Interessengeflechte: Deutsche Ernährungspolitik zwischen Agrarpolitik, Verbraucherschutz und Gesundheitsfürsorge im 20. Jahrhundert

Was ist Ernährungspolitik? Der Begriff fehlte im gedruckten Brockhaus, in Meyers Lexikon, wurde erst 2019 in die Wikipedia-Enzyklopädie eingetragen. Heutige Ernährungspolitik scheint also Neuland zu erschließen, ist scheinbar Gestaltungsaufgabe. Der Begriff kam jedenfalls während der BSE-Krise 2000/01 neu auf. Meist undefiniert verwandt, bündelte er vor zwei Jahrzehnten offenbar veränderte gesellschaftliche Anspruchshaltungen an das politische System, an die politische Teilhabe der Bürger, manifestierte zugleich bestehende Sorgen um die tägliche Kost und die eigene Gesundheit. Der Begriff erlaubte, unsere Art der Regulierung von Nahrungsmittelproduktion, Ernährungsmärkten und der Essenden im Zusammenhang denken, sie zu verbessern und zukunftsfähig zu gestalten.

Themenfelder der staatlichen Ernährungspolitik (Straka, 2007, 732; nach Meier-Ploeger, 2005, 5)

Dies ist auch Wissenschaftlern nicht verborgen geblieben. Politikwissenschaftler feierten etwa den Übergang vom Schutz zur Aktivierung der Konsumenten als Anbruch einer neuen Ära (Christoph Strünck, Re-Shaping Consumer Policy in Europe. Enabling Consumers to Act?, German Policy Studies 4, 2008, 1-6). Die Ernährungswissenschaftlerin Dorothee Straka sah damals Anzeichen dafür, „dass Deutschland ernährungspolitisch der Vision von einer ‚Ernährungspolitik im Verbraucherbereich‘ in den letzten Jahren näher gekommen ist“ (Dorothee Straka, Ernährungspolitik in Deutschland. Von der Ernährungssicherung bis zum gesundheits­fördernden Lebensstil, Ernährungs-Umschau 54, 2007, 730-736, hier 736). Diese wurde 2005 in einem „Grundsatzpapier Ernährungspolitik“ des Wissenschaftlichen Beirates „Verbraucher und Ernährungspolitik“ beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz analysiert (Angelika Meier-Ploeger, Grundsatzpapier Ernährungspolitik […], Witzenhausen und Berlin 2005). Das Forum Gesundheitsstiftungen hatte im November 2008 ergänzend die „staatliche Verantwortung für gesunde Ernährung“ angemahnt und eine verbesserte Verhältnisprävention gefordert (Gesa Schönberger und Thomas Hartmann, Staatliche Verantwortung für gesunde Er­nährung, Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen 17, 2009, 34-41). Es knüpfte damit an zahlreiche gesundheitspolitische Aktionspläne an, wie sie etwa die Weltgesundheitsorganisation ein Jahrzehnt zuvor ausformuliert hatte (Erster Aktionsplan Lebensmittel- und Ernährungspolitik. Europäische Region der WHO 2000-2005, o.O. 2001). Man propagierte nicht mehr allein Krankheitsbekämpfung, sondern zielte zunehmend  auf Gesundheitsförderung.

Diesen zu Papier geronnen Entwicklungen und Einschätzungen standen allerdings auch gewichtige kritische Stimmen gegenüber. Das Kölner Katalyse Institut hob schon 2004 hervor, dass die hierzulande angekündigte Ernährungswende die politischen und wissenschaftlichen Institutionen nicht wirklich verändert habe (Frank Waskow und Regine Rehaag, Ernährungspolitik nach der BSE-Krise – ein Politikfeld in Transforma­tion, Köln 2004). Auch der Verbraucherverein Foodwatch bescheinigte den rot-grünen und rot-schwarzen Bundesregierungen eine nur magere ernährungs- und agrarpolitische Bilanz (Bilanz und Ausblick deutscher Ernährungs- und Agrarpolitik aus Verbrauchersicht, Berlin 2005 (Ms.)). Nach dem Regierungs- und Ministerwechsel sei das Ernährungsministerium nun wieder ein „Klientelministerium“, das vorrangig die etablierten Interessen der Land- und Ernährungswirtschaft bediene. Hierüber wird zu reden sein.

Ein Historiker nimmt derartige Debatten und Aktionspläne interessiert zur Kenntnis, stellt sie jedoch in andere Perspektiven. Um die politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben im Ernährungsbereich in Gegenwart und Zukunft anzugehen, scheint es mir sinnvoll, ja unabdingbar, die bestehenden Strukturen des kaum definierten Gestaltungsfeldes Ernährungspolitik in einen breiten historischen Kontext zu stellen. Ohne derartiges Orientierungswissen über die Gründe für die heutigen Strukturen wird man nicht in der Lage sein, Aufgaben realistisch zu definieren und zu hierarchisieren. Ohne historische Grundkenntnisse wird man einzig an Fehlern und Illusionen scheitern, die schon Generationen vor uns begangen haben.

Denn der seit 2000/01 wieder breiter verwandte und zunehmend modische Begriff Ernährungspolitik war weder neu, noch mit neuartigen Gestaltungsaufgaben verbunden. Von „Ernährungspolitik“ wurde vereinzelt schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gesprochen, um angesichts der interessengetriebenen Agrarpolitik die Belange der Konsumenten nicht zu vergessen. Der Begriff setzte sich dann im Ersten Weltkrieg allgemein durch. Angesichts wachsender Unterversorgung der arbeitenden Bevölkerung in den Städten versuchte man dadurch begrifflich die tradierte Agrarpolitik und die Versorgungsansprüche der städtischen Konsumenten in ein erträgliches Gleichgewicht zu bringen. Dergestalt wurde Ernährungspolitik ein Leitbegriff während der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus. Während der Nachkriegszeit hielt man an ihm in Ost und West fest, doch er verlor angesichts wachsenden Wohlstands an Bedeutung, ehe die BSE-Krise die natürlich auch vorher bestehenden Strukturprobleme des Gestaltungsfeldes offen zu Tage treten ließ.

Die folgenden drei Kapitel werden die Hauptlinien der deutschen Ernährungspolitik im kurzen 20. Jahrhundert aufzeigen: Am Anfang steht eine kurze Darstellung der aktuellen Strukturen. Zweitens gilt es dann in wagemutiger Verkürzung die historischen Strukturen des Politikfeldes darzustellen, ehe ich abschließend versuchen werde, die Gestaltungsmöglichkeiten des Politikfeldes Ernährung vor dem Hintergrund historischer Pfadabhängigkeiten pointiert zu bewerten.

Ein widersprüchliches Politikfeld: Konturen der heutigen Ernährungspolitik

Lassen Sie mich im Hier und Jetzt beginnen: Ernährungspolitik steht heute zwischen den Polen eines randständigen und zerklüfteten Politikfeldes und eines für die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften zentralen Handlungsfeldes. Es geht um wichtige, um prägnante Fragen: Wie organisieren wir unsere Lebensmittelproduktion, und wie kann ein breites, hochwertiges und zugleich bezahlbares Nahrungsangebot auch in Zukunft sichergestellt werden? Wie schaffen wir eine Balance zwischen den Vorgaben „richtiger“, „gesunder“ Ernährung und dem Wunsch nach einem guten Leben, nach Genuss und Tischgemeinschaft? Wie schützen wir uns alle vor Übervorteilung und falschen Versprechungen, wie stärken wir uns durch Bildung und realisieren unsere Selbstverantwortung? Wie ist all das mit globalen Herausforderungen und Aufgaben zu verbinden?

Diese großen Fragen werden nicht nur von einem kleinen Bundesministerium beantwortet, das knapp zwei Prozent des Bundeshaushalts verteilt, das vornehmlich für die sozialen Belange der Bauern aufkommt. Dominieren im Ernährungsministerium nach wie vor agrarpolitische Aufgaben, so beschäftigen sich auch das Gesundheits- und Umweltministerium mit Fragen einer „gesunden“ und „nachhaltigen“ Ernährung. Der Rahmen lässt sich weiter fassen: Forschungs- und Bildungspolitik, Rechts- und Wirtschaftspolitik, die zahlreichen bundesdeutschen Parlamente; sie alle beeinflussen das Handlungsfeld Essen/Ernährung. Sie sind jedoch nur lose miteinander vernetzt und folgen vielfach nicht miteinander abgestimmten, teils widersprüchlichen Zielen. Nichtraucherschutz und die Subventionierung von Tabakanbau sind dafür ein beredtes Beispiel. Nicht nur auf Bundesebene finden wir ein zersplittertes Politikfeld: Ernährungspolitik wird im Rahmen globaler Abkommen, der Europäischen Union, der Bundes-, Landes- und Kommunalebenen unterschiedlich definiert und gehandhabt. Der Verzicht auf das EU-Schulobstprogramm in mindestens vier Bundesländern steht etwa in klarem Gegensatz zu den Zielsetzungen des Bundesgesundheitsministeriums und vieler halbstaatlicher Akteure. Die gemeinsame Klammer dieser Ebenen bilden Personenverbände, vorwiegend agrarwirtschaftlicher und medizinisch-naturwissenschaftlicher Experten. Sie sind vielfach staatlich finanziert, dienen aber auch wirtschaftlichen und medizinischen Interessengruppen sowie den zahlreichen Institutionen des Verbraucherschutzes und der Ernährungsaufklärung. Man kann die Unterschiede betonen, doch realistischer ist es, von einer strukturell recht einheitlichen Wissens- und Funktionselite auszugehen. 

Da die Auflistung nur der wichtigsten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure den Umfang sprengen würde, will ich nur die damit verbundenen Konsequenzen benennen: 1. Ernährungspolitik in seinen unterschiedlichen Interessen dient erst einmal Partikularinteressen, sei es der Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Handel und nicht zuletzt der Wissenschaft. Sie ist 2. in umkämpften gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Feldern angesiedelt, birgt deshalb ein grundsätzlich hohes Konfliktpotenzial. Ernährungspolitik wird 3. in kleinteiligen Debatten erörtert. Stichworte wie Milchbauern, Amflora oder Übergewicht zeigen deutlich, dass thematische Snacks im Vordergrund stehen, während die gedeckte Tafel kaum sichtbar wird. Einzelthemen und Kampagnen dominieren in der Öffentlichkeit, prägen die Arbeit der Akteure, werden im Mediensystem eng widergespiegelt. Ernährungspolitik zielt 4. schließlich auf den Essalltag und die Ernährungspraxis, verfügt aber kaum über Wissensbestände und Handlungsoptionen, um hier Erfolge erzielen zu können. Die Gründe für diese Engführungen sind nur historisch zu erklären.

Genese und Wandel der deutschen Ernährungspolitik im kurzen 20. Jahrhundert

„Ernährungspolitik“ – das schrieb ich schon eingangs – ist begrifflich und inhaltlich ein Kind des Ersten Weltkrieges. Angesichts der völkerrechtswidrigen Blockade der Alliierten und der Unfähigkeit der bestehenden öffentlichen und militärischen Institutionen, eine effiziente und gerechte Verteilung der vorhandenen Nahrung zu organisieren, zentralisierte man zuvor von den Landwirtschaftsministerien der Länder und der Daseinsfürsorge der Kommunen wahrgenommene Aufgaben. 1916 entstand das Kriegsernährungsamt, aus dem schließlich 1924 das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft hervorging. Dadurch sollten die zuvor vorrangig auf Ebene der Bundesstaaten und der Kommunen angesiedelter ernährungsbezogener Politiken koordiniert und ergänzt werden.

Kooperation zwischen Reich und Ländern: Ernährungsministerkonferenz 1921 (Der Welt-Spiegel 1921, Nr. 11 v. 6. März, 3)

Die Kommunen hatten im Städterecht des 19. Jahrhunderts einen Blankoscheck zur Regelung aller sie unmittelbar betreffenden Angelegenheiten erhalten. Selbstverwaltung der Bürger umgriff die Regulierung lokaler Märkte, die Kontrolle der Lebensmittel, die Sicherung der Verbraucher vor Täuschung und Gesundheitsschädigung sowie die Armenfürsorge. Auch die hygienische Grundversorgung wurde zur kommunalen Aufgabe: Wasserversorgung und Abwassersysteme, später auch Krankenhäuser, Säuglingsküchen und kommunale Untersuchungsämter bildeten ein Netzwerk der Daseinsfürsorge, dessen Ausbau die Lebenserwartung beträchtlich erhöhte.

Erziehung und Aufklärung der Konsumentinnen: Kochunterricht in einer Berliner Gemeindeschule (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 26, 6)

Die deutschen Staaten konzentrierten sich dagegen stärker auf die Förderung der Landwirtschaft, also den bis in die 1890er Jahre wichtigsten Wirtschaftssektor. Kreditgewährung, Entwässerung, Flurbereinigung, Moorerschließung, Straßen- und Kanalbau, die Liste einschlägiger Infrastrukturprojekte ließe sich erweitern. Sie wurde spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts ergänzt durch umfassende Investitionen in die Agrarwissenschaften, die nicht nur an Universitäten gelehrt, sondern zunehmend auch in Forschungsanstalten, in landwirtschaftlichen Experimentierstationen, institutionalisiert wurden. Dies galt auch für die neuen, akademisch gebildeten Gruppen der Chemiker, dann der Nahrungsmittelchemiker, der Physiologen, der Pädiater, der Militärärzte und, zahlenmäßig am stärksten, der Veterinärmediziner und ihrer Hilfskräfte. Die Länder kümmerten sich um die Lebensmittelkontrolle, allein die Zahl der Fleischbeschauer lag um 1900 bei mehr als 30.000 Personen. Daneben wurden in hauswirtschaftlichen Lehranstalten Frauen im Kochen und der Haushaltsökonomik unterrichtet. Parallel entwickelte sich eine naturwissenschaftlich orientierte Wissenschaft der Lebensmittelzubereitung, die sich nicht nur im Laboratorium, sondern vorrangig am Markt zu bewähren hatte.

Grundsicherung: Fleischkontrolle in Berlin (Daheim 39, 1902/03, Nr. 1, 19)

Der spät entstandene deutsche Zentralstaat konzentrierte sich anfangs auf Grundlagenforschung, etwa im Rahmen des 1876 gegründeten Reichsgesundheitsamtes, sowie eine allgemeine Rahmengesetzgebung, etwa durch das 1879 erlassene Nahrungsmittelgesetz oder spätere Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb. Auch das Außenhandelsrecht erlaubte wichtige Entscheidungen über die verfügbaren Lebensmittel und wurde zunehmend zum Schutz der Landwirtschaft genutzt. Die Regulierungsdichte aber blieb gering, der Staat konzentrierte sich auf Versorgungssicherheit und Gesundheitsschutz. Die von Pharmazeuten und Chemikern vorangetriebene stoffliche Normierung und die von der Physiologie entwickelten Kostmaße des empfohlenen Essens blieben rechtlich unverbindlich, mochten sie auch für Gefängnisse, Krankenanstalten und das Militär an Bedeutung gewinnen. Die Art der Ernährung blieb dem Einzelnen überlassen, hauswirtschaftliche Bildung ebenso.

Trotz mancher Tendenzen der Vereinheitlichung waren für das Kaiserreich Abstimmungsprobleme und Interessengegensätze zwischen den einzelnen Ebenen der Ernährungspolitik üblich. Hohe Zölle und preiswerte Versorgung der Arbeiter standen miteinander im eklatanten Widerspruch, der Kontrolldruck auf die Ernährungswirtschaft war in Preußen gering, während das agrarische Bayern zum weltweiten Vorbild moderner Lebensmittelkontrolle wurde. Wohlhabende Kommunen investierten in ein breit gefächertes Netzwerk der Ernährungsfürsorge, ärmere nahmen diese Aufgaben kaum wahr. Ähnliches galt für den Verbraucherschutz, der noch vorwiegend auf Selbsthilfe durch Konsumgenossenschaften und bürgerlichem Engagement gründete, da die wenigen Gesetze nur grobe Missstände beseitigten.

Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg als Büttel der Agrarlobby 1912 und der Leiter des Kriegsernährungsamtes Adolf von Batocki-Friebe als gerechter Ernährungsdiktator (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7642 (l.); Ulk 45, 1916, Nr. 22, 5)

Insgesamt gab es also schon vor einem Jahrhundert ein breites Arsenal ernährungsbezogener Politiken, die jedoch unkoordiniert, regional disparat und rechtlich vielfach unverbindlich waren. Insbesondere der Zentralstaat übte seine Gesetzgebungskompetenz zurückhaltend aus und nahm systematisch Rücksicht auf die Interessen von Landwirtschaft, Ernährungsindustrie und mittelständischem Handel. Kennzeichnungsvorschriften und Verpackungszwang wurden erst 1916/17 rechtsverbindlich, Mindestqualitäten und Lebensmittelbezeichnungen erst nach der Novelle des Lebensmittelgesetzes 1927, Handelsklassen folgten Jahre nach der Weltagrarkrise seit 1930. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne wachsende Investitionen des Zentralstaates und auch der Länder in zahlreichen Reichs- und Landesforschungsanstalten. Die Politik setzte auf die Definitions- und Gestaltungsmacht der Natur- und Wirtschaftswissenschaften, um den deutschen Binnenmarkt effizienter zu gestalten, um zugleich aber die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten zu vermindern. Dies bedingte eine neuerliche Forcierung der Agrarsubventionen und einem 1930 einsetzenden und 1933/34 wesentlich beschleunigten Übergang zu einer gelenkten Wirtschaft im Bereich der Ernährung, die schon früh die Kriegswirtschaft vorwegnahm.

Sport, gesunde Ernährung und Hygiene als Grundlagen eines langen Lebens (Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 4 v. 25. Januar, 15)

Während der 1930er Jahre wurde etwa die Hälfte der öffentlichen Forschungsgelder in den Agrar- und Ernährungssektor gelenkt. Ein neuerlicher Krieg war ohne eine integrierte Ernährungspolitik unter Einbezug der Einzelnen nicht zu gewinnen – das war eine zentrale Lehre aus der Niederlage 1918. Das bedeutete auch neue Anforderungen an die Gesundheitspolitik, die in den Innenministerien von Reich und Ländern sowie den kommunalen Gesundheitsämtern verankert wurde. Die Sozialhygiene sah in der Ernährung schon seit langem einen Schlüsselfaktor der Armutsbekämpfung und der Gesundheitsprävention. Die Rassenhygiene des NS-Staates konzentrierte sich dann auf die gezielte Hege des deutschen Menschen und der Volksgesundheit. Die Entdeckung der Vitamine und die wachsende Bedeutung der Mineralstoffe gaben Idealen einer wissenschaftsbasierten Umstellung der Alltagskost Überzeugungskraft. Aufklärung und Ernährungspropaganda wurden zunehmend verstaatlicht.

Hauswirtschaftliche Bildung und Haushaltsratgeber 1939/40 (Blick in die Welt 1939, Nr. 12, 3 (l.); Ernährungs-Dienst 1940, Nr. 26, 1)

Die Haushalts- und Ernährungswissenschaften propagierten unisono eine dominant vegetabile, regionale und saisonale deutsche Kost, gesundheitliche Ernährungslenkung  ging einher mit agrar- und rüstungspolitisch motivierter Verbrauchslenkung. Neu etablierte Berufe, wie etwa der der Diätassistentin, und ein wachsender Bedarf an ausgebildeten Köchinnen und Hauswirtschaftskräften integrierten hunderttausende junge Frauen in die Anstrengungen des Regimes, Frauen, die bis in die 1970er Jahre die west- und ostdeutsche Ernährungsaufklärung prägten. Die Ernährungskommunikation wurde zentralisiert, kombinierte erfolgreich praktische Übungen mit schriftlichen und visuellen Informationen. Zufuhrempfehlungen und Zuweisungen veränderten die immer stärker staatlich organisierte Außer-Haus-Verpflegung, von der am Kriegsende ein Drittel der Deutschen elementar abhängig war. Dies ging einher mit zahlreichen Regulierungen der Lebensmittelkennzeichnung und des Schadstoffgehalts, obwohl zugleich preiswerte Lebensmittelaustauschstoffe immer größeres Gewicht gewannen und während des Krieges viele Maßnahmen wieder suspendiert wurden. Unabhängige Verbrauchervertretungen gab es während des NS-Regimes nicht, doch die große und wachsende Schar wissenschaftlicher Experten sah sich vielfach als Sachwalter und zugleich Erzieher der Konsumenten. Auch die alternative Landwirtschaft expandierte, die Reformwarenwirtschaft erlebte einen beträchtlichen Boom, die Reichsgesundheitsgütemarke nahm das Biosiegel vorweg. Diese hier nur angerissenen Entwicklungen einer integrierten Ernährungspolitik wurden auch durch neu errichtete halbstaatliche Organisationen, wie etwa die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsforschung, den Forschungsdienst oder die Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung, getragen. All dies diente dem übergeordneten politischen Ziel von auf Eroberung, auch auf Nahrung zielenden Eroberungskriegen. Die Versorgung der deutschen Bevölkerung konnte auf Kosten der besetzten Gebiete und von Abermillionen Hungertoten „im Osten“ fast bis Kriegsende auf einem auskömmlichen, zumindest aber erträglichen Niveau gehalten werden.

Selbstdarstellung der NS-Ernährungspolitik 1940 – Der Mythos einer Kooperation aller Betroffenen (Ernährungsdienst 1940, Nr. 25, I, IV)

Die relative Effizienz der ernährungspolitischen Strukturen zeigte sich nicht zuletzt in der Fortführung der Reichsnährstandstrukturen bis 1948. In der unmittelbaren Nachkriegszeit trat die Frage einer qualitativ hochwertigen Ernährung in den Hintergrund, die Politik dieser Zeit kreiste erst einmal um eine ausreichende Grundversorgung. Abgesehen von einer kurzen Periode moderaten Wettbewerbs Anfang der 1950er Jahre wurden der Landwirtschaft systematische staatliche Produktionsanreize gegeben, die angesichts der intensivierten Technisierung, Chemisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft nun auch zu rasch steigenden Flächenerträgen führte. Der Grüne Plan 1955 und die Römischen Verträge 1957 mündeten in eine „subventionierte Unvernunft“, wobei das Hauptziel der Versorgungssicherheit zunehmend vom Nebenziel eines sozialpolitisch abgemilderten Strukturwandels des Agrarsektors überwölbt wurden.

Rationengesellschaft: Lebensmittelversorgung deutscher Zivilisten durch die US Army (Time 1945, Nr. 13, 22)

Ernährungspolitik mutierte in den 1950er Jahren auch deshalb wieder zur Agrarpolitik, weil die ernährungsbezogene Gesundheitspolitik ideologisch desavouiert war, die Ernährungswissenschaft sich neuerlich organisieren musste und die relativ liberale Wirtschaftspolitik den Marktkräften an sich Raum zur Entfaltung gab. Staatlicher Verbraucherschutz gewann trotz des dominierenden Leitbildes eines schwachen und einfach verführbaren Konsumenten nur langsam an Bedeutung. Konsumgenossenschaften und Hausfrauenverbände bündelten dagegen ihre Kräfte und gründeten 1953 die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, deren politischer Einfluss jedoch begrenzt blieb.

Kontinuierlicher Strukturwandel der Landwirtschaft: Größere, doch weniger Betriebe in Schleswig-Holstein (Hamburger Abendblatt 1960, Nr. 295 v. 17. Dezember, 24)

Politische Veränderungen wurden in den 1950er Jahren erstmals vom Parlament und einer breiten öffentlichen Protestbewegung gegen vermeintlich vergiftetes Essen errungen, die zunehmend auch von Gegenexperten unterstützt wurde. Das Lebensmittelgesetz von 1958 etablierte das Vorsorgeprinzip, Folgeverordnungen verboten zahlreiche Zusatz- und Konservierungsstoffe, verboten und regelten neue Konservierungstechniken, festigten zugleich aber die Kontroll- und Definitionsmacht der Naturwissenschaften. Dies galt erst einmal für die agrarwissenschaftliche Ressortforschung, die 1953 gegründete Deutsche Gesellschaft für Ernährung, die wissenschaftlichen Beiräte der Ministerien und halbstaatliche Institutionen der Ernährungsbildung, etwa dem aid. Doch auch die Medizin gewann im Kampf gegen vermeintliche Zivilisationskrankheiten wieder an Bedeutung: 1961 wurde mit dem neu gegründeten Bundesministerium für Gesundheitswesen die Suchtprävention und der Kampf gegen Fehlernährung verstärkt, war doch der Gewichtsanstieg der deutschen Bevölkerung in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Beispiel. Rivalitäten zwischen den Ministerien und den verschiedenen Institutionen in Bund, Ländern und Kommunen nahmen zu dieser Zeit zu. Neue Oberbehörden, wie die 1967 gegründete Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, verstärkten diesen Trend, zeugten zugleich aber vom Reformoptimismus dieser von Machbarkeitsvorstellungen geprägten Zeit. Dies galt auch für die stärker zentralisierte DDR, deren Agrarpolitik zu dieser Zeit vielen westdeutschen Wissenschaftlern als zukunftsweisend galt, deren Gesundheitspolitik sich hinter der des westlichen Bruders kaum verstecken musste.

Massentierhaltung als Dienst am Konsumenten: Geflügelwerbung in Ost- und Westdeutschland (Neues Deutschland 1960, Nr. 200 v. 23. Juli, 5 (l.); Hör Zu 1968, H. 43, 50)

Die wachsenden Finanzierungsprobleme der ausufernden und von Ost- und Westdeutschland nicht mehr souverän zu gestaltenden Agrarpolitik, die seit den 1960er Jahren zunehmend wahrgenommenen Umweltschäden und die mit dem Wandel zu postmateriellen Werten einhergehende Neubelebung der ökologischen Bewegung ließen Anfang der 1970er Jahre Fragen nach qualitativem Wachstum und einer qualitativ hochwertigen Ernährung auf die Tagesordnung auch der Politik treten. Das galt für Ost und West, doch die Ignoranz der damit verbundenen Aufgaben waren ein wichtiger Grund für den Kollaps der DDR 1989. Die westdeutsche Ernährungspolitik reagierte mit der Integration der Verbraucherpolitik deutlich offener, etablierte 1964 nach langen Debatten auch die Stiftung Warentest. Umweltschutzthemen wurden schon lange vor der Gründung des Ministeriums 1986 im Innen-, Landwirtschafts- und Gesundheitsministerium institutionalisiert. Die sozialliberale Koalition setzte eine stärkere Regulierung der Lebensmittelkennzeichnung durch, während sich in den frühen 1970er Jahren neuerlich die öffentlichen Auseinandersetzungen über die industrialisierte Landwirtschaft, die Schadstoffbelastung und die Qualität der Lebensmittel intensivierten. Begrenzte Veränderungen erfolgten im EU-Bereich, nicht aber ein struktureller Wandel der weiter landwirtschaftlich dominierten Ernährungspolitik. Die Auseinandersetzungen von Bauernverband und Landwirtschaftsministerien mit dem wieder erstarkenden Ökolandbau und die innerwissenschaftlichen Debatten über Vegetarismus und Vollwerternährung verdeutlichen einen auch in historischer Perspektive außergewöhnlichen Strukturkonservatismus des Juste milieu der Bundesrepublik.

Ende der tradierten Agrarpolitik? Karikatur zur BSE-Krise 2000 (Frankfurter Rundschau 2000, Nr. 297 v. 21. Dezember, 1)

Einen wichtigen rhetorischen Einschnitt bildete schließlich die BSE-Krise 2000/01. Der dramatische (wenngleich kurzfristige) Vertrauensverlust der breiten Mehrzahl reagierte auf eine alltagsferne Agrarpolitik, die die Folgen der eigenen Strukturentscheidungen nicht tragen, sondern vertuschen wollte. In Deutschland folgerten hieraus beträchtliche, in den Begriffen „Agrarwende“ und „Ernährungswende“ gebündelte Veränderungen, mochten beide auch weit hinter den ursprünglichen Zielen zurückgeblieben sein. Nach EU-Vorbild wurden Risikobewertung und Risikomanagement voneinander getrennt, an die Stelle des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin traten 2002 insbesondere das Bundesinstitut für Risikobewertung sowie das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Schon zuvor hatten sich die Verbraucherschützer mit der Verbraucherzentrale Bundesverband eine schlagkräftigere Vertretung gegeben, nachdem unterschiedlich ausgerichtete Verbraucherorganisationen die Interessenvertretung erschwert hatten. Sie fanden nun wachsendes Gehör, ohne aber politikbestimmend zu werden. Dagegen veränderte die Ressortforschung ihre Ausrichtung kaum, blieb der Ausbau von Ernährungskompetenzen trotz der Integrationen einschlägiger Referate des Gesundheitsministeriums gering. Der staatliche Verbraucherschutz wurde gewiss verbessert, das inhaltlich gescheitere Verbraucherinformationsgesetz aber verwies auf gravierende Defizite bei der Informationsgewinnung und den Verbraucherrechten. Die Agrarpolitik stand nach wie vor im Zentrum der Arbeit des Ernährungsministeriums, die Ernährungspolitik wurde in enger Kooperation mit den einschlägigen Interessengruppen der Ernährungswirtschaft formuliert. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen, wie etwa über die Gentechnik resp. „Biotechnologie“ dauerten an, ebenso die am Beispiel der Milchbauern offenkundigen Wechselspiele des Marktgeschehens.

Ernährungspolitik als Gestaltungsaufgabe!? Ergebnisse und Konsequenzen

Fassen wir zusammen, ziehen daraus auch Folgerungen für die Gestaltungsaufgabe Ernährungspolitik:

  1. Die Ernährungspolitik befand sich seit dem späten 19. Jahrhundert in einer defensiven und reaktiven Stellung zu den Veränderungen im Handlungsfeld Essen/Ernährung, zur Dynamik einer Wissens- und Konsumgesellschaft. Die relativ abnehmende Bedeutung der Landwirtschaft, das schnell anwachsende Wissen der Naturwissenschaften und Medizin sowie ihr Gestaltungsoptimismus im Umgang mit dem „menschlichen Tier“ verankerten eine sektoral ausgerichtete Interventionskultur, die erhebliche nicht intendierte negative Folgen für andere Wirtschaftssektoren und Lebensbereiche billigend in Kauf nahm, um Partikularinteressen zu genügen. Eine Überwindung dieser defensiv-reaktiven Grundausrichtung erfordert eine Rückbesinnung auf die gesellschaftliche und alltagspraktische Bedeutung von Essen/Ernährung und die Berücksichtigung von Ernährungspolitik als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe.
  2. Die Ernährungspolitik hat zentrale Bereiche des Ernährungswandels des letzten Jahrhunderts nicht mit bedacht und daher auch nicht mit bestimmt. Dies gilt für die bis heute kaum problematisierte einseitig naturwissenschaftliche Deutung von Nahrung und Ernährung, die Gestaltungsdynamik von Industrie und insbesondere Handel, die Kommerzialisierung der Nahrung, die mit den Umdefinitionen des Räumlichen verbundenen Identitätsprobleme sowie den im Ernährungsbereich dominierenden semantischen Illusionen, die inhaltleere, weil an Alltagspraxen nicht rückgebundene Begriffe wie „Frische“, „Genuss“, „Geschmack“, „Gesundheit“ oder „Natur“ zwingend mit sich bringen. Ernährungswandel war und ist wirtschaftlich und gesellschaftlich bedingt. Ernährungspolitik wird nachhaltige und zukunftsfähige Gestaltungskraft nur dann gewinnen, wenn die sie tragenden und prägenden Personen diese Entwicklungen seriös analysieren und langfristige Strategien in Kooperation, teils aber auch im Konflikt mit wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickeln. Ignoranz einer mit den eigenen Vorstellungen nicht kompatiblen „Realität“ wird bestehende Probleme nicht mildern, sondern verschärfen.
  3. Der Begriff der Ernährungspolitik besitzt den Charme, sektoral unterschiedliche Politikfelder integrieren zu können. Doch diese Integration darf sich nicht in der effizienteren Koordinierung von Agrar-, Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz erschöpfen. So wichtig und unabdingbar die mit dem Begriff Ernährung verbundene Perspektive auf die Wertschöpfungsketten und den Metabolismus auch sein mag; will man Alltagshandeln erfolgreich und eigenbestimmt verändern, dann sind auch die mit dem Begriff des Essens verbundenen Bedeutungsdimensionen mit zu bedenken. Ebenso wie derjenige, der Essen verbessern will, abseits der Ernährungswissenschaft immer auch eine Esswissenschaft benötigt, um situationsadäquat denken und handeln zu können, so bedarf auch das Handlungsfeld Essen/Ernährung einer Ernährungs- und einer Esspolitik. Die Regulierung der Essenden wird scheitern, nimmt man diese nicht erst, versteht man nicht die Rationalität auch offenbar „irrationalen“ Verhaltens und Essens. Ernährungspolitik auch als Esspolitik zu denken, mag anachronistisch und naiv klingen. Doch diese Ergänzung erscheint mir gerade in formal demokratischen Gesellschaften unabdingbar zu sein. Ernährungspolitik wird dann vielleicht mehr erlauben als effizienteres Krisenmanagement, stetig neuartige Kampagnen und Aktionspläne, die wohlmeinende Lenkung der anderen, der Mehrzahl. Die Gestaltungsaufgabe Ernährungspolitik setzt verändertes Denken der Experten ebenso voraus, wie ein breiteres Problembewusstsein der demokratisch gewählten und nominell dienenden Repräsentanten.

Uwe Spiekermann, 22. November 2025

Bei dem vorliegenden Artikel handelt es sich um einen moderat veränderten und mit teils anderen Abbildungen versehenen Vortrag zur Tagung „Über den Tellerrand. Gestaltungsaufgabe Ernährungspolitik“, die am 1. und 2. März 2010 in Berlin als Gemeinschaftsanstrengung der Arbeitsgemeinschaft Ernährungsverhalten (deren Vorsitzender ich damals war) und der Verbraucherzentrale Bundesverband veranstaltet wurde. Derweil ist einiges geschehen, in der Ressortforschung, der Gesundheitsaufklärung, der Ernährungskommunikation – nicht immer zum Bessern. Doch aus meiner Sicht spiegelt dieser fünfzehn Jahre alte Artikel die intellektuelle Stagnation der deutschen Ernährungspolitik deutlich wieder. Sie ist weiterhin eine Klientelpolitik, deren Gunstgruppen zwar je nach politischen Vorzeichen wechseln, die sich aber vor allem strukturell lernunfähig zeigt. Wiederholt gescheiterte Ansätze und Politiken werden wiederholt, der eigene Anteil an den bestehenden Problemlagen im Handlungsfeld Essen/Ernährung mit bunten Bildchen und Sprachspielen übertüncht.

Trug und Weltgeschäft: Der Bierersatz Hopkos

Um 1900 konnte man mit alkoholfreien Getränken eine schnelle Mark machen. Kohlensäure, Essenzen und Aromastoffe ermöglichten neuartige Angebote, die neben Wasser, tradiertem Fruchtsirup, die Heilwässer und Heißgetränke traten. Seit 1896 entstanden zudem alkoholholfreie Weine und auch alkoholfreie Biere. Sie waren teils Werbefiktionen, entsprachen vor allem geschmacklich nur selten den alkoholhaltigen Originalen. Doch Alkoholika wurden damals verstärkt in Frage gestellt, Mäßige und Abstinente forderten eine Nüchternheitswende – und der Markt, viele Tüftler und Geschäftsleute lieferten. Sie agierten in einem gestalterischen Möglichkeitsraum, denn die uns geläufigen Produktkategorien waren noch nicht definiert und staatlich reguliert. Die Nichtalkoholika spiegelten und materialisierten denn auch die tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen und technologischen Brüche der Jahrhundertwende, des Fin de Siècle.

Die soziale Frage dominierte die Politik, der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital überwölbte und verdrängte die autoritäre Ordnung der ständischen Gesellschaft. Die Ernährungswissenschaften hatten tradierte Vorstellungen über richtiges Essen (und Trinken) in Frage gestellt. Das Wissen um chemische Stoffe und den Stoffwechsel in Pflanzen, Tieren und Menschen erlaubte überzeugende, „gesunde“ Alternativen. Neu entwickelte Maschinen ermöglichten Eingriffe in das Innere der nun gewerblich umgestaltbaren Natur. Seit den 1860er Jahren nahm die Zahl neuartiger Lebensmittel rasch zu, Rübenzucker und Säuglingskost, Margarine und Suppenpräparate sind nur plakative Beispiele für eine große und wachsende Palette immer neuer Angebote. Auch die Getränke veränderten sich: Seit den 1820er Jahren kam der Kartoffelschnaps, der „Branntwein“ auf, und das tradierte Bier veränderte sich seit den 1870er Jahren zu einem zuvor kaum denkbaren standardisierten Produkt. Auch Nichtalkoholika blieben vom Malstrom der Umgestaltung nicht unberührt: Die zunehmend separierte, gefilterte, auf hohen Fettgehalt optimierte und teils auch pasteurisierte Milch unterschied sich deutlich vom Melkertrag früherer Zeiten. Ähnliches galt für die „künstlichen“, mit Kohlensäure prickelnd gehaltenen Mineralwässer, die gegenüber ihren „natürlichen“ Namensvettern Geschmacks- und Haltbarkeitsvorteile hatten. Während aber in Großbritannien und den USA auch „Soft Drinks“, also kunstfertige Mischungen aus Wasser, Kohlensäure, Kräuterextrakten, Aromen, Zucker und Süßstoffen entstanden – Tonic Water und Coca-Cola sind bekannte Beispiele –, blieb dieses Marktsegment in Mitteleuropa unterentwickelt. Teurer Zucker, das Hausbrauen, ein weniger strikt agitierender Protestantismus und die vermeintlich „schwache“ Natur dieser Getränke bieten Erklärungen.

Der Aufschwung der alkoholfreien Getränke um die Jahrhundertwende war demnach eine nachholende Entwicklung. Sie verlief entsprechend stürmisch, schuf zugleich Wildwuchs und Marktverwerfungen. In dem neuen Marktsegment wurden nicht einfach Getränke entwickelt und verkauft, sondern zugleich Träume von Gesundheit und Nüchternheit. Das lockte Investoren, Techniker und Wissenschaftler: Hier war Neuland zu gewinnen, Vermögen anzuhäufen, ein späteres ehrsames Leben als wohlsituierter Erfinder und Unternehmer möglich.

Hopkos war eines der bekanntesten Beispiele dieser ersten Welle alkoholfreier kohlensäurehaltiger Getränke, die langfristig die hiesigen Trinkgewohnheiten tiefgreifend umgestalten und neue Probleme schaffen sollten. Doch Hopkos verkörperte erst einmal Fortschritt, zielte auf ein neues besseres Leben. Es wurde als Bierersatz vermarktet, gar als alkoholfreies Bier, schließlich bestand es – so die lockende Werbeaussage – aus Hopfen und Malz. Wohlschmeckend und alkoholfrei war es, die Tage des alten, alkoholhaltigen Bieres schienen gezählt. Doch Hopkos verschwand nach ein, zwei Jahren wieder vom Markt, wurde ersetzt durch andere, ähnliche Getränke. Die schnelle Mark machten nur wenige, denn trotz einer modernen „amerikanischen“ Werbung verloren die meisten Investoren Geld. Es ist besonders reizvoll, ein solches Scheitern historisch zu analysieren, denn gängige Lohnschreiber präsentieren vorrangig Erfolgsgeschichten. Das Beispiel Hopkos steht zugleich beispielhaft für die große Zahl von Lebensmittel-„Hypes“, die bis heute immer wieder aufköcheln, von Werbung und (nicht nur käuflichen) Medien unterstützt und forciert. Um 1900 klangen die hoffnungsfrohen Aussagen von Wandel, Reform und Transformation vielfach ähnlich wie heutzutage, die „wir“ immer noch um Antworten angesichts von Alkoholmissbrauch, globaler Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung ringen. Wir sind nur neue Hamster im alten Rad.

Dieser Beitrag ist der zweite von insgesamt vier Artikeln, in denen ich der Geschichte des alkoholfreien Bieres empirisch fundiert untersuche. Am Anfang stand eine Arbeit zum „Original alkoholfreien Bier“ des sächsisch-fränkischen Brauers Valentin Lapp (1856-1908). Damit wurde in der Tat Neuland betreten, auch wenn dieses kräftig schäumende und fast alkoholfreie Produkt nur von 1896 bis 1905 verkauft wurde. Der Ihnen vorliegende Artikel wird sich am Beispiel von Hopkos mit den nichtalkoholischen Kunstgetränken beschäftigen, die das Idealbild eines wirklichen Bierersatzes nutzten, um hochverarbeitete Markenartikel anzubieten, die einzig Trugbilder eines solchen Substituts waren. Im dritten Artikel wird es um das alkoholfreie Bier Trinkmit der Bochumer Schlegel-Brauerei gehen, um neuartige Marktchancen, die auch Alkoholproduzenten durch die Verbreiterung des Getränkemarktes erhielten. Viertens schließlich werden diese drei Beispiele in den breiten Kontext der Neugestaltung der deutschen Trinkkultur um die Jahrhundertwende gestellt werden, die ein treffliches Spiegelbild der laufenden Versuche sind, „unsere“ heutige Ernährung fundamental umzugestalten.

Britische Ursprünge – Hopkos und Gingerbeer

Der Begriff „Hopkos“ führt erst einmal ins England der 1890er Jahre. John Abbey, Sekretär der Church of England Temperence Society in Norwich, hatte in den späten 1880er Jahren in zahlreichen Pamphleten mannhaft gegen die Trunksucht der Arbeiter, insbesondere aber der Landarbeiter agitiert. Wohlbegründet verwies er auf den durch Alkohol bewirkten körperlichen und geistigen Verfall, auf die Gefahren für das Familien- und Berufsleben, auf die persönlichen und volkswirtschaftlichen Kosten (John Abbey, Thoughts for Working Men, London 1889). Doch er wusste offenkundig um die begrenzte Wirksamkeit moralischer Appelle. 1891 bot er daher auch praktische Anregungen, präsentierte Rezepte von drei griffig benannten alkoholfreien Sommergetränken: Stokos wurde aus Haferflocken, Zucker und geschnittenen Zitronen zubereitet, Cokos war ein Mischgetränk aus Haferflocken, Kakao und Zucker. Hopkos schließlich bestand aus Hopfen, Ingwer und Zucker, der namensgebende Hopfen konnte auch durch getrockneten Andorn ersetzt werden. Abbey verwies stolz darauf, dass das alkoholfreie Trio “quite popular with the crop-gatherers of 1892” geworden sei (Three Temperance Beverages, Journal of the American Medical Association 23, 1892, 677). Die Anglikaner griffen den Vorschlag auf, popularisierten ihn, Mitglieder berichteten von einer schmackhaften und erfrischenden Alternative zum schweren Porter, zum dunklen Ale: „‚That is good!‘ ‚This is better than ale!’ ‘This is something to work upon!’ ‘I should like a recipe of this!’” (C.E.T.S Work at the Rotts. Agricultural Show, Southwell Diocesan Magazine 6, 1893, 107-108, hier 108). Auch Spottgedichte über die neuen alkoholfreien Billiggetränke wurden geschrieben, auch sie halfen Stokos, Cokos und Hopkos weiter zu popularisieren.

Spottgedicht auf die Mäßigkeitsgetränke – Hopkos war billig und wirksam (Fun 53, 1891, 250)

Die Rezepte verbreiteten sich rasch über England hinaus, fanden sich in den USA, im britischen Empire (Items of Interest 15, 1893, 561; American Analyst 9, 1893, 157; Hawaiian Gazette 1893, Nr. 43 v. 24. Oktober, 4; The Cultivator & Country Gentleman 58, 1893, 661; The War Cry 4, 1898, Nr. 2, 12; Hildagonda J. Duckitt, Hilda’s Diary of a Cape Housekeeper, London 1902, 234 (Südafrika); Pearsons’ Weekly 1904, Nr. 735 v. 18. August, 118; ebd. 1905, Nr. 784 v. 27. Juli, 62; W.H. Simmonds, The Practical Grocer, Bd. 4, London 1909, 190; Everything a Lady should know, 26. Aufl., hg. v. George B. Philip & Son, Sydney s.a. [1923-24], 69 (Australien)). Stokos, Cokos und Hopkos etablierten sich, wurden die Rezepte doch immer wieder in Zeitungen und Zeitschriften reproduziert, fanden ihren Platz in gängigen Kochbüchern. Auch in Europa gab es beträchtlichen Widerhall; die Sommergetränke ließen sich zudem in den „Tropen“, also den europäischen Kolonien, häuslich zubereiten (De Baanbreker 10, 1911, Ausg. v. 12. August, 4).

Die drei Nichtalkoholika fanden auch rasch den Weg nach Österreich-Ungarn und ins Deutsche Reich, wo der Anteil der Landarbeiter deutlich höher lag als im Stammland der Industrialisierung (Englische Sommergetränke, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 18, 1891, 514-515; dass., Die Fundgrube 19, 1892, 577). Dort versuche man zeitgleich, den paraguayischen Mate-Tee einzuführen (Maté als Getränk für Landarbeiter, Das Land 3, 1894/95, 313-314). Die neuen englischen Rezepte boten ergänzende Optionen, forderten aber angesichts der noch holz- und kohlenbefeuerten Herde Hausfrauen, Köchinnen und Dienstbotinnen: „Hopkos: 25 g Hopfen und 15 g gepulverter Ingwer werden 25 Minuten hindurch in 6,75 l Wasser gekocht, dann setzt man zur Flüssigkeit 500 g Rohrzucker, kocht weitere 10 Minuten, seiht das Getränke [sic!] durch ein sauberes leinenes Tuch und füllt den Hopkos auf die Flasche“ (Josef Bersch, Chemisch-technisches Lexikon, Wien, Pest und Leipzig 1893/94, 251).

Stokos, Cokos und Hopkos standen Anfang der 1890er Jahre für eine große Zahl in den deutschen Landen bekannten und vornehmlich im Norden auch getrunkenen „englischen“ Getränken, von denen das Ginger Beer, das Ingwerbier, sicherlich das bekannteste war. Ähnlich wie Hopkos wurde es lange häuslich hergestellt. Dazu mischte und verkochte man Ingwer etwa mit Zucker, Limonensaft und Eiweiß, mengte Honig und Zitronenöl hinzu, füllte die Masse dann nach vier Tagen Lagerung ab (Die Reform 1863, Nr. 102 v. 26. August, 2). In Großbritannien, vornehmlich in Nordengland und Schottland gab es schon längst ein breit gefächertes Angebot, mehr als tausend Markennamen zeugten von einem beträchtlichen kommerziellen Erfolg. Die Hausbrauerei wurde parallel von vorgefertigten Extrakten aus Hopfen, Kräutern, zunehmend aber auch Essenzen, ätherischen Ölen, Aromen, Süß- und Farbstoffen, umgestaltet (John Burnett, Liquid Pleasures. A Social History of Drinks in Modern Britain, London und New York 1999, 97). Derartige Bierpulver hatten auch im Zollvereinsgebiet die chemisch-technische Modernisierung der Brauerei begleitet, und angesichts etwa des „Berliner Bierpulvers“ der Firma Grüne & Co. unkten Zeitgenossen schon zur Jahrhundertmitte, mit „der Bierbrauerei scheint’s zu Ende zu gehen“ (Westfälische Zeitung 1859, Nr. 167 v. 17. Juli, 2). Diese Vorhersage war verfrüht, die Bierpulver verschwanden rasch, kamen in den späten 1890er Jahren jedoch neuerlich auf, ermöglichten unmittelbar nach der Jahrhundertwende auch breit beworbene Do-it-yourself-Aktivitäten der vor allem im Spirituosenbereich boomenden Essenzenindustrie.

Ingwerbier als Medizinalgetränk (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1891, Nr. 27 v. 4. März, 4)

Schon seit Anfang 1890er Jahre, parallel mit dem englischen Hopkos-Rezept, erweiterte sich auch das Angebot von Ingwerbier. Vor allem die in Kassel ansässige Firma Dr. G. Hilgenberg Nachf., Ende 1878 vom Chemiker Gustav Hilgenberg als Mineralwasserfabrik und Laboratorium gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 5 v. 7. Januar, 4), praktizierte Konsumgütertransfer. Ingwerbier war damals vornehmlich anonyme Apothekerware. Ingwersirup wurde mit Weinsäure und Zuckercouleur versetzt, das schaumige Getränk erinnerte farblich durchaus an Bier (G. Schneider, Alkoholfreie Getränke, Deutsche Apotheker-Zeitung 18, 1903, 794-796, hier 796). Hilgenbergs Firma wurde 1885 vom Kasseler Apotheker Ludwig Scherff (1836-1899) übernommen, der neben Ginger Beer dann auch weitere „alkoholfreie Biere“ produzierte (Wiesbadener Fachausstellung für das Hotel- und Wirtschaftswesen, Wiesbadener General-Anzeiger 1896, Nr. 184 v. 8. August, 1). 1896/97 präsentierte er im Rahmen zahlreicher Ausstellungen alkoholfreies Bockbier, Ale und vor allem Bassara. Bier wurde nach dem Brauen der Alkohol entzogen und Kohlensäure zugesetzt. Das auch als Exportgetränk gedachte Bassara enthielt aus England importierte Pflanzenauszüge, das Rezept aber wurde geheim gehalten. Das schien ein Erfolgsgarant zu sein: “Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Getränke bei dem immer mehr an Terrain gewinnenden Streben nach Heilung auf ‚naturgemässe‘ Art, eine grosse Zukunft haben, und es wäre wohl angebracht, wenn die deutschen Apotheker versuchten, den Debit dieser Getränke ihrem Handverkauf zu sichern“ (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 38, 1897, 558).

Zwischen Bier und Brause: Werbung für Ingwerbier und Ingwerbier-Extrakte (Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1897, Nr. 136 v. 15. Juni, 14 (l.); Leipziger Tageblatt 1900, Nr. 273 v. 31. Mai, 4487)

Ingwerbier war aus heutiger und auch aus damaliger Sicht gewiss kein Bier, denn es war nicht gebraut worden, hatte keine Gärung durchlaufen. Es wurde dennoch als „alkoholfreies Bier“ beworben (Geschäftsblatt für den obern Teil des Kantons Bern 1899, Nr. 40 v. 20. Mai, 4). Noch gab es keine verbindlichen Definitionen der neuen Produkte, noch herrschte die Setzungsmacht der Anbieter. Die Brauer protestierten gegen derartige Anmaßungen, seien doch Bier und Wein zwingend alkoholhaltig. Auch Abstinente stimmten dem zu: „Diese Getränke verdanken nur der Rücksicht auf die Trinksitte ihren Ursprung und sind nichts als eine lächerliche Nachahmung des Bieres, ohne irgend einen besonderen Vorzug zu besitzen, der ihre Bierform entschuldigen könnte. Sie zeigen nur, wie schwer es den Menschen wird, sich sogar von der Form des Bieres, von dem braunen, schäumenden Getränk, ganz zu trennen, und müssen von der Abstinenzbewegung rücksichtslos abgelehnt werden“ (Georg Keferstein, Ueber die alkoholfreien Getränke, Der Alkoholismus 3, 1902, 266-290, hier 273). Die federführenden Mäßigen aber sahen in derartigen alkoholfreien Bieren ein wichtiges Brückenangebot, konnte man doch dem Alkohol entsagen, ohne mit seinen Trinkgewohnheiten strikt zu brechen.

Der technische Fortschritt schien zudem immer bessere, auch geschmacklich zusagende Angebote zu ermöglichen. Neben die Ingwerbiere traten Ingwerbierkonzentrate, ermöglichten rasch zuzubereitende, brausende und alkoholfreie Erfrischungen. Neue Bierpulver folgten: „Man schüttet einfach einen Eßlöffel der köstlichen Substanz in ein Glas Wasser, und der besiegte Bacchus […] verhüllt sich klagend das Haupt“ (Das Bierpulver!, Bonner Volkszeitung 1901, Nr. 224 v. 7. Juli, 9). Gewiss, noch war der Geschmack gewöhnungsbedürftig, doch grundsätzlich konnte das Trinken so auch billiger werden. Ernst Kochs Bier-Extrakt versprach alkoholfreies Bier für vier Pfennig pro Liter (Vorwärts 1901, Nr. 135 v. 13. Juni, 8). Die neuen Produktbezeichnungen unterminierten allerdings die bestehende Sprache, unterminierten zugleich die Sprache des Rechts. Ein Speisewirt lockte Kunden mit einem unentgeltlichen alkoholfreien Bier, das er „durch Auflösen von Pillen in Wasser herstellte“. Er wurde daraufhin wegen einer fehlenden Schankkonzession letztinstanzlich zu einer Geldstrafe verurteilt (Schankwirtschaft und Zuckerwasser, Kölnische Zeitung 1903, Nr. 446 v. 25. Mai, 1). Damit fügte man neue Kunstgetränke ungewollt in den Reigen des Bestehenden ein.

Intermezzo: Alkoholfreie Biere vor der Gründung der American German „Hopkos“ Company 1903

Die englischen Getränke waren alkoholfrei und wurden seit 1896 auch vermehrt als „alkoholfreie Biere“ vermarket. Deren Erfindung und Etablierung im Deutschen haben wir bereits am Beispiel des „Original alkoholfreien Bieres“ von Valentin Lapp genauer analysiert. Für unsere Analyse des neuen Hopkos sind vier Aspekte festzuhalten:

Auch wenn der Begriff des „alkoholfreien Bieres“ vereinzelt schon Mitte der 19. Jahrhunderts nachweisbar ist und – zumeist mit Bezug auf England – sich seit den späten 1880er Jahren langsam einbürgerte, handelte es sich erstens doch um ein Lehnwort einer technischen Innovation des Schweizer Önologen Hermann Müller-Thurgau (1850-1927). Er pasteurisierte frisch gepresste Fruchtsäfte bei 60-70 °C, ermöglichte dadurch sterile, nicht weiter vergärende Fruchtsäfte. Sie wurden seit 1896 mit breiter Unterstützung von Alkoholgegnern als „alkoholfreie Weine“ vermarktet. Das war sprachliches Neuland, an sich widersprüchlich, zeigte jedoch die Absicht, den Kampf gegen den alten alkoholischen Wein auch praktisch aufzunehmen. In den Anzeigen wurde daher nie nur das Fehlen des Alkohols vermerkt, sondern immer auch die mit der neuartigen Verarbeitung einhergehenden Vorteile, zumal den aufgrund des gestoppten Abbauprozesses höheren Nährwert.

Werbung für Müller-Thurgaus neu entwickelte „alkoholfreien Weine“ (Schweizer Frauen-Zeitung 18, 1896, Nr. 44, Beil., 4)

Müller-Thurgau richtete zweitens das Augenmerk der Ingenieure und Tüftler auf neue Technologien, um auch das Bier alkoholfrei zu machen. Grundsätzlich wurden seit 1895/96 drei Verfahren angewandt: Erstens folgte man dem Schweizer Vorbild, destillierte den Alkohol kunstvoll ab, frischte das Gebräu dann mit Kohlensäure auf. Ein solches Verfahren ließ sich der Chemiker, Lebensreformer, Konserven- und Fruchtsafthersteller Walther Nägeli (1851-1919) 1896 patentieren. Dieser Rechtsakt bedeutete die grundsätzliche Akzeptanz des neuen Begriffs „alkoholfreies“ Bier, gegen den nicht nur die Brauerlobby seit 1898 durchaus erfolgreich Sturm lief. Nägelis Frada-Bier hatte allerdings nur geringen Erfolg, seine Marktpräsenz blieb gering. Zweitens wurde die Bierwürze nicht weiter vergoren, auf eine Gärung also verzichtet. Dem Sud wurde Diastase und auch Hopfen zugefügt, alles zentrifugiert, gefiltert und mehrfach mit Kohlensäure imprägniert. Diesen Weg wählte Valentin Lapp für sein „Original alkoholfreies Bier“, für ein Jahrzehnt der wichtigste Vertreter der neuen Getränkesorte. Beide Verfahren waren aufwändig, erforderten hohe Investitionen. Deshalb begannen drittens insbesondere Apotheker und Mineralwasserfabrikanten an ihre recht simple Technik anzuknüpfen. Ein Mineralwasserapparat erlaubte die Imprägnierung einer Flüssigkeit mit Kohlensäure, zentral für Textur und mundkitzelnde Frische. Anstelle von Wasser konnte man auch Fruchtsäfte sättigen, ebenso Mixturen von Wasser, Malz- und Hopfenextrakten. Das perlende Getränk konnte anschließend mit Süß- und Farbstoffen oder auch Zucker weiter modifiziert werden. Diese dritte Variante hatte den Vorteil geringerer Fixkosten, einfachen Maschineneinsatzes und einer variantenreichen Ausgestaltung des Geschmacks. Der Unterschied zu den damals insbesondere für Kinder und Frauen vermehrt produzierten farbig-grellen und pappig-süßen Brauselimonaden war allerdings gering. Im Gegensatz zu den ersten beiden Verfahren bestand außerdem die Gefahr einer fortgesetzten Gärung. Der kurz nach Hopkos in Hamburg auf den Markt gebrachte Hansatrunk hatte beispielsweise 1,44 Prozent Alkohol (Pharmaceutische Praxis 6, 1907, 152) – und war Teil langwieriger Debatten über Grenzwerte und die Redlichkeit der Hersteller.

Wabernde Begriffe: Alkoholfreier „Hansatrunk“ – mit 1,44 Prozent Alkoholgehalt (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 130 v. 5. Juni, 27)

Drittens waren alkoholfreie Biere nicht nur Reflex auf eine schnelle Mark, auf die Marktchancen der Jahrhundertwende. Sie materialisierten zugleich Forderungen der Mäßigkeitsbewegung nach positiven Hilfsmitteln im Kampf gegen Trunksucht und Alkohol. Alkoholfreies Bier würde die modernde Hast, die modernde Nervosität reduzieren, würde auch die randständige Position der Enthaltsamen verringern. Einmal entwickelt, würde es sich im Lebenskampf durchsetzen: „Wo es Enthaltsame giebt, stellt sich auch bald alkoholfreies Bier und alkoholfreier Wein ein“ (Matthaei, Die Erhöhung der Kriegstüchtigkeit eines Heeres durch Enthaltung vom Alkohol, Der Alkoholismus 1, 1900, 164-184, hier 174). Die großenteils bürgerliche, von protestantischen Pfarrern, Lehrern und Notablen geprägte Bewegung erschien nicht nur als sicherer Nischenmarkt, sondern auch als ein Bundesgenosse für nichtkommerzielle Werbung und Verbreitung. Wirklich „alkoholfreie“ Biere konnten vielleicht auch die schwelenden Konflikte zwischen den bier- und weintrinkenden Mäßigen und den Abstinenten befrieden. Das galt selbst für Nahrungsmittelchemiker. Bernard Carl Niederstadt, Hamburger Chefkontrolleur, empfahl Hopkos nicht nur aufgrund seiner stofflichen Zusammensetzung, sondern auch, „da der Alkohol größere Verheerungen anrichte“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 110 v. 12. Mai, 13). Dies wurde von den Produzenten des neuen Bierersatzes unmittelbar verwertet: „Hopkos ist keine schwächliche Limonade, sondern ein bierähnliches, aber alkoholfreies Getränk. Als Kampfmittel gegen den Alkohol unvergleichlich!“ (Hamburger Echo 1903, Nr. 166 v. 19. Juli, 10)

Alkoholfreie Biere etablierten sich seit 1896 im Flaschenbierhandel, langsam auch in den alkoholfreien Cafés und Gaststätten, mochte ihr höherer Preis von den sparsamen Bürgern auch stets moniert werden. Wichtiger bleib viertens aber der ungewohnte Geschmack. Selbst in der Krankenkost urteilten einzelne Ärzte apodiktisch-ablehnend: „Die neuerdings hergestellten ‚alkoholfreien Biere‘ sind wegen ihres schlechten Geschmackes untrinkbar“ (Carl Wegele, Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke, Jena 1900, 18). Süße Bierersatzgetränke mochten davon weniger betroffen sein, doch seitens des Alkoholhandels hieß es immer noch selbstbewusst: „Alle Surrogate und Ersatzmittel für Alkohol erscheinen völlig wirkungslos. Kohlensaure Malzwürze, als alkoholfreies Bier getrunken, ist so wenig Bier, wie eine Brauselimonade ein Champagnerwein sein kann“ (Wattenscheider Zeitung 1904, Nr. 297 v. 28. Dezember, 3). Hopkos wurde folgerichtig als wohlschmeckender alkoholfreier Bierersatz angeboten.

Die American German Hopkos Company und der moderne Touch der Amerikanisierung

Warenzeichen der American German „Hopkos“ Company (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 256 v. 30. Oktober, 12)

Die „American-German Hopkos Company mit beschränkter Haftung“ wurde am 14. Januar 1903 ins Hamburger Handelsregister eingetragen, der Gesellschaftsvertrag war am 3. Januar abgeschlossen worden (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 25 v. 16. Januar, 5; Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 14 v. 17. Januar, 12). Gegenstand des Unternehmens war „die Einrichtung von Fabriken zur Herstellung des alkoholfreien, kohlensäurehaltigen, in Amerika erfundenen und unter dem Namen ‚Hopkos‘ geschützten Getränkes zum Ersatz für helle und dunkle Biere, der Vertrieb dieses Getränkes sowie die Eingehung aller mit diesem Gesellschaftszwecke zusammenhängenden Geschäfte“ (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 14 v. 17. Januar, 13). Das Stammkapital betrug 59.000 M, von den Gesellschaftern wurden nur zwei namentlich erwähnt: Der Magdeburger Unternehmer Theodor Freytag brachte Hopfen und Malzextrakt im Wert von 1250 M ein, die Weißenburger Handelsgesellschaft M. & G. Weid Maschinen im Wert von 1000 M, erhielt aber zugleich eine ungenannte Barauszahlung. Geschäftsführer wurden die beiden Kaufleute Otto Karl Heinrich Schorre und Hermann Friedrich Hannesen. Das oben abgebildete Warenzeichen war bereits am 2. Januar beantragt worden, der vor einer aufgehenden Sonne flügelschlagende Adler hielt die deutsche und die US-amerikanische Fahne in seinen Klauen. Viel Pathos angesichts einer „Limonadenfabrik“, die ein „alkoholfreies, limonadenähnliches Getränk“ produzieren wollte.

Der Firmennamen und das prangende Signet machen stutzig. Schließlich hat uns die Geschichte des Landarbeitergetränks „Hopkos“ nach England geführt, ebenso die Ingwerbiere und Bierextrakte. Doch noch Jahre nach dem Konkurs der Firma hieß es so lapidar wie selbstverständlich: „Hopkos ist ein aus Amerika eingeführtes, alkoholfreies Getränk, das aus Extrakten hergestellt wird“ (Heinrich Timm, Limonaden und alkoholfreie Getränke, Wien, Pest und Leipzig 1909, 165). Trotz emsiger Recherche gibt es jedoch keinen Beleg für diese Kommerzlegende, keine einschlägigen Patente, keine beim späteren Konkurs bevorzugten Zahlungen an Erfinder oder Lieferanten in der neuen Welt. Dennoch machte dieses auch offiziell verbreitete Narrativ wirtschaftlich Sinn. Mit dem globalen Hegemon Großbritannien befanden sich deutsche Kaufleute im Wettbewerb, ebenso die der zweiten Flügelmacht, der aufstrebenden Vereinigten Staaten. Hamburg war zwar Einfuhrplatz englischer Waren, galt als Hort englischer Ideen und Konsummuster. Bei Hopkos aber ging es um den Weltmarkt, um eine gemeinsame Anstrengung der beiden Herausforderer gegen den Hegemon. Amerika war nicht mehr länger das Land der Freiheit und neuer Chancen, in das bis 1914 insgesamt 5,5 Millionen Deutsche auswanderten, um ein besseres Leben zu führen. Es war auch ein Land neuer praktischer Massenprodukte; und diesen Anspruch sollte das neue Hopkos materialisierten. Entsprechend stellte man „American“ vor „German“ – als einzige deutsche Firma vor 1945.

Die amerikanische Invasion im Konsumgütersektor (Der Wahre Jacob 18, 1901, 3553; Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 345 v. 26. Juli, 8)

Die schutzzollbewehrte US-Wirtschaft galt bis in die 1870er Jahren vorrangig als Agrarexporteur, dessen billigen Weizen, Kühl- und Gefrierfleisch, hochwertiges Obst und Gemüse das Deutsche Reich mit Zöllen und Hygienevorschriften begrenzte (vgl. Uwe Spiekermann, Dangerous Meat? German-American quarrels over Pork and Beef, 1870-1900, Bulletin of the German Historical Institute 46, 2010, 93-110). Zunehmend traten aber auch preiswerte massenproduzierte Gebrauchsgüter hervor, etwa Nähmaschinen oder Klaviere. Die Deutschen führten dies lange auf die rührige Exporttätigkeit deutscher Auswanderer und ihrer Söhne zurück – etwa Isaac Merritt Singer (1811-1875) oder Heinrich Engelhard Steinway (1797-1871) –, verstanden aber nicht, dass sich Massenproduktion und hohe Qualität nicht zwingend ausschlossen. Dabei unterstrichen die US-Exporterfolge etwa im Bereich der Elektrotechnik und der Unterhaltungsindustrie, dass die deutsche Wirtschaft dem Hegemon Großbritannien zwar wirtschaftlich zusetzte, dass sie parallel aber unter Druck aus Übersee geriet. Selbst deutsches Bier wurde in den 1890er Jahren von US-Bier in globalen Drittmärkten erfolgreich be- und verdrängt (Stefan Manz und Uwe Spiekermann, Making Food Empires. German Technology and Global Mass Production, 1870-1914, Oxford 2026 (i. E.), Kap. 7 und 8).

US-Einflüsse auf die Trinkgewohnheiten: American Bars und Cocktails (Jugend 8, 1903, 89)

Hopkos, so meine nicht sicher zu belegende These, Hopkos wurde von den deutschen Eignern bewusst (und wahrheitswidrig) als amerikanische Innovation präsentiert, denn so konnten sie auf einer Erfolgswelle schwimmen, die seit der Jahrhundertwende nicht mehr zu ignorieren war: Billige amerikanische Haushalts- und Fitnessgeräte, Uhren und Petroleumlampen, Rechen- und Schreibmaschinen, Schuhe und Fahrräder fanden ihren Weg ins Reich, Kosmetika, Modeschmuck, Korsetts, Füllfederhalter und natürlich Kodak-Fotoapparate wären zu ergänzen. Nicht nur Karl May schuf Bilder des Wilden Westens, sondern auch der exportierte Buffalo Bill oder die gefeierten Schaustellungen von Barnum & Bailey, dem größten Zirkus der Welt. Gleichermaßen verbreiteten sich verarbeitete Nahrungsmittel, Frühstückcerealien wie Quaker Oats, Reformwaren von John Harvey Kellogg oder Maizena Maisprodukte. Die Hafenstadt Hamburg war dabei vielfach der Ausgangspunkt für die Eroberung des deutschen Marktes, etwa beim zeitgleich vermarkteten Nährmittel Force (Hannoverscher Courier 1903, Nr. 24199 v. 27. Januar, 4; Schwäbischer Merkur 1903, Nr. 91 v. 25. Februar, 10). Auch wenn die Deutschen amerikanische Limonaden und Temperenzgetränke kaum schätzten, waren diese in den US-amerikanischen Kolonien in den Großstädten durchaus gängig. Hopkos schloss an all das an, ihre Macher wollten davon profitieren.

Erträge durch angewandte Wissenschaft und Technik. Die „Macher“ von Hopkos

Meine Skepsis gegenüber den amerikanischen Ursprüngen des alkoholfreien Getränkes resultiert auch aus genaueren Informationen über die führenden Repräsentanten der neuen American-German Hopkos Company. Es handelte sich fast durchweg um junge, hochqualifizierte Naturwissenschaftler und Kaufleute, die den Märkten ihrer Zeit mit neuen Konsumgütern, mit massenfabrizierten Markenartikeln, ihren Stempel aufdrücken wollten. Schauen wir uns also die Riege quirlig begabter Herren näher an.

Theodor Freytag war nicht ohne Bedacht der erstgenannte Gesellschafter. In Magdeburg ansässig, war er gewissermaßen der „Erfinder“ von Hopkos, hatte er doch bereits am 20. September 1900 das einschlägige Warenzeichen beantragt, das ihm am 10. November 1900 dann erteilt wurde. Er dürfte zuvor von den drei englischen Temperenzgetränken gehört haben, noch 1905 sicherte er sich das erinnernde Warenzeichen Storkos (Warenzeichenblatt 1906, 49). Das Hopkos-Warenzeichen wurde allerdings erst am 25. Juli 1903 auf die Hamburger Hopkos Company übertragen (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 178 v. 31. Juli, 8). Das deutsche Hopkos hatte mit dem englischen Getränk einzig den Namen gemein.

Das offizielle Hopkos-Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 291 v. 7. Dezember, 12)

Theodor Freytag war Fabrikant von alkoholfreien Erfrischungsgetränken. Seine Magdeburger „Frucht-Sirup- und Essenzen-Fabrik“ (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 86 v. 13. April, 56), seine „Dampf-Fabrik ätherischer Öle, Essenzen, Fruchtsaftpresserei“ (Adressbuch für Magdeburg 1910, T. I, 73) koppelte die Errungenschaften der modernen Chemie, der weltweit führenden deutschen Aromenindustrie, mit dem Marktbedarf kohlensäurehaltiger alkoholfreier Markenartikel. Während er in Magdeburg nur für einen überschaubaren regionalen Markt produzierte, sollte Hopkos ein Weltgeschäft werden. Dazu aber bedurfte es Partner.

Auszüge aus Theodor Freytags wachsender Palette der immergleichen neuen Produkte (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 43 v. 19. Februar, 13 (o.); ebd., Nr. 219 v. 16. September, 11)

Die Handelsgesellschaft M. & G. Weid lieferte die maschinelle Grundausstattung der Hamburger Firma – und auch der späteren auf Lizenzbasis gegründeten Hopkos-Filialen. Sie war, abseits ihres eigentlichen Handelsgeschäfts, seit 1896 in einem Wachstumsmarkt tätig, produzierte immer wieder verbesserte Mineralwasserapparate zur selbsttätigen Abfüllung in Flaschen (Bonner Volkszeitung 1896, Nr. 28 v. 25. Januar, 3). Schon 1900 offerierten die beiden in Weißenburg im Elsass ansässigen Kaufleute reichsweit eine „Anleitung und Rezepte zur Selterswasser-, Brauselimonade-, Schaumwein- etc. Fabrikation“ (Hamburger Echo 1900, Nr. 64 v. 17. März, 8; Hamburger Neueste Nachrichten 1900, Nr. 65 v. 18. März, 14; Lippische Landes-Zeitung 1900, Nr. 64 v. 16. März, 3; Badische Presse 1900, Nr. 64 v. 17. März, 7). Der Wachstumsmarkt karbonisierter Getränke lockte, unbedingt alkoholfrei mussten diese allerdings nicht sein. Mit „Weids Ideal“ verkauften M. & G. Weid seit 1902 einen neuen Apparat, mit dem Wasser „ohne Fachkenntnisse“ mit Extrakten und Kohlensäure versetzt werden konnte. Seine Tagesproduktion lag bei 500 bis 1000 Flaschen. Eine derart bereitete Flasche Mineralwasser kostete einen Pfennig, Brauselimonaden zwei bis drei Pfennige. Schaumwein resp. Milchsekt dürften etwas teurer gewesen sein (Der Schwarzwald 14, 1902, Nr. 17, 15). Durch diesen Apparat konnte man auch Hopkos preisgünstig herstellen, konnte die damals recht hohen Handelsspannen der preisgebundenen Markenartikel problemlos tragen, zugleich einen hohen Gewinn erzielen. Die Einrichtung und die Vertragsverhandlungen forderten Präsenz in Hamburg, entsprechende Übernachtungen der Weids in Hamburger Hotels sind nachweisbar (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 4 v. 6. Januar, 8; ebd., Nr. 40 v. 17. Februar, 8; ebd., Nr. 82 v. 7. April, 20).

Preiswerte Technik für die neue alkoholfreie Getränkewelt (Der Schwarzwald 14, 1902, Nr. 17, 15)

Über die beiden Geschäftsführer ist weniger bekannt. Otto Karl Heinrich Schorre war Mitinhaber der im Jahr zuvor gegründeten nicht näher spezifizierten offenen Handelsgesellschaft Schorre & Co. (Hamburgischer Correspondent 1902, Nr. 279 v. 18. Juni, 4). Diese kümmerte sich um ein erstes werbeträchtiges Hopkos-Plakat, eventuell auch um weitere Werbeklischees (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 37 v. 12. Februar, 29). Ebenso greifbar war das Interesse an marktgängigen Konsumgütern. Schorre & Co. agierte 1904 als Generalagentur von Kummers Kuchen, einer neuen fertigen Kuchenmasse.

Neue Sensationen: Backmischung für willige Hausfrau (Hamburger Echo 1904, Nr. 118 v. 21. Mai, 12 (l.) Warenzeichenblatt 1904, 828)

Derartige Backmischungen kamen damals neu auf, Kummers Kuchen entstammte der Berliner Fabrik von Heinrich Stern (Berliner Tageblatt 1904, Nr. 617 v. 4. Dezember, 47). Sie etablierten sich rasch, basierten auf billigen und gelingsicher vermischten Zutaten. Da der zweite Geschäftsführer zuvor kaum hervorgetreten war – Hermann Friedrich Hannesen agierte lediglich als Liquidator einer Kaffee-Import-Firma (Hamburger Fremden-Blatt 1902, Nr. 89 v. 17. April, 10) – können wir zum anfangs nicht genannten Eigentümer der Hamburger Hopkos Company übergehen, dem Chemiker Bruno Friling (1870-1934). Sein Name zierte von Januar bis April alle Hamburger Hopkos-Anzeigen (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 47 v. 29. Januar, 8), ehe er sich dann auf das wohl lukrativere Feld der Backmischungen konzentrierte.

Eine sichere Sache: Frilings fertige Kuchenmasse „Backe bequem“ (Hamburger Fremdenblatt 1904, Nr. 148 v. 26. Juni, 23)

Doch der Reihe nach: Peter Julius Bruno Friling wurde im August 1899 mit einer Dissertation „Ueber β-Benzylisochinolin“ promoviert, interessierte sich also für Alkaloide des Schlafmohns – und wohl auch für die damals aus den Naturstoffen gewonnenen opiatbasierten Medikamente, die als Schmerz- und Schlafmittel einige Zeit freudig-unschuldig eingesetzt wurden. Nicht nur Cannabis war damals frei käuflich. 1901 wurde der junge Chemiker Prokurist bei Möller & Linsert, einer Hamburger Fabrik chemischer und pharmazeutischer Präparate, verließ diese aber Ende August 1902 (Hamburger Fremden-Blatt 1902, Nr. 13 v. 16. Januar; Hamburgischer Correspondent 1902, Nr. 411 v. 3. September, 5). Über seine anschließenden geschäftlichen Beziehungen zu Hopkos konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Friling, der schon parallel zur Hopkos-Etablierung eine eigene Kommanditgesellschaft gegründet hatte, beantragte Ende Juli 1903 jedenfalls das Warenzeichen seiner neuen Backmischung, das unter dem Markennamen „Backe bequem“ ein kommerzieller Erfolg wurde (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 49 v. 30. Januar, 6; Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 304 v. 29. Dezember, 12). Der Begriff zeugt von einer genauen Kenntnis der damaligen Werbesprache, in der aktivierende Slogans modisch waren: „Werde gesund“ war die Dachmarke einer Berliner Fabrik heilgymnastischer Apparate; und das den Kaiserbart festigend-stützende Bartbindenwasser „Es ist erreicht“ des Hoffriseurs Francois Haby (1861-1938) wurde gar zu einem häufig karikierten Signet der wilhelminischen Gesellschaft (Lustige Blätter 18, 1903, Nr. 19, 13; ebd., Nr. 1, 20). „Backe bequem“ enthielt, wie Hopkos, nur „beste Zutaten“, stand unter chemischer Kontrolle und ermöglichte acht verschiedene Kuchensorten zu relativ billigem Preis. 1906 siedelte die von Friling gegründete Nährmittelfabrik schließlich nach Berlin über (Hamburger Correspondent 1904, Nr. 174 v. 29. Januar, 5; Gordian 12, 1906/07, 697-698).

Unternehmen Handelschemie: Vorstellung von Carl Enochs Chemisch-hygienischem Institut (Hamburger Adressbuch 1893, Werbung, 19)

Ein „Macher“ fehlt noch. Carl Enoch (1866-1922) überwachte die Produktion von Hopkos, hatte zudem ein werbeträchtig ausgeschlachtetes Gutachten über dessen chemische Zusammensetzung erstellt. Enoch hatte im Laboratorium von Emil Fischer (1852-1919) in Würzburg gearbeitet, promovierte 1890 unter Leitung von Julius Tafel (1862-1918) in Erlangen über Säureamide. Er wechselte anschließend als Assistent an das Prager Hygienische Institut unter Ferdinand Hueppe (1852-1938), einem führenden Hygieniker, zugleich Eugeniker, Abstinenter, Antisemit und später auch erster Vorsitzender des Deutschen Fußball-Bundes. Der jüdische Chemiker Carl Enoch zog rasch nach Hamburg weiter, wo er 1892 ein Chemisch-hygienisches Institut gründete (F.W. Eitzen, Hamburger Börsenfirmen im Jahre 1898, Hamburg und Berlin s.a. [1898], 116). Mit ambivalenten Marktangeboten kannte er sich bald aus, teilte er doch die Geschäftsadresse mit der Vertriebszentrale des Malzextraktproduzenten M. Hoff, ehe er mit seinem Laboratorium 1900 umzog.

Enoch war ein erfolgreicher Unternehmer, zugleich ein glänzender Wissenschaftler, 1900 zum Ehrenmitglied der Londoner „Society of Biological Chemistry” gewählt (Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 469 v. 6. Oktober, 12). Als einer von knapp zwanzig in Hamburg vereidigten Handelschemikern übernahm er vielfältige Gutachten, bewertete dabei neue Präparate häufig positiv und anbieterfreundlich. Das betraf etwa das zum Brauen geeignete Konservierungsmittel Chinosol, das Haarfärbemittel Gloria-Wasser und das frühe Haarshampoo Javol, nach der Jahrhundertwende das Desinfektionsmittel Vitalin, das pepsinhaltige Magenmittel China-Bitter und die Angebote der Antwerpener General Wine Company. Enoch war ein Mann für das öffentlich vorzeigbare Gutachten, der seinen analytischen Blick kundennah zu begrenzen wusste. Das galt auch für Hopkos. Der weit über Hamburg geschätzte Enoch war zugleich Temperenzler und ein Mann vom Fach. Im Jahre 1900 wurden ihm gleich zwei Patente „zur Herstellung blanker, alkoholfreier Fruchtsäfte“ erteilt (Hamburger Fremden-Blatt 1901, Nr. 286 v. 6. Dezember, 21; ebd. 1902, Nr. 50 v. 28. Februar, 21).

Fasst man diese biographischen Skizzen zusammen, so handelte es sich bei den Machern von Hopkos um wissenschaftlich hochqualifizierte, um zumeist junge aufstiegsorientierte Männer, die ihre Expertise konsumnah nutzten, um gewinnträchtige Markenartikel im Massenmarkt zu etablieren. Obwohl sie sich alle um den neuen Bierersatz Hopkos scharten, besaßen sie sämtlich jedoch genügend Flexibilität und rasch zu erschließende alternative Optionen, um ihr Geschick auch mit anderen ähnlichen Produkten zu versuchen. Die Macher waren an einer schnellen Mark interessiert, nicht an einem spezifischen Produkt, das nur Mittel zum Zweck war.

Zwischen Ingwerbier, alkoholfreiem Bier und Limonade: Was war Hopkos?

Hopkos wurde in Hamburg, aber auch an allen Filialorten als ein neuartiges Getränk fernab gängiger Kategorien angeboten: „Es gleicht den Bieren im Aussehen und Farbe und ist erfrischender, bekömmlicher und äußerst wohlschmeckend“ (Pester Lloyd 1903, Nr. 124 v. 26. Mai, 4). Hopkos war ein karbonisiertes Getränk, ähnlich und doch besser als Bier, farblich erinnerte es an Ingwerbier. Den Anspruch verdeutlichen die unteren Werbezeichnungen. Hopkos wurde in zwei Varianten, als Helles und Dunkles, in kleinen mit aufwändigem Bügelverschluss versehenen Flaschen angeboten. Es stand für die Selbstbehauptung des Menschen angesichts der in der Natur, ja im Menschen selbst stetig stattfindenden Gärung, der scheinbar nicht stillzustellenden Alkoholproduktion. Dies führte zu lebensbedrohlichen Stoffwechselprozessen, zum Abbau, zum frühen, zu frühen Tod. Doch der mannhaft-beherzte Hopkostrinker konnte durch Kauf, konnte durch Konsum diese Gefahr reduzieren, dem Tod ein Schnippchen schlagen.

Den Tod bannen: Werbedarstellung als gesundheitlicher Labetrunk (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4; ebd., Nr. 169 v. 20. Juni, 4. Morgenbl., 3 (l. u. r.))

Fernab der Marktsphäre urteilten die Nahrungsmittelchemiker prosaischer, unterminierten den güldenden Glanz des vermeintlich amerikanischen Gesundheitstranks. Der schon erwähnte Bernhard Carl Niederstadt resümierte, dass Hopkos eine Mischung kohlensäurehaltigen und gefärbten Wassers mit Malz- und Hopfenextrakten sei: „Es ist davon ein dunkler Porter und ein heller Ale im Handel. […] In beiden Getränken ist gut Hopfen und Malz enthalten. Fremde Bitterstoffe, ebenso Conservierungsmittel (Salicylsäure und Borsäure) fehlen absolut. Die Biere sind absolut frei von Alkohol, sind gut kohlensäurehaltig und gesund“ (Niederstadt, Die Abstinenz und die alkoholfreien Getränke, Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 31, 1903, 343-346, hier 345-346, Bundesarchiv Lichterfelde R 86 Nr. 2032). Derartige Analysen konzentrierten sich auf das Endprodukt, die Zusammensetzung und Güte der Einzelkomponenten konnte so nicht ermittelt werden. Das schien aber kaum erforderlich, denn die Produktion folgte der gängigen Praxis der Apotheken bei ähnlichen Getränken. Bierextrakte bestanden zumeist aus dem aufkommenden kalorienhaltigen Zwischenprodukt Invertzuckersirup, zudem aus Weinsäure für einen erfrischend säuerlichen Geschmack. Die gerade im norddeutschen Braugebiet noch häufig zum Schönen der Biere verwandten Hopfenextrakte simulierten mit ihren Bitter- und Aromastoffen eine gewisse Biernähe. Schließlich fügte man Zuckerkulör oder Farbmalzextrakte hinzu, um die Farbe, aber auch den Malzgehalt einzustellen. Die fertige Mischung gab man in Flaschen, füllte dann maschinell kohlensäurehaltiges Wasser hinzu (Schneider, 1903, 796). Das gut geschüttelte Ergebnis konnte schließlich mit einem schönen Namen, etwa Hopkos, verkauft werden.

Hopkos als alkoholfreies Bier (Langenberger Zeitung 1903, Nr. 206 v. 3. September, 4)

In Hamburg konzentrierte sich das Untersuchungsamt allerdings weniger auf die Produktionstechnik. Hopkos schien kein gesundheitsschädliches Ersatzgetränk zu sein (Übersicht über die Jahresberichte der öffentlichen Anstalten zur technischen Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln für das Jahr 1903, Berlin 1906, 166). Stattdessen konzentrierten sich die Analysen auf die offenkundige Differenz zwischen den Werbeaussagen und dem Stoffgehalt, um den Hersteller wegen unlauteren Wettbewerbs, wegen Verbrauchertäuschung zu belangen. Doch derartiger Trug war schwer nachzuweisen, auch wenn an Enochs Gutachten kollegialer Anstoß genommen wurde. Erste Beanstandungen sowohl nach dem Nahrungsmittelgesetz als auch dem Gesetz gegen Unlauteren Wettbewerb blieben ohne greifbares Resultat (K. Farnsteiner et al., V. Bericht über die Nahrungsmittelkontrolle in Hamburg in den Jahren 1903 und 1903, Hamburg 1905, 70). Hinweise, dass Hopkos hell und dunkel jeweils 0,05 Prozent Alkohol enthalte, reichten angesichts der undefinierten Begriffe „alkoholfrei“ und „alkoholarm“ nicht einmal für eine öffentliche Meldung (Pharmaceutische Praxis 6, 1907, 152).

Die spätere Umfirmierung der American German Hopkos Company in Internationale Hopkos-Gesellschaft führte jedoch zu neuerlichen Untersuchungen. Wie schon 1903 stieß man sich an der intensiven Reklame, stellte bei einer offenkundig verdorbenen Probe auch einen Alkoholgehalt von 0,97 Prozent fest (Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten 18, 1908, 161). Doch das reichte nicht für den vom Nahrungsmittelgesetz verlangten Nachweis einer täuschenden Absicht. Und eine Rückfrage wegen unlauteren Wettbewerbs wurde von der Staatsanwaltschaft abschlägig behandelt, zumal keinerlei Strafanträge vorlagen (Übersicht über die Jahresberichte der öffentlichen Anstalten zur technischen Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln für das Jahr 1904, Berlin 1908, 146). Angesichts der parallel bestehenden und öffentlich immer wieder beredt beklagten Missstände bei „Geheimmitteln“ oder „Kräftigungsmitteln“ wurden zwar stetig präzisere und schärfere Gesetze gefordert, doch einzig die Novelle des Gesetzes gegen Unlauteren Wettbewerb 1909 sollte mit dem schwammigen Straftatbestand „Verstoß gegen die guten Sitten“ Wildwüchse in der Warenanpreisung etwas stutzen.

Werbeversprechen und die nachweisbare Zusammensetzung ausgesuchter „alkoholfreier Biere“ (A[dolf] Beythien, Über alkoholfreie Getränke, Sitzungsberichte und Abhandlungen der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS 1905, Dresden 1906, 70-90, hier 79)

So blieb es bei analytischen Daten in der Fachliteratur und benennenden Einschätzungen für Chemiker und Pharmazeuten: „Hopkos, ein alkoholfreier Bierersatz ist […] eine alkoholfreie, mit Kohlensäure imprägnierte Zuckerlösung, welche nur ganz geringe Mengen aus Malz und Hopfen herstammender Bestandteile enthält“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 35, 1908, 285). Die Brauer fühlten sich in ihrer strikten Ablehnung, in ihren frühen Warnungen bestätigt (Denkschrift des Zentralverbandes der österr. Brauerei-Industriellen-Vereine gegen die projektierte Biersteuererhöhung, Der Böhmische Bierbrauer 36, 1909, 334-338, hier 337). Und die Hamburger Untersuchungsbehörde beanstandete Hopkos pflichtgemäß und folgenlos auch noch 1905, als der Markt, die Verbraucher, schon längst ihr Verdikt ausgesprochen hatten (Fünfter Bericht über die Nahrungsmittel-Kontrolle in Hamburg. II. (Schluß.), Hamburger Fremden-Blatt 1906, Nr. 24 v. 30. Januar, 21). Alle beteiligten Interessenvertreter verteidigten ihre Sichtweisen, hofften auf neue oder altbewährte Konsummuster, auf einen Wandel der Begriffsbestimmungen, der angesichts der Novelle des Branntweinsteuergesetzes (und des Weingesetzes) 1907 auch kam. Es war der Steuerstaat, der Geldbedarf für die Flottenrüstung, durch den der Kranz von Normalbestimmungen auch auf alkoholfreie Getränke ausgeweitet wurde, indem man einfachen und recht willkürlichen Vorgaben der Nahrungsmittelchemiker folgte. Rückblickend führte man sich dann die wilden Zeiten fast schelmisch vor Augen: „Es ist vielleicht auf keinem Fabrikationsgebiet so viel gesündigt worden“ (Walther Schrauth, Genussmittel, ihre Surrogate und ihre Entgiftung, Technische Rundschau 14, 1908, Nr. 35, 501-503, hier 501). Die Macher von Hopkos konnten also ungefährdet und ungestraft am Rande des Rechtes agieren.

Der Geschäftsbetrieb in Hamburg

Die American German Hopkos Company residierte anfangs in einem repräsentativen Kontorhaus, dem Asia-Haus, erbaut vom Schiffsmakler Emil Theodor Lind in Hamburgs Altstadt, am Standort Alte Gröningerstraße 24-25 und Zippelhaus 10, gegenüber der Speicherstadt. Viele Firmen teilten sich die Adresse des mit kolonialen Ornamenten gezierten, vielfach im neuen Jugendstil gehaltenen Geschäftshauses, darunter das technische Büro der Hapag. Der Bau bot große, flexibel eingeteilte Kontore, zudem auch Kellerräume, Personen- und Warenaufzüge und Elektrizitätsversorgung (Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 398 v. 26. August, 15). Das Asia-Haus stand für das Weltgeschäft Hamburgs, bildete zugleich einen Informationscluster: Die dort ab 1904 ansässige Firma Handels- und Schiffsbedarfsfirma Carl Bödiker vertrieb ebenfalls alkoholfreies und auch alkoholhaltiges Bier (Warenzeichenblatt 1907, 48).

Kontorhaus Asia-Haus, Geschäftssitz der American German Hopkos-Company 1903 (Wikipedia-Dirtsc, 2011)

Die repräsentative Hülle des zerstörten, neu aufgebauten und mehrfach aufgehübschten Asia-Hauses darf jedoch nicht vergessen machen, dass die Rekonstruktion des eigentlichen Geschäftsbetriebes nur ansatzweise möglich ist. Die Hopkos-Company und ihre Macher haben keine Archivalien hinterlassen. Werbeanzeigen in einem für Übertreibungen und auch bewusste Irreführungen bekanntem Marktsegment haben nur begrenzten Aussagewert, gewerbliche An- und Abmeldungen, Warenzeichen und Patente bieten allein ein karges Informationsraster. In einem sich weitenden Marktfeld beurteilten Zeitgenossen häufig nicht die einzelnen Produkte, sondern eher die gesamte Branche. Oder erinnern Sie sich an einzelne vegane Markenartikel? Auch Hopkos war Flugsand der Geschichte.

Die Markteinführung des namensgebenden Getränks begann zwei Wochen nach der Konstituierung des Unternehmens. In den Hamburger Zeitungen tönte es weltenwendend: „Der American-German Hopkos-Company Zentrale Hamburg, ist es gelungen, ein alkoholfreies Getränk ‚Hopkos‘ herzustellen, welches in jeder Beziehung den Anforderungen an ein gesundes, wohlschmeckendes und durststillendes Getränk entspricht. Nicht nur allen Gesunden, Kranken und Rekonvalescenten ist es als ein vornehmes Tafelgetränk zu empfehlen, sondern es ist auch ein äußerst nahrhaftes und bekömmliches Volksgetränk. Es wirkt erfrischend und anregend. Da das Bier auch durchaus nicht teurer ist wie unsere billigsten Biere, darf mit der Erfindung des Hopkos ‚Ale‘ und Hopkos ‚Porter‘ die so wichtige soziale Alkoholfrage um ein gut Teil gelöster erscheinen“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 27 v. 1. Februar, 20). Das moderne Leben mit seiner Hast, seinem „vielfach rasenden Tempo“ verbrauche rasch die Kräfte, verbiete aber zugleich den Alkoholkonsum, den „so zu Herzen gehenden Trank des Gambrinus“. Hopkos erlaube Erholung und Gemütlichkeit ohne Harm, zugleich fördere es die Verdauung, verdränge die Harnsäure, fördere „das Wohlbefinden des Menschen“ (Zeitgemäße Betrachtungen, Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 53 v. 1. Februar, 3). Hopkos bekämpfe auch die bei rastlos tätigen Menschen immer wieder eintretende Erschöpfung, die bei alkoholischen Erfrischungen wie dem Bier nicht zu vermeiden sei. „Analysen erster Autoritäten der Nahrungsmittel-Branche“ würden bestätigen, dass dieses „aus reinsten Ingredienzien“ bestehende Getränk Neuland beträte (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 53 v. 1. Februar, 18). Nicht Limonade oder Selterswasser, schon gar nicht Bier, sondern Hopkos materialisiere die Zukunft des Trinkens des modernen, tätigen und vorwärtsstrebenden Menschen (Ein neues Volksgetränk, Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 28 v. 3. Februar, 5).

Hopkos wurde als neues, gesellschaftliche Probleme aufgreifendes und ansatzweise lösendes alkoholfreies Getränk präsentiert, als Substitut gleichermaßen für Bier und die alten schwachen karbonisierten Wässerchen. Hopkos wurde als Getränk für alle angeboten, mochte der Schwerpunkt des Lobpreises auch auf den modernen Bürger, den modernen Angestellten zielen. Hopkos war ein Labetrunk für Alt und Jung, für Männer und Frauen, für Gesunde und Kranke. Sein Platz war das Kontor, die Arbeitsstätte, das gemütliche Heim, die Krankenstätte, das Sanatorium. Hopkos transformierte den Getränkekonsum – so die Werbung – in eine neue Sphäre, würde die Konkurrenz daher verdrängen, galt doch auch im Markt das Gesetz des Besseren, des Stärkeren. Wir werden dies unten genauer analysieren, denn Hopkos wurde nicht mit nur mit einem schönen Werbebild präsentiert, sondern mit breit angelegten, vielfach variierten Werbemitteln.

Umzug zu einem neuen Fabrikationsgebäude und Prämienangebote zwecks Auslastung der neuen Produktionskapazitäten (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 229 v. 17. Mai, 26 (l.); Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 137 v. 14. Juni, 7)

Die Gesellschaft zog Mitte 1903 von der Altstadt in die Arndtstraße 14 im nördlich gelegenen Stadtteil Uhlenhorst um, das nicht lange zuvor erstellte Funktionsgebäude war per Fleet mit der Außenalster verbunden. Das heute denkmalgeschützte Ensemble wurde damals vornehmlich gewerblich genutzt, das Unternehmen annoncierte eine eigene „Hopfen- u. Malz-Extract-Fabrik“ (Hamburger Adressbuch 118, 1904, T. III, 13). Nicht das wahrscheinliche Aussteigen des Eigentümers Bruno Friling stand im Vordergrund, nicht die folgende Staffelstabübergabe des Alltagsgeschäftes an den Generalagenten Carl W. Meyer, der in der Brennerstraße 74-78 residierte, nahe dem Steindamm, einer quirligen Geschäftsstraße im zentralen Stadtteil St. Georg. Auch Meyers parallele Tätigkeit für Alkoholproduzenten, wie die Berliner Bockbrauerei AG, blieb unerwähnt (Verzeichnis der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen im Oberpostdirektionsbezirk Hamburg 1903, 42).

Stattdessen präsentierte die American German Hopkos Company den Umzug als Teil einer stellaren Erfolgsgeschichte des neuen Bierersatzes. Dessen „schon jetzt“ enormer Absatz habe „die Uebersiedelung in ein grösseres Fabrikgebäude und die Fabrikation des Extraktes an Ort und Stelle nötig gemacht“. Die dampfbetriebene und mit neuen Maschinen ausgestattete Fabrik habe eine „tägliche Herstellungskapazität von Extrakten zu einem für 250.000 Flaschen reichenden Quantum“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 115 v. 17. Mai, 16). Anders ausgedrückt: An der neuen Produktionsstätte wurden Extrakte gefertigt, sie war Zentrum des Versands lizensierter Grundstoffe an die parallel langsam entstehenden Filialen im In- und Ausland. Der Getränkeabsatz dürfte zu dieser Zeit allerdings nicht den erhofften Umfang erreicht haben. Einerseits fabulierte man plötzlich von der neuen Entdeckung einer eminent durststillenden Wirkung des Hopkos, um rechtszeitig zum Sommergeschäft auch Touristen, Radfahrer, Turner und körperlich Arbeitende explizit anzusprechen. Anderseits lobte man kurz nach dem Bezug der neuen Produktionsstätte Erfolgsprämien für Einzelhändler aus, um dadurch den Absatz zu steigern. Für Juli schrieb man einen Wettbewerb aus, in dem der Krämer, der zuerst 1000 Flaschen eingekauft habe, eine Prämie von 50 Mark erhielt. Zugleich zahlte man jedem Abnehmer, der diese Marke überschritt, 10 Mark (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 137 v. 14. Juni, 40). Die Firma gewährte also ohne Reduktion des Endpreises von zehn Pfennig einen Mindestrabatt von zehn Prozent (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 273 v. 14. Juni, 13; ebd., Nr. 285 v. 21. Juni, 4). Bei einer monatlichen Produktionskapazität von nominell 7,75 Millionen Flaschenportionen waren derartige Prämien für recht geringe Abnahmemengen einzig Beleg für einen recht überschaubaren Absatz in Hamburg.

Wir Konsumenten dürfen allerdings nicht ignorieren, dass das Kerngeschäft nicht allein der lokale Absatz eines alkoholfreien Bierersatzes war. Laut Telefonbuch war das Unternehmensziel „Paten[t]verwert.“, ebenso konnte man im Adressbuch lesen: „American-German Hopkos Company mit beschränkter Haftung, Patentverwerthungen“ (Verzeichnis der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen im Oberpostdirektionsbezirk Hamburg 1903, 19; Hamburger Adressbuch 117, 1903, Mai-Anhang, 103). Das Hamburger Geschäft hatte Modellcharakter, sollte möglichen Investoren nicht nur abstrakt von Marktchancen tönen, sondern ein belegbares und besichtigungsfähiges Beispiel eines Erfolgsunternehmens geben. Das Hamburger Unternehmen war ein Franchiseunternehmen, gehörte zu den Pionieren dieses heutzutage allgegenwärtigen Geschäftsmodells im Deutschen Reich. Hopkos wurde in Hamburg als Marke etabliert, einheitliche Werbeklischees entwickelt, klare Rezepturen, Maschinen und die geschmacksgebenden Extrakte. Interessierte konnten gegen regelmäßige Gebühren die Rechte für einen entsprechenden Be- und Vertrieb an einem anderen Ort, in einer anderen Region erwerben – und dann in begrenzter Eigenregie Hopkos verkaufen. Der Lizenznehmer trug eigenes unternehmerisches Risiko, nicht jedoch die Kosten für die erfolgreiche Etablierung eines Geschäfts. Der Lizenzgeber profitierte von steten Gebühren, war zugleich gegenüber lokalen Absatzschwankungen abgesichert. Im Deutschen Reich waren damals Gebietsmonopole durchaus üblich, doch diese bezogen sich zumeist auf den alleinigen Absatz eines bestimmten Markenartikels in einem klar umrissenen Gebiet. Steinway-Flügel oder Singer-Nähmaschinen konnte man vor Ort nur von einem Unternehmen kaufen, mochte dieses in Großstädten auch verschiedene Filialen eröffnet haben. Bei Hopkos aber übernahm der Lizenznehmer nicht Fertigprodukte, sondern hatte diese Produkte dezentral selbst herzustellen, erhielt dafür Extrakte und Werbemittel. Das war in den USA durchaus üblich, Coca-Cola ein gutes Beispiel. Im Deutschen Reich gewann das Franchise-System später nicht nur im Getränkesektor an Bedeutung, wo die aus Milchsäure hergestellte Limonade Chabeso seit 1911 diese Geschäftsmodell nutzte (Ueber Milchsäuregetränke und deren Nutzen für die menschliche Gesundheit, Deutsch-Englischer- Reise-Courier 9, 1912/13, H. 11, 11-13).

Auf der Suche nach Investoren „in jeder Stadt der Welt“ (Badische Presse 1903, Nr. 49 v. 27. Februar, 4 (l.); Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 57 v. 26. Februar, 3. Morgenbl., 4)

Entsprechend schaltete die Hopkos-Company seit Ende Februar erst reichsweit, seit Mai auch europaweit nahezu gleichlautende Anzeigen in führenden Wirtschaftsmedien, um potenzielle Franchisenehmer mit den neuen Geschäftschancen vertraut zu machen. Hopkos war dabei nur Mittel zum Zweck für eine schnelle Mark, für scheinbar sichere Einkommen. Der Tenor war entsprechend lockend: „Bedeutender Gewinn! Vornehmen, lukrativen Industriezweig bilden die Hopkos-Fabriken in jeder Stadt der Welt. Einheitliche Organisation!! Einheitliche Reklame!! Hopkos […] ist ein Massenconsumgetränk vorzüglichster Qualität. Verkaufspreis per Flasche franco Haus 10 Pfg. für Arm und Reich“ (Schwäbischer Merkur 1903, Nr. 91 v. 25. Februar, 10). Nicht die Reform der Gesellschaft, nicht die Transformation der Trinksitten, nein, die Rendite war treibende Kraft aller Anstrengungen. Die Hopkos-Company lieferte bei Vertragsabschluss „complette Fabrik-Anlagen mit elektrischem Betriebe sammt sämmtlichen zu einem Bierversandt-Geschäft nötigen Requisiten wie: Wagen, Flaschen etc. franco Haus“ (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1903, Nr. 48 v. 27. Februar, 7). Dieser Service hatte seinen nach Ortsgrößen gestaffelten Preis: In Städten unter 50.000 Einwohner 9000, in Großstädten 25.000 Mark. Hamburg war Vorzeigeort, doch die Gesellschaft verwies auch auf Berlin und Leipzig, auch wenn dort noch keine festen Filialen bestanden. Investoren erhielten zudem Rentabilitäts-Nachweise, also Werbeunterlagen mit ansprechend hochgerechneten lokalen Markterwartungen.

Diese erste Anzeigenwelle führte zum Aufbau von Franchiseunternehmen in Bremen, Berlin, Frankfurt a.M., Leipzig, Wiesbaden – und Ennigerloh. Im Mai begann dann der Einstieg in das europäische Lizenzgeschäft, in das Weltgeschäft. Das „bekannte alkoholfreie Erfrischungsgetränk ‚Hopkos‘“, so hieß es „wird sich bald über ganz Europa verbreitet haben. Die Verbreitung geht mit erstaunlicher Geschwindigkeit vor sich, ein Zeichen, daß dieses als Bierersatz vielgepriesene Getränk eine Lücke füllt.“ Man sprach von einer Hopkos-Vertriebs-Gesellschaft in London, einer russischen Zentrale in Lodsch, von bald folgenden russisch-finnischen, französischen, italienischen, belgischen und holländischen Pendants. Die im Deutschen Reich derweil gegründeten Filialen mutierten zu Zeugen des weitergehenden Aufschwungs, „so daß jeder Deutsche bald überall sein Hopkos trinken kann“ (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 229 v. 17. Mai, 17; Neue Hamburger Zeitung 1903, Nr. 232 v. 19. Mai, 10). Das war begleitet von neuen, allerdings kürzer gehaltenen Annoncen, die mit der wichtigsten Botschaft endeten: „Großartige Rentabilität!“ (Kölnische Zeitung 1903, Nr. 776 v. 25. August, 4; ebd., Nr. 790 v. 29. August, 4). Andernorts nannte man auch Zahlen. Über eine anvisierte Filialfabrik in Oldenburg hieß es: „Das Kapital verzinst sich mit ca. 300% pro anno“ (Nachrichten für Stadt und Land 1903, Nr. 164 v. 16. Juli, 4). Das war offenkundig illusionär, größerer Trug als der Verkauf eines karbonisierten Getränks als „Bierersatz“, als verbessertem alkoholfreiem Bier. Doch die Zahlen blendeten nur wenige. Im September versprach die American German Hopkos-Company nicht mehr länger „Große Rentabilität“, sondern hatte bereits Mittelsmänner einschaltet, das kriselnde Geschäft teils übergeben (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1903, Nr. 412 v. 6. September, 6). In der zweiten Jahreshälfte zeigte sich erst in Deutschen Reich, in der Folge auch im europäischen Ausland, dass die Verheißungen trogen, dass Hopkos ein Auslaufprodukt war. Das alkoholfreie Getränk teilte dieses Verdikt mit vielen anderen ähnlichen Produkten, auch wenn die Macher von deren Scheitern durchaus lernten.

Ein Blick auf die Konkurrenz: Methon als Beispiel

Die American German „Hopkos“ Company war als nationales, gar multinationales Franchiseunternehmen, mochte ihr auch kein durchschlagender Erfolg beschieden gewesen sein. Das alkoholfreie Getränk sollte Bier ersetzen, stand zugleich aber in erbittertem Wettbewerb mit anderen alkoholfreien Angeboten. Deren Macher annoncierten abschätzig: „Alkoholfr. Bier (Methon), sehr wohlschmeckend, nicht zu verwechseln mit Hopkos!“ (Velberter Zeitung 1903, Nr. 217 v. 16. September, 4). Hopkos präsentierte sich als Bierersatz, vereinzelt auch als alkoholfreies Bier. Dieser Anspruch war unbegründet, die Analysen hatten dies offenbar unterstrichen. Und doch stand Hopkos für zahlreiche Versuche, Bier nicht technisch, sondern chemisch nachzubilden. Uns Nachgeborenen mag dies anmaßend erscheinen, doch nicht so unseren Ahnen: Kindermehle und Säuglingsmilch bildeten seit den 1860er Jahren die Muttermilch chemisch nach, um Gewinne zu erzielen und die horrende Säuglingssterblichkeit zu verringern. Aus Sicht der Tüftler bildeten sie Stoffkonglomerate, die um Kohlehydrate resp. Eiweiß gruppiert waren, sich aber dem Ideal der Muttermilch annäherten. Das naturwissenschaftlich-chemische Denken kreiste um Gemeinsamkeiten fernab des Alltagswissens, darin waren Rohr- und Rübenzucker gleichermaßen Glukose. Alkoholfreies Bier war demnach ein Getränk, das der chemischen Zusammensetzung des Bieres möglichst nahe kam. Geschmack, Textur, Technologie und Tradition erschienen demgegenüber zweitrangig. Wer fragte schon ein Baby (einen Kunden) nach seinen Präferenzen, entscheidend war der Nährerfolg (Markterfolg).

Das oben beworbene Methon war eines der neuen alkoholfreien Getränke, dessen Absatz durch Hopkos grundsätzlich bedroht wurde. Das Warenzeichen war sieben Monate vor Hopkos im Mai 1900 für die Dresdener „Fabrik ätherischer Oele und Essenzen“ von Franz Hermann Loebel in Dresden. Sie hatte sich bis Mitte der 1890er Jahre vor allem auf Zwischenprodukte konzentriert, belieferte Bäcker, Konditoren, Destillateure, Süßwaren- und Getränkehersteller (Kölnische Zeitung 1895, Nr. 207 v. 9. März, 11). Doch in den Folgejahren öffnete sich Loebel auch dem Endkundengeschäft. Vor Methon offerierte er schon den Bierextrakt Süss-Meth-Extrakt (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 259 v. 30. Oktober, 13), 1903 folgte die Limonade Apfelborn und die Brotaufstriche Schleckerchen und Frugalin. Begleitet war all das von verbalem Klappern; ein Flugblatt über Süss-Meth tönte hoffnungsfroh, das die Herstellung alkoholfreien Bieres nun „bequem und einfach ohne irgend welche Neuanschaffungen mit denjenigen Apparaten und Einrichtungen vorgenommen werden kann, welche in jeder, auch der kleinsten Mineralwasserfabrik vorhanden sind. Das neue Volksgenußmittel, das technisch, da seine Herstellung nicht auf dem altüblichen Maisch-, Brau- und Gährverfahren beruht, nicht als ‚Bier‘ zu bezeichnen ist, gelangt unter meiner Originaletiquette Süßmeth-Extract zur Einführung.“ Das war alkoholfreies Bier in chemischer Nachbildung. Brauer urteilten abschätzig: „Wir glauben kaum, daß sich auch nur ein vernünftiger Mensch auf der Welt finden dürfte, der Lust hat, diesen sonderbaren Extract zu versuchen“ (Zitate n. Unfug mit der Wortbezeichnung ‚Bier‘, Gambrinus 27, 1900, 248-249).

Methon, suggestiv angezeigt als „Alkoholfreies Bier“ (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 83 v. 9. April, 15)

Ähnlich, doch aktiver wurde das Folgeprodukt Methon beworben: „Alkoholfreie Biere herzustellen war daher längst eine brennende Frage, bisher allerdings ungelöst im Sinne einer Bereinigung von Wohlfeilheit und Schmackhaftigkeit. Neueste Erfahrungen haben in dem würzigen, gänzlich alkoholfreien, patentamtlich geschützten Methon ein Volksgenußmittel gezeitigt, welches mit erfrischendem Geschmack, glanzheller Färbung und prickelndem, sahnigen Mouffleur den hohen Extraktgehalt und die Vollmundigkeit der besten Münchner Biere vereinigt, ohne deren durch den Alkohol bedingte Schwere und berauschende Wirkung zu besitzen. – Nicht nach dem altüblichen Brauverfahren gewonnen, daher frei von allen Gährungskeimen, aber auch frei von künstlichen Süß-. Farb- und Konservierungsmittel ist Methon ein echter Haus-, Familien-, Tafel- und Gesundheitstrank“ (Lippstädter Zeitung 1901, Nr. 41 v. 6. April, 1). Methon war demnach kein Ersatz, sondern eine alkoholfreie Fortentwicklung des Bieres. Auch weißer Rübenzucker wurde als reiner Fortschritt gegenüber dem braunen Rohrzucker voller Rückstände beworben.

Loebel produzierte Methon seit 1900, doch erst nach der Gründung der Deutschen Methon-Gesellschaft im Mai 1901 nahm der Vertrieb Geschwindigkeit auf (Bautzener Nachrichten 1901, Nr. 115 v. 20. Mai, 133). Doch die Methon-Gesellschaft produzierte keine Getränke, sondern lediglich Grundstoffe. Methon wurde unmittelbar am Verkaufsort „frisch“ hergestellt (Lippstädter Zeitung 1901, Nr. 86 v. 20. Juli, 1). Abnehmer erhielten für fünf Mark eine Kiste mit zwei Flaschen fertigem ‚Methon‘ zum Kosten, Extrakt für die Herstellung von 250 Flaschen, Etiketten und eine Erläuterung des Verfahrens (Alkoholfreies Bier, Gambrinus 28, 1901, 291-292). Glasflaschen und ein Mineralwasserapparat wurden vor Ort angekauft. Die Werbung verwies auf den biergleichen Geschmack, die Reinheit des Getränks. Für die Brauer war Methon jedoch irreführender „Pantsch“, handelte es sich doch um nichts anderes als „eine gewöhnliche Brauselimonade ohne Hopfen und Malz“ (Unfug mit der Wortbezeichnung „Bier“, Gambrinus 28, 1901, 673). Eine Analyse des Stettiner Chemikers Paul Mecke konnte im Methon dann auch weder Hopfen noch Malz nachweisen, befand es als eine „parfümirte, mit Schaumessenz versetzte Zuckercouleur“ (Pharmaceutische Presse 6, 1901, 278). Das aus Invertzucker, Saponin und dem bis heute weit verbreiteten E 150 bestehende Getränk geriet darauf unter öffentlichen Druck, musste seine Werbung moderat verändern, wurde aber weiterhin als „alkoholfreies Bier“ angeboten (Gladbecker Zeitung 1901, Nr. 212 v. 14. September, 4: Essener Volks-Zeitung 1902, Nr. 170 v. 26. Juli, 10). Die Deutsche Methon-Gesellschaft stellte ihr Produkt „den besten Bieren gleich“ (Geseker Zeitung 1903, Nr. 54 v. 7. Juli, 4). Als vermeintlichen Beleg nutzte sie dafür ein Gutachten des Dresdner Nahrungsmittelchemikers und Inhaber eines öffentlichen chemischen Laboratoriums Friedrich Schmidt.

Trotzwerbung gegen die chemischen Untersuchungsergebnisse (Dresdner Neueste Nachrichten 1906, Nr. 219 v. 15. August, 14 (l.); ebd. 1909, Nr. 225 v. 20. August, 13)

Das Konkurrenzprodukt Methon dürfte von den Machern des Hopkos präzise analysiert worden sein. Es war demnach erstens ratsam, polarisierende Begriffe wie „alkoholfreies Bier“ nicht zu verwenden, diese zu umschreiben, die Assoziationsfähigkeit der (deutschen) Sprache zu nutzen. Es war zweitens ratsam, die Überzeugungskraft der Wissenschaft von Beginn an zu nutzen, mit einem eigenen Gutachten voranzugehen, nicht auf spätere chemische Kontrollen zu warten. Drittens schien es ratsam, den bei Methon grundsätzlich noch vorhandenen Zugriff auf die wertgebenden Grundstoffe nicht aus der Hand zu geben. Die Analyse allein des Endproduktes bot viel mehr Ausflüchte – und entsprechend weniger Möglichkeiten der Regulierung oder gar sanitätspolizeilicher Intervention. Methon mochte ein irreführend beworbener Bierersatz und Konkurrent von Hopkos gewesen sein. Doch zugleich war es ein Steigbügelhalter für eine passgenauere, mit dem geltenden Recht nicht im direkten Konflikt stehende Marktpräsenz. Die für uns heute selbstverständlichen definitorischen Unterschiede zwischen Limonaden, Extrakten und alkoholfreien Bieren wurden dadurch vorgeformt.

Werbung und Vermarktung in Hamburg

Hamburg war der Geschäftssitz der American German Hopkos Company, hier musste ein Beispiel für das gegeben werden, was nachfolgend an anderen Orten und in anderen Ländern geschehen sollte. Wir hatten zuvor bereits die verbale Anpreisung des Bierersatzes genauer betrachtet, den Eigenlob, die Positionierung von Hopkos als Getränk für alle, die nicht länger am alten Bier, an schwachen Nichtalkoholika festhielten. Die Sprache war großspurig, herausfordernd, teils anmaßend – doch formal waren die ersten Anzeigen altbacken. Hopkos wurde in Hamburg nicht wirklich „amerikanisch“ beworben, fehlten doch die visuellen Marker entweder des Produktes selbst oder aber glücklich-überzeugter Konsumenten. Der Eindruck einer „amerikanischen“ Reklame gründete denn auch mehr auf der steten Präsenz der Werbebotschaften. Drei Phasen lassen sich grob unterscheiden.

Graphisch aufbereitete Kaskaden der Kaufgründe (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 47 v. 29. Januar, 8 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 91 v. 19. April, 24)

Von Ende Januar bis etwa Mitte April 1903 dominierten informierende, die Hauptanliegen der Selbstdarstellung gleichsam einhämmernde Anzeigen. Visueller Ankerpunkt war der Produktname, entweder markant wiederholt oder aber graphisch ansprechend aufbereitet. Die Annoncen erschienen in allen führenden Tageszeitungen Hamburgs, adressierten damit die gesamte Bevölkerung, Arbeiter, einfache Bürger, die urbane Kaufmannschaft. Das Einhämmern verankerte den Preis, die edle Grundlage von Hopfen und Malz, den hohen Nährwert, die Kampfstellung gegen das Bier, die repräsentative Kraft des Neuen, unbedingte Alkoholfreiheit und schließlich das duale Angebot einer hellen und einer dunklen Variante. Das war Überwältigungsreklame, zielte auf die Verankerung von Werbebotschaften im Hirn der Massen – und damit ihre bedingte Dressur für den Kauf, ging man damals doch noch von der starken Wirkungsmacht der Reklame aus.

Belehrung des Publikums über den wahren Preis (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 115 v. 10. März, 7)

Die gefühlte Überlegenheit der Hopkos-Macher führte denn auch dazu, dass man der sich in recht geringen Absatzzahlen niederschlagenden Ignoranz der Konsumenten durch belehrende Information begegnete. Hopkos war nicht billig: Zwar kosteten auch gängige Flaschenbiere zehn Pfennig pro Flasche, doch diese enthielten zwischen 0,3 und 0,4 Liter, während Hopkos in Fläschchen von lediglich 0,1 Liter verkauft wurde. In Gaststätten – und dort wurde die Masse des Bieres getrunken – lagen die Bierpreise nochmals niedriger. Außerdem verdoppelte sich der Einstiegspreis durch das Flaschenpfand von nochmals zehn Pfennigen. Die Macher ignorierten die damaligen Debatten über das Besitzrecht an gekauften Produkten und ihren Verpackungen. Und man unterstrich mit der oberen wieder und wieder geschalteten Anzeige, dass die kleine Erfrischung einen ganzen Groschen kostete. Bei Monatssalären von vielfach nur 60 bis 100 Mark, bei Frauen stetig weniger, war das eine Hürde, die den Massenabsatz deutlich begrenzte. Zudem waren derartige Nichtalkoholika auch in der Mitte der Gesellschaft vielfach noch nicht eingeführt. Die aufstrebende Hamburger Konsumgenossenschaft „Produktion“ verkaufte 1903 ihren etwa 15.000 Mitgliedern ganze 5186 Liter Saft und keine Limonaden (Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ zu Hamburg. Geschäfts-Bericht für das Fünfte Geschäftsjahr 1903, Hamburg 1904, 29).

Weg vom Alkohol, hin zur Abstinenz: Hopkos als Brückengetränk (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 159 v. 4. April, 8)

Im März/April 1903 gab es weitere Anzeigenmotive – doch ihre Größe (und die Kosten) sank gegenüber den Einführungsmonaten. Man bewarb Hopkos als idealen, als wunderbaren Bierersatz, stellte nun jedoch auch einzelne Vorteile des Getränks besonders hervor. Zugleich positionierte man es noch deutlicher als Temperenzgetränk, als Novität mit einer hohen Mission.

Vermarktung im Schlagschatten der Abstinenz (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 80 v. 4. April, 8)

Die zweite Phase reicht von Mitte April bis Mitte Mai. Den Machern dürfte damals deutlich geworden sein, dass die anvisierten Absatzzahlen kaum zu erreichen waren. Der Inhaber zog daraus Konsequenzen und sattelte auf den marktgängigeren Absatz von Backmischungen um. In dieser Phase dominierten neuerlich Textanzeigen. Im Gegensatz zur Einführungszeit bedienten sie nun jedoch höchst heterogene Themen, verbanden diese mit Hopkos. Parallel zu den Pferderennen in Hamburg Horn war es „ein totsicherer Tip im Kampfe des Lebens, im nimmer rastenden Rennen um die Gesundheit von Geist und Körper“, gleichermaßen geeignet „für Abstinenzler und Biertrinker“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 97 v. 26. März, 24). Man grenzte sich ab von Konkurrenzangeboten, insbesondere zu dem in Hamburg produzierten Apfelpräparat Pomril, bemängelte dessen moderaten Alkoholgehalt, verwies dagegen auf die gutachterlich bestätigte Alkoholfreiheit. Man bettete dies aber auch ein in den Wettstreit der Völker, bei dem sich Zivilität in den Trinksitten manifestiere (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 189 v. 24. April, 12). Hopkos, so die Aussage, erlaube „allen Alkoholgegnern die große Freude, daß sie jetzt Bier trinken dürfen, alkoholfreies Bier; denn Hopkos – der Name ist etwas schwer, und die Zunge macht jedesmal einen Hopser – enthält keinen Alkohol und besteht doch aus Malz und Hopfen“ (Hopkos, Märkischer Sprecher 1903, Nr. 111 v. 13. Mai, 7). Neben derartige redaktionelle Reklamen setzte man aber auch kleine Geschichten, gleichsam literarische Schleichwerbung, versah sie augenzwinkernd mit „Nachdruck erlaubt“: Ein Wagnersänger musste etwa trunken eine Lohengrin-Aufführung abbrechen, die gramgebeugte Gattin fragte einen alten Sanitätsrat um Rat. Nein, die Nerven seien wirklich ein Problem, Lampenfieber müsse bekämpft werden, Gesang und Durst seien eng miteinander verbunden. Einem Künstler Genüsse und Erfrischung zu verwehren sei kontraproduktiv. Nur gut, dass es Hopkos gebe, diese bierähnliche Stärkung aus der Flasche. Und der Sanitätsrat empfahl der Dame, „‚lassen Sie ihren Mann statt Bier nur noch Hopkos trinken. Er wird den Unterschied kaum merken und binnen kurzem der alte sein‘“ (Ewaldo v. Santen, Ein furchtbares Erlebnis, Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 91 v. 19. April, 27). Ja, die Welt war (und ist) einfach: Kaufen, Trinken, Gesunden…

Ein eingeführtes Getränk (Hamburger Echo 1903, Nr. 184 v. 9. August, 6)

Drittens: Nach dem erfolgreichen Umzug nach Uhlenhorst startete die Hopkos-Company dann von Mitte Mai bis Mitte August eine dritte Werbephase. Die Anzeigentaktung nahm neuerlich zu, eingesetzt wurden nun auch vereinzelte visuelle Elemente, etwa den schon oben präsentierten Wegweiser an den neuen Standort. Parallel weiteten sich die Themen, gab es formale Variationen. Hopkos wurde – im bürgerlichen Hamburg! – in vielfältigen Formen zum König der alkoholfreien Getränke gekrönt, erschien als Hilfsmittel gegen Durst und Trunkenheit, diente zugleich dem Kampf gegen „Nervosität, Armut, Zunahme der Verbrechen, Arbeitsscheu, Lebensüberdruss“ (Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 149 v. 28. Juni, 14).

Hopkos als volkswirtschaftlicher Aktivposten, als König aller alkoholfreien Getränke, als Getränk der Getränke (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 321 v. 12. Juli, 8 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 191 v. 16. August, 16)

Neuerlich wurden die Vorteile des idealen Bierersatzes Hopkos aufgelistet und mit Ausrufungszeichen versehen. Es schien, als wolle man mit diesen unten abgebildeten Anzeigen den Verbraucher nochmals aufrütteln, während parallel die Geschäfte immer schlechter liefen. Die Werbesprache blieb appellativ-trotzig: „Das Getränk der Getränke! Hopkos ist nahrhaft, da es aus Hopfen und Malz hergestellt wird, wie Bier. Hopkos ist belebend, wie Wein und kräftigt dabei die Nerven, da es absolut alkoholfrei ist. Hopkos ist erfrischend und blutreinigend und löscht wunderbar das Durstgefühl. Hopkos ist ein wissenschaftlich absolut einwandfreies modernes Getränk für die Tafel, den Hausgebrauch, das Krankenzimmer, die Restauration, den Turn- u. Spielplatz – kurz für alle Welt. […] Prosit!“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 191 v. 16. August, 16). Doch die erwünschte Resonanz blieb aus, auch wenn es an ironischer Unterstützung nicht fehlte. Ein abgelehnter Dichter musste lesen: „Ihr ‚Lied eines Wüstlings‘ ist so entsetzlich, daß wir uns nicht zum Abdruck entschließen konnten; einem Redakteur, der das durchlas, mußte sofort mit zwei Flaschen Hopkos wieder auf die Beine geholfen werden“ (Hamburgisches Fremden-Blatt 1903, Nr. 203 v. 30. August, 17).

Ein Getränk für alle (Hamburger Anzeiger 1903, Nr. 174 v. 28. Juli, 5 (l.); Hamburger Echo 1903, Nr. 178 v. 2. August, 4)

Auch in dieser dritten Phase gelang es den Hopkos-Machern nicht, ihr Produkt zielgruppengenau anzudienen, den Ersatzbiergarten für alle zu verlassen: „Für Jung und Alt, Gesunde und Kranke!“ (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 345 v. 26. Juli, 8). Ein Massengetränk müsse sich auch an die Masse der Konsumenten richten, dürfe nicht ausgrenzen. Dieses Credo mochte vielleicht in den vergleichsweise wohlhabenden, an Mittelstandsnormen und hochwertigen Standardprodukten angepassten Vereinigten Staaten gelten. In der hanseatischen Klassengesellschaft verfehlte eine derartige Werbung tendenziell die Absatzaufgaben. Die Hopkos-Macher adressierten zwar durchaus die „tapferen Frauen der arbeitenden Klasse“, präsentierten Hopkos aber nicht in deren Lebenswelt, sondern als Verbürgerlichungsgetränk, als Bestandteil einer vielfach verhassten fürsorglichen Belagerung just der Chemiker, Ärzte, Lehrer und Sozialpolitiker, die Hopkos warm empfahlen (Hamburger Echo 1903, Nr. 166 v. 19. Juli, 10).

Unterentwickelter Vertriebsweg Gaststätte: Hopkos-Bier und andere Limonaden (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1903, Nr. 172 v. 25. April, 8 (l.); ebd. 1903, Nr. 241 v. 17. Juli, 8)

Überraschend war schließlich, dass Hopkos trotz aller Bemühungen um Akzeptanz der Lebensmittelhändler auf deren eigenständige Werbeunterstützung kaum zählen konnte. Die Hopkos-Werbung erfolgte zentral, nicht dezentral. Das galt selbst für Cafés und Restaurants, auch für die langsam wachsende Zahl der alkoholfreien Gaststätten.

Werbeträchtige Scheindebatten

Die Hopkos-Macher zogen in Hamburg allerdings eine bemerkenswerte Konsequenz aus den Marktauftritten alkoholfreier Konkurrenzprodukte, nicht nur von Methon. Sie inszenierten vermeintliche Angriffe, auf die sie dann souverän öffentlich reagierten. Damit nahm die American German Hopkos Company einerseits den bürokratisch-sachlichen Hinweisen der Untersuchungsämter präventiv Wind aus den Segeln, konnte anderseits aber den Blick der Verbraucher gezielt auf die scheinbar eindeutigen Vorteile von Hopkos lenken.

Volle Breitseite gegen Kritik am neuen Getränk (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 63 v. 15. März, 15)

Anlass einer ganzseitigen „Zur Abwehr!“ übertitelten Anzeige war einerseits ein öffentlich kontrovers diskutiertes Anti-Alkoholpamphlet des Hamburger Richters Hermann Martin Popert (1871-1932), anderseits die Abwehr von nicht näher spezifizierten Vorwürfen, Hopkos sei nicht alkoholfrei. Popert hatte die negativen Auswirkungen aller Alkoholika beredt beschworen, ließ dabei das Bier nicht aus: „Vor allen Dingen sind die Brauereien und die Bierwirtschaften nicht minder Ausstrahlungspunkte schwerer nationaler Schädigung, als die Brennereien von Trinkbranntwein oder die Keller der Branntweinwirte“ (Hermann M. Popert, Hamburg und der Alkohol, Hamburg 1903, 49). Der Autor war eine schillernde Persönlichkeit, jüdischstämmiger Jurist, Schriftsteller, liberaler Bürgerschaftsabgeordneter und Guttempler. Mit seinem 1910 erschienen Erfolgsroman „Helmut Harringa“ veröffentlichte er einen Schlüsseltext der antimodernen und rassistischen Lebensreform (Kai Detlev Sievers, Antialkoholismus und Völkische Bewegung. Hermann Poperts Roman Helmut Harringa, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29, 2004, 29-54). Popert schlug präzise Maßnahmen zur Austrocknung der Alkoholwirtschaft in Hamburg vor, darunter auch die öffentliche Förderung alkoholfreier Wirtschaften. Nichtalkoholika waren für ihn Garanten einer Umkehr von allgemeiner Entartung. Ein alkoholdürstendes Volk sei nicht in der Lage Weltgeltung und „Deutsche Seeherrschaft“ (Ebd., 51) zu erlangen.

Hopkos wurde nicht erwähnt, doch Poperts Aussagen konnten dem Absatz nur förderlich sein. Entsprechend lobte der Anbieter das Produkt als „vollgültiger Ersatz des Bieres […]. Hopkos besitzt alle Vorzüge eines guten, nahrhaften Bieres und keinen seiner Nachteile“. Es sei ein „Temperenzgetränk par excellence“, ignoriere auch nicht die auch von Popert propagierte Lebensfreude. Mäßige hatten dieses Recht eingefordert, verteidigten es in der intensiv geführten öffentlichen Debatte, da Alkoholtrinker ohne Pragmatismus nicht zu gewinnen seien ([Theodor] Deneke, Dr. H. Poperts Buch „Hamburg und der Alkohol“, Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 59 v. 11. März, 13). Hopkos wurde in diesen Scharmützeln nicht erwähnt, nicht als Hilfsmittel der Umkehr benannt. Die Anzeige sollte das Getränk propagieren, entsprechend erfand die Firma nicht näher bezeichnete schädigende „Ausstreuungen“. Das bewirkte sarkastische Antworten: Forderungen eines Guttemplers nach Zwangsmitgliedschaft von Arbeitern in dieser, gerade in Hamburg wichtigsten Abstinentenvereinigung konterte ein sozialdemokratischer Redakteur übersteigernd: „Natürlich! Und zugleich sollte man ihm die Verpflichtung auferlegen, täglich mindestens fünf Liter Pomril oder Hopkos zu konsumiren“ (Hamburg und der Alkohol, Hamburger Echo 1903, Nr. 65 v. 18. März, 5).

Nachgelegt: Hopkos als alkoholfreies Substitut für Bier (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 71 v. 25. März, 24)

Derartiger Spott missfiel den Hopkos-Machern, eine weitere ganzseitige Stellungnahme folgte. Neuerlich sprach man dunkel von Schmähbriefen und Hohn. Dagegen erhob man sich wacker, betonte Wohlgeschmack und Alkoholfreiheit des Hopkos, präsentierte die Ergebnisse des bestätigenden Gutachtens des eigenen Mitarbeiters Carl Enoch. Und es folgte eine Eloge auf den „Bierersatz ersten Ranges“, billig und zukunftsträchtig. So brachte die Firmenleitung ihr Getränk in die Diskussion – zu allerdings hohen Kosten: Die beiden Inserate im Fremden-Blatt kosteten 316,80 Mark; und sie wurden auch in den günstigeren Hamburger Nachrichten veröffentlicht (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 74 v. 28. März, 17). Wie sehr es in dieser Debatte allein um Publizität ging, unterstrichen zwei gleichartige, mehr als drei Monate später mit anderen Einleitungen versehene Anzeigen der Frankfurter Hopkos-Gesellschaft (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 177 v. 28. Juni, 4. Morgenbl., 4; ebd. , Nr. 174 v. 25. Juni, 3. Morgenbl. 3). Pseudodebatten und erfundene Niedertracht gehörten zur Präsentation von Hopkos.

Verdammung durch die Brauwirtschaft

Empörung über derartige Machenschaften ist kaum angebracht, denn solches Gebaren gehörte zum wirtschaftlichen Wettbewerb. Plagiatsvorwürfe durchzogen damals die Gazetten, Verfahren wurden vielfach angestrengt, um Strafbefehle von zehn, fünfzig, hundert Mark öffentlich annoncieren zu können, um die eigene Ehrsamkeit und Rechtschaffenheit dann angemessen zu beleuchten. Die American German Hopkos-Company schwieg allerdings ihre profunden Kritiker öffentlich tot, schuf also lediglich eine Werbewelt eigener Qualität. Das betraf die Analysen und Rückfragen der Untersuchungsämter, das betraf aber vor allem die Kritik der Brauer, die am vermeintlichen Bierersatz Hopkos kein gutes Haar ließen.

Deutsche und böhmische Fachzeitschriften berichteten anfangs durchaus sachlich über die neu gegründete Hamburger Gesellschaft, um dann gleich in die Hörner der Abwehr und Verdächtigung zu stoßen: „Wieder einmal ein Ersatz für Bier! Es wäre wahrlich höchste Zeit, daß sich die Sanitätsbehörden mit derlei problematischen Erzeugnissen etwas eingehender befassen sollten, als dies bisher der Fall gewesen“ (Alkoholfreier Schwindel, Gambrinus 30, 1903, 193; Hopkos, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 26, 1903, 291). Die Einlassungen der Brauwirtschaft spiegelten die vielgestaltigen Verwerfungen des Fin de Sieclé, verteidigte sie mit dem Bier doch nicht nur ihr eigenes Geschäft, sondern zugleich das tradierte Leben vor den Herausforderungen einer rasch vorwärtsdringenden Moderne. Die Kritik war vielfach zutreffend, seitens der sich in den Jahrzehnten zuvor grundstürzend modernisierten Brauwirtschaft aber doch überraschend und selbstblind. Die Antialkoholbewegung wurde nicht als Resultat verbesserter physiologischer und medizinischer Kenntnisse verstanden und ernstgenommen, sondern als eine aus dem Norden nach Süden vordringende utopisch-kreischende Bewegung, deren Vertreter man eigentlich, wie die Vegetarier, als Sonderlinge ignorieren müsse. Produkte wie Hopkos hätten dies jedoch verändert, „die nur schlecht eingewurzelte, künstlich genährte Pflanze treibt nämlich giftige Blüten mit hochtönenden Namen, gar wundersam anzusehen.“ Hopkos verkünde lautstark, gesünder als Bier zu sein, dieses verdrängen zu können. „Diese in echt amerikanischer Manier veröffentlichte Reklame ist offenbar ein Attentat auf die Leichtgläubigkeit des Volkes, und es ist nun unsere Pflicht, in dieser Angelegenheit ein offenes fachmännisches Wort zu sprechen, damit nicht tausende von Personen, welche das gedruckte Wort als ein Evangelium betrachten, diesem Humbug zum Opfer fallen.“ das tradierte Gute stand dem anmaßenden Neuen gegenüber: „Das tatsächlich aus Hopfen und Malz erzeugte Bier, das seit Jahrhunderten von aller Welt getrunken und verehrt wurde, ist zum Kampfobjekt der Abstinenzler geworden, das ‚Hopkos‘ aber, ein auf chemischem Wege erzeugtes Getränk, das niemals aus Malz und Hopfen erzeugt sein kann, dieses Getränk also, das der Gesundheit kaum zuträglich sein kann, wird dem Volke als Genußmittel angepriesen! Eine große Gesellschaft mit bedeutenden Mitteln konstituiert sich, die Behörden geben auch noch ein Patent auf dieses Produkt, Agenten durchziehen das Reich und machen Proselyten und das Volk, welches sich zum Genuß des ‚Hopkos‘ verleiten läßt, wird geschädigt, den Vorteil einzig und allein haben die ausländischen Unternehmer, die ‚Hopkos‘-Company, welche sich mit den im Schweiße seines Angesichtes verdienenden Hellern des Arbeiters die Tasche füllen und schließlich, wenn das Volk zur Einsicht gekommen sein wird – liquidieren.“ Die Untersuchungsbehörden müssten einschreiten, denn letztlich würden solche Unternehmen den monarchischen Staat, die mittelständische Gesellschaft unterminieren. „Geradezu frech“ sei es zudem, dass derartige Produkte von Wissenschaftlern verteidigt würden. Als Sachwalter des Gemeinwohls müsse die Brauwirtschaft daher „das Volk eindringlich vor dem Genusse eines Getränkes, das bisher unbekannt war und es noch ist“ warnen (Zitate n. Ein Appell an die Sanitätsbehörden, Gambrinus 30, 1903, 704-705). Antiamerikanismus, Antikapitalismus, Ideen eines einheitlichen Volkskörpers, einer einheitlichen Wissenschaft, Vorstellungen von Überfremdung und Angst vor der Innovationsflut der Moderne; all dies findet sich hier, hatte über die damalige Mittelstandsbewegung auch beträchtliche politische Auswirkungen. Die Abwehr von Hopkos ging weit über das Trinken oder Nicht-Trinken einer trügerisch beworbenen Getränkeinnovation hinaus. Hopkos war auch Projektionsfläche vielfach nicht erwünschter, gleichwohl kaum zu stoppender Veränderungen des Alltagslebens, der Kommerzialisierung zumindest des urbanen Alltags.

Beschwörung des Alten: Selbstdarstellung der Münchener Braukunst 1905 (Münchener Bier-Chronik 1905, Ausg. v. 1. September, 1)

Entsprechend wurden die neuen alkoholfreien Getränke nicht distanziert analysiert, auch die damit verbundenen eigenen Marktchancen außer Acht gelassen: Es hieß, „die Fabrikanten der alkoholfreien Getränke treiben ein gefährliches Spiel mit ihren Anpreisungen von chemischen Produkten“ (Alkoholfrei, Gambrinus 30, 1903, 830, auch zum Folgenden). Immer wieder forderten die Brauereivertreter das scharfe Schwert der Wissenschaft, forderten Enthauptungsschläge gegen die Konkurrenz. Sie ignorierten, dass die neuen Produkte zumeist nicht gesundheitsschädlich – und wirtschaftliche Schädigungen kaum nachweisbar waren. Sie warnten vor zeittypischen Getränken, etwa Ceres-Fruchtsäften, Bilz-Brause und eben auch Hopkos, während sie die Gründe für den im Deutschen Reich seit 1900 zurückgehenden Bierkonsum nur unwillig in den Blick nahmen. Die Kritik am Neuen sollte die Reihen schließen und führte zu einer Wagenburgmentalität der Branche, die apodiktisch verteidigte statt sich zu verändern. Typisch dafür war das unausgesprochene Verbot als Brauer „alkoholfreie Biere“ zu produzieren und anzubieten. Das veränderte sich langsam, Trinkmit der Bochumer Schlegel-Brauerei war später eine seltene und doch zukunftsweisende Ausnahme.

Die Kritik der Brauer an Hopkos und ähnlichen Getränkeinnovationen unterstrich aber auch die beginnende Stagnation des Braugewerbes, dessen Symbol die rechtlich verbindliche Festschreibung des Reinheitsgebotes im gesamten deutschen Braugebiet 1906 war. Man wetterte gegen die „Abstinenzfanatiker“ (Cluss, Die wichtigsten Gesichtspunkte der Alkoholfrage vom Standpunkte der Mässigkeit. II, in: Letter on Brewing 6, 1906, 80-99, hier 91), gegen ihre unanständige Propaganda, ihre steten Unwahrheiten und Übertreibungen. Die neuen Getränke, „dargeboten unter sprechenden Phantasienamen wie „‚Methon‘, ‚Hopkos‘, ‚Pomril‘, ‚Kaiserperle‘, ‚Edelblume‘ u.s.w.“ (Ebd., 95), lehnten sie sämtlich ab, verwiesen auf das gute altbewährte Bier mit seinem nur geringen Alkoholgehalt. Anbieter wie die Hopkos-Company – aber auch die Brauer folgten den eigenen Narrativen, blickten nicht über den Glasrand hinweg (vgl. Birgit Speckle, Streit ums Bier in Bayern. Wertvorstellungen um Reinheit, Gemeinschaft und Tradition, Münster 2001, 197-206). Diese allseits bestehende Ignoranz gegenüber konfligierenden Ansprüchen begünstigte in den USA den Weg in die Prohibition, die sich die erfolgsverwöhnten Brauer letztlich nicht vorstellen konnten, gegen die sie zu spät aufbegehrten (Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010, 11-50). Die wechselseitigen Attacken von Brauern und Anbietern neuartiger Nichtalkoholika führten auch in Deutschland zu einer Versäulung der jeweiligen Vorstellungen vom richtigen und falschen Trinken.

Nationale Expansion: Hopkos-Lizenznehmer im Deutschen Reich

Die seit spätestens Februar 1903 laufenden Bemühungen um Franchisenehmer hatten im Deutschen Reich nur gegrenzten Erfolg. Die Hamburger Hopkos-Zentrale lieferte zwar Maschinen, Extrakte und Werbevorlagen, erlaubte vor Ort durchaus eigenständige Marketingmaßnahmen, doch die Verträge engten die lokalen Aktivitäten auch ein, wurden lokale Besonderheiten doch kaum berücksichtigt. Insbesondere der reichsweit einheitliche Verkaufspreis war zu hoch, schon für eine einkommensstarken Standort wie Hamburg, gewiss aber für wirtschaftlich schwächere Regionen. Auch gleichartige Werbung war im regional heterogenen deutschen Föderalstaat nicht immer ein Vorteil. Unser kurzer Überblick wird sich daher vor allem auf lokale Besonderheiten und das für ein Franchise-Geschäft typische Spannungsgefüge zwischen Lizenzgeber und -nehmer konzentrieren. Drei Beispiele also, Frankfurt a.M./Wiesbaden, Berlin und Ennigerloh, zudem ein Memento zu Beginn.

Eine Leipziger Gesellschaft wurde aller Wahrscheinlichkeit schon im Februar 1903 vertraglich vorbereitet, doch sie entfaltete vor Ort kaum Wirkung (Leipziger Tageblatt 1903, Nr. 96 v. 22. Februar, 1356). Die Bremer American German Hopkos Company wurde am 14. Mai 1903 mit einem Stammkapital von 30.000 M gegründet, das im März 1904 gar auf 39.000 M erhöht wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 117 v. 19. Mai, 13; ebd. 1904, Nr. 73 v. 25. März, 29). Die Gesellschaft bemühte sich neben dem Kerngeschäft um die Etablierung von Filialen im Großherzogtum Oldenburg (Nachrichten für Stadt und Land 1903, Nr. 164 v. 16. Juli, 4; Jeversches Wochenblatt 1903, Nr. 195 v. 21. August, 3). Der Erfolg blieb aus, die Firma wurde am 4. April 1904 aufgelöst, erlosch nach erfolgreicher Liquidation im Januar 1907 (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 104 v. 3. Mai, 25; ebd. 1907, Nr. 31 v. 2. Februar, 20).

Das erste Beispiel führt uns nach Frankfurt a. M. und die benachbarte Kur- und Residenzstadt Wiesbaden. Als Handelsstadt mit Hafen und rasch wachsender Industrie war die frühere Freie Hansestadt mit Hamburg durchaus vergleichbar. Die American German Hopkos Company W. & P. Foucar begann am 15. April 1903, Gesellschafter waren der Kaufmann Wilhelm Foucar und seine Gattin Paula (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 111 v. 12. Mai, 27). Wilhelm Foucar hatte zusammen mit seinem Bruder 1900 die zuvor von seinem Vater Heinrich Wilhelm Foucar, einem seit 1870 in der Rheinprovinz tätigen Kaufmann, geführte Firma Foucar & Bender in eine neue Handelsgesellschaft überführt (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 175 v. 27. Juli, 7; ebd. 1900, Nr. 38 v. 10. Februar, 15). Für das noch junge Ehepaar schien Hopkos eine Chance der Emanzipation vom Familienverband und eine selbstbestimmte Zukunft zu sein.

Tagesproduktion 12.500 Flaschen, Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 132 v. 13. Mai, 1. Morgenbl., 4)

Die Foucars übernahmen Technik, Grundstoffe und Flaschen aus Hamburg, setzen aber von Beginn an eigene Akzente in der Werbung. Die Charakteristika wurden dem Publikum zwar ebenso eingehämmert, doch die Werbeklischees von Beginn an variiert (Frankfurter Israelitisches Familienblatt 1, 1902/03, Nr. 28, 8). Dicke Ränder sorgten in der werblich eher rückständigen Frankfurter Zeitung für besondere Aufmerksamkeit, zudem informierte man aus Renommeegründen genauer über den Geschäftsgang. 12.500 Flaschen Hopkos sollen Anfang Mai produziert worden sein, ein beachtlicher Wert auch für eine Metropole mit mehr als 300.000 Einwohnern und einem dicht besiedelten Umfeld. Die Frankfurter Dependance listete zudem mehrfach die Hopkos-Niederlagen auf, Läden also, in denen man den Bierersatz sicher kaufen konnte. Schon im Mai standen unter den Anzeigen 89 Adressen, darunter auch der aufstrebende Lebensmittelfilialist Jakob Latscha. Parallel hatte man früh fünf Generaldepots in Hanau, Cronberg, Oberursel, Hofheim und Darmstadt eingerichtet (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4). Die Firma expandierte auch weiter gen Norden, etwa nach Gießen (Gießener Anzeiger 1903, Nr. 117 v. 20. Mai, 4).

Ein alkoholfreies Getränk in kleinen Bierflaschen – gleichwohl ein großes Kampfmittel gegen Siechtum und Tod (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 155 v. 6. Juni, 3. Morgenbl., 4 (l.); ebd., Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4)

Selbstbewusst schuf das Ehepaar Foucar eigene Werbemittel, führte Hopkos damit den Kunden genauer vor Augen, griff in Illustrierten und Karikaturzeitschriften schon länger übliche Werbetrends auf. Selbstbewusst zettelte das Duo auch Scheinfehden an, um Hopkos in der Öffentlichkeit als hochwertiges, wohlschmeckendes und vor allem alkoholfreies Getränk zu etablieren (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 174 v. 25. Mai, 3. Morgenbl., 3; ebd., Nr. 177 v. 28. Juni, 4. Morgenbl., 4).

Produktdiversifizierung als Grundlage für höhere Krisenfestigkeit (Neues Adressbuch für Frankfurt am Main und Umgebung 1904, T. III, 2 (l.); ebd., T. I, 28)

Die American German Hopkos Company W. & P. Foucar offerierte neben dem Bierersatz eine breitere Palette alkoholfreier Getränke, darunter das Kunstgetränk Calvella, Ersatz des am Main so wichtigen Apfelmosts. Entsprechend glaubte man sich von dem Konkurs der Hamburger Zentrale abkoppeln zu können, versprach nicht nur von Hopkos, sondern auch die „künstlichen Mineralwässern und Limonaden“ weiterproduzieren zu wollen (Ebd. 1904, Nr. 77 v. 17. März, 1. Morgenbl., 3). Gleichwohl musste das Frankfurter Franchise-Unternehmen kurz darauf Konkurs anmelden und wurde am 24. Januar 1905 aufgelöst (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 30 v. 3. Februar, 14). Das Ehepaar Foucar verschwand, war im August 1905 nicht mehr greifbar, als die Berliner Annoncenexpedition Haasenstein & Vogler versuchte, ausstehende Insertionszahlungen in Höhe von 2.283,77 Mark einzuklagen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 197 v. 22. August, 6).

Die Dezentralisierung des Hopkos-Lizenzgeschäftes wurde von den Foucars konsequent vorangetrieben, Hopkos war im zentralhessischen Raum allseits präsent. Wiesbaden, die Hauptstadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau, wurde dem alteingesessen Handelsunternehmen Carl Doetsch übertragen, das 1879 vom gleichnamigen Weinhändler gegründet, 1889 aber an neue Eigentümer verkauft worden war (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 46 v. 22. Februar, 6; ebd. 1889, Nr. 58 v. 28. Februar, 13). Auch in Wiesbaden griff man auf die Hamburger Werbevorlagen zurück, veränderte sie aber mit Regionalbezug. Der ‚Dorscht‘ der Hessen wurde beschworen, die hohen Preise des lokalen Apfelweins beklagt, das vermeintlich amerikanische Hopkos gepriesen. Man reduzierte den Hopkos-Preis in Gaststätten auf fünfzehn Pfennig, fünf Pfennig niedriger als andernorts (Ein billiges, nahrhaftes und erfrischendes Getränk, Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 292 v. 27. Juni, Morgenausg., 3). Einheimische und auch Touristen durften Hopkos vor Ort kostenlos probieren, Koppeleffekte auf andere Orte wurden erhofft (Wiesbadener Streifzüge, Wiesbadener General-Anzeiger 1903, Nr. 160 v. 12. Juli, 1).

Einführung in Wiesbaden mit Proben (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 280 v. 19. Juni, Abendausg., 7)

In Wiesbaden war die Werbung variantenreich, doch es blieb zumeist bei gestalteten Textanzeigen, die regelmäßig die lokalen Hopkos-Händler auflisteten. Wurden Ende Juni zwanzig Namen genannt, waren es Anfang Juli schon 93, Anfang August schließlich 109 Niederlagen (Wiesbadener General-Anzeiger 1903, Nr. 144 v. 25. Juni, 7; ebd., Nr. 156 v. 8. Juli, 6; ebd., Nr. 177 v. 1. August, 5). Hinzu kamen Anfang Juli gezielte Hinweise auf immerhin zwölf „Ausschänkstätten“ (Wiesbadener Bade-Blatt 1903, Nr. 182 v. 2. Juli, 34). Das galt auch für übliche Cafés und Gaststätten, nicht nur für das alkoholfreie Restaurant „Zur Gesundheit“ (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 561 v. 2. Dezember, Morgenausg. 12).

Aufbau eines lokalen Vertriebsnetzes in Wiesbaden (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 286 v. 23. Juni, Abendausg. 10)

Die zeitlich begrenzte Vertretung von Hopkos war für das Wiesbadener Generaldepot Carl Doetsch wahrscheinlich erfolgreich. Die Großhandelsfirma belieferte ihre Kunden mit einer ganzen Palette alkoholfreier Markenartikel und auch eigener Handelsmarken (Wiesbadner General-Anzeiger 1904, Nr. 19 v. 23. Januar, 7). Hopkos war im Vergleich zu anderen Reformwaren relativ billig, ein Einstiegprodukt für solvente Interessenten. In Wiesbaden wurde es bis Mitte 1904 verkauft (Wiesbadener General-Anzeiger 1904, Nr. 56 v. 6. März, 6: ebd. Nr. 113 v. 15. Mai, 5; ebd., Nr. 167 v. 20. Juli, 12).

Das zweite Beispiel führt uns nach Berlin, gewinnen wir dort doch nähere Informationen über die Vertragsverhältnisse, die Größe der dezentralen Betriebe und die bisher ja völlig ausgeblendeten Beschäftigungsverhältnisse. Die Berliner Hopkos-Gesellschaft mit beschränkter Haftung wurde relativ spät gegründet (Volks-Zeitung 1903, Nr. 300 v. 30. Juni, 3). Der Etablierung am 27. Juni 1903 waren jedoch lange Verhandlungen vorausgegangen, ging es doch um „den Kauf einer Fabrikanlage mit Maschinen und Zubehör und die Lizenz, betreffend die ausschließliche Herstellung und den ausschließlichen Vertrieb des ‚Hopkosgetränkes‘ für den gesamten Postbezirk Berlin (Berliner Börsen-Zeitung 1903, Nr. 304 v. 2. Juli, 21). Die Verhandlungen hatten im Februar mit einem Vorvertrag begonnen, ein Zessionsvertrag vom April regelte Kreditlinien und Anteilsrechte der Hamburger Zentrale. Das Stammkapital lag schließlich bei 120.000 M, die Geschäftsführung teilten sich der Schöneberger Kaufmann Wolf Cohn und der Berliner Ingenieur Johannes Brandes (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 154 v. 3. Juli, 13). Rasch zeigten sich Friktionen, die Geschäftsführung wurde bereits nach knapp zwei Wochen ausgetauscht (Ebd., Nr. 164 v. 15. Juli, 10).

Übernahme und Variation Hamburger Werbeklischees in der Reichshauptstadt (Vorwärts 1903, Nr. 119 v. 24. Mai, 14 (l.); ebd., Nr. 125 v. 31. Mai, 13)

Auch in Berlin war Hopkos zeitweilig breit präsent, konnte etwa in den ca. 300 Filialen der Likörfabrik, Weingroßhandlung, Fruchtsaftpresserei, Mineralwasser- und Schaumwein-Fabrik Hermann Meyer & Co. gekauft werden (Vorwärts 1903, Nr. 125 v. 31. Mai, 133). Ähnliches galt für die in Berlin besonders wichtigen Flaschenbiergroßhandlungen. Das Geschäft wurde allerdings durch ein behördliches Verkaufsverbot vom 20. Oktober bis 28. November 1903 begrenzt (Berliner Börsen-Zeitung 1903, Nr. 557 v. 28. November, 14). Ende Januar 1904 konnte man die Groß-Berliner Lizenz und den Maschinenpark dann „unter coulanten Bedingungen“ erwerben (Berliner Tageblatt 1904, Nr. 51 v. 29. Januar, 11). Es folgte die Zahlungseinstellung und am 12. April 1906 schließlich die Löschung der Berliner Hopkos-Gesellschaft (Berliner Börsen-Zeitung 1906, Nr. 179 v. 18. April, 14).

Die im Herbst 1903 auch öffentlich diskutierte Absatzkrise erlaubt genauere Einblicke in den Geschäftsgang. Die in der Chausseestraße 3 gelegene Hopkos-Fabrik beschäftigte anfangs etwa fünfzehn Arbeiter und sieben Kutscher. „Da das Unternehmen aber finanziell sehr schlecht fundiert war und das Fabrikat auch nicht genügend Abnehmer fand, verkrachte die Gesellschaft bereits nach einigen Monaten. Der Konkurs wurde zwar angemeldet, doch wegen Mangel an Masse zurückgewiesen. Schon während der ersten Monate war das Personal verringert worden, so daß zuletzt noch zwei Kutscher, drei Kellerarbeiter und eine Buchhalterin verblieben“ (Vorwärts 1903, Nr. 240 v. 14. Oktober, 9). Lohn wurde keiner mehr gezahlt, die Ansprüche addierten sich. Doch die komplexen Vertragsverhältnisse erschwerten den Regress, derweil beträchtliche Teile des Inventars verkauft wurden. Dem Rechtsanwalt der Arbeiter gelang es, die maschinelle Grundausstattung vor dem Verkauf zu retten. Dennoch bekamen seine Mandanten ihre zwischen 75 und 300 Mark liegenden Forderungen nicht erstattet, da es vorrangige Mietschulden gab. Die öffentlich angegriffene Berliner Hopkos-Gesellschaft verwies den sozialdemokratischen Vorwärts auf die bestehende Rechtslage. Der Zessionsvertrag begünstige einige Gläubiger, auch Zugriffsrechte der Hamburger Zentrale unterbänden die Lohnzahlung an die Beschäftigten (Vorwärts 1903, Nr. 251 v. 27. Oktober, 10-11). Das sind bis heute vielfach typische Folgen eines auf Franchise aufbauenden Geschäftsmodells. Deutlich wird aber auch, dass der Berliner Lizenznehmer – und gewiss nicht nur dieser – seit Spätsommer 1903 vornehmlich abwickelte. Hopkos scheiterte rasch, an fehlendem Betriebskapital, vor allem aber am fehlenden Absatz. Die anfangs ausgegebenen „Rentabilitäts-Nachweise“ trogen, gründeten auf illusionären Erwartungen.

Das dritte Beispiel führt uns von der Reichshauptstadt in die westfälische Provinz, nach Ennigerloh, einer landwirtschaftlich geprägten Gemeinde mit etwa 1.500 Einwohnern. Es erlaubt einerseits Einblicke in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Lizenznehmer, unterstreicht anderseits die trotz Verträgen nicht unbeträchtliche unternehmerische Freiheit fernab der Zentrale in Hamburg.

Bierersatzwerbung im Münsterland und in Ostfalen (Die Glocke 1903, Nr. 106 v. 9. Mai, 3 (l.); Bielefelder Volks-Zeitung 1903, Nr. 128 v. 6. Juni, 8)

Die American-German ‚Hopkos‘ Company Badde & Schlemann in Ennigerloh hatte bereits am 1. April 1904 ihren Betrieb aufgenommen (Münsterischer Anzeiger 1903, Nr. 253 v. 1. Mai, 3). Die treibende Kraft war der als Prokurist fungierende Heinrich Schlemann. Er war ehedem Landwirt, seit 1900 Mitinhaber eines lokalen Wasserkalkwerks (Bielefelder Volks-Zeitung 1900, Nr. 79 v. 3. April, 5). Der Betrieb scheiterte, über das Vermögen Schlemanns wurde 1902 der Konkurs eröffnet, 1905 schließlich aufgehoben (Ebd. 1902, Nr. v. 20. Mai, 4; ebd. 1904, Nr. 52 v. 4. März, 3; Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 44 v. 20. Februar, 42). Der lokale Absatz des alkoholfreien Bieres verlief in den gängigen Bahnen, Hopkos-Klischees buhlten in der westfälischen Provinz um Käufe. Der Absatz dürfte überschaubar gewesen sein.

Doch Schlemann sah, ebenso wie zuvor Konstantin Delpy in Hamburg, im Hopkos-Konkurs eine Chance. Er gründete im September 1904 mit Hilfe seiner Frau Anna die Mineralwasserfabrik Dr. Tietzsch u. Schlemann (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 264 v. 8. November 1904, 29). Sie produzierte das von Carl Enoch entwickelte, von der Hopkos-Gesellschaft vermarktete Erfrischungsgetränk Calvina und das neu kreierte Mineralwasser Heinrichs-Sprudel, ein mit Kohlensäure angereicherten Trinkwasser. Die Geschäftsidee war, die „teueren natürlichen Mineralwässer“ durch „ein billiges Tafelwasser“ zu ersetzen; ein Geschäft, das heutzutage Groß- und Handelskonzernen hohe Gewinne sichert (Bielefelder Volks-Zeitung 1904, Nr. 266 v. 19. November, 12).

Angebote über Bande: Calvina, Mineralwasser und Alkoholika (Die Glocke 1904, Nr. 243 v. 21. Oktober, 4)

Nach dem beendeten Konkurs und dem Selbstmord des Kompagnons Rudolf Tietzsch, der, „ein bedauernswerter Mann ohne sittlichen Halt“, zuvor in Berlin die „letzten Reste seines Vermögens durchgebracht hatte“ (Bielefelder Volks-Zeitung 1905, Nr. 96 v. 27. April, 2) gründete der wieder voll handlungsfähige Heinrich Schlemann im August 1905 die Schlemann & Co. GmbH. Mit einem Stammkapital von 21.000 Mark produzierte sie, wie die Internationale Hopkos-Gesellschaft, alkoholfreie Fruchtextrakte und weitere alkoholfreie Getränke.

Fortsetzung Calvinas unter neuem Namen und neuer Flagge (Warenzeichenblatt 1906, 51)

Schlemanns Kalvina war eine eingedeutschte Reminiszenz an die American German Hopkos Company, in dessen im August 1905 beantragten Warenzeichen der Adler nunmehr allein die deutsche Fahne in seinen Klauen hielt. Es ist unklar, wie lange dieses alkoholfreie Erfrischungsgetränk in der westfälischen Provinz verkauft wurde. Die Ennigloher American-German Hopkos Company erlosch jedenfalls am 10. Januar 1909 (Bielefelder Volks-Zeitung 1909, Nr. 12 v. 16. Januar, 4). Sie war der letzte noch bestehende deutsche Lizenznehmer der einstmals verheißungsvoll gestarteten Hamburger Hopkos-Zentrale. Schlemann arbeitete anschließend wohl als Landwirt resp. im lokalen Hotel seines Bruders und nach dem Krieg unter anderem als Repräsentant einer Weinfirma (Die Glocke 1922, Nr. 17 v. 21. Januar, 5). Die schnelle Mark dürfte er nicht gemacht haben, auch wenn er auf die Disruptionen seines Umfeldes professionell reagiert hatte.

Weltgeschäft: Hopkos in Auslandsmärkten

Weltgeschäft… Dieser Begriff ist bei Franchiseunternehmen wie Hopkos eigentlich immer mitzudenken, selbst im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus. Es galt ein erfolgreiches Modell zu etablieren, dieses dann wieder und wieder zu reproduzieren. Franchiseunternehmen sind Spekulationen auf geringe Unterschiede im Konsumverhalten großer Konsumentengruppen. Die Macher sahen Hopkos als einen innovativen Traditionsbrecher, der länderübergreifend Erfolg haben würde. In der Tat gelang der Verkauf von Hopkos-Lizenzen auch außerhalb des Deutschen Reiches. Hopkos repräsentierte in allerdings gebrochener Weise den für viele Nahrungsmittelbranchen typischen Erfolg deutscher Grundstoffe und Maschinen (Manz und Spiekermann, Making Food Empires, Oxford 2026 (i.E.)). In den meisten anvisierten Ländern scheiterte Hopkos jedoch.

Der Blick über die Grenzen lehrt erst einmal, dass das seit 1900 geschützte Warenzeichen schon vor dem Ankauf der Rechte durch die American German Hopkos Company genutzt wurde. 1901 wurde die Ausfuhr von „Hopkos (Ersatz für Weizen-Malz-Bier)“ nach Russland offiziell genehmigt (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 275 v. 19. November, 6; Deutsches Handels-Archiv 1902, 54). 1902 konnte man es durch den Zürcher Unternehmer Albert Bruhin beziehen. Er gehörte zu den Pionieren der Produktion alkoholfreien Bieres in der Schweiz, verkaufte seine Schweizerische Fabrik zur Herstellung alkoholfreier kohlensäurehaltiger Getränke jedoch bereits im Folgejahr (Der Freisinnige 1903, Nr. 75 v. 1. Juli, 4).

Frühe Präsenz in der Schweiz (Neue Zürcher Zeitung 1902, Nr. 300 v. 29. Oktober, 7)

Im wichtigsten europäischen Markt, in Großbritannien, wurde keine Hopkos-Vertriebs-Gesellschaft gegründet, der Bierersatz lediglich als eine „new alcohol-free popular drink“ (The National Druggist 35, 1905, 275) wahrgenommen. Die Hamburger Hopkos-Company plante dagegen die Expansion nach Frankreich. Schon am 6. April 1903 erhielt sie ein fünfzehnjähriges Patent für Flaschenabfülleinrichtung mit vorgelagerter Mischung von Fruchtsirup und kohlensäurehaltigen Flüssigkeiten (Bulletin des Lois de le République Francaise 69, 1904, 428). Über die Nutzung dieses Patents Nr. 330.953 ist allerdings nichts bekannt (Brevet d’Invention 1903, Nr. 14, s.p.). In dem damals noch in Personalunion mit Norwegen vereinten Schweden, einem Kernland der Temperenzbewegung, bemühte sich die Hopkos-Gesellschaft um Franchisenehmer, lud Interessenten jedoch vergeblich zu persönlichen Verhandlungen nach Stockholm ein (Stockholms Dagblad 1903, Nr. 179 v. 7. Juli, 8). Erfolg hatte die Hamburger Firma jedoch im russischen und österreichisch-ungarischen Reich.

Erfolglose Werbereise zur Etablierung von Hopkos in Schweden – erfolgreiche Investorensuche in Budapest (Dagens Nyheter 1903, Nr. 11938 v. 7. Juli, 4; Pester Lloyd 1903, Nr. 124 v. 26. Mai, 4)

Nachdem die Investorensuche im cisleithanischen Österreich ohne Erfolg geblieben war, entstand im August 1903 in Budapest die Continental-Hopkos-Company, vermeintlich aufgrund der „in den letzten Wochen in massenhafter Weise aus allen europäischen und überseeischen Ländern an uns gelangten Aufträge zur Errichtung von Anlagen zur Hopkoserzeugung“ (Neue Freie Presse 1903, Nr. 13999 v. 18. August, 19). Sie sollte das Geschäft in Ungarn, Österreich und dem Orient organisieren.

Budapest als Standort der geplanten weiteren europäischen Expansion von Hopkos (Pester Lloyd 1903, Nr. 197 v. 16. August, 3)

Am Standort Budapest waren Lizenzen zu vergeben, wurden offiziell Extrakte und Maschinen gefertigt (Die Zeit 1903, Nr. 317 v. 18. August, 13). Die dortige Werbesprache lehnte sich an die deutschen Vorlagen an, propagierte das in Flaschen zu je vierzehn Heller erhältliche Erfrischungsgetränk aber auch als ein stärkendes „Heilgetränk“ für Sanatorien und Krankenhäuser (Pester Lloyd 1903, Nr. 235 v. 30. September, 13). Der Aufbau des Geschäfts erfolgte langsam, erst im Frühjahr 1905 bemühte man sich via Anzeige um kapitalkräftige Lizenznehmer in der Habsburgischen Monarchie (Kärtner Zeitung 1905, Nr. 40 v. 7. April, 7; Kurjer Lwowski 1905, Nr. 98 v. 8. April, 8). Der Konsum in Budapest soll damals 20.000 Flaschen täglich betrugen haben (Grazer Tagblatt 1905, Nr. 95 v. 4. Mai, 14). Nach wie vor aber hatte die mittlerweile in Fabrik alkoholfreier Fruchtextrakte Delpy & Co. m.b.H. umbenannte Hamburger Zentrale die Patentrechte inne (Österreichisches Patentblatt 13, 1905, 303). Die Budapester Dependance versuchte Hopkos in Galizien, insbesondere aber an Adriaküste, in Triest und Dalmatien, zu etablieren (Il Picolo 1905, Nr. 8508 v. 30. April, 3; ebd. 1905, Nr. 8582 v. 13. Juli, 3). Dies dürfte misslungen sein. Wahrscheinlich endete die Budapester Continental-Hopkos-Company 1907/08 (Adressbuch aller Länder der Erde 10, 1908, Bd. 18, 38).

Versuche der Etablierung von Hopkos im österreichischen Triest (Il Picolo 1905, Nr. 8485 v. 7. April, 5)

Schneller erfolgte die Etablierung in Russland, genauer im russisch beherrschten Finnland. Erste Werbeanzeigen findet man im Juni 1903; Mitte Juni 1903 wurde schließlich der Gesellschaftervertrag der „Finska Hopkos Aktiebolag“ in Helsinki genehmigt (Hufvudstadsbladet 1903, Nr. 161 v. 20. Juni, 3). In den Zeitungen klang es fast wie in Hamburg: „Das neue Erfrischungsgetränk ‚Hopkos‘, das in Finnland große Aufmerksamkeit erregt und sich in ganz Europa verbreitet, wird auch in Finnland immer beliebter“. Die Sachaussagen waren oft jedoch Wunschvorstellungen: „Der Preis wird so niedrig angesetzt, dass es hoffentlich auch in unserem Land Bier verdrängen kann, wie es in Deutschland, der Heimat des Bieres, bereits der Fall ist“ (Uusi Aura 1903, Nr. 128 v. 6. Juni, 1).

Werbung für Hopkos in der finnischen Hauptstadt Helsinki und in der Gewerbestadt Turko (Hufvudstadsbladet 1903, Nr. 280 v. 18. Oktober, 5 (l.); Uusi Aura 1903, Nr. 76 v. 7. Juli, 3; ebd., 1 (r., o.))

Hopkos galt anfangs als technische Errungenschaft, neben Anzeigen bekannten Tons traten vor Ort zudem Werbebeilagen und Flugblätter (Uusi Aura 1903, Nr. 205 v. 5. September, 2; Uusi Aura 1903, Nr. 160 v. 15. Juli, 1). Hopkos galt als „Amerikkaalista raittiusjuomaa“, als „Amerikanisches Mäßigkeitsgetränk“ (Wiipuri 1904, Nr. 36 v. 4. Mai, 1), während man Hamburg in der Werbung auch mal nach Sachsen verortete (Turun Lethi 1903, Nr. 66 v. 6. Juni, 2). Wie bei vielen deutschen Lizenznehmern war das amerikanisch-deutsche Getränk meist Teil eines breiteren Angebotes alkoholfreier Getränke (Uusi Aura 1903, Nr. 86 v. 30. Juli, 4; ebd. 1904, Nr. 44 v. 19. April, 1). Auch in Finnland wurde die Alkoholfreiheit des Bierersatzes besonders betont, musste auch hervorgehoben werden, da einzelne Analysen geringe Alkoholanteile ergaben (Wiipuri 1904, Nr. 94 v. 24. April, 2; Uusi Aura 1904, Nr. 157A v. 10. Juli, 2). Die lokale Produktion in Finnland dürfte Ende 1904 eingestellt worden sein.

Scheitern, Fortsetzungen und Ende in Hamburg

Die Lizenzeinkünfte aus mehreren deutschen Filialen und zwei europäischen Staaten waren allerdings nicht ausreichend für einen weiter profitablen Geschäftsbetrieb in Hamburg. Ein Jahr nach der Gründung begann der Ausverkauf. Die Einrichtung der Hopkos-Company, ihr Maschinenpark, auch weitere Produktionsmittel wurden erst Anfang Januar, dann nochmals Anfang öffentlich versteigert. Es galt offenbar, noch bestehende Werte zu monetarisieren.

Versteigerung der Hopkos-Einrichtung Anfang 1904 (Hamburgischer Correspondent 1904, Nr. 9 v. 7. Januar, 7 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 20 v. 21. Januar, 14)

Das Weltgeschäft war vor Ort überschaubar, versteigert wurde je ein Destillier- und Pasteurisierapparat, eine Flaschenspülmaschine, ein kleiner Elektromotor, mehrere Kessel, nur 9000 Flaschen und 200 Flaschenkästen, zudem 100 Korbflaschen und schließlich drei große Fässer mit Hopkos-Extrakt. Alles musste raus, schließlich auch der eiserne Geldschrank. Parallel verkaufte man weiter Restbestände des früheren Getränks der Zukunft.

Der Verkauf geht trotz Verkauf des Interieurs und Geräteparks weiter (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 23 v. 28. Januar, 8; ebd. Nr. 25 v. 30. Januar, 8)

Mit Gesellschaftervertrag vom 1. Februar 1904 wurde die American German Hopkos Company in eine Nachfolgegesellschaft, die Internationale Hopkos Gesellschaft Delpy & Co. mbH überführt, die ein durchaus stattliches Stammkapital von 70.000 Mark aufwies (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 35 v. 10. Februar, 11). Die früheren Macher waren großenteils nicht mehr mit an Bord, Hauptgesellschafter wurde der Kaufmann und Zivilingenieur Maria Hubert Felix Marbaise, der für die für 20.000 Mark bar von der Hopkos-Company erworbenen Firmenrechte – offenkundig Lizenzverträge – einen doppelt so hohen Kapitalanteil angerechnet bekam. Marbaise war nach der Heirat 1898 in die Hamburger Fa. Wilhelm Cordts eingetreten, die unter anderem Repräsentant des Aufzügeherstellers Deutschen Otis-Gesellschaft war, dessen Stammsitz in Yonkers, New York lag, direkt neben der Zuckerraffinerie eines Sohnes des deutsch-amerikanischen Zuckermagnaten Claus Spreckels. Marbaise übernahm diese Gesellschaft später, gründete zudem eine eigene Maschinenfabrik, scheiterte damit jedoch, musste 1910 Konkurs anmelden (Hamburger Fremyden-Blatt 1898, Nr. 270 v. 18. November, 22; Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 422 v. 9. September, 23; ebd. 1905, Nr. 110 v. 1. März, 17; ebd. 1910, Nr. 131 v. 13. März, 36; Hamburger Fremdenblatt 1911, Nr. 34 v. 9. Februar, 14). Neuer Geschäftsführer wurde der Harburger Kaufmann Konstantin Delpy, Kaufmann in Harburg (Neue Hamburgische Börsen-Halle 1904, Nr. 63 v. 7. Februar, 5). Diese Nachfolgegesellschaft wickelte die bisherige Hopkos-Company ab, führte das Lizenzgeschäft weiter, begann zudem mit der Produktion und dem Vertrieb eines neuen alkoholfreien Erfrischungsgetränkes.

Veränderter Firmennamen, unveränderte Anzeige, kontinuierlicher Absatz auch im Facheinzelhandel (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 50 v. 28. Februar, 16 (l.); Bergedorfer Zeitung 1904, Nr. 73 v. 26. März, 5)

Die American German Hopkos Company mbH stellte am 13. Februar 194 ihre Zahlungen ein (Hamburgischer Correspondent 1904, Nr. 74 v. 13. Februar, 13). Die Umsetzung des Konkurses verzögerte sich mehrfach, der finale Prüfungstermin erfolgte schließlich Anfang August 1904. Die noch vorhandenen Mittel von 21.150 Mark wurden an die Gläubiger verteilt, insgesamt gab es Forderungen von 115.426,44 Mark (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 163 v. 14. Juli, 22). Der Konkurs konnte daher Ende August aufgehoben werden (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 205 v. 31. August, 11). Die American-German Hopkos Company mbH wurde schließlich am 25. September 1905 gelöscht (Ebd. 1905, Nr. 230 v. 29. September, 12).

Derweil waren ihre früheren Warenzeichen Anfang April 1904 auf die neue Internationale Hopkos-Gesellschaft übertragen worden, so dass es zumindest rechtlich keine Friktionen im parallel allerdings bröselnden Lizenzgeschäft gab (Ebd. 1904, Nr. 83 v. 8. April, 29). Doch die neue Gesellschaft präsentierte seit Ende April 1904 auch ein weiteres „nach patentiertem Verfahren aus Früchten zubereitet[es], hervorragendes Erfrischungsgetränk“ (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 102 v. 1. Mai, 44). Das Warenzeichen für Calvina war bereits am 18. Juli 1903 beantragt worden, befand sich seit Ende September im Besitz der Hopkos-Company (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 244 v. 16. Oktober, 15). Es handelte sich um gewerblich Nutzung eines der beiden 1900 an Carl Enoch erteilten Patente (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 285 v. 2. Dezember, 13; ebd. 1905, Nr. 77 v. 30. März, 18; DE130103 – Google Patents).

Erweiterung der Produktionspalette: Erfrischungsgetränk Calvina (Hamburger Nachrichten 1904, Nr. 284 v. 23. April, 4)

Das neue Getränk wurde aktiv, doch deutlich verhaltener angepriesen als Hopkos. Es hatte 0,37 Prozent Alkohol, war also durchaus „alkoholfrei“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 33, 1906, 465). Doch neben Calvina wurde weiterhin auch Hopkos angeboten, beide mit Aplomb: „Von den alkoholfreien Getränken, welche jetzt eine große Rolle spielen, gehören die Fabrikate der ‚Internationalen Hopkos-Gesellschaft‘ zu den beliebtesten. Die unter den Namen ‚Hopkos‘ und ‚Calvina‘ hergestellten Getränke zeichnen sich durch leichte Bekömmlichkeit und angenehmen Geschmack aus, sodaß namentlich für den Sommer das Getränk sehr zu empfehlen ist“ (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 102 v. 1. Mai, 30). Nur vereinzelt brachen die früheren Hopkos-Elogen sich Bahn, wurde vom Durst und der Durstnot geschrieben, bei der die „Hopkos-Gesellschaft“ helfen könne: „Wir trinken Hopkos abwechselnd hell und dunkel und zur besonderen Erbauung unserer Schluckwerkzeuge Calvina. Der ‚viele Durst‘ ist gestillt und keiner kann uns was anhaben!“ (Hopkos, Neue Hamburger Zeitung 1904, Nr. 207 v. 5. Mai, 3)

Daueranzeige für Hopkos und Calvina (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 119 v. 22. Mai, 27)

Beide Produkte wurden im Mai/Juni 1904 mit nur einem Werbeklischee kontinuierlich angezeigt, Enochs geistige Vaterschaft darin nicht näher erwähnt, wohl aber seine kontinuierliche chemische Kontrolltätigkeit. Die Getränke verschwanden anschließend langsam, erschienen noch in Annoncen einzelner Händler (Bergedorfer Zeitung 1905, Nr. 222 v. 21. September, 4). Derweil hatte sich die Internationale Hopkos-Gesellschaft umbenannt, die Warenzeichen wurden Ende August 1905 an die Fabrik alkoholfreier Frucht-Extracte Delpy & Co. mbH übertragen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 54 v. 3. März, 23). Sie währte nicht lang, wurde am 19. Januar 1907 schließlich aufgelöst und von Konstantin Delpy liquidiert (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 22 v. 25. Januar, 14).

Das Warenzeichen Hopkos überdauerte sie – zumindest formal. Es erlosch im Dezember 1910 nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist (Deutscher Reichsanzeiger 1910, Nr. 289 v. 9. Dezember, 36). Der Bedeutungsgewinn alkoholfreier karbonisierter Getränke, insbesondere von süßen Limonaden, wurde dadurch nicht gebremst, die schnelle Mark lockte weiterhin Investoren. Herbere Getränke, insbesondere die „alkoholfreien Biere“ hatten damals allerdings „noch keinen besonderen Anklang gefunden […] und es muß daher abgewartet werden, ob die Anstrengungen der Fabrikanten zur Verbesserung ihrer Erzeugnisse zum Ziele führen“ – so das Zwischenresümee der Temperenzler, die unter „alkoholfreien Bieren“ nach wie vor auch „braun gefärbte und aromatisierte Zuckerlösungen“ wie Methon und Hopkos verstanden (Mäßigkeits-Blätter 24, 1907, 202).

Uwe Spiekermann, 25. Oktober 2025

Luftschutz durch alle: Die sächsische Miesrian-Kampagne 1938

Ein weiteres Kapitel Propaganda. Ein weiteres Mal NS-Propaganda. Eine weitere Analyse eines Kernelements modernen Lebens, entsprechend weit vorher einsetzend, bis heute öffentliches, ja wieder alltägliches Thema. Es wird um Luftschutz gehen, den hierzulande, nicht den in der Ukraine, in Russland, in den laufenden und den kommenden Kriegen. Den Luftschutz, der während des Ersten Weltkrieges als Thema aufkam, Ende der Weimarer Republik vielfach gefordert und gefördert wurde. Der im nationalsozialistischen Reichsluftschutzbund dann zur öffentlichen, zur völkischen Aufgabe mutierte, verpflichtend grundsätzlich für jedermann, jedefrau. Und natürlich um die damit geschaffenen Außenseiter, die Miesmacher und Kritikaster, die Miesriane, alle die, die nicht mitziehen wollten. Und die deshalb die Luftschutzgemeinschaft, die Volksgemeinschaft störten, unterminierten. Die zwingend belehrt und bekämpft werden mussten. Argumentativ, denunzierend, ausgrenzend.

Wir werden chronologisch-zwiebelhaft in mehreren Schritten vorgehen: Den neuartigen Luftschutz, dessen Ausgestaltung bis zur Machtzulassung der konservativ-nationalsozialistischen Regierung, ihn gilt es eingangs vorzustellen, insbesondere dessen gesellschaftliche Folgewirkungen. Da alle mitziehen mussten, um die Abwehr leistungsfähig auszugestalten, musste man Abweichler integrieren. Das aber war schwierig, gab es doch Kritik und Verweigerung. Staatliche Propaganda zielte auf innere Kohäsion, grenzte Störenfriede aus, vom Ersten Weltkrieg bis hin zum Reichsluftschutzbund. Dessen Geschichte ist anschließend genauer darzustellen, sein Janusgesicht zwischen der Verteidigung des Elementaren und der für einen Angriffskrieg erforderlichen Wehrhaftigkeit. Übungen zunehmend größerer Teile der Bevölkerung waren dafür unabdingbar, denn der Feind, der äußere, würde keinen Fehler verzeihen. Um die damit einhergehende Dynamik, um die für das Gelingen unabdingbare Gefolgschaft näher einzufangen, werden wir dann eine bisher unbekannte Propagandakampagne aus Sachsen genauer analysieren. Kurz nach der Okkupation Österreichs, vor der Besetzung des Sudetenlandes, schließlich der Tschechoslowakei, schien das nötig, denn Widerstand konnte nicht ausgeschlossen werden. Diese Miesrian-Kampagne präsentierte eine der vielen (imaginären) Negativfiguren, von denen die NS-Propaganda, doch nicht nur sie, übel reich ist. Der Miesrian zog nicht mit. Die Kampagne benannte ihn, materialisierte die bösen Gedanken vieler, den Unwillen sich einzugliedern. Es geht also um den modernen Menschen, einen, der wählen kann – und dessen Wahlmöglichkeiten vom modernen Staat strikt begrenzt wurden.

Luftschutz als neue Aufgabe der Zivilverteidigung der Zwischenkriegszeit

Der erste Weltkrieg war zwar ein Krieg auch zwischen Luftstreitkräften, doch kein Bombenkrieg. Die fast 200.000 produzierten Militärflugzeuge wurden meist frontnah als Jagd- und Aufklärungsmaschinen eingesetzt. Der Krieg gegen das Hinterland war auch aus technischen Gründen limitiert, einzig die deutschen Zeppeline begannen seit Ende 1915 mit ihren insgesamt 124 Angriffen auf Großbritannien, seit 1917 folgten zudem Bomber. Der Aufwand für die Luftabwehr und die Verluste an (eigenem) Kriegsmaterial waren immens, doch auf der Insel wurden „nur“ 1414 Personen getötet und die Zerstörungen von Hafen- und Industrieanlagen blieben relativ gering. Französische, britische und US-amerikanische Bomberbesatzungen töteten im Westen des Deutschen Reichs parallel 729 Menschen (Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, Bonn 2011, 29). Auch dies hatte keine strategische Bedeutung, Transport- und Produktionskapazitäten blieben intakt. Wichtiger fast waren die propagandistischen Wirkungen, denn Erfolge und Verluste wurden auf allen Seiten genutzt, um den Feind zu benennen, Hass zu schüren, zum Durchhalten zu motivieren. Der Bombenkrieg kroch in die Köpfe, die Imagination der Vernichtung aus der Luft nahm zunehmend Gestalt an.

Bombenkrieg gegen Großbritannien; Beerdigung getöteter Kinder in Karlsruhe (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 6, 16 (l.); Die Wochenschau 8, 1916, 1001)

Der Versailler Friedensvertrag von 1919 hielt nicht nur die Reichswehr bewusst klein, sondern untersagte auch den Aufbau von Luftstreitkräften, ebenso weiteren aktiven Luftschutz durch Erdabwehrkräfte, Flugabwehrkanonen und Flakscheinwerfer. Für die Militärs, aber auch breite Teile der deutschen Öffentlichkeit, war dies demütigend, empfand man sich angesichts der weiter bestehenden und vielfach ausgebauten Luftflotten der Alliierten doch schutzlos. Während der zivile Flugzeug- und Luftschiffbau breite öffentliche Resonanz fand, Transport- und Passagierflugzeuge von Fokker und Junkers für eine neue Mobilität und globale Zukunftsmärkte standen, war man offiziell von der militärischen Entwicklung abgeschnitten. Die geheime Kooperation insbesondere mit der Sowjetunion erlaubte den Anschluss an die technische Entwicklung, doch schien man abgehängt, stand nicht an der Spitze. Die Amerikafahrt von LZ 127 „Graf Zeppelin“ unterstrich 1928 zwar die Weltgeltung der deutschen Ingenieurskunst. Doch trotz der im Januar 1926 erfolgten Gründung der Luft Hansa blieb der Makel der halbierten Luftmacht prägend (Botho von Römer, Die Deutsche Luft Hansa, Illustrierte Technik für Jedermann 5, 1927, 373-377). Während nicht nur Techniker schon über Raketentechnik und Raumfahrt sinnierten, die Populärkultur derartige Träume neu zu erschließender Räume aufgriff und multiplizierte, war die weitere Entwicklung von der Gnade der Garantiemächte des Versailler Vertrages abhängig.

Das Pariser Luftfahrtabkommen vom Mai 1926 lockerte einige der 1919 festgeschriebenen Beschränkungen, ermöglichte den Ausbau der zivilen Luftfahrt und eines zivilen Luftschutzes. Militärs und Politiker bestimmten die öffentliche Debatte, die sich einerseits auf die imaginierte Bedrohungslage konzentrierte, anderseits auf die daraus zu ziehenden institutionellen und organisatorischen Konsequenzen (Bernd Lemke, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923-1939, Phil. Diss. Freiburg i.Br. 2001 (Ms.), 125-207 (mit zahlreichen Quellen)). Luftschutz war eine Querschnittsaufgabe, die an sich funktional ausdifferenzierte Subsysteme der modernen Gesellschaft in einen neuen Zusammenhang bringen wollte. Luftschutz war eben nicht an Experten zu delegieren, sondern erforderte den Einsatz aller. Derartige Mobilisierung erforderte Propaganda, um ein begründetes Arsenal von „strengen, präzisen und erwiesenen Regeln“ festzuschreiben (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt a.M. 2021 (ebook), 21). Diese Propaganda richtete sich an alle, an die Masse – zugleich aber an jeden Einzelnen. Es ging, in den bereits vorgepreschten Staaten der früheren Entente, doch auch in den nun nachholenden Ex-Mittelmächten, um die freiwillige Konditionierung von Menschen in einem Bedrohungs- und Handlungskollektiv – wie etwa zeitgleich im vom Automobil umgestalteten Straßenverkehr. Jeder hatte dabei eine Funktion, seine quasi unverzichtbare Aufgabe. Doch Erfolg konnte er nur in der Gruppe haben, entsprechend umfassend war der Zwang zum Mitziehen, zur Zustimmung. Die Propaganda zielte entsprechend darauf, dem Individuum keine Möglichkeit zu geben, sich vermeintlichen Sachlogiken zu entziehen (Ellul, 2021, 25).

Aggressives Ausland, schutzloses Deutsches Reich: Militärflugzeuge in Europa 1928 (Militär-Wochenblatt 113, 1929, Sp. 1153-1154)

Für unser Fallbeispiel im Sachsen des Jahres 1938 sind die weitreichenden Folgen der während der Weimarer Republik entwickelten Grundkonzeption entscheidend, nicht die Unterschiede zwischen den nach dem Pariser Luftfahrtabkommen gegründeten privaten Interessenverbänden, vorrangig dem Verein Deutscher Luftschutz (1927) und der Deutschen Luftschutzliga (1931). Das Reichskabinett hatte sich 1927 für passive Schutzmaßnahmen ausgesprochen, rechtfertigte dies mit der „Fürsorge gegen öffentliche Notstände“ der Polizeibehörden. Es herrschte ein Kult der Sachlichkeit, der Überparteilichkeit. Pointiert hieß es: „Die Durchführung solcher Maßnahmen ist weder eine militärische noch eine politische Angelegenheit“ (Vorbereitung des zivilen Luftschutzes, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 1932, Nr. 62 v. 2. März, 1).

Im Vordergrund der Propaganda stand in immer neuen Variationen die vermeintliche Schutzlosigkeit des Deutschen Reiches. Wie schon vor 1914 hieß es „Feinde ringsum!“, der Ruhrkampf 1923 hatte die aggressiven Ziele insbesondere Frankreichs scheinbar unter Beweis gestellt. Dem Kult der Sachlichkeit entsprach eine vor allem von Militärs getragene Aufklärung über die Gefahrenlage, über die mögliche Prävention. Die strukturelle Analogie zum Ernährungs- und Gesundheitssektor ist offenkundig. Es hieß, nicht der vielbeschworene Gaskrieg sei die eigentliche Gefahr, sondern die Verwüstung der ökonomischen Basis, der Infrastruktur und des persönlichen Besitzes. Das sei Folge des „Abrüstungsverrats“ der Ententemächte, des Völkerbundes ([Constantin] v. Altrock, Luftkrieg und Luftschutz, Militär-Wochenblatt 113, 1929, Sp. 1155-1156, hier 1156). Passend zur „Verständigungspolitik“ unter Außenminister Gustav Stresemann (1878-1929) wurde der Luftschutz als defensiv präsentiert, entsprach der Versöhnungsrhetorik der Vernunftrepublikaner. Die konservativ-nationalsozialistische Regierung konnte ab 1933 mit Forderungen nach „Gleichberechtigung“ daran unmittelbar anknüpfen.

Angst vor den Wirkungen: Frankreichs Prototypen des geplanten Bombers „Dyle et Bacalan“ als Drohkulisse (Illustrierter Beobachter 9, 1934, 737)

Polizei-Hauptmann Rudolf Pannier (1897-1978), späterer Standartenführer der Waffen-SS, betonte entsprechend Anfang 1933: „Wir haben die Pflicht, die deutsche Bevölkerung vor einer ihr möglicherweise drohenden Gefahr, die den Charakter einer ungeheuren Katastrophe haben wird, durch vorbeugende Maßnahmen zu schützen und durch ihr Vorhandensein den Anreiz zu Luftangriffen auf deutsches Gebiet abzuschwächen“ (Deutschland in Luftnot, Hamburgischer Correspondent 1933, Nr. 59 v. 4. Februar, 5). Der private Luftschutz unter amtlicher Leitung popularisierte bereits während der Präsidialdiktatur entsprechend umfangreiche Eingriffsverpflichtungen (Für Schaffung des zivilen Luftschutzes, Wilhelmsburger Zeitung 1932, Nr. 12 v. 15. Januar, 5). Der Luftschutz des NS-Regimes intensivierte anfangs ohnehin laufende Maßnahmen (Bernd Lemke, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923 bis 1939, München 2005, 98-101). Das neu gegründete Luftfahrtministerium übernahm, eine neue Spitzenorganisation bündelte die bestehenden Luftschutzvereine im April 1933. Die Abwehrmittel schienen begrenzt, doch durch präzise Verhaltensroutinen, durch einen Gleichklang der Abwehr könne man den Gefährdungen trotzen. „Luftangriffe sind eine Nervenprobe!“, der aufgeklärte Einzelne würde daran nicht zerbrechen. Das Ziel war eine Umformung der Nation, des Volkes, passend zu den die Weimarer Republik prägenden Utopien des Neuen Lebens, des Neuen Wohnens: „Die Vielgestaltigkeit der im Luftschutz zu leistenden Kleinarbeit erfordert ein hohes Maß von uneigennützigem Leistungseifer bei allen Führern und Helfern“ ([Alfred] Richter, Nationaler Staat und Luftschutz, Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 251 v. 14. Oktober, 9).

Luftschutzübung bei der Oranienburger Auergesellschaft im Juni 1931 (Richard Roskotten, Ziviler Luftschutz, Düsseldorf 1932, vor 17)

Kritik und Rückfragen

Während der Weimarer Republik und der Zeit der Präsidialdiktatur war der Luftschutz jedoch (noch) keine Massenbewegung. Pazifisten, Mitglieder von DDP und Zentrum, insbesondere aber Sozialdemokraten kritisierten ihn zudem als Teil einer umfassenden Militarisierung der Gesellschaft: Die wachsende Zahl öffentlicher Luftschutzübungen rief stetig Kritik hervor: „Es wurde Krieg gespielt. In Kiel stand die ganze Stadt unter dem Eindruck der Uebung. Schulkinder erhielten Mullbinden um den Mund und wurden so ins Freie geführt, Hunderte von Angestellten eines Warenhauses mußten die Flucht in bombensichere Keller üben, die Sirenen heulten, und am Abend wurde die Stadt völlig verdunkelt – alles wie im Kriege. […] Man bereitet sich würdig vor auf den nächsten Ausbruch des Wahnsinns. […] Es geht von solchem Kriegsspiel, das nach dem Vorbild anderer Länder nun auch in Deutschland geübt wird, eine psychologische Wirkung aus, die dem Willen zum Frieden und zur Verständigung der Völker schweren Abbruch tut. Dies Kriegsspiel setzt einen Feind voraus, der unter Bruch der Verträge zum Kriege schreitet und den Krieg mit den grausamsten Mitteln des Gaskrieges aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung führt“. Deutlich benannten die Kritiker die in Technokratie und militärischer Logik eingebundenen Vorannahmen: „Diese Spiele legen Zeugnis ab von wachsendem Mißtrauen, nicht von wachsender Verständigung! Das ist nicht moralische Abrüstung, sondern unmoralische Aufrüstung, und es wäre die Aufgabe einer wirklichen Abrüstungskonferenz, solche Kriegsspiele international zu verbieten“ (beides nach Luftkrieg. Die Perspektive zum nächsten Krieg, Vorwärts 1932, Nr. 423 v. 8. September, 3).

Derartige Kritik war auch im Ausland weit verbreitet. Versuche der rechtlichen Einhegung der neuen Gefahren begannen schon vor dem Abheben erster Motorflieger: Bereits vier Jahre vor dem Flug der Gebrüder Wright erließ die Haager Friedenskonferenz 1899 ein nach fünf Jahren wieder ausgelaufenes Verbot des Luftbombardements der Zivilbevölkerung. 1907 fügte man der Haager Landkriegsordnung einen neuen Artikel 25 hinzu, der die unterstützende Bombardierung angegriffener Städte zuließ, nicht aber Luftangriffe im Hinterland. Wesentlich umfassender war die Haager Luftkriegskonvention von 1923, die nicht nur die „Terrorbombardierung“ von Nichtkombattanten (Art. 22) untersagte, sondern auch eine „unterschiedslose Bombardierung der Zivilbevölkerung“ (Art. 24) (Heinz Marcus Hanke, Die Haager Luftkriegsregeln von 1923 […], Revue Internationale de la Croix-Rouge 42, 1991, 139-172, hier 144-145). Der Rechtstext wurde allerdings nicht ratifiziert, dies hätte die Luftflotten radikal limitiert, hätte man doch gegnerische Städte und Infrastruktur als solche kaum mehr angreifen können. Dennoch unterstrich die Konvention, dass es Alternativen zur aktiven und passiven Luftrüstung hätte geben können. Die Kritiker des neuen deutschen Luftschutzes nahmen dies auf, hinterfragten die immensen Kosten und den unklaren Nutzen der öffentlichen und privaten Aufwendungen. Und sie hoben stetig hervor, dass Luftschutz nur Teil der „Propaganda für Deutschlands Aufrüstung in der Luft“ sei (Luftschutz? Neue Organisation, neue Zeitschrift, neue Kosten, Vorwärts 1931, Nr. 447 v. 24. September, 2).

Der Luftkrieg wurde in der Zwischenkriegszeit angesichts leistungsfähigerer Flugzeuge und Bomben also nicht nur radikaler als zuvor durchgespielt, erschien nicht nur als eine neue Phase möglicher Destruktion und des Sieges aus der Luft, ohne den Einsatz der Landheere. Man versuchte zugleich, ihn rechtlich einzuhegen und die Gründe für einen umfassenden Luftschutz abzuschwächen. Doch das waren Minderheitenpositionen. Schon lange vor der Machtzulassung der konservativ-nationalsozialistischen Regierung gab es einen gesellschaftlichen Konsens über eine passive Wehrhaftigkeit. Auch Sozialdemokraten unterstützten und förderten. Die im Luftschutzgedanken angelegte Dynamik nahm nun Fahrt auf: Der Blick wurde anfangs auf den Feind von außen gerichtet. Danach ging es um die Festigung im Innern. Und schließlich begann der Kampf gegen den inneren Feind.

Miesmacher vor den NS-Kampagnen

Diesen inneren Feind kannte man – aus dem Ersten Weltkrieg. Er erschien in vielen Formen, bedrohte den Sieg, das Durchhalten. Und die Dolchstoßlegende sah in ihm die Ursache für die unerwartete Niederlage. Die Heimat, nicht das unbesiegte Heer, habe die Nerven verloren, den Sieg verschenkt, den Dolch in den Rücken der Soldaten gestoßen. Abstrus, denn die Oberste Heeresleitung selbst hatte seit dem 28. September 1918 auf sofortige Waffenstillstandsverhandlungen gedrungen, andernfalls würde die Front in absehbarer Zeit zusammenbrechen (Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 4. durchges. Aufl., München 2014, 877-878). Deutschland und seine Verbündeten waren militärisch besiegt worden, wenngleich die Kämpfe (noch) nicht auf deutschem Boden tobten.

Der innere Feind hatte viele Gesichter, viele Namen. Besonders bekämpft wurden die „Miesmacher“, eine Antigeneralisierung des Rückfragens, der Unterminierung der Zuversicht: „Die Miesmacher sind wieder an der Arbeit. Sie tuscheln, es müsse doch ziemlich schlecht stehen, wir kämen ja gar nicht vorwärts; sie hätten zuverlässige Kunde von ‚furchtbaren Verlusten‘“ (Die Entscheidungsschlacht, Coburger Zeitung 1914, Nr. 262 v. 7. November, 1). Der Miesmacher diente anfangs als Blitzableiter, war Projektionsfläche angesichts des ausbleibenden raschen Sieges der deutschen Armeen. Wurde anfangs noch an die patriotische Pflicht erinnert, „die Stimmung in den Schützengräben zu verbessern“ (Gegen die Miesmacher, Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 663 v. 28. Dezember, 2), so setzte schon Ende 1914, trotz millionenfacher Liebesgaben, eine wachsenden Kritik am fehlenden Verständnis der Heimat ein. Der Chemnitzer Sozialdemokrat Hugo Poetzsch (1863-1946) schrieb „von einem heiligen Zorn […] gegen die Miesmacher und Schwarzseher, die mit ihrer Schreiberei im Inland und in der ausländischen Presse […] dazu beitragen, daß der Krieg verlängert, die Leiden unserer Genossen vergrößert werden.“ Für ihn ging es um „den Willen und die Fähigkeiten […] durchzuhalten, mitzuhelfen, [und so, US] den Kämpfern, die sich für uns opfern, die Nervenkraft und die Seelenstärke bis zu einem dauernden Frieden zu erhalten“ (Pulsnitzer Wochenblatt 1915, Nr. 18 v. 9. Februar, 2).

Die Miesmacher als Stimmungstöter (Lustige Blätter 145, Nr. 45, 10)

Schon Anfang 1915, als nach dem Scheitern der Offensive im Westen und dem Beginn des Grabenkrieges intern um die Gründe für die Fortsetzung des Krieges gerungen wurden, wuchs die Parade der inneren Feinde: Flau- und Miesmacher, Pessimisten, Skeptiker, Bierphilister, Besserwisser und Stubenhocker – sie alle glaubten Lügen, verbreiteten Gerüchte an Stammtischen und beim Klatsch (Prospekt, Jugend 20, 1915, 31). Die Vorstellung einer einheitlich zusammenstehenden Nation wurde nicht als kurzfristige Aufwallung und imaginäre Fiktion verstanden, sondern trotzig hochgehalten, völkisch weiter aufgeladen: „Nie lebte in einem kämpfenden Volk ein gleiches Vertrauen! Und dennoch – Es leben unter uns die ‚Miesmacher‘; also genannt nach einem jüdischen Ausdruck von seltsam zutreffendem Wortklang. Wirklich: schon der Wortklang sagt uns, mit welcher Art Leute wir es zu tun haben.“ Dabei blieb es nicht, denn im Kampf, im Krieg sind Differenzierungen unerwünscht. Stattdessen wandte man sich denunzierend gegen die inneren Feinde: Sie „bedeuten eine Gefahr, die bekämpft werden muß. Denn ihre, gelinde ausgedrückt, melancholischen Betrachtungen und Erwägungen wirken wie eine ansteckende Krankheit. Bazillenträger sind sie. Ihr Zustand ist pathologisch, sie sind seelisch nicht recht normal“ (beide Zitate n. Die Miesmacher. Plauderei des Meergeistes, Daheim 51, 1914/15, Nr. 30, 13). Die Miesmacher erschienen als alte selbstbezügliche Männer mit begrenztem Horizont: „Mit euch könnt’s man nicht wagen, / Solch Weltenschlacht zu schlagen, / Hinweg von hier, ihr Drohnen, / Sonst möcht‘ ich’s bös euch lohnen!!‘“ (H[ermann] Stockmann, Roland und die Miesmacher, Fliegende Blätter 142, 1915, 164-165, hier 165). Der deutsche Volkskörper schien gefährdet, es drohte „Ansteckung und Uebertragung. […] Wenn erst in den Adern deiner Söhne dies Gift zu wirken beginnt, dann sieh zu, wer dein Schwert tragen soll“ (Maria Diers, Der Schwarzseher deutscher Nation, Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 60 v. 3. Februar, 2).

Der Miesmacher als vielgestaltige Negativfigur während des Ersten Weltkrieges (Fliegende Blätter 145, 1916, 136 (l.); Lüner Zeitung 1917, Nr. 104 v. 31. August, 6)

Entsprechend verschärfte sich der Ton spätestens als Mitte 1915 klar wurde, dass der Krieg deutlicher länger und härter werden würde. Der Kampf gegen den inneren Feind wurde nun auch zu einem aktiven Akt der inneren Hygiene. Nicht Geldstrafen, nicht Freiheitsstrafen seien angemessen, sondern „die beste Kur für diese Nörgler, Hetzer und Miesmacher“ sei das Stahlbad an der Front (Drei Wochen Schützengraben, Münchener Stadtanzeiger 1915, Nr. 37 v. 11. September, 3). All dies weitete die Entfremdung von Front und Heimat, denn „an der Front ist man der vergiftenden Luft aller Wehleiderei, der Besserwissenwoller, der Eigensüchtigen und Miesmacher entrückt, da herrscht Größe, weiter Blick, freies Aufatmen“ (Erich Deetjen, Schützengraben-Betrachtungen, Daheim 52, 1915/16, Nr. 20, 23-24, hier 24).

In diesem Ton ging es auch 1916/17 weiter, „Herr Angstmeier, Fräulein Zitterig und Tante Miesmacher“ wurden immer wieder beschworen, um Menschen Zustimmung abzuverlangen, sich ihr Geld anzueignen (Aber wie ist es mit der Sicherheit der Kriegsanleihen?, Erzgebirgischer General-Anzeiger 1916, Nr. 210 v. 9. September, 7). Der innere Feind kam parallel auf die Bühne, war Teil der staatlichen zensierten Populärkultur. Reichsweit spielten Theater „Kriegs-Einakter“, darunter auch „Die Miesmacher oder der Krieg am Stammtisch“ (Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 13, 8). Otto Reutter (1870-1931) sang eben nicht nur melancholisch nachdenkliche Lieder auf seinen im Mai 1917 in Verdun gefallenen Sohn, sondern auch Propagandaschlager, darunter „Das sind die Richtigen, die hab‘ ich gern (Gegen die Miesmacher)“ (Dortmunder Zeitung 1917, Nr. 126 v. 10. März, 7). 1918, kurz vor der Niederlage, gab es schließlich eine neuerliche Konjunktur des Kampfes gegen die Miesmacher, die späteren „Novemberverbrecher“ ließen grüßen. Hohenzollernprinz Heinrich (1862-1929) warnte vor ihrer seelenvergiftenden Kraft, lokale Militärkommandeure verschärften angesichts von Streiks, Hungerkrawallen und Friedenssehnsucht die Strafbestimmungen (Prinz Heinrich gegen die Schwarzseher, Coburger Zeitung 1918, Nr. 183 v. 7. August, 2; Gegen die Miesmacher, ebd., Nr. 201 v. 28. August, 1). Und während Hindenburg und Ludendorff die Niederlage längst eingestanden hatten, zogen Pfarrer gegen die „Miesmacher und Bauchwehpolitiker“ zu Felde: „Wen es gelüste, die ‚Dummheit der Parlamentarisierung‘ in Berlin mitzumachen, brauche nur nach Rußland zu schauen“ (Rosenheimer Anzeiger 1918, Nr. 220 v. 24. September, 2).

Miesemanns untergründige Zersetzungsarbeit (Illustrierte Zeitung 151, 1918, 521)

Überraschend ist, dass der „Miesmacher“ auch nach dem Ende des Kaiserreichs nicht verschwand (dies und vieles andere ignoriert Stefan Scholl, An den Rändern der Zugehörigkeit verorten: Meckerer und Märzgefallene als Grenzfiguren der >Volksgemeinschaft<, in: Heidrun Kämper und Britt-Marie Schuster (Hg.), Im Nationalsozialismus, T. 1, Göttingen 2022, 103-144). Im Gegenteil etablierte er sich just während der Weimarer Republik. Manches davon konnte noch als Wiederspiegelung der schlechten alten Zeiten dienen: Erwin Kern (1898-1922), rechtsextremer Mörder des deutschen Außenministers Walther Rathenau (1867-1922), konterte etwa die Kritik seiner Mittäter an den neben den Maschinenpistolen mitgeführten Handgranaten mit dem Freikorpsspruch: „Ihr seid ja alle Miesmacher“ (Die Rathenaumörder vor Gericht. (Fortsetzung.), Freie Presse für Ingolstadt 1922, Nr. 236 v. 13. Oktober, 1-2, hier 1). Doch der Miesmacher machte weiter Karriere, wurde demokratietauglich, mutierte zum pluralistischen Abgrenzungs- und Denunzierungsbegriff. Was immer geschah, die Miesmacher waren präsent, kritisierten die neue Rentenmark, die Nominierung Hindenburgs zum Reichspräsidentenkandidaten, die Verhandlungen um ein Ende der Rheinlandbesetzung (Coburger Zeitung 1923, Nr. 279 v. 28. November, 1; Rosenheimer Anzeiger 1925, Nr. 90 v. 21. April, 1; AZ am Abend 1926 v. 21. September, 1). Und da die Miesmacher immer die anderen waren, vermerkte man achselzuckend, dass „deren Geschlecht nicht umzubringen ist!“ (AZ am Morgen 1925, Nr. 129 v. 23. April, 3) Wie zuvor im Krieg hatte dies selbstdisziplinierende Folgen, wollte man doch nicht als Miesmacher verschrien werden (Ingolstädter Anzeiger 1925, Nr. 237 v. 17. Oktober, 2). Dennoch wurde er zu einer Art anthropologischen Konstante, denn „Menschen, die einem das Leben verekeln können“ gab es allüberall (Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 266 v. 11. Februar, 4). Man richtete den Blick daher in andere Richtung, propagierte stattdessen Optimismus, Lebensmut und Tatendrang. Selbstoptimierung sollte den eigenen Miesepeter überwinden – was man auch heutzutage in dutzenden bedruckten Papierhaufen nachlesen kann, die sich explizit gegen Miesmacher wenden.

Doch der Begriff kann und konnte jederzeit wieder autoritär aufgeladen werden. „Miesmacher“ war und ist eben ein antimoderner Begriff der Eindeutigkeit, der kulturellen Hegemonie, des gezähmten Widerworts. In modernen Gesellschaften sind öffentliche Sachverhalte jedoch kontingent, können so, aber auch anders gehandhabt, müssen daher auch kontrovers diskutiert werden. Im politischen und wirtschaftlichen Meinungskampf der Weimarer Demokratie war der Miesmacher ein negatives Flaggenwort der (ersehnten, im Kleinen geduldeten) Diktatur, des Schweigebanns gegenüber Andersdenkenden. Seine gezielte Neuaufladung während der NS-Zeit verdeutlichte zugleich den langen Schattenwurf des Ersten Weltkrieges auf den Nationalsozialismus (vgl. Gerd Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010).

Der Reichsluftschutzbund

Die während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur etablierten Strukturen und Prinzipien dienten dem nationalsozialistischen Luftschutz ab 1933 als zu überwindendes Vorbild (Lemke, 2021, 126). Die bestehenden Organisationen gingen in dem am 29. April 1933 gegründeten Reichsluftschutzbund auf, verloren damit ihre begrenzte Unabhängigkeit (Paul Eduard Schriebl, Der Luftschutz im Deutschen Reich von 1933-1945, Diplomarbeit Graz 2021 (Ms.), 36-46). Sachlich-rational hieß es: „Der neue Bund wird auf nationaler Grundlage dem deutschen Volk die lebenswichtige Bedeutung des zivilen Luftschutzes vor Augen führen und streben, jeden Deutschen zu tätiger Mitarbeit zu gewinnen. Neben der Aufklärung und Werbung für den Luftschutz hat der Bund die Vorbereitung und Durchführung des Selbstschutzes der Zivilbevölkerung und die personelle Ergänzung des behördlichen Luftschutzes zur Aufgabe“ (Kölnische Zeitung 1933, Nr. 232 v. 29. April, 2). Die neue Dachorganisation unterstand allerdings dem NS-geführten Reichsluftschutzministeriums, dessen Leiter, der frühere Kampfflieger Hermann Göring (1893-1946), weitere Ziele in den Vordergrund rückte: Der Reichsluftschutzbund „soll in den breiten Massen die sittlichen Kräfte wecken, die zu selbstloser Arbeit und zu Opfern begeistern. Er soll in allererster Linie die moralischen Voraussetzungen schaffen, ohne die ein Volk nicht fähig ist, einen modernen Luftkrieg zu ertragen. Denn nur eine festgeschlossene, von unbeugsamem Lebenswillen beseelte Nation wird diesen Gefahren widerstehen können. […] Ein Volk, das sich untätig und willenlos feindlicher Willkür preisgibt, hat seine Existenz verwirkt. Ein Volk aber, das den eisernen Willen zur Selbsterhaltung in sich trägt, wird auch den Gefahren aus der Luft erfolgreich trotzen“ (Kölnische Zeitung 1933, Nr. 232 v. 29. April, 2). Die NSDAP hatte den passiven Luftschutz zuvor zwar immer gefordert, doch für sie hatte „ein aktiver Luftschutz unter Verwendung von Kampfflugzeugen, Bomben und Gasen aller Art“ Vorrang. Passiver Luftschutz sei hilfreich, erfordere aber eine geistige Mobilisierung der „ganzen Bevölkerung, weil der Krieg der Zukunft durch die Luftwaffe an keine schmale Front gebunden ist“ (beides n. Luftkrieg und Luftschutz, Völkischer Beobachter 1932, Nr. 119 v. 28. April, 5). Es ging um mentale Gleichschaltung, um Akzeptanz fremdgesetzter Vorgaben.

Schutz und Wehrhaftigkeit als Ziele (Edgar Winter, Luftschutz tut not, Berlin 1933, 1 (l.); Knipfer und Burkhardt, 1935, 79)

Mit staatlicher Unterstützung wurden die bestehenden Strukturen ausgebaut. Seit 1935, parallel zur Gründung der Luftwaffe, intensivierte man dann die Werbung für den Reichsluftschutzbund, er mutierte kurz danach hinter der Deutschen Arbeitsfront und vor der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt zur zweitgrößten Massenorganisation des NS-Staates (Jörn Brinkhus, Ziviler Luftschutz im „Dritten Reich“ – Wandel seiner Spitzenorganisation, in: Dietmar Süß (Hg.), Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München 2007, 27-40). Der Aufbau des aktiven und passiven Luftschutzes erfolgte anfangs in kleinen Schritten. Ein Blick in meine Heimat, dem Hochsauerland, kann dies verdeutlichen. In der Kreisstadt Brilon präsentierte im August 1933 der Luftschutztrupp Ekkekard nach herzlicher Begrüßung durch Bürgermeister Sauvigny im Rathaus die Aufgaben und Ziele des „deutschen Luftschutzes“ (Sauerländische Zeitung 1933, Nr. 183 v. 11. August, 7), es folgte ein Vortrag, praktische Lehrgänge, dann die Ausbildung eines Lehrtrupps. Am 24. September feierte man im katholischen Vereinshaus die neu gegründete Ortsgruppe Brilon-Thülen des Reichsluftschutzbundes. NSDAP-Ortsgruppenführer Linhoff übernahm die Führung, Sauvigny wurde erster Stellvertreter, Feuerwehr, SA, SS und die Repräsentanten des Gymnasiums Petrinum waren im erweiterten Vorstand präsent (Ebd., Nr. 225 v. 29. September, 7). Kurz zuvor etablierte sich auch der Deutsche Luftsportverband in Brilon. Mit der vom Bürgermeister zugesagten Unterstützung wurde ein Flugplatz geplant und wenig später auch errichtet (Ebd., 1933, Nr. 202 v. 2. September). Luftabwehr und Pilotenrekrutierung gingen Hand in Hand. Josef Paul Savigny (1875-1967), rechter Zentrumsmann und aufgrund des Aufnahmestopps erst später NSDAP-Mitglied, war der bis heute stolz erinnerte Großvater des passionierten Fliegers Friedrich Merz (Merz: „Fliegen war schon immer der Traum meiner Jugend“, SZ.de 2022, Ausg. v. 3. August; Patrik Schwarz, Merz’ Großvater SA- und NSDAP-Mitglied, taz 2004, Ausg. v. 22. Januar). Brilon war typisch für kleinteilige Veränderungen im gesamten Deutsche Reich.

Diese banden allerdings beträchtliche (Human-)Ressourcen. Männer hatten vorrangige Aufgaben in Produktion und Wehrmacht, Frauen und die noch nicht waffenfähige Jugend sollten die Lücken schließen: „Deren Erziehung und Schulung im Frieden für ihre Aufgaben im Krieg erweitert den Aufgabenkreis des Staates auch in geistig-ethischer Hinsicht. Jeder Staatsbürger muß von dem selbstlosen Pflichtbewußtsein und Opferwillen zum Wohle des Volksganzen durchdrungen sein, nicht nur der männliche Teil der Bevölkerung […]“ (Winneberger, Der Luftschutz als staatspolitische Aufgabe, Bergedorfer Zeitung 1933, Nr. 246 v. 19. Oktober, 9). Luftschutz war zudem ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Experten, denn Planungsaufgaben wurden zentralisiert, der Städte- und Wohnungsbau erhielt neue Impulse, die urbane Verdichtung von Industrie und Bevölkerung war zu durchbrechen. Nicht länger sollte „das holde Chaos des Friedens“ herrschen, der Einparteienstaat konzentrierte sich auf seine Kernaufgabe: „Im Krieg begründet sich der Staat als Staat, und durch die beständige Bereitschaft zu ihm begründet er sich beständig neu“ (Hans Freyer, Der Staat, 2. Aufl., Leipzig 1926, 140, 143).

Standardslogans in den Tageszeitungen (Westfälischer Kurier 1938, Nr. 4 v. 6. Januar, 4 (o.); Tremonia, Ausg. F 1938, Nr. 42 v. 19. Februar, 12)

Das wurde im Sommer 1935 deutlich, als die „Luftschutzpflicht für alle Deutschen“ eingeführt wurde. Das Luftschutzgesetz vom 26. Juni bedeutete nicht nur eine Verreichlichung, also eine Zentralisierung und eine am Führerprinzip ausgerichtete Reorganisation. Paragraph 2 bestimmte auch, „daß alle Deutschen zur Dienst- und Sachleistung sowie zu sonstigen Handlungen, Duldungen und Unterlassungen verpflichtet sind, die zur Durchführung des Luftschutzes erforderlich sind.“ Damit gewann der NS-Staat Zugriffsrechte auf alle Personen und jedes Grundeigentum, die folgenden Entrümpelungsaktionen der Vorgärten und Dachböden unterstrichen dies praktisch (Die Luftschutzpflicht der Bevölkerung, Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 307 v. 9. Juli, 5). Der federführenden Polizei, zunehmend aber auch den Amtsträgern des Reichsluftschutzbundes war Folge zu leisten, Zuwiderhandlungen standen unter Strafe. Schon im Februar 1935 war das Heimtückegesetz ausgeweitet worden, so dass jegliche Sabotage und Verächtlichmachung des Reichsluftschutzbundes und seiner Amtsträger strafrechtlich verfolgt werden konnte. Auch das Jedermann-Festnahmerecht nach § 127 der Strafprozessordnung erlaubte ein Vorgehen gegen Meckerer und Miesmacher. Nichtteilnahme an den immer häufigeren Schulungen konnte geahndet werden, symbolisch verhängte Haftstrafen unterstrichen dies (Luftschutz ist Pflicht!, Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 567 v. 9. Dezember, 4). In den Folgejahren erweiterten Verordnungen und Ausführungsbestimmungen sowohl die Eingriffsrechte als auch die Strafmöglichkeiten (Neugliederung der Aufgaben im zivilen Luftschutz, Wilhelmsburger Zeitung 1937, Nr. 77 v. 3. April, 3). All das wurde umrahmt von einer drängenden, mit Hilfe detaillierter Hauslisten durchgeführten Mitgliederwerbung. Hinzu traten jährliche Werbewochen im Frühsommer, die von einer zweitägigen Haus- und Straßensammlung begleitet wurden (Aufruf des Reichsstatthalters, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 117 v. 20. Mai, 6). Formal war alles freiwillig, doch der Druck zum Mitmachen war wesentlich schneller spürbar als bei der Winterhilfe. All das waren zugleich Steilpässe für Maßnahmen gegen frei definierbare Miesmacher oder Miesriane, stellte Kritik – auch ohne Prügel – zunehmend still.

Werbung für den Reichsluftschutzbund

Der Reichsluftschutzbund warb anfangs weiter mit der Bedrohung aus dem Ausland, mit dem Zwang einer möglichst effizienten Gefahrenminderung: „Wir dienen unserm Vaterland, / zum Schutz für Heim und Haus / vor Fliegerangriff, Bomben, Brand / und giftger Gase Graus…“ (Rückschau auf die Verdunkelungsübung, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 75 v. 29. März, 5). Entsprechend überrascht nicht, dass die Mitgliedzahlen im Westen und Norden des Reiches rasch anstiegen. In Hamburg war Ende 1934 bereits ein Fünftel der Bevölkerung Mitglied des Reichsluftschutzbundes (Luftschutz ist Selbstschutz!, Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 318 v. 17. November, 29). In Mittel-, Süd- und Ostdeutschland sowie den Mittel- und Kleinstädten und auf dem Lande lagen die Anteile jedoch deutlich niedriger (Der Luftschutz in unserer engeren Heimat, Bergedorfer Zeitung 1936, Nr. 114 v. 16. Mai, 9).

Der schützende Aar: Mitgliederwerbung des Reichsluftschutzbundes (Hildener Rundschau 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 8 (l.); Stadtanzeiger für Wuppertal und Umgebung 1933, Nr. 189 v. 15. August, 5)

Nach dem Luftschutzgesetz intensivierte man nicht nur die Mitgliederwerbung, sondern forderte sie zunehmend ein: „Alle Volksgenossen haben die Pflicht, die militärischen Verteidigungsmaßnahmen durch ‚Selbstschutz‘ zu unterstützen. Bei einem Angriff ist die Zivilbevölkerung im Grenzlande ebenso großen Gefahren ausgesetzt, wie der Frontkämpfer im Schützengraben.“ Schließlich mache das Schutzkollektiv „jedem etwaigen Angreifer den Versuch eines Angriffes auf das deutsche Volk zu einer aussichtslosen Sache“ (Luftschutz ist Selbstschutz!, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 260 v. 7. November, 5). Bedrohung, Angst, Pflicht, dann auch Zwang; dies waren die Grundlagen für einen bemerkenswerten Rekrutierungserfolg.

Option für das Mitmarschieren (Illustriertes Tageblatt 1937, Nr. 176 v. 31. Juli, 6)

Im Jahr nach der Gründung hatte der Reichsluftschutzbund offiziell fast 2000 Ortsgruppen und etwas mehr als 2,5 Millionen Mitglieder (Erzgebirgischer Volksfreund 1934, Nr. 100 v. 30. April, 14). Bis Ende 1936 war die Zahl auf etwa sieben Millionen hochgeschnellt, viereinhalb Millionen hatten Schulungsmaßnahmen durchlaufen. Parallel wuchs die Infrastruktur, etwa 2200 Schulen wurden von einer wachsenden Schar ehren- und hauptamtlicher Kräfte bespielt (Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 2 v. 3. Januar, 3). Mitte 1936 tönte es dann fanfarenhaft von zehn Millionen, vier Jahre nach Gründung schließlich von zwölf Millionen Mitgliedern (Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 166 v. 21. Juli, 5). Reichsweit zählte man damals 3400 Luftschutzschulen, 65.000 Dienststellen, 490.000 meist ehrenamtliche Amtsträger sowie viereinhalb Millionen voll ausgebildete Selbstschutzkräfte. Und doch: „Bis zur vollkommenen Luftschutzbereitschaft des deutschen Volkes ist noch ein weiter Weg“ (Vier Jahre Reichsluftschutzbund, Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 128 v. 5. Juni, 5). Die vielfach nicht verlässlichen Zahlen waren Teil einer Propaganda immer neuer Superlative. Bei Kriegsbeginn sprach man von 14 Millionen Mitgliedern. Sie wurden technisch eingewiesen, hatten Verantwortung für ein Haus, auch eine Nachbarschaft, ergänzten idealiter Polizei und Feuerwehr. Die 1938 ca. 27.000 „Luftschutzlehrer und -lehrerinnen“ – der Nationalsozialist genderte – zielten zugleich auch auf die Ausbildung von nationalsozialistischen Kämpfern: „Dem Gedanken, ihn seelisch zu härten und ihn damit in seiner eigenen Ueberzeugung zu wappnen für die Stunde der Gefahr, sei die gesamte Ausrüstung unterstellt. Front und Heimat würden in Zukunft nicht mehr Einzelgruppen sein, sondern eine geschlossene Kampfgemeinschaft mit dem unerschütterlichen Willen, auch das Letzte für den Bestand des Volkes und der Nation einzusetzen“ (beides nach Erfolge des Reichsluftschutzbundes, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 50 v. 1. März, 1).

Der Reichsluftschutzbund: Fachzeitschrift und Abzeichen (Berliner Morgenpost 1938, Nr. 26 v. 30. Januar, 4 (l.) Jenaer Volksblatt 1933, Nr. 251 v. 26. Oktober, 8)

Da wir eine sächsische Kampagne genauer untersuchen werden, ist der Beitrag dieses „Grenzlandgaus“ von besonderem Interesse (peinlich verkürzt Stephan Dehn, „Die nationalsozialistische Propaganda in Sachsen 1921-1945“, Phil. Diss. Leipzig 2016 (Ms.), 293-294). Insgesamt waren in diesem wichtigen Industrieland etwa 300.000 Häuser zu verteidigen. 1936 gab es 700.000 Mitglieder, etwa vierzehn Prozent der Bevölkerung (Drei Jahre Reichsluftschutzbund in Sachsen, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 119 v. 23. Mai, 9). Gemeinden und Reichsluftschutzverband kooperierten bei der Erstellung von Hauslisten zur gezielteren Werbung (Statistische Erhebung für den Zivilen Luftschutz, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 225 v. 25. September, 5). Ende 1936 lagen die Mitgliedszahlen bei 825.000 Personen, Mitte 1938 dann bei mehr als 1,1 Millionen (Fünf Jahre Reichsluftschutzbund, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 137 v. 21. Juli, 7). Besonderer Wert wurde auf die Humanressource Frau gelegt: Ende 1936 waren 73.000 der 185.000 Luftschutzhauswarte und zwei Drittel der 75.000 Hausfeuerwehrleute weiblich, weitere 135.000 Laienhelferinnen standen parat. Bei den geschulten Amtsträgern betrug der Frauenanteil allerdings lediglich acht Prozent (Luftschutzarbeit in Sachsen, Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1937, Nr. 2 v. 2. Januar, 2). Sie alle sollten Schulter an Schulter mit der NSDAP den „Geist der Heimat halten“ und den NS-Staatsgedanken stützen (Die Parole des Reichsluftschutzbundes, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 80 v. 5. April, 3).

(Übertriebene) Masse als Werbeargument (Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 125 v. 2. Juni, 6)

Jede(r) ein(e) Kämpfer(in): Propaganda der klaren Aussagen

Gruppendruck und Zwang waren gewiss wichtige Elemente für diesen immensen Zuspruch. Doch zugleich zogen die Argumente der Verantwortlichen, zog die Propaganda: Ein sozialdemokratischer Bericht aus Bayern betonte im Sommer 1935, „dass ein grosser Teil der indifferenten Bevölkerung die deutsche Aufrüstung positiv beurteilt. Man bringt Verständnis dafür auf, dass Deutschland in der Umgebung hochgerüsteter Staaten ebenfalls aufrüstet. Der Pazifismus hat keine Anhänger mehr. Die Anordnungen des Luftschutzes werden mit grosser Disziplin befolgt und die Menschen, ob für oder gegen Hitler, sehen darin eine lebenswichtige Aufgabe“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 2, 1935, Nr. 9, A-7). Man ging davon aus, dass „ein Krieg früher oder später“ kommen würde (Ebd., A-8).

Wenngleich in anderen Regionen auch andere Einschätzungen zu hören waren, so fand die seit der Weimarer Republik betriebene Propaganda doch offenkundig Resonanz. Die anfängliche Gleichgültigkeit breiter Bevölkerungsschichten nahmen die Verantwortlichen sehr wohl wahr, reagierten darauf aber im Sinne der sich entwickelnden Werbewissenschaft: „Jede Propaganda, die Erfolg haben soll, ist […] so zu gestalten, daß sie die persönliche Anteilnahme derjenigen weckt, auf die sie wirken soll“ (Hartmann, Aufklärung im Luftschutz, Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 256 v. 19. Oktober, 16, auch nachfolgend). Gefahrensensibilisierung und der Appell an den Beschützerinstinkt gingen Hand in Hand. Dagegen setzte man erstens „Aufklärung durch Wort“, also Vorträge und Rundfunkfeatures, zweitens eine „Aufklärung durch Bild“. Sachliche Werbeplakate sollten weder übertreiben, noch beunruhigen, ebenso die wachsende Palette von Diapositiven in den Kinos, Klischees für Zeitungen und Theaterprogramme sowie Schaubilder und Fotos von der Luftrüstung anderer Nationen, insbesondere Frankreich, Großbritannien und der UdSSR. Drittens schließlich gab es „Aufklärung durch sonstige Mittel“. Dazu zählten Luftschutzausstellungen, Flugveranstaltungen, die im urbanen Raum präsenten Bombenattrappen. Luftschutz wurde Pflichtfach im Schulunterricht.

Zudem konfrontierte man die Bevölkerung immer stärker mit Vorstellungen eines totalen, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung geführten Krieges: „Ein künftiger Krieg wird nicht mehr sein wie einst, ein Kampf von Armee gegen Armee, er wird ein Volkskrieg sein“. Der zivile Luftschutz wurde als Truppe der Heimat geadelt, als „Bestandteil unserer Wehrmacht, […] genau so wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist, wie die Aufstellung neuer Truppenkörper“. Alle hätten „die heilige Pflicht, […] eure Heimat im Innern so zu verteidigen und in der Heimat so zu kämpfen, wie der Soldat in der vordersten Linie kämpft und sein Leben für euch und uns alle opfert“ (Zitate aus Werdet Mitglieder des Reichsluftschutzbundes!, Wilhelmsburger Zeitung 1936, Nr. 126 v. 2. Juni, 3). Die Berichterstattung über den seit 1934 laufenden Bombenkrieg Japans in China, den Giftgaskrieg Italiens gegen die abessinische Bevölkerung und den Einsatz der Luftwaffen im spanischen Bürgerkrieg verwies immer wieder auf die hierzulande erforderliche Vorsorge, den aktiven und freiwilligen Einsatz beim Reichsluftschutzbund. Das galt zumal für Frauen. Göring betonte: „‚Deutschland kann – wenn es einmal angefallen wird – keine schwachen und entnervten Frauen brauchen. Sie werden es um so leichter haben, in der Stunde der Gefahr die Nerven zu behalten, je eher und umfangreicher sie über alle Gefahren und über das, was sie dagegen zu tun haben aufgeklärt sind!‘“ (Deutsche Frau, bist Du bereit?, Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 247 v. 22. Oktober, 3). In der Verteidigung des eigenen Heims, der eigenen Familie könne die Frau ihren Mann stehen.

Suggestion von Sicherheit: Die Volksgasmaske (Hamburger Fremdenblatt 1938, Nr. 201 v. 23. Juli, 37 (l.); Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 207 v. 5. September, 6)

Der 1937 beginnende Verkauf der „Volksgasmaske“ manifestierte nicht nur den sorgenden Staat, sondern machte die immer wieder betonte Gefahr auch leiblich spürbar. Objektiv war sie kaum effektiv, ihr Vertrieb musste zudem wiederholt aufgrund von Rohstoff- und Vertriebsproblemen unterbrochen werden (Karen Peter (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 6/I: 1938, München 1999, 849). Das galt ebenso für den aus Kostengründen vernachlässigten Bunkerbau. Doch die Propaganda, die regelmäßigen Schulungen, Appelle und Übungen im unmittelbaren Umfeld, zielte eben nicht vorrangig auf militärische Effizienz, sondern auf die Schaffung einer Luftschutzgemeinschaft, die auch den Wehrmachtssoldaten ihren Kriegsdienst einfacher machen sollte: Sichere Heimatfront, erfolgreicher Eroberungskrieg. Dieses geistige Band sei im „totalen Krieg von ausschlaggebender Bedeutung“ (Buersche Zeitung 1938, Nr. 58 v. 1. März, 1).

Einübung des Ernstfalls: Verdunkelungsübungen

Die Miesrian-Kampagne 1938 unterstützte all dies, doch sie war zugleich Teil der wohl eindringlichsten Kontroll- und Werbemaßnahme des Reichsluftschutzbundes, den Verdunkelungsübungen. Bombenkrieg wurde antizierend durchgespielt. Erst ging es um einzelne Industrie- oder Hafenanlagen, einzelne Nachbarschaften, dann um urbane Zentren, schließlich um ganze Regionen. Die Verdunkelung wurde lange vor ihrer militärischen Umsetzung während des Zweiten Weltkrieges zu einem in der Presse stetig präsenten Alltagsphänomen. Anfangs war man darüber noch erstaunt, so wenn etwa Gewährsleute berichteten, dass in Bielefeld „die ganze Stadt, mit Ausnahme des Bahnhofs, völlig verdunkelt werden musste. Auch der Verkehr war stillgelegt“ (Deutschland-Berichte 1, 1934, Nr. 10/11, A-7). Dieses Erstaunen legte sich rasch, mochte der „Luftschutzrummel“ auch immer wieder Unbehagen und Versuche des Wegduckens hervorrufen (Deutschlands-Berichte 3, 1936, Ebd., Nr. 4, A-63).

Für die Propagandisten hatten die Verdunkelungsübungen besonderen Wert, „da sie einem großen Personenkreis vor Augen führt – soweit dies übungsmäßig möglich ist –, in welchem Maße Deutschland luftempfindlich ist, wie sehr jeder einzelne und alles, was ihn persönlich angeht, im Falle eines Luftangriffes bedroht und gefährdet wird“ (Hartmann, 1933, 16). Die Effizienz der Luftschutzmaßnahmen konnte augenscheinlich überprüft werden. Wichtiger noch war der rechtsverbindliche Zugriff auf die Bevölkerung und ihre Grundstücke, Häuser und Wohnungen. Unabhängig von einer Mitgliedschaft beim Reichsluftschutzbund hatten die „Volksgenossen“ die für die Verdunkelung erforderlichen Hilfsmittel aus eigener Tasche zu bezahlen und präzisen Verhaltensroutinen zu entsprechen. Der Luftschutz gebar zugleich eine wachsende Zahl von kleinen Führern und Führerinnen, die in Haus und Nachbarschaft bedingte „Polizeifunktion und Befehlsgewalt“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-17) besaßen, die Abweichungen unmittelbar weitermelden konnten. Der „Volksgenosse“ war unter dauerhafter Beobachtung, denn schließlich konnte die Verdunkelung an der Nachlässigkeit Einzelner scheitern.

Geschäftsfeld Luftschutzgemeinschaft (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 432 v. 18. September, 26)

Seit 1936, nach dem einseitig aufgekündigten Ende der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages, wurden die Übungen weiter intensiviert: „Ganze Landstriche werden verdunkelt, bis in die entlegensten Gehöfte“ (Deutschland-Berichte 3, 1936, Nr. 8, A-3). Parallel intensivierte man den Luftschutz in größeren Betrieben (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-17-A-18). Oppositionelle Beobachter sprachen von Kriegsvorbereitung, von Maßnahmen, die in den anderen Ländern nicht ihresgleichen hätten (Kriegsvorbereitung, Neuer Vorwärts 1936, Nr. 162 v. 19. Juli, 8). Sie wurden jedoch, wie auch die damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen, generell willig akzeptiert. Aus München hieß es, „dass die Teilnehmer, selbst solche die sehr skeptisch die Arbeit des RLB beurteilen, durch die Vorträge von der Wichtigkeit einer wirksamen Abwehr gegen Luftangriffe überzeugt wurden und zum Teil die grossartige Organisation des RLB bewundern“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-16). Auch die verpflichtende Einberufung der gesamten jüngeren Bevölkerung für den Luftschutzdienst lief relativ reibungslos. Diese Rekrutierungserfolge überdeckten jedoch Fragen nach der Effizienz all dieser Maßnahmen, denn Verdunkelungsübungen erfolgten mit längerem Vorlauf. Alarmübungen zeigten dagegen oft gravierende Defizite. Ein sächsischer Großbetrieb war angesichts plötzlich anfliegender Bomber der Luftwaffe nicht verdunkelt: „Alles flüchtete hilferufend. […] Vielfach hörte man Rufe wie: ‚Die Russen kommen!‘ Von Luftschutz war in dieser Panik nichts zu spüren“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, Nr. 6/7, A-06).

Für die Verantwortlichen bedeutete dies Schulungsbedarf und eine stete Verfeinerung der Verdunkelungsübungen: In Leipzig begannen sie 1934, fanden dann in meist jährlichem Abstand statt (Noch nicht dunkel genug?, Deutsche Freiheit 1934, Nr. 232 v. 6. Oktober, 7; Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 10, A-13). Anfangs beschränkte man die Übungen auf kurze Zeitspannen und ließ Straßenverkehr und Reichsbahn großenteils unbehelligt. Die gängigen Zeitungsartikel betonten anspornend: „Alle waren mit Feuereifer und Disziplin dabei“ (Die Reichshauptstadt im Dunkeln, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1935, Nr. 67 v. 20. März, 5). Das traf nicht wirklich zu: Bei der Dresdner Verdunkelungsübung stellte der Übungsleiter ernüchtert mangelnde Mitarbeit der Bevölkerung mit: „Es sei erstaunlich, […] daß es im Dritten Reiche noch immer Leute gibt, die nicht begreifen, um was es geht“ (Dresdner Bevölkerung macht Kriegsübungen nicht mit, Sozialdemokrat 1935, Nr. 254 v. 1. November, 2). Die Verdunkelungsübungen wurden auch deshalb zeitlich und räumlich deutlich ausgeweitet, weil man dann direkt intervenieren konnte. Berlin wurde im September 1937 gleich sechs Tage hintereinander verdunkelt (Pulsnitzer Anzeiger 1937, Nr. 221 v. 22. September, 2). An die Seite der Luftschutzverbände traten nun auch die zunehmend aufgebauten Luftschutzeinheiten der Wehrmacht. Anfangs brach das den Elan der Massenschulung, da viele davon ausgingen, dass die Destruktionsspezialisten Sicherheit garantieren würden. Dagegen aber wandte sich die Propaganda, belebte schon lange vor Kriegsbeginn die Vorstellung einer neuerlich bestehenden „Heimatfront“. In der Zeitungsdatenbank Zeit.Punkt NRW fand sich dieser Begriff 1933 ganze 64 Mal, 1935 dann 653 und 1938 424 Mal. Mit Beginn des Weltkrieges wurde er dann wieder ubiquitär (1939 2202 Nennungen).

Reichsweit ähnliche Vorgaben für Verdunkelungsübungen, hier im schlesischen Gleiwitz (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 3, 1936, H, 6, A-11)

Der innere Feind, der Miesmacher

„Miesmacher sind auszurotten, genau so wie die vielen Parteien und Verbände, die sich uns entgegenstellen“ (Hakenkreuzbanner 1933, Nr. 181 v. 22. Juli, 7). So hieß es während der bis zum Sommer 1933 reichenden Machtergreifungsphase, in der es nicht nur darum ging, konkurrierende Parteien zu verbieten, bestehende Institutionen zu besetzen und neue Organisationen zu schaffen. Es ging um das Stillprügeln der Opposition, das Stillstellen von Widerspruch und ein Ende der Meinungsfreiheit. Politische Meinungsäußerungen wurden nun als „Grober Unfug“ geahndet, zunehmend aber auch als Heimtücke, Vorbereitung zum Hochverrat und als Wehrkraftzersetzung. Die NSDAP und ihre Organisationen wurden unter besonderem Schutz gestellt, auch wenn sich die Verfolgung der „Äußerungsdelikte“ anfangs vorrangig gegen Mitglieder der KPD richtete (Gunther Schmitz, Wider die »Miesmacher«, »Nörgler« und »Kritikaster«, zur strafrechtlichen Verfolgung politischer Äußerungen in Hamburg 1933 bis 1939, in: »Für Führer, Volk und Vaterland …« Hamburger Justiz im Nationalsozialismus, hg. v.d. Justizbehörde Hamburg, Hamburg 1992 (ND 2019), 290-331).

Miesmacher hatte es während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur noch auf allen Seiten des politischen Spektrums gegeben, wechselseitig benannte man so Andersdenkende. Das Begriffsfeld war weit, neben die Miesmacher traten Meckerer, Nörgler, Kritikaster, Besserwisser, Kümmerlinge, Reaktionäre, Spießer, Saboteure, Störer, Stänkerer, etc. Doch 1933 wurde der Bedeutungskorridor wieder inhaltlich verdichtet. Der Miesmacher wurde Teil der staatlichen Sprache, bezeichnete Gegner der NSDAP und ihres vermeintlichen Aufbauwerkes, ebenso alle Zweifler, Widerredner, Witzereißer, alle Seitensteher (Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin und New York 2000, 403-404). Während in der Literatur die irrige Auffassung vorherrscht, dass die Miesmacher und Kritikaster erst durch die von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) im Mai 1934 initiierten Propagandakampagne „gegen Miesmacher, Kritikaster und Nörgler“ zum öffentlichen Negativthema wurden, gehörten derartige Negativbezeichnungen bereits seit Mitte 1933 zum Standardrepertoire. Die NSDAP verkörpere schließlich das Volk in seiner ganzen Breite, während der wöchentlichen Ausspracheabende ständen die ehrenamtlichen NS-Leiter Rede und Antwort, böten eine basisdemokratische Alternative zum Parlamentarismus (H. Dilcher, Die Schulungsabende der NSDAP, Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 100, 1933, 542). Negativversprechen folgten, gegen die „Miesmacher werde unerbittlich vorgegangen werden“ (Die Mobilmachung des Mittelstandes, Pfälzer Bote für Stadt und Land 1933, Nr. 157 v. 12. Juli, 3).

Das diente gewiss auch der Beruhigung der NS-Aktivisten. Doch schon im Juni 1933 hieß es in einem Runderlass des preußischen Ministerpräsidenten und Ministers des Innern Hermann Göring: „Es ist in letzter Zeit verschiedentlich beobachtet worden, daß Beamte, Angestellte und Arbeiter in der Unterhaltung mit anderen Personen Aeußerungen bekunden, die geeignet sind, Unzufriedenheit über die von der nationalen Regierung getroffenen Maßnahmen zu erzeugen und Mißtrauen zu säen. Es handelt sich um Personen, die man mit dem Ausdruck ‚Miesmacher‘ treffend kennzeichnen kann. Ich bitte, jegliche Beamten, Angestellten und Arbeiter darauf hinzuweisen, daß künftig in solchen Methoden eine Fortsetzung der marxistischen Hetze erblickt wird und Miesmacher als verkappte Marxisten angesehen werden, die sich auf diese Weise noch immer im marxistischen Sinne betätigen“ (Bekämpfung des Miesmachertums, Volksgemeinschaft 1933, Nr. 156 v. 28. Juni, 2). Derartige Miesmacher mussten durch ihre Vorgesetzten gemeldet werden, dies zu unterlassen wurde „als betonte Solidaritätserklärung mit solchen Wühlern und Hetzern“ betrachtet. Kritik hatte zu unterbleiben, andernfalls konnte die berufliche Existenz rasch zerstört werden. Zeitgenossen werteten dies teils als Wiederkehr entsprechender Regelungen des Kaiserreichs, des Kulturkampfes, des Sozialistengesetzes, der Maßnahmen gegen Majestätsbeleidigungen und der strikten Zensur während des Ersten Weltkrieges (Miesmacher hinaus!, Die Stunde 1933, Nr. 3089 v. 1. Juli, 5). Auch symbolisch publizierte Verhaftungen deutete man als Wiederkehr des Alten, des Morschen (Miesmacher in Schutzhaft genommen, Eibenstocker Tageblatt 1933, Nr. 154 v. 4. Juli, 3).

Handgreifliches Vorgehen gegen den inneren Feind (Illustrierter Beobachter 9, 1934, 957)

Doch im völkischen Staat handelte es sich nicht mehr länger um Maßnahmen, die man durch begrenztes Wohlverhalten stillstellen konnte. Die Schaffung einer „gesunden“ Volksgemeinschaft schloss Minderheiten systematisch aus. Das galt für Juden, für „Erkranke“, für „Asoziale“, Homosexuelle, für Sinti und Roma, für ernste Bibelforscher, für „Arbeitsscheue“ und „Berufsverbrecher“, für alle, die dem Ideal der zu schaffenden Gemeinschaft nicht entsprachen. Negativbegriffe wie der Miesmacher, die Miesriane, verwiesen auf den schmalen Grat zwischen Gemeinschaft und „Gemeinschaftsfremden“. Die sprachlich ubiquitäre Verwendung während der NS-Zeit machte deutlich, dass grundsätzlich alle nicht nur Einvernehmen zeigen mussten, sondern dass es praktischer Taten bedürfe, um sich als Mitglied der Gemeinschaft, auch der Luftschutzgemeinschaft zu präsentieren. 1934 handelte es sich um berechtigte Kritik vorwiegend konservativer Kräfte, „die heimlich wühlende Reaktion“ (Unser Wille und Weg 4, 1934, 183; vgl. Hans Kröger, Gestern und heute. Die Kampfbroschüre gegen Miesmacher und Kritikaster, Leipzig 1934). Doch das Verdikt konnte grundsätzlich Jeden treffen, die während der Kampagne tausendfach gezeigten Transparente „Miesmacher sind Landesverräter! Nicht meckern, sondern arbeiten!“ (Kurt Pfeil, Wie wir unsere Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster organisierten, Unser Wille und Weg 4, 1934, 226-230, hier 228) unterstrichen dies.

Der Maßnahmenstaat ruft sich in Erinnerung (Bremer Zeitung 1934, Nr. 133 v. 15. Mai, 6)

Die Negativfigur des Miesmachers unterstrich zugleich die relativ beliebige Reichweite der Ausgrenzungen, die nicht länger an klar definierte rassistische, biologisch-eugenische, politische oder soziale Kriterien gebunden waren. Sie repräsentierte den Maßnahmenstaat, den vorbeugenden Verbrecherschutz, forderte mehr als passives Einreihen, stand für eingeforderte Bejahung, den Kampf, die Tat. Die Miesmacher sollten einen inneren Läuterungsprozess durchmachen, entsprechend erhielten sie Mahnungen und Zeit zur Einkehr. Das war die Gnade des moralisch handelnden NS-Staats, der seine Machtmittel moderat einsetzte, um die „sittlich-seelischen Energien des gesamten Volkes“ zu mobilisieren und in jedem Einzelnen zu verankern: „Der einheitliche Wille also, geboren aus der Erkenntnis des Notwendigen für Volk und Nation, wird dieses Reich festigen, und daß jeder die Notwendigkeiten erkenne, darum geht es in diesem Kampf“ (Adolf Kriener, Um die Erkenntnis der Notwendigkeiten. (Zu dem Kampf der Bewegung gegen Miesmacher und Kritikaster.), Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 101, 1934, 457-458, hier 458).

Dem Miesmacher, der auch nach der 1934er Kampagne nicht nur nicht verschwand, sondern in immer wieder neuen Formen den Alltag verbal und visuell begleitete, stand entsprechend immer etwas Positives entgegen. In dessen Ablehnung lag bereits die Rechtfertigung für das Einschreiten und die Abwehr der Mehrzahl, der Gemeinschaft. Nationalsozialismus war Lebensfreude, nicht Muckertum, nicht umsonst war der schon im Kaiserreich zum Pflichtkanon der Grundschule zählende Rundgesang „Freut euch des Lebens“ auch Motto der Organisation Kraft durch Freude. Nationalsozialisten agierten öffentlich, Miesmacher und Miesriane dagegen im Dunkel, im Hintergrund, „um im ‚geeigneten‘ Augenblick ihre mißtönenden Stimmen desto lauter ertönen zu lassen“ (Dämpfling, Meck meck meck…!, Die Bewegung 4, 1936, Nr. 46, 9). Die „Meckerer und Miesmacher schließen Türen und Fensterländen vor dem Sturm der Geschichte, kochen ihr Süppchen auf kleiner Flamme, klammern sich an das Glück im Winkel. Unfähig, ihre Herzen und Hirne der mythischen Volksgemeinschaft zu öffnen, bleiben sie Gefangene des eigenen, kleinen Ich“, so das frühere BDM-Mädel Eva Sternheim-Peters (1925-2020) (Habe ich denn allein gejubelt. Eine Jugend im Nationalsozialismus, München 2016 (ebook), s.p.). Im Dunkel aber agierten die Schädlinge, die während des Karnevals 1936 staatsnah hervorgehobenen „Wühlmäuse“ (Karneval in Mariadorf, Aachener Anzeiger 1938, Nr. 28 v. 3. Februar, 4), die öffentlich stetig bekämpften Hamster. Miesmacher wurden von den staatlich geduldeten Narren ohnehin NS-brav bekämpft, so etwa vom Weiß Ferdl (1883-1949) in seiner Kölner Büttenrede 1935 (Kölnische Illustrierte Zeitung 10, 1935, 245).

Der Meckerer – im Gegensatz zum bejahenden Herrn Froh, als Zielobjekt für die Verachtung der Mehrheit (Berliner Morgenpost 1938, Nr. 1 v. 1. Januar, 14; General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1936, Nr. 15637 v. 12. September, 5)

Die Verdunkelungsübung in Dresden, Leipzig und Bautzen 1938

Damit haben wir den historischen Rahmen gesteckt, um uns nun der sächsischen Miesrian-Kampagne vom März 1938 gezielt zu widmen. Sie führt uns in den Alltag dieser Zeit; so alltäglich, dass sie selbst von reflektierenden Zeitgenossen übergangen wurde. Am 20. März 1938 schrieb der in Dresden lebende Romanist Victor Klemperer (1881-1960) in sein Tagebuch: „Die letzten Wochen sind die bisher trostlosesten unseres Lebens“ (Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, 6. Aufl., Berlin 1996, 399). Er bezog sich damit auf die Integration Österreichs in das Deutsche Reich, wachsenden Antisemitismus sowie ihn persönlich betreffende Vertragsverletzungen deutscher Geschäftspartner. Die anstehende Verdunkelungsübung erwähnte er nicht; und dass, obwohl er als „Jude“, so die NS-Bezeichnung für den konvertierten Protestanten, noch Bestandteil der deutschen Luftschutzgemeinschaft war. Erst im Oktober 1938 wurde er ausgeschlossen, nur in vorrangig von Juden bewohnten Häusern durfte diese zunehmend ausgegrenzte Minderheit noch Luftschutz leisten (Lemke, 2001, 378).

Wie oben schon angedeutet, hatte es in den vier Luftschutzgauen des Staates Sachsen bereits regelmäßige Verdunkelungsübungen gegeben, die eine ganze Reihe wiederkehrender Mängel feststellten. Die künstliche Dunkelheit besaß ihren eigenen Reiz, Jugendliche und junge Erwachsende scherten sich vielfach nicht um die Vorgabe, das übliche Leben fortzuführen, sondern strömten in Innenstädte und nach Aussichtspunkten, um dem Schauspiel direkt beizuwohnen (Luftschutzübungen, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1934, Nr. 228 v. 9. September; Rückschau auf die Verdunkelungsübung, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 75 v. 29. März, 5). Der Beginn der Übung blieb vielfach unklar, die Sirenensignale ebenso. Die Bevölkerung verdunkelte zwar das eigene Wohnzimmer, nicht aber die anderen Räume, so dass bei jedem Hin und Her der Lichtschein sichtbar wurde. Zudem dachten viele von der Straße her, verdunkelten die Fronten, nicht aber die Hinterhöfe. Lichtschleusen wurden anfangs nur selten berücksichtigt, so dass Licht beim Verlassen und Betreten der Häuser sichtbar wurde. Besondere Probleme bereitete der Straßenverkehr, bei dem Fahrräder, Automobile, der öffentliche Nahverkehr und teils auch die Eisenbahn rigide abblenden mussten. Die passive Sicherheit der Passanten ließ zu wünschen übrig, immer wieder rannten Fußgänger ineinander, kollidierten mit Fahrrädern oder gar Autos (Dippoldiswalde im Dunkel, Weißeritz-Zeitung 1937, Nr. 61 v. 13. März, 1). In der Tat bedeutete die Verdunkelung ein Abstreifen zentralen Errungenschaften der modernen Daseinsvorsorge. Die Einführung der Straßenbeleuchtung erfolgte in Leipzig bereits 1701.

Verdunkelte Stadt während einer Luftschutzübung (Unsere Frauen und die Jugend im Luftschutz, Düsseldorf s.a., 32)

Zugleich aber musste die Luftschutzgemeinschaft ihre virtuelle Höhle mit modernen Mitteln sicherstellen. Jedes Haus, teils jede Etage musste ein Alarmsignal, eine Klingel haben, die Alarmsirenen allein reichten nicht aus. Die Dachböden mussten entrümpelt sein, Sandsäcke enthalten, Hacke, Axt und Schaufel waren für jedes Haus verpflichtend. Die Bewohner hatten eine Hausapotheke einzurichten, insbesondere Verbandsmaterial vorrätig zu halten. In jedem Haus gab es Verantwortliche für den Erste-Hilfe-Einsatz. Wassereimer mussten gefüllt und an zuvor festgelegte Plätze gebracht werden. Auch wenn es keine Uniformpflicht gab, so hatte doch der Hauswart imprägnierte Kleidung und für den Ernstfall geeignetes Schuhwerk zu tragen. Volksgasmasken waren nur bei Gasalarm aufzusetzen, doch auch die Bewohner sollten gefahrenadäquat ausgestattet sein, möglichst Stahlhelme parat haben (Deutschland-Berichte 4, 1937, Nr. 12, A-08). All dies konnte von den Luftschutzhauswarten und -amtsträgern kontrolliert werden, Abweichungen wurden kritisiert, eventuell sanktioniert. Die Polizei war mit ihren vielfach aus SA-Leuten bestehenden Hilfskräften mobilisiert und sollte bei Fehlverhalten „strengstens“ eingreifen. Verdunkelungsübungen waren Bewährungsproben der Luftschutzgemeinschaft: „Von allen Kreisen der Bevölkerung wird erwartet, daß sie diese Übung, die ausschließlich im Interesse des Gesamtwohls der Bevölkerung abgehalten wird, das notwendige Verständnis entgegenbringt und sie durch sachgemäßes Verhalten und gute Verdunkelungsdisziplin wirksam unterstützt“ (Schlagartige Luftschutzverdunkelungsübung im Bereiche der Kreishauptmannschaft Dresden-Bautzen, Der Bote von Geising und Müglitztal-Zeitung 1937, Nr. 23 v. 3. Februar, 8).

Luftschutz als Markt: Spezialversandgeschäft (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 124 v. 15. März, 13)

Die Wiederholungen schufen ansatzweise Ablaufsicherheit, doch die zeitliche Ausweitung der Übungen und auch die langsam verminderten Vorwarnzeiten stellten immer wieder neue Herausforderungen. Gefordert wurden „wirkliche Verdunkelungs-Maßnahmen“, so dass das Ausschalten des Lichtes und ein frühes Schlafengehen nicht ausreichte (Merkblatt für die Verdunkelungsübung, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1935, Nr. 225 v. 26. September, 5). Abblendmaterial musste vorliegen, ebenso Blenden und Kappen für die Verkehrsmittel. Parallel zeigte der Maßnahmenstaat seine Zähne: Jede Verdunkelungsübung wurde offiziell bekanntgemacht, das Luftschutzgesetz und die regionalen Polizeiverordnungen erlaubten nicht nur Geld-, sondern auch Haftstrafen. Die Übungen wurden durch exemplarisches Strafen begleitet, wobei man auch Haus- und Gutsbesitzer vorführte (Wegen ungenügender Verdunkelung verurteilt, Sächsische Volkszeitung 1936, Nr. 231 v. 2. Oktober, 6). Begleitet wurde all dies schon lange vor der Miesrian-Kampagne durch Kampfansagen an die Miesmacher. Göring betonte wiederholt: „Wir wollen jenen den Kampf ansagen, die glauben, daß sie miesmachen und kritisieren könnten in einer Zeit, in der das ganze Volk in unsagbarer Hingabe an die Arbeit für die Zukunft wirkt“ (Für Deutschlands Sicherheit, Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1937, Nr. 278 v. 29. November, 7). Das war allerdings eine Gradwanderung, denn die Übungen zielten ja auf Kritik an den Vorkehrungen, an den „Volksgenossen“. Kritik, so hieß es stets, sei erforderlich, doch sie müsse positiv, konstruktiv sein. Wo die Grenze verlief, darüber entschieden die NS-Granden. Hier lag ein strukturelles Problem des NS-Staates, denn Regime mit abgedämpfter Kritik sind weniger leistungsfähig als offene Gesellschaften, da sie immer nur nach wenigen regimetreuen Richtungen hin optimieren können.

Öffentliche Erinnerung an die anstehende Verdunkelungsübung – und gereimte Begleitpropaganda (Weißeritz-Zeitung 1937, Nr. 56 v. 8. März, 3 (l.); Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 133 v. 20. März, 5)

Die „schlagartige“ Verdunkelungsübung im März 1938 wurde am 28. Februar 1938 bekannt gegeben (Bekanntmachung Betr.: Schlagartige Luftschutzverdunkelungsübung im Bereiche der Kreishauptmannschaften Dresden-Bautzen und Leipzig, Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 49 v. 28. Februar, 5). Die Standardanforderungen wurden verschriftlicht, die Defizite früherer Übungen explizit angesprochen. Das betraf die Hinterhofbeleuchtung, die Lichtschleusen, die Einstellung vermeidbaren Fußgängerverkehrs. Besonderes Augenmerk legte man auf die Regulierung des Straßenverkehrs. Die Kenntnis der erlaubten „Nichtlampen“ war eine Wissenschaft für sich, gab es doch regelmäßig Verbesserungen seitens der quirlig-interessierten Industrie. Parallel schwang man die Werbetrommel für neue Mitgliedschaften im Reichsluftschutzbund, für den Kauf der Volksgasmaske (Jeder braucht –, Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 52 v. 3. März, 1; Jeder erwirbt die Volksgasmaske!, Ebd., Nr. 66 v. 19. März, 1).

Der Ankündigung der Übung folgte dann Mitte März eine stete Erinnerung an den Terminkorridor (Ein Mittel des Selbstschutzes, Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 65 v. 18. März, 3; Dass., Der Bote vom Geising und Müglitztal-Zeitung 1938, Nr. 33 v. 19. März, 12). Der Termin selbst blieb erst einmal in der Schwebe, die Mobilisierung erhielt ein Spannungsmoment. Die Presse begleitete diese Zwischenzeit mit präzisen Anforderungen, mit Appellen gegen unsolidarische „Bequemlichkeit“ (Ratgeber für die Verdunkelung, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 65 v. 18. März, 9). „Strengste Disziplin“ wurde gefordert, die Luftschutzaktivisten gebührend belobigt: Niemand dürfte sich „widerspenstig, gleichgültig oder unverständig“ zeigen, da er ansonsten „das Leben Tausender von Mitmenschen“ auf Spiel setzte. Licht an falscher Stelle sei „Verrat für ein ganzes Stadtgebiet“ (Zitate n. Warum Verdunkelungsübung?, Dresdner Neuste Nachrichten 1938, Nr. 66 v. 19. März, 6). Zugleich aber lockte man, denn bei reibungslosem Verlauf müsse künftig seltener geübt werden. Und schließlich hatte das Warten ein Ende: Am 21. März 1938 hieß es, dass die Verdunkelungsübung am morgigen Dienstag von 18 bis 23 Uhr in den beiden Kreishauptmannschaften (und Luftschutzgauen) Dresden-Bautzen und Leipzig stattfinden würde.

Amtliche Veröffentlichung des Verdunkelungstermins am 22. März 1938 (Ottendorfer Zeitung 1938, Nr. 34 v. 22. März, 1)

Die Miesrian-Kampagne

Eine der Verkürzungen der historischen Analyse der nationalsozialistischen Propaganda ist der Glaube an den just propagierten zentralistischen Führerstaat. Hitler auf dem Reichsparteitagsgelände, auf dem Bückeberg, vor der Ewigen Wache. Goebbels im Sportpalast, beim Reichspresseball, bei Ansprachen vor den Kulturschaffenden. Die neue Medienwelt von Wochenschau und Rundfunk hat derartige Bilder in unseren Köpfen verankert – und diese propagandistischen Ereignisse wurden gezielt choreographiert und genutzt, um den „schönen Schein der Diktatur“ schauerlich-anschaulich einzubrennen. Dieses Zerrbild des Großen ist jedoch auch irreführend, lenkt ab von der Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda. Mit dem digitalen Zugriff auf die lange ignorierte Bild- und Textwelt der Zeitschriften und Zeitungen wird diese jedoch zunehmend greifbar. Die großen Kampagnen fanden nicht nur ihren Widerhall am Frühstücktisch, beim Friseur und beim Feierabend, sondern sie wurden in der Regel erweitert und spezifiziert. Kampagnen wie Kampf dem Verderb oder Groschengrab bestanden eben nicht nur aus den häufig reproduzierten Plakaten, sondern auch und gerade aus kleinteiligen Artikeln, Bildmotiven, Comicserien, Appellen, Rezepten etc. Die NS-Propagandaforschung blickt auf die Spitze des Eisberges, kann dessen Weite aber nicht einschätzen, denn derartige Forschung fehlt. Dabei waren dezentrale, vielfach nur auf einzelne Regionen und Städte begrenzte Maßregeln für den Erfolg der allgemeinen Vorgaben und Appelle von hoher Bedeutung. Derartig kleinteiligere Propaganda war passgenauer, erläuterte die Reden und Vorgaben der NS-Granden. Dadurch wurden sie nachvollziehbarer, praktischer. Die Miesriam-Kampagne ist dafür ein Beispiel – und ihre Analyse kann helfen, die Zerrbilder des Großen zu hinterfragen. Der Alltag der propagandistischen Lockung, Unterhaltung und Lenkung war konturenreicher als es uns die gängigen Bilder in unseren Köpfen nahelegen. Erst mit ihrer Hilfe ist das nicht nur willige, sondern vielfach auch freudige Mitmachen und Tun der meisten Deutschen angemessen zu erklären.

Der Miesrian war eine in der Forschung bisher nicht bekannte regionale Variante des reichsweit bekannten Miesmachers. Solche gab es auch andernorts, etwa Herrn Mieslich, der 1936/37 mehrfach im Ruhrgebiet und im Münsterland auftauchte ((Elli Haese, Jungmädel in der Jugendfilmstunde, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1936, Nr. 286 v. 17. Oktober, 10; Was wir täglich mit Füßen treten, Münsterischer Anzeiger 1937, Nr. 408 v. 7. September, 5). Den Begriff Miesrian konnte ich abseits der hier vorgestellten Kampagne nur noch ein weiteres Mal finden, nämlich bei einem von Reichsinnenminister Heinrich Himmler (1900-1945) im Mai 1938 veröffentlichten Erlaß gegen die eifrig bekämpfte Waldbrandgefahr: „Immer und überall werden wir ihm hart auf den Fersen bleiben, wenn er sich unterstehen sollte wieder einmal einen Bummel in unseren Wald zu machen. Bei der geringsten Gelegenheit werden wir diesen Miesrian beim Schlafittchen nehmen und ihn dorthin bringen, wo er hingehört!“ (Herr Mieslich… mal sonntags früh… Kennen Sie den Waldbanausen?, Der Neue Tag 1938, Nr. 144 v. 27. Mai, 7)

Genauere Forschung dürfte das Feld jedoch weiten. Schließlich bieten die recht unvollständigen Digitalisierungen der NS-Zeitungen und Zeitschriften nur eine Scheinsicherheit des Rechercheergebnisses. Die für die Miesrian-Kampagne eigentlich einschlägige Datenbank Sachsen.digital ergibt bei Volltextrecherche lediglich eine Nennung, beredter Ausdruck sowohl der völlig unzureichenden Digitalisierungsqualität der eingescannten Mikrofiches als auch der eingesetzten OCR-Technologie. Miesrian wurde von deutsch-amerikanischen Sprachwissenschaftlern jedenfalls auch als typisch nationalsozialistische Parole der seit 1933 laufenden Erzeugungsschlacht der deutschen Landwirtschaft präsentiert: „‚Nicht meckern!‘ ‚Kein Miesrian sein!‘ auch wenn Butter und Eier mitunter knapp sind […]“ (Harry W. Pfund, Kleine Sprachwanderung – Neue Wörter in Neuer Zeit, Monatshefte für Deutschen Unterricht 31, 1939, 41-45, hier 44). Als Teil der vielen Neologismen des Luftschutzes nannte man ihn allerdings nicht.

Motive 1 und 2 (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 58 v. 10. März, 3 (l.); Sächsische Volkszeitung 1938, Nr. 60 v. 11. März, 4)

Nun aber blicken wir ihm endlich ins Gesicht, dem Herrn Miesrian, dessen griesgrämiges Konterfei nichts Einladendes hatte. Er wurde  den Lesern denn auch so präsentiert, wie sie ihn aus den vielen bereits erwähnten Tiraden der Kritik und der Ausgrenzung kannten: „Herr Miesrian, der Pessimist / Ein ‚Prachtstück‘ seiner Gattung ist. / Ein rückständiger, negativer / Mensch, so blicket er nicht tiefer / In die Erfordernisse ein, / Die für’s Volksganze nötig sein. / Wie stellt sich denn Herr Miesrian / Bei ‚ner Verdunklungsübung an? / Du sollst nun hier ab morgen hören / Von einem, der nicht zu belehren.“ Bild und Gedicht standen am Beginn einer zehnteiligen Serie, die am 10. sowie am 11. März 1938 in den führenden Tageszeitungen der Kreishauptmannschaften Leipzig und Dresden-Bautzen erschien. Sie war Begleitpropaganda der große Verdunkelungsübung. Allerdings fehlte sie in vier durchaus ordentlich digitalisierten Tageszeitungen der nicht direkt betroffenen Kreishauptmannschaft Chemnitz, nämlich dem Eibenstockener Tagblatt, dem Erzgebirgischen Volksfreund, dem Frankenberger Tageblatt, dem Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger. Auch in anderen Regionen fand sie keinen Widerhall.

Die Serie erscheint Tag für Tag, so dass Zeitgenossen den Termin der Verdunkelungsübungen im Vorfeld fast hätten erraten können. Aufgrund unterschiedlicher Erscheinungsweisen endete die Geschichte von Herrn Miesrian in drei Fällen erst am 23. März, also nach Ende der Übung. Die als „dunkle“ Geschichte in 10 Bildern überschriebene Serie war moralisch, zeigte die Fährnisse und Abwege eines gemeinschaftsfremden Außenseiters, der beim Verdunkeln außen vor blieb, sich gegen das Volksganze stellte. Die einzelnen Episoden waren analog aufgebaut, folgten den wachsenden Verstrickungen des sich selbst ausgrenzenden Herrn Miesrian. Den Blickfang bildete stets eine Zeichnung: Achtmal war der negative Held zu sehen, dreimal Ordnungskräfte als Verkörperung der Autorität des nationalsozialistischen Staates. Die Bilder waren zumeist durchnummeriert, Ausnahmen gab es lediglich beim ersten und zweiten Motiv. An den Blickfang schloss sich im Land der Dichter und Denker durchweg ein Gedicht an. Die Einführung war zehnzeilig, dann folgten acht Sechszeiler, schließlich am Ende ein Vierzeiler. Ergänzt wurden sie ab dem zweiten Motiv durch ein mit erhobenem Zeigefinger geziertes zweizeiliges Motto, das bei Motiv 10 gar vierzeilig auswaberte. Während die Zeichnungen des von mir nicht identifizierten „Roland“ dem üblichen Standard der Zeit entsprachen, insbesondere Licht und Schatten gut einfingen, galt dies nicht für die Gedichte und Motti, deren sprachliche Qualität weit unter der üblichen Reimpropaganda lag.

Doch es ging nicht um künstlerische Werte, sondern um die ahndungswürdigen Fehler im Umfeld der Verdunklungsübung. Miesrian wurde im zweiten Bild durch den uniformierten Amtsträger an seine Pflicht erinnert, doch er wies die ausgestreckte Hand des Sendboten der Luftschutzgemeinschaft schnöde zurück: „Der Luftschutzhauswart klopfet an / Beim Zeitgenossen Miesrian: / ‚S’wird bald Verdunklungsübung sein / Drauf richten bitte Sie sich ein!‘ / Doch der sagt: ‚Kommt ja nich in Frage / Sowas, auf meine alten Tage!‘ / Motto: Zur bittren Wahrheit ward’s schon vielen: Wer nicht hören will, muß fühlen!“

Motive 3 und 4 (Der Bote von Geising und Müglitztal-Zeitung 1938, Nr. 31 v. 15. März, 11 (l.); Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 67 v. 21. März, 10)

Das dritte Motiv bringt uns den Negativhelden etwas näher. Miesrian hieß Emil, war ein mittelständischer Händler, der in seinem kleinen Laden „Bedarfsartikel für Meckerer u. Spießer“ verkaufte. Das war plumpe Häme, spielte aber auf gängige Nachlässigkeiten nicht nur dieses Inhabers an: „Miesrian schließt Laden ab / Und setzt nach Hause sich in Trap. / Dieweil sie heut Verdunklung üben, / Will er nichts sehen mehr nach sieben.– / Ei, was wird wohl der Schutzmann meinen, / Sieht er die Firm’beleuchtung scheinen?? / Motto: Laß leuchten weit Dein Licht hinaus – / Doch zur Verdunklung schalt es aus!“ Wie schon beim zweiten Motiv finden wir unterschiedliche Verantwortlichkeiten, unterschiedliche Adressaten. Der Sechszeiler präsentierte und erläuterte das Fehlverhalten des negativen Individuums, zeigte Miesrian als nachlässigen Zeitgenossen, nicht interessiert an völkischen Notwendigkeiten. Das Motto weitete jedoch den Einzelfall, richtete sich an alle Leser. Sie sollten sich selbst erkennen, ihre innere Fahrlässigkeit überwinden, sich eingliedern in die achtsame Luftschutzgemeinschaft.

Unser Negativheld wurde aber nicht nur bildlich als eine schlaffe schmerbäuchige Person ohne Haltung präsentiert. Emil war zwar noch ein gängiger Vorname, wurde aber immer seltener vergeben, hatte seine besten Zeiten bereits hinter sich. Er spiegelte also die alte, die durch den Nationalsozialismus überwundene Zeit. Und er war zudem sprechend, stand er doch nicht nur für eine heutzutage wieder hervorgehobene Eifrigkeit, sondern im Gefolge von lateinisch aemilius im Umfeld von Eifersucht und Konkurrenz. Emil M. neidete seinem Umfeld ihren Erfolg, erhob sich über andere „Volksgenossen“, bewertete sie und ihre Taten abschätzig. Wichtiger aber war sein Nachname, vor allem die erste Silbe, das kennzeichnende „mies“. Sie war jiddischen Ursprung, bezeichnete etwas Hässliches, Verachtenswertes, etwas Unangenehmes, Widerliches. Hinzu kamen Bedeutungsnuancen von krank und kränklich (Hans Peter Althaus, Chuzpe, Schmus & Tacheles. Jiddische Wortgeschichten, 5. Aufl., München 2024 (ebook), 129-134). Mies reichte zurück ins frühe 19. Jahrhundert, war damals schon in Berlin verbreitet (https://www.dwds.de/wb/mies?o=Mies). Als Abgrenzungs- und Klagebegriff war mies deutlich älter als der Miesmacher, der erst um 1900 als Teil der Soldatensprache aufkam. Festen Tropen gab er Gehalt, beim miesen Hund, beim miesen Schwein, auch bei der miesen (Börsen-)Stimmung. Das Assoziationsfeld war sprechend, ließ Begriffe wie boshaft, bösartig, garstig, gehässig, gemein, niederträchtig, ruchlos, schäbig, schändlich, übel und verrucht hervorscheinen. Ja, Emil Miesrian trug ein schweres Erbe. Und es fehlte ihm offenbar die spätere Leichtigkeit des Wiener Miesmachers, der sich aller Denunzierung zum Trotz im Flüsterwitz stolz und mannhaft zum Gegenhalten bekannte: „Achtung! Achtung! Ich muß mich nicht nennen / Sie werden mich sowieso erkennen. / Ich bin der Mann, der bescheidene Mann, / der den Goebbels zum Rasen bringen kann, / gegen den der Göring am meisten bellt, / gegen den der Hitler in Tobsucht fällt. / Ich bin einer von den Millionen, / die nicht in Wolkenschlössern wohnen, / die nicht jeden Schmäh‘ und jeden Dreh‘ / und jede Meldung des OKW / für Wahrheit halten und nicht wie die Narren / den Hitlerdreck und den Goebbelsschmarren / und die ganze Propaganda fressen / und jedes Versprechen sofort vergessen / und jeden Schwindel mit Wonne schlucken / anstatt ihn kräftig auszuspucken. / Mich macht man nicht blöd, mich haut man nicht hin. / Also, Sie wissen schon wer ich bin; ein Miesmacher“ (Franz Danimann, Flüsterwitze und Spottgedichte unterm Hakenkreuz, Wien, Köln und Graz 1983, 75).

Emil M. hatte im März 1938 ganz andere Sorgen, war er doch augenscheinlich wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten: „Miesrian kommt an zu Hause / Begibt sich gleich in seine Klause / Überlegt, was tun er könnt.— / Am Wagen noch das Standlicht brennt. / Ein Schupomann notiert die Nummer; / Für Miesrian ein neuer Kummer!“ / Motto: Ein Auto mit ‚nem Glorienschein / Darf bei Verdunklung niemals sein!“

Motive 5 und 6 (Dresdner Neueste Nachrichten 1938, Nr. 64 v. 17. März, 20 (l.); Der Freiheitskampf 1938, Nr. 76 v. 18. März, 8)

Während draußen die Polizei Meldung über Miesrians Fahrlässigkeit machte, begann dieser in seinem Heim zu lamentieren: „Herr Miesrian flucht Stein und Bein: / ‚wie schränkt man uns die Freiheit ein! /Man kann nich mal – ich seh’s ja hier – / Heut abend zum gewohnten Bier!! / Die Kneipen finster, weil verschlossen…‘ / So meckert Miesrian verdrossen. / Motto: Um Deine Lippe zu beleuchten / Brauchts Gasthaus nicht nach außen leuchten.“ Verfehlter Freiheitsdrang war den Nationalsozialisten ein steter Dorn im Auge, hatten sie doch ihre eigene Vorstellung von Freiheit, nämlich eine völkisch gebundene, eine der nicht stillzustellenden Idee ehrlichen Kampfes. Und das Lamento war offenkundig unbegründet, vorausgesetzt man wusste, wie man richtig verdunkelte. Niemand hatte schließlich die Kneipen geschlossen, verwehrte den arbeitenden Menschen ihr verdientes Feierabendbier.

Und doch, weiteres Ungemach nahte für den unleidlich hadernden Miesrian. Denn vor lauter innerem Groll hatte er abermals die Verdunkelung vergessen. Das Auge des Gesetzes aber wachte: „In seiner Wohnung macht jetzt Licht / Herr Miesrian.– Das darf er nicht!! / Weil, ohne Fenster abzublenden / Viel Lichtstrahl sie nach außen senden. / Zur Straße fällt der helle Schein – – / Mensch, Miesrian, was fällt Dir ein!?“ Motto: Willst straflos Du bei Lichte sitzen, / Mußt Du verdichten alle Ritzen!“ Miesrian wollte es nicht besser wissen, schmollte einsam vor sich hin. Der fröhlich geduzte Volksgenosse aber hatte noch die Chance auf Übungsbewährung. Er würde seine Fenster, seine gesamte Wohnung vorschriftsmäßig verdichten, für ihn war die Polizei nicht Gegner, sondern der vielbeschworene Freund und Helfer.

Motive 7 und 8 (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 132 v. 19. März, 9 (l.); Weißeritz-Zeitung 1938, Nr. 65 v. 18. März, 3)

Noch waren zwei, drei Tage Vorlauf bis zur Übung, noch konnte man lernen, sich den Kundigen anschließen. Selbst Miesrian bequemte sich gezwungen zum Verdunkeln; um gleich den nächsten Fehltritt zu begehen: „Als Miesrian, nach vielem Drängen / Nun seine Fenster tat verhängen – / Fand er’s zu Hause nicht mehr schön, / Und wollt mal auf die Straße gehen; / Macht Licht im Flur, macht auf die Tür, / Ein Lichtstrom flutet draus herfür! / Motto: Ne Lichtschleuse ist stets vonnöten, / Will ‚finster‘ man ins Freie treten!“ Ja, die Lichtschleuse, eines der schönen neuen Wörter des Luftschutzes. Das war ein kleiner Zwischenraum, durch schwere Vorhänge leicht zu erstellen, in den man aus einem hellen Raum trat und diesen verschloss, bevor man sich in den nächsten Raum oder auch in die Dunkelheit begab.

Miesrian aber dachte nicht mit, würde dem feindlichen Bomberpiloten im Ernstfall durch seinen Lichtschein den Weg zur Zerstörung weisen. Als ignoranter Alter konnte er sich nicht vorstellen, dass selbst ein Kerzenschein in der Finsternis strahlen könne, war für ihn doch alles grau, alles trübselig. Und folgerichtig lenkte er neuerlich der Feinde Anflug: „Voll Neugier läuft er kreuz und quer / In der stockdunklen Stadt umher. / Der Appetit auf-was zu rauchen / Läßt einen Lichtschein auf jetzt tauchen / Mensch, Miesrian, bist du verrückt?? / Hat denn der Teufel dich gezwickt??? / Motto: Im Ernstfall wird’s dem Feinde weisen, / Wo er die Bombe hinzuschmeißen!“ Miesrians Tun war unachtsam, Ausdruck fehlender Selbstzucht und einer selbstbezüglichen Genusssucht. Der Polizist, der mahnende und verwarnende „Volksgenosse“ wurde zwar nicht mit gezeichnet, doch würden auch sie die glimmende Nikotinröhre sehen, würden ihn zur Rechenschaft ziehen.

Motive 9 und 10 (Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 68 v. 22. März, 1 (l.); Illustriertes Tageblatt 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8)

Am Ende der dunklen Geschichte stand neuerlich Ignoranz und Selbstbezüglichkeit: „Miesrian sieht Autos nahn, / Die beleuchtet fahrn heran. / ‚Die machens auch wie ich, die Leute.‘ Miesrian stellt’s fest mit Freude. / Doch gleich darauf merkt er verdattert, / Daß – Polizei vorüberrattert! / Motto: Mit Parklicht fahrn gestattet sei / Nur Feuerlösch- und Schutzpol’zei!“ Im nationalsozialistischen Volksstaat gab es durchaus Privilegien, doch sie waren Ausdruck höherer Verantwortung. Die Rettungs- und Ordnungskräfte würden im Ernstfall ihre Knochen hinhalten müssen, nicht aber Miesrian. Und daher war ihre fordernde Aufgabe kein Blindflug, denn ohne ein schwaches Licht würde die rettende und ordnende Tat die Gefahr nur vergrößern. Jeder verstand dies, jeder, der sich in eine Hierarchie einordnen konnte. Miesrian aber beharrte darauf, dass ihm die gleichen Rechte hätten zugestanden werden müssen; obwohl sein Handeln zuvor gemeinschaftsgefährdend war.

Emil Miesrian verblieb allein, verdattert ob der um ihn herum laufenden Schutzmaßnahmen. Er verstand nicht, musste entsprechend auf Linie gebracht werden: „Jetzt kommt das dicke Ende nach! / Miesrian besieht bei Tag / Den Haufen zudiktierter Strafen, / Die die ‚Belohnung‘ für den ‚Braven‘!“ Das war ein letzter Wink für den Gemeinschaftsfremden. Er traf ihn empfindlich, in seinem Geldbeutel. Und er würde wissen, dass danach die Haft drohte. Das war der langmütige Selbstschutz der Volksgemeinschaft. Selbst Pimpfe wussten das. Sie, auch andere, würden den Wandel aber auch erzwingen. Denn Miesrian hatte ja gewiss über die letzte Sonnenwendfeier in Altenberg gelesen, in denen drei Strohpuppen ins Feuer geworfen wurden, „den Miesmacher, den Neunmalweisen und den Neider“ (Der Bote vom Geising und Müglitztal-Zeitung 1937, Nr. 72 v. 2. Juni, 3). Wer seine Nachbarn, wer sein Volk fahrlässig dem Brandtod anheim gab, musste damit rechnen, dass ihm andere zuvorkommen würden. Die Leser aber würden aus Miesrians teuren Verfehlungen die richtigen Konsequenzen ziehen: „Motto: Wer ‚contra‘ gibt, hats nie bequem, / und teuer ist es außerdem. – / Drum, Volksgenossen, seid ‚auf Draht‘, / Wenn die Luftschutzübung naht!!“

Miesrian wurde strafrechtlich gezüchtigt; und so würde es allen Miesrianen, allen Miesmachern geschehen. Während die Arbeiter, die Angestellten, die Bauern und Landarbeiter, Jugendliche und Hausfrauen ihre Pflicht erfüllten, gab es immer noch bürgerlicher Überbleibsel aus liberalistischer Zeit, die allen Mahnungen zum Trotz einem verfehlten, sein Volk gefährdenden Individualismus frönten. Die Propaganda gegen die Miesriane, gegen die Miesmacher endete damit nicht. Sie fand in den Folgejahren immer neue Formen, zu nennen sind die wesentlich breiter gefassten Kampagnen über Herr und Frau Spießer 1939/40, über Herrn Bramsig und Frau Knöterich 1941/42 sowie die in Rundfunk und Wochenschau erfolgreiche Liese-Miese-Kampagne von 1943/44. Bis Kriegsende zog die NS-Propaganda gegen die Miesmacher, die Spießer, die Nörgler und Besserwisser zu Felde. Beide deutschen Nachfolgestaaten schlossen daran an, entwickelten und bekämpften ihre neuen strukturell ähnlichen Feindbilder. Und daran hat sich bis heute nur wenig geändert.

Doch leisten wir uns noch etwas mehr Distanz. Victor Klemperer überlebte die Judenverfolgung durch Nationalsozialisten und Mitbürger. Er hatte nicht nur in seinem Tagebuch Zeugnis abgelegt, sondern der Germanistik mit seiner Sprachkritik des Nationalsozialismus neue, nur zögerlich beschritte Wege eröffnet. Er verwies auf die vielen neuen Worte, summierte, „der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden“ (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 21) Der Fachmann für romanische Literatur des 17. bis 19. Jahrhundert unterschätzte dabei allerdings zweierlei: Die NS-Sprache nutzte erstens vielfach Wendungen und Worte aus der Kriegszeit und auch der Weimarer Republik, mochten sie dann auch umgedeutet werden. Winterhilfe und Eintopf sind dafür gute Beispiele – und ganz gewiss der chamäleonhafte Begriff des Miesrians, des Miesmachers. Zweitens wurden diese neuen Worte nicht unbedingt aufgezwungen, sondern vielmehr teils lustvoll aufgegriffen, verwendet und fortentwickelt. Die als Begriffe und Imaginationen weiterlebenden Propaganda-Figuren Groschengrab und Kohlenklau unterstreichen dies ebenso wie die seit einem Jahrzehnt ja wieder modischen „Volks“-Begriffe in der Produktwerbung. Die LTI, die Sprache des Dritten Reiches, war zudem keineswegs immer „die Sprache des Massenfanatismus“ (29). Im Gegenteil waren viele dieser Worte Ausdruck moderner Markttechniken, präzise zugespitzt auf klar definierte Zwecke. Nicht Atavismus kam hierin zum Ausdruck, sondern der Gestaltungswille formal gebildeter Experten. Der Luftschutz bot dafür zahlreiche Beispiele.

Evaluation einer Verdunkelungsübung

Die Miesrian-Kampagne hatte eine dienende Funktion, sollte Verdunkelungsübungen optimieren, Fehler vorab „ausmerzen“. Entsprechend wurde weit stärker als bei früheren Übungen über die lokalen Geschehnisse in der Presse berichtet. Dies waren, gewiss, geschönte Beschreibungen durch willfährige Journalisten. Doch in diesem Fall gab es eine Gegenöffentlichkeit, denn die Bewohner konnten selbst sehen und urteilen. Und so dürften wir in den sieben eigenständigen Berichten über Bischofswerda, Dippoldiswalde, Dresden, Leipzig und Riesa doch einen Lichtschein der Wahrheit erhaschen… (Fünf Stunden Verdunkelung, Der sächsische Erzähler 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8; Oertliche Eindrücke von der Verdunkelungsübung, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 69 v. 23. März, 3; Ost- und Nordsachsen 5 Stunden verdunkelt, Weißeritz-Zeitung 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1; Ganz Nord- und Ostsachsen lag im Dunkeln, Der Freiheitskampf 1938, Nr. 81 v. 23. März, 5; Fünf Stunden Dresden ohne Licht, Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 138 v. 23. März, 4; Wohlgelungene Verdunkelungsübung, Sächsische Volkszeitung 1938, Nr. 70 v. 23. März, 2; Heidenauer und Dresden-Pirnaer Tageblatt 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1).

Die Negativfigur hatte ihre Aufgabe offiziell erfüllt (Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1)

Die lokalen Berichte präsentierten die Verdunkelungsübung am 22. März 1938 als ein spannendes Ereignis mit durchaus offenem Resultat. War man vorbereitet? Wird alles klappen? Die Artikel waren fast durchweg chronologisch aufgebaut, setzten am späten Nachmittag ein, beschrieben die anlaufende Verdunkelung, die einbrechende Dämmerung, schließlich die freudig erwartete und öffentlich gefeierte Entdunkelung um 23 Uhr. Atmosphäre wurde geschildert, ein geplantes Geschehen mit offenen Elementen. Anders also als die Appelle, Belobigungen, das Fahnensenken und Fahnenhissen im ritualisierten Ablauf des NS-Terminplans vor Ort.

Grundsätzlich dominierte das Lob an die Teilnehmer, wurden Fortschritte gegenüber früheren Übungen gerne konzediert. Und doch gab es auch mittlere Bewertungen, abhängig auch vom Zackigkeitsgrad der Berichterstatter. Das Lob war summarisch, doch die kleinen Vergehen, die Fahrlässigkeiten vor Ort dominierten die Zeilen. Die Übung begann vor Eintritt der Dunkelheit, bot also eine gewisse Übergangszeit, die von vielen weidlich genutzt wurde, ehe um 19 bis 19.30 Uhr all dies hätte wirklich sichtbar werden können. Nutzten die Volksgenossen diesen Freiraum aus, trotz virtuell angreifender Bomberflotten? Wie strikt wurde kontrolliert, wenn die Verdunkelung erst langsam, nicht schlagartig einsetzte? Trotz klarer Ansagen im Vorfeld, trotz explizierter Präsentation in der Miesrian-Kampagne, gab es weiterhin Licht in den Hinterhöfen, beleuchtete Firmenschilder, weit scheinende Lichtschleusen. Die Journalisten bewegten sich im urbanen Raum, entsprechend eingängig berichteten sie über den abgeblendeten Verkehr, über kleinere Zwischenfälle und durchaus vorkommende Unfälle. Vor Ort gewannen sie auch einen Eindruck von der Art der Verdunkelung. Neben den fachgerechten Auskleidungen der Fenster und Türen gab es doch eine größere, nicht zu quantifizierende Zahl von Bewohnern, die im dunklen Heim verweilten, das Licht ausgeschaltet ließen oder früh ins Bett gegangen waren. Kritik gab es an den vielen, allzu vielen Passanten, den Gaffern und Schaulustigen auf den Straßen.

Bordsteinanstrich als Orientierungshilfe (Kurt Knipfer und Werner Burkhardt, Luftschutz in Bildern, Berlin s.a. [1935], 63)

Die Beschreibungen waren wertend, vielfach moralisch. Lichtverbrecher und Verräter wurden benannt, zugleich aber die pflichtbewusste Arbeit der Helfer und Amtsträger des Luftschutzbundes anerkennend belobigt. Die Journalisten waren nur selten allein unterwegs, sie berichteten „embedded“, nahmen an Kontrolltouren der Verantwortlichen Teil, sahen den offiziellen Kontrolleuren gleichsam über die Schulter. Dadurch sahen sie mehr als die Passanten, die Bewohner in ihren Wohnungen. Sie besetzten die Höhen, schauten auf die Städte hinunter, vom Weißen Hirsch auf Dresden, vom Völkerschlachtdenkmal auf Leipzig, von Wassertürmen und Anhöhen. Das war Pressedienst für die Leser. So präzise manche Einzelbeobachtung auch war, so tönte doch zugleich eine uneigentliche Sprache, verpackte Kritik in freundlichen Worten. Zugleich aber klang durch die Schilderungen die nicht explizite Rückfrage, ob die Übung nicht nur eine Simulation der Abwehrbereitschaft im Ernstfall sei, sondern die Übung selbst eine Simulation der Übung. Die Menschen agierten wie von ihnen gefordert, doch sie nutzten die begrenzten Freiräume, spielten eine Rolle in einer öffentlichen Inszenierung. Eine Bruchlinie bildeten die wenigen Zuwiderhandlungen, die klar benannt und rasch sanktioniert wurden. Hervorgehoben wurden die stets präsenten Ordnungskräfte und Strafandrohungen, die latenten Drohungen waren in die Reportagen eingewoben. Am Ende aber stand Zufriedenheit, Lob, Freude ob des gemeinsam Erreichten, Freude an der zunehmend wirklichen Luftschutzgemeinschaft eines wieder stolzen und wehrhaften Volkes. Zuversichtlich hieß es: „Aus dem 98prozentigen Erfolg, wie er gestern war, wird dann ein hundertprozentiger werden“ (Der sächsische Erzähler 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8). Es bedurfte daher kaum der solchen Ereignissen immer nachgereichten offiziellen Bewertungen, die da lauteten – gähn –, daß die Verdunkelungsübung „ein voller Erfolg“ gewesen sei (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 144 v. 26. März, 5).

Defensivparolen für aggressive Wehrhaftigkeit (Die Umschau 43, 1939, 1075)

Auch des Miesrians wurde nochmals gedacht, mochte er auch bereits über alle Berge sein. Er rieb sich bei einzelnen Zwischenfällen „gewiß schmunzelnd die Hände“, manches erinnerte an „eine kleine miesrianische Episode“ („Miesrian“ war über alle Berge…, Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1). Gleichwohl war dies eine Ausnahme, denn Miesrian gehörte nach diesem Erfolg der Vergangenheit an, war überwunden. Die verachtens- und bemitleidenswerte Propagandafigur hatte sich selbst erledigt, mochten auch weitere Übungen folgen.

Nicht vergessen werden sollte, dass fast zeitgleich in Mittelböhmen eine ähnliche, von einem virtuellen Luftangriff auf Prag eingeleitete Luftschutzübung stattfand. Die Beanstandungen verdoppelten die jenseits der nördlichen Grenze (Bomben und Finsternis, Sozialdemokrat 1938, Nr. 70 v. 24. März, 4). Sozialdemokratische Gewährsleute waren angesichts dieser Übungen vom baldigen Einmarsch in die Tschechoslowakei überzeugt (Deutschland-Berichte 5, 1938, H. 5, A-24g). Der aber erfolgte anders als erwartet. Auf der Münchener Konferenz vom 29. September 1938 – kurz zuvor hatte in der Kreishauptmannschaft Chemnitz eine weitere Verdunkelungsübung stattgefunden, die sich erstmals am „Dauerzustand“ des Alarms ausrichtete (10 Gebote für Verdunkelungsübungen, Frankenberger Tageblatt 1938, Nr. 212 v. 12. September, 7) – wurde das tschechische „Sudetenland“ dem Deutschen Reich zugesprochen, auch Polen und Ungarn besetzten Teile des Staatsgebietes. Dadurch war keine sinnvolle Verteidigung der zerbrechenden Tschecho-Slowakei mehr möglich, der Einmarsch der Wehrmacht am 15. März 1939 in die westlichen Restgebiete erfolgte ohne militärischen Widerstand, ohne denkbare Luftangriffe. Für die früheren Bündnispartner Frankreich und Großbritannien bot das Münchner Abkommen allerdings einen wichtigen Zeitgewinn. Die damals eingeleiteten Rüstungsanstrengungen waren grundlegend für den Abwehrerfolg Großbritanniens in der Luftschlacht um England 1940/41.

Spiegelungen – der virtuelle und der reale Krieg

Wann beginnen Kriege? Der Rückblick auf den „passiven“ Luftschutz, auf die damit unmittelbar verwobene Miesrian-Kampagne, kann ein Anlass sein, die Periodisierungen der Kriege zumindest etwas in Frage zu stellen. Reichsluftschutzbund, Luftwaffe und Wehrmacht hatten seit Jahren den Krieg in den Köpfen durchgespielt, im Informationsraum hatte man ihn schon fast sicher gewonnen, mochte man den eigenen Friedenswillen auch immer beschwören.

Der Zweite Weltkrieg wurde in Europa wiederum von den Landheeren dominiert, doch er war von Anbeginn der direkten Kriegshandlungen immer auch ein Bombenkrieg. Am 1. September 1939 wurde das polnische Wielun bombardiert, es folgten Angriffe der Luftwaffe auf mehr als 150 polnische Städte ohne Truppen. Das Flächenbombardement von Warschau währte vom 24. bis zum 26. September 1939, und die Bomberbesatzungen töten mehr als 10.000 Menschen (Thomas Hirschlein, Deutsche Luftangriffe auf polnische Städte im Herbst 1939, in: Karin H. Grimme, Stephan Horn und Stephan Lehnstaedt (Hg.), Die Luftwaffe im „Dritten Reich“. Verbrechen, Zwangsarbeit, Widerstand, Berlin 2022, 62-74). Kurz vor der Kapitulation der Niederlande erfolgte am 14. Mai 1940 aufgrund von Übertragungsfehlern ein Bombenangriff auf Rotterdam, mehr als 800 Personen kamen dabei um. Daraufhin begann die britische Royal Air Force (RAF) Bombenangriffe auch auf Ziele östlich des Rheins.

Freude am Bombenkrieg der Luftwaffe – Abscheu gegenüber dem Bombenkrieg von RAF und US-Air Force (Simplicissimus 45, 1940, 493 (l.); ebd. 48, 1943, 239)

Der Miesmacher tauchte nun auch in den noch wenigen Luftschutzräumen auf, typologisch begleitet vom Gerüchtemacher, dem Witze-Reißer, dem Luftschutz-Superspezialist, dem Spaßvogel, dem Stänkerer (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1940, Nr. 288 v. 7. Dezember, 9). Noch konnte man lachen, glaubte an die Effizienz der eigenen Luftabwehr. Erste recht wirkungslose Angriffe auf deutsche Städte, insbesondere auf die Reichshauptstadt Berlin, boten der deutschen Führung seit Mitte August 1940 dann den Anlass für Nacht- und schließlich auch Tagesangriffe auf London und zahlreiche weitere Industrie- und Hafenstädte. Sie führten bis zum Ende regelmäßiger Bombardierungen im Mai 1941 unter beträchtlichen eigenen Verlusten zu etwa 43.000 Toten. Die deutsche Presse, auch große Teile der Bevölkerung, bejubelten diese Attacken, sahen in ihnen nicht nur eine berechtigte Vergeltung, sondern auch Vorboten des nahen Sieges. Begriffe wie „ausradieren“ oder „coventrieren“ unterstrichen den mitleidslosen Jubel über den Tod der anderen.

Technische Fortschritte unterminierten derweil die Handlungsroutinen der Verdunkelungsübungen. Seit 1941 wurden die britischen Bomberflotten zunehmend durch Radarnavigation gelenkt, so dass der Lichtschein am Boden an Bedeutung verlor. Die mechanische Verdunkelung konnte seit 1942 auch durch Infrarotgeräte ausgehebelt werden, die Wärmestrahlung auffingen (Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, 3. Aufl., München 2002, 414-415). Und doch spielte man weiter das Spiel von Sehen und Gesehenwerden, wollte kein Ziel sein: „Mit der Allgegenwart am Himmel hatte der Feind freie Sicht erobert. Wie Gottes strafendes Auge sah er alles, […]. Dies auszuhalten ist schwer, und vermutlich gab das gemeinsame Sinken in die Höhlenfinsternis die Illusion eines Fürsichseins zurück“ (Ebd., 415).

Die Luftschutzgemeinschaft in der Bewährung (Oldenburgische Staatszeitung 1943, Nr. 221 v. 16. August, 5 (l.); Illustrierter Beobachter 18, 1943, Nr. 34, 2)

Die deutschen Abwehrmaßnahmen waren bis 1942 an sich erfolgreich, denn den Briten gelang es nicht, die industriellen und militärischen Strukturen des Deutschen Reiches substanziell zu gefährden. Der aktive Luftschutz, die Kombination aus Früherkennung, Luftwarnung, Flak- und Jägereinsatz erlaubte der RAF einzig den Einsatz der Bomberflotten gegen weiche Ziele, also Flächenbombardements von Groß- und Mittelstädten aus großer Höhe. Auch wenn insbesondere die kombinierten Angriffe der britischen und US-amerikanischen Bomberflotten während der Luftschlacht um Hamburg vom 24. Juli bis 3. August 1943 zu verheerenden Schlägen gegen Hafen und Industrie führten, etwa 34.000 Menschen töteten und mindestens 125.000 verletzten, so blieb dies noch eine Ausnahme. Die Verluste der rasch expandierenden deutschen Rüstungsindustrie lagen 1943 lediglich bei etwa fünf Prozent der Kapazität, im ersten Halbjahr 1944 noch darunter (Werner Wolf, Luftangriffe auf die deutsche Industrie 1942-45, München 1985, 135). Die höchsten Produktionswerte wurden im Herbst 1944 erreicht. Die Grundlagen der Rüstungsproduktion wurden erst durch relativ präzise Angriffe der US-Air Force auf die Metallverarbeitung, die Treibstoffversorgung und das Verkehrsnetz zerbrochen – also durch die Angriffe, die die RAF 1942 aufgegeben hatte. Anders gewiss die Bilanz für die Zivilbevölkerung: „Männer, Frauen und Kinder in Nachthemden, in panischer Angst um ihr Leben in die Keller rennend, sollten die prägenden Gestalten der kommenden Realität darstellen und nicht die uniformierten, unter dem Luftschutzhelm ruhig hervorblickenden Kämpfer“ (Lemke, 2005, 331).

Der Bombenkrieg war unerbittlich, unterstrich die sittliche Verrohung aller Seiten. Die erfolgreicheren Luftwaffen der Alliierten kämpften den Luftschutz nieder. Noch im August 1944 verfügte das Deutsche Reich über 39.000 Luftabwehrbatterien, die von mehr als einer Millionen Menschen bedient wurden (Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkrieges, überarb. Neuaufl., Hamburg 2002, 619). Doch ohne angemessene Jägerunterstützung und angesichts fehlenden Treibstoffs und knapper Munition wurde die Abwehr zertrümmert. Noch aber ertönte die Propaganda des passiven Luftschutzes, etwa aus dem fast täglich bombardierten Ruhrgebiet: „Wenn die Nächte gellen: Alarm, Alarm! / Wenn die Mütter reißen ihr Kind in den Arm, / dann steigt aus der Roten Erde / grimmig der Ruf empor: / Vorwärts ihr Bombenkämpfer, / wir siegen trotz Tod und Terror“ (K. Kränzlein, Lied der westfälischen Bombenkämpfer, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 7 v. 10. Januar, 5). Doch der Reichsluftschutzbund war nicht in der Lage, die Zerstörungen der Häuser wirksam zu begrenzen. Die Vorkehrungen haben jedoch, in Kombination mit dem unzureichenden Bunkerbauprogramm, zahllose Menschenleben gerettet. Dennoch zerstob das Parolengeschwätz von Wehrhaftigkeit und größtmöglicher Sicherheit schnell, wurde von funktionierender Apathie ersetzt.

Gewiss, militärisch einzubeziehen sind auch die beträchtlichen Verluste der Angreifer, erst auf Seiten der Luftwaffe, dann auf Seiten der Alliierten. Letztere wurden auf bis zu 9.000 Flugzeuge geschätzt, auf mehr als 158.000 vielfach hochqualifiziertem „Personal“ (Wolf, 1985, 136-137). Das lag über den Verlusten der alliierten Landstreitkräfte seit der Invasion am 6. Juni 1944. Der eigentliche Beitrag der alliierten Luftstreitkräfte lag in der Verkürzung des Landkrieges. Das hat diesem Land den Einsatz von Atomwaffen erspart, die anfangs für einen Einsatz hierzulande entwickelt worden waren. Doch nicht nur dieses neue Waffensystem falsifizierte die Annahmen der Kriegstheoretiker der Zwischenkriegszeit vom Bombenkrieg. Ein strategischer Luftkrieg konnte den Gegner alleine nicht zur Kapitulation drängen. Gleichwohl zeigten die Bombardements, dass riesige Luftstreitkräfte einen relevanten Beitrag zum Sieg besteuern konnten, wenn sie mit den tradierten Verfahren des Land- und Seekrieges kombiniert wurden. Luftschutz konnte das lediglich verzögern.

Die Zahl der im Deutschen Reich im Luftkrieg getöteten Menschen ist exakt nicht zu beziffern. Gesamtdarstellungen gehen von ca. 600.000 Personen aus, davon etwa 40.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene (Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2017, 503). Die Fachpublikationen schwanken zwischen 380.000 und 635.000 Menschen. In Großbritannien fielen etwa 60.000 Personen den deutschen Bomben- und Raketenangriffen zum Opfer (Süß, 2011, 14-15).

Aufgeschichtete Kriegsopfer auf dem Altmarkt in Dresden, wohl 24./25. Februar 1945 (Bundesarchiv, Bild 183-08778-0001 / Hahn – Wikipedia)

Blicken wir am Ende wieder auf die Heimat des Miesrians, auf Sachsen. Die Bombenangriffe vom 13. bis 15. Februar 1945 auf Dresden, knapp sieben Jahre nach den hier näher analysierten „erfolgreichen“ Verdunkelungsübungen, wurden zum Massaker aus der Luft. Zwischen 22.000 und 25.000 Menschen starben, lediglich sechs britische Lancaster-Bomber wurden abgeschossen (Rolf-Dieter Müller, Nicole Schönherr und Thomas Widera (Hg.), Die Zerstörung Dresdens am 13./15. Februar 1945, Göttingen 2010). Doch der Krieg endete nicht, bis zum 8./9. Mai 1945 starben weitere Zivilisten, alliierte und täglich ca. 10.000 deutsche Soldaten. Die deutschen V2-Angriffe auf Rotterdam endeten erst am 28. März. Die Propaganda hatte derweil andere Töne angeschlagen, sang aber weiter das Lied der trotzigen Luftschutzgemeinschaft, der unbesiegbaren Volksgemeinschaft: „Der Menschheit Würde ist auch in unsere Hand gegeben, darum ist das viel zitierte und oft mißbrauchte Schlagwort ‚Sieg oder Untergang‘ zur schmucklosen Wahrheit und nicht mehr und nicht weniger als der Weisheit letzter Schluß für uns geworden“ (Hans Hauptmann, „Der Menschheit Würde…“ Gedanken zu Dresdens Schändung, Mittagsblatt 1945, Nr. 41 v. 17. Februar, 2).

Wann beginnen Kriege? Wenn man die Miesmacher und Miesriane zur Seite drückt, wenn man glaubt Kriege gewinnen zu können und nicht verhindern zu müssen.

Uwe Spiekermann, 4. Oktober 2025

Dieser Artikel ist dem Andenken meines Großvaters Lorenz Hammer gewidmet (Entnazifizierung NRW Abteilung Rheinland, SBE Hauptausschuss Landkreis Brilon NW 1095, Nr. 9374). Er schwieg über den Weltkrieg, doch die Ausnahme bildete der Einsatz seiner Einheit – er war nach eigenen Aussage Stabsfeldwebel bei den Pionieren – im bombardierten Dresden nach dem Massaker aus der Luft vom 13. und 14. Februar 1945. Er sagte immer, dass sein von Kindheit an verkrüppelter kleiner Finger Folge einer Kriegsverletzung gewesen sei – und hob ihn dann zur Anklage gen Himmel, von dort, wo damals der Tod herkam. Ich habe ihm nicht ein Wort geglaubt; doch diese Anklage überschattete das Leben seiner Familie, inklusive meiner heute vor 87 Jahren geborenen Mutter.

Neues Brauen: Valentin Lapp und das „Original alkoholfreie Bier“ 1896-1905

Bier ist ein mythenschwangeres Gebräu, dessen geschichtswissenschaftliche Erforschung bestenfalls in den Kinderschuhen steckt. PR-Handreichungen und Frohsinnsvorlagen von Brauereien, Auftragsjournalisten und selbsternannten Bierexperten dominieren nahezu unwidersprochen, feiern das recht homogene Produkt Bier als eines voller Charakter, sind selbst aber billigste Ware. Ähnliches gilt auch für den wachsenden Markt alkoholfreier Getränke, über dessen Geschichte wir, abgesehen von wenigen Markenartikeln, kaum etwas wissen. Niemand wird daher ignorant oder recherchefaul geziehen, wenn er das erste alkoholfreie Bier hierzulande in die 1950er Jahre datiert – oder gar in die 1980er Jahre (vgl. etwa Franz Meußdoerffer und Martin Zarnkow, Das Bier. Eine Geschichte von Hopfen und Malz, München 2014 [ebook]). Der Blick ist auf den Wachstumsmarkt gerichtet, historische Entwicklungen und Pfadabhängigkeiten erscheinen als unwichtiges Beiwerk, werden wie Schaum zur Seite gewischt.

Dieser Beitrag wird den Blick weiter zurückwenden. Hierzulande wurde das erste über mehrere Jahre mit Erfolg angebotene alkoholfreie Bier deutlich vor dem Ersten Weltkrieg vom fränkisch-sächsischen Braumeister Valentin Lapp (1856-1908) produziert und vermarktet. Lapp war allerdings nicht der „Erfinder“ des alkoholfreien Bieres, denn schon kurz zuvor gab es eine Welle immer neuer alkoholfreier Angebote, die teils als „alkoholfreie Biere“ bezeichnet wurden, den heutigen Kriterien dieses Begriffs zumeist jedoch nicht entsprachen. Lapps „Original alkoholfreies Bier“ war es jedoch – und eine historische Analyse dieses Produkt erlaubt zudem, die vielen Schwierigkeiten zu diskutieren, die nicht nur zum Marktaustritt Lapps, sondern auch zum Scheitern vieler anderer alkoholfreier Biere dieser Zeit führten. Wenn Sie dies mitnehmen, wissen Sie schon mehr als viele vermeintliche Experten und Journalisten. Falls Sie jedoch an mehr als oberflächlichem Wissen interessiert sind, dann lade ich Sie ein, sich mit mir auf eine verwickelte, nicht immer eindeutige Reise in die bis dato unbekannte Vergangenheit des neuen alkoholfreien Brauens zu begeben.

Dieser Artikel ist zugleich der erste von vier geplanten Beiträgen, die sich am Beispiel des alkoholfreien Bieres mit der Neugestaltung des Trinkens im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. Drei Fallstudien stehen am Anfang: Das neue Brauen von Valentin Lapp behandelt den Umbruch beim Brauen selbst; die Untersuchung des 1901 reichsweit eingeführten „alkoholfreien Bieres“ Hopkos führt zurück in die frühe Werbewelt nicht alkoholischer Limonaden; das vornehmlich im Ruhrgebiet angebotene Trinkmit der Bochumer Schlegelbrauerei steht für die Integration alkoholfreier Biere in das Sortiment marktnah produzierender Brauereien. Ein vierter Artikel wird dann die entwickelten Fäden zusammenziehen, wird den mit den industriell gefertigten Nichtalkoholika verbundenen Bruch der deutschen Trinkkultur um 1900 zusammenführend analysieren.

Alkohol als Gefahr, Bier als hilfreiches Übel

Am Anfang gilt es erst einmal Abstand zu gewinnen: Im Gegensatz zu gängigen Beschwörungen des guten alten Bieres war dieses schwachalkoholische Getränk bis weit ins 19. Jahrhundert hinein von höchst heterogener Qualität. Häusliches und gewerbliches Brauen waren stark wetterabhängig, verarbeiteten Rohwaren unterschiedlicher Herkunft und Qualität, nutzten häufig verunreinigtes Wasser. Das änderte sich seit den 1840er, vornehmlich aber seit den 1860er Jahren – und dies ist hier nicht näher darzustellen (dazu bald Stefan Manz und Uwe Spiekermann, Making Food Empires: German Technology and Global Mass Production, 1870–1914, Oxford UP 2026, Kap. 7 und 8). Verbesserte chemische Kenntnisse, agrarwissenschaftliche Interventionen, Wissenstransfer von England und Böhmen, ein immer leistungsfähigerer Maschinenbau, ein beträchtlicher Qualifikationsschub durch Fachschulen, Lehrbücher und Fachzeitschriften folgten; sie alle erlaubten Biere neuer Qualität, die nicht nur hierzulande Kunden fanden. Die Wirtschaftsreformen des liberalen Zeitalters ermöglichten stetig größere Betriebe, Aktiengesellschaften prägten zunehmend das Geschäft, Kühltechnik, Pasteurisierung, Reinhefen und neue Transportmittel erlaubten den innerdeutschen Versand, zunehmend auch den internationalen Absatz. Im Gegensatz zu den Aussagen der Hochglanzhistorie führte die Disruption des Bierbrauens in den 1870er und 1880er Jahren jedoch keineswegs zu durchweg hochwertigen Angeboten.

Intensiv geführte Debatten über „Dividendenjauche“ spiegelten vielmehr die weiterhin beträchtlichen Probleme des modernen Brauens, dem vornehmlich oberhalb der Mainlinie vielfach mit den Hilfsmitteln der modernen Chemie abgeholfen wurde. Konservierungs- und Farbstoffe waren nicht unüblich, Hopfensubstitute, Aroma- und Süßstoffe prägten viele Angebote. Ökonomisch waren die Bierbrauereien eine der wichtigsten Träger der Früh- und Hochindustrialisierung, stellten nach Umsatz und Kapitaleinsatz die Textil-, Montan- und chemische Industrie noch um die Jahrhundertwende in den Schatten. Dabei half nicht zuletzt der Aufbau neuartiger Vertriebsstrukturen durch Wirtshäuser und Gaststätten, Biergärten und Kneipen. Als schwachalkoholisches Getränk diente Bier aber auch vielen Alkoholgegnern als Hilfsmittel gegen den dämonisierten Schnapsteufel, also eine sich im frühen 19. Jahrhundert etablierende, vornehmlich vom Branntwein geprägte Alkoholkultur.

Wie gegen das Bier kämpfen? Rausch und Stammtisch als männliche Alltagsfreuden (Fliegende Blätter 85, 1886, Nr. 2161, Beibl., 5 (l.); ebd. 68, 1878, 57)

Der 1883 gegründete „Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“ gab der schon in den 1840er Jahren starken Temperenzbewegung neue Impulse (Heinrich Tappe, Der Kampf gegen den Alkoholmißbrauch als Aufgabe bürgerlicher Mäßigkeitsbewegung und staatlich-kommunaler Verwaltung, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum, Münster 1987, 189-235, insb. 199-210). Der Feind war der Branntwein, vor allem der billige Kartoffelschnaps, der durch die noch nicht regelmäßig getilgten Fuselöle doppelt toxisch wirkte. Im Gründungsjahr des Vereins wurden fast zwei Drittel des Alkohols im Deutschen Reich als Spirituosen konsumiert, sechs Prozent als Wein, Bier lag bei etwa dreißig Prozent. Der nun einsetzende, staatlich und kirchlich breit unterstützte Kampf gegen den Alkohol konzentrierte sich erst einmal auf das Hauptübel, wollte man doch nicht länger Konsummengen von knapp zehn Liter Weingeist pro Kopf der Erwachsenen hinnehmen (die heutigen Mengen liegen übrigens trotz deutlich sinkender Tendenz noch höher; und bis heute wird Wein hierzulande nicht, Bier nur äußerst moderat besteuert). Bier und Wein blieben lange Bundesgenossen der Temperenzvereine, die 1903 erfolgte Spaltung des Deutschen Vereins in „Ent­haltsame“ und „Mäßige“ verwies jedoch auf letztlich nicht mehr überbrückbare Spannungen innerhalb der Antialkoholbewegung (Hasso Spode, Alkohol und Zivilisation. Berauschung, Ernüchterung und Tischsitten in Deutsch­land bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1991, 169-193).

Warum aber erschien Bier erträglich? Zum einen war es eine wichtige Übergangsdroge, die den Verzicht auf Spirituosen einfacher gestalten konnte. Bier hatte zudem nur einem Alkoholholgehalt von zumeist drei bis vier Prozent, war damit deutlich alkoholärmer als die heutigen Pilsener mit Anteilen von etwa fünf Prozent. Bier war aber zugleich ein integraler Bestandteil der Alltagskost. Es war nicht, wie heute, vorrangig ein Stimmungswandler. Es war „flüssiges Brot“, ja, eine kräftigende Alltagsspeise. Bier materialisierte Ruhe und Geselligkeit, regte die Lebensgeister, erfrischte im Sommer, löschte den Durst nach körperlicher Arbeit. Der Biertrinker mochte nach Ansicht der vornehmlich bürgerlichen Temperenzler faul und träge sein, doch anders als der Trunkenbold, der Säufer, galt er nicht als halt- und charakterloses Subjekt, musste nicht vorrangig therapiert, sondern konnte in die richtige, die mäßige Richtung gelenkt werden. Auch in Bierhallen hieß es: „Wo man Bier trinkt, kannst Du ruhig lachen, / Böse Menschen trinken schärf’re Sachen“ (Bayerisches Gastwirths-Zeitung 15, 1894, Nr. 23, 6).

Geselliges Miteinander in einem Berliner Kellerlokal (Illustrirte Zeitung 82, 1884, 415)

Aufbau einer alkoholfreien Gegenkultur

Neben repressive (und durchaus wirksame) Maßnahmen — etwa härtere Strafgesetze gegen Alkoholdelikte, die wegweisende Branntweinsteuer von 1887 und restriktivere Konzessionsvergaben für Gaststätten und Kleinhandel — traten aber von Beginn an „positive“ Alternativen zum Alkoholkonsum. Sie waren Ausdruck einer recht einseitigen fürsorglichen Ausrichtung auf die Erziehung des männlichen Industriearbeiters durch Kirchen, Wohlfahrtspfleger, Wissenschaftler und Sozialstatistiker. Der beträchtliche Alkoholkonsum der eigenen Berufsstände und der Frauen blieben eher im Hintergrund – sieht man einmal von den akademischen Studiosi ab. Das war Sozialreform über Bande, denn schlechte Wohnverhältnisse und das enge Miteinander von Familie, Verwandtschaft und Schlafgängern führten die Betroffenen fast zwingend in die Wirtshäuser und Kneipen, Saufkasinos und Kaschemmen. Konnte man deren Quasimonopol für Feierabend und Wochenende jedoch durchbrechen, so hoffte man mittel- und langfristig die „Trunksucht“ erst beim Branntwein, dann vielleicht auch beim Bier zu vermindern. Dazu sollten zuerst Schankstätten neuen Typus gegründet werden, in denen der gefährliche Trunk durch einen labenden Trank erst ergänzt und dann ersetzt wurde.

In vielen Artikeln und Broschüren präsentierte man die Utopie einer nichtalkoholischen Gaststätten- und Getränkekultur (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur. Ein historischer Rückblick, Aktuelle Ernäh­rungsme­dizin 21, 1996, 29-39). Besseres sollte an die Stelle des alkoholtriefenden Alten treten. Man möge, so hieß es in einer Petition des Centralverbandes der evangelisch-christlichen Enthaltsamkeitsgesellschaften in Deutschland zur Bekämpfung der Trunksucht, „statt der Branntweinschänken mehr Kaffeeschenken, Kaffeebuden, Theebuden, Kaffee- und Theewagen, sowie Lokale mit warmen Speisen konzessionir[en, US] und die Steuern auf Kaffee, Thee und alkoholfreies Bier ermäßig[en, US]“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Leg. 6, Sess. 1884/85, Bd. 6, Anlagen, Berlin 1885, 934).

Dies spiegelt unfreiwillig die noch enge Palette nichtalkoholischer Getränke: Es ging um (Ersatz-)Kaffee und zumeist heimische Teemischungen, die zwar wärmen konnten, nicht aber erfrischen und den Durst löschen. Malzkaffee sollte erst in den 1890er Jahren neue geschmackliche Optionen eröffnen. Das hätten grundsätzlich auch Fruchtsirups, Mischgetränke aus Wasser und Saft sowie die von Frauen gern getrunkene Mandelmilch tun können, doch erstere waren zumeist überzuckert, litten an dem noch brenzligen Pasteurisierungsgeschmack. Hinzu kam das Wasser resp. teures Mineralwasser als eigentliches Temperenzgetränk; und natürlich die Frischmilch. Seltersbuden folgten, nach der Jahrhundertwende auch ein vor allem im Rheinland und Westfalen erstaunlich umfangreiches Netzwerk von Milchhäuschen. Vor diesem Hintergrund ist die ja erst einmal aufhorchen lassende Nennung von „alkoholfreiem Bier“ in der Petition besser verständlich. Darunter verstand man damals aber kohlensäureimprägnierte Limonaden mit bierähnlichem Geschmack, meist aus Großbritannien importiertes Ingwerbier. Doch ein Pendant zur vielgestaltigen, von den britischen und dann auch US-amerikanischen Abstinenzlern vorangetriebenen Alltagskultur karbonisierter Limonaden und Sirupe gab es hierzulande eben nicht (Colin Emmins, Soft Drinks, Merlins Bridge 1991), Folge der lange stärkeren Regulierung der Apotheken und Drogerien. Coca-Cola sollte sich in Deutschland erst nach mehr als vierzig Jahren etablieren. Limonadenessenzen konnte man hierzulande kaufen, gewiss, doch der Geschmack des oft noch selbstbereiteten Tranks war gewöhnungsbedürftig, stand häuslich bereiteten Beerensäften deutlich nach (Kladderadatsch 28, 1875, Nr. 10, Beibl. 2, 3). In einer großenteils außerhäuslichen, öffentlichen Trinkkultur ging es jedoch um neue Marktangebote, konsumierbar im geselligen Miteinander.

Alkoholfreie Trinkhalle für Mineralwasser und Himbeersirup (Hagener Zeitung 1892, Nr. 86 v. 11. April, 4)

Angesichts dieser Malaise der Alternativen gewannen Bestrebungen an Boden, die alkoholhaltigen Weine und das Bier zu entgiften. Der Vorteil war offenkundig, musste man doch die bestehenden Trinkgewohnheiten nicht grundlegend ändern. Dadurch konnte man zudem den bisher duldend akzeptierten schwächeren Alkoholika langfristig die Grundlage entziehen. Welch eine Chance, zumal sich die Deutschen so gut wie kaum eine andere Nation auf die chemisch-technologische Veränderung der Nahrungsmittel verstanden. Das hatte man bereits bei anderen Genussmitteln gezeigt, mochten diese auch weniger erhitzt diskutiert worden sein (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Göttingen 2018, 182-185). Es gab Gesundheitspfeifen und zahlreiche Verfahren für nikotinarme Zigarren, nikotinärmere Tabake dienten neuen Sanitätszigaretten. Auch die Entgiftung des Kaffees war unternehmerisches Ziel (Ein Kaffee ohne Kaffein, Die Umschau 2, 1898, 813-814), mochte es auch bis 1906 dauern, ehe Kaffee HAG diese technische Utopie überzeugend verwirklichte.

Eine Welt ohne Giftstoffe? Anti-Nicotin, nikotinarme Zigaretten aus Dresden (Offizieller Katalog der Deutschen Kunstausstellung Dresden 1899, Dresden 1899, Werbung, 14)

Die Entgiftung der Getränke begann beim Obstwein. Das Deutsche Reich war kein wirkliches Obstland. Der Obstbau lieferte jedoch regional und saisonal teils beträchtliche Mengen an Rohwaren, die kaum von den bestehenden Konservenfabriken, sondern vorrangig von den Hausfrauen eingekocht, zu Mus oder Saft verarbeitet wurden. Ausgepresstes Obst verdarb jedoch rasch, Hefe- und Schimmelpilze forderten ihren Tribut. Leistungsfähige Konservierungsmittel stoppten zwar die Gärung, beeinträchtigten aber den Geschmack. Entsprechend vergor man Obst vor dem allgemeinen Aufkommen der Hitzesterilisierung zum schwachalkoholischen Haustrank, bei dem der aus Äpfeln bereitete Most hervorragte. In den 1890er Jahren begannen dann systematische Forschungen über die Pasteurisierung von Fruchtsäften, einem Verfahren also, das in der Brauerei seit Jahrzehnten angewandt wurde, um die Haltbarkeit des Bieres zu erhöhen ([Julius] Kochs, Technisches aus dem Gebiete der alkoholfreien Obstgetränke, Die Volksernährung 2, 1927, 246-247). Den Unterschied machte der für seine Riesling-Sorte bekannte Schweizer Pflanzenphysiologe Hermann Müller-Thurgau (1850-1927). Er pasteurisierte frisch gepresste Fruchtsäfte bei 60-70 °C, ermöglichte dadurch sterile Fruchtsäfte, die nicht weiter vergoren (H[ermann] Müller-Thurgau, Die Herstellung unvergorener und alkoholfreier Obst- und Traubenweine, Frauenfeld 1896; J[ulius] Neßler, Alkoholfreie Trauben-, Obst- und Beerenweine, Wochenblatt des Landwirthschaftlichen Vereins im Großherzogthum Baden 1898, 442-443). Sie sollten Most und Obstwein ersetzen, wurden daher ab 1896 (und bis zum Weingesetz 1909) als „alkoholfreie Weine“ vermarktet. Dieser Begriff bezeichnete also keine Entgiftung, keine Entalkoholisierung, wohl aber einen alkoholfreien Ersatz für ein gängiges alkoholhaltiges Alltagsgetränk. Temperenz über Bande.

Alkoholfreie Weine nach Müller-Thurgau (Vegetarischer Vorwärts 4, 1897, 194)

Valentin Lapp: Lebensdaten eines führenden Technologen der deutschen Brauwirtschaft

Zurück zum Bier. Die kapitalkräftige Produktion, die zunehmende Standardisierung ansprechender Qualitäten, die reichsweite Präsenz des dunklen Münchner Biers und auch des von nationalistischer Seite strikt bekämpften böhmischen Pilseners sowie die vor allem in den Städten rasch wachsende Zahl von Gaststätten bildeten die Grundstrukturen für einen stetigen Anstieg des Bierkonsums von 1880 79 Litern pro Kopf der Erwachsenen über 1890 100 Liter auf 119 Liter 1900. Damit aber war der Markt gesättigt, denn die Antialkoholbewegung konnte nicht nur den Spirituosenkonsum massiv verringern, sondern setzte nun auch der Brauwirtschaft zu: 1913 lag man bei 103 Litern pro Kopf. Auch wenn die technologische Innovationskraft der deutschen Brauereien Mitte der 1890er Jahre teils schon an die großenteils von deutschen Emigranten geprägte US-amerikanische Bierindustrie übergegangen war, so war man aufgrund dieses Marktdrucks doch emsig bemüht, die eigene Produktion zu optimieren, um preiswerte, hochwertige und zugleich vielgestaltige Biere anzubieten.

Womit wir schließlich bei Valentin Lapp angekommen sind. Er war einer von vielen Technologen, deren Innovationskraft die deutschen Brauereien seit den 1870er Jahren an die Weltspitze hatte treten lassen. Lapp war Bierbrauer durch und durch, eine reibungslos funktionierende Produktion standardisierten Biers war für ihn Grundlage jeden Geschäfts. Er war Prozessoptimierer, ein steter Tüftler, der allerdings über die Entwicklung neuer Verfahren kaufmännischen Pragmatismus mehrfach aus den Augen verlor. Um den späteren Produzenten und Patentinhaber des „Original alkoholfreien Bieres“ genauer einschätzen zu können, ist ein Blick auf die nur teilweise zu rekonstruierende Biographie erforderlich.

Valentin Lapp wurde als Martin Valentin Lapp am 11. Mai 1856 in Neustadt a.d. Aisch, also einer zwischen Würzburg und Nürnberg gelegenen mittelfränkischen Kleinstadt geboren. Er war, wie seine Eltern Christoph Stefan Lapp und Anna Margaretha, geb. Herold, evangelisch-lutherischer Konfession (StdA Dresden, 6.4.25, Eheaufgebote/Eheregister 1876-1922, 1883, Nr. 448). Lapp wuchs in einem bürgerlichen Elternhaus auf, sein 1894 verstorbener Vater war zumindest im Jahrzehnt zuvor Privatier (Aischthalbote 1894, Nr. 24 v. 28. Januar, 2). Zwei jüngere Brüder lassen sich nachweisen, einerseits Johann Paulus Candidus (1858-1941), anderseits Johann Matthäus Stephan Leonhard (1860-1910) (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Nr. 11121, Sterberegister, Nr. 903, Frankfurt IV, 1941, Nr. 1193/IV; ebd. Nr. 9451, Heiratsregister 1849-1930, Bornheim, 1886, Bl. 446, Nr. 1036; ebd. Nr. 10667, Sterberegister Frankfurt II, 1910, Nr. 373).

Am Maifeiertag 1883 verlobte sich Valentin Lapp, damals bereits Braumeister in Dresden, mit der aus der sächsischen Hauptstadt stammenden Hausbesitzertochter Selma Anna Killing, die Heirat folgte am 15. Oktober (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 121 v. 1. Mai, 2227; ebd. 1883, Nr. 294 v. 21. Oktober, 5332). Die evangelisch-lutherische Gattin stammte aus solventem Haus. Ihr verwitweter Vater war Schiffseigner, Weinhändler und Hausbesitzer (StdA Dresden, 6.4.25, Eheregister 1876-1927, 1883, Nr. 448). Am 1. Dezember gebar Selma Lapp einen Sohn, Arthur Alexander. Die Geburtsanzeige erfolgte mehr als eine Woche später durch die Hebamme, am 20. Dezember verstarb die junge Mutter im Alter von nur 20 Jahren (StdA Dresden, 6.4.25, Geburtsregister 1876-1907, 1884, Nr. 3304; ebd., Sterberegister 1876-1957, 1884, Nr. 2909; Dresden, Kirchliche Wochenzettel 1703-1902, Taufanzeigen, 1865; Leipziger Tageblatt 1884, Nr. 358 v. 23. Dezember, 6909). Valentin Lapp verließ kurz darauf Dresden und heiratete nach angemessener Trauerzeit 1886 ein zweites Mal, nun die in Bamberg wohnhafte Restaurationstochter Marie, geb. Greß (Allgemeine Zeitung für Franken und Thüringen 1886, Nr. 143 v. 23. Juni, 2). Doch neuerlich war die Ehe vom Tod überschattet, Sohn Arthur starb zweijährig kurz vor Weihnachten.

Tod der ersten Ehefrau Selma 1884 und des gemeinsamen Sohnes Arthur 1886 (Dresdner Anzeiger 1884, Nr. 360 v. 15. Dezember, 15 (l.); Bamberger Volksblatt 1886, Nr. 287 v. 18. Dezember, 3)

Dieser Tod muss Valentin Lapp tief getroffen haben, schaltete er doch mehrere größere Anzeigen, ebenso eine Danksagung (Allgemeine Zeitung für Franken und Thüringen 1886, Nr. 296 v. 18. Dezember, 2; Bamberger Neueste Nachrichten 1886, Nr. 347 v. 18. Dezember, 4; ebd. 1886, Nr. 350 v. 21. Dezember, 4). Erst knapp fünf Jahre später folgte am 12. November 1891 ein weiterer Stammhalter, der Sohn Theodor (Bamberger Neueste Nachrichten 1891, Nr. 312 v. 13. November, 3). Obwohl Lapp sowohl in Bamberg als auch seiner späteren Wirkungsstätte Leipzig gewiss lokale Prominenz besaß, konnte ich keine weiteren Familienanzeigen finden. Allerdings heiratete er am 12. April 1902 noch ein drittes Mal, nämlich die 1866 in Mähren im Westerwaldkreis geborene Emma Amalie Keppler, Tochter des in Brünn ansässigen Karl Baron Keppler (1817-1891) und seiner Frau Therese, geb. Engelhard (1828-1911). Valentin Lapp heiratete also standesgemäß, doch nach den beiden Schicksalsschlägen in den frühen 1880er Jahren rückte das Berufsleben in den Vordergrund seines Daseins.

Braumeister in Dresden 1881-1884

Nach einer wahrscheinlich im heimischen Franken absolvierten Ausbildung findet man Valentin Lapp 1881 als Braumeister des Hofbrauhauses Dresden (Allgemeine Hopfen-Zeitung 21, 1881, 823). Dresden, damals eine rasch wachsende Metropole mit knapp 200.000 Einwohnern, war mittlerweile vom bayerischen Lagerbier dominiert, auch böhmisches Pilsener gewann rasch Marktanteile (Analysen Dresdner Biere, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen NF 3, 1880, 227-230). Das Hofbrauhaus war 1872 als Aktiengesellschaft gegründet worden, eine Folge der Deregulierung durch die erste Aktienrechtsnovelle von 1870 und dem unmittelbar folgenden Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch. Mit einer Kapitalisierung von 1,761 Mio. M übertraf es die lokale Konkurrenz deutlich (Mason, The Joint Industrial Enterprises of Saxony, Reports form the Consuls of the United States on the Commerce, Manufactures, etc. of their Consular Districts 4, 1881, 453-457, hier 455). Das Hofbrauhaus besaß ein damals für die meisten Brauereien eher unübliches Flaschenbiergeschäft, ferner eine integrierte Malzfabrik (Berliner Börsen-Courier 1889, Nr. 239 v. 12. Mai, 16). Valentin Lapp konnte dadurch seine erlernten Kenntnisse vielgestaltig erweitern und auf den technisch neuesten Stand bringen.

Das wird wohl auch der Grund für einen kurz darauf folgenden Wechsel zur ebenfalls 1872 gegründeten Dresdner Gambrinus Brauerei gewesen sein, entstanden aus der 1860 gegründeten Privatbrauerei Ripl & Sohn Zum Gambrinus (Heinrich Gebauer, Die Volkswirtschaft im Königreiche Sachsen, Dresden 1893, 541). Hier konnte der „liebenswürdige und auf der Höhe der Zeit stehende Braumeister“ (Gambrinus 11, 1884, 387) jedenfalls neue Maschinen einführen und testen, darunter vor allem die Läuterzentrifuge des Frankfurter Braumeisters und Zivilingenieurs Conrad Zimmer. Die Gambrinus Brauerei produzierte zudem deutlich größere Biermengen als das Hofbrauhaus (Mason, 1881, 455).

Die Erste Bamberger Export-Brauerei Frankenbräu 1885-1893

Die Erste Bamberger Export-Bierbrauerei „Frankenbräu“ nach der Fertigstellung (Bier-Export-Blatt 2, 1886, Nr. 13, 1)

1885 verließ Valentin Lapp dann Dresden für eine neue Karriere in Bamberg, etwa 55 km nordöstlich von seiner Geburtsstadt gelegen. Hier hatte der jüdische Kaufmann und Ziegeleibesitzer Simon Lessing (1843-1903), dessen Vater, der Hopfenhändler Samuel Lessing (1808-1878) sich 1862 in Bamberg angesiedelt hatte, 1885 ein etwa 22.500 m² großes Areal mit einer modernen Brauerei und Mälzerei bebauen lassen (Bamberger Neueste Nachrichten 1886, Nr. 4 v. 4. Januar, 2). Am 5. November 1885 kaufte die neu gegründete „Erste Bamberger Export-Bierbrauerei Frankenbräu“ den Betrieb. Regionale Investoren steuerten 1,1 Mio. M Kapital bei (Bayerische Handelszeitung 15, 1885, 660). Valentin Lapp war nicht Mitgründer, wohl aber Vorstand der Direktion (Handbuch der bayerischen und württembergischen Actiengesellschaften 4, 1886, 54). Als auf dem Fabrikgelände residierender Brauereidirektor hatte er sowohl die Produktion vor Ort als auch das anvisierte Exportgeschäft ins Laufen zu bringen. Nicht alle waren vom Erfolg der Neugründung überzeugt: „Ob eine neue Exportbrauerei unter den gegenwärtigen Verhältnissen noch zeitgemäß ist, möchten wir bezweifeln und wir glauben auch nicht, daß wenn die Aktien an den Markt gebracht werden sollten, sich viele Liebhaber finden würden“ (Erste Bamberger Export-Bierbrauerei „Frankenbräu“ in Bamberg, Münchener Fremdenblatt 1885, Nr. 336 v. 2. Dezember, 5). Andere jedoch wünschten „dem Etablissement unter der vorzüglichen Leitung des tüchtigen und erprobten Direktors Herrn Lapp Blühen und Gedeihen“ (Bamberger Neueste Nachrichten 1886, Nr. 4 v. 4. Januar, 2).

Während die meisten Brauereien für den lokalen, gegebenenfalls für den regionalen Markt produzierten und ihr Bier somit frisch in Fässern in die weitere Nachbarschaft verbrachten, zielte eine Exportbrauerei deutlich weiter – auch wenn das Ausland schon abseits der bayerischen Grenzen begann, war das Deutsche Reich doch noch in fünf Brauereigebiete mit eigenen Standards, Steuern und Zöllen aufgeteilt. Dies erforderte eine technisch versierte Produktionstechnologie, vielfach auch die Pasteurisierung des frisch gebrauten Bieres. Die neue Brauerei war von dem Dortmunder Architekten Plücker als eine Musteranlage konzipiert worden, Lapp beaufsichtige gleichermaßen Bau und die von der renommierten Chemnitzer Maschinenfabrik Germania stammende maschinelle Einrichtung. Besonderer Wert wurde auf die hohe Qualität der Vorprodukte gelegt, ein betriebsinternes Darrensystem half die Malzverarbeitung zu kontrollieren. Zwei moderne Eismaschinen und umfangreiche Kelleranlagen erlaubten eine angemessene Reife des Lagerbiers, zwei Dynamos speisten die Lichterzeugung, eine Dampfmaschine trieb die Fabrik an. Die anvisierte Kapazität von 100.000 Hektolitern pro Jahr konnte grundsätzlich weiter erhöht werden (Die Erste Bamberger Export-Bierbrauerei „Frankenbräu“, Bier-Export-Blatt 2, 1886, Nr. 13, 2). Schon vor Produktionsbeginn wurden erste Lieferverträge mit großen preußischen Gaststätten abgeschlossen, im März 1886 erhielt Lapp Prokura. Dennoch dürfte der kaufmännische Betrieb schwerpunktmäßig beim Bürochef Albert Udo Ellerbrock gelegen haben (Bayerische Handelszeitung 16, 1886, 252).

Bierexport von Bayern nach Schlesien und den USA (Breslauer Zeitung 1886, Nr. 643 v. 15. September, 4 (l.), Army Navy Journal 33, 1895, Nr. 1676, 79)

Lapp dürfte von Anbeginn versucht haben, einerseits die geschmacksbeeinträchtigende Pasteurisierung zu verbessern. Stolz annoncierte man „pasteurisirtes Bier in Fässern für überseeischen Export, System Lapp“, erhielt dafür Preise, bewarb derartiges „tropensicheres Faßbier“ (Frankenbräu unter dem Aequator, Würzburger Stadt- und Landbote 1891, Nr. 136 v. 12. Juni, 4). Anderseits dürfte Lapp an der Kohlensäureimprägnierung der Biere gearbeitet haben, da dieser Zusatz das Produkt vollmundig und frisch hielt. Schließlich etablierte er eigene Eis-Waggons, konnten damit auch weiter entferntere Kunden „frisch“ beliefert werden (Bayerisches Bier-Export-Blatt 4, 1888, Nr. 56, 8). All dies waren wichtige Fertigkeiten, die wenige Jahre später in die Produktion seines „Original alkoholfreien Bieres“ mit einfließen sollten. Anregungen dürfte er auch bei einer mehrwöchigen Geschäftsreise nach Schweden gewonnen haben, denn dort war nicht nur die Temperenzbewegung alltagsbestimmend, sondern dort setzten Forschungen zu karbonisierten Limonaden und anderen alkoholfreien Getränken früher ein als im bierseligen Franken (Bamberger Volksblatt 1890, Nr. 143 v. 3. Juli, 3). 1896 wurden im norddeutschen Brauereigebiet pro Kopf 85 Liter gebraut, während es in Württemberg 236 und in Bayern satte 282 Liter waren (Bayerische Gastwirths-Zeitung 18, 1897, Nr. 30, 1).

Unter Valentin Lapps Leitung wurde die Frankenbräu weiter vergrößert und konnte den Ausstoß auf beachtliche Höhen schrauben. Von 1887 auf 1888 verdoppelte er sich auf 68.000 hl, von denen 65.000 exportiert wurden. 1889 stieg der Wert auf 74.000 (71.000 Export), 1890 auf 75.000 hl. Doch die vor allem in den USA einschneidende Wirtschaftskrise 1890/91 ließ die Exporte auf 52.000 hl zurückgehen. 1891 sank der Ausstoß erstmals auf 70.000 hl, neue Marken wie dunkel und gold-gelb gebraute „Deutsche Würze“ konnten dies nicht verhindern. Das galt auch für den auf vier Eis- und Kühlmaschinen sowie drei Dampfmaschinen ausgeweiteten Maschinenpark (Angaben n. Gambrinus 16, 1889, 232; ebd. 17, 1890, 338; ebd. 18, 1891, 369; Gambrinus 19, 1892, 334). Frankenbräu blieb eine exportorientierte Brauerei, repräsentierte deutsches Bier in zahlreichen Auslandsmärkten, beschickte selbstverständlich auch die 1893er Weltausstellung in Chicago (Condensed official catalogue of interesting exhibits […], Chicago 1893, 18).

Werbung für Frankenbräu in einer deutschen Fachzeitschrift (Bayerisches Bier-Export-Blatt 3, 1887, Nr. 29, 8)

Doch kurz danach warf Valentin Lapp die Brocken hin, in der Fachpresse hieß es freundlicher: „Herr Valentin Lapp, der langjährige und mit vielen Erfolgen thätige technische Director der Exportbrauerei ‚Frankenbräu‘ in Bamberg hat auf seine Stelle resignirt“ (Gambrinus 20, 1893, 879). Parallel wurde bekannt, dass er eine Brauerei in Leipzig-Lindenau gekauft hatte (Bayerisches Brauer-Journal 3, 1893, 535; Exportbrauerei „Frankenbräu“, Münchner Neueste Nachrichten 1893, Nr. 511 v. 8. November, 4). Am 27. Dezember 1893 wurde Lapp offiziell durch den zuvor in Arnstadt und Leipzig tätigen Brauereidirektor Elvir Faber ersetzt (Bayerische Handelszeitung 24, 1894, 44).

Anlass für diese einschneidende Veränderung dürfte der nur dank der Zusammenarbeit fast aller Investoren vermiedene Konkurs der Frankenbräu gewesen sein. Die Gewinnentwicklung ließ das Drama erahnen: Hatte die Bamberger Brauerei 1891/92 noch einen Gewinn von 72.664 M erzielt, so schloss das Geschäftsjahr 1892/93 mit dem immensen Verlust von 653.170 M (Gambrinus 21, 1894, 36). Daraufhin beschlossen die Aktionäre einen strikten Kapitalschnitt von mittlerweile 2,2 Mio. M auf 733.000 M, also auf ein Drittel. Innerhalb der Branche hieß es skeptisch: „Der Beschluß, das Actiencapital nicht nur um den Betrag der Unterbilanz, sondern um das Doppelte derselben zu reduciren, läßt darauf schließen, daß trotz der vorgenommenen Abschreibungen die Buchwerthe noch zu hoch in der Bilanz stehen, und deren weitere Herabsetzung nöthig erscheint“ (Gambrinus 21, 1894, 42). Die Lokalpresse urteilte unfreundlicher: „Die Aktie Frankenbräu ist keinen Pfennig werth. […] In Wirklichkeit ist Frankenbräu überschuldet und hätte daher schon längst nach gesetzlicher Vorschrift den Konkurs ansagen sollen“ (Betrüger im Großen, Neue Bayerische Landeszeitung 1894, Nr. 4 v. 8. Januar, 1). Eine Dividende wurde dennoch ausgeschüttet.

Was war passiert? Frankenbräu war Opfer der auch damals gar nicht so seltenen Wirtschaftskriminalität geworden. Die Gebrüder Jakob und Nathan Heßlein waren respektierte und vermögende Geschäftsleute (erst Tuchhändler, dann Bankiers), Nathan seit 1885 stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Bamberger Brauerei. Sie begannen Ende der 1880er Jahre jedoch Differenzgeschäfte an verschiedenen Börsen – und bedienten sich dabei auch der Depositen ihres Bankgeschäftes. Die Spirale von Verlusten und neuerlichen Spekulationen führte in den Ruin: „Was die Aktienbrauerei Frankenbräu anlangt, für welche Heßlein die Mitgründer und Finanziers waren, so hat die Firma die meisten Aktien der ersten Emission al pari übernommen und erheblich über pari verkauft, hat also ganz erheblich verdient; damit nicht zufrieden, hat diese Firma, um den Kurs zu steigern, wieder Aktien eingekauft, um sie noch höher zu verkaufen; letzteres mag ihr nicht ganz gelungen sein, aber verwerthet hat sie alle ihre Frankenbräuaktien. Heute ist nicht die Brauerei Schuldnerin der Firma Heßlein, sondern umgekehrt“ (Das Falliment Heßlein, Neues Münchener Tagblatt 1893, Nr. 146 v. 28. Mai, 4-5). Jakob Heßlein brachte sich nach der Aufdeckung des jahrelangen Betruges um, Bruder Nathan versuchte es zweimal vergebens. Die Passiva der Heßleins betrugen mehrere Millionen, ihr Bankrott wäre seit 1891 nur durch ein Spekulationswunder an der Börse zu verhindern gewesen (Helmbrechtser Anzeiger 1894, Nr. 81 v. 8. Juli, 2-3).

Zeitgenössisch war die Aufregung groß und unterminierte zugleich das Vertrauen in die Geschäftsfähigkeit der Frankenbräu. Die lokale Presse hatte den Fall mit aufgedeckt, der investigative Redakteur wurde anfangs jedoch als „Ehrabschneider und Verleumder“ denunziert (Frankenbräu Bamberg, Neue Bayerische Landeszeitung 1894, Nr. 13 v. 18. Januar, 3). Die neue Leitung der Brauerei betonte, dass sie auch ohne von außen kommende Kritik „von sich aus Ordnung gemacht, die aufgehäuften unsicheren Posten beseitigt, den Betrieb vereinfacht und vernünftig reduzirt, die gebührenden Abschreibungen vollzogen und den Aktionären einen Wein eingeschenkt hätte“ (Frankenbräu Bamberg, Neue Bayerische Landeszeitung 1894, Nr. 53 v. 7. März, 3). Die beträchtlichen persönlichen Opfer der Aktionäre und der Tantiemenverzicht des Aufsichtsrates spiegelten die dennoch erst spät einsetzenden Gegenmaßnahmen. Das Geschäft befand sich seit 1895 neuerlich „in steter und erfreulicher Zunahme begriffen“ (Bamberger Tagblatt 1896, Nr. 193 v. 21. August, 3), 1896/97 betrug der Ausstoß wieder 73.690 hl (Bayerische Gastwirths-Zeitung 18, 1897, Nr. 29, 2), ab 1901 firmierte man um, nannte sich nunmehr „Hofbräu“.

Valentin Lapp äußerte sich anfangs nicht zu diesem nur knapp abgewendeten Konkurs, hatte er doch zuvor seine Position zur Verfügung gestellt, war er derweil schon mit der Aufbauarbeit in Leipzig beschäftigt. Angesichts von späteren Pressevorwürfen erklärte er 1904: „Solange ich dort tätig war, hat die Brauerei Dividende bezahlt, bis sie durch das Fallissement ihres Aufsichtsratsmitgliedes Bankier Heßlein um ca. 700.000 M bar geschädigt wurde. […] Ich war gar nicht in der Lage, diesen Fall zu verhindern“ (Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 357 v. 16. Juli, 6). Damals wurde aber auch betont, dass die Frankenbräu hohe Summen für die Forschungen Lapps aufgewandt hatte (Gross-Crostitz, Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 386 v. 31. Juli, 13). Diese hatten zuvor die Gewinne der Brauerei ermöglicht und gesichert.

Die Bayerische Bierbrauerei V. Lapp Leipzig-Lindenau 1894-1901/02

Helles und dunkles alkoholfreies Bier für Gesunde und Kranke (Leipziger Tageblatt 1900, Nr. 646 v. 20. Dezember, 9982)

Am neuen Wirkungsort Leipzig sollte Valentin Lapp 1896 das erste „Original Alkoholfreie Bier“ produzieren. Als Wirkstätte hatte er die 1849 errichtete Dampfbrauerei des kurz zuvor verstorbenen Brauers Gustav Adolf Offenhauer (1831-1890) erworben. Die in Leipzig-Lindenau an der Kaiser Wilhelm-Straße 1-3 (heute Endersstraße) gelegene Firma wurde modernisiert, am 17. März 1894 die „Bayerische Bierbrauerei V. Lapp“ mit Lapp als Inhaber ins Handelsregister eingetragen (Leipziger Tageblatt 1894, Nr. 145 v. 21. März, 2106). Wie schon in Bamberg, wohnte Valentin Lapp auf dem Firmengelände (Leipziger Adreßbuch 1895, T. II, 272).

Leipzig war allerdings für jeden Brauer eine Herausforderung. Wurden 1890 im Großraum noch 672.510 hl hergestellt, so war dieser Wert trotz raschem Bevölkerungswachstums 1893 auf 637.512 hl gesunken und erreichte 1896 nur noch 616.534 hl (Die wirthschaftliche Lage des Leipziger Brauereigewerbes, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 357 v. 16. Juli, 5251). Zudem schwand in Leipzig, aber auch in ganz Sachsen und Thüringen, die Bedeutung just des bayerischen Lagerbieres, während das helle böhmische Pilsner Marktanteile gewann (Die Bierexport-Verhältnisse Bayerns, Leipziger Tageblatt 1896, Nr. 228 v. 6. Mai, 3423). Für einen fränkischen Neuankömmling mit sächsischen Markterfahrungen konnte dies nur zweierlei bedeuten: Einerseits Produktion erstklassiger, dem Namen der Bayerischen Bierbrauerei verpflichteter Angebote, anderseits die Neuentwicklung weiterer marktgängiger Angebote. All dies hatte massive Folgen für den Braubetrieb selbst, denn die betrieblichen Prozesse mussten optimiert, zugleich aber neue Marktchancen erschlossen werden. Valentin Lapp hatte, wie schon in Bamberg, die Innovationsführerschaft zu erringen.

Spezialangebot eines alkoholarmen Champagner-Weißbiers (Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 297 v. 14. Juni, 4677)

Das bedurfte längerer Vorarbeiten, zumal das Patent- und Markenrecht damals reichsweit im Fluss war. Lapps erstes Leipziger Patent, ein im April 1894 angemeldetes Verfahren zur Gewinnung von Bierwürze im ununterbrochenen Betrieb, deutete jedoch in die Richtung betrieblicher Rationalisierung (Gambrinus 22, 1895, 251). Auch neu entwickelte Biertransport- und Ausschankgefäße dienten einem schnelleren Betriebsablauf und der Reduktion manueller Arbeit (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 135 v. 8. Juni, 21). Veränderungen im Angebot sind mangels Anzeigen nicht vor 1897 nachweisbar. Lapps Sortiment kreiste anfangs um die erwartbaren bayerischen Sorten. Kunden bewarben etwa sein Bockbier oder aber sein Helles (Leipziger Tageblatt 1895, Nr. 101 v. 24. Februar, 1372; ebd., Nr. 268 v. 2. Juni, 27). Das oben angeführte, jedoch erst 1899 nachweisbare Champagner-Weißbier unterstrich jedoch eine gewisse Erweiterung der Produktpalette. Das anfangs nur als Begriff und Utopie der Temperenzbewegung bekannte alkoholfreie Bier lag demnach im Trend der strukturellen Aufgaben Lapps. Ein zeitgenössischer Analyst sah sie vor allem als Marktchance, „Bier aus billigen Produkten herzustellen, welche obergährig einen guten Geschmack besitzen, auf Flaschen gezogen, lange haltbar sind und noch einen relativ guten Verdienst ergeben“ (Max Wender, Praktische Anleitung zur Fabrikation kohlensäurehaltiger Erfrischungs- und Luxus-Getränke, Berlin und Wien 1898, 218). Dazu aber mussten Verfahren entwickelt werden, um die enge Symbiose von Geschmacks- und Alkoholbildung zu durchbrechen. Die dem Bierbrauen zugrundeliegende alkoholfreie Bierwürze ist kaum trinkbar. Erst die von Hefe ausgelöste Gärung führt zur Alkohol- und Kohlensäureentstehung, zum vollmundigen und frischen Geschmack des Bieres. Wie aber in diesen menschlich genutzten chemischen Prozess eingreifen, um am Ende mehr zu erhalten als nicht trinkbare Plörre?

Neue Marktchancen durch Technologie: Lapps Ausflug in die Biersiphonproduktion

Diese technologische Aufgabe ging Valentin Lapp wahrscheinlich 1895/96 an. Doch über den Entwicklungsprozess, die Ideenfindung und ihre Umsetzung wissen wir kaum etwas. Wir können 1896 erste recht unpräzise Angaben über Lapps auf Verkostungen präsentiertes „Original alkoholfreie Bier“ finden. Pröbeln und Tüfteln sind halt schwerer darzustellen als das finale Produkt. Um zumindest eine Vorstellung von Lapps Vorgehen zu gewinnen, hilft allerdings ein Blick auf eine weitere Innovation, mit der er damals recht erfolgreich war.

Bier war zu dieser Zeit ein vornehmlich in Gläsern außerhäuslich konsumiertes frisches Getränk. Es wurde nach dem Brauen in Holzfässer gefüllt und gelagert, nach der Reife zum Gastwirt, zum Ausschankplatz transportiert und dort mit Hilfe tradierter Mechanik oder aber elaborierter Bierpressionen ausgeschenkt und dem willigen Kunden dargetan. Flaschenbier gab es, aber die stetig entweichende Kohlensäure begrenzte Haltbarkeit und Geschmack. Es kam mit den Flaschenfüllapparaten in den 1870er Jahren auf, doch hierzulande blieb die Mechanisierung der Hohlglasproduktion deutlich hinter der in den USA zurück. Für Exportbiere konnte sich die Flaschenabfüllung durchaus etablieren, blieb jedoch vor Ort bis in die 1890er Jahre eine von den Gastwirten erbittert bekämpfte Alternative.

Das galt auch für die nach britischen Vorbildern entwickelten Biersiphons, die seit 1895 dem häuslichen Bierkonsum eine weitere Option eröffneten (Syphon-Bier, Hopfen-Kurier 15, 1895, Nr. 74, 4). Zwar hieß es abschätzig: „Mit dieser Neuerung hat es in Bayern noch eine gute Weile“ (Bayerische Gastwirths-Zeitung 16, 1895, Nr. 50, 1-2, hier 2), doch mit der 1896 gegründeten Kasseler Bier-Siphon AG gewann das Geschäft reichsweite Dimensionen. Biersiphons verloren deutlich weniger Kohlensäure als Flaschen, zerbrachen nicht, waren zudem einfacher zu kühlen. Üblich waren 5-Liter-Gefäße, die in Brauereien oder aber dem Großhandel gefüllt und gegen Pfand den Haushalten direkt geliefert wurden. In Leipzig wurde im August 1896 eine Filiale der reichsweit führenden Kasseler Bier-Siphon AG eingerichtet (Leipziger Tageblatt 1896, Nr. 322 v. 27. Juni, 4777). Im Innovationszentrum Leipzig wurde sie jedoch rasch von der Deutschen Syphon-Ges. Roesler & Co. abgehängt, die mit ihrem Globus Selbstschänker eine bis weit in die 1920er Jahre genutzte Siphonkonstruktion etablierte (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 210 v. 3. September, 9; Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 329 v. 1. Juli, 4866). Die neuen Geräte erlaubten allesamt häuslichen Konsum frisch verfüllten Bieres, holten gleichsam das Wirtshaus in die eigene Wohnung.

Aufbau eines Vertriebsnetzes und Produktvarianten der Lappschen Biersiphons (Hannoverscher Courier 1897, Nr. 20603 v. 6. März, 4 (l.); Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 25, 1897, 1320)

Siphons sicherten und erweiterten den lokalen Markt, doch zugleich konnten die Geräte regional, national und auch in Auslandsmärkten eingesetzt werden. Für den tüftelnden Technologen Valentin Lapp war dies eine Herausforderung – auch als Absatzchance für sein zeitgleich entwickeltes alkoholfreies Spezialbier. Die Werbeankündigungen klangen verheißungsvoll: „Dieser im Gross- und Kleinbetriebe praktisch bewährte, vorzüglich construirte, nicht zerbrechliche Bier-Siphon bildet ein ausserordentlich vollkommenes Bier-Transport-Conservierungs- und Ausschank-Gefäss; speziell für den Haushalt. Derselbe wird in der Grösse von 5 und 10 Liter angefertigt, zeichnet sich besonders durch ein elegantes Aeussere, seine Dauerhaftigkeit sowie vorzügliche Funktion aus und ermöglicht den einfachsten, sparsamsten Betrieb bei geringstem Kohlensäure-Verbrauch und leichtester Reinigung. Derselbe ist mit einem Griff zu öffnen und ebenso wieder absolut zu verschliessen“ (Johannes Kleinpaul (Bearb.), Offizieller Katalog der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung zu Leipzig 1897, Leipzig 1897, Anzeigen, 14). Lapp hatte die vorhandenen Geräte präzise analysiert und technisch deutlich verbessert.

Am 28. Dezember 1896 gründete er gemeinsam mit einem lokalen Investor am Sitz seiner Brauerei ein neues Unternehmen, die Leipziger Salon-Bierkrug-Gesellschaft, Valentin Lapp & Co., vermarktete seine derweil erteilten Patente (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 7 v. 5. Januar, 106; Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 173 v. 26. Juli, 15). Das neue Biergefäß etablierte sich rasch: „Nebst dem Reissing’schen Biersyphon ist jener von Lapp der bekannteste und verbreitetste. Diese Syphons […] bestehen aus einem innen silberverzinnten und überdies emaillirten, verschieden gestalteten Gefäss aus Kupfer“ (C. Gronert, Biersyphone (Schluss.), Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 25, 1897, 1304-1305, hier 1304). Lapp veränderte seinen Grundtyp rasch: Fass-, Kannen- und Flaschenformen wurden angeboten, zudem auch Glassiphons mit direkten und indirektem Kohlensäuredruck. Dieses Modell „Prosit“ war gezielt für den „überseeischen Bedarf“ entwickelt worden, Lapp nutzte seine zuvor in Bamberg entwickelte Expertise (Hamburgischer Correspondent 1898, Nr. 509 v. 30. Oktober, 17). Hinzu kamen unterschiedliche von einem bis zehn Liter reichende Größen (Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 25, 1897, 1320). Die Salon-Bierkrug-Gesellschaft konnte rasch ein reichsweites Vertriebsnetz aufbauen. Zudem nutzte Lapp die Siphons für den Hausversand seiner bayerischen Biere, auch das „Original Alkoholfreie Bier“ konnte nach Erscheinen darin geordert werden.

Neue Absatzformen: Lappsches Bier in selbst konstruierten Siphons (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 387 v. 21. März, 2110)

Der Leipziger Brauereidirektor konnte also bestehende Marktchancen rasch mit technisch nicht nur wettbewerbsfähigen, sondern neue Standards setzenden Produkten nutzen. Außerdem gelang es dem früheren Exportbrauereileiter, nicht nur lokale, sondern auch überregionale Vertriebsnetze aufzubauen. Lapp zielte auf den häuslichen Konsum, durchbrach die Zwänge der öffentlichen Gaststättenkultur. Biersiphons konnten sich allerdings nur für wenige Jahre gegen den Vormarsch des durch neue Bügelverschlüsse und Kronkorken technisch verbesserten Flaschenbiers behaupten. Das Scheitern dieser – nach den Mineralwässern in den 1870er Jahren – zweiten Siphonmode betraf auch Lapp, denn sein Unternehmen wurde am 7. Juli 1902 aus dem Handelsregister gelöscht (Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 343 v. 9. Juli, 4859). Für die Entwicklung und den Vertrieb des neuen alkoholfreien Bieres waren die von Lapp bei den Siphons an den Tag gelegten Fertigkeiten jedoch eine Art Blaupause.

Lapps „Original alkoholfreies Bier“: Zusammensetzung und Produktionsverfahren

Anfang 1897 frohlockte Wilhelm Bode (1862-1922), Geschäftsführer des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch der geistigen Getränke, später Vorstandsmitglied des Vereins für Gasthausreform: „Das neueste ist, daß es seit Ende 1896 auch vorzügliches alkoholfreies Bier gibt, ein sehr nahrhaftes, angenehmes Getränk, dem vielleicht eine große Zukunft bevorsteht“ (Wilhelm Bode, Zur Geschichte des Bieres, Das Leben 11, 1897, 150-157, hier 156). Als „Mäßiger“ plädierte er nun erst recht für „die Bevorzugung der leichten Biere und Einführung alkoholfreier Getränke“ (Die Berliner Frühjahrsversammlungen zur Fürsorge für Wanderer und Arbeitslose, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 215 v. 29. April, 3203). Zuvor hatte er verschiedene neue Produkte gekostet, Lapps „Original alkoholfreies Bier“ ragte dabei heraus.

Ein neues alkoholfreies Bier, wissenschaftlich umkränzt (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 133 v. 14. März, 1918)

Lapps Innovation zirkulierte seit Ende 1896 bei den Ausstellungen und Vereinstreffen der Temperenzbewegung, der Naturheilkunde und Sozialreform: „Die Bayerische Bierbrauerei R. [sic!] Lapp in Leipzig-Lindenau bringt seit kurzem ein alkoholfreies Bier in den Handel, das, ohne Surrogate und Konservierungsmittel hergestellt, zum Preise von 15 Pf. (hell) und 20 Pf. (dunkel) pro Flasche Leipzig franko Haus abgegeben wird“. Ein abstinenter Arzt reiste eigens nach Leipzig, um Valentin Lapp und sein Produkt kennenzulernen: „Höchstbefriedigt bin ich von beiden. Das Bier ist absolut alkoholfrei, unbegrenzt haltbar, sehr schmackhaft, nicht durch das widersinnige Verfahren gewonnen, daß man zuerst alkoholhaltiges Bier macht und dann mühsam und teuer den Alkohol wieder entfernt, sondern durch Verhütung jeder Zersetzung in der sorgfältigst bereiteten, sterilisierten und gehopften Würze, unter späterem Zusatz von Kohlensäure. Dabei ist das Bier billig. Daß wir es schon so weit gebracht haben, daß wir unter Bierbrauern welche finden, die wie R. [sic!] Lapp mit seiner ganzen Familie Abstinente sind und ihre Erkenntnis noch in die That umsetzen, ist gewiß erfreulich. Hochintelligent, gut in seinem Fach gebildet, einer idealen Auffassung zugänglich, werden wir in der Mitarbeit dieses bayerischen Bierbrauers einen Kampfgenossen in jenem Lager gefunden haben, wo man es wohl am wenigsten erwartete“ (Beides nach Alkoholfreies Bier, Hygieia 10, 1896/97, 374-375).

Lapp selbst, dessen Abstinenz anderweitig nicht belegt ist, zielte jedoch über den Glasrand der Temperenzbewegung hinaus. Sein alkoholfreies Bier war Wissensprodukt, kein Ersatz, sondern eine neue Biersorte eigener Qualität. Seine vor Ort ab März 1897 geschaltete Anzeigenwerbung präsentierte ein neues „Hausgetränk“ für alle. Formal erinnern die Annoncen an die gerade in Leipzig seit Jahrzehnten besonders gepflegten Malzextrakte, Gesundheitsbiere und Porter. Analysen waren Trumpf, sollten die Güte des Neuen wissenschaftlich bezeugen. Gleich drei renommierte Nahrungsmittelchemiker hatten das „Bier“ Ende 1896, Anfang 1897 untersucht: Die Leipziger Karl Hoffmann und Oskar Bach sowie der Berliner Carl Bischoff. Hoffmann fand ein Getränk „von dunkelrother Farbe, vollkommen klar, von feurigem Glanze, [es, US] schäumte stark und hielt den Schaum genügende Zeit. Dasselbe wirkte erfrischend und ist der Geschmack der süßlich bittere eines guten Bieres.“ Das galt auch noch fünf Wochen später. Bach lobte den gänzlich fehlenden Alkohol, ferner den Verzicht auf Süß- und Zusatzstoffe. Am aussagestärksten war Bischoffs Analyse: Lapp sei demnach vom ärztlichen Wunsch bewegt worden, „ein kräftiges, die normalen Bestandtheile eines Bieres enthaltendes Getränk verwenden zu können, ohne gleichzeitig den Alkoholgehalt mit hinnehmen zu müssen. Es ist das hier vorliegende Erzeugnis entstanden und mit Recht mit dem Namen ‚Alkoholfreies Bier‘ benannt worden, wenn auch gewissermaßen bisher im Allgemeinen ein Gebräu erst Bier genannt wurde, wenn in demselben unter dem Einfluß der Gährung sich Alkohol gebildet hat. […] Man kann den Geschmack des Gebräues sonst als einen sehr kräftigen, brodigen oder malzigen Geschmack kennzeichnen und ist das Getränk durch seinen starken Kohlensäuregehalt auch von recht erfrischendem Geschmack“. Das neue alkoholfreie Bier sei steril produziert, daher lange lagerfähig (alle Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 133 v. 14. März, 1918). Fasst man zusammen, so war dies eine brautechnisch gelungene Innovation, ansprechend und auch geschmacklich dem Bier entsprechend. Bischoff allein verstand jedoch die dahinterstehende Erschütterung der eben nicht festen Welt der Nahrungsmittelbezeichnungen. Bier ohne alkoholische Gärung? Dennoch bezeichneten zwei der Gutachter das „Original alkoholfreie Bier“ just als Bier.

Lapps alkoholfreies Bier per Nachnahme (Tageblatt der 69. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Braunschweig 1897, Nr. 1 v. 19. September, 49)

Es dauerte noch ein Jahr, bis auch die neuartige Produktionsweise – auf Basis eines in Großbritannien zuerkannten Patentes – bekannt wurde: Ausgangspunkt war demnach zerkleinertes Malz, das auf 60° C erhitzt, stehengelassen und dann gekocht wurde. Nach dem Abläutern, also dem Abfiltern fester Malzbestandteile, wurde der warmen Bierwürze mehrfach Diastase hinzugefügt, so dass die Stärke in Zucker umgewandelt werden konnte. Der Sud wurde erhitzt, Hopfendrüsen hinzugefügt und verkocht. Die Würze wurde anschließend zentrifugiert, reagierte mit der Luft, wandelte sich in eine schaumige Masse, die man dann sacken ließ und unter möglichst geringem Wärmeverlust filtrierte. Diese Flüssigkeit wurde zerstäubt und mit Kohlensäure imprägniert, anschließend in einer Kühlschlange möglichst rasch auf den Gefrierpunkt abgekühlt. Danach sättigte man die eiskühle Würze nochmals mit Kohlensäure (Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 77-78; Alkoholfreies Bier, Drogisten-Zeitung 24, 1898, 558; Alkoholfreies Bier, Hopfen-Kurier 18, 1898, Nr. 21, 3-4). Diese Informationen wurden großenteils nur wiedergegeben, riefen jedoch auch Widerspruch hervor. Es handelte sich doch um einen Bruch mit der tradierten Braukunst, denn die Bierwürze wurde nicht vergoren: Es hieß, dass der Begriff alkoholfreies Bier „eigentlich sinnlos“ sei, nur der Einfachheit halber genutzt werden könne (Alkoholfreies Bier, Technische Rundschau 4, 1898, 266). Deutlicher war die Resonanz von Brauern: „Die Herstellung dieses Bieres verträgt sich also nicht mit der einschlägigen bayerischen Gesetzgebung“ (Lapp-Bier, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 21, 1898, 193). Wir werden auf diese sich rasch zuspitzende Debatte zurückkommen.

Valentin Lapp hat sein patentiertes Produktionsverfahren anschließend immer wieder verbessert, so dass es sich nur bedingt um ein standardisiertes Markenprodukt gehandelt hat (Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 129). Zudem wurden die zwei Anfangssorten, Helles und Dunkles, rasch um drei weitere Varianten ergänzt. Dabei ging es für den Erfinder nicht nur um den Geschmack: „Dieses für unverdorbene Gaumen sehr wohlschmeckende, stark schäumende Bier hat einen erheblich höheren Nährwert als das alkoholische, das ja mit Unrecht als ‚flüssiges Brot‘ angepriesen wird“ (Wein und Bier ohne Alkohol, Lippstädter Zeitung 1897, Nr. 39 v. 31. März, 1). Redaktionelle Werbung pries die Pioniertat, die Abkehr von ebenso bezeichneten Vorgängern mit ihrem „abscheulichem Geschmack“: „Die Ueberwindung der großen technischen Schwierigkeiten ist nun dem in Fachkreisen als Capacität bekannten Brauereibesitzer Valentin Lapp in Leipzig-Lindenau gelungen. In seinem ‚Original alkoholfreien Bier‘ stellt er ein Getränk her, das allen Anforderungen, namentlich auch in medicinischer Hinsicht, entspricht“ (Hamburgischer Correspondent 1897, Nr. 23 v. 2. Dezember, 12-13). Es folgten obligate Erfolgsmeldungen über die Verwendung als Hausgetränk für Frauen, Kinder und Wöchnerinnen, in Krankenhäusern und Kantinen, auch in den Überseemärkten. Das alkoholfreie Bier war Nähr- und Kräftigungsmittel, diente Rekonvaleszenten und Gebrechlichen, fand auch seinen Weg auf den häuslichen Tisch. Glaubt man der Temperenzpresse, so handelte es sich um einen auch kommerziellen Erfolg: „In Leipzig führen 10 Restaurants das Bier ständig, in Eisenach wird es im Stadtpark verschänkt und an acht Stellen in Flaschen verkauft. Nach München gehen Waggon-Sendungen und neben den Trinkerheilanstalten werden auch Nervenheil- und andere Anstalten gute Abnehmer. An einem deutschen Hofe kommt es auf den Tisch der Prinzen. In Norwegen wird es demnächst auch hergestellt“ (Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 31-32). Valentin Lapp erhielt vielgestaltigen Beifall, galt „als ein hochgebildeter, hervorragend tüchtiger Fachmann“ (Wein und Bier ohne Alkohol, Das Volk 1898, Nr. 147 v. 26. Juni, 9).

Virtuelle Konkurrenten: Bassara und Frada

Lapps „Original alkoholfreies Bier“ steht in der Tradition bieranaloger alkoholfreier Getränke. Ihre Zahl nahm Mitte der 1890er Jahre deutlich zu, der Erfolg der „alkoholfreien Weine“ setzte Forscherenergie und Investorengeld in Bewegung. Vertreter der Temperenzbewegung hatten sich zuvor vor allem von zwei Innovationen das versprochen, was nun Lapps Produkt leisten sollte: Eine Alternative für den täglichen häuslichen Konsum, mit dem man aber auch die Gegenkultur alkoholfreier Gaststätten attraktiver ausgestalten konnte.

Bei den beiden früheren Produkte handelte es sich einerseits um Bassara, das 1896 für eine gewisse Aufmerksamkeit bei Versammlungen von Naturforschern und Medizinern sorgte (Allgemeine Wiener Medizinische Zeitung 41, 1896, 445). Das „alkoholfreie Bier“ bestand aus geheim gehaltenen Zutaten, vornehmlich jedoch Pflanzenauszügen. Das von der Kasseler Firma Dr. Hilgenberg Nachf. produzierte Getränk zielte vornehmlich auf den englischen Markt, dem dortigen Faible für Ingwer- und Rootbeer. Auch wenn gerade Apotheker auf die Marktchancen solcher Nichtalkoholika aufmerksam gemacht wurden, so hatte es mit Bier lediglich den Namen gemein (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 38, 1897, 558).

Entstehen eines Marktes „alkoholfreier Biere“: Bassara und Frada (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 38, 1897, 558 (l.); Badische Presse 1900, Nr. 129 v. 6. Juni, 8)

Deutlich anders zu bewerten ist das ebenfalls 1896 entstandene Frada. Es wurde von dem in der Lebensreformbewegung fest verankerten Chemiker Walther Nägeli (1851-1919) in seiner seit 1878 bestehenden Konservenfabrik in Mainz-Mombach entwickelt (Bayerische Handelszeitung 8, 1878, 80). Das seit Juli 1896 vertriebene Frada war Nebenprodukt einer breiten und Zeitgenossen beeindruckenden Palette von Frada-Fruchtsäften aus Äpfeln, Beerenfrüchten, Kirschen und Pflaumen, die er als „alkoholfreie Weine“ vermarktete. Das Verfahren des alkoholfreien Biers Frada wurde 1896 patentiert, steht also zeitlich vor Lapps „Original alkoholfreiem Bier“ (Westdeutsche Zeitung 1896, Nr. 176 v. 29. Juli, 3). Bier wurde in üblicher Weise hergestellt, der Alkohol dann mechanisch entzogen (Badische Presse 1900, Nr. 129 v. 6. Juni, 8). Der Geschmack variierte, zudem misslang der Aufbau einer leistungsfähigeren Vertriebsstruktur. Nägli verkaufte seine zahlreichen Patente Ende 1899 an die in Berlin neu gegründete Theodor Reissing & Co. GmbH für einen Pauschalpreis von 30.000 M (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 353 v. 31. Juli, 12). Frada-Bier war nicht viel mehr als ein Versuchsballon, der bald ohne Luft landete. Das Präparat unterstrich vor allem die technologischen Fallstricke der Produktion alkoholfreier Ersatzprodukte, auch wenn der nachträgliche Entzug des Alkohols in der Folge vielfach versucht wurde.

Aufbau eines Vertriebsnetzes für Lapps „Original Alkoholfreie Bier“

Beim Aufkommen dieser alkoholfreien Biere waren sich viele Temperenzler sicher, dass dies nicht drei beliebige Einzelprodukte waren, sie vielmehr eine Zeitenwende einläuteten: „Die Jahre 1896 und 1897 werden in der Geschichte der Getränke und der Trinksitten wahrscheinlich epochemachend sein, […]. Wenn bisher die Streitfrage war: Wein und Bier oder Wasser? so wird sie bald auch lauten: alkoholisches Bier oder alkoholfreies? alkoholischer Wein oder alkoholfreier? gefährliches oder gesundes Getränk?“ (Wein und Bier ohne Alkohol, Kneipp-Blätter 7, 1897, 133-134). Die Jugend würde mit neuen Wahlmöglichkeiten aufwachsen, sie würde der Trunksucht nicht anheimfallen. Dabei handelte es sich jedoch um typische Wunschwelten von Bildungsbürgern fernab wirtschaftlicher Realitäten. Denn so unverzichtbar die Produktentwicklung auch sein mag; über den Markterfolg entscheidet vorrangig der Aufbau eines Vertriebsnetzes, also die Nähe zum Konsumenten. Und darauf gründete die Ubiquität der Alkoholika: 1893 gab es in der Stadt Leipzig nicht weniger als 148 Gastwirtschaften, 1153 Schankwirtschaften mit und 188 ohne Branntweinausschank, zudem noch 281 Branntweinkleinhandlungen (Statistisches Jahrbuch für das Königreich Sachsen 33, 1905, 148).

Im Gegensatz zu Nägeli, der für sein alkoholfreies Bier lediglich die gängigen Absatzwege seiner Frada-Fruchtsäfte nutzte, baute Valentin Lapp ein breit gefächertes, weit über den lokalen Absatz seiner bayerischen Biere hinausreichendes Vertriebsnetzwerk auf. Vier Ebenen sind zu unterscheiden: Erstens nutzte er seine lokalen und regionalen Absatzstrukturen. Alkoholfreie Biere erweiterten das bestehende, gemein vertraglich fixierte Angebot vornehmlich von Münchner, Kulmbacher, Lagerbier und – eine Morgengabe an das sächsische Publikum – Pilsener um die neuen alkoholfreien Sorten. Da es sich um Flaschenbier handelte, schied dies bei größeren Wirtschaften aus, auch wenn 1897 die Offensive der Gastwirte gegen diese Verpackung schon wieder am Abebben war. Hinzu trat vor Ort ein kostenloser Bringdienst zu den gängigen Lieferusancen. Zweitens transformierte Valentin Lapp seine Brauerei in ein Versandgeschäft für das neue Flaschenbier. Probekistchen mit vier Flaschen sollten den Einstieg ermöglichen, ansonsten versandte die Brauerei Bierkästen mit 12, 24, 50 und 100 Flaschen per Nachnahme ins gesamte Inland. Drittens beschritt Lapp mit seinem neuen „Original alkoholfreiem Bier“ den üblichen Weg für damalige Gebrauchsgüter, seien es Fleckenwasser oder aber Asthmazigaretten aus Cannabis: Er versuchte Großhandelsdepots zu errichten, Bierhandlungen und Brauereien für einen gemeinsamen Vertrieb zu gewinnen. Diese vergaben anschließend Regional- und Lokalkonzessionen, derer Inhaber dann einzelne Gaststätten und Einzelhändler belieferten. Viertens schließlich bemühte er sich auch um einen internationalen Ausfuhrhandel.

Genaue Angaben zu den jeweiligen Erfolgen fehlen. Der Preis des „Original alkoholfreien Bieres“ war allerdings relativ hoch, entsprach dem von in Flaschen versandten alkoholhaltigen Spezialbieren, lag damit aber mindestens fünf Pfennig höher als gängige Standardbiere; wobei wir nicht wissen, ob es sich um eine der vielfach üblichen Halbliterflaschen handelte. Da Kunden aber über die „nicht große Flasche“ (Die christliche Welt 11, 1897, Sp. 384) lamentierten, dürfte der Inhalt geringer gewesen sein, zwischen 0,4 und 0,2 Liter, lehnte sich vielleicht an die zumeist 0,3 oder 0,4 Liter fassenden Biergläser in den Gaststätten abseits Bayerns an. Es gab damals keine standardisierten Bierflaschen. Lapps Standardflaschen waren 20 Zentimeter hoch, doch der bauchige Hauptteil machte weniger als die Hälfte aus. Bequemlichkeit hatte ihren Preis.

Standardbierflasche aus Valentin Lapps Brauerei in Leipzig-Lindenau (l.) und Suche nach Generalagenturen für die Belieferung der Großstadtmärkte (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Objekt Nr. Z0135658 (l.); Berliner Tageblatt 1897, Nr. 446 v. 3. September, 10)

Der Bahnversand von Lapps alkoholfreiem Bier erfüllte zumindest anfangs die gesteckten Erwartungen, teilte seine Brauerei doch drei Monate nach der Einführung mit, „sie müsse fast alltäglich ihre Geschirre nach dem Bayerischen Bahnhofe schicken, um die nach Süddeutschland gehenden Sendungen ihres alkoholfreien Bieres, monatlich 120 bis 150 Kisten, zollamtlich behandeln zu lassen“ (Errichtung einer Zollabfertigungsstelle am Bahnhofe zu Plagwitz-Lindenau, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 260 v. 5. Juni, 4222). Folgen wir nun den Kistchen, etwa in den Schopfsteiner Gasthof „Zum Pflug“: Dort wurde Lapps Dunkles verkostet, sein malziger Geschmack gewürdigt: „Auch der gewiegteste Bierkenner würde im übrigen dem schäumenden Gerstensafte nicht anmerken, daß ihm der Rausch erzeugende Bestandteil fehlt und doch ist dem so. […] Das in Rede stehende Bier hat nur einen Fehler, es ist zu teuer. Während es die Brauerei Lapp-Leipzig-Lindenau an Ort und Stelle für 15 bezw. 20 Pfg. liefern kann, erhöht sich in Schopfheim […] durch Fracht, Steuer u.s.w. der Preis auf 70 Pfg.“ (Ingolstädter Tagblatt 1897, Nr. 38 v. 17. Februar, 5). Beim Bier gab es im Deutschen Reich noch keinen freien Warenverkehr. Unter Temperenzlern hoffe man daher auf eine breitere dezentrale Produktion: „Aber gewiß ist die Zeit nicht mehr fern, wo alle Brauereien in einen edlen Wettstreit eintreten werden, nicht mehr das stärkste (d. h. giftigste) sondern das gesündeste Bier herzustellen“ (Alkoholfreie Weine, Feierstunde 1898, Nr. 36, 3). Bildungsbürgerliches Wunschdenken…

Konzessionierter Absatz (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1900, Nr. 3854 v. 3. November, 1 (l.); Echo des Siebengebirges 1900, Nr. 95 v. 28. November, 3)

Lapp versuchte daher verstärkt, lokale Vertriebsfirmen zumal im norddeutschen Braugebiet zu gewinnen. Diese wurden am Verkaufserlös angemessen beteiligt, sollten dann Vertrieb und Werbung eigenständig durchführen. Große Biersendungen würden die Kosten deutlich vermindern. Das gelang, wenngleich von einer reichsweiten Vor-Ort-Präsenz des „Original alkoholfreien Bieres“ nicht die Rede sein konnte. Enthaltsamkeit blieb ein teures Unterfangen. Entsprechend dürfte Lapps Produkt auch im Ausland nur geringen Widerhall gefunden haben. Valentin Lapp sprach zwar anfangs von der „außerordentliche[n, US] Verbreitung“, von „Erfolgen in staatlichen und privaten Anstalten“, von „großen nach Ägypten und dem Orient versandten Posten“, pries das alkoholfreie Bier gerade für die Tropen, denn es erfrische, während „man nicht die lähmende und erschlaffende Wirkung des Alkohols mit in den Kauf nehmen muß“ (Alkoholfreies Bier, Deutsche Kolonialzeitung 11, 1898, 201). Doch die umfangreiche Werbung in der einschlägigen Deutschen Kolonialzeitung wurde nach 1898 nicht mehr fortgesetzt, der Widerhall war zu gering (Tropenkoller, Hamburger Fremdenblatt 1903, Nr. 126 v. 31. Mai, 25).

Ein alkoholfreies Getränk für die Kolonien (Deutsche Kolonialzeitung 11, 1898, Nr. 26, Beil., 209)

Vermarktung im Umfeld der Temperenzbewegung

Die vier eingeschlagenen, allerdings nur teils erfolgreichen Vertriebswege waren zwar nicht häufige, grundsätzlich aber auch von anderen Brauereien gewählte Formen, um insbesondere für Spezialbiere überregionalen Absatz zu finden. Sie waren Ausdruck der Produktorientierung der Branche. Es galt ein gutes Bier zu produzieren, dieses dem Kunden vor Augen zu führen – und dann würde er zugreifen, denn er hatte Durst. Das alkoholfreie Bier war jedoch von anderer Qualität, denn es zielte auf die große Zahl der Biertrinker, die dem Alkohol kritisch gegenüberstanden, die aber die vielen anderen Attribute des Bieres nicht missen wollten. Alkoholfreies Bier war damit konsumentenzentriert, durchbrach das brauliche Selbstgespräch am Gärbottich, war das Ergebnis gesellschaftlicher Ansprüche just an die Brauwirtschaft. Lapps Innovation stand für eine neue Macht des Konsumenten, für seine vielfach nur beschworene Souveränität. Es ging nicht um ein verbessertes Weiter-so, sondern um eine neuartige Konsumentenorientierung. Alkoholfreies Bier war die Materialisierung von seit den 1880er Jahren öffentlich artikulierten Ansprüchen. Entsprechend gab es einen fünften, in der Öffentlichkeit auch am stärksten thematisierten Vertriebsweg, nämlich den Absatz über die Institutionen der Temperenzbewegung. Deren zehntausende Vereinsmitglieder waren als Kernmarkt des Neuen eigentlich gesetzt. Alkoholfreies Bier nicht nur zu fordern, sondern es nun auch zu kaufen, schien eine Frage der Fairness zu sein, zumal sich Lapp mit dem neuen Bier nicht nur Freunde schuf: Der lokale Verein Leipziger Gastwirte lehnte es nach kurzem internen Meinungsaustausch strikt ab, das alkoholfreie Bier auch nur zu verkosten (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 174 v. 6. April, 2580).

Valentin Lapp präsentierte sein „Original alkoholfreies Bier“, aber auch seinen neu entwickelten Malzextrakt und eine Trinkwürze (beides Gesundheitsbiere), bei zahlreichen Ausstellungen sowohl der engeren Temperenzbewegung als auch auf medizinischen und naturwissenschaftlichen Tagungen und Kongressen (Verein für Gesundheitspflege zu L.-Plagwitz, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 260 v. 23. Mai, 3862). Das neue Produkt wurde als „eine entschiedene Consequenz des gedachten Heilungsregimes“ (Pharmaceutische Post 30, 1897, 504) der Abstinenz zumeist positiv beschrieben (General-Anzeiger für Essen und Umgegend 1897, Nr. 226 v. 2. Oktober, 4; Münchner Neueste Nachrichten 1898, Nr. 139 v. 25. März, 9; Die Ersatzgetränke-Ausstellung in Heidelberg, Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 129-130; Die Neuheiten-Ausstellung, Düsseldorfer Zeitung 1898, Nr. 262 v. 23. September, 3).

Präsentation als „bestes Gesundheitsbier der Welt“ (Saale-Zeitung 1897, Nr. 554 v. 26. November, 8)

Zusammengefasst ragen innerhalb der Berichte drei Punkte hervor, nämlich Freude und Stolz, Fragen des Geschmacks und Rückfragen an den Preis. Die Temperenzler sahen sich erstens durch das Lappsche Produkt selbst bestätigt. Rasch parolte man, dass es nun endlich Mittel gäbe, „die einen Uebergang zum Anti-Alkoholismus ermöglichen: genußreiche Ernährung ohne die Schattenseiten der Berauschung, die so oft in’s Elend führt!“ (Allgäuer Zeitung 1898, Nr. 61 v. 16. März, 5). Alkoholfreies Bier erlaube die der eigenen Bewegung immanente höher entwickelte Lebensfreude. Doch ein vorbehaltloses Ja war nicht zu hören: „Natürlich werden die neuen Getränke nur ganz allmählich Boden gewinnen, wie das auch bei allen heute beliebten der Fall war. Es wird ihnen an Gegnern und Hindernissen nicht fehlen; […]. So treten sie langsam in einen Wettbewerb mit den Alkoholgetränken und viele werden davon Nutzen haben“ (Das Volk 1898, Nr. 147 v. 26. Juni, 9). Zweitens hielt man sich bei der Einschätzung des Geschmacks vielfach zurück. Das alkoholhaltige Bier blieb Geschmacksreferenz, an die Entwicklung einer eigenen Geschmackskultur dachte man nicht. Man wog ab, empfand die helle Variante ansprechender als die dunkle, hob diejenigen Sorten hervor, die „im Geschmack dem gewöhnlichen alkoholhaltigen Bier am nächsten“ kamen (Ersatzgetränke für Alkohol, Wörishofer Blätter 9, 1898, 598-599, hier 599). Selbst kritische Stimmen wurden positiv umgebogen: „Was den Geschmack anbetrifft, so dürfte es dem gesunden Biertrinker kaum imponiren; der Kranke wird ihn faut de mieux sicher gern in den Kauf nehmen, um nur seinen Durst zu stillen“ (Pharmaceutische Post 30, 1897, 504). Drittens war das alkoholfreie Bier vielen schlicht zu teuer. Als bei der Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke 45 Pfennig für ein halbes Liter gefordert wurden, fand es „wenig Anklang“ (Badischer Beobachter 1898, Nr. 173 v. 30. Juli, s.p.). Dann aber folgte Zukunftsmusik, harfte man das Lied von niedrigeren Preisen bei höherem Absatz.

Vertriebsnetzwerk der Lebensreform (Volkswacht 1898, Nr. 173 v. 28. Juli, 4)

Bei den Ausstellungen und Tagungen suchte Valentin Lapp aber nicht nur Einzelkunden, sondern versuchte vorrangig, sein Produkt in Krankenhäuser, Anstalten und Kantinen einzuführen. Bei den Betreuten galten andere Geschmackskriterien, wir lasen dies schon. Gerade in Trinkerheilanstalten könne alkoholfreies Bier für die Patienten ein wertvolles Mittel sein, „um den Uebergang zum Wasser- und Wenigtrinken zu vermitteln“ (Mäßigkeitstag in Heidelberg, Emscher Zeitung 1898, Nr. 176 v. 30. Juli, 1-2, hier 2). In Kantinen sollten die Arbeiter eine Alternative zum üblichen Bier haben, in Dresden und Berlin soll dies auch gelungen sein (Schutz der Arbeiter gegen den Alkohol, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 539 v. 22. Oktober, 7745). Die Vermarktung bei Ärzten und Sanatorien hob den höheren Nährwert des alkoholfreien Biers besonders hervor (Bautzener Nachrichten 1898, Nr. 289 v. 14. Dezember, 3349). Und entsprechend weitete sich das Einsatzfeld aus, umgriff blutarme Frauen, aber auch kränkliche Kinder. Otto Dornblüth (1860-1912), späterer Herausgeber des Pschyrembels, forderte seine Kollegen auf, künftig den alkoholhaltigen Malzextrakt durch Lapps nährenden alkoholfreien Trank zu ersetzen (Ärztliche Rundschau 8, 1898, 348-349, hier 349).

Integration des alkoholfreien Bieres in alkoholfreie Gaststätten (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1902, Nr. 308 v. 7. Juli, 8)

Der Worte wurden also viele gewechselt, an Bemühungen fehlte es nicht. Doch im Markt alkoholfreier Getränke waren die Folgen überschaubar. Als Ende 1898 die Redaktion der Siegener Zeitung „Das Volk“ um Adressen von Produzenten alkoholfreier Biere gebeten wurde, verwies sie an den Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, nicht aber an Valentin Lapp oder einen Wettbewerber (Das Volk 1898, Nr. 295 v. 17. Dezember, 7). Dabei hatte der Leipziger Brauer auch innerhalb der Temperenz- und Naturheilkundebewegung um Unterstützung gegeben, insbesondere um lokale Niederlagen einrichten zu können (J. Okic, Sieben Jahre in Wörishofen, Wörishofen 1898, Inserate, 4). Diesen wurde nur sehr selten entsprochen, eine der wenigen Ausnahmen gab es just in der Biermetropole München (Lappsches alkoholfreies Bier, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 21, 1898, 37). Zusammengefasst war das Interesse seitens der Temperenzbewegung groß, ja sehr groß. Doch es gab fast keine wirkliche Unterstützung. Lapps „Original alkoholfreies Bier“ wurde zwar in das noch nicht sonderlich breite Sortiment alkoholfreier Gaststätten integriert, doch dessen Kern bildeten nach wie vor Heißgetränke, Mineralwässer und zunehmend auch süße Limonaden. Alkoholfreie Weine und Bier ergänzten, traten aber nicht in den zuvor viel beschworenen Mittelpunkt. Innerhalb der vornehmlich bürgerlichen, vornehmlich protestantischen Temperenzbewegung waren nur wenige wirklich bereit, einen höheren Preis für Nichtalkoholika von teils ungewohntem Geschmack auszugeben. Gezielte Subventionierungen hätten dies ändern können, doch daran wurde nicht einmal gedacht. Die bürgerlichen Kreise traten zwar beredt für ihre Ideale ein, es fehlte ihnen jedoch das handgreifliche Engagement und die Opferbereitschaft, die das katholische Milieu und insbesondere die sozialdemokratische Arbeiterschaft im späten Kaiserreich auszeichnete.

Widerstand: Was ist Bier, was ist alkoholfreies Bier?

Lapps „Original alkoholfreies Bier“ war Teil einer tiefgreifenden Transformation der deutschen Trinkkultur um die Jahrhundertwende. Ähnlich wie die heutige, mehr behauptete und auf relativ überschaubare Bevölkerungsgruppen begrenzte Transformation – Stichwort vegan – war sie begleitet von Sprachspielen. Dieses war typisch für Versuche, dominante Ernährungs- und Trinkweisen durch relativ kleine, medial präsente Kader aufzubrechen. Was modisch klingen mag und gern mit Verweis auf moderne Theoretiker der kulturellen Hegemonie oder der repressiven Toleranz begründet wird, war allerdings schon tradiertes Wissen für Gebildete im späten 19. Jahrhundert, für die damals gängige Sprachphilosophie. Wilhelm von Humboldt (1767-1835), heute im Schatten seines Bruders stehend, war selbst Transformator, legte als Reformer und Gelehrter die Grundlagen einer heutzutage längst aufgegebenen Idee von Bildung, sei es im Gymnasium, sei es in den Universitäten. Die Sprache, so Humboldt, „steht ganz eigentlich einem unendlichen und wahrhaft gränzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren, gegenüber. Sie muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, […]“ (Wilhelm v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts, Berlin 1836, 106). „Alkoholfreies Bier“ war Ausdruck menschlicher Phantasie, eine Worterfindung durch Übertragung. Es handelte sich um eine Metapher, unsinnig, aber anschaulich und ansatzweise verständlich. Sprache hat ihre Eigengesetzlichkeiten, warum sonst sprechen wir einerseits von Zahnbürste – die doch Zähne reinigt –, anderseits vom Schneckenhaus, obwohl in ihm nur ein Weichtier haust. Alkoholfreies Bier war rein sprachlich ein paradiesischer Begriff, verwies auf die Auflösung der Gegensätze, auf das Miteinander von Wolf und Lamm. Es überrascht daher nicht, dass dieses bildungsbürgerliche Sprachspiel keinen Anklang bei Brauern und Chemikern, Juristen und auch Abstinenzlern fand. Letzteren war das alkoholfreie Bier ein Wolf im Schafspelz, ein falscher Prophet des Nichtvereinbaren.

Die wirtschaftlich interessierten, durch das Neue herausgeforderten Kreise urteilten ähnlich apodiktisch: „Die Bezeichnung alkoholfreies Bier ist ein Unsinn“ (Franz Elsner, Die Praxis des Chemikers, 7. umgearb. u. verm. Aufl., Hamburg und Leipzig 1900, 316). Bier war demnach von Alkohol nicht zu trennen. Es war Resultat einer Vergärung stärkehaltiger Stoffe, eines „natürlichen“ Prozesses, in Gang gesetzt durch kunstfertig bereitete Zutaten, umgesetzt durch eine ausgeklügelte Maschinerie. Das Wunder des Bieres bestand aber auch darin, dass unsachgemäßes Brauen Getränke hervorbringe, die „Abneigung und Widerwillen“ hervorrufen würden. Man konzedierte, dass insbesondere „amerikanischen Kunstgetränke“ dank Zutaten und Kohlensäure „gar nicht schlecht schmecken und auch nicht sehr übel bekommen.“ Bier sei aber chemisch weit komplexer, könne nicht chemisch-technisch simuliert werden. Unabhängig vom Geschmack sei das Resultat aber niemals Bier (Zitate n. Ueber das Lapp’sche Verfahren zur Gewinnung von Bierwürze und das sogenannte alkoholfreie Bier, Gambrinus 25, 1898, 217). Die Kritik am Begriff „alkoholfreies Bier“ hatte noch eine zweite Dimension, die anfangs vor allem aus der besseren Kenntnis der chemischen Zusammensetzung „alkoholfreier Weine“ und „alkoholfreier“ Säfte stammte, an sich aber auch aus rudimentärem Wissen über die Gärung. Alkohol ist fast allgegenwärtig, auch der Mensch produziert es täglich. Die Mengen sind gering, gewiss. Aber mit den damaligen Apparaturen war es nicht möglich, „alkoholfreie“, sondern höchstens alkoholarme Produkte zu schaffen. Dieser implizite Betrugsvorwurf waberte bis in die zeitgenössischen Karikaturblätter (Kladderadatsch 58, 1905, Nr. 2, Beibl. 2, 2). Hinzu kam, dass für Brauer alkoholfreies Bier auch deshalb nicht erforderlich war, weil Bier selbst das alle anderen überstrahlende Temperenzgetränk sei (Alkoholfreies Bier, Gambrinus 25, 1898, 93-94, hier 94).

Sollte das wissenschaftlich präsentierte „Original alkoholfreies Bier“ gar keines sein? (Saale-Zeitung 1898, Nr. 78 v. 16. Februar, 12)

Lapps „Original alkoholfreies Bier“ setzte einen definitorischen Streit in Gang, der grundsätzlich dazu hätte führen können, dass sich Naturwissenschaftler (und viele naturwissenschaftlich gebildete Praktiker) als Modellplatonisten erkannten, als unreflektierte Kulturwissenschaftler. Jede Beschwörung von „Natur“ ist unreflektierter Mystizismus – und so auch die damalige (teils bis heute hochgehaltene) Definition von Bier. Erst in den Folgejahren, parallel zu Steuererhöhungen auf Alkoholika und der Besteuerung nichtalkoholischer Getränke, agierten zumindest die staatlichen Kontrollorgane weniger apodiktisch als die Interessenvertreter der Brauer. 1906 bündelte der führende Nahrungsmittelchemiker Adolf Beythien (1867-1949) das damalige Wissen über „alkoholfreies Bier“. Auch er betonte, dass es derartiges nicht geben könne, doch aufgrund einer inkonsistenten Vergabe von Warenzeichen und Patenten habe sich der Begriff im Markt einbürgern können, müsse man mit ihm arbeiten. Drei Verfahren seien zu unterscheiden: Erstens die nachträgliche Entfernung des Alkohols aus vergorenem Bier, wie beim patentierten Frada-Bier. Zweitens die Verkochung von Malz mit Hopfen nebst nachträglicher Kohlensäurezufuhr, also der von Valentin Lapp gewählte Weg. Drittens aber auch der Einsatz von Mikroorganismen, die den Zucker der Bierwürze ohne Alkoholbildung zerlegten – ein auch von Lapp nach der Jahrhundertwende beschrittener Weg (A[dolf] Beythien, Über alkoholfreie Getränke, Sitzungsberichte und Abhandlungen der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS 1905, Dresden 1906, 70-90, hier 76-77). Diese drei Verfahren wurden seitens der Freien Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker 1907 akzeptiert, flossen dann auch in die Steuergesetze ein. Acht Jahre zuvor war das noch anders, denn der Internationale Kongress für angewandte Chemie in Wien nahm 1899 eine Resolution an, die es als unstatthaft erklärte, die Begriffe Bier oder Wein für unvergorene Getränke zu verwenden (Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Hygiene 17, 1899, 521).

Diese Debatten über Sprache und Definitionen waren wichtig, führten sie doch zur Akzeptanz und zur Ablehnung ganzer Branchen – wie wir in den letzten Jahren an der sprachlichen Libertinage im Umgang mit veganen Produkten oder aber der Dubai-Schokolade erfahren haben. Und sie hatten wichtige Auswirkungen auf die Stellung gerade des Pionierproduktes Valentin Lapps. Dieser hatte sein neues Produkt nach Eingang der Analysen am 2. Februar 1897 beim Patentamt angemeldet, und bereits am 11. März wurde sein Warenzeichen unter Nummer 22749 eingetragen. Beim „Original Alkoholfreien Bier“ handelte es sich demnach um ein Brauereierzeugnis, um „Bier, alkoholfreies Bier“ (Alkoholfreies Bier – kein Bier, Gambrinus 26, 1899, 349-350, hier). Wie schon zuvor bei Nägelis Patent des Frada-Bieres war der Begriff damit rechtlich verbindlich anerkannt.

Lapps Warenzeichen für „alkoholfreies Bier“ (Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 73 v. 26. März, 21)

Gleichwohl wurde Valentin Lapp ein Patent für seine Erfindung verweigert. Das Kaiserliche Patentamt holte zuvor drei Gutachten ein. Die Handelskammer Leipzig bejahte, dass die „Bezeichnung ‚alkoholfreies Bier‘ eine übliche Warenbezeichnung geworden sei“ (Leipziger Tageblatt 1898, Nr. 520 v. 13. Oktober, 7667). Das Berliner Pendant, die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft, erklärten die Bezeichnung dagegen „als eine mißbräuchliche Verwendung des Wortes Bier“ (Alkoholfreies Bier, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 21, 1898, 687). Die Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, die neben Weihenstephan wichtigste Ausbildungsstätte der Brauer, gab daraufhin den Ausschlag. Sie sang das Lied der sie finanzierenden Kreise: Bier entstehe durch Vergärung. Wenn man bei der Herstellung einen Bestandteil „herausnimmt, so verliert das Getränk seinen Charakter und seine eigenthümliche Genußwirkung als Bier. […] Die womöglich gesetzlich sanktionirte Bezeichnung ‚alkoholfreies Bier‘ würde vielmehr nur den Zweck haben können, aus dem Umstande, daß es sich dabei um ein alkoholfreies Getränk handelt, auf Kosten des wirklichen ‚alkoholhaltigen‘ Bieres Kapital zu schlagen, indem es vor dem Publikum als das ‚unschädliche‘ Bier gegenüber dem ‚schädlichen alkoholhaltigen‘ Bieres ausgegeben wird.“ Dies sei unlauterer Wettbewerb zu Lasten der Bierbrauerei, es gelte, „die Möglichkeit einer solchen mißbräuchlichen Anwendung der ohnehin widersinnigen Bezeichnung ‚alkoholfreies Bier‘ schon im Keime auszuschließen“ (Alkoholfreies Bier gibt es nicht, American Brewers‘ Review 12, 1898/99, 395). Dieses Ergebnis „eingehender Ermittelungen“ (Die Unzulässigkeit der Bezeichnung „alkoholfreies Bier“, Bayerisches Brauer-Journal 9, 1899, 186) wurde in der Fachpresse gefeiert, dann breit in der Presse gestreut (etwa Lüdenscheider Wochenblatt 1899, Nr. 76 v. 30. März, 6; Hamburger Fremdenblatt 1899, Nr. 77 v. 31. März, 22. Offiziell: Reichs-Medizinal-Anzeiger 24, 1898, 313).

Alkoholfreies Bier gibt es nicht – Eine Eloge (Kladderadatsch 52, 1899, Nr. 17, Beibl. 2, 3)

Lapp legte Widerspruch ein, schließlich musste er sein alkoholfreies Bier als Bier versteuern, resultierte der hohe Preis auch aus dieser Veranlagung, denn es gab keine Steuer für alkoholfreie Getränke. Das preußische Finanzministerium schmetterte sein Anliegen ab, denn alkoholfreies Bier sei zwar keine Verkehrsbezeichnung, wohl aber handele es sich um ein Bier im Sinne des Brausteuergesetzes (Bier, 1899, 350). Die Brauereipresse frohlockte, verwies auf die Besonderheiten der norddeutschen Gesetzgebung, zugleich aber auf den Zwang einer einheitlichen nationalen Regelung. Valentin Lapp habe nicht unlauter gehandelt, zumal alkoholfreier Wein ein gängiger, unbeanstandeter Verkehrsbegriff sei. Doch nun müsse man Klarheit schaffen.

Lapp kritisierte diese Ungleichbehandlung, verwies auf die breite Marktpräsenz und die Gutachten wissenschaftlicher Kapazitäten (Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 193 v. 17. April, 3068). Die Versagung des Patents hatte zwar keine unmittelbaren Auswirkungen, doch die öffentliche Debatte nützte dem neuen Produkt sicher nicht. Zeitgenossen witzelten, ob man denn künftig noch Wasser als „Gänsewein“ bezeichnen dürfe (Hamburgischer Correspondent 1901, Nr. 580 v. 11. Dezember, 12). Und in mehreren anderen Fällen, so bei dem von Karl Michel (1836-1922), dem Leiter der Münchener praktischen Brauerschule hergestellten alkoholfreien Bieres, entschieden die Gremien noch strikter. „Alkoholfreies Bier“ war zwar Teil der Alltags- und Werbesprache, zeitweilig aber nicht der Warenzeichen und Patente. Valentin Lapp ließ sich dadurch allerdings nicht irritieren, arbeitete weiter in vermintem Gelände. Er entwickelte in den folgenden Jahren mehrere Verfahren zur Herstellung verbesserten alkoholfreien Bieres; und diese wurden dann auch patentiert.

Tradierte Werbung

Die Bierwerbung des späten Kaiserreichs, zumal die damals gängige Anzeigenwerbung, war wenig elaboriert, fiel rasch hinter die zunehmend übliche Ästhetisierung und Abstrahierung insbesondere der Markenartikelwerbung zurück. Bier zeichnete sich eben weniger durch Marken als vielmehr durch Sorten aus, klebte am Begriff des Bieres selbst. Genannt wurden die Namen der Brauereien, doch für die Produkte hatte man nur Gattungsbegriffe. Bier als großenteils lokal gebrautes und konsumiertes Getränk war vor Ort präsent, Anzeigenwerbung verwies auf saisonale Spezialbiere, auf das Angebot größerer Gastwirtschaften und Bierhallen. Auch Valentin Lapp hielt am Sortenbegriff fest, mochte er auch eine neue Biersorte geschaffen haben. Diese aber hob er nicht eigens hervor, sondern verwies mit dem Begriff „Valentin Lapps ‚Original alkoholfreies Bier‘“ auf seinen Pionierbetrag, verband ihn mit seinem Namen – nicht aber dem seiner Brauerei. Die Werbung für dieses Produkt wurde nicht von den zunehmend wichtigen Reklamefachleuten gestaltet, wurde nicht mittels der in anderen Branchen üblichen Bildwelten präsentiert. Das Gesundheitsbier stand zwar teils in der Tradition der Heilmittelwerbung, erreichte aber auch nicht ansatzweise deren eingängige, direkt ins Auge fallende Gestaltung.

Informative Werbung für ein neuartiges Produkt (Siegener Zeitung 1897, Nr. 275 v. 25. November, 3)

Die Anzeigen der Einführungsphase waren sachlich gehalten, verzichteten zumeist auf Bildschmuck, arbeiteten mit einfachen Fettungen. Sie stellten die Alkoholfreiheit der neuen Biersorte heraus, verzichteten vor Ort häufig darauf, den Erfinder ansprechend hervorzuheben. Lapps Produkt wurde mit den damals üblichen Symbolen hoher Qualität vorgestellt, also Medaillen, Belobigungen und Analysen. Letztere wurden auch als Flugblätter verteilt, die – wie damals bei Geheimmitteln üblich – gleich zu „Broschüren“ geadelt wurden (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1898, Nr. 31 v. 6. Februar, 2); durchaus mit schönen Titelvignetten.

Extrabeilagen als Werbemittel, also doppelseitige bedruckte Werbeblätter (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 387 v. 2. August, 5613)

Die Anzeigen waren anfangs vielfach mit redaktioneller Werbung gekoppelt. Sie wurden über Annoncenexpedition dann reichsweit geschaltet. Es handelte sich zumeist um Heroen- und Fortschrittsgeschichten: „Nachdem es bereits seit längerer Zeit ermöglicht war, Wein alkoholfrei herzustellen, ist es nach langen kostspieligen Versuchen dem bekannten Bierbrauer gelungen, ein vollkommen alkoholfreies Bier herzustellen, das mit den weitverbreiteten englischen Erzeugnissen dieser Art in keiner Weise zu vergleichen ist und dieselben weit an Nährwerth übertrifft“ (Siegener Zeitung 1897, Nr. 277 v. 27. November, 3). Der stete Verweis auf die Analysen hob das Produkt besonders hervor, zugleich grenzte man sich von unberufenen Kräften ab (General-Anzeiger für Chemnitz und Umgegend 1898, Nr. 112 v. 17. Mai, 3). Beim Nährwert verglich man das neue Bier mit Porter oder Malzextrakt, doch anders als diese sei es nicht erschlaffend, sondern erfrischend. Die wissenschaftliche Aura unterstrich man mit entsprechenden Begriffen, schrieb über Kohlensäure und Nährsalze. Das zielte auf die übliche, meist nur behauptete, Qualitätsführerschaft.

Lapps Werbung positionierte sein alkoholfreies Bier als wissenschaftlich und gesellschaftlich eingefordertes Produkt, als ein Bier, dass dessen rätselhaften Reiz bewahre, doch auch neuen Anforderungen gerecht werde (Bautzener Nachrichten 1898, Nr. 288 v. 13. Dezember, 3334). Entsprechend galt es als ein Getränk für alle, benannte diese Gruppen auch: „So wäre denn in dem alkoholfreien Bier auch ein lange gesuchtes Getränk für Kinder und Frauen, aber auch für Sänger, Sportsleute, sowie alle Solche gefunden, die geistig und physisch angestrengt thätig sind“ (Coburger Zeitung 1898, Nr. 91 v. 20. April, 1). Sein Konsum sei modern und zukunftsgewandt, trendy und hip: „Bei der überall in steigender Tendenz begriffenen Enthaltsamkeits- und Mäßigkeitsbewegung wird das original-alkoholfreie Bier, welches schon jetzt von vielen Seiten als das beste Bier der Welt anerkannt sein soll, eine große Zukunft haben“ (Thorner Presse 1898, Ausg. v. 30. Juni, 6).

Versand als stete Option im nationalen Markt (Alkoholismus 1, 1900, n. 456)

Die lokale, von den Niederlagen direkt geschaltete Werbung knüpfte an solche Aussagen an, war jedoch kleiner, hob das Besondere hervor, koppelte es aber auch mit alkoholischen Getränken.

Attraktion des alkoholfreies Biers – als wissenschaftliche-rationales Produkt und als Ergänzung des Standardsortiments (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1898, Nr. 34 v. 10. Februar, 3 (l.); General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1898, Nr. 289 v. 19. Oktober, s.p.)

Gerade größere Bierhandlungen, sog. Bierverlage, integrierten Lapps Alkoholfreies zwar in ihre Werbung, präsentierten es aber als Teil eines breiteren Sortiments. Es stand hier als Spezialbier zum Kauf, während es im deutlich kleineren Umfeld der Temperenzler als Produkt ohne Alkohol präsentiert wurde. Lapp selbst schied in seinem Leipziger Heimatmarkt zwischen seinen alkoholhaltigen Biersorten und dem „Original alkoholfreien Bier“ aus „reinem Malz und Hopfen“ (Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 249 v. 18. Mai, 3942).

Alkoholfreies Bier als Versandgut einschlägiger Bierhandlungen (General-Anzeiger für Chemnitz und Umgegend 1898, Nr. 194 v. 23. August, 4)

Nicht zu vergessen ist die umfangreiche, auch auf Lapp zielende Agitation gegen alkoholfreie Biere. Meist handelte es sich um Witze, um Fragen der Männlichkeit, um lustige Verse, mit denen man sich von den Sonderlingen, von Bier ohne Alkohol abgrenzte: „‚Vögel, die nicht singen, Glocken die nicht klingen, Pferde die nicht springen, Kinder die nicht lachen – wer hat Lust an solchen Sachen!‘“ (Kreuz und quer, Westfälische Zeitung 1903, Nr. 96 v. 25. April, s.p.)

Insgesamt warb Valentin Lapp, warben auch seine lokalen Vertragspartner für das neue Produkt weit intensiver als es in der Branche üblich war. Sie hatten jedoch keine über die Produktpräsentation hinausgehende Strategie, ihnen gelang keine produktspezifische Formensprache. Auch deshalb wurde das alkoholfreie Bier von der zeitgleich einsetzenden Welle karbonisierter Limonaden werbetechnisch weit in den Schatten gestellt. Sie schufen neue Markenartikel mit eigener Produktidentität, spielten mit der sprachlichen Unbestimmtheit des Feldes, präsentierten Mischungen von Aromen, Farbstoffen, Süßstoffen und Kohlensäure als alkoholfreies Bier. Valentin Lapp dürfte das mit Befremden zur Kenntnis genommen haben, doch führte dies nicht zur Veränderung seiner Werbung. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil er sich nach der Jahrhundertwende abermals unternehmerisch veränderte, seine Bayerische Brauerei in Leipzig verkaufte, verlagerte und in ein neues, ambitioniertes Projekt einer großenteils automatisiert arbeiteten Brauerei und Mälzerei überführte. Das „Original alkoholfreie Bier“ wurde parallel weiter gepflegt, verändert und verbessert.

Verkauf und Neugestaltung: Die Brauerei Groß-Crostitz 1901/02-1904

Im August 1901 wurde in Leipzig die Brauerei Groß-Crostitz AG mit einem Kapital von 1,5 Mio. M gegründet. Ziel war der „der Erwerb und Fortbetrieb der von Val. Lapp in Leipzig-Lindenau bisher betriebenen Brauerei“, der Kauf seines „Brauereigrundstücks in Groß-Crostitz, die Einrichtung und der Betrieb einer Brauerei auf demselben, die Herstellung und der Verkauf von Bier jeglicher Art und die Verwerthung und Ausnutzung der Systeme, Patente und Verfahren des genannten Lapp“ (Leipziger Tageblatt 1901, 435 v. 27. August, 6079). Der Brauer erhielt 900.000 M, 320.000 für die auf den Grundstücken lastenden Hypotheken, 350.000 in bar und 250.000 in 250 Aktien. Sowohl das englische Patent für alkoholfreies Bier, die in Deutschland derweil angemeldeten Verfahren und die Verfügungsrechte über einen in den USA patentierter Apparat zur Herstellung von alkoholfreiem Bier gingen dadurch in die Hände einer Investorengruppe über, deren Zentrum die Brauerfamilie Naumann bildete, die seit 1828 in Leipzig Bier produzierte.

Die Neugründung bedeutete nicht das Ende der Karriere von Valentin Lapp, war für ihn vielmehr der Einstieg in noch ambitionierteres Unternehmen. Rein äußerlich veränderte sich erst einmal wenig: Lapp wurde zum Vorstand bestellt, der ihm schon zuvor nach Leipzig gefolgte Albert Udo Ellerbrock erhielt Prokura und kümmerte sich um den kaufmännischen Bereich (Brauerei Groß-Crostitz, Actiengesellschaft in Leipzig, Gambrinus 28, 1901, 716). Die neue Brauerei sollte ein Musterbetrieb werden, eine großenteils automatisch arbeitende Brauerei und Mälzerei. Letzteres schien besonders lukrativ, auch weil Kathreiner dort eines seiner Inlandswerke für Malzkaffee betrieb. Die meisten Lapp zuvor erteilten Patente betrafen bereits Einzelkomponenten des neuen Idealbetriebes (Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 26, 1903, 660). Er sollte weiterhin alkoholfreies Bier produzieren, ein im Mai 1901 erteiltes Patent Verfahren zur Herstellung eines alkoholfreien gehopften Malzgetränkes unterstreicht die kontinuierliche Entwicklungsarbeit (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 110 v. 11. Mai, 20).

Kontinuität des Verkaufs (Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1902, Nr. 174 v. 29. Juli, 7 (l.); General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1902, Nr. 4389 v. 11. Mai, 5)

Gross-Crostitz lag etwa zwanzig Kilometer nordöstlich von Leipzig-Lindenau, Lapp besaß dort einen mit Mauerwerk für eine kleine Brauerei versehenen Bauplatz. Bereits 1897 begannen konkretere Überlegungen für den Neubau einer an der Peripherie der Metropole gelegenen Brauerei. 1898 errichtete der Chemnitzer Maschinenbaufabrikant Richard Heymann die Groß-Crostitzer Lagerbier-Brauerei, die aber schon im Folgejahr wieder verkauft wurde (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 357 v. 16. Juli, 5251; Eine eigenartige Gründung, ebd. 1898, Nr. 474 v. 18. September, 33; ebd., Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 311 v. 21. Juni, 4886). Für unsere Perspektive auf das neue Brauen sind die Details der Verlagerung der Lappschen Brauerei nicht weiter von Belang. Die „Bayerische Bier-Brauerei, V. Lapp in Leipzig“ wurde im Mai 1902 im Handelsregister gelöscht (Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 2244 v. 4. Mai, 3236). Der Brauereibetrieb wurde fortgeführt und peu a peu an den neuen Standort verlagert (nicht eingesehen wurde der Aufsatz von Fritz Halm, Vom Brauen in Leipzig-Lindenau, Leipzig s.a., StdA Leipzig, Nr. 6811).

Lapps Produktionsmethode galt derweil als Standardverfahren für alkoholfreies Bier (Volkshochschulvorträge, Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 117 v. 6. März, 1639). Die Kontakte zur Temperenzbewegung blieben bestehen, „Original alkoholfreies Bier“ wurde weiter angeboten (Leipziger Jubiläumsausstellung für naturgemäße Lebensweise, Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 243 v. 14. Mai, 9). Zunehmend wurde allerdings publik, dass es durchaus alkoholhaltig war, mochten einzelne Untersuchungen auch immer noch betonen: „Alkohol fehlt!“ (Niederstadt, Analysen alkoholfreier Getränke, Pharmaceutische Zeitung 38, 1903, 895). Genauere Analytik ergab 1904 jedoch einen Alkoholgehalt von 0,67 Prozent (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 10, 1905, 766; Leipziger Tageblatt 1905, Nr. 442 v. 31. August, 9). Der seitens der Gewerkschaften 1903 verhängte Boykott gegen die neue Brauerei Groß-Crostitz führte ebenfalls zu Renommeeverlusten (Merseburger Kreisblatt 1903, Nr. 180 v. 17. Mai, 4). Da half es wenig, dass der Temperenztrank andernorts als „Socialreformer in der Flasche“ gepriesen wurde, als Hilfsmittel für die Integration der Fabrikarbeiter in die bürgerliche Gesellschaft (Ein Socialreformer in der Flasche, Wiesbadener General-Anzeiger 1902, Nr. 149 v. 29. Juni, 4).

Werbung im naturheilkundlichen Kontext (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 174 v. 15. April, Abendausg., 7)

Festzuhalten sind zudem deutliche Preissteigerungen. Während die Flasche in Leipzig und Mitteldeutschland zumeist 20 Pfennig kostete, führte der langsame Ausbau alkoholfreier Wirtschaften und Cafés zu teils deutlichen Preissprüngen, griff hier die Preisbindung doch nicht. Im Wiesbadener Kneipp-Haus kostete die Flasche 1902 zwischen 30 und 40 Pfennige (Wiesbadener Tagblatt 1902, Nr. 139 v. 23. März, Morgenausg., 8; ebd. 1902, Nr. 221 v. 14. Mai, Morgenausg. 9). Ähnliches galt für lokale vegetarische Restaurants und auch Vereinslokale der Temperenzbewegung (Wiesbadener Tagblatt 1902, Nr. 405 v. 31. August, Morgenausg., 7; Solinger Zeitung 1902, Nr. 163 v. 15. Juli, 3). Die Erträge aus Lapps eingeführtem alkoholfreiem Bier dienten der Institutionalisierung der nichtalkoholischen Gegenwelt, der Erfinder profitierte davon bestenfalls indirekt. Parallel gewann man aufgrund der höheren Kapitalkraft der neuen Brauerei neue Vertragsgaststätten gewinnen, in denen das alkoholfreie Bier nun neben Sorten wie Original Groß-Crostitzer, Export, Urquell und Schankbier verkauft wurde (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1904, Nr. 117 v. 20. Mai, 9). Alkoholfreies Bier sickerte langsam in die üblichen Gaststätten ein.

Der Neubau der Brauerei in Gross-Crostitz verbesserte zeitgleich die Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten Lapps. Mehrere Technologen wurden angestellt, darunter auch Experten aus dem Ausland, wie etwa der schwedische Inspekteur Hans Waerner bzw. der zuvor in Konstantinopel tätige Betriebskontrolleur Hermann Schneider. Davon dürfte auch die Produktionstechnik alkoholfreien Bieres profitiert haben. Mitte Januar 1904 wurde Valentin Lapp ein neues Verfahren im cisleithanischen Österreich patentiert (Gambrinus 31, 1904, 331). Schon Mitte Mai folgte ein verbessertes Verfahren, das den eingeschlagenen Weg noch konsequenter beschritt. Die Bierwürze wurde nun in einem Vakuum einer zeitweiligen Hefegärung unterworfen, ohne dass sich dabei Alkohol bildete. Anschließend begann die zuvor übliche Imprägnierung mit Kohlensäure. So wollte man die berechtigten „Ansprüche an Qualität, Geschmack und Aussehen“ in ein besseres Produkt umsetzen (AT Nr. 16243B). Derartige Innovationen waren jedoch nur wichtiges Beiwerk bei der Schaffung einer neuen Musterbrauerei. Heinrich Trillich, zentrale Figur bei der Entwicklung von Kathreiners Malzkaffee und 1904 bei Kaffee HAG, pries später die „vom Gedanken des Massenbetriebes einheitlich konstruierte Neuanlage“ als „grossartige, mit ganz neuen Gedanken arbeitende Brauerei […]. Hier tritt zum ersten Male das Prinzip durch, Bau und Einrichtungen einheitlich den grossen Massen anzupassen“ (Heinrich Trillich, Die deutsche Industrie. I. Das deutsche Braugewerbe, Die Umschau 10, 1906, 70-73, hier 71).

Konkurs und Abschied aus Leipzig 1904-1905

Das aber war schon ein Schwanengesang: Die seit Anfang 1903 in Gross-Crostitz arbeitende, seit Herbst auf Volllast produzierende Brauerei geriet Mitte 1904 in Zahlungsschwierigkeiten. Die neue Aktiengesellschaft wies damals 320.000 M Hypotheken und mehr als 400.000 M offene Forderungen auf, die schwebende Schuld wurde auf 650.000 M geschätzt (Hallesche Zeitung 1904, Nr. 553 v. 16. Juli, 6; Frankfurter Zeitung 1904, Nr. 195 v. 15. Juli, Morgenbl., 2). Man hoffte, diese Malaise mittels einer die Gläubiger mit einbindenden Kapitalerhöhung befriedigen zu können (Saale-Zeitung 1904, Nr. 325 v. 14. Juli, 4). Obwohl der Hauptgläubiger, die uns schon von der Frankenbräu bekannte Chemnitzer Maschinenfabrik Germania, dem Verfahren zustimmte, scheiterte der Vergleich an den Schuckert-Siemens-Werken, deren Forderungen lediglich 21.000 M betrugen (Frankfurter Zeitung 1904, Nr. 195 v. 15. Juli, Abendbl., 4). Entsprechend wurde am 15. Juli 1904 Konkurs angemeldet.

Valentin Lapp geriet nun in das Sperrfeuer öffentlicher und interner Kritik (Gross-Crostitz, Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 386 v. 31. Juli, 13; Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 391 v. 3. August, 9). Die Vorwürfe ähnelten denen der Spätphase der Frankenbräu, abermals wurden die Investitionen in Maschinen sowie zu hohe Ausgaben für Forschung & Entwicklung kritisch vermerkt. Die Details sind spannend, hier aber nicht zu diskutieren. Das Hauptproblem war die Unterkapitalisierung des Modellbetriebes: „Nur mit einem Kapital von M. 1.500.000,- ausgestattet, hatte die Gesellschaft zum Bau der Brauerei M. 2.375.000 benötigt“ (Richard Steinert, Kapitalsbewegung und Rentabilität der Leipziger Aktiengesellschaften, Leipzig 1912, 35). Man wird die Kosten von Beginn an unterschätzt haben, hat aber nicht zuletzt auf Drängen Lapps die anfangs geschmiedeten Pläne umgesetzt und nicht revidiert. Lapps Expertise war dafür ein wichtiges Druckmittel, denn mehrfach bot er seine Demission an, mehrfach wurde diese abgelehnt (Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 357 v. 16. Juli, 6).

Lapps alkoholfreies Bier aus Groß-Crostitz, angeboten kurz vor der Konkurseröffnung (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1904, Nr. 160 v. 10. Juli, 10)

Die Folgen des nicht zustande gekommenen Vergleichs waren jedenfalls tiefgreifend. Lapp selbst verzichtete auf Forderungen von insgesamt ca. 200.000 M, verlor die gleiche Summe nochmals bei sich bis Anfang 1906 hinziehenden Verteilung der Aktiva (Brauerei Gross-Crostitz, A.-G. in Leipzig, Saale-Zeitung 1904 v. 16. Juli, 6). Anfangs hoffte man etwa die Hälfte der Buchwerte realisieren zu können, am Ende war es ein Drittel (Frankfurter Zeitung 1904, Nr. 222 v. 11. August, Abendbl., 4; (Leipziger Tageblatt 1905, Nr. 662 v. 30. Dezember, 6). Während die Liegenschaften der früheren Brauerei in Lindenau gewinnträchtig zu Baugrundstücken umgewidmet werden konnten, bildeten die hochbewerteten Patente Lapps das eigentliche Problem. Die aufgrund ständiger Änderungen Lapps und verspätet gelieferter Maschinen der Maschinenfabrik Germania Mitte 1904 nur mit einem Fünftel der vorgesehenen Kapazität arbeitende Mälzerei ließ Investoren zurückschrecken, die nach den Friktionen die Idealfabrik praktisch arbeiten sehen wollten, ehe sie weiteres Geld investierten. Während des Konkurses produzierte die Brauerei weiter, Lapp betreute die Produktion als technischer Beirat, zog aber nach Leipzig (Ed[uard] Eckenstein, Entwickelung und Fortschritte der Malzfabrikation in den letzten vierzig Jahren, Basel 1908, 111).

Im August 1905 hatten sich Investoren und Gläubiger dann auf die Zukunft des Unternehmens geeinigt. Die Bierproduktion wurde in der Folge beendet, die technisch ambitionierte Mälzerei als Deutsche Malzfabrik in Groß-Crostitz, G.m.b.H. fortgeführt. Die Lappschen Patente blieben in ihrem Besitz. Parallel liefen verschiedene Schadensersatzklagen, die letztlich aber nur Petitessen in einem krachend gescheiterten Zukunftsprojekt waren (Brauerei Groß-Crostitz, Saale-Zeitung 1905, Nr. 360 v. 3. August, 5). Die Firma blieb ein wichtiger Akteur der mitteldeutschen Malzwirtschaft.

Trotz all dieser Fährnisse, trotz der fordernden Neuanlage vornehmlich der Mälzerei, haben weder Valentin Lapp, noch die sich im Konkurs befindliche Brauerei Groß-Crostitz die Fortentwicklung des alkoholfreien Bieres schleifen lassen. Das im April 1905 patentierte US-amerikanische Patent zeigte vielmehr Fortschritte bei der alkoholfreien Gärung im Vakuum und bei nunmehr um den Gefrierpunkt liegenden Temperaturen (Pharmaceutische Praxis 4, 1905, 333; H[ans] Blücher, Auskunftsbuch für die Chemische Industrie, 9. verb. u. stark verm. Aufl., Leipzig 1915, 32-33). Dieses Patent wurde international intensiv diskutiert (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 14, 1907, 764; Biochemisches Zentralblatt 6, 1907, 619; Chemisches Zentralblatt 78, 1907, 1515; Le Moniteur Scientifique 71, 1909, 161). Ziel war die Beseitigung des Würzegeschmacks und -geruchs. Dazu diente auch eine neuartige Vorbehandlung der Hefe (Herstellung von alkoholfreiem Bier mit normalen Biergeschmack, Chemiker-Zeitung 31, 1907, Repertorium, 76). Es ist unklar, ob dieses Verfahren noch vor Ort angewendet wurde. Es wurde 1908 jedoch auch im Deutschen Reich für die Deutschen Malzfabrik patentiert (Uhlands Technische Rundschau 1908, 44).

Wir sehen also auch nach dem Konkurs ein für Technologen vielfach übliches Verhalten. Lapp wusste um die Mängel seiner eigenen Erfindung, verbesserte diese stetig. Immer wieder gab es kleinteilige Verbesserungen, mochte das „Original alkoholfreie Bier“ sprachlich auch immer gleich beworben werden: Verbesserung als Dauerschleife, besser werden, nicht stehenbleiben. Es waren Praktiker und Unternehmer wie Lapp, deren Fleiß, deren Beharrlichkeit Schatten bis in unsere Gegenwart werfen – unabhängig von damit einhergehenden Makeln.

Arbeit und Tod am Berliner Kurfürstendamm 1906-1908

Der Konkurs der von Valentin Lapp geleiteten Groß-Crostitzer Brauerei und der Übergang zur Deutschen Malzfabrik führten zwar zum Ende der Marktpräsenz des Lappschen „Original alkoholfreien Bieres“ im deutschen Markt, nicht aber zu einem Ende verbesserter Brauverfahren dieses Spezialbieres. Für Lapp bedeutete das Ende der Bierproduktion einen neuen Lebensabschnitt als Vermarkter seiner eigenen Patente, als Berater für alle mit der Brauerei und dem Restaurationsbetrieb verbundenen Fragen – so jedenfalls seine Selbstbezeichnung bei einem im April 1906 beantragten Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 30 v. 1. Februar, 20). Valentin Lapp wurde noch bis Ende 1905 in der Presse als „Bierbrauerei-Direktor in Leipzig“ bezeichnet (Pester Lloyd 1905, Nr. 300 v. 3. Dezember, 15), dürfte aber im Frühjahr 1906 nach Berlin umgezogen sein. Er mietete eine Wohnung am Kurfürstendamm 47, die er auch als Geschäftssitz nutzte (Gambrinus 33, 1906, 574; ebd., 192 lokalisierte ihn noch in Leipzig). 1907 wurden ihm noch zwei Warenzeichen für neue Biere zugesprochen, Urquell und Lapp’s Urstoff (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 30 v. 1. Februar, 20; ebd., Nr. 168 v. 16. Juli, 20).

Todesanzeige Valentin Lapps (De Preanger-Bode 1909, Nr. 28 v. 4. Februar, 3)

Valentin Lapp starb 52-jährig am 25. Jahrestag des Todes seiner ersten Frau Selma. Er wurde von seinem in Potsdam lebenden, sich in einer Brauerlehre befindlichen Sohn Theodor tot aufgefunden. Seine dritte Frau war nicht anwesend, sie lebte damals in Loschwitz bei Dresden (Landesarchiv Berlin, Sterberegister 1874-1985, 1908, Nr. 703). Eine Todesanzeige in der Berliner Presse konnte ich nicht ausfindig machen – was aber angesichts der höchst lückenhaften Digitalisierung der dortigen Zeitungen nicht viel heißt. Die hier abgedruckte Anzeige einer holländischen Zeitung nannte lediglich drei trauernde Familienmitglieder, seinen Sohn, seinen Bruder, seinen Schwager.

Auch in der Fachpresse war der Widerhall auf den Tod „des bekannten Technologen“ (Der Böhmische Bierbrauer, 36, 1909, 15) gering. Das war eigentlich typisch für die eher diskrete Gruppe der Ingenieure, der Tüftler und Erfinder; nicht aber für selbststolze Brauer. Es blieben dürre Zeilen: „Am 20. Dezember 1908 ist in Berlin der durch seine brautechnischen Patente bekannte Herr Valentin Lapp plötzlich verschieden. Lapp war bis vor einigen Jahren Brauereidirektor in Bamberg und zuletzt in Leipzig und begründete sodann ein Geschäft in Berlin zur Verwertung seiner zahlreichen Erfindungen“ (Gambrinus 36, 1909, 113). Paradoxerweise wurde jedoch noch kurz vor Kriegsbeginn ein letzter Artikel veröffentlicht: Es ging um ein alkoholfreies Malzgetränk, Bierwürze mit Kohlensäure imprägniert, unter kontinuierlich hohem Druck gekühlt, dann gefiltert, nochmals mit Kohlensäure gesättigt, schließlich abgefüllt (Val[entin] Lapp, Verfahren zur Herstellung eines alkoholfreien gehopften Malzgetränkes mittels flüssiger Kohlensäure, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 41, 1914, 412). Der Vorhang fiel mit einem weiteren geschmacklich verbesserten „alkoholfreien Bier“.

Uwe Spiekermann, 13. September 2025

Gescheitertes Volksnahrungsmittel: Das Milcheiweißbrot 1934/35

Seit 2023 werden hierzulande überteuerte Produkte mit Proteinanreicherung breit vermarktet – und viele Journalisten und „Experten“ sprangen freudig auf diesen nun abebbenden Trend auf. Es handelt sich um eine der vielen strohfeuerartigen Wachstumsgeschichten, die keinerlei Nachhaltigkeit besitzen, die aber für ein, zwei Jahre Gewinne in einem gesättigten Lebensmittelmarkt generieren können. Dabei sind solche „Hypes“ erwartbar, fast schon langweilig. Proteine, Stoffe „von erster Qualität“, standen nämlich seit ihrer 1838 durch den niederländischen Chemiker Gerhard Johann Mulder (1802-1880) erfolgten Benennung im Zentrum vieler wissenschaftlicher Kontroversen und begleitender Kaskaden marktgängiger Offerten.

Im 19. Jahrhundert hatte dies elementaren Sinn. Zum einen galt es die stofflichen Strukturen der Nahrung zu verstehen, um die Defizite der Alltagskost gezielt zu reduzieren. Das deutsche Wort Eiweiß bezeichnete zwar keinen einheitlichen Stoff, doch die Einzelstoffe dieser Gruppe waren offenkundig unmittelbar am Körperaufbau und der Bildung von Muskeln beteiligt, verkörperten Kraft und Leistungsfähigkeit. Gerade tierisches Eiweiß, einverleibt durch Fleisch und Milch, schien förderungswürdig, denn darauf gründete die Entwicklung der Neugeborenen und die Muskelkraft der Männer. Eiweiß trat an die Spitze der unverzichtbaren Nahrungsstoffe – auch, weil die Alltagskost der breiten Bevölkerung eiweißarm war. Die frühen Empfehlungen der Ernährungswissenschaft forderten daher mehr davon, das Kostmaß des Münchener Physiologen Carl von Voit (1831-1908) sprach von täglich 118 Gramm für ein auskömmliches Leben. Zum anderen aber waren eiweißhaltige Nahrungsmittel nicht nur hochwertig, sondern auch deutlich teurer als Kohlenhydrate, letztere in Form von Mehl, Brot und Kartoffeln Rückgrat der täglichen Kost. Die Eiweißfrage war im 19. Jahrhundert demnach immer auch eine sozialer Gerechtigkeit, nach der Integration aller in die bürgerliche Gesellschaft. „Mehr Eiweiß“ wurde ein Flaggenwort der Emanzipation der Arbeiterschaft sowohl auf dem Lande als auch in den rasch wachsenden Städten.

Doch dieser Artikel greift auf die Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts nur zurück; ohne sie ist das auf- und abebbende Angebot proteinreicher und -angereicherter Lebensmittel eben nicht zu verstehen. Im Zentrum dieses Artikels wird jedoch ein historischer Flop stehen, ein scheiterndes Möchtegernvolksnahrungsmittel, das für kurze Zeit reichsweit propagierte Milcheiweißbrot. Es war der deutsche Staat, der nationalsozialistische Staat in seinen Anfangsjahren, der 1934/35 versuchte, das gängige Brot zu verbessern und ergänzend und verdrängend ein eiweißreicheres Milcheiweißbrot zu etablieren. Dazu wurde die staatliche Werbetrommel dröhnend geschlagen, darauf galt es die Konsumenten lockend zu verpflichten. Doch auch NS-Propaganda konnte ins Leere laufen, war keineswegs so erfolgreich, wie uns das die Inszenierungen des Regimes und viele spätere Pseudoerklärungen des „Wie konnte es geschehen“ weismachen wollen. Das Milcheiweißbrot fiel jedenfalls durch – auch wenn es als deutsches Zukunftsbrot, als Kraftbrot, als Resultat deutschen Forschergeistes propagiert wurde. Es fiel durch, auch wenn die Eiweißversorgung im Ausklang der Weltwirtschaftskrise kaum besser war als im späten 19. Jahrhundert. Dabei ging es gar nicht um grundstürzende Veränderungen der täglichen Kost, sondern um eine an sich kleine Veränderung: Das Milcheiweißbrot war ein Kunstprodukt, dem üblichen Brotteig wurde ein wenig getrocknete Magermilch beigemengt. Der Nährwert und der Eiweißanteil lagen dadurch ein wenig höher als zuvor. Und doch, es fiel durch.

Eiweißpräparate als (unzureichende) Alternative tradierter Kost

Um dieses Scheitern zu verstehen, gilt es sich ein wenig genauer mit der Stellung von Eiweiß in den Konsumgütermärkten vor dem NS-Regime auseinanderzusetzen, uns also den Markterfahrungen der damaligen Konsumenten zu widmen. Einerseits war die wissenschaftlich propagierte Vorrangstellung des Eiweißes nicht unkommentiert geblieben. Die vegetarische Bewegung kämpfte schon seit den 1860er Jahren gegen die „Ritter vom Fleische“, verwies auf pflanzliche Proteine, auf Hülsenfrüchte, Getreide, auch die Kartoffeln. Physiologische Forschungen ergaben zudem, dass der Mensch mit deutlich weniger als täglich 118 Gramm Eiweiß leben konnte. In der Eiweißminimum-Debatte, die seit den 1890er Jahren in immer neuen Wellen über mehrere Jahrzehnte geführt wurde, unterschied man zunehmend zwischen einem deutlich niedriger liegenden Mindestbedarf und einem anzustrebenden, die Körperfunktionen optimal ausbildenden höheren Wert. Dabei ging es nicht allein um wissenschaftliche Wahrheit. Ein niedriger Eiweißbedarf und preiswerteres pflanzliches Eiweiß waren insbesondere im Sinne der damaligen Arbeitgeber, mündeten in geringere, am Mindestbedarf ausgerichtete Löhne. Entsprechend gab es intensive Forschungen, Eiweiß billig und haltbar anzubieten. Fleisch wurde gekocht, konzentriert, getrocknet – und Fleischextrakte, Fleischpeptone sowie Fleischpulver wie Carne pura versprachen eine bessere und preisgünstige Ernährung, ohne aber Breitenwirkung zu erzielen. Auch Milch wurde nicht nur frisch verkauft, sondern seit den 1860er Jahren als Kondensmilch resp. später in Form der Heilspeisen Kumys oder Kefir angeboten. Hinzu traten Suppen- und Kindermehle, auch Eipulver oder Trockeneier. Diese Nahrungsinnovationen waren nur in Nischenmärkten erfolgreich. Doch davon ließen sich Erfinderunternehmer nicht bremsen. Seit den 1890er Jahren wurden mit den Eiweißpräparaten neuartige Produkte beworben, die auch im Massenmarkt Erfolg haben sollten.

Neue Formen für Abfall- und Trockenprodukte: Werbung für Aleuronat und Nährstoff Heyden (Vossische Zeitung 1899, Nr. 311 v. 6. Juli, 17 (l.); Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 2 v. 4. Januar, 8)

Zwei damals entwickelte Strategien waren für unsere Fragestellung nach der Einführung und dem Scheitern des Milcheiweißbrotes 1934/35 vorreiterhaft. Einerseits bemühten sich Anbieter, Eiweiß aus möglichst billigen Grundstoffen herzustellen. Reststoffe boten sich dabei an, also nicht lukrativ verwertbare Ergebnisse industrieller Nahrungsmittelproduktion. Das Eiweißpräparat Aleuronat gründete auf den Albfallprodukten der seit 1869 von der Hammer Firma R. Hundhausen produzierten Weizenstärke. Sie dienten anfangs als Tierfutter. Mit der Übernahme der Firma durch den Chemiker Carl Johannes Hundhausen (1856-1946) begann 1881 jedoch ein Umdenken. Die Stärkereste wurden genauer untersucht, die Eiweißbestandteile isoliert und zu einem Pulver verarbeitet (Wichtige Erfindung, Rhein- und Ruhrzeitung 1887, Nr. 34 v. 10. Februar, 2). Das neue, seit 1886 angebotene Aleuronat war nahrhaft, hatte aber einen kratzigen Geschmack, war auch relativ teuer, so dass es als Suppen- oder Brotzusatz Anfang der 1890er Jahre scheiterte. Hundhausen feilte daraufhin an der Trocknungs- und Filtertechnik, konnte auch den Preis massiv verringern. Der Einbruch in den Massenmarkt misslang dennoch. Stattdessen etablierte sich Aleuronat als Diabetikerpräparat, während des Eiweißhypes der Jahrhundertwende auch als kräftigendes Nährpräparat für Rekonvaleszente. Aleuronat war ein chamäleonhaftes Pionierprodukt, ähnlich wie die folgende Lawine: Die bald dreistellige Zahl der Eiweißpräparate war in sich heterogen, die Preisunterschiede beträchtlich, die Grundstoffe vielfach unbekannt. Schlachtabfälle wurden geadelt, ähnlich wie zuvor bei den Fleischfuttermehlen. Der oben angeführte Nährstoff Heyden bestand dagegen aus Eiereiweiß, war daher leicht verdaulich. Vermarktet wurde er jedoch als Ergänzungsnahrung für Wöchnerinnen und Neugeborene (Nährstoff Heyden, Pharmaceutische Post 32, 1899, 408).

Eiweißhype um die Jahrhundertwende: Fortifizierte Nahrungsmittel auf Grundlage von Plasmon und Tropon (Berliner Morgenpost 1900, Nr. 100 v. 1. Mai, 14 (l.); Westdeutsche Bäcker- & Conditor-Zeitung 2, 1900, Nr. 13, 4)

Doch es war nicht nur die hohe Zahl der neuen Eiweißpräparate, die um die Jahrhundertwende einen beträchtlich intensiveren Hype in Gang setzte als das laue Lüftchen der letzten Jahre. Die neuen Trockenpräparate – pastöse Angebote blieben Ausnahmen – konnten und sollten nämlich die gängigen Nahrungsmittel auch anreichern, ihnen ausgewogenere Nährstoffprofile verleihen. Der Mensch schuf sich eine neue Nahrungsgrundlage. Damals gängige Markenartikel wie Plasmon oder Tropon wurden nicht nur als essbare Pulver verkauft, sondern in zahlreiche zumeist kohlehydrathaltige Nahrungsmittel eingebacken, eingerührt. Gemeinsam mit den damals modischen Nährsalzen schien die gewerbliche Produktion neue Angebote schaffen zu können, teils billiger, teils besser als die tradierte Kost. Derartige Konsumträume scheiterten an mangelnder Haltbarkeit, am schlechten, ungewohnten Geschmack, an der nicht sehr elaborierten Produktionstechnik, vor allem aber an den unzureichenden Kenntnissen der Nahrungsstoffe selbst (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Die große Palette der für Eiweiß konstitutiven Aminosäuren wurde erst damals gezielt erkundet. Vitamine waren noch nicht bekannt, die Wirkungen von Mineralstoffen großenteils unklar. Doch die treibende Idee der Anreicherung, der Fortifikation bestehender Nahrungsmittel wurde unbeirrt hochgehalten. Man müsse nur die Mängel abstellen, das stofflichen Wissen verbessern.

Das galt nicht zuletzt für das Brot, nach der Kartoffel das Hauptnahrungsmittel dieser Zeit. Nicht aber Bäcker waren Pioniere der Umgestaltung, sondern Naturwissenschaftler: Der Göttinger Mediziner Wilhelm Ebstein (1836-1912) zielte beispielsweise auf Nährbrote für die Krankenkost, für die wachsende Zahl der Diabetiker. Versuche mit Tiereiweiß hatten sich nicht bewährt, das seit den 1840er Jahren gängige Kleberbrot schmeckte nach längerem Konsum widerwärtig. Er experimentierte daher mit Aleuronat-Zusätzen in Suppen, Gebäck, Panaden und Brot. Doch es bedurfte der Not der Krankheit, um letzteres regelmäßig zu essen ([Wilhelm] Ebstein, Ueber Ernährung der Zuckerkranken, Internationale Klinische Rundschau 6, 1892, Sp. 952). Da half es auch nicht, das die Resorption von solchem „Milcheiweissbrot“ an sich hoch war (W[ilhelm] Prausnitz, Ueber ein neues Eiweisspräparat (Siebold’s Milcheiweiss), Münchener Medizinische Wochenschrift 46, 1899, 849-858). Für Zuckerkranke waren die fortifizierten Brote seither eine wichtige Ernährungshilfe, nicht aber im Massenmarkt (Salabrose, Medizinische Klinik 25, 1929, 29; Plaschkes, Diabetikerbrot, Wiener Medizinische Wochenschrift 81, 1931, 1505).

Das zeigte sich auch bei verschiedenen Bemühungen, mit Magermilch angereichertes Brot zu vermarkten. Versuche gab es in den frühen 1890er Jahre erst einmal in der Schweiz, wo die Butter- und Käseproduktion zu kaum mehr verwertbaren Magermilchmengen führte. Oskar Gottwald Ambühl (1850-1923), Kantonschemiker St. Gallen und zeitweilig auch Präsident der Schweizerischen Gesellschaft analytischer Chemiker, trat emsig für das neue Brot ein, doch bedauernd blieb zu konstatieren, „die liebe Gewohnheit siegte über eine vorteilhafte Neuerung in der Volksernährung“ (Jahrbuch der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft 48, 1907, 202-203). Auch die stärker elaborierten Vorschläge des Leipziger Hygienikers und Kgl. Oberapothekers Georg Marpmann (1849-1911), flüssige Magermilch resp. das kompaktere Zwischenprodukt Kasein zu einem „Eiweissbrot“ (Jahresbericht der Pharmacie 30, 1895, 640) zu verbacken, scheiterten letztlich an der fehlenden Resonanz bei Bäckern und Konsumenten (G[eorg] Marpmann, Die Verwertung der Molkereiabfälle, Apotheker-Zeitung 10, 1895, 169-170, hier 170). Die neuen Produkte mochten zwar volkswirtschaftlich und physiologisch gut begründbar sein, doch angesichts des ungewohnten Geschmacks und höherer Preise gab es für die gesunde Mehrzahl keinen Anlass, ihren Alltagskonsum zu verändern.

Entsprechend scheiterten auch während des Ersten Weltkriegs neuerliche Initiativen für sog. Magermilchbrote oder aber andere Eiweißbrote (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 7, 1916, 250). Auch das 1915 zeitweilig propagierte Bluteiweißbrot konnte die Hürde des Probierens und raschen Ausspeiens trotz Versorgungsengpässen nicht überwinden. Wir finden damals allerdings bereits das für das nationalsozialistische Milcheiweißbrot dann so charakteristische propagandistische Beschönigen. Das Neue galt als „Spartanerbrot“, es sei schmackhaft, haltbar und billig, im Ostseeraum und Skandinavien schon länger bewährt und werde bereits allüberall in Deutschland gebacken (Das Spartanerbrot, Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger 1915, Nr. 200 v. 29. August, 6; Die neue Eiweißquelle – das Blut-Eiweiß-Brot, Sächsische Volkszeitung 1915, Nr. 166 v. 23. Juli, 1933). Das waren Wunschwelten der Propaganda. Auch das sogenannte N-Brot, ein mit Nährhefe fortifiziertes eiweißreicheres „Kraftbrot“, scheiterte am schlechten, durchdringenden Geschmack (N-Brot, ein Kraftbrot, Die Umschau 20, 1916, 14-15).

Verbesserte Zusatzstoffe: Trockenmilch

Der Fehlschlag der Eiweißanreicherung des Brotes in den 1890er Jahren und auch in den Notjahren des Weltkrieges war – so die naturwissenschaftlichen Experten – vorrangig Folge wenig ausgefeilter Zwischenprodukte, einer dringend verbesserungswürdigen Produktionstechnik und unzureichender Grundlagenforschung. Letzteres bezog sich auf die nur rudimentären Kenntnisse über den Geschmack der Nahrungsmittel und dessen Veränderungen während der Bearbeitung. Das war Gegenstand der Bromatik, die erst in der Zwischenkriegszeit größere Bedeutung gewann. Während des Kaiserreichs war Deutschland international führend in der Entwicklung und der Synthetisierung von Essenzen und Aromastoffen; und entsprechend der Außenblick, die Neigung, nicht die Produkte selbst zu optimieren, sondern ihnen verbessernd etwas zuzumengen. Die Lebensmittelherstellung blieb daher tradiert, „bewährt“. Das galt gerade für das Brot, dem seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder leistungsfähigere Backhilfsmittel beigemengt wurden, nachdem noch vor der Reichsgründung der Übergang vom Sauerteig- zum Backpulverbrot kläglich gescheitert war. Auch die seit den 1890er Jahren lautstark propagierte Brotreform zielte vorrangig auf anders vermahlene und vorbehandelte Mehle, während die chemischen Veränderungen während des Backens vielfach unbekannt waren und großenteils auch blieben.

Die Bewegung hin zu einem angereicherten Milcheiweißbrot wurde daher nicht von den Bäckern getragen. Sie war stattdessen Folge einer zunehmend marktbezogen arbeitenden Landwirtschaft. Dort entwickelte sich die Milchwirtschaft zur wichtigsten Einzelbranche, ökonomisch wichtiger als die gemeinhin mit dieser Zeit verbundene Schwerindustrie oder die chemischen Industrien. Wachsende urbane Märkte, das massenhafte Aufkommen von Separatoren, die Bildung von Molkereien und Molkereigenossenschaften, zunehmende Spezialisierung und die verstärkte Verwendung von Kraftfutter veränderten den Zuschnitt einer immer größeren Zahl bäuerlicher Existenzen. Tiermast, Butter- und Käseproduktion  spiegelten sich im wachsenden Aufkommen von Magermilch, die gemeinhin verfüttert wurde, während man Vollmilch und Milchfette verkaufte. Die um die Jahrhundertwende intensiv und mit kulturpessimistischen Tönen geführte Debatte um die „Entmilchung“ des Landes spiegelte diese Verschiebungen.

Die Magermilch enthielt meist nur einem halben Prozent, gar weniger Fett, war vorrangig Tierfutter. Marktnah wurde sie zu Magermilchkäse, den vor allem in Mitteldeutschland allgemein üblichen Weichkäsen bzw. Quark verarbeitet, diente auch als Grundlage für Buttermilch. Doch nicht zuletzt aufgrund fehlender Kühltechnik waren die Marktchancen für Kleinbetriebe begrenzt, blieb die Nutzung im eigenen Betrieb üblich. Dennoch wurde über neue, finanziell einträglichere Produkte aus Magermilch nachgedacht. Dabei gewann die Trocknung zu Trockenmilch, Milchpulver und Kasein wachsende Bedeutung. Das war Herrschaft über Zeit und auch Raum. Ein Teil davon mutierte zu Eiweißpräparaten, doch dieser Absatzmarkt war begrenzt – auch, weil die vielen kleinen Höfe und die regional noch sehr unterschiedlich verteilten Molkereien ihre Rohware schlechter bündeln konnten als etwa in Städten konzentrierte Schlachthöfe oder größere Stärkefabriken.

Die Masse der Trockenmilch wurde ohnehin importiert, lag der Schwerpunkt der ländlichen Industrie doch eher in Ostpreußen, wo 1913 neun Fabriken bestanden (W[ilhelm] Fleischmann, Lehrbuch der Milchwirtschaft, 5. neu bearb. Aufl., Berlin 1915, 469). Die inländische Produktion setzte 1890 ein, meist als Nebengewerbe größerer städtischer Milchverarbeiter wie Gebr. Pfund in Dresden oder Loeflund in Stuttgart (A[dalbert] Rabich, Ein Jahrhundert Molkereiwesen, in: Die deutsche Milchwirtschaft im Wandel der Zeit, Hildesheim 1974, 11-208, hier 92). Das Magermilchpulver wurde vorrangig in der Säuglingsernährung eingesetzt, zunehmend gefolgt von der Süßwarenindustrie. Anfangs wurde die Milch in Pfannen eingedampft, war entsprechend vitaminarm. Erst um 1900 führte man schonendere Walzenverfahren ein. Während des Ersten Weltkrieges nahm die Produktion beträchtlich zu, konnte aber die wegbrechenden Importe auch nicht ansatzweise ersetzen. Einen nennenswerten quantitativen Effekt auf die Magermilchverwertung besaßen die neuen Produktionsstätten ohnehin nicht.

Trockenmilch als Ersatzmittel für die kaum mehr verfügbare (Voll-)Milch während des Ersten Weltkrieges (Vorwärts 1915, Nr. 223 v. 28. September, Unterhaltungsbl., 2)

Trockenmilch milderte während des Ersten Weltkrieg in vielen urbanen Zentren die quantitative und qualitative „Milchnot“ – auch wenn das Pulver in Wasser teils nur schwer löslich war (Hugo Kühl, Trockenmilchpräparate als Liebesgaben, Zeitschrift für physikalische und diätetische Therapie 23, 1919, 693-696). Gewalzte Trockenmilch war keimarm, enthielt noch Vitamine, war preiswerter zu transportieren als Vollmilch (L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927, 46-49). Dennoch dominierten nach dem Ende der Zwangswirtschaft wieder die Importe vorrangig aus den Niederlanden. Erst 1926 konnten die Deutschen die zuvor untersagten Schutzzölle neuerlich erhöhen, was den nun vermehrt entstehenden deutschen Unternehmen eine gewisse Plansicherheit gab. 1934 gab es reichsweit 41 Trocknungsanlagen, 26 Sterilisierungsbetriebe und vierzehn Kaseinwerke mit einer Kapazität von ca. 375 Mio. Liter, etwa drei Prozent des Anfalls. Ausgenutzt wurde davon aber nur ein Drittel (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Das neue Milcheiweißbrot sollte, so der Plan, die Auslastung massiv erhöhen und der Industrie einen dauerhaften Aufschwung verleihen. Obwohl die Qualität mittlerweile deutlich verbessert wurde – Wasserlöslichkeit war kein Problem mehr und neue Sprühtrockenverfahren verbesserten die Haltbarkeit und den Vitamingehalt – blieb die Akzeptanz der Trockenmilch begrenzt. In der Schweiz hatte man seit 1927/28 neuerlich Magermilchbrot propagiert, doch dies wurde weder von Bäckern noch Konsumenten angenommen (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 19, 1928, 275). Der andersartige, teils fade Geschmack und auch die raschere Abgegessenheit ließen die Versuche immer wieder erfolglos enden (Magermilchbrot ist nicht begehrt, Der Bund 1934, Nr. 563 v. 2. Dezember, 6).

Eingesacktes Milchpulver der Trockenmilchwerke Lippstadt und Trockenmilchpresslinge (Zeno-Zeitung 1938, Nr. 282 v. 15. Oktober, 7 (l.); Illustrierter Beobachter 12, 1937, 1197)

Erfolge der Agrarlobby: Beimischungszwang 1933

Das seit 1934 im Deutschen Reich propagierte Milcheiweißbrot war denn auch keine Angelegenheit marktnah arbeitender Kreise. Es stand vielmehr in der Tradition der seit 1929 von der damals gut organisierten und äußerst einflussreichen Agrarlobby durchgesetzten Beimischungszwänge. Das war Folge der schon länger schwelenden internationalen Agrarkrise, der trotz beträchtlicher Investitionen fehlenden Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft und ihrer wachsenden Überschuldung. Doch die Zeche einer Jahrzehnte zurückreichenden, teils bewusst unterlassenen Modernisierung, die ein wichtiger Aspekt auch der Versorgungskatastrophe während des Ersten Weltkrieges gewesen war, sollten nun die Verbraucher zahlen, deren Wahlmöglichkeiten man durch staatliche Interventionen marktfern verringern wollte. Das hatte Tradition, das 1914 eingeführte K-Brot wurde zwar als Kriegsbrot vermarktet, war jedoch ein mit Kartoffelwalzmehl angereichertes Produkt, das helfen sollte, die schwindenden Getreidevorräte zu strecken (Lebensmittelstreckung, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 25, 1915/16, Sp. 559-562; Ferdinand Hueppe, Unser Kriegsbrot, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 726-731). Das Ergebnis war klitschig, wurde bald verschmäht. Zusätze von Stroh und Holz wurden erforscht, als Notbrote aber kaum eingesetzt (Heinrich Mohorcic und Wilhelm Prausnitz, Die Verwendung des Holzes zur Herstellung von Kriegsbrot, Archiv für Hygiene 86, 1917, 219-240). Der Mensch war doch kein Vieh…

Staatlich verordnete Beimischungszwänge wurden mit Beginn der Weltwirtschaftskrise nicht nur im Deutschen Reich modisch, waren während der NS-Zeit endemisch und sind bis heute Teil auch sich marktwirtschaftlich nennender Wirtschaftspolitiken (Bioethanol). Es handelt sich um dirigistische Eingriffe in den Preismechanismus zu Lasten einzelner Gruppen. Sie sind ein klarer Bruch mit einer damals von der liberalen und katholischen Mitte und der SPD verteidigten Konsumentensouveränität. Den Anfang machte das qua Notverordnung veränderte Brotgesetz vom Dezember 1930, das zwar nicht die „Brotzwangswirtschaft“ (Das Roggenbrotgesetz, Vorwärts 1930, Nr. 51 v. 31. Januar, 3) einführte, wohl aber einen Beimischungszwang von Roggen zum Weizenmehl vorsah. Dies erfolgte gegen den massiven Widerstand der Bäcker, die um die Qualität des Standardbrotes fürchteten und Umstellungen ihrer Produktionsverfahren scheuten (Zwangsweise Beimischung von Roggenmehl zum Weizenmehl?, Weckruf 16, 1929, 1149-1150). Auch die Konsumgenossenschaften sahen die Roggenbegünstigung kritisch, wandten sich aber noch strikter gegen den Beimischungszwang von Butter zur Margarine 1933 (G[eor]g Büchlein, Beimischungszwang von Butter zur Margarine, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 30, 1933 4-5). Beimischungszwänge gab es jedoch zunehmend auch in anderen Wirtschaftsbranchen: Ab 1930 waren dem Treibstoff 2,5 Prozent Kartoffelsprit beizumengen, bis 1932 sollte dieser Anteil auf zehn Prozent steigen. Während der NS-Zeit sollte derartiger staatlicher Dirigismus die Umsteuerung auf deutsche Austauschstoffe begleiten und zur „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsfähigkeit führen. Er war nicht länger vorrangig agrar-, sondern zunehmend staatspolitisch motiviert. Entsprechend erfolgten Beimischungszwänge ab 1936 zunehmend ohne Kennzeichnung, gleichsam hinter dem Rücken der Konsumenten. Die prekäre Devisenlage des Reiches und die teure Aufrüstung ließen derartige Eingriffe erforderlich erscheinen.

Kritik an den willkürlich erscheinenden Beimischungszwängen der Regierungen während der Präsidialdiktatur (Ulk 62, 1933, Nr. 1, 1)

Für unsere Frage nach dem Entstehen und der Propagierung des Milcheiweißbrotes 1934/35 müssen wir jedoch genauer hinschauen. Das im Juni 1931 neuerlich per Notverordnung geänderte Brotgesetz beendete erst einmal die Roggenmehlbeimischung zum Weizen, erlaubte nun aber dem Weizenbackwerk bis zu zehn Prozent Kartoffelstärkemehl beizumengen (Das neue Brotgesetz 1931, Nr. 174 v. 25. Juni, 3). Im Herbst 1931 endete die Freiwilligkeit, nun musste dem Brot Kartoffelstärkemehl zugefügt werden, um so zusätzlich 600-700.000 Tonnen Kartoffeln abzusetzen (Neue Erleichterung des Kartoffelabsatzes, Kölnische Zeitung 1931, Nr. 533 v. 30. September, 1). Das Bäckerhandwerk protestierte scharf, konnte den Beimischungszwang jedoch nicht verhindern. Ähnlich war es im Dezember 1932, als zudem Kartoffelwalzmehl genutzt werden sollte, also der vom K-Brot des Weltkrieges bekannte Hilfsstoff: „Wenn der Reichsinnenminister glaubt, daß der Bäckermeister sich bereitfinden würde, neben dem aufgezwungenen Kartoffelstärkemehl auch noch Kartoffelwalzmehl zu verwenden, dann ist er in einem großen Irrtum“ (Kartoffelwalzmehl zum Roggenbrot?, Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung (RBKZ) 35, 1933, 40). Beides gehöre nicht in die Backstube. All dies erfolgte während der Präsidialdiktaturen, bereitete aber dem Milchweißbrot den Weg.

Wie verwerten? Magermilch zwischen Tierfutter und Eiweißreserve (Ernährungsdienst Nr. 13, 1936, 5)

Schon vor der Machtzulassung der NSDAP wurden weitere Beimischungszwänge für die Brotherstellung diskutiert, darunter auch die verpflichtende Verwendung von Magermilch. Während der Agrar- und Weltwirtschaftskrise war dieser Reststoff der bäuerlichen Milchwirtschaft zu einem immer größeren Problem geworden. Eine breitere gewerbliche Nutzung war jedoch kaum möglich, auch das Verbacken frischer Magermilch schien unmöglich: Die Bäcker intervenierten früh, verwiesen auf die hohen Transportkosten, fehlende Kühltechnik und Maschinen, sprachen von einem um fünf bis sechs Pfennig teureren Brot: „Das Bäckerhandwerk kann derartige Lasten erst recht nicht auf sich nehmen, abgesehen davon, daß die Bevölkerung sich noch mehr vom Brotverzehr – nicht zuletzt auch zum Schaden der Landwirtschaft – abwenden wird“ (Magermilch in Bäckereien, RBKZ 35, 1933, 74). Dennoch wurde am 12. September 1933 das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch erlassen. Milch und Brot gingen damit eine erzwungene Symbiose ein, die ein gutes Jahr später in das Milcheiweißbrot münden sollte.

Auf dem Weg zur reichsweiten Einführung

Das neue Brot wurde offiziell Ende Oktober 1934 vorgestellt und sollte ab dem 1. November allgemein verfügbar sein. Dies war nicht Ausfluss einer stringenten Agrarpolitik, sondern Resultat einer durch die massiven staatlichen Eingriffe mit verursachten Versorgungskrise. Sie hatte sich bereits 1933 ankündigt, war während der ernsten Wirtschafts- und Finanzkrise im Frühjahr 1934 jedoch kaum mehr zu überdecken. Kartoffeln wurden zunehmend knapp, die Kritik der Bäcker an der zwangsweisen Verwendung des Kartoffelmehls hallte nach, zugleich galt die Magermilch aufgrund der freien Kapazitäten als gut erschließbare Nahrungsreserve (P[aul] Schuppli, Ueber Beimischung von Magermilch bei der Broterzeugung in Deutschland im Interesse der besseren Milchverwertung, Der fortschrittliche Landwirt 17, 1935, 70). Das Gesetz über die Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch sah anfangs allerdings nur geringe Anteile von einem halben bis einem Prozent Milchpulverzusatz vor. Anfang 1934 wurde erst in Bayern, dann auch im Südwesten erlaubt, das Kartoffelmehl gänzlich durch Magermilch zu ersetzen (Verwendung von Trockenmagermilch in Württemberg, RBKZ 36, 1934, 140). Als am 15. Oktober 1934 das Gesetz auslief, trat an seine Stelle nunmehr eine formal freiwillige Anreicherung der Brote mit mindestens 2,5 Prozent Magermilchpulver. Die gleichgeschaltete Presse applaudierte: Schon Kartoffelmehl habe die Brotqualität gehoben, doch mit der neuen eiweißhaltigen Magermilch werde eine „weitere Verbesserung“ (Milch-Eiweiß-Brot, Hannoverscher Kurier 1934, Nr. 498 v. 24. Oktober, 2) erzielt.

Bevor wir uns der Einführungspropaganda widmen, müssen wir uns noch einem eigenartigen Phänomen zuwenden, das für die NS-Ernährungspropaganda recht typisch werden sollte. Das Milcheiweißbrot erschien als begrüßenswerte Neuschöpfung – doch faktisch wurde es bereits 1933 öffentlich immer wieder erwähnt, mutierte seit Frühjahr 1934 gar zu einem gängigen Vorzeigeobjekt. Es gab also eine Vorpropaganda, die zwar die Vorstellung einer grundstürzenden Neuerung unterminierte, die aber die Einführung des Milcheiweißbrotes vorbereitete.

Die Machtzulassung der NSDAP Ende Januar 1933 bedeutete anfangs massive Gewalt gegen die Opposition, doch parallel führte die neue konservativ-nationalsozialistische Regierung Maßnahmen der Zeit der Präsidialdiktatur, teils auch der parlamentarischen Demokratie weiter. Für die Milchwirtschaft war das Milchgesetz von 1930 die entscheidende Wegmarke. Und es war der 1926 gegründete Reichsmilchausschuss, der 1933 nicht nur weiter für einen höheren Milchkonsum warb, sondern auch ein Milcheiweißbrot freudig präsentierte (Flugtag in Berlin, Stuttgarter Neues Tagblatt 1933, Nr. 357 v. 3. August, 17). Das sei Ergebnis neuerlicher agrarwissenschaftlicher Forschungen zur Nutzung der Magermilch: „Bei der Brotherstellung fand Milch schon Verwendung, soweit es sich um Weißbrot handelt. Eingehende Versuche haben nun ergeben, daß auch die Verwendung entrahmter Milch in flüssiger Form oder als Milchpulver bei der Herstellung von Roggenbrot ein sehr wohlschmeckendes Brot ergibt, das durch Erhöhung des Eiweißgehalts dem mit Wasser hergestellten Roggenbrot vorzuziehen ist“ („Milcheiweißbrot“, Neckar-Bote 1933, Nr. 206 v. 5. September, 5).

„Milcheiweißbrot“ vor der Einführung: Stellenanzeige für Milchpulver-Vertreter (Neue Mannheimer Zeitung 1934, Nr. 409 v. 6. September, 14)

Backversuche schlossen sich an, umfangreiche Überlegungen zur Werbung, zunehmend auch Gespräche mit den beteiligten Wirtschaftskreisen. Gerade in der Trockenmilchindustrie bereitete man sich vor, musste die Milchpulverproduktion doch beträchtlich gesteigert werden, um den erwarteten Bedarf zu decken. Die Dauermilchindustrie wurde neu strukturiert, ihr eine staatliche „Marktordnung“ und ein neues Ziel verliehen: „Milcheiweißbrot, das deutsche Kraftbrot, wird in kurzer Zeit das tägliche Brot von Millionen Verbrauchern sein, und damit wird ein erhöhter Absatz von entrahmter Milch auf lange Zeit hinaus gesichert“ (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Die Milchwirtschaftsverbände luden schon im September 1934 Journalisten, Frauenverbände und NS-Repräsentanten zu Besichtigungsfahrten von Molkereien und auch – wenn vorhanden – Trockenmilchfabriken ein, präsentierten dort schon Milcheiweißbrothäppchen für die Multiplikatoren (Besichtigungsfahrt in das Milcheinziehungsgebiet Witten, Wittener Tageblatt 1934, Nr. 204 v. 1. September, 4; Eine Fahrt ins Milchland, Bottroper Volkszeitung 1934, Nr. 268 v. 29. September, 5). Milcheiweißbrot wurde vorher bereits auf der seit Ende April 1934 in Berlin gezeigten NS-Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ präsentiert, die heute vornehmlich durch die Beiträge führender Bauhäusler in Erinnerung geblieben ist (RBKZ 36, 1934, 510). Ende Mai fand man es auf der ersten Reichsnährstand-Ausstellung in Erfurt, 11.000 Brote sollen damals in Bäckereien und der Milchkosthalle verkauft worden sein (Ostpreußische Zeitung 1934, Nr. 294 v. 24. Oktober, 12). Das Mitte März neu gegründete Reichskommissariat für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft präsentierte das Milchweißbrot dann auf der Jahresmesse für das Gastwirts-, Hotelier- und Konditorengewerbe in Berlin: „Die neue Brotart wird erst ab 15. Oktober im Handel sein, um dann schlagartig in jeder Bäckerei um die Gunst des Publikums zu werben“ (Milcheiweißbrot und Drei-Fett-Topf. Revolution im Haushalt, Dresdner Nachrichten 1934, Nr. 466 v. 4. Oktober, 6). Schlagartige Präsenz mit zugestandenem Vorlauf.

Werbefotos mit Brot und Plakaten (Volksgemeinschaft 1934, Nr. 293 v. 27. Oktober, 4 (l.); Velberter Zeitung 1934, Nr. 292 v. 24. Oktober, 3)

Das Reichskommissariat verbreitete derweil vorbereitete Artikel, in denen die kommende Melange von Milch und Brot schmackhaft gemacht wurde (Milch und Brot – Milcheiweißbrot, Nethegau- und Weser-Zeitung 1934, Nr. 125 v. 15. Oktober, 4). Das neue Brot sei traditionsreich, eiweißreich und doch billig, ein „Aufbaubrot für jung und alt“, ein wahres Volksbrot, „das als kraftvolles, kerniges Brot ein kraftvolles, kerniges Volk zu schaffen vermag“ (Steinheimer Zeitung 1934, Nr. 240 v. 16. Oktober, 6). Hausfrauen wurden gezielt angesprochen, das Kommende vor Augen geführt: „In den Schaufenstern zahlreicher Bäckereien wird ein Schild, das ein appetitliches, mit Banderole versehenes Brot zeigt, den Hausfrauen in die Augen springen“ (Jetzt gibt’s Milcheiweißbrot, Zeno-Zeitung 1934, Nr. 288 v. 19. Oktober, 8). Trotz weiterhin hoher, wenngleich rasch abklingender Arbeitslosigkeit, trotz eines nur langsam und mit Stockungen in Gang kommenden Wirtschaftsaufschwungs, sollten sich die Konsumentinnen auf das neue Brot freuen. Man gab sich sicher, dass es gern gekauft werden würde („Milcheiweißbrot“, National-Zeitung 1934, Nr. 249 v. 23. Oktober, 4), schließlich sei man dem neuen Deutschland und seinem „Volkskanzler“ gegenüber verpflichtet. Experten- und Diktatorenträume…

Ein neues, vielgestaltiges Produkt

Sorgender Staat: Kunde von einem neuen Volksnahrungsmittel (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3)

Das Milcheiweißbrot wurde im Oktober 1934 als neues Volksnahrungsmittel angekündigt, also als ein wichtiger und bleibender Beitrag zur Alltagsernährung. Trotz der Vorpropaganda, trotz der auf mehreren Ausstellungen und Messen verteilten Proben handelte es sich jedoch erst einmal um eine erläuterungsbedürftige Worthülse. Entsprechend war die Propaganda geprägt von vermeintlichen Sachinformationen. Propaganda, auch die nationalsozialistische, bedarf nachprüfbarer Fakten, sogenannter rationaler Propaganda (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [ebook], 114-115). Was also war das neue Milcheiweißbrot?

Seitenansicht eines Milcheiweißbrotes (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 555)

Erste Nachrichten besagten, daß es „jetzt nach einem vorgeschriebenen Rezept ein Milcheiweißbrot [gibt, US], das als neuartiges Kraftbrot anzusehen ist, denn es enthält im Gegensatz zu dem üblichen Brot das außerordentlich nahrhafte Milcheiweiß“ (Rheinisches Volksblatt 1934, Nr. 249 v. 24. Oktober, 8). Genauere Information findet man nur in der Fachliteratur. Ein Grundrezept lautete bei der Einführung: „750 Gramm Vollsauer aus Roggenmehl Type 997, 10 Gramm Salz, 475 Gramm Mehl Type 997 und 25 Gramm Milchpulver (bzw. 15 Gramm Kasein und 485 Gramm Mehl) wurden zu einem normalen Teig von 27 Grad Celsius verarbeitet. Der Tag kam eine Stunde in den Gärschrank von 38 Grad Celsius, hierauf wurde durchgewirkt, gewogen und ein Laib von 1400 Gramm Teiggewicht ausgeformt. Nachdem die Ofengare der Laibe erreicht war, wurden sie innerhalb 45 Minuten bei 260 Grad ausgebacken“ (P[aul] Pelshenke und A[dolf] Zeisset, Backprüfung der Magermilchpulver, RBKZ 38, 1936, 5-6, hier 5). In der Backstube waren die Mengen natürlich größer.

Der Einführung gingen umfangreiche Backversuche in verschiedenen Gebieten Deutschlands voraus, auch wenn nicht klar ist, ob die immer wieder genannte Zahl von mehr als 100.000 Versuchsbroten wirklich belastbar war oder nicht doch der nationalsozialistischen Freude am Mächtig-Gewaltigen entsprach. Sie wurden unter den Auspizien von Hans Adalbert Schweigart (1900-1972) vorgenommen, einer schillernden Figur während der NS-Zeit, auch während der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik. Nach der Promotion zum Chemiker arbeitete er von 1928 bis 1932 in der Produktentwicklung der Saalfelder Schokoladenfabrik Mauxion, deren Schoko- und Kakaotrunk damals beträchtlichen Erfolg hatte. Schweigart wechselte dann zum Reichsmilchausschuss, agierte als Hauptabteilungsleiter des Reichsnährstandes, wurde 1935 schließlich Direktor des Berliner Instituts für Milchwirtschaft. Er war ein gutes Beispiel für zahlreiche junge nationalsozialistische Akademiker, die ihre Karrieren vor allem den massiven Investitionen in die Agrar- und Ernährungsforschung verdankten. Nach Schweigart erprobte man „bei Privatbäckern, in Konsumbäckereien, in der Militärbackanstalt“ verschiedene Backverfahren. Im Gegensatz zur Vorstellung vom Einheitsrezept gab es jedoch keine verbindlichen Backvorschriften. Milcheiweißbrot konnte „als Vollkornbrot, Schwarzbrot, Graubrot oder Feinbrot gebacken“ werden, wahlweise „mit Sauerteig- oder Hefeführung“ (Hans Adalbert Schweigart, Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 510-512, hier 511).

Varianten des Milcheiweißbrotes (National-Zeitung 1936, Nr. 195 v. 18. Juli, 3)

Positionierung und Abgrenzung einer Lebensmittelinnovation

Milcheiweißbrot war demnach ein Dachbegriff, denn es konnte sehr unterschiedlich ausfallen. Das verbindende Element dieser Brote war schlicht der Zusatz von Magermilchpulver oder – sehr selten – Nährkasein. Angesichts der zuvor schon beleuchteten Vorgeschichte war sein Platz im etablierten Gefüge der Standardbrote unklar. Die rationale Propaganda positionierte es erst einmal negativ.

Milcheiweißbrot war demnach erstens kein Einheitsbrot. In zahllosen Artikel wurde im Oktober 1934 immer wieder hervorgehoben, dass der Kauf freiwillig sei, „kein Zwang“ (Karlsruher Tagblatt 1934, Nr. 295 v. 25. Oktober, 5) auf die Konsumenten ausgeübt würde. Es handele sich um ein ergänzendes Angebot: „Um den Schein eines Abnahmezwanges zu vermeiden, wird es nur dort verkauft, wo auch normales Brot feilgehalten wird“ (Stadtanzeiger für Wuppertal und Umgebung 1934, Nr. 251 v. 26. Oktober, 4). Zweitens grenzte man das Milcheiweißbrot explizit vom Kriegsbrot ab; ein Vorwurf, der nicht zuletzt innerhalb der Arbeiterschaft, innerhalb der unterdrückten und still geprügelten Opposition artikuliert wurde. Der Dresdener Arzt und Sachbuchautor Georg Kaufmann betonte demgegenüber: „Das jetzt zur Einführung gelangende Kraftbrot (Eiweißbrot) stellt keineswegs ein Ersatznahrungsmittel dar. Es handelt sich nicht lediglich um eine Streckung des Brotgetreides, wie wir das aus der Kriegszeit her kennen“ (Kraft durch Brot. Zur Einführung des neuen Milcheiweißbrotes, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 256 v. 3. November, 5).

Derartige negative Positionierung sollte Ängste abzubauen, Ängste, die den Propagandisten durchaus gewahr waren. Es gab jedoch zweitens eine durchaus zutreffende positive Positionierung. Sie zielte auf den praktischen Nutzen des neuen Brotes für die Käufer. Das neue „Volksbrot“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1934, Nr. 303 v. 3. November, 5) wurde erstens als wichtige Erweiterung und Verbesserung der gängigen Nahrungspalette vorgestellt. Man klebe in dieser dynamischen Zeit des Umsturzes nach vorn nicht an den vom Bäckerhandwerk emsig verteidigten fünf Grundsorten, führe zugleich nicht auf Abwege in die Irrungen und Wirrungen der lebensreformerischen Spezialbrote. Das war noch vor der reichsweiten Propagierung erst von Knäcke-, dann vor allem von Vollkornbrot. Zweitens konzentrieren sich die Artikel immer wieder auf den höheren Nährwert des Milcheiweißbrotes. Das war die Essenz des Werbeattributs „Kraftbrot“. Diese Bezeichnung stand in einer langen Bedeutungskette, nicht nur weil man im frühen 19. Jahrhundert damit das teuer-lockende Marzipan vermarktete. Seit den 1860er Jahren findet man es auch in Anzeigen von Bäckern, doch sein Durchbruch in die Alltagssprache erfolgte erst drei Jahrzehnte später. Der bescheidene Vorzeigemönch und Marketingvirtuose Sebastian Kneipp (1821-1897) gab seinen Namen nicht nur für zahllose Reformwaren, sondern auch einem von ihm grob empfohlenen „Kraftbrot“ (Linzer Zeitung 1891, Nr. 37 v. 15. Februar, 9; Der Landbote 1893, Nr. 31 v. 14. März, 2). Der Begriff fand dadurch breiten Widerhall, zumal im schillernden Umfeld der Lebensreformbewegung. Das Steinmetz-Vollkornbrot war als Spezialbrot recht teuer, zeichnete sich durch eine ausgefeilte Werbung und auch eine Verbreiterung der eigenen Angebotspalette aus. Seit spätestens 1911 trat das „Kraftbrot“, ein dunkles Familienbrot, an die Seite des hellen Vollbrotes, des Rheinischen Roggenschrotbrotes und des nach Dr. Bircher benannten Grahambrotes (Badischer Beobachter 1911, Nr. 126 v. 3. Juni, 8; Badische Presse 1911, Nr. 207 v. 5. Mai, 6). Diesen Reformbroten gemein war eine niedrigere Ausmahlung, entsprechend warb man mit dem leicht höheren Eiweißgehalt, mochte die Resorption auch geringer sein. Das schon erwähnte N-Brot war mit seinem Zusatz von 2,5 Prozent Nährhefe, seinem höheren Eiweißgehalt und seinem einige Pfennige höheren Preis nicht nur „Kraftbrot“, sondern ein unmittelbarer Vorläufer des Milcheiweißbrotes (Das N-Brot, ein Kraftbrot, Fremden-Blatt 1916, Nr. 49 v. 18. Februar, 2).

Schlagzeilen des Neuen (Bergische Wacht 1934, Nr. 247 v. 25. Oktober, 1 (o.), Buersche Zeitung 1934, Nr. 292 v. 25. Oktober, 1)

Dessen Nährwert lag durch die zwar kleine, doch konzentrierte Beimischung von Magermilch in der Tat leicht höher als beim Standardbrot. Das neue „Kraftbrot“ sei daher nahrhafter, nährstoffreicher, sein leicht höherer Preis keine Verteuerung (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 248 v. 26. Oktober, 4). Dies wurde auch durch den pointierten Slogan „Kraft durch Brot“ auf den Punkt gebracht (Kraft durch Brot, Stuttgarter Neues Tagblatt 1935, Nr. 28 v. 17. Januar, 17). Die NS-Sprache schuf ihren eigenen Welten: „Kraft durch Freude“ werde die Freizeitgestaltung revolutionieren, das Milcheiweißbrot die Alltagsernährung. In der Tat propagierten mehrere Ärzte, etwa der Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1946), das angereicherte Brot als Beitrag gegen die während der Weltwirtschaftskrise qualitative Eiweißunterernährung großer Bevölkerungsschichten, die zu Wachstumsrückständen und Nährschäden geführt hatte (Naturgemäße Ernährung und Eiweißstoffwechsel, Medizinische Klinik 31, 1935, 331).

Intrinsische Motivation: Der Konsument als ein angeleitetes, doch selbst handelndes Wesen (Victor Vogt, Taschenbuch der Geschäftstechnik, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart 1927, 853)

Drittens schließlich diente das Milcheiweißbrot auch der Formung des modernen Konsumenten in der Zeit des Nationalsozialismus. Die fortifizierte Innovation wurde einerseits als Teil einer umfassenden Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion präsentiert. Adolf Bickel habe seit 1929 für eine moderne Magermilchverwertung plädiert: „Die nationalsozialistische Regierung hat diesen Gedanken aufgegriffen und in dem Milcheiweiß verwirklicht“ (Auf das Eiweiß kommt es an!, Herforder Kreisblatt 1935, Nr. 27 v. 1. Februar, 7). Brot fern des Tradierten, als Anwendungsfeld des deutschen Geistes. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), zentrale Figur für die Umgestaltung der Wehrmachtsverpflegung und anschließend zentrale Figur der Versorgungswirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, betonte die Koppeleffekte des Eiweißzusatzes: Brot habe einen Eiweißgehalt von fünf bis sieben Prozent, das Milcheiweiß erhöhe ihn um an sich geringe ein bis zwei Prozent. Entscheidend aber sei die weit größere physiologische Wirkung. Das Milcheiweiß erlaube eine deutlich bessere Erschließung des Getreideeiweißes, das im Standardbrot nur zur Hälfte genutzt werde. Milcheiweißbrot sei daher ein wichtiges Element einer vollwertigen Ernährung (Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, Dresden und Leipzig 1936, 148). Für die jungen Experten und die NS-Machthaber war das neue Brot anderseits Testlauf für den neuen nationalsozialistischen Konsumenten, der den eigenen Nutzen nicht vernachlässige, der ihn aber in einen völkischen Zusammenhang stelle. Zwang werde nicht ausgeübt, müsse auch nicht ausgeübt werden, denn nun werde „an die Stelle des Zwanges der Gemeinschaftssinn“ treten („Neues Brot“, Lippische Tageszeitung 1934, Nr. 251 v. 27. Oktober, 5). Das Neue sei sinnvoll, würde daher gekauft werden, denn es sei Materialisierung der wechselseitig verpflichteten Volksgemeinschaft auf rassischer Grundlage. Milchweißbrot werde die zuvor teils nutzlos vergossenen Ströme entrahmter Milch wieder in den Kreislauf menschlicher Ernährung lenken. Die Bauern würden davon unmittelbar profitieren, auch alle Konsumenten: „Was für den zartesten Säugling, der eben der Mutterbrust entwöhnt ist, taugt und ihn zu einem aufblühenden Menschenkinde macht, das gesund und quicklebendig ins Leben geht, das ist auch geeignet, dem Heranwachsenden und dem im Kampf ums Dasein nach dem täglichen Brot greifenden Aelteren die Kräfte zu erhalten und aufzubessern. Die für die Gesundheit der Familie verantwortliche Hausfrau, der allein für sich sorgende Berufsmensch, das lebendig hungrige Jungvolk und die hart arbeitenden Männer, sie alle finden, was sie suchen und für den täglichen Kampf brauchen, im Milcheiweißbrot“ (Was ist Milcheiweißbrot?, Der Weckruf 22, 1935, 138). Das war typischer NS-Kitsch, doch er etablierte sich, wurde wohl auch geglaubt. Wichtig ist, dass die hier aufgeführten sechs Positionierungen nicht nur in derartigen Kitsch, in die übliche Selbstbeweihräucherung mündeten. Alle besaßen ein Fünkchen Wahrheit, alle waren nicht unmittelbar von der Hand zu weisen. Blicken wir nun aber auf die Markteinführung und die sie begleitende, deutlich breiter gefasste Propaganda.

Reichsweite Einführung mit Wumms

Das Milcheiweißbrot wurde am 25. und 26. Oktober in fast allen deutschen Tageszeitungen ähnlich vorgestellt, ein zweiter oft mit Bild versehener Text folgte vielfach am nächsten Tag. Das war Ergebnis des nationalsozialistischen Presselenkung. Die Presseanweisung am 24. Oktober lautete lapidar: „Bitte übernehmen Sie von DNB eine Meldung des Reichsnährstandes über die Schaffung eines Mich-Eiweiß-Brotes [sic!]“ (Gabriele Toepser-Ziegert (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 2: 1934, München et al 1985, 437). Das war eine Meldung ganz im Sinne des Regimes, setzte es der sich 1934 allgemein verschlechternden Brotqualität und -versorgung doch etwas Positives entgegen. Und sie war gewiss angenehmer, als die wabernden Gerüchte einer bevorstehenden Brotstreckung oder aber der chemischen Konservierung von Brot und Getreide zu dementieren (ebd., 406 (5. Oktober), 423 (18. Oktober)).

In der verpflichtend abzudruckenden Meldung wurde erstens das Ende der Kartoffelmehlbeimengung bestätigt und zweitens für den 1. November ein neues Milcheiweißbrot mit einer „Beimischung pulverisierter entrahmter Milch“ angekündigt. Drittens präsentierte man das neue Produkt als Spezialbrot, als Ergänzung des ortsüblichen Brotes, etwas teurer, doch kräftiger, nahrhafter und gesunder. Mit nationalsozialistischem Paukenschlag tönte sie von einem „Erzeugnis des Gemeinschaftsgeistes vom Erzeuger bis zum Verbraucher“. Zwang werde nicht ausgeübt, doch die Bäcker müssten klare Vorgaben erfüllen, wenn sie das neue „Kraftbrot“ anbieten wollten. Viertens schließlich präsentierte man die Neueinführung als Ausdruck eines sorgenden Staates, in dem Wissenschaft und Praxis zielgerichtet zusammenarbeiten würden, um „Qualitätsleistung“ für den Verbraucher zu gewähren, um Bauern und Bäcker zu entlasten. 18.000 Anträge für die Herstellung lägen bereits vor, bald schon könne man das mit Streifband und Marke versehene Brot kosten und kaufen (Milcheiweißbrot, das Kraftbrot, Badische Presse 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 7; Das neue Milch-Eiweißbrot, Der Sächsische Bauer 82, 1934, 889). Der Grundtext scheint im Norden etwas ausführlicher abgedruckt worden zu sein, schließlich gab es in Bayern und dem Südwesten bereits ein gering angereichertes Magermilchbrot (Das neue Kraftbrot, Aachener Anzeiger 1934, Nr. 248 v. 24. Oktober, 1).

Reichsweite Präsentation in der Presse Ende Oktober 1934: Banderole und Marke des Milcheiweißbrotes (Hakenkreuzbanner 1934, Nr. 497 v. 27. Oktober, 4)

Die Vorlage des Reichsnährstandes wurde von den seit dem Schriftleitergesetz vom Oktober 1933 zwingend „politisch unbedenklichen“ und „arischen“ Redakteuren inhaltstreu, doch mit leichten Variationen und unterschiedlichen Schlagzeilen umgesetzt. Man schrieb durchaus von dem geringen Beifall zur Kartoffelstärkemehl-Beimischung, präsentierte das neue Produkt als Resultat eines Kritik aufgreifenden Staates (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3). Die deutschsprachige Presse des Auslandes berichtete ebenso (Einführung des Milcheiweißbrotes in Deutschland, Pester Lloyd 1934, Nr. 241 v. 25. Oktober, 9; Lodzer Volkszeitung 1934, Nr. 293 v. 25. Oktober, 1; Milch – Eiweißbrot – das deutsche Kraftbrot, Deutsche Rundschau in Polen 1934, Nr. 248 v. 30. Oktober, 2). Nur wenige Redakteure gaben zusätzliche Informationen, erwähnten etwa, dass die Rezepte erst später backtechnisch erprobt und verbreitet werden würden (Das Milcheiweißbrot, Dortmunder Zeitung 1934, Nr. 498 v. 25. Oktober, 12).

Plakatwerbung in Bäckereien (Rheinisches Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 511)

Die Meldungen informierten über das Neue, positionieren das Brot in den oben dargelegten Formen, ermöglichten zugleich ein Vorabbild des Brotes. Gedruckt wurde einerseits das in den Bäckereien anzubringende Werbeplakat, das nur die teilnehmenden Betriebe nutzen durften. Es zeigte ein aufgeschnittenes Langbrot mit hellem Teig, kennzeichnete es als gehaltvoll, wohlschmeckend und nahrhaft. Daneben trat häufig ein kleines adlerbewehrtes Zeichen, eine Marke, die von außen sichtbar die Verkaufsstelle markierte. Man schuf also Bilder, wenngleich das Brot noch nicht zu kaufen war. Damit glaubte man eine gewisse Spannung schaffen zu können. Konsumenten wurden im Sinne eines simplen Reiz-Reaktions-Schemas angesprochen: Hier Plakat und Verkaufsstellen-Signet, dort kaufen. Weitere Bilder unterstrichen das Versprechen eines hochwertigen Spezialbrotes. Das Milcheiweißbrot war ein Markenprodukt, war mit einer Banderole versehen, mit einer Garantiemarke beklebt (Bremer Zeitung 1934, Nr. 297 v. 27. Oktober, 7; Durlacher Tagblatt 1934, Nr. 254 v. 30. Oktober, 7). Die Bäcker waren an strikte Qualitätsvorgaben gebunden, durften das Brot erst nach einem Anerkennungsverfahren backen, in dem sie sich an reichsweite Vorgaben binden mussten. Dazu gehörte auch die Verwendung einheitlicher Werbematerialien. Gleichwohl sollten die Bäcker auch eigenständige Propaganda betrieben. Einheitlicher Auftritt und variable Ergänzungen, so das Ziel.

Freiwillige Ergänzungen gab es schon in den Zeitungen und (seltener) Zeitschriften. Das galt vor allem für ein kurzes „Interview“ mit Hans Adalbert Schweigart, der Kernbotschaften bündelte und freudig betonte, dass das neue Brot schon bald an der Spitze der Spezialbrote des Reiches stehen werde (Westfälische Zeitung 1934, Nr. 252 v. 26. Oktober, 5; Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 5). Darin kündigte er zudem einen „großen umfassenden Werbefeldzug“ an (Milchweißbrot [sic!] an der Spitze der Spezialbrote, Badischer Beobachter 1934, Nr. 293 v. 26. Oktober, 8).

Nachziehender Aufbau des Vertriebs

Die Werbung für das Milcheiweißbrot war visuell durchaus ansprechend, erfolgte in der Tradition der landwirtschaftlichen Werbeausschüsse, die im Anschluss an das landwirtschaftliche Notprogramm seit 1928 mit immensen Kosten für heimische Lebensmittel warben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Göttingen 2018, 334-339). Auch wenn das neue Brot „gesund“ war, so stand dieses für spätere NS-Kampagnen typische Attribut noch nicht im Mittelpunkt der Propaganda, ging es beim Kraftbrot doch weit stärker um den Nährwert.

Dennoch war die Einführung des Milcheiweißbrotes durchaus charakteristisch für die Propaganda in der Frühphase des NS-Regimes. Es ging nicht mehr um martialisch ins Bild gesetzte Massenveranstaltungen und SA-Aufmärsche, um einen fordernden Redner, wie während der Durchbruchsphase 1930 bis 1932. Diese Bildwelten waren verfälschend geglättet, zeigten nur selten – wie etwa in Leni Riefenstahls (1902-2003) Film „Sieg des Glaubens“ über den 5. NSDAP-Reichsparteitag – irritiert in die falsche Richtung marschierende Männerhorden. Sie widmeten sich auch nicht den massiven hygienischen Problemen urinierender und defäktierender Menschen, geschweige denn den unzähligen Übergriffen auf fesche Mädel. All dies wurde propagandistisch glattgezogen, wird in heutigen Dokumentationen entsprechend übergangen. Bei der Einführung eines neuen Lebensmittels aber bildete die Verkaufstheke ein regulatives Moment. Die Einführung blieb größtenteils virtuell, denn es gelang anfangs nicht, Milcheiweißbrot in nennenswerter Menge herzustellen und zu verkaufen. Milcheiweißbrot steht entsprechend für das Maulheldentum der frühen NS-Expertokatrie, das an den Willen zur Veränderung und zum Mitziehen appellierte, zugleich aber die Mühen der Ebene vernachlässigte. Es bedurfte mehrerer Jahre organisatorischen Feinschliffs, ehe die Interaktion zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, NSDAP und Staat soweit eingespielt war, das angekündigte Produkte auch wirklich käuflich waren. Vollkornbrot, der Eiersatz Milei oder das Molkenährmittel Migetti waren dafür gute Beispiele.

Die Einführung des Milchweißbrotes 1934 verzögerte sich nicht nur aufgrund der für die deutsche Wirtschaft und insbesondere Naturwissenschaftler recht typischen Vernachlässigung der Vertriebsprobleme, sondern es hakte auf verschiedenen Ebenen: Beim bürokratischen Antragswesen, der unzureichenden Integration der Bäcker und Magermilchproduzenten sowie der Neigung, die Lebensmittelinnovation schlagartig einzuführen, statt sie langsam und stetig in den Markt einsickern zu lassen.

Werbung für Spezialbedarf: Gummierapparat und Backhilfsmittel für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 640 (l.); ebd. 37, 1935, 23)

Beginnen wir mit der rasch zunehmenden Bürokratie: Seit 1930 wurde die Gewerbefreiheit im Deutschen Reich vielfältig eingeschränkt. Die Beimischungszwänge entfernten tradierte Lebensmittel aus den Läden, setzten an ihre Stelle Kunstprodukte staatlichen Willens. Die Devisenzwangswirtschaft verringerte die Möglichkeiten, Rohwaren frei einzukaufen. Notverordnungen und der im Aufbau befindliche Reichsnährstand legten Preise (und Löhne) fest, ebenso Mengenbeschränkungen. Staatliche, vor allem aber vom Staat (und der NSDAP) beauftragte Institutionen etablierten eine umfangreiche Bürokratie. Milcheiweißbrot war nur mit einer offiziellen Erlaubnis möglich. Dazu musste ein Bäckermeister ein Antragformular von seinem Obermeister anfordern, der dieses wiederum vom regionalen Milchwirtschaftsverband erhielt. Der Antrag musste ausgefüllt an den Obermeister zurückgesandt werden, dieser kommentierte ihn, um ihn dann dem Milchwirtschaftsverband zur Entscheidung weiterzuleiten, der schließlich eine im Regelfall zeitlich begrenzte Genehmigung erteilte (Anträge auf Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 555). Anschließend musste sich der Bäckermeister um die Trockenmilch kümmern, die er nicht einfach so kaufen konnte. Milchpulver wurde den regionalen Innungen und Verkaufsgenossenschaften entweder von der Reichszentrale Deutscher Bäckergenossenschaften eGmbH in Berlin oder aber der dort ebenfalls residierenden Gemeinschaft Deutscher Lebensmittel-Großhändler zugewiesen, deren Kontingente zuvor bei der Reichsstelle für Milcherzeugnisse, Öle und Fette angemeldet und bewilligt werden mussten (Werner Johann, Der Vertrieb des Milchpulvers, RBKZ 36, 1934, 555). Es ist nachvollziehbar, dass die Anfang Oktober 1934 vielen Bäckern noch nicht bekannte Einführung zum 1. November nicht umgesetzt werden konnte. Ende November waren in Rheinland und Westfalen 4.500 Anträge bewilligt worden, ein knappes Drittel der 14.000 brotherstellenden Betriebe (Zeno-Zeitung 1934, Nr. 331 v. 1. Dezember, 7). Das bedeutete aber nicht, dass diese schon das entsprechende Milchpulver hatten. Und auch die je nach Brotart erforderlichen Umstellungen in den Bäckereien und den (recht wenigen) Brotfabriken waren vielfach noch nicht erfolgt.

Genehmigungszahlen als trügerischer Erfolgsausweis (Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 330 v. 2. Dezember, 11)

Parallel aber gab es strikte Ansprüche auch an die Innungen. Die Milchwirtschaftsverbände hatten vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft die Vorgabe erhalten, mindestens 80 Prozent der Betriebe zu erfassen und einzubinden (Das Milch-Eiweißbrot, Solinger Tageblatt 1934, Nr. 279 v. 30. November, 11). Dieser Druck wurde durchgereicht: „Die Bäckerobermeister sind nunmehr durch ihre übergeordneten Bäcker-Innungsverbände verpflichtet worden, dafür Sorge zu tragen, daß auch dort, wo die Beteiligung augenblicklich noch zu wünschen übrig läßt, in kürzester Frist alle Bäckermeister, deren Betrieb als geeignet zu betrachten ist, sich in den Dienst der nationalen Sache zu stellen haben“ (Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 616).

Rezeptdienst für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 76)

Derweil hatten die Bäcker zwar die einer Genehmigung folgenden Werbematerialien erhalten, nicht aber die für die Produktion erforderlichen Grundrezepte. Anfang Dezember hatte das Reichsbildungsamt des Bäckerhandwerkes drei Rezepte für unterschiedliche Milcheiweißbrote getestet und reichsweit 20.000 einschlägige Hochglanzbögen gegen Gebühr versandt. So sollten die nicht wenigen Brotfehler minimiert werden, die vor allem aufgrund falscher Mengen und schlechter Roggenmehle bei vorpreschenden Bäckermeistern entstanden waren. Diese Rezepte durften sie ihren Kollegen allerdings nicht weitergeben. Ohne Entgelt kein Rezept. Und bei Produktion abseits der Grundrezepte wurde die Genehmigung zurückgezogen. Dadurch veränderte sich auch das Milcheiweißbrot selbst. Während Werbeplakat und Verkaufssignet-Signet runde Brote zeigten, sollte die Form nun vierkantig sein, um es besser vom Standardbrot abheben zu können (Hans Lubig, Rezeptdienst und Gesellenaustausch, RBKZ 36, 1934, 614). All dies unterstreicht, dass die auf den 1. November 1934 gesetzte Einführung des Milcheiweißbrotes illusorisch war, von der bürokratischen Struktur des selbstgeschaffenen Systems abstrahierte.

In solchen Fällen setzt Propaganda auf Aktivisten und Vorzeigebäcker. Das galt etwa für Bielefeld, wo vermeintlich alle Bäcker das neue Kraftbrot backen und verkaufen wollten. Die Ostfalen hatten sich daher schon größtenteils mit Milchpulver eingedeckt. Bald werde man durchstarten: „Die Bäcker werden sofort mit dem Backen beginnen, sobald die Kennzeichnung (Streifband und Aushängeschilder) von Berlin bei der Innung eingegangen und den einzelnen Bäckern zugestellt worden ist“ (Alle Bielefelder Bäcker backen, Westfälische Zeitung 1934, Nr. 253 v. 27. Oktober, 5). Eine Woche danach sprach man von Mitte November, musste der Bäcker doch „erst einen Fragebogen auszufüllen, […] in dem er sich verpflichtet, eine vorgeschriebene Menge an Milchpulver zu verbacken“ (NS-Volksblatt für Westfalen 1934, Nr. 258 v. 2. November, 10). Zeitgleich meldete man aus Bonn, dass es Verzögerungen gäbe, denn ohne Genehmigung kein Milchpulver: „Alle die kleinen und großen Feinschmecker, die sich schon auf die neuen Leckerbissen freuen, müssen sich also noch einige Zeit gedulden“ (Das Mittelrheinische Landes-Zeitung 1934, Nr. 254 v. 3. November, 6). Andernorts stammelte man bescheidener, so Anfang Dezember in Remscheid, wo nun knapp 50 der 102 Bäckereibetriebe „ihre Anmeldungen dazu einreichen“ wollten (Remscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 1. Dezember, 5). Und in Solingen wurde Rezepte und erste Genehmigungen erst kurz vor Weihnachten verteilt (Gemeinschaftsveranstaltung der Bäcker, Ohligser Anzeiger 1934, Nr. 293 v. 15. Dezember, 5). In all diesen Städten wurde Milcheiweißbrot (noch) nicht gebacken, von Ausnahmen abgesehen.

Uneingestandenes Scheitern als Schlagzeile (Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 595 v. 20. Dezember, 5)

Etwas ehrlicher tönte es aus dem Südwesten: „Zur Zeit wird in den Bäckereien eifrig nach dem neuen Milcheiweißbrot gefragt. […] Aber es ist noch nicht soweit, und es wird auch am 1. November […] noch nicht soweit sein. Die Vorbereitungen nehmen offenbar einige Zeit in Anspruch“ (Wann kommt das deutsche Kraftbrot?, Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 508 v. 30. Oktober, 5). Kurz vor Weihnachten setzte die Landesbauernschaft Württemberg den Produktionsbeginn auf Neujahr 1935 fest (Milcheiweißbrot ab 1. Januar, Schwäbischer Merkur 1934, Nr. 297 v. 21. Dezember, 5). Auch aus Sachsen wurde damals die lichte Zukunft schönfärberisch beschworen: „Bald wird es jeder Bäcker als eine Ehre betrachten, auch in seinem Laden das Schild zu haben: ‚Verkaufsstelle für Milcheiweißbrot‘“ (Der Bote von Gesing und Müglitztal-Zeitung 1934, Nr. 147 v. 15. Dezember, 3). Festzuhalten ist also, dass der so machtvolle NS-Staat es nicht nur nicht schaffte, den selbstgesetzten Einführungstermin auch nur ansatzweise einzuhalten, sondern dass Milcheiweißbrot offenbar erst Anfang 1935 in größerer Menge angeboten wurde.

Auch dann waren genauere Informationen rar: Im rheinischen Rheydt war Milcheiweißbrot Anfang Februar 1935 „in sämtlichen Bäckereien zu haben, aber bisher wird es noch nicht viel gekauft“ (Gladbach-Rheydter Tageblatt 1935, Nr. 28 v. 2. Februar, 5). Einzig die Aktivistenstadt Bielefeld machte eine Ausnahme: Dort „bezifferte sich die Nachfrage in den ersten Tagen des Verkaufs auf rund 1000 Stück je Tag, dann aber ließ das Interesse der Käufer nach, heute werden täglich rund 600 bis 700 Stück in sämtlichen Bäckereibetrieben der Stadt verkauft. Im ganzen wird von maßgeblicher Stelle der Verkauf bisher auf rund 100.000 Milcheiweißbrote geschätzt“ (Westfälische Neueste Nachrichten 1935, Nr. 35 v. 10. August, 6). Das war innerhalb von acht Monaten knapp ein Brot für jeden der ca. 110.000 Einwohner. Recht wenig für ein Volksnahrungsmittel. Und das war eine sehr seltene Erfolgsmeldung.

Werbefeldzug für das Milchweißbrot

Propaganda ist weit mehr als die Einführung und Positionierung von etwas Neuem. Die Milcheiweißbrotpropaganda zielte weit über die Kastenformen hinaus. Sie zielte auf eine für Machtpolitik funktionale Lebensmittelpalette, für die Nutzung heimischer Ressourcen, für die Revision der verhassten Ordnung der Pariser Friedensverträge. Sie zielte auch auf einen neuen nationalsozialistischen Konsumenten, gläubig und folgsam, begeisterungsfähig und Teil eines völkisch-reflektiert agierenden Kollektivs. Um diese Weitung der NS-Propaganda, auch bei einem einzelnen Volksnahrungsmittel, wirklich in den Blick zu bekommen, müssen wir uns den Narrativen und Praktiken widmen, die immanenter Teil der neuen Brotpropaganda waren. Als solche waren sie harmlos, fast wie zuvor. Doch im Kontext der Zeit, eines sich trotz massiver Krisen konsolidierenden und unbeirrt, wenn auch im Detail flexibel, auf die Umsetzung einer mörderischen Ideologie zielenden Regimes, dienten sie immer auch dieser breiteren Zielsetzung.

Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus war hierarchisch, die vielfach wissenschaftlich begründeten Produkte und Praktiken standen in einem Verpflichtungsdiskurs, in dem der Verbraucher nicht manipuliert, sondern regimekonform angeleitet wurde. Oder, in den Worten von Wilhelm Ziegelmayer: „Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit). Durch eine solche Werbung kann wirklich Nachfrage nach Milcheiweißerzeugnissen geschaffen werden, ähnlich wie mit dem Schlagwort ‚Vitaminen‘ berechtigter- oder unberechtigterweise der Verbrauch vieler Nahrungsmittel gehoben wurde“ (Ziegelmayer, 1936, 145). Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus knüpfte damit an gut begründbare und bis heute gängige Werbeformen an. Zugleich aber schuf sie – und auch das soll heute noch vorkommen – an eine selbst geschaffene und geglaubte Welt an, in der es darum ging, Zukünftiges so auszuleuchten, dass es die „Volksgenossen“ mitzog, das Anvisierte dann doch erreichte. Entsprechend konnten objektiv wahrheitswidrige Wunschwelten eröffnet werden: „Wo man geht und steht, spricht man vom Milcheiweiß-Brot, hervorgerufen durch die vorzügliche Reklame, die durch Radio, durch die Zeitung und durch die Vorträge […] durchgeführt ist. Ob beim Friseur, ob in der Wirtschaft, ob im Zigarrenladen, überall wird gefragt“ (Richard Lubig, Das neue Milcheiweiß-Brot. Beginn des Rezeptdienstes, RBKZ 36, 1934, 555). Das waren verlogene Aussagen der Macher, Aussichten auf ihren möglichen Sieg. Die Werbung für das Milcheiweißbrot wurde vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft und den regionalen Milchwirtschaftsverbänden getragen, die Innungen unterstützten. Hausfrauen standen als Verwalterinnen des Wirtschaftsgeldes im Mittelpunkt der Werbe- und Propagandaanstrengungen.

Der angekündigte Werbefeldzug setzte reichsweit Mitte Januar 1935 ein (Stand der Milcheiweißbrotaktion, Der Weckruf 22, 1935, 218). Er vertiefte und verbreiterte die oben näher vorgestellten sechs Positionierungen des neuen Produktes, hatte ansonsten den Charme des Unbedingten, des Einhämmerns: „Durch den immerwährenden Hinweis auf das neue Milcheiweißbrot wird jeder Verbraucher unbedingt aufmerksam werden müssen. ‚Milcheiweißbrot‘ muß unbedingt zu einem volkstümlichen Begriff werden“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Dies sollten auch die Bäcker vorantreiben. Sie ergänzte und erweiterte vor allem die Presseberichterstattung.

Den Übergang zu einer intensiveren öffentlichen Werbung markierten im Februar und März 1935 zahllose Werbeumzüge. In Hannover trugen beispielsweise vier berufsgekleidete Bäckergesellen zwei Riesenbrote durch die Innenstadt, Lautsprecherwagen tönten vom neuen Milcheiweißbrot (Zwei Brote wandern durch die Stadt, Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 69 v. 10. Februar, 10). Zwei Wochen später rollten die Lautsprecherwagen neuerlich, spielten nun jedoch flotte Märsche. Im Mittelpunkt aber stand eine Wagenkolonne, darunter ein feierlich geschmückter Vierspänner. Transparente forderten: „Eßt Milcheiweißbrot!“ (Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 91 v. 23. Februar, 10). Die Wirtschaftswerbung Niedersachsen bewegte sich damit in der Tradition des Reichsmilchausschusses. Ähnliches gab es in vielen Städten. Teils blieb es bei Propagandawagen, teils wurden aber auch Proben an die Passanten verteilt. In Düsseldorf sollen es Anfang März 20.000 sauber verpackte Schnitten gewesen sein (3000 besuchen die Ausstellung „Täglich Brot“, Heimat-Zeitung 1935, Nr. 18 v. 2. März, 1).

Deutlich breitenwirksamer waren mehrere Flugblätter, die einerseits durch die Bäcker als Beigabe beim Einkauf verteilt wurden. Sie versuchten, den recht altbackenen Slogan „Milch und Brot machten Wangen rot“ zu popularisieren. Der knüpfte an bekannte Redewendungen an, etwa an „Salz und Brot macht Wangen rot“. Er war jedoch auch eine Umdeutung einer gänzlich anders verstandenen Sentenz: „Milch und Brot macht Wangen rot“ stand traditionell eben für genügend Milch, genügend Brot, getrennt gegessen (Fürs Haus 9, 1890, Probenummer, 6). Und zugleich war er wenig originell, gab es doch bereits kommerzielle Slogans wie „Union-Brot macht Wangen rot!“ (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1934, Nr. 80 v. 6. April, 4).

Sloganwerbung ohne Kraft (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Die Flugblätter priesen das Milcheiweißbrot als Volksnahrungsmittel, als neuen Standard: Es war kräftigend, stärkend, nahrhaft, wohlschmeckend, leichtverdaulich und frischbleibend, gab Kraft, förderte die Gesundheit, verband Stadt und Land. Ein Brot für alle – und auch die Werbung zielte auf alle möglichen Käufergruppen, unterschied kaum Zielgruppen. Der positiv-preisende Tenor wurde durch Ängste vor Unterversorgungen gesteigert. Das Milcheiweißbrot helfe gegen den Eiweißmangel, ergänze andere Grundnahrungsmittel, erschließe das pflanzliche Eiweiß besser.

Die Gefahr des Eiweißmangels (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Flugblätter wurden aber auch an die Frauenorganisationen gesandt. In Schulen wurden Klassensätze verteilt, um sie im Unterricht zu besprechen, um über die Kinder die Eltern zu erreichen. „Die Milch auf der Walze“ spielte mit der Faszination der Technik, der Transformation der Kinder bestens vertrauten flüssigen Vollmilch in trockene Formen (Stolzenauer Wochenblatt 1935, Nr. 37 v. 13. Februar, 1). „Geburtsanzeige“ spielte mit der Kraft des umgestaltenden Geistes, mit der Vorstellung guter sorgender Mächte, sei es der Wissenschaft, sei es des Staates (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Spätere Flugblätter spannen solche Geschichten weiter, erzählten das „Märchen“ vom Milcheiweißbrot. Darin präsentierte man das neue Volksnahrungsmittel als Teil der „Erzeugungsschlacht“, wies den Kritikaster „Freund Alleswisser“ in die Schranken, der an Brote aus den „hungrigen Kriegs- und Nachkriegsjahren“ erinnerte. Die Eltern sollten nachdenken, dann handeln: „Schicke also Deinen kleinen Hansi oder Deine kleine Gretl zum Bäcker und mache einen Versuch! Du wirst sicherlich zufrieden sein und Deine Kinder werden mit Stolz ein Stück Milcheiweißbrot zur Schule tragen und dann wird der Lehrer oder die Lehrerin lächelnd und freudig sagen: So, das ist ein wackeres Kind, es ißt sein Stück Brot und kämpft mit im Kampf um eigenes – um deutsches Brot“ (Verbo – Der Rottum-Bote 1935, Nr. 70 v. 22. März, 8). Propaganda appellierte an das Gute, an das heilige deutsche Brot, bis heute eines „unserer“ Vorzeigeprodukte.

Das Milcheiweißbrot wurde zugleich aber von Frauenverbänden reichsweit propagiert. Kleine Ausstellungen und Hausfrauenabende besaßen einen Januskopf von Geselligkeit und verpflichtender „Aufklärung“. Die Amtsleiterinnen der NS-Frauenschaft erhielten gesonderte Schulungsblätter, Vollzug war zu melden. Schon Ende 1934 waren an vielen Orten Proben verteilt worden – selbst wenn das Brot nicht wirklich zu kaufen war (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 279 v. 17. November, 10; Erzgebirgischer Volksfreund 1934, Nr. 277 v. 28. November, 3). Im Januar tourten Wissenschaftler wie Schweigart, Moog und Hennewig, beschworen die Magermilchverwertung, die „Selbstdisziplin vom Erzeuger wie vom Verbraucher“, priesen die gut haushaltende „planmäßige Volkswirtschaft“, beantworteten im Hausfrauendialog auch Fragen (Vom Detmolder Hausfrauenbund, Lippische Landes-Zeitung 1935, Nr. 8 v. 10. Januar, 8; Hausfrauen und Marktregelung, Münsterischer Anzeiger 1935, Nr. 27 v. 16. Januar, 3; Speisenausstellung der Frauenwirtschaftskammer, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 36 v. 5. Februar, 6).

Präsentation von Milch-, Käse- und Brotvarianten während einer Veranstaltung der NS-Frauenschaft in Mannheim (Neue Mannheimer Zeitung 1935, Nr. 85 v. 20. Februar, 7)

Charakteristischer noch war gemeinsames Verkosten in trauter lokaler Runde. Das war auch typisch für parallel stattfindende Ausstellungen, etwa der Berliner „Grünen Woche“, der Düsseldorfer Fachausstellung „Täglich Brot“ oder aber den noch üblichen „Braunen Messen“. Die Auswirkungen sind nicht wirklich einzufangen, in der Presse aber klang es appetitanregend: „Da ist zunächst das neue Milcheiweißbrot, hübsch knusprig, in länglichen Formen gebacken, sieht es appetitanregend aus und schmeckt, wie eine Kostprobe bewies, einfach wunderbar“ (Streiflichter von der Schau „Täglich Brot“, Der Mittag 1935, Nr. 52 v. 3. März, 8). Mit etwas mehr Abstand besehen, handelte es sich jedoch um eine Art Fremdbeglückung. Standen bei Hausfrauenveranstaltungen ansonsten oft selbst zubereitete Speisen im Mittelpunkt, so war es nun ein von Bäckern hergestelltes, nur als Fertigware zu erprobendes Milcheiweißbrot. Die Hausfrauen wurden als Konsumentinnen angesprochen, ihre haushälterischen Fertigkeiten noch nicht herausgefordert. Das sollte in den folgenden Jahren anderes werden, insbesondere beim „Kampf dem Verderb“.

Werbung für Rundfunkwerbung (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 38)

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot nutzte zudem gezielt audiovisuelle Medien. Audiovisuelle Medien faszinierten schon vor der Machtzulassung nationalsozialistische Kader, die rasche Übernahme der Kontrolle des Films und des Rundfunks durch das neu gegründete Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda diente der Machtsicherung, der Machtausweitung. Die NS-Illustrierte „Illustrierter Beobachter“ besaß seit 1931 eine gesonderte Rubrik „Der Funk-Beobachter“, und schon im Februar 1933 gründete der parteieigene Franz-Eher-Verlag die bald erfolgreichste Programmzeitschrift der NS-Zeit, den „NS-Funk“.

Entsprechend diente auch der Rundfunk der Propagierung des Milcheiweißbrotes. Dies war nicht Werbung, sondern eine staatspolitische Aufgabe. Einerseits wandte man sich im Januar 1935 zwei Wochen lang direkt an die Hausfrau, machte sie während der kurz vor Mittag ausgestrahlten „Stunde der Hausfrau“ mit sogenannten Werbesprüchen, also in der Regel gereimten Jingels, auf das neue Produkt aufmerksam. So könne sie am „Aufbau der deutschen Wirtschaft und an der Gesundung unseres Volkes gewissenhaft mitarbeiten“ (Milcheiweißbrot, Lippspringer Anzeiger 1935, Nr. 13 v. 16. Januar, 8).

Doch es gab auch eine Art Bildungsprogramm, also moderierte Gespräche über aktuelle Themen. Am 8. Februar 1935 diskutierten der Ingenieur Emil Moog, Abteilungsleiter des Rheinisch-westfälischen Milchwirtschaftsverbandes sowie der 33-Jährige „alte Kämpfer“ Richard Lubig, Reichsbildungsobmann des Bäckerhandwerkes, in der Nachkriegszeit bekannt für sein Laktasebrot und das sog. Schaumsauerverfahren, über die Frage „Kennen Sie schon das Milcheiweißbrot?“ Stichwortgeber war Karl Holzamer (1906-2007), späteres NSDAP-Mitglied, langjähriger SWF-Rundfunksratvorsitzender und von 1962 bis 1977 Intendant des ZDF. Lubig lobte die Schmackhaftigkeit des neuen Brotes, Moog eher den Gesundheitswert (Das Milcheiweiß-Brot im Rundfunk, RBKZ 37, 1935, 75-76).

Inszenierung der Betriebsgemeinschaft: Gemeinschaftliches Hören einer Rundfunksendung über das Milcheiweißbrot in einer Backstube (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 75)

Breitenwirksamer waren wohl die von April bis Juni 1935 in den Kinos laufenden Werbekurzfilme. Hinzu kamen reichsweit präsentierte „Ton-Diapositive“, also vertonte, mit einem kurzen Merkspruch erläuterte Werbebilder. Auch es blieb nicht beim Sehen, denn viele Kinos boten parallel Milcheiweißbrot als gesunden Snack an (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Eine größere Präsenz in den Gaststätten scheiterte jedoch (Milcheiweißbrot in den Gaststätten, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 142 v. 23. Mai, 4).

Nicht näher eingehen muss man auf die nicht kleine Zahl populär gehaltener Propagandaartikel. Trotz der Affinität zu audiovisuellen Massenmedien gründete der Aufstieg der NSDAP immer auch auf der Presse, wenngleich der Ausbau der eigenen Verlagsmacht relativ spät einsetzte, die SPD- und Zentrumspresse Anfang 1933 weit höhere Auflagen aufwies. Der Parteivorsitzende Adolf Hitler (1889-1945) betonte immer wieder: Die Presse „besorgt in erster Linie diese ‚Aufklärungsarbeit‘ und stellt damit eine Art von Schule für die Erwachsenen dar“ (Die ‚öffentliche Meinung‘ und ihre Fabrikation!, Illustrierter Beobachter 6, 1931, 453).

Insgesamt variierten die vielgestaltigen Propagandaartikel, die meist von lokalen Akteuren platziert wurden, die bereits hinlänglich bekannten Weisen. Es galt mit Magermilch zum Vorteil aller zu haushalten (Eiweiß von 20 Millionen Schweinen, Weißeritz-Zeitung 1934, Nr. 275 v. 26. November, 7), den Sinn des neuen Volksnahrungsmittels zu unterstreichen, das Bild des sorgenden Staates zu unterfüttern (Flörsheimer Zeitung 1934, Nr. 146 v. 6. Dezember, 2; Etwas vom Brotbacken. Ein Wort an die Hausfrau, Lippspringer Anzeiger 1934, Nr. 288 v. 12. Dezember, 8). Wie schon in den Flugblättern präsentierte man die Milchtrocknung als wissenschaftliches Husarenstück, als Milch in der Tüte (Der Neuling auf dem Frühstückstisch, Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1934, Nr. 15076 v. 2. November, 3). Und man nahm immer wieder die Hausfrau in die Pflicht: Bringt „das vorzügliche Milcheiweißbrot auf den Tisch! Ihr seid es der besseren Ernährung unseres Volkes schuldig“ (Hausfrauen, paßt mal auf!, Niederrheinische Landeszeitung 1934, Nr. 288 v. 13. Dezember, 5).

Im Rahmen des Werbefeldzuges 1935 konzentrierten sich die Propagandaartikel zunehmend auf die Eiweißfrage, auf die damit verbundene Sorge der Frau für Kinder und Mann (Das neue gute Brot, Wittener Volks-Zeitung 1935, Nr. 25 v. 30. Januar, 3; „Bitte, geben Sie ein gut ausgebackenes Milcheiweiß-Brot“, Hildener Rundschau 1935, Nr. 45 v. 22. Februar, 3). Zudem finden sich nun reichsweit platzierte Artikel für die bunten Seiten und Wochenendbeilagen. Sie simulierten teils Alltagssituationen, etwa Gespräche zwischen bürgerlichen Hausfrauen (Erlauschtes vom Kaffeeklatsch, Bremer Zeitung 1935, Nr. 76 v. 17. März, 22). Da erschien die freundliche Ratgeberin, die von Frau zu Frau das Milcheiweißbrot vorstellte und pries (Liesel Wulff, Milcheiweißbrot, Die Glocke am Sonntag 1935, Nr. 6 v. 10. Februar, 20; Sächsische Volkszeitung 1935, Nr. 35 v. 10. Februar, Beil. Die praktische Hausfrau, s.p.; Oldenburger Landwirt 29, 1934, Nr. 49, 1). Und da war Milcheiweißbrot als Waffe gegenüber dem feindlichen Ausland, als Teil der Ersatzmittelwirtschaft, als Pendant zum synthetischen Treibstoff, den neuen Kunstfasern: „Wir tanken Holz. Wir essen Milcheiweißbrot. Wir haben eine fabelhafte funktionierende Marktordnung geschaffen. Wir haben Wunder gewirkt“ (Fleischlose Tage, Altenaer Kreisblatt 1935, Nr. 256 v. 1. November, 1). Derartiges Selbstlob mündete fast zwingend in Sendungsbewusstsein. Wahrheitswidrig wurde behauptet, dass auch die Niederlande und die Schweiz ähnliche Spezialbrote entwickeln würden, dann auch Schweden (Ernährungsdienst 1934, Nr. 2, 2; Deutsches Brot wird in Schweden als Vorbild hingestellt, Die Glocke, Ausg. B 1937, Nr. 117 v. 1. Mai, 3). Wir sind wieder wer…

All das war Propaganda, zielte auf einen seine völkischen (Einkaufs-)Pflichten stolz erfüllenden nationalsozialistischen Konsumenten. Realistischere Einschätzungen findet man in den Berichten der Auslands-SPD. Lapidar meldete man die Maßnahmen: „Brot wird mit Trockenmilchpulver versetzt gebacken und als besonders wertvoll und nahrhaft zu teuren Preisen angeboten“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 2, 1935, Nr. 5, A-12). Nach Auskunft der unter hohen persönlichen Risiken berichtenden Gewährsleute war dies Teil und Ausdruck einer vor allem im Fettsektor krisenhaften Lebensmittelversorgung. Für sie weckte die Propaganda „die Erinnerung an Kriegswirtschaft und Kriegsnot […], so dass jede ‚Versorgungsspannung‘ automatisch neue Hamsterwellen hervorruft. Seit man z.B. aus agrarpolitischen Gründen das Brot verschlechtert hat, macht man für dieses neue „Milcheiweissbrot‘ eine Propaganda, die der Propaganda für das Kriegsbrot aufs Haar gleicht“ (Ebd., Nr. 9 v. 16. Oktober, A-39). Das mochte so nicht zutreffen, doch es gab Einblicke abseits der Propaganda: „Auch das Brot ist schlechter geworden – wie das Kriegsbrot. Die Bäcker schimpfen, sie behaupten, das Mehl habe sich verschlechtert. Zudem hat sich ihre Preisspanne verringert, da sie die Festpreise nicht überschreiten dürfen. Das Milcheiweissbrot setzt sich nicht durch, es schmeckt aber auch trocken wie Stroh. Ausserdem habe sich nur wenige Firmen zur Herstellung entschlossen“ (Ebd. 3, 1936, Nr. 12 v. 15. Januar, A-12). Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot verfehlte offenbar sein Ziel. Öffentlich wurde das beschwiegen, propagandistisch übertüncht. So findet sich das vermeintliche Volksnahrungsmittel immer mal wieder in den damals zunehmend üblichen Wochenspeisezetteln (etwa Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 97 v. 27. Februar, 14; Nr. 146 v. 27. März, 15; Nr. 401 v. 28. August, 12; Nr. 473 v. 9. Oktober, 18; ebd. 1936, Nr. 46 v. 29. Januar, 17; Nr. 180 v. 18. April, 21; Nr. 307 v. 4. Juli, 23). Selbst den Heiligabend 1935 sollte man mit (Ersatz-)Kaffee und Milcheiweißbrot mit Honig beginnen.

Den Heiligabend mit Milcheiweißbrot beginnen (Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 583 v. 13. Dezember, 31)

Paradoxien der Werbung: Milcheiweißbrot als Fabrikware

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot blieb also keine Ankündigung. Milchwirtschaft und Reichsnährstand unternahmen vielgestaltige Anstrengungen um trotz des katastrophalen Startes das neue Brot stärker zu popularisieren. Die eingesetzten Werbemittel hätten auch von den landwirtschaftlichen Werbeausschüssen Ende der 1920er Jahre eingesetzt werden können. Und doch fehlte eine entscheidende Zwischenstufe. Während gängige Lebensmittel und nicht zuletzt Innovationen sehr rasch ihren Weg in die Anzeigen des mittelständischen Einzelhandels, der Filialbetriebe oder aber der Einkaufsgenossenschaften fanden, waren entsprechende Anzeigen für das Milcheiweißbrot selten.

Einzelanzeigen (Der Sächsische Erzähler 1934, Nr. 275 v. 26. November, 4 (l.); Merseburger Korrespondent 1934, Nr. 288 v. 10. Dezember, 10)

Das lag gewiss an den recht kleinen Einzugsgebieten, an einem meist recht überschaubaren Sortiment, an einem habitualisieren Einkaufsverhalten. Doch gerade zu den christlichen Hochfesten und den neuen staatlichen Feiertagen schalteten größere Bäckereien häufig Anzeigen, schmückten auch ihre Schaufenster, vielfach nach staatlichen Vorgaben. Für das Milcheiweißbrot wurde in den Zeitungen jedoch kaum geworben.

Einzelanzeigen (Sauerländisches Volksblatt 1934, Nr. 278 v. 3. Dezember, 4 (l.); Langenberger Zeitung 1935, Nr. 191 v. 17. August, 6)

Man bediente sich in diesen Fällen der einschlägigen Werbephrasen, lobte das Kraftbrot, verwies auf die staatliche und institutionelle Propaganda. Ansonsten wurde höchstens bei der Einführung kurz annotiert. Gemeinschaftswerbung der Innungen fehlte. Darin zeigt sich deutlich die kritische, ja häufig ablehnende Grundhaltung vieler Bäcker gegenüber dem Milcheiweißbrot. Die eingeforderten Plakate und Verkaufs-Signets mussten reichen. Die Sache würde schon enden…

Milcheiweißbrot bei der verfemten Konkurrenz der Konsumgenossenschaften (Bote für Stadt und Land 1935, Nr. 53 v. 22. Februar, 5 (o.); Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 11 v. 14. Januar, 6)

Konkurrenten nutzten dagegen die mit dem neuen Brot verbundenen Chancen. Die durch Handwerksbäcker strikt bekämpften und durch das Gesetz über Verbrauchergenossenschaften vom Mai 1935 eng begrenzten und zunehmend bedrohten Konsumgenossenschaften ließen in ihren zumeist größeren und leistungsfähigen Bäckereibetrieben vielfach Milcheiweißbrot herstellen, stellten dadurch ihre Loyalität zum NS-System öffentlich unter Beweis. Die Anzeigen setzten Anfang 1935 ein, finden sich aber auch noch im Folgejahr (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1936, Nr. 152 v. 30. März, 12; Hamburger Tageblatt 1936, Nr. 98 v. 8. April, 10; ebd. 1937, Nr. 82 v. 24. März, 6; Verbo – Der Rottum-Bote 1936, Nr. 79 v. 3. April, 12; Verbo – Buchauer Tagblatt 1936, Nr. 84 v. 9. April, 8).

Milcheiweißbrot als Teil eines breiteren Sortiments von Spezialbroten (Frankenberger Tageblatt 1936, Nr. 80 v. 9. April, 3 (l.); Viernheimer Volkszeitung 1938, Nr. 100 v. 30. April, 8)

Filialbetriebe folgten ebenfalls, integrierten das Milcheiweißbrot in ihre breiten Sortimente. Im Bäckereihandwerk wurde es dagegen ab 1936 einzig noch bei Spezialbäckereien beworben. Das angereicherte Produkt diente dann aber nicht als Volksnahrungsmittel, sondern als Alltagshilfe für Kranke und Rekonvaleszente. In gewisser Weise folgte das Milcheiweißbrot also der Marktpositionierung der einst massiv beworbenen Eiweißpräparate der Jahrhundertwende vom Massenmarkt in die Nische.

Mythenproduktion: Nationalsozialistische Konsumlegenden

Dier NS-Propaganda zielte (wie jede Propaganda) auf totale Propaganda. Sie versuchte, „den ganzen und alle Menschen zu erreichen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben“ (Ellul, 2021, 28). Die NS-Propaganda agitierte in ihrer Zeit, wollte diese prägen und beherrschen. Doch sie zielte zugleich darauf, „die Geschichte ihren Bedürfnissen entsprechend neu schreiben“ (ebd., 31).

Die Milcheiweißbrot-Propaganda zielte daher auch auf die Mythisierung und Umdeutung der deutschen (Konsum-)Geschichte. Auf der einen Seite erklärte man das neue Brot einfach als eine modernisierte Rückkehr zur bewährten Praxis der Vorkriegszeit: „Bis zum Kriege war es üblich, daß jeder Brotteig mit Milch, und zwar hauptsächlich mit entrahmter Milch, angesetzt wurde. Dieser Jahrhunderte alte Brauch ist erst in den schweren Kriegsjahren – der Not gehorchend – verloren gegangen: man ersetzte seitdem die Milch durch Wasser“ (Lippische Tageszeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 6). Teils wurde auch die Industrialisierung für diese Abkehr von der eigenen Tradition bemüht, teils an weit verbreitete Agrarromantik angedockt: „Nur auf dem Lande hat sich der alte Brauch meist noch erhalten. Darum schmeckt uns Städtern auch das Landbrot, das Bauernbrot so besonders gut!“ (Ellen Schweigart, Milcheiweiß-Brot – das neue Kraftbrot, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 3. Dezember, 10).

Man fühlt sich angesichts solch systematischer Irreführungen an die heutige Bereicherungsökonomie erinnert, an die gängige Naturmystik bei der Vermarktung von Bio-Lebensmitteln. Doch schon ein flüchtiger Blick ergibt keinen Beleg für das Verbacken von Milch bei der Brotbereitung im Kaiserreich (Fritz Elsner, Die Praxis des Lebensmittelchemikers, Leipzig 1880, 64-69; R. Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 70-73; A. Bender, Brot, in: O[tto] Dammer, Handbuch der chemischen Technologie, Bd. III, Stuttgart 1896, 373-389). Die Eiweißfrage wurde stattdessen vorrangig am Problem des Feinmehls diskutiert. Kleiebrot galt Physiologen teils als gehaltreicher, während andere auf die geringe Ausnutzung des Brotes verwiesen (Palm, 1882, 73). Auch in Kochbüchern findet man keine Belege für das Verbacken von Magermilch im Brot (vgl. etwa Henriette Davidis und Luise Rosendorf, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, 25. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1882, 523-524). Eine Ausnahme bildet lediglich leichtes, mit kalter Milch gebackenes Weißbrot (Luise Holle, Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch […], 37. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1898, 555). Brotrezepte fehlen in der Mehrzahl der bürgerlichen Kochbücher. Magermilch wurde verfüttert, getrunken, zu Weichkäse verarbeitet, nicht aber dem Brot zugemengt.

Ebenso typisch war ein zweiter historischen Mythos, der die Entwicklung der Ernährungswissenschaft schlicht ad absurdum führte. Demnach habe die moderne Wissenschaft, insbesondere die Vitaminlehre, zu einer Neubewertung des Natürlichen geführt, zu einer neuen Wertschätzung „der natürlichen Lebensweise unserer Vorfahren“, zu einem fundierten Weckruf, „die Irrwege einer Zivilisation verlassen, die uns schon in so manche Sackgasse geführt haben“ (Etwas über Milcheiweißbrot, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 264 v. 15. November, 4). Die Nähe zwischen NS-Regime und Ernährungsreformern war bis 1935/36 in der Tat eng (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext, Baden 2010, 134-150). Doch Lehrbücher nationalsozialistischer Hygieniker wie Werner Kollath (1892-1970), die derartige Narrative adelten, erwähnten just das Milcheiweißbrot nicht (Grundlagen, Methoden und Ziele der Hygiene, Leipzig 1937, 314-321). Bei aller berechtigten Kritik an den Fehlern der neuzeitlichen Lebensmittelproduktion, nicht zuletzt der Eiweißanreicherung: Die natürliche Lebensweise der Vergangenheit ist ein irreführender Romantizismus, ebenso die wohlfeile Klage über die Irrwege der Zivilisation. Dass gerade ein wissenschaftliches Kunstprodukt wie Milcheiweißbrot ein „Vorwärts zur Natur“ bedeuten sollte, war überraschend.

Drittens schließlich findet sich in der Propagandaliteratur auch die weitverbreitete Idee eines guten alten Brotes, das durch die neuere Hochmüllerei (und auch der Abkehr von der flüssig verbackenen Magermilch) seine Kernigkeit und seinen Nährwert verloren habe. Dies vorausgesetzt erschien das Milcheiweißbrot als ein neuerliches „Höherwertiger-Machen“ (Hans Schlachcikowski, Wer hat den richtigen Schlüssel?, Altenaer Kreisblatt 1934, Nr. 282 v. 3. Dezember, 6). Technik und Wissenschaft erlaubten demnach eine virtuelle Rückkehr zu den guten alten Zeiten. Dieser Mythos wurde bereits von den Brotreformern der Jahrhundertwende vertreten, sollte die kurze Zeit später begonnene Vollkornbrotpolitik kennzeichnen (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im »Dritten Reich«, 1999 16, 2001, 91-128). Modernes Vollkornbrot war und ist jedoch ein modernes, technisch elaboriertes Produkt, keine Wiederkehr von etwas Verlorenem. Das Umschreiben der Vergangenheit dürfte dennoch auf Zustimmung getroffen sein, so wie die zahllosen Konsummythen unserer Zeit.

Unwillige Bäcker

Das Milcheiweißbrot war ein Flop. Es scheiterte fast schon jämmerlich, auch wenn es noch nach Mitte 1935 angeboten und verzehrt wurde, als der Werbefeldzug endete. Das lautstark und vielgestaltig angepriesene Volksnahrungsmittel mutierte zu einem Nischenprodukt, über dessen reale Bedeutung wir leider nichts sagen können, da es nicht mehr Gegenstand der vom NS-Regime gewährten Öffentlichkeit war, da archivalische Quellen fehlen.

Das Milcheiweißbrot als Eckenbrüller auf der Kölner Gastwirte-Ausstellung im September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Die Ursachen für diesen Flop waren vielgestaltig. Das neue Brot war teurer, der fachlich begründete Verweis auf mehr Eiweiß und einen etwas höheren Nährwert blieb demgegenüber abstrakt. Brot war ein Grundnahrungsmittel, meist unhinterfragtes Korsett der täglichen Kost. Änderungen bedurften daher besonderer Anreize, die diese Morgengabe an die Landwirtschaft kaum hatte. Das neue Kraftbrot folgte auf mehrere staatliche erzwungene Neugestaltungen des Brotes, so dass die Propaganda für ein dauerhaft etabliertes Volksnahrungsmittel recht unglaubwürdig war. Die neue „nationale“ Regierung war 1934 in einer tiefen Krise, konnte viele Versprechungen nur unzureichend erfüllen, eröffnete im Mai einen Feldzug gegen „Miesmacher und Kritikaster, Gerüchtemacher und Nichtskönner, Saboteure und Hetzer“, tötete zwecks Herrschaftsstabilisierung Ende Juni 1934 ca. einhundert SA-Granden und meist konservative Kritiker. Es war nicht ausgemacht, dass diese Regierung nicht zusammenbrechen würde. Hinzu kam der äußerst schwer zu rekonstruierende neuartige Geschmack des Milcheiweißbrotes und schließlich die desaströs verzögerte Einführung, die unartikulierte Zweifel an der Seriosität des ganzen Unterfangens schürte.

Die verzögerte Einführung des neuen Brotes war jedoch nicht nur Folge organisatorischer Versäumnisse, einer nicht reibungslos funktionierenden gelenkten Agrarwirtschaft und ineffizienter Bürokratie. Sie spiegelte vor allem den nur selten öffentlich artikulierten Unwillen der Bäcker, das gegen ihren Willen und gegen ihre Expertise eingeführte Milcheiweißbrot wirklich zu backen. Um das zu begründeten, müssen wir noch einmal genauer auf die Debatten um die Beimischungszwänge eingehen. Das Bäckerhandwerk hatte die neue „nationale“ Regierung freudig begrüßt, Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865-1951) schien einer der Ihren zu sein. Man hoffte Anfang 1933 auf ein rasches Ende der erzwungenen Kartoffelstärkemehlbeimischung, die man mit dem Slogan „Schweinefutter im Brot, gesundes und gutes Getreide im Schweinetrog“ strikt ablehnte (Das Bäckerhandwerk gegen den Kartoffelstärkemehl-Verwendungszwang, RBKZ 35, 1933, 74). Doch dieser „Qualitätsverschlechterung“ der Brotherstellung wurde nicht Einhalt geboten, stattdessen sah man sich zusätzlich mit dem vom Deutschen Landwirtschaftsrat und dem Milchwirtschaftlichen Verband propagierten „Verwendungszwang“ für Magermilch konfrontiert. Die wichtigste Dachorganisation der Bäcker, der Germania-Verband, protestierte gegen die kostenträchtige und nicht praktikable „Aenderung in der bisherigen Arbeitsweise“ (Der Germania-Verband wendet sich an den Reichsernährungsminister, RBKZ 35, 1933, 123). Diese grundsätzliche Kritik behielt der Verband auch im Sommer 1933 bei. Der Magermilchzusatz führe zu „einer erheblichen Verschlechterung der Qualität des Brotes“, verringerte die Backfähigkeit des Mehles, erfordere eine andere Teigführung, die wiederum den natürlichen Getreidegeschmack unterminiere: „Wirtschaftlich gesehen ergibt sich also, daß bei Einführung des Verwendungszwanges von Magermilch ein weniger schmackhaftes Brot für einen erhöhten Preis verkauft werden müßte.“ Der Brotkonsum würde sinken, dadurch auch die Landwirtschaft geschädigt werden. „In der Verschlechterung und Verteuerung sieht es [das Bäckerhandwerk, US] nicht nur für seine Existenz und die Verbraucher, sondern gleichzeitig auch für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung eine unübersehbare Gefahr“ (Ausdehnung des Verwendungszwanges bei der Brotherstellung?, RBKZ 35, 1933, 325 [auch vorherige Zitate]). Das waren deutliche und auch mutige Worte in einer von massiver Gewalt durchzogenen Gleichschaltungsphase der Gesellschaft. Die Bäcker kränkte besonders, dass ihre Expertise nicht genutzt und geschätzt wurde (Kommt die Ausdehnung des Verwendungszwanges?, RBKZ 35, 1933, 349).

Die NS-Regierung erließ dennoch das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch vom 12. September 1933. Den kargen archivalischen Unterlagen gemäß teilte man die Sorgen der Bäcker nicht. Der Zusatz von Trockenmilch würde das Brot verbessern, auch wenn die gesundheitlichen Folgen unklar seien. Da aber keine negativen Erfahrungen vorlägen, sei die Beimischung von Kartoffelstärkemehl und Trockenmilch unproblematisch, andernfalls könne man beide ja auch getrennt verwenden (Bundesarchiv Lichterfelde R 43 II, Nr. 863, Bd. 14, 27-42). Im quasi-amtlichen Völkischen Beobachter hieß es autorativ, dass ein mit Magermilch angereichertes Brot, ein „Milchweißbrot“, entscheidend „zur Versorgung der eiweißhungrigen Volksmassen mit billigstem deutschem Nahrungseiweiß beiträgt“ (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Völkischer Beobachter 1933, Nr. 225 v. 2. Oktober, 13). Der Bakteriologe Traugott Baumgärtel (1891-1969) sekundierte in der auflagenstärksten Ernährungszeitschrift, dass Magermilch „das beste und billigste Naturprodukt“ zur Anreicherung des Brotes sei, und das „neue ‚Milcheiweißbrot‘ eine wertvolle Bereicherung der deutschen Volksnahrungsmittel darstellen“ dürfte (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Zeitschrift für Volksernährung 8, 1933, 316-317, hier 317). In der Fachpresse des Bäckereihandwerkes wurde dies zur Kenntnis genommen, blieb nunmehr unkommentiert (Was ist Trockenmagermilch?, RBKZ 35, 1933, 395).

Es ist nicht davon auszugehen, dass die fachlichen, geschmacklichen und wirtschaftlichen Bedenken gegen das Milcheiweißbrot damit ausgeräumt waren. Im Gegenteil dürfte die deutliche Erhöhung der beizumischenden Magermilchmenge diese nochmals erhöht haben. Doch mit dem am 15. Oktober 1934 auslaufenden Beimischungszwang war nunmehr Freiwilligkeit Trumpf. Das Milcheiweißbrot wurde von der Milchwirtschaft vorangetrieben, sie wachte über die Genehmigungen, sie entwickelte und koordinierte die Propaganda. Die Bäcker aber zogen nicht mit, trotz strikter bürokratischer Überwachung, trotz eindeutiger Vorgaben einer erwarteten achtzigprozentigen Teilnahme.

Flankenschutz für das Milcheiweißbrot: Milchpulverangebote von den Großeinkaufsgesellschaften der Bäcker (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 537)

Anfang 1935, parallel zu einem mangels umfassender Marktpräsenz des Milcheiweißbrotes teils ins Leere laufenden Werbefeldzuges hieß es in einem Rundschreiben des Abteilungsleiter des Rheinisch-Westfälischen Milchwirtschaftsverbands Emil Moog: „Alle Bäckereibetriebe, die die Genehmigung zur Herstellung des Milcheiweißes erhielten, haben nicht nur das Recht, nunmehr das Brot zu backen, sondern auch die Verpflichtung, sich mit Energie und Eifer für die neue Sache einzusetzen.“ Zugleich ließen sich aber die technischen Probleme kaum mehr überdecken: „Wenn beim ersten Back- und Verkaufsversuch auch der volle Erfolg auf einen Anhieb hin noch nicht erreicht ist, so darf dieses den Bäckermeister nicht entmutigen. Der Anfang ist bei einer Neueinführung immer etwas schwieriger. Beim zweiten und dritten Mal wird es schon besser klappen, bis schließlich bei richtiger Ausdauer auch der Erfolg nicht ausbleibt“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Das backtechnisch nicht angemessen erprobte Milcheiweißbrot sollte in der Backstube pröbelnd Gestalt gewinnen. Das war kaum akzeptabel, selbst während der NS-Zeit.

Es folgten Drohungen, ersichtlich etwa in einem Schreiben der Dauermilcherzeuger an den Germania-Verband Anfang 1935: „Ich habe mich während meines Urlaubes überzeugen können, daß die Bäcker, die Milcheiweißbrot führen, tatenlos dem Verkauf gegenüberstehen. Teilweise wird kein Brot den Kunden angeboten, teilweise vergißt man so nebenbei die Banderole um das Brot zu legen usw. Es ist selbstverständlich, daß bei dieser Art von Verkauf man nicht vorwärts kommt. Wenn die Bäcker auch schon ein Interesse daran haben, ein Brot zu propagieren, bei dem sie mehr verdienen, als beim anderen Brot, so ist es doch tiefbedauerlich, daß nicht aus sich selbst heraus das Bäckergewerbe hier das nötige Verständnis aufbringt. Sie werden selbst einsehen, daß ich unter solchen Umständen einen anderen Weg beschreiten muß und werde. Muß denn bei den einzelnen beteiligten Kreisen immer ein Zwang einsetzen?“ (Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 101).

Appelle zur Verwendung von Trockenmilch Anfang 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 19)

Doch dazu kam es nicht, denn das Bäckerhandwerk umfasste 1933 mehr als 100.000 Betriebe mit fast 400.000 Beschäftigten (Das Bäckerhandwerk in der Gewerbestatistik, RBKZ 37, 1935, 241). Parallellaufende Verhandlungen mit dem Reichskommissar für Milcherzeugnisse, Öl und Fett und dem Reichsernährungsministerium führten jedoch dazu, dass der Germania-Verband „den Kampf gegen Materialvergeudung durch Verringerung der Magermilchschwemme“ formal unterstützte. Das aber bedeutete lediglich den Einsatz von Trockenmilchprodukten bei (Weizen-)Kleingebäck und Kuchen. Von der Verbandsleitung wetterte man zwar pflichtgemäß gegen die „Sabotage unverantwortlicher Kreise“, doch erstreckten sich die ebenfalls angedrohten Sanktionen nur auf eine Nicht-Verwendung von Trockenmilchprodukten, nicht aber auf die Nicht-Produktion von Milcheiweißbrot (Trockenmagermilch, Der Weckruf 22, 1935, 74). Die Blockademacht der Bäcker hatte sich im Wesentlichen durchgesetzt.

Milchweißbrot wurde zwar weiter gebacken, keineswegs aber im anvisierten Umfang. Entgegen Gerüchten über ein Ende der Produktion bekräftigte die Brotmarktordnung vom 15. Juni 1935 nochmals seinen Status als Spezialbrot (Milcheiweißbrot und Brotmarktordnung, Verbo 1935, Nr. 52 v. 1. März, 11). Dieser war jedoch zunehmend eine leere Hülle. Von den NS-Aktivisten verlautete verbrämend: „Schon im vergangenen Jahre versuchte man in dem Milcheiweißbrot eine Absatzmöglichkeit für die Magermilch zu finden, aber durch eine Reihe von Ursachen wurde das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte. Jetzt gibt man der Werbearbeit eine neue Richtung, indem man zunächst einmal das deutsche Bäckerhandwerk mit der Verwendung von Magermilch vertraut machen und ihm zeigen will, welche Werte auch für das Bäckerhandwerk die Magermilchverwendung hat“ (Richard Lubig, Milch im Brot, RBKZ 37, 1935, 386). Im Spätsommer 1935 wurden Ausstellungen zwar weiterhin mit Milcheiweißbroten bestückt, doch in das Zentrum traten trotz des Slogans „Milch in Brot“ das im Jahr zuvor stärker geförderte Knäckebrot, vor allem aber Roggen- und Roggenschrotbrote: „Es ist das deutsche Kraftbrot der Zukunft, das Vollkornbrot, das gesundeste von allen, weil es infolge seiner Zusammensetzung die Eigenschaften besitzt, die Zähne, den Rachen, den Magen und Darminhalt zu reinigen“. Das Milcheiweißbrot solle dagegen als Kastenbrot neu erscheinen, „hergestellt nach einem besonderen Rezept“, […] demnächst in ganz Deutschland einheitlich zu haben“ (Das Bäckerhandwerk auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung, RBKZ 37, 1935, 433-434, hier 434). Diese Ankündigung wurde nicht umgesetzt. Wenig später hieß es dann: „Milcheiweißbrot, dem man einen Teil der Magermilch zugesetzt hatte, konnte sich nicht einführen“ (Zentralblatt für innere Medizin 59, 1938, 56).

„Milch in Brot“: Roggen- und Roggenschrotbrot mit verbackenem saurem Milchpulver auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung in Köln, September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Neue Formen der Magermilchverwertung

Das Scheitern des Milcheiweißbrote war auch deshalb möglich, weil die wissenschaftlichen Begleit- und auch die intensive Produktforschung zunehmend andere Formen der Magermilchverwertung bevorzugten. Erstens wurde der anfangs hervorgehobene Beitrag des Milcheiweißbrotes zur Eiweißversorgung stark relativiert, der „Gehalt an Milcheiweiß ist nicht sehr hoch“ (Frank Lamprecht, Die Verwendung von Magermilch, insbesondere Milcheiweiss, in der menschlichen Ernährung, in: Wissenschaftliche Berichte des XI. Milchwirtschaftlichen Weltkongresses, Bd. II, Hildesheim 1937, 270-273, hier 271). Effizientere Präparate seien vorzuziehen.

Zweitens ergaben Untersuchungen möglicher Backverfahren und -mischungen, dass die Qualität der zumeist aus Roggen hergestellten Milcheiweißbrote geschmacklich nicht überzeugen konnte. Paul Friedrich Pelshenke (1905-1985), führender NS-Experte, seit 1934 Leiter des Berliner Instituts für Bäckerei der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung, betonte nach der NS-Herrschaft, „daß insbesondere beim Roggenbrot der Zusatz von normalem Milchpulver völlig indiskutabel ist, weil der Brotgeschmack unangenehm wird. Es verträgt sich nun einmal die Säure im Roggen- wie auch im Roggenmischbrot nicht mit dem typischen Milchgeschmack, den man ja von der Magermilch her kennt“ (P[aul] F[riedrich] Pelshenke, Über Milcheiweißbrot, Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 15, 5-6, hier 5). Das klang in seinen früheren Analysen weniger eindeutig, 1935 sprach er von einer teilweisen „Verflachung des typisch kernigen Sauerteigbrotgeschmacks“, bei einigen Milchpulvern auch von einer „dem Brot fremde Säuerung, die als nachteilig angesprochen werden muß und zu völliger Ablehnung führen kann“. Weizengebäck sei besser geeignet, könne auch mehr Magermilchpulver aufnehmen (Pelshenke und Zeisset, 1936, 5-6).

Drittens entstand seit 1937 für Wehrmacht und Zivilbevölkerung eine rasant wachsende Palette von mit Eiweiß angereicherten Produkten. Wilhelm Ziegelmayer hob Bratlingspulver mit Soja-, Milch- und Molkeneiweiß, Suppenkonserven mit Hülsenfrüchten und aus Roggenschrot, Frischwurst bzw. Dauerwurst mit Keimmasse, Nudel und Käsepulver mit Hefe, Kekse und kochfertige Saucen mit Sojaeiweiß, Migetti und Puddingpulver mit Milcheiweiß, Pemmikan mit Soja- und Milcheiweiß bzw. Weinsäuredrops mit Molken- und Milcheiweiß nach dem Krieg besonders hervor (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 145). Milcheiweiß machte den Anfang, gefolgt von Soja-, Hefe- und Molkeneiweiß. Es handelte sich zumeist um Zwischenprodukte bei Suppen, zur Fleischstreckung und von Süßwaren (Angewandte Chemie 51, 1937, 829). Sie waren auch in der Nachkriegszeit wichtige Bestandteile der Alltagskost, finden sich täglich in unserer Ernährung.

Verhäuslichung der Rohware: Milcheiweißpulver im Haushalt (Ernährungsdienst Nr. 21, 1938, 25; Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Viertens begann man spätestens mit dem Übergang zum Vierjahresplan, Milcheiweißpulver und Trockenmilch auch als häusliches Convenienceprodukte anzubieten. Sie galten als stark machende, lang haltbare und universell einsetzbare Hilfsmittel im Haushalt, waren Vorschein einer neuen modernen nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. In der Nachkriegszeit wurden sie in Ost und West weiter verfeinert und geschmacklich verbessert. Der heute abebbende Eiweiß-Hype macht diese weit verbreiteten Produkte immerhin sichtbar; vorausgesetzt, man kennt ihre, also unsere Geschichte.

Lob der kräftigenden Trockenmilch (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 54 v. 4. März, 14)

Fünftens hatten die raschen Veränderungen auch Rückwirkungen auf das noch vorhandene Nischenprodukt Milcheiweißbrot: 1938 wurde die für eine Anerkennung erforderliche Beimischung von Magermilchpulver resp. Nährkasein auf fünf bzw. 2,5 Prozent verdoppelt. Das behielt man auch während des Krieges bei, obwohl Trockenmilch zunehmend knapp wurde (Milcheiweißbrot als Spezialbrot, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 42, 1940, 45). Die Verordnung vom 26. März 1942 beendete dann die Geschichte des Milcheiweißbrotes während der NS-Zeit (Die neuen Brotzusammensetzungen, Renchtäler Zeitung 1942, Nr. 220 v. 19. September, 5).

Alles neu? Revitalisierung des Milcheiweißbrotes 1953/54

Das Jahr 1945, der militärische Sieg über das Großdeutsche Reich und seine Verbündeten, brachte ein Ende des Schlachtens und Mordens. Das betraf den Krieg, auch die derweil laufenden sieben nationalsozialistischen Massenmordkampagnen (Alex J. Kay, Das Reich der Vergeltung, Darmstadt 2023). Eine Stunde Null hat es dennoch nur ansatzweise gegeben, die gut gemeinten Bemühungen der Besatzungsmächte für einen Neuanfang blieben aus vielerlei Gründen Stückwerk. Nach 1945 dominierte gerade im Agrar- und Ernährungssektor eine Kontinuität der Eliten und der Praktiken. Man vergaß das Geschehene, vergaß die Namen der Macher und Täter, doch diese knüpften in ihren neuen alten Positionen vielfach wieder an das Geschehene an. Das Milcheiweißbrot ist dafür ein beredtes Beispiel.

Im Herbst 1953 lancierte das mit ehedem nationalsozialistischen Funktionseliten gespickte Bundesernährungsministerium – damals waren 70 Prozent der führenden Mitarbeiter frühere NSDAP-Mitglieder, wenige Jahre später dann 80 (Friedrich Kießling, Landwirtschaftsministerium und Agrarpolitik in der alten Bundesrepublik, in: Horst Möller et al. (Hg.), Agrarpolitik im 20. Jahrhundert, Berlin und Boston 2020, 365-512, hier 425-426) – in sechs nordrhein-westfälischen Großstädten eine Gemeinschaftswerbung für „ein mit Milcheiweiß angereichertes Brot“ (Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1). Neuerlich handelte es sich um ein Spezialbrot mit Banderole, neuerlich wurde es als Kraftbrot beworben. Neuerlich war es die Agrarlobby, die hoffte, „ein neues Absatzgebiet für Magermilchpulver zu erschließen“ (Calwer Tagblatt 1953, Nr. 174 v. 30. Juli, 2). Paradoxerweise wurde das altbekannte Milcheiweißbrot jedoch als neu beworben; so als hätte es seinen Vorläufer nie gegeben.

Das „neue“ Milcheiweißbrot in Westdeutschland 1953/54 (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8 (l.); Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1)

Das „neue Milcheiweißbrot“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8) wurde am 1. November 1953 eingeführt – doch bescheidener als ehedem im Oktober 1934. Man hatte offenbar aus der reichsweiten Einführung des Vollkornbrotes 1939 gelernt, das zuvor in zwei Testregionen, in Sachsen und dem Südwesten, eingeführt und evaluiert worden war (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, Comparativ 11, 2001, 27-50). Nunmehr testete man in sechs Großstädten Nordrhein-Westfalens. Vorangegangen waren die üblichen Absprachen der interessierten Kreise, „dem Bundes- und Landesernährungsministerium, dem Bäckerhandwerk, den Brotfabriken und der Milchwirtschaft“ (Brot mit Eiweis [sic!], Sauerländisches Volksblatt 1953, Nr. 4. November, 4). Die Konsumenten blieben außen vor, auch ihre damaligen Repräsentanten, die Konsumgenossenschaften und die Hausfrauenverbände. Mit an Bord waren abermals Vorzeigewissenschaftler. Der Physiologe Heinrich Kraut (1893-1992), trotz NSDAP-Mitgliedschaft und umfangreicher Minimalbedarfsuntersuchungen an Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges wieder Leiter der Abteilung für Ernährungsphysiologie des Max-Planck-Instituts in Dortmund und einer der führenden, auch international gefragten Ernährungswissenschaftler der Bundesrepublik, betonte wie schon seine Vorgänger 1934/35, dass Milcheiweiß in eine moderne und gesunde Kost gehöre, dass es zugleich um billiges Eiweiß für ärmeren Segmente der Bevölkerung gehe. Das unterstrich auch der mittlerweile als Leiter der späteren Bundesanstalt für Getreideforschung in Detmold reetablierte Paul Pelshenke, der ab 1940 die Reichsanstalt für Getreideverarbeitung geleitet hatte (Bundesarchiv Lichterfelde R 4901/13273). Neuerlich führte er Backversuche mit Magermilchbroten durch, allerdings ohne direkt auf seine früheren Forschungen zu verweisen, in denen er verschiedene Roggenmehlvarianten ausdrücklich gutgeheißen hatte. Nun, in einem Umfeld neuer Mehle, neuer Technik, neuer Backhilfsmittel und neuer Milchpulver, sei es jedoch ratsam vom nicht geeigneten Roggen auf Weizen umzustellen (Pelshenke, 1954).

Rein technisch hatte man also aus dem ersten Scheitern gelernt, denn das neue Brot bestand nicht mehr vorrangig aus Roggenmehl, sondern nunmehr zu mindestens 70 Prozent aus Weizenmehl, welches damals massenhaft aus den USA und Kanada importiert wurde. Der Magermilchanteil betrug nun drei Prozent, der Preis lag drei Pfennige höher als der weiterhin staatlich administrierte Preis des Standardbrotes (Eine neue Brotsorte, Honnefer Volkszeitung 1953, Nr. 176 v. 31. Juli, 4). Und wieder klang es erfolgstrunken wie in alten Zeiten: „In Dortmund und Düsseldorf hatten die Bäcker ihre Vorräte von dem Brot, da auch besser schmeckt und sich besser hält, sehr schnell verkauft“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8). Schon einen Monat sprach das NRW-Landwirtschaftsministerium von einer dank einschlägiger Werbung erfolgreichen Einführung (Milcheiweißbrot setzt sich durch, Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 279 v. 1. Dezember, 10). Die Landwirtschaft sekundierte, auch wenn der Preisabstand teils auf fünf Pfennige hochgeschnellt war (Milcheiweißbrot gefällt, Bünder Zeitung 1953, Nr. 300 v. 28. Dezember, 5). Da machte auch der Bäcker mit.

Integration des „Eiweissbrotes“ in die staatliche Agrarwerbung der Bundesrepublik (Honnefer Volkszeitung 1954, Nr. 132 v. 9. Juni, 4 (l.); Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 109 v. 12. Mai, 8)

Anfang 1954 war man dann fast wieder dort, wo man 1934 begonnen hatte: „Das je Kilo um drei Pfennig teurere Brot soll demnächst in allen Städten mit über 50.000 Einwohnern verkauft werden. Bundesernährungsminister Lübke wolle allen Ländern empfehlen, ähnliche Versuche durchzuführen. Falls dieser Plan in die Wirklichkeit umgesetzt wird, ist nach Meinung des Landwirtschaftsverbandes damit zu rechnen, daß der Ueberschuß an Magermilch bis auf einen kleinen Rest aufgefangen werden kann“ (Eiweißbrot soll sich durchsetzen, Bünder Zeitung 1954, Nr. 15 v. 19. Januar, 5). Das Milcheiweißbrot wurde seit Februar 1954 in 26 nordrhein-westfälischen Städten angeboten, die Werbung entsprechend ausgeweitet (Eiweißbrot bewährt sich, Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 39 v. 16. Februar, 3). Stolz hieß es, es „werden jetzt Vorbereitungen getroffen, dieses Milcheiweißbrot im ganzen Bundesgebiet anzubieten“ (Münstersche Zeitung 1954, Nr. 62 v. 13. März, 9). Weitere Pilotprojekte folgten in Kassel, dann in ganz Hessen. Die Bäckereien waren nach wie vor zögerlich, doch das sollte sich langsam legen: 60 Prozent der Kasseler Bäcker beteiligen sich, „nachdem sich zuerst nur zehn Bäckereien zögernd dazu entschlossen hätten“ (Milcheiweißbrot jetzt für ganz Hessen, Mannheimer Morgen 1954, Nr. 170 v. 24. Juli, 10). Zuvor hatte sich das Brot nochmals gewandelt, wurde nunmehr als „Eiweißbrot mit Milch-Eiweiß“ Teil der staatlichen Gemeinschaftswerbung. Trotz weiterer Erfolge blieb der Erfolg jedoch begrenzt. Die 1957 folgende EWG-Gründung führte die nun gemeinsame Agrarpolitik ohnehin in neue Dimensionen, Milchseen und Milchpulverberge wurden gängige Bilder der weitergeführten subventionieren Unvernunft.

Überproduktion und Vorratswirtschaft als Folge der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik, karikiert vom früheren NS-Propagandazeichner Hanns Erich „Erik“ Köhler (1905-1983) (Das Beste aus Reader’s Digest 28, 1975, Nr. 12, 55)

Uwe Spiekermann, 31. August 2025

Verbrauchslenkung vor dem Zweiten Weltkrieg: „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ im Kontext

Das Volk, der große Lümmel – so klang es ironisch gebrochen in Heinrich Heines Wintermärchen, so klingt es bis heute in den Stuben von Gelehrsamkeit, Macht und Transformationswillen. Dort kennt man die Zukunft, weiß, warum sie nur so und nicht anders zu gestalten ist. Da die eigenen Händchen aber zu schwach zu deren Ausgestaltung sind, setzt man immer neue, alle möglichen Hebel in Bewegung, um den großen Lümmel in die zwingend richtige Richtung zu lenken. Dabei helfen Krisen und Kriege, denn dank ihnen können Traditionen und Routinen einfacher gebrochen werden. Und so schaffen und verstärken moderne Wissensgesellschaften immer neue Krisen und Krisennarrative, um Menschen zu motivieren und sie in eine lichte Zukunft zu lenken. Von den öffentlich propagierten Idealen pluraler Problembewältigung bleibt wenig übrig, wenn die Erde brennt, die Seuche Gegenmaßnahmen erfordert, Geld an allen Ecken und Enden fehlt, die russischen Dampfwalze alles planiert und die amerikanischen Freunde die vermeintlich gemeinsamen Werte nicht mehr teilen.

Was für eine Zeit der vermeintlichen „multiplen Krisen“ oder der „Multikrise“ gilt, galt ebenso während der Mobilisierungsdiktatur des Nationalsozialismus. Krisen wurden geschaffen und ausgerufen, mussten bekämpft und überwunden werden. Das Volk, das deutsche, schien willig zu sein, doch es bedurfte der Anleitung. Dabei stand, stärker noch als heute, die Transformation der Ernährung im Mittelpunkt, für die damals noch 40 bis 50 Prozent des Einkommens ausgegeben wurden.

Auf dem Weg zur „freiwilligen“ Verbrauchslenkung

Verbrauchslenkung bedeutete in den 1930er Jahren erst einmal eine Nationalisierung der Ernährung. Das deckte sich durchaus mit den Zielen der Agrar- und Wirtschaftspolitik während der Weimarer Republik, mit dem teils von amerikanischen Werbemethoden geprägten Agrarmarketing, das den Kauf deutscher Milch, deutschen Weins, deutscher Zigaretten, etc. propagierte (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen, 2018, 332-351). Nicht nur nationale Kreise forderten: „Bau‘ eigenen Weizen dir zum Brot; / Drauf streich‘ die eigene Butter; / Der deutschen Erde Glück und Not / Sei deine Nahrungsmutter!“ (Merkbüchlein für den deutschen Michel, Kladderadatsch 83, 1930, Nr. 44, 18)

Die Präsidialkabinette intensivierten diese Anstrengungen ab 1930, kokettierten mit Ideen der Autarkie, die seit den massiven Zollerhöhungen 1925 in der deutschen Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutiert wurden (Eckart Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930-1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984). Der Börsenkrach von 1929, vor allem aber der US-amerikanische Smoot-Hawley Zolltarif vom Juni 1930 verengten die handelspolitischen Freiräume weiter. Die US-Maßnahmen schränkten die Exporte deutscher Investitionsgüter massiv ein, verschärften die ohnehin prekäre Devisenlage des Deutschen Reiches und nahmen den Reparationszahlungen die ökonomische Grundlage (Kris James Mitchener, Kevin Hjortshoj O’Rourke und Kirsten Wandschneider, The Smoot-Hawley Trade War, The Economic Journal 132, 2022, 2500-2533). Das zuvor zumindest theoretisch noch hochgehaltene Prinzip der Meistbegünstigung fiel 1931, bilaterale Handelsabkommen gewannen weiter an Bedeutung. Während die Zölle stiegen, wurde die Devisen zunehmend staatlich bewirtschaftet, parallel wickelte man den Außenhandel vermehrt über Clearing-Systeme ab, ging also teilweise zum Tauschhandel über (Ralf Banken, Die wirtschaftspolitische Achillesferse des „Dritten Reiches“ […], in: Albrecht Ritschl (Hg.), Das Reichswirtschaftsministerium in der NS-Zeit, Berlin und Boston 2016, 111-232, insb. 161-175). Der deutsche Konsum wurde dadurch stark beeinflusst: Menge und Wert der importierten Genussmittel und Frischwaren sanken, auch die für die Milch- und Mastwirtschaft zentralen Futtermitteleinfuhren nahmen schon während der autoritären Phase zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus drastisch ab. Parallel begünstigten die Präsidialregierungen deutsche Agrarprodukte: Seit 1930 musste Margarine immer auch deutsches Fett und zwischen 1931 und 1934 Backwaren vier bis fünf Prozent deutsches Kartoffelstärkemehl und Magermilch enthalten.

Importabhängigkeit des Deutschen Reiches 1931 (Illustrierte Technik 10, 1932, H. 15, V)

Das NS-Regime führte diese Maßnahmen großenteils weiter. Es profitierte von der bereits 1932 offenkundigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, setzte zugleich aber auf zuvor undenkbare und mit Schulden finanzierte Maßnahmen zur Reduktion der Arbeitslosigkeit, kommunizierte diese mit zuvor unbekannter Wucht (Christoph Buchheim, Das NS-Regime und die Überwindung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56, 2008, 383-414). Die finanz- und wirtschaftspolitischen Argumente für eine möglichst hohe Selbstversorgung galten weiter, wurden aber zunehmend ergänzt durch die rüstungs- und machtpolitischen Zielsetzungen des Regimes. Die schon aufgrund der notorischen Devisenschwäche des Deutschen Reiches kaum zu umgehende strikte Regulierung des Außenhandels wurde 1933 innenpolitisch ergänzt durch eine offensiv propagierte „Erzeugungsschlacht“, die propagandistisch überhöht auf „Nahrungsfreiheit“ zielte, auf eine Intensivierung der heimischen Agrarproduktion, auf eine Mobilisierung des ländlichen Arbeitskräftepotentials. Es galt, heimische Alternativen zur „Auslandsware“ zu fördern, die Milchwirtschaft, die Käseproduktion, den vernachlässigten Obst- und Gemüsesektor, die Herstellung pflanzlicher Öle und vieles mehr. Diese Maßnahmen wurden in ein neues regulatives und institutionelles Korsett gepresst: Der im September 1933 entstandene Reichsnährstand war ein vielfach begrüßter Zwangszusammenschluss der gesamten Ernährungswirtschaft, also der Landwirtschaft, des verarbeitenden Gewerbes und des Einzelhandels. Diese „größte Wirtschaftseinheit der Welt“ (Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, 226) zielte auf die korporatistische Regulierung und Koordinierung der Erzeugung, des Absatzes, der Preise und Preisspannen.

Begrenzte Erfolge wurden erzielt, doch Selbstversorgung blieb unerreichbar. Agrarimporte kosteten 1936 3,5 Mrd. Reichsmark, machten 35,5 Prozent aller Einfuhren aus (Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus […], Frankfurt/M. 1988, 235). Ohne die Zufuhren wäre die Eiweißversorgung gefährdet gewesen, war die „Fettlücke“ auch nicht ansatzweise zu schließen. Seit 1936, seit dem Übergang zum zweiten Vierjahresplan, traten daher die schon zuvor durch Deutsche oder Braune Wochen oder auch die Kampagne „Deutsche Weihnacht! Deutsche Gaben!“ adressierten Konsumenten verstärkt in den Blickpunkt der Funktionseliten: „So scherzhaft es klingt, es ist bitterer Ernst: das deutsche Volk braucht einen politischen Magen“ (Der politische Magen, Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz 1936, Nr. 256, Bl. 1). Neben die Erzeugungsschlacht trat mit der Propagandakampagne „Kampf dem Verderb“ eine vorwiegend von den Hausfrauen umzusetzende „Erhaltungsschlacht“ zur möglichst umfassenden Nutzung der heimischen Ressourcen. Ersatzmittel wurden als Austauschprodukte gefördert, die Vorratswirtschaft intensiviert. Lange vor Kriegsbeginn begann eine „freiwillige Verbrauchslenkung“ (Gesunde Vorratswirtschaft, Nachrichten für Stadt Elsfleth und Umgebung 1936, Nr. 16 v. 6. Februar, 3). Die später im Detail zu analysierende Kampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ spiegelte die Breite der nun tagtäglich eingesetzten propagandistischen Mittel. Schon während der Weimarer Republik und der Präsidialkabinette begonnene Maßnahmen wurden fortgeführt und intensiviert, die militärischen und politischen Ziele mündeten in einen aufeinander bezogenen Kranz von „Aufklärung, Werbung, Propaganda, Reglementierung und schließlich Zwang“ (Gustavo Corni und Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 355). Die explizite Lenkung der Konsumenten hieß aber auch, dass sich die anvisierte Selbstversorgung „als eine Utopie erwiesen“ habe (Die Reichsspeisekarte, Der Deutsche in Polen 4, 1937, Nr. 4, 11).

Nationaler Einkauf zwischen Ehrenpflicht und neuen Güte- und Herkunftszeichen (Schwarzwald-Bote 1933, Nr. 257 v. 3. November, 4; Bremer Nationalsozialistische Zeitung 1933, Nr. 73 v. 21. März, 5)

Diese begriffliche Differenzierung ist wichtig, um den Wandel der staatlich-korporatistisch eingesetzten Mittel einzufangen. Festzuhalten ist jedoch, dass mit Ausnahme der ja schon vor dem Krieg einsetzenden Rationierungen, die Wirtschafts- und Konsumpolitik mit Propaganda engstens verwoben war. Der Begriff selbst war Anfang der 1930er Jahre noch positiv besetzt, nicht nur bei den politischen und akademischen Eliten mit ihrem steten Drang nach wissensbasierter Optimierung und Massenführung. Propaganda war eben nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern wurde als ein notwendiges Grundelement moderner technischer Gesellschaften verstanden (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964 [französisches Original von 1954]; ders., Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [erstmals 1962]). Propaganda im engeren Sinne entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Propaganda war (und ist) in einer effizienten arbeitsteiligen Gesellschaft strukturell notwendig, ermöglichte dem Einzelnen Orientierung, koordinierte Individuen und Gruppen, verringerte die Kosten des verzahnten Miteinanders unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Praktiken. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass Kernpunkte der eben nur teilweise „nationalsozialistischen“ Verbrauchslenkung auch die heutige Ernährungs- und Gesundheitspolitik prägen. Begründungen verändern sich, zielgerichtete hierarchische Interventionen werden fortgeführt. Das Volk, der große Lümmel.

Verbrauchslenkung als Maßnahmenbündel

Zielsetzungen der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung (Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 196)

Die Verbrauchslenkung, die es auch für andere Gütergruppen und Dienstleistungen gab, zielte auf eine aus Sicht des NS-Regimes wünschenswerte Erhöhung resp. Verminderung des Konsums bestimmter Lebens- und Genussmittel. Sie galten als Stoffträger, die Bedarfsrechnungen der Ernährungswissenschaften standen Pate, die seit den 1920er Jahren zunehmend akzeptierte „neue“ Ernährungslehre hatte die Bedeutung gerade von Mineralstoffen und Vitaminen für Gesundheit und Leistungsfähigkeit folgenreich unterstrichen (Spiekermann, 2018, 412-418). Darauf baute man auf, zielte auf einen im Systemsinne möglichst effizienten Umgang mit den verfügbaren Ressourcen.

Eine vom Institut für Konjunkturforschung entwickelte und im Dezember 1936 verbreitete Übersicht der erforderlichen Umstellungen diente machtpolitisch einer möglichst blockadefesten Selbstversorgung des Deutschen Reiches. Sozialpolitisch zielte sie auf einen staatlich festgesetzten „fairen“ Ausgleich der Ansprüche innerhalb der Wertschöpfungsketten sowie einer auch rassenpolitisch erwünschten Stärkung von Land und Landwirtschaft. All dies bedeutete eben nicht „eine mehr oder weniger offensichtlich durchgesetzte Rationierung“ (Utz Maas, Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus, Opladen 1984, 32), denn mögliche Erfolge resultierten just aus der propagierten Glaubwürdigkeit, der Fairness, der Akzeptanz der neuen Konsumweisen. Der Lebensmittelverbrauch sollte möglichst heimisch sein, möglichst saisonal, möglichst gesund, auskömmlich und schmackhaft. Tierische Produkte waren keineswegs verpönt, doch insbesondere Rindfleisch und animalische Fette sollten weniger verzehrt werden. Der Anteil pflanzlicher Kost, insbesondere von Kartoffeln, Kohl- und Wurzelgemüse, sollte deutlich gesteigert werden. Die immer wieder diskutierten, schon während der Weltwirtschaftskrise offenkundigen Eiweißdefizite sollten durch verstärkten Verzehr von Seefisch, Magermilch und Milchprodukten verringert werden. Angesichts des außer Kraft gesetzten marktwirtschaftlichen Preismechanismus bedurfte eine derartige Verbrauchsumgestaltung zugleich allgemeiner Geschichten, steter Propaganda. Aufrüstung und Kriegsziele wurden nicht diskutiert, angesichts der immer wieder hervorgehobenen Bedrohung durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges waren die vermeintlich friedenswahrenden Gegenmaßnahmen des Deutschen Reiches jedoch allseits bekannt. Die Verbrauchslenkung wurde nicht plump aufgedrängt, sondern nutzte die generelle Bereitschaft der Bevölkerung, sparsam, national, regional und im Sinne der machtpolitischen Ziele des Regimes zu konsumieren. Allein bei den kolonialen Massengütern Kaffee und Tabak gab es deutliche Differenzen. Angesichts der wachsenden Einkommen führten sie zu steigenden Importen und gefährdeten tendenziell Aufrüstung und Kriegsbereitschaft.

Saisonale Umstellung der deutschen Ernährung: Reichspeisekarte und propagandistische Präsentation eines saisonalen Frühgemüses (Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 196 (l.); Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 120 v. 5. Mai, 1)

Die Blaupause für die „freiwillige“ Verbrauchslenkung lieferte die vom Institut für Konjunkturforschung, dem heutigen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, vorgestellte „Reichsspeisekarte“ (A[lfons] Moritz, Wertvolle Ergänzungen der Erzeugungsschlacht, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 68, 1939, 57-62, hier 57). Eine Selbstversorgung des Deutschen Reiches schien demnach weiter möglich. Angesichts des Zusammenbruchs des internationalen Warenaustausches und der Klima- und Produktionsbedingungen der deutschen Agrarproduktion könne der Verbraucher aber nicht länger verlangen, „daß ihm zu jeder Zeit alle Nahrungsmittel lediglich seinen persönlichen Wünschen entsprechend zur Verfügung stehen“ (Volksernährung aus deutschem Boden. Richtlinien für die Verbrauchslenkung auf dem Gebiete der Ernährung, Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 195-196, hier 195). Wichtig sei jedoch nicht nur die Grobsteuerung – mehr pflanzliche Lebensmittel, weniger (tierisches) Fett – sondern insbesondere eine Abfederung saisonaler Angebotsschwankungen (dies ignoriert Hartmut Berghoff, Methoden der Verbrauchslenkung im Nationalsozialismus. Konsumpolitische Normensetzung zwischen totalitärem Anspruch und widerspenstiger Praxis, in: Dieter Gosewinkel (Hg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a.M. 2005, 281-316, hier 310).

Strukturelles Problem Saisonalität: Eier als Beispiel (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 289 v. 25. Juni, 9)

Die gegenüber heute deutlich stärker ausgeprägte Saisonalität des Angebotes war ein zentrales Problem der damaligen Versorgungsketten. Massive Forschungsinvestitionen sollten helfen: Verbesserte Konservierungstechniken, neue Verpackungen, Lager- und Vorratshaltung streckten das Angebot zeitlich, vereinfachten jegliche Verbrauchslenkung. Die „Erhaltungsschlacht“ der Hausfrauen, insbesondere das massiv propagierte Einmachen von Obst und Gemüse bot Flankenschutz, doch bei anderen saisonalen Lebensmitteln wie Eiern oder Fleisch begrenzten der veränderte Geschmack oder auch der fehlende häusliche Lagerraum die haushälterischen Gegenmaßnahmen. Die Saisonalität war anderseits ideologisch wichtig, denn sie half Konsumwelten temporärer Fülle zu präsentieren. Zumindest propagandistisch konnten so die offenkundigen Versorgungsdefizite in der Fett- und Eiweißversorgung ummäntelt werden. Seit Ende 1935 wurden für erste Fette Kundenlisten angelegt und Bezugsscheine ausgegeben, Ende 1936 betraf das alle Fette. Zeitweilig wurde die Herstellung von Wurst und Schinken untersagt, Schlagsahne kontingentiert (Spiekermann, 2018, 370). Die Saisonalität des Angebotes band zugleich Stadt und Land, Bauern, Arbeiter und Angestellte zusammen, imaginierte die Vorstellung einer aufeinander angewiesenen Volksgemeinschaft. Sie bot daher wichtige Ansatzpunkte für einen langsamen Wandel der Verbrauchlenkung auf der „Grundlage der Verbrauchsfreiheit“, bei der es galt, „durch psychologische Einwirkungen die für eine bestimmte Zeit gegebene Verbrauchsstruktur zu verändern“ (Werbung beeinflußt den Verbraucher, Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 33 v. 8. Februar, 6) – so der seit 1923 als Präsident des Statistischen Reichsamtes tätige, 1933 flugs in die NSDAP eingetretene Ernst Wagemann (1884-1956). Die gezielte Nutzung und Neuschöpfung regionaler Traditionen und Speisen waren Teile dieser Lenkungsanstrengungen.

Die damaligen Medien präsentierten den Verbrauchern ein im Detail realistisches, insgesamt aber schönfärberisches Bild der Versorgungssituation (Corni und Gies, 1997, 355-357). Das spiegelte auch die fortwirkende Presseanweisung zu dem vom Institut für Konjunkturforschung ausgearbeiteten Lenkungsbündel: Es galt, „bei der weiteren Behandlung des ganzen Themas nicht jedesmal von Verbrauchslag((e)) und Verbrauchsregelung zu schreiben, sondern dann einfach nur noch ueber die konkreten einzelnen Themen, etwa ueber Fisch- und Kaeseverbrauch usw., was gerade aktuell sei. Die Tatsache einer geregelten Verbrauchslenkung sei also nicht stets besonders hervorzuheben. […] Bei der Verwertung des Aufsatzes soll kein Wort ueber den Vierjahresplan gesagt werden, intern aber seien die Redaktionen an die Richtlinien dieses Aufsatzes aufs strengste gebunde((n.))“ (NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 4: 1936, T. I, bearb. v. Gabriele Toepser-Ziegert, München et al. 1993, 1526). Unmittelbar drängende Versorgungsprobleme wurden angesprochen, begründet und zur Aufgabe erklärt, die grundsätzlichen Probleme der Kriegsvorbereitung und der Vorbereitung einer mit strukturellem Zwang arbeitenden Rationierung jedoch nur indirekt thematisiert. Der große Lümmel sollte gelenkt, nicht erzürnt werden.

Institutionell war die Verbrauchslenkung nicht eindeutig zuzuordnen. Formal war das Agrarmarketing, waren auch entsprechende Propagandakampagnen Aufgaben der Reichshauptabteilung III des Reichsnährstandes (Wolfgang Heidel, Ernährungswirtschaft und Verbrauchslenkung im Dritten Reich 1936-1939, Phil. Diss. Berlin 1989 (Ms.), 73-74; Corni und Gies, 1997, 357). Im Reichsernährungsministerium wurde der Generalplan festgelegt, monatliche Runden der dort angesiedelten Arbeitsgemeinschaft für Verbrauchslenkung sorgten für den Feinschliff. Sie war korporatistisch zusammengesetzt, bündelte die Interessen des Reichspropagandaministeriums, der Reichspropagandaleitung, der Wehrmacht, des Reichsnährstandes, des Hauptamtes für Volkswohlfahrt, der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung, des Deutschen Frauenwerks, der Deutsche Arbeitsfront, des Lebensmittelhandels, des Gaststättengewerbes und des Fleischer-, Bäcker- und Konditorenhandwerks. Staatssekretär Herbert Backe (1896-1947) verstand die Verbrauchslenkung als „Gemeinschaftsarbeit aller Volksgenossen“, bei der die Mitwirkung um so ehrenvoller sei, „je weniger sie in Erscheinung“ trete (Herbert Backe, Verbrauchslenkung, Der Vierjahresplan 1, 1937, 203-205, hier 204). Eine eng hierarchische Vorstellung von Propaganda unterschätzt entsprechend die zahlreichen in die Verbrauchslenkung einbezogenen Institutionen von Staat, Partei und Privatwirtschaft. Schon die damals gängige Aufgliederung der Propaganda in wirtschaftliche Aufklärung, wirtschaftspolitische Propaganda, Gemeinschaftswerbung und die privatwirtschaftliche Einzelwerbung verweist auf zahlreiche zusätzliche Akteure, die immer auch ihre Eigeninteressen verfolgten (Alfred Helzel, Werbung und Politik, Werben und Verkaufen 23, 1939, 263-265, hier 263). Das galt insbesondere für den Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, eine Unterabteilung des Deutschen Werberates. Gemeinhin ignoriert wird auch der durchaus eigenständige Beitrag des Handels. Der Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsgruppe Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel Edmund von Sellner (1898-1939) begrüßte die vielen Artikel und Plakate, doch erst vor Ort, im kleinen Geviert des Einkaufs, würde sich der Erfolg der Maßnahmen einstellen – und es sei Aufgabe des Handels, „die Wünsche des Verbrauchers in die richtigen Bahnen zu lenken, mit falschen Vorstellungen zu brechen, aufklärend zu wirken und das Interesse des einzelnen für neue Waren zu wecken“ (Einkaufs- und Verbrauchslenkung, Deutscher Reichsanzeiger 1936, Nr. 287 v. 9. Dezember, 3).

Das NS-Regime war zugleich bemüht, Sorgen über die staatliche Bevormundung des Einkaufens und Essens aufzunehmen und umzudeuten: „Unser Ziel ist nicht: Gleichmachung aller Verbrauchsbedürfnisse, sondern: Steigerung der Lebenshaltung auf Grund einer Entfaltung der Persönlichkeit. Unser Ziel ist nicht der schematisierte Einheitsverbraucher, sondern der persönlichkeitsbewußte Kulturträger. Wenn der Nationalsozialismus stärker als seine politischen Vorgänger den Verbrauch zu lenken und zu organisieren versucht, so allein deswegen, um die Aufgaben, die über die Kraft des einzelnen hinausgehen, im Rahmen der Gemeinschaft für das Volk zu lösen“ (Robert Ley (Hg.), Lebenshaltung! Ein Beitrag zur Frage der Lebenshaltungspolitik und der Verbrauchslenkung, Berlin 1937 (Ms.), 80). Nicht Verzicht wurde propagiert, sondern eine neue reflektierte Form des (Haus-)Wirtschaftens. Die vermeintlich überholten Hausfrauentugenden, die während der Weimarer Republik vom planlosen Kauf ausländischer Angebote und dem massenhaften Wegwerfen an sich noch brauchbarer Nahrungsgüter überwölbt worden seien, müssten daher revitalisiert werden (Ebd., 82). Dadurch könnten auch viele gesundheitliche Probleme gemildert werden (Karlheinz Backhaus, Der deutsche Speisezettel. Was ist richtig – was ist falsch?, Wille und Macht 5, 1937, H. 18, 8-11, insb. 10).

Sich der Hausfrau nähern: Propagandamittel der Verbrauchslenkung

Verbrauchslenkung erschöpfte sich nicht im Schreiben und Dekretieren. Der Appell an die nationalsozialistische Moral, an den Stolz und imaginierten Wertekanon der Hausfrau, auch an die praktischen Vorteile eines regimekonformen Verbrauchs, spiegelten sich in einer Kaskade von kleinen Artikeln in Tages- und Wochenzeitungen. Verbrauchslenkung war eine Herausforderung: „Aus dem Vollen schöpfen ist keine Kunst. Erst das Einteilen, das richtige Einkaufen, die kluge und geschickte Anpassung an die jeweilige Ernährungslage, und vor allem auch Sparenkönnen am rechten Platz, macht hausfrauliches Können aus“ (Zeitspiegel der Frau, Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 465 v. 6. Oktober, 8).

Die ästhetisierte Ernährungsrichtline: Genügend Auswahl auch im kargen Monat Februar (Hakenkreuzbanner 1937, Nr. 56 v. 3. Februar, 7)

Zu Beginn jedes Monats gab erstens eine Ernährungsrichtlinie des Reichsernährungsministeriums einen allgemeinen Überblick der Versorgungslage. Die Richtlinie zeigte „Ia bei welchen Nahrungsmitteln ein verstärkter Verbrauch allgemein erwünscht ist, Ib inwieweit darüber hinaus gewisse Nahrungsmittel besonders zu bevorzugen sind, II bei welchen Nahrungsmitteln ein gleichbleibender Verbrauch möglich ist, III bei welchen Nahrungsmitteln ein verminderter Verbrauch nötig ist“ (Moritz, 1939, 58). Im Gegensatz der „Reichsspeisekarte“ des Instituts für Konjunkturforschung basierte sie auf den aktuellen statistischen Daten – und war damit deutlich präziser und umfangreicher. Die Ernährungsrichtlinie wurde vielfach in eine die Hausfrauen direkt ansprechende, einfach gehaltene und nachvollziehbare Form gebracht. Die Sprache war positiv, unterrichtete über Möglichkeiten, schwieg sich über konkreten Mangel allerdings aus.

Werbung für vorbildliches Einkaufen (Marbacher Zeitung 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 8)

Andere Visualisierungen präsentierten die Hausfrauen unmittelbar beim Einkauf, benannten die oben angeführten Kategorien, gaben aber keine Vorgaben für verminderten Verbrauch. Nach einer gewissen Laufzeit lernten die Leserinnen, dass Nichtbenennung Hinweischarakter hatte. Die einzelnen Zeitungen mussten die Ernährungsrichtlinien abdrucken, hatten bei der Gestaltung der Verbrauchsvorschläge aber einen gewissen Spielraum. Verbote fehlten auch in den insgesamt dominierenden Text-Meldungen (Wir notieren den Küchenzettel für Februar, Der Patriot 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 8). Wenn dort von gleichbleibendem Verbrauch geschrieben wurde, so waren diese Lebensmittel zu reduzieren, zu verringernde dagegen oft gar nicht lieferbar. Die Abbildungen selbst wurden durch Materndienste reichsweit verbreitet (analoger Abdruck Rheinisch-Bergische Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 10). Auflagenstärkere Zeitungen nutzten allerdings ihre Pressezeichner, um sich in diesem scheinbar einheitlichen Feld der Verbrauchslenkung zumindest visuell von der Konkurrenz abzuheben.

Groblenkung durch Küchenzettel (Durlacher Tagblatt 1938, Nr. 158 v. 9. Juli, 5)

Diese allgemeinen Hinweise zielten erst einmal auf den Einkauf – und es bestand auch bei folgsamen Hausfrauen grundsätzlich die Gefahr, dass sie mit den für sie ungewohnten Produkten nicht umgehen konnten, dass diese am Ende gar verdarben. Entsprechend veröffentlichten die Zeitungen mit dem Beginn der „Kampf dem Verderb“-Kampagnen Ende 1936 zweitens auch wöchentliche Küchenzettel, die Tag für Tag, mittags und abends Speisevorschläge enthielten. Anfangs handelte es sich um einfache Standardgerichte, zentral herausgegeben vom nationalsozialistischen Deutschen Frauenwerk. Angesichts tiefgreifender regionaler und sozialer Verzehrsunterschiede stieß dies jedoch auf Kritik. Die Deutsche Frauenschaft justierte nach, schließlich handelte es sich um eine ideale Professionalisierungschance. Die Rezepte wurden zunehmend regionalisiert, zudem gab es Küchenzettel für den normalen und für den sparsamen Haushalt.

Von Frau zu Frau: Neu errichtete Versuchsküche der NS-Frauenschaft, Gau Württemberg-Hohenzollern und ein schwäbischer Küchenzettel (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 462 v. 18. Oktober, 6 (l.); Marbacher Zeitung 1939, Nr. 267 v. 14. November, 6)

Die Verbrauchslenkung wurde drittens durch Rezepte ergänzt. Neue Speisen, wie Bratlinge oder Salate, wurden dadurch handhabbar, zugleich aber konnte man darin den Fett-, Eier-, Weizen-, Butter- und Fleischgehalt bekannter Speisen reduzieren. Rezepte halfen kurz vor dem Weltkrieg auch, neue Austauschprodukte wie DPM, Milei und Migetti bekannt zu machen. Das erleichterte deren Integration in die Ende August 1939 eingeführte Lebensmittelrationierung. Die Maschinerie lief im Großen und Ganzen glatt, gleichwohl nicht ohne Knirschen – und man kann bei den Gründen mutmaßen: Geringe Akzeptanz bei den Lesern, Nachlässigkeit und Desinteresse oder aber grundsätzlichere Bedenken gegenüber zunehmend strikten Vorgaben für die tägliche Kost. 1938 gab es jedenfalls 700 „Prüfungen bei den Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen“, um „eine noch vollkommenere Einhaltung der Bestimmungen“ sicherzustellen (Aus dem Bericht des Werberates der deutschen Wirtschaft für 1938, Deutscher Reichsanzeiger 1939, Nr. 23 v. 27. Januar, 3).

Ausgearbeitete Vorgaben für die norddeutsche Küche (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 71 v. 13. März, 9)

Zu der Trias von Ernährungsrichtlinien, Küchenzettel und Rezepten gesellte sich dann lokal und regional eine vielgestaltige kleinteilige Ergänzung der Einkäufe und auch des häuslichen Kochens. Mittlerdienste leisteten auch Kochsendungen der verschiedenen Rundfunksender. Wesentlich wichtiger aber war der Einzelhandel. Vor Ort, auch in den üblichen Warteschlangen vor dem Verkaufstresen, konnten eventuelle Rückfragen zur Marktlage und zu Marktalternativen beantwortet werden. Verbrauchslenkungspropaganda war eben nicht allein medial, sondern immer auch konkret, Teil der Alltagsgespräche und der Haushaltspraxis.

Muster einer Schaufensterwerbung und an Händler gerichteter Marktbericht der Edeka (Deutsche Handels-Rundschau 30, 1937, 997 (l.); ebd., 250)

Die Verbrauchslenkung gründete demnach auf einem umfangreichen Angebot allgemeiner, letztlich im Haushalt verwertbarer Informationen. Getragen wurde sie aber immer auch von persönlichen Kontakten, vom Nachfragen vor Ort, im Laden, in der Nachbarschaft. Konflikte wurden vielfach dort ausgetragen, denn die Richtlinien wurden berücksichtigt, nicht aber direkt umgesetzt. Hinzu trat ein breites Netzwerk lokaler Einrichtungen des Reichsnährstandes, vor allem aber nationalsozialistischer Massenorganisationen wie dem Deutschen Frauenwerk, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und der Deutschen Arbeitsfront. Sie organisierten Vorträge, publizierten und verteilten Broschüren, organisierten Ausstellungen, praktische Vorführungen, Schulungen und vor allem Kochkurse (Moritz, 1939, 60).

Verbrauchslenkung als Bildungsaufgabe: Kochkurs der NS-Frauenschaft in Stuttgart (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 108, 4. März, 41)

Die regelmäßig angebotenen, billigen, teils kostenlosen Kochkurse vermittelten insbesondere jungen Frauen Grundkenntnisse im Kochen, waren zugleich eine wichtige Rekrutierungschance der einzelnen Institutionen. Die Verbrauchslenkung war Thema, ebenso das Hineinwachsen in die NS-Organisationen. In derartigen geselligen Veranstaltungen wurde die Erhaltungsschlacht erprobt, nahm die Heimatfront Gestalt an. Das galt auch für die insbesondere in Groß- und Mittelstädten üblichen hauswirtschaftlichen Ausstellungen. Sie waren ideologiegetränkt und parolenstark, hatten aber den Reiz des Anschaulichen. Typisch war das Verschwimmen der Grenzen zur Gesundheits- und Ernährungsaufklärung. Richtiges Konsumieren, richtiges Essen und richtiges Leben wurde gleichermaßen propagiert, glaubten die Funktionseliten doch, dieses bewerten und vorgeben zu können.

Weniger Fett, mehr Vielfalt. Schautisch einer Wanderausstellung (F.W. Terjung, Warum Verbrauchslenkung?, in: Ernährungspolitik und Schule, hg. v. Reichausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Berlin 1938, 7-26, hier 17)

All dies war nationalsozialistisch, all dies knüpfte aber an zuvor erprobte und etablierte Vorläufer während der Weimarer Republik, des Ersten Weltkrieges und auch schon des Kaiserreiches an. Damals aber waren sie marktgetrieben, Ausdruck des Sendungsbewusstseins der Lebensreformvereine, der öffentlichen Aufgaben von Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege, der Not. Die völkische Ideologie des Nationalsozialismus, die staatlichen Machtmittel und die Lenkung der veröffentlichten Meinung schufen neuartige Verpflichtungen auf (fast) allen Ebenen der Gesellschaft – und dienten zugleich dem bewussten Ausschluss unterdrückter Minderheiten. Doch selbst die sozialdemokratische Opposition, die Verbrauchslenkung als Vorwegnahme der Kriegswirtschaft deutete, konzedierte eine gewisse Breitenwirkung: „Und das Volk läßt sich auch auf diesem Weg ‚lenken‘; nicht ganz ohne Widerstand, aber doch bereitwilliger, als man früher angenommen hätte“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 4, 1937, 133).

Schaubilder zur Systematisierung der Verbrauchslenkung (Werben und Verkaufen 23, 1939, 407)

Die Verbrauchslenkung half dem NS-Regime die Aufrüstung weiter zu forcieren, die Wehrmacht kriegsfähig zu machen. Sie half zugleich bei der Bewältigung zahlreicher kleinerer Krisen, 1937/38 etwa mittels gezielter Kampagnen für den Konsum von Kohl, Äpfeln und Käse. Sie war ein wichtiges Hilfsmittel, um den Marmelade- und Zuckerkonsum zu erhöhen, Seefisch, Quark und auch Sauermilch zu allgemein akzeptierten Lebensmitteln zu machen. Die Verbrauchslenkung konnte die strukturellen Defizite der Lebensmittelversorgung allerdings nicht beseitigen oder gar eine Selbstversorgung sicherstellen. Im Sinne des NS-Regimes war sie dennoch systemrelevant, denn sie schloss für mehrere Jahre eine Fähigkeitslücke. Technisch-institutionell war die Verbrauchslenkung modern und in ihrer Vielgestaltigkeit innovativ. Sie war immer auch ein wissenschaftliches Projekt, das permanent reflektiert und verfeinert wurde (Erich August Goeggle, Untersuchungen zu Verbrauchslenkungen auf dem Gebiete der Ernährungswirtschaft in Deutschland, Diss. TH München 1938; Robert Oetker, Die betriebliche Werbung im Dienste des Vierjahresplanes. Eine Studie über die Aufgaben der betrieblichen Werbung als Mittel der Verbrauchslenkung im Dienste der Rohstoff- und Nahrungsfreiheit, Würzburg-Aumühle 1938; Hans Bliss, Verbrauchslenkung in der entfalteten Wirtschaft, Berlin 1942). Die „freiwillige“ Verbrauchslenkung war Teil der heute wieder so zackig beschworenen Kriegsbereitschaft und erlaubte einen direkten Weg in die nicht mehr freiwillige Verbrauchslenkung, in die Rationierungswirtschaft.

Die Grundkonturen der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung sind damit umrissen. Wie aber wurde ein solch langfristig ausgerichtetes Maßnahmenbündel im Detail umgesetzt? Die kleine, in der Forschung höchstens erwähnte, nicht aber näher untersuchte Propagandakampagne „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ kann helfen, einen genaueren Eindruck von der praktischen Umsetzung der „freiwilligen“ Verbrauchslenkung zu gewinnen. Beginnen wir mit den Namen selbst, die wie bei so vielen vergleichbaren Kampagnen unmittelbar sprechend waren.

Sprechende Namen: Roderich, Schleckermaul und Gemahlin Garnichtfaul

Auch wenn die Hausfrau im Mittelpunkt der Ernährungspropaganda stand, so adressierte die Kampagne doch das eigentliche Problem der Verbrauchslenkung, nämlich den deutschen Mann. Seine Ernährung sollte im patriarchalischen Verständnis kräftig sein, insbesondere Fleisch enthalten. Genussmittel schienen unverzichtbar, zumal Alkoholika und die Importgüter Tabak und Kaffee. Neuem gegenüber, so die gängige Vorstellung, war er kaum aufgeschlossen, seinen „süßen Zahn“ befriedigte er häufig mit Schokolade, also importierten Kakaoprodukten.

Der Name „Roderich, das Schleckermaul“ spiegelte diese Problemlage. Roderich, der Ruhmreiche, war ein Name germanischen Ursprungs. Felix Dahns (1834-1912) 1875 veröffentlichtes Trauerspiel „König Roderich“ zeigte ihn in Aktion, als Anführer im Kampf des christlichen Europas gegen die muslimischen Araber, den er, der Westgotenkönig, in der Schlacht am Rio Guadalete 711 verlor, bei der er auch ums Leben kam. Die Folge war die maurische Eroberung eines Großteils der iberischen Halbinsel. Während Roderich hierzulande nurmehr selten ist – der Aufrüster Roderich Kiesewetter ist eine Ausnahme – sind Abwandlungen wie Rodrigo (Spanien), Rod oder Rory (Großbritannien) andernorts heute noch gängig. Doch die Kampagnenfigur erinnerte nur an einen vormals rechten Krieger, denn Roderich war ein gutmütiger und wohlsituierter, lenkbarer und begeisterungsfähiger Mann.

Roderich und seine Gemahlin (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, H. 15, 442)

Roderich war zudem Schleckermaul, ein Vorkoster der Nation, ein Erkunder ihm zuvor unbekannter kulinarischer Welten. Der Begriff steht heute einerseits für einen Feinschmecker und Genießer, anderseits für einen naschenden, bewusst wählenden Menschen (Heinz Köpper, Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache, Bd. 7, Stuttgart 1984, 2484; Synonym-Wörterbuch. Sinnverwandte Wörter, völlig neu bearb., Gütersloh und München 2001, 409). Im 19. Jahrhundert waren diese Nuancen noch vermengt, der Schlecker naschte, gern auch über die Grenzen des Schicklichen hinaus. Das Schleckermaul-Leckermaul wurde im frühen 19. Jahrhundert negativ bewertet, war nicht robust, verzärtelt, konnte Krisen nicht bestehen (Deutsches Schimpfwörterbuch oder die Schimpfwörter der Deutschen, Arnstadt 1839, 59; Friedrich Eberhard von Rochow, Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauche in Landschulen, 3. verm. Aufl., Nürnberg 1795, 51-52; Leckermaul, in: Lehrreiche Erzählungen für Kinder, Wien 1816, 16-17). Nicht der Mann, sondern Löwen, Schoßhündchen und insbesondere Bären galten als Schleckermäuler (Christoph v. Schmid, Der Tanzbär. (Ein Kinderlied.), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, Augsburg 1844, 72-73, hier 73; [Alfred Edmund] Brehm, Illustrirtes Thierleben, bearb. v. Friedrich Schödler, Bd. 1, Hildburghausen 1870, 122, 211, 334; Carl Lemcke, Populäre Aesthetik, 3. verm. u. verb., Leipzig 1870, 161). Kinder sollten vor dem Schleckern bewahrt werden, ihren Gelüsten nicht nachgeben, vielmehr mit Verstand auswählen und essen (Friedrich Harder, Theoretisch-praktisches Handbuch für den Anschauungs-Unterricht, 8. Aufl., Hannover 1884, 70-71). Ein Leckermaul war demnach kein echter Kerl, konnte auch eine Frau sein. Die sexuelle Doppeldeutigkeit von Lecken und Naschen war im 19. Jahrhundert jedenfalls präsent, die Psychoanalyse machte den Zusammenhang nach der Jahrhundertwende gar zeitweilig modisch (Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, bearb. v. Moriz Heine, Leipzig 1885, Sp. 486; Helene Böhlau, Eine kuriose Geschichte, Westermann Illustrierte Deutsche Monatshefte 74, 1892, 106-128, hier 116; Wilhelm Stekel, Die Sprache des Traumes, 2. verb. Aufl., München und Wiesbaden 1922, 198). Im 20. Jahrhundert wurde Schleckermaul dennoch zunehmend seltener verwandt, findet sich nach dem Zweiten Weltkrieg eher in Kinderliteratur, in den deutschen Übersetzungen etwa von Winnie Puuh, Disneys Lustigen Taschenbüchern oder Micky Maus. In der NS-Kampagne verwies Schleckermaul auf die stete Gefahr des Fehlessens, des völkischen Selbstmordes mit Messer und Gabel. Sie wies zugleich aber einen Ausweg, denn die staatspolitisch gebotenen Nahrungsmittel mussten nur ansprechend zubereitet und dargeboten werden, um Roderich zum Vorkämpfer guter deutscher Kost zu machen.

Seine Gemahlin war aus anderem Holz geschnitzt, denn sie war prinzipientreu, konnte sich an die neue, mit dem Vierjahresplan eingeleitete Zeit anpassen. Sie war das Gegenteil des altbekannten Zerrbildes der verschwenderischen Ehefrau: „Sie verdäntlet und verschächert alles / was ihr under die Händ kommet / kauffet darvon allerley Zucker und Schleckerwerck / sutzlet / küsslet und beisset den gantzen Tag wie die kleinen Kinder / ihr Schleckermaul hat den gantzen Tag kein Ruhe“ (J[ohann] J[oseph] P[ock], Ein Schlecker-Maul, in: ders., Gantz neu eröffneter reichlich und wol eingerichteter Glücks und Unglücks-Hafen […], Augsburg 1716, 126-129, hier 128). Der Name Garnichtfaul spiegelte demgegenüber ihre Flexibilität, ihre Erfinderinnengabe: „Die Eva, die list’ge, die war gar nicht faul, / und steckte dem Adam ‘nen Appel in’s Maul“ (Kneip-Bibel, hg. v. d. Turnkneipe zu Schönlinde, 2. verb. u. verm. Aufl., Schönlinde 1882, 64). Der Begriff Gemahlin wies zurück in frühmittelalterliche Zeiten, zielte jedoch weniger auf einen sozial höheren Status des Ehepaars, sondern auf deren Geistesverwandtschaft – prinzipientreu bei ihr, willig bei ihm. Die Gemahlin war Anvertraute, Bindeglied zwischen Gemeinschaft und dem eigenen Haus. Der im Verlöbnis, dem Eheversprechen, enthaltene rühmende und preisende Vorschuss war in ihrer Bezeichnung noch präsent, prägte die ganze Kampagne.

Die Charakterisierung Garǀnichtǀfaul tauchte in Kinderliedern oder populärer Lyrik vor der NS-Zeit vereinzelt auf, doch eher aufgrund des gefälligen Reimes auf Maul, Gaul und anderes (Heinrich Seidel, Der Hasel im Kohl, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. XI, Leipzig 1894, 181-182, hier 181; A. Haas, Volkstümliche Tänze und Tanzlieder in Pommern. (Fortsetzung.), Blätter für Pommersche Volkskunde 5 (1897), 177-181, hier 179). Als Name knüpfte dieser sprechende Vornamenersatz jedoch an die bereits während der 1920er Jahre aufkommenden, anschließend dann gängigen begrifflichen Charakterisierungen fiktiver, meist gezeichneter Personen an. Frau Knauserich und ihr Gatte scheuten die Ausgaben für ein Zeitungsabonnement, Frau Klar nutzte Geliermittel für das Marmeladekochen, parallel mit Garnichtfaul reinigte Frau Säuberlich die Wohnung mit Henkels IMI (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1934, Nr. 52 v. 22. Februar, 14; Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 142 v. 22. Juni, Beil., 1; National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 81).

Gemahlin Garnichtfaul bezeichnete die fiktive Volksgenossin, die dem Führer strebsam zuarbeitete, die Vorbild war und in doppelter Liebe aufging, die zu ihrem Roderich und die zu ihrem Volk: „Nur die Frau, die Verständnis hat für das politische Ziel der Partei, für die politischen Aufgaben und die Tätigkeit ihres Mannes und auch ihrer Kinder innerhalb der Organisationen, kann und wird die ihr daraus erwachsenden Aufgaben innerhalb der Familie und Haushalt richtig erfüllen, und die nicht zu vermeidenden Opfer wie das Alleinsein, die vermehrte Arbeit mit Freuden auf sich nehmen. […] Die Frau welche die politischen Zusammenhänge und Notwendigkeiten versteht, wird sich mit Selbstverständlichkeit in die Forderungen des Vierjahresplanes, der Verbrauchslenkung der Marktwaren finden“ (Appell an die Außenseiter!, Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 36 v. 21. Februar, 35). Frau Garnichtfaul brach mit dem alten Trott, war eine nationalsozialistische Gefährtin, Praktikerin einer neuen Zeit: „Sie bevorzugt Lebensmittel, die zur jeweiligen Jahreszeit reichlich und frisch vorhanden sind, und hilft nach Möglichkeit durch eine gesunde Vorratswirtschaft den Markt zu entlasten und vorübergehende Verknappungen zu überwinden“ (Die Hausfrau kämpft mit, Zeno-Zeitung 1939, Nr. 42 v. 11. Februar, 8). Gatte Roderich, das alte Leckermaul, wurde durch sie vor Abwegen bewahrt, auf den Pfad der völkischen Tugend, gar ins Rampenlicht einer Kampagne geführt.

Bilder und Gedichte: „Roderich, das Schleckmaul, und Gemahlin Garnichtfaul“

Die Propagandakampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war die erste zusammenhängende Begleitaktion zum ansonsten etablierten Instrumentarium der Verbrauchslenkung. Getragen wurde sie von den in der Arbeitsgemeinschaft für Verbrauchslenkung vertretenen Institutionen. Sie schloss einerseits an die vielgestaltigen „Kampf dem Verderb“-Kampagnen an: „Kampf um 1 ½ Milliarden“ (1936/37), „Brot als kostbarstes Volksgut“ (1937/38) und vor allem „Groschengrab“ (1938/39) mobilisierten für die Erhaltungsschlacht, für eine neue deutsche Hauswirtschaft. Sie informierten, emotionalisierten und visualisierten zugleich ein zentrales staatspolitisches Problem: Die Kampagnen kreisten in immer neuer, immer wieder variierter Form um die Mobilisierung der Haushalte, der Hausfrauen, für die Wehr- und Kriegsbereitschaft des Deutschen Reiches, für die Bewältigung zeitweiliger Mangellagen. Sie alle griffen auf Zeichnungen und Comics, auf Parolen und Texte, auf Geschichten und Gedichte zurück. Nicht das eine Bild, die eine Serie, waren charakteristisch, sondern ein Beziehungsgeflecht unterschiedlicher ineinander übergreifender Einzelelemente. „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war der Versuch, ähnliches für die umfassendere Aufgabe der Verbrauchslenkung zu wagen.

Die neue Kampagne knüpfte zugleich an frühere Werbekampagnen für deutsche Nahrungsgüter an. Betrachten wir etwa Milcheiweißpulver: 1934 wurde es einem neuartigen Milcheiweißbrot beigemengt, im April 1938 als eigenständiger Austauschstoff aus heimischer Magermilch angepriesen. Plakate, Klischeezeichnungen, ein Rezeptdienst und ein Werbefilm ergaben eine breit gefächerte Werbung, die vom Deutschen Frauenwerk, der Deutschen Arbeitsfront, der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel und Vertretern der Milchwirtschaft getragen wurde (Käse, Berlin 1938 (Ernährungs-Dienst, Folge 21), 25). Solche Kampagnen hatten Gleichschrittcharakter, vermengten Markterschließung und unternehmerische Dienstbarkeit. Rewe-Aufsichtsratsvorsitzender Blohm feierte das Engagement seiner Einkaufsgenossenschaft als Ausdruck unternehmerischen Dienstes an der Gemeinschaft („Rewe“-Lebensmittel-Großhandel, Oberbergischer Bote, 1938, Nr. 101 v. 2. Mai, 9).

Motiv I: Kartoffeln und Motiv II: Quark, Sauerkäse, Trockenmilch (Der Führer 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 6 (l.); Völkischer Beobachter 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 15)

Fünf Bilder und Gedichte bildeten den appellativen, allseits sichtbaren Teil der Kampagne. Sie waren einheitlich aufgebaut, erschienen dadurch als visuelle Einheit. Roderich und seine Gemahlin dienten jeweils als Hingucker, verdeutlichten auch, dass es hier um die tägliche Kost ging. Der jeweils gleiche Rahmen unterstrich dies. Er präsentierte die Fülle der deutschen, der heimischen Küche. Alle fünf Motive hatten eine identische Überschrift, endeten mit Verweisen auf ergänzende Informationen und Rezepte in dem jeweiligen Blatt. Die Serie gab Einblicke in einen Privathaushalt, Kinder fehlten. Das Gedicht widmete sich der Interaktion zwischen Roderich und seiner Gemahlin, folgte deren Gedanken. Das Paar kannte einander, die Vorlieben des Haushaltsvorstandes lenkten die Hauswirtschaft seiner Gattin. Und doch gab es abseits des kleinen Glücks noch eine andere Dimension: die des vernünftigen und sparsamen Wirtschaftens, die neuer preiswerter Lebensmittel und Speisen. Von Verbrauchslenkung oder den Anforderungen der Volksgemeinschaft war nicht die Rede, ging es doch vordergründig um die Befriedigung von Roderichs kulinarischen Vorlieben. Doch Frau Garnichtfaul wusste das Leckermaul mit der neuen Zeit zu versöhnen, kochte gute, einfache Speisen, verwandelte heimische Lebensmittel und verarbeitete Produkte in schmackhafte Gerichte, so recht im Sinne ihres Gatten. Die Gedichte mündeten daher in einen im damaligen Ehealltag eher seltenen Lobpreis. In fetter Type hieß es summarisch: „Leckermaul jedoch spricht froh: / ‚Teures Weib – nur weiter so!‘“.

Motiv III: Fisch und Motiv IV: Zucker (Stuttgarter Neues Tagblatt 1939, Nr. 96 v. 25. Februar, 9 (l.); Bremer Zeitung 1939, Nr. 71 v. 12. März, 26)

Was heimelig daher kam, hatte allerdings einen klaren Adressaten: Leser und Leserinnen wurden in vier der Gedichte direkt angesprochen. Jeweils in Klammer wurde gefragt, ob sie nicht ähnlich handeln wolle, ob sie nicht auch schon einmal solche Speisen probiert hätten. Das war die Quintessenz des allseitigen, allgemeinen, die Leser mit einbeziehenden Lobes der Klugheit und Sparsamkeit der Garnichtfaul.

Formal handelte es sich um ein zwölfzeiliges und vier zehnzeilige Gedichte. Die Sprache war einfach, ebenso der Paarreim, Fremdworte fehlten. Jedes Gedicht stellte andere Lebensmittel und Produkte vor und in den Mittelpunkt. Das Entree bildete die Kartoffel, ein kulinarischer Tausendsassa, wandlungsfähig, eiweißhaltig, der deutschen Erde abgerungen. Es folgten Milchprodukte, genauer Quark, Sauerkäse und Trockenmilch, allesamt Eiweißträger. Die Gemahlin lebte offenbar in einer arbeitsteiligen Konsumgesellschaft, griff auf verarbeitete Lebensmittel zurück, vertraute den Angeboten auch der Industrie. Sie war modern, wählte mit Bedacht, ging mit der Zeit. Es folgte der eiweißreiche Fisch, ebenfalls vielgestaltig, nicht nur frisch eine Leckerei, eine wohlfeile Alternative zum Fleisch. Die vorgestellten Produkte waren, mit Ausnahme von Quark und Sauerkäse, länger haltbar, konnten daher die Tafel dauerhaft prägen. Der Reigen wurde mit dem stärkenden Gaumenkitzler Zucker fortgesetzt, der physiologiewidrig als Fettsparer präsentiert wurde. Die Anzeigenserie endete süß, verlängerte den Einsatz des deutschen Rübenzuckers als Mahlbegleiter. Das neu geschaffene Deutsche Pudding-Mehl und das frühere Palmmarknährmittel Sago waren Kartoffelprodukte, schlossen den Reigen der heimischen Angebote. Man fand die von Garnichtfaul genutzten Waren nicht alle im umkränzenden Rahmen, denn dieser zeigte nur einen Ausschnitt der quasi unbegrenzten Möglichkeiten der deutschen Agrarwirtschaft, der deutschen Lebensmittelindustrie. Der Rahmen war Vermittler der gesunden, der richtigen Ernährung. Und angesichts der neuen und gewiss stetig verbesserten Austauschprodukte waren weitere Angebote nicht ausgeschlossen. Garnichtfaul würde darauf achten, Roderich wohlig genießen.

Motiv V: Deutsches Pudding-Mehl und Sago (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 84 v. 25. März, 6)

„Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ wurde erstmals am Samstag, dem 28. Januar 1939 abgedruckt (Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6; Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 11; Verbo 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 18; Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 8 v. 28. Januar, 11). Der Start erfolgte reichsweit, in Tages- und Wochenzeitungen. Viele begannen die zwingend abzudruckende Serie erst am Sonntag, dem 29. Januar, vereinzelt auch später (Riesaer Tageblatt 1939, Nr. 30 v. 3. Februar, 11; Stolles Blätter für Landwirtschaft, Gartenbau, Tierzucht 1939, Nr. 8 v. 19. Februar, 4; Sächsische Volkszeitung 1939, Nr. 79 v. 1. April). Die fünf Motive erschienen alle zwei Wochen, entsprechend endete die Serie zumeist am 25. oder 26. März. Die vorgesehene Reihenfolge wurde fast durchweg eingehalten, ein doppelter Abdruck der gleichen Anzeige blieb Ausnahme (Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 21; ebd., Nr. 41 v. 17. Februar, 7).

Die Serie stand allerdings nicht für sich alleine, die drei- bis vierzeiligen Verweise auf ergänzende Rezepte in den jeweiligen Druckwerken machten dies unmissverständlich klar. Sie fassten zugleich den Gegenstand des Gedichts zusammen, nannten nochmals die darin angesprochenen Lebensmittel und Produkte. Diese Verweise konnten von der jeweiligen Zeitschrift verändert werden. So verwies das Neue Wiener Tagblatt explizit auf die Folgerezepte in der jeweils mittwochs erscheinenden Rubrik Frau und Haushalt (Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 37). Zeitschriften lenkten das Interesse vielfach auf die Rezepte in den Tageszeitungen (Die Wehrmacht 3, 1949, Nr. 3, 22), konnte darauf aber auch verzichten (Fliegende Blätter 190, 1939, 187). Die Verweise waren mehr als Beiwerk, auch wenn in vielen Tageszeitungen entsprechende Rezepte nicht in der gleichen Ausgabe zu finden waren. „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war eben deutlich mehr als eine fünfteilige, nett anzusehende Werbeserie. Die hier präsentierten Zeichnungen glichen der Spitze eines Eisbergs, waren lediglich der direkt sichtbare Teil einer wesentlich umfangreicheren und vielgestaltigeren Verbrauchslenkung. Die namensgebenden „Sinnfiguren der ernährungswirtschaftlichen Erziehungspropaganda“ (Erich Kupke (Bearb.), Jeder denkt mit!, Berlin 1939, 37) standen für etwas Größeres, etwas Wichtigeres. Dazu gilt es, genauer hinzuschauen.

Narrative Vergemeinschaften: Roderich und Garnichtfaul als Marker

NS-Propaganda war Verbundpropaganda. Bleibt ihre Analyse bei den scheinbaren Kernmotiven stehen, so verkennt sie deren Funktion, missversteht das Teil als Ganzes. Bilder allein verniedlichten und verharmlosten NS-Propaganda, ignorierten die verschiedenen, eng miteinander verzahnten Ebenen der Einflussnahme. Bilder sind offener, interpretationsgefälliger, luden daher stärker ein als eindeutigere, stärker fordernde Texte. Die Kampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ enthielt solche einordnenden Begleittexte. Und sie bestand aus einer Kaskade ergänzender Texte und Bilder der in den Bild- und Gedichtanzeigen angesprochenen Lebensmittel und Produkten. Wie schon zuvor bei Groschengrab wurde auch diese NS-Propagandakampagne zudem durch Comics erweitert und gedoppelt. Die daraus resultierende Vielgestaltigkeit war charakteristisch für die NS-Propaganda, stand damit aber auch im Gefolge breiter gefasster Werbekampagnen der späten 1920er Jahre. Für die Funktionseliten war Wirksamkeit entscheidend, Akzeptanz und Aufgreifen völkisch vermeintlich notweniger Konsumweisen. Propaganda sollte gefällig dargeboten werden, durfte nicht langweilen. Blicken wir näher auf kleine Geschichten von Roderich und Garnichtfaul, die deren Bilder und Gedichte ergänzten.

Erinnerung an das Gesehene, an das Gelesene (National-Zeitung 1939, Nr. 39 v. 8. Februar, 11)

Die allmonatlichen Ernährungsrichtlinien, die wöchentlichen Küchenzettel und Rezepte griffen immer wieder über das haushälterische Feld hinaus, forderten den Gleichschritt: „Wir Frauen müssen wirklich denken, sollen wir nicht mitschuldig werden an gewissen kleinen Schwierigkeiten, die es überhaupt nicht gäbe, dächten alle Frauen logisch“ (Frauengeständnisse, Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 10). Solche unangemessenen Schuldzuweisen konnten jedoch auch freundlicher verpackt, Teil eines positiven Narrativs werden – ergänzende Geschichten über Roderich und seine Garnichtfaul zeigten dies. Kurz nach dem Beginn der Serie erschien reichsweit eine erste Home Story. Sie vertiefte das Thema der entrahmten Milchprodukte, nutzte vor allem aber das positive Vorbild der Gemahlin als völkisches und frauliches Ideal. Sie habe es als „Ergebnis langjähriger Bemühungen“ geschafft, ihrem Roderich typisch männliches Habenwollen ohne Bedacht abzugewöhnen. Dank ihr wisse er, dass jegliche Speise ihre Zeit habe, Eierkuchen nicht ganzjährig möglich seien. Von ihrer Klugheit inspiriert richte er sich nach „der Geberlaune der Natur“, die ihm „zu einer regelrecht strotzenden Gesundheit“ verholfen habe. Der eigens ausgesandte „Sonderkorrespondent für Gaumenkitzel“ berichtete auch über die Kunst der Garnichtfaul, aus einfachen Dingen wie Quark Genüsse zu zaubern. Roderich sei zufrieden, einer der nicht allzu zahlreichen „einwandfrei gefütterte[n] Männer“, die um gutes Essen als Grundlage „ihres ehelichen Glücks“ wussten. In ehelichem Einvernehmen habe Garnichtfaul, „die erst denkt und dann kocht“ jetzt gar mit einem Kochbuch begonnen, einer „Liebeserklärung an ihren lieben Roderich“. Sie gehe alle an: „Wer noch ein Herz hat, spitzt sein Ohr / wir stellen ihm als ‚Glücksfall‘ vor: / Herr Roderich das Leckermaul und seine Gattin Garnichtfaul!!“ (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 10; Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 29 v. 3. Februar, 3; Verbo 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 20; Riesaer Tageblatt 1939, Nr. 33 v. 8. Februar, 9).

Dieser Text wurde fast überall gedruckt, dabei teils leicht variiert: Mal ohne das Schlussgedicht (Der Erft-Bote 1939, Nr. 22 v. 31. Januar, 7; National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6), mal vermengt mit dem Lobpreis anderer Lebensmittel (Herner Anzeiger 1939, Nr. 34 v. 9. Februar, 7), mal aber auch schon mit nachfolgenden Rezepten. Festzuhalten ist der unterhaltende Ton der Propaganda, zugleich aber die gezielte Nutzung allgemeiner Gefühle, allgemeiner Sehnsüchte. Eheprobleme würden sich lösen lassen, Gleichgültigkeit könne der Liebe weichen, das tägliche Kochen geadelt werden – man müsse nur die ohnehin vom NS-Staat immer wieder propagierten Anregungen umsetzen. Derartige Lenkungsbestrebungen waren an sich einfach zu durchschauen; Männer dürften sich an der tumben Roderichrolle auch gestoßen haben. Doch war an der Geschichte nicht vielleicht doch etwas dran?

Freundlich wandten sich die nicht mit Namen zeichnenden Propagandisten auch an die vermeintlichen Trotzköpfe der Nation, unvernünftige Wesen fernab des Normalen. Sie wollten Blattsalat im Winter speisen, Eier im Spätherbst, beharrten auf Gänseschmalz, wo doch gerade Butter allgemein verfügbar war, bevorzugten ihr Fleisch gegenüber einer saisonal gebotenen vegetarischen Leckerei. Roderich hätte ihnen erzählen können, dass die „Natur“ auch das „verwöhnteste Leckermaul nicht Hunger leiden“ lasse, vorausgesetzt jemand gehe mit offenen Augen einkaufen und wisse, wie man aus dem Gebotenen einen Genuss bereiten könne (Die Speisekarte der Trotzköpfe, Neuigkeits-Welt-Blatt 1939, Nr. 60 v. 12. März, 21; analog Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 59 v. 11. März, 23; ohne das nachfolgende Gedicht Bremer Zeitung 1939, Nr. 77 v. 18. März, 14; Sächsische Volkszeitung 1939, Nr. 61 v. 11. März, 4). Sorge nicht, lebe – das war die implizite Botschaft, natürlich nur auf Basis haushälterischer Kompetenz. Im völkischen Ringen setzte sich der Stärkere durch – und Gemahlin Garnichtfaul unterstrich dies mit ihrer sparsamen Klugheit, ihrem Dienst für die Belange sowohl ihres Gatten als auch der Volksgemeinschaft.

Gegen die Trotzköpfe: Vertrauen in die staatliche Agrar- und Ernährungspolitik (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 12 v. 25. März, 5)

Das vierte Bild-/Gedichtmotiv wurde analog begleitet, war doch von Deutschland die Rede, Deutschland als der größten Markthalle der Welt. Hierzulande würde die Natur alles bieten „wonach der Gaumen verlangt“, Auslandsware sei nicht erforderlich. Frau Garnichtfaul wisse das, habe sich umgeschaut, liege nicht auf der Bärenhaut wie manch andere Hausfrau. „Renntierschinken mit Burgundertunke und anschließendem Bananensalat“ sei nicht möglich. Sie wisse aber, dass jegliches Lebensmittel seinen Stichtag habe, dass man die Natur nicht zwingen könne. Sich anzupassen sei die Kunst, dann aber könne sie zaubern, aus einfachen Dingen Freude bereiten (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1939, Nr. 59 v. 10. März, 5; Neuigkeits-Welt-Blatt 1939, Nr. 60 v. 12. März, 22).

Weitere Geschichten um Roderich und Garnichtfaul gaben mehr von ihrem Glück preis, hatten sie doch einen geliebten und gehegten Stammhalter. Roderich war mit Säuglingsspeisen nach Ende des Stillens nicht recht vertraut, kritisierte daher das aus seiner Sicht gefährliche Verfüttern von Kartoffeln. Garnichtfaul aber beendete das nächtliche Schreien des hungrigen Babys mit einem wohlig schmatzend verzehrten süßen Brei. Roderich verstand nicht, wohl aber seine Gemahlin, denn diese hatte das Deutsche Pudding-Mehl, das neue Kartoffelstärkeprodukt, genutzt. Sie ließ ihren Gatten kosten und nun leuchtete es ihm ein: Es gab eine noch größere Vielfalt als herzhafte Brat-, Pell- oder Salzkartoffeln, als die unverzichtbaren Klöße und Kartoffelpuffer. Und freudig gedachte man – Propaganda braucht solche Legenden – des alten Fritzes, der doch die Kartoffel hierzulande heimisch gemacht hatte (Vom Säugling, der nach Kartoffeln schreit!, Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 73 v. 27. März, 6; Der Haushalt 11, 1939, Nr. 4, 6; gekürzt Der sächsische Erzähler 1939, Nr. 72 v. 25. März, 7).

Die neuen Kartoffelprodukte mussten erklärt werden, entsprechend gab es weitere Geschichte mit den beiden Propagandafiguren. Sie erschienen nun bereits als gute Bekannte, als Alltagsbegleiter. Und angesichts des kommenden Osterfestes nutzte sie, die Gemahlin, DPM und Sago, um all den Anforderungen der Festzeit zu genügen. In der Geschichte selbst war das nicht mehr exotisch. Garnichtfaul war nun, nach Ende der Bilder und Gedichte, Teil einer breiten Hausfrauenschar, die jene belächtete, die von den neuen, den guten heimischen Dingen nichts wussten. Die Volksgemeinschaft freute sich daher zurecht auf „großartige Festtagskuchen“, deren „reichlicher Verbrauch nunmehr für alle Zeiten zur Selbstverständlichkeit wird“ (Gute Sachen, die alltags und festtags Freude machen, Die Glocke, Ausg. F, 1939, Nr. 98 v. 11. April, 5).

Texte wie diese verwiesen auf das Eigengewicht von Roderich und Garnichtfaul, die sich zwar noch nicht von den Grundmotiven der Serie emanzipiert hatten, die aber in neue Zusammenhänge gestellt wurden. Das galt auch für den letzten gedruckten Text mit dem glücklichen Ehepaar. Roderich schwelgte darin von „Schweinerem“, von Salami und Schmalz. Seine Gemahlin aber wusste, dass es der Gehalt machte, dass Fleisch durch Zucker bestens ersetzt werden konnte. So die Wissenschaft, so auch ihre Küche. Roderich war nicht ganz überzeugt, doch einen Pudding, schön süß, den wollte er sich durchaus munden lassen (Kein Krach um Jolanthe, Verbo 1939, Nr. 139 v. 19. Juni, 8).

Im Nachhinein mögen derartige Narrative nicht sonderlich ansprechend wirken, doch sie waren integraler Bestandteil dieser Propagandakampagne. Wie parallel beim Groschengrab gewannen die Figuren weitere Konturen, mit denen die Propagandisten weiterarbeiten konnten. Ein ungleiches, aber miteinander glückliches Ehepaar wie Roderich und Garnichtfaul hätte Serienheld werden können, doch der Krieg setzte anstelle der noch beschworenen „freiwilligen“ eine bald allgemein verpflichtende Verbrauchslenkung, die Rationierung. Nun bedurfte es der beiden nicht mehr, Lebensmittel wurden zugewiesen und aufgerufen. Doch Roderich und Garnichtfaul hatten bereits gängige Lebensmittel des Weltkrieges propagiert, ebenso Informationen und Rezepte, um aus diesen etwas Schmackhaftes zu machen.

Empfohlener Konsum: Text- und Rezeptmassen als Kern der Kampagne

Für die Propagandisten waren Roderich und Garnichtfaul Mittel zum Zweck, so wie die Mehrzahl der großen Lümmel, der willigen Deutschen für die NS-Oberen. Sie blickten schon weiter, hin auf die im Krieg unverzichtbaren Lebensmittel und Produkte, für die das glückliche Ehepaar freudig warb. Es ging den Funktionseliten um „unermüdliche, ständig wiederkehrende Hinweise“, darum, „die Menschen allmählich dazu zu erziehen, daß ihnen auf dem Gebiet der Nahrungsverwertung nichts mehr unwichtig erscheint“ (Gerstorfer, Die Propaganda im Dienste der Aufklärungsaktion „Kampf dem Verderb“, Unser Wille und Weg 6, 1936, 355-357, hier 356, auch unten). Eine einheitliche Propaganda war unverzichtbar, daher einheitliche Bilder und Gedichte, daher einheitliche ergänzende Texte. Doch die Propagandisten wussten um die Grenzen derartiger Vorgaben, daher waren auch Journalisten und praktische Hausfrauen gefragt, denn sie und nur sie kannten die Besonderheiten vor Ort: „Generalrezepte können dafür natürlich nicht gegeben werden, da es sich gerade darum handelt, unter keinen Umständen nach einer Schablone zu arbeiten, sondern die Aktion in dem vielfältigen Mosaik all der Kleinigkeiten, aus der sie sich zusammensetzt, unter ständig neuen Blickpunkten zu beleuchten“. Bilder, Gedichte und Ergänzungsnarrative bildeten daher nicht den Kern der Propagandaserie. Dieser bestand aus zahllosen dezentral publizierten und erstellten Texten und Rezepten. Wer die Kampagne als wenig „lokalbezogen“ charakterisiert, spiegelt die eigene Oberflächlichkeit (Hans Veigl und Sabine Dermann, Alltag im Krieg 1939-1945. Bombenstimmung und Götterdämmerung, Wien 1998, 32). Gewiss, auch die kleinteiligen Texte und Rezepte bewegten sich im vorgegebenen Rahmen und nutzten einheitliche Vorlagen. Ihre (bedingte) Überzeugungskraft gewannen sie aber aus der genaueren Kenntnis und Darstellung lokaler Fährnisse, lokaler Konsummuster. Dies gilt es genauer in den Blick zu nehmen, auch um einen Eindruck von der Alltagspropaganda kurz vor Kriegsbeginn zu erhalten.

Stete Lenkung, schon vor Roderich-Garnichtfaul-Kampagne 1938 (Ernährungsdienst 1938, Nr. 20, 1)

Anfang 1939 war die Versorgungslage im Deutschen Reich weiterhin angespannt. Butter, Eier, Fleisch und vielfach auch Gemüse fehlten, verbrämt wurde dies mit der „anomalen Witterung im Dezember und Januar“. Die Alltagspropaganda griff dies auf, sah dieses als paradoxen Widerhall der Erfolge der NS-Regimes, denn das Ende der Arbeitslosigkeit und die moderat steigende Lebenshaltung hätten den „Verbrauch verfeinerter Nahrungsmittel“ deutlich erhöht (Hat die Verbrauchslenkung versagt?, National-Zeitung 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 15 für beide Zitate). Versorgungsschwierigkeiten seien Übergangserscheinungen auf dem Weg hin zu besseren Zeiten, zur entwickelten nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Meckern sei unangemessen: „Wir vergessen oft sehr schnell, wenn es uns einmal schlecht gegangen ist und richten dafür unsere Aufmerksamkeit um so härter auf die Ereignisse und damit natürlich auch auf Unzulänglichkeiten des Augenblickes“ (Unsere Ernährung im Februar, Bremer Zeitung 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 10). Verglichen mit der immer wieder in Erinnerung gerufenen Zeit der Hungerblockade und der Weltwirtschaftskrise war das zwar richtig, lenkte vom Problem aber ab.

Die Kartoffel als wichtigstes deutsches Lebensmittel (Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Die allwöchentliche, allmonatliche Verbrauchslenkung hielt längst gegen, die Ernährungsrichtlinie empfahl für den Februar mehr Fisch, Käse und Quark, Butter und Trockenmilch (Fett, Fleisch, Eier. Dinge, an denen wir sparen müssen – Dafür Käse, Fisch, Kartoffeln, Herforder Kreisblatt 1939, Nr. 21 v. 25. Januar, 4). Das erste Bild und Gedicht der Roderich-Kampagne propagierte zudem vermehrt Kartoffeln – und die Knollenfrucht wurde nun gesondert empfohlen. Dazu dienten erstens Artikel, in denen ihre stoffliche Zusammensetzung (Eiweiß, Nährsalze und Vitamine) ebenso gepriesen wurde, wie ihre vielgestaltige küchentechnische Verwendung. Als Ergebnis beträchtlicher, propagandistisch übertriebener Ertragssteigerungen müsse auch der Konsument seinen Beitrag leisten: „Der 15prozentigen Erzeugungssteigerung muß eine ebensolche Verbrauchssteigerung folgen“ (Die Kartoffel in der Ernährung, Oberbergischer Bote 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 10). Der Reichsnährstand hatte dazu einen Rezeptdienst ausgearbeitet, die Zeitungen verbreiteten zudem Teile einer vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung erstellten illustrierten Broschüre, um Kartoffeln mittags, aber auch abends „zum Hauptträger unserer Mahlzeiten“ werden zu lassen (Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 8 v. 28. Januar, 11). Die Zeitungen präsentierten sich als Dienstleister, als Freund und Helfer (Schwerter Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 4; Altenaer Kreisblatt 1939, Nr. 21 v. 28. Januar, 11; Sächsische Elbzeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6). Haushaltsparole war: „Die wahrhaft kluge Hausfrau spricht: ‚Verachtet die Kartoffeln nicht!‘“ (Gevelsberger Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 15).

Nur geringe regionale Verzehrsunterschiede: Kartoffelkonsum 1908/09, 1927/28, 1937 (Spiekermann, 1997, 278)

Kartoffeln waren damals das wichtigste Lebensmittel im Deutschen Reich. 1938 wurden ca. 174 Kilogramm pro Kopf und Jahr verzehrt, die regionalen Verzehrsunterschiede waren vergleichsweise gering (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg et al., Essen und kulturelle Identität, Berlin 1997, 247-282). Doch die Rekordwerte der Vorkriegszeit mit rechnerisch mehr als fünf Zentnern, fast 700 Gramm täglich, erreichte man nicht mehr. Außerdem wurden Kartoffeln vor dem Zweiten Weltkrieg bereits zunehmend verarbeitet, verdrängten als staatlich gefördertes Kartoffelwalzmehl vielfach Getreide, waren als Kartoffelstärke Alltagsgut. Die in der Propaganda klar dominierenden Speisekartoffeln machten nur ein gutes Viertel der Ernte aus, Pflanz- und vor allem Futterkartoffeln mehr als die Hälfte. Die deutsche Landwirtschaft deckte den kompletten Kartoffelbedarf, so dass die Kartoffel immer stärker nationalisiert wurde und auch das öffentlich geehrte und geheiligte Brot, insbesondere das aus importierten Weizen, teilweise substituieren sollte.

Auf diese Struktur baute die Begleitpropaganda zu Roderich und Garnichtfaul vierfach auf. Erstens wurde versucht, den Verzehr insgesamt zu erhöhen. Eine kulturelle Aufladung, etwa durch Bezug an den frühen Lobpreis der Kartoffel durch Mathias Claudius (1740-1815) (Ein Loblied der Kartoffel, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 23), erhöhte die Wertschätzung der Alltagsspeise, vielgestaltige Rezepte riefen andere Zubereitungsformen in Erinnerung. Gerade in den Hauptverzehrsregionen in West- und Norddeutschland galt abseits von Salz- und Bratkartoffeln, abseits der tunkenbewehrten Sättigungsbeilage, „sie ist es wert, um ihrer selbst willen gegessen zu werden“ (Kultur der Kartoffel! Es geht um den guten Geschmack, Dortmunder Zeitung 1939, Nr. 72 v. 12. Februar, 3). Es folgten gleich vierzehn Rezepte bis hin zu verschiedenen Torten und Gebäcken.

Zweitens ging es darum, den Kartoffelkonsum vor allem im Süden und Südwesten des Reiches stärker einzubürgern, wurden in Bayern doch nur zwei Drittel der Reichsdurchschnittswerte erreicht, noch weniger in der „Ostmark“. Während parallel das hohe Lied regionaler Küche gesungen wurde, der 1928 erstmals erwähnte Spätzle-Eintopf Gaisburger Marsch zum typisch südwestdeutschen Gericht mutierte, propagierte man zugleich das weitere Vordringen der Kartoffel als Teil des Zusammenwachsens der einen deutschen Nation: „Ja, es war wirklich arg für die armen Norddeutschen, in Baden zu leben. Aber wie gesagt: es war. Inzwischen ist die Kartoffel auch im klassischen Lande der Mehlspeisen zu großer Beliebtheit gelangt“ (Kartoffeln ein nahrhaftes Gericht, Badische Presse 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 19). Rezepte für Kartoffelgnocchi und in Schale überbackene Kartoffeln errichteten eine Brücke zu regional üblicheren Zubereitungsweisen: „In jeder Gegend unseres Vaterlandes gibt es […] besondere Spezialitäten, zu denen in der Hauptsache Kartoffeln verwandt werden“ (Der Kartoffel ein volles Lob! Wer kennt die Zahl der Kartoffelgerichte?, Dortmunder Zeitung 1939, Nr. 48 v. 29. Januar, 3).

Lob der Kartoffel (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20; Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Drittens unterstützte man die häufigere Verwendung von Kartoffeln als warme Abendmahlzeit, als Suppe, als verarbeitete Beikost. Suppen, salziger Kartoffelpudding und Kartoffelsalate wurden in immer neuen Variationen vorgeschlagen (Was man aus Kartoffeln machen kann, Rheinisch-Bergische Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 17). Wer hatte denn schon einmal Kartoffeln in die Milchsuppe eingebaut? (Geseker Zeitung 1939, Nr. 12 v. 28. Januar, 5) Wer traute sich an Kartoffelschnee, Kartoffelrand, Kartoffelringe, gefüllte Kartoffeln und Eierkartoffeln? (Honnefer Volkszeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6). Kartoffelbällchen und Leberkartoffeln konnten den Tag durchaus abrunden (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 7). Auch Kartoffelnudeln oder gewickelter Kartoffelkuchen boten Ergänzungen zum abendlichen kalten Mahl (Billig, nahrhaft, abwechslungsreich. Kartoffelgerichte, Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 32 v. 1. Februar, 22). Und für nährende Resteessen bot sich selbstverständlich die Kartoffel an (Kartoffeln so und so!, Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6). Wer all das nicht kannte oder konnte, für den gab es Kochkurse des Deutschen Frauenwerks (Essener Anzeiger 1939, Nr. 28 v. 29. Januar, 4).

Viertens schließlich koppelte man die Kartoffelpropaganda mit Fragen des Kampfes gegen den Verderb, den im Krieg systematisch propagierten Pellkartoffeln und der richtigen Einlagerung (Der Neue Tag 1939, Nr. 42 v. 11. Februar, 5). Die Propaganda für höheren Kartoffelverzehr vermischte sich dabei zunehmend mit den Empfehlungen verarbeiteter Kartoffelprodukte.

Erlaubt man sich etwas mehr Distanz, so praktizierte die nationalsozialistische Verbrauchslenkung zentrale Ideen der späteren Salutogenese (Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997). Es galt, den Volkskörper zu optimieren, seine Stärken zu stärken, seine Schwächen zu schwächen. Die Propaganda, nicht nur die von Roderich und Garnichtfaul, lenkte nicht nur, sondern bot Hilfestellungen, um das Leben im völkischen Verbund zu verstehen, es auch auszufüllen. Sie bot Handreichungen, um das eigene Haushalten und Konsumieren trotz äußerer Fährnisse handhabbar zu gestalten. Und durch die kulturelle Aufladung, durch die Integration von staatspolitisch bedeutsamen Aufgaben, schuf sie Sinngehalte, ein Leben mit Weihegehalt. Dieser Bezug erscheint erst einmal paradox, denn als Konzept wurde die Salutogene Anfang der 1970er Jahre just aufgrund von Untersuchungen an weiblichen KZ-Häftlingen entwickelt. Doch das für Aaron Antonovsky (1923-1994) zentrale Kohärenzprinzip wurde bereits von den für die Verfolgung und Verhaftung verantwortlichen Funktionseliten systematisch eingesetzt. Propaganda ist ein Grundelement jeder modernen Gesellschaft, dient heterogenen Zwecken.

Wir könnten nun fortfahren: Auch beim Quark, angesprochen im zweiten Motiv der Bilder und Gedichte, gab es unmittelbar daran andockende Einzeltexte (Quark zum Mittag- und Abendessen, Lippstädter Zeitung 1939, Nr. 60 v. 11. März, 11), einen reichsweit abgedruckten, allerdings vielfältig variierten Grundtext (Erzeugung und Verbrauch von entrahmter Milch, Geseker Zeitung 1939, Nr. 18 v. 11. Februar, 5; Annener Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6; Aachener Anzeiger 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6). Die Magermilchprodukte Quark, Sauerkäse und Trockenmilch wurden darin als billige und hochwertige, in der Küche vielfach einsetzbare, einfach zu handhabende Produkte vorgestellt, ausführlich von den Anstrengungen und Verwertungsnöten der Milchwirtschaft berichtet. Es folgte eine große Zahl regional angepasster Rezeptvorschlägen. Topfenspeisen in Österreich, im Nordwesten eher Quark mit Hering, mit Haferflocken, als Brotaufstrich anstelle von Butter (Topfen in gemüsearmer Zeit, Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 39 v. 8. Februar, 22; Der Erft-Bote 1939, Nr. 30 v. 11. Februar, 3; General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1939, Nr. 16372 v. 11. Februar, 15). Quark wurde als modernes Lebensmittel präsentiert, als „guter deutscher Speisequarg“ geadelt (Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 44 v. 12. Februar, 4). Die Hausfrauen sollten ihn endlich würdigen, ihn nicht mehr als „rechtes Stiefkind“ behandelten, die Fülle der damit möglichen herzhaften und süßen Speisen sich zu eigen machten (Quarg macht sich beliebt, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 21 mit Rezepten für Quark-Appetitbissen und einer süßen Quarkspeise).

Quark mit Pellkartoffeln und neue Verpackungen (Die Käse-Industrie 11, 1938, 34 (l.); ebd. 9, 1936, 123)

Da die Struktur derartig ergänzender und erweiternder Ernährungspropaganda jedoch meist repetitiv ist – Grundtext, Nebentexte, ergänzende Abbildungen und dann vor allem regional passende Rezepte – will ich nur noch auf zwei der insgesamt acht mittels Roderich und Garnichtfaul in den Blickpunkt gerückten Produkte genauer eingehen, nämlich die seit Jahrzehnten intensiv beworbene Fleischalternative Fisch und das Deutsche Pudding-Mehl als Prototyp einer wachsenden Zahl neuer Ersatzprodukte.

Fischpropaganda vor und während der NS-Zeit (Das Blatt der Hausfrau 1930/31, H. 13, 37 (l.); Die Glocke, Ausg. F 1937, Nr. 108 v. 22. April, Unterhaltungsblatt, 4)

Fisch, vorrangig Seefisch, war seit der Vorkriegszeit ein immer wieder intensiv beworbenes Lebensmittel. Verglichen mit der Kartoffel war sein Konsum regional weitaus disperser, zudem handelte es sich um ein hochgradig saisonales Produkt. Frischfisch war hygienisch heikel, für einen reichsweiten Absatz fehlte es trotz der 1896 erfolgten Gründung der Deutschen Dampfschiffereigesellschaft Nordsee lange an Kühltechnik für Transport und Ladenverkauf. Marinaden und Konserven dienten sowohl als Gaumenkitzel als auch als billige, meist gesalzene Ware, doch ihr Geschmack sagte nicht jedem zu, auch der Sättigungswert einer Hauptspeise wurde vielfach in Frage gestellt. Demgegenüber standen ernährungsphysiologische und handelspolitische Vorteile, entlastete Fisch doch die Devisenbilanz des Deutschen Reiches. Seit 1926 intensivierte der „Ausschuss für Seefischpropaganda“ die „Aufklärung“ der Konsumenten, doch es war vor allem der niedrige Preis der Massenware, der den Pro-Kopf-Konsum während der Weltwirtschaftskrise moderat auf etwa zehn Kilogramm steigen ließ (Spiekermann, 2018, 374-375).

Fisch als Erweiterung der deutschen Nahrungsgrundlagen (National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 5. Februar, 5)

Für das NS-Regime hatte Seefisch vor allem den Charme, dass mit der Hochseefischerei eine zuvor unerschlossene „Kolonie“ genutzt werden konnte. Es galt auf „unterseeischen Weiden“ zu ernten, dadurch die Devisenbilanz zu verbessern, die Aufwendungen für die Fleischproduktion zu vermindern. Günstige Preise und eine „Arbeitsschlacht“ zugunsten deutscher Fischer erlaubten eine rasche Steigerung des Konsums auf 1936 dreizehn Kilogramm pro Kopf – und die Funktionseliten intensivierten die Forschungsinvestitionen und Subventionen nochmals massiv (Spiekermann, 2018, 376-378). Der Vierjahresplan sah eine Verdopplung der Anlandungen bis 1940 vor – und das, obwohl im Kriegsfall die Hochseefischerei, wie auch der parallel noch stärker ausgebaute Walfang, aufgrund der britischen Seemacht nicht fortgeführt werden konnte. Die weiter professionalisierte Fischpropaganda unterstrich, dass es um das Erreichen der Kriegsfähigkeit ging, dass dann die Karten neu gemischt werden sollten.

Roderich und Garnichtfaul wurden demnach in eine bestehende, immer wieder erneuerte Propaganda integriert. Seit 1936 zeigten sich nämlich die Grenzen einer raschen Umstellung der Alltagskost: Die Mengenausweitung war nicht begleitet von einer entsprechenden standardisierten Warenqualität. Es fehlte an elektrischer Kühlung, in den Läden, in der Transportinfrastruktur. Bis 1938 konnte der Konsum nur noch um ein halbes Kilogramm gesteigert werden. Es ging eben nicht mehr um die Brechung von Vorurteilen, auch der recht niedrige Preis der Standardarten war angesichts eines moderat steigenden Lebensstandards nicht mehr so wichtig. Die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne griff dies bedingt auf, zielte vorrangig auf drei Punkte:

Erstens setzte sie – im Gegensatz zu anderen Teilen der Serie – die Moralisierung der Hausfrauentätigkeit fort: „Deutsche Frau, in Deiner Hand liegt es, den Fischverbrauch des deutschen Volkes zu verdoppeln!“ (Auf jeden Tisch zweimal in der Woche Fisch!, Niederrheinische Volkszeitung 1939, Nr. 57 v. 26. Februar, 7). Auch wenn begleitend Kochkurse des Deutschen Frauenwerks angeboten wurden, so handelte es sich doch um eine Fortsetzung der stark fordernden allgemeinen Fischkampagne, die sich vom zumeist freundlicheren Tenor des Herrn Roderich und seiner Gemahlin parolenhaft-plärrend abhob. Auch sachlicher klingende Texte erinnerten eher an die allgemeinen Ernährungsrichtlinien der steten Verbrauchslenkungspropaganda: „Der Fisch ist also die einzige ‚Kolonialware‘, die wir aus eigener Erzeugung haben“ (Jetzt ist auf dem Meer Erntezeit, Siegblätter 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 6; Die Bedeutung des Fisches für die Ernährung, Schwerter Zeitung 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 4). Die Hausfrauen sollten zugreifen, zumal ihnen die Verarbeitung der nicht verkauften Filets zu Fischmehl zeigefingernd zur Last gelegt wurde. Laufende Propagandamaßnahmen begrenzten somit den Spielraum der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne.

Die Serie bot wiederum einen Grundtext, der die Anstrengungen der Fischwirtschaft anschaulich schilderte, daraus eine völkische Reziprozität ableitete. Darüber aber waberte eine aufgrund des Vierjahresplanes bestehende Pflicht zum massiv höheren Konsum; derartiges erfolgte ansonsten indirekt und implizit, mit Bezug auf die technischen Fortschritte des NS-Regimes und der „klugen“ Gefolgschaft der Hausfrauen (Die Bedeutung des Fisches für die Ernährung, Der Haushalt 11, 1939, Nr. 4, 6; Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 47 v. 25. Februar, 11; Wittener Tagblatt 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 3). Auch die in der allgemeinen Fischwerbung stets präsente Heldengeschichte des kernigen Fischers, der als Teil des ewigen Kampfes zwischen Natur und Mensch dem Meer einen lebensnotwendigen Anteil entriss, wurde nicht aktiviert.

Zweitens wurde auch der Fischkonsum als Problem regionaler Ernährungsdisparitäten verstanden. Württemberger Leser wurden gezielt angesprochen „weil Württemberg sowohl bei Fischen wie bei Kartoffeln je Kopf der Bevölkerung nahezu den geringsten Durchschnittsverbrauch aller Gaue des Reiches hat“ (Eßt mehr Fische!, Verbo 1939, Nr. 35 v. 10. Februar, 15). Mit Verweis auf neue hygienische Fischverkaufsautos und vermehrte spezialisierte Fischverkaufsstellen wurde versucht, bestehende Befürchtungen über mangelhafte Qualität und Frische der im Norden angelandeten Fische aufzugreifen und abzumildern. Dazu diente auch eine große Zahl von Fischkochkursen der Deutschen Frauenschaft. Sie sollten Qualitätskriterien, wie klare Augen, dunkelrote Kiemen, fehlenden Fischgeruch oder eine noch widerständige Textur verankern, den Hausfrauen die Angst vor Fehleinkäufen nehmen. Das „Drei-S-System“ wurde vermittelt, das Säubern der Fische und ihrer Filets, das Säuern mit regional passenden Marinadengrundstoffen und schließlich das Salzen zur Tilgung des Seegeruchs. Hinzu kamen basale Kochfertigkeiten, insbesondere das seit den 1920er Jahren immer wieder empfohlene Dünsten – und schließlich Kochrezepte, die den regionalen Geschmacksvorstellungen entsprachen. Fischeintopf mit Hülsenfrüchten wäre in Bayern kaum zu vermitteln gewesen, eher schon geräucherter oder gegrillter Fisch mit Kraut.

Gesund und preiswert: Argumente für höheren Fischverbrauch in Österreich (Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 14 v. 25. Februar, 8)

Entsprechend nahmen drittens Fischrezepte einen besonders großen Raum ein. In Bochum befanden sich unter 21 einschlägigen Rezepten Fischfilet mit Speck, Fischragout, Fischkartoffelpuffer und „Sauerbraten von Kabeljau“, also Mock Food. Das passte zu regionalen Spezialitäten, zur üblichen Kost (Kleine Vorschläge für den Fischtag, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 5). Im Sauerland gab es unter anderem Deutsche Fischsuppe, Labskaus, grüne Heringsröllchen, Bratfisch, Fischfilet mit Sauerkraut, auch ein Bauern-Essen mit Bückling und Räucherfischauflauf (Fisch auf mancherlei Art, Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 9). Rheinische Zeitungen enthielten Karpfen mit Meerrettichtunke, Fischschnitten auf rheinische Art, Fischauflauf mit Weißkohl und Bücklingswürstchen, Kohlrollen mit Fischhackmasse sowie Fischpuffer als Variation der beliebten Reibekuchen mit Apfelmus: „Gibt es etwas Abwechslungsreicheres? Es soll 1000 verschiedene Eierspeisen geben, aber es gibt noch viel mehr Fischgerichte“ (Fisch auf den Tisch!, Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 4).

Derartige Rezepte suggerierten nicht nur die Nähe zu bestimmten regionalen Küchen, sondern auch, dass richtig zubereiteter Fisch schmackhaft, leicht verdaulich und sättigend sein konnte (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 8). Er mutierte so zum „Fleischvorrat, den uns das Meer gibt“. Ja, die große Zahl der Spezialitäten mochte die Hausfrau teils überfordern, doch dann war Garnichtfaul eine Wegweiserin: „Ein wenig Phantasie hilft über alles hinweg“ (Fleisch aus dem Meer, Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 14 v. 25. Februar, 8). Die Rezepte hatten den Vorteil haushälterischer Kontrolle, einer selbstbestimmten Qualität bei relativ billigen Grundstoffen. Doch für die Propagandaserie war ebenso charakteristisch, dass sie auch neuartige verarbeitete Fischprodukte vorstellte, so etwa die „nach einigen Fehlschlägen“ als kaltgeräucherte „Vollkraft-Fische“ in der Wehrmacht und im Reichsarbeitsdienst eingeführten Hauptgerichte („Vollkraft-Fische“ – eine neue Art, Herner Anzeiger 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 14). Fisch wurde kräftige, männliche Speise. Daran hätte auch Roderich seine Freude gehabt. Derweil lief die allgemeine Fischpropaganda weiter, fordernd und weniger subtil (Werbewelle für den Fisch, General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 11).

Werbung für Deutsches Pudding-Mehl, Sago und Kartoffelmehl (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 85 v. 26. März, 4)

„Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ hatte eine besondere Bedeutung für die Einführung neuartiger Austauschstoffe, bot diesen einen breiteren Rahmen als üblich. Verbrauchslenkung war dann Anpreisung des Neuen, war Werbung für hochverarbeitete Produkte. Die Propagierung des Deutschen Pudding-Mehls war Teil eines Protzes des Neuen, zeigte zugleich aber die Grenzen der Verbrauchslenkung deutlich auf. DPM wurde als eines der vielen „Kinder der Kartoffel“ präsentiert, neuartige Lebensmittel aus dem Rohstoff Kartoffel. Es war Teil einer brüstend posaunten Zahl von mehr als hundert Knolleninnovationen, mit deren Hilfe die Selbstversorgung Gestalt annehmen sollte („Kinder“ der Kartoffel, Der Gesellschafter 1939, Nr. 16 v. 19. Januar, 8).

Als Teil der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne kam die Vorstellung jedoch recht spät, denn DPM wurde bereits im Sommer 1938 eingeführt: „Etwas ganz Neues auf dem Gebiet unserer Ernährung ist das Deutsche Puddingmehl, das unter dem Qualitätszeichen DPM und in einheitlicher Packung nunmehr überall dem Verbraucher angeboten werden wird“ (Wir bitten zu Tisch, Die Glocke, Ausg. F 1938, Nr. 171 v. 27. Juni, 6). Ganz neu war es natürlich nicht, denn schon während des Ersten Weltkrieges gab es intensive Forschungen für einen Ersatz der aus Mais, Weizen oder aber Reis hergestellten Stärkeprodukte. Ein deutsches Puddingmehl wurde schon 1933 auf staatlichen Druck hin angeboten, die Nährmittelindustrie damals verpflichtet, 3000 Tonnen einzukaufen und zehn Prozent billiger als das aus Importmais hergestellte Mondamin anzubieten (Kartoffeln als Auslandsrohstoffersatz, Hamburger Fremdenblatt 1933, Nr. 347 v. 16. Dezember, 9). Das Produkt scheiterte, der Kartoffelgeschmack war zu dominant.

DPM-Einführung nebst späterem Küchenarrangement (Hamburger Tageblatt 1938, Nr. 268 v. 1. Oktober, 13 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 27 v. 1. Februar, 7)

Bis 1938 war die Produktionstechnologie deutlich verbessert worden, und eine schön gestaltete illustrierte Broschüre stellte das Knollenprodukt der Öffentlichkeit vor (Kinder der Kartoffel, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Berlin 1938). Die Ernährungsrichtlinien lenkten die reichsweite Öffentlichkeit im Juli auf das neue Ersatzprodukt, auch wenn es damals kaum erhältlich war, erst „demnächst allgemein im Verkehr erscheinen“ sollte (Was essen wir im Juli?, Schwarzwald-Wacht 1938, Nr. 157 v. 8. Juli, 5; analog Der Patriot 1938, Nr. 150 v. 1. Juli, 4). Auch die Ernährungsrichtlinien von August und September 1938 empfahlen einen bevorzugten Konsum von DPM, während kleinere Artikel über kontinuierliche Lieferschwierigkeiten berichteten (Ernährungsrichtlinie für die Verbrauchslenkung im August 1938, Die Glocke, Ausg. F, 1938, Nr. 218 v. 13. Juli, 7; Was essen wir in der kommenden Woche?, Solinger Tageblatt 1938, Nr. 200 v. 27. August, 12). Noch Anfang Oktober hieß es hoffnungsfroh, dass „in allernächster Zeit Packungen mit der Aufschrift ‚DPM‘ in den Handel kommen“ würden (Deutsches Puddingmehl, Hamburger Tageblatt 1938, Nr. 268 v. 1. Oktober, 13). Und schon schrieben eilfertige Federn „vom allseitig erfolgreiche[n] Absatz von deutschem Puddingmehl“ (Marktumschau für die Hausfrau, Viernheimer Volkszeitung 1938, Nr. 250 v. 26. Oktober, 7). Doch erst im Dezember dürfte es breiter verfügbar gewesen sein – nun beworben durch eigens in den Läden angebrachte Plakate. Nun wurden auch Einsatzmöglichkeiten genauer vorgestellt: Es diente als Puddingpulver, Nährmittel, ergänzendes Speisenpulver, als Weizenzusatz beim Backen („DPM.“ – schnell begehrt, Die Glocke am Sonntag 11, 1938, Nr. 50, 20). DPM war, wie viele Ersatzmittel dieser Zeit, auch nach seiner Einführung ein Produkt auf der Suche nach einem Markt, einer Marktnische. Rezepte folgten, spiegelten dabei regional unterschiedliche Nachtischvorlieben (Pudding für den Festtagtisch, Wiener Zeitung 1938, Nr. 315 v. 8. November, 8). Einschlägige Speisen lockten in Illustrierten, gaben einen Abglanz der kulinarischen Möglichkeiten von DPM und anderen Ersatzprodukten aus Kartoffeln.

Nettes Arrangement: Sagoauflauf und Flammeri aus Deutschem Pudding-Mehl (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, H. 15, 443)

Die Einführungswerbung lief im neuen Jahr mit Einzelartikeln im Rahmen der allgemeinen Verbrauchslenkung weiter; abseits der schon angelaufenen Roderich-Garnichtfaul-Kampagne. DPM symbolisierte Nahrungsfreiheit und deutsche Schaffenskraft (Süsse Speisen aus Kartoffeln?, Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 27 v. 1. Februar, 7; Noch unbekannt?, Oberbergischer Bote 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 11). Das Neue wurde deutlich vom früheren Kartoffelmehl abgegrenzt, als feines Produkt positioniert, das „einen wahrhaften Siegeszug durch die Küchen angetreten“ habe (Nahrhafte Kartoffel-Produkte, Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 45 v. 14. Februar, 3). Im Februar schienen die Liefer- und wahrscheinlich ebenfalls bestehenden Qualitätsprobleme behoben, doch offenkundig wurde es „noch nicht allgemein von den Hausfrauen seinem Wert nach gewürdigt und darum gekauft“ (Das jüngste Kind der Kartoffel, Lenneper Kreisblatt 1939, Nr. 41 v. 17. Februar, 7). Die Einsatzmöglichkeiten schienen kaum begrenzt, auch die Kranken- und Kinderkost wurden anvisiert. Eine Rezeptbroschüre gab es kostenlos im Einzelhandel, Kochkurse der Deutschen Frauenschaft offerierten praktische Hilfen, minderten die offenkundige Skepsis: „Dieses Puddingmehl riecht und schmeckt nicht etwa nach Kartoffeln. Wer die Herkunft nicht weiß, glaubt kaum, daß man aus ‚gewöhnlichen‘ Kartoffeln ein so hochwertiges Nahrungsmittel machen kann. Es klebt und kleistert nicht, wie Kartoffelstärke das sonst tut, erinnert also in nichts mehr an die Kartoffel“ (Puddingpulver, aus Kartoffeln hergestellt, Buersche Zeitung 1939, Nr. 50 v. 20. Februar, 3). Allseits verwandt, könne DPM die 1938 noch produzierten 45.000 Tonnen Maisstärke ersetzen. Die Lebensmittelindustrie konnte zaubern, DPM wurde somit ein Produkt auch für Gemahlin Garnichtfaul und ihre Kochkünste.

Hinweis und Angebot von Deutschem Pudding-Mehl (Neckar-Bote 1939, Nr. 71 v. 23. April, 8 (l.); Ostfriesische Tageszeitung 1939, Nr. 16 v. 19. Januar, 4)

Die Integration des Deutschen Pudding-Mehls in die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne diente demnach der Verstärkung einer ohnehin laufenden Einzelwerbung im Rahmen der allgemeinen Verbrauchslenkung. Das schien nötig, denn 1937/38 wurden nach offiziellen Angaben lediglich 400 Tonnen DPM hergestellt (Der Haushalt 11, 1939, Nr. 6, 7). Neuerlich veröffentlichten die Zeitungen vielgestaltige Rezepte, auch kleine Geschichten versuchten das Interesse auf das neue, nunmehr verfügbare Produkt zu lenken (Illustrierte Kronen-Zeitung 1939, Nr. 14076 v. 26. März, 18; Die Wiener Bühne 16, 1939, H. 14, 38). Innerhalb der Kampagne war das Pulver Grundstoff für Süßspeisen, für Nachtische, andere Einsatzmöglichkeiten traten dagegen in den Hintergrund. Doch trotz der Propaganda konnte DPM weder Mais- noch Weizenstärke verdrängen. Erst als Teil der Rationierungswirtschaft etablierte es sich als Kindernährmittel neben Gustin, Maizena, Mondamin, Rizena und Weizenin (Der Gesellschafter 1939, Nr. 246 v. 20. Oktober, 4). In dieser Nische hielt es sich auch in der Nachkriegszeit. Der durch den Roman „Ich denke oft an Piroschka“ bekannt gewordene Schriftsteller Hugo Hartung (1902-1972) – Simplicissimus-Mitarbeiter und NSDAP-Mitglied – präsentierte es im freundlichen NS-Jargon noch 1960 (Hugo Hartung, Kinder der Kartoffel, Köln 1960).

Ernährungsrichtline im September 1938: Präsenz aller von Roderich und Garnichtfaul empfohlener Lebensmittel (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 409 v. 4. September, 5)

Wie kann man angesichts dieser Fallstudien die Wirkung sowohl der allgemeinen Verbrauchslenkung als auch der Kampagne um „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ einschätzen? Bei der Antwort hilft vielleicht ein Blick auf die visuell nett aufbereitete Ernährungsrichtlinie vom September 1938. Darin fand man bereits alle Lebensmittel und Produkte, die dann von Roderich und Garnichtfaul prominenter präsentiert wurden. Dies spiegelt die 1938/39 zunehmend geringere Resonanz der staatlichen Lenkungsmaßnahmen, also just zu einem Zeitpunkt, in dem die durch den Vierjahresplan in Gang gesetzte lebensmitteltechnologische Forschung nennenswerte Ersatzmittel produzierte. Sie wurden während des Krieges über die Rationierung allgemein verbreitet, waren wichtige Zwischenschritte für die zunehmend industriell gefertigten Lebensmittel der Supermarkt-Ära und auch unserer Zeit.

Die Kampagne spiegelte das Beharren der NS-Funktionseliten auf einen tiefgreifenden Wandel in der Ernährungswirtschaft, im Alltagskonsum. Die von Roderich und Garnichtfaul goutierten Produkte waren allesamt deutsch, doch zugleich Prototypen einer neuen Konsumkultur, mit höherem Verarbeitungs- und Conveniencegrad, mit einem für die Konsumenten scheinbar offenkundigen Zusatznutzen. Die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne steht für das immer wieder verfeinerte Bemühen, das Volk, den großen Lümmel, in die vom NS-Regime und seinen Funktionseliten anvisierte Richtung zu leiten. Sie war Beispiel für einen weniger strikten, ansatzweise freundlicheren Ton in der Propaganda. Das war Teil einer nationalsozialsozialistischen Binnenmoral, denn totaler Krieg und Höflichkeitspropaganda waren kein Widerspruch, sondern aufeinander bezogen. Freudig Kochen, genussvoll essen, am Weg des Führers arbeiten, und dann erschrocken sagen: Davon haben wir nichts gewusst. Propaganda dient der Effizienzsteigerung in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften.

Visueller Flankenschutz: Begleitkampagnen durch Materndienste

Mit diesen vielen Informationen und Überlegungen könnte man enden. Doch dann hätte man immer noch nur einen Teil der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne betrachtet, den unbedingten Willen einer immer wieder neu ansetzenden, immer wieder verfeinerten Verbrauchslenkung unterschätzt. Denn die Kampagne, über deren Hauptzeichner wir nichts wissen, wurde von anderen aufgegriffen und gedoppelt. Roderich und Garnichtfaul hatten – wie auch andere Propagandafiguren der NS-Zeit – Wiedergänger.

Einen Monat nach dem Beginn der Propagandakampagne trat ein neuer, ein zweiter Roderich in das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Thematisiert wurde das zweite Motiv der Serie, der vom Schlecker Roderich geliebte und von Gemahlin Garnichtfaul gut hergerichtete Quark. Das war der Start von fünf weiteren Doppelbildern, kleinen Comics, die dem Leser Geschmack, Gehalt und Preiswürdigkeit heimischer Lebensmittel und Produkte nochmals freundlicher, nochmals unterhaltender darboten. Gezeichnet von dem Karikaturisten D. Aschau (ein Pseudonym des 1902 in Würzburg geborenen und für die Reichsbank tätigen Volkswirtes Friedrich Oechsner (Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13 T2, Nr. 1630/038), handelte es sich um ein ergänzendes, nicht verpflichtendes Angebot des Scherl-Materndienstes. Dieser wurde 1916 von einem Konsortium um Alfred Hugenberg (1865-1951) gekauft, einem Schwerindustriellen, DNVP-Politiker, Medienmogul und späteren Superminister im ersten Kabinett Hitler. Der Materndienst versorgte während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur vorwiegend kleinere Zeitungen mit Texten und vielfach antirepublikanischen Meinungsartikeln. 1933 wurde er vom Zentralverlag der NSDAP, dem Franz-Eher-Verlag, übernommen und etablierte sich rasch auch als reichsweit präsenter Bildmaterndienst. Solche ergänzende Bildmotive waren typisch für die NS-Propaganda, unterstrichen deren staatspolitische Bedeutung. Kampagnen wie Groschengrab, Herr Bramsig und Frau Knöterich oder auch Kohlenklau wiesen ähnliche Ergänzungen auf.

Quark als kulinarischer Genuss (Velberter Zeitung 1939, Nr. 58 v. 27. Februar, 6)

Die zweite Roderich-Serie – das Leckermaul wurde jeweils namentlich genannt, nicht aber seine allerdings stets sichtbare Gemahlin Garnichtfaul – folgte etwa zwei Wochen nach den ersten Vertiefungstext des glücklichen Ehepaars, widmete sich wie dieser dem Quark, dem heimischen. Die Einzelbilder erschienen dann in etwa zweiwöchigem Abstand. Die Zeitungen nutzten allerdings ihren Freiraum, eine einheitlich getaktete Erscheinungsweise gab es nicht (Ersterscheinung Die Glocke 1939, Ausg. E, Nr. 57 v. 27. Februar, 4; Lippische Staatszeitung 1939, Nr. 63 v. 5. März, 22; Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 55 v. 6. März, 7). Die jeweils zwei Zeichnungen waren zumeist horizontal angeordnet, doch sie erschienen auch vertikal, verortet meist in der ersten oder letzten Spalte (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 94 v. 25. Februar, 5). Scherl ergänzte dadurch sein Angebot eingängiger Zeichnungen der monatlichen Ernährungsrichtlinen oder aber besonders zu bevorzugender Lebensmittel. Comics waren zur NS-Zeit keineswegs verpönt, sondern ein wichtiges Element der Propaganda. Gewiss, sie hatten im Deutschen Reich eine andere Form als in den vielfach stilbildenden Vereinigten Staaten. Doch als Kindergeschichten, als humoristische Einschübe, in zahlreichen Werbekampagnen und nicht zuletzt in staatspolitischen Angelegenheiten waren sie mehr als eingängige Bildtupfer.

Frühe Propagandazeichnung Aschaus für die Reichsanleihe 1937 (Mitteldeutsche Nationalzeitung 1937, Nr. 234 v. 26. August, 8)

Zeichner Aschau hatte sich seit 1937 einen gewissen Namen gemacht, als er die Reichsanleihe beworben hatte, ein wichtiges Element der Aufrüstung. 1938 illustrierte er auch den vom Regime vorgeschriebenen Goldmünzeneintausch, der die Devisenprobleme des Deutschen Reichs kurzfristig minderte (Mitteldeutsche Saale-Zeitung 1938, Nr. 188 v. 13. August, 7; ebd., Nr. 203 v. 31. August, 7). Aschau erweiterte sein Arbeitsfeld, seine Zeichnungen zielten auf den rechtzeitigen Weihnachtseinkauf oder richtiges Wäschewaschen (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1938, Nr. 290 v. 11. Dezember, 6; Meinerzhagener Zeitung 1939, Nr. 15 v. 19. Januar, 6). Unmittelbarer Vorläufer der Roderich-Serie war eine sechsteilige Ergänzung der 1938/39 veröffentlichten Groschengrab-Propaganda (Rheinisches Volksblatt 1938, Nr. 146 v. 27. Juni, 3; Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 315 v. 11. Juli, 5; Durlacher Wochenblatt 1938, Nr. 168 v. 21. Juli, 5; Lippische Staatszeitung 1939, Nr. 214 v. 15. August, 15; ebd., Nr. 226 v. 18. August, 8; Mindener Zeitung 1939, Nr. 207 v. 5. September, 8).

Trockenmilch als kräftigende Proteinquelle (Tremonia 1939, Nr. 64 v. 5. März, 2)

Die einzelnen Motive der Roderich-Serie hatten zumeist eine ansprechende, fett gesetzte und häufig mit einem Ausrufezeichen versehene Überschrift. Sie wurde unterhalb der beiden Bilder präzisiert und in fetter Type auf die eigentliche Botschaft zugeschnitten. Trockenmilch war der Aufmacher des zweiten Motivs, doch das Feld war breiter, umfasste die preiswerte Eiweißversorgung. Jedes Motiv bestand zudem aus zwei je vierzeiligen Gedichten, die zugleich den Inhalt der Zeichnungen näher erläuterten. Aschau arbeitete zudem mit den nicht gar so häufigen Sprechblasen, dynamisierte dadurch die Einzelgeschichten. Die abonnierenden Zeitungen besaßen bei der typographischen Gestaltung relative Freiheit, texteten teils andere Überschriften, ließen diese aber auch mal weg (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 104 v. 3. März, 4; Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 67 v. 20. März, 4).

Während sich die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne bildlich auf das Ehepaar konzentrierte, hatten die beiden in Aschaus Serie nicht nur ein anderes Aussehen, sondern standen auch stärker im Leben, waren Teil der Volksgemeinschaft. Roderich & Co. waren eine nationalsozialistische Musterfamilie, ein virtueller Aktionsverbund, verwandt mit der zu Beginn des Krieges präsentierten Vorbildfamilie Pfundig, die viele Widrigkeiten der Heimatfront meisterte. Roderich kommentierte und korrigierte, war somit öffentlich aktiv, während Garnichtfaul zwar auch außerhalb des Hauses erschien, dort aber kaum das Wort ergriff. Ihre Wirkungsstätte war das Heim, hier salutierten ihr die anderen Familienmitglieder, priesen ihre zeitgemäße Kochkunst, ihre schmackhaften Gerichte. Die Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren folgsam ruhig. Heiner trieb erfolgreich Sport, seine Schwester spornte den großen Bruder an. Einen Hund gab es ebenfalls, wie putzig…

Fisch von Garnichtfaul überzeugt auch notorische Meckerer (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 118 v. 11. März, 7)

Roderich und Garnichtfaul waren nun Überzeugungstäter, Verbrauchsmissionare. Genuss und Leckerhaftigkeit wurden weiterhin angesprochen, doch das traute Glück war nicht mehr vorrangig. Stattdessen stand in der dritten und vierten Episode die allgemeine Konsumsteigerung im Mittelpunkt. Der Meckerer wurde mit Backfisch bekehrt (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 59 v. 10. März, 3; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 66 v. 18. März, 18; Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 78 v. 1. April, 15), Frau Dürr mit Zucker auf die rund-gebärfähige Idealfigur der deutschen Frau gebracht. Fett wurde in beiden Fällen gespart, Roderich sei Dank!

Zucker für den wohlgeformten Frauenkörper (Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 81 v. 5. April, 6)

Die Zucker-Episode wurde in sehr unterschiedlicher Weise abgedruckt, die Doppelstruktur teils aufgelöst, teils neue Überschriften gewählt (Der sächsische Erzähler 1939, Nr. 76 v. 30. März, 3; Derner Lokal-Anzeiger 1939, Nr. 77 v. 31. März, 8). Auch die Aschau-Serie endete süß, präsentierte DPM als schmackhafte Billigkost, die einen zusätzlichen Kinobesuch ermöglichte. Das Ende zog sich allerdings noch hin, denn auch nach dem gängigen Letztabdruck Ende April gab es bis tief in den Mai hinein noch weitere Abdrucke (NS-Volksblatt für Westfalen 1939, Nr. 103 v. 4. Mai, 5; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 116 v. 20. Mai, 9). Roderich & Co. boten völkisches Anschauungsmaterial, endeten mit der Überschrift „Wir wünschen wohl zu speisen“ (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 94 v. 22. April, 9).

Deutsches Pudding-Mehl, schmackhaft und billig (Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 93 v. 22. April, 9)

Aschau zeichnete auch nach dieser Ergänzungsserie weiter, liefert nach Kriegsbeginn passgenaue politische Propaganda gegen Engeland (Mindener Zeitung 1939, Nr. 246 v. 10. Oktober, 10; Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt 1939, Nr. 246 v. 21. Oktober, 1; Mindener Zeitung 1939, Nr. 301 v. 23. Dezember, 14; Rahdener Wochenblatt 1940, Nr. 77 v. 4. Februar, 4; ebd., Nr. 83 v. 9. Februar, 4). Weihnachten 1940 durfte er nochmals Überraschungen humoristisch aufs Papier bannen (Volks-Zeitung für den rheinisch-westfälischen Industriebezirk 1940, Nr. 305 v. 27. Dezember, 7; Westfälischer Beobachter 1940, Nr. 179 v. 28. Dezember, 67). Aschau-Oechsner konzentrierte sich seither auf seine Arbeit zur finanzpolitischen Mobilisierung des Deutschen Reichs. Er konnte seine Karriere nach dem Krieg ohne größere Friktionen fortsetzen, war seit 1952 Vorstandsmitglied der Landeszentralbank Württemberg-Hohenzollern, ab 1959 Vizepräsident der Landeszentralbank Bayern. Zu seiner Pension erhielt der frühere NS-Propagandist 1967 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Roderich und Garnichtfaul wurden während des Krieges zunehmend vergessen, die Lebensmittelrationierung wirkte effizienter als der freie Warenkauf. Genuss und privates Glück waren auf die Zeit nach dem Endsieg vertagt worden.

Dank an die UdSSR: NS-Kriegspropagandist Aschau (Nachrichten und Anzeiger für Naunhof […] 1940, Nr. 82 v. 8. April, 6)

Resümee

Die Verbrauchsregelung des NS-Regimes basierte auf einem bis weit ins frühe 20. Jahrhundert zurückreichenden Instrumentarium. Selbstversorgung schien schon vor dem Ersten Weltkrieg wirtschafts- und machtpolitisch geboten. Die Vorteile globaler Arbeitsteilung überwogen jedoch deutlich, die weit verbreitete Vorstellung vom kurzen Krieg ließ das Risiko von Versorgungsengpässen gering erscheinen. Der Erste Weltkrieg beendete derartige Illusionen. Einerseits wurden im langen Übergang zur Rationierungswirtschaft der Städter erst freiwillige, dann mit Zwang versehene Mittel entwickelt, an die der NS-Staat seit 1936 konsequent anknüpfte: Marktübersichten und Wochenspeisezettel, Kochkurse und Speisungswerke, Ersatzmittelwirtschaft und intensivierte angewandte Forschung blieben Kernelemente des raschen Übergangs zu einer freiwilligen Verbrauchslenkung, die nach nur drei Jahren in eine relativ effiziente Rationierung mündete. Anderseits nutzte der NS-Staat auch das Erbe der Weimarer Republik, dessen Agrarmarketing und Produktwerbung alliierte Anregungen aufgriffen und in vielgestaltige, aufeinander bezogene, mit Marken und Bildern unterlegte Kampagnen führten. Während der Zeit der Präsidialkabinette und der frühen NS-Zeit wurde das regulative Instrumentarium für eine Verbrauchslenkung geschaffen, die Massenorganisationen der NSDAP boten personelle Ressourcen für eine zuvor nur aus dem Weltkrieg bekannte Breitenwirkung. Für Aufrüstung und letztlich Krieg wurde Selbstversorgung ein zentrales staatspolitisches Ziel, das anfangs vor allem mit einer Ausweitung der heimischen Agrarproduktion und begrenzten Interventionen in die Lebensmittelproduktion erreicht werden sollte. Doch „Nahrungsfreiheit“ blieb eine Illusion, die Importabhängigkeit des Deutschen Reichs bei Rohstoffen, Investitionsgütern, Futtermittel und Genussmitteln, Eiweißen und Fetten konnte vermindert, nicht aber beseitigt werden.

Seit 1936 wählten die Funktionseliten einen anderen Weg, dessen Konturen zuvor ausführlich dargestellt wurden. Es gelang dem Regime ein reichsweites, noch freiwilliges Verbrauchslenkungssystem zu etablieren, durch das den Hausfrauen monatlich, wöchentlich und täglich Aufgaben präsentiert wurden, um heimische Produkte bevorzugen zu können, um höhere Selbstversorgung zu erreichen. Parallel setzte eine Erhaltungsschlacht ein, eine Effizienzsteigerung der Hauswirtschaft, durch die einerseits Lebensmittelverluste verringert, anderseits die Saisonalität der Ernährung weiter begrenzt werden sollte. In diese Richtung wirkten auch die massiven Investitionen in eine verbesserte Vorratshaltung, in schmackhafte Convenienceprodukte, in eine wachsende Palette wissensbasierter Ersatzprodukte. All dies bewirkte tiefgreifende Veränderungen in den Sortimenten und der Hauswirtschaft. Die allgemeine Verbrauchslenkung griff sie alle auf, versuchte die Hausfrauen und ihre Männer zur langsamen Akzeptanz einer neuen Konsumwelt zu bewegen. Handwerkskunst und regionale Küchen wurden beschworen, letztlich aber zerniert. Die Modernisierung von Landwirtschaft und Handel blieben aufgrund von Ressourcenmangel vielfach auf halbem Wege stecken, ließen aber in der unmittelbaren Vorkriegszeit schon die Fortentwicklung nach dem Krieg erahnen. Die allgemeine Verbrauchslenkung war von diesen Herausforderungen letztlich überfordert, zumal der moderat verbesserte Lebensstandard andere Konsummuster ermöglichte.

In dieser Situation war „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ eine aus Sicht des NS-Regimes sinnvolle Maßnahme. Sie hatte einen anderen freundlich-gewinnenden Ton, nutzte andere Propagandamedien, eine neuartige Kombination von Bildern und Texten, Geschichten und Produktinformationen, Rezepten und praktischen Hilfestellungen. Sie bildete einen zweiten Anlauf, um den Konsum schon zuvor mit recht begrenztem Erfolg beworbenen Lebensmitteln und vor allem neuartigen Ersatzprodukte zu steigern. Es ging dabei um Zeitgewinn, um Systemstabilisierung, bis ein fest anvisierter Krieg die machtpolitischen Rahmenbedingungen in neue Bahnen zwingen würde.

Roderich und Garnichtfaul waren Vorboten einer neuen Konsumgesellschaft, einer neuen Hauswirtschaft, entsprechend dominierten in der Serie Aspekte von Genuss und Selbstbezüglichkeit. Dies war eingebettet in ein System allgemeiner Sparsamkeit und völkischer Verpflichtung, doch die Motivlage hatte sich gegenüber der allgemeinen Verbrauchslenkung beträchtlich verändert. Die neue, für wenige Monate gleichberechtigt in den Vordergrund tretende Kampagne war deutlich breiter als die fünf simplen Bilder und Gedichte. Sie waren nur Entree in eine vielgestaltige, miteinander verbundene Kampagne. Die Freude des glücklichen Ehepaars gab nicht nur Anregungen und praktische Hilfestellungen, sondern beantwortete auch Fragen nach dem Sinn all der Anstrengungen, wies über völkische Verpflichtungen hinaus. Die neue Konsumwelt würde technisch-wissenschaftlich fundiert sein, dem Einzelnen Belohnung für seine Mühsal bringen, sein Glück nicht missachten. Das war leicht einzubetten in das breite Korsett nationalsozialistischer Moral, doch es wies ansatzweise darüber hinaus.

Roderich und Garnichtfaul war eine typische nationalsozialistische Propagandakampagne. Doch sie war eben nicht nur nationalsozialistisch, sondern adressierte viele Aspekte des modernen Lebens in einer Konsumgesellschaft. Effizienz, Preiswürdigkeit, Bequemlichkeit waren rote Fäden der Kampagne und verknüpfen sie eng mit den anders gelagerten Problemlagen der Gegenwart. Das Volk, der große Lümmel, war und is(s)t auch heute eigensinnig und eigenständig. Funktionseliten drängen auf mikroautoritäre Eingriffe, auf staatliche Hebel fernab der allseits praktizierten, kaum aber erfolgreichen Moralisierung der Märkte, deren Essenz eine selbstbestimmte und freiwillige Verbrauchslenkung ist. Träume von einer raschen Transformation prägen Medien und Öffentlichkeit heute in vielerlei Richtung. Dass dabei der trennende Grat zwischen verschiedenen Gesellschaften und politischen Systemen schmal ist, ist auch Ergebnis dieser Analyse einer modernen und gleichwohl nationalsozialistischen Propagandakampagne.

Uwe Spiekermann, 31. Mai 2025

Als die Werbebilder laufen lernten: Der Fleckenentferner Benzolinar in den 1890er Jahren

Die Werbebilder lernten im Deutschen Reich spätestens seit den 1890er Jahren laufen. An die Stelle der bereits weit verbreiteten Werbeklischees, also stetig reproduzierter Einzelbilder, traten nun zunehmend Bildserien, Ausfächerungen einer immer breiteren Produktwelt, mit denen Konsumenten angesprochen und gewonnen werden sollten. Die Fortentwicklung der Lithographien und eine wachsende Zahl von (Werbe-)Graphikern veränderte Bedeutung und Stellung der Werbung grundlegend, schufen zugleich die Möglichkeiten für deren Ästhetisierung, für eine hochwertige Plakatkunst, für eine Abkehr von billigen, künstlerisch nicht sonderlich ansprechenden Motiven. So lautet die Quintessenz mehrerer, bis heute regelmäßig zitierter Arbeiten zur Geschichte der Werbung in Deutschland (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993; Christiane Lamberty, Reklame in Deutschland 1890-1914. Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung, Berlin 2000; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln und Weimar 2009).

Dieses Narrativ einer zunehmend reflektierten, professionalisierten, sich zudem sittlich hebenden Werbebranche ist vorrangig Resultat einer höchst einseitigen Quellengrundlage: Die gedruckten Selbstdarstellungen der Werbebranche, der Werbegraphiker und der wichtigsten Markenartikelproduzenten und Warenhäuser waren bereits in diesen Tenor gehalten, mehr Wunsch als Wirklichkeit, ihrerseits Illusionstheater. Erzählt wurde die Geschichte der Versöhnung von Kunst und Kommerz, die zahllosen Konflikte dieser Zeit erschienen als Reinigungskrisen, an deren Ende die Vorboten unserer heutigen Konsum- und Werbewelt standen. Ausgegrenzt bzw. unterschätzt wurden vor allem drei Aspekte: Erstens gab es schon lange vor den 1890er Jahren ein trotz staatlicher Presse- und Werbezensur hochdifferenziertes Annoncenwesen, das man allerdings lesen können muss. Zweitens war der lokale Einzelhandel Hauptträger der Werbewirtschaft, doch er nutzte vor allem die Tages- und Wochenzeitungen, die erst durch die Digitalisierung wieder in den Blick geraten. Drittens fehlt es an empirischen Fallstudien, die einerseits die Anfänge und den Wandel einzelner Produkte und Firmen detailliert untersuchen, die anderseits aber nicht zum stetig hochgehaltenen Kranz des späteren Markenartikelverbandes oder der Interessenvertretungen der Werbegraphiker und der Großbetriebe des Einzelhandels gehörten.

Das war meine Überlegung, um mich einem vermeintlich abseitigen Produkt wie dem Fleckenwasser „Benzolinar“ genauer zu widmen. Es steht für den seit den 1880er Jahren einsetzenden Bedeutungsgewinn neuer chemisch-pharmazeutischer Präparate, die als „Geheimmittel“ bezeichnet und kritisiert wurden. Darunter verstand man Waren, deren Zusammensetzung vom Hersteller nicht offengelegt wurde, die zugleich mit weit überzogenen, vielfach auch schlicht erfundenen Werbeaussagen angepriesen wurden. Da es sich zumeist um Produkte ohne unmittelbaren Gebrauchswert handelte, nutzten ihre Produzenten die neuen Möglichkeiten der Werbung, insbesondere aber der Visualisierung weit stärker als ihre Konkurrenz. Werbekampagnen etwa des Bartwuchsmittels „Professor Migargees“ (1881-1892) sowie der „Hühneraugenringe in der Uhr“ des Ottensenschen Unternehmers August Wasmuth (1893-1896/7) waren Wegmarken der modernen Wirtschaftswerbung, finden sich zugleich aber nicht im gängigen Kanon der historischen Werbungsforschung. Die Kampagne für das Fleckenwasser „Benzolinar“ stand zeitlich und inhaltlich dazwischen – und spiegelt daher den typischen Wandel der Konsumgüterwerbung dieser Zeit. Sie legt allerdings ein anderes Narrativ nahe: „Benzolinar“ und das in gleicher Firma seit 1894 produzierte „Leipziger Putzwasser“ stehen für generelle Veränderungen in den noch relativ unregulierten 1890er Jahren, in denen mit Geheimmitteln und einer konsequent eingesetzten Werbung rasch ein Vermögen erzielt werden konnte – vorausgesetzt, man bot den Konsumenten mehr als nur ein überteuertes Markenprodukt. Diese Selbstbestätigung war Aufgabe der Werbung, vor allem aber einer neuartigen Visualisierung der Waren. Die schöne Ware war nicht Ausdruck allgemeiner Ästhetisierung, sondern einer möglichst hohen Rendite.

Drogerieartikel als Wachstumsmarkt

Im Gegensatz zur harten Alltagsarbeit des Wäschewaschens, die als zentrale Lebensrealität der Hausfrauen vielfach analysiert wurde (einschlägig v.a. Barbara Orland, Wäsche waschen. Technik und Sozialgeschichte der häuslichen Wäschepflege, Reinbek bei Hamburg 1991), wurden die diffizileren Tätigkeit textiler Pflege deutlich seltener untersucht. Das mag daran liegen, dass Sozialgeschichte, Frauen- und Gendergeschichte sowie die Konsumgeschichte bis heute nicht recht zusammenfinden. Die Kommodifizierung des Alltags durch immer neue Produkte, die dahinterstehenden Strategien und Motive, sie gelten scheinbar wenig, wenn man alltägliche Fron auch anders, scheinbar direkter analysieren kann. Dabei ist just dies ein verbindendes Element zwischen den Lebenswelten des späten 19. Jahrhunderts und dem so anderen Haushaltshandeln in einer technisierten und chemisierten Gegenwart.

Fleckenreinigung war eine Kunst, die einer genaue Kenntnis der Textilien, der Reinigungsmittel und der Fleckenarten voraussetzte. Der Fleck war der Ausgangspunkt, das Reinigungsmittel wirkte auf ihn ein, die Stoffarten lenkten und begrenzten den Einsatz. Fleckenreinigung war ein alltägliches Experiment, praktische Chemie, dieser Wissenschaft der stofflichen Veränderung. Mechanische Reinigung war grundlegend, das Abklopfen und Abbürsten von Staub und Anhängseln. Das half nicht, wenn Schmutz in den Stoff eingedrungen war. Üblich war dann die nasse Wäsche, bei der das (teils erwärmte) Wasser und verschiedene Seifenarten eingesetzt wurden. Speichel oder Zuckerarten konnten einfach ausgewaschen werden, doch schon Fettflecken erforderten weitere Hilfsmittel, Seifen, Salmiakgeist. Bei Seidenwaren, bei Ölfarben oder Harzen reichte dies nicht mehr aus. Man nutzte dazu neue, seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend verfügbare Hilfsmittel der Alkoholdestillation und der Steinkohlenchemie. Spiritus, Terpentin, Benzin oder reiner Alkohol reagierten mit den Flecken, die neuen Stoffe verflüchtigten sich teils. Der Einsatz dieser flüchtigen chemischen Substanzen ermöglichte eine trockene Wäsche, denn Wasser war dazu nicht mehr erforderlich. Seit der Jahrhundertmitte gab es einen immer genaueren Kanon, um Flecken jeder Art gezielt und mit möglichst geringer Beschädigung der Textilien selbst beseitigen zu können (Vgl. G[ustav] A[dolf] Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, T. 2, 3. verm. Aufl., Berlin 1898, 335-336).

Chemie als Helfer: Werbung für Judlins Chemische Wäsche-Anstalt (Kladderadatsch 23, 1870, Nr. 11, Beibl. 1, 1)

Seit den 1850er Jahren entwickelten sich zudem professionelle Dienstleister, die aus der Kunst der Reinigung ein Geschäft für ein zahlungskräftiges Publikum machten (als Fallstudie Drei Generationen im Reiche der Färberei, Wäscherei und Chemischen Reinigung. Eine Denkschrift zur Feier des 75jährigen Geschäfts-Jubiläums der Firma W. Spindler, Berlin 1907; deutlich umfassender Josef Kurz, Die Kulturgeschichte der professionellen Textilpflege. Zweitausend Jahre textile Sauberkeit durch Waschen und Reinigen, Heidelberg 2008). Diese Spezialisten optimierten die trockene Wäsche, nutzten die noch teuren Chemikalien. Diese „französische Wäscherei“ entwickelte sich im Zentrum des chemischen Wissens, insbesondere in Paris, der einfache Fleckenputzer hieß daher Detacheur, am Ende der Reinigung stand die aufwändige Appretur. In den 1850er Jahren etablierten sich auch in deutschen Landen chemische Reinigungen, eng verbunden mit dem noch dominanten Färbereigeschäft: Wilhelm Spindler, Judlin, der Hannoveraner Friedrich August Stichweh waren Pionierunternehmen der Reinlichkeit, die ihren Betrieb vor allem seit den späten 1860er Jahren respektabel ausbauten (Josef Kurz, Hans Ziehm und Hans W. Hoepfner, 125 Jahre Stichweh, Hannover 1978; J. v. Sydow, Die Wäsche sonst und jetzt, Die Gartenlaube 1878, 278-279; Chemische Wäsche, Illustrirte Zeitung 64, 1875, 259; M. Reimann, Die sogenannte chemisch-trockene Reinigung zur Entfernung des Schmutzes aus getragenen Stoffen, Industrie-Blätter 8, 1871, 217-219). Die Dienstleistung war teuer, doch das Samtpaletot im Benzinbad war Wunderwerk: „Kaum zehn Minuten aber, und es entsteigt wie ein Phönix der Asche und Pelz und Sammet scheinen uns so schön, wie sie je gewesen sein können. Kein Fältchen, kein Spiegel! Es ist wie ein Zauber!“ (Die Wissenschaft im Dienst des täglichen Lebens, Correspondent für das Großherzogthum Oldenburg 1880, Nr. 61 v. 23. Mai, 1-2, hier 1) Die chemischen Mittel wurden stetig variiert, das geruchsintensive Terpentin wich dem Benzin, dieses vielfach dem preiswerteren Benzol. All das war gefährliche Arbeit, unbrennbare Lösungsmittel wie v.a. Tetrachlorkohlenstoff setzte sich erst um die Jahrhundertwende durch.

Allen Dienstleistungen zum Trotz wurden Flecken jedoch vorrangig von den Hausfrauen im Haushalt bekämpft, das Wäschewaschen blieb die dominante Form der Reinigung. Individuelle Sauberkeit wurde ein bürgerliches Ideal, saubere Kleidung zunehmend erforderlich, schloss man doch vom Äußeren auf das Innere der Menschen. Entsprechend nutzten die Haushalte auch die Chancen der neuen Hilfsmittel: Seifen wurden zunehmend chemisch produziert, Petroleum- und Teerderivate in kleinen Mengen verfügbar. Die Haushalte reinigten, doch sie nutzten verstärkt ein chemisch-technisches Angebot. Dabei handelte es sich teils um Alltagschemikalien aus Drogerien und Apotheken, teils auch von Schneidern, Friseuren und Parfümerien. Hausfrauen mixten auf Grundlage regelmäßig in der Presse zirkulierender Rezepte ihre vermeintlich eigenen Hilfsmittel. Das war eine hybride Verwissenschaftlichung, einerseits durch die Rezepte, anderseits durch die Grundstoffe.

Ein Beispiel mag genügen, auch um die Schwierigkeit der damaligen Hauswirtschaft zu unterstreichen: „Fettflecke entfernt man sehr gut und ohne Aenderung der Farbe der Zeuge durch folgende Flüssigkeit: 4 Loth sehr reines Terpentinöl, 2 Quentchen höchst rectificirten Weingeist und eben so viel Schwefeläther, mit ein wenig Citronenöl gut zusammengeschüttelt und in einer verschlossenen Flasche aufbewahrt“ (Salzburger Chronik 1880, Nr. 89 v. 24. Juli, 6). Die häuslichen Fleckenmittel wurden vielfach auch gekocht, umrahmt von zahlreichen Gewürzen und Duftstoffen, um so den Geruch der Chemikalien zu dämpfen und zu überdecken. All dies war Notwendigkeit, Ausdruck erforderlicher Sparsamkeit (Universal-Fleckentinctur, Unser Hausfreund. Sonntagsblatt des Hannoverschen Courier 1891, Nr. 13, 102).

Doch auch die Drogerien, teils die Apotheken, bedienten den Wachstumsmarkt Fleckenreinigung mit eigenen Angeboten, meist Mixturen nach Rezeptbuch. Sie ersparten das Kochen und Vermengen im Haushalt, doch über die Zutaten herrschte vielfach Stillschweigen, allein Preis und Wirksamkeit entschieden (L. F. Dietrich, Illustrirte Encyclopädie praktischer Rezepte und Belehrungen, Leipzig und Dresden 1862/63, 336-340; J[oseph] Thein, Chemisch-technische Instructionen, 3. sehr verm. u. verb. Aufl., Prag 1871, 294).

Produzent und Produkt – Ausnahme Kelydon (Leipziger Zeitung 1858, Nr. 69 v. 23. März, 1425 (l.); ebd. 1853, Nr. 229 v. 27. September, 4772 (u.); National-Zeitung 1867, Nr. 5 v. 4. Januar, 4)

Diese Drogistenangebote wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch überregional abgesetzt. Am bekanntesten war das seit 1849 angebotene Brönnersche Fleckenwasser, das vorrangig aus Benzin bestand. Zahlreich Konkurrenzprodukte entstanden in den Folgejahrzehnten, durchweg Geheimmittel, meist angepriesen unter dem Namen des Produzenten. Produkte mit Eigennamen, wie das in Berlin hergestellte Kelydon, etablierten sich noch nicht.

Angebote ohne Produktidentität, teils per Versand (Deutscher Haus- und Landwirths-Freund 1884, Nr. 1, 4 (l.); Dortmunder Zeitung 1885, Nr. 330 v. 1. Dezember, 6)

Der deutsche Markt wurde durch vielfältige Angebote aus dem Ausland bereichert, erst aus Frankreich, dann insbesondere aus Großbritannien. Englisches Fleckenwasser war in den 1860er bis 1880er Jahre gängig (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1876, Nr. 108 v. 10. Mai, 5). Und auch später gab es zahlreiche kurzlebigere Angebote wie etwa „Electric Cleansing Compound“, ein „wirklich vorzügliches, unentzündliches und geruchloses Fleckenwasser“ (Duisburger Tageblatt 1893, Nr. 8 v. 10. Januar, 4). Marktchancen für Markenartikel gab es also, doch vielfach gelang es den Anbietern weder eine Absatzstruktur aufzubauen, noch die Konsumenten per Werbung anzusprechen und zum Kauf zu bewegen.

Scheitern des Universal-Fleckenwassers von Albert Roebelen, Stuttgart 1890 (Bonner Volkszeitung 1890, Nr. 126 v. 8. Mai, 3 (l.); Neckar-Bote 1890, Nr. 53 v. 8. Mai, 255 (u.); Schwäbischer Merkur 1890, Nr. 197 v. 21. August, 12 (M.); Neues Tagblatt 1890, Nr. 278 v. 27. November, 4)

Typisch hierfür war das 1890 im Westen des Deutschen Reiches angebotene Universal-Fleckenwasser des Stuttgarter Kaufmanns Albert Roebelen. Es wurde in kleinen Textanzeigen ohne Produktinformation angepriesen. Allgemein gehaltene Texte unterstützen den Markteintritt, doch der Erfolg blieb aus – auch aufgrund eines Preises, der höher lag als der gängiger Drogistenmixturen (Remscheider Zeitung 1890, Nr. 104 v. 6. Mai, 4). Nur ein halbes Jahr nach dem Beginn der Werbekampagne konnte Roebelen die Rechnungen nicht mehr zahlen, wurden die Geschäftsutensilien und nicht verkauften Fleckenwasserflaschen zwangsversteigert. Marktchancen gab es, nicht aber eine Garantie für unternehmerischen Erfolg.

Wilhelm Roloff, Leipzig, Dachpappen und Teerprodukte

Das Universalfleckenmittel Benzolinar wurde seit Februar 1891 von der Leipziger Firma Wilhelm Roloff angeboten – und das allein war bemerkenswert. Hersteller war weder eine chemische Reinigung, ein Drogist, noch ein Konsumgüterproduzent, sondern eine seit den 1840er Jahren aktive Terresin-, Asphalt- und Dachpappenfabrik. Wilhelm Roloff hatte sich unmittelbar neben der 1838 in Betrieb genommene städtische Gasanstalt angesiedelt, nutzte deren Nebenprodukte Koks, Teer und Ammoniak, machte dadurch ihren Betrieb wirtschaftlich. Anfänglich produzierte sein Unternehmen das von Friedrich Busse (1794-1862) entwickelte Terresin, ein aus Teer, Kalk und Sand bestehender Baustoff, der vornehmlich für Eisenbahntrassen verwandt wurde (Leipziger Zeitung 1847, Nr. 157 v. 2. Juli, 3155).

Kern- und Nebengeschäft von Wilhelm Roloff (Leipziger Zeitung 1857, Nr. 173 v. 23. Juli, 3730)

Wilhelm Roloff, einer aus „der Classe der unangesessenen Bürger vom Handelsstande“ (Deutsche Allgemeine Zeitung 1856, Nr. 288 v. 9. Dezember, 2457), nutzte Teerprodukte aber auch eigenbestimmt, entwickelte seit Mitte der 1850er Jahre sog. Steinpappen (Die Steinpappen-Fabrik von Wilhelm-Roloff in Leipzig 10, 1859, 488-490). Pappe wurde nach schwedischem Vorbild mit Steinkohlenteer imprägniert. Die relativ leichten, flexiblen und doch festen Schindelsubstitute verdrängten zunehmend schwerere Materialien, so den damals üblichen Asphaltfilz. Dachpappe von Wilhelm Roloff galt als „bewährtes Fabrikat“, mit ihr wurden seit den späten 1850er Jahren auch größere Gebäude, etwa Bahnhöfe, Fabriken und Gasanstalten gedeckt (Die Dachpappe, Paque’s Panorama des Wissens und der Gewerbe 1865, 603-605, hier 605). Der Unternehmer war als Sachverständiger gefragt (W. Hamm, Die Dachpappe, Centralblatt der Land- und Forstwirthschaft in Böhmen 10, 1861, 278-279, hier 279) – und er bewarb seine Dachpappen nicht nur in Sachsen als eine leichte, billige, gegen Feuer, Regen, Schnee, Wind und Sturm schützende Innovation, sondern ermöglichte damit relativ flache Dächer und günstigeres Bauen.

Grenzüberschreitende Diffusion der Roloffschen Dachpappen (Donau-Zeitung 1860, Nr. 135 v. 16. Mai, 4)

Wilhelm Roloff diversifizierte in benachbarte Branchen, seine „Stein-Dachpappen-, Terresin & Asphalt-Fabrick“ (Regensburger Tagblatt 1859, Nr. 128 v. 10. Mai, 4) etablierte sich als Technologieführer. Verbessertes Schmirgelpapier wurde entwickelt, Anstriche für Pappdächer, für andere Anbieter war man zudem in Kommission tätig (Illustrierte Zeitung 37, 1861, Nr. 961, 396; Leipziger Zeitung 1862, Ausg. v. 6. September, 4582; Friedrich Georg Wieck’s Deutsche Illustrierte Gewerbezeitung 30, 1865, Nr. 2, Inserate, 3). 1870 verkaufte Roloff seine Firma an den Chemiker Heinrich Caspersen und starb ein Jahr später (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1870, Nr. 206 v. 25. Juli, 6874; ebd. 1871, Nr. 178 v. 27. Juni, 2618).

Die Firma entwickelte sich jedoch kontinuierlich weiter, Holzzementelemente modernisierten die Palette der Baumaterialien (Bautzener Nachrichten 1873, Nr. 123 v. 30. Mai, 1433; Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie Deutschland, Oesterreichs, Elsass-Lothringens und der Schweiz, Bd. II, Leipzig 1874, 14). Caspersen plante 1872 einen Neubau im nördlichen Leipzig, nicht zuletzt um dort Kohlen- und Wasserstoffpräparate herzustellen (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1872, Nr. 361 v. 26. Dezember, 6219). Auch der Chemiker Carl August Müller, der 1875 die Firma übernahm, verfolgte dieses Projekt weiter, allerdings erfolglos (ebd. 1875, Nr. 116 v. 26. April, 2309). Die Firma wurde innerhalb der Familie weiter übergeben, doch 1885 trat mit dem „Kaufmann Johannes Meister“ ein junger Chemiker als Kompagnon in die Geschäfte ein, die er 1886 schließlich vollständig übernahm (Ebd. 1884, Nr. 313 v. 8. November, 5952; Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 71 v. 244. März, 26; ebd. 1886, Nr. 35 v. 9. Februar, 9). Am Firmenprofil änderte sich durch den späteren Hersteller des Fleckenwassers Benzolinar erst einmal wenig, Innovationen wurden weiter ersonnen, umgesetzt und regelmäßig annonciert.

Technische Werbung als Betriebsstandard (Mittheilungen aus der Praxis des Dampfkessel- und Dampfmaschinen-Betriebes 14, 1891, 214)

Johannes Meister (1865-1916) stammte aus Zittau. Sein Vater Guido Meister (1818-1891) war einerseits einer der führenden Bankiers und Kapitalisten der Oberlausitz, seit 1871 stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der 1871 gegründeten Oberlausitzer Bank zu Zittau (Jahrbuch der Berliner Börse 1885-1886, Berlin 1885, 102; ebd. 1888-1889, Berlin 1888, 107). Er engagierte sich breit und grenzübergreifend, etwa als Repräsentant der Gothaer Feuerversicherungsbank, als Aufsichtsrat der Leitmeritzer Bierbraugesellschaft zum Elbschloss. Der überzeugte Liberale heiratete 1855 Marie Helfft, mehrere Kinder folgten, Johannes war der jüngste Sproß. Guido Meister war anderseits seit 1848 auch führender Freimaurer, Alt- und Ehrenmeister vor Ort, zeitweilig stellvertretender Vorsitzender des Vereins deutscher Freimaurer (Latomia NF 2, 1879, 167; Freimaurer-Zeitung 42, 1888, 364). Er gründete mehrere philanthropische Stiftungen, war seit 1885 wiederholt Stadtrat, auch Mitglied des lokalen Handelsgerichtes (Die Bauhütte 34, 1891, 175).

Johannes Meisters Vater war demnach ambitioniert, gut vernetzt, aufstiegsorientiert und wohlhabend. Sein Sohn besuchte die Bürgerschule, dann das Realgymnasium in Zittau, studierte ab 1883 in Leipzig Naturwissenschaften, schloss das Studium nach etwas mehr als vier Jahren mit der Promotion ab (Johannes Meister, Ueber eine Condensation zwischen Acetessigäther und Urethan, Phil. Diss. Leipzig 1888, 24). Seine unter den Auspizien des Chemikers Robert Behrend (1856-1926) entstandene und auch in einer führenden wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichte Dissertation untersuchte die Chemie des Duft- und Aromastoffs Azetatessigäther (Ders., Dass., Justus Liebigs Annalen der Chemie 244, 1888, 233-253; Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 221, 1888, 427-428). Das passte in die Forschungsinteressen nicht nur am Physikalisch-Chemischen Institut, sondern auch im 1879 eingerichteten Versuchslaboratorium der in der Berliner Straße angesiedelten Firma Schimmel & Co., damals auf dem Weg zum Weltmarktführer für ätherische Öle und Riechstoffe. Meisters Übernahme von Wilhelm Roloff war demnach mehr als ein simples Investment, sondern Eintritt in einen Wissenscluster, in der die Teerstoffchemie zunehmend für Konsumgüter fruchtbar gemacht wurde. Der Fleckenentferner Benzolinar war das erste und prominenteste Ergebnis dieser Erweiterung der sich 1890 „Chemisch-Technische Fabrik“ nennenden Firma Wilhelm Roloff (Leipziger Adreß-Buch 69, 1890, T. 1, 293).

Der ambivalente Glaube an die Kraft der Reklame

Benzolinar steht aber nicht nur für die gestalterischen Möglichkeiten der modernen Chemie, sondern ebenso für einen noch kaum getrübten Glauben an die Wirkmächtigkeit der Reklame, für die es gerade im Bereich medizinisch-pharmazeutischer Geheimmittel seit den 1860er Jahren zahllose Beispiele gab. Johann Hoffs Malzextrakt galt als prominentes Beispiel, auch wenn dessen reichsweite Werbekampagne für „Deutschen Porter“ krachend scheiterte und die Grenzen der Vermarktung schlechter Produkte unterstrich. In immer neuen Wellen wandten sich damals Mediziner gegen Quacksalber, Ehrenmänner gegen Geheimmittelproduzenten – doch aus ihrer Sicht scheiterten sie immer wieder an der vielbeschworenen und emsig beklagten Einfältigkeit der reklamegläubigen Konsumenten. Zugleich riefen sie nach dem Staat, nach dem harten Schwert der Justiz. So berechtigt die Mehrzahl der Einsprüche auch war, so unklar blieb jedoch, wie man wirksame und weniger wirksame Präparate sicher voneinander abgrenzen konnte, wo die Grenzen von Täuschung und Betrug verliefen, wo das Schickliche, das Sittliche ins Unschickliche und Unsittliche kippte. Richtschwert wurde jedenfalls „die Wissenschaft“, wohl wissend, dass diese vielstimmig war und irren konnte, wohl wissend, dass diese korrumpierbar war, wohl wissend, dass ihre Vorstellungen von Gesundheitsgefährdungen vorläufig und vielfach industrienah waren, wie etwa bei Konservierungsmitteln oder Farbstoffen. Dennoch träumten Experten von Wahrheitsinstitutionen. Ziel wäre „ein höheres, wirthschaftliches und sittliches Aichungsamt für Messung und Wägung von Tugend und Laster, Nutzen und Schaden, Schönheit und Häßlichkeit“ (H[einrich] Beta, Die Geheimmittel- und Unsittlichkeits-Industrie, Berlin 1872, 32). Dabei wurde ausgeblendet, dass die Mehrzahl der Anbieter des Neuen durchaus wissenschaftlich gebildet war und Geheimmittel das Janusgesicht just „der Wissenschaft“ verkörperten.

Da der Staat sich damals lediglich bei offenkundigen Gefahren oder aber akutem Marktversagen autorativ einschaltete, war die weit verbreitete Schelte gegen die Reklame die einfachste Möglichkeit, die Reihen der Tugend geschlossen zu halten: „Alles was nötig ist, einem Geheimmittel den Erfolg zu sichern, ist Geld und Geschick, es zur Reklame zu benutzen. Was es für ein Mittel ist, kommt nicht in Frage, die Wahl der Ingredienzien ist die geringste Sorge“ (Halversche Zeitung 1883, Nr. 97 v. 5. Dezember, 2). Seit den späten 1870er Jahren, als die Etablierung zahlreicher leistungsfähigerer Betriebsformen des Einzelhandels (Versandgeschäfte, Filialbetriebe, Bazare und schließlich auch Warenhäuser) immer größere Sortimente und zugleich anonymere Formen des Kaufens ermöglichte, kam die Gier der Anbieter hinzu – und das mit dem üblichen antisemitischen Odeur. Dabei erforderten komplexere und ausdifferenzierte Sortimente, arbeitsteilige und internationale Absatzmärkte eine andere Ansprache des Konsumenten. Nationalökonomen warfen sich daher für die Reklame ins Zeug: „Sie macht die Gleichgültigen aufmerksam; sie redet eine eindringliche, zum Nachdenken auffordernde Sprache. Sie verfeinert die Bedarfsbefriedigung und eröffnet den Fortschritten der Technik und Kultur, der Einführung von Neuheiten die Bahn. Sie wirkt auch erzieherisch, indem sie auffordert, sich der für die Gesundheit oder Ernährungsweise bedeutsamen neueren Mittel und Gegenstände zu bedienen, nicht im alten Schlendrian bei der Befriedigung des Bedarfs zu bleiben“ (Wilhelm Roscher, Nationalökonomik des Handels und Gewerbfleißes, 8. verm. Aufl. bearb. v. Wilhelm Stieda, Halbbd. 2, Stuttgart und Berlin 1917, 69).

Kommerzialisierung des Alltags: Außenreklame für die schönen neuen Dinge (Münchner humoristische Blätter 6, 1890, 224)

Reklame blieb daher notwendig und umstritten zugleich. Das galt zumal für das Wissensfeld der Fleckenentferner. Es gab nur wenige wirklich verlässliche Mittel – und ein technischer Durchbruch würde rasch ein Vermögen nach sich ziehen. Dieser Mechanismus prägte die neu entstehenden und sich in den 1890er Jahren rasch ausweitenden Märkte pharmazeutisch-technischer Artikel: „Da nun aber jeder Erfinder in seinem Mittel das beste gefunden zu haben glaubt, so hat er natürlich nichts dringenderes zu thun, als die Zusammensetzung desselben möglichst geheim zu halten, damit sich nicht dieser oder jener der Erzeugung desselben bemächtigte und ihn um den Lohn seiner Versuche bringe. Das wäre wohl an und für sich ganz gerechtfertigt; allein da gibt es speculative Köpfe, die es unternehmen, aus nichts Geld zu machen und Mittel, die im besten Falle harmlos, wenn nicht gar schädlich sind, dem Publikum für theueres Geld unter Aufwendung maßloser Reklame anzuhängen suchen und thatsächlich anhängen. […] Und was die Reclame zu leisten vermag, dafür gibt beispielsweise das vor nicht allzulanger Zeit auftretende Fleckreinigungsmittel ‚Benzolinar‘ einen treffenden Beweis. Wenn es auch für schweres Geld verkauft wird, so besteht es eben doch einzig und allein aus Benzin, den man füglich um einige Kreuzer bei jedem Kaufmanne bekommen kann“ (Kosmetische Geheimmittel, Neue Wiener Friseur-Zeitung 1, 1894, Nr. 1, 2). Derartige Kritik traf auf ein Präparat, das offenkundig von einem Experten, vom frisch promovierten Chemiker Johannes Meister auf den Markt geworfen war. Retrospektiv hieß es angesichts des ebenfalls üppig aufschäumenden Seifenmarktes: „Wieder ist ein neues Weltwunder aufgetaucht. Es scheint, daß es die ‚Erfinder‘ hauptsächlich auf unser Fach abgesehen haben: Flecken-Reinigungsmittel, natürlich ‚Universal‘, dutzendweise zu erfinden (die Namen dafür: Aphanizon, Benzolinar, Opal in der Tonne etc., ist wohl die schwierigste Erfindung dabei), genügt wohl nicht mehr. Jetzt geht es ans Färben à la minute, von Jedem spielend ausführbar! […] Unzählige Leichtgläubige lassen sich von den gleißnerischen Reclamen bethören, meistens sind es unsere pantschlustigen Damen, die ihm aufsitzen, jedoch machen fast Alle ausnahmslos schlechte Erfahrungen mit dem ‚unfehlbaren Mittel.‘“ (Maypole Soap (Färbe-Seife), Deutsche Färber-Zeitung 32, 1896, 649-650). Derart in das Zeitkolorit der 1890er Jahre zurückversetzt, können wir uns nun mit gebührender Distanz der Markteinführung und der Marktpräsenz von Benzolinar widmen.

Benzolinar: Markenaufbau und Marktdurchdringungen

Das Warenzeichen des Fleckenwassers Benzolinar wurde am 30. Juni 1891 bewilligt, nur rekordverdächtige vier Tage nach der Anmeldung (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 154 v. 3. Juli, 10). Die Marke bestand aus einer stilisierten antikisierten Atlas-Figur, entsprach damit historistischen Bildwelten. Sie wurde Teil des Flaschenetiketts. Der Markenschutz wurde im Oktober 1898 für zehn Jahre verlängert und endete schließlich am 27. Oktober 1908 (Ebd. 1898, Nr. 247 v. 18. Oktober, 10; ebd. 1908, Nr. 257 v. 30. Oktober, 16).

Die Markteinführung begann bereits im Februar 1891 (Kölnische Zeitung 1891, Nr. 139 v. 19. Februar, 4). Die Werbung konzentrierte sich auf reichsweit präsente Zeitschriften, zudem auf führende Tageszeitungen. In einigen an sich lukrativen Regionen, etwa in Hamburg oder Baden, wurde für Benzolinar allerdings erst ab Mitte 1891 regelmäßig beworben. Dies dürfte mit einer noch fehlenden Großhandelsorganisation zusammengehangen haben. Im Gegensatz zu vielen anderen Geheimmittelanbietern setzte die Chemische Fabrik Wilhelm Roloff nämlich auf die im Hauptgeschäft bewährten traditionellen Formen des Absatzes: Man belieferte den Großhandel, delegierte den Vertrieb an regionale Generalagenturen, die ihrerseits an weitere Agenturen oder aber direkt an die Drogerien lieferten. Die ersten Anzeigen bewarben daher nicht nur das neue Fleckenmittel Benzolinar, sondern warben zudem um Zwischenhändler: „Wiederverkäufer gegen hohen Rabatt gesucht“. All das basierte auf der Preisbindung, also Privatverträgen, die allen Beteiligten relative hohe, rechtliche verbindliche Handelsspannen garantierten. Drogerieartikel waren dafür bestens geeignet, handelte es sich doch um homogene Güter mit geringen Lagerkosten und langer Haltbarkeit. In der Fachpresse hieß es einladend: „Großen Nutzen bringender Handverkauf! Wiederverkäufer gegen hohen Rabatt gesucht. Die Original-Flasche kostet für das Publicum 1 M“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 184).

Geteiltes Leid unter Freundinnen (Schlesische Zeitung 1891, Nr. 127 v. 20. Februar, 3)

Die Anzeigen präsentierten die Vorteile dieses Absatzkonzept: „Die Leistungsfähigkeit dieses Fleckenwassers ‚Benzolinar‘ sowohl als auch eine dauernde und zeitgemässe Reklame […] in über 70 der gelesensten Journale Deutschlands sorgen für einen grossen Absatz“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 248). Werbung war immer auch ein Versprechen eines guten Geschäftes, adressierte sowohl Käufer als auch Zwischenhändler. Der hohe Preis war für Wiederverkäufer attraktiv. Gängige Preise, etwa 40 Pfennig für ein Fläschchen Drogistenware (Hasper Zeitung 1888, Nr. 37 v. 9. Mai, 3), führten automatisch zu niedrigeren Gewinnen beim Einzelverkauf.

Als Offiziere ihre Uniformen noch selbst bezahlen mussten (Kölnische Sonntags-Anzeiger 1891, Nr. 753 v. 29. März, 7 (l.); Bonner Volkszeitung 1891, Nr. 268 v. 20. Juni, 4)

Die anfänglichen Anzeigen suggerierten wahrheitswidrig einen allgemeinen Markterfolg, hieß es doch: „Benzolinar führt jede Droguenhandlung“ (Fliegende Blätter 94, 1891, Nr. 2385, Beibl. 3, 2). In lokalen Zeitschriften klang das vorsichtiger, realistischer, so etwa in München: „Zu haben in den durch Plakate ersichtlichen Verkaufsstellen: Droguen, Apotheken und Parfümeriehandlungen“ (Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 143 v. 25. Mai, 6). Trotz breit gefächerter Hintergrundarbeit gelang es der Firma Wilhelm Roloff letztlich nicht, Benzolinar reichsweit in allen Drogeriehandlungen zu etablieren – die Gewerbezählung 1895 sollte etwas mehr als 5.000 Hauptbetriebe ergeben (Statistik des Deutschen Reiches NF, Bd. 113, Berlin 1898, 126-127). Dies wurde sprachlich kaschiert, war aber betriebliche Realität hinter Verweisen wie „Benzolinar führen die meisten Drogenhandlungen etc.“ oder „In allen bess[eren] Drogen- u[nd] Parf[ümerie]-Handl[ungen]“ erhältlich (Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 182 v. 5. August, 4; ebd., Nr. 219 v. 17. September, 4). Die prominente Hervorhebung des Firmennamens Wilhelm Roloff war daher kein Zufall: Interessierte sollten in den Läden vor Ort nachfragen, so Großhandelsbestellungen anregen. Zugleich erlaubte es den Käufern, die Firma direkt zu kontaktieren, um das Fleckenwasser per Nachnahme zugeschickt zu bekommen. Wilhelm Roloff bemühte sich also um Marktpräsenz, ließ sich aber das Schlupfloch zum gängigen Versandhandel offen.

Der Graf und seine Tänzerin (Fliegende Blätter 94, 1891, Nr. 2385, Beibl. 3, 2)

Blicken wir nun genauer auf die Werbung für Benzolinar: Am Beginn standen vier ordentlich gezeichnete (und signierte) Zeichnungen. Es handelte sich um vier Paare, Freundinnen und Bekannte, Männer und Frauen. Dies erlaubte einen kommunikativen Einstieg, ein Gespräch über das Fleckenwasser, das anschließend in stanzenhafter Form vorgestellt wurde. Benzolinar durfte zwar in „keinem Haushalt fehlen“ (Thorner Ostdeutsche Zeitung 1891, Nr. 159 v. 111. Juli, 4), doch das Zielpublikum war deutlich enger, konzentrierte sich auf wohlsituierte Bürger. Hervorgehoben wurden insbesondere „Militärs und Beamte“, da deren Kleidung immer auch repräsentativ sein musste (Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 57 v. 26. Februar, 4).

Befleckte Männer kaufen Alltagsdrogen (Wochenblatt für das christliche Volk 29, 1891, 487)

Die Zeichnungen präsentierten die gehobenen Stände: Graf und Tänzerin, bürgerliche Ballbesucherinnen, Offiziere sowie modisch gekleidete Bürger am Sonntag. Benzolinar war Hilfsmittel für eine repräsentative Position in der begrenzten Öffentlichkeit von Funktionseliten. Nicht die Oberschicht wurde angesprochen, sondern das breite Bürgertum, für das ein Fleck auf einem Kleidungsstück mehr war als ein Ärgernis. Das Fleckenmittel half eine an sich gesicherte, gleichwohl immer wieder neu zu behauptende Stellung zu bewahren. Dafür schien der an sich hohe Preis angemessen.

Die serielle Bildwerbung hob Benzolinar von Anbeginn gegenüber anderen Fleckenmitteln hervor. Auf der einen Seite hatte Johannes Meister einen werblichen Kunstbegriff geschaffen, der die Aura der Wissenschaft als Markenidentität nutzte, sich abhob von den mit Erfindern oder Firmen verbundenen Konkurrenzprodukten – oder gar von der anonymen Ware lokaler Drogistenmixturen. Auf der anderen Seite nutzte der Leipziger Chemiker eine Sequenz ansprechender Zeichnungen voller Anleihen an die gängigen Karikaturzeitschriften bzw. Illustrierten. Ein einheitlicher, auf allgemeine Marktpräsenz zielender technischer Markenartikel wurde durch eine vielgestaltige Produktpräsentation interessant gemacht. Das war neu, setzte einen neuen Werbestandard für eine Wachstumsbranche der 1890er Jahre.

Parallel nutzte die Firma Wilhelm Roloff jedoch auch andere Werbemittel, etwa die damals gängigen Prospekte (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 144). Wichtig war ebenfalls redaktionelle Reklame, also kleine Geschichten und Texteinschübe im Grenzgebiet zwischen redaktionellen Texten und Inseraten. Sie gaben sich vermeintlich sachlich, mündeten dann jedoch in einen Lobpreis der Ware. Hören wir zu, wie ein eloquentes bürgerliches Publikum angesprochen wurde: „Die chemische Fabrik Wilhelm Roloff in Leipzig bringt seit Kurzem ein neues Fleckenwasser, Benzolinar genannt, in den Handel. Dies Benzolinar übertrifft alle anderen Fleckenmittel. Alle Flecken von Theer, Harz, Oel, Fett, Oelfarbe, Schmutz etc., ausgenommen Tinte und Obstflecken, müssen weichen, und es ist wirklich erstaunlich, wie selbst alte Flecke durch den Gebrauch von Benzolinar verschwinden. Es besteht aus chemischen reinen Producten, die den Stoff etc. nicht im Geringsten angreifen, die zarteste Farbe unbehelligt lassen und keinen Rand beim Abreiben hervorrufen, wie dies bei den meisten Fleckenmitteln der Fall ist. Jede Hausfrau wird sich freuen, damit ein wirklich gutes Mittel in die Hand zu bekommen“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1891, Nr. 67 v. 8. März, 1532). Benzolinar war demnach ein Universalmittel, fast allseits anwendbar. Es war zugleich Qualitätsführer, das beste seiner Art. Die Anwendung schien einfach, Gefahr bestand nicht. Das war wichtig, denn der Umgang mit dem fertigen chemischen Hilfsmittel war angesichts des häuslichen Waffenarsenals von Wasser, Seife und fettlösenden Hilfsmitteln erst zu erlernen. Vertrauen in die moderne Chemie war angesagt, Schaden fast auszuschließen, zumal die Verpackung auch eine Gebrauchsanweisung enthielt.

Benzolinar war relativ teuer, doch gewiss billiger, schneller und weniger aufwändig als eine chemische Reinigung. Reinigungsarbeit wurde, insbesondere bei der Alltagswäsche, zwar vielfach außer Haus erledigt, doch mit dem neuen Fleckenwasser konnte man selbst tätig werden, auf die Fährnisse des Alltags unmittelbar reagieren. Auch wenn die Arbeit idealerweise an ein Dienstmädchen oder einen Burschen delegiert werden konnte, war die bürgerliche Selbstermächtigung durch das neue Präparat doch ein Kernthema in den Werbetexten: „Hier ist ein theueres seidenes Ballkleid durch Bratenbrühe verdorben, ein neuer Rock hat sich in zu inniger Berührung mit einer frisch gestrichenen Thür befunden, da ist ein theueres Kunstwerk mit schmutzigen Händen angegriffen und dadurch unsauber und werthlos geworden, – bei sachkundiger Behandlung mit Benzolinar läßt sich der Schaden bald wieder ausbessern. Schmutzig gewordene Sammetkragen, Sammet, Seide, Aufschläge von Uniformen, Kravatten, seidene Fächer etc. werden, mit Benzolinar behandelt, wieder wie neu, Gold- und Kunstgegenstände in Elfenbein erhalten neues Aussehen, kurz, Benzolinar wird sich in jedem Haushalt bald unentbehrlich machen“ (Danziger Zeitung 1891, Nr. 18795 v. 11. März, 6).

Vorteile auf den Punkt gebracht (Münsterischer Anzeiger 1891, Nr. 171 v. 30. Juni, 3)

Derartige Reklametexte atmeten noch den Geist der Werbewelt vor der allgemeinen Visualisierung in den 1890er Jahren. Doch die Texte änderten sich ebenfalls. Wilhelm Roloff verdichtete die Kernbotschaften (und den Lobpreis) seit Mitte 1891 in einem immer wieder reproduzierten Kurztext, der die Vorteile des eigenen Fleckenwassers auf den Punkt brachte (Dortmunder Zeitung 1891, Nr. 176 v. 30. Juni, 3; Neusser Zeitung 1891, Nr. 143 v. 30. Juni, 4; General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1891, Nr. 183 v. 5. Juli, 19; Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 1182 v. 5. August, 4). Der Inhalt wurde lokal leicht variiert, die Umrahmungen und Hervorhebungen ebenso. Doch der Kurztext half, die parallel weiter geschalteten Bildanzeigen preisgünstig zu ergänzen. Das Versprechen war eindeutig, unterstrich den Anspruch der Qualitätsführerschaft: „Benzolinar funct[ioniert] wo andere Mittel versagten“ (Münchner Neueste Nachrichten 1891, Nr. 222 v. 17. Mai, 11).

Die Markteinführung von Benzolinar war einerseits erfolgreich, denn anders als etwa das oben vorgestellte Universal-Fleckenwassers von Albert Roebelen verschwand es nicht nach nur wenigen Monaten vom Markt. Anderseits aber waren die Absatzchancen doppelt begrenzt: Auf der einen Seite sozial, denn das bürgerliche Zielpublikum mochte tonangebend sein, doch Massenkonsum war damit kaum zu erreichen. Auf der anderen Seite war die Preisdifferenz zur Konkurrenz, zumal zu den lokalen Drogeriemixturen so groß, dass ein Massengeschäft nicht zu erwarten war. Das mochte bei pharmazeutischen Geheimmitteln funktionieren, deren hohe Preise möglichst viel Gewinn in einer nur kurzen Zeitspanne abschöpfen wollten, da ihre begrenzte Wirksamkeit rasch bekannt war und es kaum Nachfolgebestellungen gab. Benzolinar aber war als seriöses Dauerangebot gedacht. Entsprechend senkte die Firma Wilhelm Roloff scheinbar die Preise: An die Seite der Originalflasche für eine Mark trat ab Spätsommer 1891 eine kleinere Flasche für 50 Pfennig. Damit reduzierte man die Kaufhürde erheblich, bot auch weniger solventen Kunden eine Kaufgelegenheit. Auf der anderen Seite blieben die Handelsspannen immer noch hoch genug, um die Drogisten für den Verkauf des Fertigproduktes zu motivieren.

Rettung durch Benzolinar: Mal vertikal, mal horizontal (Frankfurter Zeitung 1891, Nr. 329 v. 25. November, 1. Morgenbl., 4 (l.); Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 219 v. 17. September, 4)

Die neue Preisgestaltung wurde durch zwei neue, deutlich kleinere Werbeabbildungen kommuniziert. Sie knüpften an die Einführungsanzeigen unmittelbar an: Neuerlich Paare, neuerlich ein Gesprächseinstieg, neuerlich Produktinformation, Preise und der Name der Firma. Doch die Anzeige war geschrumpft, das Gespräch war eine Ansprache, die Kernbotschaft zurückgefahren. Das war deutlich preiswerter, zumal die neuen Motive sowohl horizontal als auch vertikal eingesetzt werden konnten. Das zweite Motiv war auf Weihnachten zugeschnitten, fand sich aber auch noch im neuen Jahr. Es enthielt zudem einen Verweis auf eine der damals unabdingbaren Medaillen der teils eigens für diesen Zweck durchgeführten Gewerbeausstellungen – ohne sie irgendwie genauer zu spezifizieren.

Ein praktisches Geschenk zu Weihnachten (Echo der Gegenwart 1891, Nr. 290 v. 10. Dezember, 8 (l.); Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 289 v. 8. Dezember, 6)

In den Folgejahren 1892/93 prägten vornehmlich drei Motive die Werbung für Benzolinar: Die Textanzeige mit den Hauptvorteilen, die Bildanzeige mit dem Leutnant und seinem Diener und nun auch der gezielte kommerzielle Flankenschutz durch Werbeanzeigen lokaler Drogerien. Sie folgten einheitlichen Werbetexten aus Leipzig, präsentierten aber lediglich Produkt und Preis(e), verzichteten auf Abbildungen, lenkten das Kaufinteresse direkt auf den benannten Drogisten.

Benzolinar-Werbung lokaler Drogisten (Emscher Zeitung 1891, Nr. 46 v. 24. Februar, 3 (l.); Mindener Zeitung 1891, Nr. 84 v. 11. April, 3 (o.); Lenne-Zeitung und Hohenlimburger Wochenblatt 1893, Nr. 47 v. 25. April, 4 (M.); Bautzener Nachrichten 1891, Nr. 99 v. 1. Mai, 7)

Ergänzt wurde dies durch kleinere redaktionelle Texte, die – wie schon die oben gezeigte Weihnachtsanzeige – insbesondere dem Vorwurf entgegentraten, dass Benzolinar kein erstklassiges Spezialprodukt, sondern lediglich ein parfümiertes Benzin sei (Danziger Zeitung 1891, Nr. 19250 v. 8. Dezember, 3; Die Reform 1891, Nr. 295 v. 18. Dezember, 7). Die fehlende chemische Deklaration des Geheimmittels führte nämlich Ende 1891 zu einer existenzbedrohenden Krise, auf die erst werblich, dann aber auch rechtlich geantwortet wurde.

Qualitätsversicherungen (Posener Zeitung 1891, Nr. 858 v. 8. Dezember, 7)

Benzolinar: Zusammensetzung und Bewertungen

Johannes Meister hat die genaue chemische Zusammensetzung seines Fleckenwassers nie veröffentlicht. Die Werbung gab lediglich Wertungen ab, sprach unspezifisch vom besten, „alle anderen übertreffenden Fleckenmittel“ (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1891, Nr. 63 v. 17. März, 10). Damit ließ sich die Öffentlichkeit, zumal die wissenschaftliche, jedoch nicht stillstellen. Bei chemisch-technischen Präparaten war eine fachliche Kontrolle üblich, zumal bei Waren ohne Patentanspruch. Das diente nicht nur einer möglichen Gefahrenabwehr, sondern war eine Absicherung gegen Übervorteilung und Betrug. Gesichertes Produktwissen half den Drogisten zudem, einschlägige Angebote eigenständig herzustellen und preiswerter zu verkaufen.

Entsprechend war es nicht verwunderlich, dass bei der Sitzung der Polytechnischen Gesellschaft zu Berlin am 5. November 1891 die Frage debattiert wurde: „Woraus besteht das jetzt so vielfach als Fleckwasser angezeigte Benzolinar?“ Chemiker waren nicht zugegen, Analysen waren nicht angefertigt worden. Doch kein geringerer als Emil Blenck (1832-1911), Direktor des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus in Berlin, ergriff das Wort, erzählte seine Erfahrungen: “Vor einiger Zeit bat mich meine Frau, ihr von dem neuen gepriesenen Reinigungsstoffe etwas zu besorgen. Ich kaufte zunächst eine kleine Flasche bei einem mir bekannten Droguisten. Auf meine Vorstellung, daß das Fabrikat furchtbar teuer sei, ob er mir dasselbe nicht billiger liefern können, erwiderte derselbe achselzuckend: Nehmen Sie Benzin und kleben Sie das Etiquett von Benzolinar darauf. Ob man hieraus schließen darf, daß der Unterschied zwischen beiden Fleckmitteln lediglich in der Ausstattung der Flasche und im Preise besteht, muß ich anheimstellen“ (Polytechnisches Centralblatt 4, 1891/92, 77). Damit trat er eine Lawine los, denn die pharmazeutische Fachliteratur griff diese Aussage begierig auf: „Benzolinar soll nach Blenck nichts als Benzin sein“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 544). Die Geschichte gewann rasch Fahrt, auch versierte Wissenschaftler fragten nicht nach der Wissensgrundlage, sondern ergänzten das eine oder andere: „Wie der Name schon sagt, ist im Benzolinar die Hauptsache das Benzin. Das Andere wird Nebensache sein“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 18, 1891, 382). Die Produktwerbung wirkte wie ein Brandbeschleuniger einschlägiger Nachrichten: „Benzolinar, auch vielfach angekündigt, soll ein gut gereinigtes Benzin sein“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 32, 1891, 742). Und man übernahm auch ohne genauere Überprüfung einschlägige Presseberichte, etwas der Prager Rundschau: „Benzolinar, ein von Deutschland aus mit amerikanischer Reklame in den Handel gesetztes Fleckwasser, ist nach Geheimrath Blenk [sic!] weiter nichts als gewöhnliches reines Benzin“ (Seifensieder-Zeitung 18, 1891, 389; analog Rundschau. Wochenschrift für die Interessen der Pharmazie, Chemie, und der verwandten Fächer 17, 1891, 970). Schlimmer noch machte es die an sich für ihre Seriosität bekannte Berliner Börsen-Zeitung, deren Berichterstatter Blencks Aussage pointiert veränderte: „Benzolinar, das neue vielfach angepriesene Fleckwasser, das zum Preise von 1 Mk. in eleganten Flaschen verkauft wird, ist, wie Geheimrath Blenk [sic!] in der Polytechnischen Gesellschaft constatirte, nichts weiter wie ganz gewöhnliches Benzin, dessen Werth natürlich weit geringer ist“ (Berliner Börsen-Zeitung 1891, Nr. 521 v. 7. November, 8).

Da half es dem wichtigsten Statistiker Preußens nicht, dass er in der Folgesitzung am 19. November 1891 versuchte, die Geschehnisse gerade zu rücken: Die spekulative Äußerung stamme von seinem Drogisten, sei eine Mutmaßung, nicht mehr. Als chemischer Laie könne er nur dazu aufrufen, Benzolinar zu gebrauchen, um seinen Wert praktisch zu erkunden (Polytechnisches Centralblatt 4, 1891/92, 82). Das war aber alles zu spät, denn Johannes Meister hatte sich bereits zur Wehr gesetzt: Sein Einspruch wurde am 10. November in Deutschlands wichtigster Wirtschaftszeitung veröffentlicht: „Nach der uns mitgetheilten Analyse enthält das Benzolinar durchaus kein Benzin, und dies auch der Polytechnischen Gesellschaft darzuthun, hat die genannte Fabrik die geeigneten Schritte eingeleitet“ (Berliner Börsen-Zeitung 1891, Nr. 525 v. 10. November, 7). Bleck wurden gleich zwei chemische Analysen zugesandt, eine vertraulich, mit der genauen Zusammensetzung, eine zweite mit einer Analyse des Leipziger Pharmazeuten und Nahrungsmittelchemikers Fritz Elsner (1842-1921), dessen 1880 erstmals erschienene „Praxis des Nahrungsmittel-Chemikers“ ein Standardwerk seiner Zeit war (Hermann Schelenz, Geschichte der Pharmazie, Berlin 1904, 699-700). Das Ergebnis war eindeutig, Benzolinar enthielt kein Benzin. Die Werbung der Firma Wilhelm Roloff verkündete dies auch mit der ihr zur Verfügung stehenden Werbemacht.

Die Gegenmaßnahmen griffen jedoch zu spät. Selbst Fachjournale, die sich stets ostentativ vom verlogenen Gebaren der Geheimmittelanbieter abhoben, verbreiteten auch im neuen Jahr die Falschmeldung, passte sie doch in das von ihnen erwartete Muster (Chemisch-technisches Repertorium [30,] 1891, Bd. 2, Berlin 1892, 344; Industrie-Blätter 29, 1892, 53). Man traf sich vor Gericht: Johannes Meister hatte gegen Blenck, den Redakteur der Berliner Börsen-Zeitung Dr. Theobald Konewka und den Berichterstatter Alfred Lange Privatbeleidigungsklage angestrengt. Blenck bedauerte sein Versehen, verwies jedoch auf die verfehlte Berichterstattung und seine nach der Pressemeldung unmittelbar an die Börsenzeitung geschriebene Berichtigung. Lange „erklärte, daß er die Aeußerung des Geheimraths Blenck nur dem Sinne und nicht dem Wortlaute nach wiedergegeben habe, wie ein Berichterstatter dies auch nicht anders könne“ (Das ‚Benzolinar‘ vor Gericht, Internationale Pharmaceutischer General-Anzeiger 1892, Nr. 17, 176). Und auch Konewka sah sich ohne Schuld, denn er habe Lange vertrauen müssen. Dennoch wurde der Prozess für Johannes Meister zum PR-Desaster. Der an sich recht wirtschaftsfreundliche Gerichtschemiker Carl Bischoff (1851-1912) sagte aus, „daß Benzolinar kein einheitliches Produkt, sondern eine Mischung aus einem Theile Aethyläther, vier Theilen Steinkohlen-Benzol und einigen Tropfen Birnenäther sei. Benzin sei es nicht, sondern ein Produkt, welches diesem Stoffe ähnlich sei und wohl auch kaum hinsichtlich der Leistungsfähigkeit auf einer höheren Stufe stehe. Wenn es Flecken bestimmter Art leichter entferne als Benzin, so sei auch umgekehrt dasselbe der Fall. Der Werth einer Flasche Benzolinar, die mit einer Mark verkauft werde, sei höchstens auf 25 Pfennige zu bemessen“ (Vom Benzolinar, Berliner Tageblatt 1892, Nr. 289 v. 10. Juni, 4). Ein zweites Gutachten des Gerichtsmediziners Paul Lohmann soll „ungünstiger“ (Vorwärts 1892, Nr. 134 v. 11. Juni, 7) gelautet haben, der Inhalt wurde jedoch nicht publik. Der Prozess endete ohne Urteil, wahrscheinlich mit einem Vergleich. Johannes Meister wurde einerseits bestätigt, denn sein Produkt konnte nicht mit Billigprodukten auf eine Ebene gestellt werden, die zwar wie das Brönnersche Fleckenwasser eine lange Historie besaßen, die in den frühen 1890er Jahren aber dem Leistungsstandard der Branche nicht mehr entsprachen. Auf der anderen Seite verdeutlichten die quasi amtlichen Gutachten, dass Benzolinar ein hochprofitables Produkt mit überschaubarem Materialwert war. Zu beachten ist dabei, dass die Grundstoff Benzol wahrscheinlich im Roloffschen Hauptbetrieb anfiel, dass es sich hierbei also um eine Nebenverwertung des Dachpappengeschäftes handelte. Auch wenn man berücksichtigen muss, dass die gängigen Handelsspannen für Groß- und Einzelhandel wohl bei jeweils etwa 20-30 Prozent lagen, so betrug der Nettoertrag des Fleckenwassers nach Abzug der Herstellungs-, Ausstattungs- und Werbekosten doch ebenso 20 bis 30 Prozent des Verkaufspreises. Ein Fortgang des Prozesses hätte eventuell mit einer erfolgreichen Beleidigungsklage und einer symbolischen Geldstrafe geendet, doch der durch die Falschmeldungen entstandene Renommeeschaden konnte nach damaliger Rechtslage schlicht nicht angemessen entschädigt werden.

Preiswertere Substitute für Benzolinar aus der Drogerie (Sächsischer Landes-Anzeiger 1891, Nr. 275 v. 24. November, 3)

Immerhin wurde die falsche Zusammensetzung nach dem Prozess zumeist korrigiert: „Benzolinar, welches für gut gereinigtes Benzin gehalten wurde, ist nach einer Analyse von Bischoff eine mit Birnäther parfumirte Mischung von Schwefeläther (Aethyläther) 1:4 Steinkohlenbenzol“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 19, 1892, 471, ähnlich Rundschau. Wochenschrift für die Interessen der Pharmazie, Chemie, und der verwandten Fächer 18, 1892, 541). Eine solche korrigierende Rücknahme blieb allerdings eine Ausnahme, denn die meisten Fachjournale meldeten schlicht, dass ein neues Gutachten vorliege – und berichteten dessen Resultate (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 33, 1892, 546; Die Heimat 18, 1893, Bd. II, Nr. 49, 783; Eduard Hahn und J[ohann] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel mit Angabe ihrer Zusammensetzung, 5. völlig umgearb., verm. u. verb. Aufl., Berlin 1893, 276). Die breite Aufmerksamkeit in der Fachpresse führte zugleich dazu, dass über die Zusammensetzung von Meisters Fleckenwasser nun auch im Ausland berichtet wurde (The Pharmaceutical Era 8, 1892, 265; The Western Druggist 14, 1892, 339; De Nijverheid 1, 1893, 285). Dennoch hielten Falschmeldungen an: Im Jeverschen Wochenblatt hieß es weiterhin: „Das mit so großer Reklameanstrengung in den Handel gebracht, mit dem Phantastenname Benzolinar belegte Fleckenwasser ist im wesentlichen nichts weiter als theueres Benzin“ (Jeversches Wochenblatt 1893, Nr. 63 v. 16. März, 3). Fachjournale griffen derartige Meldungen weiterhin auf, schürten Unsicherheit aufgrund einander widersprechender Aussagen: „Wir selbst haben das köstliche Benzolinar noch nicht gesehen, brauchen es auch nicht zu sehen, denn die Art und Weise, wie dieses in den Mantel eines Geheimmittels gehüllte Präparat in jedem Käse- und Wurstblättchen den Offiziersburschen und den ‚verehrten Hausfrauen‘ empfohlen wird, ist nicht geeignet, Vertrauen zu erwecken“ (Deutsche Färber-Zeitung 28, 1892, 174). Offenkundig war die veröffentlichte Meinung komplexer als die simple, wissenschaftlich immer wieder herausgestrichene Gegenüberstellung von ruchlosen Geheimmittelproduzenten und hehrer Wissenschaft.

Unabhängige Untersuchungen aus dem Jahre 1896 führten schließlich zu leicht modifizierten Ergebnissen. Benzolinar bestand demnach aus etwa 89 Prozent Benzol, zehn Prozent Essig- und einem Prozent Birnenäther (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 37, 1896, 657; Neueste Erfindungen und Erfahrungen 23, 1896, 610). Drogisten wurde geraten, ihre Fleckenwassersubstitute im Verhältniss 80:18:2 zu mischen (Karl Fr. Töllner, Vorschriften-Buch für Apotheker, Drogisten, chemische Fabriken und verwandte Gewerbe-Betriebe, Strassburg i.E. 1899, 23; Neueste Erfindungen und Erfahrungen 26, 1899, 509).

Fasst man diese Debatten zusammen, so zeigt sich ein tendenziell paradoxes Bild. Benzolinar war ein eher seltenes Beispiel für eine verfehlte Berichterstattung just durch die wissenschaftlich gebildeten Kontrolleure der Geheimmittelindustrie. So berechtigt deren Arbeit und deren stete Benennung von Betrug, Fälschung und Unlauterkeit auch war, so waren sie selbst keineswegs fehlerlos. Ähnlich wie viele der Geheimmittelproduzenten scheuten sie Selbstkritik, benannten eigene Fehler nicht mit der gleichen Emphase wie die der Inkriminierten. Das Geheimmittel Benzolinar entpuppte sich jedenfalls als ein vorrangig aus den Nebenprodukten der Teerproduktion bestehendes und dann aromatisiertes Präparat. Es war gewiss kein wirklich innovatives Produkt, jedoch ein wirksames Hilfsmittel für den bürgerlichen Haushalt. Als Convenienceprodukt beendete es die häusliche Zubereitung von Fleckenmitteln, die insbesondere in weniger gut gestellten Haushalten aber weiter praktiziert wurde. Unabhängige Bewertungen sind selten, doch diese bescheinigten dem Fleckenwasser eine ordentliche Wirkung (Deutsche Malerzeitung 1895/96, Nr. 8, 78). Die Gewinnspanne war relativ hoch, war aber keineswegs exorbitant. Genaue Angaben sind kaum zu treffen, doch ein Erlös von 50 Prozent des Verkaufspreises entsprach durchaus dem Branchendurchschnitt (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 552-558, auch mit vertiefender Literatur). Guter Absatz vorausgesetzt, führte dies zu hohen Einkommen. Angesichts der auch damals schon bestehenden hohen Flopraten handelte die Firma Wilhelm Roloff jedoch durchaus im Einklang mit der Preisgestaltung der Branche. Benzolinar konnte sich jedenfalls trotz der Debatten über seine Zusammensetzung als ein Standardprodukt etablieren. Das spiegelte auch sein Auftauchen in einem Fremdwörterlexikon der Zeit (Dr. Joh. Christ. Aug. Heyses allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch, neu bearb. v. Otto Lyon, 17. Ausg., Hannover und Leipzig 1896, 107).

Auslandsmärkte

Benzolinar wurde im Deutschen Reich produziert. Doch es wurde auch jenseits der Reichsgrenzen vermarktet, war Teil der wachsenden Anstrengungen der deutschen Konsumgüterindustrien, auch im Ausland erfolgreich zu sein. Die günstigsten Rahmenbedingungen bot gewiss der Handelsverkehr mit der Habsburger Monarchie, denn der 1881 abgeschlossene und zehn Jahre später nochmals verlängerte Handelsvertrag hatte nicht nur Einfuhr-, Ausfuhr- oder Durchfuhrverbote streng begrenzt, sondern auch die Zölle auf die meisten Drogeriewaren abgeschafft.

Marktanalogon Österreich-Ungarn: Aufbau eines Vertriebsnetzes (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 158)

Entsprechend begann die Firma Wilhelm Roloff schon im März 1891 mit dem Aufbau eines Vertriebsnetzes in Österreich-Ungarn. Dazu nutzte sie die auch im Deutschen Reich verwandten Anzeigen, auch lokal rühmten Annoncen schon früh „das berühmte Fleckenwasser ‚Benzolinar‘“ (Innsbrucker Nachrichten 1891, Nr. 80 v. 10. April, 13). Gleichwohl verging fast ein halbes Jahr, ehe mit der Budapester Medizinaldrogerie Leopold & Franz Reiner ein Generalvertreter gefunden war (Fremden-Blatt 1891, Nr. 199 v. 22. Juli, 8). Das Deutsche Reich bot die Blaupause für die Marktpräsenz: Der Preis der Originalflasche Benzolinar lag anfangs bei 60 Kreuzern (Budweiser Zeitung 1891, Nr. 55 v. 17. Juli, 112), analog zum Deutschen Reich wurden jedoch 1891 auch kleinere Flaschen zum halben Preis angeboten (Neue Freie Presse 1893, Nr. 10343 v. 10. Juni, 16). Die Zeitungsanzeigen konzentrierten sich vorrangig auf die größeren Metropolen, zumal auf Wien, Prag und Budapest (Neue Freie Presse 1893, Nr. 10343 v. 10. Juni, 16; Prager Tagblatt 1893, Nr. 125 v. 6. Mai, 28; Pester Lloyd 1893, Nr. 130 v. 1. Juni, 7). Eine Besonderheit Österreichs war gewiss die recht hohe Bedeutung sog. Empfehlungen, mit denen redaktionelle Textreklame erweitert wurde. Darin wurde der Name des importierten Fleckenwassers immer mal wieder erwähnt, mögliche Kauflaune so gestärkt (Grazer Tagblatt 1892, Nr. 119 v. 29. April, 11; ebd. Nr. 245 v. 4. September, 13; ebd. 1893, Nr. 50 v. 19. Februar, 8; ebd. 1894, Nr. 245 v. 6. September, 6). Illustrierte Anzeigen erschienen bis mindestens 1897, wobei das Militär eine wichtige Zielgruppe blieb (Neue Armee-Zeitung 1897, 563).

Polnischsprachige Benzolinar-Werbung in Cisleithanien (Czas 1891, Nr. 156 v. 12. Juli, 6 (l.); Gazeta Narodowa 1891, Nr. 158 v. 3. Juli, 4 (o.); ebd. Nr. 268 v. 8. November, 4)

In der Vielvölkermonarchie erschienen Benzolinar-Anzeigen in vielen Sprachen, oben sehen Sie polnischsprachige Beispiele aus Krakau. Die deutschen Anzeigen wurden dazu einfach übersetzt, einzig die Ansprechpartner variierten. Wilhelm Roloff machte keine Anstrengungen für eine den Besonderheiten des Habsburgerreiches entsprechendere Gestaltung der Anzeigen.

Übersetzungen und ein anderes Generaldepot: Benzolinar-Werbung in der Schweiz (La Tribune de Genève 1891, Nr. 296 v. 16. Dezember, 4 (l.); Neue Zürcher-Zeitung 1891, Nr. 334 v. 30. November, 8)

Das galt auch für die Schweiz, wo die Importware aufgrund von Zöllen und einer gesonderten Monopolgebühr jedoch deutlich teurer war (Chemiker-Zeitung 16, 1892, 87; Austria 43, 1891, 516). Die nicht allzu zahlreichen Anzeigen wurden vorrangig Ende 1891 geschaltet, eine nachhaltige Marktpräsenz ist trotz eines in Kreuzlingen, just in der Nachbarschaft von Konstanz gelegenen Generaldepots nicht nachweisbar (Der Bund 1891, Nr. 332 v. 1. Dezember, 4). Der Markteintritt erfolgte also deutlich später als in Österreich-Ungarn, endete aber nach kurzer Zeit.

Auch in Schweden konnte sich Benzolinar nicht längerfristig etablieren. Die frühen Anzeigen variierten zwar leicht, doch illustrierte Anzeigen hatte der Generalagent nicht gewagt – obwohl diese sich im schwedischen Markt damals zunehmend etablierten (Norrtelja Tidning 1891, Nr. 79, 4; Dagens Nyheter 1891, Nr. 8145 v. 10. Oktober, 3; Arvika Tidning 1891, Nr. 47A v. 20. November, 4; Sydsvenska Dagbladet 1891, Nr. 544 v. 23. November, 4). Insgesamt war der Exporterfolg der Firma eher begrenzt. Österreich-Ungarn war eine erfolgreiche Ausnahme, das Deutsche Reich blieb der zentrale Absatzraum.

Fortgesetzter Wandel: Werbemittel seit 1893

In der Zwischenzeit hatten sich die Absatzwege der Firma Wilhelm Roloff etabliert, zudem erweitert. Die Anzeigen verwiesen bereits auf Parfümhandlungen, ebenso dürfte das Fleckenwasser auch von großstädtischen Friseurgeschäften geführt worden sein. Zudem fand es Eingang in die Sortimente schnelldrehender Bazare und größerer Versandgeschäfte (Lindauer Tagblatt 1891, Nr. 148 v. 30. Juni, 4; Deutsche Verkehrs-Blätter und Allgemeine Deutsche Eisenbahn-Zeitung 12, 1896, 140). In der selbstpreisenden Sprache der Werbung hieß dies: „Benzolinar […] hat sich in allen Gesellschaftsklassen eingeführt“ (Fliegende Blätter 98, 1893, Nr. 2484, Beibl. 3, 4).

Der Traum vom Markenartikel für alle: Vom Globus bis zum herrschaftlichen Haushalt (Über Land und Meer 71, 1894, 202 (l.); Illustrirte Zeitung 101, 1893, 569)

Das war jedoch Wunsch, keine genauer belegte Marktrealität. Nach wie vor adressierte die Werbung vornehmlich das etablierte Bürgertum und das Militär. Der kurze Austausch zwischen Leutnant und Burschen prägte die Werbepräsenz 1892/93. Dann aber veränderte sie sich neuerlich. Einerseits präsentierte das Leipziger Unternehmen neue Werbezeichnungen. Diese spannten einen breiten Bogen, von der herrschaftlichen Dienerschaft bis hin zur vermeintlich globalen Nutzung und Weltgeltung des Benzolinars. Ebenso wichtig war der Übergang zur Werbung mit Empfehlungsschreiben, sog. Zeugnissen. Dies war typisch für pharmazeutisch-technische Geheimmittel, während seriöse Anbieter zurückhaltender agierten. Die Benzolinar-Werbung entsprach zunehmend dem Fremdbild des Produkts, das die Kritiker während der Debatte über die Zusammensetzung 1891/92 gezeichnet hatten. Immerhin, die beiden in den Anzeigen zu Wort kommenden Firmen existierten, waren respektierte Anbieter von Handschuhen und Kleiderstoffen. Die Zeugnisse erlaubten jedenfalls, bestimmte Vorzüge des eigenen Produktes stärker zu akzentuieren.

Lasst andere für mich sprechen: Empfehlungsschreiben für Benzolinar (Hamburger Fremdenblatt 1893, Nr. 138 v. 15. Juni, 12 (o.); Münchner Neueste Nachrichten 1893, Nr. 293 v. 29. Juni, 6 (M.); Posener Zeitung 1893, Nr. 491 v. 16. Juli, 12)

Wilhelm Roloff versuchte auf diese Art, die Nutzenperspektive der Konsumenten einzunehmen, also die Frage zu beantworten, warum sie ein recht teures Produkt dieser Art kaufen sollten. Das zeigte sich noch deutlicher in drei Textanzeigen, die 1893/94 zum Rückgrat der Werbepräsenz wurden: Benzolinar wurde als Spezialprodukt für teurere Textilien und Handschuhe beworben, Woll- und Seidenwaren standen dabei im Mittelpunkt. Empfehlungsschreiben bestätigten diesen Nutzen.

Diese Textanzeigen wurden ab 1894 wiederum von Bildanzeigen abgelöst. Einerseits lenkte man den Blick direkt auf das Produkt, folgte damit einer Erfolgsstrategie des Mundwassers Odol oder der Waschmittelanbieter Sunlicht/Sunlight, Luhns oder Dr. Thompson. Die Ware trat gegenüber dem Produzenten zurück, gewann eine eigene kommerzielle Identität. Das galt bereits für die Spirituosenbranche, für Maggis Würze, Nestles Kindermehl oder Kosmetika.

Die Warenverpackung als Werbeträger (Von links: Donau-Zeitung 1892, Nr. 186 v. 19. August, 6; Allgemeine Zeitung 1893, Nr. 92 v. 2. April, 8; Illustrirte Zeitung 101, 1893, 152; Der Bazar 39, 1893, 337)

Anderseits bediente man auch tradierte Bildwelten der Frauenillustrierten: Benzolinar wurde als Hilfsmittel der Mutter angepriesen, mit seiner Hilfe hielt man den Schaden kleckernder Kinder im Zaum. Von einer gezielten Definition und Ansprache neuer Zielgruppen konnte dabei aber noch nicht die Rede sein, eher um einen netten, freundlichen Hingucker. Nach mehrjähriger Marktpräsenz präsentierte man jedenfalls stolz „ein vorzügliches, langjährig erprobtes Fleckenmittel“ (Neue Freie Presse 1897, Nr. 11819 v. 19. Juli, 7). Doch neuer Werbebilder entwickelte man nicht mehr. Benzolinar wurde ab 1896 nur noch von Abnehmern beworben, vorrangig in breiter gehaltenen Anzeigen einzelner Drogerien. Die werbliche Markenpräsenz ebbte deutlich ab, blieb aber zumindest bis kurz vor der Löschung der Marke 1908 bestehen (Wildbader Chronik 1906, Nr. 111 v. 20. September, 4).

Die Marke bewirbt die Marke; die Graphik bewirbt alle Absatzmärkte (Über Land und Meer 72, 1894, 788 (l.); Fliegende Blätter 103, 1895, Nr. 2611, Beibl. 4, 5)

Wachsende Konkurrenz: Der Zwang, Gewinne abzuschöpfen

Es waren vor allem drei Gründe, warum Benzolinar ab 1896 eine auslaufende Marke wurde. Erstens schliffen sich die bekannten First-Mover-Advantages ab, also die Vorteile einer Produktpioniers. Neben Benzolinar traten zunehmend ähnliche, mit breit gestreuter Werbung angepriesene Produkte, allesamt proklamierend, das beste Fleckenmittel zu sein.

August Falks Fleckenpaste Aphanizon (Fliegende Blätter 103, 1895, Nr. 2606, Beibl. 3, 2)

Im März 1893 wurde in Österreich Aphanizon eingeführt, dessen Werbung sich visuell offenkundig an der Benzolinars orientierte (Publication des Central-Marken-Registers für das Jahr 1893, Wien 1895, 315). Es handelte sich um eine „automatisch wirkende Fleckenreinigungs-Paste“, die als trockener Brei auf die Flecken gestrichen, trocknen gelassen und dann ausgebürstet wurde (A. Schneider, Aphanizon und Pasta Magica, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 36, 1895, 347). Der griechisch tönende Markenname stand für Wissenschaftlichkeit, die Werbung war trommelnd, erfolgte auch über redaktionelle Reklame („Aphanizon.“ Ein neuer Hausfreund, Das Echo 13, 1894, 1833) und kostenlose Probepackungen. Der Wiener Chemiker August Falk, der vor allem durch seine kurz vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten entnikotinisierten Zigaretten in Erinnerung geblieben ist, setzte allerdings nur auf zwei Werbezeichnungen, also nicht auf den für Benzolinar üblichen Wechsel. Trotz unterschiedlicher Zusammensetzung und Konsistenz standen beide Fleckenmittel in unmittelbarem Wettbewerb (Illustrirte Zeitung 104, 1895, 721). Bezeichnenderweise wurde obige Anzeige nach einigen Jahren als Ausdruck künstlerischer Werbung gefeiert (Philipp Rath, Künstlerische Inseraten-Reklame, Zeitschrift für Bücherfreunde 2, 1898/99, 506-519, hier 514-515). So wurden Übernahmen und Anleihen unkundig geadelt.

Massive Werbepräsenz im Gefolge der Hühneraugenringe: A. Wasmuths Opal (Fliegende Blätter 105, 1896, Nr. 2668, Beibl. 3, 2)

Eine deutliche variablere und vor allem von Zeichnungen geprägte Werbung charakterisierte Opal, dem ebenfalls besten Fleckenwasser der Welt. Es wurde 1896 eingeführt, die 24-teilige Serie einfacher Textanzeigen im „Vorwärts“ verwies auf einen bisher unbekannten Werbeaufwand. Produzent August Wasmuth hatte zuvor schon mit seinen nicht sonderlich wirksamen Hühneraugenringen Werbegeschichte geschrieben, doch mit „Opal in der Tonne“ präsentierte die Firma ein Fleckenwasser von äußerst fraglichem Wert: Es müsse, „bei seinem geringen Gehalt an eigentlich wirksamer Substanz gegenüber der großartigen Reclame als ein sehr geringes und nichts weniger als allgemein anwendbares Fleckenwasser bezeichnet werden“, so die Badisch chemisch-technische Prüfungs- und Versuchsanstalt (Deutsche Färber-Zeitung 32, 1896, 545). Das Geheimmittel verschwand rasch vom Markt.

Regionale Konkurrenz: Fleckenreinigungsmittel Purin von Berndt aus Berlin; Furor Fleckenwasser von Oswald Rudolph aus Liegnitz (Internationaler Pharmaceutischer General-Anzeiger 1891, Nr. 19, 203 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 2 v. 3. Januar, 7)

Opal setzte dennoch einen neuen Werbestandard, dem nur mit hoher Kapitalkraft zu genügen war. Parallel aber wurde die Marktstellung von Benzolinar durch zahlreiche kurzlebige und meist nur regional verfügbare Markenartikel angegriffen. Angesichts der noch geringen Markenloyalität dürften diese immer wieder neu mit dem Anspruch des Besten angekündigten Präparate das Geschäft von Wilhelm Roloff beeinträchtigt haben – zumal sie vielfach preiswerter waren, teils den Wiederverkäufern auch bessere Konditionen boten. Dennoch war Benzolinar bis Mitte der 1890er Jahre nicht nur ein Pionier der Branche, sondern zugleich auch Referenzprodukt. Schon 1894 warb das Electric-Fleckenwasser mit dem Hinweis „bedeutend besser als Benzin und Benzolinar“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1893, Nr. 10 v. 12. Januar, 4). Weitere Markenartikel bezogen sich in ihrer Werbung unmittelbar auf das Leipziger Fleckenwasser, grenzten sich von diesem ab, betonten ihre Vorzüge, ihre größere Preiswürdigkeit.

Abgrenzung zum Referenzprodukt Benzolinar: Koch’s Benzinol und das Viktoria-Fleckenwasser (Tag- und Anzeigeblatt 1894, Nr. 22 v. 28. Januar, 3 (l.); Der Zeitungs-Bote 1896, Nr. 74 v. 27. Juni, 4)

In der Werbung der lokalen Drogerien war Benzolinar entsprechend stetig präsent, war jedoch umgeben von einer wachsenden Zahl einschlägiger Konkurrenten. Diese Anzeigen verwiesen einerseits auf die weiterhin hohe Bedeutung von lokalen Mixturen der Drogisten. Anderseits gab es eine wachsende Zahl spezialisierter anonymer Angebote, für Weißzeug etwa das Fleckenwasser „Schneeweiß“ oder für Vorsichtige das Fleckenmittel „Feuersicher“. Benzolinar stand für die wachsende Bedeutung von Universalmitteln, doch zugleich fächerte sich der Markt durch Spezialangebote weiter auf (Würzburger Stadt- und Landbote 1898, Nr. 66 v. 23. März, 8). Dies stellte auch in Wachstumsmärkten neue unternehmerische Aufgaben.

Benzolinar als Teil eines wachsenden Angebotes (General-Anzeiger für Essen und Umgegend 1895, Nr. 165 v. 22. Juli, 6 (l.); ebd. 1899, Nr. 65 v. 17. März, 4 (r.); Hagener Zeitung 1896, Nr. 172 v. 24. Juli, 4)

Nachläufer: Das Leipziger Putzwasser

Der zweite Grund für das Auslaufen der Marke Benzolinar dürfte im Scheitern einer Dachmarkenstrategie gelegen haben. In den 1890er Jahren entstand nicht nur eine größere Zahl von Waschmittelanbieter, die angesichts der nur geringen Unterschiede ihrer Produkte versuchten, diese mit Hilfe von Werbung voneinander abzuheben. Ähnliches erfolgte auch im Bereich der Reinigungsmittel. Nicht nur Fleckenmittel, sondern auch Schuh- und Ledercreme, Möbel- und Ofenpolituren, Bohnerwachs und Metallputzartikel bestanden aus ähnlichen und überlappenden Rohmaterialien, wurden zugleich allesamt über die gleichen Absatzketten vermarktet. Da lag es nahe, die Rohwaren in einer Firma in größerem Umfang – und damit billiger – einzukaufen, zugleich aber Marktmacht aufzubauen, um die Handelsmargen zugunsten eines marktrelevanten Anbieters zu verändern. In Leipzig zeigte der gezielte Umbau der 1878 gegründeten Firma von Fritz Schulz jr. den einzuschlagenden Erfolgsweg. Sie konzentrierte sich anfangs vornehmlich auf Schleifmittel. Die Abhängigkeit von wenigen Rohstofflieferanten führte 1893 dazu, diese aufzukaufen. Auf dieser Grundlage erweiterte Schulz sein Portfolio von Putzmitteln, baute 1897 eine große Fabrik in Leipzig-Plagwitz und bündelte seine Firmen 1900 in der Fritz Schulz jr. AG mit einem Aktienkapital von 5,1 Mio. Mark (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 157 v. 4. Juli, 11).

Gängige Metallputzmittel (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1885, Nr. 157 v. 3. April, 8 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1896, Nr. 21 v. 25. Januar, 8)

Schleifmittel wurden für Metallputzmittel benötigt. Bürgerliche Haushalte besaßen schon seit der Gründerzeit eine stetig wachsende Menge von Besteck, Schlössern, Lampen, Kesseln, Kerzenhaltern, von Metallknöpfen und anderen blinkenden Dingen ganz abgesehen. Bis weit in die 1890er Jahre dominierten Spezialisten den Markt. Sie boten vor allem Pulver und Pasten, bei denen die Gefahr des Verkratzens immer groß war. Rein mechanisch handelte es sich beim Putzen nämlich um eine Politur der verdreckten Metallwaren: Sie wurden durch Gase und Dämpfe chemisch angegriffen, Staub, Fett und andere Schmutzarten lagerten sich ab. Metallputzmittel hatten also eine doppelte Aufgabe, mussten sie doch erst mit Hilfe gängiger Lösemittel den Schmutz beseitigen, ehe sie dann mittels eines Poliermittels die eigentlichen Metallschichten wieder zum Glänzen brachten (G. Schneemann, Metallputzmittel, Seifensieder-Zeitung 1913, 18-20, 53-54, 77-78). Seit den frühen 1890er Jahren bemühte man sich, diese Aufgaben mit flüssigen Präparaten zu erfüllen, die zudem die Gefahr des Zerkratzens verringerten (Lüdecke, Metallputzmittel, in: Fritz Ullmann (Hg.), Enzyklopädie der technischen Chemie, Bd. 8, Berlin und Wien, 51-59, hier 55). Ein Fleckenwasseranbieter wie Wilhelm Roloff konnte also seine Expertise und seine Rohwaren nutzen, Poliermittel ergänzen und dann ein modernes Metallputzmittel anbieten. Diese Überlegungen standen hinter der Entwicklung des Leipziger Putzwassers, das ab Mitte 1894 neben Benzolinar trat (Deutscher Reichsanzeiger 1894, Nr. 131 v. 6. Juni, 9). Es stand für die Fortentwicklung der Chemischen Fabrik Wilhelm Roloff zu einem breit aufgestellten Putzmittelanbieter.

Zwei Präparate, ein Hersteller (Dies Blatt gehört der Hausfrau 9, 1894/95, 788)

Abermals beanspruchte man mit dem Markteintritt eine Preis- und Qualitätsführung, pries die Firma es doch als „billigstes und bestes Putzmittel für alle Metallgegenstände“ (Badische Landes-Zeitung 1894, Nr. 149 v. 30. Juni, 8). Belege hierfür gab es nicht, auch die Konkurrenten suggerierten ähnliches. Als „Wasser“ war das neue Produkt jedoch weniger invasiv als gängige Pasten, so dass man offensiv behauptete: „Leipziger Putzwasser schmiert nicht, greift nicht an und ist sparsam im Verbrauch“ (Aachener Anzeiger 1894, Nr. 153 v. 7. Juli, 6). Oder auch: „Bestes und billigstes Putzmittel. Kein Beschmutzen, kein Angreifen der Metalle“ (Neusser Zeitung 1894, Nr. 237 v. 17. Oktober, 4). Dies war bestenfalls ansatzweise richtig, denn auch flüssige Metallputzmittel waren nicht davor gefeit, das sich die sorgsam vermengten Lösungs- und Poliermittel voneinander trennten, es dann doch zu Kratzschäden kommen konnte.

Die Markteinführung des Leipziger Putzwasser erfolgte analog zu Benzolinar, auf dessen Vertriebsnetz man unmittelbar bauen konnte: Es hieß: „In allen einschlägigen Geschäften zu haben“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1894, Nr. 327 v. 29. Juni, 4771) oder aber „In allen Drogenhandlungen und anderen einschlägigen Geschäften“ zu haben (ebd. 101, 1894, Nr. 2571, Beibl. 5, 11). Dazwischen aber mischten sich vorsichtigere Töne: „Wo keine Verkaufsstellen, versende direkt“ (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2567, Beibl. 5, 7). Dabei konnte man auf die Vorarbeiten für Benzolinar unmittelbar zurückgreifen. Das Leipziger Putzwasser wurde – analog zum Markt – billiger angeboten, zudem offerierte man von Beginn an Fläschchen zu 50 und 25 Pfennig. Spätestens ab Mai 1895 konnte auch eine noch kleinere Menge für 10 Pfennig gekauft werden (Mayener Volkszeitung 1895, Nr. 113 v. 16. Mai, 4). Wenige Jahre später reduzierte Roloff gar den Preis für die Standardflasche auf 25 Pfennig (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1899, Nr. 115 v. 18. Mai, 6). Damit eröffnete man sich sozial breitere Kreise, hatte eventuell auch die Hoffnung, das teure Benzolinar in ein kleinbürgerliches Milieu einzuführen.

Varianten eines Werbemotivs für das Leipziger Putzwasser (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1894, Nr. 273 v. 23. November, 6 (l.); Illustrirte Frauen-Zeitung 21, 1894, H. 12, Beibl., 4)

Auch dieses Mal war die Markteinführung von Werbezeichnungen begleitet – allerdings nutzte man nun lediglich zwei Motive. Beide knüpften an die Benzolinar-Werbung an, präsentierten Produkt, Lobpreis und den Namen des Herstellers. Doch die Unterschiede waren beträchtlich. Schon der Verweis auf das (von mir zumindest nicht nachweisbare) Datum der Firmengründung war neu, Ausdruck einer Art Renommeewerbung mit Unternehmenstraditionen. Entscheidender aber: Präsentiert wurde kein Paar, auf Gesprächsfetzen wurde verzichtet, stattdessen zeigte man eine Frau beim Putzen eines Kerzenhalters (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1894, Nr. 327 v. 29. Juni, 4771; Badische Landes-Zeitung 1894, Nr. 149 v. 30. Juni, 8; General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1894, Nr. 179 v. 1. Juli, 9; Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart 1894, Nr. 154 v. 5. Juli, 11). Die Werbung zielte also auf die selbst arbeitende Hausfrau, auf die normale Zeitungsleserin.

Aufmerksamkeit zählt: Mohren sehen Dich an (Posener Zeitung 1894, Nr. 526 v. 31. Juli, 4)

Überraschender noch war das zweite Motiv, antiquiert wirkende Mohren. Sie standen in der Tradition ähnlicher Schwarzer, die in den 1890er Jahre für Drogerieartikel jeder Art warben, vorrangig für Zahnpasta und Schuhcreme. Den altertümlich wirkenden Figuren wurde attestiert „nichts Negroides“ zu haben (Nana Badenberg, Mohrenwäschen, Völkerschauen: Der Konsum der Schwarzen, in: Birgit Tautz (Hg.) Colors 1800/1900/2000: Signs of Ethnic Difference, Amsterdam und New York 2004, 163-184, hier 166, FN 8). Doch die schwarzen Männer erregten gewisse Aufmerksamkeit, brachen sie doch mit den gängigen Werbefiguren der Zeit, ohne zugleich rassistisch herzukommen. Beide Motive dominierten 1894/95, wurden auch als Werbeklischees verwandt, bei denen die Firmenadresse durch die Einkaufsstätte ersetzt wurde (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1894, Nr. 273 v. 23. November, 6; Hagener Zeitung 1895, Nr. 42 v. 19. Februar, 3).

Kleines Lob im redaktionellen Gewande (Thorner Ostdeutsche Zeitung 1894, Nr. 181 v. 5. August, 5)

Wie schon bei Benzolinar wurden die beiden Anzeigen von redaktioneller Reklame flankiert. Sie hoben ebenfalls die Flüssigkeit und den Preis des Leipziger Putzwassers als entscheidende Vorteile hervor (Rheinisch-Westfälische Zeitung 1894, Nr. 211 v. 2. August, 3). Dies wurde innerhalb der Redaktionen vielfach variiert, vielfach auch als Zuschrift bezeichnet (Wittener Tageblatt 1894, Nr. 178 v. 1. August, 3). Die Journalisten nutzten den Grundtext von Wilhelm Roloff, nahmen sich aber der Reinigungsmission zugunsten der Hausfrauen direkt an (Aachener Anzeiger 1894, Nr. 168 v. 25. Juli, 1; Schönburger Tageblatt und Waldenburger Anzeiger 1894, Nr. 177 v. 3. August, 4). Die immer wieder eingeforderte Trennung von redaktionellem und Werbeteil blieb eine Chimäre.

Farbakzente und lokale Drogistenwerbung (Schönburger Tageblatt und Waldenburger Anzeiger 1894, Nr. 183 v. 10. August, 4 (l.); Emscher Zeitung 1894, Nr. 142 v. 20. Juni, 3)

Auch bei Roloffs zweitem Drogerieartikel gab es einfache Variationen der Grundwerbung, die zwischen Text und Slogan chargierte (Westfälischer Merkur 1894, Nr. 217 v. 10. August, 4; Solinger Zeitung 1894, Nr. 187 v. 11. August, 6). Lokale Anbieter nutzten und variierten neuerlich die Vorlage aus Leipzig. Zugleich bemühte sich die Werbung um eine Verschränkung der anvisierten Zielpublika. Das Leipziger Putzwasser wurde explizit auch für Militärzwecke beworben, Militärverwaltungen und Kantinen erhielten überdurchschnittliche Rabatte, hoffte man dadurch doch auf ein besseres Geschäft für Benzolinar (Militär-Zeitung 49, 1894, 159).

Hilfsmittel auch für den einfacheren bürgerlichen Haushalt (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2571, Beibl. 5, 11)

Die Markenkarriere des Leipziger Putzwasser verlief insgesamt ähnlich wie die Benzolinars. Weitere Zeichnungen präsentierten doch wieder miteinander sprechende Paare, nutzten ebenso einschlägige „Zeugnisse“ von nachweislich bestehenden Institutionen und Firmen (mit anderem Empfehlungsschreiben Fliegende Blätter 102, 1895, Nr. 2580, Beibl. 3, 3). Die Werbung gab sich volkstümlicher, präsentierte fiktionale Figuren damaliger Hausfrauen.

Glückliche Hausfrauen dank des Leipziger Putzwassers (Über Land und Meer 73, 1895, 180)

Auch beim zweiten Drogerieartikel von Wilhelm Roloff trugen Drogisten die Alltagswerbung nach der Jahrhundertwende (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1900, Nr. 151 v. 2. Juli, 8; ebd. 1901, Nr. 127 v. 3. Juni, 8; Rhein- und Ruhrzeitung 1903, Nr. 113 v. 15. Mai, 3), nachdem die aktive Firmenwerbung 1896/97 endete. Das galt auch für die cisleithanischen Gebiete Österreich-Ungarns, wo neben Drogerien auch Parfümerien für das Putzwasser und Benzolinar warben (Neues Wiener Journal 1897, Nr. 1425 v. 20. Oktober, 13). Bildwerbung wurde für das Flüssigputzmittel im Ausland jedoch nicht mehr geschaltet. Apotheken und Drogerien wurden über den Großhandel beliefert, die dann eigenverantwortlich warben (Nowa Reforma 1896, Nr. 27 v. 2. Februar, 6 [Krakau]; Glos Narodu 1896, Nr. 42 v. 20. Februar, 8 [Przemysl]).

Festzuhalten ist, dass die Chemische Fabrik Wilhelm Roloff eine mögliche Expansion zu einem Drogerieartikelanbieter ab 1894 zwar versuchte, sie Ende 1896 aber aufgab. Das mochte mit der aufstrebenden lokalen Konkurrenz durch Fritz Schulz zusammenhängen. Doch angesichts des beträchtlichen, teils Jahrzehnte andauernden Erfolges anderer Anbieter scheint dies zu kurz gegriffen. Starke Metallputzmittel wie Globus (Fritz Schulz, ab spätestens 1888), Amor (ab 1895 durch Lubszynski & Co., Berlin) und hier nicht näher zu charakterisierende reichsweit präsente Marken wie Geolin, Gentol, Blendol oder Sidol unterstreichen, dass eine konsequente Dachmarkenstrategie auch für Wilhelm Roloff Chancen hätte bieten können. Wir müssen drittens und abschließend daher nochmals auf den Eigner der Chemischen Fabrik zurückkommen, auf Johannes Meister.

Reinvestitionen: Ein Unternehmer in der ersten Reihe der Leipziger Gesellschaft

Für den jungen Chemiker und Unternehmer begann nach dem Tode seines Vaters und mehrerer Umzüge eine Zeit privater und finanzieller Etablierung (Leipziger Adreß-Buch 69, 1890, T. 1, 293; ebd. 72, 1893, T. 1, 453). 1893 verlobte er sich mit Melanie Zeyen, Tochter des Kommerzienrates Leopold Zeyen (1844-1918) und seiner Frau Louise, geb. Heerbrandt; 1894 heirateten sie (Kölnische Zeitung 1893, Nr. 796 v. 6. Oktober, 3; Saale-Zeitung 1894, Nr. 219 v. 12. Mai, 6). Sein Schwiegervater war Ingenieur und Eigentümer der in Raguhn gelegenen Papiermaschinenfabrik und Metallweberei Gottlieb Heerbrandt, die 1897 in die mit 1,5 Million Mark Aktienkapital ausgestatte Maschinenbau- und Metalltuchfabrik AG umgewandelt wurde. Meister wurde später in den Aufsichtsrat gewählt (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 211 v. 7. September, 7). Das Paar wohnte anfangs in repräsentativer Lage in der Pfaffendorfer Straße 13, ehe es 1899 kurzzeitig in das kurz zuvor gekaufte sog. Mückenschlösschen umzog (Leipziger Adreß-Buch 74, 1895, T. 1, 493; ebd. 80, 1901, T. 1, 657). Nach dem Neubau der lange noch in der Berliner Straße 86 gelegenen Firma residierte Familie Meister-Zeyen dann in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Unternehmen im Plösener Weg 22. Mindestens zwei Töchter, Alice und Ilse, sind nachweisbar (Leipziger Tagblatt und Handels-Zeitung 1916, Nr. 507 v. 5. Oktober, 5; Dresdner Nachrichten 1917, Nr. 358 v. 29. Dezember, 7).

Das Kerngeschäft der Firma Wilhelm Roloff wurde 1898 auf ein größeres Areal verlegt, die „Dachpappenfabrik, Asphaltkocherei und Theerdestillation“ gewann dadurch neue Expansionsmöglichkeiten (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1898, Nr. 230 v. 8. Mai, 3529). Wichtiger noch war die Kooperation mit dem Leipziger Unternehmer Emil Köllner, der Mitte der 1890er Jahre ein Alphaltvorkommen in den italienischen Abruzzen erworben hatte (Das tausendjährige Leipzig. Die Stadt der Mitte, hg. v. Walter Lange, Leipzig 1928/29, 284). Meister wurde 1899 Mitinhaber von Köllner, der seinerseits in die Firma Wilhelm Roloff eintrat (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1899, Nr. 116 v. 5. März, 1762). Nach außen blieben beide Firmen unabhängig, Wilhelm Roloff firmierte als Chemische Fabrik, Emil Köllner als Holzcement-, Dachpappen- und Asphaltfabrik (Leipziger Adreß-Buch 80, 1901, T. 1, 657). Köllner verlies die Firma 1909, Meister übernahm (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 35 v. 10. Februar, 25). 1913 fusionierte er beide Firmen schließlich in die Emil Köllner-Wilhelm Roloff-Werke mbH (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 254 v. 27. Oktober, 17). Das Stammkapital betrug 350.000 Mark, der neue Geschäftsführer Johannes Meister brachte davon 260.000 Mark ein, seine finanziell unabhängige Gattin Melanie Meister-Zeyen gewährte einen Kredit für die fehlenden 90.000 Mark. Ein Ehevertrag sicherte ihre Unabhängigkeit 1914 nochmals ab (Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung 1914, Nr. 349 v. 12. Juli, 14).

Innovationen im tradierten Kernsegment: Anmeldung von Pappinol 1900 (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 282 v. 27. November, 16)

Das gemeinsame Geschäft mit Emil Köllner schien Johannes Meister offenbar attraktiver als ein Ausbau der Drogerieartikelsparte in einem hochkompetitiven Umfeld. Die neuartige Holzzement-Klebedachpappe „Pappinol“ war jedenfalls ein Erfolgsprodukt (Das Pappinolpappdach, Architekten- und Baumeister-Zeitung 10, 1901, Ausg. v. 22. September, 8-9). Der selbst produzierte Teer tränkte nun Strohpappen, auf die anschließend eine Kiesschicht aufgepresst wurde. Weitere neue Markenprodukte folgten, das wasserlösliche Holzschutz- und Pflanzenschutzmittel „Marke Roloff“, der „Drei-Kronen“ Asphaltmastix, „Eka“-Falzbaupappen (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 86 v. 10. April, 14; ebd. 1910, Nr. 37 v. 12. Februar, s.p.; Süddeutsche Bauzeitung 24, 1914, Nr. 19, 46). Johannes Meister konnte weiterhin selbstbestimmt im Feld der Teerchemie arbeiten, mochte es sich auch um eher gewerbliche Anwendungen handeln.

Wichtiger noch dürfte der Eintritt in die erste Reihe der Leipziger Geschäftswelt gewesen sein. Meister begann jedenfalls Mitte der 1890er Jahre mit ersten Immobilieninvestitionen, darunter ein staatliches viergeschossiges Eck- und Mietshaus in der Sidonienstr. 1 (https://www.architektur-blicklicht.de/artikel/touren/paul-gruner-strasse-Leipzig-kohlenstrasse/).

Es folgten Investitionen in zwei führende Leipzig Unternehmen, deren Besitzer verkaufen wollten, teils verstorben waren. Anfang 1896 wurde Johannes Meister Teil der Gründergruppe der neuen Aktiengesellschaft von Grimme & Hempel, einer reichsweit für ihre Diaphanien und Kunstglaserei bekannten Kunstanstalt, die ein Aktienkapital von einer Million Mark aufwies (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 174 v. 23. Juli, 7; Dresdner Journal 1896, Nr. 172 v. 27. Juli, 1419). Meister war zuerst Aufsichtsrat, dann stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender (Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1896/97, 146; Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 138 v. 14. Juni, 7). 1898 wurde er zudem Mitgründer und Aufsichtsratsmitglied der Leipziger Schnellpressenfabrik AG, vorm. Schmiers, Werner & Stein, einem Unternehmen mit einem Aktienkapital von ebenfalls einer Million Mark (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 79 v. 1. April, 20; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1897, Nr. 551 v. 28. Oktober, 7922). 1900 folgte dann noch der Einstieg in die Leipziger Centraltheater AG, die ihr Aktienkapital von 1,3 Million Mark nutzte, um am Thomasring ein Areal zu erwerben und dort ein Theater „mit großen Sälen und Gesellschaftsräumen“ zu erbauen. Johannes Meister war und blieb langjähriges Mitglied des Aufsichtsrates, gehörte aber nicht zu den Gründern (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1900, Nr. 431 v. 25. August, 6719).

Fassen wir diese verschiedenen Facetten zusammen, so eröffneten sich dem Besitzer von Wilhelm Roloff Mitte der 1890er Jahre mehrere Chancen, die einem verstärkten Engagement in der Reinigungsmittelbranche vorzuziehen waren. Er baute das Kerngeschäft der 1886 erworbenen Firma gezielt aus, stärkte ihre Stellung als ein führendes sächsisches Baumaterialunternehmen. Zugleich etablierte er sich in der kleinen aber feinen Welt der Leipziger Wirtschaftselite, agierte auf Augenhöhe mit den wichtigsten Unternehmern der Stadt. Beides waren nachvollziehbare Gründe, sich nicht mehr länger mit Nebenprodukten wie Benzolinar und dem Leipziger Putzwasser zu beschäftigen, sein Engagement auslaufen zu lassen.

Johannes Meister starb am 12. Oktober 1916, die näheren Umstände sind unbekannt (Sächsische Staatszeitung 1916, Nr. 241 v. 16. Oktober, 4). Unklar sind auch die Hintergründe für mehrere Zwangsversteigerungen seiner außerhalb Leipzigs gelegenen Immobilien (Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung 1914, Nr. 593 v. 22. November, 8; ebd. 1915, Nr. 99 v. 24. Februar, 13; ebd., Nr. 591 v. 20. November, 5; Sächsische Staatszeitung 1919, Nr. 133 v. 16. Juni, 7; ebd. 1920, Nr. 38 v. 10. Februar, 7). Schon 1914 waren mehrere Patente der Emil Köllner-Wilhelm Roloff-Werke nicht auf seinen, sondern den Namen seiner Frau ausgestellt worden (Tonindustrie-Zeitung 38, 1914, 1773; Cement 5, 1916, 116). Sie führte das Unternehmen bis 1921 weiter (Leipziger Tageblatt und Handelszeitung 1916, Nr. 593 v. 21. November, 6; Sächsische Staatszeitung 1921, Nr. 297 v. 22. Dezember, 5). All dies berührt jedoch nicht die für uns relevante Entscheidung zum langsamen Ausstieg aus der Reinigungsmittelbranche seit Ende 1896. Die anfangs sicher nicht geringen Gewinne aus diesem Geschäft dürften sowohl für seine lokalen Investitionen als auch für die Erweiterung der eigenen Chemischen Fabrik wichtig gewesen sein. Ein neues Fleckenwasser, ein flüssiges Metallputzmittel, eine für ihre Zeit innovative Bildwerbung – sie alle dienten letztlich einer anerkannten sozialen Position in der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Uwe Spiekermann, 10. Mai 2025

Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda: Kohlenklau, Wasserplansche und Begleitkampagnen

Wie funktionierte NS-Propaganda? Die historische Forschung über diese für das Verstehen des Nationalsozialismus zentrale Frage ist nach wie vor dominiert von den großen politischen Inszenierungen, also der Selbstdarstellung des Regimes. Doch eine Propaganda des Nationalsozialismus gab es nicht, eben so wenig wie eine Verfolgung, eine Gewalt, eine Sprache, eine Kunst und eine Werbung. Der Nationalsozialismus war modern – und daher vielgestaltig. Dies war entscheidend für die mörderische Dynamik des Regimes, für seinen irritierenden Zusammenhalt bis zur totalen Niederlage. Die Vorstellung einer NS-Propaganda verdeckt daher mehr als sie enthüllt.

Das liegt auch daran, dass Propaganda eben nicht spezifisch nationalsozialistisch war und ist, sondern ein Grundelement moderner technischer Gesellschaften (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964 [französisches Original von 1954]; ders., Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [erstmals 1962]). Propaganda im engeren Sinne entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Propaganda war nicht vorrangig politisch, sondern Notwendigkeit einer effizienten arbeitsteiligen Gesellschaft, ermöglichte dem Einzelnen Orientierung, koordinierte Individuen und Gruppen, verringerte die Kosten des verzahnten Miteinanders unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Praktiken. Ein beträchtlicher Teil der nationalsozialistischen Propaganda findet sich – wenngleich in modifizierter Form – auch in anderen Staaten wieder. Denken Sie an Verkehrserziehung, Brandschutz, Zivilverteidigung, Hygiene, Gesundheitsfürsorge, Sparsamkeitsappelle und vieles andere mehr. Dies macht die Frage nach dem Besonderen, gar dem Spezifischen der NS-Propaganda nochmals schwieriger (Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 527-559; Stefan Scholl, Für eine Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Nationalsozialismus. Ein programmatischen Forschungsüberblick, Archiv für Sozialgeschichte 59, 2019, 409-444).

Will man genauer hinschauen, will man die Bindekraft des Nationalsozialismus präziser verstehen, so ist daher zudem eine detaillierte Analyse einzelner Kampagnen des Staates, der NSDAP und der nationalsozialistischen Zivilgesellschaft erforderlich. Wie funktionierte die Winterhilfe der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt? In welchem Kontext standen Verbrauchslenkung und Kampf dem Verderb? Welche Bedeutung besaßen die inner- und außerbetrieblichen Kampagnen der Deutschen Arbeitsfront? Wie wurde deutsche Kultur  definiert, präsentiert und genutzt? Wie änderte sich die Propaganda während des bewusst herbeigeführten Krieges? Solche genaueren Blicke sind erforderlich, um Verbindungen zu knüpfen zwischen Alltagsproblemen und ihrer propagandistischen Einfärbung. Sie sind aber auch erforderlich, weil sich die stets eingeforderte nationalsozialistische Moral hierin stärker spiegelte als in den Marschkolonnen auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände oder den Redeinszenierungen im Reichstag. Dabei stellt sich die Frage, wie man mit gebotener analytischer Distanz aus den ja bewusst öffentlichen Quellen schöpfen kann. Die nationalsozialistische Propaganda war eben nicht geheim, Führer suchten Volk, offerierten Orientierung, zielten auf ein effizienteres Handeln im Sinne des Regimes.

Doch auch dann gilt es weiter zu fragen, genauer zu analysieren. Die in der damaligen publizistischen Wirkungsforschung noch prägende Vorstellung von eindeutigen Sendern und eindeutigen Empfängern, von klar abgrenzbaren, gleichsam für sich stehenden und zu analysierenden Kampagnen ist hochgradig fraglich. Nicht nur, dass sie aufeinander aufbauten, das immer Gleiche in immer neuer, immer wieder variierter Form präsentierten. Die Kampagnen selbst standen nicht für sich, sondern wurden aufgegriffen, fortgeführt, dadurch genutzt und popularisiert. Just innerhalb der offiziellen Propaganda gab es bewusst eröffnete Freiräume, die dann regimenah, regimedienend genutzt wurden. Wer bei Kampagnen wie Groschengrab (1938/39) oder Roderich das Leckermaul (1939) allein auf die überschaubare Zahl der offiziellen Zeichnungen und Comicstreifen blickt, verkennt Breite und Bedeutung dieser propagandistischen Anstrengungen. Sie erschließen sich erst, wenn auch die umkränzenden Artikel und Rezepte, Bildgeschichten und Gedichte in die Analyse mit einbezogen werden. Dies aber fehlt in der historischen Forschung, entsprechend eng ist und bleibt die Analyse der NS-Propaganda.

Der vorliegende Beitrag wird an einem an sich wenig bedeutsamen regionalen Beispiel untersuchen, wie innerhalb einer NS-Propagandakampagne solche Weitungen und Häutungen erfolgten. Als Bezugsrahmen dient die wichtigste, kostenträchtigste und wahrscheinlich besterinnerte Kampagne während des Zweiten Weltkrieges. Kohlenklau war seit Ende 1942 allgegenwärtig. Eine bedrohlich-groteske Figur wurde genutzt, um in steter Abfolge und mit immer wieder anderen Akzenten zentrale Probleme der Kriegswirtschaft zu adressieren, um zugleich aber auch zu unterhalten, dem Ernst Humor unterzumengen. Doch dabei blieb es nicht, denn es entstanden dezentral zahlreiche weitere Unterkampagnen, von denen hier die der Wasserplansche, der imaginierten Frau des Kohlenklaus, beispielhaft hervorgehoben werden wird.

Kohlenklau – Konturen einer unterschätzten Kampagne

Die Kohlenklau-Kampagne wird in der historischen Forschung immer mal wieder erwähnt, doch sie dient in den Darstellungen der Kriegsgeschichte vornehmlich als kolorierendes Beiwerk, wird kaum gesondert untersucht. Auch genauere Untersuchungen schielen, denn sie verfolgen andere, ihrerseits durchaus wichtige und spannende Fragestellungen. Der Regisseur und Comicverleger Ralf Palandt stellte Kohlenklau unlängst in den Kontext zahlreicher Energiesparmaßnahmen der Nachkriegszeit (Ralf Palandt, Propaganda-Figuren: vom Kohlenklau zum Wattfraß, in: Eckart Sackmann (Hg.), Deutsche Comicforschung. Register der Bände 2005-2024, Leipzig 2023, 6-18). Fachwissenschaftlich näher sind die Arbeiten des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Reinhold Reith (Reinhold Reith, Kohle, Strom und Propaganda im Nationalsozialismus: Die Aktion „Kohlenklau“, in: Theo Horstmann und Regina Weber (Hg.), „Hier wirkt Elektrizität“. Werbung für Strom 1890-2010, Essen 2010, 142-157). Erst 2023 ergänzt und erweitert, geht es in seinen Beiträgen jedoch nicht vorrangig um Propaganda, sondern um die breiter gefasste Ressourcenpolitik des NS-Regimes (Reinhold Reith, Die »Kohlenkalamität« und der »Kohlenklau«. Kohle in der Ressourcenpolitik des »Dritten Reiches«, in: Lutz Budraß, Torsten Meyer und Simon Große-Wilde (Hg.), Historische Produktionslogiken technischen Wissens, Münster und New York 2023, 107-137; ders., Stromsparen/Kohlenklau (1943). Propaganda in der Kriegswochenschau, in: Nicolai Hannig, Annette Schlimm und Kim Wünschmann (Hg.), Deutsche Filmgeschichten, Göttingen 2023, 69-75). Reith liefert wichtige Informationen zum Kriegsalltag, zur Kohlenknappheit im eiskalten Winter 1939/40, der Kürzung der ohnehin engen Hausbrandversorgung um 10 Prozent erst 1942 und dann nochmals 1943, zur dann folgenden Kohlennot 1944/1945 – und analysiert all dies als Teil der Konsumgeschichte des Weltkrieges. Die Darstellung der Kampagne selbst ist allerdings lücken-, teils fehlerhaft; wohl auch, weil die herangezogenen Quellen lückenhaft sind. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist eben keineswegs „ausgeforscht“. Insbesondere die zunehmend digitalisierten Tageszeitungen erlauben vielfältige tiefere Einblicke nicht nur in das lokale Geschehen. Sie bilden eine wichtige Erweiterung zu den – im Bereich des Reichsministeriums für Propaganda und Volksaufklärung – großenteils vernichteten Archivalien.

Stete öffentliche Präsenz: Litfaßsäule in Münster und Kohlenklau-Plakat (Westfälische Tageszeitung 1943, Nr. 23 v. 24. Januar, 5 (l.); Tagebuch einer Straße. Geschichte in Plakaten, hg. v. d. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1981, 251)

Blicken wir nun genauer auf die Kohlenklau-Kampagne, die nach Aussage des Journalisten und Sprachstilisten Wolf Schneider (1925-2022) „ein öffentliches Anliegen geschickt“ personifizierte, „in der zutreffenden Annahme, daß dies mehr Sparsamkeit bewirken würde, als abstrakt vor ‚Verschwendung‘ zu warnen“ (Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, München und Zürich 1976, 162). Die Figur war markant, etwas Neues: „Das rechte Auge geschlitzt wie eine Katze, die mausend und miauzend durchs Dunkel streift, das linke aufgeblendet wie den Kegel einer diebisch zuckenden Taschenlampe ins finster Schleichende haltend, – ha, so duckt er sich dahin, der Millionendieb. Seine Faust ist schwarz, seine Kappe sitzt bedrohlich, sein Schnurrbart sträubt sich gefährlich. Man möchte ihm nicht im Dunkel begegnen, diesem Burschen“ (Der Millionendieb, Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 353 v. 22. Dezember, 3). Ihn einzuladen, in die Wohnung zu lassen, schien gefährlich, denn in seinem Sack verschwanden die Erträge völkischer Arbeit, Heizkraft, Dampfkraft, Gaskraft, Stromkraft.

Die Figur blieb in der Erinnerung haften, machte Karriere sowohl in der Nachkriegsliteratur (Günter Grass, Die Blechtrommel, 20. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1983, 301ff.), als auch in Dutzenden Erinnerungen an die kriegsgebrochene Kindheit: „Der Kohlenklau war faszinierend, ängstigend und universal wie der schwarze Mann, mit dem man im Kleinbürgertum den Kindern Angst machte. Im kindlichen Bewußtsein muß er auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wassermann besessen haben, der ja von den Grimms her bekannt war und sich beim Ablaufen des Badewassers grunzend bemerkbar machte. […] Aber Kohlenklau war jemand; ein Bild des Volksschädlings, der dem eigenen Volk in einer Zeit, wo jedes Brikett gebraucht wurde, in den Rücken fiel“ (Dieter Hoffmann-Axthelm, Das Kind und der Kohlenklau. Erinnerungsfunde 1943-1945, in: Johannes Beck et al. (Hg.), Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus, Reinbek b. Hamburg 1980, 315-321, hier 320). Solche Veröffentlichungen waren bereits reflektiert, spiegelten auch daher nur unzureichend die Faszination des Ungeheuers: „Da ist er wieder! / Sein Magen knurrt, sein Sack ist leer, / und gierig schnüffelt er umher. / An Ofen, Herd, an Hahn und Topf, / an Fenster, Tür und Schalterknopf / holt er mit List, was Ihr versaut. / Die Rüstung ist damit beklaut, / die auch Dein bißchen nötig hat, / das er jetzt sucht in Stadt und Land. / Fasst ihn!“ (Horst Bosetzky, Brennholz für Kartoffelschalen. Roman eines Schlüsselkindes, München 1997, 12) Ja, man sollte ihn fassen, sein Handeln an die Imperative des schon lange vor Stalingrad ausgerufenen totalen Krieges sparend anpassen. So wie 1938/39 bei Groschengrab. Doch fern der reflektierten Erinnerung blieb da eine Faszination am Abweichler, an einer Figur, die all das tun durfte, was in der Drangsal des Krieges nicht geboten schien. Das vom humoristischen NS-Zeichner und späterem Tagesspiegel-Karikaturisten Hans Kossatz (1901-1985) gezeichnete Groschengrab wurde aus diesem Grunde populär. Das galt auch für Kohlenklau, dessen Abenteuer (wenngleich ohne Quellenhinweise) heute noch (wenngleich nur zum Teil) einfach greifbar sind (energieverbraucher.de | Im Energiesparmuseum: Der Kohlenklau: Energiespar-Propaganda im Zweiten Weltkrieg).

Kohlenklau hatte viele virtuelle Vorläufer in den zahllosen, seit dem Vierjahresplan 1936 verstärkt einsetzenden Appellen an Sparsamkeit und Ressourcensensibilität in der nationalsozialistischen Mangelökonomie. Ende 1940 bündelten der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, der Reichskohlekommissar, die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz und die Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung diese zu einer ersten reichsweiten Kampagne für sparsames Heizen, visualisiert durch den freundlichen Kobold „Flämmchen“. Bis Ende 1942 wurden von der Deutschen Arbeitsfront offiziell 150.000 Männern in den „Schulgemeinschaften“ der „Heize Richtig“-Kampagne angelernt, die häuslichen Brandstätten möglichst energiearm laufen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Vorbereitungen für eine neue, dieses Mal jedoch weit umfassendere Kampagne zum Energiesparen, längst begonnen.

Vertreter der „Kohlen-, Energie- und Gaswirtschaft“ hatten Anfang Mai 1942 eine Energiesparpropaganda für mindestens zwei Millionen Reichsmark angeregt, die ab dem 15. Juli 1942 in drei gesonderten Wellen die „Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit der Bevölkerung beim Kohle-, Gas- und Energieverbrauch“ beheben sollte (Propagandavorschlag für eine Sparaktion bei Kohle, Energie und Gas v. 6. Mai 1942, Bundesarchiv Lichterfelde, NS 18/138, Bl. 23-33, hier 32). Das war aufgrund der Kriegslage, der angespannten Personal- und Materialsituation der deutschen Energiewirtschaft und auch der Lieferverpflichtungen gegenüber Verbündeten durchaus geboten, doch angesichts der bereits strikten Hausbrandrationierung schien der NSDAP-Reichsleitung folgenloses Mahnen eher problematisch. NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann (1900-1945) monierte am 20. Juli: „Dergleichen könnte leicht wie Hohn wirken! Die Bevölkerung hat ja nur ungenügend Kohle, kann also alles anders als verschwenden. […] An dieser Propaganda-Aktion werden wir uns aus genanntem Grund nicht beteiligen! Wir wollen uns nicht lächerlich machen“ (Vorlage. Betrifft: Kohlenwirtschaft; Versorgungslage v. 15. Juli 1942, ebd., 15-17, hier 17). Die Reichsministerien rangen in der Folge weiter darum, die vom Reichsrüstungsminister Albert Speer (1905-1981) geforderten Einsparungen sicherzustellen: Aktivierung der Hausfrauen zum Gas- und Elektrizitätssparen, verstärkter Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen mit auskömmlichen Rationen oder größere Transportkapazitäten – die Lösung des Ressourcenmangels glich der Quadratur des Kreises (vgl. insb. Ministervorlage von Tieseler v. 31. Juli 1942, ebd., Bl. 9-10).

Die Kohlenklau-Kampagne wurde schließlich vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in enger Kooperation mit den Reichspropaganda- und Reichsrüstungsministerien durchgeführt, durch die Interessenvertretungen der Energiewirtschaft vielfach gefördert (Heinrich Lepthien, Kohlenklau und seine ersten Lebenstage, Die Deutsche Werbung 36, 1943, 75-79). Sie war reichsweit getaktet, die Presseanweisungen diktierten regelmäßige und – fast bis zum Schluss – vollständige Anzeigenserien.

Deutsche Mahnsprüche – Begleitreime der frühen Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1942, Nr. 297 v. 18. Dezember, 3 (l. o.); Nr. 302 v. 24. Dezember, 4; 1943, Nr. 4 v. 6. Januar, 3 (l. u.); Nr. 5 v. 7. Januar, 3 (r. o.); Nr. 9 v. 12. Januar, 3 (r. M.); Nr. 15 v. 19. Januar, 3 (r. u.))

Ab dem 7. Dezember 1942 erklangen im Rundfunk einschlägige Durchsprüche, also kleine, nicht allzu billige Werbejingels, in denen freundlich mahnend Ratschläge für die kleinen Verbesserungsmöglichkeiten im Alltag gegeben wurden. Nachhaltiger waren gewiss die ab dem 10. Dezember 1942 in der Tagespresse geschalteten Mahnsprüche. Bis Ende Januar finden sich mindestens zwanzig einheitlich umsäumte Reime: „Der spart an Gas, der sehr geschickt / zwei Töpfe aufeinanderrückt!“ (Straßburger Neueste Nachrichten 1942, Nr. 346 v. 15. Dezember, 5) Die eigentliche Kampagne begann mit dem Auftritt des zuvor nicht benannten Protagonisten in der seit dem 19. Dezember 1942 abgedruckten Einführungsanzeige „Wer ist Kohlenklau?“

„Die Jagd auf Kohlenklau geht los!“: Einstiegsanzeige und erstes Motiv der Serie „Kohlenklau’s schmähliche Niederlage“ (Stuttgarter NS-Kurier 1942, Nr. 348 v. 19. Dezember, 6 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 355 v. 24. Dezember, 5)

Theorie und Praxis waren fast deckungsgleich, innerhalb von vier Tagen war Kohlenklau Deutschlands Zeitungslesern bekannt (auch Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1942, Nr. 350 v. 20. Dezember, 3; Mittagsblatt 1942, Nr. 299 v. 21. Dezember, 7; Bochumer Anzeiger 1942, Nr. 300 v. 22. Dezember, 3, Hamburger Tageblatt 1942, Nr. 353 v. 23. Dezember, 3). Dazu diente aber auch der massive Flankenschutz durch bis zu 120.000 Plakate und eine gezielte Kinowerbung. Die imaginierte Hassfigur wurde durch das Würfel- und Brettspiel „Jagd auf Kohlenklau“ (Würfel- und Brettspiel), das Quartett „Sei schlau, sonst wirst du Kohlenklau“, durch Postkarten, Streichholzschachteln, Sammelmarken, Ankleber, Diapositive und vieles andere mehr verbreitet. Die Kosten hierfür stellten alle früheren Kampagnen weit in den Schatten, angesetzt waren im Winter 1942/43 5,4 Mio., im Sommer 1943 2,45 Mio. und im Winter 1943/44 5 Mio. Reichsmark (Reif, 2010, 149). Kohlenklau war eine multimediale Kampagne, bis 1944 wurden einschlägige Werbefilme produziert, waren Teil des gerade im Kriege üblichen Kinogangs (Kohlenklau – Animation 1944 (Will Dohm) – YouTube; Zugluft 1944 (Will Dohm) – YouTube). Den Kern aber bildeten, nicht zuletzt finanziell, die Anzeigenserien in Zeitungen und Zeitschriften.

Kampf gegen Kohlenklau: Beispiele aus der ersten und letzten Anzeigenserie (Badische Presse 1943, Nr. 16 v. 20. Januar, 4 (l.); Lippische Staatszeitung 1945, Nr. 72 v. 31. März, 3)

Die Kohlenklau-Kampagne wurde zu einem der seltenen Dauerläufer der NS-Propaganda, der ersten Serie folgten immer wieder neue. Das hatte mit der immer schwierigeren Ressourcenlage des NS-Regimes zu tun, aber auch mit der Attraktivität der an sich bedrohlichen Figur des Dauerdiebes. In den spätestens nach der Niederlage in Stalingrad immer dünneren, vor allem aber zunehmend bildarmen Zeitungen und Zeitschriften war Kohlenklau ein durchaus willkommener, das Einerlei durchbrechender Gast, mochte er auch an staatspolitisch zentrale Pflichten erinnern.

Die erste Serie „Kohlenklau‘s schmähliche Niederlage“ erschien vom Dezember 1942 bis zum April 1943 und umfasste zwanzig Einzelmotive, meist im wöchentlichen Abstand gedruckt. Die Nachfolgekampagne „Denk jetzt im Sommer schon an den Winter“ verzichtete auf den Kohlenklau, präsentierte die Alltagprobleme beim Energiesparen, vor allem aber bei der Pflege und Vorbereitung der Herde und Heizungen für die Winterzeit. Sie stand noch stark in der Tradition der Flämmchen- und der Heize Richtig-Kampagnen, erneuerte vielfach Ratschläge aus der vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in Millionenauflage verteilten 16-seitigen Broschüre „‚Flämmchen‘ antwortet auf die Frage: Wie heize ich richtig?“. Technische Zeichnungen dominierten die von Mai bis August 1943 laufende Kampagne, doch in den fünfzehn Anzeigen fanden sich lediglich zwei Männer, sieben Mal jedoch aktive Hausfrauen. Mindestens fünf gereimte Mahnsprüche flankierten die vorrangig auf den Kohleverbrauch zielende Serie.

Meisterdetektiv Styx auf Kohlenklaus Fährte (Die Bewegung 11, 1943, 62)

Kohlenklau trieb derweil weiter andernorts sein Werbewesen: Im Frühjahr 1943, genauer im März, setzte sich der Meisterdetektiv Styx viermal auf seine Fährte. Das dürfte auch eine Referenz an den im Jahr zuvor aktiven Detektiv Pelle gewesen sein, der gegen Schleichhandel und Wucher ermittelte, auch im Kleingarten und Kartoffelkeller nach dem Rechten sah. Gezeichnet vom NS-Karikaturisten Manfred Schmidt (1913-1999), war er eines der Vorbilder für seinen Meisterdetektiv Nick Knatterton, der ab 1950 ein kommerzieller, auch später mehrfach revitalisierter Erfolg werden sollte. Kohlenklau wurde durch solche Serien zunehmend populär, verlor seinen bedrohlichen Kern, wurde mahnender Alltagsbegleiter. Das unterstrich auch die zehnteilige Kampagne „Steckbrief Kohlenklau“, die Mitte 1943 ebenfalls in Zeitschriften erschien. Sie war aufwendig gestaltet, zielte auf ein sparsames Haushaltshandeln, rechnete dieses unmittelbar in Waffen um, die durch die nötige Achtsamkeit produziert werden konnten. Nun wurden auch verstärkt Pimpfe und Jungmädel auf das „Gespenst“ angesetzt, Beginn einer verstärkten Mobilisierung der Jugend für die energie- und kriegspolitischen Ziele des NS-Regimes (Müglitztal- und Geising-Bote 1943, Nr. 42 v. 8. April, 3).

Die Volksgemeinschaft als Karikatur: Fräulein Etepetete und Bruder Leichtfuß als Beispiele einer unernsten, doch bekehrungswilligen Bevölkerung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 260 v. 6. November, 4 (l.); Schwarzwald-Wacht 1944, Nr. 42 v. 19. Februar, 4)

Derweil wurde Kohlenklau immer mehr zum Klamauk, zu einem kleinen Lacher mit ernstem Hintersinn. Die in den Tageszeitungen abgedruckte Serie „Kohlenklau‘s Helfershelfer“ setzte im Oktober 1943 ein, die zwanzig Motive erschienen bis März 1944. Altbesetzung Kohlenklau trumpfte in seiner bewährten Rolle als gieriger Energiedieb auf, doch interessanter waren die neuen Charaktere. Die Volksgemeinschaft erschien nicht mehr stählern, sondern voller unernster, selbstbezüglicher Typen, die Kohlenklaus Raubzug immer neue Chancen eröffneten. So sehr die Texte das Hauptthema der Energieverschwendung in immer neuen, doch altbekannten Weisen präsentierten, dürfte das Interesse vieler eher der nächsten ironisch gezeichneten Knallcharge gegolten haben: Direktor Hochglanz oder Frau Erstkommich, Ella Fassade oder Lilo Hastig erinnerten allgesamt an Bekannte und Freunde, ein wenig auch an einen selbst. Gemäß dem Ideal nationalsozialistischer Moral führte das zu einer Gesellschaft rücksichtsvoller, doch erforderlicher Korrekturanstrengungen – im Alltag aber etablierte sich eher eine Kultur des Neids und der Denunziation. Kohleklau war etablierter Propagandaakteur, er verlor jedoch seine Härte und sein anfangs intendiertes Grauen.

Vollbad als Fehlverhalten: Kohlenklaus Rechenbuch Nummer 9 (Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 12, 9)

Zwei weitere Einzelkampagnen schlossen sich an: Im Frühjahr 1944 knüpfte „Kohlenklau‘s Rechenbuch“ an die Steckbrief-Serie an. In den nicht mehr allzu vielen Zeitschriften wurde ressourcenintensives Fehlverhalten wieder in Rüstungsgüter umgerechnet – während parallel die Kriegswirtschaft in diesem Jahr in der Tat ihren höchsten Ausstoß erreichen sollte. Ab November 1944 folgte die abermals zwanzigteilige Zeitungskampagne „Waffen gegen Kohlenklau“. Der gierige Held erschien nun im Umfeld der Alltagsdinge; und Handfeger und Sodawasser, Hilfsbrikett und Kellerschlüssel halfen den Deutschen, den Energieverbrauch verlässlich zu begrenzen. Kohlenklau erschien als Getriebener, als stetig Fehlender, als ein Mime ohne Fortune. Nicht alle Motive kamen noch zum Abdruck, angesichts des nahenden Endsieges wurde die anfangs getreulich begonnene Einzelzählung nach kurzer Zeit aufgegeben. Doch die meisten verbliebenen Zeitungen druckten und druckten – wie parallel im Februar/März eine Reichsbahn-Kampagne über angemessenes Verhalten bei Fliegergefahr. Der NS-Staat sorgte, warnte und lenkte bis zum Ende des Schlachtens.

Künstler für das NS-Regime: Hans Landwehrmann

Soweit die immer wieder veränderte NS-Propaganda-Kampagne, die aber nur den kleineren Teil der Auftritte Kohlenklaus in Zeitungen und Zeitschriften umgriff. Bevor wir darauf eingehen, gilt es sich aber noch mit dem Zeichner der Kernkampagnen zu beschäftigen; auch wenn es auf den Druckwerken keine einheitliche Signatur gab. Hans Landwehrmann (1895-1976) bricht nämlich mit den so bequemen und zugleich so fraglichen Vorstellungen einer klar voneinander zu scheidenden Kultur der demokratischen Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes. Von den so gern als Vorläufer der demokratischen Bundesrepublik Deutschland präsentierten mehr als 1.250 Bauhausstudierenden blieben beispielsweise ca. 900 im Deutschen Reich. Von diesen engagierten sich nicht weniger als 188 in der NSDAP (Anke Blümm und Patrick Rössler, Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine statistische Annäherung, in: dies. u. Elizabeth Otto (Hg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, 2. Aufl., Weimar und München 2024, 72-77, insb. 75, 77).

Hans Landwehrmann zeichnet den Kohlenklau (Westfälische Zeitung 1943, Nr. 271 v. 18. November, 3)

Hans Landwehrmann wurde am 13. Oktober 1895 als Sohn des Küsters und Rendanten der Neustädter Marienkirche Hermann Heinrich Paul Landwehrmann (1857-1931) und seiner Gattin Johanne Wilhelmine Friederike, geb. Horstmann (1868-1941) in Bielefeld geboren (Ancestry Person; Adreß-Buch von Bielefeld 1894/95, 100; ebd. 1896, 111). Hans, geboren als Johannes Theodor Walter, war das dritte von vier Kindern, dem schon 1911 verstorbenen Hermann (*1889), Elisabeth (*1892) und Marianne (*1902) (Ancestry Person). Hans war schon früh zeichnerisch aktiv, Arbeiten des Fünfzehnjährigen wurden bereits gedruckt (Illustrationen zu Walter Schulte von Bruhl, Vom westfälischen Dorfe, Die Gartenlaube 58, 1910, 1083-1087). Er besuchte von 1912 bis 1914 die 1907 gegründete Staatlich-Städtische Handwerkerschule mit kunstgewerblichen Tagesklassen in Bielefeld, die anfangs vom Architekten und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Wilhelm Thiele (1873-[? 1945]) geleitet wurde. 1914 wechselte Landwehrmann an die Königliche Kunstakademie in Düsseldorf, wurde 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, war bis Kriegsende Soldat. In Bielefeld wurde er dann Mitglied der Künstlergruppe „Rote Erde“, trat bei Ausstellungen als Landschaftsmaler hervor (Westfälische Zeitung 1920, Nr. 234 v. 11. Oktober, 5: Westfälische Neueste Nachrichten 1920, Nr. 152 v. 6. Juli, 2). Vor der Inflation war er in Dortmund tätig (s. unten), lebte dann zumindest kurzzeitig in Bremen (und bedingt Worpswede) (Handbuch des Kunstmarktes, Berlin 1926, 156), zeichnete ab Ende 1925 unter anderem für die sozialdemokratische Karikaturzeitschrift „Lachen Links“ (Volkswille 1925, Nr. 276 v. 25. November, 5: Lachen Links 3, 1926, 290, 366). Er siedelte nach Berlin über, wo er allerdings erst seit 1929 sicher nachweisbar ist (Amtliches Fernsprechbuch für Berlin und Umgegend 1929, 665). Auch dort pflegte er weiterhin kritische Kunst im Umfeld der Sozialdemokratie (Lübecker Volksbote 1931, Nr. 162 v. 15. Juli, Der Spatz, Nr. 29, 2). Landwehrmann gilt auch in der einschlägigen publizistischen Forschung als ein republikanischer Künstler (Frank Zeiler, Verfassungsbildsatiren zwischen Republikfeindschaft, Vernunftrepublikanismus und Republiktreue, Jahrbuch der Juristischen Zeitschrift 17, 2016, 395-435, hier 421, FN 104; Winfried Nerdinger und Ute Brüning, Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus, 1993, 46; Klaus Haese und Wolfgang U. Schütte, Frau Republik geht pleite. Deutsche Karikaturen der zwanziger Jahre, Leipzig 1989, 125, 127). Auch als Kunstmaler war er weiter aktiv, erreichte über die Illustrirte Zeitung ein gehobenes Massenpublikum (Tages-Post 1931, Nr. 295 v. 23. Dezember, 9).

Eigenwerbung des Graphikers Hans Landwehrmann 1932 und 1936 (Seidels Reklame 16, 1932, H. 1, XI; Gebrauchsgraphik 13, 1936, Nr. 11, 11)

Das Hauptgeschäft aber verlagerte sich auf die Werbung, wobei Landwehrmann nicht nur Markenartikelwerbung etwa für Blauring-Pfeifentabak, sondern auch Gemeinschaftswerbung für Bohnenkaffee oder aber Agrarwerbung für deutsches Obst und Gemüse gestaltete (Seidels Reklame 16, 1932, 109, 111, 113; Dokumente deutscher Werbearbeit: Der Gebrauchsgrafiker Hans Landwehrmann, Berlin, ebd. 195-197). Ob die Machtzulassung der NSDAP und ihrer nationalistischen Koalitionspartner für Landwehrmann einen tieferen Einschnitt bedeutete, ist unklar. Er arbeitete jedenfalls weiter als Werbegraphiker, zeichnete dabei auch weiterhin modern, wie etwa die Fotos und Zeichenfiguren verbindende Werbung für den Adressograph der kurz zuvor arisierten Adrema unterstrichen (Werben und Verkaufen 20, 1936, 290).

1942 beteiligte sich Hans Landwehrmann schließlich an der Ausschreibung für die Energiesparkampagne und gewann den ersten Preis. Dies gab relative Sicherheit, recht hohe Honorare, zudem öffentliches Renommee, wusste doch jeder: „Kohlenklau ist wohl im Augenblick die populärste Figur der deutschen Werbung“ (Ein Westfale schuf den ‚Kohlenklau‘, Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4). Ende 1943, Anfang 1944 präsentierten zahlreiche Artikel den „Vater“ Kohlenklaus. Seine Biographie wurde umgeschrieben, die Aufstiegsgeschichte eines Frontsoldaten präsentiert, der sich in Berlin als „Pressezeichner, Industriegraphiker, Buchillustrator“ durchgesetzt hatte (Hans Niemeier, Der Zeichner „Kohlenklaus“ Westfale, Bochumer Anzeiger 1943, Nr. 304 v. 28. Dezember, 3), der zugleich aber als Modell eines deutschen, eines kernig westfälischen Künstler diente: „Ein buntes, unruhiges Leben. Erfüllt von Arbeit und der Liebe zu allem Schönen, zur Musik, zur Literatur. Ein guter Goethe-Kenner, ein stiller Lyriker, Aphorismenschreiber – vor allem ein Mann voll warmer Menschlichkeit, ein alle Situationen meisternder Humor“ (Ders., Kohlenklaus Schöpfer, DGA. Generalanzeiger 1943, Nr. 350 v. 19. Dezember, 8; ähnlich ders., Der Zeichner „Kohlenklaus“. Hans Landwehrmann: Ein westfälischer Künstler, Westfälische Tageszeitung 1944, Nr. 5 v. 7. Januar, 3; gekürzt auch in Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Tremonia, Ausg. E, 1944, Nr. 6 v. 8. Januar, 3).

Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Spitzen der NS-Propaganda öffnete Landwehrmann zudem Türen zu weiteren Aufträgen. So entwickelte er eine positive Gegenfigur zum Energiedieb Kohlenklau. Der Knobelmann war „der als Vorbild herausgestellte Gefolgsmann, der nach der gewissenhaften Erledigung seines Tagespensums sich mit Verbesserungsvorschlägen befaßt, die die Arbeitskameraden anspornen wollen und neue technische Höchstleistungen anstreben. Auf dieser Linie liegt überhaupt die Arbeit Landwehrmanns, der sein künstlerisches Schaffen vorbehaltlos kriegswichtigen Dingen zugewendet hat. Er zeichnet Figuren, die den Gedanken propagieren, alles zu tun und nichts zu unterlassen, um den Sieg zu erreichen“ (Kohlenklau sieht in den Spiegel, Die Glocke, Ausg. D, 1944, Nr. 316 v. 30. November, 4). Knobelmann erlangte während der NS-Zeit keine größere Bedeutung, doch in der DDR wurde Oskar Knobelmann Vorreiter einer Knobelmann-Bewegung für Verbesserungsvorschläge (Sozialistische Finanzwirtschaft 15, 1961, 219): „Sei ein Knobelmann, / streng Dein Köppchen an, / hilf, / wo man helfen kann“ (Elise Riesel, Lexikalische Auflockerung als Stilmittel und als sprachliche Umnormung, in: Probleme der Sprachwissenschaft. Beiträge zur Linguistik, The Hague und Paris 1971, 477-485, hier 482). Die Figur war Teil einer regimeübergreifenden Brigade der Verbesserer, stand Seit an Seit mit Bastelfritz, Kollege Denkmit, Peter Grips, Kollege Tüftel, Frieda Findig oder auch der Brigade Zack.

Nach 1945 knüpfte Landwehrmann ohne größere Brüche an seine Arbeit als Gebrauchsgraphiker in den 1930er Jahren an, zuerst in Essen (Adreßbuch Essen-Mülheim 1953, 428; Charlotte Fergg-Frowein, Kuerschners Graphiker-Handbuch. Deutschland, Österreich, Schweiz, Berlin/W. 1959, 101), ab 1957 dann in Frankfurt/M. (Dies., Dass., 2. erw. Aufl., Berlin/W. 1967, 169; Amtliches Fernsprechbuch […] Frankfurt am Main 1957, 176). Hans Landwehrmann, der nach 1945 unter dem Namen Johannes Landwehrmann arbeitete, illustrierte anfangs auch Jugendbücher (Die Raabe-Post, Berlin 1950). Er starb am 9. November 1976. Zu Kohlenklau und seiner Rolle als Zeichner der wichtigsten NS-Propagandakampagne der Kriegszeit hat er sich nicht näher geäußert. Dabei lautete doch ein Kohlenklau-Werbeslogan: „Halt dir den Spiegel vor’s Gesicht…“.

Alliierte Pendants: Sparsamkeit als Teil jeder Kriegsanstrengung

An diesem Punkt enden die üblichen Darstellungen von NS-Propagandakampagnen, denn deren Konturen, deren zeithistorischer Kontext, deren Macher wurden benannt. Drei Aspekte sind jedoch zwingend zu ergänzen, um einer solchen propagandistischen Anstrengung gerecht zu werden. Erstens fehlt eine vergleichende Perspektive, die über die Grenzen des Deutschen, des Großdeutschen Reiches hinausweist. Mitte 1943 wurde in Großbritannien „Squander Bug“ von der Kette gelassen, eine kleine, mit Hakenkreuzen übersäte Wanze, die vor überbordender Verschwendung warnte und britische Konsumenten dazu bringen sollte, stattdessen britische Kriegsanleihen zu kaufen (Paradox of the Squander Bug, Britain 3, 1943, 20-22). Entwickelt vom Graphiker Phillip Boydell (1896-1984) und lanciert von der bereits während des Ersten Weltkriegs aktiven National Savings Movement, wurde das tuschelnde Ungeheuer im Deutschen Reich als „eine kleine Anleihe bei der so erfolgreichen deutschen Kohlenklaufigur“ präsentiert und als Methode „der geschäftlichen Reklame“ denunziert (Grosse Reklame zur Deckung der Kriegskosten, Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 23 v. 8. Juni, 3).

Alliierte Kohlenklau-Pendants: Squander Bug in den USA (l.) und Großbritannien (Gwiadzda Zachodu 1944, Nr. 10 v. 3. März, 4 (l.); Evening Star 1943, Nr. 3671 v. 30. November, A-03)

Squander Bug wurde in Australien, vor allem aber in den USA aufgegriffen und als Propagandafigur neu gestaltet (Diana Noyce, The Squander Bug: Propaganda and its Influence on Food Consumption in Wartime Australia, in: Mark McWilliams (Hg.), Food & Communication, London 2016, 305-318). In den Vereinigten Staaten beauftragte die War Finance Division des Finanzministeriums keinen geringeren als den Karikaturisten und Kinderbuchautoren Dr. Seuss, Theodor Seuss Geisel (1904-1991), mit der Vorlage für eine wie in Großbritannien multimediale Propagandakampagne (Charles D. Cohen, The Seuss, the whole Seuss, and nothing but the Seuss. A visual biography of Theodor Seuss Geisel, New York 2004, 254-257; The „Squander Bug”, Monthly Bulletin. Interdepartmental War Savings Bond Committee 1944, No. 2, 10). Trotz breiter Akzeptanz erreichten Kohlenklaus alliierte Pendants jedoch nie die Alltagspräsenz des deutschen Diebes. Umgekehrt bezichtigte der US-amerikanische Schriftsteller John Scott Landwehrmann (ungerechtfertigt), seine Figur an den Stil des US-Karikaturisten Peter Arno (1904-1968) angelehnt zu haben, einem der bekanntesten Zeichner der Zeitschrift „The New Yorker“ (John Scott, Europe in Revolution, Boston 1945, 164). Für unsere Argumentation ist dieses Hin und Her wichtig, da es die Frage nach dem spezifisch nationalsozialistischen Charakter Kohlenklaus nochmals schärfer stellt. All diese Figuren waren Antigeneralisierungen von Kriegsnotwendigkeiten, mochten sie sich auch formal und in Bezug auf ihre spezifischeren Zielsetzungen deutlich voneinander unterscheiden.

Kleinkampagnen: Markenartikelhersteller präsentieren Kohlenklau

Die stete Abfolge immer neuer Kampagnen und auch die Lagebeurteilen des Sicherheitsdienstes der SS zeugen von einer insgesamt positiven Aufnahme der Propaganda: „Die Energie-Sparaktion („Kohlenklau“-Propaganda) hat […] fast überall eine gute Aufnahme gefunden. „Kohlenklau“ sei rasch eine volkstümliche Figur geworden, und sehr häufig werde beobachtet, daß Volksgenossen sich, wenn irgendwo ein Fenster oder eine Tür offen steht, gegenseitig durch den Zuruf: „Kohlenklau“ zum Sparen anhalten. Die zeichnerische Gestaltung des „Kohlenklau“ sei recht originell und die Knittelverse sowie die übrigen Texte recht gelungen. Vor allem die Jugend habe ihren Spaß daran und trage viel dazu bei, die Gestalt und die damit verbundenen Sparparolen durchzusetzen“ (Meldungen aus dem Reich, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718). Diese Meldungen unterstrichen zugleich eine differenzierte Beurteilung der Propaganda. Rundfunksendungen galten als Kinderkram, das propagierte Turmkochen wurde schon deshalb belächelt, weil es im mächtigen Deutschen Reich nicht mehr genügend Töpfe dafür gäbe. Bei Strom und Gas könne man wohl noch sparen, nicht aber bei der Kohleheizung. Bezeichnend war auch eine bemerkenswerte Umdeutung der Kampagne: „Die breiten Schichten der Bevölkerung bezögen deshalb den Appell zum Sparen nicht so sehr auf sich und meinten, daß in der ‚Kohlenklau-Propaganda‘ nicht nur Beispiele dafür gebracht werden sollten, wie noch mehr gespart werden könne, sondern vor allem solche Beispiele, die eine regelrechte Verschwendung sichtbar machten und den Aufruf zum Sparen deutlicher an die Kreise richteten, die es in erster Linie angeht“ (Ebd., 4719). Kohlenklau spiegelte demnach auch die allseits bekannte und hinter der Hand strikt kritisierte Korruption und den Protz führender NS-Repräsentanten.

Anderseits entsprach die Kohlenklau-Kampagne den Vorstellungen der zwar regulierten und gelenkten, durchaus aber noch eigenständigen Privatwirtschaft. Es ging um die Herstellung einer völkischen Effizienzgemeinschaft, die sich im Angesicht der Krise bewährte, die individuelle Bedürfnisse zurücknahm, um den Rüstungs- und Kriegsanstrengungen zu genügen. Kohlenklau verkörperte ein schon in den Rationalisierungsdebatten der Weimarer Zeit stetig präsentes Ideal unternehmerisch rationaler Mittelverwendung: „Heute arbeitet man so nicht mehr. Heute soll man aber auch auf Kohlenklau achten“ (Maurerschweiß, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 22 v. 22. Januar, 4). Der einzelne Arbeitnehmer, insbesondere aber die im Gegensatz zu disziplinierten Betriebsgemeinschaften noch undisziplinierten Hausfrauen sollten dies endlich umsetzen: „Hausfrauen sollen heute nicht nur Kochfrauen, sondern Kochkünstlerinnen sein, auch was das Ersparen des Brennstoffes betrifft, dann kommen wir alle mit kleinsten Rechnungen auf unsere Rechnung, nur Kohlenklau nicht“ (Schwarz auf weiß, Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 313 v. 12. November, 6). Auch der Alltag sollte effizient umgestaltet werden, das alte Mittelstandsideal von Leben und Leben lassen war veraltet. Selbstmobilisierung war just im Kleinen erforderlich, etwa bei nicht schließenden, zugigen Türen: „Dann malte ich, der Untermieter, zwei Schilder und hing sie draußen und drinnen an die Tür: Zugemacht, ist halb gelacht! Sei du schlau, nieder mit’m Kohlenklau!“ (Selbstgespräch, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 45 v. 14. Februar, 4) Kohlenklau war daher viel mehr als ein neugewandter schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne jedoch die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man wusste, dass Anleitung und Lenkung achtsam erfolgen musste, wertschätzend. Die tägliche Denunziation und Volksschädlingsexekutionen gehörten gewiss zur Realität des NS-Regimes, doch der verpackte Hinweis war weiter verbreitet, bekam just dadurch Gewicht.

Es ist daher nicht überraschend, dass ab Februar 1943 die Markenartikelindustrie Kohlenklau nutzte, um einerseits ihre Anzeigen mit einer attraktiven Werbefigur zu zieren, andererseits ihr Effizienzideal gegenüber den Konsumenten hochzuhalten. So breit die Kohlenklau-Kampagne auch sein mochte, so wurde sie zahlenmäßig von der nun einsetzenden privaten Kohlenklau-Werbung deutlich übertroffen. Mit dieser Neugestaltung der Unternehmenskommunikation arbeiteten die Unternehmen dem Führer entgegen, folgten dabei aber immer auch eigenen Zwecken. Angesichts zumeist hoher Kriegsgewinne war zielgerichtete Kooperation mit dem NS-Staat unternehmerisch rational: „Auf fast allen hier genannten Gebieten ist die Privatwirtschaft in der einen oder andern Form im Sinne der Staatsinteressen mit tätig“ (Alfred Helzel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124).

Sparsamkeit bei Zahnpasta und heißem Wasser: Solidox-Werbung mit Kohlenklau (Junge Welt 5, 1943, H. 5/6, III (l.); Das Deutsche Mädel 1943, Nr. 11/12, III (M. o.), Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 18, 9 (M. M.); Das Deutsche Mädel 1943, H. 7/8, IV (M. u.); ebd. 1944, H. 5/6, 20)

Ein Beispiel mag genügen: Solidox war eine seit 1935 im Deutschen Reich als Mittel gegen Zahnstein vermarktete Zahnpasta (Deutscher Reichsanzeiger 1935, Nr. 215 v. 14. September, 7). Sie war Teil des Markenportfolios von Unilever resp. Elida und profitierte ab 1938 von den neuen Absatzchancen im großdeutschen Markt. Angesichts der strikten Regulierung des Fettmarktes, aber auch aufgrund der nichtdeutschen Kapitaleigner agierte die Berliner Solidox Gesellschaft für Zahnhygiene mbH regimenah, unterstützte die allgemeine Propaganda für Volks- und Zahngesundheit. 1943 gab es die allseits üblichen Produktionskürzungen und Lieferschwierigkeiten, doch Kohlenklau machte die Anzeigenwerbung staatspolitisch wichtiger. Die neuen Motive zielten dabei unter anderem auf eine Abkehr vom Zähneputzen und Gurgeln mit heißem Wasser – eine den meisten Nachgeborenen wohl bereits völlig undenkbare Praxis. Der Schlagschatten sparsamen Kriegshandelns war lang.

Markenartikelwerbung mit Kohlenklau 1942-1945: Eine Auswahl aktiver Unternehmen

Untersucht man die Anzeigen in den Zeitungen und Zeitschriften ab Anfang 1943, so findet man dutzende Firmen mit ähnlichen Kohlenklau-Kampagnen. Die Übersicht enthält zwei Dutzend Firmen, ist aber unvollständig. Das Hamburger Unternehmen Beiersdorf, „entjudet“ und regimetreu (Alfred Reckendrees, Beiersdorf. The Company behind the Brands NIVEA, tesa, Hansaplast & Co., 96-138, allerdings ohne Eingehen auf die Kriegswerbung), stellte schon im März 1943 sein Sortiment in den Dienst der Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1943, Nr. 55 v. 7. März, 7; ebd., Nr. 61 v. 14. März, 8). Neben die Markenartikelwerbung einzelner Firmen trat zudem Gemeinschaftswerbung mit Kohlenklau. Angesichts dieser breit gefächerten Aktivitäten erscheint Kohlenklau nicht mehr länger als Kampagne staatlicher Akteure und der Energiewirtschaft, sondern auch als privatwirtschaftliche Anstrengung. Der Blick vorrangig auf die staatliche NS-Propaganda verkennt und verdeckt ihre zunehmend breitere Trägerschaft.

Wasser als zunehmend gefährdetes Grundgut

Das Effizienzideal der Kohlenklau-Kampagne konzentrierte sich auf den Umgang mit Kohle, Strom und Gas, griff jedoch von Anbeginn darüber hinaus. Ressourcenschonendes Handeln ist im Idealfall nur schwer zu begrenzen, führt zu allgemeiner Sparsamkeit. Entsprechend gab es immer wieder Anklänge, den Verbrauch auch von Grundgütern wie Wasser auf das notwendige Maß zu reduzieren. In der staatlichen Kohlenklau-Kampagne wurde mehrfach eine mit Warmwasser gefüllte Badewanne gezeigt. Ähnliches galt auch für die eigenständige Fortführung der Propaganda in den Werkszeitungen der Industrie. Diese zeichneten, wie im folgenden Bild des Mannheimer Landmaschinen- und Rüstungsproduzenten Lanz, ihren eigenen Kohlenklau, modifizierten den Ressourcendieb für ihre eigenen Zwecke.

Kohlenklau als Wasserdieb: Serienmotiv und Fortzeichnung der Serie in der Industrie (Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 41 v. 10. Februar, 4 (l.); Energie 22, 1943, H. 7/8, IV)

Wasser war 1942/43 an sich genügend vorhanden, die Trinkwasserversorgung funktionierte, die Qualität war ausreichend. Der immer stärkere Druck der alliierten Bomberangriffe unterstrich jedoch, dass sich dies rasch ändern konnte, denn die an sich geltenden völkerrechtlichen Regeln waren für alle kriegsführenden Parteien längst Makulatur. Das von den Talsperren und Wasserreservoirs im Sauerland und in Waldeck abhängige Ruhrgebiet sollte dies zu spüren bekommen, nachdem Spezialeinheiten der britischen Royal Air Force in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 die Eder- und Möhnetalsperren massiv treffen konnten. Knapp 1.600 Menschen, darunter mehr als eintausend Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, wurden bei dieser Operation Chastise durch Wassermassen und ihre Folgeschäden getötet. Die Wasserversorgung wurde erheblich beeinträchtigt, Notmaßnahmen und Rationierungen waren die Folge. Auch wenn die Angriffe ihre strategischen Ziele nicht erreichen konnten, und die Wasserversorgung Ende Juni 1943 wieder vollständig hergestellt war, wurde Wasser zu einem öffentlichen Thema.

Wasserknappheit als Drohung: Temporäre Versorgungseinrichtungen nach der Zerstörung der Eder- und Möhnetalsperre durch die Royal Air Force am 17. Mai 1943 (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 117 v. 21. Mai, 5)

Der recht trockene Sommer 1943 verschärfte die Versorgungssituation. Seit August 1943 begannen im Rhein-Ruhrgebiet neuerlich Kampagnen für das Wassersparen. Getragen vor allem von den jeweiligen Stadtwerken beinhalteten sie zumeist praktische Ratschläge für Hausfrauen und Haushalte – und knüpften dabei vielfach an die Kohlenklau-Motive an: Die Wanne sollte nur zum Teil gefüllt werden, das damals noch eher unübliche Duschen sei eine gute Alternative. Das Warmwasser für Heißgetränke und das Spülen sollte vorab ausgemessen werden (Lippische Staatszeitung 1942, Nr. 208 v. 2. August, 5): „Wer Wasser spart, spart Kohle!“ (Annener Zeitung 1943, Nr. 55 v. 6. März, 3) Und auch beim Wassersparen galt: „Jeder Tropfen Wasser, der im Haushalt nutzlos abfließt, fehlt an wichtiger Stelle für die Rüstung“ (Wasser sparen!, Rheinisch-Bergische Zeitung 1943, Nr. 193 v. 19. August, 3). Die regionale Propaganda appellierte an Einsicht und Rücksichtnahme. Ein echter Deutscher könne sich auf die berechtigten Belange der Volksgemeinschaft einrichten, seinen eigenen Bedarf einsichtig zurückfahren (Wie kann man Wasser sparen?, Langendreerer Zeitung 1943, Nr. 186 v. 11. August, 4). Diese Selbstzucht, diese Pflege der technischen Infrastruktur sei kriegswichtig: „Wasser sparen bedeutet Beihilfe zum Endsieg!“ (Aachener Zeitung 1943, Nr. 188 v. 16. August, 4) Die andauernde Trockenheit ließ die Vorgaben bedrohlicher werden, Verschwendung würde „im Sinne der bestehenden gesetzlichen Vorschriften geahndet werden“ (Spart mit dem Wasser! Eine saisonbedingte Mahnung, Völkischer Beobachter 1943, Nr. 237 v. 25. August, 3). Freiwillige Einschränkungen könnten vor „Zwangsmaßnahmen“ bewahren (Es bleibt beim freiwilligen Energiesparen, Aachener Zeitung 1943, Nr. 224 v. 27. September, 4). Adressat all dessen war vorrangig die Hausfrau (Auch die Hausfrau hilft mit!, Lippische Staatszeitung 1943, Nr. 253 v. 15. September, 3). Im Betrieb würde ohnehin gespart, doch auch der Hausfrauenarbeitsplatz dürfe nicht schwimmen.

Wasserplansche und Kohlenklau im Hochzeitsornat (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5)

Vor diesem Hintergrund erscheint das Auftauchen der Wasserplansche nachvollziehbar. Ein neues Ungetüm, eine Ausgeburt der Verschwendung. Doch als sie am 9. November 1943 erstmals gedruckt wurde, just zwanzig Jahre nach dem in München zusammengeschossenen „Blutmarsch“ der Hitler-Bewegung und ihrer Bündnisgenossen, hatte sie Kohlenklau an ihrer Seite. Der galt als bedrohlich, war als Monster und Feind eingeführt worden. Das wurde auch der Wasserplansche nachgesagt, doch richtig ernst zu nehmen war das offenbar nicht: „Kohlenklau / Ei, wie schlau, / Nimmt sich eine reiche Frau. / Wasserplansche ist der Name / Dieser wassergier’gen Dame. / Er stiehlt Kohlen, Licht und Gas, / Ihr macht’s Wasserplanschen Spaß. / Wasserplansch und Kohlenklau, / Dieser Mann und diese Frau, / Sind im Kriege böse Geister, / Im Verschwenden große Meister. // Sollten sie sich mal verstohlen / Bei euch neue Beute holen, / Sperrt sie ein und laßt sie flittern, / Bis sie ihre Strafe wittern. / Denn Strafe folgt, das ist doch klar – Für dieses saub’re Ehepaar“ (Treliko, Kohlenklau macht Hochzeit, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5). Obacht, Volksgenossen, war der Tenor der neuen Kampagne. Doch angesichts der schon viele Wochen laufenden Großkampagne „Kohlenklau’s Helferhelfer“ war tiefer Ernst auch in bedrohlicher Kriegslage kaum mehr aufzubringen.

Die Wasserplansche war eine Erfindung der Redaktion der nationalsozialistischen Parteizeitung „Westfälische Landeszeitung – Rote Erde“ in Dortmund. Die „Westfälische Landeszeitung. Rote Erde“ war seit dem 30. Januar 1934 die Parteizeitung der NSDAP und amtliche Zeitung des Gaus Westfalen-Süd. Sie folgte auf den „General-Anzeiger für das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet“, der bis zum 20. April 1933 vom Dortmunder Verlagshaus Krüger herausgegeben, dann enteignet und unter dem tradierten Namen erst einmal fortgeführt wurde. In ihr ging ab Anfang Mai 1933 die vorherige NSDAP-Parteizeitung „Rote Erde“ auf. In den Folgejahren etablierte sie sich mit einer Druckauflage von 1937 205.000 und 1939 225.000 Exemplaren und acht Bezirksausgaben als reichweitenstärkste Tageszeitung Westfalens (Kurt Peschel, Von der Asphaltpresse zur Presse des neuen Reiches, Unser Wille und Weg 8, 1938, 247-253, hier 252; Schlag nach!, 2. erw. u. verb. Aufl., Leipzig 1939, 506; Nationalsozialistisches Jahrbuch 13, 1939, 322).

Das Erscheinen der Wasserplansche war Resultat des Zusammenwirkens von Texter und Pressezeichnerin, das wir weiter unten noch genauer auffächern werden. Doch es knüpfte auch an das besondere Renommee des Kohlenklau-Zeichners Hans Landwehrmann an, der 1922/23 in Dortmund als Graphiker der Dortmunder West-Werbe-Gesellschaft tätig war und auf Anregung des Stadtbaurates Hans Strobel (1881-1953) auch Notgeld gestaltete (Das Westfalenlied als Notgeldschmuck, Düsseldorfer Zeitung 1922, Nr. 344 v. 11. Dezember, 2). Die Stadt habe dadurch „auf ihren soeben zur Ausgabe gelangten Notgeldscheinen zu 25 und 50 Mark nicht nur Kirchturmspolitik getrieben, sondern weitherzig die Ehre und Schönheit der Roten Erde, deren größte Stadt sie ist, gepriesen zu haben und so aller Welt zu verkünden“ (Das Westfalenland im Bilde, Wittener Tagblatt 1922, Nr. 292 v. 13. Dezember, 5). Landwehrmann malte damals auch Landschaftsbilder Dortmunds, Industriebilder, der Härte der Montanregion angemessen und stellte 1923 in der Stadtbibliothek Dortmund einen Zyklus „Der Reinoldus“ aus, gewidmet dem Stadtpatron der größten Stadt Westfalens (Gemäldeausstellung bei C.L. Krüger, Dortmunder Zeitung 1923, Nr. 309 v. 30. November, 2; Erich Schulz, Stadtbibliothek Dortmund. Kurzer Bericht über die ersten 25 Jahre, Dortmund 1932, 20). Die Wasserplansche dürfte daher auch eine Hommage an einen früheren Künstler im Land der Roten Erde gewesen sein.

Der machtlose Staat und das Duo der Verschwendung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5)

Eine Woche nach dem Hochzeitsbild begann ein von einem Lesergedicht eingeleitetes Pas de Deux zwischen Zeichnerin und Texter. Sie setzten sich zusammen, fabulierten über die Fortsetzung, sie zeichnete, er schrieb, am Ende stand ein ernst gefasstes und humoristisch präsentiertes Duett. Anlass war die beträchtliche Resonanz aus der Leserschaft. Demnach habe sich das Staatliche Gesundheitsamt Klaustedt gemeldet, um die Ehe von Wasserplansche und Kohlenklau für ungültig zu erklären. Schließlich handele es sich um zwei organisch missgebildete Personen, die daher vor Eheschluss hätten sterilisiert werden müssen. Dieser Nachweis aber fehle. Im Gegenteil, ein Leser habe bereits über den Sohn der beiden geschrieben, offenbares Zeichen nicht praktizierter Eugenik. Der Humor verschwand, schließlich wurden aufgrund des im Juli 1933 erlassenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, wobei knapp 5.000, meist Frauen, an den Folgen des Eingriffes starben. Das war, wie der Judenmord, zu dieser Zeit ein offenes Geheimnis. Und die Humoreske gebar den Feind, Wasserplansche und Kohlenklau „werden in wilder Ehe weiterleben, uns Schaden zufügen, wo sie können, an Strom und Kohle, Wasser, Licht und Gas räubern, was sich räubern läßt, und wir wollen nur hoffen, daß der ‚Dr. Pforgaff‘ (der Name ist leider nicht zu entziffern, aber dafür ist es ja auch ein Doktor!) ebenso eifrig, wie er den Paragraphen schwingt, auch Licht ausknipst und die Wasserhähne schließt! Denn mit Paragraphen allein ist nichts voran zu bringen…“ (Kondi, Die Vertreibung aus dem Paradies oder „Kohlenklau und das Gesundheitsamt“, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5).

Autor Kondi hat von Ende 1943 bis Herbst 1944 mindestens 28 Beiträge in der Westfälischen Landeszeitung veröffentlicht, zumeist Kommentare über Alltagsfragen, die teils in der Kolumne „Sowas gibt es heutzutage…!“ im Sinne des Regimes erläutert und bewertet wurden. Derartiger Anleitungsjournalismus prägte ab April 1944 auch die Kolumne „Auf die Art geht’s besser“. Bei der Sorge für das Ganze ging es allein um das Ganze der fast beliebig zu definierenden Volksgemeinschaft.

Wasserplansche und Kohlenklau als trautes Paar (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Getragen von Leserzuschriften und -anfragen wurde das missgebildete Paar jedoch weiter präsentiert, voller Gier, auf der Suche nach Kohle und Wasser. Sie wurden nicht gefürchtet, sondern belacht – und das war gefährlich, denn auch sie lachten den Leser aus, ergötzten sich an dessen unbedachtem Handeln, das sie nährte: „Hilfe! Rettung! Kohlenklau und Wasserplansch [sic!] bedrohen mich!“ (Kondi, Da blüht der Weizen…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Familie Kohlenklau beim Spaziergang (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Am 27. November ging es weiter, ein Leser konnte nun endlich die schon bekannte Nachricht über neues Glück und neues Leben formgerecht verbreiten: „Kohlenklau ist sehr benommen, / er hat einen Sohn bekommen, / der der ganze Vater ist, / am ersten Tag gleich Kohlen frißt. // Grausam ist’s mit anzuschau’n, / wie sie Strom und Gas uns klau’n, / bringt die Schlingel zum Gericht, / Gnade gibt es für sie nicht. // Frau Wasserplansche will versuchen, / am Waschtag Frauen zu besuchen. / Liebe Hausfrau’n, habet acht, / wie Wasserplansch euch Schaden macht! // Sie schwatzt gar lang und schwatzt gar breit / stiehlt schwatzend euch nicht nur die Zeit, / nein, auch noch Wasser, Kohle, Licht! / Seid wachsam, Frau’n und duldet’s nicht!“ (Rudi Simoneit, Kohlenklau – hat einen Sohn…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Andere, leider nicht näher bezeichnete Quellen, diskutierten sogleich seinen Namen, warnten zugleich aber davor das wachsende Monster als Kind misszuverstehen, es gar zu füttern. Im Reimmodus der an Mahnsprüche gewöhnten deutschen Nation mutierte das gleich zum Totschlag: „Kohlenklau hat einen Sohn! / Ist das nicht ein großer Hohn? / Und sein Nam‘ ist Kohlenkläuschen. / Das junge Paar ist aus dem Häuschen. / Es will das Kläuschen so erzieh’n, / Daß es kann auf Raub ausgeh’n. // Wasserplansch, Kohlenklau und Klaus, / Faßt sie, schmeißt sie raus! / Nichts soll ihnen mehr gelingen, / Wir wollen alle drei umbringen! / Drum helft uns nun alle mit, / Gebt ihnen den verdienten Tritt!“ (Wie soll der „Knabe“ heißen?, https://www.energieverbraucher.de/de(kk-s-familie__1461)

Parallel begann jedoch eine Selbstreflektion innerhalb der Westfälischen Landeszeitung, die den offenkundigen Spaß der Leser an den selbst kreierten, zunehmend aber fremd imaginierten neuen Gefährten Kohlenklaus einzufangen hatte: Sie alle seien westfälische Geschöpfe, entstammten somit der Roten Erde: „Jedenfalls stammt der Zeichner, der den Herrn Kohlenklau erdacht hat, aus Westfalen. Und die Frau Kohlenklau, geborene Wasserplansche, hat ihre geistigen Eltern in der Schriftleitung der ‚Roten Erde‘. Als drittes hat der Sprößling der beiden bei unseren Lesern seine geistigen Urheber, und würden wir die Kohlenklau-Familiengeschichte nicht schleunigst beenden, dann würden wir in kurzer Frist ein eigenes Kohlenklau-Familienblatt herausgeben müssen. Wir haben so viele Gedichte und andere Beiträge zur Familiengeschichte der sauberen Spitzbuben-Familie bekommen, daß wir beim besten Willen mit dem Abdruck nicht nachkommen können. Wir machen also einen dicken Strich und lassen die Familiengeschichte der Kohlenklaus nunmehr auf sich beruhen“ (Kondi, Die Kohlenklau-Familiengeschichte, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 283 v. 3. Dezember, 5). Denn noch vergnüglicher als das Umfeld der Wasserplansche sei die Zeit nach dem Sieg, dem über Familie Kohlenklau, dem über die Alliierten. “Kohlenklau, Wasserplansche und ihr Sprößling sind zwar die heitere Form, ernste Dinge zu behandeln, aber davon werden diese ernsten Dinge nicht aus der Welt geschafft. Ueber Kohlenklauscherze wollen wir lachen, aber im Ernst wollen wir das tun, was damit doch immer wieder geraten wird: Kohlen sparen, Licht sparen, Strom sparen, Wasser sparen, bei sich und auch bei andern und wo es heutzutage noch ‚so etwas‘ gibt, dort wollen wir energisch zupacken!“ (Ebd.)

Doppelte Verschwendung im Brausebad (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5)

Doch die Schriftleiter wurden die Geister nicht mehr recht los, die sie einst gerufen hatten. Wohl auf Ansinnen der Leser folgten noch weitere Episoden, nun aber in ernster, mahnender Manier. Herren im Brausebad verschwendeten heißes Wasser – und schon tauchen sie auf, „Kohlenklau und Wasserplansche, das saubere Ehepaar; er begierig nach sinnlos vergeudeter Kohle und sie in vollen Zügen nutzlos verplanschtes Wasser schlürfend“ (Kondi, Kohlenklau im Bade, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5). Und die beiden Herren redeten derweil, vielleicht gar über die gierigen Ungeheuer, die sie doch nährten.

Familienstreit um Wasser und Kohlen (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Familie Kohlenklau blieb auch danach Gesprächsthema in Westfalen. Die Texte kreisten stärker um das Thema der Energie- und Wassereinsparung, doch die Familiengeschichte wurde mit dem ersten Krach der jungen Ehe fortgesetzt. Sie wollte Wasser, er Kohle, man stritt um die Wasserleitungen, ob diese gefroren platzen oder aber mit loderndem Feuer zum Fließen gebracht werden sollten. Da kannte die Wasserplansche keinen Spaß, begoss wutrasend Vater und Sohn. Die Moral war klar: „Aber irren wir uns nicht, sie sind bald wieder einig und ziehen wieder zusammen aus, Wasser, Kohlen, Licht, Strom und Gas gemeinsam zu stehlen, wo sie können! Drum lacht über sie – aber legt ihnen das Handwerk!“ (Krach im Hause Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Das Über-Ich der Volksgemeinschaft: Wasserplansche und Kohlenklau beobachten alle (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Und da waren sie schon wieder, nutzten die gute Laune und den laufenden Wasserhahn freudig aus. Und schon nahte der mahnende Zeigefinger des NS-Texters: „Nein, wenn auch noch so gut rasiert, gute Laune kann man bei solchem Unfug nicht mehr haben!“ (Kondi, Frisch rasiert – gut gelaunt!, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Familie Kohlenklau unter Druck (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Mahnung und Gewissenserforschung gingen jedoch miteinander einher. Die Leser wurden ernst genommen, gar ein Kohlenklau-Jahr ausgerufen. Sein Sinn aber wurde umgedeutet, Ausdruck spezifisch deutschen Humors. „Humor ist, Wilhelm Busch sagt es uns, wenn man trotzdem lacht. Und Kohlenklau ist Humor, ist die heitere Behandlung einer bitterersten Sache. Ist kein Witz, der leicht dahertändelt, sondern handfester Humor, der eine Sache derb und fest und humorig sagt, wie sie ist. […] Weiß Gott, dieser Krieg ist eine harte Schule, aber sie ist gut und leider für viele auch notwendig. Seien wir dankbar, auch wenn es wehe tut, auch wenn wir weinen müssen, auch dann, wenn wir nicht mehr lächeln, sondern nur noch grimmig grinsen, wenn wir nur hinter zusammengebissenen Zähnen lachen können. – Das kann man! Rüsten wir uns auf ein Kohlenklaujahr! Auf ein Jahr, das schwer, hart, vielleicht sogar noch ärger wird. Rüsten wir uns darauf, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, sie zu nehmen und dabei doch zu lachen.“ Der Krieg erfordere Humor, „heitere Herzen, steife Nacken, zähen Willen, feste Zuversicht“. Dann werde man die Feinde, werde auch Wasserplansche und Kohlenklau besiegen: „Rückt ihnen auf den Leib, jagt sie hinaus, laßt sie verhungern und verdursten und mit ihnen alle [sic!, US] Kleinmut, alle Zaghaftigkeit, alles Wehleidige und Müde – nun erst recht!“ (Kondi, Das Kohlenklau-Jahr, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Wasserplansche, Kohlenklau und Söhnchen Kohlenklaus mit reicher Jahresernte (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Fast schien es, als sei dadurch das letzte Wort geschrieben, die Kampagne beendet. Doch bei einer Auflage von über 200.000 Exemplaren finden sich immer Zuschriften, die nicht übergangen werden konnten. Elf Dortmunder, Reichsarbeitsdienstmännern im „Hohen Norden“, beschrieben ihren eifrigen Kampf gegen den unrühmlich bekannten Energiefeind Kohlenklau. Das beigefügte Gedicht entsprach allerdings nicht den Grundansprüchen an deutsche Reimkunst. Daher wurde es graphisch umgesetzt, und die regimetreue Moral in verbesserten Reimen dargeboten: „Nun, liebe Leute, seid ganz Ohr: / kommt sowas auch bei ihnen vor? / Habt ihr Kohlenklau im Haus, / schmeißt ihn gleich zur Tür hinaus! / Dann wird so ein Tag gewonnen, / spart der Rüstung viele Tonnen“ (Kohlenklau im RAD, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5).

Ergänzung der Kohlenklau-Kampagne aufgrund einer Leser-Zuschrift (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5)

Danach ebbte der Zufluss offenbar ab. Doch für ein Grande Finale war noch Raum. Im Frühling wurde nochmals des schnurrigen Kohlenklaus gedacht, der „uns im Winter viel Spaß gemacht“ hat. Die Gefahr der Kohleverschwendung sei durch das Ende der Heizperiode verringert, auch wenn weiterhin „die Dame Wasserplansch, die wir dem wüsten Kohlenfresser angetraut haben, umso fleißiger nach allem umtun [wird, US], was sich schlucken läßt.“ Doch es galt nun die Blicke zu weiten, hin auf neue Schädlinge. Kohlenklau, dessen Helfershelfer im Märzen just alle besiegt waren, habe allen die Augen geöffnet, ebenso die Wasserplansche: „Den Kohlenklau sind wir los, seine Trabanten, die Schädlinge jeder Art, wollen wir aber weiter jagen, wo sie sich zeigen“ (O. Schr., Abschied von Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3). Das war der letzte Auftritt von Wasserplansche, Kohlenklau und Kohlenkläuschen – noch wusste man nichts von den Fortsetzungen der staatlichen Propaganda, von den „Waffen gegen Kohlenklau“. Nun standen wieder andere Fraßfeinde im Mittelpunkt, die Motten, die Ratten, die Kartoffelkeime, der abzuwehrende Verderb.

Familie Kohlenklau im Umfeld weiterer „Volksschädlinge“ (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3)

Leisten wir uns nach alledem ein wenig Abstand: Die Wasserplansche erschien exklusiv in der führenden westfälischen Tageszeitung von November 1943 bis März 1944 an der Seite ihres Gatten Kohlenklaus, häufig mit ihrem Sohn Kohlenkläuschen. Die Familienerweiterung war eine Folge der zunehmend humoristischen Perzeption der staatlichen Hauptserie und deren zunehmender Umdeutung durch das lesende und schauende Publikum. Zeichner und Texter der Westfälischen Landeszeitung gaben dem anfangs nach, wurden dann jedoch vom Druck des Volkes teils unwillig mitgerissen. Der Ernst des Kampfes gegen Energie- und Wasserverschwendung ging zunehmend verloren, wurde zugleich aber umso stärker beschworen. Die Fortführung der Geschichte von Wasserplansche und Kohlenklau war eine Konzession an ein Publikum, das Unterhaltung wollte, ein wenig Amusement im brutalen Tagestrott, das Sparsamkeit zumal bei denen einforderte, die von diesem Regime profitierten. Diese Tendenz schwindender Wirksamkeit wohnte auch der staatlichen Kohlenklau-Kampagne inne, konnte dort durch Berücksichtigung der spielerischen und humoresken Akzente der Hauptfigur aber begegnet werden. In den Nebenkampagne aber zeigten sich die Grenzen der Propaganda auch und gerade des Nationalsozialismus. Zeitgleich optierte das Publikum in der Ende 1943 einsetzenden Liese-Miese-Kampagne, zumindest in den Kinos, eher für die eigensüchtig agierende Miese statt für die blonde linientreue Liese (Brigitta Mira, Kleine Frau, was nun? Erinnerungen an ein buntes Leben, München 1988, insb. 100). Auch Wasserplansche war so wie man gerne hätte sein wollen, ein wenig eigensüchtig, ein wenig verschwenderisch. Dennoch hat diese Figur dem realen Problem der Wasserverschwendung ein Bild gegeben. In den weiter gepflegten Hilfsangeboten der Tageszeitungen fragten Leser nicht nur wie man Verluste im Wasserkasten der Toilette begrenzen könne, sondern direkt, „wie der Wasserplansche“ beizukommen sei (Wenn der Wasserkasten im WC dauernd läuft, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 109 v. 11. Mai, 3). Die Nebenkampagne wurde in der Nachkriegszeit und auch der Erinnerungskultur allerdings rasch vergessen.

Künstlerin für das NS-Regime: Erika Beccard-Pilius, Pressezeichnerin und Kampagnenhelferin

Damit könnten wir eigentlich ein allgemeineres Fazit ziehen – und Herunterscrollen ist Ihr Privileg. Doch angesichts der biographischen Näherung an Hans Landwehrmann scheint mir ein paralleles Eingehen auf Erika Beccard-Pilius, die Schöpferin der Wasserplansche, hilfreich und notwendig. Eine Pressezeichnerin als NS-Propagandistin, das ist auf den ersten Blick besonders spannend: Die „Interpress“, von 1940 bis 1942 führende Bildagentur für politische Zeichnungen, vertrieb Arbeiten von mindestens 80 Männern – und von keiner Frau. Für die Bild- und Textagentur „Bilder und Studien“ zeichneten mindestens 26 Männer – und auch darunter kein weibliches Wesen. Doch dies ist eine Einseitigkeit, die das Vordringen von Frauen im NS-Pressewesen unterschlägt. Nicht nur bei Mode- und Kinderzeichnungen oder ein wenig Kunst, sondern auch im Alltagsgeschäft konnten sie sich während der NS-Zeit zunehmend etablieren. Neben Erika Beccard-Pilius ist im westfälisch-rheinischen Gebiet an Erika Feder (Remscheider General-Anzeiger), Magdala Häußer-Poly (Bonner General-Anzeiger) und insbesondere an Gerda Schmidt (Essener Allgemeine Zeitung) zu erinnern, die 1942 auch eigene Beiträge für die ebenfalls ausfransende Propaganda-Kampagne um Herr Bramsig und Frau Knöterich zeichnete. Der Anteil von Frauen bei den Schriftleitern (inklusive der Pressezeichnerinnen und Fotografinnen) lag 1935 reichsweit bei ca. 5,6, 1939 dagegen schon bei 8,8 Prozent (Susanne Kinnebrock, Frauen und Männer im Journalismus. Eine historische Betrachtung, in: Martina Thiele (Hg.), Konkurrierende Wirklichkeiten, Göttingen 2005, 101-132, hier 122, FN 29). Dieser Anteil stieg während des Krieges weiter, allerdings in einem insgesamt schrumpfenden Arbeitsmarkt.

Erika Beccard-Pilius im Selbstporträt (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8)

Erika Beccard – der Name verweist auf hugenottische Vorfahren – war die Tochter der Bürovorstehers Wilhelm Beccard und seiner ihm 1903 angetrauten Gattin Luise (1881-1956), die unter dem Doppelnamen Beccard-Blensdorf bis heute als „Siegerländer Heimatdichterin“ gilt (Dortmunder Adreßbuch 1903, T. 2, 19; Siegener Zeitung 1903, Nr. 242 v. 16. Oktober, 3). Ihre Lyrik, gedruckt vor allem in der Siegener Zeitung, wurde 1909 in „Gedichte“, dann 1918 in „Aus Sturm und Stille“ gebündelt. Sie verband protestantische Innerlichkeit mit einer Vergötterung der Natur, mit melancholisch-hymnischem Nationalismus. 1936 folgte „Nachsommer“ mit einer Einbandzeichnung von Erika und Scherenschnitten ihrer Schwester Hanna (Münsterischer Anzeiger 1939, Nr. 435 v. 23. September, 2). Eine dritte Schwester, Trude, ist nachweisbar (Siegener Zeitung 1926, Nr. 301 v. 24. Dezember, 4).

Das junge Ehepaar Beccard-Blensdorf zog spätestens 1906 nach Bielefeld, wo Wilhelm als Generalagent einer Schweizer Versicherung tätig war, wo 1906 Hanna und 1909 eine weitere Tochter, wahrscheinlich Erika, geboren wurden (Bielefelder General-Anzeiger 1907, Nr. 171 v. 1. Juli, 8; ebd. 1906, Nr. 72 v. 26. März, 10; Volkswacht 1909, Nr. 278 v. 29. November, 8). Die Familie zog ca. 1912 nach Dortmund. Wilhelm arbeitete auch dort als Generalagent, seit Kriegsbeginn als Buchhalter, in den frühen 1920er Jahren als Versicherungs- resp. Bürobeamter und war seit 1929 schließlich wieder als Generalagent tätig (Dortmunder Adreßbuch 1912, T. 2, 18; 1915, T. 2, 21; 1924, T. 2, 29; 1929, T. 2, 28). Erika dürfte also im gesicherten bildungsbürgerlichen Umfeld aufgewachsen sein. Ihre Schwester Hanna reüssierte schon früh mit ihren Scherenschnitten, Erika steuerte 1929 Zeichnungen zum Heft „Dortmunder Fasching“ bei (Siegener Zeitung 1918, Nr. 69 v. 22. März, 2; ebd. 1926, Nr. 161 v. 13. Juli, 7; Dortmunder Zeitung 1929, Nr. 57 v. 3. Februar, 7). Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits als „Helferin“ tätig, eventuell in der Imkerei, wie zuvor ihre Schwester Trude (Dortmunder Adreßbuch 1928, T. 2, 19; Landwirtschaftliche Mitteilungen für das Siegerland 1925, Nr. 15 v. 22. Juli, 4).

Die Biographie Erika Beccard-Pilius ist nur ansatzweise zu rekonstruieren, Archivalien fehlen, Widersprüche bleiben. Doch es handelt sich um das Hereinwachsen einer jungen begabten Frau in das NS-Regime, um das Werden einer gläubigen Propagandistin abseits des Martialischen. Sie präsentierte 1933 jedenfalls „elegante Farbzeichnungen“ bei einer Ausstellung, erschien damals auch erstmals mit einem Doppelnamen – analog zu ihrer Mutter („Fleiters gute Stuben“, Dortmunder Zeitung 1933, Nr. 525 v. 9. November, 7). Ihr Gatte dürfte Hans Pilius gewesen sein, der 1930 als Baupraktikant firmierte, dann als Schlosser, ab 1934 als Zeichner, seit 1938 als Polier, schließlich als Bauführer (Dortmunder Zeitung 1930, Nr. 26 v. 11. Juni, 7; Dortmunder Adreßbuch 1930, T. 3, 21; ebd. 1934, T. 2, 421; ebd. 1938, T. 2, 441). Möglich, dass sich das Paar 1938 getrennt hat, jedenfalls signierte die Zeichnerin von 1938 bis 1941 meist als Erika Beccard. Im Dortmunder Adreßbuch tauchte sie 1938/39 noch als „Erika Pilius, Ehefr[au]“ auf, ab Ende 1939 als „Pressezeichnerin“ Erika Beccard (Dortmunder Adreßbuch 1938, T. 2, 441; 1939, T. 2, 444; 1940, T. 2, 25). Erika Pilius-Beccard dürfte zuvor hinter ihrem Mann als Haushaltsvorstand verschwunden sein. Ob die Trennung mit einem 1940 gegen Hans Pilius geführten Prozess zusammenhing ist unklar (Bundesarchiv Lichterfelde R 3001/114014, NS 14/313). Die Ehe blieb jedenfalls kinderlos, während Erika, die auch den Doppelnamen Pilius-Beccard wählte, sich innerhalb der NSDAP-Gauzeitung etablierte.

Dort zeichnete und textete sie anfangs Mode- und vor allem Kinderzeichnungen, schwärmte darin „von der großen Aufbauarbeit unseres deutschen Volkes“ (Erika Pilius Beccard, Deutsche Frühjahrs-Moden, Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 83 v. 25. März, Beil. Wir Frauen, 10). 1934 nahm die Zahl ihrer Zeichnungen in der Westfälischen Landeszeitung rasch zu, sie illustrierte teils mit ihrem Namen, teils mit ihrem Kürzel ebp, teils aber auch ohne jede Signatur die wöchentliche Kolumne „Von Sonntag zu Sonntag“, lieferte zudem zahlreiche Beiträge für die illustrierte Wochenbeilage „WLZ am Sonntag“. Ende des Jahres zeichnete sie sich als selbstbewusste junge Frau, die Neid und Klatsch den Kampf ansagte, die das Leben einfing und feierte: „Strömt herbei zur ebp, es wird gemalt und tut nicht weh“ (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8).

Alltags- und Kinderwelten: Wochenendfahrt ins Hochsauerland und der Osterhase (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 42 v. 11. Februar, 6 (l.); WLZ am Sonntag 1936, Nr. 15 v. 12. April, 6)

Erika Beccard-Pilius illustrierte vorrangig Unterhaltungsartikel, visualisierte Alltagseindrücke, sei es den Wochenendausflug ins Hochsauerland oder den Bratwurststand in Dortmund. Dabei kooperierte sie eng mit den virtuell federführenden Textern. Zugleich aber begann sie das politische Geschehen freundlich und anheimelnd zu illustrieren (Hans Terlinden, Deutsche Jugend heraus zum Wettkampf!, Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 48 v. 17. Februar, 16). Urlaub, Alltags- und Wochenendfreuden, Trinken und Betrunkensein, Liebe und Familienthemen waren ihr Beritt, sie zeichnete die Freuden des Alltags, die guten Dinge der neuen Ordnung. Hinzu traten vielfältige Hilfen zur Alltagsgestaltung, kleine Anleitungen im Sinne des NS-Regimes.

Zeichnungen als Alltagshilfe: Aufhängen nasser Kleidung und Vorgartenentrümpelung (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 6 v. 7. Januar, 1 (l.); Westfälische Landeszeitung 1938, Nr. 317 v. 22. November, 7)

Parallel illustrierte sie Jugendbücher, etwa das in der Tschechoslowakei später verbotene „Jungmädelleben“ der Gauführerin und Pressereferentin in der Reichsjugendführung Trude Höing (Trude Höing, Jungmädelleben. Ein Jahrbuch für 8-14jährige Mädel, Leipzig 1934; Lippische Staatszeitung 1934, Nr. 325 v. 12. Dezember, 6; Illustrirte Zeitung 185, 1935, 388). Erika Beccard-Pilius visualisierte das NS-Frauenbild, zeigte, „wie das Jungmädel als Glied seiner Organisation auf das kampf- und arbeitsreiche Leben einer deutschen Frau vorbereitet wird“ (National-Zeitung 1936, Nr. 265 v. 12. November, 8). Hinzu traten „Kulturarbeiten“ im Umfeld der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (Wolfgang Hirschfeld, Die Betreuung des Dorfes, 31.-35. Tsd. Berlin 1937). Sie lieferten im Kampf gegen die „Landflucht“ Anregungen für Dorfgemeinschaftsabende, insbesondere Theaterarbeit, Musik, Gesang und Marionettentheater (Kulturarbeit auf dem Lande, Beobachter für das Sauerland 1937, Nr. 208 v. 4. August, 3). Der Kontext war agrarromantisch, auch rassistisch (Wolfgang Hirschfeld, Bäuerliche Volkstumsarbeit auf rassischer Grundlage, Rasse 2, 1935, 336-345). Beccard-Pilius‘ Zeichnungen waren freundlich, nett, visualisierten Vorstellungen einer gelingenden Volksgemeinschaft, traditionsbewusst und schollengebunden (Otto Schmidt (Hg.), Feste und Feiern im Jahresring, Berlin 1940; Wilhelm Schleef, Düet es dat Bauk van Schulte Wuordelbuk, hg. aus Anlass d. 800-Jahrfeier d. Ortsteils Dortmund-Sölde v. d. Bauerschaft Sölde in Verb. mit der NS.-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ Kreis Dortmund, Abt. Volkstum-Brauchtum, Dortmund 1938). Wilhelm Schleefs (1889-1968) Band wurde 1971 von der Stadtsparkasse Dortmund neu aufgelegt, unverändert, mit einer Schallplatte ergänzt.

Die junge Zeichnerin etablierte sich lokal, lieferte die Dekoration für das Dortmunder Pressefest 1937 (1500 vergnügte Menschen, Tremonia 1937, Nr. 66 v. 8. März, 5), begann einzelne Zeichnungen über den Deike-Materndienst auch überregional zu platzieren (Ebd. 1937, Nr. 222 v. 25. September, 21; Zeno-Zeitung 1937, Nr. 203 v. 25. Juli, 14). Sie waren zumeist „unpolitisch“, Kinderthemen, Landschafts- und Stadtansichten. 1939 zeichnete sie den Weihnachtsgruß für die Branchenzeitschrift „Deutsche Presse“ (Ebd. 29, 1939, 420). Erika Beccard-Pilius war lokal verwurzelt und überregional bekannt. Politische Themen bediente sie selten, doch sie bediente sie. Frausein mochte helfen, die Simplicissimus-Karikaturistin Franziska Bilek (1906-1991) konnte mit dem Verweis, dass Politik nur etwas für Männer sei, die gängigen, vielfach antisemitischen und antibolschewistischen Hetzzeichnungen dieser bis heute gern als „kritisch“ verklärten NS-Zeitschrift großenteils vermeiden. Erika Beccard-Pilius näherte sich staatpolitisch unmittelbar relevanten Themen in kleinen Schritten, etwa in Zeichnungen gegen die insbesondere von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) seit 1934 immer wieder kritisierten Miesmacher und Meckerer, Spießer und Klatschbasen, präsentierte den Nationalsozialismus als jugendliche Kraft überlegener Moral und wechselseitiger Rücksichtnahme (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 357 v. 31. Dezember, 18). Ihr Harmonieideal war das der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Gleichsam folgerichtig lieferte sie auch eigene, ergänzende Beiträge zu staatlichen Propagandakampagnen, etwa den Eintopfsonntagen oder der Groschengrab-Kampagne.

Beiträge zu staatliche Propagandakampagnen: Groschengrab und Eintopfsonntag (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 219 v. 15. August, 1 (l.); Bremer Zeitung 1939, Nr. 71 v. 12. März, 14)

Während des Weltkrieges zeichnete Erika Beccard-Pilius unverdrossen weiter, meist schöne und nette Alltagsgeschichten, ebenso Landschaften und viele markante Gebäude. Doch sie veröffentlichte zugleich Arbeiten, die im Sinne des NS-Regimes freundlich anleiteten, nationalsozialistische Moral vor Augen führten. Höflichkeit und wechselseitiger Respekt wurden (im Rahmen und in Weitung einschlägiger staatlicher Kampagnen) vor Augen geführt – und das ging bis hin zum Umgang mit den Exkrementen der Mitte des Krieges nicht mehr allzu zahlreichen Hunde.

Für Höflichkeit zwischen Verkäuferinnen und Käuferinnen, für die Beseitigung der Exkremente des eigenen Hundes (Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 63 v. 5. März, 5 (l.); ebd. 1942, Nr. 186 v. 16. Juli, 5)

Ausgrenzung der Gemeinschaftsfremden: Anonyme Briefschreiberin und – im historischen Umfeld – der jüdische Hausierer (Westfälische Landeszeichnung 1944, Nr. 70 v. 23. März, 3; ebd. 1944, Nr. 76 v. 30. März, 3)

Nationalsozialistische Moral sollte die Volksgemeinschaft prägen, definierte und bekämpfte zugleich auch Gemeinschaftsfremde. Sie waren teils grotesk-drastisch, wie das obige Porträt einer anonymen Briefschreiberin, teils stereotyp wie die nebenstehende Illustration eines jüdischen Hausierers. Beccard-Pilius stellte ihre Arbeiten auch aus, als Teil der nationalsozialistischen Künstler der Gegenwart (Ausstellung im „Dietrich-Eckart-Haus“, Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 163 v. 20. Juni, 8). Dominant aber blieben, zumal in der Kolumne „Das bunte Leben“, Eindrücke aus dem kleinbürgerlichen Alltagsleben, dann vielfach eskapistische Naturzeichnungen resp. Abbilder der imaginierten friedlichen und guten Welt vor dem Krieg, eines schönen Septembertages, eines trommelnden Spechtes oder aber der Weinlese. Insgesamt harrt eine vierstellige Zahl von Zeichnungen ihrer stärker systematischen Erschließung.

Wassersparen als Aufgabe der Hausfrau (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 98 v. 27. April, 4 (l.); ebd. 1943, Nr. 258 v. 4. November, 5)

Die Schaffung und Zeichnung der Wasserplansche passte in dieses Umfeld, die mit der Wasserversorgung verbundenen Alltagsfährnisse fanden auch nach Ende dieser Nebenkampagne zu Kohlenklau weiter Beachtung. Auch Texter Kondi bediente kontinuierlich das Feld: „Wasser, das zwar noch keine Kostbarkeit ist, wie in der Wüste, das wir aber trotzdem so behandeln wollen, wie alle Dinge, die wir brauchen: sinngemäß, vernünftig und so, daß sie den größten Nutzen für unsere Kriegsanstrengungen bringen!“ (Kondi, Hier muß was zugedreht werden…, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 258 v. 4. November, 5). Erika Beccard-Pilius zeichnete bis Ende 1944, dann erfolgte ein Bruch, erst 1949 findet man vereinzelte Anknüpfungen an die produktive Arbeit während der NS-Zeit (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 278 v. 28 November, 3; Westfälische Nachrichten 1949, Nr. 85 v. 21. Juli, 4).

Näheres zum Umbruch, zur Entnazifizierung, zum Neubeginn gibt es kaum. Die nun durchweg als Erika Pilius-Beccard erscheinende Zeichnerin nahm 1947 erstmals wieder an einer regional ausgerichteten Ausstellung im Hagener Karl-Ernst-Osthaus Museum teil (Martin Papenbrock, „Entartete Kunst“, Exilkunst, Widerstandkunst in westdeutschen Ausstellungen nach 1945. Eine kommentierte Bibliographie, Weimar 1997, 226). In den Vordergrund traten jedoch Illustrationen für Fibeln und Kinderbücher: Die nicht mehr als solche tätige NS-Pressezeichnerin schuf eine heile Welt für Kinder, für Leseunterricht in der Grundschule (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1947; Lüdenscheid 1947; ebd. 1948, 1951 und 1953). Pilius-Beccard nutzte ihre persönlichen Kontakte für Arbeitsmöglichkeiten, sicher auch für gebrochene Formen der Selbstfindung. Zum Kinderbuch „Die ertrunkene Sonne“ (Frowalt von Woldenberg [d.i. Karl Heinrich Schmidt], Die ertrunkene Sonne und andere Märchen, Recklinghausen 1943, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; 1-5. Tsd. und 6.-10. Tsd. Recklinghausen 1948) hieß es beredt: „Das titelgebende Märchen ist noch ganz vom Trauma des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt.“

Bildwelten in der Nachkriegszeit (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Lüdenscheid 1948, 34)

Weitere Illustrationsarbeiten folgten (Otto Blensdorf, Was sollen wir spielen und singen. Spielturnformen und daraus entstandene Spiel- und Bewegungslieder für Kindergarten, 1. und 2. Schuljahr, Bad Godesberg 1947; Paula Münster, Walddorle und andere Märchen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; Recklinghausen 1948; Georg Breuker, Es klopfte dreimal an mein Tor. Ein Sommeridyll, Bochum 1950). Doch dann endeten einschlägige Arbeiten, mit Ausnahme der Illustration eines späten Buches des Bochumer Schriftstellers Georg Breuker (1876-1964) (Gedichte eines Bergmanns, Hattingen 1961).

Fassen wir zusammen, so unterschied sich Erika Beccard-Pilius Karriere deutlich von der Hans Landwehrmanns. Als Frau leistete sie mit der Wasserplansche einen ergänzenden Beitrag zur Kohlenklau-Kampagne, der versuchte, nationalsozialistische Propagandaziele mit den nur teils deckungsgleichen Wünschen der Leserschaft miteinander in Balance zu bringen. Dazu war ihre Arbeit besonders geeignet, denn sie chargierte während der NS-Zeit zwischen schönen Bildern eines fröhlichen und guten Lebens und den aus ihrer Sicht berechtigten Anforderungen der Volksgemeinschaft und des Regimes. Erika Beccard-Pilius steht für die Einbindung und Nutzung eines zerbrechenden nationalen Bildungsbürgertums, das mit dem Nationalsozialismus kooperierte, ihm gläubig diente, ohne aber in ihm aufzugehen. Diese in den Bildern auch und gerade der Wasserplansche offenkundige Differenz ermöglichte zugleich eine breitere Wirkung der staatlichen Propagandakampagne. Erika Beccard-Pilius baute Brücken, begünstigte das letztlich willige Mitmachen in zunehmend kritischer Zeit, war Teil einer bis zur totalen Niederlage selbstverachtend mitziehenden Volks- und Kampfgemeinschaft.

Humor als popularisierendes Element der Sparsamkeitsappelle

Die Wasserplansche war gewiss der groteske Höhepunkt in der Ausdifferenzierung der Kohlenklau-Kampagne. Sie unterstrich deren Vielgestaltigkeit, die so gewiss nicht geplant war, die aber wesentlich zu ihrer Popularität, eventuell auch zu begrenzten Erfolgen im Sinne des NS-Regimes führte. Während die Wasserplansche-Zeichnungen jedoch noch einen inneren Zusammenhalt besaßen und eine zusammenhängende Geschichte ermöglichen, gilt dies kaum für die abschließend nur anzureißenden vielen kleinen Einzelinitiativen im Umfeld der Kohlenklau-Kampagne. Sie spielten mit den Vorlagen der staatlichen Propaganda, machten sie handhabbar, zu etwas Eigenem. Doch war es NS-Propaganda, wenn Klein-Erika im zur Ersatzbadewanne mutierten Kohleneimer posierte? War dies nicht eher Ausdruck von nicht stillzustellender und doch lenkbarer Phantasie, die für die Leistungsfähigkeit jedes Systems unabdingbar ist? Und was bedeutet dieses Eindringen der Propaganda in die Alltagsbilder für die Analyse der NS-Propaganda als solcher?

Kohlenklau ein Schnippchen schlagen: Humoristische Überdeckung der Alltagsenge (NS Frauen-Warte 12, 1944, 174)

Viele professionelle Zeichner vermengten die politische Zeichnung, die regimetreue Verächtlichmachung des Feindes, mit der Kohlenklau-Kampagne. Dafür gab es keine Anweisung, so etwas erfolgte eigenständig. Das galt auch für die Schaufensterdekoration in der 1809 gegründeten Karlsruher Eisenwarenhandlung Hammer & Helbing: Turmtöpfe lenkten auf das eigene Angebot. Doch im Hintergrund lugte Kohlenklau, gierte nach Energie, auch nach Zuschauern der Inszenierung seiner Schandtaten (Der Führer 1943, Nr. 83 v. 24. März, 3). Endlich ein Schauspiel „Alle gegen Einen“ (Ebd. 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 4).

Kohlenklau als Statthalter Churchills (Oldenburgische Staatszeitung 1943, Nr. 169 v. 25. Juni, 6)

Die Vielgestaltigkeit der Kampagne spiegelte sich auch in immer neuen Sprachkreationen. Groschengrab und Kohlenklau galten nicht nur als Energie-, sondern auch als „Zeitdiebe“ (Nur eine halbe Stunde!, Die Bewegung 11, 1943, 67). Der NS-Vorzeigehumorist Emmerich Huber (1903-1979) visualisierte den „Stundenklau“, auch den „Kartoffelklau“ (Arbeitertum 12, 1943, Nr. 10, 8; ebd. 13, 1944, Nr. 9, 8). Im Lexikon der deutschen Gegenwartssprache finden sich weitere Komposita, unter anderem der Nervenklau.

Auch visuell schrieb man die Kohlenklau-Kampagne fort: Hans Landwehrmann zeichnete 1943/44 für den Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung den „Dreckspatz“ für Kampagnen zum schonenden und chemikalienarmen Wäschewaschen (Kohlenklau als Wäschemarder, Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 153 v. 4. Juli, 4). Kohlenklau inspirierte neue NS-Propagandawelten, auch wenn die von Erika Beccard-Pilius geschaffene Wasserplansche kein Pendant hatte. All dies war funktional für die neuerliche Mutation des Kohlenklaus in der Nachkriegszeit, in der er begründete Widerständigkeit verkörperte, den Diebstahl von Kohle und mehr für das eigene Wohlbefinden oder gar das Überleben insbesondere im Winter 1946/47.

Fazit: Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda

Wie funktionierte NS-Propaganda? Unsere empirisch valide, gleichwohl teils nur an der Oberfläche kratzende Analyse konnte belegen, dass von einer gleichsam in sich geschlossenen Kohlenklau-Kampagne auch nicht ansatzweise die Rede sein kann. So gewichtig und alltagsprägend die Propaganda auch war, so war sie doch nicht einzigartig, denn „Squander Bug“ verweist auf ähnliche, aber doch anders ausgerichtete Kampagnen der westlichen Demokratien, deren Kriegswirtschaft ähnliche Probleme wie das NS-Regime zu bewältigen hatte und zu ähnlichen Negativgeneralisierungen griff. Kohlenklau war die umfangreichste NS-Propagandakampagne während des Zweiten Weltkrieges. Doch sie wurde durch die vielfach eigenständigen Parallelaktionen der Privatwirtschaft nicht nur umkränzt, sondern von der Motiv- und Anzeigenzahl her übertroffen. Werkzeitungen und Annoncen griffen die Kohlenklau-Figur folgsam und doch eigenständig auf, nutzten deren Popularität für eigene Zwecke in den Betrieben und bei der Vermarktung. Die Wasserplansche-Kampagne schrieb die Hauptgeschichte weiter, machte Kohlenklau zum Anhängsel, zur Unterhaltungsware, zur Lachnummer. Dies entsprach der Wahrnehmung der Figur durch die Volksgenossen, die sich in ihrem Alltag an vielen weiteren Fortschreibungen erfreuten. So sehr die Sparsamkeitsideale des NS-Regimes und der Privatwirtschaft auch grundsätzlich geteilt wurden, so enthielt Kohlenklau doch zugleich ein kritisches, rückfragendes, auf die Praxis der NS-Eliten gerichtetes Moment. Die kriegsbedingte Einschränkung der Zeitungen und Zeitschriften hob Kohlenklau unverdient besonders hervor, die Kunstfigur wurde eine auch eigenständig genutzte Projektionsfläche für Ansprüche abseits der Kriegsnotwendigkeiten. Diese Vielgestaltigkeit, teils auch Widersprüchlichkeit machten Kohlenklau zur besterinnerten Kampagne ihrer Zeit, waren auch Garanten für ihre Uminterpretation in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Wie funktionierte NS-Propaganda? Gewiss nicht so, wie es uns die großen politischen Inszenierungen, die Selbstdarstellung des Regimes und auch deren zu enge Analyse in der Geschichtswissenschaft nahelegen.

Uwe Spiekermann, 19. April 2025

Gift im Zucker!? Der Skandal um die Ultramarinfärbung 1856

Lebensmittelskandale sind Salz in der Suppe moderner Konsumgesellschaften – die gängigen Sicherungssysteme greifen zwar, doch ihre strukturellen Grenzen werden sichtbar (lebensmittelwarnung.de – Meldungen). Das galt auch für den nachfolgend analysierten Zuckerskandal des Jahres 1856, der die durch Ultramarinfärbung möglichen Gesundheitsgefahren grell beleuchtete. 1856? Ja, Lebensmittelskandale gab es offenkundig schon lange bevor man diesen Begriff im Ersten Weltkrieg erstmals verwendete (Die Kölner Lebensmittelskandale, Volkswacht 1916, Nr. 112 v. 13. Mai, 3; Wie mit Lebensmitteln geschwindelt wird, Münstersche Zeitung 1917, Nr. 65 v. 8. März, 4). Das sperrige Wort verschwand in der unmittelbaren Nachkriegszeit neuerlich, kam während des Zweiten Weltkriegs lediglich als Teil der NS-Propaganda gegen Großbritannien wieder auf (Churchills Speisekarte, Das Kleine Volksblatt 1941, Nr. 10 v. 10. Januar, 3; Scotland Yard versagt gegen Schieber, Westfälische Neueste Nachrichten 1941, Nr. 119 v. 23. Mai, 7). Während der 1950er und 1960er Jahre gab es zahlreiche Skandale – doch der Begriff wurde erst in den 1970er Jahren wieder geläufiger, im Rahmen der verschiedenen Hormonskandale, um die Jahrtausendwende dann der BSE- und Nitrofenskandale (Werner Stoya, Chemie in unserer Nahrung – ein Skandal? Lebensmittel, im Spiegel heutiger Zeit, München 1975; Uwe Spiekermann, Hormonskandale, in: Skandale in Deutschland nach 1945, hg. v.d. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2007, 104-113).

Lebensmittelskandal, dieser Begriff war offenbar sprachlicher Nachgänger der wahrlich nicht heilen Konsumwelt des 19. Jahrhunderts. Skandale mit Bezug auf Lebens- resp. Nahrungsmittel waren lange vor dem Ersten Weltkrieg alltäglich. Die neuen Produktionstechniken unterminierten die bestehenden Angebote – und das neue Unbekannte war mit zuvor unbedachten Risiken verbunden. Diese Skandale erschienen den Zeitgenossen allerdings handfester, griffiger, wurden direkt verbunden mit den jeweils betroffenen Lebensmitteln (Milchskandal) oder den verfälschenden oder schädigenden Substanzen (Methylalkoholskandal). Schließlich verband der Dachbegriff der Nahrungsmittelfälschung höchst unterschiedliche Formen des Betrugs, der Fälschung und der Schädigung, erlaubte bündelnde Diskussionen, beredte Klagen gegen die Zeitläufte.

Derartige Skandale waren eine Begleiterscheinung der gewerblichen, dann auch industriellen Fertigung von Nahrung. Sie erforderten allerdings einen öffentlichen Resonanzraum, waren also nicht Ausdruck von individuellem Betrug oder Fälschung, sondern auch Gegenstand öffentlichen Räsonnements, medialer Aufmerksamkeit. Die bürgerliche Öffentlichkeit aber entfaltete sich im 19. Jahrhundert nur langsam, Weimarer Kultiviertheit war fern, Pressezensur üblich. Die 1815 und 1848 kodifizierte Pressefreiheit währte jeweils nur kurz; und auch das Reichspressgesetz von 1874 wurde im staatlichen Kampf gegen Katholizismus und Sozialdemokratie vielfach suspendiert. Der Rahmen des Sagbaren erweiterte sich, doch nach wie vor hing das Richtbeil des Staates über offenen Debatten kundiger Bürger. Dies begrenzte die Thematisierung von Skandalen. Das galt aber auch für die im Begriff „Skandal“ anfangs liegende Selbstbegrenzung der bürgerlichen Gesellschaft. Er stammte vom französischen Hofe, bezeichnete nicht nur eitlen Tuschelkram, sondern Anstoß und Aufsehen erregende Geschehnisse. Der Skandal war im frühen 19. Jahrhundert liberal-konservativ, es ging um Ehre und Anstand, um den Verfall und vor allem die Bewahrung der alten Ordnung. Den heutigen aufklärerisch-progressiven Klang gewann er erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Skandale markierten also eine zweigeteilte Welt: Konservative debattierten vorrangig private, Liberale und Linke dagegen vermehrt politische Skandale.

Vor diesem Hintergrund war es überraschend, dass just Zucker Gegenstand eines der ersten Lebensmittelskandale der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde. Zucker war eine gewerblich produzierte Handelsware, und die hierzulande schon im 18. Jahrhundert übliche Raffination des kolonialen Rohrzuckers war umrankt von Debatten über die Qualität, den Wert und den angemessenen Preis des süßen Gutes. Das war durchaus üblich für den damaligen kundig-suchenden Umgang mit exotischen Genussmitteln. Präzise Standards fehlten, sei es über die chemische Zusammensetzung, sei es über die unterschiedlichen Qualitäten der kolonialen Roh(r)zuckerimporte. Diese wurden sowohl in den Londoner Docks als auch den nördlichen Hafenstädten grundlegend bearbeitet und raffiniert, so dass Konsumenten den Qualitätsversprechen der Händler und Großhändler vertrauen mussten, da häusliche Zuckerkontrolle aufwändig war.

Ein vielgestaltiges Angebot: Zuckeranzeigen (Freiberger Anzeiger und Tagblatt 1855, Nr. 267 v. 14. November, 1454 (l.); Bonner Zeitung 1856, Nr. 299 v. 20. Dezember, 4)

Der kurze Aufschwung der einheimischen Rübenzuckerindustrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dann erst wieder seit Mitte der 1830er Jahre veränderte dies nur ansatzweise. Die mühselige Fabrikation schien dem Zuckerrohr oder der Runkelrübe gleichermaßen ihre vermeintliche Essenz abzuringen. Wie der weiße Antipode Salz galt Zucker als eine Art reiner Nahrungsstoff – obwohl er doch in vielgestaltiger Form, als Hutzucker, als Melis, Farin, Kandis oder Raffinade, und in grauer, brauner, gelblicher und auch weißer Farbe angeboten wurde. Die chemisch zunehmend komplexe Zuckerproduktion führte zu steten Rückfragen, manche Zeitgenossen lasen mit mulmigem Gefühl über den Einsatz von Kalk oder Knochenkohle bei der Raffination. Doch der Konsum verdoppelte sich trotz hoher Preise bis 1850 auf ca. zwei Kilogramm pro Kopf und Jahr. Am Ende siegte der Lockreiz des repräsentativen Süßen, konnten die offenkundigen Produktmängel den Glauben an den reinen Zucker nicht wirklich unterminierten. Die Industrie, die deutsche, sie wuchs jedenfalls – und am Ende würden deutsche Wissenschaft und deutsche Technologie die Fabrikation vereinfachen, reinen Zucker produzieren. Wunschwelten und Selbstvermarktung verschmolzen, wurden auch in der späteren, recht unkritischen Fachliteratur nicht wirklich thematisiert (vgl. etwa Roman Sandgruber, Genußmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994, T. 1, 73-88; Christoph Wagner, Süsses Gold. Kultur- und Sozialgeschichte des Wiener Zuckers, Wien 1996; Christoph Maria Merki, Zucker, in: Thomas Hengartner und Ders. (Hg.), Genussmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt/M. und New York 1999, 231-256). Ein kritische Genussmittelgeschichte des 19. Jahrhunderts ist bis heute ein Desiderat.

Die Ahnen auf dem Tische: Knochenkohle in der Zuckerraffinade (Fliegende Blätter 23, 1856, 14)

Ein Weckruf

In dieser Zeit erschien nun ein kleiner Artikel in der Vossischen Zeitung, Berlins bekanntester Tageszeitung, in dem nüchtern ein vermeintlicher Skandal dargelegt wurde: „Seit einiger Zeit kommt im Handel ein Zucker vor, der ein schönes blauweißiges Ansehen hat. Sein Preis ist höher als anderer Zucker, dessen Farbe ins Gelbliche spielt; aber sehr mit Unrecht, denn der blauweiße Zucker ist gefälscht und vergiftet, der gelbliche nicht. Der blauweiße Zucker enthält nämlich einen der Gesundheit nachtheiligen blauen Stoff, das sogenannte Ultramarin, im höchst fein zertheilten Zustand beigemengt.“ Der hohe Preis war offenbar kein Schutz, kein Ausdruck höherer Güte, dies alles war Illusion. In Wasser aufgelöst, zeigte sich ein blauer Rückstand: „Zu diesem äußerlichen Verhalten gesellt sich ein recht widerliches Inneres. Mischt man nämlich den blauen Rückstand mit einer Säure, zum Beispiel Citronensaft, so entwickelt sich ein Gestank nach Schwefelwasserstoff.“ Wer also eine Bowle aus Wein, Zucker und Südfrüchten bereitete, stand in Gefahr „anstatt der Rheinweinblume die faulige Schwefelwasserstoffblume zu genießen.“ Der neue Zucker habe sich allgemein verbreitet, „ein solcher vergifteter Zucker“ sei kaum mehr zu umgehen. Der Autor verglich dies mit dem frühen Aufkommen der Lebensmittelfarben, dem zeitweiligen Blendwerk schön anzuschauender Backwaren und Konfekte: „Wie viel Zeit und Kämpfe hat es gekostet, ehe die Zuckerbäcker es lernten, welche Farben unschädlich, also anwendbar sind zum Färben der Süßigkeiten, und noch jährlich macht die Polizei zur Nachachtung und Warnung die guten und schlimmen Farben in den Zeitungen bekannt. Unter den schlimmen Farben (d.h. den giftigen) befindet sich auch Ultramarin, nun kommen die Herren Zuckersieder und mischen es ohne Weiteres unter ihren Zucker.“ Neuerliche Intervention zum allgemeinen Schutz sei erforderlich: „Denn das Unheil, was sie anrichten können, ist grenzenlos.“ Die Vergiftung des Käufers erfolge schleichend, führe zu weit verbreitetem und kaum zu behandelndem Siechtum: „Wie sollte er auch im harmlosen, sich so süß einschmeichelnden Zucker, ein Gift vermuthen?“ Doch Selbsthilfe war möglich: „Man kaufe keinen blauweißen Zucker, sondern gelben oder gelbbraunen. Candis z.B. ist ohne Gift“ (Zitate n. F[riedlieb] J. [sic!] Runge, Gift im Zucker, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 118 v. 23. Mai, 15-16)

Der Artikel erzielte beträchtliche Resonanz, wurde von vielen Zeitungen übernommen (etwa Posener Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 1; Wochenblatt für Pulsnitz […] 1856, Nr. 24 v. 13. Juni, 185), weit häufiger noch über den Inhalt berichtet. Zwei Punkte hoben den Artikel deutlich hervor. Zum einen tönte die Überschrift „Gift im Zucker“ dramatisch – in den Bleiwüsten der damaligen Zeitschriften unterblieben solche Hervorhebungen zumeist. Gift war damals allerdings ein breiter, ein schillernder Begriff (vgl. Jakob Tanner, Die Ambivalenz der Nahrung. Gift und Genuss aus der Sicht der Kultur- und der Naturwissenschaften, in: Gerhard Neumann et al. (Hg.), Essen und Lebensqualität, Frankfurt/M. und New York 2001, 175-213). Gebraucht wurde er Mitte des 19. Jahrhunderts bei einer eindeutigen physiologischen Schädigung, etwa bei Alkohol, Tabak, Wein oder Kaffee, zunehmend auch bei pharmazeutischen Giften, sichtbar im damals modischer werdenden Giftmord in bürgerlichen Kreisen. Doch dies waren (noch) Ausnahmen, denn bei den meisten Vergiftungen handelte es sich um Nachlässigkeiten, „mit der man giftige Dinge behandelt, oder von der Unkenntniß gefährlicher Dinge, oder von der böswilligen Verfälschung der Speisen und Getränke“. Das galt gerade für den Umgang mit Speisen und Getränken, „besonders in den großen Städten, die es in dieser Giftmischerei am weitesten gebracht, sogar Patente genommen haben auf solche Künste“ (Vergiftungen, Der Verkündiger für Stadt und Land 1854, Nr. 52 v. 29. Juni, 2, Nr. 54 v. 6. Juli, 3, Nr. 58 v. 20. Juli, 22, hier Nr. 52). Der Giftbegriff hatte damals aber auch eine andere, gar dominante Bedeutung: Es ging um das Gift im Herzen, um schwindende Verantwortungsbereitschaft, fehlendes Miteinander. „Gift“ verwies auf die stets gefährdete Moralität der bürgerlichen Gesellschaft durch Menschen ohne gemeinsame Werte. Das war ausgrenzend, gerade gegenüber revolutionärem Gift, doch es verwies vor allem auf das Bürgertum selbst, dessen kulturelle Hegemonie durch die eigene Raffgier, durch die wachsende Bedeutung von Erwerbstrieb, Börse und Spekulation unterminiert wurde. Die Weltwirtschaftskrise begann zwar nominell erst 1857, doch die warnenden Vorzeichen einer Agrarüberproduktion, breiten Preisverfalls und kritisch beäugter Aktienspekulationen in Banken und Eisenbahnen waren im Sommer 1856 bereits überall greifbar.

Friedlieb Ferdinand Runges Grab und Denkmal in Oranienburg (Wikipedia)

Zum anderen handelte es sich bei dem Autor um einen der damals wichtigsten Naturwissenschaftler des Deutschen Bundes. Der aus einem Hamburger Pastorenhaushalt stammende Friedlieb Ferdinand Runge (1794-1867) begann seine Karriere als Apothekergehilfe, studierte ab 1816 zuerst Medizin, dann Chemie, erwarb Doktortitel in beiden Disziplinen. Ab 1828 war er Professor für Technologie in Breslau, verließ nach nur vier Jahren jedoch die Universität, zog nach Oranienburg, wo er als technologischer Chemiker praktisch forschte. Die innere Distanz zum eitlen, aus seiner Sicht zu theoretisch arbeitenden akademischen Milieu führte zu einer relativen Außenseiterposition im gelehrten Deutschland, die durch Runges fehlende Prunk- und Geltungssucht, sein Junggesellendasein und auch seine Publikationstätigkeit fern der gelehrten Journale nochmals unterstrichen wurde (Christa und Fred Niedobitek, Friedlieb Ferdinand Runge: Sein Leben, sein Werk und die Chemische Produkten-Fabrik in Oranienburg, Detmold 2011). Seine Entdeckungen, darunter die Isolation des Koffeins 1819, brachten ihm schon früh die Charakterisierung als „Dr. Gift“ ein (Klaus-D. Röker, Die „Jedermann-Chemie“ des Friedlieb Ferdinand Runge, Mitteilungen der Fachgruppe Geschichte der Chemie 23, 2013, 52-70, hier 53). Runge konzentrierte sich auf praktische Anwendungen des neuen Wissensfeldes Chemie, Stearinkerzen und Palmölseifen wurden auch dadurch Alltagswaren. Seine wichtigsten Entdeckungen resultierten jedoch aus der Analyse des Steinkohlenteers, eines Nebenproduktes der Koksherstellung aus Steinkohle. Die Kohlenwasserstoffe bildeten das eigentliche Stofffundament für das Wachstum sowohl der britischen als auch dann der deutschen chemischen Industrie, bei Grundstoffen als auch insbesondere bei Farben (Albrecht Pohlmann, Vom Türkischrot zum Anilin. Friedlieb Ferdinand Runge (1794-1867), dem Pionier der modernen Farbenchemie, zum 150. Todestag, Mitteilungen der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft 22, 2017, 10-31). Runge untersuchte und isolierte beispielsweise das Anilin, das Aurin, die Karbolsäue und die Pyrrole. Die großbetriebliche Umsetzung und Nutzung blieben allerdings anderen vorbehalten. Sein fehlender Geschäftssinn führte auch dazu, dass er ab 1855, dem Todesjahr des Besitzers der „Chemischen Produktenfabrik Oranienburg“, ohne Pension dastand und einen sehr bescheidenen Lebensabend verlebte.

Die bis heutigen gängigen Deutungen Runges als „Genie ohne Ruhm“ verkennen nicht nur die sehr heterogene Rezeptionsgeschichte zumal unter späteren nationalistischen und nationalsozialistischen Vorzeichen (Lena Höft, Karl Aloys Anilin als ‚durchgesehene und ergänzte Neuauflage‘. Ein nationalsozialistischer Sachbuchbestseller und seine Transformation in der Frühphase der Bundesrepublik, s.l. 2014, insb. 38-46), sondern auch seine gegenüber dem akademischen Establishment seiner (und auch unserer) Zeit kritischen Wissenschaftsauffassung. Als Praktiker sah er sich zugleich als Pädagoge und Popularisator der Naturkunde. Runge wollte die Zöpfe der akademischen und auch gymnasialen Ausbildung abschneiden: „Das Regiment der Schulmeister ist vorüber.“ Nicht mehr die Antike und ihre von Menschenhand geschaffenen Werke seien Bildungsleitfäden, sondern die Kenntnis des göttlichen Werkes der Natur. Naturkunde und Mathematik seien in die Gewerbe- und Bürgerschulen vorgedrungen und selbst die Universitäten ließen langsam ab vom Altväterwissen, denn ohne „Kenntnisse im praktischen Leben“ sei man rückständig, „erliegt der Concurrenz, wird von dem Klügern überflügelt und verarmt“ (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Einleitung in die technische Chemie für Jedermann, Berlin 1836, V-VI). Wissenschaftliches Wissen sei Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, müsse daher offen für Jedermann sein, nicht Deutungsmasse für Expertokratien. Chemisches Wissen war für ihn nicht ein Wissensschätzlein, gewonnen im Laboratorium, sondern Befähigungswissen für selbstbewusste Bürger. Für Runge war dies befreiend, zielte auf Eigeninitiative, auf die selbstbestimmte Verbesserung der Welt für und durch Jedermann. Das war idealistisch gedacht, stand jedoch auch hinter seiner Intervention gegen „Gift im Zucker“. Es ging um die Beobachtung und Minimierung bestehender Gefahren im Alltag. Der „bekannte Chemiker Prof. Runge“ (Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 1856, Nr. 216 v. 28. Mai, 3; Bonner Zeitung 1856, Nr. 122 v. 28. Mai, 2) schrieb, um einen offenkundigen Missstand zu beheben.

Bürgerliche Scheinwelten

Ultramarin war eine Pigmentfarbe, eine „glänzend blaue Farbe, welche vor den meisten andern blauen Farben Vorzüge hinsichtlich der Völle ihres Tons u. ihrer Haltbarkeit hat. Bleibt an der Luft, so wie in Oel unverändert, wird nicht durch Alkalien zerstört, selbst bei Erhitzung damit, leidet auch nicht durch Glühen, verliert dagegen binnen weniger Minuten ihre Farbe durch Säuren“ (Das Hauslexikon, Bd. 8, Leipzig 1838, 217). Sie war in der frühen Neuzeit eine edle Malerfarbe, teuer, mühselig ausgeschlemmt aus italienischen Lapislazuli-Beständen, teils importiert aus dem Hindukusch, aus Ägypten. Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Ultramarin erst verwissenschaftlicht, dann „demokratisiert“. Ein Preisausschreiben der Société d’encouragèment pour l’industrie nationale initiierte in den 1820er Jahren die Produktion eines künstlichen Substituts. Parallel zum Bekanntwerden der preisgekrönten Forschungen des französischen Chemikers Jean-Baptiste Guimet (1795-1871) hatte der Tübinger Chemiker Christian Gottlob Gmelin (1792-1860) 1828 bereits ein Produktionsverfahren veröffentlicht, das den Aufbau einer rasch wachsenden Industrie ermöglichte (Künstliches Ultramarin, Journal für technische und ökonomische Chemie 2, 1828, 406-409; Joost Mertens, The History of Artificial Ultramarine (1787-1844): Science, Industry and Secrecy, Ambix 51, 2004, 219-244; Eberhard Schmauderer, Die Entwicklung der Ultramarin-Fabrikation im 19. Jahrhundert, Tradition 14, 1969, 127-152). Insbesondere nach der Gründung der Nürnberger Ultramarinfabrik 1838 wurde die schöne blaue Farbe in immer weiteren Bereichen eingesetzt. Neben den Anstrich trat das Färben von Papier und Tapeten, dann aber auch das „Weißen“ erst des Papiers, ferner der Wäsche und auch des Zuckers.

Eine Pigmentfarbe mit beträchtlichen Vorteilen: Werbung der Nürnberger Ultramarinfabrik (Karlsruher Zeitung 1841, Nr. 49 v. 19. Februar, 299)

Ultramarin färbte diese Güter nicht, sondern ließ sie weiß erscheinen. Dies war Reflex eines simplen optischen Phänomens, nämlich der Komplementärwirkung von Blau und Gelb. Die Waren- und Alltagswelten wurden nicht nur farbiger, sondern verloren ihren Grauschleier, das Unspezifische des gräulich dumpfen Tones der Leinenwaren, der Hanfgespinste: „So blaut man unter Anderm die Leinwand (auf 50 Stück Leinwand 2-3½ Pfd. Ultramarin), die Papiermasse, die Wäsche, die Kalkmilch beim Anstreichen, die Stärke, die Stearinmasse zur Kerzenfabrikation, und endlich auch den Zucker“ (Johannes Rudolf Wagner, Die chemische Technologie, 7. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1868, 344). All dies wurde als Errungenschaft der modernen Technik gefeiert. Ordinärer Zucker sah gelblich aus, erstrahlte gebläut jedoch weiß. Weißer Zucker aber wurde höher bezahlt, galt als reiner. Das nutzten die Zuckerfabrikanten mit Bezug auf den vermeintlichen Willen der Konsumenten: „Der Geschmack des Publicums zieht nun unbedingt eine bläuliche Färbung der gelblichen vor, dem Fabrikanten bleibt also nichts übrig, als diesem Geschmacke zu genügen“ (Adolphi, Der Zucker als Consumtions-Artikel und das consumirende Publicum, Zeitschrift des Vereins für die Rübenzucker-Industrie 9, 1859, 337-355, hier 352).

Doch natürlich ging es Mitte des 19. Jahrhunderts um mehr, denn der an sich aufstrebende Rübenzucker kämpfte um Marktakzeptanz. Der importierte, in London oder auch in deutschen Landen raffinierte Rohrzucker war gefälliger, heller, enthielt weniger Rückstände, zumal nicht die technisch aufwändig zu entfernende, teils stinkende Rübenmelasse. Der Ultramarinzusatz konnte helfen, die damaligen „Vorurtheile gegen den Rübenzucker“ (Pariser Ausstellungs-Skizzen für Böhmen. IX., Der Tagesbote aus Böhmen 1855, Nr. 267 v. 27. September, 1) zu überwinden. Das passte zu dem recht deutschen Glauben an heimische Ersatzmittel, die den Geist des allgemeinen Fortschritts verkörperten.

Ultramarin war also ein Aufheller, scheinbar ungefährlich, auf jeden Fall freudig angewandt, um die Welt schöner erscheinen zu lassen. Seine Akzeptanz war Teil einer zunehmenden surrogatbasierten Verzauberung und Ästhetisierung der Warenwelt schon zu Beginn der Konsumgesellschaft. Noch war vieles in statu nascendi: Denken Sie etwa an die sich erst in den Anfängen befindliche Photographie, insbesondere im Gefolge der seit 1839 frei verfügbaren Daguerreotypie, die sich auch durch technische Verbesserungen und Objektive der Wiener Unternehmer Josef Petzval (1807-1891) und Peter Wilhelm Friedrich von Voigtländer (1812-1878) verbreitete. Spiel mit dem Licht, auch mit der Illusion, wurde in den Ateliers üblich, Lichtaufheller sorgten für ansehnlichere Porträts. Bleichmittel wurden Teil einer modernen Wäschepflege, verbesserten die Ergebnisse des meist noch im Freien stattfindenden Bleichens der Wäsche. Haarfärben war aufwändig, doch Wasserstoffsuperoxid war bereits zu haben, auch wenn es sich erst seit 1867 als Haaraufheller für die bürgerliche Frau etablierte. All das war Teil der Surrogatkultur des damaligen Bürgertums, die auf Pressglas und Stuck, Verblendungen und Furnierholz gründete, da für das so treu und stetig besungene „Echte“ zumeist das Geld fehlte. Das von Runge kritisierte „Gift im Zucker“ war daher zwar kaum zu leugnen, doch es entsprach einem Trend, der weit über das süße Genussmittel hinauswies.

Die Debatte der Fachleute

Der Skandal um „Gift im Zucker“ entwickelte sich auch daher höchst eigenartig. Am Ende stand nicht ein einfaches Verbot der Ultramarinfärbung, sondern der vielgestaltig genährte Verdacht, dass es sich bei alledem um Debatten zwischen obskuren Eigenbrötlern handelte, die fernab der praktischen Alltagssorgen in akademischen Wolkenkuckucksheimen lebten. Um dieses einzufangen, sind drei analytische Schritte erforderlich. Erstens werden wir uns den wichtigsten Antworten und Reaktionen auf Runges Artikel widmen, zweitens die vielen anonymen Artikel über diese Debatte diskutieren, ehe wir uns drittens die satirischen Kommentare genauer ansehen. Rasch zeigte sich, dass es kaum ein Interesse daran gab, Runges Warnungen im Detail zu diskutieren und geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen. Der Skandal führte nicht zur Beseitigung der Ursache, sondern beschädigte fast alle Beteiligten. Nicht Wandel, sondern Bestätigung des Status quo war das Ergebnis – und damit zugleich auch eine Beschädigung der Figur des öffentlich für das Gemeinwohl intervenierenden Experten.

Als erster antwortete der in der pommerschen Metropole Stettin tätige gerichtliche Chemiker Gustav Reich. Er war ein allseits bekannter Gewährsmann der Rückenzuckerindustrie – was allerdings nicht thematisiert wurde. 1850 hatte er in Berlin ein Verfahren zum Fäulnisschutz von Klärblut für die Zuckerfabrikation entwickelt, das zuerst in der Potsdamer Zuckersiederei von Ludwig Jacobs (1794-1879) angewandt, anschließend in vielen weiteren Zuckerfabriken genutzt wurde (Archiv der Pharmazie 114, 1850, 421-423; Aufforderung zur gemeinschaftlichen Erwerbung eines von dem Herrn Dr. Gustav Reich aufgefundenen Verfahrens, das zur Klärung erforderliche Blut vor Fäulniß zu schützen […], Zeitschrift des Vereins für die Rübenzuckerindustrie im Zollverein 1, 1851, 68-70). Reich wechselte spätestens 1851 zur auch heute noch produzierenden Pommerschen Provinzial-Zuckersiederei (ebd. 1851, n. 336). Er wäre also in der Lage gewesen, die technologische und unternehmerische Logik der Zuckerfärbung einem breiten Publikum verständlich zu machen. Doch stattdessen offerierte er Polemik und beharrte auf der völligen Unschädlichkeit des Ultramarins für den Menschen.

Runge, so Reich, sei zwar ein berühmter Farbenchemiker, seine Polemik gegen die „schöne blaue Farbe des Ultramarin“ jedoch offenbar Ergebnis einer Bowlenlaune. Er habe übellaunig und ohne vorherige Kontrolle am „thierischen Organismus“ dieses „unschuldige Fabrikat“ zu einem Gift gemacht, dadurch das Publikum „irre geführt“ und „die Zuckerfabrikanten zu Giftmischern gemacht“. Ja, Schwefelwasserstoff könne sich bei der Reaktion mit Säuren bilden, doch angesichts der „fast homöopathischen“ Zusatzmengen bei der Produktion sei dies eine völlig zu vernachlässigende Gefahr. Auf 100 Pfund Zucker kämen ganze 4,5 Gramm Ultramarin, also ein 1760stel. Runge sei offenbar ein Homöopath, glaube an die Wirkung von fast nichts – oder er habe zu viel von seinem Lieblingsgetränk Bowle konsumiert, „und in dieser blauen Stimmung ist ihm im Traume das Ultramarin als blaues Gift erschienen!“ (Zitate n. Gustav Reich, [ohne Titel], Stettiner Zeitung 1856, Nr. 243 v. 27. Mai, 2 (auch für das Folgende)

Gift, Gift, Giftmischer: Typographische Aufmachung der Reichschen Replik auf Runges Artikel (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 122 v. 28. Mai, 13)

All dies wäre als typische Polemik zwischen deutschen Gelehrten durchgegangen, bei der eine derbe und verletzende Sprache üblich war – Justus von Liebig (1803-1873) war dabei unrühmliches Beispiel. Doch Gustav Reich ließ es dabei nicht bewenden: Er nahm ungefähr acht Gramm Ultramarin, rührte sie in Zuckerwasser, gab dieses dann seinem „Arbeitsmann“ – also seinem Dienstboten – zu trinken, ließ den Menschenversuch von seinem Stettiner Hausarzt Dr. Meyer dokumentieren. Und wahrlich, das Ultramarin „zeigte sich indifferent auf seinen Organismus und hatte nur die Wirkung, daß ein Aufstoßen mit dem Geruch nach Schwefelwasserstoffgas erfolgte und einige übelriechende Blähungen von Schwefelwasserstoffgas sich aus ihm entwickelten (wie das beim Genuß von Erbsen auch bei ihm vorkommt), welche aber auf meinen Organismus keine giftige Wirkung äußerten.“ Das Ergebnis sei nicht anders zu erwarten gewesen, denn auch die Ultramarinproduktion seines Lieferanten, des Wermelskirchener Apothekers Carl Leverkus (1804-1889), habe nie Vergiftungen bei dessen Beschäftigten hervorgerufen. Auch das Schlafen in Zimmern mit Ultramarintapeten sei völlig ungiftig. Reich schloss seinen Artikel mit einer neuerlichen Breitseite auf den populären chemischen Schriftsteller Runge, der auf die „naturwissenschaftliche Unwissenheit eines Theils des Publikums spekulirt“, dessen Ausführungen aber substanzlos seien, während er selbst allein auf die „Beruhigung des Publikums“ ziele.

Im Anhang dieser Replik, die von der Vossischen Zeitung mit einer absolut unüblichen typographischen Hervorhebung des Gift-Themas gezielt aufgeheizt worden war, erschien die kurze Stellungnahme des Hausarztes: Der Arbeitsmann „verspürte darauf in keiner Weise ein Unbehagen, weder Uebelkeit noch Druck oder Brennen in der Magengegend; nur gab er an, einige Mal ein Aufstoßen wie nach faulen Eier zu verspüren, was von der Entwickelung von Schwefelwasserstoffgas im Magen herrührte, doch war beim Ausathmen des Baumert Nichts von diesem Geruche zu verspüren. – Auch am folgenden Tage befand sich der Baumert im besten Gesundheitszustande und war seine Verdauung in keiner Weise beeinträchtigt.“ Daraus schloß Dr. Meyer messerscharf, „daß das Ultramarin selbst in größerer Gabe in den Magen gebracht, in keiner Weise nachtheilig auf den thierischen Organismus einwirkt, und daß dasselbe demgemäß zu dem menschlichen Körper sich völlig indifferent verhält“ (Meyer, Attest, Stettiner Zeitung 1856, Nr. 243 v. 27. Mai, 2; auch Posener Zeitung 1856, Nr. 129 v. 5. Juni, 4).

Derart herausgefordert, ließ die Reposte Runges nicht lange auf sich warten. Statt aber sachlich zu antworten und die offenkundigen blinden Flecken in Reichs Antwort präzise zu benennen, konzentrierte er sich auf das Argument, dass Ultramarin ein vielgestaltiges Produkt sei, das je nach Produktionsweise und Herkunft sehr wohl giftig sein könne. Auch Schwefelarsen könne darin enthalten sein – und er wollte „dem tapferen Herrn Baumert nicht rathen,“ solche Varianten zu verschlucken. Als gerichtlicher Chemiker müsse Reich derartige Unterschiede kennen, zumal Ultramarin in Polizeivorschriften durchaus als eine schädliche Farbe auftauche, deren Vermischung mit Esswaren nach § 304 des Preußischen Strafgesetzbuches strafbar sei. Die Verfütterung des Ultramarins habe demnach keinerlei Aussagewert, der Hausarzt fabuliere über ihm unbekannte Dinge. Gustav Reich solle aber als Amtsperson nach § 304 bestraft werden. Neuerlich beendete Runge seinen Artikel mit einer Nutzanwendung, in der er den Giftvorwurf leicht zurücknahm, um zum Kern des Konsumentenschutzes vorzustoßen: „Gesetzt nun auch alles Ultramarin, das die Zuckersieder zum Zuckerfärben anwenden, sei nicht Gift, so bleibt doch stets die Zumischung zum Zucker eine Gesetzübertretung, und dann gelinde gesagt, eine Sudelei. Wenn auch die Farbe noch so schön ist (auch ich verehre sie, aber im Auge, nicht im Magen) so ist sie im Zucker doch am unrechten Ort, und was am unrechten Orte ist, ist Schmutz“ (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Gift im Zucker, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 17). Zugleich aber war Runge mit seinem Strafansinnen weit über das Ziel hinausgeschossen: Paragraph 304 zielte nämlich auf Brunnen- und Lebensmittelvergiftung, und sah für vorsätzliche Vergiftung oder vergiftende Stoffzumengungen Zuchthaus von fünfzehn Jahren oder gar – im Falle von Sterbefällen – die Todesstrafe vor. Selbst bei Fahrlässigkeit war eine Gefängnisstrafe möglich (Das Neue Strafgesetzbuch für die gesammten Preußischen Staaten […] vom 14. April 1851, 4. verm. Aufl., Berlin 1851, 77-78).

Runge als Spezialist für Schwefelverbindungen: Entree eines seiner Bücher (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Grundlehren der Chemie für Jedermann, 3. verm. Aufl., Berlin 1843, vor I)

Gustav Reich antwortete rasch, Neues aber kam kaum zutage: Ja, es gäbe auch giftiges, arsenhaltiges Ultramarin, doch für die Zuckerbläuung würde von den führenden Fabriken in Nürnberg, Wermelskirchen oder Coburg allein eine garantiert ungiftige Ware verkauft. Runge bringe nichts Neues, zu fragen sei vielmehr, warum er an einer schon lange üblichen Praxis der Färbung nun Anstoß nehmen, so als habe er „als bekannter Farbenchemiker, das ‚blaue Gift‘ im Zucker erst seit Kurzem entdeckt“ (Gustav Reich, Zur „giftigen“ Angelegenheit!, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 17). Reich betonte, ruhig auf die mögliche Bestrafung nach § 304 warten zu wollen, aus seiner Sicht nur eine haltlose „Denunciation“. Die Polemik gegen Runge setzte er fort, übertrug dessen Sorge um die öffentliche Gesundheit auch auf andere Anwendungsfelder des Ultramarin, fragte rhetorisch, ob nicht auch das Bläuen der Wäsche eine Beschmutzung und Besudelung sei (Stettinger Zeitung 1856, Nr. 259 v. 5. Juni, 2; Breslauer Zeitung 1856, Nr. 257 v. 5. Juni, 1881).

Gefärbte Waren als Spezialität des Chemikers Ferdinand Wincklers: Schwämme und Tauben (Illustrierte Zeitung 17, 1851, 393 (l.); Intelligenzblatt zur Wiener Zeitung 1854, Nr. 21 v. 25. Januar, 54)

Die Debatte unter den Fachleuten war damit allerdings noch nicht beendet – auch wenn es überraschend war, dass sie eben nicht in der Fachliteratur, sondern in allgemeinen Tageszeitungen geführt wurde. Runge erhielt jedenfalls Unterstützung durch den Berliner Agrarwissenschaftler und Chemiker Ferdinand Ludwig Winckler (1801-1868), zu dieser Zeit stolzer Erfinder eines neuen, in ganz Mitteleuropas intensiv beworbenen Universaldüngers (Ferdinand Winckler, Das Düngercapital der Landwirthschaft […], Berlin 1856; ders., F. Winckler’s künstlicher Normal-Dünger u. Regenerations-Guano, Berlin 1856). Er repräsentierte die ökonomischen Chancen der neuen Farbenchemie, hatte auf der Londoner Weltausstellung 1851 chemisch gereinigte, gebleichte und gefärbte Schwämme ausgestellt (Amtliches Verzeichniß der aus dem Deutschen Zollverein und Norddeutschland zur Industrie-Ausstellung […] in London eingesandten Gegenstände, Berlin 1851, 31-32), später „Berliner Papageien“ verkauft, also lebendige chemisch gefärbte Tauben in roter, goldgelber oder kornblauer Farbe. Winckler besaß europäische Kontakte, war Mitglied der Pariser Academie d’agriculture de France, leitete in Berlin ein chemisch-technisches Laboratorium (Landwirthschaftlicher Anzeiger für Nord- und Mitteldeutschland 4, 1858, Nr. 9, 118; Zeitung für Landwirthe 2, 1859, 471).

Für Winckler war die Zuckerbläuung eine offenkundige „Zucker-Verfälschung“ (Ferdinand Winckler, In Sachen des Dr. Runge’schen „Gift im Zucker“ contra Dr. Gustav Reich und Consorten, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 123 v. 29. Mai, 15; auch für das Folgende). Wichtiger aber schien noch, dass bestimmte Ultramarinvarianten sehr wohl giftig seien, Runge also zurecht vor einer Gesundheitsgefährdung gewarnt habe. Reich habe mit seinem Menschenversuche fahrlässig und feige gehandelt. Für Winckler war klar, dass ein kundiges Publikum den gebläuten Zucker meiden müsse. Gustav Reich antwortete hierauf ausflüchtend, fokussierte sich allein auf die unterschiedlichen Färbemittel (Gustav Reich, Notizen über die in Frage stehenden blauen Farben, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 17-18).

Beruhigung als erste Wissenschaftlerpflicht (Magdeburgische Zeitung 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 7)

Parallel meldete sich Anfang Juni 1856 auch der gelernte Apotheker August Wilhelm Lindes (1800-1862) zu Worte: Er war seit 1828 ordentlicher Lehrer der Chemie und Mineralogie bei der kgl. Realschule zu Berlin und Privatlehrer der Pharmazie und hatte ab 1831 auch ein selbständiges Pharmazeutisches Institut, eine pharmazeutische Pensionsanstalt geleitet (Amtsblatt der Kgl. Preußischen Regierung zu Frankfurth a.d. Oder 1828, 68; Nicole Klenke, Zum Alltag der Apothekergehilfen vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2009, 231). Runge habe sich zwar von gemeinnützigen Intentionen leiten lassen, doch angesichts der nur geringen Mengen des eingesetzten Ultramarins und auch der bisher nicht aufgetretenen Krankheitsfälle gäbe es zur Beunruhigung keinen Anlass. Das hervorzuheben sei wichtig für den Fortgang von Handel und Industrie und „zur Beruhigung ängstlicher Gemüther, insbesondere der Frauenwelt“ ([August Wilhelm] Lindes, Zur Beruhigung, Posener Zeitung 1856, Nr. 129 v. 5. Juni, 4; zuerst in Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 17; auch in Stettinger Zeitung 1856, Nr. 258 v. 5. Juni, 2).

Den Reigen inhaltlicher Debattenbeiträge schloss die Nürnberger Ultramarin-Fabrik. Sie war auch nicht ansatzweise an einer sachlichen Diskussion interessiert, zielte dagegen auf die Diskreditierung und Denunziation eines der führenden deutschen Farbenchemiker: Die eigenen Produkte seien sämtlich ungiftig, die Einsatzmengen unbedeutend, der eventuell freiwerdende Schwefel kein Gift, sondern ein lebensnotwendiger Stoff. Die eigenen Arbeiter seien bester Gesundheit, das Ultramarin sei für sie „bisweilen heilsam“, ein „magen- oder blutreinigendes Mittel“ (Zur Aufklärung über Dr. F.J. [sic!] Runge’s: „Gift im Zucker.“, Breslauer Zeitung 1856, Nr. 279 v. 18. Juni, 1288). Runge wisse nicht, worüber er schreibe, sein Urteil daher irrelevant. Am Ende stand der Verweis auf die Obrigkeit: „Die wahrheitswidrigen Veröffentlichungen des Dr. Runge werden eine sanitätische Prüfung des Ultramarins sicherlich zur Folge haben, und diese wird das oben Gesagte über die gänzliche Unschädlichkeit unserer Farbe bestätigen. Möchte dies bald geschehen, um wenigstens von diesem Gesichtspunkte dem Hrn. Dr. Runge für seine gelehrte Unkenntniß danken zu können.“

Fassen wir diesen Teil der Debatte über die Blaufärbung des Zuckers im Mai/Juni 1856 kurz zusammen, so führte Runges Artikel offenkundig nicht zu einer inhaltlich substanziellen Auseinandersetzung über die möglichen Gesundheitsgefahren durch das Färbemittel. Das Publikum las von einander widersprechenden wissenschaftlichen Einschätzungen – hier Gift und Gesundheitsgefährdung, dort völlige Unschädlichkeit. Die Konsumenten sollten nach Runges und auch Wincklers Einschätzung auf gebläuten Zucker verzichten, doch eine marktgängige Alternative war dazu nicht in Sicht, denn über eine Kennzeichnung dieser Ware wurde nicht diskutiert, ebenso nicht über ungefärbte Angebote. Es blieb demnach nur der Verzicht, der Kauf von Kandiszucker oder aber die aufwändige Kontrolle im Hause.

Themensetzung in der publizistischen Öffentlichkeit

Der von Friedlieb Ferdinand Runge in Berlin initiierte Skandal über „Gift im Zucker“ wurde binnen weniger Tage in nahezu alle Städte der deutschen Lande getragen, dort wohl auch diskutiert. Anzunehmen ist, dass auch die fachliche Diskussion etwas breiter war. Da dieses Land jedoch immer noch ein digitales Entwicklungsland ist – und insbesondere in dem sich Hauptstadt nennenden Berlin der Unwille zur Arbeit (im Gegensatz zum Erhalt von leistungsungebundenen Subventionen) gerade im Bibliothekssektor besonders ausgeprägt ist, ist eine breitere Analyse des Hin und Her vor Ort nicht wirklich möglich (zur damaligen Presselandschaft s. Robert Springer, Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Berlin 1861, 252-253).

Die Berichterstattung orientierte sich an der Artikelabfolge in Berlin, konzentrierte sich aber nicht allein auf den Skandal der Zuckerbläuung, sondern vor allem auf den Zweikampf von Runge und Reich. Obwohl gebläuter Zucker ein allgemeines, gar nationales Thema war, wurde der Skandal dadurch personalisiert: „Die Zucker-Debatte geht in den berliner Blättern noch fort“ (Kölnische Zeitung 1856, Nr. 150 v. 31. Mai, 3). Runge war dabei kaum mehr als ein Name, häufig schrieb man lediglich von „einem“ Dr. Runge (Bläulicher Zucker schädlich, Wiener Theater-Zeitung 1856, Nr. 120 v. 28. Mai, 482). Dessen Artikel wurde kurz und kompakt wiedergegeben: „In der ‚Voss. Ztg.‘ macht ein Dr. Runge auf eine Zuckergattung aufmerksam, die seit einiger Zeit im Handel vorkomme, ein schönes blauweißes Aussehen habe, und sehr mit Unrecht theurer bezahlt werde, als anderer Zucker, dessen Farbe in’s Gelbliche spiele. Der bläuliche Zucker sey nämlich gefälscht und vergiftet, und zwar durch eine Beimischung von Ultramarin. […] Dr. Runge räth an, keinen solchen blauweißen Zucker, sondern gelben oder gelbbraunen zu kaufen“ (Bohemia 29, 1856, 693). Die Standardnotiz war respektvoller, benannte Runges Vorwurf und auch mögliche Handreichungen: „Der Chemiker Prof. Runge in Oranienburg macht darauf aufmerksam, daß seit einiger Zeit im Handel ein Zucker vorkomme, der ein schönes blauweißes Ansehen und einen höheren Preis als anderer in’s Gelbliche spielende hat, aber vergiftet ist, indem ihm zur Erreichung jener Farbe Ultramarin beigemengt wird. Als Kennzeichen wird angegeben, daß solcher Zucker bei Auflösung im Wasser nach einigen Tagen Ruhr einen blauen Rückstand zurückläßt, die Auflösung selbst aber sich grünlich zeigt.“ (Lausitzer Zeitung 1856, Nr. 66 v. 5. Juni, 263; entsprechend schon Gift und Zucker, Hannoverscher Courier 1856, Nr. 523 v. 26. Mai, 2; Breslauer Zeitung 1856, Nr. 247 v. 30. Mai, 118; Zur Warnung, Sauerländischer Anzeiger 1856, Nr. 63 v. 31. Mai, Nr. 63, 3; Der Landbote 1856, Nr. 65 v. 31. Mai, 254; Iserlohner Kreisblatt 1856, Nr. 46 v. 7. Juni, 3). Die Nachricht verbreitete sich entlang des Telegraphennetzes, dann der Haupteisenbahnlinien, diffundierte so auch in die Mittelstädte. Die Quintessenz schien klar: „Man kaufe also keinen weißblauen Zucker sondern gelben oder gelbbraunen. Candis z.B. ist ohne Gift“ (Der Bote aus dem Riesengebirge 1856, Nr. 43 v. 28. Mai, 664). Kommentare unterblieben, das Gift-Narrativ wurde aufgegriffen und weiterverbreitet.

Dabei wäre es wohl geblieben, hätte nicht Gustav Reichs Polemik neuen Nachrichtenstoff geschaffen. Dessen Entgegnung wurde ebenfalls präsentiert, die Debatte zugleich aber als „komischer“ Streit „zwischen zwei namhaften Chemikern“ aufgeladen (Altonaer Mercur 1856, Nr. 125 v. 29. Mai, 2). So kam Dynamik in die Sache, ordneten sich Schlachtreihen: „In den Journalen wiederhallt es von Entgegnungen und Repliken. Eine ganze Reihe von Professoren ist auf den Kampfplatz getreten, um für oder gegen das Ultramarin zu fechten. Die ‚Blauen‘ behaupten, daß Ultramarin sey durchaus kein Giftstoff und selbst wenn es einer wäre, so sey seine Beimengung zum Zucker nicht gesundheitsschädlich, da es nur in außerordentlich geringer Menge beigemischt erscheint. Die ‚Gelben‘ dagegen erwiedern, sey es mit dem Ultramarin, wie es wolle, dessen Beimengung bleibt zum mindesten eine Unsauberkeit und der gelbe Zucker ist auf jeden Fall vorzuziehen, weil er unverfälscht ist“ (Bohemia 29, 1856, 731). Wichtiger aber war, dass die Zeitungen nun vielfach ihre Zurückhaltung aufgaben, sich der einen oder aber anderen Seite anschlossen. Die einen freuten sich über die Entgegnung Reichs, bezeichneten Runges Intervention als „gelehrten Irrtum“ (Der Bote aus dem Riesengebirge 1856, Nr. 44 v. 31. Mai, 675-676; Gelehrter Irrthum, Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier 1856, Nr. 152 v. 3. Juni, 4). Immer wieder las man den Begriff der vermeintlich unschuldigen Farbe, von einer seit langem ohne Schaden praktizierten Verschönerung des Zuckers (Zucker und Gift, Eisenbahnzeitung 1856, Nr. 85 v. 4. Juni, 3; Bremer Sonntagsblatt 1856, Nr. 26 v. 28. Juni, 208). Das war eine allesamt bemerkenswerte Urteilsfreude, über deren Wissensgrundlage man gern mehr erfahren hätte.

Das Hin und Her zwischen Runge und Reich schuf Lager für die Zeitschriften, meist einfache duale Positionen. Komplexere Rückfragen, etwa nach der Art der gesundheitlichen Schädigung, nach Fragen wirtschaftlicher Redlichkeit, nach den ethischen Grundlagen eines Menschenversuches oder aber den Kennzeichnungspflichten wurden nicht erörtert. Stattdessen hielten die Journalisten die Debatte mit den neuen Beiträgen am Laufen. Getreulich präsentieren sie daher auch die Stellungnahmen von Lindes bzw. Winckler (Magdeburgische Zeitung 1856, Nr. 125 v. 31. Mai, 2; Leipziger Zeitung 1856, Nr. 131 v. 3. Juni, 3120). In den Unterhaltungsbeilagen fanden sich diese auch gebündelt (Vareler Unterhaltungsblatt 1856, Nr. 23 v. 7. Juni, 104).

Das Publikum war also informiert, konnte sich einreihen, seine eigenen Schlüsse ziehen: „Das Publikum weiß sonach, was es von jedem bläulich-weißen Zucker zu halten hat“ (Der Bote aus dem Riesengebirge 1856, Nr. 45 v. 4. Juni, 693). Grundsätzlich waren sich die anonym schreibenden Journalisten bewusst, dass dieser Skandal eine praktische Antwort erforderte: „Jedenfalls wird der Zucker ohne Ultramarin – bei weniger schöner Farbe – eben so gut, und ohne Schwefelwasserstoffgas wohl besser, als mit solchem, schmecken“ (Kölnische Zeitung 1856, Nr. 149 v. 30. Mai, 3). Trotz Parteiname im komischen Streit der Experten war man sich letztlich seiner begrenzten Urteilsfähigkeit bewusst: „Wir müssen natürlich die definitive Entscheidung darüber dem Urtheil der Sachverständigen überlassen. D. Red.“ (Gift im Zucker, Posener Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 1). Doch nur selten forderten sie mehr, sahen sich durch den Skandal aus der Reserve der am staatlichen Gängelband hängenden Presse gelockt: „Wir halten die auf diese Weise angeregte Frage für hinlänglich wichtig, daß auch andere Chemiker ein öffentliches Gutachten hierüber abgeben möchten. Runge hat als Chemiker einen so namhaften Ruf, daß die gegentheilige Behauptung des Dr. Reich vor der Hand nur den Beginn einer weiteren wissenschaftlichen Besprechung seyn kann. Bei dem so allgemeinen Verbrauch des Zuckers ist die Reinheit und Unschädlichkeit desselben von der größten Wichtigkeit“ (Würzburger Anzeiger 1856, Nr. 152 v. 2. Juni, 2). Auch die Zuckerproduzenten hielten sich aus der Debatte heraus, bezogen Mittelpositionen: „So sehr zu wünschen ist, daß das Publikum sich an ungeschminkte Waaren im allgemeinen gewöhnt, so unrecht ist es anderseits dasselbe unnöthig zu ängstigen, wo keine Gefahr vorhanden ist. Ein Zuckerfabrikant, der seinen Zucker deswegen nicht bläut, weil seine Abnehmer mit Recht die milchweiße Naturfarbe vorziehen“ (Regensburger Zeitung 1856, Nr. 157 v. 9. Juni, 625).

Die Ambivalenz des Konsumenten: Abwägende Haltung in der Industrie (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 1856, Nr. 165 v. 13. Juni, 1953)

Unterhaltung statt Sachdebatte: Satirische Überzeichnungen

Die Experten stritten unversöhnlich, die Journalisten nahmen Partei, ohne aber den Skandal weiterzuspinnen, auf erforderliche Maßregeln hin zu lenken. Die Szenerie Ende Mai 1856 war grotesk, eine ernste öffentliche Angelegenheit wurde zur Farce. Dazu trugen nicht zuletzt die Spötter, die Satiriker und Karikaturisten bei, die den Affen Zucker gaben, den Skandal in unterhaltende Münze umwandelten. Der unversöhnliche Zweikampf zweier Naturwissenschaftler bot die Kulisse für reflektiertes Kopfschütteln, für eine aberwitzige Übersteigerung des Geschehens.

Reichs Intervention bildete hierfür den Startschuss: Am 27. Mai hieß es: „Ein furchtbarer Vergiftungskampf über des Lebens Hauptsüßigkeiten ist ausgebrochen. Der bekannte Chemiker Dr. Runge in Oranienburg hat in den Zeitungen den bläulichen Zucker angeschwärzt. Alle Kaufleute, die blauen Zucker auf dem Lager hatten, wurden seitdem von den Käuferinnen maltraitirt und der Vergiftung beschuldigt. Heute aber tritt für sie Dr. G. Reich […] in die Schranken und hängt dem chemischen Gegner die giftige Beschuldigung an, nur eine übelbekommene Bowle seines Lieblingsgetränkes, des Punsches, habe ihn im Ultramarin etwas Giftiges entdecken lassen. […] Es steht demnach zum Besten der Insertions-Kassen ein Zeitungskampf zwischen den ‚Blauen‘ und ‚Gelben‘ in Aussicht, gegen welchen Goldberger und Pulvermacher, Capuleti und Montecchi, Weiße und Rothe Rose reines Tirailleur-Geplänkel bleiben müssen“ (Münsterischer Anzeiger 1856, Nr. 122 v. 30. Mai, 3; auch Leipziger Tageblatt 1856, Nr. 155 v. 3. Juni, 2475). Der Skandal wurde damit persifliert und historisiert, war Fortsetzung der Wiener Werbeschlachten um die elektrischen Rheumatismusketten der Herren Goldberger und Pulvermacher Anfang der 1850er Jahre, der an Shakespeare orientierten Veroneser Familienfehde in Vincenzo Bellinis (1801-1831) 1830 uraufgeführter Oper, der epischen Kämpfe zwischen den englischen Häusern York und Lancaster im späten 15. Jahrhundert. Geschichte als Abfolge variiert wiederholter Farcen, mit Bürgern auf dem Zuschauerrang. Nicht umsonst wurde bereits Reichs Antwort als eine „derbe humoristische Abfertigung“ bezeichnet (Augsburger Tagblatt 1856, Nr. 150 v. 2. Juni, 1058-1059, hier 1058; Der Landbote 1856, Nr. 66 v. 3. Juni, 258).

Am 31. Mai übernahm dann die Berliner Karikaturzeitschrift „Kladderadatsch“ die Humordeutung: Schultze und Müller, die Verkörperungen des Berliners, thematisierten den giftigen Zucker, reduzierten den Skandal auf eine Auseinandersetzung von Runge und Reich, von „Jift“ und „Jalle“ (Kladderadatsch 9, 1856, 99; vgl. auch Eckart Sackmann, Schultze und Müller: Stehende Figuren des »Kladderadatsch«, Deutsche Comicforschung 21, 2025, 22-30).

Die Moritat von Frau Piefke (Kladderadatsch 9, 1856, 99)

Derart eingeleitet folgten gleich drei Mordgeschichten, in denen sowohl das Giftmotiv als auch die Brutalität des Menschenversuches weitergesponnen wurde. Heute noch ansprechend war insbesondere die Moritat von Frau Piefke, die durch Runge angeregt, ihren Gatten durch gebläuten Zucker zu vergiften suchte. Dem Hausherrn wurde ein süßes Dasein bereitet, nicht ahnend, dass er den Tod so im Leibe hatte. Gewiss, diese Art des Mordes dauerte, doch nach vielen Bowlen, vielem Zuckerwerk war Herr Piefke endlich ultramariniert und „Frau Piefke nahm den andern Mann, weil man ihr nichts beweisen kann“ (Kladderadatsch 9, 1856, 99, auch für das Folgende). Da blieb dem einfachen Bürger nur Vorsicht, Verzicht auf das Naschen, Abstand zum gesüßten Kaffee und die bittere Erkenntnis, dass man allgemein auf der „Zucker-Hut“ sein müsse.

Reichs und Meyers Menschenversuch wurde ebenso persifliert, der Chemicus Dr. Bombastus und sein Mitstreiter, der Sanitätsrat Dr. Eisenbart, verabreichten dem Arbeitsmann Bauer ein Glas Zuckerwasser mit dem arsenhaltigen Schweinfurter Grün, so dass er anschließend verschied. Obwohl die Toxizität des Farbstoffs schon damals unstrittig war, wurde er im Deutschen Reich erst 1882 verboten – und bis heute kämpfen zahlreiche Bibliotheken mit der Giftigkeit ihrer grün leuchtenden Bücherschätze. Im „Kladderadatsch“ nutzte aber auch Sanitätsrat Dr. Schnellfertig den von Reich empfohlenen Ultramarinzucker als Mittel gegen Schlaflosigkeit, dem Patienten wohlwissend suggerierend, dass sich dadurch „eine wohltätige Ruhe einstellen wird, aus der kein Schmerz Sie wieder wecken dürfte“ (Ein kleiner Briefwechsel, Kladderadatsch 9, 1856, 99).

Spott über Gustav Reichs Menschenversuch mit Ultramarin (Kladderadatsch 9, 1856, 117)

Gustav Reichs Menschenversuch wurde zwei Wochen später nochmals aufgegriffen, die Brutalität des Vorgehens mündete in Empfehlungen weiterer Tests mit Nikotin, Arsen, Strychnin und anderen guten Dingen. Menschenversuche kamen in der Physiologie, Pharmazie und Medizin der damaligen Zeit immer wieder vor, man denke etwa an Tests mit Haschisch, die Analyse von Kostformen im Respirationsapparat oder die Verabreichung einseitiger Kostformen an Alte, Soldaten, Säuglinge und Labordiener. Gängiger aber waren Selbst- und zunehmend Tierversuche (vgl. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, passim; Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1996).

Doch schon zuvor wurde „Gift im Zucker“ von weiteren Satirikern aufgegriffen und verlustigt. In der „Berliner Feuerspritze“, dem „Löschblatt für dringende Fragen“, las man von dem „panischen Schrecken“ (Giftige Gedanken. Humoreske der Berliner Feuerspritze, Die Plauderstunde 2, 1856, 188-190, hier 188; auch in Danziger Dampfboot 1856, Nr. 135 v. 12. Juni, 545-546), hervorgerufen von Runges Warnruf: „Die Hand, die sich eben nach der Giftbüchse ausgestreckt hatte, um ein Stück des infernalischen Krystalles in die zur Verdauung der Tante nothwendige Kaffee-Tasse zu werfen, bebte plötzlich zurück und vergebens schrien die Kleinen nach der gewohnten süßen Würze. – Auch der Zucker ist uns nun verbittert! – das war der traurige Gedanke, der alle erfüllte und ängstigte; ja sie wurden von einem leisen Schauer überlaufen, als sie der Menge des Giftes gedachten, das sie schon in sich gesogen, und des Todes, den sie bei harmlosem Kaffeeklatsch wie bei ästhetischem Thee getrunken.“ Der kleine Text ist der an sich spannendste Beitrag zu dieser Skandalgeschichte, denn dem Autor gelang ein Blick hinter die Kulissen, er spiegelte die damals einsetzende, von elementaren Sicherheitsvorkehrungen kaum begrenzte Umgestaltung der täglichen Kost. Mit Verweis auf den englischen Arzt und Giftmörder William Palmer (1824-1856) hieß es beredt: „Wir sind von Giftmischern rings umgeben und haben kein Tribunal, um die ‚Palmer‘ der Industrie zur Rechenschaft zu ziehen. Sie sitzen auf Rittergütern, hinter hohen Schornsteinen und auf weichen Polstern, sie brauen und sieden, destilliren und backen und streichen, wie Palmer, vorzüglich das Blutgeld in ihre Kasten. Sie haben eine weite Tasche und ein weites Gewissen, sie machen in Gift und spekuliren in Kreditaktien, sie fälschen unsere Nahrung und leben von unserem Fett“ (Ebd., 189). Doch nicht die ökonomische Logik dieser Transformation wurde ausgelotet, sondern man verblieb in einer Jeremiade der Zeitläufte, beklagte den sich immer stärker selbst gefährdenden Menschen. Und so würde man nun eine neue Form des Abschieds wählen, um dem irdischen Jammertal zu entfliehen: „Die neue Lucrezia Borgia wird ihre Liebhaber mit Zuckerwasser und die Mitwisser des Verbrechens durch Kuchen morden. Unglücklich Liebende aber werden hingehen, sich einen Zuckerhut kaufen, sich einschließen im stillen Kämmerlein und von dem süßen Gifte lecken, bis sie süß entschlafen sind – Ein Herz und Eine Seele“ (Ebd., 190).

Die satirische Aufarbeitung des Skandals der Zuckerbläuung endete im Juni 1856 in zahlreichen kleineren Artikeln, die den „Streit über das Gift im Zucker“ (Neue Münchener Zeitung 1856, Nr. 132 v. 3. Juni, 527) weiter begleiteten. Der Kampf „zwischen den Gelben und den Blauen“ (Fremden-Blatt 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 5) wurde fast sprichwörtlich. „Notizen über Zuckervergiftung“ fanden sich immer wieder (Ansbacher Morgenblatt 1856, Nr. 137 v. 11. Juni, 547), die ersten Bankenzusammenbrüche gaben der Debatte ein eigenartiges Flair.

Dem Tod stoisch entgegenblicken (Schmerbach, 1856, 2. S. vor I)

Die einen sangen: „Seid umschlungen, Millionen! / Discontirt die ganze Welt! / Brüder – Nur um Geld, um Geld / Soll das Leben sich verlohnen!“ (Börsenjubelhymne, Kladderadatsch 9, 1856, 103) Andere dagegen versuchten, die Moral hochzuhalten, die allgemeine Bürgerpflicht anzumahnen: „Daß häufiger sei zufällige / Vergiftung, als absichtliche, / Das, Letztere um zu verhüten, / Fabrikherrn müsse man verbieten, / Gift mir nix, dir nix zu verschleißen, / Wenn einer kein Attest kann weißen / Von Polizei, daß er’s bedarf, / Und Uebertreter ahnte scharf, / Daß man ihn müsse haftbar machen, / Wenn seine Leut‘ es sollten wagen, / Was aus der Giftfabrik zu tragen“ ([Michael] Schmerbach, Tod! wo ist dein Stachel? oder: Großes medicinisches Lehrgedicht, Würzburg 1856, 14-15). Der blauweiße Zucker war in Verruf geraten, doch einen Reim hierauf konnte sich der Leser kaum machen (Barmer Bürgerblatt 1856, Nr. 134 v. 11. Juni, 3). Also hielt man die Situation unter Kontrolle, reduzierte sie zur Petitesse: „Es scheint übrigens, daß sich in dem gebläuten Zucker weniger Gift, als nur ein nicht dahin gehöriger Farbenzusatz, also ein blauer Schmutz, befindet“ (Leipziger Zeitung 1856, Nr. 140 v. 13. Juni, 3351).

Staatliche Kontrolle oder Kein Grund zur Besorgnis

Der Skandal um die Ultramarinfärbung mündete abseits der öffentlichen Debatte zumindest in eine offizielle Untersuchung des Berliner Polizei-Präsidiums. Anfang Juni 1856 ließ die Behörde „aus allen hiesigen Zuckerfabriken und auch aus verschiedenen hiesigen Zuckerhandlungen Zuckerproben entnehmen“ und führte chemische Untersuchungen durch „um die in neuerer Zeit angeregte Frage, ob Gift im Zucker ist, zu einer das Publikum beruhigenden oder sichernden gründlichen Erledigung zu bringen“ (Echo der Gegenwart 1856, Nr. 159 v. 11. Juni, 2; Münsterischer Anzeiger 1856, Nr. 132 v. 11. Juni, 3). Diese Nachricht wurde weit über Preußen hinaus verbreitet (Kurier für Niederbayern 9, 1856, Nr. 162 v. 15. Juni, 647).

Anfang Juli 1856 lagen die Ergebnisse vor. Die durchschnittliche Raffinade enthielt demnach „nur“ (Der Landbote 1856, Nr. 82 v. 10. Juli, 321) ein halbes Gramm Ultramarin bei einem Zuckerhut von 10 Pfund. Die in der Debatte von Runge inkriminierten giftigen Farbstoffe wurden nicht gefunden, insbesondere fehlte jede Spur von Arsen oder anderer Gifte. Wichtiger noch war das Ergebnis, „daß jede Besorgniß der Schädlichkeit des mit Ultramarin gefärbten Zuckers als völlig unbegründet zu erachten ist“ (Der Ortenauer Bote 1856, Nr. 55 v. 15. Juli, 435; identisch Aachener Zeitung 1856, Nr. 188 v. 7. Juli, 2; Humorist 1856, Nr. 185 v. 10. Juli, 3; Gemeinnütziges Wochenblatt 1856, Nr. 28 v. 12. Juli, 1; Neustadter Zeitung 1856, Unterhaltungsbl., Nr. 87 v. 19. Juli, 3; Wochenblatt für Pulsnitz […] 1856, Nr. 31 v. 1. August, 245). Nähere Informationen zu Methodik und Umfang der Kontrollen fehlten: Entscheidend war die Beruhigung der Öffentlichkeit, war die simple Gegenbotschaft: „Kein Gift im Zucker“ (Posener Zeitung 1856, Nr. 159 v. 10. Juli, 3).

Ob der Konsument es hierbei belassen wollte, war in seine Verantwortung gestellt: „Von einer offenbaren Vergiftung des menschlichen Organismus durch bläulich-gefärbten Zucker kann also wenig oder gar nicht die Rede sein, obgleich auch anderer Seits nicht in Abrede zu stellen ist, daß, wenn dergleichen schädliche Stoffe in den geringsten Gaben täglich in den Körper der Menschen gelangen, sich die daraus entstehenden nachtheiligen Folgen für die Gesundheit oft erst nach Jahren bemerklich machen können. Jedenfalls ist es also gerathener den Zucker ohne Ultramarin zu wählen, der eben so gut und ohne Wirkungen durch Schwefelwasserstoffgas wohl noch besser schmecken wird, als das, wegen des bessern Aussehens gefärbte Fabrikat“ (Gefärbter Zucker, Cochemer Anzeiger 1856, Nr. 58 v. 9. August, 2). Wo dieses zu kaufen war, blieb offen. Ein organisierter Verbraucherschutz fehlte, von gemeinsamen Initiativen vor Ort ist nichts bekannt.

Lehren eines Skandals

Runges Intervention „Gift im Zucker“ war mehr als ein Hinweis auf ein durch Zusatzstoffe veränderndes Genussmittel. Sie war ein früher Alarm über die Veränderung der Gesellschaft selbst, hielt ihr einen Spiegel vor. Das war aufklärerisch und praktisch zugleich, denn Runge benannte nicht nur ein Problem, sondern gab auch eine mögliche Antwort, wie mit dem Problem umzugehen sei. Die Kosten des Neuen waren offenkundig, abwägende Zurückhaltung schien angeraten. Zucker war süß, auch wenn er nicht weiß war. Warum also derartige Ansprüche an ein Konsumgut stellen? Friedlieb Ferdinand Runge breitete seine Gedanken in der wichtigsten Tageszeitung der preußischen Hauptstadt aus, zielte auf ein Publikum, rechnete mit Resonanz, mit Zustimmung, mit einer problemangemessenen dialektischen Antwort.

Der Naturforscher nutzte dazu das Konsumprodukt Zeitung, ein Hybrid staatlicher Regulierung und wirtschaftlicher Interessen. Er thematisierte den Wandel des Konsumgütermarktes und der Produktionsweisen in einem Umfeld, in dem diese zwar häufig besprochen, selten aber in Frage gestellt wurden. Er schrieb über Konsumenten in der „Verstrickung des kaufmännischen Netzes“ (Ueber den Handel. (Schluß.), Westphalia 1846, Nr. 35 v. 29. August, 274-275, hier 274), in seiner Abhängigkeit von den Entscheidungen der Produzenten und Händler. Damit agierte Runge modern. Moderne Gesellschaften fächern sich nämlich arbeitsteilig aus, Kritik wird gemeinhin nicht auf gleicher systemischer Ebene artikuliert, vielmehr beobachten und kritisieren sich die einzelnen Systeme untereinander, da sie die jeweils blinden Flecken der anderen sehen. Die Kosten staatlicher Ineffizienz werden aus wirtschaftlicher Perspektive kritisiert, Gesundheitsgefährdungen nicht von den Kündern neuer technologischer Durchbrüche. Probleme, gerade große, müssen kleinteilig thematisiert werden, um eine Chance für Veränderung zu haben (vgl. allgemein und anregend Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986). Vier Lehren kann man aus diesem Skandal vorrangig ziehen.

1. Beruhigung als Aufgabe des „Eisernen Drecks“ aus Wissenschaft, Wirtschaft und Staat

Der Skandal um den Zuckerbläuung kam nicht zur Entfaltung, wurde vielmehr personalisiert, geriet zur Farce, zur pläsierlichen Unterhaltungsware. Ein Eingehen auf Runges Intervention hätte ein seit knapp zwei Jahrzehnten übliches Schönungsverfahren in Frage gestellt, hätte die vielgestaltigen Bemühungen der deutschen Rübenzuckerindustrie unterminiert, sich gegen den noch hochwertigeren kolonialen Rohrzucker zu behaupten. Es hätte eine Selbstreflektion der Konsumenten erfordert, die in vielfältiger Gestalt eine „schöne“ Ware forderten. All dies wäre bei einer akuten Gesundheitsgefährdung eventuell möglich gewesen – auch wenn das Beispiel des arsenhaltigen Schweinfurter Grüns unterstrich, dass selbst in einem solchen Falle Jahrzehnte vergehen konnten, bevor einer Gefahr beherzt begegnet wurde. Im Falle der Ultramarinfärbung war diese Gesundheitsgefahr jedoch nur ansatzweise gegeben. Kosten und Aufwand für eine Änderung standen in keinem Verhältnis zueinander. Entsprechend befestigte Runges Intervention die bestehende Situation: Wissenschaft, Wirtschaft und Staat bekräftigten sich wechselseitig der Sinnhaftigkeit und Unschädlichkeit ihres Tuns. Dieses „Eiserne Dreieck“ erlaubte weiterhin Außenseiterpositionen, marginalisierte sie jedoch. Besorgte Konsumenten wurden auf eine häusliche Kontrollpraxis verwiesen, galten als besorgte Sonderlinge, als Hypochonder. Der Skandal um das vermeintliche „Gift im Zucker“ mündete in gegenteiliges Handbuchwissen. Im Jahrbuch zum Conversations-Lexikon „Unsere Zeit“ hieß es 1857 zum Ultramarin, daß „seine Verwendung zur Bläuung oder vielmehr Weißmachung des Zuckers […] ohne Nachtheil für die Gesundheit der Consumenten“ bleibe (Deutsche Allgemeine Zeitung 1857, Nr. 140 v. 19. Juni, 1232). Dies galt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, gleichermaßen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Staat.

Fortschritt abseits der Gefährdungen: Moderne Rübenzuckertechnologie (Richard v. Regner, Die Fabrikation des Rübenzuckers, Wien, Pest und Leipzig 1870, I)

2. Moderne Konsumwelten: Ein untergründiges Wissen um Gefährdung und Vergiftung

Friedlieb Friedrich Runge beurteilte bis an sein Lebensende den Markt als moralische Anstalt. Er war sich bewusst, dass sein Verweis auf mögliche Schwefelwasserstoffbildungen durch Ultramarinzusatz keine akute Gesundheitsgefahr benannte, sondern einen lästigen, unangenehmen Nebeneffekt unbedachten Zuckerkonsums. Doch er fragte sich auch in späten Publikationen, „ob diese Thatsachen Jemand berechtigen, den Nahrungsmitteln absichtlich schwefelhaltige Dinge beizumischen? – Gewiß nicht! und doch wurde es mir öffentlich in den Zeitungen als Entschuldigungsgrund entgegengehalten, als ich vor dem Genuß blauen Zuckers warnte, weil er Ultramarin enthalte, der, mit Säuren vermischt, einen Gestank von Schwefelwasserstoff aushaucht“ (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Hauswirthschaftliche Briefe. Sechszehnter Brief. (Schluß.), Schlesische Landwirthschaftliche Zeitung 3, 1872, Nr. 47, 186-187, hier 187; das Original stammt von 1866).

Runges Vorstellung eines wechselseitig rücksichtsvollen Umgangs von Bürgern in der Marktsphäre mag antiquiert erscheinen, doch insbesondere das Kennzeichnungsrecht spiegelt noch den Anspruch, dass Anbieter und Produzenten über die nicht sichtbaren Gehalte ihrer Waren aufklären müssen. Es ging im Skandal um die Ultramarinfärbung nicht allein um Gesundheitsgefährdungen, sondern immer auch um Markttransparenz in zunehmend anonymen Märkten. Zucker war eine Imagination, eine semantische Illusion, doch als Ware veränderte er sich durch das Aufkommen des Rübenzuckers, durch fortschrittlichere Produktionsverfahren, durch neuartige Zusatzstoffe. Ungebläuter Zucker verschwand ungefragt vom Markt, ohne Wissen des vielbeschworenen Souveräns, des Konsumenten. Wie war dies mit der Ethik moderner Marktwirtschaften in eins zu bringen?

Obwohl der Skandal den Zuckermarkt nicht veränderte, etablierte die Debatte doch ein breit gelagertes, im Detail aber nicht genauer einschätzbares Wissen von der Brüchigkeit moderner Konsumwelten. Die Konsumenten akzeptierten den intransparenten Marktwandel, doch an die Stelle des vielfach beschworenen Marktvertrauens traten Vorsicht, Misstrauen und unartikuliertes Wissen um mögliche Gefährdungen, gar Vergiftungen durch Konsumgüter. Als kurz nach Ende des Zuckerskandals über andere Fälschungen diskutiert wurde, erinnerte man sich gleich der Färbedebatten, schloss von dem einen auf das andere (Die Verfälschungen des Kaffees, des Zuckers und der Chocolade, Neuigkeiten 1856, Nr. 210 v. 31. Juli, 3). Als einige Jahre später deutlich wurde, dass der Zusatz von Ultramarin keineswegs glatt erfolgte, dass Klumpenbildungen üblich waren und dadurch das Risiko von Gesundheitsgefahren deutlich größer war, erinnerte man sich der früheren Warnungen (Das Ultramarin. (Schluß.), Industrie- und Gewerbe-Blatt 4, 1860, Nr. 17, 65-67, hier 67). So sehr man sich auf die eigenen Sinne verließ, so war man doch gewahr, dass „die Nase eines Chemikers“ (Azur und Purpur, Aus der Natur 11, 1858, 1-46, hier 23) mehr entdecken würde. Leben und Konsumieren waren gefährlich, mochten die Beruhigungen der Etablierten auch anders tönen.

3. Skandalierung als langfristig aktivierbare Themensetzung

Die Zuckerbläuung verschwand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Zangenbewegung einerseits der Substitution des Ultramarins durch andere Farbstoffe, anderseits durch „reinere“ Produktionsverfahren des Zuckers. Dies entsprach einer für diese Zeit üblichen strukturellen Minderung realer Risiken, die auf die für das 19. Jahrhundert insgesamt dominierende Bekämpfung elementarer Gesundheitsrisken folgte, während unsere heutigen Skandale vor allem versuchen, moralisch skandalisierte Praktiken in den Wertschöpfungsketten zu reduzieren.

Doch trotz der begrenzten Gesundheitsgefahr durch die Ultramarinfärbung blieb sie ein in den Folgejahrzehnten wieder und wieder diskutiertes Skandalon. Das ist nicht überraschend, denn Lebensmittelskandale stellen Brückenphänome dar, durch die für kurze Zeit scheinbare Gegensätze aufeinanderprallen, die durch unsere Art des Wirtschaftens und Konsumierens gemeinhin voneinander getrennt sind (Uwe Spiekermann, Die Normalität des (Lebensmittel-)Skandals – Risikowahrnehmungen und Handlungsfolgen im 20. Jahrhundert, Hauswirtschaft und Wissenschaft 52, 2004, Nr. 2, 60-69, hier 61). Zwischen privat und öffentlich, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen technischen Möglichkeiten und faktischen Handlungen taten sich immer wieder Diskrepanzen auf, die durch andere Nahrungsmittelproduktion, andere Kennzeichnungsregime, alternative Angebote und staatliche Regulierung hätten geschlossen werden können. Wir werden dies in einem zweiten Beitrag noch genauer analysieren. Für unsere Perspektive auf den Skandal von 1856 ist allein festzuhalten, dass er damals zwar stillgestellt worden war, dass er anschließend aber aus strukturellen Gründen nicht mehr zur Ruhe kommen konnte. Es ist allerdings ein bezeichnender Treppenwitz der Geschichte, dass die wiederholte Skandalisierung der Ultramarinfärbung seit den 1870er und 1880er Jahren nicht mehr direkt an Runges Intervention anschloss. Sein Name war vergessen, die Struktur seiner Rückfrage jedoch nicht.

4. Die strukturelle Schwäche der Öffentlichkeit: Konsumentenfragen als Machtfragen

Der Skandal um die Ultramarinfärbung 1856 unterstrich die Grenzen öffentlicher Themensetzung ohne wissenschaftliche, wirtschaftliche und staatliche Macht. Diese Debatte ist auch deshalb vergessen, fand sie doch kaum Niederschlag in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dieser Zeit. Fachwissenschaften huldigen (sinnvollerweise) Schmalspurdenken, kümmern sich vorrangig um selbstgesetzte Probleme, sind für alles andere strukturell blind. Innerhalb der Zuckerindustrie wurde die eigene Praxis der Färbung erst dann wieder akut, als neue Düsentechnologien seit den 1860er Jahren sparsamere und effizientere Techniken ermöglichten, und neue Farbstoffe das faktische Monopol des Ultramarins hinterfragten. Innerhalb des Staates gab es aufgrund der früheren Debatten über die Zuckerbläuung keinen Zwang für eine Regulierung im Vorfeld des Nahrungsmittelgesetzes 1879, denn offenkundige Unschädlichkeit musste nicht reguliert werden. Auch wenn die „Stimme des Consumenten“ (Westfälischer Merkur 1844, Nr. 158 v. 3. Juli, 1) damals heller erklang, fand sie keinen Hebel, besaß sie keine Machtposition.

Der Skandal von 1856 hat diese Machtposition kaum thematisiert. Sie wurde als wunderliche Debatte zwischen Experten präsentiert, hatte Unterhaltungs- und etwas Gruselwert, mehr nicht. Sie entfachte keinen Funkenschlag, drang nicht vor in die Programmatik des politischen Bürgers resp. der Konsumenten. Das Problem einer eventuell gesundheitsgefährdenden Blaufärbung des Zuckers wurde nicht ignoriert, fand aber keinen Widerhall, führte nicht zu institutionellen Antworten. Ohne Machtoption aber blieben die Konsumenten auf ihr eigenes Handeln zurückgeworfen. So wie in einer Anfrage aus dem Jahre 1858: „Herr Redakteur! Man wünscht zu wissen, ob der mit Ultramarin bläulich, oder fast blau gefärbte Zucker der Gesundheit nicht schädlich sei? (Ich weiß das nicht. Wer darüber im Zweifel, kaufe sich ungefärbten. D. Red.)“ (Der Pfälzer 1858, Nr. 29 v. 10. März, 2).

Uwe Spiekermann, 29. März 2025

Ehret das Brot! Wirtschaftlichkeit, Wertschätzung und Wehrbereitschaft 1925-1945

“Wir haben’s immer dankerfüllt geschätzt / Als unseres Volkes tiefsten Kräfteborn, / Wir hieltens wert – doch nimmer so wie jetzt, / Das deutsche Brot, aus echtem deutschem Korn” (Wochenblatt der Landesbauernschaft Westfalen 1937, 1759). So klang es beim Erntedank 1937 – und diese Wertschätzung umfasste auch eine weit längere Reihe heimischer Lebensmittel.

Wertschätzung von Lebensmitteln wird seit einigen Jahren wieder eingefordert, „in der Diskussion um die Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme und die Förderung nachhaltigeren Ernährungshandelns wird der Wertschätzung von Lebensmitteln eine zentrale Bedeutung zugeschrieben“ (Regine Rehaag und Stefan Wahlen, Call for Participation and Save the Date ‚Wertschätzung von Lebensmitteln‘ Ein Hebel für nachhaltigeres Ernährungshandeln? Tagung des Netzwerks Ernährungskultur (Esskult.net) am 13. Mai 2025). Anlass und Motive sind andere, auch wenn abermals der Staat systematisch fördert und finanziert. Der scheidende Ernährungsminister Cem Özdemir betonte während der Aktionswoche „Deutschland rettet Lebensmittel!“ im Spätsommer 2023: „Etwa 11 Millionen Tonnen Lebensmittel landen jedes Jahr in Deutschland in der Tonne – vieles davon ist noch einwandfrei genießbar. Ob zu viel gekauft, zu viel gekocht oder zu viel auf den Teller geladen: Alle können dazu beitragen, dass diese enorme Verschwendung von Lebensmitteln aufhört. Denn die meisten Abfälle – insgesamt fast 60 Prozent oder rund sechs Millionen Tonnen – fallen in Privathaushalten an“ (BMEL – Pressemitteilungen – Özdemir eröffnete Aktionswoche Deutschland rettet Lebensmittel!). Schon zuvor hatte das korporatistische Deutschland einen „Pakt gegen Lebensmittelverschwendung“ (Pakt gegen Lebensmittelverschwendung) geschlossen, in dem ambitionierte Ziele der Abfallreduktion im europäischen und internationalen Rahmen vereinbar wurden.

Wer wollte dagegen sein – auch wenn die Hauptlast der Abfallvermeidung von den offenbar verschwenderischen Privathaushalten zu schultern ist. Für einen Historiker ist es allerdings frappierend, dass derartig zukunftsgewandte appellative Aktionen öffentlich lanciert und propagiert werden, ohne den langen Schatten der Geschichte, den gesammelten Erfahrungsschatz der Lebenden und der Toten mit einzubeziehen. Gegenwärtige Probleme einer modernen, technisch und arbeitsteilig organisierten Gesellschaft werden benannt und angegangen, ambitionierte Zielsetzungen festgeschrieben und ihre Umsetzung abverlangt. Doch mit der Genese dieser Probleme, mit den vielgestaltigen bisher eingesetzten und durchaus problemvermindernden Techniken und Praktiken wird sich kaum beschäftigt. Nahrungsmittelverluste gelten vornehmlich als „Symptom unserer heutigen Überflussgesellschaft“ (Ricarda Weber, Christian Strotmann und Guido Ritter, Adressatenspezifische Kommunikationskonzepte zur Lebensmittelabfallreduktion in deutschen Privathaushalten, Österreichische Wasser- und Abfallwirtschaft 71, 2019, 246-262, hier 246). Der Klimawandel, der Welthunger, selbst der Ukrainekrieg, sie alle unterstreichen lediglich, „wie zeitkritisch die Transformation hin zu zirkulärem Wirtschaften“ (Rat für Nachhaltige Entwicklung, Zirkuläres Wirtschaft: maßgebliche Voraussetzung für eine nachhaltige Transformation, o.O. 2023, 2) und zu neuer Wertschätzung von Lebensmitteln ist. Ergebnisse der Umwelt-, Technik-, Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte werden von der neuen Transformationsforschung fast durchweg ignoriert: Vielleicht, weil alles wirklich so drängend ist, dass ergänzende Lektüre nicht einmal rudimentär erfolgen kann; vielleicht, weil von empirisch valider Reflektion anderer Disziplinen die Gefahr ausgeht, Illusionen der Machbarkeit fundiert in Frage zu stellen (Heike Weber und Melanie Jaeger-Erben, Circular Economy: Die Wende hin zu ‚geschlossenen Kreisläufen‘ als stete Fiktion, in: Heike Weber (Hg.), Technikwenden. Historische Perspektiven auf soziotechnische Um- und Aufbrüche. Baden-Baden 2023, 169-197; Stefan Krebs, Heike Weber (Hg.), The Persistence of Technology. Histories of Repair, Reuse and Disposal, Bielefeld 2021; Roman Köster, Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1990, Göttingen 2017, etc., etc.). Statt mich hier aber an einer wahrlich vielgestaltigen Transformationsliteratur abzuarbeiten, die vornehmlich durch teildisziplinäre Selbstbezüglichkeit charakterisiert ist, will ich im Folgenden versuchen, einen kleinen Teilbereich der gegenwärtigen Transformationspolitik, nämlich die heutige Wertschätzungspolitik, an einem gewiss markanten Beispiel zu historisieren. Distanz, zumal historische, macht Probleme sichtbarer, eröffnet realistischere Zugänge als die Modellprojektionen in den stets offenen Horizont der Zukunft. Womit wir wieder bei dem wertschätzenden Gedicht anlässlich des nationalsozialistischen Erntedankfestes angekommen sind.

1. Wertschätzung als bürgerlicher Begriff zwischen Markt und Moral

Ich werde dem Phänomen derartiger Wertschätzungen in fünf Schritten nachgehen. Eingangs ist der Begriff selbst genauer einzuordnen.

Wertschätzung als interpersonaler Begriff des bürgerlichen Zeitalters: Relative Worthäufigkeiten 1750-1945 (Erstellt auf Grundlage von Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache.de; mit einem allerdings sehr kleinen Textkorpus)

Wertschätzung bezeichnete in vormodernen Zeiten Untertanenverhältnisse, wurde auch religiös gedeutet (Wertschätzung, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 29, München 1984, 492). Das änderte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem bürgerlichen Zeitalter: Wertschätzung etablierte sich ab 1840 als interpersonaler Alltagsbegriff, als Ausdruck der Anerkennung von Mitbürgern, Großgruppen und Ideen: „Eine jede Wertschätzung ist eine Aussprache darüber, wie hoch eine Sache nach unserem Urteile zu halten sei; eine sittliche Wirtschätzung wäre also eine solche, welchen den Menschen oder seine Handlungen nach unserem sittlichen Urteile bemißt“ (Wilhelm Krämer, Ueber die sittliche Wertschätzung menschlicher Größe, Gera 1870, 20).

„Wertschätzung“ in Zahlen: Begriffskonjunktur insbesondere während der NS-Zeit (Zeitpunkt.NRW (l.) und Badische Landesbibliothek)

Der Begriff Wertschätzung wurde im 20. Jahrhundert nochmals wichtiger, zumindest wenn man den gängigen Zeitungsdatenbanken folgt: Gerade während der NS-Zeit machte er Karriere, wurde wie „Achtsamkeit“ oder „Haltung“ Ausdruck nationalsozialistischer Moral. Diese gab es, man diente höchsten Idealen, Sprache verlieh diesen Ausdruck (Claudia Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge 2003; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Bonn 2010; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014; Lothar Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019; Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral aus historischer Erfahrung, Freiburg/Br. und München 2020, 104-136).

„Wertschätzung“ von Lebensmitteln als Tatsache (Der fortschrittliche Landwirt 23, 1941, Nr. 18 v. 3. Mai, 208 (o.).; Die Bastion 1936, Nr. 40 v. 4. Oktober, 1)

Wertschätzung war emotionsgeladen, diente der Gefühlsmobilisierung: Zunehmend weniger gegenüber Einzelnen, sondern immer stärker gegenüber Großgruppen, Institutionen und völkisch bedeutsamen Fähigkeiten. Die Verwendungspalette war breit: In den 1930er Jahren schrieb man über die Wertschätzung des Handwerks, der Berufskameraden, des Arbeitsmanns, der Schaffenden, der deutschen Hausfrau und Mutter, der Wirtschaft, des Könnens, des politischen Menschen, des Gegners, des deutschen Volkes, und natürlich des Jubelpaars und der teuren Verstorbenen. Wertschätzung gab es aber auch im Agrar- und Ernährungssektor, bezog sich auf Lebensmittel, auf Speisen: Der Begriff stand dort Seit an Seit mit Begriffen wie „Ehre“, „Achtung“ und „Würde“ – häufig umrahmt von mobilisierenden Tugenden wie „Pflicht“, „Verantwortung“ und „Haltung“.

Wertschätzung als ökonomischer Begriff, als Kernbegriff der subjektiven Wertlehre im frühen 20. Jahrhundert

Wertschätzung war aber auch, teils vorrangig, ein wissenschaftlicher Begriff. Er kombinierte mit „Wert“ und „Schätzung“ resp. „schätzen“ zwei ökonomische Grundbegriffe (Wert, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 16, Leipzig und Wien 1890, 542-543). David Ricardo (1772-1823), Karl Marx (1818-1883) und die Wiener Grenznutzenschule stehen für bis heute lesenswerte Debatten über Wert und Wertschätzung. Sie kreisten um Markthandeln und Verteilungsfragen, waren zentral für die ökonomische Wertlehre. Ein Produkt würde nur dann gekauft, „wenn dessen Preis niedriger steht als meine Wertschätzung des Grenznutzens dieses Gutes“ (Eduard Kellenberger. Kritische Beleuchtung der modernen Wert- und Preistheorie, Phil. Diss. Basel, Tübingen 1916, 15). Schon vor 150, vor 120 Jahren wurde beherzt und kontrovers über die „Wandlung in den subjektiven Grundlagen der Wertschätzung und der Preisbildung“ diskutiert (Otto von Zwiedineck, Kritisches und Positives zur Preislehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 64, 1908, 587-654; 65, 1909, 78-128, hier 596). Die „subjektive“ Wertlehre stellte den Konsumenten gar ins Zentrum ihrer Überlegungen: „Der Preis geht auch auf Wertschätzungen der Konsumenten zurück. […] Resultat: die Kosten bestimmen weder den Wert noch den Preis, sondern Wert und Preis bestimmen die Kosten. Kostengüter haben eigentlich keinen Wert, sondern nur einen Preis. Der Preis ist aber nicht Ausdruck des Wertes. Der Preis der Kostengüter wird ausschließlich durch die Wertschätzung der Genußgüter seitens der Konsumenten bestimmt“ (Robert Liefmann, Ertrag und Einkommen auf der Grundlage einer rein subjektiven Wertlehre. Ein wirtschaftstheoretischer Versuch, Jena 1907, VIII). Der Konsument kann an sich homogene Güter heterogenisieren, vermag auch die vermeintliche Einheitlichkeit des Geldwertes zu durchbrechen (Andreas Hartmann, Unbezahlbar – Räume zwischen Preis und Wert […], in: Silke Meyer (Hg.), Money Matters. Umgang mit Geld als soziale und kulturelle Praxis, Innsbruck 2014, 241-249).

Dies schuf Marktchancen, nicht nur für Unternehmer, sondern gerade auch für zivilgesellschaftliche Akteure. Entsprechend war Marktversagen, etwa die Lebensmittelvergeudung, ein gängiges Thema: „Wieviel Lebensmittel gehen zugrunde, weil der Produzent oder der Händler sich über die momentane Nachfrage geirrt haben!“ (Robert Liefmann, Die Unternehmensformen mit Einschluß der Genossenschaften und der Sozialisierung, 2. umgearb. Aufl., Stuttgart 1921, 56). Der heute lediglich noch als Soziologe erinnerte Ökonom Emil Lederer (1882-1939) untersuchte auch theoretisch, wie die Differenz zwischen der Wertschätzung eines Gutes und des Geldes verschoben werden konnte (Aufriss der ökonomischen Theorie, Tübingen 1931, 192-252). Lebensmittelverschwendung war im Bilde der prassenden, verschwendenden Kapitalisten und des schwelgenden Gourmands schon im 19. Jahrhundert ein stetes Thema der Arbeiterbewegung, der Gesundheitsreform und auch liberaler Selbstdisziplinierung. Für unseren Fokus auf die Zwischenkriegszeit sind jedoch die öffentlichen Debatten über das demonstrative Schwelgen und Verschwenden der „Schieber“ und Neureichen nach dem Ersten Weltkrieg, dann vor allem die Preisstützungsaktionen während der Weltwirtschaftskrise relevanter. Das gezielte, nun auch fotografisch sichtbare Verbrennen großer Mengen von Weizen oder insbesondere Kaffee spiegelte für Kritiker die fehlende Werte des vermeintlich niedergehenden liberalen Kapitalismus. Doch Güterzerstörung konnte auch anders eingesetzt werden, war ein wichtiges Kampfmittel etwa der indischen Unabhängigkeitsbewegung.

Fehlende Wertschätzung: Kaffee als Heizmaterial in Brasilien (Das interessante Blatt 50, 1932, Nr. 2, 6)

Die wirtschaftliche Dimension der Wertschätzung von Lebensmittel verblieb also nicht nur in der Fachliteratur, sondern war auch Teil zentraler Alltagsdebatten. In der heutigen Wertschätzungsdebatte wird sie dennoch ignoriert, obwohl es in ihnen doch um ein zentrales ökonomisches Problem geht, nämlich um den Umgang mit Knappheit (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, 177-229; Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018). Das mag auch daran liegen, dass Wertschätzung zunehmend mathematisiert wurde (vgl. schon Walter G. Waffenschmidt, Graphische Methode in der theoretischen Oekonomie dargestellt in Anlehnung an das Tauschproblem, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39, 1914/15, 438-481, 795-818), um später im schimmernden Begriff der „Präferenzen“ universalisiert zu werden.

2. Wirtschaftlichkeit als Zwang und Aufgabe: Lebensmittelschwund- und Abfallforschung in den 1920er Jahren

Die wirtschaftliche Bedeutungsnuance der Wertschöpfung ist wichtig, um die Verbindung von subjektiven Werturteilen und gesellschaftlichen Effizienzidealen nachzuvollziehen. Verlustminderung und Schwundbekämpfung wurden während des Ersten Weltkriegs zu einer zentralen Aufgabe, um im Krieg bestehen, um diesen (möglichst siegreich) weiterführen zu können (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, insb. 235-251).

Ressourcennutzung während des Ersten Weltkrieges: Knochensammlungen und Fettabscheider (Ulk 46, 1917, Nr. 8, 4 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 39 v. 25. Januar, 10)

Das bürgerliche Zeitalter endete im Weltenbrand, und rasch zeigte sich fehlende Resilienz. Die Verluste an Front und Heimatfront waren immens, die Nutzung der eigenen Ressourcen defizitär. Gegenmaßnahmen griffen, doch was halfen Knochensammlungen oder Fettabscheider, wenn Wissen und Techniken unzureichend waren (Kriegswirtschaftliche Massnahmen u. Einrichtungen zur Abfallverwertung und Volksernährung, Die Städtereinigung 9, 1917, 6-7, 15, 46, 55, 79, 90, 102, 118; August Ertheiler und Robert Plohn, Das Sammelwesen in der Kriegswirtschaft, Berlin 1919; Robert Cohn, Fetterzeugung und Fettersparnis, ein Rückblick auf die Kriegsernährung, Zeitschrift für angewandte Chemie 32, 1919, T. 1, 193-198). Die „normale“ Zusammensetzung der Nahrungsmittel wurde chemisch um 1880 ermittelt, um 1900 kodifiziert, doch das Resorptionsgeschehen im Körper war nur schemenhaft bekannt, Daten über Nahrungsmittelschwund und -abfälle in Gewerbe und Haushalt kaum verfügbar.

Der Hygieniker und Chemiker Rudolf Otto Neumann 1928 und (mit Horst Habs) 1943 (Hamburgischer Correspondent und Hamburgische Börsen-Halle 1928, Nr. 198 v. 27. Juni, 3 (l.); Mittagsblatt 1943, Nr. 270 v. 21. Dezember, 5)

Dies änderte sich trotz umfangreicher Kriegsforschung erst in den 1920er Jahren: Der Hamburger Hygieniker Rudolf Otto Neumann (1868-1952), ein Nationalist und Antisemit, machte den Unterschied – als Teil einer Funktionselite, für die ein neuer Waffengang unvermeidlich schien; doch dieses Mal besser gerüstet (detailliert aber teils rosig Romy Steinmeier, „Hamburg hatte aber auch seine guten Seiten“. Rudolf Otto Neumann und das Hygienische Institut Hamburg, Bremen 2005). Er war bekannt als Tropenmediziner und Spezialist für Gelbfieber (Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 149 v. 29. Juni, 6; ebd., 1938, Nr. 168 v. 23. Juni, 2), doch die Kriegsaufgaben ließen ihn schon in seiner Bonner Zeit mit der umfassenden quantitativen Analyse des Schwundes und der Verluste der Lebensmittel beginnen, deren erste Teilergebnisse er 1924 veröffentlichte (R[udolf] O[tto] Neumann, Ueber die Verluste von vegetabilischen Lebensmitteln bei ihrer küchentechnischen Zubereitung und deren Bewertung, Technisches Gemeindeblatt 27, 1924, 9-13, 29-32, 44-47, 56-60, 67-71, 80-83, 92-95). Fünf Jahre später lagen Neumanns Analysen gebündelt vor.

Erforschung von Schwund und Verlusten (Ergebnisse der Hygiene, Bakteriologie, Immunitätsforschung und experimentellen Therapie 10, 1929, 1-188, hier 1)

Die in mühseliger kleinteiliger Arbeit in und außerhalb hygienischer Laboratorien ermittelten Werte blieben für Jahrzehnte Referenzmaterial über das „Vermögen im Abfalleimer“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 320-329, hier 322). Neumann untersuchte 243 animalische und 84 vegetabile Lebensmittel im Sinne der tradierten Kalorienlehre. Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgehalt wurden ermittelt, ebenso der Kaloriengehalt. Wichtiger aber war der Fokus einerseits auf die messbare Menge, anderseits auf die essbare Trockensubstanz. Das Lebensmittel wurde zu einem resorbierten Stoffgemenge reduziert – und mehr noch: Neumann (und viele Mitarbeiter) analysierten auch die nicht essbaren Bestandteile, den Wassergehalt, die Verluste durch küchentechnische Vorbereitung und Kochen; und schließlich auch die Resorptionsverluste im menschlichen Körper. Alles wurde präzise quantifiziert, zugleich aber mit Preisen gekoppelt. Das betraf nicht nur den Kaufpreis, sondern mündete zudem in einen errechneten Nährgeldwert. Dieser Indikator war bereits in den frühen 1880er vom Münsteraner Nahrungsmittelchemiker Joseph König (1843-1930) eingeführt worden, ohne aber Verluste außerhalb und innerhalb des Körpers mit einzubeziehen (Procentische Zusammensetzung und Nährgeldwerth der menschlichen Nahrungsmittel nebst Kostrationen und Verdaulichkeit einiger Nahrungsmittel, Berlin 1882).

Das Ergebnis von Neumanns Analysen war mehr als Detailwissen, denn es bot eine neue Hierarchie der Lebensmittel, einen Widerpart zur Lebensform und auch der „neuen Ernährungslehre“ mit ihrem starken Fokus auf die „neuen“ essenziellen Stoffe, auf Vitamine und Mineralstoffe. Der Nährgeldwert tierischer Nahrungsmittel war tendenziell höher als der pflanzlicher Kost. Es galt allerdings zu differenzieren, denn Kartoffeln rangierten an der Spitze der neuen Hierarchie, auch einige Kohlsorten fanden dort ihren Platz. Ansonsten stellte Neumann Milch, Innereien, Tierfette, Buttermilch, Pferdefleisch, Hering und Weichflosser sowie Fleischprodukte in den Vordergrund. Da ein solch kleinteilig ausdifferenziertes System kaum anwendbar schien, plädierte er jedoch – im Einklang mit der Ernährungswissenschaft dieser Zeit (Otto Kestner und H[ugo] W[ilhelm] Knipping, Die Ernährung des Menschen. Nahrungsbedarf. Erfordernisse der Nahrung. Nahrungsmittel. Kostberechnung, Berlin 1924) für eine saisonale und eiweißreiche Mischkost, in der Obst und Gemüse vor allem der Abwechslung dienten. „Luxuskost“ wie Endivien, Austern und Schwalbennester war dagegen möglichst zu reduzieren, zumal als devisenträchtige Importware.

Doch es waren vor allem zwei Punkte, die neue Möglichkeiten hin zur nationalsozialistischen Wertschätzungspolitik ermöglichten. Erstens plädierte Neumann für umfassende Schulungen von Einzel- und Großhaushaltungen, um so Schwund und Nahrungsmittelverluste zu minimieren (R[udolf] O[tto] Neumann, Wodurch verderben unsere Nahrungsmittel. Eine Aufklärung für weitere Bevölkerungskreise, Blätter für Volksgesundheitspflege 30, 1930, 164-166, 182-184; ders., Wirtschaftlichkeit in der Küche. Betrachtungen über den Markt- und Küchenabfall und den Nährgeldwert der vegetabilischen und animalischen Nahrungsmittel, Die Volksernährung 5, 277-280, 300-305). Dies erweiterte die ohnehin laufenden Bemühungen um eine Ökonomisierung und Rationalisierung der Hauswirtschaft (Liddy v. Zabiensky, Aus der Küchenpraxis der neuzeitlichen Ernährungslehre, Die Volksernährung 3, 1928, 9-11, 20-21; Erna Meyer, Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Hausführung, 37. wes. erg. u. erw. Aufl., Stuttgart 1929). Wichtiger war zweitens, dass Neumanns Daten mit volkswirtschaftlichen und agrarwirtschaftliche Produktions- und Konsumrechnungen gekoppelt werden konnten.

Agrarmarketing in den späten 1920er Jahren: Appelle an Gesundheit und Nationalismus (Von links nach rechts: Vorwärts 1927, Nr. 87 v. 21. Februar, 4; Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 20 v. 17. Mai, 10; Zeitbilder 1928, Nr. 48 v. 25. November, 6; Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 51 v. 19. Dezember, 19)

Das damalige öffentliche Lebensmittelmarketing nutzte vorrangig zwei an sich inhaltsleere Attribute, nämlich zum einen den Gesundheitswert, zum anderen die Herkunft, also den Nationalismus (Norwich Rüße, Absatzkrisen und Marketingkonzepte der deutschen Landwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996,I, 129-162; Spiekermann, 2018, 332-351). Sie war bereits bildreich, orientierte sich auch an amerikanischen Vorbildern, bot aber Nahrung vor allem für den Kopf. Nutzen, nicht Wertschätzung war zentral.

Benito Mussolinis (1883-1945) Stilisierung als Getreidedrescher (L’Illustrazione Italiana 65, 1938, 501)

Andere machten dies besser: Seit Mitte der 1920er Jahre blickten nicht nur Wissenschaftler und künftige NS-Politiker auf das faschistische Italien, auf die dortige Agrarpolitik, die erst den Reis, dann das Getreide verherrlichte: „Liebt das Brot / Das Herz des Hauses / Die Würze des Tisches / Die Freude des Herdes // Den Schweiß der Stirn / Den Stolz der Arbeit / Das Lob des Opfers // Ehrt das Brot / Den Ruhm der Felder / Den Geruch des Bodens / Das Fest des Lebens // Verschwendet nicht das Brot / Reichtum des Vaterlandes / Das herrlichste Geschenk Gottes / Die schönste Belohnung / der Arbeit des Menschen“ (Velberter Zeitung 1933, Nr. 157 v. 11. Juni, 9). In Mussolinis allseits gedrucktem Loblieb verband sich das christliche Erbe mit den Aufgaben der Gegenwart (Maßnahmen der italienischen Regierung zur Förderung der Landwirtschaft und insbesondere des Getreidebaues, Berichte über Landwirtschaft NF 3, 1926, 540-550; Ragnar Berg, Die Verwertung des deutschen Brotgetreides, Odal 2, 1932/33, 508-519, insb. 518-519).

Stilisierungen des heiligen Brotes: „Getreideschlacht“ in Italien (La Rivista. Illustra del Popolo d’Italia 18, 1940, Nr. 5, 91 (l.); ebd. Nr. 6, 42 (r.); Clementia Bagali, Vovi d’Italia, Mailand 1937, 120)

Das war modern, nutzte Traditionsbestände, führte sie aber in neue Bildwelten und Verpflichtungsdiskurse (Katharina Schembs, Der Arbeiter als Zukunftsträger der Nation. Bildpropaganda im faschistischen Italien und im peronistischen Argentinien in transnationaler Perspektive (1922-1955), Köln 2018, 174). Wer das Brot ehrte, war wirtschaftlich gerüstet, war auch zu anderem fähig, zu neuen Eroberungen, wie dann 1934 in Libyen, 1936 in Abessinien. Das fand breiten Widerhall.

3. Wirtschaftskreisläufe: Autarkie, Militarisierung und Erhaltungsschlacht

Wie mündeten diese Vorläufer nun in eine reichsweite „Erhaltungsschlacht“, in eine Wertschätzungsoffensive auch im Deutschen Reich?

Visualisierung von Wertschöpfungsketten – anfangs monetär (Zeitbilder 1932, Nr. 49 v. 4. Dezember, 4)

Zentral hierfür war eine neuartige Verdichtung von Laborwissenschaft, Agrar- und Außenhandelsstatistiken. Während der 1920er Jahre hatte man die schon lange vorher bestehenden Kreislaufvorstellungen der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie und der organischen Chemie visualisiert. Volkswirtschaftliche Kreisläufe, aber auch sektorale Wertschöpfungsketten traten mittels Preisen vor aller Augen. Das änderte sich dank Neumanns Daten.

Ernährungsbilanz 1936 inklusive der Verlustraten (Hans Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, 126)

In der deutschen Ernährungsbilanz 1936 finden Sie daher nun auch, rechts, Verlustdaten. Diese waren errechnet, geschätzt. Doch sie erlaubten gezielte Schwachstellenanalysen und politische Interventionen (Spiekermann, 2018, 351-365).

Stoffstromanalyse der Kartoffel – mit Verlustangaben (Schweigart, 1937, Taf. VIII)

Derartige Daten wurden visualisiert, national, regional, auch sektoral. Biologistische Vorstellungen reduzierten komplexe multisektorale Strukturdaten zu eingängigen Flussdiagrammen, die schlichte Gemüter als Abbild einer neu greifbaren Realität verstanden, die damit öffentlich und politisch handhabbar wurde. Moderne technische Gesellschaften gehen dann in den Effizienzmodus (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964). Offenbare Probleme drängen auf Handlung, auf Intervention und Optimierung.

Ergänzung der Erzeugungsschlacht: Die rettende Erhaltungsschlacht der Hausfrau (Die Gartenbauwirtschaft 53, 1936, Nr. 43 v. 22. Oktober, 1 (o.); Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 449 v. 26. September, 1)

Hinter den seit 1936 auftauchenden Schlagworten von „Erhaltungsschlacht“, von der erforderlichen „Rettung“ von Lebensmitteln standen demnach langwierige ernährungs- und wirtschaftswissenschaftliche Forschungen, die aufgegriffen wurden, weil sie politisch nützlich waren. Dies war Teil einer umfassenden nationalsozialistischen Sprachpolitik, eine bis heute gängige „Methode, Zumutungen hinter positiven Begriffen zu verstecken“ (Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, 3. Aufl., Stuttgart 2021, 87).

Schwund- und Abfallbekämpfung als Teil der Transformation von Gesellschaft und (Haus-)Wirtschaft durch den Vierjahresplan (Neckar-Bote 1936, Nr. 232 v. 3. Oktober, 6)

Um dies nachvollziehen zu können, sind einige notgedrungen rudimentäre Striche zur Agrar- und Kriegspolitik unabdingbar. Die Transformationspolitik begann schon vor der Machtzulassung der NSDAP im Januar 1933. Das Lebensmittelgesetz von 1927 mündete in zahlreiche, meist sektorale Reformen einzelner Agrarbereich mit vielen Standardisierungen. Das Milchgesetz von 1930 wurde beispielgebend, war Blaupause der Umstrukturierung und Rationalisierung von Wirtschaftszweigen auch abseits der Agrarwirtschaft. Das Handelsklassengesetz wurde 1930 schon im Rahmen einer präsidialen Notverordnung dekretiert. Der Weg in die Devisenzwangswirtschaft begann parallel, führte zu einer beträchtlichen Abschottung vom Weltmarkt, etablierte den Staat als wichtigsten Akteur. Die nationalsozialistischen Machthaber setzten viele Ideen um, die zuvor Agrar- und Ernährungswissenschaftler entwickelt hatten, der deutschnationale Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865-1951) verkörperte Interessenidentitäten tradierter und neuer Machthaber. Durch den bis 1934 leidlich etablierten Reichsnährstand gewannen Staat und NSDAP weitere Durchschlagskraft, während der zuvor schon kaum geltende Preismechanismus durch ein umfassendes System von Festpreisen und festgelegten Handelsspannen außer Kraft gesetzt wurde. Dennoch sollten die Bauern unternehmerisch im Sinne des Volksganzen handeln.

Nach der Machtzulassung 1933 und der folgenden Zerschlagung und Verfolgung der Opposition begann eine propagandistisch unterfütterte „Arbeitsschlacht“, eine „Erzeugungsschlacht“ der Landwirtschaft und der noch breiter gefasste Kampf um „Nahrungsfreiheit“, also um eine möglichst hohe Selbstversorgung. Diese lag – unter Einbezug der Futtermittelimporte – bei lediglich 81 Prozent (Hans v.d. Decken, Deutschlands Versorgung mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen […], Berlin 1935, 63).

Produktionserweiterungen und Importregulierungen boten Flankenschutz für die 1933 unmittelbar einsetzende massive Aufrüstung, die das Deutsche Reich seit Mitte 1934 stetig an den Rand des Staatsbankrotts brachte. Kritisch blieb vornehmlich die devisenträchtige Rohstoffbeschaffung, die durch Agrarimporte (40-35 Prozent) immer wieder gefährdet und gedrosselt wurde. Trotz nicht unbeträchtlicher Erfolge im Abbau der Importabhängigkeit war 1936 klar, dass eine Selbstversorgung unter den Prioritäten der Rüstungswirtschaft nicht möglich war. Das galt vor allem für Fette, für Futtermittel, bedingt für Eiweiß, das galt aber auch mit Rücksicht auf die mit wachsenden Einkommen verbundenen höheren Importe von Genussmitteln, insbesondere von Kaffee und Tabak. Der im August 1936 vorgelegte Vierjahresplan Hitlers sah daher eine rigorose Aufrüstung ohne Rücksicht auf die Kosten vor. Bis 1940 sollte die Wehrmacht kriegsfähig sein, die ökonomischen Probleme durch die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten und die Ausbeutung der okkupierten Gebiete gelöst werden.

Diese Kriegspolitik sah zudem massive Investitionen in die Ersatzmittelwirtschaft vor, vorrangig bei Gebrauchsgütern, in beträchtlichem Maße aber auch in der Agrar- und Ernährungswirtschaft. Die Kampagne „Kampf dem Verderb“ war ein flankierendes Maßnahmenbündel, das sowohl auf Sparsamkeit, als auch die Mobilisierung nicht-monetärer Arbeitsressourcen setzte. Wie die militärischen und industriellen Maßnahmen wurden sie propagandistisch ummantelt, mit semantischen Illusionen umkränzt und mit Appellen an Moral und (Rassen-)Stolz versehen. Eine höhere Wertschätzung bestimmter Lebensmittel und Haushaltspraktiken war dafür zentral. Sie zielte auf den völkisch definierten Kern der Deutschen, war Identitätspolitik einer sich von Feinden umgeben fühlenden Nation. Die eingeforderte Wertschätzung der Lebensmittel war eine ästhetische Hülle, diente der Wehr- und Kriegsbereitschaft.

4. Vermittlungspropaganda: Kampagnen, Appelle, Parolen

Der 1936 intensiv einsetzende Kampf gegen die Lebensmittelverluste war eine korporatistische Anstrengung von Partei und Staat, von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (Reichsausschuß für Volksernährung, VDI, Reichsgemeinschaft für Schadensverhütung). Expertenwissen war zu vermitteln, handlungsnah zu verankern. All das wurde umrahmt von Daueraktivität, von Müllsammlung, -trennung und -recycling, von einer Minimierung der Verluste. Eine Erhaltungsinfrastruktur von Schweinemast- und Knochenmehlverwertungsanstalten, von Kühlhäusern, Lagerhallen und Transportmitteln wurde aufgebaut. Begleitet war dies von einschlägigen Bildungs- und Erziehungsanstrengungen in Schulen, in Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel, in der NS-Frauenschaft und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Überall wurde die Wertschätzung von Lebensmitteln propagiert, der Umgang mit ihnen moralisiert.

Propaganda war angesagt: Diese war jedoch nur in ihren rassistischen, wehr- und kriegspolitischen Ausprägungen spezifisch nationalsozialistisch. Die Wertschätzungspropaganda war in ihrem Kern eine Antwort auf typische Aufgaben in arbeitsteiligen technischen Gesellschaften. Sie war, im Sinne des französischen Soziologen und Technikphilosophen Jacques Ellul (1912-1994), eine für das gesellschaftliche Leben unabdingbare Humantechnologie (Ellul, 1964, 216). Ihr Ziel sei Effizienz und Funktionalität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, sie erlaube Koordinierung und Orientierung. Daher sei der simple Dualismus von Diktatur oder Demokratie irreführend, denn es gehe um eine an sich notwendige Reduktion des Menschen auf eine Art Tier, „gebrochen, um bestimmten bedingten Reflexen zu gehorchen“ (Ebd., 375).

Die im Herbst 1936 unter dem Schlagwort „Kampf dem Verderb“ einsetzte Kaskade einander überbietender Kampagnen war modern, erfolgte auf Höhe der damaligen totalen Propaganda (Spiekermann, 2018, 388-391). Werterhaltung galt als Kernproblem völkischer Existenz, soziale und realistische Propaganda dominierten (vgl. begrifflich Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021). Zahlreiche Unterkampagnen gaben Anleitungen zu Wertschätzung und Achtsamkeit, lenkten Handlungen, erinnerten an sparsames und wirtschaftliches Ernährungshandeln. All das erfolgte multimedial, parolenhaft, in Gedichten und kleinen Geschichten, war begleitet durch harte politische Interventionen. Wertschätzung war ein Appell, eine auf völkischer Logik gründete Pflicht: Wertgeschätzt wurde nur, wer wertschätzte.

1936/37: Kampf um 1 ½ Milliarden

Visualisierung der „vergeudeten Milliarden“ (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 321 v. 14. Juli, 9)

Beispiele müssen genügen: Am Beginn stand die Bewusstmachung des Problems, also eine Art Vorpropaganda. Das Problem eines volks- und wehrwirtschaftlich nicht tragbarer Materialschwundes und hoher Lebensmittelabfälle wurde vermeintlich sachlich präsentiert. Dabei appellierte man an allgemeine Vorstellungen von Sparsamkeit. Im Rahmen völkischer Verpflichtung gewann dies eigene Qualität: Es erklärte die bestehende Weltlage, die Handlungszwänge der politischen Führung. Völkische Inklusion begründete Folgehandlungen, war Teil einer nachvollziehbaren Ordnung der Welt (Ellul, 2021, 28). All dies war Aufgabe der 1936/37 laufenden Kampagne „Kampf um 1 ½ Milliarden“, deren Ausgangspunkt die (nie klar dargelegte) Summe der jährlichen Lebensmittelverluste im Deutschen Reich. Ungefähr 50 Prozent davon verursachte die Hauswirtschaft – also weniger als heutzutage (Thomas Schmidt, Felicitas Schneider und Erika Claupein, Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten in Deutschland […], Braunschweig 2018; ders. et al., Lebensmittelabfälle in Deutschland – Baseline 2015 –, Braunschweig 2019; Helmut Hübsch, Systematische Erfassung des Lebensmittelabfalls der privaten Haushalte in Deutschland. Schlussbericht 2020, o.O. 2021). 1936 ging man von insgesamt 6,5 Mrd. RM reduzierbarer Ressourcenverlusten aus, „Kampf um 1 ½ Milliarden“ war Teil einer breiteren „Rohstoffschlacht“.

Verluste und Schwund vermeiden: eine Gemeinschaftsaufgabe (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 457 v. 1. Oktober, 6)

Der Ernährungssektor, die Hauswirtschaft, standen dennoch im Mittelpunkt der öffentlichen Propaganda. Aktionsfelder wurden allgemein, aber auch für jedes Lebensmittel einzeln präsentiert und visualisiert.

Kampagnenauftakt in Köln 1936: Schilder gegen die Verluste (Oberbergischer Bote 1936, Nr. 245 v. 16. Oktober, 7 (l.); Der Neue Tag 1936, Nr. 292 v. 21. Oktober, 5)

Am Anfang stand eine seit Ende September beworbene große Ausstellung in Köln, initiiert auch von der Stadt selbst: „Es gilt, nicht weniger als 1½ Milliarde zu retten, die jährlich in Deutschland dem Volksvermögen verlorengeht“ (Feldzug für 1½ Milliarden, Honnefer Volkszeitung 1936, Nr. 226 v. 26. September, 1). 80.000 besuchten die einwöchige Schau, jeder von ihnen sollte ein Propagandist sein (Jeder ein Propagandist!, Münsterischer Anzeiger 1936, Nr. 320 v. 11. November, 5). Wichtiger aber war die reichsweite Presseresonanz, waren die zahlreichen Schaubilder und Symbole (Um 1½ Milliarden, Der Neue Tag 1936, Nr. 293 v. 22. Oktober, 8; Dass., Hagener Zeitung 1936, Nr. 248 v. 22. Oktober, 8). Die markanten Schildzeichen symbolisierten eine Abwehrgemeinschaft, die Kraft des Volkes.

Moralische Aufladung zum Existenzkampf (Stolles Blätter für Landwirtschaft, Garten, Tierzucht 1939, Nr. 15, 3 (l.); Der Patriot 1936, Nr. 231 v. 2. Oktober, 1 (r.); Neckar-Bote 1937, Nr. 119 v. 26. Mai, 4)

Dadurch wurden Handlungsgemeinschaften konstituiert, die Binnenmoral gestärkt, doch immer auch Feinde benannt. Sie zu bekämpfen war nun Pflicht, jedes Mittel dazu recht.

1937/38: Brot als kostbarstes Volksgut

Die im November 1937 einsetzende Kampagne „Brot als kostbarstes Volksgut“ baute auf dem seit einem Jahr in immer neuen Formen präsentierten Problem des vermeidbaren Lebensmittelschwundes auf, konzentrierte sich nun aber stärker auf das Gefühlsmanagement. Es ging dabei vor allem um die urbanen Konsumenten, doch wurde der Urgrund der christlichen, bäuerlichen und (meist fiktiven) germanischen Traditionen eifrig gepflegt: Brot war „die erste und beste Frucht des Bauern“, Resultat mühseliger harter Arbeit (Heiliges Brot, Westfälische Neueste Nachrichten 1937, Nr. 24 v. 29. Januar, 1). So knüpfte man eine völkische Verpflichtung zwischen Stadt und Land: „Verludert nicht, was der Bauer mühsam erarbeiten mußte!“ (Ehret und hütet das Brot, Erkelenzer Kreisblatt 1937, Nr. 19 v. 23. Januar, 9)

Achtsamkeit gegenüber dem Brot: Presseappelle (Links: Stolzenauer Wochenblatt 1937, Nr. 292 v. 28. Oktober, 3 (o.); Zeno-Zeitung 1940, Nr. 61 v. 7. Februar, 5; rechts: Der Patriot 1937, Nr. 191 v. 18. August, 4 (o.); Der Neue Tag 1936, Nr. 355 v. 23. Dezember, 2)

Ein Blick in die staatlich gelenkten Zeitungen zeigt ein Stakkato der Achtsamkeit, der Anreize und Aufforderungen. Ehret das Brot, dann ehrt ihr euch. Wertschätzung war Einordnung ins völkische Ganze, in die „große Erde, die uns trägt und die immer gegenwärtig ist.“ Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Kling (1902-1999) bat um ein wenig Aufmerksamkeit: „Ein Stück gesellt sich zum anderen, und wenn in allen 17½ Millionen deutschen Haushalten nur einmal eine Scheibe von 50 Gramm umkäme, dann könnte man schon 3000 bis 4000 Eisenbahnwagen damit füllen“ (Brot ist kostbarstes Volksgut, Der Neue Tag 1937, Nr. 273 v. 5. Oktober, 3, auch zuvor). Jedes Krümchen müsse verwendet werden, das sei Hausfrauenehre, sei Sorgfaltspflicht der Jugend.

Brotlob in Parolen und Schlagzeilen (Links: Wittener Tageblatt 1937, Nr. 278 v. 27. November, 3 (o.); Der Gemeinnützige 1937, Nr. 276 v. 26. November, 3; Gevelsberger Zeitung 1937, Nr. 275 v. 25. November, 6 (u.); Rechts: Herner Zeitung 1937, Nr. 227 v. 29. September, 8 (o.); Buersche Zeitung 1937, Nr. 328 v. 30. November, 5; Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1937, Nr. 272 v. 5. Oktober, 2 (u.))

Brot wurde symbolisch weiter aufgeladen, eine erst regionale, dann reichs- und europaweite Vollkornbrotpolitik sollte 1937 erweiternd einsetzen (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, Comparativ 11, 2001, 27-50).

Skandalierung des weggeworfenen (Pausen-)Brotes (Von oben n. unten: Niederrheinische Volkszeitung 1937, Nr. 10 v. 10. Januar, 3; Bergisch-Märkische Zeitung 1937, Nr. 65 v. 7. März, 4; Wittener Tageblatt 1937, Nr. 220 v. 20. September, 3; Stolzenauer Wochenblatt 1937, Nr. 303 v. 29. Dezember, 6; Viernheimer Volkszeitung 1936, Nr. 263 v. 17. November, 7 (r.))

Eingängige Narrative und Antigeneralisierungen unterstützten dies: Das weggeworfene Pausenbrot, die vertrocknete Brotscheibe, sie trennten die Volksgemeinschaft von Unachtsamen, Verschwendern, Schlemmern. Die Deutschen sollten die herbeigeschriebene „geradezu unglaubliche Leichtsinnigkeit und Gleichgültigkeit“ mancher Zeitgenossen ahnden, so das Sprichwort „Geschändet‘ Brot, geschändete Ehr‘“, so die Forderung an alle, nicht nur die Schuljugend (Tremonia 1941, Nr. 17, Nr. 17 v. 21. Januar, 3). Dies bedeutete achtsamen Einkauf, Essen auch alten Brotes und Resteküche (Achtet das Brot!, Der Albtalbote 1937, Nr. 236 v. 11. Oktober, 5).

1938/39: Groschengrab – Wirtschaftlichkeit als Element der gesellschaftlichen Wehrbereitschaft

Der Nationalsozialismus war eine moderne Mobilisierungsdiktatur, deren Propaganda kleinteilig wirkte, allgegenwärtig war. Visualisierung war dafür zentral, Groschengrab die bekannteste Ausprägung.

Groschengrab: Visualisierung des schlechten Gewissens und der Nachlässigkeit (Dresdner Neueste Nachrichten 1938, Nr. 132 v. 9. Juni, 4 (l.); Die Bastion 1938, Nr. 26 v. 26. Juni, 8)

Dieses Ungeheuer prägte 1938/39 den öffentlichen, den medialen Raum. Groschengrab stand gegen Nachlässigkeit, verankerte ein schlechtes Gewissen, denn Groschengrab war überall.

Comics zur mentalen Stärkung der Sachwalter völkischer Wirtschaftlichkeit (Durlacher Wochenblatt 1939, Nr. 192 v. 18. August, 4)

Dies verdeutlichten die Comicserien, die nicht nur auf Kinder zielten, diese aber mit integrierten.

Koppeleffekte: Regionale Fortschreibungen der Comics und ein Beispiel der typischen Begleitlyrik (Von links n. rechts: Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 219 v. 15. August, 1; Sauerländisches Volksblatt 1940, Nr. 174 v. 27. Juli, 8; Altonaer Nachrichten 1939, Nr. 181 v. 5. August, 3)

Abseits dieser quasi amtlichen Serien gab es jedoch – typisch für die NS-Zeit – lokale Fortschreibungen und stete Interventionen von Aktivisten. Abfallvermeidung war Teil des eingeforderten und meist willig umgesetzten Zuarbeitens auf den Führer.

Ausweitung des Kampfes

Der Kampf gegen den Verderb hatte viele Fronten, Ernährungshandeln war Wehrhandeln.

Der stets bedrohte deutsche Mensch (Der fortschrittliche Landwirt 20, 1938, 727 (l.); Lippische Staatszeitung 1944, Nr. 320 v. 8. Dezember, 3)

Das unterstrichen Begleitserien, in denen die Deutschen von Feinden umgeben waren. Ratten standen aber nicht nur für sich, Hipplers „Der ewige Jude“ führte dies 1940 jedem vor Augen (Johannes Schmitt, Der bedrohte Arier. Anmerkungen zur nationalsozialistischen Dramaturgie der Rassenhetze, Münster 2010, 74-85).

Kampfzone Haushalt: Tod den Maden und Fliegen (Sauerländer Zeitung 1939, Nr. 177 v. 1. August, 7 (l.); Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 266 v. 14. Juni, 8)

Der Haushalt war eine Kampfzone, Kompromisse gab es nicht. Den seit langem bekannten Kartoffelkäfer galt es seit spätestens 1937 im Westen zu bekämpfen, ein eigener Kartoffelkäferabwehrdienst hielt Wacht am Rhein (Der Kartoffelkäfer an der Westgrenze Deutschlands, Die Umschau 41, 1937, 572-573; Gustav-Adolf Langenbruch, Der Kartoffelkäfer in Deutschland. Seine Erforschung und Bekämpfung […], Berlin 1998). Die Schwammigkeit des Begriffes „Schädling“ erlaubte seine fast beliebige Ausweitung, bewirkte die Akzeptanz rigider Maßnahmen auch gegen Menschen.

Feinde ringsum: Bakterien und Pilze als Bedrohung (Der Führer 1936, Nr. 314 v. 12. November, 11 (l.); NS-Frauen-Warte 10, 1941/42, 61)

Insekten dominierten die Bildwelten, doch daneben traten Pilze, Bakterien, andere Mikroben. Leben war Kampf, eine ewige Bewährungsprobe.

Haushaltskrieg bis zum Sieg: Verpflichtungsdiskurse (Hakenkreuzbanner 1937, Nr. 233 v. 25. Mai, 13 (l.); ebd., Nr. 209 v. 10. Mai, 15 (r. o.), ebd. 1936, Nr. 450 v. 27. September, 12)

Und dieser Kampf wurde eingefordert, Abseits stehen war ein moralisches, dann zunehmend auch geahndetes Verbrechen.

Positive Gefühle gegenüber Lebensmitteln

Doch die Klaviatur der Gefühle war breit, positive Gefühle leiteten den Kampf.

Den Lebensmitteln ein Gesicht geben: Installation auf der Grünen Woche 1937 (Illustrierte Weltschau 1937, Nr. 6, 3)

Lebensmittel wurde zu Helfern, erhielten menschliche Gesichter, konnten Freunde sein.

Verbrauchslenkung mit fröhlichen Lebensmitteln und Speisen (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 251 v. 2. Juni, 3)

Selbst die Verbrauchslenkung war keine Fremdbestimmung, sondern setzte die Hausfrau in Beziehung zur Jahreszeit, zur Region, zur Arbeit der Bäuerinnen, zur Natur.

Leckere, nahrhafte Speisen: Lob der Kartoffel (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Neben Lebensmittel traten zunehmend auch Speisen, einfache und ländliche, Gegenstand berechtigter Wertschätzung.

Akzeptanz durch Kochkunst: Frau Garnichtfaul gewinnt ihren Roderich für Kartoffel- und Fischspeisen (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Und auch die im Begriff der Wertschätzung mitschwingende interpersonale Beziehung wurde gezielt genutzt. Liebe ging durch den Magen, nicht nur bei Frau Garnichtfaul, der treu sorgenden, züchtigen Hausfrau, sondern auch im völkischen Verband. Deutsche Küche, einfach, sparsam, doch Basis für Wehrbereitschaft und mehr. Das war nationalsozialistisches Gefühlsmanagement, spiegelte sich auch in der geförderten Regionalküche.

5. Hausfrauen und mehr: Gesellschaftliche Aufgaben im Korporatismus

All diese Wertschätzungspropaganda diente hehren Zielen, so Wissenschaftler und Politiker. Das war offenbar verlogen – obwohl das NS-Regime seine Ziele nur verbrämte, nicht verheimlichte. Zentral für den Sieg war die Hausfrau – die als geschlechtslose Hauswirtschaft auch im Mittelpunkt des heutigen Kampfes gegen Lebensmittelabfälle steht.

Die Hausfrauen als Problemherd (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 458 v. 1. Oktober, 2)

Die Hausfrau war ein offenkundiges Risiko der völkischen Existenz, denn ihr Haushalt hatte fünf- bis zehnmal höhere Verlustraten als die gewerbliche Wirtschaft. Ihre Unachtsamkeit verschleuderte Volksvermögen. Das Schuldkonto der Hausfrau ging aber noch über die Hauswirtschaft hinaus: „Der Verlust der anderen 750 Millionen Reichsmark entsteht beim Erzeuger nach der Ernte, der verarbeitenden Industrie und beim Händler. Auch an diesem Verderb trägt die Hausfrau ein Teil Schuld durch falschen Einkauf. Manche Nahrungsmittel sind nun einmal nicht lange haltbar und müssen verderben, wenn die Hausfrau sie nicht genügend statt haltbarer Lebensmittel kauft“ (Der Albtalbote 1937, Nr. 236 v. 11. Oktober, 5).

Zuhören und sich für das Ganze überwinden: Hausfrauen als Grundlage völkischer Wehrbereitschaft (Marbacher Zeitung 1938, Nr. 34 v. 20. Februar, 3 (o.); Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 238 v. 3. September, 1 (u.); Siegblätter 1944, Nr. 101 v. 2. Mai, 4; Neckar-Bote 1939, Nr. 64 v. 16. März, 7)

Doch das musste nicht so bleiben, denn Bewährung war möglich, Folgebereitschaft vorausgesetzt. Die Hausfrau, die kluge, wurde vom NS-Regime immer wieder geehrt, stetig gewertschätzt. Sie war eine Erfinderin, konnte im Sinne des Ganzen handeln, war lernfähig, stand ihren Mann – in der wehrbereiten Küche.

Einmachen als saisonale Pflicht auf Grundlage privater Investitionen in Gefäße und Geräte (Bochumer Anzeiger 1937, Nr. 103 v. 5. Mai, 13)

Wie die Soldaten gebot sie über Waffen, die sie willig und ohne Zögern einzusetzen hatte. Mehr als 95 Prozent aller Haushalte machten 1941 ein. Broschüren gab es in Millionenauflage, heute noch farbige Flohmarktware.

Ordnung und Sauberkeit in Speisekammer und Vorratskeller (Neckar-Bote 1936, Nr. 230 v. 1. Oktober, 6; Stolzenauer Wochenblatt 1939, Nr. 82 v. 6. April, 8)

Die deutsche Hausfrau stand darin für Sauberkeit und Ordnung, in der immer stärker eingeforderten Speisekammer, im zunehmend kontrollierten Vorratskeller. Dies hob das deutsche Kulturvolk ab von der „Polenwirtschaft“, die kurz darauf unter deutsche Kontrolle geriet.

Schimmernde Wehr: Wertschätzung für die anpassungsfähige Treuhänderin der Volksernährung (Der Haushalt 12, 1940, Nr. 9, 1 (l.); Lenneper Kreisblatt 1937, Nr. 82 v. 9. April, 9)

Die kluge Hausfrau war modern, richtete sich nach den wöchentlichen Küchenzetteln, den monatlichen Übersichten der Verbrauchslenkung, reagierten flexibel auf Marktschwankungen. Sie emanzipierte sich von Großmutters Küche, schuf so die Grundlagen für Deutschland, für Großdeutschland.

Hilfestellung im Alltag

Bei dieser schweren, doch unaufschiebbaren Aufgabe gab es Hilfestellungen, starke Frauen halfen sich gegenseitig, Erfinder und Kinder taten das Ihrige.

Mutters Küchenwaffen: Verlustminimierung im Haushalt (Deutscher Garten 52, 1937, 199 (o.); ebd., 189: Rechts: ebd. 54, 1939, 152 (o.); ebd. 57, 1937, 52)

Das betraf zahllose kleine Küchenwaffen gegen den Verderb; von der Reibe über den Fliegenschrank, die Käseglocke bis hin zum Fett-Topf.

Ernährungshilfswerk: Die Volksgemeinschaft als Sammelgemeinschaft (Steirerland 1940, Nr. 11 v. 31. Dezember, 8)

Die Hausfrau war zugleich Teil einer völkischen Sammelgemeinschaft, sammelten HJ und NSV doch Küchenabfälle für die Mastanstalten des Ernährungshilfswerkes. Hunderttausende Tonnen Knochen kamen hinzu (Spiekermann, 2018, 386-393).

Hauswirtschaftliche Bildung: BDM-Schulung in Hamburg, Kochkurs der NS-Frauenschaft in Stuttgart (Mittagsblatt 1940, Nr. 95 v. 23. April, 4 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 108 v. 4. März, 41)

Zentral aber blieben die Bildungsanstrengungen der NS-Frauenschaft, des Bund Deutscher Mädel. Richtiges Kochen war nicht nur Quintessenz einer technisch-wirtschaftlich optimierten Haushaltsrationalisierung, sondern auch und gerade Wertschätzung der völkischen Gemeinschaft, Voraussetzung, „um sich als Nation überhaupt in der Zukunft zu behaupten“ (R[ichard] Walther Darré, Rede auf dem Vierten Reichsbauerntag in Goslar am 29. November 1936, in: ders., Aufbruch des Bauerntums, Berlin 1942, 63-86, hier 72).

Epilog

Ich habe Ihnen eine kleine Episode deutscher Geschichte rekonstruiert, doch ich hoffe, dass diese Fragen aufwirft, Fragen auch für den heutigen (wissenschaftlichen) Umgang mit Lebensmittelabfällen.

Die Wertschätzungs- und Abfallpolitik der NS-Zeit hat Kreise gezogen: Völkische Überbürdungen wurden entsorgt, doch der institutionell-technische Rahmen lange beibehalten (Sero-System in der DDR, Altmaterialverwendung, Mülltrennung, Kühltechnik im Haushalt), vielfach gar ausgebaut. Der Kontext der Kriegs- und Vernichtungspolitik ist zumeist vergessen, zumindest in den heutigen Verlautbarungen und Studien in Politik, Wirtschaft und den angewandten Natur- und Sozialwissenschaften.

Die NS-Experten hatten einen hohen Moralkodex, waren von ihrer Mission erfüllt, schufen neue Sprachbilder. Ihnen galten autoritäre Interventionen als Notrecht, andere Rationalitäten und Werte lediglich als zu brechende Widerstände, als Ausdruck fehlender Einsicht. Wertschätzung des Eigenen bedeutete fehlende Wertschätzung des Anderen. Wie weit sind „wir“ heute von derartigen Denk- und Handlungsweisen entfernt? Wird das nicht wertgeschätzte Andere angemessen reflektiert?

Die NS-Zeit war eine Zeit massiver Forschungsinvestitionen, in Ressortforschung, in Forschungsprojekte. Schränkt diese staatsnahe und weisungsgebundene Forschung nicht die Wissenschaftsfreiheit und damit die Zukunftsfähigkeit einer offenen Gesellschaft stark ein? Treten so nicht politische Themensetzungen und genehme Antworten in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Arbeit?

Die für die NS-Zeit übliche Schaffung lebensmittelbezogener Narrative ist auch heutzutage ein zentrales Tätigkeitsfeld wissenschaftlicher Arbeit. Passen aber semantische Illusionen nicht eher zu PR und der allgemein üblichen Bereicherungsökonomie als zu einer wissenschaftlich konstitutiven Scheidung von wahr und falsch? Läuft eine solche Wissenschaft nicht neuerlich Gefahr, Ideologien zu reproduzieren und gesellschaftliche Widersprüche zu verdecken?

Uwe Spiekermann, 12. März 2025

Dieser Beitrag ist das Grundgerüst eines am 13. März 2025 im Rahmen der Tagung „‚Wertschätzung von Lebensmitteln‘. Ein Hebel für nachhaltigeres Ernährungshandeln“ des Netzwerks Ernährungskultur (Esskult.net) an der Universität Kassel gehaltenen Vortrages.