nutzung des Verfahrens war auf zehn Jahre beschränkt, doch Verlängerung möglich. Nun konnte es losgehen – und es begann der Aufbau der Produktion in der Mittelstraße 23, einer Seitenstraße von Berlins Prachtallee Unter den Linden. Werbung folgte, parallel der Aufbau eines Vertriebs- und Absatznetzwerkes. Doch dann die Hiobsmeldung am 25. Oktober 1900: „Der Geschäftsführer Heinrich Przedecki ist verstorben“ (Ebd., Nr. 259 v. 30. Oktober, 14).

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Bildzeichen Bronchiol (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 132 v. 5. Juni, 12)

Privatpersonen sterben, nicht jedoch juristische Personen. Und so machte man weiter unter Federführung Bernhard Hirschfelds. Offenbar nicht ohne Erfolg, denn das Stammkapital der Bronchiol GmbH wurde am 19. Dezember 1901 auf 40.000 Mark verdoppelt (Ebd. 1901, Nr. 12 v. 15. Januar, 10). Der Ausbau der Firma erforderte Kapital – und Hirschfeld konnte dieses mobilisieren. Über den Geschäftsbetrieb kann man – weiter unten – nur begründet mutmaßen. Hirschfeld blieb Geschäftsführer bis Anfang 1906, wurde dann vom Berliner Kaufmann Siegmund Schoenlank abgelöst (Ebd. 1906, Nr. 23 v. 26. Januar, 15). Dieser agierte bis Anfang 1910, es folgte der Charlottenburger Kaufmann Kurt Fröbus (Ebd. 1910, Nr. 33 v. 8. Februar, 11). Die Bronchiol GmbH wurde nach den anfangs anvisierten zehn Jahren – der üblichen Dauer für den Schutz eines Bildzeichens – allerdings nicht aufgelöst, scheinbar war noch Gewinn zu erzielen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg dürfte sich dies jedoch gewandelt haben. Der Wechsel von Fröbus zum sehr jungen Wilmersdorfer Fräulein Elli Salamonski im Juli 1913 deutet schon auf eine brüchige Fassade hin (Ebd. 1913, Nr. 178 v. 30. Juli, 7). Nach Beginn des Krieges zogen die Verantwortlichen jedenfalls rasch die Konsequenzen aus den daraus resultierenden Schwierigkeiten, die naturalen Rohstoffe ihrer Gesundheitszigarette importieren zu können.

Am 22. November 1914 beschied das Kgl. Amtsgericht Berlin-Mitte: „Die Gesellschaft ist aufgelöst“ (Ebd. 1914, Nr. 277 v. 25. November, 8). Die Liquidation zog sich allerdings hin: Liquidator Julius Mosessohn annoncierte mehrfach: „Gläubiger wollen sich melden“ (Ebd. 1915, Nr. 58 v. 10. März, 8; ebd. Nr. 56 v. 8. März, 9). Das Warenzeichen „Bronchiol“ wurde am 5. August 1915 gelöscht (ebd., Nr. 156 v. 20. August, 12). Mitte 1916 hieß es dann schließlich: „Die Firma ist gelöscht; die Liquidation ist als beendigt angemeldet“ (Ebd. 1916, Nr. 176 v. 28. Juli, 8).

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Firmensitze der Berliner Bronchiol GmbH 1900-1915 (Stadtplan 1913: Wikipedia; Berliner Adreßbuch 1901-1915)

Die wechselvolle Unternehmensgeschichte der Bronchiol GmbH spiegelt sich in ihren Firmensitzen. Anfangs nahe der Prachtallee Unter den Linden angesiedelt, verlagerte sie ihren Sitz wohl 1902 in die Taubenstraße, nahe der Friedrichstraße. Beide standen für das kommerzielle und politische Zentrum der damaligen Reichshauptstadt. 1906/07 verlagerte die Bronchiol GmbH ihren Sitz jedoch nach Wilmersdorf, in die Regensburgerstraße 23. Dies war ein aufstrebendes Viertel im expandierenden Berliner Westen, besaß den höchsten Anteil jüdischer Bewohner aller Bezirke. Doch es war vorrangig Wohn- und Geschäftsgebiet, kaum Gewerbezentrum. Die neuerlichen Adresswechsel in die nähere Umgebung 1914 und 1915 spiegelten die Agonie der Firma, die damals nicht mal mehr über einen Telefonanschluss verfügte. Ella Salamonski, nicht Fräulein, sondern Frau, dürfte wenig zu tun gehabt haben.

Wie bietet man cannabishaltige Zigaretten an?

Die im Juli 1900 hoffnungsfroh gegründete Bronchiol GmbH hatte eigentlich eine einfache unternehmerische Aufgabe. Sie musste ein neues Produkt einführen, gewiss. Doch zugleich musste sie für Asthmazigaretten selbst nicht mehr werben, denn diese waren bekannt, hatten einen klar abgrenzbaren Markt. Cannabis Indica war durch die 1895 wieder einsetzende Werbung für Grimaults „Indische Cigaretten“ ein zwar seltenes, aber doch etabliertes Heilmittel. Auch die Leipziger Firma Robert Paul & Co. (dann Wagner & Wiebe) hatte 1900 einen neuen holzspanartigen Asthmazünder „Pressant“ auf den Markt gebracht, dessen Räuchermasse nicht nur 40 Prozent Stramonium enthielt, sondern auch 10 Prozent Cannabis Indica (Apotheker-Zeitung 15, 1900, 732, Fortschritte der Heilstoffchemie 1946, 85).

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Vom Geheimmittel zur Spezialität (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 183 v. 8. August, 4 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 508 v. 30. Oktober, 18)

Die Bronchiol GmbH offerierte ihre ab Anfang August in Tageszeitungen annoncierte Gesundheitszigarette auch daher als Geheimmittel, also ohne Angabe der Inhaltsstoffe (so noch Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 470 v. 7. Oktober, 19). Schon vor dem Tod Heinrich Przedeckis begann man dann aber, die wichtigsten Bestandteile inklusive des Cannabis Indica anzugeben (Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 495 v. 25. Oktober, 10). Die Asthmazigaretten waren seither eine Spezialität, also ein Pharmazeutikum mit grundsätzlich bekannter Zusammensetzung (Berliner-Börsen-Zeitung 1900, Nr. 544 v. 20. November, 19; Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 301 v. 25. Dezember, 4). Die Firmenangaben wurden von Pharmazeuten nicht in Frage gestellt, sondern weiterverbreitet. Die Bronchiol-Zigaretten bestanden demnach – und das war neu – aus Tabak, Stechapfel, Cannabis Indica, Salpeter und Anisöl (Zeitschrift des Allgemeinen oesterr. Apotheker-Vereines 41, 1903, 874; Eduard Hahn und J[oachim] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel. Ihre Herkunft und Zusammensetzung, 6. verm. u. verb. Aufl., bearb. v. G[eorg] Arends, Berlin 1906, 13). Die aus heutiger Sicht bemerkenswerte Nutzung der „Droge“ Cannabis war vor einhundertzwanzig Jahren offenbar nicht besonders erwähnenswert – was mehr über uns als über unsere Vorfahren aussagt. Asthmazigaretten wurden wegen eines allgemeinen Wirkungsversprechens gekauft, nicht aber wegen bestimmter Inhaltsstoffe. Entsprechend war in der eingangs erwähnten Anzeige wichtig, dass Dr. Abbott „verschiedene Kräuter“ kombiniert hatte. Diese mochten grundsätzlich gefährlich sein – doch wichtiger schien, dass sie wirksam waren. Die Bronchiol-Zigaretten waren gewiss medizinisch wirksame Joints, doch neu – und respiratorisch eher bedenklich – war die ungewöhnliche Kombination von Tabak und dem stark atropinhaltigen Stechapfel. Ihre Positionierung als gezielt einsetzbares Alltagsprodukt begrenzte zugleich die Menge des Konsums. Exzesse waren auch bei asthmatischem Leidensdruck nicht zu erwarten, empfohlen wurde der Konsum von etwa zwei Zigaretten pro Tag.

Auch ansonsten war die Vermarktung der Bronchiol-Zigarette recht konventionell, entsprach dem Standard gängiger öffentlich beworbener Heilmittel. Das galt etwa für Prominentenwerbung. Die Stelle heutiger B- und C-Sternchen nahmen damals natürlich wohlangesehene Adelige ein (Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 395 v. 27. August, 3). Die Berliner Macher verwiesen, kaum ohne ein kleines Entgelt für deren darbende Haushalte, zum einen auf Maria Luise von Hohenzollern-Sigmaringen (1845-1912), durch Heirat mit Prinz Philipp von Belgien (1837-1905) immerhin Prinzessin von Belgien. Zum anderen nannten sie Gabriele von Hatzfeld-Wildenburg (1825-1909), die aus einem traditionsbewussten hessischen Geschlecht entstammte und deren Linie im Euskirchener Raum residierte, nicht unweit der belgischen Grenze. Dem gängigen Drehbuch einschlägiger Anzeigen folgte auch der Bezug auf einen akademischen Gewährsmann, der sich lobend über das neue Präparat ausgesprochen hatte. Bei dem erwähnten praktischen Arzt Dr. Krüger dürfte es sich um den in der Schöneberger Hauptstraße 135 praktizierenden Dr. Samuel Krüger gehandelt haben (Berliner Adressbuch für 1900, T. 1, 824). Przedecki, Hirschfeld und Krüger dürften sich gekannt haben. Ob die erwähnten Tests mit „verschiedenen Asthmatikern“ (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 187 v. 12. August, 3) wirklich stattgefunden hatten ist unklar, aber nicht ausgeschlossen.

Bevor wir dieses jüdische Netzwerk näher beleuchten, noch ein Verweis auf die durchaus ungewöhnlich Art des Absatzes. Anders als Grimault, Espic oder Kraepelien & Holm, die viel Wert auf ansprechende Kleinpackungen legten – was auch deshalb ungewöhnlich war, da Zigaretten damals vielfach per Stück verkauft wurden – setzte die Bronchiol GmbH tendenziell auf den Dauerkunden. Entsprechend bot sie die apothekenpflichtigen Zigaretten vorrangig in Pappkartons mit je 100 Stück an. Trotz des vereinheitlichen Namens gab es den Markenartikel Bronchiol jedoch nicht in nur einer Zusammensetzung, sondern er wurde in vier unterschiedlichen Mischungen zu 15, 10, 7,50 und 5 Mark angeboten (Vossische Zeitung 1901, Nr. 3 v. 3. Januar, 9). Das klingt teuer – der Jahresverdienst von Arbeitern lag damals bei ca. 1.500 Mark –, doch die Preise pro Stück variierten zwischen 15 und 7,5 Pfennig. Das war deutlich weniger als bei den Wettbewerbern: Bronchiol-Zigaretten waren also relative Preisbrecher. Die Preisunterschiede der Mischungen resultierten dabei nicht aus den eigentlichen Wirkstoffen, sondern aus dem verwandten Tabak. Es gab normale und milde Varianten, die dann nochmals nach Männern und Frauen – Entschuldigung, Herren und Damen – gestaffelt waren (Neue Freie Presse 1900, Nr. 12912, 13; Münchner Neueste Nachrichten 1902. Nr. 91 v. 23. Februar, 11). Die Bronchiol GmbH war sich ihres Preisvorteils bewusst, warb in ihren Anzeigen auch mit den Vergleichspreisen für gängige 10 Stück-Packungen (Dresdner Nachrichten 1901, Nr. 69 v. 10. März, 19). Zudem offerierte sie Probeschachteln mit weniger Zigaretten, so dass Kunden sie anfangs schon für 60 Pfennig ausprobieren konnten. Es ist anzunehmen, dass bei der Markteinführung auch Gratisproben angeboten wurden; doch ein Beleg hierfür fehlt. Insgesamt gelang es der Bronchiol GmbH jedoch nicht, die 100er-Vorratspackungen als neuen Standard zu etablieren. Schon Ende 1900 wurden vereinzelt Kartons à 10, 20, 50 und 100 Stück angeboten (Hamburger Nachrichten 1900, Nr. 280 v. 29. November, 11). Die Kunden verlangten wohl üblichere Packungen, auch weil dann der Preisvorteil offenkundig war. In Köln wurden 10er-Kartons für 50 und 75 Pfennige angeboten (Kölner Local-Anzeiger 1901, Nr. 123 v. 3. Mai, 8). Nach der Markteinführung, also ab Frühjahr 1901, erhielt man die cannabishaltigen Asthmazigaretten in vier Mischungen à 10, 20, 50 und 100 Stück, also in insgesamt sechszehn Varianten (Westfälische Zeitung 1902, Nr. 9 v. 11. Januar, 7). Das war typisch für eine Zeit erst beginnender Verpackungsnormierung, erhöhte aber den Lageraufwand in den von immer neuen Angeboten vielfach berstenden Apotheken. Die Preise blieben während der gesamten Produktionszeit identisch, die damals geltende Preisbindung unterband lokale Sonderangebote. Auch im Ausland blieb die Preisabstufung ähnlich wie im Deutschen Reich (L’Imperial 1902, Nr. 6536 v. 23. März, 12).

Die Bronchiol GmbH als Netzwerk jüdischer Geschäftsleute

Bevor wir noch genauer auf das Absatz- und Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH eingehen, ist ein Blick auf die eigentlichen Akteure, also die Berliner Unternehmer zu werfen. Während die französischen Anbieter vorrangig Katholiken, die holländischen Protestanten waren, waren die Akteure in der Reichshauptstadt fast durchweg jüdischen Glaubens. Man kann die Bronchiol GmbH als Teil der besonderen Fähigkeit einer überdurchschnittlich gebildeten und vielfach auch fleißigeren Minderheit sehen, neue Märkte zu antizipieren, neue Produkte und Dienstleistungen passgenau anzubieten und sie mittels virtuos gehandhabter Reklame erfolgreich anzupreisen (Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933, Frankfurt a.M. 2011, passim). Während des Kaiserreichs entwickelte sich insbesondere Berlin zum Paradebeispiel einer deutsch-jüdische Symbiose und repräsentierte den atemberaubenden Aufstieg einer leistungsbereiten Minderheit, die noch Mitte der 1920er Jahre nicht weniger als 30 Prozent aller direkten Steuern der Reichshauptstadt trug. Eine genauere Analyse der jüdischen Erfolge wird jedoch Schattierungen in diesem Gloriolenschein sehen (Uwe Spiekermann, Paul Lerner und Anne Schenderlein, Jews, Consumer Culture, and Jewish Consumer cultures: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Jewish Consumer Cultures in Nineteenth and Twentieth-Century Europe and North America, Cham 2022, 1-39, insb. 1-24) – auch die Geschichte der Bronchiol GmbH zeigt die beträchtlichen Schwierigkeiten, Wachstumsgeschichten fortzusetzen.

Beginnen wir unsere biographische Erkundung mit dem eigentlichen Macher, mit Heinrich Przedecki (1850-1900). Bei der Familie Przedecki handelte es sich um aschkenasische Juden aus der Stadt Moosburg im heutigen Polen (wo nicht anders vermerkt Angaben n. Family tree Przedecki / Perdeck / van Perdeck (gerritspeek.nl) bzw. den von Ancestry.com digitalisierten Personenstandsakten des Landesarchivs Berlin). Heinrich Przedecki wurde 1850 in Warschau als Sohn von Abraham Przedecki (1805-1872) und seiner Frau Ernestine, geb. Lubliner (1811-1887), geboren. Er heiratete 1876 Martha Ginsberg [auch Giensberg] (1856-1934), mit der er sechs Kinder hatte: Albert (1877) Predeck [Namenswechsel 1908], Else Elisabeth (1878), Rosalie (1879), Salo (1882), Leopold Max (1885) Predeck [Namenswechsel 1908] und Morris Martin (1893). Heinrich Przedecki starb am 25. September 1900 im Alter von 50 Jahren.

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Die Przedeckis als Pionierunternehmer der Zigarrettenproduktion (Kladderadatsch 20, 1867, Nr. 59/60, 14)

Zuvor lebte und arbeitete er im Familienverbund seines Bruders Stanislaus (1834-1883) und dessen Sohn Ludwig (1867-1926). Ersterer hatte 1862 zusammen mit Emanuel Kary in Breslau die „Sultan“ gegründet, die türkische Tabake importierte und zu Zigaretten weiterverarbeitete (Sammlung der deutschen Handels-Register, Bd. 1, Köln 1862, 186). Zusammen mit Joseph Huppmann (1814-1897), der 1862 in Dresden den Marktführer Compagnie Laferme gründete, war Stanislaus Przedecki einer der Pionierunternehmer der deutschen Zigarettenindustrie. Die spätere Selbstbezeichnung als „größte u. älteste Fabrik Preußens“ unterstrich dies (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1895, T. I, 260). Stanislaus‘ Bruder Heinrich erhielt 1874 Prokura in dem neuen Berliner General-Depot der Türkischen Cigaretten- und Tabakfabrik „Sultan“ und leitete dessen Geschäft in der Friedrichsstraße 196 (Deutscher Reichsanzeiger 1874, Nr. 253 v. 28. Oktober, 4). 1876 übernahm Heinrich kurzfristig das General-Depot als Eigentümer, 1877 ging es dann an seinen Neffen Ludwig Przedecki über (Ebd., 1876, Nr. 81 v. 3. April, 7; ebd. 1877, Nr. 107 v. 8. Mai, 5). Der inzwischen verheiratete Heinrich agierte weiterhin für die „Sultan“, führte auch den Laden 42 („Türkisches Zelt“) in der 1873 gegründeten Kaiserpassage, die Friedrichstraße und Unter den Linden verband (Berliner Adreßbuch 1877, T. I, 214). Parallel wurde im Namen seiner Frau Martha die Fabrik Turkestant in Berlin Unter den Linden 20 gegründet, Heinrich erhielt Prokura (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 210 v. 7. September, 3). Die Familie Przedecki zelebrierte die Exotik der Angebote aus dem Vorderen Orient, lange bevor Heinrich Präparate mit Cannabis Indica produzierte und vertrieb.

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Werbung unter eigenem Namen (Kölnische Zeitung 1878, Nr. 325 v. 22. November, 8 (l.); Neueste Nachrichten 1878, Nr. 328/9 v. 24. November, 14)

1878 folgte eine Werbeoffensive im deutschen Sprachraum, zugleich aber wurden Grenzen der Expansion erkennbar. Der Schweizer „Nebelspalter“ machte Heinrich Przedeckis Säumigkeit bei der Zahlung von Insertionsschulden öffentlich (Nebelspalter 5, 1879, H. 37, s.p.). Man konsolidierte, der junge Unternehmer übernahm später Läden in der Friedrichstraße und in der Kaiserpassage. Gleichwohl wurde 1893 ein Konkursverfahren über sein Vermögen eröffnet (Deutscher Reichsanzeiger 1893, Nr. 153 v. 29. Juni, 14; Echo der Gegenwart 1893, Nr. 149 v. 1. Juli, 10). Es folgte ein Zwangsvergleich, der 1894 schließlich rechtlich bestätigt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1893, Nr. 243 v. 10. Oktober, 10; ebd. 1894, Nr. 76 v. 31. März, 15; ebd., Nr. 114 v. 17. Mai, 10; Nr. 133 v. 8. Juni, 10). Damit konnte der Konkurs abgewandt werden. Die Gründe für diesen Ritt am Abgrund sind unbekannt: Heinrich Przedecki, der in der anfangs modischen Kaiserpassage einen zweiten Laden resp. ein Lager für Bernstein-, Meerschaum-, Leder- und Luxuswaren errichtet hatte (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1884, T. 1, 769; ebd., 1888, T. I, 873), dürfte jedoch der wachsenden Konkurrenz durch leitungsfähigere Wettbewerber wie Lubatsch, Wertheim, Hermann Tietz, Jandorf, Israel, etc. kaum mehr gewachsen gewesen sein. Ihm blieb in den späten 1890er Jahren noch sein Laden 42 in der Kaiserpassage und der Hoflieferantentitel S. Königl. Hoheit des Prinzen Friedrich Karl von Preußen (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1899, T. I, 1141).

Dieser relative Bedeutungsverlust kontrastierte deutlich mit dem Aufschwung der Breslauer Zigarettenfirma, die derweil von Heinrichs beiden Neffen Ludwig und Joseph (1863-1929) geleitet wurde. Ihr Erfolg gründete auf eher hochpreisigen Zigaretten, doch schon im späten 19. Jahrhundert bot die Firma auch erste Filter („Mundstücke“) an, um die Schäden durch das Rauchen zu minimieren. 1901 siedelte die mittlerweile zur Egyptian Cigarette Company umbenannte Firma nach Berlin über (Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 326 v. 15. Juli, 13). Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigte sie etwa 700 Arbeiter und produzierte jährlich mehr als 200 Millionen Zigaretten (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1912, T. IV, 506). Vor dem Hintergrund des nur knapp abgewendeten Konkurses und angesichts des bemerkenswerten unternehmerischen Erfolgs anderer Familienmitglieder war die Bronchiol GmbH für Heinrich Przedecki mehr als eine einfache Firmengründung. Sie sollte seinen Weg zurück zu neuerlichem Erfolg bahnen. Die für Asthmazigaretten unübliche Zumengung von Tabak zu Stechapfel und Cannabis Indica lässt sich zudem eher mit seinem Berufsfeld als mit Francis P. Abbots vermeintlicher Mixtur erklären.

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Gesundheitsangebot für den konventionellen Kunden: Zigaretten mit Mundfiltern aus dem Angebot von Heinrich Przedeckis Neffen (Die Woche 7, 1905, Nr. 4, VII)

Kommen wir zu Przedeckis Kampagnon, dem Berliner Kaufmann Burkhard Hirschfeld (1855-1938). Auch er war anfangs im Handel tätig, 1883-1892 übernahm er das Handelsgeschäft von „Hirschfeld & Goldschmidt“ (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 166 v. 18. Juli, 8; ebd. 1892, Nr. 31 v. 4. Februar, 10). Auch er übernahm rasch bedeutungsvollere Aufgaben, war von 1888 bis 1892 Brandenburger Generalbevollmächtigter der Hamburger Janus AG, einem Versicherungsunternehmen mit 1,5 Million Mark Grundkapital und einer Bilanzsumme von 1889 mehr als 24 Million Mark (Ebd. 1888, Nr. 319 v. 19. Dezember, 8; ebd. 1890, Nr. 100 v. 23. April, 8). 1892 trat an seine Stelle sein langjähriger Geschäftspartner Otto Goldschmidt (Ebd. 1892, Nr. 38 v. 12. Februar, 10). Mit diesem hatte Burkhard Hirschfeld zuvor die offene Handelsgesellschaft „Wechselstube Hirschfeld & Goldschmidt“ mit einem Geschäftslokal in der Alexanderstraße 50 gegründet (Ebd. 1892, Nr. 26 v. 30. Januar, 10). Das relative Auf und Ab mündete 1895 in ein Konkursverfahren über das Vermögen Bernhard Hirschfelds, das ebenso wie im Falle Heinrich Przedeckis mit einem Zwangsvergleich endete und somit aufgehoben wurde (Ebd. 1896, Nr. 28 v. 31. Januar, 16). Auch für Hirschfeld war die Bronchiol GmbH also eine Chance, geschäftliche Krisen zu überwinden, neue berufliche Ufer zu erreichen. Nach seinem Ausscheiden aus der Bronchiol GmbH – über deren Gründe ist nichts bekannt – arbeitete Hirschfeld weiter in seiner Wechselstube, wurde Gesellschafter, ab 1909 dann Inhaber der in Schöneberg gelegenen Auskunftei „Reform“ (Ebd. 1909, Nr. 91 v. 19. April, 37). Auf diese konzentrierte er sich bis in die 1930er Jahre (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1930, T. I, 72; Berliner Handels-Register 67, 1931, 15). Der unverheiratete Bernhard Hirschfeld starb am 16. April 1938 im Jüdischen Altersheim in der Lützowstraße 48 (Landesarchiv Berlin, Personenstandsregister, Sterberegister, Nr. 300 via Ancestry.com).

Hirschfelds Nachfolger als Geschäftsführer war der 1865 geborene Siegmund Schoenlank. Er hatte seine ersten Sporen in der Handelsgesellschaft Steinau & Schoenlank verdient, die er 1888 übernahm und unter eigenem Namen fortführte (Deutscher Reichsanzeiger 1888, Nr. 266 v. 18. Oktober, 8). Parallel zu seiner Arbeit für die Bronchiol GmbH betrieb er weiterhin ein eigenes Handelsgeschäft (Ebd. 1908, Nr. 127 v. 30. Mai, 13). Nach seinem Ausscheiden 1910 gründete der in Wilmersdorf ansässige Schoenlank ein Kino mit Ausschank. Expansionspläne mündeten 1911 in die Tip-Top Kino GmbH, doch umgesetzt wurden diese nicht (Ebd. 1912, Nr. 31 v. 2. Februar, 11).

Während alle anderen Mitglieder der Führungsriege „mosaischen“ Glaubens waren, bildete der von 1910 bis 1913 aktive Geschäftsführer Kurt [Alexander] Fröbus eine Ausnahme, denn er wurde 1877 als Katholik getauft (Landesarchiv Berlin Personenstandsregister, Geburtsregister, Nr. 43). Er arbeitete im elterlichen Betrieb, einem 1875 gegründeten Agentur- und Kommissionsgeschäft. Er übernahm dieses Anfang 1913, schied dann aus der Bronchiol GmbH aus (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1911, T. 1, 718; Ebd. 1914, T. 1, 773; Handels-Register des Königlichen Amtsgerichts Berlin-Mitte 49, 1913, 254). Das in unmittelbarer Nähe vom Kaufhaus des Westens gelegene elterliche Geschäft führte er auch in den 1920er Jahren weiter (Berliner Handels-Register 59, 1923, 163).

Letzte Geschäftsführerin war die einzige Frau, Elli Salamonski (1886-1918). Sie stammte aus einer wohlsituierten Berliner Familie, die schon in den 1870er Jahren südlich vom Gendarmenmarkt ein Auskunfts-Bureau für Handel und Gewerbe etabliert hatte (Berliner Wespen 12, 1879, Nr. 13 v. 28. März, 1). Nach der Jahrhundertwende residierte es in der Taubenstraße 35, von 1902 bis 1906 auch Sitz der Bronchiol GmbH. Dies deutet auf Kapitalverflechtungen hin. Elli Salamonski lebte ihrerseits in der Wilmersdorfer Bayerischen Straße 29 (Berliner Adreßbuch für das Jahr 1914, T. III, 55), ein Haus neben dem damaligen Sitz der Bronchiol GmbH. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die junge Dame kein Beleg für die wachsende Frauenemanzipation dieser Zeit war, sondern dass sie als Name in einem Abwicklungsprozess diente. Ihre persönliche Lebensgeschichte war jedenfalls traurig, todesnah. Geboren als am 3. September 1886 heiratete Elli im September 1911 den aus Braunschweig stammenden Kaufmann Georg Katz (LA Berlin, Personenstandsregister, Geburtsregister, Nr. 72; ebd., Heiratsregister, Nr. 417). Ihr Vater war damals schon verstorben, die Mutter leitete das Auskunfts-Bureau, sie selbst war ohne Beruf. Elf Monate später gebar sie einen toten Sohn (Ebd., Sterberegister, Nr. 1270). Ellis Gatte starb 1918 im Alter von 36 Jahren, sie selbst folgte knapp zwei Wochen später am 19. Dezember im Alter von 32 Jahren (Ebd., Sterberegister, Nr. 1270). Auch der Liquidator Julius Mosessohn (1853-1921) war Mitglied dieser eng vernetzten Gruppe jüdischer Geschäftsleute. Er heiratete, doch die Ehe blieb kinderlos. Seinen Tod meldete Kurt Salamonski den Behörden, Ellis Bruder (LA Berlin, Personenstandsregister, Sterberegister, Nr. 30).

Fassen wir die biographischen Informationen zusammen, so handelte es sich bei den führenden Personen der Bronchiol GmbH um gut qualifizierte und eng vernetzte Kaufleute, die im jüdischen Milieu von Berlin-Mitte, Schöneberg und Wilmersdorf arbeiteten und lebten. Sie alle erreichten Wohlstand, wirklichen Reichtum aber repräsentierten sie nicht. Sie alle dürften in der Bronchiol GmbH eine Chance gesehen haben, mit einem gezielten Investment, mit ihnen bekannten Arbeiten nicht nur Einkünfte zu erzielen, sondern ihren materiellen Lebensunterhalt zu verbessern. Man kann es auch anders fassen: Französische Ideen exotischer Cannabiszigaretten wurden von einem US-Amerikaner aufgegriffen und verfeinert, diese wiederum dienten aus dem Osten des Deutschen Reiches stammenden jüdischen Geschäftsleuten dazu, ein bisher stets importiertes Konsumgut im deutschen Umfeld zu produzieren: Die Bronchiol GmbH war insofern recht typisch für das Berlin dieser Zeit. Det war Berlin.

Aufbau eines Vertriebs- und Absatznetzwerkes

Der Absatz der Bronchiol-Zigaretten war einfach und schwierig zugleich. Der übliche Weg war das Versandgeschäft. Dazu erforderlich war eine breit gestreute Reklame, waren ansprechende Verpackungen und großtönende Wirkungsversprechen. Dazu eigneten sich vor allem Novitäten, vermeintlich nie dagewesene Angebote. Die Preise waren meist relativ hoch, die Produkte in der Regel überteuert. Bei Asthmazigaretten hatte man es jedoch mit einem etablierten Heilmittel zu tun, das über Apotheken verkauft und in der Öffentlichkeit eher moderat erinnernd beworben wurde. Ein Preisbrecher wie die Bronchiol-Zigaretten hätte gewiss die ungewöhnliche Kombination von Tabak, Stechapfel und Cannabis Indica preisend hervorheben können. Doch es ist nachvollziehbar, dass man versuchte, seinen Hauptvorteil, den Preis, im bestehenden Netzwerk auszuspielen. Das war übersichtlich und handhabbar: 1899 gab es 5.391 Apotheken im Deutschen Reich (Vossische Zeitung 1899, Nr. 603 v. 24. November, 11). Sie sollten möglichst allesamt Bronchiol-Zigaretten mit der offizinellen Heilpflanze Cannabis Indica anbieten.

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Wachsende Vertriebsnetze in Berlin (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 438 v. 19. September, 12 (l.); ebd., Nr. 496 v. 23. Oktober, 11)

Blicken wir erst einmal auf den Heimatmarkt Berlin. Der Vertrieb begann wenig überraschend mittels verschiedener Apotheken mit jüdischen Besitzern. Erste Anbieter waren die Apotheke zum König Salomo in der Charlottenstraße 54 und die Löwen-Apotheke in der Jerusalemerstraße 30 (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 193 v. 19. August, 4). Anfangs wurde noch die A. Lucae-Apotheke, Unter den Linden 53 genannt, die dann aber wieder absprang (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 183 v. 8. August, 4, nicht mehr vorhanden in ebd., Nr. 190 v. 16. August, 4). Man begann den Vertrieb also einerseits im jüdischen Berlin, anderseits in der unmittelbaren Nachbarschaft.

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Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH in Berlin 1901 (Stadtplan 1902: Wikipedia; auf Basis von Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1901, Nr. 3 v. 4. Januar, 10)

Anschließend folgte man einem räumlichen Raster, um den Weg für die Kunden möglichst gering zu halten. Die Werbung informierte durchweg über die lokalen Kaufmöglichkeiten. Das war typisch für ein Nischenprodukt, denn die für Massenangebote übliche Werbung durch Emailleschilder oder Schaufensterplatzierungen war Produkten mit höherem Umsatz vorbehalten.

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Vertriebsnetz der Bronchiol GmbH in Köln 1902 (Stadtplan 1900: Mayer via Wikipedia; auf Basis von Kölner Local-Anzeiger 1902, Nr. 71 v. 15. März, 3)

Das Absatznetzwerk war, wie die Lage der Apotheken selbst, räumlich vorgeprägt. In den Großstädten war es wichtig, nicht nur das Zentrum zu besetzen, sondern auch die Wohnviertel der einkommensstärkeren Bewohner abzudecken. Das gelang zumindest in den Metropolen. Ähnlich wie in Köln sah es in den meisten Großstädten des Deutschen Reiches aus. Dabei wurde dem massiven Städtewachstum durchaus Rechnung getragen. Neben die Kölner Apotheken traten etwa weitere drei Vertriebsorte im westlich gelegenen Köln-Ehrenfeld und im 1914 eingemeindeten Mülheim a. Rhein.

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Erweitertes Netzwerk im Rheinland (Bonner Zeitung 1901, Nr. 123 v. 25. Mai, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1901, Nr. 374 v. 25. Mai, 4)

Die Großstädte waren zugleich Ausgangspunkte für die weitere Durchdringung der umliegenden Mittelstädte. Die Anzeigen verdeutlichen ein analoges Vorgehen wie in den Großstädten: In Bonn konnte man 1901 Bronchiol-Zigaretten in vier Apotheken kaufen, zudem im erst 1904 eingemeindeten Poppelsdorf. Ähnlich sah es in Aachen aus, denn hinter dem Hinweis auf „alle“ Apotheken der Stadt dürften sich wenig mehr Apotheken verborgen haben, mochte die aufstrebende Grenzstadt damals auch mehr als doppelt so viele Einwohner wie die spätere Bundeshauptstadt zählen.

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Wachstum über Großhandels-Vertreter (Berichte der Deutschen Pharmaceutischen Gesellschaft: Berichte für 1901, Berlin 1903, Werbeanhang, s.p.)

Der Aufbau derartiger Vertriebsnetzwerke erfolgte dezentral. Die Bronchiol GmbH schloss dazu Verträge mit bestehenden Großhandelsfirmen ab, die ihnen exklusive Rechte für eine bestimmte Region gewährten, die ihnen aber zugleich die Aufgabe zuwiesen, regionale Netzwerke aufzubauen und zu pflegen. Die Bronchiol GmbH akzeptierte also die damals schon nicht mehr unumstrittene Lieferkette von Produktion über Großhandel hin zum Einzelhandel. Das bedeutete zugleich feste Handelsspannen, so dass die Gewinne niedriger waren als etwa bei einem Versandgeschäft. Dafür aber konnte man die Reputation lang ansässiger Unternehmen nutzen.

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Großhandelsdepots der Bronchiol GmbH im Deutschen Reich und im Ausland 1903 (Karte: Wikipedia; auf Basis von Berichte, 1903, s.p.)

Mit Hilfe etablierter Absatzstrukturen für Pharmazeutika gelang es der Berliner Bronchiol GmbH ihre Asthmazigarette binnen nur eines Jahres in den meisten Regionen des Deutschen Reiches, im deutschsprachigen Raum und in westeuropäischen Staaten anzubieten. Das ist hervorzuheben, denn noch hatten die meisten Produkte regionale Schwerpunkte, war der einheitliche nationale Markt nur eine Zukunftsvision. Der Markenartikel Bronchiol war jedenfalls fast überall zu erhalten, denn viele Apotheken versandten ihrerseits an die auswärtige, insbesondere die ländliche Kundschaft. Das dürfte vornehmlich für den Nordosten und den Nordwesten gegolten haben, denn dort fehlten regionale Großhandelsvertreter. Möglich, dass Apotheken in diesen Gebieten auch direkt von der Berliner Zentrale beliefert wurden.

Die Bronchiol GmbH war ein kleines Unternehmen, Beschäftigten- und Umsatzzahlen liegen allerdings nicht vor. Es war zugleich aber ein multinationales Unternehmen, stand für die engen wirtschaftlichen Verflechtungen in der Hochzeit der ersten Globalisierung. Gleichwohl dürfte der Anteil der Auslandsmärkte am Gesamtumsatz überschaubar gewesen sein. Das zeigte sich schon im cisleithanischen Österreich. Die erste mir bekannte Anzeige erschien am 4. August 1900, also vor Beginn des geordneten Absatzes in Berlin: Darin hieß es anpreisend: „Anerkannt vorzüglich im Geschmack, die Athemnot lindernd, von Aerzten und hohen Persönlichkeiten wiederholt bezogen. Diese Asthma-Cigaretten Bronchiol nach dem Präparat des Dr. Abbot sind sehr beliebt und werden von der Bronchiol-Gesellschaft m.b.H. in Berlin, Mittelstrasse 23, versendet gegen Nachnahme oder vorherige Einsendung des Betrages“ (Neue Freie Presse 1900, Nr. 12912 v. 4. August, 13).

21_Wiener Caricaturen_1900_08_12_Nr33_p9_Österreichs Illustrierte Zeitung_13_1903-04_H45_p907_Bronchiol_Asthma_Medizinalzigaretten_Versandgeschäft

Werbung ohne Angaben zur Zusammensetzung (Wiener Caricaturen 20, 1900, Nr. 33 v. 12. August, 9 (l.); Österreichs Illustrierte Zeitung 13, 1903/04, H. 45, 907)

In Österreich war die rechtliche Lage schwierig. Zum einen mussten Ausländer eine Firmendependance gründen, um im Binnenmarkt direkt verkaufen zu können. Zum anderen waren die Behörden restriktiver als ihre deutschen Kollegen; der Import von Grimaults Indischen Zigaretten war dort seit Anfang der 1880er Jahre verboten. Zudem gab es in der k.u.k.-Monarchie bereits ein leistungsfähiges einheimisches Angebot. Die Apotheker-Dynastie von Trnkóczy bot seit den frühen 1880er Jahren cannabishaltige Asthmazigaretten an, die per Versandgeschäft und über Apotheken gekauft werden konnten. In der Habsburger Monarchie konnte man sie dort allerdings nicht direkt kaufen, sondern benötigte ein ärztliches Rezept (Pharmaceutische Post 29, 1896, 584). Entsprechend beließ es die Bronchiol-Gesellschaft bei Versandangeboten per Nachnahme oder Vorkasse in Mark.

22_Fremden-Blatt_1899_03_25_Nr24_p10_Innsbrucker Nachrichten_1881_06_20_Nr137_p2128_Asthma_Medizinalzigaretten_Trnkoczy_Cannabis_Laibach

Überlegener Marktführer: Anzeigen für Trnkóczy Asthmazigaretten (Fremden-Blatt 1899, Nr. 24 v. 25. März, 10 (l.); Innsbrucker Nachrichten 1881, Nr. 137 v. 20. Juni, 2128)

Auch in der Schweiz war die rechtliche Lage herausfordernd. Die Sanitätsbehörden waren kantonal organisiert, doch 1900 hatten sich die wichtigsten Kantone der Deutsch-Schweiz zur Kontrollstelle des Konkordats zur Bekämpfung des Geheimmittelwesens (und zum Schutz der einheimischen Pharmaindustrie) zusammengeschlossen (Der Bund 1909, Nr. 70 v. 11. Februar, 1). Ihre erste, 1901 vorgelegte Liste vom 15. April 1901 enthielt 611 Präparate, darunter auch die Bronchial-Zigaretten aus Berlin (Amtsblatt für den Kanton Zürich vom Jahre 1908, Zürich 1909, 307). Das bedeutete kein Verbot, wohl aber Werbeeinschränkungen. Das System von Positivlisten war allerdings höchst lückenhaft: Die Grimaults Indische Zigaretten oder aber die Asthma-Zigarillos des Frankfurter Apothekers Neumeier wurden durchaus beworben (Der Bund 1904, Nr. 77 v. 17. März, 5; Neue Zürcher Zeitung 1904, Nr. 15 v. 15. Januar, 3).

23_Feuille d'Avis de Neuchatel_1902_04_16_Nr086_p1_Jorunal de Jura_1902_02_26_Nr48_p4_Bronchiol_Asthma_Medizinalzigaretten

Sachliche Wiederholung gängiger Informationen und Versprechungen (Feuille d’Avis de Neuchatel 1902, Nr. 86 v. 16. April, 1 (l.); Journal du Jura 1902, Nr. 48 v. 26. Februar, 4)

Deutlich einfacher war der Absatz allerdings in der Romandie, also der französischsprachigen Westschweiz. Dort konnte für die cannabishaltigen Zigaretten geworben werden, und dort etablierten die beiden Schweizer Großhandelsdepots Absatznetzwerke wie im Deutschen Reich (L’Imperial 1902, Nr. 6536 v. 23. März, 12; La Tribune de Genève 1902, Nr. 114 v. 18. Mai, 2; La Liberté 1902, Nr. 142 v. 22. Juni, s.p.). Insgesamt dürfte sich die Absatzlage vor dem Ersten Weltkrieg jedoch weiter verschärft haben: In Zürich empfahl die lokale pharmazeutische Kontrollstelle 1911 ein Verbot der Berliner Medizinaljoints (Journal Suisse de Chimie et Pharmacie 49, 1911, 141)

Bronchiol-Zigaretten waren auch in den Niederlanden und in Großbritannien erhältlich, gewannen dort aber keine größere Bedeutung, auch wenn der Londoner Großhändler Newbery & Co. zu den führenden Anbietern von „Patent Medicine“ gehörte (Alan Mackintosh, The Patent Medicines Industry in late Georgian England: A Respectable Alternative to both Regular Medicine and Irregular Practice, Social History of Medicine 30, 2017, 22-47). In Frankreich, der eigentlichen Heimat der Asthmazigaretten, fand ich keine Hinweise auf Bronchiol. Dass das Präparat zeitgleich im Reichsland Elsass-Lothringen frei verfügbar war, unterstreicht aber nochmals die Bedeutung staatlicher Regulierung auch in den recht freien Gesundheitsmärkten dieser Zeit.

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Notiz für Fachleute (Times 1902, Nr. 36782 v. 31. Mai, 19)

Die Werbung für Bronchiol-Zigaretten

Bronchiol war 1900 nicht nur ein neuartiges Präparat, sondern ein erster Markenartikel im Nischenmarkt der Asthmamittel. Während die Wettbewerber ihre Produkte meist nach dem Anbieter benannten, handelte es sich nun um einen abstrakter Begriff, der das Wirkungsfeld suggestiv benannte. Die Idee war einfach: Ähnlich wie Aspirin oder Odol, die tradierte Märkte für Schmerzmittel oder Mundwasser neu definierten und alte, nach Herstellern benannte Angebote vom Markt verdrängten, sollte auch die deutlich preiswertere und gleichwohl „unbedingt“ wirksame Bronchiol-Zigarette den Markt aufrollen und dominieren. Dies war Teil einer umfassenden Kommerzialisierung der Alltagssprache, die nun von zehntausenden neuer Begriffe und Sprachbilder mitgeprägt wurde: „Die moderne Reklame hat nun in großen Mengen zum Teil ganz merkwürdige Wort- und Bildzeichen erzeugt, wie Odol und Trybol, Carminol und Bronchiol, Javol und Floreol, Ni O ne und Wuk, Maggi zum Würzen der Suppen, Hundolin und Petrolina“ (Gebrauchsmuster und Warenbezeichnungen, Berliner Tageblatt 1904, Nr. 180 v. 9. April, 8). „Bronchiol“ war im Trend dieser Zeit: Fachbegriffe wurden in die Alltagssprache übertragen, gewannen als Markenartikel einen eigenen Charakter. Bronchiol war Teil des Siegeszuges neuartiger Endungen, wie -in, -on, -one, -ma, -en, -al, -ta, -il, -ol. Neue Produkte hießen nun Aspirin, Brillantine, Tropon, Kaloderma, Sanatogen, Duotal, Odonta, Pomeril, Odol oder eben Bronchiol (Richard Palleske, »Glühweinnol«. Eine neue sprachliche Modenarrheit, Zeitschrift des Allgemeinen Sprachvereins 18, 1903, Sp. 43-45; Ernst Wülfing, Hundolin und Petrolina […], Scranton Wochenblatt 1904, Nr. 1 v. 7. Januar, 6).

Bronchiol repräsentierte gleichermaßen den sprachlichen Wandel der pharmazeutischen Angebote und der Zigarettenindustrie. Das war auch Folge massiver Defizite des Rechtsschutzes. Noch galt das überholte Markenschutzgesetz von 1874, erst 1904 sollte das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen ermöglichen, neue Wortzeichen (neben Bildzeichen) einzutragen und damit zu schützen. In der Zigarettenbranche, zumal in Berlin, erlaubte das fröhliche Betrügerei. Geheime Druckereien entstanden, „welche sich lediglich mit der Anfertigung nachgemachten Cigarettenpapiers und falscher Etiketten befaßten“ (Gebrauchsmuster, 1904). „Bronchiol“ stand begrifflich also für Seriosität und Modernität, auch deshalb verwiesen die Anzeigen auf das von Heinrich Przedecki zuerst beantragte Bildzeichen Nr. 43751.

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Karge Information mit Wirkungsversprechen (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 424 v. 11. September, 11 (l.); Badische Presse 1900, Nr. 241 v. 16. Oktober, 3)

Die Bronchiol GmbH konzentrierte ihre Werbemaßnahmen – anders als die Mehrzahl der Geheimmittelproduzenten – auf Anzeigen in Tageszeitungen. (Teurere) Annoncen in Zeitschriften gab es, doch sie blieben Ausnahmen (Illustrirte Zeitung 1900, Nr. 2980, 220). Die kleinen Hinweise finden sich meist im hinteren Anzeigenteil der Zeitungen, hoben sich von den vielfach visuell anspruchsvolleren Reklamen für andere Produkte kaum ab. In den nie bebilderten Anzeigen dominierten werblich drei Aspekte: Das Einsatzfeld – Asthma –, den Markennamen – Bronchiol – und die Herkunft – Berlin. Mit dieser Trias glaubten die Anbieter eine zurückhaltende Werbung mit Erfolg am Verkaufstresen der Apotheken verbinden zu können. Hinzu kam – die Anbieter waren liberale Verfechter des Deutschtums – der immer mit zu denkende nationale Gegensatz. Deutsche Pharmazeutika dominierten die Weltmärkte; und auch im Heimatmarkt sollte man tunlichst dem deutschen Präparat den Vorrang geben.

Die Anzeigenwerbung für die Medizinaljoints wurde von der Berliner Zentrale, von den Großhändlern, auch von einzelnen Apothekern in Auftrag gegeben, nicht aber selbst gestaltet. Diese Aufgabe übernahm eine Anzeigenagentur, im Regelfall die Annoncen-Expedition von Rudolf Mosse (1843-1920) – auch er ein aus Ostdeutschland nach Berlin gezogener jüdischer Pionierunternehmer. Sie erstellte nach den Wünschen der Auftraggeber eine Vorlage, ein Klischee – und der Setzer versuchte dann, dies passgenau in den Bleisatz einzufügen. Entsprechend gab es von Zeitung zu Zeitung kleine Unterschiede trotz einheitlich verwandter Klischees.

Die Einzelmotive variierten kaum: Selten standen Werbeversprechen am Kopf der Anzeige, wobei an die Stelle des anfangs üblichen „Erfolg unbedingt“ zunehmend der moderatere Hinweis „Erfolg ärztlich nachweisbar“ trat. Damit war aber keine stärkere Zurückhaltung verbunden, denn während man Bronchiol 1901 immer wieder als „Linderungsmittel“ anpries mutierte es 1902 vielfach zum „Heilmittel“ (Münchner Neueste Nachrichten 1901, Nr. 134 v. 21. März, 10; ebd. 1902, Nr. 91 v. 23. Februar, 11).

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Leichte Variationen bei gleichartiger Grundstruktur (Dresdner Nachrichten 1901, Nr. 147 v. 29. Mai, 28 (l.); Straßburger Post 1900, Nr. 966 v. 13. November, 4)

Festzuhalten ist, dass die Bronchiol GmbH ihre Werbung ab Mitte 1902 reichsweit einstellte (in Sachsen zuletzt Dresdner Nachrichten 1902, Nr. 149 v. 1. Juni, 28, im Elsass Straßburger Post 1902, Nr. 390 v. 27. April, 7, in Ostfalen Bielefelder General-Anzeiger 1902, Nr. 187 v. 7. August, 7). Dies bedeutet nicht zwingend die Einschränkung des Geschäftes. Grimault beendete Annoncenwerbung im Deutschen Reich Mitte der 1880er Jahre, setzte sie Mitte der 1890er Jahre wieder gleichartig fort. Es ist eher davon auszugehen, dass Bronchiol-Zigaretten grundsätzlich eingeführt waren, dass man es nun den Apothekern überließ, das eigene Präparat weiter anzubieten. Zu bedenken ist, dass die Bronchiol GmbH nach dem Tode Heinrich Przedeckis ein Ein-Produkt-Unternehmen blieb. Forschung und Entwicklung wurden nicht betrieben, die Zigaretten wurden nach Rezept hergestellt und dann an die Großhändler versandt. Sinkende Kosten ließen die Gewinne auch bei sich langsam abschleifendem Absatz auf akzeptabler Höhe bleiben. Die Einstellung der Werbung war Ausdruck von Realismus: Der große Coup war nicht gelungen, Bronchiol-Zigaretten ein etabliertes Angebot neben anderen. Während andere Ein-Produkt-Unternehmen, etwa die Tropon- oder die Sanatogen-Werke, ihre Angebote ausdifferenzierten und sich weltweit etablierten, gelang dies der Bronchiol GmbH nicht.

Eine fragile Marktstruktur

Über die Gründe kann man mangels Quellen wiederum nur begründet mutmaßen. Erwähnenswert ist erstens ein sich langsam verschärfendes regulatives Umfeld. Die vor allem von Medizinern und Pharmazeuten getragen Proteste gegen die vermeintlich wachsende Zahl von Geheimmitteln und obskuren Spezialitäten ergab 1903 einen wichtigen symbolischen Erfolg, als der Bundesrat ein Werbeverbot für 90 Angebote erließ, darunter auch die Zematone Asthmazigaretten (Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 3. F. 26, 1903, 424-428, hier 425).

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Zematone: Werbeverbot ab 1. Januar 1904 (Kölnische Zeitung 1899, Nr. 891 v. 12. November, 2)

Zweitens veränderte sich das steuerliche Umfeld. Asthmazigaretten wurden von den deutschen Zoll- und Steuerbehörden bei Gründung der Bronchiol GmbH nicht als Zigaretten, sondern als Heilmittel definiert (Gustav Müller, Die chemische Industrie in der deutschen Zoll- und Handelsgesetzgebung des neunzehnten Jahrhunderts, 1902, 224). Dies änderte sich 1906 mit der Einführung der Zigarettensteuer. Sie war eine indirekte, also beim Produzenten erhobene Verbrauchssteuer, Teil eines Gesamtpaketes zur Finanzierung des Flottenbaus. Die Frage, ob Asthmazigaretten Zigaretten im Sinne des Gesetzes waren, wurde parallel aufgerollt. Die Bronchiol GmbH, deren Gesundheitszigaretten ja auch Tabak enthielten, richteten 1906 eine Eingabe „betreffend der Steuerpflicht von Asthmazigaretten“ an den Bundesrat (Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reichs 1906, Berlin o.J., 526). Doch die Eingabe drang nicht durch. Während Asthmazigaretten ohne Tabak weiter als Heilmittel galten, war die Bronchiol-Zigarette doppelt betroffen (Wilhelm Cuno, Zigarettensteuergesetz vom 3. Juni 1906, Berlin 1906, 4). Zum einen stiegen die Einfuhrzölle für Tabak, zum anderen hatte die Berliner Firma nun Zigarettensteuer zu entrichten (Protokolle, o.J., 426). Angesichts der starren Verkaufspreise minderte dies die Gewinne der Bronchiol GmbH. Immerhin, die Exporte in die deutschen Kolonien blieben davon unbeeinträchtigt.

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Exporte deutscher Asthmazigaretten in die Kolonien (Export 30, 1908, 529)

Drittens wuchsen nach der Jahrhundertwende die Zweifel an der medizinischen Wirksamkeit der Asthmazigaretten (Adolf von Strümpell, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, Leipzig 1904, 293). Während man zuvor Besorgnisse vor allem angesichts einer nur ungenauen Dosierung der potenziell toxischen Inhaltsstoffe hatte (Rudolf Kobert, Lehrbuch der Pharmakotherapie, Stuttgart 1897, 441), ergaben nun präzise Analysen des Rauches, dass die darin enthaltenen Mengen Atropin für kausale Effekte kaum ausreichend waren (F. Netolitzky und R. Hirn, Rauchversuche mit einigen Asthmamitteln, Wiener Klinische Wochenschrift 16, 1903, 584-585). Asthmazigaretten galten daher zunehmend als Mittel, „das entweder ausschließlich oder doch hauptsächlich suggestiv wirkt“ (Allgemeine Medizinische Central-Zeitung 80, 1911, 439). Weitere Studien ergaben demgegenüber, dass nur hartes Lungenrauchen einen kausalen Effekt habe (Gustav Günther, Darf man den Stramoniumzigaretten eine arzneiliche Wirkung zuschreiben?, Wiener klinische Wochenschrift 24, 1911, 748). In dieser Debatte spiegelte sich nicht nur das durch die Anwendung seinerzeit modischer Heilmittel wie Veronal oder Heroin gestiegene Bewusstsein für die Gesundheitsgefahren moderner Pharmazeutika, sondern auch der Wunsch nach einer kausalen, und das heißt stofflich nachweisbaren Wirkung der Asthmazigaretten. Rückfragende Hinweise, dass „doch den Pat[ienten, US] zu helfen erstes Gesetz bleibt“ (Excerpta Medica 16, 1906/07, 437) traten demgegenüber in den Hintergrund. Für die Bronchiol GmbH waren Zweifel an der Wirksamkeit ihres Präparates jedoch eine Bürde.

Viertens wurde die Marktstellung der Bronchiol-Zigaretten kurz nach der Jahrhundertwende durch neue, anders zusammengesetzte Präparate beeinträchtigt. Cannabis war ein unzuverlässiger Inhaltsstoff, seine Wirksamkeit schwankte, zumal über die Wirkstoffe wissenschaftlich trefflich gestritten wurde. Wichtiger aber war, dass es teurer war als andere Naturstoffe. Das galt insbesondere im Vergleich mit Stechapfelpräparaten. Dieses war Hauptbestandteil des wohl ab 1905 angebotenen Astmol. Das sowohl als Pulver als auch als Zigarette angebotene Präparat wurde von den Farbenfabriken Elberfeld (Bayer) produziert und der Frankfurter Engels-Apotheke vertrieben (Proceedings of the Annual Meeting of the New York State Pharmaceutical Association 27, 1905, 103; Pharmazeutische Praxis 4, 1905, 81). Später übernahm das Frankfurter Pharmaunternehmen Galenus diese Aufgaben.

29_Simplicissimus_12_1908-09_p612_Badische Presse_1924_10_24_Nr394_p11_Asthma_Astmol_Dr-Elswirth_Medizinalzigaretten

Astmol gegen die „peinliche Krankheit“ Asthma (Simplicissimus 13, 1908/09, 612 (l.); Badische Presse 1924, Nr. 394 v. 24. Oktober, 11)

Astmol war eine mit Menthol aromatisierte Mischung aus Stechapfel (40 %), Grindelie, Blutmohn und Lärchenschwamm (je 10 %) (Hahn und Holfert, 1906, 15; Leipziger Tageblatt 1907, Nr. 306 v. 4. November, 7). Das apothekenpflichtige Medikament wurde entweder als Pulver in Blechdosen oder aber in Zigaretten eingerollt vertrieben, beide für 2,50 M pro Dose resp. Schachtel. Während die Zigaretten einfach auf Lunge geraucht wurden, hatte man das Pulver teelöffelweise auf einen Teller zu legen, dann anzuzünden und den Dampf tief einzuatmen. Husten war die Folge, dann Auswurf, schließlich – so das Versprechen – Erleichterung (Sport im Bild 29, 1923, 512). Die in Zeitungen und Zeitschriften geschaltete Werbung präsentierte das „wunderwirkende“ (Deutsches Südmährerblatt 1906, Nr. 1 v. 5. Januar, 3) Astmol anfangs als ein „absolut zuverlässiges Mittel […], welches nicht nur die Anfälle sofort beseitigt und diesselben verhütet, sondern auch in vielen Fällen diesen Zustand vollständig beseitigt“ (Kindergarderobe 15, 1908, H. 12, 24).

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Asthmazigaretten als Atemgarant (C.V.-Zeitung 9, 1930, 113 (l.); Badische Presse 1931, Nr. 540 v. 19. November, 12)

Als Pharmazeutikum war Astmol ein Übergangspräparat. An die Stelle des im Bronchiol aktiv beworbenen indischen Hanfs traten billigere, in ihrer Wirksamkeit kausal besser abschätzbare Inhaltsstoffe. An die Stelle kleiner Spezialanbieter traten mittlere und größere Pharmaunternehmen. Die Präparate aus „Naturstoffen“ wurden seit den 1920er Jahren jedoch zunehmend durch synthetische Arzneimittel auf Ephedrin- oder Theophyllinbasis verdrängt.

Nachklang: Bronchiol gegen Erkältung

Während die Asthmatherapie in den 1920er Jahren neue Wege ging, wurde 1922 auch wieder Bronchiol angeboten. Dieses Mal handelte es sich allerdings nicht um eine cannabishaltige Zigarette, sondern um ein Husten- und Erkältungsmittel (Klinische Wochenschrift 1, 1922). Das Produkt verging, der Name blieb. Das Warenzeichen „Bronchiol“ wurde am 27. Dezember 1922 der Westfälischen Essenzen-Fabrik GmbH in Dortmund erteilt (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 16 v. 19. Januar, 19). Sie vermarktete das zu zwei Dritteln aus karamellisiertem Zuckersirup bestehende „Hustenpräparat“ als Alltagswaffe, setzte als Wirkstoff dabei auf Kaliumsulfogusjakolat (Badische Presse 1927, Nr. 77 v. 16. Februar, 8). Die Werbung war breit gefächert, richtete sich etwa an „Touristen, Sänger, Redner, Raucher, Sportler sowie alle, die beruflich viel sprechen müssen“ (Badische Presse 1926, Nr. 558 v. 1. Dezember, 8). Es wurde als „erfrischend, angenehm lösend und Hustenreiz stillend“ angepriesen (ebd.), als „das altbewährte, führende deutsche Vorbeugungsmittel gegen alle Erkrankungen der Atmungsorgane“ (Badische Presse 1926, Nr. 582 v. 15. Dezember, 8). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg half es gegen Husten, Heiserkeit und Katarrh.

31_Badische Neueste Nachrichten_1950_10_21_Nr213_p12_Ebd_10_28_Nr219_p16_Drogerieartikel_Bronchiol_Erkaeltung_Husten

Bronchiol als Hilfsmittel gegen Husten und Erkältung (Badische Neueste Nachrichten 1950, Nr. 213 v. 21. Oktober, 12 (l.); ebd., Nr. 219 v. 28. Oktober, 16)

Das Präparat ist heute nicht mehr lieferbar. Doch auf Bronchiol müssen Sie nicht verzichten. Bronchiol, das ist heutzutage der Name eines Gummibonbons mit japanischem Minzöl, angeboten vom Süßwarenhersteller Haribo. Anfangs mit Stevia gesüßt, dominieren heute Glukosesirup und Zucker die „gesunden“ Drops. Wer von den Käufern heute noch weiß, was ehedem mit Bronchiol verbunden war?

Mehr als Joints im kaiserlichen Berlin?

Wir sind am Ende unserer vielgestaltigen Mutmaßungen über ein kleines, kurzlebiges multinationales Unternehmen ohne Quellenüberlieferung. Man kann die Geschichte aus heutiger Sicht überrascht zur Kenntnis nehmen, dokumentiert sie doch einen pragmatisch rationalen Umgang mit Stoffen, die heutzutage wohlbegründet als „Drogen“ gelten, aller „Liberalisierung“ des Cannabis zum Trotz.

Als Unternehmen war die Bronchiol GmbH nicht außergewöhnlich. Und doch ist es im Rückblick spannend zu sehen, wie einige wenige Personen binnen nur eines Jahres ohne größeres Kapital eine im gesamten Deutschen Reich und auch im Ausland tätige Firma haben ins Rollen bringen können. Das Kaiserreich war eine Zeit des unternehmerischen Aufbruchs, des wirtschaftlichen Fortschritts, die Rahmenbedingungen aufwies, die Begüterten beträchtliche Chancen bot. Gleichwohl zeigt die Geschichte der Bronchiol GmbH auch ein langsames Erodieren dieser Grundlagen, sei es durch zunehmende Regulierung, sei durch einen expandierenden Steuerstaat. Sie zeigt aber auch, dass es sich um eine harte Wettbewerbslandschaft handelte, in der neue Produkte eine geringe Halbwertszeit hatten, in dem Preisdruck herrschte, in der weniger wirksame Produkte aus dem Markt verdrängt wurden. Dergestalt zeigt die Geschichte der Bronchiol GmbH den liberalen Kapitalismus mit all seinen Möglichkeiten – mochte die Kartellbewegung, die Bürokratisierung und strikten Klassengegensätze dieser Zeit auch die Grenzen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell klar konturieren.

Sozialgeschichtlich spiegelt die Geschichte der Bronchiol GmbH einerseits die bürgerliche Aufwärtsmobilität des späten Kaiserreichs: Eine erst 1871 mit umfassenden Bürgerrechten versehene jüdischen Minderheit nutzte die Chancen des eben nicht nur anonymen Marktes. Mit Hilfe enger ethnischer und auch persönlicher Netzwerke etablierten sie ein lukratives Geschäft, das in der eigenen, durchaus weit gefassten Klasse blieb. Gleichwohl geben die Biographien der Geschäftsführer auch einen Blick auf die Brüche innerhalb dieses Aufstiegsmilieus frei. Die Fallhöhe war tief, Konkurse möglich, Ausbrechen aus vorgegebenen Bahnen hatte seinen Preis.

Konsumhistorisch steht die Bronchiol GmbH für tiefgreifende Wandlungen vor dem Ersten Weltkrieg, vor dem immer wieder beschworenen Bruch in der Weimarer Republik. Die cannabishaltigen Asthmazigaretten stehen für eine beträchtliche Ausweitung des Güterangebotes, für dessen relative Verbilligung – aber auch für die hohen Kosten der an sich jedem Asthmatiker zustehenden Gesundheitsprodukte. Bronchiol stand für den immer mächtigeren Einfluss breit bekannter Markenartikel und nationaler, ja internationaler Absatzstrukturen. Die Produkte der Bronchiol GmbH waren nicht mehr durch Herkunft gekennzeichnet, Berlin war Produktionsort, Vermengungsort international eingekaufter Rohware. Doch Bronchiol stand zugleich für die Leistungsfähigkeit der deutscher Pharmazeutika, war Ausdruck der zunehmend beliebigen Projektionskraft moderner Konsumgüter. Es etablierte eine Kunstwelt des Gelingens, in der Leiden bekämpft werden konnte, kein Schicksal mehr war. Bronchiol-Zigaretten waren moderne Produkte, mag uns die Werbung auch zurückhaltend, ja hausbacken erscheinen.

Als Medikament verkörperten die Medizinaljoints nichts Neues. Sie materialisierten das immanente Erlösungs- und Heilversprechen der modernen Pharmazie, der modernen Medizin: Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen, es muss nur noch gefunden und richtig angewandt werden, um erst Linderung, dann aber auch Heilung zu garantieren. Die Asthmazigaretten waren eingebettet in ein Leben steter Gefährdung, waren zugleich noch Teil einer tätigen Praxis des Dagegenhaltens, der bewussten Wahl für eine von vielen Therapien. Die Bronchiol-Zigaretten waren ein Angebot in einer Übergangszeit hin zu wirksameren Pharmazeutika, die ihre Nutzung scheinbar selbst programmierten. Sie stehen für den Wandel von der Patienten- zur Medikamentensouveränität, von der begrenzten Autonomie der (bürgerlichen) Patienten hin zur Dominanz der Pharmazeuten, der Ärzte und ihrer Produkte.

Als Teil einer moderner Wissensgeschichte ging es schließlich um die Dominanz unterschiedlicher Wissensregime: Die Bronchiol-Mischung aus Tabak, Stechapfel und Cannabis Indica war krampflösend und wirksam, doch ihre Wirkung war ungewiss, variierte individuell, konnte experimentell kaum eindeutig bestätigt werden. An die Stelle helfender, nicht aber eindeutig erklärbarer Angebote traten zunehmend Produkte mit stofflich-kausalen Wirkmechanismen, die im Modell sicher funktionierten, vielfach auch in der Praxis. Cannabis Indica war in diesem Umfeld ein unsicheres Kraut, verschwand daher vor dem begrenzten Verbot 1929 aus dem Alltagsangebot relevanter Hilfsmittel. Ob aber eine „Liberalisierung“, die auf den gleichen stofflich-pharmakologischen Wissensbeständen (und dem ökonomischen Gewinnstreben eines Heinrich Przedecki) beruht wie die Pharmazie, vorrangig das Wohl der Patienten im Blick hat, mag füglich bezweifelt werden.

Uwe Spiekermann, 14. Mai 2022

Glas in den häuslichen Alltag! Konservieren und Einkochen bis zum Zweiten Weltkrieg

Denkt man heute ans Einmachen, so stehen einem schöne, satte Bilder vor Augen – die Farben des Herbstes, der Ernte. Doch Idylle ist fehl am Platz, reden wir historisch über Konservierung. Sie war (und ist) elementar, erforderlich, um die geernteten Nahrungsmittel, um geschlachtete Tiere und ihre Produkte möglichst lange, das ganze Jahr über zu nutzen, zumindest aber bis zur nächsten Ernte damit hauszuhalten. Nahrung ist ohne Konservierung ein flüchtiges Gut. Sie ist nicht einfach für uns da, ihr Wesen ist Verwesung, Zersetzung, Entwertung, Auslaugung, Verderb. Konservierung kann diesen Prozessen Einhalt gebieten. Sie steht für die Selbstbehauptung des Menschen im Angesicht einer grundsätzlich feindlichen Natur und einer zwischen Lebewesen bestehenden Fraßkonkurrenz.

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„Conserven“ – Dachbegriff für länger haltbar gemachte Nahrungsmittel (Kladderadatsch 42, 1889, Nr. 44/45, Beibl., 2)

Im 19. Jahrhundert war dies alltagspräsent, Hungersnöte prägten noch die Jahre 1816/17 und 1846/47. Konserven konnten etwas dagegensetzen. Dieser Begriff stand bis Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht für einzelne Produkte oder Verfahren, sondern für verarbeitete und haltbare Lebensmittel als solche. Doch Mitte des Jahrhunderts veränderte sich diese Struktur mit dem aufkommenden Maschinenzeitalter, mit der das Alltagsleben langfristig grundlegend verändernden Industrialisierung. Maschinen nährten die Hoffnung auf menschliche Herrschaft über die Natur, auf neue Souveränität. War Konservierung zuvor in den bäuerlichen und bürgerlichen Haushalt eingebunden, in Ernterhythmen und Jahreszeiten, so schien mit dem Aufkommen einer Konservierungsindustrie im späten 19. Jahrhundert eine neue Zeit des Umgangs mit der Nahrung anzubrechen. Technik sollte helfen Zeiten und Räume zu durchbrechen, zu überwinden. Die Träume dieser Zeit prägen vielfach noch unsere heutige Welt: technischer Fortschritt, regionale und nationale Arbeitsteilung, der Ausgleich des Mangels durch freien Handel. Dadurch sollten Hunger und Mangelernährung besiegt, soziale Konflikte vermindert und die Haushalte von mühseliger Arbeit entlastet werden. Die tradierten Techniken des Pökelns und Dörrens, des Einkellerns und Räucherns sollten zentralisiert und durch Hitzesterilisierung und Kältetechnik, durch Büchsenkonservierung und chemische Konservierungsmittel abgelöst werden.

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Gewerbliche Konservierung und häusliches Einmachen („Tischlein deck dich“ kein Märchen mehr, Hanau und Frankfurt a.M. 1901, 1 (l.); Die Frischhaltung 44, 1950, H. 7, s.p.)

Doch schon diese Bilder unterstreichen, dass die Geschichte anders verlief. Die Konservierungsindustrie führte eben nicht zu einer raschen Verdrängung der häuslichen Konservierung, wohl aber zu deren tiefgreifender Veränderung (Uwe Spiekermann, Zeitensprünge. Lebensmittelkonservierung zwischen Haushalt und Industrie 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, hg. v. Katalyse/Buntstift, Köln 1997, 91-109).

Konservierung im 19. Jahrhundert: Anfänge einer Versorgungsindustrie

Um die Geschichte des häuslichen Einkochens verstehen zu können, ist es dennoch ratsam mit der frühen gewerblichen Konservierung anzufangen. In deutschen Landen startete diese relativ spät – zumal im Vergleich zu Großbritannien, der damals führenden Weltmacht. Obwohl die grundlegenden Konservierungstechniken seit Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt waren, entwickelten sich erste handwerklich arbeitende Betriebe erst in den „hungrigen“ 1840er Jahren; und erst in den 1860er Jahren begann der Aufstieg der fischverarbeitenden Industrie an der Nord- und Ostseeküste oder der bis heute bekannten Braunschweiger Spargelkonservenindustrie (Martin Humbert, Die Entstehung der Konservenindustrie und ihre technische sowie wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland im Bereich der Obst- und Gemüsekonserven, Diss. rer. pol. Hamburg 1997). Deren Produktion blieb jedoch vor 1890 gering, erst danach begann ein rascher Aufstieg (Wolfgang Horn, Vom Klempnergag zur Massenware, die Anfänge der Braunschweiger Konservenindustrie, Braunschweig 1988 (Ms.); Carsten Grabenhorst, Seesen – Stadt der Konserve. Geschichte der Seesener Konserven- und Blechwarenindustrie von 1830 bis 1926, Seesen 2011).

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Von der regionalen zur nationalen Delikatesse: Werbung für Spargelkonserven 1886 (Fliegende Blätter 85, 1886, Nr. 2155, Beibl.)

Spargel in Blechkonserven war ein Luxusprodukt, war eine edle bürgerliche Speise. Das lag weniger an den Kosten für Anbau und Ernte, sondern vorrangig an den hohen Aufwendungen bei Herstellung und Verpackung. Das Kochen der Pflanzen war langwierig, erst 1873 wurden Autoklaven eingesetzt, in denen Nahrung durch Überdruck schneller sterilisiert werden konnte. Die Dosen mussten noch per Hand verlötet werden; erst 1889 wurden erste automatische Dosenverschlussmaschinen eingesetzt. Dosenkonserven blieben daher bis ins späte 19. Jahrhundert einem kaufkräftigen bürgerlichen Publikum vorbehalten.

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Konservensonderverkauf im KaDeWe (Berliner Tageblatt 1912, Nr. 135 v. 14. März, 12)

Konserven wurden jedoch nicht nur durch Maschineneinsatz billiger. Auch der Einzelhandel modernisierte sich während des Kaiserreichs rasch, erweiterte sein Sortiment, bot neue haltbare Produkte an. Am Anfang standen seit den 1870er Jahren vor allem Versandgeschäfte. An deren Seite traten Massenfilialbetriebe und ab den 1890er Jahren dann erste Warenhäuser. Sie alle nutzten Konserven, um dem Publikum ihre Preiswürdigkeit unter Beweis zu stellen.

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Fehlende Einheitlichkeit: Form- und Materialvielfalt bei Rahmprodukten ([Paul] Buttenberg, Über Dauermilchpräparate, in: Bericht über die Allgemeine Ausstellung für hygienische Milchversorgung im Mai 1903 zu Hamburg, hg. v. Deutschen Milchwirtschaftlichen Verein, Hamburg 1904, 25-43, hier 29)

Ein Kernproblem der Blechkonserven war allerdings, dass man nicht sah, was man kaufte, dass man dem Anbieter und dem Verkäufer trauen musste (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 458-460). Anfangs hatten die Dosen vielfach nicht einmal Etiketten, denn lang haltende Klebstoffe sind technisch komplex (Wilhelm Gruber, Das Konservenetikett im Wandel der Zeit, Die industrielle Obst- und Gemüseverwertung 50, 1965, 204-209). Doch auch die Qualität schwankte beträchtlich, zudem waren die Büchsen teils nur unzureichend gefüllt. Das änderte sich erst nach der Jahrhundertwende, auch aufgrund der Klagen der Käufer. Während größere Firmen ihre Markenprodukte vielfach noch in eigenen Verpackungen in unterschiedlichen Größen anboten, vereinbarten insbesondere kleine Anbieter Offerten in einheitlichen Größen. Seit 1907 gab es erste Einheitsdosen etwa für Obst und Gemüse. Das half Vertrauen zurückzugewinnen. Die Konsummengen aber blieben begrenzt: Um 1900 verzehrte der Durchschnittsdeutsche etwa ein Kilogramm Konserven pro Jahr und Kopf, um 1913 war es dann immerhin schon die doppelte Menge.

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Glas statt Blech? Transparent angebotenes Eigelb 1896 (Fliegende Blätter 104, 1896, Nr. 2656, Beibl.)

Die nicht unerhebliche Skepsis gegenüber undurchsichtigen Konservenbüchsen führte zur Suche nach Alternativen. Glaskonserven wurden schon im späten 19. Jahrhundert angeboten, doch ihre Brüchigkeit und ihr relativ hoher Preis legten den Einsatz nur bei hochwertigen Angeboten nahe, insbesondere bei Arzneien und Drogerieartikeln. Noch in den späten 1930er Jahren lag die durchschnittliche Bruchquote bei 2 bis 3 Prozent (Eduard Nehring, Die Verwendung metallischer und nichtmetallischer Werkstoffe als Verpackungsmaterial in der Konservenindustrie, in: Wissenschaft und Technik in der Konservenindustrie, Braunschweig 1939, 41-54, hier 44-45). Für Glas sprach damals vor allem seine Geschmacksneutralität, seine Undurchlässigkeit, seine Ungiftigkeit. Verzinntes Dosenblech war relativ korrosionsbeständig, tolerant gegenüber Druck und Temperaturen, leichter als Glas und besser stapelbar. Doch je nach Füllgut gab es trotz des 1887 erlassenen Blei-Zink-Gesetzes immer wieder Vergiftungsfälle durch gelösten Zinn und auch gelöstes Lötblei.

Wie bei der Blechkonservenindustrie hing die Nutzung des Werkstoffes Glas von dessen preiswerter Massenproduktion ab. Das bedeutete vor allem eine rationale und auch mechanisierte Hohlglasherstellung. Die handwerklich betriebenen Waldglashütten bekamen schon seit der Jahrhundertmitte Konkurrenz durch Glashütten mit größer gebauten Schmelzöfen mit einer oder gar mehreren Schmelzwannen. Holzfeuerung wurde zunehmend auf Kohle, Gas und Koks umgestellt und ermöglichte dünnwandigeres und schlierenfreieres Glas (L[udwig] Lobmeyr (Hg.), Die Glasindustrie, ihre Geschichte, gegenwärtige Entwicklung und Statistik, Stuttgart 1874, insb. 166-177). Die Produktionssprünge im späten 19. Jahrhundert resultierten vor allem aus größeren und heißeren Öfen. Dabei ragte der seit 1867 grundsätzlich verfügbare Siemenssche Regenerativofen heraus. Er war ursprünglich für die Stahlproduktion entwickelt worden, bewährte sich aber auch bei der Leichen- und Tierkadaververbrennung. Die durch indirekte Hitzeführung möglichen höheren Temperaturen ließen das Glasgemenge schneller schmelzen und den Durchfluss beträchtlich steigen. Doch noch erfolgte die Produktion vornehmlich per Hand und Mund durch die standesbewusste Gruppe der Glasbläser  (Georg Goes, Arbeitermilieus in der Provinz. Geschichte der Glas- und Porzellanarbeiter im 20. Jahrhundert, Essen 2001, insb. Kap. VII).

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Mechanisierung der Hohlglasherstellung: Owens-Maschine 1912 (Library of Congress, Washington DC, ncl2004001184)

Das änderte sich erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als vollautomatisch blasende Maschinen eingeführt wurden. Die erste sog. Owens-Maschine lief im Deutschen Reich 1908 an, doch ein Kartell wachte über eine markt- und preisschonende Etablierung. Entsprechend veränderte sich die Hohlglasherstellung nur langsam. Selbst in technisch führenden Unternehmen, wie etwa Gerresheim, wurden tradierte Verfahren über Jahrzehnte weiter genutzt. Dadurch konnten sich viele mittlere Unternehmen behaupten, wenn sie ihre Produktion auf Nischen konzentrierten.

Handarbeit führte dazu, dass die im 19. Jahrhundert produzierten gläsernen Vorratsgefäße deutlich anders aussahen als die uns allen bekannten Konservengläser (Astrid Bergmeister, Mindestens haltbar bis… Konservieren und Bevorraten in Glasgefäßen, Essen 1998, insb. 24-37). Sie wurden teils frei, teils modelgeblasen. Die Gläser wurden zumeist mit einem Korken verschlossen, teils auch verwachst. Sie waren daher hygienisch heikel, die gewölbten Böden schwer zu reinigen. Aus diesem Grunde wurden sie vielfach geschwefelt, was wiederum gesundheitsgefährdend war. Die Konservierungsgläser dieser Zeit waren noch nicht standardisiert, auch wenn man sie in unterschiedlichen Größen kaufen konnte. In den Haushalten wurden sie etwa mit Marmelade oder Gelee gefüllt und dann mit Papier, Blasen oder Leim verschlossen. Das war nicht steril, so dass es bei den Glaskonserven häufig Verderb gab.

Der Haushalt als Experimentierfeld technischer Innovationen

Die häusliche Konservierung lebt bis heute von einnehmenden Bildern, wie sie uns aus bürgerlichen Kochbüchern und Haushaltslehren des späten 19. Jahrhunderts im Gedächtnis prangen: Gefüllte Vorratskeller mit schimmernd lockenden Regalen, ein wenig auch die behäbige Gemütlichkeit Wilhelm Buschs (1832-1908): „Eben geht mit einem Teller / Wittwe Bolte in den Keller, / Daß sie von dem Sauerkohle / Eine Portion sich hole, / Wofür sie besonders schwärmt, / Wenn er wieder aufgewärmt“ (Max und Moritz, München 1865, 11). Festzuhalten ist jedoch, dass häusliche Konservierung notwendig war, um preiswert und ohne größere gesundheitliche Schäden durch das das Jahr, zumal durch Winter und Frühling zu kommen. Häusliches Konservieren war mühselig, das Ergebnis nicht immer schmackhaft. Es ging nicht um eine abwechslungsreiche Küche, sondern um die Befriedigung von Grundbedürfnissen.

Hausfrauen beharrten daher nicht auf Traditionen, sondern nahmen die vielfältigen Neuerungen der modernen Zeit rasch auf. Das war nicht modisches „Do-it-yourself“, kein „Prosuming“, sondern notwendige Selbsthilfe. Bis zur Jahrhundertwende erfolgten viele Verbesserungen, nicht aber grundlegende Veränderungen: Die wichtigste Konservierungstechnik war das Einkellern oder Einmieten vor allem von Kartoffeln, aber auch von Kohl, Äpfeln oder Möhren. Entsprechende Vorräte fanden sich meist über das ganze Haus, über die kleine Wohnung verteilt. Wichtig waren ferner das Einlegen in Essig, Trocknen, Dörren, Pökeln und Räuchern. Konservierung war jedoch in vielen Haushalten kaum möglich, setzte es doch den Besitz oder Kauf von Kleinvieh, von Obst und Gemüse voraus. Damals wurde deutlich weniger Fleisch, Obst und Gemüse gegessen, Der Konsum richtete sich stark nach Ernte- und Schlachtzeiten. Häuslich konservierte Nahrung war aber sozial weiter verbreitet, denn man bekam sie, wie auch Getreide und Mehl, noch als Lohn für Arbeit. Vieles blieb regional begrenzt, wie etwa die Mostherstellung im Süden und Südwesten. Manches verlor an Bedeutung, etwa das Dörren in gemeinsam genutzten Dörrhäuschen.

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Nicolas Appert und eines seiner gläsernen Konservierungsgefäße (Wikipedia)

Neue industrielle Produkte veränderten nur langsam die häusliche Konservierung. Am wichtigsten war der Einsatz der Konservierungsmittels Zucker, wodurch die Muskocherei um Marmeladen und Gelees ergänzt werden konnte. Viele Verfahren waren bekannt, konnten jedoch nicht umgesetzt werden. Der französische Koch und Konditor Nicolas Appert (1749-1841) entwickelte beispielsweise schon 1804 aus heutiger Sicht praktikable Verfahren der Hitzesterilisierung in Gläsern. Die Art der von ihm verwandten Gläser verdeutlicht aber auch, dass der sterile Verschluss ein Kernproblem des Verfahrens blieb. Es verwundert daher nicht, dass er seine Luxuskonserven ab 1812 in Blechbüchsen packte und verkaufte. Sein Hauptwerk wurde 1832 ins Deutsche übersetzt, weitere Auflagen folgten ([Nicolas] Appert, Die Kunst, alle animalischen und vegetabilischen Nahrungs-Substanzen durch viele Jahre aufzubewahren […], Prag 1844). Doch die Auswirkungen blieben begrenzt.

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Haushaltskonservierung mittels Blechbüchsen (Kladderadatsch 22, 1869, n. 48)

Die Modernisierung des häuslichen Konservierens begann daher nicht mit Glasbehältnissen, sondern mit „hermetisch verschließbaren“ Blechkonserven. Glasanbieter konterten, boten ihrerseits sicher verschließbare Glasgefäße an. Im letzten Drittel des 19. Jahrhundert tobte ein Kampf zwischen Blech und Glas, getrieben von Haushaltslehrerinnen und Kleintüftlern, von Unternehmern und Chemikern.

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Glaskonserven in den 1870er Jahren (A[nton] Hausner, Die Fabrikation der Conserven und Canditen, Wien, Pest und Leipzig 1877, 156)

Dabei ging es nicht nur um die Gefäße, sondern vor allem um den sicheren und sterilen Verschluss derselben. „Luftdicht“ oder „hermetisch“ wurden zu zentralen Werbeversprechen. Obwohl die Palette der Patente und Angebote wuchs, blieben die Ergebnisse bescheiden: Für den normalen Haushalt waren Blechdosenmaschinen zu teuer, während der Gläserinhalt entgegen den Anpreisungen immer wieder verdarb.

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Konservenglas mit Bügelverschluss und blecherne Einmachbüche (H[einrich] Timm, Die Obst- & Gemüseverwertung für Haushaltungs- und Handelszwecke, Stuttgart 1892, 73 (l.) und 74)

In einer dynamischen Markt- und Konsumgesellschaft führte dies zu Alternativangeboten. Die Defizite der Gefäße sollten beispielsweise durch neue chemische Konservierungsmittel gemildert, ja gebannt werden (Ueber Salicylsäure und ihren Gebrauch im Haushalte, Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878-79, 26). Rasch bekannt wurde beispielsweise Dr. Oetker’s Salicyl, das auf das Einmachgut gestreut wurde, um Schimmelbildung zu verhindern. Die seit Mitte der 1870er Jahre vertriebene Salizylsäure nutzte man aber vor allem als Arzneimittel, etwa gegen Hühneraugen. Aufgrund ihrer akut reizenden Wirkung konnte sie Magen-Darm-Schädigungen hervorrufen, wurde aber trotz kontroverser Debatten um die Jahrhundertwende erst 1959 als Konservierungsstoff für Lebensmittel verboten. Dr. Oetker verringerte schon vor dem Ersten Weltkrieg die Dosis und taufte das Produkt zur „Einmach-Hülfe“ um (Daheim 50, 1914, Nr. 45, 33).

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Chemische Hilfsstoffe für das Einmachen (Allgemeine Zeitung 1908, Nr. 19 v. 8. August, III (l.); Die Woche 7, 1905, Nr. 29, III)

Die eigentliche Innovation beim Einkochen, beim dann so genannten Einwecken, erfolgte durch Johann Carl Weck (1841-1914), einem der vielen Tüftler in diesem Felde. Er war es, der 1895 das Patent eines kurz zuvor verstorbenen Chemikers, Rudolph Rempel (1859-1893) aus Gelsenkirchen erwarb. Es war das Patent eines Apparates zum selbständigen Schließen und Entlüften von Sterilisiergefäßen. Weck war Lebensreformer, Antialkoholiker und Vegetarier. Mit seinem Apparat wollte er nicht nur Gewinn machen, sondern die Alltagsernährung verändern (J[ohann] Weck, Erfahrung über Konservierung, Vegetarische Warte 31, 898, 80-81). Er verband seinen Namen mit dem des Apparates (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 89 v. 15. April, 11), baute ein Netzwerk von Agenturen und Zweigniederlassungen auf. Schon 1902 verließ Weck sein Unternehmen, Lizenzzahlungen versüßten den Abschied. Das eigentliche Geschäft machte Georg van Eyck (1869-1951), ein erfahrener Groß- und Einzelhändler für Haushaltswaren im niederrheinischen Emmerich. Er hatte gemeinsam mit Johann Weck Anfang 1901 die J. Weck GmbH im badischen Öflingen gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 7 v. 9. Januar, 11), und er war es, der die Firma zum Marktführer erst im Deutschen Reich, später auch in Europa machte.

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Johann Weck und seine Schutzmarke (Wikipedia (l.); Tischlein, 1901, 12)

Die Grundlage für diesen Erfolg war einerseits Werbung, die bis heute ihre Liebhaber findet. „Frischhaltung“, Markenbegriff und neues mit dem Einmachen zunehmend deckungsgleiches Substantiv, erschien als Verheißung eines besseren Lebens, einer Gesellschaft, in der der Mensch die Natur befriedet hatte und beherrschte. Anfangs schaltete Eyck nur wenige Anzeigen, warb stattdessen mit Plakaten, mit Broschüren, hob sich dadurch von den vielen anderen Anbietern ab. Doch Werbung allein wäre zu wenig gewesen, mochte der Apparat auch so funktionieren, wies es sich Appert schon ein Jahrhundert zuvor erträumt hatte. Weck bot seit der Jahrhundertwende jedoch nicht nur einen Apparat zum Einkochen an, sondern weitete die Palette auf Einkochgläser und Dienstleistungen aus, bot ein Gesamtpaket an, ein Rundum-Sorglos-Paket. Das hatten andere eben nicht.

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Apparat, Gläser und ein sicherer Verschluss (H[ans] Allihn und [Ottilie] Allihn, Rationelle Krankenkost, 2. verb. Aufl., Öflingen 1911, 44)

Zudem knüpfte die Firma ein direktes Band mit ihren Kundinnen (W.D. Müller, Aus der Werbegeschichte des Hauses „Weck“, Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamefachleute, 1915, 280-282). Sie gründete Beratungsstellen, die Hausfrauen zeigten, wie Apparate und Gläser zu nutzen waren. Sie beschäftigte Wanderlehrerinnen, die auch auf dem Land präsent waren. Sie gab seit 1901 zudem eine eigene Zeitschrift heraus, „Die Frischhaltung“, die 1915 immerhin ca. 10.000 zahlende Abonnenten hatte, die sie unterhielt, informierte und mit vielfältigen „erprobten“ Rezepten versorgte. Hinzu kamen zahlreiche im Auftrag der Firma herausgegebene Broschüren, Rezept- und Kochbücher, Haushalts- und Gesundheitslehren.

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Konservierungsgläser der Firma Weck (M[ax] Hotop und E[dmund] Michael (Bearb.), Koche auf Vorrat, Bd. 1, Öflingen 1905, 12, 13)

Für das Wachstum der Firma waren weniger die Apparate als vielmehr die Konservierungsgläser entscheidend. Sie sorgten für steten Nachkauf, zumal immer neue Formen, Größen und Spezialgläser angeboten wurden.

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Einkochen als eine Kombination von Glas, Gummi, Hitze und hauswirtschaftlicher Arbeit (Hotop und Michael (Bearb.), 1905, 14 (l.), Dass., 9. Aufl., Öflingen 1911, 14)

Erfolgsgaranten waren dabei die flach geschliffenen Deckel, die mittels eines Gummirings dicht hielten und die Bügel, die während des eigentlichen Einkochens unverzichtbar waren. Geräte und Gläser machten zugleich etwas her, waren präsentabel, nicht nur in Küche und Keller, sondern auch auf der Tafel. Die Firma Weck bot zudem eine Reihe ergänzender Geräte und Gefäße an, etwa Gemüsedämpfer. Ihr Absatz reichte zwar nicht an den der eigentlichen Einweckapparate heran, war für das Wachstum von Firma und Umsatz aber wichtig. Weck konnte dadurch eine breite Palette haushälterischer Tätigkeiten aus einer Hand bedienen.

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Steinzeug als Alternative: Konkurrierendes Angebot einer kleineren Glashütte (Der Praktische Ratgeber im Obst- und Gartenbau 18, 1908, Nr. 22, Anzeigenteil, 1)

Weck wies vor dem Ersten Weltkrieg einer ganzen Branche und vielen Glashütten den Weg. Nachahmerprodukte kamen rasch auf, Apparate und vor allem Einmachgläser wurden vielfach variiert. Kein Konkurrent besaß jedoch ein derart breites Angebot und auch eine derart vielgestaltige Werbung wie der im Schwarzwald ansässige Pionier. Dessen Angebote waren relativ teuer, die Firma hielt die Preise bewusst hoch. Sie folgte einer Qualitätsstrategie, bei der es nicht nur um haltbare Nahrung, sondern auch um lange nutzbare Geräte und Gefäße ging.

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Anhaltender Wettbewerb zwischen Fabrik- und Haushaltskonserven (Fliegende Blätter 138, 1913, Nr. 3521, Beibl.)

Der Durchbruchserfolg Wecks zeigte sich aber auch an anderen Marktbewegungen. Schon vor dem ersten Weltkrieg nutzte die Firma erfolgreich die weiterhin bestehenden Geschmacks- und Sicherheitsprobleme der Blechkonserven, um die im Glas eingemachten Produkte als wohlschmeckend zu vermarkten, als höherwertige Alternative zu den „faden Konserven“ der Industrie. Diese Kampagnen waren so erfolgreich, dass auch Anbieter zeitgenössischer Haushaltshelfer – hier Liebigs Fleischextrakt – diese breit geteilte Vorstellung unterstützten.

Verpflichtungen: Einmachen und staatliche Krisenbewältigung

Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges gab es also eine spannende Wettbewerbsstruktur: Auf der einen Seite eine rasch wachsende Konservenindustrie, deren Produkte zunehmend preiswerter wurden, die auch immer wieder neue Angebote integrierte, so etwa die in den 1890er Jahren aufkommenden Bockwürstchen der Halberstädter Firma Heine. Auf der andern Seite wurde um 1900 die häusliche Konservierung zu einer einfach umsetzbaren bürgerlichen Tugend, zum Stolz der selbstbewussten Hausfrau, die mit Hilfe neuer Technik und neuer Gläser für ihre Liebsten sorgte. Um 1914 hätten Analysten wohl ein weiteres rasches Wachstum der Konservenindustrie beschworen, da die Arbeiterschaft für billige Konserven zunehmend gewonnen werden konnte. Das legten zumindest die Absatzzahlen der Konsumgenossenschaften nahe. Doch es sollte anders kommen – und das war die Folge der Weltkriege und Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht Enthäuslichung dominierte, sondern eine neuartige Verhäuslichung des Konservierens.

Während des Ersten Weltkrieges galt Einkochen als nationale Pflicht, als Rückgrat der Alltagsversorgung, als Mittel zum Durchhalten. Just deshalb griff nun der Staat ein, vornehmlich auf lokaler und regionaler Ebene. Die Ernten mussten mit weniger Personal und Fuhrwerk eingebracht werden, das Militär wurde vorrangig versorgt. Staatliche Instanzen machten nun dort weiter, wo Weck bereits angesetzt hatte, bei der umfassenden Belehrung über das Einkochen durch Hausfrauenvereine und Hauswirtschaftlerinnen. Zugleich aber investierte der Staat in neue Techniken. Zinnblech war durch die alliierte Seeblockade ab 1915 kaum mehr verfügbar, wurde vorrangig für Militärbelange zurückgehalten. Glashütten produzierten vermehrt für den Kriegsbedarf, und auch dort fehlten die vielen eingezogenen Fachkräfte. Daher förderte der Staat vor allem alternative Techniken, insbesondere das Dörren und die Kühltechnik.

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Aufrüstung im Haushalt (Joh. Ernst Brauer-Tuchorze, Transportable Trockner für die Dauerbereitung von Gemüse […], Prometheus 27, 1916, 616-620, hier 617 (l.) und Johannes Schneider, Das Dörren des Obstes und der Gemüse, Leipzig 1916, 12)

Dörren, also das Trocknen von Nahrungsmitteln, wurde nicht nur gewerblich betrieben, sondern drang mittels einfacher und auch elaborierter Apparate in die Haushalte vor. Doch die Technik war unausgegoren, Obst, Gemüse und Fleisch hielten nicht lange, schmeckten schlecht. Gerade seit dem Hungerwinter 1916/17 nahm nicht nur die Menge, sondern gerade auch die Qualität der Nahrung deutlich ab. Doch es blieb die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die gefüllten Konservengläser des ersten und zweiten Kriegsjahres.

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Alternativen zum Weck-Verfahren: Vakuum Schnellkonservierungsapparat (Voss 1921, Nr. 46 v. 17. Dezember, 16)

Aufgrund der Materialbewirtschaftung während und auch unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg blieb die Produktion neuer häuslicher Konservierungsapparate beschränkt, musste man sich insbesondere in ärmeren Haushalten mit Konservierungstechniken des späten 19. Jahrhunderts behelfen oder aber hamstern. Doch nach dem Kriege nahmen die Angebote rasch zu. Im Mittelpunkt standen zum einen billige Verfahren, um so die teureren Apparate umgehen zu können. Doch zugleich wurden von vielen Firmen, teils auch direkt von Glashütten, Konservengläser wieder vermehrt angeboten, fielen doch die Militäraufträge weg. Dies führte zu einem relativen Preisverfall Anfang der 1920er Jahre, so dass nun auch vermehrt Arbeiterhaushalte zum Einkochen übergingen. Das war aber war auch notwendig, denn gerade während der Hyperinflation 1922 und vor allem 1923 galt es wieder schlicht, die Grundversorgung im Winter sicherzustellen.

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Vielfältige Angebote: Konservierungsverfahren Anfang der 1920er Jahre (Zeitschrift für Waren- und Kaufhäuser 20, 1922, Nr. 22, 51 (l.); ebd., Nr. 33, 43; ebd., Nr. 26, 17 (r.))

Firmen und Marken wie Linn, Rex oder Duplex boten zudem preiswerte Komplettangebote an (Ratgeber zum Selbstgebrauch […] in Konservengläsern und Einkochapparaten Marke „LINN“, Arnstadt o.J.). Der Marktführer Weck geriet dadurch unter Druck, zugleich aber verbreiterte sich der gesamte Absatzmarkt während der 1920er Jahre erheblich. Dagegen stagnierte die Konservenindustrie. Das hatte nicht nur mit der vermehrten Haushaltskonservierung und dem Dosenmangel während des Krieges zu tun. Vielmehr war die Qualität der Konserven deutlich schlechter geworden, da die Qualität der Vorprodukte deutlich sank, da die Zahl beschädigter, undichter Dosen deutlich stieg. Zunehmend Sorgen bereitete auch der Vitamingehalt der Angebote. „Vitamine“ wurden erst 1911/12 benannt, doch nun wurde rasch klar, dass große Hitze B- und C-Vitamine zerstörte. Das unterminierte das Renommee der Konservennahrung weiter. Schonendere Verfahren mit leistungsfähigeren Maschinen und einer besseren Hitzeführung folgten, doch der Absatz nahm erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wieder stärker zu.

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Vermehrte Anzeigenwerbung (An unsere Geschäftsfreunde! Eine Reihe Vorlagen für wirkungsvolle Anzeigen, hg. v. J. Weck und Co., Öflingen 1927 (Ms.), 2)

Was machte parallel der Marktführer Weck? Zuerst machte er weiter wie bisher, warb mit den bekannten Argumenten und begründete die hohen Anschaffungskosten mit der hohen Qualität von Gläsern und Apparaten (Warum ist die Marke WECK immer noch die verhältnismäßig billigste?, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen 1927 (Ms.). Herausgestellt wurde auch der Geschmack und der Nährwert der häuslich konservierten Nahrung; dass, obwohl sich beim Einmachen das Problem des geringen Vitamingehaltes gleichermaßen stellte und die Haushaltshygiene nicht immer ideal war. Das fiel aber beim Selbstmachen scheinbar nicht so ins Gewicht. Weck intensivierte daher auch vermehrt in Werbung, nutzte nun auch vermehrt Anzeigen (Der große Erfolg. Reklame-Ratgeber, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen 1928). Nicht vergessen werden darf, dass die hohen Verkaufspreise auch hohe Handelsspannen ermöglichten. Daher bevorzugten Händler die badischen Angebote, präsentierten sie in ihren Läden an bevorzugten Plätzen, nutzten gerne die einladend gestalteten Plakate für Verkaufsräume und Schaufenster oder die Vorlagen für Zeitungsanzeigen.

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Weck als Weltmarke Mitte der 1930er Jahre (Kleines Lehrbuch für erfolgsicheres [sic!] Einkochen der Nahrungsmittel mit den Frischhaltungs-Einrichtungen Weltmarke WECK, Öflingen 1935, hinteres Titelblatt)

Zugleich verbesserte die Firma ihre Kostenstruktur. Obwohl weiterhin neue Gläser entwickelt und vermarktet wurden, nahm deren Variationsbreite doch ab, wurden die Formen länger beibehalten. Wichtiger noch war der verstärkte Export. Er führte zu niedrigeren Fixkosten, stärkte zugleich die Stellung der deutschen Premiummarke gegenüber staatlichen Instanzen und der Öffentlichkeit. Mitte der 1930er Jahre hatte Weck fast 4000 Beschäftigte, war damit ein wichtiger Faktor innerhalb des vom NS-Regime neu etablierten Reichsnährstandes.

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Einkochen in Dosen (Einmachen von Obst und Gemüse, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Leipzig 1935, 7)

Gleichwohl gelang es nicht, die Glaskonservierung auch im häuslichen Bereich alternativlos zu machen (Blechdosen oder WECK-Gläser?, Frischhaltung 28, 1928/29, 178-180). Während der 1920er Jahren wurden jährlich immerhin 30.000 Büchsenverschlussmaschinen verkauft, 1930 kauften Privathaushalte ca. 27 Millionen leere Blechbüsen, die in der Regel zweimal gefüllt wurden. Der Umgang mit diesen Dosen war in dieser Zeit einfacher geworden und auch billiger, wenn man über etwas größere Herde und Vorratskapazitäten verfügte. Weck, aber auch andere Anbieter nahmen diese Herausforderung an und warben verstärkt auf dem Lande und in Kleinstädten: „Nun schlüpft sogar das liebe Schwein / als ‚Wurst‘ ins Glas von Weck hinein“ (zit. n. Bergmeister, 1998, 48; vgl. auch Das Schwein im Weck – die Sparkasse der Hausfrau, Frischhaltung 28, 1928/29, 82-85). Das mag heute fern unserer Alltagsernährung klingen. Doch 1933 gab es letztmals mehr Beschäftigte in der Landwirtschaft als in der Industrie; und die Zahl der Kleingärtner lag bei 2,6 Millionen. Sie erwirtschafteten schätzungsweise 30 Prozent des deutschen Gemüseertrags, zogen die Mehrzahl der Kaninchen groß.

Mittels dieser Maßnahmen gelang es der Firma Weck ihre Marktführerschaft nicht nur zu behaupten, sondern während der Weltwirtschaftskrise noch auszubauen. Während die Arbeitslosigkeit den männlichen Familienernährer besonders traf, konnte die Hausfrau – und vermehrt wieder in der Mittelschicht – so einen produktiven Beitrag zur Familienwirtschaft beisteuern. Generell ist der Bedeutungsgewinn der Glaskonservierung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht ohne einen Blick auf die sich ändernde Rolle der Hausfrauen, der Frauen allgemein, zu verstehen. Firmen wie Weck adelten von Beginn an die rechnende Hausfrau, die mit Hilfe ihrer Apparate und Gläser eine Art Zusatzeinkommen schuf, die ihre Hauswirtschaft wie eine kleine Fabrik leitete.

25_Die Frischhaltung_48_1954_H06_sp_Einmachen_Konservenglas_Hausfrau

Einkochen als produktive Tätigkeit der Hausfrauen (Die Frischhaltung 48, 1954, H. 6, s.p.)

Einkochen war eine weibliche Arbeit, doch eine, die Geld sparte und das Haushaltsgeld vermehrte. Und dies war nicht mehr die von Friedrich Schiller im späten 18. Jahrhundert besungene „züchtige Hausfrau“, die mit „ordnendem Sinn“ ihre Rolle erfüllte und nimmer ruhte. Die einkochende Hausfrau war eine Marktexpertin, kannte sich im Garten und in der Hauswirtschaft aus, kalkulierte kühl und rechenhaft den Einkauf und das eigene Konservieren. Der Mann mochte das Haupteinkommen verdienen, doch die Frau dachte mit und schuf Mehrwert.

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Einkochen im völkischen Umfeld: Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Sicherung des Volksvermögens (Anleitungen für das Einkochen von Nahrungsmitteln mit den Frischhaltungsgeräten Marke Weck, Öflingen 1941, 79)

Was während der Weimarer Republik noch Ausdruck einer modernen, effizienten Hausfrau war, wandelte sich während der NS-Zeit jedoch beträchtlich. Glaskonserven und Einmachen standen immer auch im Zusammenhang mit deren Ideologie, deren Biologismen. Es ging nie nur um Arbeit für die eigene Familie, sondern diese war immer auch Arbeit für das deutsche Volk, die deutsche Rasse (Nancy R. Reagin, Marktordnung and Autarkic Housekeeping: Housewives and Private Consumption under the Four-Year Plan, 1936-1939, German History 19, 2001, 162-184). Was der Bauer auf den Markt brachte, der Kleingärtner erntete, wurde durch vielfach blond dargestellte Hausfrauen bewahrt und für alle gemehrt. Damit diente sie sich selbst, ihren Kindern, ihrem Gatten, ihrem Volk.

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Einkochen als Pflicht der deutschen Frau (Lehrbuch, 1935, 31 (l.); Anleitungen, 1941, Titelblatt)

Einkochen wurde während des Nationalsozialismus zu einem häuslichen Quasi-Militärdienst der Frau, war ihr Beitrag zur „Nahrungsfreiheit“ des Deutschen Reichs, reduzierte die Importe. Die Firma Weck stellte sich willig in den Dienst des NS-Regimes, unterstützte Ideen landwirtschaftlicher Autarkie. In ihren Publikationen war die Volksgemeinschaft immer auch eine Einkochgemeinschaft. Einkochen wurde zur moralischen Verpflichtung, zum Dienst für Führer und Vaterland (Mechtilde Raetsch (Bearb.), Meine Vorratsküche, erw. Ausg., Berlin 1936).

28_Lehrbuch_1935_p01_Hausfrau_Einmachen_Haushaltskonservierung_Konservenglas_Weck_Frauenbild

Moralische Verpflichtung (Lehrbuch, 1935, 1)

Für die Firma Weck hatte die einkochende Frau ihre natürliche Aufgabe gefunden, eine Aufgabe, die sie glücklich und dankbar machen sollte (Glück im Glas, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen o.J. (1936)). Eine einfache haushälterische Tätigkeit wie das Einkochen wurde im Sinne des Regimes aufgeladen – und die Mehrzahl der Hausfrauen folgte willig. Und doch: Der eigentliche Umschwung hin zu modernen Formen der Fremdversorgung und Konservierung erfolgte just während der NS-Zeit (Spiekermann, 2018, insb. 474-548). Fast die Hälfte der öffentlichen Forschungsinvestitionen von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges floss in die Agrarwirtschaft und den Lebensmittelsektor.

29_Einmachen_1935_p13_Haushaltskonservierung_Gärung_Trocknen_Obst_Sauerkraut

Einsäuerung von Sauerkraut, Trocknen von Obst (Einmachen, 1935, 13)

Die Folge war ein besseres Wissen über Erntepraktiken, Lagertechniken, Verarbeitung und Konservierung, über Geschmack und Lebensmittelpsychologie. Selbst getrocknete Nahrungsmittel wurden nun zunehmend schmackhaft. Die Haushaltsratgeber der 1930er Jahre empfahlen das Einkochen, präsentierten aber auch eine breite Palette tradierter Formen des Einmachens (Ewald Köhnemann, Saft, Mus und Marmelade, Berlin 1940). All dies auf dem vermeintlich neuesten Stand der Wissenschaft, was selbst für die Vergärung von Kohl zu Sauerkraut galt.

30_Kochbuch_1940_p54_Einmachen_Haushaltskonservierung_Backofen_Glaskonserven

Abseits der Sterilisierungsapparate: Einkochen im Gasbackofen (Kochbuch für den Junker u Ruh Gasherd, Karlsruhe 1940, 54)

Auch die wachsende Zahl von Elektro- und Gasherden erlaubte neue Formen des Einmachens – ganz ohne teure Konservierungsgeräte. Daneben zahlte sich die intensive Forschung von Kühl- und Gefriertechnik aus. Diese war zwar vornehmlich für die Wehrmacht gedacht, auch der „Volkskühlschrank“ ließ auf sich warten. Der Aufbau der Kühlkette sollte den eroberten europäischen Großraum miteinander und dann auch die Haushalte mit vitaminhaltiger und tiefgefrorener „Frischkost“ versorgen. Der Elektrokühlschrank, in Deutschland seit Ende der 1920er Jahre von der US-Firma Frigidaire in den Massenmarkt eingeführt, blieb eine Ausnahme für wohlhabende Haushalte. Doch die Werbung vermittelte schon einen Abglanz ganz anderer, schonenderer Verfahren für die Haushaltskonservierung und einer nationalsozialistischen Wohlstandsgesellschaft.

31_Lebe gesund_1939_Titelblatt_Kuehlschrank_Haushaltsgeraete_Elektrogeraete_BBC

Vorbote eines neuartigen technischen Systems: Werbung für Elektrokühlung (Lebe gesund durch Elektrokühlung […], Mannheim 1939, Titelblatt)

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gab es schon ein breites, vor allem propagandistisch aufbereitetes Angebot von Gefrierkonserven, die im Haushalt nur noch gelagert oder besser sofort verwertet werden sollten. Die Mehrzahl der Deutschen aß solche Produkte erst ein bis zwei Jahrzehnte später, erst in den 1960er Jahren setzte sich Tiefkühlkost allgemein durch.

32_Einmachen_1942_p81_Haushaltskonservierung_Einmachen_Obst_Marmelade_Gemüse_Gurken_Pilze_Fleisch_Statistik

Hitzesterilisierung, Einkochen und andere Konservierungsverfahren im Deutschen Reich 1941 (Ergebnisse, 1942, 81)

Im Zweiten Weltkrieg aber – das zeigen die Ergebnisse einer Untersuchung der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung von ca. 14.000 Personen im Deutschen Reich 1941 (Ergebnisse einer Untersuchung über die häusliche Vorratshaltung, Markt und Verbrauch 14, 1942, 49-87) – wurde in fast jedem deutschen Haushalt Vorratshaltung betrieben; zumeist von Obst und Gemüse, aber auch von Fleisch und selbst Pilzen. Dies galt für Stadt und Land. Frischware wurde nicht nur zum unmittelbaren Verzehr gekauft, sondern auch, um sie einzumachen, um einen Puffer bei Versorgungsengpässen zu haben. Blicken wir auf die Konservierungsarten, so dominierte die Hitzesterilisierung bei weitem. Sie erfolgte zumeist in Gläsern. Das betraf insbesondere Obst und Gemüse, aber auch Fleisch, Wurst und Speck. Marmelade wurde vorwiegend eingekocht, Gurken eingesalzen oder eingesäuert, Pilze vielfach gedörrt, Wurst und Speck häufig geräuchert. Bemerkenswert war auch, dass es nur geringe soziale Unterschiede bei der Haushaltskonservierung gab. Ein Volk, ein Reich, und (fast) alle Haushalte am Konservieren.

33_Lehrbuch_p28_Haushaltskonservierung_Hausschlachtung_Weck_Kampf-dem-Verderb

Kampf dem Verderb (Lehrbuch, 1935, 28)

Das war auch ein Folge der 1936 im Rahmen des Vierjahresplan einsetzende Kampagne „Kampf dem Verderb“. Sie sollte die Hauswirtschaft effizienter machen, auf Engpässe, Rationierung und Krieg vorbereiten, gab daher Hilfestellungen für Einkauf, Zubereitung, Konservierung, Einkellerung und Resteverwertung. Weck, aber auch viele andere Firmen, unterstützten mit eigenen Werbekampagnen. All dies ging einher mit propagandistischen Feldzügen à la „Brot ist kostbares Volksgut“, „Richtig Verbrauchen“, „Kampf dem Verderb – so gut wie Erwerb“ und schuf neue Phantasiegeschöpfe, etwa „Groschengrab, das Ungeheuer“ (Spiekermann, 2018, 388-391). Weck, ein NS-Musterbetrieb, profitierte davon. Bis Kriegsende propagierte dieser Einmachen als Teil des vermeintlichen Schicksalskampfes des deutschen Volkes, beschwor Nahrung als Waffe und die einkochende Hausfrau als Kämpferin (Hanns W. Brose, Die Wirtschaftswerbung im Dienste der häuslichen Vorratshaltung, Markt und Verbrauch 14, 1942, 131-135).

34_Die Deutsche Volkswirtschaft_13_1944_p744_Einmachzeit_1940_Titelblatt_Haushaltskonservierung_Kriegsdienst_Weck_Glaskonserven_Steingut

Mobilisierung bis zum Schluss (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 744 (l.); Einmachzeit, 1940, Titelblatt)

Wachsende Fülle: Haushaltskonservierung und Haushaltshandeln in Zeiten der Enthäuslichung

Über die Nachkriegszeit will ich Ihnen nur einige allgemeine Trendaussagen geben, denn dies ist eine Zeitspanne, die sie selbst aus ihrer Lebenspraxis und/oder den Erinnerungen ihrer Familien oder Freunde kennen – oder zumindest kennen könnten. Weck transformierte seine Botschaft der Haushaltskonservierung jedenfalls in die Nachkriegszeit, verlor aber Produktionsstätten und Glashütten im „Osten“. Ersatz kam zeitweilig von kleineren Anbietern, darunter etwa der bis heute bestehenden Boffzener Firma Noelle & von Campe.

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Sortimentsstrukturen in SB-Geschäften und Supermärkten 1954-1988 (Spiekermann, 2018, 665)

Die Bedeutung konservierter Nahrung stieg seit den 1950er Jahren immens an, auch wenn uns das vielfach nicht bewusst ist. Die Konservierung wurde jedoch immer stärker vom Haushalt in die Versorgungsketten zurückverlegt, im großen Stil erfolgte Enthäuslichung. Selbst „frische“ Nahrung ist heute vielfach vorbehandelt, wird insbesondere gekühlt. Die in der Zwischenkriegszeit beträchtlich fortentwickelten Techniken des Gefrierens und Kühlens, des Trocknens, des Einsatzes immer leistungsfähigerer Verpackungen, von Zusatzstoffen und Aromen wurden nun mit der weiter entwickelten amerikanischen und britischen Technik gekoppelt. Die angelegten Veränderungen gestalteten Einkauf und Vorratshaltung ab den 1950er Jahren tiefgreifend um, setzten sich dann in den 1960er Jahren durch, wurden durch die Technisierung der Haushalte, insbesondere durch Kühlschränke und Gefriertruhen in den 1970er Jahren nochmals beschleunigt.

Häusliche Konservierung ist auch heutzutage nicht unwichtig. Doch ihre Bedeutung hat sich grundlegend gewandelt. Sie ist kaum mehr Mittel gegen Not, Mangel und Enge. Stattdessen ist sie Beziehungspflege, Ausdruck von Zuwendung und Liebe, von Selbstbehauptung angesichts überquellender Verkaufsregale. In einer Welt austauschbarer Güter sind selbstgemachte Marmeladen oder selbst eingelegte Gemüse etwas Besonderes (Heinz G. Gans, Konservieren rund ums Jahr, Köln 2013). Das nehmen wir gerne an, teilen es auch gerne, denn es soll zeigen, wer wir sind und dass wir sind.

Wir leben heute – trotz neuerlicher „Versorgungsengpässe“ – in einer im Vergleich zum 19. und frühen 20. Jahrhundert fast paradiesischen Welt, kaum mehr rückgebunden an Ernterhythmen, an die Mühsal der Agrikultur. Die Hoffnungen des 19. Jahrhunderts, sie haben sich erfüllt, wir haben sie erfüllt, vielfach gar übertroffen. Die Geschichte der Haushaltskonservierung zeigt jedoch, dass dieser Weg in die Versorgungssicherheit nicht alternativlos war. Haushalte dominierten die Konservierung noch um 1940, trotz funktionierender und leistungsfähiger Industrien. Dies gründete auf einer speziellen Rolle der Hausfrau, auf spezialisierten und unterstützenden Unternehmen, auf staatlichen Zielen relativer Autarkie. Fremdversorgung war nie alternativlos, das unterstreicht die Geschichte der Haushaltskonservierung in Glas, in Blech und mittels anderer Techniken. Wir haben unsere Wahl getroffen, haben damit Freiheiten abseits des früher üblichen Haushaltshandelns gewonnen. Doch dies bedeutet nicht, dass wir oder unsere Nachfahren nicht doch einst auf entsprechende Selbsthilfe wieder zurückgreifen werden, vielleicht gar müssen.

Uwe Spiekermann, 30. April 2022

Carne pura – Fleischpulver, Volksnahrungsmittel, Fehlschlag

Carne pura, reines Fleisch… Dieser Markenname der 1880er Jahre steht für die Nöte und Visionen dieser Zeit, für Forschungsdrang, Geschäftsinteressen und einen veritablen Bankrott. Wissenschaft und eine global ausgreifende Wirtschaft waren, so die Botschaft, Garanten für die Minderung der sozialen Spannungen, strebten nach gesunder und kräftiger Ernährung auch und gerade der Ärmeren. Carne pura war neu, materialisierte die Schaffenskraft starker Männer und die Verheißungen der Moderne. 140 Jahre ist das her; und das Spiel wiederholt sich auch heute tagtäglich, wenngleich in anderem Gewande, mit anderen Marken und Begründungen.

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Der Carne pura-Pavillon auf der Berliner Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen 1883 (Die weite Welt 8, 1883, 504)

Vergegenwärtigen wir uns einmal Berlin im Sommer 1883: „Jeder Fremde muß in die ‚Hygienische!‘“, hieß es damals. „Jeder, dem ein Bädeker unter dem Arme und die Lust, Neues und Interessantes zu sehen, in der Brust saß, pilgerte nach den Anlagen und Räumen der hygienischen Ausstellung, wo das große Buch ‚von der gesunden und kranken Menschheit‘ aufgeschlagen war“ (Friedrich Schwab, Reiseplaudereien II., Prager Tagblatt 1883, Nr. 291 v. 20. Oktober, 1-3, hier 1). Berliner und Fremde blickten auf die wissenschaftlichen Errungenschaften, staunten ob der Fortschritte, freudig, da die Wissenschaft „immer weiter vorschreiten und gegen Gefahren aller Art Schutz bieten wird“ (Allgemeine deutsche Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen zu Berlin 1882/83, Die weite Welt 8, 1883, 515-516, hier 516). Teil dessen war der glänzende Carne pura-Pavillon, ein Muss auf der Hygienischen. Dort wurde man kundig aufgeklärt, konnte kosten von einem neuen Fleischpulver, von zahllosen damit bereiteten Speisen. Kräftig, ja würzig im Geschmack, wurde es als unbegrenzt haltbar gepriesen, war zudem billiger als Frischfleisch. War man im Pavillon Zeuge eines anbrechenden neuen Zeitalters preiswerter Ernährung, allseitiger Verfügbarkeit der teuren und begehrten Essenz des Rindfleisches? Die Macher, allesamt veritable Männer, waren davon überzeugt. Sie waren seriöse Mitglieder der bürgerlichen Klassen. Gegen die massiven Überschwemmungen im Rheinland hatten sie schon im Winter 10.000 Portionen Carne pura gespendet und in eigens errichteten Suppenanstalten den Flutopfern Beistand geleistet (Carne pura, Wiener Presse 1882, Nr. 1 v. 17. Dezember, 5). Die Welt würde besser werden – und Carne pura Teil davon.

Fleischgier und der Ausgriff nach Südamerika

Ja, die Welt. Die Besucher kosteten in Berlin tatsächlich das Endprodukt eines weltweiten Ausgriffs auf die Fleischreserven der Welt. Wissen, können, haben. Neue Maschinen, vor allem aber die immer größeren Segelschiffe, die immer mächtigeren Dampfer machten sie verfügbar: „Die Bisonheerden der nordamerikanischen Prairien, die halbwilden Rinder der Pampas in Südamerika, der Falklandsinseln, die Millionen der Antilopen, Gazellen, Gnu’s, Springböcke etc., welche Südafrika durchwandern, die podolischen Rindviehheerden der südrussischen und asiatischen Steppen, die Schafe Australiens etc. geben noch auf Jahrhunderte Material genug her, um die Menschheit mit hinreichender Fleischnahrung zu versehen“ (Wilhelm Hamm, Nationalökonomische Zeitfragen. Zur Ernährung des Volkes: Billiges Fleisch. (Fortsetzung.), Allgemeine Rundschau 1865, Nr. 37 v. 10. September, 304).

Dieser Ausgriff auf die naturalen Ressourcen hatte viele Väter, Handelstreibende, vor allem aber Wissenschaftler. Deutsche standen hintan gegenüber Briten, Franzosen, Niederländern, doch ihre Zugriffe erfolgten trotz fehlender in den Boden gerammter Flaggen. Der im 18. Jahrhundert massiv ausgeweitete, im 19. Jahrhundert dann in große Kolonialreiche mündende Blick über die Grenzen Europas machte den Blick frei für die massiven Unterschiede zwischen den Weltregionen – und das betraf weniger Kulturen, sondern vorrangig Rohstoffe und Preise. Fleisch war in Übersee billig zu haben. Und Fleisch war knapp und teuer in den immer dichter bevölkerten Staaten Europas. Doch es war Frischware, also verderblich. Transport war erforderlich und eine Mechanik der Bewahrung.

Die dazu hierzulande bekannteste Idee der Mitte des 19. Jahrhunderts stammte vom Münchener Chemiker Justus Liebig (1803-1873). Er wusste von den großen, noch vielfach wild lebenden Rinderherden der südamerikanischen La-Plata-Regionen, die zwar zunehmend eingefangen und getötet wurden, von denen man aber lediglich die Felle zur Lederproduktion nutzte. In den 1870er Jahren schätzte man die Zahl der Rinder in den Pampas auf etwa 30 Millionen (Linzer Volksblatt 1878, Nr. 250 v. 29. Oktober, 1). Dort bestanden unabhängige Siedlerkolonien, bürgerliche Republiken, der spanischen Herrschaft entronnen. Kühltechnik war jedoch noch nicht entwickelt; Pökeln und Trocknen veränderten den Geschmack des Fleisches gravierend. Liebig empfahl daher ein zuvor in Frankreich entwickeltes Verfahren des Auskochens und Filtrierens: Am Ende würde die Essenz des Fleisches stehen, die wertvollen Inhaltsstoffe eingedickt. Von Wasser und Ballast befreit würde dieser Fleischextrakt erlauben, den Überfluss Südamerikas zumindest teilweise in Deutschlands Küchen zu lenken. Erfolgreiche multinationale Konzerne entstanden seit Mitte der 1860er Jahre, mochte Liebigs Idee vom nährenden Extrakt auch trügen. Er enthielt kein Eiweiß, keine Nährstoffe – und die mit dem Extrakt verbundenen Ideen billigen Fleisches für die minderbemittelte Bevölkerung erforderten offenkundig andere Technologien.

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Der Gaucho, die Rinder und das Markenprodukt: Nachklang des Ausgriffs auf die naturalen Ressourcen Südamerikas (Fliegende Blätter 115, 1901, Nr. 2920, Beibl., 2)

Anregungen dazu kamen aus der sog. Münchener Schule der Ernährungsphysiologie, einem Kreis von Kollegen und Schülern Liebigs, die nicht nur die Grundlagen der modernen Stoffwechsellehre etablierten, sondern die auch Wissenschaft in liberaler Verantwortung für das Gemeinwesen betrieben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 37-42). Die trotz auskömmlicher Grundversorgung stetig gefährdete Eiweißversorgung der Bevölkerung sollte mittels Expertenwissens gesichert werden. Der Physiologe Carl Voit (1831-1908) forderte 1869, dass man über den Import von Fleischextrakt und die als Dünger und Futtermittel dienenden ausgelaugten Fleischreste hinausgehen müsse, um „das ganze Fleisch trocken oder frisch auszuführen“ (zit. n. Marie Ernst, Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker. Ein Kochbuch, Bd. 1, Leipzig 1886, 515). Mangels leistungsfähiger Kühltechnik war die Fleischtrocknung offenbar der Königsweg. Das Verbrennen des nicht zu verwertenden Fleisches schien ihm, aber auch dem Agrarchemiker Julius Lehmann (1825-1894), eine Sünde wider die Natur und den menschlichen Geist zu sein (Julius Lehmann, Untersuchungen über die chemische Zusammensetzung der Fleischextract-Rückstände und über den Nährwerth derselben bei Schweinen, Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern 63, 1873, 3-16, hier 5-6). Fleischextrakt, die hier nicht zu behandelnden Fleischpeptone und das nun wieder in den Blick tretende Carne pura waren wissenschaftliche Geisteswaren, die auf Technik und Chemie gründeten. Sie waren zugleich Ausdruck eines informellen Kolonialismus, der überseeische Länder nicht direkt in Besitz nehmen musste, um einvernehmlich zugreifen zu können. Wissen, können, haben.

Ein neuartiges Fleischprodukt: Forschungen zu getrocknetem Fleischmehl

Auch Franz Adolf Hofmann (1843-1920) entstammte der Münchener Schule (C[arl] Flügge, Franz Hofmann †, Deutsche Medizinische Wochenschrift 46, 1920, 1173). Er hatte dort bei Max Pettenkofer (1818-1901) studiert. Der ist gemeinhin als Vater der modernen Hygiene bekannt, optimierte aber zwischen 1850 und 1852 auch die Herstellung des Fleischextraktes. Ab 1872 institutionalisierte Hofmann in Leipzig das neue Fach der praktischen Hygiene, wurde 1878 dann auf den dort neu eingerichteten Lehrstuhl für Hygiene berufen. Hofmann war ein liberaler Streiter für eine moderne öffentliche Gesundheitsfürsorge, engagierte sich für eine leistungsfähige Wasserversorgung, für Kläranlagen, Großmarkthallen und einen städtischen Schlachthof. Zugleich aber entwickelte er ab Mitte der 1870er Jahre ein neues Produktionsverfahren für Trockenfleisch, für Fleischmehl (Franz Hofmann, Die Bedeutung von Fleischnahrung und Fleischconserven mit Bezug auf Preisverhältnisse, Leipzig 1880, 108-118; daraus auch die folgenden Zitate).

Franz Hofmann war ein „Ritter des Fleisches“, so die Sektenklage vieler Vegetarier. Wie für alle Mitglieder der Münchener Schule war für ihn die Welt ein steter Stoffwechsel. Ernährung verstand er als rationales Unterfangen, die besten Speisen schienen die, „welche für den niedrigsten Preis das dem Menschen nöthige Nahrungsquantum in schmackhafter Form gewähren.“ Die „Körpermaschine“ verdaute aber animalische Nahrung deutlich effizienter als pflanzliche. Die Armenkost der breiten Mehrzahl sei daher defizitär, das Siechtum in den Gefängnissen und Armenhäusern belege dies hinlänglich. Animalische Kost schmecke zugleich besser. Allein die hohen Kosten schnitten die Mehrzahl vom Kauf ab. Technik könne helfen, das billige südamerikanische Fleisch auf die deutsche Tafel zu setzen.

Die Trocknung von Fleisch wurde in deutschen Landen schon seit langem praktiziert – häuslich und gewerblich (Johann Carl Leuchs, Die Kunst zu trocknen, Nürnberg 1829). Die Münchener Schule führte viele ihrer Stoffwechselversuche an Hunden durch, die in Respirationsapparaten Wasser und getrocknetes Fleischmehl erhielten. Es gab zahllose Patente (Ch[ristian] Heinzerling (Hg.), Die Conservirung der Nahrungs- und Genussmittel, Halle a.S. 1884, 147-148). Doch das Trockenfleisch war Notbehelf, sein Geschmack wurde mit wachsender Eiweiß- und Fettzersetzung zunehmend muffig, schlug schließlich ins Ekelige um. Fortschritte gab es, parallel zum verbesserten Wissen um Eiweißchemie und Sensorik. Kein geringerer als der britische Hygieniker Arthur Hill Hassall (1817-1894) hatte Mitte der 1860er Jahre mit seinem Produktionsverfahren einen neuen Standard gesetzt. Sein Fleischmehl entstand durch eine langsame Trocknung bei relativ niedrigen Temperaturen. Dies verhinderte nicht nur die Gerinnung des Eiweißes, sondern nutzte auch die Diffusionswirkung des Fleischsaftes selbst. Das Hassallsche Fleischmehl zielte vor allem auf die Schiffs- und Militärverpflegung, doch es diente auch der Fortifizierung anderer Lebensmittel. Vermengt mit Kakao oder aber Zwieback stärkte es Kranke und Rekonvaleszente (Conserviren von Nahrungsmitteln, Deutsche Industrie-Zeitung 1, 1867, 396-397).

03_Dingler's polytechnisches Journal_247_1883_p336_Carne-pura_Fleischtrocknung_Maschinenbau_Nahrungsmitteltrocknung

Trocknungsapparat zur Produktion von Fleischpulvers (Dingler’s polytechnisches Journal 247, 1883, 336)

Hofmann nahm die Grundgedanken Hassalls auf, führte sie weiter: „Das einzig richtige Verfahren des Fleischtrocknens kann somit nur darin bestehen, die Austrocknung anfangs bei niederer Temperatur einzuleiten um einen Theil des Wassers zu entfernen und am Fleisch eine äussere undurchlässigere Trocknungsschicht zu bilden, dann die Temperatur zu steigern um die vollkommene Gerinnung und Austrocknung ohne jeden Verlust zu erzielen“ (Hoffmann, 1880, 110). Während Hassall sein Fleischmehl rasch öffentlich vermarktete, setzte Hofmann allerdings auf langwierige Tests, die spätestens 1876 einsetzen und auch 1880 noch nicht beendet waren. Gleichwohl war er damals überzeugt, dass das nach seinem Verfahren hergestellte Fleischmehl, „wegen seines Geschmackswerthes sowie des Nährwerthes das geeignetste Zusatzmittel zur Pflanzenkost“ sei (Ebd., 115).

Hofmann war der Ideengeber von Carne pura – doch zum Taktgeber und Propagandisten mutierte ein Geschäftsmann ganz anderen Kalibers: Carl Alphons Meinert, 1843 in Leipzig geboren, 1888 in seinem südlich davon liegenden Gut verstorben. Hofmann war Wissenschaftler, Meinert wollte dies gerne sein. Hoffmann gestaltete, auch als Stadtverordneter, die Konturen seiner neuen Heimatstadt, Meinert wollte dagegen als Geschäftsmann die Konturen des neuen Deutschlands verändern. Hoffmann regte an, überließ die Patentierung seines Verfahrens anderen. Meinert dagegen sah eine Geschäftschance, eine Möglichkeit, einen Abdruck in der Welt zu hinterlassen.

Carl Alphons Meinert entstammte einer wohlhabenden Leipziger Kaufmannsfamilie. Er ehelichte eine Adelige, Anna Margaretha von Bünau (1843-1919), mit der er zwei Kinder, Reinhold (*1870) und Edith Pauline (*1872) hatte. Auch seine Schwester Margarethe heiratete später einen Rittergutsbesitzer (Leipziger Tageblatt 1876 v. 163 v. 11. Juni, 3355). Schon im Alter von 22 Jahren firmierte Meinert als Doktor der Rechtswissenschaften (Ebd. 1868, Nr. 94 v. 3. April, 2507), doch Zeitgenossen stellten dessen Echtheit in Frage (Ebd. 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451) – und einen Nachweis für die Promotion habe auch ich nicht finden können.

04_Der saechsische Erzähler_1873_03_08_Nr020_p4_Lübeckische Anzeigen_1874_01_28_Nr23_p4_Emil-Meinert_Fischguano_Düngemittel_Fleischextrakt_Buschenthal

Carl Alphons Meinerts Wirkungsfeld väterliches Geschäft: Anzeigen für Fischguano und Fleischextrakt (Der sächsische Erzähler 1873, Nr. 20 v. 8. März, 4 (l.); Lübeckische Anzeigen 1874, Nr. 23 v. 28. Januar, 4)

Der junge Kaufmann trat früh in das Geschäft seines Vaters Emil Meinert ein. Dieser war im Düngemittelhandel tätig, gleichsam auf den Spuren der Liebigschen Agrikulturchemie. Seit 1860 konzentrierte er sich auf den Import von norwegischem Fischguano (Grünberger Wochenblatt 37, 1861, Nr. 53 v. 4. Juli, 2). Dies war Fischkot, ein natürlicher Dünger, dessen Wirksamkeit er in agrarwissenschaftlichen Versuchen in Möckern und Proskau wissenschaftlich erproben ließ – in letzterer Versuchsanstalt war Julius Lehmann aus München Professor (Der Landwirth 9, 1873, Nr. 18 v. 3. März, 76; ebd. 11, 1875, Nr. 94 v. 23. November, 488). Trotz dieser Spezialisierung war das Meinertsche Handelsgeschäft breit aufgestellt. Kontakte nach Südamerika gab es nicht zuletzt durch den Vertrieb von üblichem Peru-Guano sowie von Chili-Salpeter (Leipziger Tageblatt 1869, Nr. 160 v. 9. Juni, 5317). Emil Meinert war zugleich ein Tüftler, aktiv in der Leipziger Polytechnischen Gesellschaft. Ab 1869 übernahm er zudem die Generalagentur für Buschenthals Fleischextrakt (E[duard] Reichardt, Ueber die chemische Untersuchung von Fleischextract, Dingler’s polytechnisches Journal 194, 1869, 505-507, hier 505). Während des russisch-osmanischen Krieges versorgte sie die russische Regierung mit dem fleischhaltigen Suppenpräparat (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 17 v. 17. Januar, 322). Carl Alphons Meinert lernte im väterlichen Geschäft also viel über internationalen Handel, über Agrarwirtschaft und Maschinentechnik – und auch über Werbung für neue wissensbasierte Kunstprodukte.

Dennoch musste Emil Meinerts derweil auch auf Zement- und Kommissionsgeschäfte ausgeweitete Firma im Juni 1877 ihre Zahlungen einstellen (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 174 v. 23. Juni, 3693). Die Firma erlosch im Juli, und der nachfolgende Konkurs betraf nicht nur sein Vermögen, sondern auch das seiner beiden Söhne Carl Emil und Carl Alphons (Ebd., Nr. 198 v. 17. Juli, 4185; ebd., Nr. 236 v. 24. August, 4905). Für letztere war dies ein gravierender Einschnitt, doch sie machten weiter. Bereits im September 1877 wurde in Leipzig die Firma M. Meinert gegründet. Carl Alphons Ehefrau fungierte als Inhaberin, sein Bruder Carl Emil als Prokurist (Ebd., Nr. 254 v. 11. September, 5268). Parallel aber intensivierte Carl Alphons Meinert seine praktische Arbeit am Hofmannschen Fleischmehl. Er etablierte eine „Versuchsstation“, in der bis 1880 mehrere Tonnen Fleisch auf unterschiedliche Arten getrocknet wurden (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, 5). Dieses Trockenfleisch wurde nach Argentinien verschifft, dort die Auswirkungen des Transportes untersucht. Wichtiger waren Tests, ob eine derartige Verarbeitung auch in Übersee möglich war. In Deutschland führte Meinert parallel physiologische Versuche an Arbeitern durch – und konnte auf diese Weise auch den Geschmack des Fleischpulvers erproben. Ende 1880 legte er seine Ergebnisse in einem zweibändigen Werk vor (Armee- und Volksernährung. Ein Versuch Professor C. von Voit’s Ernährungstheorie für die Praxis zu verwerthen, 2 T., Berlin 1880). Der Widerhall war wohlwollend.

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Werbung für Meinerts frühe Werbeschriften für Carne pura (Allgemeine Zeitung 1881, Nr. 333 v. 29. November, Beil., 4904 (l.); Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1882, Nr. 244 v. 20. Oktober, 4540)

Etablierung einer leistungsfähigen Firma

Zu diesem Zeitpunkt war das Produktionsverfahren des neuartigen Fleischmehls bereits patentiert worden. Rechts- und Urheberschutz wurde Ende 1878 von der neu gegründeten Firma M. Meinert und dem Hamburger Kaufmann Johann Conrad Warnecke jr. (1817-1893) beantragt und am 2. Dezember 1879 gewährt (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 283 v. 2. Dezember, 6). Die „Combination verschiedener Verfahren zur Herstellung einer neuen Sorte Fleischmehl“ war Ergebnis des jahrelangen Pröbelns Hofmanns und Meinerts: Frischfleisch wurde vom sichtbaren Fett befreit, dann mit 2-3 Prozent Salz bestreut, anschließend bei variablen Temperaturen zwischen 50 und 60 °C vorgetrocknet, bei 100 °C völlig getrocknet und schließlich vermahlen. Auch an die Fleischhygiene war gedacht: „Um Insekten abzuhalten, sollen die Räume, in denen das Fleisch bearbeitet wird, so stark mit Schwefelkohlenstoffdampf erfüllt werden, als die Arbeiter vertragen können“ (Herstellung von Fleischmehl, Dingler’s polytechnisches Journal 236, 1880, 85). Die Patentierung zeigte Meinert als treibende Kraft, Warnecke war vornehmlich Finanzier. Sein Handelshaus importierte Kolonialwaren und skandinavische Güter, später wurde er Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Die Firma Conrad Warnecke musste im September 1882 allerdings aufgrund beträchtlicher Verluste im Importhandel die Zahlungen einstellen (Chemiker-Zeitung 6, 1882, 1007).

Meinert und Warnecke standen nun vor der Aufgabe Wagniskapital für die Produktion und den Vertrieb des „Patentfleischpulvers“ einzuwerben – und es sollten fast zwei Jahre zwischen der Patenterteilung und der Firmengründung vergehen. Das dürfte zum einen an der komplexen Aufgabe gelegen haben, ein multinationales Unternehmen aufzubauen. Während die verschiedenen Fleischextrakte in uruguayischen oder argentinischen Hafenstädten produziert und in Europa lediglich kontrolliert wurden, sollte die Wertschöpfung des neuen Fleischmehls nicht primär in der überseeischen Peripherie, sondern vorrangig im europäischen Zentrum erfolgen. In Südamerika sollte lediglich das Fleisch getrocknet und versandfertig gemacht werden, weitere Produktionsschritte inklusive der Vermahlung und der Verarbeitung zu Carne pura-Produkten für den Letztkonsumenten dagegen im Deutschen Reich erfolgen. Zum anderen wusste man um den nur begrenzten ökonomischen Erfolg des Hassallschen Fleischmehls – auch wenn es sich bei dem Patentfleischpulver natürlich um eine verbesserte Variante handelte.

Die „Carne Pura, Patent-Fleischpulver-Fabrik, Actiengesellschaft“ wurde schließlich am 15. September 1881 in Hamburg gegründet (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 240 v. 10. Oktober, 7). Ziel war die Produktion und der Vertrieb von Fleischpulver und Conserven. Das Kapital betrug stattliche 600.000 M (Deutscher Reichsanzeiger 1881, Nr. 239 v. 12. Oktober, 8). Carl Adolph Meinert war technischer Beirat und zuständig für Produktion und – in unserer Sprache – Marketing. Der Vorstand bestand aus Hamburger Kaufleuten. Neben Warnecke und Ferdinand Kob stand Julius Richter (1836-1909), ein Bankier und Investor, der zwei Drittel der Aktien zur Subskription hielt, der dafür also weitere Investoren suchte. Auch die genaue Firmenstruktur war noch unklar: Als Produktionsländer waren anfangs Argentinien, Uruguay und Brasilien im Rennen (Carne Pura. Patent Fleischpulver-Fabrik, Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 187 v. 4. August, 2).

Der hohe Kapitalbedarf resultierte auch daraus, dass die Aktiengesellschaft erst einmal das Fleischmehlpatent für 75.000 M in bar und 25.000 M in Aktien erwerben musste. Dies sollte die bisherigen Auslagen decken. Zudem forderten M. Meinert und Warnecke eine „Rente“ von 20 Pfennig je Kilogramm Fleischpulver. Für eine Billigware war dies eine denkbar schwere Hypothek. Und doch, Venture-Capital ist immer eine Frage des in Aussicht gestellten Ertrages. 18,5% seien pro Jahr zu erwarten, die Produktion dürfte bei jährlich etwa 300,000 Kilogramm liegen. Die Aktionäre hatten 20% der Aktiensumme unmittelbar einzuzahlen, der Rest würde dann peu á peu abgerufen werden (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451). Franz Hofmann war zu diesem Zeitpunkt längst mit anderen Dingen beschäftigt, war an der Firma nicht beteiligt und hatte von den Plänen und Statuten erst aus der Zeitung erfahren (Ebd., Nr. 222 v. 10. August, 3506). Sein Name war jedoch Teil des werbenden Statuts – ebenso wie die Carl Voits, Max Pettenkofers und vieler anderer Gelehrten und Militärs. Ja, Militärs, denn Carne pura sollte zwar mit höchstens 4 M pro Kilogramm deutlich günstiger als Fleisch verkauft werden, doch die stehenden Armeen Preußens, Bayerns und Württembergs waren finanzstarke Interessenten. Wichtig auch: Die Gewinne würden vorrangig in das Unternehmen und an die Investoren fließen, erst danach müsse die „Rente“ an die ursprünglichen Patentinhaber gezahlt werden. Die Journalisten waren dennoch zwiegespalten. Doch ein Jahr vor Gründung des Deutschen Kolonialvereins war die Carne pura AG auch ein nationales Unterfangen, ein „Segen für unser deutsches Volk und unsere deutsche Armee“ (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 224 v. 12. August, 3536). Das Argument billigen Fleisches zog ebenfalls – schließlich war es erklärtes Ziel der Regierungspolitik, das Deutsche Reich zu einem mustergültigen Sozialstaat auszubauen, in dem Sozialdemokraten überflüssig waren. Entsprechend erfreuten sich die meisten Journalisten an dem noch virtuellen Produkt, sei man doch „endlich im Besitz einer Conserve, die auch dem Unbemittelten zugänglich ist.“ Und der Geschmack sei gut: „Selbst der zweite Aufguß überragt noch manche Fleischsuppe, wie sie auf dem Mittagstisch in manchen Familien erscheint“ (Zur Volksernährung, Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 233 v. 21. August, 3665-3666, hier 3665).

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Verlegung von Hamburg nach Bremen (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 286 v. 2. Dezember, 8)

Geld macht sinnlich – und die neu gegründete Firma bewegte sich: Schon im Dezember 1881 verlegte sie ihren Sitz nach Bremen, folgte damit der sich nun herauskristallisierenden Gruppe der Investoren (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 90 v. 17. April, 8). Mit dem knapp 50-Jährigen Heinrich Hollmann hatte man einen aus Bremen stammenden Direktor für die in Buenos Aires angesiedelten Trocknungsanlagen gefunden. Am 15. März 1882 wurde ein neuer Aufsichtsrat gewählt, der die Investorenstruktur widerspiegelte (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 53 v. 5. März, 8). An der Spitze stand mit Ludwig Gottfried Dyes (1831-1903) ein renommierter Bremer Kaufmann, Mitbegründer der dortigen Deutschen Nationalbank. George A. Albrecht (1834-1898) war Inhaber des Bremer Baumwoll-Handelshaus Joh. Lange Sohn Wwe. & Co., Carl August Franzius (1835-1913) Versicherungskaufmann in der Hansestadt. Franz Eduard Lax stammte dagegen aus Minden, wo sein gleichnamiger Vater ein veritables Bauunternehmen etabliert hatte. Als Inhaber einer Knochen- und Düngerfabrik (Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie, Bd. 1, Leipzig 1873, 43) war er schon länger im Südamerikahandel aktiv. Er gewann später aufgrund der wohl 1885 einsetzenden Bestechung von Marineangehörigen notorische Bekanntheit (Altonaer Nachrichten 1890, Nr. 99 v. 29. April, 4). Der Berliner Kaufmann Arthur von Genschow schloss den Reigen ab (Leonhard Volkmar, Geschichte der „Ersten Fabrik condensirter Suppen von Rudolf Scheller Hildburghausen /Thüringen“ 1871-1947, Hildburghausen 1995, 101).

Nach Klärung der Finanz- und Personalfragen nahm der Betrieb an Fahrt auf. Die getrocknete Rohware wurde von Buenos Aires nach Bremen verschifft, dort zu Fleischmehl vermahlen. Dieses konnte direkt abgesetzt werden, wurde in der Regel jedoch zu Suppentafeln bzw. Suppenpatronen weiterverarbeitet (Stinde, 1882, 6). Dazu errichtete man in Berlin eine Konserven-Fabrik, die im April 1882 ihren Betrieb aufnahm (Deutsche Bauzeitung 1882, v. 31. Mai, 254). Um dies zu finanzieren, mussten die Aktionäre ihre Einzahlungen im April und Oktober 1882 komplettieren (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 110, v. 10. Mai, 8; Hamburger Nachrichten 1882, Nr. 254 v. 26. Oktober, 3). All diese Maßnahmen zielten auf eine spektakuläre Präsentation des Carne pura auf der im Sommer 1882 geplanten Hygiene-Ausstellung in Berlin. Den Pavillon konnten Sie schon sehen, eine illustrierte Prachtbroschüre war bei dem aufstrebenden Schriftsteller Julius Stinde (1841-1905) in Auftrag gegeben worden, den ich auch deshalb erwähnen muss, weil er in meinem Geburtsort verstarb.

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Warenzeichen der Carne pura AG (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, IV)

Und doch, ein Brand machte Mitte Mai 1882 diese Pläne zunichte (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 135 v. 15. Mai, Beilage, 1981). Obwohl der Carne pura-Pavillon nicht betroffen war, sollte die Ausstellung erst 1883 öffnen. Für das Bremer Startup-Unternehmen war dies ein schwerer Schlag. Der Markteintritt musste verschoben werden, doch die Fixkosten blieben. Immerhin besaß man ab September ein offiziell eingetragenes Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 211 v. 8. September, 6), das neben die Marke Carne pura trat – und den eher technischen Begriff des Patentfleischpulvers in den Hintergrund treten ließ.

Amerikanische Werbung: Probeessen und Vortragsveranstaltungen

Carne pura wurde schließlich mit einem Knall eingeführt, mit einer großen Sause „in echt amerikanischer Weise“ (Leipziger Tageblatt 1882, Nr. 311 v. 7. November, 5192). Am Sonntag, den 5. November 1882 waren nicht weniger als 3.000 Berliner geladen worden, im Wintergarten an einem Probeessen teilzunehmen. Nun, das gleichnamige Varieté wurde erst 1887 erbaut, doch es handelte sich um formidable Räumlichkeiten des größten Hotels der Reichshauptstadt, ein wenig unterhalb des Bahnhofs Friedrichstraße gelegen: „Wer sollte einer so aparten Einladung wiederstehen? Nachher bei dem schönen Wetter einen Spaziergang, dann den Kaffee bei Bauer nehmen, wie reizend! An die Herrscherin am häuslichen Herde erging also die Weisung: Wir kommen erst Abends nach Hause! Um 12 herum fand nach dem Centralhotel eine förmliche Völkerwanderung statt. Wer dorthin wallfahrtete, ist schwerer zu sagen, als wer nicht: Officiere aller Gradem sämmtlich im Helm, die Aerzte Berlins in großer Zahl, hervorragende Beamte, Professoren, Afrikareisende, Redacteure, Kaufleute, Industrielle – kurz, binnen einer halben Stunde war der Wintergarten des Centralhotels überfüllt“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 521 v. 7. November, 6). 2.000 waren gekommen, allesamt erwartungsfroh, allesamt hungrig – darunter auch mehr als 200 Arbeiter, die in einem Nebensaal ein Carne pura-Mahl erhielten. Die wohlgewandete Menge erfreute sich an den Klängen der Hauskapelle, besichtigte die ausgestellten Präparate, durchblätterte Prospekte und Drucksachen, doch Sitzplätze waren rar. Kleine Büffets mit Proben von Carne pura-Schokolade, -Bisquits und Fleischzwieback gähnten abgegessen leer. Um 13 Uhr schließlich trat Carl Adolph Meinert auf. Er sprach über die Ernährung allgemein, deren Unzulänglichkeit im Besonderen, lobte das Fleisch und kritisierte die Kartoffel, ließ den Blick gen Südamerika schweifen, sprach von deutscher Wissenschaft und endete mit dem Ideal der Zukunft, der Carne pura-Ernährung (Carne pura, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 520 v. 6. November, 2).

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Werbung im Vorfeld des großen Berliner Probeessens (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 519 v. 5. November, 8)

Das dauerte mehr als eine Dreiviertelstunde. Doch dann lenkte Meinert den Blick der zunehmend hungrigen Menge auf das reiche Angebot: „Fleischbrühe in Tassen, Julienne-Suppe aus Carne pura, Patentfleischbohnensuppe mit geröstetem Brod, Patentfleischerbsensuppe, Patentfleischbrodsuppe, Patentfleischgemüse mit Kartoffeln und Erbsen oder Linsen, Sauerkohl mit Kartoffeln in Carne pura gekocht, Carne pura-Graupen mit Kohlrabi und Kartoffeln, gekochtes Rindfleisch in Fleischbrühe etc., ferner Croquettes, Auflauf, Bisquits und Zwieback aus Carne pura“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1882, Nr. 519 v. 6. November, 2). All das gab es, gewiss, doch nur für die Recken, die sich auf dem alimentären Schlachtfeld durchsetzen, die sich im furchtbaren Gedränge behaupten konnten. Erst Besteck und Teller erobern, dann etwas Essbares, so die Devise; und manch Kompromiss musste geschlossen werden, mit Sitte und mit Tischetikette. Wer jedoch irgend in die Nähe der nach der Rede Meinerts hereingetragenen großen Kupferkessel gelangen konnte, „der kostete von der Bouillon, den Erbsen- und Linsensuppen und den sonstigen carne-pura-Genüssen“ (Berliner Tageblatt 1882, Nr. 520 v. 6. November, 3). Diejenigen aber, die leer ausgingen, standen nicht nur vor den Damen bedröppelt da, sondern sannen auf Ersatz. So stürmten Wagemutige den dekorativen „Gabentempel“, entnahmen die dort aufgestellten Verpackungen, öffneten sie erwartungsfroh, um festzustellen, dass sie mit Sand, mit märkischem, gefüllt waren. Und doch – das Resümee der Journalisten war so schlecht nicht: Carne pura war essbar, nichts für Gourmets, doch ganz in Ordnung. Man war sich allerdings nicht sicher, ob es sich als Volksnahrungsmittel würde durchsetzen können. Die große Sause hatte Spuren, die „amerikanische Reklame“ (Dresdner Nachrichten 1882, Nr. 313 v. 9. November, 2) durchaus Eindruck hinterlassen: „Wenn die Absicht der Gesellschaft dahin ging, die Einführung ihrer Fabricate mit Eclat zu bewerkstelligen, so dürfte sie ihren Zweck erreicht haben“ (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 313 v. 9. November, Beil., 4607). Famoses Chaos, durch den „der Zweck einer blitzschnellen Verbreitung des Carne pura-Renommées vollständig“ (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15) erreicht worden sei.

Werbung dieser Art war modern, brach mit tradierten Formen. Dr. Meinert war eben kein Nachfolger der Marktschreier, sondern präsentierte ein modernes, ein deutsches Wissensprodukt auf der Höhe der Zeit. Das Probeessen wandte sich vorrangig an die höheren Kreise, an Multiplikatoren wie die geladenen, vornehmlich in Wohltätigkeitseinrichtungen aktiven Damen. Die gespeisten Arbeiterhundertschaften boten gleichsam ein Abbild ihres Appetits, ihrer Bedeutung. Sie standen kräftig malmend aber auch für die Dankbarkeit der Massen gegenüber dem Einsatz der bürgerlichen und militärischen Spitzen der Gesellschaft. Die parallel verhalten einsetzende Anzeigenwerbung verwies explizit auf die Autorität der kontrollierenden Wissenschaftler. Mit Joseph König (1843-1930) hatte man den damals wichtigsten Nahrungsmittelchemiker Norddeutschlands gewinnen können, mit Paul Jeserich (1854-1927) nicht nur Meinerts Kompagnon bei der Kreation neuer Nahrungsmittel, sondern auch einen der später wichtigsten Gerichtsmediziner des Kaiserreichs. Ihre Namen unterstützten die wissenschaftliche und soziale Aura des Carne pura.

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Wissenschaftliche Werbung für Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 55 v. 24. Februar, 8)

Meinert selbst agierte im Winter 1882/83 als Vortragsreisender in eigener Sache. Seine Publikationen boten die Versatzstücke für Carne pura-Vorträge im ganzen Land. Nach der Berliner Großveranstaltung konzentrierte er sich nun aber auf kleinere Probeessen mit teils handverlesenem Publikum. In Leipzig lud man nur 20 Personen, meist Journalisten, zu einem Mahle, bei dem das Patentfleischmehl im Mittelpunkt stand, es aber doch von Weinen, Rinderfilet, Geflügel und Kompotten umkränzt wurde (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15). Zuvor in der Presse geäußerte Kritik griff die Firma auf, denn der nicht unbeträchtlichen Unsicherheit über Herkunft und Qualität des in fernen Ländern verarbeiteten Fleisches begegnete sie mit Verweis auf strenge Regierungsbeamte und schließlich der Anstellung eines deutschen Veterinärmediziners. Die Frage des Geschmacks ging Meinert in seinen Vorträgen offensiv an, kokettierte gar mit Vorwürfen, Carne pura würde nach Seife, Teer oder gar nach eingestampften Indianern schmecken (Der Vortrag des Herrn Dr. Meinert aus Berlin über das neue Nahrungsmittel Carne pura, Badischer Beobachter 1883, Nr. 75 v. 6. April, 3). Die Geladenen sollten selber kosten, wurden als urteilsfähig angesehen, das fleischige Gut würde für sich selbst zeugen. Die Vorträge dienten zugleich aber Vertriebszwecken allgemeiner Art, nämlich erstens der Werbung für neu eingerichtete Niederlagen, also Großhandels- und Einkaufsstätten, zum anderen aber dem Kontakt mit lokalen Militärs bzw. Vertretern der Wohlfahrtspflege (Carne pura, Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 58 v. 27. Februar, 1-2, hier 1). Die Firma konzentrierte ihre Direktwerbung auf die Ober- und gehobene Mittelschicht, vergaß aber nicht die soziale Agenda des Volksnahrungsmittels. In München waren unter den dort speisenden dreihundert Personen auch zehn Arbeitervertreter aus Augsburg (Carne pura, Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, 865).

Die Direktwerbung für Carne pura erreichte im Sommer 1883 ihren Höhepunkt, denn nun fand nach einem Jahr Aufschub endlich die internationale Hygieneausstellung in Berlin statt, „aus der Asche prächtiger entstanden“ (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 115 v. 19. Mai, 3) denn zuvor. Der mit zwölf elektrischen Glühlichtlampen illuminierte Carne pura-Pavillon (Elektrotechnische Zeitschrift 1883, 372-374, hier 373) lag längs der Invalidenstraße, nahe der Kochschule des Berliner Hausfrauenvereins und dem Gebäude mit dem Siemens-Verbrennungsapparat, der sich bei Stahl- und Glasfabrikation bestens bewährt hatte und nun seine lechzenden Flammen auch auf Leichen warf, menschliche und tierische. Der Pavillon war Informationsplattform und Küche zugleich: Die Resonanz war beträchtlich, die Speisen wurden neugierig gekostet und durchweg als „ganz schmackhaft befunden, wenn auch Einzelne sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen konnten, dass man aus getrocknetem Fleischpulver wohlschmeckende Bouillon und Speisen zu bereiten im Stande ist“ (J[oseph] König und [Eugen] Sell, Ernährung und Diätetik, Lebensmittel und Kost, in: Paul Boerner (Hg.), Bericht über die Allgemeine deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens, Bd. 1, Breslau 1883, 141-226, hier 172). Wie sehr das neue Fleischprodukt lockte, sah man insbesondere am Auflauf der hohen, ja höchsten Häupter: Kaiser Wilhelm I. und Kaiserin Augusta besuchten ihn am 5. Juni 1883 (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 129 v. 5. Juni, 3). Zuvor verbeugte man sich brav vor der Großherzogin von Baden und der Erbprinzessin Charlotte von Meiningen (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 211 v. 8. Mai, 2), dem König von Sachsen und seiner Gattin mit Kronprinz Wilhelm (dem späteren Kaiser Wilhelm II.) im Schlepptau (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 114 v. 18. Mai, 3). Auch der chinesische Gesandte Li Fong Pao „machte zahlreiche Einkäufe und Bestellungen, so im Carne pura-Häuschen“ (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 230 v. 21. Mai, 3). All das und mehr wurde huldvoll berichtet – und war eine stete Werbung für das Neue.

Die Berichterstattung über Carne pura auf der Hygiene-Ausstellung erlaubt es, Werbung, Sortiment und Anspruch der Firma genauer aufzufächern. Vier Punkte sind hervorzuheben: Erstens setzten die Fleischpulverhersteller ihre Direktwerbung auch andernorts fort, luden sie doch Multiplikatoren zu einer persönlichen Führung in ihre am Küstriner Platz gelegene Konservenfabrik. Diese stellte nicht nur Carne pura-Produkte her, sondern auch gängige Fleisch- und Gemüsepräserven für Haushalte und Armeebedarf. Nun aber standen die mit Carne pura vermengten Suppenpräparate im Mittelpunkt: Das in Bremen vermahlene Fleischpulver wurde in Berlin mit getrockneten, neuerlich erhitzten und dann fein vermahlenen Hülsenfrüchten vermischt. In weiteren Mischapparaten fügten die Arbeiter geschmolzenes Fett, Salz und verschiedene Gemüse hinzu. Porree, Zwiebeln, Sellerie und andere Bodenfrüchte gaben dem Mehl zusätzlichen Geschmack. Die so zusammengefügte Masse wurde anschließend abgewogen und in Patronen von je 125 Gramm gepresst. Dieses Komprimat war zylindrisch, etwa vier Zentimeter hoch und mit einem Durchmesser von sechs Zentimetern. Die vorportionierte Patrone konnte mit Wasser in einen Topf gegeben werden und sollte nach zehn bis fünfzehn Minuten Kochen eine fleischig-schmackhafte Suppe ergeben. Die äußere Aufmachung entsprach dem wissenschaftlichen Anspruch, denn lange, lange vor einschlägigen Kennzeichnungsverordnungen enthielt die Verpackung bereits genaue Angaben zu den Nährwertgehalten, bei denen der hohe Eiweißgehalt besonders hervorstieß (Theodor Scheller, Ueber Fleischconservirungsmethoden und deren Verwendung für Heereszwecke, Med. Diss. Berlin 1883, 11). Die Modernität der Angebote wies zugleich über den Gehalt hinaus, galt es doch, „den Hausfrauen die Aufgabe des Ankaufes der einzelnen Nahrungsmittel dadurch zu ersparen, daß man ihnen die letztern entweder bereits zu Kostrationen gemischt oder in einer derartig verbreiteten Form bietet, daß es nur einer kurzen Arbeit bedarf, um daraus preiswürdige Kostrationen zu bereiten“ (H[ugo] Fleck, Hygienische Wanderungen durch die Berliner Ausstellung. IV, Berliner Tageblatt 1883, Nr. 280 v. 19. Juni, 1-2, hier 1). Doch diese für viele Neuerungen der Zeit stehende Aussage rief zugleich Puristen hervor, die Carne pura allein als Fleischpulver, nicht aber als Bestandteil moderner Convenienceprodukte verstanden (Die allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens. II., Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 2, 1883, 275-289, hier 285).

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Produktionspalette der Carne Pura Aktiengesellschaft 1882 (Stinde, 1882, IV)

Zweitens: Die Firmenvertreter, zumal aber Carl Adolph Meinert, waren keine Puristen. Sie präsentierten in ihrem Pavillon eben nicht nur ein neuartiges Fleischpulver, sondern verstanden dieses als Teil einer tiefergreifenden Verwissenschaftlichung der Nahrungsmittelproduktion. Im Pavillon konnten die Gäste gängige Fleisch- und Suppengerichte verzehren, wurden aber auch an Neuerungen wie Patent-Fleisch-Schokolade, Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen sowie Patent-Fleischbiscuits und Patent-Fleisch-Zwieback herangeführt (Stinde, 1882, 30-31). Sie sollten Alltagsspeisen werden, Volksnahrungsmittel. Das unterstrich auch die Ausstellung des Pavillons durch den Leipziger Maler und Graphiker Gustav Sundblad (1835-1891), der durch seine zahlreichen Abbildungen in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ einem Millionenpublikum gut bekannt war. Carne pura war gewiss die wichtigste Innovation, pur oder aber vermischt. Es wurde jedoch ergänzt durch einen neuen, von Meinert entwickelten süßen Kaffee-Extrakt, ein neuartiges Dauerbrot sowie eine neue Margarine namens India-Butter, die Meinert zusammen mit Jeserich entwickelt hatte und im April 1882 patentiert bekam. Sie bestand aus Kokos- und Palmkernmehl, während die meisten Kunstbuttersorten noch aus tierischen Fetten bestanden (König und Sell, 1883, 177). Auch neuartiges Büchsenfleisch war erhältlich. Diese Angebotspalette wurde ergänzt durch Auftragsproduktion anderer Firmen für das Bremer Startup-Unternehmen. Die weltweit präsente Amsterdamer Firma J. & C. Blooker lieferte einen Patent-Fleisch-Kakao, die Kölner Teigwarenproduzenten C.A. Guilleaume & Söhne mit Carne pura versetzte Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen. Auch die Wurzener Bisquitfabrik F. Krietsch verarbeitete das Fleischpulver und lieferte Patent-Fleischbiscuits, Patent-Fleisch-Zwieback und Patent-Fleisch-Schiffbrot (Ludwig Krieger, Carne pura, Rundschau für die Interessen der Pharmacie, Chemie und der verwandten Fächer 1883, 159-161, hier 160). Wissenschaftliches und unternehmerisches Ziel war die Schaffung einer um das eiweißhaltige Carne pura herum gruppierten Palette haltbarer und gehaltvoller Nahrungsmittel.

Drittens kreiste die öffentliche Diskussion immer um den Geschmack des neuen Fleischpulvers. Die im Pavillon gereichten Näpfe wurden als nährend und appetitlich beschrieben (Paul von Schönthan, Die Hygiene-Ausstellung in Berlin. II., Die Presse 1883, Nr. 147 v. 31. Mai, 1-3, hier 3), insgesamt lag die Wertung bei ordentlich bis akzeptabel. Selbst Lohnschreiber der Firma konzedierten allerdings, dass Carne pura nicht wie Frischfleisch schmecke, ja, einen „etwas eigenthümlichen Beigeschmack und Geruch“ (König und Sell, 1883, 174) besäße. Ein führender Militärarzt sprach von einem „gewissen fremdartigen Beigeschmack“ (W[ilhelm] Roth, Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens zu Berlin im Sommer 1883. (Fortsetzung), Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 16, 1884, 161-269, hier 171). Andere Besucher erinnerten sich der famosen Erbswurst von 1870/71, die anfangs gerne genommen, mit der Zeit aber aufgrund ihres immer gleichen Geschmackes (und der langsamen Fettzersetzung) immer stärkeren Widerwillen hervorgerufen hatte (Lohmann, 1883, 361). Für die Firma waren dies Aufforderungen für technische Veränderungen und verbesserte Rezepturen ihrer Produkte.

Viertens schließlich diskutierten die Besucher des Carne pura-Pavillons die Zukunftsfähigkeit des Produktes, vorrangig also seine Marktgängigkeit. Das Marktpotenzial schien beträchtlich, doch darüber würde der zukünftige „Verbrauch im Kleinen“ (Scheller, 1883, 11) entscheiden. Zentral dafür war der Preis. Ohne eine weitere Preisreduktion sei Carne pura für den Massenmarkt schlicht zu teuer, könne daher einzig in die Truppen- oder Massenverpflegung Eingang finden (Fußnote bei Lohmann, 1883, 361). Dies galt, obwohl die meisten Besucher die Meinertschen Angaben von dem gegenüber Frischfleisch vermeintlich billigeren Fleischpulver durchaus wiedergaben. Chemiker und Physiologen stimmten ihnen auf Grundlage der Stoffbilanzen zu – und Carne pura besaß einen Eiweißgehalt von knapp 70 % (J[oseph] König, Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, T. 1, 2. sehr verm. u. verb. Aufl., Berlin 1883, 72). Im Alltag aber kämen auch andere Faktoren zur Geltung. Sie würden über die Zukunft des Carne pura entscheiden.

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Eine breite Produktpalette (Hamburger Nachrichten 1883, Nr. 42 v. 18. Februar, 12)

Der steinige Weg in den Massenmarkt

Das Marketing der Carne pura Aktiengesellschaft war für die 1880er Jahre ungewöhnlich, hinterfragt gängige Erzählungen von einer vermeintlich völlig rückständigen Werbung dieser Zeit (so etwa das Zerrbild von Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, 432-435). Doch Präsenz im Massenmarkt war mit einer reichsweit beachteten Direktwerbung nicht erreicht. Dazu musste ein Vertriebsnetz aufgebaut werden – und das war schwieriger zu erhalten als Gutachten von Multiplikatoren, die Care pura „eine grosse Zukunft“ vorhersagten (Carl Rüger, Attest v. 30. August 1883, Bundesarchiv R 86 Nr. 3442).

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Neue Nahrungsmittel und bewährte Absatzstrukturen (Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, Beil., 862)

Der damalige Lebensmittelhandel war noch entlang gestufter Absatzketten organisiert. Produzenten lieferten an Großhändler, diese an Agenturen und Kolonialwarenläden. Genaue Zahlen fehlen, doch kann man 1882 von ca. 200.000 Nahrungsmittelgeschäften ausgehen (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 704). Markenartikel waren selten, nationale Märkte gab es nur für wenige Artikel, die Läden führten ein aus heutiger Sicht sehr kleines Sortiment gangbarer Waren. Carne pura war haltbar, gewiss, doch es war ein neuartiges Produkt, das tradierte Ernährungsweisen in Frage stellte. Investoren waren gewonnen worden, die Produktionsstruktur war etabliert. Ende 1882 begann zudem Überzeugungsarbeit in den wichtigsten Städten des Deutschen Reichs: Großhändler und Agenturen mussten gewonnen werden, diese dann die Kleinhändler beliefern. Die Carne pura Aktiengesellschaft bot Flankenschutz, informierte das Publikum mittels Anzeigen über die lokalen Verkaufsstätten.

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Aufbau eines Vertriebsnetzes (Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 6 v. 7. Januar, 4)

In München konnte man beispielsweise in knapp zwei Dutzend Niederlagen Carne pura-Produkte kaufen. Dabei handelte es sich durchweg um teils seit langem etablierte Kolonialwarenhandlungen. Das Netzwerk wuchs im Frühjahr auf 22 Niederlagen an, blieb auf dieser Höhe, wenngleich mit leicht sinkender Tendenz (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 73 v. 14. März, 8; ebd. 1883, Nr. 238/239 v. 26. August, 12). In der Provinz waren die Verhältnisse begrenzter. Im oberfränkischen Coburg benannten die Anzeigen lediglich einen lokalen Händler (Coburger Zeitung 1883, Nr. 123 v. 29. Mai, 541).

14_Neueste Nachrichten und Muenchener Anzeiger_1883_06_20_Nr171_p05_Ebd_04_19_Nr119-120_p4_Fleischextrakt_Fleischpulver_Carne-Pura_Feinkost_Kolonialwarengeschaeft

Etablierung im Feinkosthandel (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 171 v. 20. Juni, 5 (l.), Ebd., Nr. 119/120 v. 29. April, 4)

Dieses Vertriebsnetz ermöglichte einen allgemeinen Absatz, begrenzte ihn aber zugleich auf eine bürgerliche Käuferschicht. Während die Werbung der Bremer Firma ihre Produktpalette als solche präsentierte, banden die einzelnen Läden das neue Fleischmehl in ein anderes Umfeld ein, nämlich das von Kolonialwaren, Genussmitteln und Feinkost, das der gehobenen bürgerlichen Tafel. Angesichts der damals (und gewiss bis heute) üblichen sozialen Segregation der Einkaufsstätten kann von einem wirklichen Massenangebot daher nicht die Rede gewesen sein.

15_Rosenheimer Anzeiger_1883_12_19_Nr289_p3_Carne-pura_Fleischpulver_Fleischkonserven_Suppenpraeparate.

Fehlende graphische Durchdringung (Rosenheimer Anzeiger 1883, Nr. 289 v. 19. Dezember, 3)

Vor Ort wurden Anzeigen durchaus in Einklang mit den Grundinformationen der Carne pura AG ausgestaltet. Doch dies betraf nur den Inhalt, die Worte: „Fleischnahrungsmittel, billig, nahrhaft, schmackhaft, haltbar. Garantie für Reinheit, Güte, Gehalt und Haltbarkeit. Amtliche und tierärztliche Controle der Fabriken in Buenos Aires und Berlin. […] Bedeutende Ersparnis an Brennmaterial und Zeit“ (Düsseldorfer Volksblatt 1883, Nr. 261 v. 29. September, 4) – das waren die Kernbotschaften abseits der Nennung von Produkt und Sortiment. Das neue Präparat wurde präsentiert, nicht aber genauer vorgestellt, nicht wirklich erklärt. Zugleich gelang es der Firma nicht, einheitliche graphische Anzeigenstandards durchzusetzen. Das mag auch an den begrenzten technischen Möglichkeiten vieler Zeitungen gelegen haben, doch Klischeewerbung war damals durchaus üblich. Carne pura war zwar Markenartikel, doch eine stringente Markenführung überforderte die Bremer Vertriebsabteilung. Überraschend ist auch, dass man parallel kein Versandgeschäft aufbaute. Dabei konnte man in dieser Zeit nicht nur bei Textilversendern wie etwa Rudolph Hertzog ordern, sondern auch Weine, Zigarren, Butter, Konserven oder aber Baumkuchen per Post und Nachnahme bestellen. Gewiss, dies wäre ein Bruch mit dem vielfach gängigen Borgwesen der Mittel- und Unterschichten gewesen. Doch Carne Pura war haltbar und gut verpackt, wäre also einfach zu versenden gewesen. Stattdessen begann schon die internationale Expansion des Produktes: In Österreich wurde Carne pura im September 1883 als Marke registriert (Wiener Zeitung 1883, Nr. 213 v. 16. September, 7). Auch im westlichen Ausland, etwa den Niederlanden, wollte man den Markt erobern.

Die Carne pura AG wählte allerdings andere Wege, durchaus in Einklang mit der Direktwerbung seit November 1882. Die Anzeigen mochten keine genaueren Informationen darüber enthalten, wie das neue Fleischmehl in der Küche zu verwenden war, doch die Firma schuf Hilfsmittel für die Hauswirtschaft. So wurde erst für die Kochkunstausstellung in Leipzig, dann auch für die Berliner hygienische Ausstellung die Leiterin der hannoverschen Kochschule Lina Kux engagiert, die nicht nur vor Ort kochte, sondern die Zubereitung auch (den bürgerlichen Besuchern) erklärte (Carne pura, Industrieller Anzeiger 1883, Nr. 5 v. 18. April, 34). Ihre Mutter, eine der nicht wenigen erfolgreichen Kochbuch- und Haushaltsschriftstellerinnen, offerierte ab Mai 1883 ein spezialisiertes Kochbuch mit nicht weniger als 187 Rezepten (Auguste Kux, Carne pura-Kochbuch. Erste populäre Anleitung, naturhafte, schmackhafte und billige Speisen aus den Carne pura-Nahrungsmitteln zu bereiten, 5. Aufl., Berlin 1883). Für 50 Pfennig billig zu haben, unterstützte das Büchlein den lokalen Absatz der Produkte (Elbeblatt und Anzeiger 1883, Nr. 62 v. 29. Mai, 6). Ab 1884 war es auch in niederländischer Übersetzung erhältlich.

16_Davidis-Rosendorf_1885_p638_Kartoffelsuppe_Carne-pura_Rezept

Suppenrezept mit Carne pura (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, 638)

Wie bei den Probeessen und den Ausstellungen setzte die Carne pura AG auf eine Art Rieseleffekt. Das gute Produkt würde sich durchsetzen, sobald vernünftige Menschen darüber in Kenntnis gesetzt wären. Weitere Kochbücher berichteten nach Honorarzahlungen über das neue Fleischmehl, präsentierten einschlägige Rezepte, „wenn auch die damit gemachten Versuche und Erfahrungen noch nicht abgeschlossen sein können“ (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, III). Die redaktionelle Reklame für das neue „Nahrungsmittel von großem Werte“ (ebd., 639) war zugleich ein doppelter Appell an das Bürgertum. Auf der einen Seite ging es um den Konsum von Carne pura, zumal als Grundstoff einer Fleischbrühe. Auf der anderen Seite war dessen Verbreitung eine soziale Mission: „Die alte Erfahrung, daß fast alles Neue mit Vorurtheilen zu kämpfen hat, muß bei der Einführung des Patent-Fleischpulvers ins Auge gefaßt werden und Jeder, der ein Herz für die Nothlage des Mitmenschen besitzt, möge sich an der planmäßigen belehrenden Einwirkung auf das Volk, sei es in weiteren oder engeren Kreisen betheiligen“ (Ernst, 1886, 522).

17_Stinde_1882_p11_Fleisch_Fleischpulver_Carne-Pura_Volksnahrungsmittel_Arbeiter_Familie

Das Idealbild der Arbeiterfamilie (Stinde, 1882, 11)

Neben den Ausbau der Vertriebsstruktur und der hauswirtschaftlichen Fortbildung trat ab Anfang 1883 die Preisgestaltung. Dies schien vielen Beobachtern essenziell: „Wenn es Meinert wirklich gelingt, seine Präparate um die angegebenen billigen Preise zu liefern […], dann glaube ich nicht zu viel zu sagen, dass er damit bald alle Welt sich erobern wird“ (Vogel, Rez. v. Meinert, Armee- und Volksernährung, 1880, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 13, 1881, 462-464, hier 463).

18_Der oberschlesische Wanderer_1883_05_17_Nr111_p4_Carne-pura_Fleischpulver

Preissenkung zur Marktdurchdringung (Der oberschlesische Wanderer 1883, Nr. 111 v. 17. Mai, 4)

Entsprechend begann die Carne pura AG nach Etablierung des Vertriebsnetzes die Preise erheblich zu senken: Eine 30-prozentige Preisreduktion sollte den offenbar stockenden Absatz beleben, sollte nun auch der Arbeiterbevölkerung den Kauf ermöglichen (Der Wendelstein 1883, Nr. 100 v. 31. August, 4). An bezahlter Begleitpublizistik fehlte es jedenfalls nicht: „Die Präparate der Carne pura-Aktiengesellschaft in Bremen, […] sind bei ihrer Güte und erstaunlich billigen Preisen so recht berufen, ein Volksnahrungsmittel zu sein“ (Heinrich Boehnke-Reich, Künstliche Nahrungsmittel für Kinder und Erwachsene, Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 2, 1884, 441-453, hier 452).

19_Karlsruher Tagblatt_1883_04_28_Nr115_p1218_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Sortiment_Preise

Das Carne pura-Sortiment und seine Preise (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 115 v. 28. April, 1218)

Carne pura für den Arbeiter? Grenzen des Sozialpaternalismus

Ein eiweißhaltiges Fleischprodukt, billig und einfach zuzubereiten, in Verwendung auch bei höheren Klassen – wie sollte der deutsche Arbeiter sich da verweigern? Eine Antwort darauf gab vielleicht die implizite Abwertung ihrer täglichen Kost durch bürgerliche Wissenschaftler und Haushaltslehrerinnen. Gewiss, die Arbeiterernährung war objektiv vielfach unausgewogen, teils unzureichend, hätte vielfältig verbessert werden können (Uwe Spiekermann, Die Ernährung badischer Arbeiter an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483). Sie war monoton, Frauen und Kinder hatten gegenüber dem männlichen Familienoberhaupt oft das Nachsehen. Doch die bürgerlicher Reformer achteten nicht die kulturelle und ökonomische Logik der Kost der Unterschichten, wollten diese vielmehr zivilisieren und der ihren angleichen: Es „wird Mühe kosten, die an Massen von Kartoffeln gewöhnten Personen auf ein kleineres Maß von kräftiger Nahrung zu beschränken“ (Stinde, 1882, 36). Der Arbeiter wurde als Arbeitsmaschine verstanden, billiges Eiweiß war daher unverzichtbar. Bezeichnenderweise hieß es von liberaler Seite: Carne pura „könnte zur Erleichterung des ‚Kampfes ums Daseins‘ der unteren Volksklassen viel beitragen und die Schwierigkeiten der Lösung der socialen Frage erheblich verringern“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 529 v. 11. November, 5). Zugleich sollte es als Fleischbrühe das Grundübel der Arbeiterexistenz beseitigen, den überbürdenden Alkoholkonsum – der damals etwa bei der Hälfte des heutigen Durchschnittskonsums lag.

20_Karlsruher Tagblatt_1883_02_10_Nr040_p0337_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Preise_Arbeiterernaehrung

Vermarktung als Billignahrungsmittel (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 40 v. 10. Februar, 337)

Gewiss, es ist leicht, die fürsorgliche Belagerung der Arbeiter zu kritisieren, ihren bis heute nachwirkenden, in der Ernährungsbildung weiterhin üblichen Sozialpaternalismus zu beklagen. Die bürgerliche Sozialreform war ein wichtiger Anreger moderner Sozialpolitik. Doch sie war brachial, wollte nicht nur den physischen, sondern auch den moralischen Zustand der Sorgeträger nach eigenem Ideal verbessern (Das Carne pura, Hamburgische Börsen-Halle 1883, Nr. 16 v. 18. Januar, 5). Während Agrarökonomen Flurbereinigungen vorantrieben, in den Städten erste Zonenbebauungen festgeschrieben wurden, schien Carne pura „eine vorläufig in ihrer Ausdehnung und ihren Folgen noch garnicht [sic!] zu übersehende Veränderung und Verbesserung der Ernährungsverhältnisse des deutschen Arbeiters, des ländlichen wie des industriellen“ bewirken zu können (Carne Pura, Die Grenzboten 42, 1883, 559-564, hier 562). Arbeiter waren zwar beseelte Wesen, doch das Fleischmehl sollte ihnen wie Hunden Eiweiß „in einer für die Ausnutzung im Darmkanal günstigen Form“ zusetzen (Ueber Volksernährung, Social-Correspondenz 7, 1883, 36-37, hier 36). Dass dies gelingen würde, daran hatten auch bürgerliche Beobachter allerdings ihre Zweifel (Demuth, Zur Cur der Fettleibigkeit, Medizinisch-chirurgische Rundschau NF 14, 1883, 867-875, hier 870).

21_Concordia_05_1883_620_Carne-pura_Fleischpulver_Kakao_Gebaeck

Repräsentative Anzeige für bürgerliche Arbeiterwohltäter (Concordia 5, 1883, 620)

Und in der Tat, der Arbeiter, der böse Lümmel, verweigerte sich. Auf Seiten der damals staatlich massiv bekämpften Sozialdemokratie war das erwartbar, denn die „Verwohlfeilung der Nahrungsmittel“ (Arbeiterfreundlichkeit auf Irrwegen, Der Sozialdemokrat 1886, Nr. 36 v. 1. September, 1-2, hier 1) könne die Lage der Arbeiter nicht verbessern, da aufgrund des ehernen Lohngesetzes jede Preisreduktion zu niedrigeren Löhnen führen würde. Meinerts Broschüre „Wie ernährt man sich gut und billig?“ stand daher nicht für eine bessere Ernährung durch billiges Fleisch, sondern für vermehrte soziale Kontrolle: Ein rheinischer Fabrikant, der davon mehrere hundert Exemplare kaufte und seinen Arbeitern schenkte, erhielt zur Antwort: „‚Will der Kerl uns auch noch vorschreiben, was wir kochen sollen?‘“ (Dresdner Nachrichten 1889, Nr. 156 v. 5. Juni, 1). Die vom sozialreformerischen Verein „Concordia“ ausgezeichnete Broschüre hatte daher kaum praktische Resonanz (Dresdner Nachrichten 1888, Nr. 331 v. 16. November, 2). Trotz anderslautender Beschwörungen klangen bei Carne pura Vorstellungen von Armensuppe und Armenhaus mit (Julius Stinde, Naturwissenschaftliche Plaudereien, Indiana Tribüne 1883, Ausg. v. 10. Dezember, 4). Der Geschmack des Fleischmehls war gewöhnungsbedürftig, konnte die tradierte Ernährungsweise nicht ersetzen. Hinzu kamen die Defizite im Vertrieb, die in übertriebenen Aussagen gipfelten, dass Carne pura „niemals in nennenswerther Menge in den Handel gekommen“ sei (Socialpolitisches Centralblatt 3, 1893/94, 498, FN 1). Carne pura war Teil eines weit verbreiteten Sozialpaternalismus, der den Eigensinn und die Selbstbestimmtheit körperlich arbeitender Mitbürger nicht ernst nahm und der durch machtbewusste Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften und die schließlich größte Partei des Kaiserreichs langsam beiseite gedrängt wurde. Ein Volksnahrungsmittel konnte nicht gegen das Volk durchgesetzt werden.

Befohlenes Fleisch: Carne pura in der Militärverpflegung

Arbeitern konnte der Verzehr von Carne pura nicht befohlen werden, Soldaten schon. Daher ist es nicht verwunderlich, dass abseits der vielbeschworenen Volksernährung auch um eine Umgestaltung der Militärverpflegung gerungen wurde. Care pura stand dabei in einer lang zurückreichenden historischen Reihe, gab es doch zahlreiche frühere Versuche, Fleischmehl erst in Kriegs-, dann auch in Friedenszeiten einzusetzen. Die logistischen Probleme der Viehtrosse der damaligen Heere waren offenkundig, lange Haltbarkeit wurde von den Herstellern versprochen. Bereits während des Krimkrieges (1853-1856) errichteten die französischen Interventionsstreitkräfte einsatznah eine Fleischmehlfabrik, doch das Ergebnis war ernüchternd: „Das in Packeten mitgeführte Fleischpulver fand wenig Beifall. Es hat einen widerlichen Geschmack, und man muß, da sich leicht verfälschen läßt, immer fürchten, daß es von allen möglichen Thieren bereitet sei. Der Soldat empfand auch bald großen Ekel davor“ (Die sanitätischen Verhältnisse in der Krim, Allgemeine Militär-Zeitung 33, 1858, Sp. 415-418, hier Sp. 417). Fleischmehl wurde von den führenden Armeen getestet, doch das Ergebnis war durchweg negativ (Die Verpflegung im Kriege, Militär-Zeitung 12, 1859, 596-597, hier 597; Die Conservation des Mannes. (Fortsetzung.) III., Allgemeine Militär-Zeitung 38, 1863, 319-321, hier 320; Michaelis, Die Conservation des Mannes. II., Österreichische militärische Zeitschrift 3, 1862, 177-189, hier 186).

Dennoch blieb das Interesse an einer nahrhaften, billigen, schmackhaften und haltbaren Fleischration weiter hoch. Dies lockte Tüftler und Wissenschaftler. In deutschen Landen breit diskutiert wurde etwa das zuerst als Krankenkost entwickelte „Fleischbrod“ des Württembergischen Arztes Koch, das von 1867 bis 1869 vom württembergischen Kriegsministerium getestet wurde (A. Koch, Fleischbrod für den Soldaten, Algovia 1870, Nr. 31, 1-2). Trotz wiederholter Verbesserungen gab die Armee es nur selten als Teil der eisernen Portion aus (Militair-Wochenblatt 53, 1868, Nr. 102, 831-832). Auch die Vermarktung als „Universalnahrungsmittel“ scheiterte (Deutsche Klinik 21, 1869, 24). Dennoch folgten weitere Angebote, weitere Tests – in Bayern etwa durch Carl Voit (Anhaltspunkte zur Beurtheilung des sogenannten eisernen Bestandes für den Soldaten, München 1876, 14-16). Der Einsatz von Carne pura in der Militärverpflegung stand daher am Ende einer langen Reihe von Fehlschlägen. Nun aber, mit all den Verbesserungen, würde es gewiss gelingen.

22_Stinde_1882_p09_Fleischpulver_Carne-Pura_Militaerverpflegung_Soldaten

Carne pura als Militärverpflegung (Stinde, 1882, 9)

In der Tat waren zahlreiche Militärs an Carne pura interessiert, zumal Franz Hofmann und Carl Alphons Meinert ihre Innovation vernehmlich propagierten (Rez. v. C.A. Meinert, Armee- und Volks-Ernährung, 2 Bde., Berlin 1880, Neue Militärische Blätter 24, 1884, 565-566, hier 565). Ab 1880 liefen Vorgespräche mit den Kriegsministerien, ab 1882 folgten zahlreiche Tests (Zur Konservenfrage, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 11, 1882, 645-649). Die Direktwerbung 1882/83 zielte immer auch auf Sanitätsoffiziere. Das Interesse reichte weit über das Deutsche Reich hinaus: Französische Offiziere besuchten in Begleitung des Hygienikers Jules Arnould (1830-1894) den Berliner Carne pura-Pavillon und die Konservenfabrik (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 375 v. 14. August, 3). Russische Marineärzte begannen 1883 mit ihren Tests, kurz darauf auch das österreichische Militär-Comité sowie die schwedische Marine.

In Deutschland gab es einschlägigen Untersuchungen in den preußischen, bayerischen, sächsischen und württembergischen Armeen (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1883, Nr. 83 v. 17. Juli, 3; Militärzeitung 36, 1883, Nr. 69 v. 31. August, 547). Wie Chemiker und Physiologen waren auch die ersten Militärärzte voller Lob: „Carne pura empfiehlt sich durch einige hervorragende Eigenschaften von durchschlagender militärischer Wichtigkeit: Haltbarkeit, geringes Volumen und Billigkeit“ (Rönnberg, Versuche über den Nährwerth des Fleischmehls „Carne pura“, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 442-449, hier 449). Wie von Meinert angeregt, sollte das neue Fleischmehl schon während des Friedensdienstes in Menagen verabreicht werden, während im Felde die Brot- und Suppenpatronen gereicht werden könnten. Auch die ersten französischen Untersuchungen im Pariser Hospital Bicètre – nicht nur Foucault-Lesern sicher bestens bekannt – kamen zu dem Fazit, „es ist vielmehr die Verwendbarkeit desselben für die Armeeverpflegung im Felde nur noch eine Frage des Geschmacks und der Fabrication passender Zusammensetzungen“ (Rönnberg, Nachtrag zu der Arbeit über die Verwendbarkeit von Carne pura als Armee-Nahrungsmittel, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 501-503, hier 501). Ähnlich positiv urteilten die russischen Militärärzte (Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 9, 1884, 41; Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 43). Die Liste ließe sich einfach verlängern ([Salomon] Kirchenberger, Carne pura. Eine neue Fleisch-Konserve und ihre Verwendbarkeit im Felde, Neue militärische Blätter 25, 1885, 224-233).

23_Stinde_1882_pXIV_Brot_Gebaeck_Carne-pura_Militaerverpflegung_Schiffsverpflegung_Krietsch_Wurzen

Fortifizierte Kompaktnahrung vom Vertragspartner F. Krietsch in Wurzen (Stinde, 1882, XIV)

Dennoch blieb der seitens der Carne pura AG erhoffte Strom von Bestellungen aus. Das hatte erst einmal strukturelle Gründe: Das aus Argentinien stammende Fleischmehl war nicht blockadefest, der Nachschub konnte im Kriegsfalle relativ leicht gestört, ja unterbunden werden (St. Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 42). Zudem gab es keine ausreichenden Kontrollen vor Ort, fehlte doch eine amtliche und militärischen Kriterien genügende Fleischkontrolle (Ref. v. M. Hassler, De l’emploi des poudres de viande dans l’alimentation du soldat, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 13, 1884, 523-524, hier 523). Den Hauptkritikpunkt brachte jedoch die österreichische Stellungnahme auf den Punkt. Sie lautete, „dass die Carne pura-Präparate für die Heeres-Verpflegung völlig unbrauchbar sind und dass alle bisher versuchten Fleischmehl-Conserven die Geruchs- und Geschmacksnerven der Versuchenden in einer Weise alterirten, dass kaum von einer Geniessbarkeit derselben zu sprechen ist“ (zit. n. Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 10, 1885, 66).

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Carne pura als Teil eines Komplettangebots: Mobile Herd-Kochkessel-Kombination ([Carl Alphons] Meinert, Fliegende Volks- und Arbeiterküche. Eine Denkschrift, Berlin 1882, 1)

Die konzeptionellen Vorteile des Carne pura wurden in der militärischen Fachliteratur weiter diskutiert (Albert Eulenburg (Hg.), Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Bd. 13, Wien und Leipzig 1888, 158). Doch die zentralen Probleme von Haltbarkeit und Geschmack, also die Folgen ranzigen Fettes und zersetzten Eiweißes konnten nicht beseitigt werden (L[udwig] Bernegau, Chemische Streifzüge durch das Konservengebiet unter besonderer Berücksichtigung von Konserven für Massenverpflegung, Apotheker-Zeitung 10, 1895, passim, hier 509). Das Fleischmehl Carne pura war der letzte Versuch, die Fleischtrocknung für die allgemeine Militärverpflegung nutzbar zu machen. Stattdessen setzte sich die Hitzesterilisierung von Fleischpräserven und dann -konserven durch.

Nur versuchsweise: Carne pura in Gefängnissen

Das relative Scheitern Carne puras in der Militärverpflegung war Ende 1883 absehbar. Für Carl Alphons Meinert war dies jedoch zusätzlicher Anreiz, sein Fleischpulver auch in anderen Einrichtungen der Massenverpflegung einzubürgern. Er konzentrierte sich insbesondere auf die Ernährung in Gefängnissen, die damals völlig unzureichend war, zu vielfältigen Krankheiten und einer hohen Sterblichkeit führte (Ulrike Thoms, Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß. Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2005).

25_Boersenblatt für den deutschen Buchhandel_1885_11_16_Nr265_p5738_Meinert_Gefangenenernaehrung_Jeserich_Ploetzensee_Carne-pura

Kontinuierliche Untersuchungen zwischen Markt und Wissenschaften (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1885, Nr. 265 v. 16. November, 5738)

Anfang 1883 begann Meinert mit chemischen Analysen der in der Strafanstalt Plötzensee üblichen Speisen, erweiterte diese dann durch Stoffwechselversuche an Gefängnisinsassen. Seine Versuche wurden großenteils von Carne pura AG finanziert, so dass die Ergebnisse teils abgelehnt wurden, da man es „mit einem Producte der im Dienste einer rührigen Reclame stehenden Wissenschaft zu thun“ habe (Rez. v. Meinert, 1885, Über Massenernährung, Organ der Militärwissenschaftlichen Vereine 33, 1886, XLIV-XLV, hier XLV). Hinzu kamen methodische Probleme (K[arl] B[ernhard] Lehmann, Rez. v. C[arl] v. Voit, Ueber die Verköstigung der Gefangenen in dem Arbeitshause Rebdorf, MMW 1885, Nr. 1-4, Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 5, 1886, 255-258, hier 258). In der Tat handelte es sich bei den Untersuchungen um Forschung im Rahmen der Fleischpulvermission. Das zeigte sich bereits 1884, als Meinert ein preiswertes dreiteiliges Kochbuch für Massenverpflegungsinstitutionen vorlegte, das Rezepte für Standardgerichte unter Nutzung von Carne pura enthielt (Internationales Kochbuch für Gefängnißanstalten, Militärmenagen, Kranken- und Irrenhäusern, T. 1: Küche für Gefängnisanstalten, Hamburg 1884, T. 2: Küche für Militärmenagen, T. 3: Küche für Kranken- und Irrenhäuser (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1884, Nr. 239 v. 13. Oktober, 4740).

Meinerts 1885 publizierte Ergebnisse waren nicht wirklich überraschend, forderte er doch höhere Eiweiß- und Fettrationen und empfahl als Gegenmittel Carne pura, Magerkäse und Hering (Ueber die Beköstigung der Gefangenen, Berliner Volksblatt 1886, Nr. 6 v. 8. Januar, 3). Fleischpulver sei ideal, da es einen hohen Eiweißgehalt habe, vollständig resorbiert würde, sich mit anderen Speisen mischen ließe und deutlich billiger als Frischfleisch sei. Carne pura würde ermöglichen, den physiologischen Mindestbedarf zu decken und zugleich dem Vorwurf zu entgehen, „»daß der Verbrecher frisches Fleisch erhält, während der ehrliche, freie Arbeiter sich solches kaum Sonntags verschaffen kann«“ (C[arl] A[lphons] Meinert, Ueber Massenernährung, Berlin 1885, 93). Im Einklang mit einer wachsenden Zahl von Gefängnisärzten und Physiologen empfahl er zudem eine strukturelle Reform der Gefängniskost: Die immer gleiche Suppenkost aus Hülsenfrüchten müsse durch gekochte feste Mehrkomponentenspeisen durchbrochen und insbesondere mehr Wert auf Würzung und Geschmack gelegt werden. Die Ernährung sollte nicht Teil der Strafe sein, sondern vielmehr die Gefangenen zu nützlicher Arbeit befähigen ([Abraham] Baer, [Ohne Titel] Blätter für Gefängniskunde 22, 1887, 10-21; Paul Jeserich, Bericht über ausgedehnte Ernährungs-Versuche in der kgl. Strafanstalt Plötzensee auf Veranlassung der Act.-Ges. Carne pura ausgeführt und bearb., Berlin s.a.). Diese Forderungen waren zukunftsweisend, wurden aber erst in der Weimarer Republik in breiterem Maße umgesetzt. Carne pura wurde in deutschen Gefängnissen jedoch nicht eingeführt, wegen des zu hohen Preises, „dem Anhaften eines unangenehmen Beigeschmacks“ und mangelhafter Haltbarkeit (A[rthur] Leppmann, Ueber zweckmässige Gefangenenbeköstigung, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 23, 1891, 413-432, hier 431).

Ein Unternehmen im Niedergang: Finanzielle Probleme und Gegenmaßnahmen

Es wird Zeit, den Blick vom Wollen der Carne pura AG zurück auf die reale Unternehmensgeschichte zu lenken. Die „ganz bedeutende Preisermäßigung“ (Teltower Kreisblatt 1883, Nr. 52 v. 30. Juni, 5) vom Mai 1883 hatte nicht die gewünschten Effekte, der Absatz der Carne pura-Präparate blieb weit hinter den Erwartungen zurück (ist aber mangels Zahlen leider nicht zu quantifizieren). Die modernen Formen der Direktwerbung machten Carne pura zwar zu einem populären Begriff, der sich auch als Synonym für nackte (weibliche) Haut sogar für einige Zeit etablierte (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 470 v. 10. Juni, 6; Edmund Rothe, Stoss- und Trostseufzer eines praktischen Arztes. (In folschen Reimen), in: Korb (Hg.), Liederbuch für Deutsche Aerzte und Naturforscher, Abschnitt 2, Hamburg 1892, 234-236, hier 235) – doch dies schlug nicht auf den Absatz durch. Die Konkurrenz frohlockte, dass Fleischpulverpräparate „gründlich zurückgewiesen“ (Leonhard, 1995, 121) wurden.

Die Auszehrung der Carne pura AG begann Mitte 1883, kurz nach Ende der Berliner Hygiene-Ausstellung. Carl Alphons Meinert und Arthur von Gerschow schieden im Juli aus dem Vorstand und der Gesellschaft aus (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 335 v. 20. Juli, 13; Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 171 v. 24. Juli, 6). Der Vorstand wurde nicht wieder erweitert (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 233 v. 4. Oktober, 8).

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Tief in den roten Zahlen: Bilanz Ende 1883 (Hamburgische Börsen-Halle 1884, Nr. 109 v. 7. Mai, 6)

Die Bilanz wies Ende 1883 tiefrote Zahlen aus: Verluste von knapp 300.000 M waren aufgelaufen, Warenvorräte und Ausstände lagen gar noch höher. Anders ausgedrückt: In Berlin stapelte sich nicht absetzbare Ware, und die Zahlungsmoral der Großhändler und Agenturen war gering. Seit der Gründung hatte die Firma „stetig“ Verluste geschrieben (Hamburger Nachrichten 1886, Nr. 154 v. 1. Juli, 11). Bei einem Startup-Unternehmen war dies nicht ungewöhnlich, doch auch die Ergebnisse des Jahres 1884 waren mehr als ernüchternd.

27_Deutscher Reichsanzeiger_1885_07_10_Nr159_p05_Carne-Pura_Bremen_Bilanz

Rote Zahlen. Bilanz der AG Carne pura Ende 1884 (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 159 v. 10. Juli, 5)

Die Verluste waren am Jahresende auf mehr als 420.000 M angewachsen, die Warenvorräte und Ausstände konnten nur moderat vermindert werden. Wohl und Wehe der Gesellschaft hingen von den Gläubigern ab. Beunruhigend waren auch erste Wertberichtigungen, denn die Investoren hatten eben nicht – wie in der Bilanz von 1883 noch ausgewiesen – die gesamte Aktiensumme einbezahlt, sondern 80 der 600 Aktien keine Abnehmer gefunden, drei Aktien wurden nicht vollständig bedient. Dies führte Mitte 1885 zu weiteren personellen Schnitten: Dyes, Albrecht und Lax schieden aus dem Vorstand aus, Carl August Franzius blieb alleiniger Aufsichtsrat (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 239 v. 12. Oktober, 10; Berliner Börsen-Zeitung 1885, Nr. 476 v. 12. Oktober, 9). Zuvor war das Statut geändert worden und die Gesellschaft von Bremen nach Berlin umgezogen (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 181 v. 5. August, 7).

28_Neueste Nachrichten und Muenchener Anzeiger_1885_11_03_Nr307_p05_Fleischpulver_Carne-Pura_Verpackung_Berlin

Verbessertes Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1885, Nr. 307 v. 3. November, 5)

Weitere unternehmerische Maßnahmen kann man nur indirekt erschließen. Sicher ist, dass das Unternehmen einerseits die Rezepturen veränderte, um dadurch den Geschmack der Fleischpulverpräparate zu verbessern (Deutsche Medicinische Wochenschrift 12, 1886, 156). Anderseits senkte es im Herbst 1885 abermals die Preise – wobei unklar ist, ob dies nur erfolgte, um die vorhandene Ware abzusetzen.

29_Stinde_1882_p13_Carne-Pura_Reiseverpflegung_Suppenpraeparate_Touristen_Alpen

Carne pura als Suppengrundstoff für Touristen (Stinde, 1882, 13)

Werblich scheint es zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Zielgruppen gekommen zu sein. Touristen und Reisende wurden speziell angesprochen, Carne pura als schnell und unkompliziert zuzubereitender Fleischbrühgrundstoff empfohlen (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 301 v. 1. Juli, 11).

30_Berliner Tageblatt_1883_08_01_Nr353_p09_Krankenkost_Gebaeck_Biscuit_Carne-purna

Carne pura als Teil der Krankenkost (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 353 v. 1. August, 9)

Wachsende Bedeutung gewann auch die Krankenkost – wobei in diesem Marktsegment ab Herbst 1884 Kemmerichs breit beworbene Fleischpeptone rasch den Ton angaben. Dabei warb man vor allem für die in Kommission fabrizierten Gebäcke, für Kakao und Schokolade. Eine ganze Reihe von Kranken hatte einen Widerwillen gegen den zur Stärkung gereichten frisch zubereiteten Fleischsaft. Carne pura-Präparate boten eine schmackhaftere Alternative.

31_Deutsche Medizinal-Zeitung_1882_Nr47_Medizinal-Anzeiger_p4_Carne-pura_Krankenernaehrung_Fleischpulver_Eiweiß

Carne pura als Kräftigungsmittel (Deutsche Medizinal-Zeitung 1882, Nr. 47, Medizinal-Anzeiger, 4)

So nachvollziehbar derartige Maßnahmen auch waren, so zeigen sie doch zugleich, dass die ursprüngliche Idee, ein billiges Fleischpulver als Volksnahrungsmittel und als neuartiges Element der Massenverpflegung einzuführen, unrealistisch war. Zentrifugalkräfte gewannen die Oberhand, das Unternehmen war am eigenen Anspruch gescheitert.

Ein Ende mit Schrecken: Der Konkurs der Carne pura AG

Am 29. Juni 1886 wurde der Konkurs über das Vermögen der Berliner Carne pura Patent-Fleischpulver-Fabrik eröffnet (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 2272 v. 15. Juni, 16). Auf der Gläubigerversammlung wurde deutlich, dass sich die Verluste von 200.000 M 1882 auf über 450.000 M 1886 erhöht hatten. Eine nachvollziehbare Buchführung hatte es bis 1883 offenbar nicht gegeben. Aktiva von knapp 250.000 M standen Forderungen von mehr als 500.000 M gegenüber. Noch aber schien es möglich, die Firma nach Einigung mit den Gläubigern fortzuführen (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 298 v. 30. Juni, 14). Dieser Schwebezustand währte bis Oktober 1886, vielleicht etwas länger (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 476 v. 12. Oktober, 16).

Die Gläubiger zogen jedoch ein Ende mit Schrecken vor, sie sahen keine Chancen auf einen profitablen Geschäftsbetrieb nach einem notwendigen Schuldenschnitt. Man begann daher mit der Realisierung der verbliebenen Vermögensbestände. Alles was übrig blieb, kam dann im September 1887 in einer Konkursauktion unter den Hammer. Ein letztes Mal strömten Zuschauer und Händler zu einem Care pura-Ereignis zusammen: „Da sah man den ‚stilvollen Pavillon‘ wieder, der einst, mit den verschiedensten Carne-pura-Erzeugnissen ausgestattet, in der Hygieine-Ausstellung prangte; er wurde für 60 M einem Händler zugeschlagen. Dann gabs Proben der aus Conserven bereiteten Erbsensuppe in kleinen Tassen, die sich die anwesenden Käufer und Nichtkäufer gar wohl schmecken ließen. 600 Kisten von solchen Conserven wurden versteigert, immer in Posten von 5 Kisten, die je 10 bis 15 M erzielten. Im Vergleich zu der sonstigen Bewerthung der Waaren waren es geradezu Schleuderpreise, zu denen hier losgeschlagen wurde. Und dabei mußten sich die anwesenden Gesellschafter noch manchen Spott über die Conserven gefallen lassen. Auch ein großer Kochapparat, vollständig aus Messing, wurde verkauft und brachte 70 M. Alles ging fast ausschließlich in den Besitz der Händler, die nun ihrerseits einen flotten Handel mit den erworbenen 30,000 Kilogr. Carne-pura veranstalten können“ (Carne-pura-Gesellschaft, Leipziger Tageblatt 1887, Nr. 255 v. 12. September, 15). Die in Aussicht gestellte Reform der Ernährung endete in einer Farce.

32_Mittheilungen über Landwirthschaft_1887_01_14_Nr02_p12_Berliner Tageblatt_1887_09_07_Nr451_p04_Carne-pura_Konkurs_Viehfutter_Fleischmehl

Restverwertung des Fleischpulvers als Viehfutter (Mittheilungen über Landwirthschaft, Gartenbau und Hauswirtschaft nebst industrieller Anzeiger 1887, Nr. 2 v. 14. Januar, 12 (l.); Berliner Tageblatt 1887, Nr. 451 v. 7. September, 4)

Die endgültige Abwicklung zog sich noch länger hin. Im November 1889 hatte der Konkursverwalter – nach Abzug seiner Aufwendungen – 33.000 Mark erlöst, mit denen nun anteilig die Forderungen bedient werden sollten (Berliner Börsen-Zeitung 1889, Nr. 542 v. 19. November, 17). Die Schlussrechnung wurde kurz vor Weihnachten 1889 präsentiert, das Konkursverfahren anschließend beendet (Deutscher Reichsanzeiger 1889, Nr. 283 v. 26. November, 12; ebd. 1890, Nr. 11 v. 10. Januar, 10). Es folgten noch einige Nachwehen, darunter eine Nachtragsverteilung im März 1892 (Berliner Börsen-Zeitung 1892, Nr. 110 v. 5. März, 15). Die Marke der Carne pura-Gesellschaft wurde am 21. September 1892 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1892, Nr. 225 v. 23. September, 9) – und zu schlechter Letzt das General-Depot der Carne pura Nahrungsmittel, M. Meinert, Leipzig am 21. Januar 1895 (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 27 v. 30. Januar, 13).

Das kurze Nachleben des Carne pura

Mit dem Konkurs der Carne Pura AG war das Kapitel Fleischpulver keineswegs geschlossen. Nach wie vor reizte die Idee einer haltbaren und billigen Fleischkonserve Tüftler und Wissenschaftler. Gewiss, Carne pura war zu teuer gewesen, der Geschmack nicht ideal. Doch dies konnte mit Technik und Wissen verändert, verbessert werden (F. Strohmer, Fleischextract und Fleischconserven, Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 35, 1885, 211; Die Nahrung der Zukunft, Prager Tagblatt 1893, Nr. 197 v. 18. Juli, 2-4, hier 4).

33_Karlsruher Tagblatt_1888_10_04_Nr272_p3673_General-Anzeiger fuer Hamburg-Altona_1890_09_11_Nr213_p08_Fleischpulver_Schnurr-Gross_Liebig_Krankenkost_Albuminatpulver_Dr-Jervell

Neue Fleischmehl- und Fleischeiweißprodukte (Karlsruher Tagblatt 1888, Nr. 272 v. 4. Oktober, 3673 (l.); General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1890, Nr. 213 v. 11. September, 8)

Das Carne pura-Patent wurde 1887 von der Karlsruher Firma Schnurr & Gross erworben, die ihr Fleischpulver bis mindestens 1890 reichsweit als Krankenkost vermarktete (Münchener Neueste Nachrichten 1890, Nr. 492 v. 26. Oktober, 7; Hamburger Nachrichten 1890, Nr. 267 v. 9. November, 10). Es wurde abgelöst durch neue Präparate aus Schlachthofresten, wie etwa das Albuminatpulver von Dr. Jervell. Mitte der 1890er Jahre dominierte dann vor allem das US-amerikanische Mosquera‘s Fleischmehl (E[rnst] v. Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Leipzig 1897, 290), ehe mit dem Eiweißpräparat Tropon ein neuerlicher Versuch unternommen wurde, die Alltagskost mittels eines wissenschaftlichen Geniestreiches umzustürzen. Nun aber stand nicht mehr das billige Fleisch der südamerikanischen Pampas zur Diskussion, sondern die Vision einer Eiweißsynthese aus billigen Rest- und Abfallstoffen. Auch dieser Versuch, sie ahnen es, scheiterte – nach der teuersten Werbekampagne des Kaiserreichs (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209, hier 198-204).

34_Leipziger Tageblatt_1894_01_22_Nr039_p518_Vossische Zeitung_1899_12_24_Nr603_p20_Fleischmehl_Mosquera_Trockenfleisch_Tropon_Eiweißpraeparate

Substitute des Carne pura: Mosquera’s Fleischmehl und Tropon (Leipziger Tageblatt 1894, Nr. 39 v. 22. Januar, 518 (l.); Vossische Zeitung 1899, Nr. 603 v. 24. Dezember, 20)

In der Fachliteratur wurde der Carne pura-Präparate auch aufgrund dieser Nachgänger immer wieder respektvoll gedacht, mochte es sich als Volksnahrungsmittel auch nicht bewährt haben (Carl Flügge, Grundriss der Hygiene, Leipzig 1889, 309; Max Heim, Die künstlichen Nährpräparate und Anregungsmittel, Berlin 1901, 33-34). Nur wenige Wissenschaftler verstanden ihr Tun als Hybris. „Fleisch als Genussmittel zu ersetzen“ (Felix Hirschfeld, Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden und Kranken, 1900, 49) war mit derartigen Ersatzmitteln schlicht nicht möglich.

Was blieb vom Carne pura?

Die Geschichte von Carne pura zeugt von gescheiterten Träumen, zerplatzten wissenschaftlichen und ökonomischen Utopien. Der Ausgriff auf die naturalen Fleischressourcen der Welt endete als Fehlschlag. Respekt davor mag bleiben. Doch die Geschichte von Carne pura ist auch eine Geschichte unserer Zeit.

Carne pura steht für den Sozialpaternalismus des späten 19. Jahrhunderts, für eine bürgerliche Erziehungsmission, für eine scheinbar nur so denkbare Teilhabe der arbeitenden Massen an den Erträgen dieser dynamischen Zeit der Innovationen und Entdeckungen. Carne pura steht für die Differenz zwischen Wissenden und Nicht-Wissenden, für den Versuch, letzteren hierarchisch und ohne Mitsprache einen Platz in der Welt, an der bürgerlichen Tafel zuzuweisen. Teilhabe dieser Art ist an Bedingungen geknüpft, an die Moral eines rational geführten Lebens, eines Haushaltens mit dem wenigen, was man besitzt. Das häusliche Glück in Selbstbescheidung und Dankbarkeit.

Carne pura steht für die Kraft und die Schwäche gedanklicher Engführungen, für Röhrenblicke und ihre Folgen. Die Investoren hatten die Folgen ihrer Fehleinschätzungen immerhin direkt zu tragen, doch die konzeptionellen Ideen von Hofmann und Meinert wurden weitergesponnen, ebenso eng, wenngleich mit anderen Produkten und Rohwaren. Die dargebotene Geschichte ist damit ein Appell für historisches Lernen. Das Scheitern der Carne pura-Präparate war aufgrund des konzeptionellen Scheiterns des Liebigschen Fleischextraktes und des faktischen Scheiterns der vielen Fleischmehlarten bis hin zu Hassall vorhersagbar – so wie etwa das relative Scheitern vieler neuartiger Fleischsubstitute heutzutage. Doch zugleich ist gewiss, dass enggeführtes Agieren und vorhersehbares Scheitern auch weiterhin den üblichen (Fleisch-)Konsum begleiten werden. Der Mensch ist ein gläubiges Wesen, vor allem, wenn dieser Glaube auf wenigen einfachen Wahrheiten gründet.

Die Geschichte von Carne pura ist schließlich eine Geschichte auch des Eigensinns der Menschen. Der großen Mehrzahl schmeckte es nicht, mochten die Produzenten und viele Wissenschaftler auch anderes verkünden. Für die große Mehrzahl war es zu teuer – auch wenn die Präparate auf Grundlage komplexer Stoffäquivalenzberechnungen „objektiv“ billiger waren als gängiges Frischfleisch. Das Scheitern von Carne pura unterstreicht die Herrschaft von gesundem Menschenverstand bei der breiten Mehrzahl, von Selbstbehauptung trotz prekärer Rahmenbedingungen. Gilt das, so erzählt die Geschichte von Carne pura auch von Behauptungsmöglichkeiten in allseits moralisierten und kommodifizierten Lebenszuschnitten. Geschichte ist eben nicht nur eine analysierte, gezähmte, gelenkte und geglättete Dosis Vergangenheit. Sie ist vielmehr Ausgangspunkt selbstbestimmten Denkens und Handelns.

Uwe Spiekermann, 14. August 2021

Versorgung in der Volksgemeinschaft. Näherungen an den „deutschen“ Handel der NS-Zeit

Güterversorgung und Konsum sind Grundaufgaben jeder Wirtschaftsform. Ihre Ausprägung jedoch ist historisch offen. Allein die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert weist schon – allen ökonomischen Kontinuitätslinien zum Trotz – eine bemerkenswerte Formenfülle auf: Staatlich gebändigte und soziale Marktwirtschaft, autoritäre Kriegswirtschaft, Planwirtschaft nach sowjetischem Modell und ein spezifisch nationalsozialistisches Wirtschaftssystem. Letzteres wird im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen. Es gilt, Konturen einer spezifisch nationalsozialistischen Güterversorgung auszuloten und nach einigen Konsequenzen für den Konsum und die Konsumenten zu fragen. Dazu geht es eingangs um Kernpunkte der NS-Wirtschaftsauffassung, um die damit verbundenen Konsum- und Versorgungsleitbilder. Das wird uns zum ideologischen Profil eines „deutschen“ Handels führen, dessen von anderen Wirtschaftsformen abweichenden Struktur. Doch über die Norm, über das reine Wollen ist hinauszugehen. Die konkreten Ausprägungen der „Versorgung in der Volksgemeinschaft“ werden daher mittels vierer Beispiele untersucht: Die politische Schaufensterwerbung der 1930er Jahre, die Verbrauchslenkung zugunsten des Seefisches, die Gestaltung der Ladenöffnungszeiten und schließlich der Kriegsdienst des „deutschen“ Handels. Ein Resümee steht am Ende – auch wenn mehr Fragen als Antworten bleiben dürften.

1. Versorgung und Konsum im Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus

Es ist durchaus umstritten, ob es ein eigenständiges nationalsozialistisches Wirtschaftssystem gegeben hat. Die insbesondere von Avraham Barkai zusammengetragenen Fakten und Argumente scheinen mir jedoch überzeugend genug, um von dessen These eines eigenständigen Wirtschaftssystems des Nationalsozialismus auszugehen und nach einem spezifisch nationalsozialistischen Versorgungsmodell zu fragen. [1] Der bekannte, die Ambivalenz der NS-Zeit jedoch auch nicht in Ansätzen widerspiegelnde Gegensatz von Butter und Kanonen simplifiziert und bestimmt dabei auch die geschichtswissenschaftliche Diskussion. Der Konsum, so lautet das einfache Argument, habe mehr und mehr gegenüber der Aufrüstung und Kriegsproduktion zurückstecken müssen. Der ökonomische Aufschwung seit 1932/33 habe zwar zu erhöhtem Konsum geführt, doch habe es sich hierbei nur um ein Sekundärziel gehandelt. Der Stellenwert von Konsum und Versorgung sei eher funktional zu sehen, als unumgängliche Notwendigkeit eines auf andere Ziele hinarbeitenden Regimes. [2]

Dies trifft sicherlich zu. Doch was erklärt diese Argumentation? Erklärt sie die bereitwillige Mitarbeit der Konsumenten am zerstörerischen Projekt des Nationalsozialismus? Erklärt sie die konsequente Mitarbeit der Versorgungsfachleute, der fast zwei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel? Waren diese Deutschen wirklich derart genügsam, dass sie zwar klagten und murrten, sich letztlich aber fügten? „Diese Deutschen waren gewöhnliche Menschen und im Kern kaum böse. Sie waren im Allgemeinen an Wohlstand und Wohlergehen für sich und ihre Familie interessiert, wie es Menschen überall auf der Welt sind. Sie waren auf keinen Fall einer Gehirnwäsche unterzogen, durch eine faszinierende Unterdrückung bis zur Unterwerfung terrorisiert worden.“ [3] Und doch sahen sie bei den Verbrechen dieser Zeit nicht nur zu, sondern duldeten sie wissend, funktionierten an ihrem Platz, legten gar aktiv Hand an.

Eine kritische Näherung an die Versorgung in der Volksgemeinschaft muss sich daher den ideologischen Vorstellungen dieser Zeit stellen. Versorgung und Konsum sind eben nicht nur „bunte“, populäre, ansatzweise gar kritisch zu verstehende historiographische Themen. Sie nötigen vielmehr zu einem Einlassen auf Vorstellungen, die fern von zivilisatorischen Mindeststandards sind, waren diese doch historisch real, historisch einflussreich. Dies jedenfalls war der Anspruch der Nationalsozialisten, die die Eigenständigkeit ihres Ansatzes schlicht setzten: „Um Nationalsozialist zu werden, bedarf es vor allem der schonungslosen Ehrlichkeit gegen sich selbst, sodann des festen Willens, sich das weltanschauliche und sittliche Gut des Nationalsozialismus nicht nur verstandsmäßig, sondern auch gefühls- und willensmäßig zu eigen zu machen. Wir mittelständischen Einzelkaufleute repräsentieren die bodenständige, kleine, gesunde Wirtschaftszelle und sind daher im neuen Staate vor allem dazu berufen, die Träger des neuen Wirtschaftsdenkens zu werden. Aber nur aus dem nationalsozialistischen Menschen kann der neue wirtschaftende Mensch hervorgehen, und dieser letztere nur ist befähigt und berechtigt, an der Konstruktion des nationalsozialistischen Wirtschaftsgebäudes mitzuarbeiten.“ [4]

01_Deutsche Handels-Rundschau_27_1934_p182_Einzelhandel_Käufer-Verkäufer_Einzelhändler_Gemeinschaft

Vaterland und NS-Gemeinschaft: Verpflichtungserklärungen von Einzelhändlern (Edeka Deutsche Handels-Rundschau (= DHR) 27, 1934, 182)

Der Primat des Staates galt dabei als ausgemacht. Doch auch die Führung war in diesem Denken der Volksgemeinschaft verpflichtet. Die „deutschen“ Konsumenten jedenfalls wären möglichst optimal zu ernähren, zu kleiden, mit Hausrat und Konsumgütern zu versorgen. Doch als Deutsche, als Nationalsozialisten würden sie freiwillig zurückstehen, wenn es gelte, erst einmal andere, höhere Ziele zu erreichen. Der Konsum war – abseits gediegener Grundversorgung – ein flexibles Moment innerhalb einer politischen Gesamtkonzeption, deren Grundkonstanten die Gewinnung von Lebensraum und der Traum von einer „rassisch reinen Herrennation“ waren. Angesichts der historischen Entwicklung ist es nicht unproblematisch, derartige Idealkonstrukte für bare Münze zu nehmen. Doch sie wurden – und sei es zur eigenen Ruhigstellung – geglaubt, wurden historisch ernst genommen. Sie schufen einen Erwartungshorizont, der – vor dem Hintergrund der erlittenen kollektiven Demütigungen und der dann folgenden wirtschaftlichen und politischen Aufwertung des Deutschen Reichs – Dienst und Entbehrung erst ermöglichte. Die vielfach beschworene „bodenständige, kleine, gesunde Wirtschaftszelle“ besaß dabei eine politisch wie wirtschaftlich höchst bedeutsame Funktion. Sie sollte Keimzelle einer umfassenden Verpflichtung aller Händler, dann auch aller Konsumenten werden. Neben die politische Propaganda trat die Wirtschaftspropaganda, die den Konsum als Ausdruck völkischen Handelns verstand.

2. Der „deutsche“ Handel – ein Anspruchsprofil

Die Prinzipien einer verpflichteten Wirtschaft prägten auch und gerade den Handel. Er galt im Nationalsozialismus nicht länger als Ausdruck „liberalistischer“ Spekulation, sondern als werteschaffende Tätigkeit im Dienste der Volksgemeinschaft, im Dienste der Verbraucher und anderer Wirtschaftsgruppen. [5] Der Handel besaß im Dritten Reiche eine klare staatspolitische Funktion: Er hatte „Mittler zwischen Erzeuger und Verbraucher in jeder Beziehung zu sein. In dieser Mittlerrolle ist der Handel derjenige Teil der Wirtschaft, der zwischen zwei Fronten steht und stets bestrebt sein muß, dem Ausgleich der Interessen zu dienen. Er ist nicht nur Organ der Wirtschaft, sondern zugleich Diener der Volksgemeinschaft.“ [6]

02_Edeka Deutsche Handels-Rundschau_27_1934_p656_Einzelhandel_Kiel_Volksgemeinschaft_Großhandel

Wandtafel der Edeka Kiel 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 656)

Diese Aufgabe basierte auf mittelständischen Ideen, die insbesondere seit den späten 1880er Jahren von einer Mehrzahl der Händler resp. ihrer Organisationen vertreten wurde – in strikter Abgrenzung zu den modernen (Konsumgenossenschaften, Warenhäuser, Filial-, Abzahlungs-, Versand- und Einheitspreisgeschäfte) sowie den vermeintlich überlebten (Hausierer, Straßenhändler) Be- und Vertriebsformen des Handels. [7] Seit Beginn der Präsidialdiktatur 1930, insbesondere aber seit der Machtzulassung 1933 schienen diese Ideen aufgegriffen zu werden, der Einzelhandel zum lange ersehnten „Kern der Volksgemeinschaft“ [8] zu werden. Doch trotz aller Affinitäten sollte die neue Funktionszuschreibung gänzlich andere Züge enthalten.

Sicherheit

Erst einmal gelang es zwischen 1933 und 1935, dem Handel eine Vorstellung neuer Sicherheit zu geben, eine neue „Ordnung“. [9] Der Einzelhandel wurde integraler Bestandteil der festen Kette: Produktion – Großhandel – Einzelhandel – Konsumtion. Diese war durch den intensivierten Wettbewerb nach Ende der Inflation tiefgreifend in „Unordnung“ geraten, hatte sich doch die Wettbewerbsposition des mittelständischen Handels deutlich verschlechtert. [10] Parallel nahmen die vermeintlichen Übergriffe zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren zu, wurde das „Lebensrecht“ des Handels so beschnitten. Wie schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Weimarer Republik erbitterte Debatten über das Recht der Konsumenten, insbesondere von Beamten und städtischen Angestellten, sich Waren unmittelbar von der Industrie oder dem Großhandel zu beschaffen. Die Einkaufsgenossenschaften der Einzelhändler wurden vom Großhandel immer wieder als Störenfriede wirtschaftlichen Arbeitsteilung attackiert. Die Eigenproduktion der Konsumgenossenschaften und Warenhäuser war gleichfalls steter Stein des Anstoßes, ebenso der Absatz von Gebrauchsgütern und Lebensmitteln per Versandhandel vom Hersteller. Die 1931 aufkommenden „Direkt-Läden“ einzelner Fabriken wurden vom Einzelhandel erbittert bekämpft und ihre Zahl so eingedämmt. [11]

03_Illustrierter Beobachter_07_1932_p1265_Warenhaus_Antisemitismus_Mittelstand_Kommerzialisierung_Konzentration

Nationalsozialistische Agitation gegen das vermeintlich „jüdische“ Warenhaus (Illustrierter Beobachter 7, 1932, 1265)

Während der Weltwirtschaftskrise intensivierten sich die Auseinandersetzungen; die 1930 einsetzende und sich 1932 beschleunigende Gesetzgebung gegen Warenhäuser, Filialbetriebe und Einheitspreisgeschäfte zeigt dies deutlich. Die neue „Unordnung“ innerhalb des Wirtschaftsgefüges wurde dem ungezügelten Marktsystem zugerechnet, dem eine staatlich garantierte Ordnung entgegengesetzt werden sollte. Auch der NS-Staat orientierte sich formal an einem ständischen Ordnungsmodell, das den einzelnen Wirtschaftszweigen klare Aufgaben und bestimmte Erträge zuwies. Angesichts der akuten Existenzbedrohung breiter Teile des Handels in der Weltwirtschaftskrise wurden selbst die mit der Einbindung in den Reichsnährstand und die „Marktordnung“ verbundenen Handelsspannenkürzungen – wenn auch widerstrebend – angenommen. Existenzsicherheit war wichtiger als die abstrakte Chance einer Maximierung der eigenen Gewinne.

Gleichwohl ist die klare Trennung einzelner Segmente nicht nur ständisch zu deuten, sondern passte sehr wohl in die Rationalisierungskonzepte dieser Zeit. Ebenso wie innerbetrieblich zwischen Einkauf, Lagerhaltung, Verkauf und Kasse, Versand und Buchhaltung usw. unterschieden werden musste, um gezielt eingreifen zu können, bot die Scheidung zwischen Produktion, Großhandel und Einzelhandel ebenfalls Möglichkeiten einer geplanten Rationalisierung dieser Sektoren – nun aber getragen vom starken Staat. [12] Ständisches Ideal und innerständische Rationalisierung konnten sich demnach ergänzen, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft und Ideologie versöhnt werden. [13] Entsprechend wurde der Handel neu geordnet. Aus der seit 1932 einseitig mittelständischen Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels wurde ab 1934 der Gesamtverband des deutschen Einzelhandels resp. die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, in der nun der gesamte „deutsche“ Handel zwangsorganisiert wurde. [14]

Leistungswettbewerb

Die nationalsozialistische Wirtschaftsauffassung ging aus von der Ungleichheit der Rassen und der einzelnen Menschen. Mittels eines Ausleseprinzips konnte sich der Stärkere jeweils durchsetzen. Wettbewerb war deshalb auch für den Handel konstitutiv, jedoch nicht als „freier“ Wettbewerb, sondern als „Leistungswettbewerb der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung“ [15]. Im Dienst für die Volksgemeinschaft konnte sich der Händler seinen Platz „im Volks- und Wirtschaftsleben durch Fähigkeit, Einsatz und Leistung“ erkämpfen. Dieser Wettbewerb war ethisch gebunden, musste vom „sittlichen Willen, von nationalsozialistischer Gesinnung und vom arteigenen Recht beherrscht sein“. [16]

04_Voelkischer Beobachter_1939_02_07_Nr266_p12_Einzelhandel_Ausbildung_Lehre_Reichsberufswettkampf_Wien

Der Reichsberufswettkampf als nationalsozialistische Form des Wettbewerbs (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 266 v. 7. Februar, 12)

Dabei knüpfte man bewusst an die vermeintlich große Kaufmannstradition des deutschen Mittelalters an, ideologisierte und polarisierte die Begriffe des Kaufmanns und des Händlers. [17] Während letzterer einem „entarteten Liberalismus“ zugewiesen wurde, galt der Kaufmann als regimetreuer, als politisch agierender Verteiler. [18] Doch Ideologie war nicht alles. Der Begriff war an bestimmte Qualifikationsnormen gebunden, an Sachkunde und Buchhaltungskenntnisse, bot damit immer auch die Grundlage für „Berufsbereinigung“ und Leistungssteigerung. Schon das novellierte Einzelhandelsschutzgesetz von 1934 machte die Einrichtung neuer Geschäfte vom lokalen Bedürfnis und der zu prüfenden Sachkunde des Händlers abhängig. Während der 1930er Jahre wurde die Weiterbildung der Kaufleute stetig gefordert, der Nachwuchs intensiver geschult als zuvor, analog zum Handwerk ein großer Befähigungsnachweis gefordert. [19] Anfang 1939 wurde der Einzelhandel schließlich buchführungspflichtig, eine sachgemäße, korrekte und dem Staat gegenüber transparente innerbetriebliche Rechnungsführung damit verbunden. [20] Sach- und Fachkunde sollte die Basis des kaufmännischen Betriebs sein, dem Kaufmann zugleich Autorität verleihen. Er hatte aber immer auch „ehrlich“ zu sein, sollte den Kunden optimal und qualitätsbewusst versorgen. Maßnahmen zur verbesserten Warenauszeichnung dienten auch diesem Zweck. [21]

Deutsch

Der Leistungswettbewerb war auf ein Ziel hin ausgerichtet, dem Ziel eines „deutschen“ Handels. Dahinter verbarg sich ein – im Sinne der Propagandisten – ethisch hochstehender, sittlich gebundener, „arteigener“ Handel. Er lässt sich mit Begriffen wie „Ehrsamkeit“, „Gesundheit“ und „Persönlichkeit“ und einem „volksbiologisch wertvollen“ Familiensinn näher kennzeichnen.

Nicht der Betrieb stand im Mittelpunkt des Leistungswettbewerbs und der Rationalisierung, sondern der Mensch, der „ehrsame“ Kaufmann. [22] Der ständische vormoderne Begriff der „Ehre“ hatte den Vorteil, relativ inhaltsleer zu sein, ermöglichte durch seinen hehren normativen Anspruch aber zugleich die systematische Ausgrenzung vermeintlich unsittlichen bzw. unehrenhaften Verhaltens. Entsprechend wurde das Wettbewerbsrecht zwischen 1933 und 1935 neu gefasst, Zugaben zurückgedrängt, Sonderveranstaltungen eingeschränkt. Die rein „kapitalistischen“ Betriebsformen wurden zurückgeschnitten, denn Profitmaximierung war kein ehrbares Unterfangen. Auch Partikularinteressen waren damit unvereinbar, entsprechend wurden die katholischen und sozialdemokratischen Konsumvereine rigide gestutzt, ging man ansatzweise auch gegen Werkskonsumvereine bzw. Beamtenvereinigungen vor. [23] Der Begriff der Ehrsamkeit schied zwischen Freund und Feind, grenzte willkürlich und gezielt Konkurrenz aus, diente der Entrechtung der jüdischen Händler, erlaubte ein Vorgehen gegen Straßenhändler und Hausierer. [24] Der Begriff der „Ehre“ war dem des Rechts strukturell entgegengesetzt, durch ihn wurden staatlicher und privater Willkür Tor und Tür geöffnet.

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Werbe-Matern der Edeka 1933/34 (Edeka-Reklame, o.O. 1934, 198 (l.) und 199)

Der Begriff des „gesunden“ Handels besaß ähnliche Funktionen, griff jedoch tiefer. Er setzte nicht allein auf ein untadeliges, „ehrsames“ Verhalten, sondern bei der „Gesinnung“ des Händlers an, bei dessen „Charakter“. Die Gesellschaft wurde als biologischer Organismus verstanden, der sich vom Einzelwesen her entwickelte, der aber ein unabhängiges, übergeordnetes Eigenleben besaß. Ein „gesunder“ Handel setzte einen „gesunden“ Händler voraus. Es galt „Persönlichkeiten“ zu erziehen, „die aus dem Impuls ihres schöpferischen Willens zu autoritären Leistungen gelangen. Persönlichkeiten, die die Wirtschaft mit ihren Ideen befruchten und sie mit dem Geist ihrer unermüdlichen Tatkraft erfüllen. Persönlichkeiten, die sich nicht an alte Zöpfe hängen, die ihren eigenen Kopf durchsetzen, die ihr gutes Werk wie ihre Ehre verteidigen! Persönlichkeiten, die die Anständigkeit der Gesinnung mit dem Wagemut des kämpferischen Menschen vereinen. Solche Persönlichkeiten mögen nicht immer beliebt und oft gefürchtet sein, aber sie sind nun einmal die Garanten des Fortschrittes. Und der Erfolg ist immer auf ihrer Seite.“ [25] Der Handel war dann „gesund“, wenn der Händler eine „innere Wandlung“ [26] durchlaufen hatte. Dies war zugleich Grundlage einer „Reinigung“: „Berufsbereinigen heißt eben nicht, nur Umsätze feststellen, streichen und verlagern, sondern kann immer nur heißen, auch mit Hilfe dieser Maßnahmen den Beruf zu fördern und das Gesunde im Beruf und in seinen einzelnen Gruppen und Betrieben noch über den gegebenen Zustand hinaus zu kräftigen. Der Ausleseprozess ist also auch im Rahmen der Berufsbereinigung ein Prozess weiterer Gesundung für den größten Teil der Bestehenden. Das Kranke, das es dabei allerdings auch auszumerzen gilt, kann aber immer nur von Fall zu Fall, und zwar nur entsprechend den Besonderheiten und allen Begleitumständen jedes einzelnen Falles festgestellt, behandelt und evtl. auch ausgeschieden werden. Schema F würde bestimmt gerade hier eine schlechte und nur schädliche Medizin sein.“ [27]

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Äußere Wandlung beim Reichsbundes deutscher Verbrauchergenossenschaften: Dekoration der Hamburger Zentrale anlässlich des lokalen Gauparteitages (Rundschau des Reichsbundes deutscher Verbrauchergenossenschaften 31, 1934, 125)

Der „deutsche“ Handel verlangte mehr als Händler, er verlangte „ganze Kerle“ [28], die Kämpfer für die „deutsche“, die nationalsozialistische Sache waren. [29] Dazu gehörte auch Familiensinn, die Sorge für den „gesunden“ Nachwuchs. Der Begriff des Kaufmannes hatte eine volksbiologische und zugleich eine strikt patriarchalische Komponente. Obwohl fast ein Drittel der Ladeninhaber Ladeninhaberinnen waren, galt der Mann als geborener Leiter eines Handelsbetriebes, waren in der üblichen Form des Familienbetriebes die Rollen klar verteilt. Während selbständige Frauen in der Fachpresse kaum behandelt wurden, trat analog zur Rolle der Mutter und der Bäuerin die Prinzipalin, die Kaufmannsfrau verstärkt hervor: „Ihr Lebensinhalt ist fast in allen Fällen das Geschäft, also ihre und die Existenz des Mannes. Da ihre Mithilfe im Geschäft, besonders in einem neu errichteten Betriebe, außerordentlich wichtig ist, wird der ganze Tag, von früh bis spät, immer ausgefüllt sein. Sie wird, wenn beide vorwärtskommen wollen, überall mit anpacken müssen; daneben muß sie umsichtig, stets liebenswürdig und gewandt im Umgang mit der Kundschaft sein, auch wenn manchmal ihr Herz nicht ‚ja’ zu allem sagt. Eine Kaufmannsfrau muß nicht nur vielseitig, sondern auch zielbewußt, rechnerisch begabt und neben ihrem Mann ein Vorbild für die Betriebsgemeinschaft sein. Vor allen Dingen aber bleibt auch sie bei alledem die mit dem Mann fortgesetzt um die Existenz kämpfende Lebenskameradin. Leicht ist eine solche Ehe nicht, aber sie ist groß und inhaltsreich.“ [30] Während der Mann als Kopf des Geschäftes galt, wurde die Frau zu dessen Seele erklärt, deren Aufgabe insbesondere die kameradschaftliche Erziehung der Kundinnen sei. [31] Die Kaufmannsgattin war integraler Bestandteil der Leistungssteigerung des Handels, ihr letztlich unentgeltlicher Beitrag wurde stets vorausgesetzt. Sie hatte dadurch eine staatspolitisch wichtige Aufgabe: Ihre vermeintliche Nähe zur kaufenden Hausfrau verpflichtete sie zu systematischem Aufklärungsdienst. Die Mittlerrolle des Handels fand in der Mittlerrolle der Frau ihre gleichsam natürliche Verlängerung. Die fachliche Vorbereitung sah demgemäß anders aus: Die Frau sollte möglichst Verkäuferin lernen, ehe sie in der Ordnung einer Ehe aufging. [32] Völkische und patriarchalische Ordnung verbanden sich hier zur Grundlage eines spezifisch „deutschen“ Handels.

Lehrer des Konsumenten

Dem Handel wurde von Beginn an die Aufgabe zugewiesen, den „in wirtschaftlichen Einzelfragen oft unkundige[n] Verbraucher“ [33] zu beraten. Die Qualifikation des „deutschen“ Kaufmanns befähigte ihn zu gezielter Beratung. Sie diente nicht primär dem eigenen Geschäft, sondern war höheren Zielen verpflichtet: „Es gilt, das Verantwortungsbewußtsein der Frau zu wecken und zu vertiefen für die Aufgaben und Pflichten, die sie im Interesse der deutschen Wirtschaft zu erfüllen hat.“ [34] Der „deutsche“ Kaufmann war eine Art Gütemarke, die den Kunden bewegen sollte, dessen substantielle Angebote auch zu nutzen, sich also erziehen zu lassen. Trotz dieser hierarchischen Beziehung war der Kaufmann als Mittler zugleich aber verpflichtet, die Meinung des Kunden einzuholen, sie an den Großhandel bzw. an die Industrie weiter zu geben, um so die Volkskonsumgemeinschaft mit Substanz zu versehen.

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Vorbildliche Ladeneinrichtung 1939 (DHR 32, 1939, 270)

Der Ort dieser staatlich relevanten Begegnung zwischen Kaufmann und Kunden hatte seiner Bedeutung gemäß gediegenen Standards zu entsprechen. Sauberkeit, Ordnung und Schönheit sollten alle Laden unabhängig von der Größe kennzeichnen: „In gefälliger Linienführung grenzt der Ladentisch den Kundenraum gegen Verkäufer und Ware ab und stellt doch zugleich durch eingebaute Glasschränke und zweckmäßige Aufbauten jene Verbindung her, die Kaufwünsche erweckt und an jeglichen Bedarf rechtzeitig erinnert. Abstellbrettchen für Taschen und Paketchen geben der Hausfrau das angenehme Gefühl sorglicher Bedienung, schützende Glasscheiben vor den Aufbauten und über den Auslagen künden pflegliche und hygienische einwandfreie Warenhaltung. Frei und übersichtlich sind Packungen und Flaschen in zweckmäßig aufgeteilten, offenen Holzregalen griffbereit zur Hand, Oelmeßapparate verbinden praktische Handhabung und Reichnähe mit der notwendigen Abgrenzung von sonstiger Ware. Schmuck und einladend ist jedes Gerät, von den aromawahrenden Kaffeebehältern und der Sichtwaage bis zur blinkenden Ladenkasse, die den Erfolg so sorgfältiger Innenwerbung getreulich in klingender Münze verzeichnet.“ [35] Die Ladeneinrichtung sollte immer auch den Respekt vor dem Kunden als Volksgenossen verdeutlichen, auch auf die Ansprüche des Ladenpersonals sollte so weit wie möglich Rücksicht genommen werden. [36] Dem diente ein einfaches, jedoch „formschönes“ Design von Waren und Verpackungen, das gerade in der Hausratsbranche auch umgesetzt wurde. Versorgung in der Volksgemeinschaft bedeutete die Schaffung von Leistungsgemeinschaften, die auch in schwierigen Zeiten ihre von Staat und Partei gegebenen Aufgaben ohne Stockungen erfüllen würden. Der „deutsche“ Handel sollte „deutsche“ Konsumenten erziehen.

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Rationalisierung, Sauberkeit und Ordnung durch Vorverpackungen (DHR 29, 1936, 387 (l.); ebd., 477)

Dem Führer entgegen arbeiten

Das NS-Wirtschaftsdenken war hierarchisch geprägt, folgte dem Primat der Politik. Es setzte zugleich aber auf die eigenständige und optimale Umsetzung der Vorgaben im Sinne der gemeinsamen Ideologie von Führer und Gefolgschaft. Der „deutsche“ Händler hatte die allgemeinen Zielsetzungen politisch korrekt umzusetzen, doch er besaß hierbei einen nicht unbeträchtlichen Gestaltungsfreiraum. Diesen sollte er nutzen, Führer (und Volksgemeinschaft) entschieden dann über die Angemessenheit des Resultats. Dadurch war ein Bewertungsdruck geschaffen, der handlungsauslösend war und nie endete.

Dieses stete Arbeiten war begrenzt durch die „kulturellen“ Bedürfnisse auch des Händlers, durch sein Recht auf Freizeit, sein Recht auf wenn auch begrenzten Urlaub. Dienst musste auch anderweitig belohnt werden, das konnte billigerweise von den Führern verlangt werden. Die Hierarchie gründete auf stets in Aussicht gestellten „Lohn“, der jedoch – abseits der relativ bescheidenen Einkommenszuwächse [37] – vor allem in der Zukunft angesiedelt wurde. Das persönliche Band zwischen Führer und Gefolgschaft setzte eine Dynamik des Dienens in Gang, die leistungsfördernd wirkte und flexible Lösungen im Sinne eines „dem Führer entgegen arbeiten“ ermöglichte.

Bekämpfung des „Kranken“

Der „deutsche“ Handel diente nicht allein der Schaffung einer möglichst homogenen Gruppe. Er war zugleich eine Ausgrenzungsmetapher, die immer auch auf die Bekämpfung „kranker“, „undeutscher“ Elemente zielte. Rassismus und Biologismus waren hierfür konstitutiv. Das galt unmittelbar für die Vertreter des „Marxismus“, die deutschen Konsumgenossenschaften. Sie wurden Anfang 1933 gezielt bekämpft, ihr wirtschaftliches Gewicht und ihre forcierte Selbstgleichschaltung verhinderten jedoch eine unmittelbare wirtschaftliche Zerschlagung. Diese erfolgte in Etappen; 1935 wurde ein beträchtlicher Teil der Genossenschaften verboten, 1941 der verbleibende Rest in die Deutsche Arbeitsfront integriert. [38]

Juden hatten eine derartig „moderate“ Behandlung nicht zu erwarten. Der Leiter der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel führte schon 1935 aus, dass gegen sie Einzelmaßnahmen nicht helfen würden, „daß der seit 100 Jahren übermächtig gewordene Einfluß in der Wirtschaft nicht durch lokale Experimente bekämpft werden könne, sondern nur durch eine gesetzlich fundierte, auf eine totale Lösung der Frage schrittweise hinzielende Arbeit zu erreichen ist.“ [39] Entrechtung, Enteignung, Willkür, Totschlag und Massenmord waren die Etappen eines Weges zunehmender „Entjudung“, waren Begleiterscheinungen und Konsequenzen einer zunehmenden „Gesundung“ des Handels. [40] Der „deutsche“ Handel profitierte von der Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz indirekt, bereicherte sich direkt durch die „Arisierungen“. Dabei zeigte die Verwaltungspraxis vor Ort einen vorauseilenden Gehorsam, der selbst die noch geltenden Gesetze nicht mehr zur Kenntnis nahm. [41]

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Reibungslos vollzogene Arisierung: Aus Landauer wird Vetter (Der Führer 1936, Nr. 159 v. 10. Juli, s.p. (l.); Karlsruher Tagblatt 1936, Nr. 205 v. 26. Juli, 7)

Doch es hieße die Dynamik der Ideologie zu unterschätzen, konzentrierte man sich allein auf politische und rassische Gegner. Die „Gesundung“ zog die Auskämmung des Handels logisch nach sich, also die „Reinigung“ von weniger leistungsfähigen Betrieben. Die Rationalisierung erfolgte in einem Wechselspiel von Erziehung und „Ausmerze“. Wer die staatlich festgelegten persönlichen und sachlichen Voraussetzungen nicht erfüllte, konnte spätestens seit der Verordnung zur Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel vom 20. März 1939 „für den Arbeitseinsatz freigemacht werden“ [42]. Um die schon lange geplante, aus vielerlei Überlegungen jedoch immer wieder zurückgestellte Maßnahme [43] gezielt durchführen zu können, hatte die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel 1938 eine umfassende Mitgliederbefragung durchgeführt, um – wie es verbrämt hieß – „Unterlagen zur Prüfung und gegebenenfalls Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel zu erhalten.“ [44] Auch die Richtzahlen des Statistischen Reichsamtes dienten diesem Zweck. [45]

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Antisemitismus als Führungsmittel des „deutschen“ Handels (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 3. Mai, 10 (l.); ebd., 8)

3. Handel und Konsum – Vier Begegnungsfelder

Der biologistische Optimierungsgedanke, der dem Ideal des „deutschen“ Handels zugrunde lag, zeigt, wie eng verwoben NS-Gedankengut und der tägliche Konsum dieser Zeit waren. Die Versorgung in der Volksgemeinschaft diente nicht allein der Warenversorgung. Das wusste jeder Händler, ahnte jeder Käufer dieser Zeit. Doch wie wurde diese Ideologie umgesetzt? Die folgenden vier Fallbeispiele sollen bei einer Antwort helfen.

3.1 „Schaufenster des Regimes“ – Wirtschaftsmodelle in der Werbung

Die Werbewirtschaft wurde 1933/34 neu geregelt, zentralisiert und einer strikten Kontrolle von Partei und Staat unterworfen. [46] Dies war nur möglich, weil einschneidende Regelungen sowohl von der Mehrzahl der professionellen Werbetreibenden [47] als auch der Einzelhändler gefordert und unterstützt wurden. Der Einzelhandel war zu dieser Zeit die mit Abstand wichtigste werbetreibende Gruppe [48], und die Mehrzahl seiner Interessenverbände wandte sich strikt gegen regelmäßige „Auswüchse“ der Wirtschaftswerbung. Die Konkurrenzwirtschaft zeigte darin ihr vermeintlich ungeschminktes Gesicht: Die Dominanz großer Werbeetats, Unlauterkeit und Übervorteilung wurden überall gesehen und als Bedrohung empfunden. [49]

Entsprechend wurde die Neuordnung des Werbewesens in den wichtigsten Zeitschriften des Handels sehr positiv gewürdigt, galten die staatlichen Maßnahmen als Ausdruck einer grundsätzlichen Affinität zwischen Regime und Handelsinteressen. [50] Nicht mehr das große Geld – so die weit verbreitete Hoffnung – sondern die „Persönlichkeit“ des Händlers wurde nun wieder in seine zentrale Stellung gerückt, auf der allein eine sachgerechte Werbung aufbauen konnte. Sie war Ausdruck der fachlichen Kompetenz des Händlers, gründete auf der gezielten Nutzung der modernen Werbemittel, zielte jedoch nicht auf wahllosen Mehrumsatz, sondern konzentrierte sich gezielt auf einzelne Artikel. Aktiv sollte der Händler sein qualitativ hochwertiges Sortiment vorstellen, einzelne Waren daraus hervorheben. [51] Der Kunde sollte nicht allein nach Sonderangeboten Ausschau halten, die Werbung sollte ihm vielmehr den Eindruck einer insgesamt hohen Leistungsfähigkeit des Geschäftes vermitteln, sollte den Kunden persönlich an das Geschäft binden. Werbung war moralisch geworden, wurde persönlich gefasst, war eine wechselseitige Rollenbestätigung der Volksgenossen. Werbung in der Volksgemeinschaft basierte auf dem Aufklärungs- und Lenkungsanspruch der nationalen Wirtschaft, des nationalen Staates.

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Negativbild des seelenlosen Massenkonsums: Blick in das Berliner Schuhwarengeschäfts Direkt (Illustrierte Technik 10, 1932, H. 1, XXVIII)

Wie sehr die Funktionen des Händlers resp. des Kunden in neue Sphären transformiert wurden, zeigt sich sehr gut an den vielfältigen Formen der Gemeinschaftswerbung, besser noch an der Schaufensterwerbung an den neuen staatlichen Feiertagen. [52] Der 1. Mai wurde seit 1933 als „Tag der nationalen Arbeit“ begangen, seit Oktober 1933 stand das „Erntedankfest“ neu im nationalen Kalender. Neu war auch, dass die Schaufenster des Einzelhandels gezielt in die Festaktivitäten eingebunden wurden. Der Handelsstand erwies so – auf Basis von Rahmenrichtlinien des Reichspropagandaministeriums – anderen „schaffenden“ Ständen seine Referenz.

Der „Tag der nationalen Arbeit“, NS-Usurpation des traditionellen 1. Mai der Arbeiterbewegung, sollte ein nationales Gemeinschaftsgefühl stiften und die „Verbundenheit aller Werktätigen“ dokumentieren: „Das ganze Volk ehrt sich selbst, wenn es der Arbeit die Ehre gibt, die ihr gebührt.“ [53] Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften im Mai 1933 waren auch die Angestellten des Handels in der Deutschen Arbeitsfront organisiert worden, waren auch die Händler selbst – als Arbeitgeber – Mitglied. Entsprechend beteiligten sich die Händler und Angestellte an den obligaten Umzügen.

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Die Belegschaft der Edekazentrale vor dem Abmarsch zum Festzug 1937 (DHR 30, 1937, Nr. 18, Titelblatt)

Der Handel präsentierte sich so den die Straßenpassanten, den Kunden, als Teil der „schaffenden“ Stände. Doch dies wurde auch in die Schaufenster transformiert, in denen staatliche Parolen und Konsumwaren als die Ergebnisse deutscher Arbeit in einem Ensemble verbunden wurden.

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Schaufenstervorschlag der Edeka 1936 (DHR 29, 1936, 401)

Die Einzelhändler nutzten diese spezielle Werbemöglichkeit gezielt. Die Jahresberichte der Edeka sprechen dabei weniger von der großen Bedeutung des Festtages als vielmehr von der gebührenden Präsentation des Handels als Teil der produktiven Volksgemeinschaft. [54] Für sie sollte der Tag die relative Verpflichtung der Käufer zum Ausdruck bringen, beim „deutschen“ Handel einzukaufen. Dies rief zumindest ab 1937 staatliche Reaktionen hervor: „In den Schaufenstern sollen zum 1. Mai die Erzeugnisse der heimischen Produktion, die Erträgnisse deutschen Bodens, das Erschaffte deutscher Hände Arbeit Würdigung finden. Dabei darf die Ware nicht aufdringlich hervortreten; sie hat im Rahmen des Ganzen zurückzutreten; denn der Zweck der Schaufenstergestaltung zum 1. Mai ist nicht Absatzwerbung, sondern die Betonung der Freude, daß sich unser Volk unter einem Willen zusammengefunden hat und so gemeinsam den 1. Mai feiert.“ [55] Das nationale Gemeinschaftsgefühl war wichtiger als ein erhöhter Konsum im „deutschen“ Laden.

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Entwurf eines Erntedankfensters 1933 (Edeka-Reklame, 1934, 257)

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beim Erntedankfest feststellen. Dessen Ziel war nicht allein die besondere Ehrung des deutschen Bauern und des Ertrages deutschen Bodens. Seine Aufgabe war zugleich, dem Städter die elementaren Leistungen des Landes, aber auch seine eigene biologische Abhängigkeit von der Natur und dem Boden vor Augen zu führen. Diesem Ereignis hatte der Lebensmittelhandel als „Mittler zwischen Bauer und Verbraucherschaft“ besondere Schaufenster zu widmen – abermals nach Maßgabe des Reichspropagandaministeriums. [56] Für den Händler war es demgemäß zugleich Pflicht und Selbstverständlichkeit, „daß er am Erntedanktag zur Vertiefung der Stimmung für dieses Fest seine Schaufenster, ohne direkte Verkaufsabsichten hiermit zu verbinden, so ausschmückt, daß der schöne Gedanke des Erntedankfestes in die weitesten Volkskreise getragen wird.“ [57] Das Erntedankfest war geplant als Ausdruck völkisch-biologistischen Denkens und der Verbundenheit zu Blut und Boden. Die Schaufensterwerbung unterstützte dies durch florale Elemente, insbesondere frische Blumen und Grünschmuck.

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Entwurf für ein Erntedankschaufenster 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 584)

Das Erntedankfest hatte in den Städten jedoch nie dieselbe Bedeutung wie der 1. Mai. Sein Ziel war es schließlich eine Stimmung zu schaffen, in der die systematische Begünstigung der Landwirtschaft erträglich und nachvollziehbar erschien. Die Freude an den „frischen“ Schaufenstern wurde durch entsprechende Verpflichtungen von Handel und Verbrauchern getrübt: „Die deutschen Volksgenossen, einschließlich der Schwarzseher und Meckerer, werden auch fernerhin diese kleinen Opfer vorübergehender Entbehrung auf sich nehmen. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als in solchen Fällen eine Umschaltung vorzunehmen in Form einer kleinen Korrektur des Speisezettels.“ [58] Stärker als der „Tag der Nationalen Arbeit“ wurde das Erntedankfest funktionaler Bestandteil staatlicher Konsumpolitik. Die Finanzierung der „Erzeugungsschlacht“ und die konsumtiven Zumutungen des Strebens nach „Nahrungsfreiheit“ standen allerdings stets im Hintergrund. [59] Die Festschaufenster gewannen sicherlich nicht die Bedeutung, die man staatlicherseits erhofft hatte. Doch es gilt den Blick für die vielfältigen Wege zu schärfen, mit denen der Kauf und Verkauf genehmer Produkte gefördert wurde. Der Handel jedenfalls nutzte die Aura der Volksgemeinschaft gezielt in seinen Schaufenstern – gedrängt durch Staat und Handelsorganisationen, durchaus überzeugt von deren Inhalt, sicher aber mit dem Kalkül, so das persönliche Band zum kaufenden Volksgenossen enger knüpfen zu können.

3.2 „Eßt mehr Fisch!“ – Verbrauchslenkung mit begrenztem Erfolg

Die Agrar-, später auch die Gesundheitspolitik des Nationalsozialismus, zielten auf eine „gesunde“ Ernährung, die nationalwirtschaftlich sinnvoll, zugleich aber ernährungsphysiologisch ausgewogen war. [60] Aus diesem Grunde wurde staatlicherseits eine regionale, saisonale und fettarme Kost mit relativ geringem Anteil tierischer Produkte propagiert. Wirtschaftliche und volksbiologische Zielsetzungen führten seit 1933 gleichermaßen zu Anstrengungen, die Ernährungsweise der Bevölkerung gezielt zu beeinflussen. [61] Es war allerdings nicht der Handel, der dieser Politik seinen Stempel aufdrückte. Stattdessen griffen 1933 und 1934 vielfältige und kaum koordinierte Vorschläge aus der Wirtschaft und der (Ernährungs-)Wissenschaft, die erst durch den organisatorischen Aufbau einer „Marktordnung“ 1933-1935, dann aber vornehmlich durch die in den zweiten Vierjahresplan mündenden Produktions- und Verbrauchsziele klarere Konturen gewannen.

Das Beispiel des Fisch-, genauer Seefischkonsums kann helfen, die langsame Integration des Handels in das Konzept einer Umstellung auf eine „richtige“ Ernährung zu beleuchten, zugleich aber die Grenzen derartiger Steuerungsmaßnahmen zu verdeutlichen. Werbung für einen vermehrten Fischkonsum war dabei – ebenso wie für andere Produkte deutscher Agrarproduktion – keineswegs neu. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte es eine gezielte Gemeinschaftswerbung der deutschen Fischwirtschaft gegeben, die 1926 durch die Gründung des staatlich unterstützten „Ausschusses für Seefischpropaganda“ neu aufgenommen wurde. [62] Sie nutzte sowohl gesundheitliche als auch nationale Argumente. Ihr Erfolg war abseits der Fischfachgeschäfte bzw. von Konsumgenossenschaften und auch Warenhäusern relativ gering. Fisch war angesichts begrenzter Kühltechnik ein hygienisch heikles Produkt, das zumeist in verarbeiteter Form, als Marinade, Räucherware oder Konserve, den Weg in das Einzelhandelsgeschäft nahm. [63] Auch seine hohe Saisonabhängigkeit erschwerte den Absatz der Frischware im Handel. [64] Haushaltsrechnungen der späten 1920er Jahre zeigten deutliche regionale Verzehrsunterschiede. In den konsumnahen Küstenregionen – hier gab es abseits der Großstädte auch die Mehrzahl der Fachgeschäfte – lag der Fischkonsum teils dreimal höher als in Süddeutschland. [65]

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Vorschlag für ein Fischwerbeschaufenster 1934 (Edeka DHR 27, 1934, 207)

Während der Weltwirtschaftskrise nahm der Fischkonsum zwar insgesamt ab, doch dies resultierte vornehmlich aus dem Rückgang der Importe. Der Absatz der deutschen Produktion erhöhte sich dagegen leicht. [66] 1933/34 setzte die zurückgefahrene Werbung wieder stärker ein, argumentierte dabei insbesondere mit der Billigkeit des Produktes und den arbeitsmarktpolitischen Wirkungen vermehrten Fischkonsums. [67] Im Rahmen des Reichsnährstandes wurde die übliche Werbung der Produzenten fortgeführt, doch trotz Plakataktionen, aufklärenden Vorträgen, fahrbaren Lehrküchen und einer großen Spezialausstellung auf der „Grünen Woche“ galt: „Die Erfolge dieser Anstrengungen lassen indessen zu wünschen übrig.“ [68] Ein Umschwung hin zum Handel setzte erst ein, nachdem zum einen der organisatorische Umbau der Fischindustrie abgeschlossen war, nachdem zum anderen durch die Versorgungskrise des Winters 1935/36 Fisch als Eiweißträger und Ersatz für Fleisch an Bedeutung gewann. [69] Ende 1936 sah der Vierjahresplan eine Verdoppelung der deutschen Fischfänge bis 1940 vor, sollten Fangflotte und Fischindustrie großzügig ausgebaut werden. [70]

Die Integration des Handels in die Pläne gesteigerten Fischabsatzes unterscheidet sich deutlich, vergleicht man die Maßnahmen seit Ende 1936 und davor. November 1935 gibt es eine erste Themenausgabe in der Deutschen Handels-Rundschau, die die Händler im hergebrachten Sinne aufklärte, sich dabei insbesondere auf Tipps für die sachgemäße Behandlung des Fisches konzentrierte. [71] Erst Anfang 1936 setzen koordinierte Werbemaßnahmen ein. Ziel wer es, neben dem traditionellen Freitag einen weiteren Fischtag einzurichten: Jede Region des Deutschen Reiches wurde an einem bestimmten Wochentag gezielt mit Frischfisch versorgt: Am Montag sollte Fischtag in Baden, Württemberg, Bayern und Schlesien sein, am Dienstag in Westfalen, im Rheinland und Sachsen-Anhalt, usw. Diese Maßnahmen wurden von einer Verbraucheraufklärung durch das Deutsche Frauenwerk sowie Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Hausfrauenzeitschriften begleitet. Der Handel hatte die nötige Absatzstruktur vor Ort sicherzustellen, wurde mit Verweis auf die deutsche Devisenlage und die vorhandenen, nun aber auch zu nutzenden Fangkapazitäten in die Pflicht genommen. [72]

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Schaufenster für Räucherwaren und Fischprodukte 1936 (DHR 29, 1936, 235)

Das Ergebnis war allerdings wenig erfolgreich, zeigten sich doch offenkundige Probleme beim Fischverkauf in Nicht-Spezialgeschäften. Die staatlich festgelegten Handelsspannen waren niedrig, der Verderb hoch, und die Verbraucher wurden von qualitativ geringwertiger Ware in ihrer Reserviertheit gegenüber dem Produkt Fisch bestätigt. Dagegen begann nun ein Werbefeldzug in Anzeigen, Plakaten, aber auch und gerade in den Schaufenstern des Fachhandels, der die Gesundheit und den hohen Conveniencegrad der Fischprodukte betonte. [73] Dem Händler wurde geraten, auf seine Kunden im Vorfeld zuzugehen, sichere Verkäufe schriftlich festzuhalten und dann die benötige Menge zu bestellen: „Man nimmt sich zunächst jede Woche einen, vielleicht auch zwei Tage, die immer gleich liegen müssen, vor, an denen man seiner Kundschaft Seefische feilbietet. Sie müssen es ihren Kunden immer wieder einhämmern, daß Sie beispielsweise Donnerstag und Freitag ‚blutfrische Seefische‘ zu verkaufen haben.“ [74]

Derartig handfeste Werbung bedurfte jedoch einer fundierten Infrastruktur – das galt zumindest nach dem Anlaufen des Vierjahresplans. Um die hochgesteckten Konsumziele zu erreichen, hatte der Ausbau von Fischabteilungen bzw. die Einrichtung neuer Fischspezialgeschäfte Priorität. Doch es war nicht der Staat, der hierfür die Mittel aufbrachte. Stattdessen wurde dem gesamten Einzelhandel eine Sonderumlage auferlegt, um so Deutschlands „Nahrungsfreiheit“ zu dienen. [75] Parallel wurde die durch das Einzelhandelsschutzgesetz von 1933 bestehende Beschränkung der Sortimente gelockert. Wer immer eine räumlich getrennte Abteilung einrichten wollte, um das „Fleisches des Meeres“ [76] zu verkaufen, der durfte dies tun. [77] Die Verteilung der Fördergelder übernahm der Anfang 1937 eingerichtete Förderungsdienst des deutschen Fischhandels, der reichsweit Schulungen im Neuwieder Haus für Berufsförderung anbot. [78] Fischkühlschränke wurden verstärkt angeboten, ihr Bezug durch günstige Kredite erleichtert. Auch Konsumenten erhielten Anreize, denn Fisch gab es nun auch auf Verbilligungsscheine für soziale Schwächere. [79]

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Werbung für Fischkühlkästen 1937 (DHR 30, 1937, 639)

Die politischen Vorgaben des Vierjahresplans sollten durch ein Netzwerk „sauberer“, hygienisch einwandfreier, fachkundig geführter Spezialabteilungen und -geschäfte umgesetzt werden. Die Hauptvereinigung der deutschen Fischwirtschaft legte Anfang März 1938 präzise Mindestanforderungen für Fischverkaufsstellen fest, durch dessen Raster die Mehrzahl der Händler fiel, die (Frisch-)Fisch nicht einfach räumlich vom sonstigen Absatz trennen konnten. [80]

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Räumlich getrennte Fischabteilung eines Kolonialwarenladens 1938 (DHR 31, 1938, 946)

Das Ideal eines professionellen Spezialhandels, der zwar langwierig aufzubauen war, der dann aber präzise die Vorgaben der Fischwirtschaft umsetzte, war scheinbar wichtiger als die kurzfristige Umsetzung des Vierjahresplans. [81] Doch zwei weitere Entwicklungen sind zu berücksichtigen. Zum einen gelang es der Fischwirtschaft nicht, die Menge der Anlandungen plangemäß zu erhöhen, denn die Steigerung betrug von 1936 bis 1938 lediglich 20 Prozent. [82] Die Aufrüstung der Marine und der parallel intensivierte Walfang ließen das Programm am Mangel von Seeleuten und der immer offenkundigeren Überfischung der Bestände scheitern. Parallel begann man im Deutschen Reich – auch unter Versorgungsaspekten für die Wehrmacht – ab 1939 mit dem Aufbau einer Tiefkühlkette. Sie erforderte neuartige Technik im Laden, die im Rahmen des bestehenden Handels kaum möglich schien. [83]

Die Handelsorganisationen setzten ihre Aufgaben durchaus um, warben in ihren Schaufenstern für Fischerzeugnisse, klärten in ihren Kundenzeitschriften die Verbraucher auf. [84] Doch auf Filetgewicht berechnet, stagnierte der Absatz zwischen 1936 und 1938 praktisch (7,7 bzw. 7,8 Kilogramm). Die nationale Haushaltsrechnungserhebung von 1937 ergab keine Verschiebungen der regionalen Verzehrsunterschiede. [85] Die Verbrauchslenkung hatte sich im Kern als Fehlschlag erwiesen, die Versorgungsengpässe bei Fleisch Anfang 1939 zeigten dies mehr als deutlich. [86] Mit Beginn des Krieges kam die Hochseefischerei größtenteils zum Erliegen, der Fischkleinhandel verzeichnete sofort „einschneidende Umsatzrückgänge“ [87].

Der Misserfolg dieses Bereichs der Verbrauchslenkung zeigte zum einen, dass Ernährungsgewohnheiten kulturelle Eigendynamiken besaßen, die durch Appelle und Anreize allein kaum zu steuern waren. Die anfangs mangelhafte Integration des Handels in die Fischwerbung verwies auf Wirkungsmodelle, die von der Allmacht werblicher Kommunikation im Konsumsektor ausgingen. Die sicherlich auch vor dem Hintergrund zunehmend professioneller Marktforschung zu sehende Integration des Handels in die Verbrauchslenkung komplettierte zwar seit 1936/37 die Maßnahmenpalette staatlicher und wirtschaftlicher Maßnahmen. Doch die Wahl zwischen mehr Fleisch oder mehr Fisch fiel den meisten Volksgenossen – angesichts von Vollbeschäftigung und wachsenden Einkommen – leicht.

3.3 Versorgungspflicht und Sozialpolitik – Der Ladenschluss als Strukturproblem

Die moderne Ladenschlussregelung bildet einen Kompromiss zwischen den sozialpolitischen Ansprüchen der Händler und Beschäftigten einerseits, den Verwertungsimperativen der Händler bzw. den zeitlich an sich nicht begrenzten Konsumwünschen der Verbraucher andererseits. Die 1891 einsetzende Gesetzgebung hatte unter vorrangig sozialpolitischen Zielen zu einer begrenzten Sonntagsruhe und verbindlichen werktäglichen Öffnungszeiten geführt. Auch 1933 galt noch im Wesentlichen die Verordnung vom 5. Februar 1919, die – mit branchenspezifischen Ausnahmen – einen werktäglichen Ladenschluss in der Zeit von 19 bis 7 Uhr festschrieb, die ferner den Sonntag – wiederum mit gewissen Ausnahmen – grundsätzlich als Ruhetag deklarierte.

Während der Weimarer Republik hatten die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels und viele Handelskammern immer wieder flexiblere Lösungen gefordert, um zu bestimmten Hochfesten und Jahreszeiten sowie in bestimmten Regionen öffnen zu können. Während der Weltwirtschaftskrise blieben diese Forderungen bestehen, aufgrund der Absatzprobleme traten sie jedoch in den Hintergrund. So bestand unmittelbar nach der Machtzulassung kein Regelungsbedarf für die neuen nationalsozialistischen Machthaber. Gleichwohl gab es 1933/34 innerhalb der Deutschen Arbeitsfront gezielte Bestrebungen der Vertreter der Handlungsgehilfen, für bestimmte Branchen und Regionen einen früheren Ladenschluss einzuführen. Die Folge war eine „erhebliche Beunruhigung bei den Inhabern der Ladengeschäfte“. Der Reichsarbeitsminister beruhigte, sah in den lokalen Initiativen lediglich unverbindliche Versuche. Der geltende Ladenschluss schien ihm ein tragbarer Kompromiss zwischen verschiedenen Gruppen der Volksgemeinschaft, denn „die Ladenzeiten des Einzelhandels bedeuten nicht nur ein gesetzlich festgelegtes Recht des Kaufmanns, sondern auch die Pflicht, allen Bevölkerungsreisen eine möglichst gute Gelegenheit zur Bedarfsdeckung zu sichern.“ [88] Statt gesetzlicher Maßnahmen gab es gezielte Appelle an die Konsumenten, ihre Verkäufe über den ganzen Tag zu verteilen, insbesondere die Zeit von 18 bis 19 Uhr möglichst den Berufstätigen zu überlassen. [89] Und durch das Automatengesetz vom 6. Juli 1934 erhielten die Einzelhändler neue technische Möglichkeiten, auch nach Ladenschluss ihre Kunden mit Waren zu versorgen. [90] Auch die Einbindung des Ladenschlusses in die neue Arbeitszeitordnung vom 16. Juli 1934 ergab keine Änderung der bestehenden Regelungen. [91]

Doch mit Erreichen der „Vollbeschäftigung“ begannen seit spätestens 1937 neuerliche Bemühungen um verringerte Ladenöffnungszeiten. Am Samstag sollte der Ladenschluss auf 16 Uhr vorverlegt werden, da nur so eine „wirkliche Erholung in Form des Wochenendes“ [92] möglich sei. Abermals wurde eine gesetzliche Neuregelung abgelehnt, abermals die umfassende Erziehung des Verbrauchers gefordert. [93] Doch die neuen sozialpolitisch und volksbiologisch begründeten Gesetze über Kinderarbeit bzw. die Arbeitszeit der Jugendlichen führten zu wachsenden Problemen, die Läden während der gesamten Öffnungszeiten auch durchgehend zu öffnen. [94] Entsprechend begannen 1938 breite Diskussionen über den Mittagsladenschluss, denn viele Händler weiteten ihn aus, um den gesetzlichen Höchstarbeitszeiten ihrer Lehrlinge zu genügen. Außerdem nahm die Zahl der Betriebsurlaube zu, während der Geschäfte geschlossen wurden. [95] Die wachsende Heterogenität der an sich einheitlich geregelten Ladenöffnungszeiten wurde noch größer, als 1938/39 die Händler einzelner Orte bzw. Einzelgeschäfte freiwillig früher schlossen. [96]

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Strukturproblem Ladenschluss – hier als Anlass für Verpackungen (DHR 29, 1936, 945)

Diese Eigeninitiativen nahm das Reichswirtschaftsministerium zum Anlass für eine Grenzziehung. Am 31. Mai 1939 erging die Anordnung zur Verhinderung von Ladenzeitverkürzungen, deren Durchführungsverordnung die Prioritäten der NS-Politik deutlich machte: „Bei der Handhabung der Anordnung ist besonders zu berücksichtigen, daß der Vierjahresplan von weiten Volkskreisen verlängerte Arbeitszeiten und äußersten Einsatz verlangt; es muß deshalb unter allen Umständen dafür Sorge getragen werden, daß gerade auch den bis zum späten Nachmittag arbeitenden Volksgenossen die notwendigen Einkäufe nicht erschwert oder überhaupt unmöglich gemacht werden.“ [97] Die Ruhe an der Käuferfront war wichtiger als die sozialpolitisch erwünschten Arbeitszeitverkürzungen der Händler und Angestellten. Die schon 1934 erwähnte Versorgungspflicht der Läden trat nun immer stärker in den Vordergrund – entsprechend waren zuvor 1938 die Öffnungszeiten im ländlichen Raum im Sommer auf 21 Uhr erweitert bzw. die Ladenöffnungszeiten an den verkaufsoffenen Sonntagen von 18 auf 19 Uhr erhöht worden. [98] Parallel zeigte sich, dass die Kontrolldichte der Aufsichtsbehörden so gering war, dass Sonntagsruhe und Ladenschluss regelmäßig nicht eingehalten wurden. [99] Sozialpolitik wurde beschworen, angesichts anderer aktueller Prioritäten jedoch zurückgestellt. Der Einzelhandel hatte zu dienen, wollte er verdienen.

Der Primat der Versorgungspflicht zeigte sich dann in reiner Ausprägung während des Krieges. Die Verordnung über den Ladenschluss vom 21. Dezember 1939 [100] gründete bewusst auf Kriegssonderrecht, kehrte sie doch erstmals in der deutschen Geschichte den Ladenschlussgedanken um: Die Läden mussten nun nicht mehr zu bestimmten Zeiten geschlossen, sondern vielmehr bis 18 Uhr (Gebrauchsgüterhandel ohne Mittagspause) respektive 19 Uhr (Lebensmittelhandel mit Mittagspause) offen gehalten werden: „Wenn heute die Verbraucherversorgung als Aufgabe und volkswirtschaftliche Pflicht des Einzelhandels angesehen wird, so kann es nicht mehr vollständig in das Belieben des einzelnen Betriebes gestellt sein, ob und in welchem Umfange er dieser Verpflichtung nachkommen will.“ [101] Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges, als die katastrophale Versorgungslage die Unfähigkeit der Regierung in elementaren Basisbereichen verdeutlichte, hatte die regelmäßige und sichere Versorgung der Verbraucher Priorität vor unternehmerischer Selbstbestimmung oder dem Wunsch nach Freizeit. Es galt der Volksgemeinschaft bzw. dem leeren Abstraktum Deutschland Opfer zu bringen: „Dazu ist vor allem auch die innere Bereitschaft des Einzelhandels, sich seiner schwierigen und oft undankbaren Kriegsaufgabe mit Hingebung und Geduld zu widmen, ebenso notwendig wie Verständnis, Selbstbeherrschung und Selbsterziehung auf der Seite der Käufer. Diese mit dem Verzicht auf persönliche Wünsche, Gewohnheiten und Bequemlichkeiten verbundene Haltung und Unterordnung unter die Notwendigkeiten der Gesamtheit muß im Kriege auch von jedem Deutschen in der Heimat erwartet werden.“ [102]

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Notmaßnahme lustig aufbereitet: Verkauf im Betrieb (Arbeitertum 12, 1943, Folge 9, 12)

Der Konsum sollte eben nicht mehr als individueller Kaufakt verstanden werden, sondern als bewusstes Handeln im Dienst einer Volksgemeinschaft. Staatlicherseits galt es Käuferströme zu lenken und zu bestimmten Zeiten Verkaufsmöglichkeiten zu schaffen. Entsprechend versuchte man, die Mittagspausen von Käufern und Verkäufern zu koordinieren, beschränkte Betriebsferien und eigenmächtige Ladenschließungen. [103] Zugleich wurde die Entscheidung über den Ladenschluss dezentralisiert, um vor Ort flexibel agieren zu können. [104] Parallel dazu baute der NS-Staat systematisch die Handelsbereiche ab, die nicht der Grundversorgung dienten. Ladenschluss und Betriebsstillegungen dienten gleichermaßen dazu, Soldaten und Arbeiter für einen Vernichtungskrieg zu rekrutieren. Den verbleibenden Betrieben der Lebensmittels- und Bekleidungsbranche wurden dagegen ab 1943 – nicht zuletzt aufgrund der regelmäßigen Bombardierung fast aller deutschen Großstädte – deutlich längere und flexibel vor Ort festgelegte Öffnungszeiten angewiesen. [105]

Die Ladenschlussregelung verdeutlicht den funktionalen Stellenwert von Handel und Konsum. Die „schnelle und reibungslose Abwicklung des Warenverkaufs“ [106] war keine volkswirtschaftliche Aufgabe an sich, sondern Grundlage eines machtvollen und expansiven Reiches. Arbeitszeitverkürzungen waren erst nach dessen Sicherung denkbar. Die in den eigenständigen Maßnahmen des Handels und der Angestellten erkennbaren andersgearteten Zielsetzungen galten entsprechend wenig. Machterweiterung und Krieg waren die eigentlichen Ziele der führenden Instanzen, Konsum und Handel waren Teil eines umfassenden Kriegsdienstes. Damit allerdings sollten die Grundlagen späterer sozialpolitischer Erleichterungen für den „deutschen“ Kaufmann gelegt werden.

3.4 „Bewährungsprobe“ – Der Kriegsdienst des „deutschen“ Handels

Der Übergang von der „Wehrwirtschaft“ zur Kriegswirtschaft gelang 1939 ohne größere Probleme. Die Edeka etwa meldete: „Dank der eingehenden Aufklärungsarbeit und den umsichtigen Vorbereitungen in der Ausrichtung auf die Kriegswirtschaft standen die Genossenschaften bei Ausbruch des Kriegs wohl gerüstet den neuen Aufgaben gegenüber, so daß sich erfreulicherweise der Uebergang von der Friedenswirtschaft zur Kriegswirtschaft fast reibungslos und ohne große Umstellungen vollzogen hat.“[107] Schon vor dem deutschen Angriff auf Polen wurden ab dem 28. August 1939 umfassende Kundenlisten für die wichtigsten Lebensmittel erstellt [108], ab dem 25. September 1939 griff dann ein sorgfältig geplantes Rationierungssystem. [109] Die Arbeitsbelastung der Händler erhöhte sich dadurch erheblich, erreichte bei einem mittleren Lebensmittelgeschäft einen Mehraufwand von 32 bis 35 Stunden pro Woche. [110] Dennoch erfolgte der Übergang zur Rationierungswirtschaft vergleichsweise reibungslos, sieht man einmal von anfänglichen Versorgungsengpässen ab. [111] Die Rationierung konzentrierte sich auf den Grundbedarf, umgriff schnell das gesamte Lebensmittelsortiment, die Kleidung, Möbel und Einrichtungsgegenstände. Der gehobene Bedarf blieb anfangs frei, später unterlagen immer größere Konsumsegmente der direkten staatlichen Regulierung. [112]

22_Arbeitertum_14_1945_Folge01_p08_Tauschhandel

Persiflage auf den grassierenden Tauschhandel (Arbeitertum 14, 1945, Folge 1, 8)

Die Folge dieses Warenmangels war eine recht intensive Schattenwirtschaft. Viele Funktionsträger des Regimes nutzten ihre guten Kontakte zu Wirtschaft und Handel, um ihren Lebensstandard auch im Krieg zu halten. [113] Graue und schwarze Märkte – im kollektiven Gedächtnis meist der Nachkriegszeit zugeordnet – nahmen nun zu, nachdem es sie aufgrund von Produktionsbeschränkungen und staatlich festgelegten Preise schon während der 1930er Jahre vielfach gegeben hatte. [114] Angesichts der Warenbeschaffungsprobleme gewannen der Tauschhandel zwischen Händlern und die zu Beginn des Regimes systematisch bekämpften Koppelungskäufe schnell an Gewicht. Drakonische Strafen und eine eigens eingerichtete Ehrengerichtsbarkeit halfen kaum [115], zumal auch die Verbraucher ebenfalls immer häufiger Waren tauschten. Die Bäume und Mauern der Städte waren Ende 1942 trotz Verboten derartig mit Tauschzetteln beklebt, dass dies als Verschandelung gewertet wurde. [116] Lokal wurden daraufhin offizielle Gebrauchtwarentauschstellen eingerichtet, die teils von den Städten, teils von den Händlern selbst getragen wurden. Die begrenzte Legalisierung und Verstaatlichung des Tauschhandels löste das Problem der Schattenwirtschaft allerdings nicht, auch wenn die Propaganda die damit verbundene „Mobilisierung ungenutzter Werte“ [117] hervorhob. Gerade das „Hamstern“ vieler Privatpersonen, stärker aber noch des Handels selbst, blieb ein zentrales Problem der Heimatfront, lockten doch hohe Gewinne. [118] Allein die relative Effizienz der deutschen Grundversorgung und die zunehmend härtere Bestrafung bei Preisvergehen und Schwarzhandel hielten die Schattenwirtschaft während Krieges in Grenzen. [119]

Die wirtschaftliche Lage des Handels wurde zu Beginn des Kriegs allerdings kaum negativ beeinflusst. Der Wert der Umsätze sank zwischen 1939 und 1943 zwar um etwa 10 Prozent, doch muss bedacht werden, dass die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte als Folge der Einberufungen und der zunehmenden Zivilarbeitspflicht ebenfalls rasch sank. Die Produktivität des Handels stieg deutlich. An die Stelle der Versorgung der Privatbevölkerung trat in immer größerem Ausmaß die Versorgung auch der Wehrmacht, ziviler Behörden, Betriebe und Lager. Dieser begrenzte Funktionswandel verweist auf die dienende Rolle des deutschen Handels. [120] Bis Ende 1941 wurden etwa 60.000 Einzelhandelsbetriebe geschlossen, ungefähr ein Zehntel des Vorkriegsbestandes. [121] Obwohl wie im ersten Weltkrieg leistungsfähigere Betriebe bevorzugt beliefert wurden, nahm die durchschnittliche Betriebsgröße zunehmend ab, da die Zahl der Arbeitskräfte, zumal der männlichen und jüngeren, überproportional sank. 1944 dürfte nicht einmal die Hälfte der Zahl der Vorkriegsbeschäftigten im Einzelhandel erreicht worden sein. Entsprechend sanken tendenziell die Arbeitskosten, ebenso die Aufwendungen für Werbung, Beleuchtung und Zustellung. [122] Dennoch dienten die Schaufenster nach wie vor der Verbrauchslenkung und Propaganda, wurden die leerstehenden Geschäfte sogar von anderen Ladeninhabern mit dekoriert. [123] Erst 1943 wurde hier umgeschwenkt, stand nun doch die Lieferfähigkeit selbst im Vordergrund der Auslagen – und natürlich, zumal auf den Bretterverschlägen nach Bombenangriffen, Durchhaltepropaganda. [124] Angesichts der allgemeinen Versorgungslage konnte der Handel gerade ältere Ware bequem absetzen, galt der schnellstmögliche Lagerumschlag nicht mehr als Ziel, sondern die Beschaffung möglichst vieler Waren [125]: „Der Wettbewerb hat nicht aufgehört, er ist nur im wesentlichen auf die Seite der Beschaffung verschoben worden. Um die Abnehmer wird er heute nur noch insofern geführt, wie diese als Träger von Mengenbezugsrechten Kaufkraft auf ihre Lieferanten übertragen und die Wiederbeschaffung sichern können.“ [126]

Während des Krieges begann eine zunehmende innere Umgestaltung des Handels, die zuerst die Sortimente betraf. Durch die Verordnung vom 10. Januar 1940 konnte das Sortiment um neue Waren ergänzt werden, ohne dazu einer besonderen Genehmigung zu bedürfen. Diese Abkehr von den Grundprinzipen des Einzelhandelsschutzgesetzes zielte auf eine gesicherte Versorgung der Bevölkerung trotz einer schwindenden Zahl von Läden. Sie war aber auch nötig, da mit der Kriegswirtschaft die Zahl der Produkte insgesamt sank, parallel aber die Zahl neuartiger Ersatzprodukte, wie etwa Kaffeearomen, fettlose Waschmittel, künstliches Eiweiß, Milei oder Migetti schnell stieg. [127] Ab 1943 gewannen Kriegsverkaufsgemeinschaften an Gewicht, also die Zusammenlegung branchenmäßig verwandter Geschäfte. Durch Erlass vom 22. April 1943 geregelt, sollten so Fixkosten verringert und Raumprobleme gemeistert werden. [128] Parallel wurden Gruppenarbeitsgemeinschaften eingerichtet, um den Warenbezug zu vereinfachen. [129] Die vielfältigen Debatten über eine technische Rationalisierung des Handelsbetriebes, deren wichtigste Ergebnisse die Ratio-Läden bzw. Einmann-Selbstbedienungsläden waren, wurden auch im Krieg fortgesetzt. Im Februar 1942 stellte die Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel einen neuen Beispielladen vor, der Vorbild für die späteren Tempo- und Selbstbedienungsläden wurde. [130] Sein Betrieb war allerdings auf vorverpackte Ware zugeschnitten, angesichts mangelnden Verpackungsmaterials also nicht umsetzbar. [131] Die Priorität des Leistungsgedankens zeigt sich auch in Überlegungen, auf Grundprinzipien der 1932/1933 rigide bekämpften Einheitspreisgeschäfte zurückzugreifen. [132] Die Erweiterung der Sortimente und die Entwicklung neuer Geschäftstypen sollten die leistungsfähigen Kräfte bündeln, gaben aber auch ein Modell für den Handel nach dem „Endsieg“. [133]

23_Nordwest- und mitteldeutsche Baecker- und Konditorei-Zeitung_45_1943_Nr27_p3_Einzelhandel_Baeckerei_Brot_Bombenkrieg_Ausgebombte

Brotabgabe an Ausgebombte nach einem Bombenangriff aus einem beschädigten Bäckereiladen (Nordwest- und mitteldeutsche Bäcker- und Konditorei-Zeitung 45, 1943, Nr. 27, 3)

Die Lage des Handels verschärfte sich 1943 deutlich. Die „totale“ Kriegswirtschaft, die zunehmenden Luftangriffe [134], die neuerlichen Auskämmungen des Handels und die immer stärkere Heranziehung von Frauen in der Rüstungswirtschaft forderten Tribut, die Versorgung konnte aber durch immensen Arbeitseinsatz und immer wieder neue behelfsmäßige Lösungen noch bis Ende 1944 sichergestellt werden. [135] Im Februar 1943 begann die erste systematische Stilllegungsaktion, deren Ziel die „Freisetzung von Arbeitskräften für kriegswichtige Zwecke“, aber auch die „Optik des Krieges“ war. Auch die Heimatfront sollte den Ernst der Lage begreifen, sollte so zu intensiverer Arbeit angespornt werden. Gleichwohl blieb die Versorgung im Großdeutschen Reich privilegiert, vergleicht man sie mit der anderer Staaten der „Festung Europa“. Das war nur möglich durch die systematische Ausplünderung der besetzten Gebiete in West und vor allem Ost. Sie ergab Geld, Rohstoffe und Nahrungsmittel für die Deutschen, machte auch nicht Halt vor den Möbeln und dem Hausrat der Bewohner der eroberten Länder und der zur Tötung deportierten Juden. [136]

Von alledem profitierten sowohl die Verbraucher als auch der Handel. Und selbstverständlich erhielten die Händler als Ausgleich für Stilllegung und Rekrutierung Mietbeihilfen und einen gewissen finanziellen Ausgleich. [137] Gerade schmerzlicher Dienst für die Volksgemeinschaft sollte nicht umsonst sein, der „Handelskern“ [138] werde jedenfalls nach dem Krieg seinen Lohn erhalten. Der Kriegsdienst galt als „Leistungsprobe“ für den deutschen Kaufmann: „Gerechte Verteilung der Mangelware, weil der Kunde von heute, [sic!] der treueste in der besseren Zukunft sein kann. Das gute Schaufenster auch im Kriege, weil es den Willen zum ständigen Dienst am Kunden verrät. Die geordnete Buchführung gerade jetzt, weil sie zur Vertrauensgrundlage für schönere Aufgaben und Aufträge in der Zukunft wird. Der Wille zur Nachwuchserziehung – auch wenn um die jungen Menschen gekämpft werden muß – jetzt, weil er vom Glauben an die Sendung des Berufes zeugt. Der unzerbrechliche Frohsinn im täglichen Schaffen, gerade in harter Kriegszeit, weil anders der Mensch sich sinnlos verbraucht und dann um seinen Anteil an den Früchten des Sieges kommt.“ [139]

24_Kladderadatsch_95_1942_p265_Arbeitertum_11_1942_Folge11_p12_Einkaufen_Einzelhaendler_Kaeufer-Verkauefer_Verkaufsstaette_Hoeflichkeit

Höflichkeit als Tugend des Einzelhändlers (Kladderadatsch 95, 1942, 265 (l.); Arbeitertum 11, 1942, Folge 11, 12)

Das Zitat verweist auf weitere, auf „politische“ Aufgaben des Handels im Kriege. Es galt mehr zu tun als Waren zu verteilen. [140] Der Kaufmann war schließlich „Pionier der Heimatfront“ und hatte seinen „Teil zum Endsieg beizutragen“ [141]. Die politische Führung wies explizit daraufhin, „daß jedes deutsche Geschäft und jeder deutsche Laden heute eine politische Zelle sei, der in der Ausrichtung der Stimmung des gesamten Volkes eine entscheidende Rolle zufalle.“ [142] Als Herr über die tägliche Versorgung hatte der Kaufmann eine beträchtliche Machtposition über die qua Kundenliste an ihn gebundenen Konsumenten, konnte begünstigen und fördern oder aber dieses unterlassen. „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ begegnete er strikt, konnte dann auch aus der Haut fahren: „Diese Ladenekel tragen die Schuld, wenn manchem Kaufmann doch einmal die Geduld reißt, wenn er schließlich ihnen einmal so grob kommt, wie sie es verdient hätten, wie es aber nun einmal wegen des Ansehens der Kaufleute und ihrer Sonderrolle der Erhaltung guter Stimmung und der Beratung und Erziehung der Verbraucher wegen nicht angeht.“ [143] Der Kaufmann – tatsächlich wurde der Handel während der Kriegszeit vorrangig von Händlerinnen getragen – war zugleich ein Kulturträger Deutschlands. Noch 1943 wurde in Berlin die Gemäldeausstellung „Kaufmann am Werk“ gezeigt, in der abseits des mörderischen Tagesgeschäftes die Ideale und ethischen Werte des Handels künstlerischen Ausdruck fanden. [144]

25_Voelkischer Beobachter_1943_01_16_Nr016_p4_WKII_Einzelhandel_Lebensmittelversorgung_Sozialpolitik

Dienst in der Gegenwart, Lohn in der Zukunft (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 16 v. 16. Januar, 4)

All dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der „deutsche“ Kaufmann angesichts der wachsenden Kriegsprobleme an die Grenzen der Vermittlung kam. Auch er konnte die Propaganda nicht zur Realität umbiegen, auch er hatte schließlich trotz hoher Leistungsbereitschaft im Sinne des Regimes unter dessen Hybris und Niedergang zu leiden. Die Hoffnungen und Erwartungen, die noch 1940 und 1941 zu intensiven Diskussionen über die Rationalisierung für die folgende Friedenszeit geführt hatten, wurden nicht erfüllt. [145] Dies lag nicht allein am politisch-militärischen Gesamtrahmen. Dies war auch Konsequenz der bewussten Mitarbeit des „deutschen“ Handels im NS-Regime, an dessen Ende die volkswirtschaftliche Minimalaufgabe, die Grundversorgung der Bevölkerung, nicht mehr gewährleistet werden konnte, an dessen Ende die Verbraucher ihr Hab und Gut in Bombentrichtern und ausgebrannten Ruinen suchten, an dessen Ende die Versorgung der früheren Volksgemeinschaft nur durch die ehedem verteufelten alliierten Streitkräfte gesichert werden konnte.

4. Versorgung in der Volksgemeinschaft – Resümee einer Näherung

Die vier Fallbeispiele zeigen, dass zwischen den ideologischen Vorgaben und der realhistorischen Umsetzung jeweils eine deutliche Lücke klaffte. Die Ziele wurden praktisch nie erreicht, stets gab es Interessenkonflikte und strukturelle Probleme, die ihre Umsetzung erschwerten oder gar unmöglich machten. Die Händler suchten nach wie vor ihren eigenen Vorteil, ebenso die Konsumenten, die sich den strikten Vorgaben immer wieder entzogen, die an tradierten Konsummustern festhielten, im begrenzten Konsum gar Trost und Ausflucht suchten. [146]

Diese Bewertung griffe jedoch zu kurz. Sie unterschätzt die mittels der Ideologie in Gang gesetzte Dynamik, übersieht, dass deren Vorgaben nie vollständig umzusetzen waren. Die Idee des „deutschen“ Handels führte zu tiefgreifenden Veränderungen im Verständnis und in der Gestalt des deutschen Einzelhandels. Es war gerade die Diskrepanz zwischen dem Ideal und stets begrenzten Umsetzung, die – abseits ökonomischer Strukturprobleme – diese Veränderungen erst ermöglichte. Die Ziele mochten nicht erreicht, die Ideale nicht erfüllt werden, doch dies bedeutete nur ein weiteres, neuerlich intensives Streben nach Erfüllung und Zielerreichung. Das Ideal des „deutschen“ Handels wirkte; nicht allein Zwang und Mangel einer Alternative ließen einen zentralen Bereich moderner Wirtschaft die Fährnisse einer Politik ertragen, die Prioritäten abseits der Konsumgüterversorgung, abseits der ökonomischen Prosperität der Handels setzte. Die Kaufleute begnügten sich mit Wenigem, war dies doch mehr als zuvor, war doch zugleich die Aussicht auf späteren „Lohn“ gegeben. Die Verbindung von Nationalstolz, rassischer und fachlicher Überlegenheit, des langsam wachsenden Wohlstandes führten zu einer Dienstbereitschaft, die uns heute abstrus und verachtenswürdig erscheinen mag, die aber gleichwohl historische Realität war.

Bis zur totalen Niederlage 1945 garantierte der „deutsche“ Handel die Versorgung in der Volksgemeinschaft. Und auch danach wurden die Dienste des Handels gebraucht. Denn wenn auch graue und schwarze Märkte weiterbestanden, Tauschhandel und Hamstern auf dem Lande zum Leben vielfach üblich wurden [147], so konnte doch auf den Handel und seine Leistungen nicht verzichtet werden – auch wenn sich schon bald zeigen sollte, dass der selbständige Einzelhändler der Wirtschaftswunderzeit ein Auslaufmodell sein sollte.

Uwe Spiekermann, 25. Mai 2021

Anmerkungen, Literatur- und Quellenbelege

[1] Vgl. Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie und Politik 1933-1945, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1988.
[2] Vgl. etwa Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, 591-609.
[3] Ian Kershaw, Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000, 10.
[4] Dr. Hayler im Westdeutschen Rundfunk über „Altes und neues Wirtschaftsdenken“, Edeka Deutsche Handels-Rundschau (= DHR) 17, 1934, 125-126.
[5] Beim Folgenden handelt es sich um eine Weiterentwicklung von Gedanken, die ich in Uwe Spiekermann, Rationalisierung, Leistungssteigerung und „Gesundung“: Der Handel in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich. Von der Winkelkrämerei zum E-Commerce, Bramsche 2000, 191-210, insb. 203-209 dargelegt habe. Dort auch mehr zu den hier nicht eigens thematisierten konkurrierenden Großbetriebsformen.
[6] Appell an den Handel. Kundgebung des Reichsführers des Handels, Edeka DHR 27, 1934, 193-194, hier 193.
[7] Differenzierung tut Not, denn das Modernisierungspotenzial des mittelständischen Einzelhandels war während der Endphase des Kaiserreichs als auch in den späten 1920er Jahren beträchtlich. Die Weltwirtschaftskrise führte jedoch zu einer Verfestigung der alten Frontlinien, insbesondere zu einer Erneuerung vielfältiger Verbots- und Sonderbelastungsforderungen, zu einer Staatsorientierung also, die nach der Jahrhundertwende an Gewicht verloren hatte. Vgl. hierzu Uwe Spiekermann. Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im späten Kaiserreich, Frankfurt et al. 1994, insb. 160-167; Ders., Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 416-442.
[8] Josef Wilden, Der Einzelhandel in Staat und Wirtschaft, in: Franz Effer (Hg.), Der Deutsche Einzelhandel in Staat und Wirtschaft, Düsseldorf 1926, 40-45, hier 44. Als Beispiel für die Hoffnungen auf eine ständische Wirtschaftsordnung s. Tag des Deutschen Handels. 18.-19. November 1933. Braunschweig. Sonderheft des Rekofei Berlin, s.l. s.a. (Berlin 1933).
[9] Zu den verschiedenen staatlichen Maßnahmen und Gesetzen vgl. Adelheid v. Saldern, Mittelstand im „Dritten Reich“. Handwerker – Einzelhändler – Bauern, Frankfurt a.M. und New York 1979.
[10] Hierzu Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-128, insb. 83-91.
[11] Vgl. Abwehr des Einzelhandels gegen die „Direkt“-Läden, Deutsche Handels-Warte (= DHW) 19, 1931, 473; Erster Rückzug aus dem Direktverkauf, DHW 19, 1931, 521.
[12] Vgl. schon Wilhelm Hermann, Die Rationalisierung im Lebensmittelhandel, in: Die Bedeutung der Rationalisierung für das Deutsche Wirtschaftsleben, hg. v.d. IHK zu Berlin, Berlin 1928, 359-410, hier 363.
[13] Georg Bergler, Absatzmethoden des Einzelhandels von vorgestern, gestern und heu¬te, DHW 22, 1934, 102-106, 129-133, insb. 132.
[14] Näheres enthalten J[akob] v. Norden, Gesamtverband des deutschen Einzelhandels (G.D.E.), DHW 22, 1934, 512-516; Uffhausen, Der Stand des organisatorischen Aufbaus im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 241-243. Parallel ist an die sozialpolitische Integration des Handels in die Deutsche Arbeitsfront bzw. branchenspezifisch in den Reichsnährstand zu denken.
[15] Walter Rafelsberger, „Leistungswettbewerb und Selbsthilfegedanke“, DHR 32, 1939, 482.
[16] Zitate nach [Heinrich] Hunke, Der Wettbewerb in der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung, DHR 31, 1938, Sdrh., 57.
[17] Vgl. [Werner] D[eiters], Händler oder Verteiler?, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 749-750. Auch andere Begriffe durchliefen diese sprachreinigende Moralisierung, so etwa Kleinpreisgeschäft und Einheitspreisgeschäft oder aber Kaufhaus und Warenhaus (Warenhaus = Kaufhaus? Gegen Verfälschung von Firmenbezeichnungen, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 720-721).
[18] Kaufmann – nicht Händler!, DHW 23, 1935, 26.
[19] Vgl. Peter Planz, Sachkunde im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 215-221; Hermann Gretsch und Gotthold Sieber, Schulung der Verkaufskräfte, ebd., 496-503; Hövische, Richtlinien für die Ausbildung von Verkaufslehrlingen im Einzelhandel, ebd., 619-624; H. Lübbemeyer, Die Kaufmannsprüfungen im Einzelhandel, DHR 28, 1935, 699-700.
[20] Vgl. Mindestanforderungen zur Buchführungspflicht. Richtlinien für die Praxis, DHR 31, 1938, 825-826. Dies bedeutete die Einführung eines Wareneingangsbuchs, eines Geschäftstagebuchs, eines täglichen Kassenberichts, eines Geschäftsfreundebuchs, einer jährlichen Inventur und eines Jahresabschlusses.
[21] Vgl. Verordnung über die äußeren Kennzeichnungen von Lebensmittel (Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung) vom 8. Mai 1935, DHR 28, 1935, 522, 524.
[22] Auch hier wurde an weit zurückreichende Vorbilder angeknüpft, vgl. etwa Heinrich Grünfeld, Die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels als Berufs- und Wirtschaftsvertretung, in: Effer (Hg.), 1926, 20-29, hier 28.
[23] Vgl. hierzu den Beitrag von Paul Hilland (HDE), in: Die Aufgaben des Jahres 1934 für den deutschen Einzelhandel, DHW 22, 1934, 1-9, hier 1.
[24] Die Auswirkungen schildert am Beispiel Wuppertals Georg Scherer, Auswirkungen der neuen Erlaubnispflicht für den Straßen- und Hausierhandel, DHW 23, 1935, 405-410.
[25] Walfried Mayer, Die Persönlichkeit des Unternehmers bestimmt den Wirtschaftserfolg, DHR 34, 1941, 345-346, hier 346.
[26] Dieser Terminus wurde 1933/34 besonders häufig verwandt, vgl. etwa Dr. Hayler im Westdeutschen Rundfunk über „Altes und neues Wirtschaftsdenken“, Edeka DHR 17, 1934, 125-126, hier 126.
[27] E. Heinig, Um die Berufsbereinigung, DHR 32, 1939, 20.
[28] Karl Arnhold, Umrisse einer deutschen Betriebslehre, Leipzig 1936, 31.
[29] Vgl. Albert Werner, Soldaten der Selbsthilfe. Silvesterbetrachtung, DHR 28, 1935, 1335-1336.
[30] Lebensziel und Lebensinhalt, DHR 28, 1935, 370.
[31] Walfried Mayer, Die Frau hinter dem Ladentisch, DHR 32, 1939, 101-102.
[32] Ders., Die Berufstätigkeit der Frau im Einzelhandel, DHR 28, 1935, 304.
[33] Probleme des Einzelhandels, DHR 31, 1938, 842.
[34] Die Hausfrau ist richtungsgebend, Edeka DHR 27, 1934, 856.
[35] Der neuzeitliche Kolonialwarenladen, DHR 32, 1939, 172. Vgl. auch Franz Hayler, Schönheit der Arbeit im Einzelhandel! Ein Aufruf des Leiters der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, DHW 23, 1935, 25-26; Karl Völker, Einige Anregungen zur Gestaltung der Verteilungsstelle, Die Rundschau 36, 1939, 462-464.
[36] Vgl. etwa Das vorbildliche Einzelhandelsgeschäft, DHR 32, 1939, 310.
[37] Detaillierte Informationen enthalten Betriebsstruktur und Besteuerung im Einzelhandel und im Handwerk. Eine Sammlung von Richtzahlen, T. I: Einzelhandel, Berlin 1935; Umsatz, Betriebsausgaben und Gewinn im Einzelhandel mit Nahrungs- und Genußmitteln, Wirtschaft und Statistik 17, 1937, 441-442; Betriebsstruktur und Kostengestaltung in wichtigen Gewerbezweigen. Eine Sammlung von Richtzahlen. T. II: Einzelhandel, Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, Berlin 1940. Sie zeigen, dass die Wirtschaftserholung vor allem den mittleren und größeren Geschäften zugutekam, kaum aber den kleinen Betrieben mit unter 20.000 RM Jahresumsatz.
[38] Vgl. hierzu detailliert Ulrich Kurzer, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaften. Gleichschaltung, Sanierung und Teilliquidation zwischen 1933 und 1936, Pfaffenweiler 1997.
[39] Die Judenfrage im Einzelhandel, DHW 23, 1935, 713-714.
[40] Vgl. Eva Stille, Vertreibung der Frankfurter Juden aus der Bekleidungswirtschaft, in: Almut Junker (Hg.), Frankfurt Macht Mode 1933-1945, Marburg 1999, 83-107.
[41] Vgl. etwa die Unterlagen zur rechtswidrigen Verweigerung von Wandergewerbescheinen an jüdische Händler, Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 430, Dez. 301, acc. 15 A/65, Nr. 5, Bd. 1.
[42] Beseitigung der Uebersetzung im Einzelhandel, DHR 32, 1939, 223. Demnach war die Geschäftsschließung rechtens, wenn der Betriebsinhaber in den letzten zwei Jahren Wohlfahrts- oder Arbeitslosenunterstützung bezogen hatte, wenn er ohne Gefährdung des Unternehmens seinen steuerlichen Verpflichtungen der Gefolgschaft gegenüber nicht nachkommen konnte oder von der Steuer freigestellt war. Vgl. auch Lucas, Die „Beseitigung der Übersetzung im Einzelhandel“ durch die Verordnung im Einzelhandel vom 16. März 1939, DHR 32, 1939, 312-313, 332.
[43] Näheres enthält Carl Lüer, Das Problem der Übersetzung im Handel, Der Vierjahresplan 1, 1937, 581-583.
[44] Übersicht über die Betriebsverhältnisse und über die soziale Struktur des deutschen Einzelhandels. Tabellenmaterial einer Erhebung der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel vom Jahre 1938, Berlin 1943 (Ms.).
[45] Betriebsstruktur, 1940. Zum allgemeinen Hintergrund, der effizienten Nutzung moderner Wirtschafts- und Gesellschaftsstatistik im Nationalsozialismus, vgl. Götz Aly und Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2000.
[46] Vgl. Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, insb. 137-142.
[47] Vgl. Hartmut Berghoff, Von der »Reklame« zur Verbrauchslenkung. Werbung im nationalsozialistischen Deutschland, in: Ders. (Hg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, 77-112, insb. 78-89.
[48] 1929 lagen die Werbeausgaben des Einzelhandels bei geschätzten 543 Mio. RM, die der Industrie dagegen bei 350 Mio. RM (Gesamtausgaben ca. 1 Mrd. RM) (Viktor Mataja, Die Bedeutung der Reklame, Magazin der Wirtschaft 5, 1929, 1241-1244, hier 1241).
[49] Ein (mit allen Einschränkungen) praktiziertes Gegenmodell fand sich bei den Konsumgenossenschaften, vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 150-189.
[50] Vgl. etwa Hans Culemann, Die Auswirkungen des neuen Werbegesetzes für den mittelständischen Fachkaufmann, DHW 21, 1933, 622-625. Zur NS-Auffassung von Werbung s. Emil Maurer, Die volks- und betriebswirtschaftliche Bedeutung der Wirtschaftswerbung, Berlin 1939.
[51] Vgl. etwa Köpke, Die Voraussetzungen für die Werbung, Edeka DHR 28, 1934, 117-118.
[52] Zu den schon seit den späten 1920er Jahren einsetzenden „Deutschen Wochen“ vgl. etwa W[ilhelm] Seedorf, Das landwirtschaftliche Marktwesen und die D.L.G., Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 47, 1932, 75-76; K[urt] Kräutle, Landwirtschaftliche Absatzförderung, ebd., 762-764. Beispiel für eine gesonderte Kampagne ist etwa Werbewoche „der deutsche Apfel“, Edeka DHR 27, 1934, 895.
[53] Aufruf: Dr. Goebbels ruft zum 1. Mai, Edeka DHR 27, 1934, 246.
[54] Vgl. etwa F.W. Schulze, Bericht der Edeka Reklame- und Verkaufsabteilung, der Abteilung für Konsumentendienst und Warenkunde, Edeka DHR 27, 1934, Sonderheft, 38-40, hier 39; Ders., Bericht der Edeka Reklame- und Verkaufsabteilung, der Abteilung für Konsumentendienst und Warenkunde, in: Bericht über den 28. Edeka Verbandstag 1935 in Aachen, s.l. s.a. (Berlin 1935), 170-175, hier 172.
[55] Am 1. Mai alle Fenster schmücken!, DHR 30, 1937, 383.
[56] Richtlinien der Reichspropagandaleitung, Edeka DHR 28, 1935, 946; Würdig ausgeschmückte Schaufenster zum Erntedankfest 1936, DHR 29, 1936, 870; Schaufensterschmuck zum Erntedankfest!, DHR 31, 1938, 792.
[57] Alle Schaufenster zum Erntedankfest schmücken, Edeka DHR 28, 1935, 945-946, hier 945.
[58] Walfried Mayer, Unser Erntedank!, DHR 29, 1936, 805-806, hier 805.
[59] Vgl. etwa Helmut Götzelt, Erntedanktag!, DHR 30, 1937, 833.
[60] Vgl. allgemein Wolfgang Heidel, Ernährungswirtschaft und Verbrauchslenkung im Dritten Reich 1936-1939, Phil. Diss. Berlin 1989 (Ms.). Zur Entwicklung der Ernährungswissenschaft im Dritten Reich vgl. Uwe Spiekermann, Pfade in die Zukunft? Entwicklungslinien der Ernährungswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gesa U. Schönberger und ders. (Hg.), Die Zukunft der Ernährungswissenschaft, Berlin, Heidelberg und New York 2000, 23-46.
[61] Vgl. beispielhaft Max Winckel, Die Ernährungsfrage im neuen Deutschland, Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 8, 1933, 197-199; Werner Kollath, Vernünftige Ernährung und ihre Propaganda in der Schule, Gesundheit und Erziehung 48, 1935, 292-295. Zur Vermittlung regimegemäßer Ernährungsratschläge an Mittlerpersonen vgl. Dirk Reinhardt und Uwe Spiekermann, Die „Zeitschrift für Volksernährung“ 1925-1939. Geschichte und bibliographische Erschließung, in: Andreas A. Bodenstedt et al., Materialien zur Ermittlung von Ernährungsverhalten, Karlsruhe 1997, 74-186, insb. 80-83.
[62] Vgl. Fritz Lieberich, Die Absatzwerbung für den deutschen Seefisch, Wiwi. Diss. München 1943, 55-56.
[63] Zum Hintergrund s. Uwe Spiekermann, Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Industrie und Haushalt 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, hg. v. KATALYSE e.V. und BUNTSTIFT e.V., Köln 1997, 30-42, insb. 32-35.
[64] Hering wurde vor allem zwischen August und Oktober angelandet, während die anderen Fischsorten zwischen Januar und April weit überdurchschnittlich verfügbar waren. Vgl. Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 28-29.
[65] Vgl. Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, 247-282, hier 251.
[66] Irmgard Voß, Wandlungen im Fischkonsum Deutschlands in der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung des Seefischkonsums, Wiwi. Diss. Nürnberg, Wesermünde 1939, 52 gab den Pro-Kopf-Verbrauch 1930 mit 5,0 kg aus deutscher und 4,6 kg aus ausländischer Produktion an. Die Werte betrugen 1933 dann 5,7 resp. 3,2 kg.
[67] Vgl. etwa O[tto] Br[enning], Propagierung der Fischnahrung im Rahmen der deutschen Erzeugungsschlacht, Norddeutsche Fischerei-Zeitung 27, 1935, 123-124.
[68] Hans Gloy, Die deutsche Fischwirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 314-315, hier 314.
[69] Anfang 1934 wurde die „Wirtschaftliche Vereinigung der deutschen Fischwirtschaft“ gegründet, der am 1. April 1935 die „Hauptvereinigung der deutschen Fischwirtschaft“ folgte (Neue Marktordnungen. Für die Fischwirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 398-399). Der werbetreibende Reichsseefischausschuss wurde Ende 1937 durch die Reichsfischwerbung ersetzt, die strikt absatzbezogen agierte (Fritz Reichardt, Die Fischwirtschaft im Vierjahresplan, Braune Wirtschafts-Post 7, 1938, 509-511, hier 510). Zur veränderten ernährungspolitischen Lage s. Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung. Eine Darstellung der ernährungswirtschaftlichen und ernährungswissenschaftlichen Aufgaben unserer Zeit, Dresden und Leipzig 1936, 99-113.
[70] Ziel war ein reichsweiter Pro-Kopf-Konsum von 20 kg pro Jahr (Fortschritte im Fischeinzelhandel, Ruhr und Rhein 20, 1939, 262).
[71] Vgl. etwa Reichert-Facilides, Seefische im Lebensmittelgeschäft?, DHR 28, 1935, 1183-1184; Otto Brenning, Grundregeln für das Fischgeschäft, DHR 28, 1935, 1185-1186; Walter Rosenhain, Lebendige Werbung, DHR 28, 1935, 1192-1193.
[72] Förderung des Seefischabsatzes durch Fischtage, DHR 29, 1936, 179-180.
[73] Vgl. Fischfang tut not, DHR 29, 1936. Die Slogans, die dem Ziel eines nun täglichen Fischverzehrs jedes Deutschen dienen sollten, lauteten etwa: „Mit Fischerzeugnissen können wir unseren Fleisch- und Eiweißbedarf durch inländische Produktion weitgehend befriedigen. Fischkonserven sind gesund, preiswert und wohlschmeckend. Fischkonserven sind tafelfertig. Jeder ißt sie gern infolge ihres pikanten Geschmacks. Fisch ist nahrhaft“ (Ebd.).
[74] [Otto] Brenning, Wie betreibt man den Verkauf frischer Seefische!, DHR 29, 1935, 1092-1093, hier 1092.
[75] Vgl. Franz Hayler, Kaufleute des deutschen Einzelhandels!, DHR 29, 1936, 1211.
[76] F[ranz] Marlow, Der Seefisch und der zubereitete Fisch in der Volksernährung und Volkswirtschaft, Norddeutsche Fischerei-Zeitung 28, 1936, 93-96, hier 95.
[77] Otto Ilchmann, Pflegt das Frischfisch-Geschäft, DHR 30, 1937, 27. Vgl. auch [Franz] Hayler, Frische Fische – gute Fische, Rundschau des Reichsbundes der deutschen Verbrauchergenossenschaften 34, 1937, 473-474.
[78] Neue Wege der Absatzförderung im Fischhandel, DHR 30, 1937, 357.
[79] Seefische und Fisch-Räucherwaren auf Verbilligungsscheine, DHR 30, 1937, 790.
[80] Kritisch hierzu: Hinzunahme von Fisch jetzt genehmigungspflichtig, DHR 31, 1938, 440. Vgl. schon zuvor Genehmigungspflicht für Fische, DHR 30, 1937, 992-993 bzw. Mindestanforderungen für den Fischverkauf, Die Rundschau 35, 1938, 249-250.
[81] Ein Vorbild war dabei sicherlich die „Nordsee“, der größte Fachfilialist im Deutschen Reich. Vgl. Voß, 1939, 60-63.
[82] Heinz Dietmar Petzina, Der nationalsozialistische Vierjahresplan von 1936. Entstehung, Verlauf, Wirkungen, Wiwi. Diss. Mannheim 1965, 230.
[83] Vgl. Hans Mosolff, Steigerung der deutschen Seefischversorgung und ihre Grundlagen, Die Deutsche Volkswirtschaft 6, 1937, 1051-1056, 1087-1089; Ders. (Hg.): Aufbau der deutschen Gefrierindustrie. Handbuch der Tiefkühlwirtschaft, Hamburg 1941.
[84] Vgl. etwa Planvolle Verbrauchslenkung schafft volkswirtschaftliche Werte!, Die Genossenschaftsfamilie 31, 1938, Nr. 5, 13; Das Meer, die freie Kolonie Deutschlands!, ebd. 32, 1939, Nr. 3, 15.
[85] Daten nach D[ieter] Grupe, Die Nahrungsmittelversorgung Deutschlands seit 1925. Eine Auswertung der einschlägigen Statistiken zu vergleichbaren Versorgungsbilanzen. Teil B: Schaubilder und Tabellen, Hannover 1957, 74-75; Spiekermann, 1997, 252.
[86] Vgl. Deutschlands wirtschaftliche Lage in der Jahresmitte 1939. Überreicht von der Reichs-Kredit-Gesellschaft Aktiengesellschaft Berlin, o.O. o.J. (1939) (Ms.), 16.
[87] Der deutsche Einzelhandel in der Kriegszeit. Aus dem Arbeitsbericht der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel für 1939/1941, DHR 35, 1942, 25-26, hier 25.
[88] Beide Zitate n. Vorwort der Schriftleitung in G. v. Hake, Ladenzeiten um Deutschland herum, Edeka. DHR 27, 1934, 569-570, hier 569.
[89] Vgl. etwa das Gedicht „Die Einkaufminute“ (Kladderadatsch 1934, Nr. 35 v. 26.08.), Edeka DHR 27, 1934, 588.
[90] Vgl. F. v. Poll, Anmerkungen zum neuen Automatengesetz, Soziale Praxis 43, 1934, Sp. 1200-1203; Elis-M. Puritz, Was wir Hausfrauen vom Automaten halten, Der Automat 8, 1934, 315-317.
[91] Demnach konnte – unter Beachtung der sonstigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen – an 20 Tagen pro Jahr der werktägliche Ladenschluss bis 21 Uhr ausgedehnt werden, während die morgendlichen Öffnungszeiten des Lebensmittelhandels vor Ort auf 5 Uhr vorverlegt werden durften.
[92] Hanns Stürmer, Sonnabend-Frühschluß im Einzelhandel, DHW 25, 1937, 183-184, hier 183.
[93] Sonnabend-Frühschluß ein vordringliches Problem, DHW 25, 1937, 203; Dr. Schacht zum Sonn-abend-Frühschluß, DHW 25, 1937, 219. Ein Resultat derartiger Arbeit war die „Feierabendschallplatte“ der DAF, mit der die Verbraucher um 18.45 Uhr zum Verlassen des Geschäftes aufgefordert wurden (Die Geschäftszeit ist beendet! Schallplatte der DAF. mahnt die Käufer, DHR 31, 1938, 707).
[94] Vgl. G. v. Hake, Die Neufassung der Arbeitszeitordnung, DHW 26, 1938, 282-284; Ders., Was bringt die Neufassung der Arbeitszeitordnung, DHR 31, 1938, 413.
[95] Vgl. hierzu etwa Zur Frage des Mittagsladenschlusses im Einzelhandel, DHR 32, 1939, 146; Einzelhandel und Mittags-Ladenschluß, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 51, 1939, 250; Kein Mittagsladenschluß, Die Rundschau 36, 1939, 258; E.M. Waldenburg, Urlaubsvertretung für den Einzelhändler, DHR 31, 1938, 96; Th. Klockemeyer, Mittags- und Freizeit für den Einzelhändler, DHR 31, 1938, 212.
[96] Vgl. etwa Sechsuhrladenschluß in Güstrow im Sommer, Die Rundschau 35, 1938, 426.
[97] Die Anordnung des Reichswirtschaftsministers zur Verhinderung von Ladenzeitverkürzungen. Vom 31. Mai 1939, Mehl und Brot 39, 1939, 384. Vgl. auch Nähere Anweisungen zur Verhinderung der Ladenzeitverkürzungen, Mehl und Brot 39, 1939, 400; Ladenzeiten ohne Verkürzung, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1665-1666.
[98] Vgl. Die Geschäftszeit an Verkaufssonntagen, DHR 31, 1938, 1008; Erlass des Reichsarbeitsministers v. 02.07.1938 (Reichsarbeitsblatt 1938, T. I, I240) über den Ladenschluss in ländlichen Gebieten. Zur Ausgestaltung vgl. [Erlass] Betr.: Ladenschluß in ländlichen Gebieten, Reichsarbeitsblatt 1939, T. I, I109-I110; Ladenschluß in ländlichen Gemeinden, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoreien 51, 1939, 174; Der Ladenschluß in ländlichen Gebieten, DHR 31, 1938, 630. 1941 wird die Grenze auf 22 Uhr erhöht ([Erlass] Betr. Ladenschluß in ländlichen Gebieten, Reicharbeitsblatt 1941, T. I, I267).
[99] Vgl. Die Geschäftszeit, 1938.
[100] Verordnung über den Ladenschluß. Vom 21. Dezember 1939 (RGBl. I, S. 2471), Der Vierjahresplan 4, 1940, 68.
[101] G. v. Hake, Das neue Ladenzeit-Recht / Offenhaltungspflicht der Einzelhandelsgeschäfte, DHR 33, 1940, 14.
[102] Deutschbein, Neuregelung des Ladenschlusses, Reichsarbeitsblatt 1940, T. V, V11-V14.
[103] Vgl. F.H. Schmidt, Die Ladenschlußregelung während der Sommerzeit, Reichsarbeitsblatt 1940, T. V, V166-V167; Einheitliche Ladenzeiten, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 506; Ladenschluß, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V557; Keine Schließungen von Lebensmittelgeschäften in der Weihnachtszeit, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V641.
[104] Vgl. Optimale Ausnutzung im Einzelhandel, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 927-928; Schulte-Overberg, Drei Jahre Ladenschlußverordnung, Reichsarbeitsblatt 1942, T. V, V654-658.
[105] Vgl. Der Ladenschluß, Mehl und Brot 43, 1943, 237.
[106] Schmidt, 1940, V167.
[107] Paul König, Rückblick und Ausblick. Zum Geschäftsbericht der Edekazentralorganisationen über das Geschäftsjahr 1940, DHR 34, 1941, 211-213.
[108] Für viele Produkte wurden schon früher (Stammkunden-)Listen angelegt, für Kaffee etwa im Februar 1939, vgl. Amtliche Richtlinien für den Kaffeehandel, DHR 32, 1939, 152.
[109] Das Wichtigste über die Neuregelung, DHR 32, 1939, 698-701. Vgl. auch Karl Völker, Die wehrpolitische Haltung des Verbrauchers und der Verbrauchergenossenschaft, Die Rundschau 36, 1939, 397-401.
[110] Angabe n. Paul König, Zum neuen Jahre!, DHR 33, 1940, 561-562, hier 561.
[111] Vgl. hierzu [Hans] Geithe, Die Edeka-Genossenschaften in der Kriegswirtschaft, DHR 32, 1939, 745-746
[112] Vgl. hierzu etwa Hubert Schmitz, Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939-1950. Dargestellt an dem Beispiel der Stadt Essen, hg. v.d. Stadtverwaltung Essen, Essen 1956; Gustavo Corni und Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997.
[113] Ein gutes Beispiel hierfür bietet Lothar Gruchmann, Korruption im Dritten Reich. Die „Lebensmittelversorgung“ der NS-Führerschaft, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42, 1994, 571-593.
[114] Vgl. hierzu Rüdiger Hachtmann, Lebenshaltungskosten und Reallöhne während des „Dritten Reiches“, Vierteljahrsschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 75, 1988, 32-73, hier 57 sowie als Beispiel für den Autohandel Ausschaltung des Schwarzhandels, DHR 32, 1939, 644.
[115] Ehrenrühriger Tauschhandel, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 526-527. Vgl. auch Bekämpfung des Tauschhandels, DHR 35, 1942, 6; Pflichtbewußter Handel, DHR 35, 1942, 30-31.
[116] Gebrauchtwarentauschstellen, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 668.
[117] Tauschstellen des Handels, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 1054-1055. Vgl. auch Errichtung von Tauschzentralen, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 857-858.
[118] Vgl. etwa die Glosse Blick in den Keller, Frankfurter Zeitung 87, 1943, Nr. 385/386 v. 31.07., 3. Als konkretes Beispiel vgl. den Fall eines Schuhwarengeschäftes im Landkreis Bersenbrück, dessen Bearbeitung sich über mehr als ein halbes Jahr hinzog, da die beschlagnahmten Güter von lokalen Handlungsträgern eigenmächtig weiterverteilt wurden (Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 430, Dez. 106, acc. 15/65, Nr. 319, Bd. 1 und Bd. 2).
[119] Vgl. etwa Die neue Verbrauchsregelungs-Strafverordnung, DHR 35, 1942, 34-35, durch die diejenigen mit Gefängnis und Geldstrafe bedroht wurden, die Waren ohne Berechtigung ausgaben bzw. die „Versorgungsberechtigten“ Waren vorenthielten.
[120] „Im ganzen wurde der Handel in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 als unmittelbarer Lieferer für Behörden und Wehrmachtsstellen, als Produktionsverbindungshandel für Betriebe der Industrie und als Versorger der Bevölkerung in die Tiefe der Rüstungswirtschaft eingeschaltet“ (Joachim Tiburtius, Lage und Leistungen des deutschen Handels in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Berlin und München 1949, 47).
[121] Angabe n. Ders., Die Handelsleistung unter staatlichen und korporativen Einwirkungen, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 65, 1942, 559-598, hier 561.
[122] So Robert Nieschlag, Der Weg des deutschen Binnenhandels. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Europa-Archiv 2, 1947, 811-817, hier 815.
[123] Vgl. etwa Das aktuelle Schaufenster, DHR 33, 1940, 202; Dass., ebd., 222 sowie Leere Schaufenster dienen wieder der Werbung, DHR 33, 1940, 401.
[124] Vgl. Die Ware im Fenster, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 587.
[125] Gleichwohl stieg der Lagerumschlag von 1939 auf 1940 teils erheblich (Ausnahme Möbelhandel), insbesondere der Lebensmittel- und Tabakwarenhandel wiesen deutlich bessere Margen auf (s. Tiburtius, 1949, 135).
[126] Joachim Tiburtius, Wettbewerb und Initiative des Handels im Kriege, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 1443-1446, hier 1443.
[127] Vgl. hierzu Bericht der Edekazentrale e.G.m.b.H., DHR 34, 1941, 223-228, hier 223-224.
[128] Vgl. Kriegsverkaufsgemeinschaften, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 259; Erleichterte Verkaufsgemeinschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 412-413.
[129] Bildung von Gruppenarbeitsgemeinschaften im Handel, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 471-472.
[130] Vgl. Betriebsvereinfachung im Lebensmitteleinzelhandel, DHR 35, 1942, 44; F.W. Schulze, Eine Gegenwartsaufgabe 35, 1942, 57-58; Arbeitssparender Verkauf, Frankfurter Zeitung 86, 1942, Nr. 104/105 v. 26.02., 3.
[131] Für die Diskussion kann stehen Werner Johann, Mehl lose oder verpackt, DHR 35, 1942, 77.
[132] Vgl. Einheitspreis als Rationalisierungsfaktor, Der deutsche Volkswirt 16, 1941/42, 1124-1125, hier 1125.
[133] Vgl. etwa Die Umstellung im Einzelhandel, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 642-643.
[134] Zu den präzisen Vorgaben vgl. Einsatz des Handels im Luftkrieg, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 795-796.
[135] Vgl. Ulrich Kluge, Kriegs- und Mangelernährung im Nationalsozialismus, Beiträge zur historischen Sozialkunde 15, 1985, 67-73.
[136] Vgl. hierzu beispielhaft die Studien von Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, 2. Aufl., Hamburg 1999, insb. 231-371 bzw. Wolfgang Dreßen, Betrifft: »Aktion 3«. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998, 45-61; Martina Krause und Michael Gander, „Arisierung“ des jüdischen Handels und Handel mit jüdischem Besitz im Regierungsbezirk Osnabrück, in: Haverkamp und Teuteberg (Hg.), 2000, 227-243, insb. 237-243.
[137] Vgl. Die Unterstützung der „Stillgelegten“, Der deutsche Volkswirt 17, 1942/43, 643; Mietbeihilfen für gewerbliche Räume des Handels, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 686-688.
[138] Konzentration im Handel, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 893-894, hier 894.
[139] Otto Friedrich, Im Glauben an Deutschland!, DHR 35, 1942, 17.
[140] So etwa Hartmut Fackler, Gleichgeschaltet – der Handel im Dritten Reich, in: Haverkamp und Teuteberg (Hg.), 2000, 245-255, hier 252-253.
[141] Die Bewirtschaftung – Rückblick und Ausblick!, DHR 33, 1940, 383.
[142] Der Kriegsbeitrag des Einzelhandels, DHR 32, 1939, 737.
[143] Die Waffe Humor, DHR 34, 1941, 8.
[144] Kaufmannskultur im Kriege, Die Deutsche Volkswirtschaft 12, 1943, 896.
[145] Vgl. etwa Edeka-Ausstattungsdienst. Ziel: Jedes Edeka-Geschäft ein Musterladen!, DHR 34, 1941, 113-114; W. Müller, Der Edeka-Ausstattungsdienst und die Kriegswirtschaft, DHR 33, 1940, 61-62. An diese Überlegungen wurde in der Nachkriegszeit unmittelbar angeknüpft.
[146] Vgl. etwa Alf Lüdtke, Feingebäck und Heißhunger auf Backwaren. Bemerkungen zum süßen Geschmack im Faschismus, in: Zuckerhistorische Beiträge aus der alten und neuen Welt, Berlin-West 1988, 399-426
[147] Zur Übergangsphase vgl. Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943-1953, Stuttgart 1990, 23-63. Es ist bemerkenswert, dass die Versorgungsprobleme der unmittelbaren Nachkriegszeit in einer kaum zu überblickenden Zahl vor allem regionaler und lokaler Studien behandelt wurden, dass demgegenüber die Versorgung und der Konsum während der NS-Zeit, auch während des Krieges, nur vergleichsweise geringe Beachtung gefunden haben.

Dieser Beitrag ist die leicht überarbeitete und mit weiteren Abbildungen versehene Fassung eines Manuskriptes, das 2004 unter dem Titel „L’approvisionnement dans la Communauté du peuple. Approches du commerce «allemand» pendant la période nationale-socialiste“ in der Zeitschrift Le Mouvement Social (Bd. 206, 79-114) in französischer Sprache veröffentlicht wurde. Eine deutsche Fassung dürfte hierzulande gewiss passgenauer sein. Auf eine Ergänzung der neuesten Literatur habe ich bewusst verzichtet – auch, weil es zum Einzelhandel während des Nationalsozialismus seither kaum Beiträge gegeben hat.

Waffe an der NS-Heimatfront – Der Eier-Austauschstoff Milei

Wer im Lebensmittelhandel einkauft, weiß häufig nicht, was er schließlich mit nach Hause trägt. Gewiss, Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch jedes Produkt ist doppelbödig, stofflich und rechtlich definiert, Ausdruck eines vorgelagerten Expertenwissens, ohne das der Einkauf gar nicht möglich wäre. Das hat große Vorteile, erlaubt der Mehrzahl sich dem Leben abseits der Mühen um die tägliche Kost zu widmen. Doch es führt zu Unschärfen, zu Ängsten um Selbstbestimmung und Gesundheit, um Identität und moralische Integrität. Und dabei bleibt es nicht: Denn dieser schielende Blick auf unseren Einkauf gibt anderen Experten Platz für ihre Dienstleistungen oder aber neue Produkte. All das ist eine stabile und zugleich dynamische Marktstruktur, getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft und Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges.

Dieses Hamsterrennen im konsumtiven Laufrad lässt sich analysieren (vgl. als Versuch Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018). Geschichtswissenschaft fürchtet nicht den Spiegel, blickt übermütig und mutig hinein, um zu erklären und zu verstehen, wie wir wurden, wie wir kauften. Und wenn das Gekaufte nur schemenhaft bekannt ist, so gilt es sich just mit ihm zu beschäftigen. Doch wo ansetzen? Der Einkauf besteht eben aus Produkten, die allesamt aus Einzelkomponenten zusammengesetzt sind – schon ein flüchtiger Blick auf die Pflichtangaben auf der Verpackung gibt einen blassen Eindruck von den wertgebenden Stoffen, von der im Produkt materialisierten Arbeit. Moderne Produkte sind Komposita, bestehend auch Einzelstoffen, zusammengesetzt aus Zwischenprodukten. Sie sind reale Konstruktionen für deren Verständnis die Einzelkomponenten und das ganze Produkt in den Blick zu nehmen ist. Milch ist Milch, ein trinkfertiges Ganzes – und zugleich eine aus Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, Wasser, Mineral- und Mikrostoffen zusammengesetzte Komposition, Ausfluss einer langen Kette von künstlicher Besamung bis hin zur Kühltheke.

Ich will Sie nun einladen, mit mir aus dem Theoriehimmel hinabzusteigen, um sich einem Beispiel zu widmen, das diese Doppelbödigkeiten genauer zu beleuchten hilft. Milei war ein Ende 1938 eingeführtes Milcheiweißpräparat, ein Eier-Austauschstoff, der bis weit in die 1960er Jahre bedeutsam war. Das Besondere an Milei war sein Doppelcharakter: Es war erst einmal ein Zwischenprodukt für das Lebensmittelgewerbe und die Massenverpflegung. Zugleich aber war es ein Markenartikel für Verbraucher, die es in Kriegs- und Nachkriegszeiten als Zutat für das häusliche Kochen und Backen nutzten. Milei verband in sich damit den Widerspruch jedes Konsumgutes, das Zweck und Mittel zugleich sein kann.

Wenige Sätze zur Vorgeschichte seien erlaubt. Die Zahl der Zwischenprodukte hatte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zugenommen. Es handelte sich anfangs meist um einfache Sortenabstufungen, wie etwa bei unterschiedlich ausgemahlenen Getreideprodukten. Konservierte Zwischenprodukte folgten, etwa getrocknete Gewürze oder Suppenzugaben. Das Feld erweiterte sich aufgrund wachsender Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung der Nahrungsmittel, die Stoffprofile denkbar machten. Verstand man das Ganze als Summe seiner Teile, so konnten einzelne Bestandteile ausgetauscht werden, waren preiswertere und auf bestimmte Zielgruppen zugeschnittene Produkte möglich. Nicht Milch wurde nun in den Blick genommen, sondern Milcheiweiß und Milchfett, dann die in der Milch befindlichen Amino- und Fettsäuren – und jede dieser Komponenten konnte gesondert gewonnen, verändert und weiterverwertet werden; zumindest theoretisch. Denn die Isolation, die Verarbeitung und dann die Lagerung und der Vertrieb hingen von Wissen und Infrastrukturen ab, die erst entwickelt werden mussten. Denken Sie etwa an die Konservierungstechnik, den Maschinenbau und die Verpackungsindustrie. Butter und Käse waren die tradierten Wege der Bewahrung von Milchfett und -eiweiß. Doch durch einfaches Filtrieren der Milch konnte man bereits im späten 19. Jahrhundert nicht nur Quark und Sauerkäse gewinnen, sondern auch das Eiweißprodukt Kasein, das als Zwischenprodukt in Seifen, Kosmetika, Lacken oder Photofilmen eingesetzt wurde. Filtrieren bedeutete Konzentration durch Wasserentzug. Ein anderer Weg zum Eiweiß war Hitzezufuhr. Trocknungsverfahren wurden erprobt, doch auch ein so einfaches Produkt wie Trockenmilch gewann erst kurz nach 1900 an Bedeutung, anfangs in der Säuglingsernährung, dann auch in der Lebensmittelverarbeitung (Trockenmilch, Der Konsumverein 5, 1907, 357). Erst die verstärkte Nachfrage der kaiserlichen Armeen und der darbenden städtischen Bevölkerung führten während des Ersten Weltkrieges zu technisch versierteren Verfahren, die derartigen Milchkonserven langsam auch den Weg in die Lebensmittelverarbeitung bahnten (J[osef] Tillmans, Trockenmilch, Kosmos 19, 1922, 43-45), so bei Würsten und Backwaren.

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Mahl- und Verpackungsraum der M. Töpfer Trockenmilchwerke in Böhlen, Sachsen, 1914 (Kurt Friedel und Arthur Keller (Hg.), Deutsche Milchwirtschaft in Wort und Bild, Halle a.S. 1914, 221)

Derartige Zwischenprodukte hatten wichtige Vorteile: Die spezialisierte Produktion ermöglichte Maschineneinsatz, größere Verarbeitungsmengen und damit geringere Gestehungskosten. Kasein und Trockenmilch waren deutlich länger haltbar als Frischmilch und konnten somit die noch beträchtlichen saisonalen Unterschiede im Milchaufkommen ausgleichen. Schließlich erlaubte ihre pastöse oder pulverige Konsistenz, sie anderen Nahrungsgütern rezeptgenau zuzufügen: Neue und/oder billigere Waren wurden so möglich. Ähnliche Veränderungen gab es bei fast allen landwirtschaftlichen Gütern, so auch bei Eiern. Doch noch waren Trocknungs- und Kühltechnik kaum ausgebildet, wussten Wissenschaftler und Unternehmer nur wenig von den Schädigungen des Eiweißes durch Hitze oder Kälte, wussten nichts über die erst 1911 entdeckten resp. benannten Vitamine. Daran scheiterten wissenschaftliche Utopien einer durch billige Eiweißpräparate auskömmlich ernährten Bevölkerung, die um die Jahrhundertwende vielfach geglaubt wurden (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Ein komplexes Milcheiweißprodukt wie Milei setzte weitere massive Grundlagenforschung voraus.

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Trockeneier als Hilfe in der eiarmen Zeit (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 39, 32)

Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ als Nährboden von Eier-Austauschstoffen

Während des Ersten Weltkrieges war das Marktpotenzial verarbeiteter Milch- oder Eiprodukte überdeutlich geworden. Das betraf nicht allein die Säuglings- und Kinderernährung, das Backen und den Herd. Eiweiß fehlte in allen Bereichen der Küchen, das Essen wurde bröselig und fad. Hinzu kamen wachsende gesundheitliche Schädigungen, denn trotz des wissenschaftlichen Ringens um physiologische Eiweißminima fehlte der breiten urbanen Bevölkerung und zuletzt auch Teilen der Truppe die vermeintlich aufbauende Substanz der Ernährung. Die Folgen waren Schwarzhandel, Inflation und ein wucherndes Ersatzmittelwesen, das bis Ende des Krieges nicht wirklich gebändigt werden konnte. Unter den damals registrierten 12.000 Produkten dominierten Getränkesubstitute, lediglich 33 Eier-Ersatzmittel wurden behördlich anerkannt (August Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1927, 60-61). Das spiegelte die immensen technischen Probleme in der Verarbeitung von Eiweiß, das kaum konserviert werden konnte, sich aber rasch zersetzte.

Für Wissenschaftler bedeutete dies Forschungspotenzial, für Agrar- und Ernährungspolitiker Forschungsbedarf und für Unternehmer und Milchgenossenschaften ein schwer zu entwickelndes Marktfeld. Entsprechende Bemühungen setzten schon in den frühen 1920er Jahren ein, getragen von notwendigen Rationalisierungen insbesondere der Milch- und Eierwirtschaft. Die ab 1919 wieder möglichen Importe dämpften diese ab, zumal die Anbieter etwa aus den Niederlanden, Dänemark oder osteuropäischen Staaten entweder qualitativ hochwertigere oder aber billigere Waren liefern konnten. Dies änderte sich langsam seit der internationalen Agrarkrise, die Schutzzölle und massive Subventionen nach sich zog. Sie erreichten einen ersten Höhepunkt während der Weltwirtschaftskrise, die nicht nur den Zerfall der ersten Globalisierung markierte, sondern von intensiven Debatten über Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ begleitet war (Spiekermann, 2018, 359-365). Die Nationalsozialisten waren dabei keineswegs Auslöser oder bestimmende Kräfte, doch nach ihrer Machtzulassung setzten sie in bisher unbekanntem Maße staatliche Gelder für Forschung und Entwicklung ein. Die während der 1920er Jahre nochmals gewachsene Importabhängigkeit der deutschen Ernährungswirtschaft – 1929 wurden lediglich 72% des Kalorienbedarfs im Inland produziert – band eben nicht nur beträchtliche Devisen, sondern unterminierte auch die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches. Der von Beginn an anvisierte Krieg konnte nur auf Grundlage neuen Wissens und neuer Produkte „erfolgreich“ geführt werden (Spiekermann, 2018, 351-359).

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Importe als Gefährdung der deutschen Wirtschaft (Kladderadatsch 85, 1932, Nr. 43, s.p.)

Die Folgen waren einerseits eine massive Rationalisierung der Agrarwirtschaft, anderseits aber neuartige Lebensmittel: „Wir müssen schließlich bei vielen Erzeugnissen eine verbesserte Grundlage der deutschen Rohstofflage herbeiführen. Nicht Ersatzstoffe dürfen geschaffen werden, sondern neue Erzeugnisse, die vielleicht noch besser sind als die bisherigen“ – so etwa der nationalsozialistische Chemiker Hans-Adalbert Schweigart (1900-1972) (Aufgaben der landwirtschaftlichen Gewerbeforschung, Der Forschungsdienst 1, 1936, 87-89, hier 88). Dabei konzentrierten sich Wissenschaftler, Militärs und Unternehmer gleichermaßen auf die Minimierung der sog. Fett- und Eiweißlücken, denn bei diesen Stoffen war die Abhängigkeit vom Ausland besonders groß. Dazu galt es, heimische Rohstoffe effizienter zu nutzen und neue technische Verfahren zu entwickeln, um nährende Zwischenprodukte zu entwickeln (Fritz Steinitzer, Deutsche Technik und Ernährungsfreiheit, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 192-194, hier 192). Das war damals Ausdruck deutschen Erfindergeistes und wurde entsprechend offensiv propagiert: Verwertung von Blut, Fischmehl, Fischeiweiß, Hefe, Holzabfällen und Sulfitablaugen, Eiweißschlempe, synthetischem Harnstoff, synthetischen Fette sowie – eigentlich nach vorn zu setzen – Milcheiweiß. Noch handelte es sich dabei um Zwischenprodukte für die Lebensmittelproduktion, die an Bedeutung rasch wachsende Massenverpflegung und die Wehrmacht. Der Vierjahresplan intensivierte einschlägige Forschungen seit 1936 nochmals – und die Investitionen führten zu Ergebnissen.

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Neue Zwischenprodukte für Backstuben und Großbetrieb: Werbung für Schoeterol und Plenora (Mehl und Brot 40, 1940, 455; ebd., 42, 1942, 123)

1938 wurde etwa Aminogen eingeführt, ein mit Pektin versetztes Magermilchpräparat, oder auch Albugen, eine getrocknete und mit Zucker und Pektin versetzte Eiweißmasse, die schlagfertig war und in Haushalten und Bäckereien das Eiereiweiß ersetzten sollte. Damit war es gelungen, Eiweiß aus Magermilch, einem bis dato vor allem in der Tierfütterung eingesetzten Reststoff der Butterproduktion, für den Menschen neuartig nutzbar zu machen. Weitere Präparate sollten folgen, etwa Schoeterol, Plenora und eben Milei. Die verschiedenen Präparate waren dabei nicht nur Ausdruck erfolgreicher Forschung. Die Zersplitterung des Angebotes verwies auch auf die nach wie vor bestehenden Defizite dieser Austauschprodukte für Eier. Der Eiweißgehalt stimmte, stammte auch aus billigen heimischen Rohstoffen. Doch sie alle besaßen Defizite im Geschmack oder aber in der Verarbeitungsqualität. Hühnerweiß war ein probates Bindemittel und konnte zu Eischnee geschlagen werden, gab Speisen und Produkten eine ansprechende Konsistenz und Textur. Die neuen Milcheiweißpräparate versuchten allesamt diesem Ideal zu genügen, doch ein vollwertiger Ersatz gelang nicht.

Bevor wir uns genauer mit Milei auseinandersetzen, ist noch ein Blick auf die Eierversorgung dieser Zeit erforderlich. Das Milcheiweiß übersprang nämlich die Branchengrenzen: Kuhmilch sollte das Hühnerei substituieren. Letzteres war das drittwichtigste tierische Lebensmittel – nach Fleisch und Kuhmilch. Zumeist in kleinen, bestenfalls mittleren Betrieben herstellt, war der Importdruck durch die qualitativ überlegene und vielfach billigere ausländische Konkurrenz jedoch besonders spürbar. Noch 1936 wurde ca. ein Sechstel des Inhaltsbedarf durch Importe gedeckt ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Taf. IV). Anders als in der Milchwirtschaft stand die Forschung in der Eierbranche erst in den Anfängen (Bernhard Grzimek, Die Forschungstätigkeit in der Eierwirtschaft, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit, Neudamm und Berlin 1938, 581-584). Zugleich war das Hühnerei eine hochgradig saisonale Ware: Fast sechzig Prozent der heimischen Eier wurden in nur vier Monaten gelegt, von März bis Juni (Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 25). Die Importe glätteten die Versorgungstäler zumal im Herbst und im Winter, waren daher für die Grundversorgung vielfach notwendig. Kühlhäuser fehlten und die übliche Haushaltskonservierung mit kalkhaltigen Präparaten ergab leicht muffig schmeckende Eier, die für Backwerk nicht richtig genutzt werden konnten. Milcheiweißpräparate waren daher unabdingbar für die allseits propagierte „Nahrungsfreiheit“. Schon im Frieden waren sie kriegswichtig.

 Milei als Verbundprojekt von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat

Seit Dezember 1938 wurde Milei als „Schlagfähiges Milch-Eiweiß-Erzeugnis“ (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. v. 155) angeboten. Es bestand aus 90 % Magermilch, 10 % Molke sowie technischen Hilfsstoffen und wurde anfangs von der Württ[embergi­schen] Milchverwertung AG, Stuttgart, ab 1940 dann von ihrem neu gegründeten Tochterunternehmen, der Milei-GmbH, hergestellt. Milei entstand im Gefolge umfassender, im Milchwerk Stuttgart durchgeführten Versuche der württembergischen Dienststelle Vierjahresplan und des württembergischen Wirtschaftsministers (Weihnachtsgebäck mit „Milei“, Badische Presse 1938, Nr. 330 v. 30. November, 6). Milei – eine Abkürzung für Milcheiweiß – diente als Austauschstoff für Hühnereiweiß, denn es konnte zu Eischnee geschlagen und verbacken werden. Anders als manche Vorgängerprodukte deckte es damit eine breite Palette der süddeutschen Mehlspeisenküche ab. Nudeln und Spätzle, Waffeln und Pfannkuchen, Klöße und Knödel, Schaumspeisen und Aufläufe, Kleingebäck und einfache Kuchen – in all diesen Fällen konnte Milei „Volleier“ nahezu gleichwertig ersetzen, nachdem Ende 1939 auch Milei G produziert wurde, ein Austauschstoff für Eigelb.

Das neue Milcheiweiß war Ergebnis kleinteiliger und langjähriger Forschungen (Was ist „Milei“?, Stuttgarter Neues Tagblatt 1938, Nr. 551 v. 25. November, 3). Auch wenn die Patente letztlich auf den Maschinenbauingenieur Karl Kremers liefen, so profitierte dieser doch von der durch das Milchgesetz von 1930 beschleunigten Verwissenschaftlichung und wirtschaftlichen Rationalisierung der Milchwirtschaft. Die Details der Produktentwicklung sind mangels aussagefähiger Archivalien nicht exakt nachzuzeichnen. Doch die groben Züge dieser gemeinsamen Anstrengung von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat sind recht klar:

Karl Kremers hatte 1930 an der TH Aachen mit einer Arbeit über „Das System Kupfer-Zink“ promoviert, die aus gemeinsamer Forschung mit seinem akademischen Lehrer Rudolf Ruer (1865-1938) hervorgegangen war (Ders. und Karl Kremers, Das System Kupfer-Zink, Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 184, 1929, 193-221). Ruer, eine Kapazität im Felde der physikalischen Chemie, sollte 1933 aufgrund seines jüdischen Glaubens in den Ruhestand gezwungen werden. Kremers forschte anschließend weiter im eingeschlagenen Forschungsfeld, wandte sich jedoch parallel der Lebensmitteltechnik zu. 1933 beantragte er – gemeinsam mit seinem Aachener Kollegen Heinz G. Hofmann – ein erstes Patent zur „Gewinnung von Eiweißstoffen aus Molken und Vorrichtungen zur Ausführung des Verfahrens“. Preiswertes Molkeeiweiß, Reststoff der Käseproduktion, sollte mittels Elektrizität verändert und einfach gewonnen werden (Chemisches Zentralblatt 1935, Bd. II, 2898). Weitere Patentanmeldungen folgten 1935 (Die Chemische Fabrik 8, 1935, 336, gemeinsam mit Heinz G. Hofmann) und 1938 (DRP 725955; DRP 739983), doch ihre kommerzielle Nutzung übernahm ein neues Unternehmen: Am 28. Februar 1938 wurde in Stuttgart die Forschungsgemeinschafft Dr. Kremers GmbH gegründet – eine Woche nach Erteilung des Milei-Patentes. Geschäftsführer war Dr. Friedrich Brixner (1904-1975), der starke Mann und Vorstandsvorsitzender der Württembergischen Milchverwertung AG, die bis spätestens Ende 1942 mit 50% beteiligt war (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4). Unternehmensgegenstand war „die Ausarbeitung, der Erwerb und der Vertrieb von Verfahren, Patenten und sonstigen Schutzrechten, die zur Verarbeitung und Verwertung der Milch von Tieren aller Art, der Milcherzeugnisse und der Bestandteile der Milch sowie eiweißhaltiger Lösungen tierischen und pflanzlichen Ursprungs geeignet sind, im In- und Auslande, insbesondere der Erfindungen und Schutzrechte des Dr. Karl Kremers“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 61 v. 14. März, 8). Kremers beantragte ab 1939 auch internationalen Rechtsschutz: Der US-Patentantrag von Milei (No. 257240) war am 18. Februar 1939 eingereicht worden, der für Milei-G folgte am 16. Mai 1939. Die Firma hielt auch in Frankreich, Belgien, Spanien und der Schweiz Patente, wahrscheinlich auch in weiteren Staaten. Kremers verbesserte die Produktionstechnik kontinuierlich, wobei er sich besonders auf die Verarbeitungsqualität von Magermilchpräparaten konzentrierte (Chemisches Zentralblatt 1945, Bd. II, 88 und 313).

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Frühe Milei-Anzeige – und Karl Kremers am Trocknungsapparat in der Württ. Milchverwertung, Stuttgart (Stuttgarter Neues Tagblatt 1938, Nr. 592 v. 19. Dezember, 10 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 244 v. 27. Mai, 14)

Die angewandte Forschung wurde durch staatliche Stellen unterstützt, doch von mindestens gleicher Bedeutung war die Förderung durch die Württembergische Milchverwertung. Dabei handelte es sich um eine 1930 von regionalen Milchproduzenten gegründete Aktiengesellschaft, die ihr Entstehen der mit dem Milchgesetz verbundenen strikten Regulierung der Milchwirtschaft verdankte. Das Unternehmen übernahm 1933 die Milchversorgung Stuttgart GmbH, die nicht nur Butter, Quark und Joghurt produzierte, sondern 1936 auch 693,5 Tonnen Magermilchpulver (als Entramil vermarktet), 387,3 Tonnen Vollmilchpulver und kleinere Mengen Butter- und Sahnepulver herstellte (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht 1936, Stuttgart 1937, 9). Die Württ. Milchverwertung war profitabel und wuchs rasch. 1937 erwirtschaftete sie einen Reingewinn von 65.237 RM, 1939 von 66.250 RM – bei einer Bilanzsumme von 4,42 resp. 6,59 Mio. RM (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7; ebd. 1940, Nr. 131 v. 6. Juli, 9). In der Bundesrepublik entwickelte sich aus dem Württ. Milchverwertung die Südmilch AG, die ihrerseits 1996 in der Campina AG aufging, heute FrieslandCampina Germany GmbH.

Die Stuttgarter Firma vertrieb Milei 1939/40 unter eigenem Namen, legte diese Arbeit jedoch nach Kriegsbeginn in die Hände einer Tochterfirma, der Milei GmbH (Stuttgarter Neues Tagblatt 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 5). Diese wurde „anfangs“ 1940 mit Unterstützung der Hermann-Göring-Werke gegründet, ausgestattet mit einem Stammkapital von 250.000 RM (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht für das 10. Geschäftsjahr […] 1940, Stuttgart 1941, 5; E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 88-89). Wohl zur Sicherung der eigenen Produktion übernahm sie im August 1940 die nahe der heutigen Universität gelegene Stuttgarter Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik für 199.500 RM (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 230 v. 1. Oktober, 10). Als Geschäftsführer fungierten damals Otto Häußler (Vorstand der Württ. Milchverwertung AG, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7), Karl Feneberg (früherer Geschäftsführer der Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik in Birkenfeld, Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 98 v. 30. April, 9 und Geschäftsführer der Milei GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 212 v. 10. September, 6)) und Alfred Schächtel, früherer Prokurist von Eiermann (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 25 v. 1).

Was war Milei?

Kommen wir zum Produkt selbst: Milei war ein Milcheiweißpräparat aus Magermilch und Molke. Hinter dem Namen verbarg sich anfangs ein Eiweißaustauschstoff, der sich gut zum Aufschlagen und Backen eignete. Dazu wurde nahezu vollständig entfettete Magermilch oder aber eine mit Natriumhydroxid neutralisierte Mischung aus Magermilch und Molke verwandt. Diese Grundmasse wurde anschließend in einem Vakuumverdampfer aus rostfreiem Stahl auf etwa 40 Prozent ihres Ausgangsgewichtes eingetrocknet und dann mit Kalkmilch auf einen pH-Wert von über 7 gebracht. Dieses Gemenge wurde schließlich per Sprühtrockner auf einen Feuchtigkeitsgehalt von 3-4 Prozent reduziert. Die Trockentemperatur durfte dabei 60° C nicht überschreiten. Am Ende stand ein weißes Pulver, das unmittelbar gemahlen und verpackt werden konnte (Vgl. die Patentschrift US2349969A.pdf sowie Bate-Smith et al., 1946, 89-91; N.E. Holmes und J.F. Kefford, The Manufacture of „Milei‘ Egg-Substitutes, London s.a. [1946] (B.I.O.S. Trip, Nr. 3344)).

„Milei“ entwickelte sich seit 1939 zu einer Dachmarke. Während Milei Eiweiß substituierte, diente das kurz nach Produktionsbeginn zusätzlich hergestellte Milei G dem Ersatz von Eigelb (Nun auch das „Milch-Eigelb“ erfunden, Württemberger Zeitung 1939, Nr. 257 v. 11. Februar, 3). Milei G wies im Gegensatz zu Milei keinen Molkenzusatz auf, konnte durch die Wahl unterschiedlicher Trocknungsgrade auch für verschiedene Nutzungsarten aufbereitet werden. Als Zusatzstoffe dienten Dinatriumhydrogenphosphat (heute auch bekannt als E 339), Johannisbrotkernmehl und gelbe Lebensmittelfarbe, wohl das bald darauf verbotene krebserregende Buttergelb (Holmes und Kefford, 1946, 2-3; 274000kremers.pdf). Die Milei GmbH nutzte auch weitere Patente, etwa für schaumfähige Produkte aus Kasein, eine Innovation des Nürnberger Milchwissenschaftlers Max Erwin Schulz (1905-1982) vom Juli 1938. Dennoch ist es auch ohne fundierte lebensmittelchemische Kenntnisse offenkundig, dass es sich bei den Produktionsverfahren nicht um High-Tech handelte, sondern um relativ einfach umsetzbare, also „robuste“ Technik. Als Trocknungsmaschinen verwandte man etwa die schon seit 1931 im Deutschen Reich eingeführten Krause-Anlagen, nutzte also Bewährtes (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 60, 1931, 183). Dadurch war eine rasche Umsetzung des Wissens in Produkte möglich.

Die damaligen Planer und Wissenschaftler rückten andere Sachverhalte in den Vordergrund. In der volkswirtschaftlichen Fachpresse hieß es: „Milei ist ein schlag- und backfähiges, in Wasser lösliches Pulver, das in reiner Form […] die vollständigen Eiweißstoffe der Milch enthält […]. Der volkswirtschaftliche und privatwirtschaftliche Nutzen dieser Erfindung ist vielseitig. Sie verspricht, die seit Jahren schwierige Eierversorgung zu entlasten, die Haushaltsführung zu verbilligen, die Milchverwertung des Landmanns zu verbessern, und sie bahnt schließlich auch eine Verbesserung der Eiweißbilanz der deutschen Ernährungswirtschaft an“ („Milei“ statt Knickei, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1303). Milei war nicht nur strategisch wichtig, sondern konnte bereits vor Kriegsbeginn die Auswirkungen des japanischen Krieges gegen China vermindern. Großküchen und Bäckereien waren vielfach abhängig von billigen importierten chinesischen Flüssigeiern, die 1938 etwa ein Achtel der Eierimporte ausmachten. Milei sollte erst einmal helfen, den gewerblichen Eierbedarf zu decken, der ungefähr zwei Fünftel des Gesamtverbrauchs abdeckte. Ökonomisch konnte dies mit einer deutlichen Verbilligung einhergehen, denn die Eiweißkosten von Milei lagen bei der Hälfte des Hühnereiweißes.

Produkteinführung vor dem Kriege

Trotz solcher um die gewerbliche Lebensmittelversorgung kreisenden Überlegungen wurde Milei jedoch seit Ende 1938 auch als Markenartikel im Einzelhandel angeboten (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 590 v. 17. Dezember, 39). Schoeterol und Plenora, Aminogen und Albugen blieben den Fachleuten vorbehalten, waren und blieben Zwischenprodukte in den rückwärtigen Bereichen von Handwerk, Lebensmittelproduktion und Großküchen. Milei aber war von Beginn an ein Alltagsprodukt, das einschlägig beworben wurde.

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Produkteinführung unter dem Logo der Württ. Milchverwertung und der Milchversorgung Stuttgart (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Anfangs war es die Württ. Milchverwertung AG, die zusammen mit der Milchversorgung Stuttgart das in kleinen Metalldosen verpackte Milei vertrieb (Badische Presse 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 17, ebd., Nr. 50 v. 19. Februar, 17). Die luftdichten Verpackungen enthielten 20 bzw. 40 Gramm und entsprachen 4 bzw. 8 Volleiern resp. 8 bzw. 16 Hühnereiweißen (F[ritz] St[einitzer], Austauschstoffe für das Ei in der Küchentechnik, Zeitschrift für Volksernährung 15, 1940, 9-10). Die Verbraucher mussten allerdings wahrlich an die Hand genommen werden, denn das neuartige Pulver erforderte einen steten Zwischenschritt, musste nämlich vor der Verarbeitung in Wasser aufgelöst werden. Analoge Anzeigen wurden auch in der Fachpresse der Gemeinschaftsverpflegung geschaltet (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. vor 155). Neben Milei, seit Frühjahr 1941 Milei W (für Weiß = Eischnee), trat Ende 1939 Milei G (für Gelb = Eigelb) (Badische Presse 1939, Nr. 181 v. 5. Juli, 11; Verbo 1939, Nr. 257 v. 3. November, 4).

Die Begleitpublizistik der gelenkten deutschen Presse kombinierte Sachinformationen mit Lobpreisungen des deutschen Forschergeistes: „Dass Kühe nicht nur Milch und Fleisch liefern, sondern auch Hühnereier produzieren sollen, wird manchem zunächst reichlich unglaublich und unvorstellbar erscheinen. Dennoch ist es ein Wunder, das tatsächlich geschieht und das die moderne Nahrungsmittelchemie möglich gemacht hat“ (Eiweiß und Eigelb aus Milch, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1940, Nr. 46 v. 20. Juli, 8). Wie einst der Rübenzucker und der Zichorienkaffee die Kontinentalsperre überwinden halfen, so könnten nun moderne Eier-Austauschstoffe die notwendige Abkehr Deutschlands von den Weltmärkten absichern. Ja, mehr als das. Milei war eben kein „Ersatzmittel“, sondern vollwertiger „Ausgleich, der sich von dem Hühnereiweiß nur in einem unterscheidet, nämlich daß der Stoff, aus welchem es hergestellt wird, reichlich vorhanden ist, während die Eier immerhin knapper sind“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Sein Kauf war Dienst am Volke, zugleich doppelt nützlich: „Die Verwendung von Milei in der Küche hilft in hohem Maße Devisen sparen und ist auch für den einzelnen Haushalt wirtschaftlich vorteilhaft, da Milei viel billiger ist als Eier“ (Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 247 v. 24. Oktober, 5). Dieses Nutzenkalkül wurde statistisch unterfüttert: „88,5 Millionen Hühner legten 1938 6,4 Milliarden Eier. Eine hübsche Menge! Aber nicht genug, um den Verbrauch von 8,1 Milliarden Stück zu decken […]. Aber jetzt tritt Milei auf den Plan“ (Rudolf Vogel, Milei und das Hühnerei, Das Kleine Volksblatt 1939, Nr. 91 v. 2. April, 18). Im Ausland wurde es dagegen als Ausdruck einer Kriegswirtschaft vor dem Kriege verstanden (Der Bund 1939, Nr. 155 v. 2. April, 12).

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Einführungswerbung von Milei durch den Karlsruher Lebensmittelfilialisten Union (Badische Presse 1939, Nr. 40 v. 9. Februar, 5)

Die Produkteinführung beruhte neben der Anzeigenwerbung vor allem auf Koch- und Rezeptbüchern, auf Rezepten in Tageszeitungen oder aber allgemeinen Kochbüchern (Sigma Kochanleitung. Eine Auslese bewährter Rezepte und Betriebsanleitung für den Sigma Elektroküchenherd, Mannheim 1939, 54-56). Auch die seit Ende 1938 in Württemberg, nach Kriegsbeginn reichsweit geschalteten Anregungen für einen Wochenküchenzettel verbreiteten die Kenntnis des neuen Produktes (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 612 v. 31. Dezember, 49, Stuttgarter Neues Tagblatt 1939, Nr. 3 v. 4. Januar, 24; Badische Presse 1939, Nr. 219 v. 12. August, 10; Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 193 v. 19. August, 12; ebd., Nr. 214 v. 13. September, 8; Badische Presse, Nr. 284 v. 16. Oktober, 5; ebd., Nr. 291 v. 23. Oktober, 4). Sie stammten aus den Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes, das Milei zudem mit ihrem Sonnenzeichen ausgezeichnet hatte. Rezepte wirkten wie Gütezeichen durch erfahrene Hausfrauen und studierte Hauswirtschaftslehrerinnen. Die Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes präsentierten zudem regionalspezifische Rezepte, zerstreuten so Vorstellungen dekretierter Einheitsküche (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 462 v. 18. Oktober, 6). Sie halfen den Kartenbezieherinnen zugleich, das neue Produkt in just ihrer Küche zu verwenden.

Die in Tageszeitungen veröffentlichen Rezepte ließen teils noch die Wahl, lauteten auf „1 Ei oder Milei“ (Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 252 v. 27. Oktober, 5). Teils aber gaben sie nur noch die Zahl der notwendigen Löffel Milei an (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 51 v. 23. Dezember, 3; Land und Frau 24, 1940, 244). Auch für die Weihnachtsbäckerei waren einschlägige Milei-Rezepte verfügbar (Der Führer am Sonntag 1939, Nr. 46 v. 17. Dezember, 3). All dies war begleitet von gesonderten Werbe- und Rezeptbroschüren der Württ. Milchverarbeitung und der Milei GmbH, deren Umfang zwischen 12 und 16 Seiten schwankte (Milei-Rezepte für die Hausfrau, Stuttgart 1939; Milei in der Großküche, Stuttgart 1939; Rezepte für die Gemeinschaftsverpflegung, Stuttgart 1940). Zum wichtigsten derartigen Werbemittel mutierte das so genannte grüne Milei-Merkbuch für die Hausfrauen. Es umfasste immerhin 36 Seiten, enthielt Abbildungen und eine nicht wirklich anheimelnde, doch nützliche Palette von Rezepten für Kurz-, Spar- und Restgerichte, Kleingebäck und die Kinderernährung (Zeitgemäßes Kochen – Backen – Braten, Stuttgart 1940).

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Einführung von Milei durch das Deutsche Frauenwerk (Der Führer 1939, Ausg. v. 15. Januar, 8)

Der Kriegsbeginn war für Milei eine kommerzielle Chance, denn nun wurde es reichsweit propagiert. Die Ernährungsführung legte gezielt nach, lieferte im Oktober 1939 etwa je 400.000 Dosen in die Metropolen Berlin und Wien (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). „Das Ei aus der Milch“ – so ein Slogan – wurde offensiv beworben. Zentral war dabei die Schlagfähigkeit des neuen Produktes, Beleg seiner Hühnereiebenbürtigkeit. Die Werbung selbst hatte mehrere Väter. Einer davon war Anton Stankowski (1906-1998), ein früherer Folkwankschüler. Er hatte von 1929 bis zum Entzug der Aufenthaltsgenehmigung 1934 in der Schweiz gearbeitet, war dann in Lörrach tätig und machte sich 1938 als Graphiker in Stuttgart selbständig. Dort arbeitete er für NSU und Milei, bevor er ab 1940 zum Kriegsdienst einberufen wurde (Hans Neuburg, Anton Stankowski, Gebrauchsgraphik 22, 1951, Nr. 7, 10-22, hier 18). Nach dem Weltkrieg wurde er Schriftleiter der Stuttgarter Illustrierten und setzte seine Arbeit für Milei fort. Stankowski wurde in der Bundesrepublik zu einem der wichtigsten Typographen, seine Firmenlogos begleiteten und prägten die prosperierende Bonner Republik (Iduna, Vissmann, Rewe, Deutsche Bank, Vereinigte Versicherungen, BKK, etc.). Auch wenn nicht genau abzuschätzen ist, wie weit er die Milei-Werbung zumal nach 1940 prägte, so ist deren klare funktionalistische Formensprache doch auch auf Stankowskis (Mit-)Wirken zurückzuführen.

Diese realisierte, dass Milei ein technisches Produkt war, materialisiertes Know-how. Darin glich es technischen Produkten, Motorrädern, Radios oder Elektrokühlschränken. Mileis Verbreitung war auch eine präziser Gebrauchsanweisungen, die sich auf den Dosen, dann auf dem Rücken der bald üblichen Papierpackungen fanden. Die Werbesprache zielte entsprechend nicht auf Atmosphäre oder Gefühle: Es ging vielmehr um die Programmierung des Hausfrauenhandelns, um Wissen, Pflicht und Tun. Das lag nahe angesichts der rasch spürbaren Härten der frühen Rationierung, die einen allgemeinen Gewichtsverlust der Bevölkerung billigend in Kauf nahm (vgl. aus vornehmlich rechtlicher Sicht Fritz Keller, Kochen im Krieg. Lebensmittelstandards in Deutschland und Österreich 1933 bis 1945, Wien 2017). Die gelenkten Medien verlautbarten entsprechend: „Wir kaufen, was der Markt uns bietet! Wir lassen nichts umkommen!“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Und rasch wusste die Hausfrau, wie sie mit dem weißen Pulver umzugehen hatte: Es war mit etwas Wasser vorzubereiten. Milei W wurde geschlagen, Milei G dagegen ungeschlagen weiter verarbeitet. Bei Fleisch- und Fischspeisen oder aber Nudeln konnte dies unterbleiben. Frischeier sollten dem Frischverbrauch vorbehalten sein, als Frühstücksei den Sonntagstisch zieren. Ansonsten konnten sie durch Milei ersetzt werden (Illustrierte Flora und Nützliche Blätter 65, 1941, Beil., 20).

Etablierung in Bäckereien und Gemeinschaftsverpflegung

Die Verwendung von Milei im Haushalt war ein Zugeständnis an die Konsumenten, denn Neues ließ sich einfacher in der Lebensmittelproduktion und der Gemeinschaftsverpflegung einführen. Wer schmeckte schon die Soja im Bratling, das „deutsche Gewürz“ im Eintopf, den Eier-Austauschstoff in der Wurst? Milei aber etablierte sich als Breitbandangebot, als Innovation für Alle: „Heute wird Milei und Milei G. nicht nur bei der Wehrmacht und in Grossküchenbetrieben, sondern auch in Bäckereien und darüber hinaus, soweit es die Produktionskraft möglich macht, auch in jedem Haushalt verwendet“ (Eiweiß, 1940). Entsprechend nahm Milei auch regulative Hürden ohne größere Probleme, wurden gleich nach Kriegsbeginn doch Kennzeichnungspflichten zugunsten des neuen Austauschstoffes reduziert: Speiseeis durfte ab November 1939 ohne Kennzeichnung auch mit Milei G produziert werden, ein Anreiz für Konditoren und Industrie (Ministerialblatt für die badische innere Verwaltung 1939, Sp. 1288).

Die rückwärtigen Lebensmittelsektoren erhielten zudem Spezialprodukte: Milei G II war ein Eigelbersatz mit hohem Lockerungs- und Schaumvermögen, das nach dem Auflösen unmittelbar in Bäckerei und Großküche verarbeitetet werden konnte. Die Milei GmbH etablierte einen eigenen Aufklärungsdienst und bot Schaukochen und Weiterbildungen an (Hamburger Neueste Zeitung 1941, Nr. 80 v. 4. April, 3), nutzte daneben die schon erwähnten Rezeptbücher. Der günstige Preis half, in der Bäckerei das Hühnereiweiß weiter zu ersetzen, ebenso in der Wurst- und Suppenfabrikation. Auch Krankenhausküchen griffen zum Austauschstoff (Hans Glatzel, Krankenernährung, Berlin (W), Göttingen und Heidelberg 1953, 394). Überraschend ist allerdings, dass die Milei-Werbung Bäckereien und Großküchen nicht grundlegend anders als Hausfrauen ansprach. Dies ist nur vor dem Hintergrund der kleinteiligen Produktions- und Absatzstruktur der Bäckereien zu verstehen. Im Deutschen Reich war die Zahl größerer Backwarenproduzenten gering, gab es nur wenige bedeutende Filialbetriebe. Die Werbung auch in der Fachpresse blieb leicht verständlich.

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Vermittlung grundlegender Kenntnisse über Milei (Mehl und Brot 42, 1942, 345 (l.); ebd. 187)

Das änderte sich auch nicht Mitte 1942. Damals wurde Milei V (= Vollei) als verbessertes Substitut für Eiweiß eingeführt, ersetzte Milei G II (Mehl und Brot 42, 1942, 365). Derartige Maßnahmen folgten aber nicht nur weiterer Forschung oder neuen Maschinen. Sie spiegelten auch die Kriegssituation: Milei G wurde anfangs mit Hilfe von Fruchtkernmehl produziert, einem Bindemittel aus Johannisbrotkernmehl, das aus Italien und Marokko importiert wurde. Doch die Zufuhren brachen weg und mussten durch Bohnenmehl ersetzt werden, dessen Viskosität deutlich niedriger lag (Holmes und Kefford, 1946, 1-2). Qualitätsschwankungen waren die Folge, zumal die Produktionsstätten unterschiedlich ausgestattet waren. Auch der spürbare Mangel an Verpackungsmaterial hatte Auswirkungen auf das Produkt. Die Magermilch wurde im Laufe des Krieges immer stärker evaporiert, obwohl die Bäckereien eigentlich ein luftigeres Präparat bevorzugten, das schaumigere Ware ermöglichte. Ein stärker getrocknetes Produkt erforderte jedoch weniger Verpackungsmaterial. Üblich waren mehrlagige Säcke von 25 Kilogramm Gewicht. Die Bäcker mussten also entweder die Gebäckmassen stärker schlagen oder eine weniger ansprechende Ware verkaufen. Gleichwohl funktionierten die Gewerbebetriebe bis zum Kriegsende willig und gläubig. Sie waren unmittelbar von Rohstoffzuweisungen der Behörden abhängig – und damit leicht zu sanktionieren und zu lenken.

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Gewährleistung der Alltagsversorgung: Milei-Werbung in der Endphase des Krieges (Mehl und Brot 43, 1943, 419 (l.); ebd. 44, 1944, 239)

Akzeptierte Alternative zur Eiernot: Milei im System der Rationierung

Widerstand blieb auch bei der Bevölkerung eine Ausnahme, weit verbreitetem Murrens zum Trotz (Andrea Brenner, „Milei“ und Sojabohne. Ersatzlebensmittel im Zweiten Weltkrieg, Wiener Geschichtsblätter 62, 2007, H. 3, 28-53; Fritz Keller, Wie „Ostmärkische Leckermäuler“ den Eintopf verdauen lernten, Zeitgeschichte 34, 2007, 292-309). Milei betraf dies kaum. Selbst die Gewährsleute der sozialdemokratischen Opposition vermerkten in einem Sonderbericht über Ersatzspeisen: „Es gibt aber auch Ersatzmittel, die in Geschmack und Verwendungsfähigkeit einigermaßen dem Original entsprechen, z. B. das Milei, das hauptsächlich aus Milcheiweiß besteht.“ Vor dem Krieg eingeführt, wurde es nun „ erst allgemein gebraucht und auf jeweils bekanntgegebene Markenabschnitte der Lebensmittelkarte abgegeben“ (Beides n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 6, 1940, 65).

10_Straßburger Neueste Nachrichten_1940_10_13_Nr086_sp_Neues Wiener Tagblatt_1941_03_28_Nr13_p12_Milei_Austauschstoff_Eier

Austauschstoffe als Küchenereignisse (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1940, Nr. 86 v. 13. Oktober, 86, s.p. (l.); Neues Wiener Tagblatt. Wochenausgabe 1941, Nr. 13 v. 28. März, 12)

Die relative Akzeptanz von Milei war auch Folge einer breit gestreuten und sachlich gehaltenen Werbesprache. Zudem wurde Milei verlässlich geliefert, war das technische Produkt angesichts des immer noch recht breiten Anfalls von Magermilch und Molke von saisonalen Schwankungen kaum betroffen. Zudem wurde die Produktion rasch hochgefahren. Mitte 1940 wurde der Austauschstoff bereits in acht Betriebsstätten produziert, war die Milei GmbH damit „das grösste Unternehmen seiner Art in Deutschland“ (Eiweiß, 1940).

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Das Neue verarbeiten: Eischnee mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 517)

Entscheidend für die Akzeptanz beim Verbraucher dürften jedoch die küchentechnischen Eigenschaften des Eier-Austauschstoffes gewesen sein. Er hielt schlicht, was er versprach. Dies resultierte auch aus seiner relativ späten Einführung. Die frühen Eier-Austaustoffe dienten vorwiegend ihrem Primärzweck, nämlich der Verwertung billiger und allseits verfügbarer Rohware. Bei späteren Produkten berücksichtigte man dagegen die küchentechnischen Eigenschaften höher, den Geschmack stärker (M[ax Erich] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Ohne ordentlichen Geschmack kein erfolgreicher Krieg.

Doch Milei war auch ein Kopfprodukt. Als Austauschstoff half es, die strukturelle Veränderung der Alltagskost zu begrenzen, der sich die meisten Konsumenten nicht entziehen konnten. Generell sank der Kalorienverbrauch (Vorkriegszeit = 100) über 91 Prozent 1939/30 und 1942/43 auf 86 Prozent 1944/45. Während der Kohlehydrateanteil aber moderat auf 102 Prozent stieg, sank vor allem der Anteil der Fette, der 1944/45 nur noch 53 Prozent des (nicht eben üppigen) Vorkriegskonsums erreichte. Der Eiweißgehalt der Alltagskost konnte bis 1943/44 dagegen fast auf Vorkriegshöhe gehalten werden, sank erst 1944/45 auf dann 91 Prozent. Tierische Eiweißquellen machten damals noch 69 Prozent aus, bremsten damit die allgemeine Vegetabilisierung der Ernährung (Angaben n. Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, s.l. s.a. (Ms.), s.p.). Milei stützte während des Zweiten Weltkrieges vor allem den wegbrechenden Eierkonsum. Dieser lag 1944/45 nur mehr bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte: 1939/40 handelte es sich um 140 Stück pro Kopf, 1941/41 um 87 und 1944/45 schließlich um 68 (Häfner, s.a.). Anfangs ergänzten Importe vor allem aus Dänemark, den Niederlanden und Bulgarien den Konsum, doch schon 1943/44 lagen die Werte bei lediglich einem Zehntel der Importe von 1939/40. Milei war ein reeller und spürbarer Puffer.

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Die werbliche Illusion vom Naturstoff (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 131 v. 12. Mai, 8 (l.); Der deutsche Volkswirt 16, 1942, 529)

Etablierung als reichsweiter Standardaustauschstoff

Die Milei GmbH erweiterte 1940 ihre Produktpalette um Milei Nachspeise, einem Schaumprodukt für süße Nachspeisen, zugleich ein Zuckersparer (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Als Ersatz für Puddingpulver erfüllte er eine wichtige Funktion, denn Vollmilch war für Erwachsene immer schwerer zu erhalten. Auch als „Wehrmachts-Milchspeise“ gewann er weite Verbreitung (Schulz, 1942, 16).

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Milei-„Aufklärung“ mittels Werbefilm (Werben und Verkaufen 25, 1941, 239)

Wichtiger aber war eine seit 1941 intensivierte reichsweite Produktwerbung. Sie folgte den Vorgaben der Ernährungsplaner, die nicht allein auf den Zwang der Rationierung setzten, sondern an die Einsicht der Volksgenossen appellierten. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), führender Kopf der Truppenverpflegung, formulierte dafür klare Vorstellungen: „Mit der technischen, geschmacklichen und ernährungsphysiologischen Eignung eines Rohstoffes ist die Einführung noch nicht gesichert. Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit)“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 207). Es galt, dem Produkt eine positive Aura zu verschaffen – und damit gleichzeitig allen neuen Austauschprodukten. Gedacht war das ähnlich wie bei den Vitaminen, deren breit ausgemalte Heilwirkungen in den 1920er Jahren zu einer Neubewertung der ehedem „schwachen“ pflanzlichen Produkte geführt hatte (Uwe Spiekermann, Bruch mit der alten Ernährungslehre. Die Entdeckung der Vitamine und ihre Folgen, Internationaler Arbeiterkreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen 4, 1999, 16-20).

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Erstes Kriegsostern mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 472)

Die Milei-Werbung bediente sich entsprechend einer breiten Palette von Werbemitteln, die bis hin zum Werbefilm reichte, der vor der Wochenschau und dem Hauptfilm in den Kinos mit ihrem Millionenpublikum gezeigt wurde. Die Anzeigenwerbung wurde ab 1941 zu Kampagnen gebündelt, die jeweils eine einheitliche Formensprache kennzeichnete. Vor dem Angriff auf die UdSSR präsentierte die Milei GmbH immer noch das Produkt selbst, stellte dessen Nutzen und die erforderlichen hauswirtschaftlichen Kniffe in den Mittelpunkt.

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Informationen für den Umgang mit dem Neuen (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 158 v. 9. Juni, 7 (l.); ebd., Nr. 71 v. 12. März, 12)

Doch die Werbekampagne 1941 ging schon über den alleinigen Nutzen heraus. Der „Milei-Aufklärungsdienst“ verband das Produkt mit allgemeinen Attributen gängiger Lebensmittel, betonte etwa die nährende „Kraft“ des Markenartikels, präsentierte es als „Geschenk der Natur“. Aus dem vermeintlichen Nachteil des wissensbasierten Präparates sollte ein Vorteil entstehen. Milei stand für einen erst durch den Nationalsozialismus bewirkten fundamentalen Wandel der deutschen Konsumgüterindustrie: „Ebenso wie der große Aufschwung der Montanindustrie erst einsetzte, als auch eine erfolgreiche Verwertung der Nebenerzeugnisse gelungen war, so besteht die Hauptaufgabe der Milchwirtschaft heute in der Verwertung der Rest- und Nebenprodukte der Butterherstellung und der Käserei, dem Kasein und der Molke“ (Die Industrie der Molke, Der Führer 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6). Dies fand Widerhall: Bei einer Befragung von Jugendlichen nach den ihnen bekanntesten Markenartikeln landete Milei auf dem 23. Platz aller Konsumgüter, auf Platz 2 bei den Lebensmitteln (Leder, Wie steht die Jugend zum Markenartikel?, Der Markenartikel 9, 1942, 104-108, hier 106).

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Alltag mit dem Austauschstoff (Wiener Modenzeitung 1942, H. 161, 23 (l.); ebd., H. 157, 23)

Die Werbekampagne des Jahres 1942 vertiefte derartige Überlegungen. Schattenrisse aus dem Alltag traten hervor, immer verbunden mit dem Anbau, der Beschaffung und dem Kochen und Backen von Lebensmittel und Speisen. Im Vordergrund stand Altbewährtes – und die Texte stellten Mileipräparate in just diesen Rahmen. Milei war neu, unbestritten, doch es setzte sich durch, etablierte sich, half damit zugleich das Bekannte zu bewahren. Dabei war wichtig, dass Milei keinen charakteristischen Eigengeschmack besaß. Es war ein uncharismatisches, chamäleonhaftes Lebensmittel, das diente und half, „küchentüchig“ und „schlagstark“.

Entsprechend wichtig waren daher praktische Versuche, war die direkte Ansprache der Hausfrauen. 1940 nahmen die in allen größeren Städten vorhandenen Versuchsküchen etwa der Deutschen Frauenschaft oder aber des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes den Kochlöffel in die Hand, simulierten auf kleiner Bühne haushälterisches Tun, ließen die Hausfrauen dann nachschlagen. Proben rundeten all dies ab. Bevor nun aber Argumente von der vermeintlichen Berufung der Frau für die Küche aufkommen, gilt es eines zu bedenken. Die späten 1930er und frühen 1940er Jahre hatten insbesondere in der Wehrmacht zu einem massiven Ausbau männlichen Küchenexpertise geführt: Mitte 1940 gab es 100.000 ausgebildete Feldköche, bis Mitte 1942 dann etwa 160.000 (Spiekermann, 2018, 590). Diese Männer waren mit den neuen Austauschstoffen bereits vertraut – und nun galt es auch die Hausfrauen in die neue Welt leistungsfähigerer Präparate einzuführen (Das Blatt der Hausfrau 56, 1942/43, 231). Die nationalsozialistisch geprägte Ernährungswirtschaft war technisch-männlich geprägt und zielte auf eine massive Modernisierung des weiblichen Haushaltens mit neuen, von Männern entwickelten Convenience- und Halbfertigprodukten.

17_Salzburger Volksblatt_1941_09_29_Nr220_p6_Milei_Hauswirtschaftslehre_Schaukochen

Oh kommet, ihr Hausfrauen, oh kommet doch all (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 220 v. 29. September, 6)

Die Wirkung derartiger praktischer Werbung wurde durch zahlreiche Zeitungsberichte multipliziert, die haushälterisches Tun wertschätzten und dem Zwang gestalterische Elemente abgewannen: „Kaum machten sich manche Lebensmittel auf dem Markte rar, da schossen schon wie Pilze die neuen Rezepte aus dem Boden, die sich dieser Marktlage anpassen. […] ‚Ein Weg findet sich immer, und das macht ja erst richtig Freude, wenn man auch unter Einschränkungen etwas Gutes zuwege bringt‘“ (Badische Presse 1940, Nr. 9 v. 10. Oktober, 6). In Wien präsentierte man „mollige“ Saucen mit Milei, pikant und mit erhöhtem Nährwert (Völkischer Beobachter 1940, Nr. 69 v. 9. März, 5): Der Charme der lokalen Küche endete offenkundig nicht mit der Rationierung. Selbstverständlich traten auch Meisterköche auf, die mit Kochkunst und Phantasie mit Milei, Tulli und Sojapräparaten kreierte Speisen darboten – und wahrlich, es sah gut aus und schmeckte (Kochkunst + Phantasie = ein schmackhaftes Gericht, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 157 v. 5. Juni, 6). Das Neue, das „der forschende Menschengeist entdeckt hat“ weckte wiederum Neues, war Teil des ewigen völkischen Ringens mit der Natur und ihren Rohstoffen. Versuchsküchen waren Stätten einer kulinarischen Moderne, in der Austauschstoffe nicht „Verlegenheitsschöpfungen, sondern eine Errungenschaft in der Ernährungswirtschaft der Zukunft“ waren (beide Zitate n. Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 153 v. 5. Juni, 6).

Im Laufe des Krieges übernahm vielfach der Milei-Aufklärungsdienst die vorher dezentral wahrgenommenen Veranstaltungen. Er zog durch das Land und veranstaltete in größeren Städten Vorträge und Schaukochen, vielfach in Verbindung mit den lokalen Elektrizitäts- und Gasanbietern (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 239 v. 10. Oktober, 6; Wiener Kronen-Zeitung 1942, Nr. 15085 v. 11. Januar, 15; Der Führer. Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Lokale Haushaltsschulen folgten parallel, bildeten Haushaltsgehilfinnen und Hauswirtschafterinnen nicht nur im sparsamen Haushalten aus, sondern wiesen ihnen auch Wege mit neuen „gesunden“ Produkten: „Biologische Salze werden dem schädlichen Kochsalz vorgezogen, das Milei triumphiert, die ‚Grünsbrühe‘ duftet herrlich und ersetzt die Fleischbrühe. Gartenkräuter werden als deutsche Würze verwendet, gemahlener Paprika ist jetzt der Pfeffer“ (Ein Besuch in der Haushaltungsschule Pforzheim, Der Führer 1942, Nr. 79 v. 20. März, 4). Es dürfte Ihnen klar sein, dass all diese Zitate auch Teil des schönen Scheins des Nationalsozialismus sind, dass sie über die Härten und Verwerfungen des Kriegsalltages hinweggingen. Mit fortschreitender Dauer des Krieges wurde eine schmackhafte Zubereitung immer schwieriger, auch wenn die Machthaber Gewürzen und Gewürzsubstituten hohe Aufmerksamkeit schenkten. Backpulver war Mangelware, musste durch Natron, Pottasche oder Hirschhornsalz bzw. durch vermehrten Einsatz von Hefe ansatzweise ersetzt wurde. Milei wurde für all diese Fährnisse erprobt, die Resultate in handhabbare Rezepte umgemünzt (Leckeres Gebäck aus Roggenmehl, Der Führer 1942, Nr. 325 v. 24. November, 4). All dies setzte Versorgungssicherheit voraus – und damit eine leistungsfähige Unternehmensstruktur.

Auf- und Ausbau eines reichsweiten Vertriebs- und Produktionsnetzwerkes

Die Milei GmbH ist ein unbekanntes Unternehmen, denn Firmenunterlagen existieren offenbar nicht mehr. Die heutige in Leutkirch ansässige Milei GmbH sieht sich nicht in der Nachfolge des Stuttgarter Unternehmens. Der „hidden champion der Lebensmittelindustrie“ folgt dem eigenen Motto „Live. Love. Enjoy“ und lässt die eigene Geschichte erst in den 1970er Jahren beginnen. Das ist recht typisch für weite Teile des deutschen Mittelstandes, die ihre NS-Geschichte schlicht übergehen. Wir sind heutzutage über die Opfer des Nationalsozialismus weitaus besser informiert als über die damaligen Akteure und Täter – und dies gilt trotz einer nicht unbeträchtlichen Zahl aussagefähiger Unternehmensgeschichten dieser Zeit.

Die Milei GmbH, die erste, war vorrangig eine Vertriebsorganisation (Bate-Smith et al., 1946 – auch für das Folgende). Sie besaß keine eigenen Produktionsstätten, sondern schloss Verträge mit zahlreichen milchverarbeiteten Betrieben, die in ihrem Auftrag Mileiprodukte herstellten. Diese Firmen kannten weder die genauen Produktionsverfahren, noch die eingesetzten Rohwaren und Zusätze. Diese wurden vielmehr codiert eingesetzt, obwohl ein erfahrener Betriebsleiter sie leicht decodieren konnte (Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 4). In Stuttgart saß die Verwaltung, der Aufklärungs-Dienst, hier wurden Verträge geschlossen und die Rohstoffwirtschaft koordiniert.

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Bezirksleitungen der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Der Vertrieb erfolgte in tradierten Formen. Von Stuttgart ausgehend, richtete die Milei GmbH ein reichsweites Netzwerk von Bezirksleitungen aus, die wie Großhandelsvertretungen funktionieren. Die zehn Bezirksleitungen waren über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt und koordinierten recht eigenständig. Der Absatz in der Backwarenproduktion und im Gaststättengewerbe erfolgte mittels Reisender, die von „Oberreisenden“ regional koordiniert wurden (Der Führer 1941, Nr. 60 v. 2. März, 14). Eine von Ludwig Herrmann geleitete Generalvertretung wurde im März 1942 in Berlin Unter den Linden gegründet, erlosch jedoch schon im November (Deutscher Reichsanzeiger 1942, Nr. 57 v. 9. März, 5; ebd., Nr. 284 v. 3. Dezember, 3).

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Lage der Milei-Produktionsstätten im Großdeutschen Reich 1941 (Der Vierjahresplan 5, 1941, 246)

Die Produktion erfolgte anfangs nur in Stuttgart, doch die Zahl der Produktionsstätten weitete sich rasch aus, da lokale Kapazitäten nicht beliebig gesteigert werden und zugleich Transportkosten reduziert werden konnten. Anfang 1940 substituierte die Firma nach eigenen Angaben bereits monatlich 45 Millionen Eiern (Eiweiß, 1940). Eine Anzeige in der Zeitschrift „Vierjahresplan“ zeigte 1941 bereits neun Produktionsstätten. Deren Zahl wurde bis 1942/43 nochmals verdoppelt.

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Fabrikationsstätten der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Die von britischen Wissenschaftlern sichergestellte Liste der Produktionsstätten unterstrich, dass im Laufe des Krieges der Stellenwert des Produktionsstandortes Stuttgart bzw. Württembergs tendenziell sank. Stattdessen finden sich Vertragspartner in den wichtigsten Milchregionen Deutschlands, Österreichs, der Tschechoslowakei sowie Polens. Einzelne Standorte wurden beträchtlich aufgewertet, so die zwei Milei-Werke im sächsischen Wurzen. Dort fand auch die Qualitätskontrolle statt. In der zweiten Kriegshälfte wurden Milei-Produkte an folgenden Produktionsstätten hergestellt:

  • Milei-Gesellschaft Werk I und II, Wurzen/Sachsen
  • Württ. Milchverwertung AG, Stuttgart
  • Milchversorgung Heilbronn GmbH, Heilbronn/Ilsfeld
  • Omira Oberland Milchverwertung GmbH, Ravensburg
  • Odam-Milchwerk Gebr. Müller, Holzkirchen/Oberbayern
  • Bayerische Milchversorgung GmbH, Nürnberg
  • Molkerei-Genossenschaft Tabor
  • Molkerei-Genossenschaft Mährisch-Budwitz
  • Molkerei-Genossenschaft Stainach GmbH
  • Molkerei-Genossenschaft eGmbH, Hagenow/Mecklenburg
  • Dauermilchwerke Korschen GmbH, Korschen
  • Ostdeutsche Dauermilchwerke GmbH, Marienburg
  • Alfa-Nährmittelwerk Tonningen GmbH, Tonningen
  • Wartheland-Milchverwertung GmbH Posen, Krotoschin
  • Milchzentrale eGmbH, Lütjenburg/Holstein
  • Schweriner Zentral-Molkerei, Schwerin
  • Ein- und Verkaufsgen. westfälischer Molkereien eGmbH Münster, Lippstadt
  • Verkaufsverband norddeutscher Molkereien, Plathe

Diese Liste bestätigt frühere Aussagen, nach denen „die Betriebe, die Milei herstellen, nichts anderes, als sehr neuzeitlich eingerichtete Molkereien“ sind. „Es fehlen durchaus die geheimnisvollen Retorten und Destillationskolben einer chemischen Fabrik. Wie in jeder anderen Molkerei wird die von den Bauern und Landwirten gelieferte Milch gereinigt, pasteurisiert, entrahmt und zu Butter, Käse, Quark, Kasein und Trockenmilchpulver verarbeitet“ (Eiweiß, 1940). Ganz normale Betriebe für ganz normale Produkte. Milei war zu diesem Zeitpunkt bereits der wichtigste Hersteller von Eier-Austauschstoffen aus Magermilch im Deutschen Reich, ließ Wettbewerber wie Syntova und die Berliner Edmes GmbH weit hinter sich. Die gegenüber der Vorkriegszeit allseits massiv gesteigerte Produktion wurde vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie der Hauptvereinigung der deutschen Milch- und Eierwirtschaft stetig gefördert (Pirner, 1942, 269). Eine weitere Produktionssteigerung scheiterte allerdings am Mangel an Maschinen, vor allem der unverzichtbaren Sprühtrockner.

21_Uwe Spiekermann_Milei_Vertriebsnetz_Vertriebslager_Karte

Vertriebslager der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Neben den Bezirksleitungen und Fabrikationsstätten existierte noch ein weiteres Netzwerk von Vertriebslagern. Diese entsprach großenteils, aber keineswegs durchweg, dem Produktionsnetzwerk. Die 19 Lager waren ebenfalls über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt, konnten von alliierten Bombern zwar getroffen werden, boten aber eine flexible Struktur zur kontinuierlichen Versorgung der Bevölkerung.

Schon diese Netzwerke verweisen auf den Ausgriff auf besetzte Gebiete, auf eine Expansion in die frühere Tschechoslowakei und Polen, die wohl 1941/42 erfolgte (Pirner, 1942, 269). Die Produktion von Milei-Produkten war Teil der gewalttätigen Nutzung ausländischer Ressourcen für die Stabilisierung der reichsdeutschen Rationen. Hinzu kam eine Expansion nach Westeuropa. 1941 gründete die Milei GmbH „gemeinsam mit der holländischen Spezialfirma für Milchkonserven Lijempf eine Gesellschaft, die in Holland die Verarbeitung von Magermilch zu ähnlichen Ersatzlebensmitteln aufnehmen soll. Die Milei G.m.b.H. hat sich hierbei die Majorität gesichert“ (Die Zeitung [London] 1941, Nr. 244 v. 22. Dezember, 2). Es handelte sich um die im nordfriesischen Leeuwarden ansässige Milchfabrik N.V. Lijempf, die im nahegelegenen Winsum eine moderne Trockenmilchfabrik mit knapp 200 Beschäftigten betrieb (P. Noord, De Zuivelfabriek van Winsum, 1892-1975, Info Bulletin Winshem 7, 2002, Nr. 3, 8-9). In Frankreich, genauer in der Normandie, wurde 1941 ein ähnlicher Betrieb aufgenommen, der von 1942 bis 1944 Milei auch nach Deutschland exportierte (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4; Bundesarchiv Berlin R 15-V/21). 1943 sollen dadurch ca. 35 Millionen Eier ersetzt worden sein (Innsbrucker Nachrichten 1944, Nr. 114 v. 16. Mai, 5). Im gleichen Jahr plante die Firma eine deutsch-spanische Dependance in Barcelona (Bundesarchiv Berlin R 3101/34784, Bd. 3). Nach Ende des Krieges bemühte sich die Milei GmbH bis 1947 um die Rückerstattung ihres Auslandsvermögens (Bundesarchiv Berlin B 218/755). Außerdem wurde 1942 „ein Unternehmen unter maßgeblicher Beteiligung der Milei-Gesellschaft m.b.H. geschaffen“ (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4).

Was war nun das Ergebnis all dieses Bemühens? Die vom britischen Nachrichtendienst ausgesandten Wissenschaftler sicherten 1945 Unterlagen, nach denen die Produktion 1944 bei 6.466.000 Kilogramm Milei G und W gelegen hat. Hinzu kamen 547.113 Kilogramm Nachspeise und 3.926.785 Kilogramm Migetti. 1943 lag die Produktion auf gleicher Höhe. Der Umsatz von Milei G und W lag 1944 bei 25 Millionen RM, bei der Nachspeise bei 3,5 Millionen RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Rechnet man 5 Gramm Milei als Substitut für ein Vollei, so entsprach die 1944 produzierte Menge 1,293,200,000 Volleiern. Das wäre – geht man zurück zu den Ausgangsplanungen – etwa 17% der 1936 im damaligen Deutschen Reich konsumierten Eier. Diese Menge entsprach den gesamten damaligen Eierimporten. Damit dürfte Milei das erfolgreichste Austauschprodukt der nationalsozialistischen Ernährungsforschung gewesen sein – und die anderen gewerblich genutzten Präparate können hier noch zugerechnet werden.

Kaum überraschend waren die verantwortlichen Experten stolz auf das Geleistete: „Für die Kriegswirtschaft bedeutet die Steigerung der Produktion von Milei die Verhinderung des Aufkommens eines unerträglichen Mangels an Eiweiß“ (Wandlungen der deutschen Milchwirtschaft, Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 275). Milei hatte sich bewährt, würde auch nach dem Kriege ein wichtiger Markenartikel bleiben, Teil einer neu gestalteten Volksernährung sein (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 375). Die Fachleute hatten geholfen, diese Waffe für die Heimatfront zu schmieden. Und sie verstanden es einen Baustein zur Stabilität und Prosperität eines mörderischen Regimes.

Verbraucherlenkung und Intensivierung

Damit könnte man es erst einmal belassen, könnte die Geschichte von Milei unmittelbar in der beschworenen Nachkriegszeit verfolgen; wenngleich unter einer anderer Siegerkonstellation. Damit aber würde man der Bedeutung eines doppelbödigen Markenartikels jedoch nicht gerecht. Die beschworene Bewährung erlaubte es nämlich der Milei GmbH das Renommee des Produktes in den Dienst allgemeinerer Ziele des Regimes zu stellen. Konsumgüter haben stets einen Subtext, weisen stets über ihre eigene Materialität hinaus. Das gilt auch in Zeiten von Knappheit und Not.

Blicken wir zuerst auf die Versorgung und Verbrauchslenkung in der Mitte des Krieges. 1942 mussten die Rationen deutlich gesenkt werden, ihre Zusammensetzung verschlechterte sich – und sie waren gleichwohl weit besser als in den besetzten Gebieten, weit besser auch als im Hungerwinter 1916/17. Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff „Eier-Austauschstoff“ nicht nur weit verbreitet, sondern auch geadelt worden. Er durfte nicht mehr für Hilfs- oder Ersatzmittel in der Kriegssituation verwandt werden, sondern nur für Produkte, die „auch über die Zeit des Mangels hinaus einen dauernden Platz in ihrem Anwendungsgebiet erhalten sollen“ (Verwendung der Bezeichnung ‚Eier-Austauschstoff‘, Werben und Verkaufen 25, 1941, 206). Die relative Wertigkeit von Milei wurde auch durch weitere Verfügungen des Werberates der deutschen Wirtschaft erhöht (Werben und Verkaufen 26, 1942, 68). Die staatspolitische Bedeutung des Austauschstoffes zeigte sich ferner in der Werbung anderer Markenartikelfirmen: Maizena warb beispielsweise mit Rezepten, die Milei propagierten (Badener Zeitung 1941, Nr. 88 v. 1. November, 3).

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Werbung mit Rezepten und breiter Anwendungspalette (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1941, Nr. 104 v. 16. April, 852 (l.); Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14862 v. 31. Mai, 10)

Milei diente ab 1942 zunehmend dazu, die klarer hervortretenden Härten des Rationierungssystems erträglicher zu machen. Weißwäscher hämmerten die Melodie: „Mit diesen Eiaustauschstoffen kann man ebensogut Schlagobers wie gute Biskuits oder Windmassen erzeugen“ (Hans Rudiak, Kriegswirtschaftliche Materialfragen, Werkzeitung der Hammerbrotwerke 6, 1942, H. 5, 3-10, hier 9). Die Milei-Rezepte wurden der Versorgungslage angepasst. Schon Anfang 1942 fanden sich Rezepte für gebackene Kohlrübenscheiben, die als „verkanntes Gemüse“ (Der Führer 1942, Nr. 57 v. 26. Februar, 4) und nicht als Reminiszenz an den berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 präsentiert wurden. Auch als Mayonnaisezusatz zierte Milei billige Rohkostsalate (Durlacher Tageblatt 1943, Nr. 14 v. 18. Januar, 3). Die immer wieder umgestellten Rezepte wurden gezielt an die Frau gebracht: Ab 1943 verstärkte man die Werbung für das grüne Milei-Merkbuch für Hausfrauen: „Es zeigt die richtige Anwendung des milchgeborenen Milei W und Milei G“ (Badische Presse 1943, Nr. 192 v. 18. August, 6). Diese „Fundgrube zeitgemäßer Rezepte“ (Ebd., Nr. 226 v. 27. September, 6) wurde bis Anfang 1944 kostenlos von der Milei-Gesellschaft versandt. Es ergänzte die Anfang 1943 noch in großer Zahl geschalteten Bildanzeigen, die spezielle Anwendungsweisen des Milei bildlich und textlich präsentierten.

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Haushaltstipps in Wort und Bild (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstadt 1943, Nr. 3 v. 3. Januar, 7 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 3219 v. 20. November, 6)

Parallel zur Intensivierung des „totalen“ Krieges wuchsen die Anforderungen an die Konsumenten. Sie kamen moderat daher, etwa als Anleitung zu erhöhter Präzision: „Eine Handvoll? – Ein schlechtes Maß! So ungenau darf man niemals beim milchgeborenen Milei W und Milei arbeiten. Man muß sich genau nach der Gebrauchsanweisung richten“ (Hamburger Anzeiger 1943, Nr. 185 v. 2. September, 4). Der Kampf gegen Verderb wurde strikter, rasches Umfüllen des Präparates war ein Teil davon. Während Milei anfangs noch in kleinen Büchsen verkauft worden war, wurden nun einzig mit Aluminium beschichtete Papiertüten verwandt. Da Milei feuchtigkeitsempfindlich war, bestand bei unsachgemäßer Lagerung die Gefahr, dass der Stoff verklumpte, ja, verknotete. Dagegen half das Umfüllen in ein trockenes Glas – mit einem zwingend trockenen Löffel (Badische Presse 1943, Nr. 201 v. 28. August, 8). Hatte das hydrophile Milei dagegen Wasser aufgenommen, war es zwar „schlagfaul“, konnte jedoch immer noch zum Panieren genutzt werden (Ebd., Nr. 216 v. 15. Juni, 6). Oder aber für Breie oder Suppen (Ebd., Nr. 235 v. 7. Oktober, 6). Hauptsache, das Präparat wurde genutzt.

Die gewünschte Löffelgenauigkeit wurde eben nicht als Manko gegenüber dem Hühnerei gedeutet, sondern als ein Vorteil gegenüber der Natur, die nur das eine, wenngleich unterschiedlich große Ei kannte. Klares Abmessen half dagegen Sparen – mochte man per Gebrauchsanweisung auch auf kleine Eier umgelenkt werden. Sprache versuchte dies ansatzweise zu kompensieren. Milei war rein und „milchgeboren“, entstammte es doch aus frischer entrahmter Milch, die zur natürlichen, sauberen Herkunft stilisiert wurde (Ebd., Nr. 223 v. 23. September, 6).

24_Oberdonau-Zeitung_1943_06_30_Nr178_p6_Wiener Illustrierte_1941_12_17_Nr51_p12_Milei_Austauschstoff_Eier_Gebäck_Backen

Gebäck als Symbol von Heimat und Frontverbundenheit (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 178 v. 30. Juni, 6; Wiener Illustrierte 1941, Nr. 51 v. 17. Dezember, 12)

Während die 1943 noch möglichen Werbeabbildungen den symbolischen Gehalt von Lebensmitteln, sei es von nährendem Hackbraten oder von Weihnachtsgebäck verstärkt betonten, bot die Mehrzahl der Anzeigen klar gefasste Haushaltstipps: Bei Tunken Milei erst in Wasser auflösen, dann den Brei löffelgenau in die Tunke geben – schon wird sie cremig und verliert ihre Wässerigkeit (Badische Presse 1943, Nr. 204 v. 1. September, 6). Gerade bei fleischarmen Speisen war dies essentiell (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 213 v. 4. August, 6). Ähnlich musste frau vorgehen, wollte sie Mürbeteig machen (Ebd., Nr. 211 v. 9. September, 6). Oder aber beim Kochen von Suppe (Ebd., Nr. 214 v. 13. September, 6). Bei Kleingebäck wurde Milei geschlagen, zu Schäumchen geformt und dann gebacken (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 6). Ähnlich bei mehlfreiem Kleingebäck (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 121 v. 3. Mai, 4). Und selbst der Sonntagskuchen gelang, trotz Ersatz des Eies (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 234 v. 25. August, 6). Vorausgesetzt, man vermied Aluminiumgefäße zum Schaumschlagen (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 200 v. 22. Juli, 6). Das war hilfreich, hilfreich beim Rausholen des Letzten. Die Intensivierung des Haushalts entsprach der in der Rüstungsindustrie.

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Gesunde Kost und Sparen auch in der Gemeinschaftsverpflegung (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, nach 28 (l.); ebd., n. 42)

All dies beschränkte sich natürlich nicht auf den Haushalt. Die Bediensteten in Großküchen und Gewerbebetrieben wurden ähnlich angesprochen. Und über den tristen Alltag hinweg half immer stärker ein Blick auf die Modernität der Austauschpräparate: „Heute ist das nicht mehr nötig“, das alte ungenaue Kochen und Backen mit Eiern: „Dessen Aufgabe übernimmt Milei, das Ei aus der Milch. Es wird zum Braten, Backen und Kochen verwendet. Es ist naturrein und nährt. Milei ist rezeptleicht anwendbar … und steigert den Geschmack der Speisen“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14877 v. 16. Juni, 7). Selbst der Stolz der südwestdeutschen Hausfrau, die Spätzle, waren vor dem Neuen nicht mehr sicher. Sie „verlangten früher die Verwendg. des Hühnereies“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 162 v. 13. Juni, 6). Heute machte dies… – Sie kennen die Antwort.

Rendezvous mit Kohlenklau

Ab 1943 wurde die Milei-Werbung zunehmend breiter eingesetzt, zielte nicht allein auf das Produkt, sondern unterstützte die Kriegsanstrengungen auch anderweitig. Das belegt etwa die enge Verkopplung der Markenartikelwerbung mit der allgemeinen Agitation gegen „Kohlenklau“. Kohlenklau war eine der vielen nationalsozialistischen Imaginationen, die allesamt zu erhöhter Sparsamkeit, zu geringem Ressourcenverbrauch, zu einem gesünderen und gedeihlicheren Leben anhielten (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 91-95). „Groschengrab“ und „Roderich, das Leckermaul“ traten auf, „Flämmchen“, „Familie Pfundig“ und eben auch Kohlenklau, das „Ungeheuer mit dem zugekniffenen Auge, dem gewaltigen Schnauzbart, großem Sack und bedrohlichen Krallen“ (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstedt 1943, Nr. 94 v. 18. Juni, 6). Er stahl nicht nur Kohlen, sondern vergeudete Energie und Ressourcen jeglicher Art, unterminierte damit die Kriegsanstrengungen der deutschen Nation. Sogar beim Kuchenbacken lauerte er.

26_Voelkischer Beobachter_1943_04_14_Nr104_p6_Wiener Illustrierte_1943_05_26_Nr21_p08_Milei_Kohlenklau_Austauschstoff_Eier_Kochen

Kohlenklau in der Milei-Werbung (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 104 v. 14. April, 6 (l.); Wiener Illustrierte 1943, Nr. 21 v. 26. Mai, 8)

Kohlenklau war mehr als ein schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man höre nur: „Taps, taps, taps… Kohlenklau ist in der Küche“ (Das kleine Volksblatt 1943, Nr. 55 v. 24. Februar, 8). Und der grinste höhnisch, wenn Speisen durch zu langes Kochen zerstört und Gas verschwendet wurden (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 63 v. 4. März, 6). Oder wenn das Kleingebäck verbrannte. Die Moral schien einfach zu sein: „Auf Kohlenklau achten“ resp. Plätzchen rechtzeitig aus dem Backofen herausnehmen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1943, Nr. 15551 v. 28. April, 7).

Verhaltensregulierung im Endkampf

Der Kampf gegen Kohlenklau war nur einer von vielen Maßnahmen, um die deutschen Volksgenossen zu gemeinsamen Anstrengungen zu verpflichten. Die Milei GmbH trug dazu bei und knüpfte am Ende des Krieges ein enges Band zwischen Konsument und Firma (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 743). In dieser Werbewelt kooperierten Forscher mit Praktikern, arbeiteten Bauern und Chemiker zum Wohle der Konsumenten. Präsentiert wurde ein völkisches Bild wechselseitiger Verpflichtung, getragen vom gemeinsamen Willen, das Beste zu geben.

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Wechselseitige Verpflichtung der forschenden Produzenten und der Konsumenten (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, vor 117 (l.); ebd., nach 184)

28_Tages-Post-Linz_1942_12_01_Nr284_p6_Nahrung_Waffe_Schwert_Milei_Austauschstoff_Eier

Nahrung als Waffe (Tages-Post – Linz 1942, Nr. 284 v. 1. Dezember, 6)

Milei war Alltagsgarant, war zuverlässiger Alltagshelfer (Der Führer. Aus dem Ortenau 1943, Nr. 36 v. 5. Februar, 4). In dem damaligen Völkerringen war es eine Waffe, ein Schwert mit scharfer Klinge. Es half beim notwendigen Strecken nach der Decke, beim Strecken der Lebensmittel und Speisen. Milei stand für die zunehmende Militarisierung der Alltagskost, die durch verpflichtende fleischlose Tage und Feldküchengerichte längst Realität geworden war. Doch das Schwert wurde nur gegen Feinde gezückt, denn innerhalb der Volksgemeinschaft war der Konsument Kulturträger, gesittet, gefasst und optimistisch. Entsprechend konnte allseits „Höflichkeit“ gefordert werden, grenzte man sich von „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ strikt ab. Das galt zumal beim Einkauf, am Tresen, im Umgang mit dem Einzelhändler, der über Bekommen oder Nicht-Bekommen mit entschied.

29_Oberdonau-Zeitung_1944_01_09_Nr008_p8_Wiener Illustrierte_64_1944_Nr15_p08_Milei_Kaeufer-Verkaeufer_Einzelhandel_Hoeflichkeit_Einkaufen_Laden

Seid höflich und nett zueinander – gerade im Krieg (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 8 v. 9. Januar, 8 (l.); Wiener Illustrierte 64, 1944, Nr. 15, 8)

Die Milei-Werbung wandte sich eindeutig gegen Fehlverhalten und Resignation: „Eine einzige verdrießliche Kundin wirkt wie Gift. Sie kann die beste Laune aller Anwesenden zerstören. Deshalb bemühen wir uns, verdrießliche Gemüter aufzumuntern und selbst recht höflich zu sein … auch wenn wir einmal nicht alles bekommen, was wir brauchen“ (Innviertler Heimatblatt 1944, Nr. 8 v. 25. Februar, 8). Zugleich aber forderte sie eine Kultur reflektierter Rücksichtnahme: „Ihr Kaufmann ist heute mit Arbeit reichlich überlastet. Zudem ist das Personal knapp. Trotzdem bemüht er sich, Sie zuvorkommend und höflich zu bedienen. Begegnen Sie ihm auch höflich … und machen Sie ihm das Leben nicht schwer […]. Höflichkeit macht beliebt!“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 48 v. 18. Februar, 4)

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Der Einzelne muss zurückstehen (Nationalsozialistischer Volksdienst 10, 1943, H. 8, II (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 314 v. 13. November, 5)

Spiegelten sich in derartigen Anzeichen die realen Verwerfungen in der Psyche vieler Menschen, so wurden in der Milei-Werbung ab 1943 die bestehenden Versorgungsprobleme zunehmend deutlicher thematisiert. Das betraf zum einen die Hausfrauen, denen etwa Hilfestellungen gegeben wurden, Speisen „bequem und unauffällig“ (Badische Presse 1944, Nr. 35 v. 11. Februar, 4) zu strecken. Das betraf aber zunehmend auch die zerbröselnde Verkehrsinfrastruktur. Deutlich hieß es: „Die Reichsbahn ist überlastet“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 243 v. 29. Februar, 6). Die Konsumenten sollten darauf verständnisvoll reagieren, sich selbst ein kleines Glied im großen Ganzen verstehen. Das half durchzuhalten, seine eigenen Sorten und Nöte geringer zu gewichten.

31_Wiener Illustrierte_62_1943_Nr33_p08_Oberdonau-Zeitung_1944_08_17_Nr226_p5_Milei_Fruchtspeise_Eier_Austauschstoff_Frauenarbeit_Nachbarschaftshilfe

Kinderfreude und Unterhaken der Hausgemeinschaft (Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 33, 8 (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 5)

Zugleich aber lenkte die Milei-Werbung den Blick auf die kleine Lichtblicke und Freuden des Alltags. Freude über eine wohlschmeckende, eine nährende Speise, Dankbarkeit gegenüber einer kleinen Alltagshilfe und Nachbarschaftshilfe. Das entsprach nicht der Realität des letzten Kriegsjahres, half jedoch nicht zu verzweifeln und seine Aufgaben zu erfüllen.

Damit wurden vornehmlich Frauen angesprochen, denn diese waren damals für Haushalt und Kochen verantwortlich, bekochten Kinder und auch Männer. Da musste eben ein Hackbraten her, auch wenn er mit Brot gestreckt werden musste (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 148 v. 30. Mai, 6). Doch zunehmend wurde auch des alleinstehenden Mannes gedacht, den man gemeinhin unter die Dachkategorie des „Strohwitwers“ subsumierte. Sie wurden vielfach in Werksküchen verpflegt, doch es gab seit 1944 auch vermehrt Koch- und Hauswirtschaftskurse für Männer. Die virtuose Handhabung von Milei wurde dabei geprobt (Neues Wiener Tagblatt 1945, Nr. 24 v. 28. Januar, 3). Und siehe da, auch Männer waren lernfähig, wussten die modernen Austauschstoffe zu schätzen.

Die Milei GmbH schaltete bis Anfang 1945 immer neue Werbetexte, denn ab Mitte 1944 verschwanden die letzten Graphiken aus den Zeitungen, schrumpfte die Anzeigen zu Texten in engen Kolumnen. Diese munterten auf, empfahlen das Produkt als Hilfegarant in der Krise: „Hausfrauen wissen sich immer wieder zu helfen“ (Badische Presse 1944, Nr. 179 v. 2. August, 6). Und sie halfen anderen, vielleicht mit einem alltagsaufhellenden Baiser (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 348 v. 28. Dezember, 3). Zugleich lenkte die Werbung den Blick auf eine andere, nicht vom Krieg geprägte Welt. Dort wurden Produkte in „blitzsauberen Milchwerken“ (Badische Presse 1944, Nr. 127 v. 2. Juni, 4) hergestellt, dort gab es keimfreie Produktion (Ebd., Nr. 131 v. 7. Juni, 4). In den Anzeigen wurde an Feinschmecker erinnert, sprach man von Wohlgeschmack. Kindergeburtstage feierte man, denn Milei-Fruchtschaum „schmeckt wie im Frieden“ (Kleine Wiener Kriegszeitung 1944, Nr. 77 v. 29. November, 8). Und die Kleinen waren „selig“, wenn es ihn denn gab (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 7). Die Städte stürzten zusammen, die alte Welt zerbrach, doch das ging einher mit der Geburt des Neuen: „Großmutters Rezeptbuch ist längst überholt“ (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 8) und wird ausgetauscht von wissenschaftlichen Präparaten, praktisch und besser als das Alte.

Kontinuität im Schwarzmarkt und der Nachkriegsrationierung

Die Rationierungspolitik wurde nach Ende des Krieges von den Besatzungsmächten fortgeführt, die Lebensmittel teils der eigenen Bevölkerung vorenthalten, um eine Hungerkatastrophe in deutschen Landen zu vermeiden. Milei gehörte dazu, mochten die Zuweisungen pro Normalversorger 1945 und 1946 auch gering ausfallen, da das unternehmerische Netzwerk der Milei GmbH zerrissen war (Badener Tagblatt 1946, Nr. 10 v. 2. Februar, 63; Badische Neueste Nachrichten 1947, Nr. 53 v. 6. Mai, 4). Doch in den einzelnen Zonen wurde weiter produziert. Milei konzentrierte seine Aktivitäten wieder auf den Württemberger Raum, die amerikanische Zone. Von dort wurde auch exportiert, wenngleich meist gegen Ware, nicht gegen Geld (Wiener Zeitung 1946, Nr. 149 v. 29. Juni, 2; Badener Tagblatt 1946, Nr. 30 v. 6. Juli, 323). Milei diente wie in der Endphase des Krieges dazu, fehlende Eier- und Fleischlieferungen zu kompensieren (Neues Österreich 1945, Nr. 207 v. 21. Dezember, 3). Angesichts beträchtlicher Unterversorgung bemühten sich Großbetriebe um Milei-Zuweisungen für ihre Werksküchen, wollten Eiweiß für Arbeit (Volkswille 1946, Nr. 98 v. 15. August, 3).

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Zwischen Emmentaler Käse und Eier: Rationiertes Milei (Neue Zeit 1946, Nr. 285 v. 7. Dezember, 4)

Die Wertschätzung der Milei-Produkte spiegelte sich auch darin, dass sie regelmäßig bei Schiebern und Schwarzhändlern beschlagnahmt wurden (Obersteirische Volkszeitung 1947, Nr. 20 v. 8. März, 2; Volksstimme 1947, Nr. 98 v. 26. April, 3; Wiener Kurier 1947, Nr. 10 v. 14. Juni, 2). Hoher Nährwert und lange Haltbarkeit waren wie für den Schwarzmarkt gemacht – wobei solche bereits während des NS-Regimes bestanden.

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Viel begehrt – leider knapp! Milei Werbung in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Stuttgarter Rundschau 2, 1947, H. 6, 32 (l.); Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 9, 28)

Zugleich begannen frühere Produktionsstätten die Herstellung auf eigene Rechnung. In Österreich, der früheren Ostmark, setzte nach Kriegsende die Molkerei Stainach der Landesgenossenschaft Ennstal ihre Arbeit fort, um insbesondere für den Winter Reserven aufzubauen (Neue Steierische Zeitung 1945, Nr. 97 v. 18. September, 5). Das führte zu Sonderzuteilungen von zehn Volleiersubstituten und Freude bei den darbenden Konsumenten (Ebd., Nr. 140 v. 8. November, 8). Mitte 1946 musste der Betrieb jedoch eingestellt werden, da die Milchzufuhr aufgrund von Zwangsablieferungen zu gering war (Neue Zeit 1946, Nr. 178 v. 8. August, 3). Die Milei GmbH klagte gegen die Produktion des vermeintlichen neuartigen Stainacher Milcheiweis V und S, musste jedoch vor Gericht schließlich eine Niederlage einstecken (Wiener Zeitung 1946, Nr. 186 v. 11. August, 7; Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4). International waren Kramers Patentrechte ohnehin seitens der Alliierten kassiert worden (Official Gazette of the United States Patent Office 550, 1943, xxxvi; ebd., 552, xxxix).

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Erst im Gewerbe, dann im Haushalt (Bäcker-Zeitung für Nord- und West-Deutschland 2, 1948, Nr. 33, 11 (l.); ebd., Nr. 37, 14; Der Spiegel 1948, Ausg. v. 6. November, 16 (r.))

Nach Gründung der Bundesrepublik und dem zunehmenden Abbau der Rationierung war Milei gängiger Gast etwa auf Fachmessen, wo es gleichrangig neben Suppen- und Soßenpräparaten, Mayonnaisen, Aspikpulver und anderem stand (Südkurier 1949, Nr. 116 v. 1. Oktober, 5). Seine Qualität wurde in altbewährter Manier gepriesen, der Phrasenschatz der NS-Zeit war noch bekannt: „Milei ist also kein chemisches Erzeugnis, sondern setzt sich aus den natürlichen Bausteinen der Milch zusammen. Hochwertiges Milcheiweiß – dem Hühnereiweiß biologisch gleichwertig – finden wir in Milei wieder. Freuen wir uns, daß es unseren Milchforschern gelungen ist, ein so hochwertiges Erzeugnis zu entwickeln. Dadurch kann man im Haushalt viel Geld einsparen und billiger kochen, braten und backen“ (Durlacher Tageblatt 1949, Nr. 117 v. 17. Dezember, 3).

In der Tat investierte die Milei GmbH nicht nur in den Fortbetrieb, sondern auch in neue Technik. 1946 wurden leistungsfähigere Rolltrockner eingeführt (Holmes und Kefford, 1946, 5). Karl Kremers, mittlerweile in Eislingen a.d. Fils ansässig, arbeitete kontinuierlich an der Produktionstechnik. Noch 1953 wurde ein Verfahren zur Gewinnung eines schlag- und backfähigen Milcheiweißes patentiert (Fette, Seifen, Anstrichmittel 53, 1953, 561). Weitere Patente folgten (Chemisches Zentralblatt 127, 1956, 138).

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Weiterhin Sparsamkeit (Südkurier 1949, Nr. 138 v. 22. November, 7 (l.); ebd., Nr. 146 v. 10. Dezember, 7)

Dennoch konnte sich Milei in der Nachkriegszeit als Markenartikel immer schlechter behaupten. Man kaufte und verarbeitete es, teils dankbar, war zugleich aber dessen überdrüssig und wollte wieder „richtige“ Eier haben. Leicht angeekelt hieß es Anfang 1949 etwa in Salzburg: „In diesem Aufruf kommen daher wieder die berühmten ‚Marshall-Fette‘ und das ‚Milei‘ zur Ausgabe als Ersatz für unsere heimischen Eier und Butter“ (Salzburger Tagblatt 1949, Nr. 28 v. 4. Februar, s.p.). Obwohl begehrt, wurde Milei auch als „künstliches Ersatzmittel“ (Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4) verdammt. Die Milei-Werbung hielt dagegen, verwies auf den „großen Kraftquelle der Milch“ und auf dessen „zauberhafte Verwandlungen“ durch moderne Technik (Was ist eigentlich Milei?, Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 2, 1948, 194). Doch all das war nur Imagination, denn Einkommen und die Höhe der Eierpreise sollten über die künftige Marktstellung von Milei entscheiden. Auch die Neugestaltung der Milei-Werbung durch Anton Stankowski brachte Anfang der 1950er Jahre keinen durchschlagenden Erfolg bei den Verbrauchern (Neuburg, 1951). Die Gewissheit der NS-Planer trog, die schon früh darauf gesetzt hatten, dass Milei „auch in kommenden Friedenszeiten seine Bedeutung weiter behalten und besonders Deutschlands Einfuhrabhängigkeit an Trockenei beseitigen“ werde (Neue Entwicklungen in der Nahrungsmittelwirtschaft der Welt, Die deutsche Volkswirtschaft 10, 1941, 542-543, hier 542).

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Milei als Dachmarke bewährter Spezialartikel (Deutsche Lebensmittel-Rundschau 44, 1948, Nr. 11, V)

Die Milei GmbH erweiterte nach Gründung der Bundesrepublik ihre Produktpalette, fügte Zwischenprodukte für Nachspeisen und Karamellwaren hinzu. Die mit gleichem Namen bezeichneten Präparate veränderten sich auch durch neue Maschinen, Verfahren und Zusatzstoffe. In der Werbung ließ man dies durchaus anklingen, schrieb von neuen Milcheiweiß-Erzeugnissen (Die Küche 49, 1953, Nr. 3, II). Angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von frischen Eiern, steigenden Eierimporten aus den Niederlanden und Dänemark und einer langsam wachsenden Kaufkraft konzentrierte sich die Milei GmbH jedoch verstärkt auf gewerbliche Zwischenprodukte. 1954 bewarb man etwa Milei WS für „Negerküsse“ und Waffelfüllungen, Milei G III E für „sahniges, zartes und geschmeidiges Eis“ (Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 16, 27; ebd., Nr. 50, 27). Als Markenartikel endete die Geschichte von Milei in den 1950er Jahren. Im gewerblichen Bereich, in Form von Zwischenprodukte konnte sich die Dachmarke jedoch weit länger behaupten. Milei wurde weiter konsumiert, doch die Konsumenten wussten nicht, was in ihren Produkten enthalten war – und kümmerten sich darum auch nicht wirklich.

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Billiger als Eier: Milei-Werbung für Bäckereien und Konditoreien 1949 (Die Küche 53, 1949, Nr. 1, IV (l.); ebd., Nr. 2, II)

Wie bewerten?

Milei war eine der erfolgreichsten Lebensmittelinnovationen der NS-Zeit. Anders als ähnliche Eier-Austauschstoffe wurde es zu einem Markenartikel, zu einem allseits bekannten Hausnamen. Verbraucher lernten mit dem weißen Pulver umzugehen und die Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu mildern. Milei blieb jedoch mit der Aura der Notzeiten verbunden und verschwand in den 1950er Jahren langsam aus den Regalen, um in anderer Form doch im Magen der Konsumenten zu landen.

Milei war ein Paradebeispiel für den Bedeutungsgewinn der Zwischenprodukte in der Zwischenkriegszeit. Obwohl ohne die massive staatliche Förderung kaum denkbar, war es kein prototypisch nationalsozialistisches Konsumgut, sondern eine Konsequenz der durch den Ersten Weltkrieg vielfach zerbrochenen internationalen Arbeitsteilung, die in den 1920er Jahren nicht wieder etabliert werden konnte und durch die Weltwirtschaftskrise vollends zerbarst. Er steht für nationale Kraftanstrengungen, wie es sie nicht nur im Deutschen Reich gegeben hat.

Staatliche Stellen förderten preiswerte und genießbare Austauschstoffe nicht erst seit 1933. Die systematische Erforschung heimischer Ressourcen charakterisierte schon die 1920er Jahre. Volkswirtschaftliche und machtpolitische Überlegungen dominierten, an Krieg dachten die meisten Protagonisten dabei nicht. Eier-Austauschstoffe wurden in dieser Zeit nicht nur denkbar, sondern standen im Kontext der sich damals rasch entwickelnden Eiweiß- und Vitaminforschung. Sie standen für neuartige Strukturen wissenschaftlicher Forschung, für die Verbindung agrarwissenschaftlicher, chemischer, biochemischer und lebensmitteltechnologischer Arbeit. Und sie standen für eine verstärkte Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion, die sich unter dem Druck von Auslandsware vielfach als nicht wettbewerbsfähig erwiesen hatte.

Milei war demnach ein typisch „modernes“ Produkt, das es auch ohne die nationalsozialistische Machtzulassung gegeben hätte; in etwas anderer Form, vielleicht etwas später. Und doch war Milei auch ein nationalsozialistisches Konsumgut. Es diente nicht als beliebiges Zwischenprodukt, als schlichtes preiswertes Angebot für Konsumenten. Es diente von Beginn an der Rückendeckung einer kriegerischen Machtpolitik, als Garant für den Herrschaftsanspruch des NS-Regimes. Milei profitierte vom Kriegsbeginn, ohne diesen wäre das deutsche und europäische Produktions- und Vertriebsnetzwerk nicht denkbar gewesen. Milei stand für deutschen Forschergeist, war die zivile Seite einer Expansion, die von den genagelten Stiefeln der Wehrmacht geprägt war, von Gewalt und Destruktion der Schergen. Die Firma folgte in die eroberten Gebiete, nutzte sich bietenden ökonomischen Chancen in West- und Osteuropa.

Milei wurde mittels Werbung sehr unterschiedlich präsentiert. Das war nicht nur Folge eines uncharismatischen Konsumgutes, eines weißen Pulvers ohne eigene Attribute. Das spiegelte auch die unterschiedlichen Facetten eines Regimes, das Normen- und Maßnahmenstaat zugleich war, dessen Konsumgütermärkte sich analog zu denen der westlichen Kriegsgegner entwickelten, zugleich aber zeittypische Unterschiede aufwiesen. Milei wurde als wissenschaftliches Präparat beworben, seine Anwendung musste erlernt und vermittelt werden. Diese Anstrengung erfolgte angesichts der Enge einer effizienten und zugleich auf Raub ausgerichteten Lebensmittelrationierung. Sie programmierte Hausfrauen und Feldköche hin auf Zubereitungsformen und eine völkische Kraftanstrengung, appellierte nicht nur an das Mitmachen, sondern bot rationale Gründe hierfür. Einmal etabliert wurde Milei zu einem wichtigen Alltagsgaranten, einem verlässlichen Alltagshelfer. Dies wurde genutzt, um mit der Werbung nicht nur wirtschaftliche Ziele zu erreichen, sondern eine Mobilisierung der Bevölkerung im Sinne des Krieges, im Sinne der Bewährung und des Weitermachens bis zum (für die meisten Deutschen) bitteren Ende.

Milei konnte sich in der Nachkriegszeit behaupten, denn es war ein preiswertes, nahrhaftes und funktionales Produkt. Doch es konnte sich als Markenartikel nicht festsetzen, denn Konsumgütermärkte folgen nicht allein (und vielleicht nicht einmal primär) rationalen Überlegungen. Obwohl das Milei-Eiweiß billiger war als das gackernder Hühner, war es doch mit der Enge und Not der Kriegszeit verwoben. Das Hühnerei, ein morgendlicher Proteinschub am Frühstückstisch und Symbol für eine neue alte Normalität, war anders bewertet, Ausdruck einer prosperierenden neuen alten Zeit. Es dauerte einige Zeit, bis die Massenproduktion von Eiern und dann Geflügel auch in deutschen Landen einsetzte – doch das sah man weder dem Ei, noch dem Gefrierhuhn an.

Milei verschwand als sichtbarer Markenartikel, blieb als Zwischenprodukt jedoch unsichtbar präsent. Hier kommen vielleicht wir mit ins Spiel, wir, die wir nicht recht wissen, was wir vom Einkauf schließlich mit nach Hause tragen. Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch von der Herkunft der Ingredienzien und Zwischenprodukte wissen wir wenig, von ihrer Geschichte noch weniger. Wir essen willig und fügsam, folgen den so unterschiedlichen Suggestionen der Werbung, die uns andere Geschichten nahebringen, solche, die wir hören sollen, denen wir gerne lauschen, um zu werden, was wir gerne wären – getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft, nach Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges oder einfach, weil wir all dies nicht an uns heranlassen wollen.

Uwe Spiekermann, 17. April 2021