Die aufrechte Hausfrau: Das Bohnerwachs Wichsmädel

Nein, darauf war ich nicht gefasst. Als ich eine Ausgabe der einst neuen, frisch-anstößigen Illustrierte „Das Magazin“ durchblätterte, erwartete ich die lebensdralle Ästhetik der 1920er Jahre, erwartete neue Frauen und smarte Männer, die Anbetung des Urbanen und einer neuen Freizeit- und Konsumkultur. Und dann das: Freundlich lächelnd hielt ein als Dienstmädchen verkleidetes Modell eine große Blechdose in die Kamera. Wichsmädel Bohnerwachs stand darauf, zeigte eine eifrig bohnernde Frau auf den Knien, mit kurzem Haarschnitt und durchaus modischen Absätzen. Und schon wandelte sich meine Irritation in Forscherdrang: Darauf musste ich mir einen Reim machen. Kommen Sie mit – oder klicken Sie rasch weiter.

Fußbodenreinigung im Wandel

Dreck ist ein Teil des Lebens, Putzen hält dagegen, sysiphoshaft, als Ringen um Sauberkeit und Alltagshygiene. In gängigen Darstellungen der Geschichte des Wohnens findet sich allerdings kaum etwas zu dieser Fron des Alltags (Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914, Münster 1985; Maren-Sophie Fünderich, Wohnen im Kaiserreich, Berlin und Boston 2019). Auch über die breite und wachsende Palette von Putz- und Reinigungsmitteln wissen wir wenig. Allgemeiner parlieren ist einfacher: Vom vermeintlichen Wandel der respektablen hauswirtschaftlichen Tätigkeit zur Hausarbeit. Von deren doppelter Marginalisierung als unbezahlten Liebesdienst an Mann und Familie einerseits, als einfache, nicht wirklich ernst zu nehmende Beschäftigung anderseits. Dabei belegt der seit Mitte des 19. Jahrhunderts immens wachsende Ratgebermarkt für das Kochen und die Haushaltsführung die vielfältigen und komplexen Aufgaben in einer häuslichen Welt, in der Convenience- oder Fertigprodukte fehlten, die wenigen Geräte Maschinen nicht ersetzen konnten, Kühlung und Konservierung zeitaufwändige Tagesaufgaben waren, das Schneidern und Reparieren der Kleidung und Textilien mit Blick auf die begrenzten Geldmittel erforderlich war, von der Kindererziehung und Gartenwirtschaft ganz zu schweigen (einseitig luftig-normativ hierzu Inga Wiedemann, Herrin im Hause […], Pfaffenweiler 1993; Evke Rulffes, Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung, Hamburg 2021). Und da war noch das Haus, das Heim selbst. Es musste gepflegt und in Ordnung gehalten, gekehrt, geputzt, von Unrat und Keimen befreit werden.

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Idealisiertes Bild des Hausputzes (Sydow (Hg.), 1884, 561)

Wie aber sah das Reinigungsumfeld aus, die zu reinigende Wohnung, der zu kehrende und zu bohnernde Fußboden? Dazu müssen wir uns wegbewegen von unseren heutigen einfach zu pflegenden, versiegelten, mit Kunststoff abgedichteten und auf trockenen Grundlagen ruhenden Fußböden. Das galt auch für die in der Hauswirtschaftsliteratur vorrangig behandelten bürgerlichen Haushalte. Sie standen im Mittelpunkt des Wandels, einerseits hin zu besseren Wohnungen und Fußböden, anderseits als Konsumenten einer wachsenden Zahl neuartiger Putz- und Reinigungsmittel, die eng mit dem Aufstieg der chemischen Industrie und insbesondere der Fettchemie seit den 1870er Jahren verbunden waren.

Damals bestanden Fußböden zumeist aus gestampftem und befestigtem Lehm, vielfach mit Brettern überbaut oder aus Holzböden. Die Böden waren teils behandelt, verschieden zusammengesetzte Firnisse aus Leinöl, Schellack oder Deckharzen schützten die Oberflächen. Diese mussten regelmäßig abgewischt werden, meist mit Wasser, kombiniert mit Kernseife oder Seifenlaugen. Putzen war wichtig, zumal in Zeiten unzureichender Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, angesichts der Gesundheitsgefahren der noch nicht wirklich bekämpfbaren Infektionskrankheiten. Das gefährdete nicht nur den Hausfrieden, bedeutete Putzen doch Umräumen, das Bewegen der Teppiche, der Truhen und Möbel. Nasses Putzen griff auch die Bodensubstanz an, denn den Böden fehlten vielfach konservierende Appreturen. Verbesserte Parkette sowie Steinböden waren leichter zu pflegen, waren aber auch teurer.

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Blanker Holzboden in einer oberbayerischen Bauernstube (Der Bazar 39, 1893, 429)

Zur Zeit der Reichsgründung verbreiteten sich daher neue Techniken der Bodenkonservierung. Zum einen erlaubte die Teerfarbenindustrie zahlreiche Farben und dann auch Glasuren, mit denen man die Oberflächen imprägnieren und damit gegen die Verdreckung schützen konnte. Zum anderen nutzte man vermehrt Wachse, um die Böden gleichsam zu versiegeln. Industrielle Wachse, teils auf Grundlage von Importgütern, waren billiger als tradierte Bienenwachse, zudem einfacher zu handhaben: „Das Einlassen oder Bohnen der gewöhnlichen, sowie der parquetirten Fußböden geschieht gewöhnlich mit einer Wachsseife, dem sogenannten Bohnerwachs, es wird aber auch mit reinem Wachs in Stücken gebohnt, eine Operation, die indessen Kraftanstrengung und Uebung erfordert und besser dem Zimmerputzer von Fach überlassen bleibt“ (Vom Fußboden, F. J. Singer’s Fünf-Kreuzer-Bibliothek 5, 1873, 30-31, hier 30). Gebohnerte Flächen durften nicht feucht gereinigt werden, doch man konnte sie einfach kehren.

Bohnerwachs wurde zu dieser Zeit noch vielfach in den Haushalten selbst hergestellt. Die Rohmaterialien, meist gelber Wachs und Pottasche, kauften die Hausfrauen in Drogerien, Gemischtwarenhandlungen und Apotheken. Das Wachs wurde dann auf dem heimischen Herd, im häuslichen Kessel angesetzt, dann auch gefärbt (Johanna von Sydow (Hg.), Das Buch der Hausfrau, 3. völlig umgearb. Aufl., Leipzig und Berlin 1884, 561-562; Illustrirte Welt 34, 1886, 72). Dazu nutzte frau anfangs meist naturale Farben, wie Orleans oder Katechu, oder aber Erdfarben, wie Oker oder Terra di Siena. Bohnerwachse dieser Art chargierten zwischen gelb und tiefrot, waren also noch nicht Basis weißer Reinlichkeit. Das Kochen derartiger Wachse war schwierig, denn die Temperaturführung auf offenem Feuer glich der Arbeit der Glasmacher und Schmiede, gründete auf Erfahrung, stellt die immer nur normativ behauptete Trennung der häuslichen und gewerblichen Sphäre in Frage. Doch ein gebohnerter Boden war schmutzabweisend und einfacher zu fegen. Angesichts kleiner, vollgestellter und vom Ruß und der Asche des Herdes stets umkränzter Zimmer war dies immer noch eine mühselige Arbeit, die möglichst an Dienstboten delegiert wurde. Doch deren Zahl ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch zurück, wenngleich sie um 1900 noch ca. fünf Prozent der großstädtischen Bevölkerung ausmachte. Bohnern war wiederkehrende Alltagstätigkeit: In größeren Abständen musste die Grundimprägnierung erneuert werden, Flecken aber erforderten gezielten und möglichst unmittelbaren Einsatz: „Gebohnte Fußböden, auch Parkettfußböden, werden täglich mit einem trocknen um die Bohnerbürste geschlungenen wollenen Lappen oder einem trocknen noch neuen Scheuerlappen aufgewischt. Einzelne Flecke wischt man mit einem feuchten Läppchen mit Terpentinöl ab oder man entfernt sie mittels abreiben mit Stahlspänen. Die Stellen müssen dann mit etwas Bohnermasse eingerieben und abgebürstet werden. Allwöchentlich reibe man den Fußboden mit Stahlspänen ab; durch dieselben wird Schmutz und das festgetretene Bohnerwachs entfernt, so daß der Boden seine klare Farbe wieder erhält“ (Wiesbadener General-Anzeiger 1894, Nr. 192 v. 19. August, Für’s Haus, 131).

Der Markt übernimmt: Wichsprodukte aus Drogerien und chemischen Fabriken

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Enthäuslichung der Bohnerwachsbereitung durch gewerbliche Fertigwachse (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1885, Nr. 65 v. 8. Februar, 26)

Bohnerwachs wurde anfangs häuslich hergestellt, doch die schon erwähnten „Zimmerputzer“ – noch ein qualifizierter männlicher Beruf – nutzten schon selbst produzierte Reinigungsmittel. Diese stammten zumeist von Drogisten, die analog zu den Haushalten, doch unter kontrollierteren Bedingungen größere Mengen produzierten und zunehmend unter eigenem Namen verkauften. Der Begriff „Bohnerwachs“ war jedoch noch nicht stofflich definiert und reguliert, sondern eine Ware, mit der man putzen, säubern, imprägnieren konnte. Die einschlägigen Handbücher benannten die Hauptgruppen: „Theils sind es Lösungen von Wachs oder wachsähnlichen Stoffen in Terpentinöl, theils eine Art von überfetteten Wachsseifen, entstanden durch theilweises Verseifen des Wachses durch Pottasche“ (Gustav-Adolf Buchheister, Handbuch der Drogistenpraxis, Bd. 2, 3. verm. Aufl., Berlin und Heidelberg 1898, 277; Karl Dieterich, Bohnerwachs, in: Ewald Geissler und Josef Moeller (Hg.), Real-Enzyclopädie der gesamten Pharmazie, 2. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 3, Berlin und Wien 1904, 115).

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Vor der allgemeinen Geltung des Begriffs Bohnerwachs: Die Parquetbohne (Berliner Tageblatt 1893, Nr. 565 v. 5. November, 16)

Wir haben es also schon im späten 19. Jahrhundert mit einem Markt zu tun, der geringe Zugangshürden hatte, denn die Produktion übernahm und verfeinerte häusliche Praktiken. Zudem wurden die Häuser der Jahrhundertwende immer häufiger mit einfacher zu pflegenden Stein-, Steinholz-, Linoleum- und Parkettböden versehen, die allesamt gewichst und gebohnert werden konnten und mussten. Während die Drogisten lediglich lokale, selten auch regionale Märkte mit ihren Angeboten versorgten, traten seit den späten 1890er Jahren vermehrt Lack- und Schuhwichseproduzenten in den Markt ein, bauten regionale, in selten Fällen auch schon nationale oder gar erste internationale Vertriebsstrukturen auf. War anfangs der Name des Produzenten Marker des Angebotes, so bedienten sie sich nunmehr vermehrt allgemeiner Markennamen, erst mit engen Bezug zur Pflege selbst – Parket-Rose –, dann auch solche mit chemisch-wissenschaftlichem Anspruch, etwa Cirine. Sie entwickelten also neue Markenidentitäten, gründeten sie auf einen niedrigen Preis oder aber auf besondere Eigenschaften: Parket-Rose sollte beispielsweise auch nass wischbar sein, Cirine war flüssig und daher gleichmäßiger aufzutragen.

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Markenartikel vor dem Ersten Weltkrieg (Kölner Local-Anzeiger 1905, Nr. 213 v. 6. August, 1 (l.); Der Bazar 59, 1913, 85)

Mit diesen kurzen Strichen ist der Boden skizziert, auf dem ein Produkt wie das Bohnerwachs Wichsmädel entwickelt und erfolgreich vermarktet werden konnte. Primär war, wie bei jedem Marktangebot, die Gewinnabsicht der Anbieter. Es war aber auch Quintessenz einer schon lange vor den 1920er Jahren begonnenen Haushaltsrationalisierung, in dem der Markt zuvor häusliche Tätigkeiten übernahm, in dem zugleich andere Baumaterialien und Wohnungskonstruktionen das Putzen schon erleichtert hatten. Die Fron der Hausarbeit wurde eben nicht nur von den betroffenen Frauen als Problem empfunden. Der Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933) fasste dieses Dilemma in prägnante Worte: „Unsere Frauen altern und verblühn, leisten eine Arbeitsmenge, die kein Mann zu leisten vermochte und erreichen doch nichts, als dass alle dieses, Kochwirtschaft, Hauswirtschaft, Kinderpflege ganz unrationell, unzweckmässig und dilettantisch geübt wird, als dass sie mit all ihrer undifferenzierten, planlosen Wirtschafterei sich und andern das Leben vergällen. Zumal der Vormittag und der frühe Morgen in den Familienhaushalten der ‚weniger Bemittelten‘ ist eine kleine Privathölle. Ein ewiges Schruppen, Kratzen, Bohnern, Umkramen und Umräumen. Ein Tollhaus knarrender, kreischender, wetzender Geräusche. Dazwischen Zurufe und Menschenstimmen. Wenn dann schliesslich die rasselnden Privatmaschinen der Familienhaushalte leidlich in Gang kamen, wenn genug geklopft, gewischt, geruckt und geschruppt ist, dann ist der halbe Tag herum. Die Sonne steht in Mittag; die Arbeitskraft ist verbraucht, die Seele müde und stumpf“ (Der Lärm, Wiesbaden 1908, 63).

Bohnern und Wichsen

Während die Mehrzahl der Bohnerwachse und Reinigungsmittel lediglich noch wenigen Spezialisten und Sammlern bekannt ist, besitzt Wichsmädel einen relativen Ausnahmestatus. Es gab bis vor einigen Jahren eine eigene Website resp. eine liebevoll gemachte Facebookseite. Einschlägige T-Shirts sind weiterhin zu kaufen. Original-Blechdosen, die in diesem Segment ansonsten für 10 bis 15 Euro zu haben sind, kosten mit Wichsmädel-Konterfei 60 Euro und mehr. Selbstverständlich werden derartige populärkulturelle Entwicklungen im offiziösen Kulturleben gespiegelt, dann aber mit Verweis auf die vermeintliche Frauenfeindlichkeit von Warenzeichen und Verpackung gebrochen (Reklame. Verführung in Blech, hg. v. GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig 2020, 102-103). In der Berichterstattung über eine Reklame-Ausstellung im Leipziger Grassi-Museum war Wichsmädel 2020 ein wichtiger Quell der Heiterkeit und Aufmerksamkeitsökonomie.

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Vermeintlicher Kult – T-Shirt-Angebote mit variiertem Wichsmädel-Warenzeichen (Ebay)

Das gängige Anspringen auf den vermeintlichen Kultartikel Wichsmädel sagt allerdings mehr über uns als unsere Vorfahren aus. Sprachwandel wird kaum mehr reflektiert, Bedeutungstransfers werden selten thematisiert. Beim Wichsen ergötzen sich viele an der Ziel-, nicht an der Ausgangsbedeutung. Das Adjektiv bezeichnete eine Bewegung, das Bohnern des Bodens, das schmückende Bürsten und Kämmen von Bart und Haar, das Auf und Ab der Bürste bei der Schuhpflege. Neben den Reinigungsartikeln wurden während und auch nach dem Kaiserreich Haar- und vor allem Schuhwichsen angepriesen. Das lag an einem Moment des Innehaltens, an dem Verteilen der Grundmasse, an dem Einziehen und Versteifen der Auftragsmasse. Bohnern war eng damit verbunden, dann aber vor allem beim beherzten Kampf mit dem Fleck, mit dem am Ende stehenden Resultat: „Die Bohnermassen werden ähnlich den Polituren mittelst eines weichen Ballens auf dem Fussboden, Leder oder Linoleum etc. vertheilt und dann so lange gerieben oder gebürstet, bis ein glänzender Wachsüberzeug entstanden ist“ (Buchheister, 1898, 278). Dass dabei auch Hilfsmittel wie die Bohnerbürste verwandt wurden, ist nicht nur jedem Putzenden geläufig.

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Schuhwichse als gängiges Angebot (Vorwärts 1902, Nr. 292 v. 14. Dezember, 15)

Wichsen und bohnern waren vor dem Ersten Weltkrieg gängige Alltagsworte, selbst das Reichspatentamt ließ Eintragungen im Warenverzeichnis „Wichse“ zu (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 232 v. 29. September, 9). Doch während des Krieges – also kurz vor der Etablierung des Markennamens Wichsmädel – wurde das lange bestehende Wortfeld auf die gängige Masturbation der Soldaten des Kaisers ausgeweitet (Sascha Bechmann, Sprachwandel – Bedeutungswandel. Eine Einführung, Tübingen 2016, 236). Hinzu kamen Dienstleistungen in Feldbordellen oder aber einschlägige Dienstleistungen in der Etappe oder der Heimatfront. Das erfolgte verschämt, in der Alltagssprache, erst in den 1920er Jahren in realistischen Schilderungen der Fronterfahrungen. Wichsen war negativ besetzt, entsprach es doch nicht dem gerne hochgehaltenen Bild des tapferen und sittenstrengen deutschen Soldaten.

Im Glucksen über Wichsmädel Bohnerwachs spiegeln sich nicht nur Restbestände spätpubertärer Unaufgeklärtheit, sondern auch Vorstellungen über Frauen als Objekt männlicher Sexualphantasien. Die Wichsmädel-T-Shirts unterstreichen, dass man daraus einen kleinen ironischen Nischenmarkt etablieren kann. Dem ging jedoch eine stete, meist unreflektierte Präsenz des Wichsmädels in populären Darstellungen zur Geschichte der Reklame voraus (Klaus Pressmann (Hg.), Email-Reklame-Schilder von 1900 bis 1960 […], Zürich 1986, 256; Eugen Leitherer und Hans Wichmann, Reiz und Hülle. Gestaltete Warenverpackungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Basel 1987, 216; Kuh von links, Der Spiegel 1994, Nr. 23, 190). Sprachwandel ist eben höchst ambivalent, werden bestimmte Alltagsworte nicht nur einfach vergessen, sondern auch gleichsam ausgegrenzt, weil man sich nicht dem Ruch der Sexualisierung resp. der Frauenfeindlichkeit aussetzen möchte. Das gilt ähnlich auch für das „Putzen“, wenngleich dessen sexuelle Aufladung seit dem späten 19. Jahrhundert eher zurückgetreten ist.

Die Lack- und Farbenfabrik Wilhelm Süring

Wichsmädel wurde seit Ende 1919 angeboten – und das als Folge der Konversion eines Rüstungsbetriebes in einen zivilen Markenartikelanbieter. Es handelte sich um die Dresdener Firma Wilhelm Süring, die sich als Lackproduzent schon vor dem Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht hatte. Die Firma entstand 1841 als Handwerksbetrieb, Carl Wilhelm Süring zeichnete noch ein Jahrzehnt später als „Wagenlackirer“ (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1851, Nr. 76 v. 17. März, 14), baute seinen Betrieb jedoch aus, stellte in den 1850er Jahren Lackierer auch für „Bau- und Möbel-Arbeit“ ein (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1856, Nr. 141 v. 20. Mai, 6). 1866 gründete Süring dann gemeinsam mit dem Kölner Kaufmann Ferdinand Funhoff eine „Lacksiederei“ (Dresdner Anzeiger 1866, Nr. 306 v. 2. November, 1; ebd. 1867, Nr. 12 v. 12. Januar, 2). Später trat an dessen statt Alfred Bruno Angermann in die Firma ein (Adressbuch und Warenverzeichnis der Chemischen Industrie des Deutschen Reiches Bd. 1, Berlin 1888, 220). Das Verhältnis der Partner scheint freundlich gewesen zu sein, denn er fungierte als Trauzeuge bei der zweiten Hochzeit von Sürings gleichnamigem Sohn 1896. Carl Wilhelm Süring (1851-1915) folgte seinem Vater als Firmenchef und gründete nach dem Ausscheiden Angermanns im April 1902 die „Lack- und Farbenfabrik mit Dampfbetrieb“ Wilhelm Süring in Dresden (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 94 v. 22. April, 18). Sein Sohn Karl Friedrich Wilhelm Süring (1883-1962) wurde damals technischer Leiter. All das war erfolgreich. 1909 errichtete Süring im Vorort Dresden-Reick neue, größere Produktionsstätten (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 223 v. 21. September, 12; Dresdner Nachrichten 1909, Nr. 37 v. 6. Februar, 9). Sein Sohn wurde Ende 1914 Teilhaber, nach dem Tode des Vaters im April 1915 dann Alleineigentümer der auf Lacke und Firnisse spezialisierten chemischen Firma (Farben-Zeitung 20, 1915, 371; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1915, Nr. 201 v. 22. April, 5; Farben-Zeitung 20, 1915, 830).

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Ein Rüstungsproduzent voller Tradition (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 601 v. 27. November, 4 (l.), ebd. 1918, Nr. 39 v. 22. Januar, 8)

Der neue Inhaber stellte Süring in den Dienst der deutschen Kriegsanstrengung, wollte die Firma „nach den bisherigen, bewährten Grundsätzen weiterführen“ (Farben-Zeitung 20, 1915, 914). Doch er wechselte zugleich den Prokuristen aus (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 115 v. 19. Mai, 8). Weiteres folgte. Zum einen errichtete Karl Friedrich Wilhelm Süring neben der bereits bestehenden Zweigniederlassung in Berlin weitere in München und dann auch Nürnberg (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 139 v. 18. März, 10; Deutscher Reichsanzeiger 1920, Nr. 180 v. 3. August, 9). Das bedeutete Nähe zu den Militärbehörden in Bayern und Preußen und eine Erweiterung des Vertriebsnetzes über die sächsische Kernregion hinaus. Zum anderen aber richtete der neue Firmeninhaber die Firma schon während des Krieges auf den zivilen Nachkriegsmarkt auf.

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Verbindende Dachmarke: Der SÜ-Ring (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 127 v. 31. Mai, 16 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1)

Seit 1915 etablierte Süring mit dem SÜ-Ring eine neue Dachmarke in unterschiedlichem Design, mit denen das sich durch Heereslieferungen und Rohstoffmangel rasch verändernde Angebot werblich verbunden werden konnte. Die Analyse der nicht zahlreichen Quellen spiegelt das Bemühen um eine einheitliche Außendarstellung, doch angesichts wiederholt veränderter Einzelelemente gelang dies nur ansatzweise (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 263 v. 7. November, 10; ebd. 1916, Nr. 295 v. 15. Dezember, 9; Dresdner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 271 v. 4. Oktober, 10).

Parallel sicherte sich Süring Warenzeichen für seine wichtigsten Zivilangebote. Der Emaillelack Ringolin machte den Anfang, gefolgt von der Bronzefarbe Ringos-Aluminium und weiteren Speziallacken wie Ringolit, Sürings-Wetterlack und -Wetterhart sowie einer Universalfarbe (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 97 v. 25. April, 18; ebd. 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 17; ebd. Nr. 284 v. 30. November, 18; ebd. 1919, Nr. 211 v. 16. September, 15; ebd. 1918, Nr. 151 v. 29. Juni, 26).

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Neue Markenprodukte mit Qualitätsimage (Das Echo 42, 1923, 4790 (l.), ebd., 4932)

Diese unternehmerische Strategie wurde ergänzt durch den Kauf neuer Patente (Kunststoffe 8, 1918, Nr. 23, Anzeigen, 2) und eine überraschend aktive Werbung für die in Haushaltsgrößen angebotenen Produkte. In den damaligen Dresdner Adressbüchern fällt seine Seitenrandwerbung unmittelbar auf. 1919 und dann 1923 wurden die Betriebsstätten in Dresden-Reick erweitert, zudem Häuser für die Beschäftigten erbaut.

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Ein breites Sortiment, inklusive Wichsmädel-Bohnerwachs, und die Produktionsstätten der Lackfabrik Wilhelm Süring (Adressbuch, 1921, IX (l.); Deutsche Luftfahrer-Zeitschrift 22, 1918, Nr. 11/12, 45)

Und Wichsmädel Bohnerwachs? Dieser war Teil der Diversifikationsbestrebungen Sürings nach dem Ende des Weltkrieges. Er wurde vorrangig als Einzelprodukt beworben, war jedoch immer auch Teil des Gesamtsortiments.

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Wichsmädel als Teil einer Markenstrategie mit Angeboten für den Kleinabsatz (Sport im Bild 27, 1921, 1245 (l.); Das Echo 42, 1923, 4789)

Etablierung der Marke Wichsmädel

Vor diesem unternehmerischen Hintergrund überrascht es kaum, dass auch die Markenetablierung im Umfeld des Süring-Rings erfolgte. Die kniende Frau begann ihr Bohnerwerbewerk zwar schon Ende 1919 (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 478 v. 25. November, 3), doch das Warenzeichen wurde erst 1922 warenrechtlich geschützt.

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Wichsmädel-Warenzeichen: Die kniende und bohnernde Frau (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1 (l.); Warenzeichenblatt 29, 1922, 645)

In der Sammler- und Museumsliteratur wird das Kernmotiv ohne verlässliche Belege auf den Graphiker Ludwig Hohlwein (1874-1949) zurückgeführt (etwa  Sylke Wunderlich, Das grosse Buch der Emailplakate, München 1997, 73; Margaret Horsfield, Der letzte Dreck. Von den Freuden der Hausarbeit, Berlin 1999, 231; Reklame, 2020, 103 sowie auch im entsprechenden Ausstellungsflyer des Grassi-Museums). Zudem wird um resp. ca. 1915 als Entstehungsjahr des Entwurfs angegeben. Beide Angaben scheinen mir hochgradig fraglich zu sein, sind eher Teil einer selbstreferentiellen Kulturszene, in der der spätere Nationalsozialist Hohlwein auch heute als Künstler mit einer lediglich „durchaus streitbaren politischen Orientierung“ präsentiert wird (Patrick Rössler, Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag, arthistoricum.net: Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag), in der Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit unzureichend beachtet werden.

Während des Ersten Weltkrieges waren Fettprodukte wie Bohnerwachs abseits des Militärbedarfs jedenfalls strikt rationiert, war Schuhwichse eine seltene Ausnahme mit Ersatzmittelqualität. Sürings zahlreiche Anzeigen zum Ankauf von Rohwaren für seine Lacke und Firnisse unterstreichen dies indirekt. Auch in der unmittelbaren Übergangszeit war Bohnerwachs selten, erst 1920 begann sich die Versorgungslage langsam zu entspannen (Wiener Illustrierte Zeitung 29, 1920, H. 20 v. 15. Februar, 20). Zahlreiche Hausfrauen waren  zwischenzeitlich wieder zur häuslichen Herstellung von Bohnenwachs übergegangen; vorausgesetzt, sie konnten sich entsprechende Rohmaterialien organisieren.

Für einen Lack- und Firnisproduzenten wie Wilhelm Süring war die Produktion von Bohnerwachs technisch unproblematisch. Das galt auch für den recht frühen Markteintritt. Man hatte zuvor gewiss umfangreiche Erfahrung im Umgang mit kriegsbedingten Ersatzmitteln machen können, denn insbesondere das Terpentin als wichtigstes Lösungsmittel wurde damals durch Benzol, Solventnaphtha oder hydrierte Naphtaline substituiert (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 60, 1920, 292; allgemein Carl Ebel, Die Fabrikation von Schuhcreme und Bohnerwachs, Halle a.d.S. 1930). Wichsmädel Bohnerwachs passte auch deshalb in Sürings Diversifikationsstrategie, weil die Zahl der Konkurrenten Anfang der 1920er Jahre noch klein war (Adressbuch der Farben-, Lack- und Firnis-Industrie […], IV. Ausg., Berlin 1921, 368). Die Eigenwerbung klang selbstbewusst: „Wichsmädel-Bohnerwachs in vornehmen dreifarbig bedruckten Dosen, anerkannt beste Qualitätsware, monatliche Leistungsfähigkeit 75.000 Dosen“ (Ebd., 452).

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Scherenschnitte als Mode der 1910er und frühen 1920er Jahre (Berliner Leben 26, 1923, Nr. 9, 19 (l.); ebd. Nr. 7, 20)

Der Scherenschnitt der knienden und bohnenden Frau passte auch in die neuerliche Mode dieses in Europa im späten 18. Jahrhundert künstlerisch entwickelten Genres, ebenso ihre nicht unmodische Erscheinung mit zurückgebundenem Haar und kurzen, breiten Absätzen. Wichtiger dürften für Süring ökonomische Aspekte gewesen sein – die in kulturwissenschaftlichen Museen ja nur selten beachtet werden. Werbung ist ein Mittel zur Erzielung von Gewinn – und man muss nicht Bazon Brocks emphatischen Kunstbegriff folgen, um zu verstehen, dass Ästhetik und Design vorrangig Mägde des Marktes sind und als solche auch analysiert werden müssen, um nicht in Ästhetizismus oder glucksende Fehleinschätzungen abzugleiten.

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Absicherung des semantischen Terrains durch Defensivzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 25 v. 30. Januar, 21 (l.); ebd., Nr. 107 v. 9. Mai, 1)

Erstens besetzte die Dresdener Firma mit „Wichsmädel“ nicht nur das semantische Feld, sondern sicherte es auch durch Defensivzeichen ab. „Wichsfrau“ und „Wichsdiener“ wurden als 1923 als Warenzeichen eingetragen, so dass es für Wettbewerber kaum möglich war, weitere Wichskomposita zu etablieren. Der 1922 eingetragene Bohnerwachs „Bohnerliesel“ der Märkischen Wachsschmelze Becher & Rechnitz unterstrich, dass solche Befürchtungen nicht unbegründet waren (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1002). Dieser semantischen Sicherung diente zudem die im Herbst 1921 erfolgte Umbenennung der einschlägigen Dresdener Produktionsstätten in Wichsmädelwerke (Wiesbadener Tagblatt 1921, Nr. 495 v. 30. Oktober, 4). Die Sicherung der Markenrechte dauerte auch danach an, denn das die Blechdosen zierende Warenzeichen wurde erst am 28. Juli 1923 beantragt und am 7. Januar 1924 dem Wichsmädelwerk Wilhelm Süring erteilt (Warenzeichenblatt 31, 1924, 196).

16_Deutscher Reichsanzeiger_1922_04_22_Nr094_p01_Das Echo_42_1923_p4816_Schuhcreme_Wilhelm-Suering_Dresden_Wichsmaedel

Ausweitung der Markenfamilie: Wichsmädel-Schuhglanz (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 94 v. 22. April, 1 (l.); Das Echo 42, 1923, 4816)

Zweitens erweiterte die Firma spätestens 1922 die Produktpalette der unter dem Warenzeichen Wichsmädel verkauften Waren. Wichsmädel Schuhglanz war eine Schuhcreme, die ebenfalls in drei verschiedenen Dosen angeboten wurde. Produktionstechnisch dürfte das keine Probleme bereitet haben, unterschied sich die Herstellung beider Produkte doch nur geringfügig. Das gewählte Warenzeichen zeigte abermals eine Frau in Bewegung, dieses Mal beim Schuhputzen. Das erfolgte in halb gebückter Haltung, teils mit angewinkelten Knien. Die auf Knien bohnernde Frau agierte auch hier wie im richtigen Leben, nämlich aufrecht (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1001).

Markteinführung mit begrenzten Mitteln

Wichsmädel Bohnerwachs war ein Drogerieartikel. Diese Selbstbegrenzung folgte der damaligen, vor der Raum- und Sortimentsentwicklung der Selbstbedienungsläden noch üblichen Spezialisierung des Fachhandels. Wie andere Angebote Sürings war Wichsmädel ein Qualitätsprodukt, dessen Vorzüge von ausgebildeten Drogisten gut präsentiert werden konnten – anders als vom Lebensmittelhändler mit seinen anderen Fertigkeiten. Feste Preise und wechselseitig verlässliche Gewinnspannen boten Ausgleich für die Mühewaltung. Der Absatz erfolgte anfangs parallel zum Vertrieb der Lacke und Farben, doch schon Anfang der 1920er Jahre baute Süring ein reichsweites Vertreternetz auf, um Wichsmädel in möglichst vielen Drogerien zu listen. Die Läden bildeten zugleich eine wichtige Werbesphäre, denn hier fand man Emailleschilder, wurde Proben und später Wertmarken verteilt und wieder eingelöst. Doch diese Vertriebsarten sind kaum mehr zu rekonstruieren.

17_Berliner Tageblatt_1921_02_26_Nr095_p10_Hamburger Anzeiger_1921_02_27_Nr048_p7_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Wilhelm-Suering_Vertreter_Drogerien

Aufbau eines reichsweiten Vertriebsnetzes für Wichsmädel-Bohnerwachs (Berliner Tageblatt 1921, Nr. 95 v. 26. Februar, 10 (l.); Hamburger Anzeiger 1921, Nr. 48 v. 27. Februar, 7)

Anders ist dies bei gedruckten Anzeigen. Sechs Aspekte kennzeichnen die Werbung von Wichsmädel Bohnerwachs vor der Hyperinflation 1923.

18_Muenchner Neueste Nachrichten_1919_12_27_Nr526_p11_Ebd_1920_10_18_Nr433_p10_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Arbeitserleichterung und Eigentumsbewahrung (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 526 v. 27. Dezember, 11; ebd. 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10)

Die Markteinführung erfolgte seit Herbst 1919 erstens im Bannstrahl des SÜ-Rings, also der Dachmarke Wilhelm Sürings. Sie war Teil der Erweiterung des Markenportfolios. Zweitens gab es abseits vom SÜ-Ring und der bohnernden Frau keine verbindliche Markenführung. Deutlich wird dies etwa an der Nutzung skurriler Werbefiguren, auf die aber in der Folgezeit nicht wieder zurückgegriffen wurde. Offenkundig bestand kein systematischer Werbeplan. Wichsmädel war ein beworbenes Produkt ohne eigentliche Markenidee.

19_DNN_1920_04_23_Nr106_p09_Ebd_04_18_Nr102_p12_DN_1921_05_01_Nr203_p17_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Gedicht

Warenzeichen, Gedicht und Bildelemente bei der Markteinführung (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 106, v. 23. April, 9 (l.); ebd., Nr. 102 v. 18. April, 12; Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 203 v. 1. Mai, 17 (r.))

Mit der Benennung und werblichen Ausgliederung der Wichsmädelwerke (parallel zum Bezug neu erbauter Produktionsstätten) emanzipierte sich die Marke drittens ab Herbst 1921 von den Werbemitteln Wilhelm Sürings. Der Produzent trat hinter das Produkt zurück, ermöglichte diesem eine virtuelle Eigenexistenz – wenngleich in vorrangig kleinen Anzeigen. Dabei setzte man vorrangig auf den Wiedererkennungseffekt der knienden und bohnernden Frau, während der SÜ-Ring verschwand (Duisburger General-Anzeiger 1921, Nr. 178 v. 9. Oktober, 7; Westfälische Zeitung 1921, Nr. 244 v. 29. Oktober, 5).

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Übergang zwischen SÜ-Ring und Wichsmädelwerk (Die Woche 23, 1921, Nr. 44 v. 5. November, s.p.)

Diese Emanzipation der Marke ging einher mit Variationen des Namenszuges und unterschiedlichen Größen der bohnernden Frau. Das Grundmotiv erschien stetig, doch die relative Langeweile des nur einen Motivs wurde ansatzweise aufgebrochen (Wiesbadener Tagblatt 1922, Nr. 247 v. 28. Mai, 4; General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1922, Nr. 11327 v. 27. Mai, 13).

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Experimente mit dem Warenzeichen (Die Woche 24, 1922, Nr. 24 v. 17. Juni, s.p.)

Parallel veränderte man die Position der Werbedame, spiegelte das Zeichen, veränderte moderat die Proportionen, auch die Haarpracht.

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Bohnern von links nach rechts, aber auch von rechts nach links (Der Welt-Spiegel 1922, Nr. 50 v. 10. Dezember, 5)

Viertens setzte man beim Vertrieb von Wichsmädel vielfach auf Werbelyrik, während appellative Slogans wie etwa „Für Möbel, hol Wichsmädel“ nicht weiterentwickelt wurden. Schon oben wurden erste Gedichte sichtbar. Sie chargierten zwischen versuchter Leichtigkeit und der Vermittlung zentraler Werbebotschaften, so etwa: „Kennen Sie Wichsmädel schon? / Das Bohnerwachs? Die Sensation? / Das Wachs, das hart und fest? / Das sich nachwischen läßt? / In Qualität sich immer gleicht / Und noch einmal so lange reicht, / Als wenn man weiches Kriegswachs nimmt? / Noch nicht? Versuchen Sie’s bestimmt!“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 102 v. 18. April, 12) In solchen lyrischen Ergüssen wurden männliche und weibliche Perspektiven eingenommen, die Friedensqualität hervorgehoben, die leichte Anwendung, der Beitrag des Bohnerwachses zu einem schönen Heim, zu einer sparsamen Haushaltsführung: „Wichsmädel ist die Bohnermasse, / die Friedensware erster Klasse. / Sehr leicht gib damit jeder / Linoleum und Leder, / Parkett und Möbeln Eleganz / Und lang anhaltend hohen Glanz. / Wer nun meint gescheit zu sein, / Kauft Wichsmädel-Wachs nur ein!“ (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 179 v. 4. Mai, 5)

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Deutsche Werbelyrik – bar jeder Kunst (Hamborner Volks-Zeitung 1922, Nr. 138 v. 21. Mai, 5 (l.); Kölnische Zeitung 1923, Nr. 302 v. 1. Mai, 7)

Obwohl diese Gedichte ungelenk und teils unfreiwillig komisch wirken, obwohl sie bar jedes Gefühls für die Möglichkeiten deutscher Sprache waren und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Erguss professioneller Werbetexter, wurden derartige Gedichte doch bis zur Weltwirtschaftskrise geschaltet, vielfach auch als Teil größere Anzeigen (Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 107 v. 7. Mai, 2; Mittelbadischer Courier 1928, Nr. 108 v. 8. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 79 v. 3. April, 5). Aus Sicht der Produzenten und Händler müssen sie also wirkmächtig gewesen sein.

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Werbung um die solventeren Kreise (Erzgebirgischer Volksfreund 1921, Nr. 131 v. 8. Juni, 3)

Fünftens kennzeichnete die Markeinführung schließlich eine doppelte Qualitätsorientierung. Einerseits verwiesen die Anzeigen vielfach auf die „besseren“ Hausfrauen und die „besseren“ Geschäfte. Die Kundinnen wurden in einfachen Textanzeigen entsprechend adressiert, die „gnädige Frau“ war auch zu Beginn der Weimarer Republik noch Zielpublikum (Leipziger Tageblatt 1921, Nr. 155 v. 1. April, 3; Badische Presse 1921, Nr. 161 v. 8. April, 3; Hamburger Nachrichten 1921, Nr. 247 v. 31. Mai, 5). Parallel kommunizierten die Anzeigen ein Qualitätsversprechen, priesen ein überlegenes Produkt „aus edelsten Rohfetten mit gutem Terpentinsalz“ in Vorkriegsqualität. Wichsmädel verwies auf die gute alte Zeit vor dem Weltenbrand, seine Werbung zielte in Zeiten der Mangelversorgung und politischen Unsicherheit auf Haltepunkte im eigenen Heim. Das Bohnerwachs war reine Ölware, hatte einen milden, angenehmen Geruch, verlieh dem Boden Glanz, doch immer noch Griffigkeit. Es schützte Boden und Möbel, frischte auf, war zugleich aber hart, konservierend und sparsam (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10; Gartenlaube 1922, Nr. 41 v. 12. Oktober, s.p.). Das klang wie ein Wunschzettel des verarmten und verarmenden Mittelstandes.

Weitet man den Blick über die Einzelanzeigen hinaus, fällt neben der im Vergleich zur Konkurrenz recht hohen Zahl von Annoncen deren saisonale Verteilung auf. Wichsmädel-Werbung begleitete die Kunden zwar durch das Jahr, doch die meisten Anzeigen finden sich zwischen März und Mai, also zu Zeiten des Frühjahrsputzes bzw. eines umfassenderen Hausputzes. Zugleich handelte es sich bei den Anzeigen der ersten Jahre um eine überraschend einseitige Flankierung des lokalen Verkaufs durch Werbemaßnahmen des Produzenten. Während bei vielen anderen Konsumgütern die Händler aktiv und an die lokalen Besonderheiten angepasst Werbung schalteten, dabei Klischees nutzen und variierten, fehlten solche dezentralen Bemühungen. Die Werbung für Wichsmädel wurde von Dresden aus bestimmt, dazu ergänzende Werbemittel geliefert, etwa Kassenblöcke mit Wichsmädel-Signet, Postkarten mit Eindrucken, selbst Rationierungskarten (s. die einschlägige Facebookseite resp. die Facebookseite von Christian Grobie Menz, der auch die Markenrechte von Wichsmädel besitzt).

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Abebbende Qualitätswerbung vor dem Werbestopp 1923/24 (Berliner Tageblatt 1923, Nr. 13 v. 9. Januar, 18)

Neue Facetten, späte Ordnung: Werbung für Wichsmädel nach der Hyperinflation

Die bisherige Analyse der Süringschen Werbung mag zu der Annahme verleiten, dass diese gleichsam nebenher, mit linker Hand betrieben wurde. Dem steht entgegen, dass Wichsmädel schon nach wenigen Jahren ein reichsweit etablierter Markenartikel war (Deutsches Markenartikel-Adressbuch 1932/33, Hamburg 1932, 319). Zudem steht bei der Analyse der Werbung der 1920er Jahre stets die zweite „goldene“ Hälfte des Jahrzehnts im Vordergrund, charakterisiert durch wirtschaftliches Wachstum, neue Visualisierungs- und Markentechniken und eine moderate Amerikanisierung, verkörpert etwa durch auch während der NS-Zeit erfolgreichen Vollagenturen wie Dorland. Doch die Veränderungen sind angemessen zu gewichten. Das mich im „Magazin“ anblickende Dienstmädel verkörpert den Übergangscharakter der Zeit besser als etwa avantgardistische Werbung amerikanischer Automobil- oder Elektrogerätehersteller, wie etwa Chrysler oder Frigidaire.

Wilhelm Süring war ein werbeaffines Unternehmen in einer Branche mit nur begrenzter Publikumswerbung. Die Wichsmädel-Werbung entwickelte sich vor dem Hintergrund steter Werbeanstrengungen auch abseits der Anzeigenwerbung. Wilhelm Süring unterstützte 1921 etwa Reklamewettbewerbe der Leipziger Messe, etablierte dadurch enge Kontakte zum Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1921, Nr. 310 v. 2. Juli, 5). Wichsmädel-Dekorationen zierten die sächsische Hauptstadt während eines umfassenden Schaufensterwettbewerbes von nicht weniger als 142 Drogisten, gewannen dort fünf Preise (Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 461 v. 30. September, 4). Nach der wirtschaftlichen Konsolidierung folgten erfolgreiche Teilnahmen an Geschäftswagenumzügen oder an hauswirtschaftlichen Ausstellungen (A. Dossmann, II. Dresdner Geschäftswagenschau, Seidels Reklame 9, 1925, 307). Dem heutigen Glucksen über Wichsmädelprodukte zum Trotz wurde das Bohnerwachs als modernes Produkt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Frankfurter oder aber Stuttgarter Küche präsentiert, also von Ikonen der damaligen Haushaltsrationalisierung („Der neuzeitliche Haushalt“, Münsterische Anzeiger 1927, Nr. 1073 v. 19. Oktober, 2).

Man kann also von einer Markenpräsentation auf der Höhe der damaligen Zeit ausgehen. Das wurde auch von dritter Seite bestätigt. Das Bohnerwachs war 1930 Teil der Anzeigenkampagne des Bamberger Tageblatts (Seidels Reklame 14, 1930, H. 6, 8). In München gewann er 1931 einen der Anzeigenpreise für gelungene Werbung in den Münchner Neuesten Nachrichten – der damals wichtigsten bayerischen Tageszeitung (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 5). Die Zeitungsredaktion selbst war stolz auf derartige Annoncen, zählte Wichsmädel zu „den wesentlichen Namen, die als Markenartikel in Deutschland überhaupt bekannt sind“ (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 9). Auch aus der Sicht hauswirtschaftlicher Expertinnen gab es Lob und Empfehlungen. Untersuchungen der Leipziger Versuchsstelle für Hauswirtschaft des Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine empfahlen Wichsmädel (wie auch Cirene, Perwachs und die Büdo-Waren) als gutes und erprobtes Produkt, klar besser als billige Hausiererware (Wittener Tageblatt 1931, Nr. 222 v. 22. September, 3).

In diesen Hintergrund ist die Wichselmädel-Werbung der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einzuordnen. Auch nach der Hyperinflation blieb das Warenzeichen der knieenden bohnernden Frau das zentrale Werbeelement. Doch nun wurde es über mehrere Jahre mit zahlreichen Bild- und Textelementen ergänzt und variiert. Dies ermöglichte auf verschiedene Zielgruppen einzugehen. Von einem organischen Wandel hin zu neuen Standards kann man nicht reden, vielmehr von vielfältigen, eher unkoordinierten Einzelmaßnahmen, in denen jeweils bestimmte werbliche Elemente hervorgehoben wurden. Die bohnernde Frau kniete zwar weiterhin, wurde aber in die Welt aufrecht agierender Frauen überführt.

Erstens warben die Wichsmädel-Werke ab 1924 in zahlreichen vorher nicht bedachten Zeitschriften, insbesondere in den neuartigen Magazinen nach meist amerikanischem Vorbild. Während altbekannte Karikaturzeitschriften noch mit eher traditioneller Werbung bestückt wurden, erforderten die neuen, durch ganzseitige Fotos geprägten Magazine neue Werbemotive, um aufzufallen.

26_Fliegende Blätter_161_1924_p583_K.E.-Magazin_1_1925_Nr02_p127_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmädel_Dienstmaedchen

Neues Werbeumfeld Karikaturzeitschriften bzw. Magazine (Fliegende Blätter 161, 1924, 583 (l.); K.E.-Magazin 1, 1925, Nr. 2, 127)

In den Anzeigen finden sich Warenzeichen, Grafiken und Texte zu einem neuen Ganzen verbunden. Das mich anfangs irritierende Dienstmädchenmodell präsentierte eben nicht nur die Blechdose, sondern lobte auch die Qualität des Bohnerwachses, appellierte an ihre das Magazin lesende gnädige Frau, „verlangen Sie aber ausdrücklich Wichsmädel!“ (Uhu 1, 1924/25, Nr. 8, XIII). Diese Vorteile wurden in anderen Anzeigen offensiv propagiert, der wachsende Marktdruck führte zu einer klareren und nachvollziehbareren Argumentation, die auch Hilfe für die Drogisten war.

27_Uhu_01_1924-25_Nr07_pXIII_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Argumente für den Kauf von Wichsmädel (Uhu 1, 1924/25, Nr. 7, XIII)

Es blieb jedoch bei Einzelmotiven. Das zeigt sich etwa an einer Werbegrafik von Paul Simmel (1887-1933), einem der bekanntesten deutschen Illustratoren und Karikaturisten, der auch andere Markenartikel propagierte, etwa Maizena oder Kukirol-Hühneraugenpflaster. Sein Blick in die Drogerie gibt einen Eindruck der verschiedenen Dosen und der Werbung im Inneren eines Ladens. Aber dies war nicht der Beginn einer größeren Kampagne, sondern blieb Einzelstück.

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Paul Simmel als Wichsmädel-Propagandist (Das Magazin 1, 1924/25, Nr. 9, 109)

Daneben lassen sich Mitte der 1920er Jahre zweitens eine Reihe von Anzeigen finden, in denen Bildelemente, Werbetexte und Warenzeichen in werbetechnisch professioneller Art verbunden wurden. Nach der erfolgreichen Markteinführung investierte Wilhelm Süring offenbar gezielt in neue Werbemotive. Die folgende Anzeige stammt beispielsweise vom Dresdener Reklameatelier Hannemann (Das Plakat 11, 1920, H. 7, XI; ebd. H. 11, VI).

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Zwischen Hausfrau und Dienstmädel (Weißeritz-Zeitung 1925, Nr. 292 v. 17. Dezember, 4)

Die Heterogenität der Wichselmädel-Werbung deutet allerdings auf Auftragsvergaben an unterschiedliche Graphiker sowie wohl auch an unterschiedliche Werbeagenturen. In diesen Motiven fand sich war die bohnernde Frau immer wieder, doch die Hauptfiguren, die Hausfrau und auch die Dienstmädchen, standen nun aufrecht, entsprachen den sich langsam emanzipierenden Frauen dieser Zeit.

30_Dresdner Nachrichten_1926_06_14_Nr275_p15_Badische Presse_1929_05_03_Nr204_p09_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Hausfrau_Dienstmaedchen

Qualitätsdiskurs und Warengespräch (Dresdner Nachrichten 1926, Nr. 275 v. 14. Juni, 15 (l.); Badische Presse 1929, Nr. 204 v. 3. Mai, 9)

Die unterschiedlichen Motive unterstrichen zugleich die zunehmende Abkehr von Dienstmädchen und den wachsenden Zwang auch vieler bürgerlicher Frauen ihr Heim selbst zu putzen. Gleichzeitig wurde das Ideal der Hausgehilfin hochgehalten, dabei zugleich auf das Produkt übertragen.

Aufrecht stehende Dienstmädchen präsentieren Wichsmädel (Hörder Volksblatt 1926, Nr. 217 v. 16. September, 4 (l.); Berliner Tageblatt 1926, Nr. 421 v. 6. September, 10)

Drittens wurden Mitte der 1920er Jahre die Verkaufsstätten Teil der Produktwerbung. Namen und Adressen der Drogerien fanden sich nun in den Anzeigen, gaben den Käufern klare Anlaufstellen, beugten Enttäuschungen vor, wenn Wichsmädel eben nicht in „allen“ Drogerien erhältlich war. Dabei handelt es sich aber nicht um dezentral geschaltete Anzeigen, denn diese Motive erschienen reichsweit zu den gleichen Terminen.

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Klischeeverwendung zur Stärkung des lokalen Absatzes (Badische Presse 1926, Nr. 451 v. 30. September, 9)

Diesen kleineren Anzeigen waren durch kräftige Schwärzung markant, koppelten Warenzeichen, Werbetext und Adressen, variierten diese Motive jedoch vielfältig. Die Nennung der Festpreise war wichtig, unterstrich die Verlässlichkeit des Markenartikels.

33_Badische Presse_1927_03_31_Nr152_p14_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Drogerie

Anderes Klischee, gleiche Verkäufer (Badische Presse 1927, Nr. 152 v. 31. März, 14)

Dennoch gelang es den Wichsmädelwerken nicht, eine einheitliche Werbesprache abseits des Warenzeichens zu etablieren. Modernere und jüngere Frauenbilder wurden ergänzt, sollten der Marke ein zeitgemäßeres Image verleihen, vor allem aber auch jüngere Hausfrauen ansprechen. Ob diese Wendung gegen die typische Alterung fast jeder Marke gelungen ist, ist unklar.

Die kokette Tochter wirbt für Wichsmädel in lokalen Drogerien (Generalanzeiger für Bonn und Umgebung 1926 v. 12660 v. 29. Oktober, 21)

Unterentwickelt: Lokale Werbung für Wichsmädel

Im Vergleich mit anderen Konsumgütern, etwa den frühen Backpulvern, den in Drogerien und Apotheken vertriebenen cannabishaltigen Asthmazigaretten oder Massenartikeln wie dem Eierkonservierungsmittel Garantol blieb die lokale Werbung der Drogisten unterentwickelt (Ausnahme Hörder Volksblatt 1922, Nr. 40 v. 16. Februar, 3). Sie verließen sich großenteils auf die vor allem gegen Mitte und Ende der 1920er Jahre breit gestreuten Werbevorlagen und Anzeigenkampagnen der Dresdener Wichsmädelwerke. Vor Ort, in den noch so zahlreichen kleinen, lokalen Blättern, warben lokale Anbieter erstens zu Zeiten, in denen der Werbeelan des Herstellers erlahmte, namentlich während der Inflationszeit.

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Dezentrale Werbung durch Drogeristen (Bramstedter Nachrichten 1923, Nr. 5208 v. 4. April, 4)

Zweitens integrierten Drogisten Wichsmädel vornehmlich bei saisonalen Anzeigen, zumeist beim Hausputz im Frühjahr. Einzelne Annoncen gab es, doch sie blieben seltene Ausnahmen.

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Werbung vor Ort durch eine lokale Drogerie (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 223 v. 23. September, 4 (l.); Godesberger Volkszeitung 1926, Nr. 46 v. 25. Februar, 4)

Drittens nutzen lokale Anbieter Wichsmädel, um den Bohnerwachs als Teil einer breiten, ja umfassenden Angebotspalette des eigenen Geschäftes zu präsentieren. Der Markenartikel diente dabei als Ensembleteil, im Mittelpunkt stand jedoch die Auswahl des Ladens. Die Einzelangebote dürften davon profitiert haben, doch im Sinne des Herstellers war die parallele Werbung für Konkurrenzprodukt nicht ideal.

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Bohnerwachs Wichsmädel als Teil der gängigen Angebotspalette für Fußbodenpflege (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 285 v. 4. Dezember, 5 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 121 v. 25. März, Landwirtschaftl. Beil., 6; ebd. 1928, Nr. 117 v. 19. Mai, Unterhaltungsbeil., 8 (r.))

Konsolidierte Marktstellung und langsames Verschwinden

Der Bohnerwachs Wichsmädel dürfte aufgrund seiner intensivierten und vielfältigeren Werbung seine Marktstellung bis in die späten 1920er Jahre gehoben haben. Doch dies ist eine begründete Annahme, keine sichere Quintessenz. Das gilt auch für die Annahme, dass die Marktstellung seit den späten 1920er Jahren tendenziell sank; auch wenn das Produkt bis weit in die DDR-Zeit weiter produziert wurde. Fünf Entwicklungen sind hervorzuheben.

Erstens wurde das Produkt selbst moderat modernisiert. Schon die Anzeigen verwiesen darauf, nannten sie doch mal französisches, später dann amerikanisches Terpentinöl als wichtiges, wohlriechendes Lösemittel. Die Reintegration des Deutschen Reiches in die globale Wirtschaft dürfte dann jedoch weitere Auswirkungen gehabt haben, denn damals nutzte man zunehmend billigere und teils mit anderen Verfahrenstechniken hergestellte Lösungsmittel. Ebenso nahm die Zahl preiswerter Importwachse zu (B. Edburg, Bohnermasse, bzw. Bohnerwachs, Drogisten-Zeitung 40, 1925, 344-347).

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Ein neuer flüssiger Bohnerwachs mit einer aufrechten Hausfrau © Christian Grobie Menz, Wichsmädel | Facebook

Wichsmädel dürfte davon betroffen gewesen sein, entweder durch den Einsatz entsprechender Rohware, sicher aber durch günstigere Angebote der Konkurrenz. Dass man in Dresden nicht beim Alten verharrte zeigte sich 1926, als die Wichsmädelwerke unter gleichem Namen einen flüssigen Bohnerwachs einführten, der von einer nun aufrecht stehenden Frau genutzt wurde. Das war eine Reminiszenz an die wachsende Zahl einfacher zu pflegender Stein- und Linoleumfußböden.

Die Preise blieben nach der Währungskonsolidierung erwartbar stabil, auch wenn man 1926 die anfangs gültigen Preise für die gängige ¼ Dose von 75 auf 85 Pfennig erhöhte. Während der Weltwirtschaftskrise reduzierte man den Preis erst sehr spät. Ab April 1931 wurde er auf 70 Pfennig gesenkt (Dortmunder Zeitung 1931, Nr. 154 v. 1. April, 15), wobei einzelne Drogerien weiter zu alten Preisen verkauften (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1931, Nr. 157 v. 15. Juni, 10). Eine weitere Preisreduktion auf 63 Pfennig erfolgte im März 1932; abermals zogen nicht alle Verkäufer mit – im klaren Gegensatz zu verbindlichen Regeln der Preisbindung (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1932, Nr. 148 v. 3. Juni, 10). Als gewisse Kompensation boten die Wichsmädelwerke spätestens seit 1930 Wertmarken an, also Zugaben, die während der NS-Zeit dann untersagt wurden (Solinger Tageblatt 1932, Nr. 65 v. 17. März, 11). Dies spiegelt den damals üblichen Preisdruck in der Abwärtsspirale der Deflationspolitik.

Zweitens intensivierte sich in dem späten 1920er Jahren die redaktionelle Textwerbung, also das Schalten von thematischen Kurztexten, um bestimmte Eigenschaften von Wichsmädel hervorzuheben. Diese begannen schon nach der Hyperinflation, die gefetteten Überschriften lauteten etwa: „Hausfrauen! Pflegt den Fußboden!“ oder „Hausfrauen! Der Geldbeutel merkt’s!“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1924, Nr. 424/5 v. 2. Oktober, 5; Castroper Zeitung 1925, Nr. 293 v. 17. Dezember, 6). Bemerkenswert war nicht nur die relative Abkehr von der gnädigen Frau, sondern auch der Kampagnencharakter derartiger Anzeigen. Die „kluge Hausfrau“ (Vorwärts 1926, Nr. 460 v. 30. September, 8) wurde beschworen, die „billige und minderwertige Wachse“ (Frankenberger Tageblatt 1926, Nr. 220 v. 1. Oktober, 3) zurückweisen würde, denn „Billig gekauft ist schlecht gekauft“ (Deutsche Allgemeine Zeitung 1927, Nr. 151 v. 31. März, 5).

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Transfer vom Dienstmädchen auf das Bohnerwachsprodukt (Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 126 v. 1. Juni, 4)

Die höhere Qualität wurde immer wieder beschworen, auch von unabhängigen Ratgebern geteilt (Die Umschau 33, 1929, 100). Wichtiger aber war einerseits der Einbezug des Urteils der Hausfrau, das durch den immer wieder betonten angenehmen Geruch des Terpentins sinnennah propagiert wurde (Frankenberger Tageblatt 1927, Nr. 77 v. 1. April, 7; Flörsheimer Zeitung 1929, Nr. 68 v. 13. Juni, 2; Bonner Zeitung 1929, Nr. 331 v. 5. Dezember, 10; Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 230 v. 17. Mai, 5). Andererseits schufen die Textanzeigen die Imagination des Produktes als Helfers im Alltag und beim „Großreinemachen“ (Badische Presse 1927, Nr. 245 v. 28. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 71 v. 23. März, 3), wurde das Dienstmädchen also zunehmend ersetzt. Textanzeigen waren flexibel, schufen neue Bezüge, präsentierten Wichsmädel als Vorreiter zukünftiger Arbeitserleichterung, banden auch das einkaufende Fritzchen in die Werbewelt mit ein (Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 58 v. 9. März, 4; Vorwärts 1930, Nr. 212 v. 8. Mai, 11).

Drittens nahmen die Wichsmädelwerke seit 1928 Abstand von bebilderten Anzeigen. Sie vertrauten auf Schlagzeilen, kurze Texte und dem weiterhin verwandten Warenzeichen. Der stets ähnliche und schon zuvor angelegte Aufbau – oben eine fette Schlagzeile, rechts die kniende Frau – bewirkte Aufmerksamkeit durch direkte Ansprache, lenkte dann auf die schon zuvor erwähnten Themen.

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Die imaginären Frauen Hausmann und Neumann (Dresdner Nachrichten 1928, Nr. 564 v. 30. November, 5 (l.); Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 57 v. 8. März, 4)

Hier war die ordnende Hand von Werbeprofis erkennbar, zumal derartige Anzeigen reichsweit parallel geschaltet wurden (Hausmann etwa auch in Riesaer Tageblatt 1928, Nr. 279 v. 30. November, 16; Badische Presse 1928, Nr. 562 v. 30. November, 4). Allerdings spiegelten auch diese Motive den wachsenden Preisdruck, denn die mit einem höheren Preis verbundene höhere Qualität des Wichsmädels musste immer wieder hervorgehoben werden.

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Sparsamkeit dank Qualität (Annener Zeitung 1928, Nr. 132 v. 1. November, 5; Dresdner Nachrichten 1929, Nr. 136 v. 21. März, 15)

Derartigen Anzeigen wurde schließlich durch variable Schrifttypen und durch immer wieder veränderte Texte eine gewisse Dynamik verliehen.

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Feste Struktur mit variablen Elementen (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13085 v. 30. März, 3 (l.); Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 6)

Viertens war man sich der geringeren werblichen Kraft derartiger Anzeigen offenbar bewusst – und beantwortete sie mir der parallelen Schaltung unterschiedlicher Anzeigen. Zum einen redaktionelle Textanzeigen oder aber ein Werbegedicht, zum anderen eine der typischen schwarz unterlegten Anzeigen mit der knienden Frau, wie sie schon Mitte der 1920er Jahre verwandt wurde (Annener Zeitung 1927, Nr. 65 v. 2. Juni, 2; Rheinisches Volksblatt 1928, Nr. 105 v. 3. Mai, 6; ebd. 1929, Nr. 57 v. 8. März, 3: Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 4).

Fünftens endete 1930 die stete Innovation der Wichsmädel-Werbung. Das mag mit anderen Schwerpunkten in der Produktpalette von Wilhelm Süring zu tun gehabt haben, denn die Automobilbranche bot mit Poliermitteln und Autolacken neue Geschäftsfelder (Das Süring-Spritz-Lackierverfahren für Automobile, Dresden s.a. [1929]). Zugleich muss man aber von einem relativ gefestigten Absatz für Bohnerwachs ausgehen, der durch intensivierte Werbung nicht mehr wesentlich beeinflusst werden konnte. In diesem Fall war es einfacher, die bestehenden Motive als Erinnerung zu wiederholen und mit abnehmenden, aber immer noch gewinnträchtigen Umsätzen zu leben. Parallel nahm die absolut geschaltete Zahl von Anzeigen seit 1930 beträchtlich ab.

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Letzte Variationen des Grundmotivs (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13100 v. 19. April, 3; Wittener Tageblatt 1928, Nr. 104 v. 3. Mai, 4)

Entsprechend verwundert es nicht, dass Wichsmädel Bohnerwachs während der NS-Zeit mit zuvor entwickelten Formen und Themen beworben wurde. Die mit dem Fettplan 1933 einsetzende Bewirtschaftung vieler Rohstoffe und die Verteuerung von Importen durch schon zuvor massiv erhöhte Außenzölle führten dazu, dass Markterfolge nur durch Qualitätsänderungen und/oder Kämpfen um die Rohmaterialien möglich gewesen wären. Einfacher war gewiss, das ohne Anstrengung mögliche Bohnern mit Wichsmädel zu beschwören (Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12).

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Kontinuität während der NS-Zeit (Badische Presse 1938, Nr. 103 v. 14. April, 8; Schwerter Zeitung 1939, Nr. 65 v. 17. März, 12)

Wichsmädel blieb auch während der NS-Zeit eine führende Bohnerwachsmarke, deren Warenzeichen man nicht nur in Tageszeitungen und Drogerien, sondern auch in Adressbüchern und Telefonverzeichnissen finden konnte.

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Alltagspräsenz von Wichsmädel (Amtliches Fernsprechbuch für den Bezirk der Reichspostdirektion Leipzig 1938/39, Branchen, 37; Amtliches Fernsprechbuch für Berlin 1941, T. 2, 250)

Bei Süring trat mit Ernst Wilhelm Süring im 1939 ein weiterer Stammhalter als Prokurist in das Geschäft ein (Dresdner Nachrichten 1939, Nr. 359 v. 3. August, 5), die Hundertjahresfeier wurde nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion ruhig begangen (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1941, Nr. 181 v. 5. August, 3). Unter sowjetischer Besatzung, auch während der DDR-Zeit konnte sich Wilhelm Süring lange als Familienbetrieb behaupten, wurde erst 1972 verstaatlicht. Als VEB Lackfabrik Dresden wurde er dann Teil des Dresdner Kombinats Elaskon, dessen Nachfolger bis heute Schmierstoffe produziert.

Abschied von Wichsmädel

Der globale Markt für Haushaltsreiniger beträgt gegenwärtig knapp 41 Mrd. € und wird in Zukunft wohl weiter wachsen (Statistica.com). Multinationale Konzerne wie Proctor & Gamble, Unilever und Henkel prägen und bestimmen ihn – in enger Kooperation mit den führenden Handelskonzernen. Wichsmädel Bohnerwachs war ein frühes Produkt dieser insbesondere im Felde der Konsumgeschichte unterschätzten Branche. Über die Großkonzerne wissen wir einiges, wenig aber über die Vorgeschichte der heutigen oligopolistischen Märkte. Am Ende dieses kleinen, durch eine eigenartige Anzeige in einem Magazin der 1920er Jahre angeregten Beitrages, will ich deshalb mit Seitenblicken auf das Marktsegment enden, erklärt dies doch auch die abnehmende Bedeutung des Dresdner Bohnerwachses Wichsmädel.

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Wachsende Zahl von Konkurrenzprodukten (Warenzeichenblatt 31, 1924, 597 (l.); ebd., 766)

Bereits seit den frühen 1920er Jahren nahm die Zahl der Wettbewerber deutlich zu. Angesichts eines sich reetablierenden Marktes und der Abkehr von Wohnungen mit Lehm- oder Holzboden wuchs der Markt für Reinigungsmittel in der Zwischenkriegszeit deutlich an – und schuf angesichts der langen Nutzungsdauern von Wohnungen (und Fußböden) damit zugleich die Voraussetzungen für weitere Absatzsteigerungen von Bohnerwachs bis in die 1960er Jahre. Der vermehrte Wettbewerb prägte jedoch bereits das Marktumfeld von Wichsmädel in den 1920er und 1930 Jahren. Die Zahl lokaler Angebote von Drogerien nahm ab, die der Markenartikel zu. Sie hatten vermehrt einnehmende Warenzeichen, wie etwa der mit Welpen beworbene Bohnerwachs „Drilling“ oder der an die Legende von den Heinzelmännchen erinnernde „Gnom“ Bohnerwachs (Die Woche 24, 1922, Nr. 10 v. 11. März, III).

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Modernere Werbeansprachen (Westdeutsche Landeszeitung 1927, Nr. 89 v. 31. März, 8 (l.); Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12)

Die Werbung für Bohnerwachs wurde modernisiert, etwa durch Einsatz von gezeichneten Werbefiguren wie dem Raben der Loba-Beize oder aber die modernen Schrifttypen der „Gefest“-Reklame der dann von Henkel übernommenen Thompson-Werke. Henkel dominierte den Markt der Wasch- und Reinigungsmittel jedoch nicht nur ökonomisch und technologisch. Der Düsseldorfer Konzern prägte auch neue Werbebilder und Konsumnarrative, die das Bild der Hausfrauen und des Putzens deutlich veränderten.

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Kniend, doch adrett: Die moderne VIM-Hausfrau (Volksstimme 40, 1929, Nr. 68, 13 (l.); Der oberschlesische Wanderer 1929, Nr. 103 v. 3. Mai, 7)

Bohnerwachs verblieb im Schlagschatten derartiger Veränderungen. Preiswertere Produkte wie Wachseifen gewannen Marktanteile, doch Wachslösungen in Terpentin oder anderen nichtpflanzlichen Lösungsmitteln blieben dominant (Gustav A. Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, Bd. 2, 11. neubearb. Aufl., hg. v. Georg Ottersbach, Berlin 1933, 416). Zahlreiche Marken bestanden parallel, meist mit regionalen Schwerpunkten. Die Preisbindung ermöglichte überdurchschnittliche Gewinne, die langsame Aufteilung des Marktes zwischen Drogerien und vermehrt auch Lebensmittelhändlern milderte wirtschaftliche Kämpfe zwischen den Anbietern. Nationale Markenprodukte bestanden, neben Wichsmädel sei an Cirene, Sigella, Cefka oder Tunix erinnert (Marktüberblick bei Klockhaus, 1934, BV 46). Doch ihre Werbung konnte mit der Henkels weder in der Quantität noch in der werblichen Vielfalt konkurrieren. Sie blieb sekundär, unterschied sich strukturell kaum von der für Wichsmädel (vgl. für Globella Fliegende Blätter 163, 1925, Nr. 4170, II).

Bohnerwachs war ein stetig präsentes Reinigungsmittel, unambitiös, Beiklang zu einem Leben, in dem Putzen Alltagsfron blieb, doch keine Alltagspräsenz hatte. Das traf sich mit den Zielsetzungen der Haushaltsrationalisierung: „Der Ablauf des täglichen Lebens soll reibungslos erfolgen, ohne daß wir Hausfrauen, die wir uns Hilfskräfte nur noch in bescheidenstem Maße leisten können, in einem Springen und Rennen bleiben, in ewigem Staubwischen und Reinemachen, in ständigem Suchen und Hervorzerren nach verräumten oder ungünstig untergebrachten Gebrauchsgegenständen. Um das zu erreichen, brauchen wir Häuser und Wohnungen, bei deren Bau und Einrichtung von vorherein daran gedacht wird, daß hier Menschen täglich essen, schlafen, sich erholen – und daß wir Frauen hier arbeiten wollen, um das Essen, Schlafen und Sich-Erholen einer Anzahl von Menschen täglich von neuem zu ermöglichen“ (Erna Meyer, So wollen wir wohnen, Scherl’s Magazin 7, 1931, 466-470, 480).

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Abkehr vom knienden Putzen (Berliner Tageblatt 1928, Nr. 447 v. 22. September, 11)

Boden- und Oberflächenpflege mutierten zu einem wichtigen Feld der Haushaltstechnisierung – obwohl der eigentliche Durchbruch erst ab Mitte der 1950er Jahre erfolgte, als neue Reinigungsmittel und Kunststoffe das Bohnern und den Einsatz der Bohnermaschinen zunehmend begrenzten. Mitte der 1920er Jahre war das noch anders, der Odem der Arbeitserleichterung beflügelte auch den maschinellen Einsatz von Bohnerwachs. Die Maschinen waren vielfach noch nicht ausgereift, noch war nicht klar, ob die Walzen parallel oder senkrecht zum Boden stehen sollten, ob Staubsauger und Bohnermaschinen zu koppeln waren, ob rotierende Drehköpfe oder einfache Walzenapparate sinnvoller seien (Mangold, Reinigungstechnik im Hause, Die Umschau 32, 1928, 403-405, 407, hier 405, 407). Allen Geräten gemein war – neben ihrem relativ hohen Preis –, dass sie der Arbeitserleichterung dienten, dass sie versprachen, das kniende Putzen zu beenden: Ziel war die aufrechte Frau – femina erecta! Die neuen Maschinen erlaubten Bohnern im Stehen, das weiterhin erforderliche Nachputzen wurde als einfach zu bewältigende Bagatelle verniedlicht.

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Die Suggestion der kinderleichten Hausarbeit: Eine Blockermaschine und der Protos-Bohnerapparat (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 22, IX (l.); ebd. 5, 1927, 413)

Hausarbeit wurde so – zumindest in der Werbung – zu dem Vergnügen, das auch schon in Wichsmädel-Werbung anklang. Nicht umsonst hieß eines der frühen Erfolgsmodelle „Hobby“ (Zeitbilder 1929, Nr. 4 v. 27. Januar, 8). Doch die Werbewelt dieser Bohnermaschinen war noch verhalten und ernst, vergleicht man sie mit den beschwingten Bildern der Wirtschaftswunderzeit.

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Fröhliche Hausfrauen, neue Verpackungen, alter Dreck (Frankfurter Illustrierte 1958, Nr. 36, 21 (l.); Hamburger Abendblatt 1960, Nr. 83 v. 7. April, 22)

Mit diesen wahrhaft aufrechten Frauen möchte ich mich verabschieden. Diese Frauen hatten sich vom Boden erhoben, tanzten spielerisch durch ihre Wohnung, bohnerten scheinbar mühelos im Handumdrehen. Nichts erinnerte mehr an die Alltagsfron des Wichsmädels, an die abhängige Lage eines Dienstmädchens. Die Irritation des Namens war gewichen, die Welt erschien glatt, gefällig und glänzend. Einzig der Dreck, der blieb und kam immer wieder. Und wir müssen uns ihm stellen, ob aufrecht oder auf den Knien.

Uwe Spiekermann, 3. Februar 2023

Heinzelmännchen in der Küche – Geschichte einer Kochkiste

Wer kennt sie nicht, die Heinzelmännchen? Diese freundlichen Hausgeister stehen in einer langen, bis in die Antike zurückreichenden Tradition. In deutschen Landen wurden sie aber erst durch den Berliner Maler und Schriftsteller August Kopisch (1799-1853) populär – und zugleich nach Köln verfrachtet (Gedichte, Berlin 1836, 98-102). Die Heinzelmännchen kamen des Nachts, vollbrachten der Menschen Tagwerk. Sie zimmerten, buken Brot, schlachteten und verwursteten Schweine, schönten den Wein, übernahmen die Schneiderarbeiten; kurzum, sie sorgen sich um die wichtigsten Konsumgüter dieser Zeit. Und man sah allein ihre Werke, nicht sie selbst. Doch dann kam des Schneiders neugieriges Weib, wollte die Heinzelmännchen sehen, sie necken. Sie streute Erbsen auf die Treppen ihres Hauses, die freundlichen Helfer kamen, doch sie stolperten, stürzten, fluchten, verschwanden – und kamen ob dieses Undankes nie wieder: „O weh nun sind sie alle fort / Und keines ist mehr hier am Ort! / Man kann nicht mehr wie sonsten ruh’n / Man muß nun Alles selber thun!“ (Kopisch, 1836, 101)

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Eine populäre Geschichte – nicht nur für Kinder (Illustrierte Welt 18, 1870, 24)

Kopischs Gedicht hatte beträchtlichen Erfolg, wurde ein fester Bestandteil der Kinderliteratur, fand Eingang in Schule und Theologie. Die Heinzelmännchengeschichte wurde vertont, Teil der Kunstmusik des Biedermeiers, eroberte in immer neuen Fassungen den Chorgesang, Konzertsäle und Bühnen, fand gleichermaßen Beifall bei Kindern und gesetzten Bürgern. Anders ausgedrückt: Die Heinzelmännchen wurden ein Konsumgut, mit ihnen wurden Märkte geschaffen, Verlage befördert, Musikalienhandlungen, Musiker und Sänger. Es gab weitere wachstumsfördernde Koppeleffekte, beispielsweise wurde Zwergwuchs marktgängig, Liliputaner Teil des Schaugeschäftes. Und schließlich nährten die kleinen Helfer auch Wissenschaftler, zumal Germanisten und Volkskundler, die Forschungen anstellten, eine frohe Erbsenzählerei auch abseits der angewandten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Ute Dettmar, Arbeit im Mythos. Heinzelmännchen-Figurationen in Märchen und Medien, in: Caroline Roeder und Christine Lötscher (Hg.), Das ganze Leben. Repräsentationen von Arbeit in Texten über Kindheit und Jugend, Berlin und Heidelberg 2022, 81-96; Werner Schäfke und Beatrix Alexander (Hg.), Heinzelmännchen. Beiträge zu einer Kölner Sage, Köln 2011; Marianne Rumpf, Wie war zu Cölln es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem, Fabula 17, 1976, 45-76; Lutz Mackensen, Heinzelmännchen (Name, Wesen, Herkunft), Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 2, 1924, 158-173).

Bei diesem emsigen und kaum beachteten Treiben fehlen wichtige Aspekte. Die Heinzelmännchen stehen eben nicht nur für eine wohlige Legende über den Zwang zur Arbeit, sind mehr als eine Mahnung angesichts gängigen Undanks. Die Heinzelmännchen markierten und symbolisierten eine Zeitenwende, eine wirkliche. Die idealisierte Welt der alten Stadt endete, das selbst begrenzte Handwerkshandeln wich langsam der Industrie und dem dynamischeren Handel. Die Gemächlichkeit der alten Zeit wurde zunehmend verdrängt durch eine neue Arbeitsethik, nicht nur der protestantischen. Das lässt sich an drei Beispielen einfach aufzeigen: Erstens der Schattenwelt der angewandten Naturwissenschaften, zweitens der Technisierung von Produktion und Haushalt sowie drittens dem Aufkommen neuer Bequemlichkeitsprodukte, propagiert als Helfer der Hausfrau.

Die seit den 1840er Jahre beschleunigte Erkundung der organischen Materie ergab ein bisher nur erahntes Binnenreich der Stoffe und stofflicher Reaktionen. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis diese in Ansätzen erforscht waren. Parallel begann die Erkundung der Kleinwelten der Bakterien, die mit dem Menschen eng verbunden waren, den Darm bevölkerten, der Verdauung halfen, doch auch Krankheiten verursachen konnten. Ähnliches galt für Pilze, insbesondere die zum Backen unabdingbare Hefe. Neue Industrien bauten auf diesen Erkenntnissen auf, die Bierbrauerei, die Brennerei, die Konservierung von Gurken. Dadurch entwickelte sich ein neues Verhältnis zur Natur, die nicht mehr vorrangig als Bedrohung, sondern zunehmend auch als Helfer verstanden wurde. Dankbar hieß es: „Die Heinzelmännchen der Gährungsgewerbe sind die Hefenpilze, welche für uns die Spaltung des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure besorgen, für eine zahlreiche Nachkommenschaft thätig sind, damit wir Preßhefe verkaufen können, und ihr Geschäft in staunenswerther Großartigkeit betreiben, wenn auch die Arbeitsleistung jedes Einzelnen nur eine sehr winzige ist“ (Unsere Heinzelmännchen, Brennerei-Zeitung 10, 1893, 1194). Ähnliches galt für neu entdeckte Stoffgruppen, wie etwa die Fermente resp. Enzyme, die Heinzelmännchen gleich die chemischen Stoffe aufspalteten, so wie einst in Köln die holzspaltenden Gnome (Bayerisches Brauer-Journal 22, 1912, 200). Wissenschaft erkundete die materielle Welt, machte sie nachvollziehbar und gestaltbar. Doch dazu bediente man sich weiterhin eines mythischen und mythologischen Überbaus. Die Heinzelmännchen waren eine Metapher für ablaufende Hintergrundprozesse, imaginierten eine Natur voller nützlicher Helfer. Gleich den nicht arbeitenden Lilien auf dem Felde wurde menschliches Leben von unsichtbaren Kräften und Abläufen bestimmt. Wissenschaftliche Forschung, sich ihres Stückwerkcharakters bewusst, mochte Gott nicht mehr beschwören, nutzte aber Zwischenfiguren wie die Heinzelmännchen. Das galt selbst für die belebte Natur, mutierten doch etwa die heute wieder zu Recht geschätzten Bienen zu Heinzelmännchen des Landmanns (Ferdinand Gerstung, Immenleben – Imkerlust, Bremen 1890, 5).

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Heinzelmännchen helfen der erschöpften Hausfrau nähen (Über Land und Meer 103, 1910, 34)

Auch die für das Maschinenzeitalter so zentrale Technik bediente sich analoger Vorstellungen, nutzte diese auch für die Vermarktung. Das galt vor allem für die wichtigste Haushaltsmaschine des 19. Jahrhunderts, für die Nähmaschine. Sie war noch per Fuß und Hand zu betreiben, erforderte stete Aufmerksamkeit und Kraft. Doch sie beschleunigte zugleich die noch mühseligere Näherei zumal im Hause. Die Nähmaschine war ein Helfer, ähnlich wie viele der Haushaltsmaschinen des späten 19. Jahrhunderts, wie Waschmaschinen und Herde, Petroleumkocher und Backöfen. Die Heinzelmännchen erschienen in neuen Formen, „als Scheuerteufelchen, als Backdämonen, sie tanzen zum Surren der rasselnden Nähmaschine und kümmern sich nicht groß um die bunte Blütenpracht, die sich draußen mit jedem werdenden Tage liebreizender entfaltet“ (An der Schwelle des Pfingstfestes, Wendelstein 1912, Nr. 118 v. 25. Mai, 2). Die Technik mochte nicht den Charme der kleinen Gesellen haben, doch die Idee des technisierten Haushalts entsprach immer auch einer Rückkehr zu den guten alten Zeiten: „Was man in Köln einst so geschätzt, / Wird durch die Technik uns ersetzt, / Als Heinzelmännchen dienen / Uns heute die Maschinen!“ (Ernst Heiter, „Moderne Heinzelmännchen!“, Bielefelder Volks-Zeitung 1907, Nr. 213 v. 14. September, 3).

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Heinzelmännchen als Alltagshelfer (Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 34, Beibl. 2, 4)

Seit der Jahrhundertwende wurden derartige Vorstellungen auch auf andere Konsummaschinen verbreitet, drangen Heinzelmännchen dadurch in nicht häusliche Sphären vor: Fahrräder erlaubten geschwinde Fahrten, ermöglichten ohne großen Eigenaufwand den grauen Wohnungen und Städten zu entfliehen. Schreibmaschinen eroberten die Büros und Verwaltungen, mochten private Briefe auch immer noch per Hand geschrieben werden. Die Heinzelmännchenmetapher ergriff gar Infrastrukturbeschreibungen der modernen Stadtmaschinen. Wasser wurde fließend, Heizung schon zentral, die Straßen waren nachts erleuchtet und morgens von Besenmännern gereinigt: „Wie die Heinzelmännchen machen sie sich unverzüglich an die Erledigung ihrer Arbeit, während der müde Bürger behaglich in seinen vier Wänden schlummert“ (Walpurgisnacht in Berlin 1907, Nr. 102 v. 2. Mai, 5). Auch die neue Welt war voller Wunder.

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Convenienceprodukte als Heinzelmännchen – Angebotspalette von Adolf Vogeley (Die Woche 3, 1901, 604)

Und doch, seit den 1890er Jahren wurden auch die Heinzelmännchen zunehmend käuflich, vorausgesetzt, man kaufte die richtigen Waren. Backpulver und Puddingpulver beschleunigten die Küchenarbeit, vermeintlich gelingsicher. Reisstärke half beim Bügeln, Maisstärke beim Verdicken der Saucen, Suppenpräparate erlaubten warme, nährende Speisen. Heinzelmännchen bevölkerten viele einschlägige Werbeanzeigen, wurden von Anbietern wie Maggi auch als Markenzeichen benutzt. Die Heinzelmännchen mochten verschwunden sein, doch moderne Produkte traten ihr Erbe an: „Wer hätte nicht schon tausendmal / Von Heinzelmännchen schon vernommen, / Wie diese Knirpse ohne Zahl / Dem Menschen einst zu Hilf‘ gekommen? / Wie sie, wenn sich die Müden legten, / Allüberall sich tüchtig regten? / Längst sind die Heinzelmännchen fort / Und keines ist mehr hier am Ort, / Doch eh‘ sie giengen [sic!], brauten sie, / Zu mildern der Hausfrau Plag‘ und Müh‘, / Die Wundertropfen, die heut‘ im Land / Als Maggiwürze sind bekannt“ (Bote für Tirol und Vorarlberg 1902, Nr. 1 v. 2. Januar, 5).

Die Kochkiste „Heinzelmännchen“

Die 1905 eingeführte Kochkiste „Heinzelmännchen“ verband diese drei Entwicklungslinien zu einem Angebot: Sie nutzte Grundkenntnisse der Naturwissenschaften, in diesem Falle einerseits der Physik, der Wärmeleitung, anderseits der chemischen Transformation der Nahrungsstoffe. Sie war eine Kochmaschine, auf externe Energie angewiesen, doch stetig den vorgesehenen Zweck erfüllend. Und sie war anscheinend Bequemlichkeit pur, befreite die Hausfrau von der Fron des langen Kochens auf dem stets zu beaufsichtigenden Herd: Ankochen, den Rest erledigte die Kochkiste, kochte durch, hielt warm, war anders als der Herd einfach zu transportieren.

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Neu und besser: Die Kochkiste Heinzelmännchen (Daheim Kalender für das Deutsche Reich 1907, Bielefeld und Leipzig 1906, Anzeiger, 61)

Doch was war eine Kochkiste? Und warum entstand das Heinzelmännchen just um diese Zeit? Dazu müssen wir uns die andere Art des Kochens um die Jahrhundertwende ins Gedächtnis rufen: Der Herd, meist Teil einer Wohnküche, zumeist mit Kohle, teils mit Holz, zunehmend aber auch mit Gas beheizt, lieferte Hitze zum Ankochen, doch dann köchelte, brutzelte, buk das Essen noch lange vor sich hin, ehe es schließlich verzehrs- und servierfertig war. Das war doppelt aufwändig, denn einerseits erforderte dies eine kontinuierliche Grundhitze, anderseits musste all das überwacht werden, denn eine präzise Hitzeführung gab es nicht, war der Augenschein am Herde daher zentral für ein gelungenes Mahl. Hinzu kam, dass in Deutschland das warme Mittagessen weiter hochgehalten wurde, während sich in England und anderen westlichen Staaten das Abendessen zunehmend als warmes Hauptmahl etablierte. Kochkisten, damals vielfach auch Selbstkocher genannt, waren gleichermaßen Garkocher und Wärmehalter. Kochkisten nutzten die Grundwärme des Herdes, boten Platz für die Töpfe mit dem angekochten Essen, schufen zugleich aber einen mit schlechten Wärmeleitern umgebenen Kunstraum, in dem die Wärmeverluste weitaus geringer waren als in dem ja vielfach auch zu Heizzwecken dienenden Herd. Die Eigenwärme von Topf und Speise wirkte so weiter, verlängerte die begonnene Tat am Herd – so lange, bis am Ende gargekochtes Essen stand, das in der Kiste zudem lange warm blieb.

Die Kochkiste hatte eine lange Vorgeschichte: Es gab sie bereits in der Antike (Die Kochkiste jüdischen Ursprungs, Jüdisches Volksblatt 7, 1905, Nr. 40, 5). Justus Liebig (1801-1873) hatte das Prinzip der Wärmeleitung in seinen Chemischen Briefen Mitte des 19. Jahrhunderts neuerlich popularisiert, selbstgebastelte „Heukisten“ wendeten es an (Wie wir zur Kochkiste kamen, Prometheus 24, 1912/13, 411-414). All das gründete auf Erfahrungswissen, doch die auf der Pariser Weltausstellung 1867 vorgestellte „Cuisine automatique norwégienne“ gab selbstbewusst vor, auf wissenschaftlichen Prinzipien zu beruhen. Sie wurde weltweit vertrieben, in Deutschland folgten genauere Untersuchungen, auch neu konstruierte Kisten ([Johann Heinrich] Meidinger, Kochkiste, Badische Gewerbezeitung 1902, 408-410). Wie bei so vielen anderen Innovationen war die Begeisterung anfangs beträchtlich, der große Erfolg aber blieb aus. Die Kochkisten waren teuer, sperrig, stellten zugleich auch das übliche routinierte Kochen in Frage. Technische und hygienische Probleme kamen hinzu. In den folgenden Jahrzehnten gab es vielfache Wiederentdeckungen, stets verbunden mit enthusiastischen Anpreisungen der vermeintlichen Wunderkisten. Die Wirkung schien unerklärlich, erinnerte an die Heinzelmännchen der guten alten Zeit.

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Hauswirtschaftliche und soziale Reform durch die Kochkiste (Karlsruher Tagblatt 1903, Nr. 242 v. 2. September, 5286 (l.); Badische Presse 1903, Nr. 286 v. 6. Dezember, 7)

Eine der vielen Revitalisierungen startete 1901 in Baden. Dort ging es bürgerlichen Sozialreformern mal wieder um die Verbesserung der Lage der Arbeiter in Stadt und Land, auch um die Entlastung der von Haus-, Erziehungs- und Erwerbsarbeit arg gebeutelten Frauen (Uwe Spiekermann, Die Ernährung städtischer Arbeiter in Baden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Monotone Einheit oder integrative Vielheit?, Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483). Es ging um ein ordentliches Mittagessen – und dabei kamen auch Reminiszenzen an die alten Heukisten auf. Der konservative Badische Frauenverein gewann Großherzogin Luise (1838-1923), die Tochter des früheren Kaisers Wilhelm I. (1797-1888), als Schirmherrin für diese Idee. Parallel konstruierten die Frauen eine hölzerne viereckige Kiste, die für 9 M verkauft wurde, die frau aber auch günstiger zu Hause herstellen und mit Papier, Holzwolle oder auch Lumpen füllen konnte. Sie war billig und transportabel, verringerte die Kochdauer und ermöglichte die Mitnahme oder den Transport an die Arbeitsstätte vor allem der Männer. All das wurde 1902/1903 durch reichsweite Kampagnen in Frauenvereinen und bürgerlichen Reformvereinigungen popularisiert, die nicht unbeträchtliche Resonanz erzielten ([Karl] Bittmann, Die Badische Kochkiste, Concordia 10, 1903, 15-17).

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Wettbewerb um verbesserte Kochkisten (Münchner Neueste Nachrichten 1904, Nr. 543 v. 20. November, 8)

Die neuen Kochkisten hatten die schon in den Jahrzehnten zuvor immer wieder kritisierten Probleme, doch angesichts des hehren Ziels einer einschneidenden Verbesserung der Volksernährung begann dieses Mal ein überraschend breiter Wettbewerb der Frauenvereine, Tischler und Tüftler, um durch verbesserte Kochleistungen, einfachere Handhabung und auch erschwingliche Preise die Kochkiste endlich zu etablieren. Unter diesen befand sich auch der zwischen Bad Nauheim und Berlin pendelnde Wilhelm Aletter (1867-1934). Er hatte sich vor allem als Musiker und Komponist der leichten Muse einen Namen gemacht und ging nun mit leichter Hand ans Werk. Ihm ging es um eine längere und sicherere Weise der Wärmeübertragung. Zwischen Herd, Topf und Kiste integrierte er, wie auch andere zuvor, zusätzliche Wärmespeicher. Aletter beantragte im April 1904 ein Patent für seine „Vorrichtung zum Schnellkochen mittels erhitzten Steines“, das ihm im November zugeteilt wurde (Deutscher Reichsanzeiger (= DRA) 1904, Nr. 263 v. 7. November, 24).

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Innenansicht der Kochkiste Heinzelmännchen (Witt, 1908, 567 (l.); Auszüge aus den Patentschriften 29, 1908, 984)

Aletters Verfahren brachte Bewegung in den Markt für Kochkisten. Ihm ging es nicht mehr um den alleinigen Wärmeschutz, sondern um einen lang währenden und mit hohen Temperaturen verbundenen Kochprozess. Er griff dabei auf Materialien zurück, die seit den 1860er Jahren die Feuerarbeit der Metall-, Stahl- und Glasindustrie verändert hatten. Schamottesteine waren feuerfest, bestanden aus einer Mischung von Ton, Steinscherben und Aluminiumoxid. Sie nahmen Hitze auf, strahlten diese lange Zeit ab, waren allerdings recht brüchig. Entsprechend sah Aletters Verfahren eine strikte Architektur innerhalb der Kochkiste vor: Die der Topfform angepassten Steine wurden unterhalb und oberhalb des Kochgutes fest eingefügt, eine Bodenplatte und die Fixierung durch Eisenstangen und einen Deckel garantierten Halt und sichere Wirkung (Auszüge aus den Patentschriften 29, 1908, 984). Die Anordnung ermöglichte höhere Temperaturen, so dass nicht nur Kochen, sondern auch Backen und Braten grundsätzlich möglich waren (G.A. Witt, „Kochkiste“ und „Thermophor“, Österreichische Wochenschrift für den öffentlichen Baudienst 14, 1908, 561-567, hier 567).

Der Weg vom Verfahren zum fertigen Produkt war allerdings lang. Die Kochkiste „Heinzelmännchen“ verband das Alettersche Verfahren mit einer passgenauen Kisten- und auch Topffunktion. Die viereckige, aus Buchenholz gefertigte Kiste war im Inneren mit Weißblech ausgestaltet, das einerseits die Dämmstoffe in Form hielt, anderseits aber auch als Brandschutz diente (Berliner Briefe. II. Die hauswirtschaftliche Ausstellung!, General-Anzeiger für Dortmund die Provinz Westfalen 1907, Nr. 59 v. 28. Februar, Unterhaltungsblatt, 4). Die aus Emaille gefertigten Töpfe besaßen keine Seitengriffe, so dass der Zwischenraum möglichst gering blieb. Die mit einem Griff versehenen Schamottesteine wurden im Herdfeuer oder auf den Herdplatten „bis zur Glut erhitzt“ (Verein Frauenbildung—Frauenerwerb, Dortmunder Zeitung 1908, Nr. 91 v. 19. Februar, 2), anschließend der Bodenstein versenkt, der Topf daraufgesetzt, dann folgte der zweite Stein, der Topfdeckel und schließlich der Deckel der Kochkiste. Das Heinzelmännchen wurde etwa ein Jahr nach der Patenterteilung als Kochkiste durch das Berliner Haushaltswarengeschäft P. Raddatz & Co. angeboten (Berliner Volks-Zeitung 1905, Nr. 561 v. 30. November, 8). Zuvor dürfte man mit einschlägigen Frauenvereinen zusammengearbeitet haben, denn schon im Dezember wurde die neue Kochkiste auch über den Vaterländischen Frauenverein vorgestellt (Dürener Zeitung 1905, Nr. 276 v. 4. Dezember, 2).

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Einführung durch das Haushaltswarengeschäft P. Raddatz Ende 1905 (Kölnische Zeitung 1905, Nr. 128 v. 28. November, 3)

Ausgliederung bei P. Raddatz & Co.: Der Weg zur Heinzelmännchen Compagnie

Das seit 1868 in Berlin tätige Manufakturwarengeschäft P. Raddatz wurde am 1. September 1873 von den Kaufleuten Peter Raddatz und Fritz Müntzel als Kommanditgesellschaft gegründet, 1891 dann in eine offene Handelsgesellschaft überführt (DRA 1873, Nr. 244 v. 16. Oktober, 5; Berliner Börsenzeitung 1883, Nr. 600 v. 22. Dezember, 6; DRA 1891, Nr. 8 v. 9. Januar, 6). Das Geschäft residierte zuerst in der Leipziger Straße 101, ehe es 1897 in ein Fritz Müntzel gehörendes Anwesen in der Leipziger Straße 123 zog. Das seit den 1880er Jahren zu den Vorzeigegeschäften der wilhelminischen Hauptstadt zählende Unternehmen konzentrierte sich von Beginn an auf den Handel mit Glas, Porzellan, Haus- und Küchengeräten, die es auch reichsweit bewarb und versandte. Erst 1903 gliederte P. Raddatz eine Produktionsstätte in der Alten Jakobsstraße 5 an, während das Verkaufsgeschäft dann auch auf die Leipziger Straße 122 ausgedehnt wurde (https://www.steinmarks.co.uk/page?id=564). Die Firma wurde 1906 in eine GmbH mit einem Stammkapital von 900.0000 M überführt. Der zuvor in das Geschäft eingestiegene Bankier Otto Ritter hatte im Vorgriff Firma und das neue Grundstück erworben. Mit einer Einlage von 540.000 M wurde er Haupteigner und allein vertretungsberechtigt, Fritz Müntzel brachte 160.000 M ein (DRA 1906, Nr. 210 v. 5. September, 7).

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Das Haushaltswarengeschäft P. Raddatz in den späten 1890er Jahren und dessen Vorläufer des „Heinzelmännchens“ (Postkarte; Die Woche 7, 1905, Nr. 14, VII)

P. Raddatz war ein Ausstattungs-Magazin, welches Haushaltsgeräte wie Eisschränke oder aber Küchenmöbel in Eigenregie fabrizierte, welches zudem eine Reihe eigener Patente hielt (Berliner Adreßbuch 1907, T. I, 1895). Die Firma war zugleich aber eine zentrale Bühne für neue Apparate, für alle Novitäten der Küche und des Haushaltes. An diesem Geschäft zeigt sich deutlich, dass der auf Kochbuchautorinnen, Frauenvereine und die meist auf die 1920er Jahre datierte Haushaltsrationalisierung fokussierte Blick der Küchenmodernisierung einseitig und zu eng ist. Der Handel machte vielfach den Unterschied. Raddatz war ein Innovationsensemble, dessen Anzeigen von den Verlockungen neuer Helfer kündeten (Berliner Tageblatt (= BT) 1906, Nr. 243 v. 17. Oktober, 17). Hier wurde nicht allein verkauft, hier war stets etwas los, wenngleich eher mit Blick auf solvente bürgerliche Kundinnen: „Der Koch-Apparat ‚Heinzelmännchen‘, die Waschmaschine ‚Weltwunder‘, Weck’s Konserven-Apparate, Eismaschinen usw. sollen in vollem Betriebe dem Publikum gezeigt werden“ (BT 1906, Nr. 530 v. 18. Oktober, 19).

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Das Spezialgeschäft als Erfahrungsort neuer Haushaltstechnik (Berliner Tageblatt 1913, Nr. 513 v. 9. Oktober, 16)

P. Raddatz & Co. hatte den Trend hin zur Kochkiste schon früh aufgegriffen. Seit Frühjahr 1905 präsentierte man einen eigenen „Selbstkocher“, der bereits einen Hitzestein oberhalb des seitengrifflosen Topfes aufwies. Es ist recht wahrscheinlich, dass zu dieser Zeit Wilhelm Aletter und Otto Richter bereits in geschäftlicher Verbindung standen, auch wenn es nicht klar ist, wann letzterer die Patentrechte gekauft hat. Raddatz bot jedenfalls für den in Berlin fest verankerten Komponisten und Musikverleger Aletter eine ideale und finanziell lukrative Multiplikationsdrehscheibe. Die Inhaber waren zudem gesellschaftlich wohl etabliert, Fritz Müntzel jr. hatte sich 1905 mit Clara Rosenthal verlobt, der Tochter des Selber Porzellanfabrikanten Philipp Rosenthal (1855-1937) (Kölnische Zeitung 1905, Nr. 281 v. 17. März, 3). Ritter griff zu, auch um sein neues Geschäft an der Berliner Spitze zu halten – die Konkurrenz der großen Warenhäuser in der Nachbarschaft war spürbar. Der Selbstkocher wurde fortentwickelt, wurde Teil eines Gesamtpaketes von Kisten, Töpfen und Steinen, das mit seinem soliden Äußeren und seiner hygienischen Metallauskleidung den Anspruch von Raddatz als führendes Haus und des neuen „Heinzelmännchens“ als führende Kochkiste des Deutschen Reiches auch visuell verkörperte.

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Eine entzückende Kochkiste (Münchner Neueste Nachrichten 1908, Nr. 577 v. 9. Dezember, General-Anzeiger, 4)

Die Berliner Heinzelmännchen GmbH

Der Anspruch zeigte sich aber nicht nur an der neuen Haushaltsmaschine selbst. Denn die seit Ende 1905 gemachten Erfahrungen mündeten in ein neues Unternehmen. Die Heinzelmännchen-Compagnie, Vertrieb selbsttätiger Koch- und Backapparate GmbH wurde am 17. April 1906 in das Handelsregister eingetragen, der Gesellschaftervertrag war bereits am 1. März unterzeichnet worden. Otto Ritter hatte in der Zwischenzeit Aletters Patent und das Gebrauchsmuster Heinzelmännchen erworben – und brachte diese in die neue GmbH mit ein (Patentblatt 20, 1906, 1055; DRA 1906, Nr. 94 v. 21. April, 11). Seine Stammeinlage betrug 15.000 M des Stammkapitals von 25.000 M (resp. 20.000 M n. BT 1906, Nr. 197 v. 19. April, 5), er agierte zugleich als Geschäftsführer (Berliner Adreßbuch 1907, T. I, 848). Der erste Firmensitz lag in der Berliner Krausenstraße 35/36, just unterhalb der Leipziger Straße, 500 Meter von Raddatz entfernt (Berliner Adreßbuch 1907, T. IV, 191). Seit 1908 residierte die Heinzelmännchen Compagnie dann in der Moabiter Heidestraße 52, gegenüber dem Invalidenfriedhof.

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Heinzelmännchen voran: Markenrechte und erste Anzeigen (Warenzeichenblatt 13, 1906, 1645 (l.); Berliner Tageblatt 1906, Nr. 385 v. 1. August, 12)

Bereits bestehende Auslandspatente wurden auf die neue GmbH übertragen, weitere in Frankreich (1906), Großbritannien (1906), USA (1906) und Österreich (1907) eingetragen (Witt, 1908, 567). Die Auslandsrepräsentation übernahmen die auch für Raddatz tätigen Gebrüder Riedel, Spezialisten in der Haushaltswarenbranche (Blom’s Engros- und Export-Adressbuch von Berlin und Vororten 3, 1907/08, 38). Die neue Firma hatte zudem schon kurz vor der Eintragung ein neues Warenzeichen beantragt – zwei Heinzelmännchen um eine heiße Kochkiste Heinzelmännchen –, das ab August auch genutzt werden konnte (DRA 1906, Nr. 209 v. 4. September, 8). „Heinzelmännchen“ wurde auch als Wortzeichen geschützt, allerdings nur für Haus- und Küchengeräte, Koch- und Back-Kisten (Warenzeichenblatt 13, 1906, 1645). Die operative Arbeit übertrug Ritter erst Wilhelm Moch, dann dem langjährigen Geschäftsführer Karl Holz (Berliner Adreßbuch 1908, T. I, 913; Berliner Börsen-Zeitung 1909, Nr. 106 v. 4. März, 30). Die Arbeit konnte beginnen, lediglich das Wortzeichen wurde nach kurzer Zeit noch erweitert (DRA 1909, Nr. 279 v. 26. November, 15).

Vermarktung eines Küchenwunders

Wie vermarktet man ein neues Haushaltsprodukt? Der Name Heinzelmännchen ließ träumen, doch vor dem Verkauf war Überzeugungsarbeit zu leisten. Es galt dabei rationale Argumente und eine gleichsam wundersame Arbeitserleichterung zu verbinden. Die Heinzelmännchen GmbH konnte auf der breiten, seit 1901 laufenden Kochkistenpropagierung aufbauen. Doch ihr Heinzelmännchen konnte mehr als eine simple Heukiste, erreichte es durch die integrierten Steine doch weit höhere Temperaturen. Kochen, aber auch Backen und Braten waren so möglich. Die neue Kochkiste ersparte Zubereitungs- und Aufsichtszeit, ebenso Brennmaterial. Sie war zudem mobil, konnte gefüllt mit zur Arbeit genommen werden, ersparte der Hausfrau eventuell den mittäglichen Gang zur Arbeitsstätte des Mannes, um diesen mit einem warmen Mahl zu versorgen. Angesichts des recht hohen Grundpreises von mehr als zehn Mark – Arbeiter besaßen damals ein Familienjahreseinkommen von ca. 1.200 bis 1.600 M – war die Mobilität der Kiste eher für die Freizeitkultur gedacht: „‚Heinzelmännchen‘ ist auch bei Ausflügen unentbehrlich und bietet den Beteiligten an besonders reizend gelegenen Raststellen im Walde ein erwünschtes ‚Tischlein deck‘ dich!“ Ebenso unersetzlich ist ‚Heinzelmännchen‘ auf der Jagd, im Manöver und auf Badereisen“ (H[ermann] Aurich, Die Industrie am Finowkanal, Bd. II, Eberswalde 1906, 60).

Rationale Nutzenargumente führen jedoch nicht zwingend zum Kauf oder gar zu einer anderen Küchenpraxis. Das war die Quintessenz der schon im späten 19. Jahrhundert immer wieder gescheiterten Belehrung der Arbeiter und ihrer Frauen durch bürgerliche Sozialreformer. Neue Produkte, neue Verfahren mussten nicht nur verstanden, sondern auch erfahrbar gemacht werden. Frauenvereine boten daher seit Jahrzehnten Kochkurse an, ländliche Wanderhaushaltungsschulen wurden um die Jahrhundertwende vermehrt gegründet. Wichtiger noch war der Direktverkauf durch Vertreter und speziell geschulte Kräfte: Suppen- und Backpräparate wurden dadurch popularisiert, ebenso das Einwecken. Am Ende stand meist die Probe, die gemeinsame Verkostung; nicht immer erfolgreich, wie etwa bei dem in den 1880er Jahren propagierten Carne pura-Fleischpulver. Doch vielfach war sie Auslöser für den Kauf und den Einsatz im eigenen Haushalt. Die Heinzelmännchen GmbH nutzte und unterstützte zwei unterschiedliche Formen derartigen Direktabsatzes: Erstens die Präsentation durch Kochschulen und Hausfrauenvereine, teils auch auf lokalen hauswirtschaftlichen Ausstellungen, zweitens Vorführungen in größeren Fachgeschäften. Daneben trat drittens die übliche Anzeigenwerbung.

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Praktische Angebote: Kochschule für das Heinzelmännchen (Münchner Neueste Nachrichten 1910, Nr. 199 v. 28. April, General-Anzeiger, 10)

Die lokalen Kochschulen, ein früher Ort auch selbständiger Frauenarbeit, wandten sich in der Regel an ein kochkundiges Publikum, vielfach an Köchinnen. Die Ankündigungen waren knapp und präzise gehalten, wie etwa die folgenden Münchener Beispiele: „Fast ohne Feuer kann gekocht, gebraten u. gebacken werden. In dieser Kochart wird Unterricht erteilt“ (Münchner Neueste Nachrichten (= MNN) 1907, Nr. 485 v. 14. Oktober, General-Anzeiger, 3). So wurde Neugier erweckt, zugleich aber auf verwertbare praktische Kenntnisse verwiesen: „Es wird gelehrt, wie Suppenfleisch, Geräuchertes mit Erbsen, Reis, Dürrobst und Knödel in der Kochkiste gekocht, wie Kalbsschnitzerl und Irishstew gedünstet werden, wie Kuchen gebacken und Braten im Heinzelmännchen ohne Feuerung gebraten werden“ (MNN 1907, Nr. 60 v. 5. Februar, General-Anzeiger, 10). Denn schließlich kostete dieses Angebot Geld, 1,25 M für vier Nachmittagstermine. In München wurden solche Kurse von sozial motivierten bürgerlichen Frauenvereinen getragen, doch auch von selbstständigen Hauswirtschaftlerinnen. Besonders rührig war dabei Katharina Micheler, die zuvor für die Heinzelmännchen GmbH ein „Heinzelmännchen-Kochbuch“ zusammengestellt und sich auch durch weitere Arbeiten zur schnellen Küche einen Namen gemacht hatte. Die Kochkistenkochkurse waren 1906/07 offenbar gut besucht, „wegen des großen Andrangs“ gab es zusätzliche Angebote (MNN 1907, Nr. 87 v. 20. Februar, General-Anzeiger, 1; ebd., Nr. 465 v. 4. Oktober, General-Anzeiger, 8). Auch in den Folgejahren wurden sie weiter angeboten (Ebd. 1909, Nr. 32 v. 21. Januar, 4). Ausstellungen ergänzten sie, in München etwa die des Frauenvereins Arbeiterinnenheim. Sie waren häufig bürgerliches Ausflugsziel, bei denen auch „der Selbst-Koch-, Brat- und Backapparat ‚Heinzelmännchen‘ […] ‚in Tätigkeit‘ vorgeführt wurde“ (Münchner Neuste Nachrichten 1906, Nr. 580 v. 12. Dezember, General-Anzeiger, 10).

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Vorführung des Neuen: Der Handel übernimmt (Münchner Neueste Nachrichten 1907, Nr. 120 v. 12. März, 9)

Ausstellungen und Kochkurse konzentrierten sich auf das jeweils Neue, ihr Angebot variierte stärker als das des Fachhandels: In München wurden auch fünf Jahre nach der Markteinführung des Heinzelmännchens weiterhin Kurse angeboten, nun aber auch die Konkurrenzkisten „Oekonom“ und „Sanogrés“ vorgestellt (MNN 1911, Nr. 173 v. 12. April, General-Anzeiger, 1). Neben den Kochkursen standen aber von Beginn an praktische Vorführungen im Fachhandel. In München fanden sie in regional bedeutsamen Geschäften wie Eduard Rau, Albert & Lindner, J.B. Däntl oder F. & R. Ehrlicher statt. Sie waren häufig mit Verkostungen verbunden. Blicken wir etwa nach Dortmund, wo sich „ca. 200 Hausfrauen aus allen Kreisen“ im Hause A.E. Decker eingefunden hatten: „Der erste Triumph war ein Kuchen. Vor den Augen der Zuschauer angerührt, dann kalt in die Backkiste gestellt, präsentierte sich derselbe pünktlich nach einer Stunde den Zuschauern fix und fertig als wohlschmeckende. Als zweites wurde ein 2 Pfund Schweinebraten in 1½ Stunden zart und gar gebraten und bot in seiner frischen braunen Farbe einen prächtigen Anblick. Dann brachte man noch eine Portion Reis zum kochen und wurde auch dieser wohlschmeckend zum Schluß verzehrt. Infolge dieses großen Erfolges waren sämtliche Damen enthusiasmiert und hielten es für kaum glaublich, daß die Heinzelmännchen-Kiste so etwas fertig brächte“ (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 95 v. 24. April, 9). Das war natürlich Werbeberichterstattung, zeigte aber doch den Lockreiz des Neuen, den Erlebnischarakter des Einkaufs. „Zutritt frei!“ hieß es in einzelne Annoncen, die Nähe von Schaustellerei und Verkauf war offenkundig (Hamburger Nachrichten 1907, Nr. 262 v. 16. April, 4).

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Präsentation des Heinzelmännchens in Berlins führendem Haushaltswarengeschäft P. Raddatz (Berliner Tageblatt 1906, Nr. 502 v. 3. Oktober, 22)

Zentrum des Absatzes blieb allerdings Berlin, wo P. Raddatz & Co. regelmäßig und über einen Zeitraum von zwanzig Jahren Heinzelmännchen präsentierte. Auch in Berlin fanden die Präsentationen anfangs vornehmlich im Fachhandel statt, in zentral gelegenen Haushaltswarengeschäften wie F.A. Schumann, C.F.W. Lademann (BT 1906, Nr. 593, v. 12. November, 34; ebd. 1907, Nr. 48 v. 27. Januar, 12), aber auch in den Vororten (Friedenauer Lokal-Anzeiger 1907, Nr. 292 v. 12. Dezember, 2). Nach einigen Jahren wurde die Kochkiste Heinzelmännchen dann auch regelmäßig in den großen Warenhäusern vorgeführt, etwa bei Hermann Tietz, Wertheim oder dem kurzlebigen Passage-Kaufhaus. Entsprechende Absatzstrukturen bestanden in den Großstädten des gesamten Deutschen Reiches (Badische Presse 1907, Nr. 103 v. 2. März, 3; Dresdner Nachrichten 1907, Nr. 112 v. 28. April, 18; Hamburger Nachrichten 1907, Nr. 262 v. 16. April, 4), wenngleich mit geringerer Werbepräsenz. Hinzu trat der Versandhandel. Die Heinzelmännchen GmbH stellte ihr Angebot in kostenlos versandten Preislisten vor, lieferte die gewünschten Kochkisten dann per Nachnahme.

Kochkurse und Ausstellungen sowie Produktvorführungen und Probeessen wurden umkränzt von direkt geschalteter Anzeigenwerbung. Sie erfolgte vor allen in Tageszeitungen, weniger in den bei Markenartikeln sonst üblichen Illustrierten und Zeitschriften. Die Heinzelmännchen GmbH setzte bei den seit Sommer 1906 geschalteten Anzeigen erst einmal auf das eigene Warenzeichen. Die kleinen Helfer sorgen für Aufmerksamkeit, wurden ergänzt durch groß tönende Anpreisungen. Abnehmer konnten das Motiv auch als Klischee in ihre eigenen Annoncen einbinden.

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Das Warenzeichen in eigenen Anzeigen und als Klischeewerbung eines Fachgeschäftes (Münchner Neueste Nachrichten 1906, Nr. 551 v. 25. November, 10 (l.); Berliner Tageblatt 1908, Nr. 168 v. 1. April, 11)

Das Heinzelmännchenmotiv trat jedoch nach ein, zwei Jahren zunehmend zurück. Als Erkennungszeichen war es weiterhin wichtig, doch die wundersame Wirkung lag in der Kiste selbst. Die Modernität der Kochmaschine und die traditionelle Figur des Küchenkobolds standen in gewisser Spannung zueinander.

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Das Produkt rückt in den Mittelpunkt der Werbung (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 41 v. 17. Februar, 4 (l.); Altonaer Nachrichten 1909, Nr. 481 v. 14. Oktober, 4)

Die Heinzelmännchen GmbH versorgte ihre Abnehmer daher mit Vorlagen für einfache resp. doppelte Kochkisten, die dann von den Händlern in Eigenregie verwandt wurden. In der eigenen Werbung aber wurde nicht allein der Nutzen der Kochkiste hervorgehoben. Im Markt etabliert, sehr wahrscheinlich die erfolgreichste Markenkochkiste dieser Zeit, wurde das Heinzelmännchen nun auch mit Beziehungsaspekten aufgeladen. Es erschien als ein großzügiges Geschenk des Bürgers an seine Frau. Deren haushälterische Sorge war immer auch Ausdruck ihrer Liebe, nun konnte sich der Ehemann mit einem praktischen Präsent revanchieren.

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Freude für die Hausfrau, Absolution für den Mann (Berliner Tageblatt 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12)

Hinzu traten vermehrt saisonale Anzeigen. Zu Weihnachten bewarb man die Kochkisten intensiv, die Pflicht zum Geschenk und der Liebeserweis durch das Geschenk bildeten eine kommerziell einfach nutzbare Beziehung (MNN 1907, Nr. 565 v. 3. Dezember, General-Anzeiger, 12; ebd. 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12). Auch Ostern geriet in diesen Fokus, die Backmöglichkeit erlaubte dies (BT 1907, Nr. 145a v. 21. März, 6). Schließlich wurden auch Anzeigen mit saisonalem Bezug geschaltet; im Sommer nahm man etwa die Hitze als Anlass, um die Hausfrauen dank der Kiste nicht der zusätzlichen Hitze am Herd auszusetzen (BT 1908, Nr. 279 v. 3. Juni, 16). Anders als in der Geheimmittelwerbung nutzte man keine Empfehlungsschreiben, verwies einzig auf bestehende Anerkennungen. Man glaubte offenbar an das eigene Produkt.

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Nützliche Weihnachtsgeschenke: Weihnachtsgeschenk Kochkiste (Berliner Tageblatt 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12)

All dies dokumentiert eine stete Interaktion mit dem im Absatz sichtbaren „Markt“. Die Heinzelmännchen GmbH ging auf Kundenwünsche ansatzweise ein, Beispiel hierfür war eine abgespeckte, aber besser transportable Variante, die als Reiseutensil für nur 8 M verkauft wurde (BT 1908, Nr. 320 v. 26. Juni, 17). Auch Schnäppchen waren möglich, die an sich preisgebundene Kochkiste gab es bei Ausverkäufen mit Rabatt (BT 1910, Nr. 8 v. 6. Januar, 24).

Die Kochkiste Heinzelmännchen im Wettbewerb

Der analytische Blick auf die Kochkiste liefert natürlich nur einen Teil der Unternehmensgeschichte der Heinzelmännchen Compagnie. Verlässliche Angaben über Umsätze und Beschäftigte der Heinzelmännchen GmbH fehlen. Indirekte Schlüsse sind jedoch durch den Vergleich der in den Anzeigen gemachten Angaben möglich. Demnach waren Ende 1909 über 25.000 Apparate im Gebrauch (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1909, Nr. 7076 v. 12. Dezember, 9; BT 1909, Nr. 644 v. 20. Dezember, 12). Diese Zahl stieg binnen Jahresfrist auf über 30.000 Ende 1910 und über 40.000 Ende 1911 (BT 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12; MNN 1911, Nr. 556 v. 28. November, 8). In den nächsten zwei Jahren wurden weitere 10.000 Kochkisten Heinzelmännchen abgesetzt (MNN 1913, Nr. 565 v. 5. November, 7). Diese recht stete Absatzbewegung von ca. 5.000 Geräten pro Jahr beschleunigte sich während und durch den Weltkrieg. Im Frühjahr 1915 waren nach Firmenangaben über 80.000 Apparate im Gebrauch, Mitte des Jahres dürfte die Marge von 100.000 verkauften Geräten überschritten worden sein (MNN 1915, Nr. 136 v. 16. März, 6; BT 1915, Nr. 312 v. 21. Mai, 6).

Markenartikel besaßen während des Kaiserreichs vielfach konstante Preise, doch beim Heinzelmännchen galt dies nicht. Die einfache Grundkiste kostete Ende 1905 10,50 M, 1910 dagegen 14 M, 1912 gar 16 M (BT 1910, Nr. 642 v. 19. Dezember, 12; ebd. 1912, Nr. 644 v. 18. Dezember, 12; ebd. 1913, Nr. 252 v. 21. Mai, 12). Diese Preissteigerung setzte sich zu Beginn des Krieges recht kontinuierlich fort: 1915 lag der Grundpreis bei 18,50 M, Anfang 1916 bei 19,50 M, am Ende dann bei 22 M (BT 1915, Nr. 136 v. 15. März, 8; ebd. 1916, Nr. 142 v. 17. März, 6; ebd. Nr. 637 v. 14. Dezember, 6). Zu beachten ist, dass parallel auch die Preisspreizung zunahm. In München gab es 1907 Heinzelmännchen Kochkisten in sechs Ausführungen zu 14, 16, 18, 24, 27 und 30 M (BT 1907, Nr. 163 v. 31. März, 33), die Palette des Passage-Kaufhauses rangierte 1909 von 7,25 und 8,50 für die Sondervariante über 14, 18, 20 bis hin zu 28 und 31 M (BT 1909, Nr. 346 v. 11. Juli, 48). Im Sommer 1915 variierten die nur noch drei Einzelkistentypen zwischen 18,50 und 23,50 M, die Doppelkisten kosteten dagegen 36,75 resp. 40,50 M (BT 1915, Nr. 427 v. 22. August, 7). Die Einnahmen der Heinzelmännchen GmbH dürften daher tendenziell gestiegen sein, vielleicht auch die Gewinne. Durch diese für einen Qualitätsführer nicht unübliche Preispolitik verschloss man sich jedoch Märkte abseits des bürgerlichen Publikums. In der wichtigsten Frauenzeitschrift der SPD hieß es entsprechend: „Die sogenannten Heinzelmännchen-Kochkisten gehören bekanntlich zu den besten Selbstkochern, die zurzeit im Handel sind. Leider sind sie zu teuer, als daß ihre Anschaffung im bescheidenen proletarischen Haushalt allgemein möglich wäre“ (Die Gleichheit 1915, Für unsere Mütter und Hausfrauen, Nr. 2, 7). Stattdessen empfahl man Selbstzimmerei und den Kauf gängiger, für 1,10 bis 1,60 M teure Schamotteplatten.

21_Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens_13_1913_pIII_Heinzelmaennchen_Kochkiste

Qualitätsführerschaft in der Werbung (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 13, 1913, III)

Diese Preispolitik erfolgte angesichts eines enorm heterogenen Marktes mit zahllosen Markenkochkisten, deren hohe Preise durch selbstgezimmerte Kisten unterboten wurden (vgl. den Überblick bei Witt, 1908). In einem der vielen Spezialkochbücher hieß es kurz vor dem Weltkrieg: „In allen Preislagen gibt es die verschiedensten Arten von ein- und mehrteiligen Kisten: leer, ausgepolstert, mit Isolierschicht und Blech ausgeschlagen, Selbstkocher in zylindrischer Form für 1-3 verschieden große Töpfe, Hartpapierkochkisten u.a.m. Namen wie: Küchenfee, Hausfreund, Phänomenal, Ideal u.a.m. reizen zum Kaufe an. Verschiedene Apparate sind auch für Backen eingerichtet. So das Heinzelmännchen der Firma Raddatz und Co., Berlin [sic!], der Freiburger zylindrische Apparat Ökonom u.a.“ (Marta Back, Die Kochkiste. Anleitung zur Herstellung und Verwertung nebst Kochvorschriften und einer Zusammenstellung von Gerichten, Leipzig o.J. [1913], 12).

Die meisten Anbieter scheiterten daran, überregionale Vertriebsnetze aufzubauen, kompensierten dies mit dem immer möglichen Versand gegen Nachnahme. Das Heinzelmännchen war anfangs technologischer Pionier, doch kurz vor dem Ersten Weltkrieg gab es zahlreiche ähnliche, vielfach preiswertere Angebote. Auch neue Technik wurden eingesetzt, anstelle der Schamottesteine verwandte die Kochkiste Oekonom Eisenplatten, die höhere Temperaturen ermöglichten, die Wärme allerdings auch früher abgaben (Wärme und Licht im Kriegswinter. II., MNN 1915, Nr. 607 v. 27. November, General-Anzeiger, 1; Franz Schacht, Die beste Kochkiste, Praktische Ratschläge für Haus und Hof 19, 1920, H. 3, 9-10).

Die Heinzelmännchen GmbH reagierte darauf einerseits mit Innovationen. Sie entwickelte eine Kochkiste mit elektrischer Heizung, die zwar „großes Interesse“ (Die erste Ausstellung der Geschäftsstelle für Elektrizitätsverwertung, Elektrotechnische Zeitschrift 32, 1911, 372) weckte, sich jedoch nicht etablieren konnte. Parallel verbesserte man die innere Struktur der Kochkiste. 1913 erhielt sie gleich vier neue Patente, für einen neuen Herdeinsatz der Steine, neue Anordnungen im Inneren der Kiste, neue Formen der Wärmeübertragung sowie neue Wärmespeicher (DRA 1913, Nr. 194 v. 18. August, 10; ebd. Nr. 218 v. 15. September, 13). Kritik am Durchrosten der Weißbleche griff man auf, verwandte Aluminiumeinsätze und bot Umrüstungen älterer Kisten an. Das Produkt wurde also verändert, auch wenn der Name gleich blieb.

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Blech versus Aluminium: Kochkistenverbesserung durch Reparatur (Berliner Tageblatt 1911, Nr. 334 v. 7. Juli, 30)

Das lag auch an den Tücken der eigenen Werbung. Die Qualitätsführerschaft wurde mit Begriffen wie dem einer „bewährten Kochkiste“ (BT 1914, Nr. 129 v. 12. März, 30) unterstrichen, bewarb das Heinzelmännchen als die „Uridee aller ähnlichen Apparate“ (Westfälische Zeitung 1907, Nr. 120 v. 25. Mai, 7). Das erschwerte eine auf technische Innovation ausgerichtete Werbesprache. Anderseits änderte die Firma kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre Kundinnenansprache. Die Kochkiste wurde nun als „vollständigen Ersatz für den bisher üblichen Kochherd“ angepriesen, ferner behauptet, dass die Speisen aufgrund der kompakten indirekten Heizung einen besonders hohen Nährwert und Wohlgeschmack besäßen (Rosenheimer Anzeiger 1913, Nr. 292 v. 18. Dezember, 4). Während der Herd russig und klobig war, stand das Heinzelmännchen bereits für die weiße, reine Küche, die in der Zwischenkriegszeit zum Ideal werden sollte: „Nicht nur von außen elegant und einladend, auch von innen sieht er sich blitzblank an“ (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 121 v. 25. Mai, 3). Die Kochkiste war nützlich, gewiss, ersparte Brennmaterial und Zeit. Doch zugleich erlaubte sie die „Befreiung der Frau von den Mühsalen des täglichen Kochens“, ermöglichte nicht nur emsiges Weiterschaffen, sondern auch geistige und körperliche Erholung (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 122 v. 26. Mai, 6). Auch wenn der provokante Slogan „Die moderne Frau kocht nicht mehr“ in der Anzeige unterbrochen und umgebogen wurde, so verkörperte die Kochkiste schon vor dem Ersten Weltkrieg Rationalisierungs- und Emanzipationsideale, die erst in den 1920er Jahren allseitigen Widerhall fanden.

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Neudefinition der Hausarbeit (Echo der Gegenwart 1914, Nr. 122 v. 26. Mai, 8)

Der Heinzelmännchen GmbH konsolidierte dadurch ihre Marktstellung, behauptete zugleich ihre Qualitätsführerschaft. Das war ein beträchtlicher Erfolg, denn die 1901 einsetzende Euphorie über die Kochkisten war ein Jahrzehnt später längst abgeebbt. Man „hat kein rechtes Vertrauen in die Sache gehabt“, hieß es selbstkritisch (R. Fabri de Fabris, Kleine Bilder aus großer Zeit. Die Kochkiste und anderes, Aachener Anzeiger 1915, Nr. 125 v. 30. Mai, 14): „Verlockend in ihrer blanken Frische und Neuheit schaut sie uns aus den Schaufenstern an; und in manchen Häusern begegnet man ihr und ihren billigeren Nachahmungen. In den Beratungsstellen des Nationalen Frauendienstes wurde sie unzählige Male vorgeführt; jede Frau interessierte sich für sie, jede lauschte aufmerksam, wenn man ihre Vorzüge pries, aber so recht durchzusetzen hat sie sich trotz ihrer unleugbaren Vorteile bei uns nicht vermocht“ (Die vier Heinzelmännchen in Hannoverschen Küchen, Hannoversche Hausfrau 13, 1915/16, Nr. 6, 1).

Parallel gelang es der Heinzelmännchen GmbH auch nicht, ihren Markenbegriff so zu etablieren, dass seine Nennung eindeutige Produktassoziationen mit sich brachte. Mercedes ist das um diese Zeit gelungen, denn darunter verstand man immer mehr ein Vorzeigeauto, einen kräftigen Lastwagen – während die gleichnamigen Schreibmaschinen, Schuhe, Zigaretten oder Rechenmaschinen in Nischen zurückgedrängt wurden. Dem Mercedes der Kochkisten gelang dies nicht. Die Legende der Kölner Heinzelmännchen blieb zu stark. Doch zugleich nutzten weiterhin andere Anbieter den Mythos der kleinen Helfer. Der Fensterfeststeller „Heinzelmännchen“ kam 1907 auf den Markt, gefolgt von einer gleichnamigen Möbelpolitur, einem Rasenmäher oder einem Sohlenschoner (DRA 1907, Nr. 144 v. 18. Juni, 12; 1912, Nr. 37, 14; ebd., Nr. 122 v. 22. Mai, 1; ebd. 1914, Nr. 30 v. 4. Februar, 13). Die Kochkiste Heinzelmännchen mochte zwar verbessert worden sein und sich im Markte weiter gut behaupten, doch die Unternehmensleitung vermochte ihrem Produkt kein Alleinstellungsmerkmal zu verleihen. Heinzelmännchen entwickelte sich im Gegenteil eher zu einem kaum definierbaren Gattungsbegriff.

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Heinzelmännchen als Gattungsbegriff für moderne Küchengeräte (Daheim 48, 1912, Nr. 26, 31)

Der Weltkrieg als neue Chance sparsamen Wirtschaftens

Der Weltkrieg veränderte derartige Überlegungen tiefgreifend. Einerseits führte er die Debatte um die Kochkiste wieder auf die Anfangszeit von 1901 zurück, denn nun wurden gerade einfachere Geräte wieder breit propagiert: „Nun kann man in der mit Heu oder Holzwolle gefüllten Kochkiste fast ebenso gut und schnell kochen wie in dem teuren Heinzelmännchen-Apparat“ (Die verbesserte Kochkiste, Die Gleichheit 1915/16, Für unsere Mütter und Hausfrauen, 7). Anderseits aber war Sparsamkeit seither mehr als eine Tugend, wurde mit fortschreitender Kriegsdauer ein Zwang auch für bürgerliche Haushalte.

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Das Heinzelmännchen als Hilfsmittel der sparsamen Hausfrau (Die Deutsche Frau 1, 1911, Nr. 47, 11)

Sparsames Wirtschaften war bereits vor dem Krieg ein zentrales Element der Werbung für das Heinzelmännchen (BT 1913, Nr. 550 v. 19. Oktober, 27). Dieses Mantra wurde weiter genutzt: „Unerreicht praktisch ist die Heinzelmännchen-Kochkiste durch bedeutende Ersparnis an Feuerungsmaterial und an Zeit“ (Ebd. 1914, Nr. 644 v. 19. Dezember, 12). Damit lag man im Trend, denn all das geschah nun für das Vaterland, für die Selbstbehauptung der kämpfenden, sich von einer Welt von Feinden eingekreist fühlenden Nation. Und in der Tat schnitt die völkerrechtswidrige britische Seeblockade die Deutschen von kaum ersetzbaren Nahrungs- und Futtermittelimporten ab. Die Frauenvereine und Militärbefehlshaber intensivierten die Haushaltsberatung, Kochkisten bildeten eine wichtige Waffe der Heimatfront. Im nationalen Überschwang führte dies auch zu vielfältig irrationalem Verhalten, wie man etwa an der Propagierung des vermeintlich nährstoffsparenden Fletscherns gut studieren kann. Auch die Heinzelmännchen GmbH behauptete verkaufsfördernd und wahrheitswidrig: „Die Speisen sind weit nahrhafter und ergiebiger, wie auf dem Herde zubereitete Gerichte“ (Militär-Wochenblatt 100, 1915, Anzeiger, 77). Doch die Kernargumente ihrer Werbung trafen zu, denn Brennmaterial konnte mit Hilfe des Heinzelmännchens durchaus gespart werden – im Herbst und Winter allerdings auf Kosten der Heizungswärme. Die Werbung hob zudem hervor, dass aufgrund des kaum möglichen Anbrennens der Speisen die Nahrung fast vollständig genutzt werden konnte (MNN 1915, Nr. 240 v. 12. Mai, 5).

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Hervorhebung der Vorteile, kontinuierliche Erhöhung der Preise (Haus Hof Garten 37, 1915, 231 (l.), Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 170 v. 2. April, 10)

Die Kochkiste Heinzelmännchen galt als „ein Spargeist“ (General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1915, Nr. 105 v. 6. Mai, 13). Ihr Kauf war Dienst an der Nation und würde sich angesichts der rasch steigenden Preise für Nahrung und Brennmaterialien gewiss ebenso rasch amortisieren. Das Heinzelmännchen war deutsche Wertarbeit, sein Geld wert, nicht „zu verwechseln mit wertlosen Nachahmungen“ (MNN 1917, Nr. 579 v. 15. November, 4). Entsprechend war es steter Bestandteil von Fachgeschäften und insbesondere den führenden Warenhäusern (Berliner Volks-Zeitung 1915, Nr. 177 v. 8. April, 9; BT 1916, Nr. 493 v. 26. September).

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Die Kochkiste Heinzelmännchen als Kriegshelfer (Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 514 v. 9. Oktober, 3)

Die gerade zu Beginn des Krieges beträchtlich wachsende Nachfrage führte aber auch zu massiven Preissteigerungen. Der Preisabstand zwischen gängiger Tischlerware und dem Premiumprodukt stieg massiv an: Im Warenhaus Tietz wurden im Frühjahr 1918 einfache Kochkisten für 12,50 oder 20 M angeboten, dagegen kostete die Kochkiste Heinzelmännchen zwischen 53 und 111 M (Vorwärts 1918, Nr. 142 v. 26. Mai, 7). Die Heinzelmännchen GmbH verwies auf imaginäre Einsparungen von 70 bis 80 % Gas, sprach von der „altbewährten Heinzelmännchen-Kochkiste“ (Leipziger Tageblatt 1918, Nr. 113 v. 3. März, 24) als „Köchin ohne Lohn und Kost“ (MNN 1918, Nr. 94 v. 21. Februar, 4). Doch ist fraglich ob dies bei der Mehrzahl auch der bürgerlichen Kunden weiter verfing, zumal das Braten und Backen mangels Fett und Fleisch zunehmend in den Hintergrund trat. Viele Angehörige der Mittelschichten, insbesondere Rentner, wurden spätestens seit dem Hungerwinter 1916/17 in Mittelstandsküchen beköstigt, fielen als Käufer damit aus. Parallel gewannen sog. Kriegskochkisten an Bedeutung, „die, teils aus dem billigsten Material hergestellt, nur während der Kriegsdauer aushalten sollten, teils deswegen billig sein mußten, um bei kleinen Leuten Verwendung zu finden. Man ging sogar auf die Selbstanfertigung der Kochkiste und die Unterrichtung hierin zurück“ (Schacht, 1920, 9). Parallel aber entstand eine wachsende Palette weniger aufwändiger Kochhauben, -beutel und -glocken. Sie nutzten die gleichen physikalischen Grundprinzipien, waren aber deutlich preiswerter.

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Kriegsbedingte Alternative zur Kochkiste: Beispiel einer Kochglocke (Berliner Volks-Zeitung 1917, Nr. 541 v. 23. Oktober, 4)

Trotz dieser sich verschlechternden Rahmenbedingungen war die Heinzelmännchen GmbH zu dieser Zeit hochprofitabel. Dennoch entschieden sich die Verantwortlichem zu einer Umwandlung in eine andere Rechtsform. Anfang Januar 1916 wurde die Heinzelmännchen GmbH aufgelöst und binnen weniger Monate liquidiert (DRA 1916, Nr. 20 v. 25. Januar, 8; Berliner Börsen-Zeitung 1917, Nr. 116 v. 9. März, 21). Parallel gründete man im Januar 1916 die Heinzelmännchen Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 100.000 M (BT 1916, Nr. 27 v. 15. Januar, 8). Die Patente und Warenzeichen wurden übertragen, doch bei der im Oktober erfolgten Erhöhung des Grundkapitals auf 300.000 M knirschte es gewaltig. Otto Ritter trat kurzfristig zurück, konnte sich dann aber durchsetzten (Details in DRA 1917, Nr. 151 v. 28. Juni, 10; ebd., Nr. 238 v. 6. Oktober, 6; ebd., Nr. 260 v. 1. November, 4; ebd., Nr. 272 v. 15. November, 9; ebd., Nr. 290 v. 7. Dezember, 7).

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Ein altes neues Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 27 v. 31. Januar, 19)

Die Umstellung stärkte die Kapitalbasis des Unternehmens, wappnete es dadurch für neue Investitionen und die offenkundigen Marktprobleme. In der Bilanz war davon jedoch kaum etwas zu verspüren: 1916 schüttete die neue Aktiengesellschaft eine Dividende von 25 Prozent aus, 1917 waren es 15 Prozent. Der Gewinn lag 1916 bei 48.672 M und konnte 1917 auf 78.713 M gesteigert werden. Das Kassa- und Bankkonto war 1917 mit 157.924 M gut gefüllt (DRA 1918, Nr. 156 v. 5. Juli, 6; Berliner Börsen-Zeitung 1918, Nr. 311 v. 6. Juli, 10).

30_Berliner Tageblatt_1916_02_18_Nr090_p6_ebd_03_24_Nr154_p8_Heinzelmaennchen_Wunderglocke_Bratpfanne_Haushaltsgeraete_OBU_F-A-Schumann_Berlin

Ausdifferenzierung des Angebotes: Preiswertere Heinzelmännchen Kochglocke (Berliner Tageblatt 1916, Nr. 90 v. 18. Februar, 6 (l.); ebd. 1916, Nr. 154 v. 24. März, 8)

Die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft begünstigte die Einführung und Vermarktung einer neuen Heinzelmännchen Kochglocke, die auch als „Wunderglocke“ vermarktet wurde. Sie wurde bereits Ende 1915 von der Heinzelmännchen GmbH eingeführt und kostete je nach Ausstattung 4, 5 resp. 6 M (BT 1915, Nr. 626 v. 8. Dezember, 12; ebd. 1916, Nr. 43 v. 24. Januar, 6; ebd. 1916, Nr. 281 v. 8. April, 11). Die Werbung gründete auf dem Qualitätsimage der Heinzelmännchen Kochkisten, hob daneben aber Preis und Sparsamkeit hervor: „Original-Heinzelmännchen-Kochglocken bedeutend billiger als Heinzelmännchen-Kochkisten, glänzend begutachtet, Gas und Kohlen ersparend“ (MNN 1917, Nr. 214 v. 29. April, 9).

Die Kochglocke war eine von vielen neuen Hilfs- und Ersatzmitteln, mit denen Fett und Brennmaterial gespart werden sollte. Parallel kamen Grillpfannen mit Drahtaufsätzen auf, die von P. Raddatz, F.A. Schumann oder auch Warenhäusern angeboten wurden. Typisch war etwa eine kurzfristig intensiv beworbene Heissluftpfanne, die nur 1,60 M kostete und mit der man fettlos braten können sollte (BT 1916, Nr. 266 v. 25. Mai, 11). Auch Wilhelm Aletter, der „Erfinder“ der Kochkiste Heinzelmännchen, hatte im Dezember 1915 Pfannen-Patente erhalten (DRA 1915, Nr. 287 v. 6. Dezember, 10), die dann als OBU-Rostpfanne (Abkürzung für ohne Butter) vermarktet wurden (Eine neue Rostpfanne, Die Umschau 20, 1916, 580). Beide Produkte wurden jedoch nicht von der Heinzelmännchen GmbH resp. AG vertrieben. Aletters Vorwort für Hedwig Heyls (1850-1934) Werbebroschüre erinnerte zwar an seine „Erfindung“ der Kochkiste (Bratbüchlein für Rost- und Pfannengerichte zum Braten auf der ges. gesch. Rostpfanne „OBU“, Berlin 1917), doch OBU wurde von anderen Produzenten hergestellt. Karl Kraus (1874-1936) hat diese Vermengung anschließend allerdings sprachgewaltig in die Welt getragen (Es ist alles da, Die Fackel 18, 1917, Nr. 445-453, 54-56).

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Lieferschwierigkeiten und ein Blick auf die unterschiedlichen Topfgrößen (Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 165 v. 2. April, 6)

Zurück zu den Kochglocken. Sie waren offenkundig kein Erfolg. Sie verschwanden rasch vom Markte, ohne dass dafür belastbare Gründe bekannt wären. Für die Heinzelmännchen AG wohl noch gravierender waren massive Lieferschwierigkeiten. Aluminium wurde schon länger nicht mehr verbaut, Weißblech war kaum noch vorhanden, Buchenholz strikt kontingentiert. Dies dürfte den Absatz zur Jahreswende 1917/18 deutlich verringert haben. Erst ab März konnten Fachgeschäfte und Versandhändler wieder liefern (MNN 1918, Nr. 111 v. 3. März, General-Anzeiger, 8; ebd., Nr., 121 v. 7. März, 4). Auch danach blieben Lieferschwierigkeiten üblich (Ebd. 1919, Nr. 56 v. 2. Februar, 6).

32_Vorwaerts_1918_04_17_Nr105_p6_Heinzelmaennchen_Kochkiste_Frieden

Friedenssehnsucht und Heinzelmännchen-Verkauf (Vorwärts 1918, Nr. 105 v. 17. April, 7)

Dennoch hatte die Heinzelmännchen AG genügend Finanzkraft, um eine Reihe neugestalteter Werbeanzeigen in Auftrag zu geben (Reclams Universum 1918/19, Nr. 11, s.p.). Hatten zuvor reine Textannoncen dominiert, so wurde nun wieder mit Heinzelmännchen und dem Hauptprodukt gespielt. Dies knüpfte an die Vorkriegszeit an – und es ist nicht verwunderlich, dass die Firma 1918 auch die Friedensehnsucht der Zivilbevölkerung zumindest verbal aufgriff.

Gas- und Kohlennot als Absatzchancen

Die Mangelsituation nach 1914 war für die Heinzelmännchen AG eine unternehmerische Chance. Das galt aber weniger wegen des nun anbrechenden Jahrzehntes der Ernährungskrise, als aufgrund des Brennstoffmangels. Erst fehlte Kohle, dann zunehmend auch das daraus hergestellten Gas. Brennstoffe verteuerten sich erheblich, wurden rationiert, waren teils nicht mehr erhältlich, Sperrstunden für Gas folgten. Holzdiebstahl wurde üblich, teils unausgesprochen geduldet. Die Kochkiste, nicht nur das Heinzelmännchen, wurden ab spätestens 1916 in lauten Tönen gepriesen: „Die Tugenden der Kochkiste sind noch niemals so ins helle Licht getreten wie heute. Wie man den wahren Freund erst in der Not erkennt, hat die Hausfrau sie jetzt als Helferin in allen Verengungen und Nöten einzuschätzen gelernt und die Kochkiste hat sich heute in den meisten Haushaltungen Hausrecht erworben oder erwirbt es sich“ (Wirtschaftsprobleme, Rhein- und Ruhrzeitung 1916, Nr. 432 v. 25. August, 3).

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Energiesparen aus Vaterlandsliebe und Eigeninteresse (Reclams Universum 34, 1917/18, Nr. 7, s.p.)

Es dauerte noch geraume Zeit, ehe sich die Haushalte auf die neue Lage einstellten: „Eine mit Beginn des Krieges einsetzende Werbetätigkeit für den Feuerung sparenden Gebrauch von Kochhilfsmitteln, wie Kochkiste, Kochbeutel, Heinzelmännchen usw., denen sich die fettsparende Bratpfanne und die Kochtüte anschlossen – Einrichtungen, die Trotz der Teuerung immer neue Anschaffungen erforderlich machten – wurde erst von Erfolg gekrönt, als der eherne Zwang der Not dahinterstand“ (Martha Voß-Zietz, Praktische Hauswirtschaft im Kriege, in: Goetz Briefs, dies. und Maria Stegemann-Runk, Die Hauswirtschaft im Kriege, Berlin 1917, 39-64, hier 59-60).

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Heinzelmännchen für die Energiekrise (Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 435 v. 29. August, 5)

Die Werbung griff diese Notlage immer wieder auf, appellierte sowohl an den Patriotismus der Kundschaft als auch an simple Nutzenerwägungen. Zugleich aber versuchte die Heinzelmännchen AG ihre Kochkisten vom Odium des Notbehelfs zu befreien, handele es sich dabei doch auch um „in Friedenszeiten nützliche Wirtschaftsgegenstände“ (Haus Hof Garten 39, 1917, 265). Nach Kriegsende war Gas in vielen Städten nur zu vorher festgesetzten Zeiten am Morgen und zu Mittag verfügbar. Langes Kochen war nicht mehr möglich: „Ohne Kochkiste gibt es kein gutes Mittagessen mehr und mit ihr werden die Hausfrauen die Gas- und Kohlenknappheit in der Küche nicht so schmerzlich empfinden“ (Gassperre und Kochstunden, Badische Post 1919, Nr. 246 v. 22. Oktober, 7). Es ist anzunehmen, dass dies den Absatz der Heinzelmännchen beförderte, doch weiterhin waren diese für viele Kunden zu teuer. Die Gas- und Kohlennot mündete zwar in eine breite Nutzung der Brennstoffsparer, doch davon profitierten vor allem billige, vielfach selbstgezimmerte Kisten.

35_Reclams Universum_36_1920_H36_pV_Illustrirte Zeitung_157_1921_09_22_Nr4057_p249_Heinzelmaennchen_Kochkiste_Kohlennot_Gasnot

Heinzelmännchen als Universalpaket gegen Teuerung und Energieknappheit (Reclams Universum 36, 1920, H. 36, V (l.); Illustrirte Zeitung 157, 1921, Nr. 4057 v. 22. September, 249)

Die Brennstoffversorgung normalisierte sich erst 1921 wieder. Auch die Werbeaktivitäten der Heinzelmännchen AG verliefen nun wieder in Vorkriegsbahnen. Nicht nur bei P. Raddatz gab es neuerlich regelmäßige Präsentationen des Heinzelmännchens (BT 1921, Nr. 74 v. 14. Februar, 7; ebd., Nr. 121 v. 14. März, 8). Brennstoff sollte weiter gespart werden, doch neue alte Argumente tragen wieder hervor: „Den Haushalt vereinfachen, das Kochen einschränken. Das Heinzelmännchen, die Kochkiste, muß heran. Am Morgen setzt man den kochenden Topf hinein, am Abend nimmt man das fertige Gericht heraus. Die Hauptmahlzeit ist auf den Abend zu verlegen“ (Anna Plothow, Die zu Hause bleiben, Berliner Volks-Zeitung 1920, Nr. 298 v. 27. Juni, 5). Durchgesetzt hat sich das nicht. Und es ist ebenso unwahrscheinlich, dass die vermehrten Exportbestrebungen dieser Zeit (Das Echo 40, 1921, 3375) devisenträchtigen Erfolg hatten. Die vor dem Weltkrieg noch belieferten Kolonien – die Familie Raddatz besaß enge Verbindungen zu Deutsch-Ostafrika – waren schon längst weggebrochen (Briefe aus Damuka, Friedenauer Lokal-Anzeiger 1907, Nr. 133 v. 9. Juni, 5).

Niedergang während der Hyperinflation

1921 und 1922 waren für die Heinzelmännchen AG dennoch wirtschaftlich erfolgreiche Jahre. Die Dividende betrug 1921 8 Prozent, stieg aufgrund der galoppierenden Inflation 1922 gar auf 100 Prozent. Der Gewinn lag bei 61.918 resp. inflationsbedingten 818.188 M. Auch die Kassa- und Bankbestände explodierten von 176.678 auf 1,675 Mio. M (DRA 1922, Nr. 159 v. 21. Juli, 10; ebd. 1923, Nr. 255 v. 2. November, 4). Geld verlor langsam seine Ordnungs-, insbesondere aber seine Wertaufbewahrungsfunktion.

Die Heinzelmännchen AG war an sich für die Härten der Hyperinflation finanziell gut gewappnet. Otto Ritter und die Familie Müntzel waren weiterhin die bestimmenden Kräfte bei P. Raddatz. Nach dem Ausscheiden Fritz Müntzels übernahmen seine Nachfahren 1927 dessen Anteile (DRA 1927, Nr. 278 v. 29. November, 5). Ritter schied erst 1937 aus der Gesellschaft aus (Ebd. 1937, Nr. 5 v. 8. Januar, 7). Er hatte in der Zwischenzeit weitere unternehmerische Aktivitäten begonnen, etwa als Geschäftsführer der 1919 gegründeten Gesellschaft für Zellstoffveredelung oder als Miteigentümer der Max Kray & Co. Glasindustrie Schreiber AG (Berliner Handels-Register 57, 1921, Abt. B, 803; ebd. 67, 1931, Abt. B, 838). Dennoch brach während der Hyperinflation das Geschäft der Heinzelmännchen AG zusammen, wenngleich der Bankrott noch vermieden werden konnte. Nach der Währungskonsolidierung schrieb das Unternehmen 9.542 RM Verlust, weitete diesen 1925 auf 10.490 RM aus. Dividenden wurden keine mehr gezahlt, die Kassa- und Bankbestände lagen Ende 1925 bei ganzen 156 RM (DRA 1925, Nr. 248 v. 22. Oktober, 7; ebd. 1926, Nr. 171 v, 26. Juli, 10). Ende September gelang noch die Umstellung des Grundkapitals auf nunmehr 40.000 RM (Ebd. 1925, Nr. 262 v. 7. November, 10).

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Die Kochkiste Heinzelmännchen als Teil der modernen Küche (C.V.-Zeitung 3, 1924, 271)

Eine Geschäftsbelebung aber misslang. Die Heinzelmännchen AG musste ihre Werbeausgaben von 10.820 M 1921 über 24.489 M 1922 auf ganze 925 RM im Jahre 1924 reduzieren. Kochkisten wurden zwar weiterhin als Haushaltsmaschinen verwandt und empfohlen, waren Küchenbestandteil vieler Siedlungen des Neuen Bauens und auch der vor allem heute berühmten Frankfurter Küche. Doch ihre Defizite wurden von der nunmehr Bahn greifenden Vitaminforschung pointiert benannt. Das lange Kochen bei hohen Temperaturen zerstörte B- und C-Vitamine sicher. Für den Misserfolg entscheidend aber war der zu hohe Preis. Die Heinzelmännchen AG war anders als vor dem Weltkrieg nicht mehr in der Lage ihre Kochkisten zu verbessern. Andere Anbieter boten analoge Geräte zu günstigeren Preisen. Oder, um der mir unbekannten Hilde Koslowski das Wort zu erteilen: „Also: solche Kochkiste mußte ich haben. Nun mir etwa eine ‚Heinzelmännchen‘ einfach kaufen? Das litt mein Sinn für Sparsamkeit denn doch nicht“ (Wie ich statt zu einer Kochkiste zu einem Kochkorbe kam, Thüringer Imkerbote 7, 1927, 15).

Es folgte eine längere Abwicklung. Seit 1927 residierte das Einkaufsbüro der Heinzelmännchen AG in der Leipzigerstr. 122/123, am Stammsitz von P. Raddatz (Berliner Adreßbuch 1927, TI, 1208), wurde also nebenher betrieben, mochte der Firmensitz in Moabit auch weiterhin bestehen (Ebd., T. IV, 419). Zuvor konnten die Verluste auf 1926 1504 RM und 1927 201 RM verringert werden, doch 1928 steigen sie wieder auf 6574, 1929 auf 13.683 RM (DRA 1927, Nr. 115 v. 18. Mai., 4; ebd. 1928, Nr. 144 v. 22 Juni, 9; ebd. 1929, Nr. 225 v. 26. September, 11; ebd. 1930, Nr. 208 v. 6. September, 4). Zwar hatte man in der Zwischenzeit weiterhin Kochkisten verkauft, doch Gewinne waren nicht mehr zu erwarten. Die Heinzelmännchen AG wurde am 12. September 1929 aufgelöst, Otto Ritter betrieb die sich bis 1931 hinziehende Liquidation (DRA 1929, Nr. 226 v. 27. September, 5; ebd. 1929, Nr. 231 v. 3. Oktober, 7; Berliner Handels-Register 67, 1931, Abt. B, 780).

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Weiternutzung als Gebrauchtware (MNN 1925, Nr. 214 v. 4. August, , General-Anzeiger, 2 (l. oben), ebd. 1928, Nr. 102 v. 14. April, General-Anzeiger, 4 (l. unten); Westfälische Neueste Nachrichten 1933, Nr. 59 v. 10. März, 13 (Mitte unten); Westfälische Zeitung 1933, Nr. 124 v. 18. September, 8 (r. oben); Annener Zeitung 1941, Nr. 298 v. 19. Dezember 4)

Heinzelmännchen-Kochkisten wurden auch danach noch weiter gehandelt. Sie waren jetzt aber nur noch Teil des seit langem bestehenden Gebrauchtwarenhandels. Der Mercedes unter den Kochkisten bewahrte seinen Wiederverkaufswert bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein. Aus dem Alltag der vielen war das Heinzelmännchen damals aber schon längst verschwunden; allerdings nicht so jäh wie einst die Heinzelmännchen aus Köln.

Entkoppelung: Heinzelmännchens Emanzipation von der Kochkiste

Das lange Ende der Kochkiste Heinzelmännchen bedeutete das Ende einer aus der Mode gekommenen Haushaltsmaschine, die das Odium der Kriegsnot nicht abstreifen konnte, die mit neuen Narrativen wie Frisch– und Rohkost nur schwer zu verbinden war. Auch für die Heinzelmännchen war die Kochkiste nur eine Episode. Als imaginäre Helfer konnten sie sich nicht nur in der Musik und Literatur behaupten, sie gewannen in der Konsumsphäre sogar neue Bedeutung – wenngleich die neue Sachlichkeit eigentlich eine neue Produktsprache verlangte, etwa bei der 1927 erfolgten Umbenennung des von Dr. Thompson produzierten Waschmittels Heinzelmännchen in Ozonil (Dresdner Nachrichten 1927, Nr. 214 v. 8. Mai, 19; Arbeit, die sich von selbst erledigt!, Coburger Zeitung 1929, Nr. 204 v. 31. August, 4).

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Dr. Oetker-Werbung mit Heinzelmännchen (Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 340 v. 9. Dezember, 6)

Doch die Idee von Produkten, die wie die Kölner Helfer still und bedächtig im Hintergrund arbeiteten, blieb eine werbeträchtige Verheißung auch der vermeintlich goldenen 1920er Jahre. Schuhkrem (mit deutschem k) Heinzelmännchen versah noch bei Kriegsende seinen Ersatzdienst (BT 1918, Nr. 383 v. 29. Juli, 6), während das altbewährte US-Stärkeprodukt Mondamin nach der Überwindung der Hyperinflation zum „Heinzelmännchen im Teige“ agierte: „Es arbeitet verborgen und bringt den Teig zum Treiben, bis sich ein guter Kuchen ergibt“ (Berliner Volks-Zeitung 1924, Nr. 575 v. 4. Dezember, 8). Das ließ den Konkurrenten Dr. Oetker nicht ruhen. Das stets übernahmefreundliche Bielefelder Unternehmen pries die in „ihren“ Rezepten kondensierten Erfahrungen von Kochschule und Hausfrauen, mit deren Hilfe das Backen flugs von der Hand ging. Während in Anzeigen Dr. Oetkers die Heinzelmännchen speisenbewehrt aufmarschierten, nutzte man andernorts die traute Kölner Geschichte offensiv in der Backin-Werbung (Annener Zeitung 1929, Nr. 154 v. 8. November, 6).

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Heinzelmännchen im Haushalt (Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 318 v. 17. November, 6)

Abseits des schon um 1900 besetzten Terrains gewannen die immer wieder neu, immer wieder gleich gezeichneten Hausgeister weiter Terrain: Die seitdem rasch gestiegene Zahl der Putz- und Reinigungsmittel bildete eine Armee von Helfern, gewiss größer als die auf 115.000 Soldaten gedeckelte Reichswehr. In Berlin entstand die Steglitzer Teppichreinigung Heinzelmännchen, gleichnamige Putztücher, ein in München produzierter Metallreiniger oder ein entsprechendes Berliner Metallputztuch bildeten nur Vortrupps hygienisch agierender Saubermännchen (Friedenauer Lokal-Anzeiger 1918 v. 6. September, 4; Berliner Adreßbuch 1932, T. II, 457; MNN 1926, Nr. 238 v. 28. August, 12; Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 424 v. 8. September, 8).

Auch Dienstleistungen wurden im Vergleich mit 1900 nun häufiger mit Heinzelmännchenattributen versehen, zumal wenn sie Teil der surrenden Verkaufsmaschine Stadt waren. Bäcker konnten nach dem verlorenen Weltkrieg endlich wieder normal werkeln, „wieder waren freundliche Heinzelmännchen früh geschäftig, die leckeren Brötlein zu verfertigen, auf daß sie sich rechtzeitig auf dem Frühstückstisch einfänden.“ Doch die Rolle der boshaften Schneidersgattin übernahm nun die Obrigkeiten mit ihren restriktiven Vorgaben für das nächtliche Backen. Brötchen würden nicht verschwinden, doch müssten die Bäcker selbst die „freudig schaffenden Heinzelmännchen arbeitslos auf die Straße“ werfen (Das Rundstück. Ein Märchen aus verklungenen und aus neuen Tagen, Altonaer Nachrichten 1925, Nr. 253 v. 28. Oktober, 5). Derartige Schilderungen zeugten vom sich verändernden Arbeitsethos einer rationalisierten Arbeitsgesellschaft, in der man Heinzelmännchen nicht nur ahnend beschrieb, sondern sie zur Eigenbeschreibung nutzte, sich selbst also verzwergte. Das galt auch für andere Bereiche des Handwerks, dessen Technisierung zentrale Fertigkeiten an Maschinen delegierte, denn „die Maschinen, die Heinzelmännchen unserer Zeit, erwachen aus dem Schlaf und sie rühren und schlagen, kneten und schaffen“ (Beim Weihnachtsbäcker, Westfälische Zeitung 1927, Nr. 283 v. 3. Dezember, 5). Wichtiger noch wurde der Konsumentenblick: Heinzelmännchen praktizierten Dienst am Kunden, in den Kaufhäusern surrte es tagsüber wie einst im nächtlichen Köln: „Die Menschen brauchen überhaupt nichts zu tun. Die Heinzelmännchen bei Friedmann können sich richtig bewegen, sie backen das Brot in einer Backstube, sie nähen und bügeln beim Schneider, sie zapfen die Weinflaschen voll Wein beim Küfer, sie hauen die Kohlen im Bergwerk“ (Weihnachten in der Stadt, Volkswacht 1928, Nr. 293 v. 14. Dezember, 3). Die Kunden mussten nur zahlen.

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Bedeutungstransfer: Gas als Heinzelmännchen (Coburger Zeitung 1925, Nr. 58 v. 10. März, 4)

Das galt auch für neue technische Möglichkeiten, die eine zunehmend selbstverständliche Gas- und Elektrizitätsversorgung in der Zwischenkriegszeit eröffnete. Gasherde und Elektrogeräte erschienen als Heinzelmännchen. Sie würden die Fron der Alltagsarbeit durchbrechen, manches automatisieren, vieles leichter machen, Neuland erschließen. Das galt etwa für die Höhensonne Heinzelmännchen der Münchener Firma von Georg Heinzelmann, den gleichnamigen Berliner Staubsaugerverleih oder den in Bochum entwickelten und ebenso benannten elektrischen Waschkessel (MNN 1922, Nr. 454 v. 12. November, 9; BT 1924, Nr. 544 v. 15. November, 15; MNN 1924, Nr. 210 v. 4. August, 12). Abseits derartiger Einzelprodukte wurden in den späten 1920er Jahren Elektrogeräte zu Wiedergängern der alten Heinzelmännchen. In Amerika war ihr Wirken schon Alltag, Deutschland aber würde folgen (Die Heinzelmännchen der amerikanischen Hausfrau, Berliner Börsen-Zeitung 1926, Nr. 563 v. 3. Dezember, 14; C. Hermann, Elektrische Heinzelmännchen, Hannoversche Heinzelmännchen 23, 1925/26, Nr. 45, 3-4; Heinzelmännchen im Haushalt, ebd. 29, 1931-32, Nr. 8, (9)). Eine neue Zeit schien bevorzustehen: „Sie erwacht am Morgen, erwacht in einen scheinbar so nüchternen Alltag, und empfindet, verwöhnt von den neuen Errungenschaften, vielleicht gar nicht, daß die Märchen früherer Zeit – geradezu ‚über Nacht‘ – Wirklichkeit geworden sind. Heinzelmännchen, die wirken, während der Mensch schläft? Die elektrischen Stromgeister sind unsere Heinzelmännchen“ (Richard Rieß, Die elektrische Hausfrau, Berliner Börsen-Zeitung 1930, Nr. 349 v. 28. Juli, 6). Dieses Bild hielt sich bis zur Wirtschaftswunderzeit – und den Rest können Sie vielleicht aus eigenem Erleben ergänzen.

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Kontinuierliche Träume: Haushaltsgeräte als Heinzelmännchen (Hamburger Abendblatt 1968, Nr. 103 v. 3. Mai, 19)

Lässt man sich auf diese lange Perspektive ein, so wird aus der hier genauer untersuchten Kochkiste Heinzelmännchen ein recht typisches Produkt in einer langen und seit Beginn moderner Konsumgesellschaften nie wieder abgebrochenen Reihe von Konsummythen. Sie vermengten Kindheitsträume, Vorstellungen von Muße und freiem Leben mit Glück, Lebenssinn und Wohlstand. Sie nutzen diese aber zugleich für den Absatz immer neuer, strukturell ähnlicher Produkte. Sie mochten alle ihren Wert haben, Aufgaben erfüllen, Not wehren, den Einzelnen anderen gegenüber darstellen, ihm bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben helfen. Doch sie waren und sind immer auch Teil einer imaginären Traumwelt, mit der wir uns gerne umgeben, auch wenn wir wissen, dass sie letztlich nichts anderes als eine fromme Legende ist. Bleibt uns aber anderes?

Uwe Spiekermann, 10. Dezember 2022