Propaganda und Bekenntnisdruck: Herr und Frau Knätschrich als Negativfolien der Volksgemeinschaft während des Winterhilfswerks 1933/34

Gehorsam ist für die Mehrzahl nicht nur Tugend, sondern Lust. Dem dient die Erziehung, das Rechts- und Strafsystem, dem dient die hierarchische Struktur unserer wichtigsten Institutionen, namentlich die Verwaltung als zentrale Herrschaftsform der Moderne. Gehorsam koordiniert menschliches Handeln, schafft Verlässlichkeit, Sicherheit und Systemvertrauen, entlastet von Verantwortung. Jede Herrschaft basiert auf dem allgemeinen Interesse an Gehorsam, an Fügsamkeit gegenüber abstrakten Werten, gegenüber dem Willen von Organisationen und Personen (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl., Tübingen 1985, 122). Gehorsam ist ein Bindemittel jeglicher sozialen Beziehung, jeder darauf aufbauenden wirtschaftlichen oder politischen Organisation. Im Schatten des Gehorsams werden systemische Unterschiede grau. Demokratien und Diktaturen gründen gleichermaßen auf dieser problemvermindernden Lust der Mehrzahl, mögen die Rituale von Zustimmung, Teilhabe und Strafe auch andere sein.

Stimmt dies, so stellen sich vor allem zwei Fragen: Wie wird Gehorsam hervorgerufen, nicht nur einmal, sondern dauerhaft? Und wie geht man mit denen um, die nicht gehorchen wollen, deren Fügsamkeit sich dem Joch der Herrschaft entziehen möchte? Diesen Fragen gilt es im Folgenden an einem historischen Beispiel detailliert nachzugehen. Nach der Machtzulassung der NSDAP durch konservativ-nationalistische Eliten gab es 1933 viele Möglichkeiten des Gehorsams, anfangs teils erzwungen, zunehmend aber freiwillig, ja lustvoll. Die historische Analyse konzentriert sich meist auf die politische Sphäre, auf die damalige Bekämpfung und Ausschaltung der politischen Opposition, die Etablierung eines Einparteien- und Führerstaates, die zunehmende Monopolisierung der medialen Öffentlichkeit, die erzwungene Gleichschaltung und die abwägend-willige Selbstgleichschaltung der meisten Institutionen bis Sommer 1933. Hier setzt nun die kleine Fallstudie an, bei der Etablierung und Umsetzung der Winterhilfe, die dann als Winterhilfswerk institutionalisiert wurde. Wir werden uns dazu auf die öffentliche Propaganda konzentrieren, deren Ziel es war, Geld und Sachleistungen für vom NS-Regime definierte soziale Zwecke zu mobilisieren. Wir werden uns aber zugleich der Frage widmen, wie der offenbare Unwillen vieler, zumal bürgerlicher, zahlungskräftigerer Kreise abgeschliffen wurde. Dazu dient auch eine bisher in der Forschung nicht beachtete Karikaturenserie um das fiktive Ehepaar Knätschrich, das als Negativfolie für ein gehorsames Gemeinwesen und der vom NS-Regime propagierten Volksgemeinschaft diente. Gewiss, positive, agitierende und vor allem integrierende Propaganda dominierte. Doch in dieser Serie wurde der Öffentlichkeit die vermeintliche Amoralität und der Egoismus des Nicht-Gehorchens vor Augen geführt. Die Serie präsentierte bürgerliche „Asoziale“, „Gemeinschaftsfremde“ als Negativbespiele: Verachtet, sozial ausgegrenzt, auf Besitz und Dünkel setzend, wurden die Knätschrichs öffentlich vorgeführt. Unausgesprochen blieben die stets denkbaren Folgen ihres Handelns: Die „Volksgenossen“ hatten sich abzugrenzen, mittels Bekenntnisdruck ihr eigenes Tun zu reflektieren, gehorsam und letztlich willig das Richtige tun. Auch im Alltag galt die klassische Sentenz der zuvor entwickelten hypermodernen Schachstrategie, dass „die Drohung […] bekanntlich stärker als deren Ausführung“ ist (A[ron] Nimzowitsch, Mein System, 2. verb. Aufl., Berlin-West 1965, 13).

Propaganda als Grundelement modernen Gesellschaften

Analytische Distanz zum Gegenstand ist allerdings geboten, um nicht in die freudig verfolgten Engführungen der Propagandadiskussion zu geraten. Gängige Vorstellungen vom „schönen Schein“ des NS-Regimes oder plakative Dualismen wie „Verführung und Gewalt“ eröffnen wichtige Zugänge, verkennen jedoch, dass Propaganda ein Grundelement jeder modernen Gesellschaft ist (Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München und Wien 1991; Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt: Deutschland 1933-1945, Berlin-West 1986). Modernes Leben ist Leben im propagandistischen Umfeld. Das bedeutet nicht, den Gewaltcharakter der NS-Propaganda in Abrede stellen zu wollen, im Gegenteil. Erst in der vergleichenden empirischen Analyse zeigen sich ihre Spezifika. Das NS-Regime war von Anbeginn eine Mobilisierungsdiktatur, ihr Versprechen einer aktiven Konjunkturpolitik zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ein siegträchtiges Alleinstellungsmerkmal, denn die auch in der SPD diskutierten Konzepte gewannen innerparteilich keine Mehrheit (Nikolaus Kowall, „Arbeit und Brot“ – die sozioökonomische NS-Propaganda vor 1933, Wirtschaftsdienst 103, 2023, 406-412).

Arbeit und Brot: Parole im sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Umfeld (Ulk 60, 1931, Nr. 24, 1 (l.); Illustrierter Beobachter 7, 1932, 1273)

Die unter dem Slogan „Arbeit und Brot“ geführten Kampagnen der Arbeitsbeschaffung, des Arbeitsdienstes, der „Arbeitsschlacht“, der „Erzeugungsschlacht“, etc. blieben vielfach hinter den Versprechungen zurück, doch ihre propagandistische Propagierung war für die willige Akzeptanz der Gewalt- und Terrorwelle seit Februar 1933 ebenso wichtig wie die Angst vor persönlichen Nachteilen und der Hass gegen den „Marxismus“, die „Demokratie“ und rassisch definierte Minderheiten. Die Winterhilfe war seit September 1933 ein weiteres Element dieser gesellschaftlichen Mobilisierung für den Abbau von Arbeitslosigkeit und „Not“: „NS-Staat und NS-Volksgemeinschaft nötigten jeden und jede zu irgendeiner Positionierung zum Mittun oder Abweichen. Dieser erzeugte Bekenntnisdruck stellte gerade ein Kennzeichen dieser plebiszitär abgesicherten gesicherten Diktatur dar“ (Uwe Danker, Grandioses Scheitern oder kluger Pragmatismus? Entnazifizierung in der britischen Zone – betrachtet mit nüchterner Distanz, Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 93, 2021, 287-342, hier 327).

Bevor wir zur Winterhilfepropaganda, insbesondere aber zur Serie um das Ehepaar Knätschrich kommen, sind noch einige Worte zur Propaganda selbst erforderlich. Zuerst eine historische Genealogie: Propaganda im engeren Sinne war kein Produkt des Nationalsozialismus, sondern entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Verstanden als Massenbeeinflussung war Propaganda eng verwoben mit modernem Marketing, mit dem Anpreisen von Waren und Meinungen. Sie war Teil eines demokratischen Massenmarktes, dem Wettbewerb unterschiedlicher Produkte und Parteien. Eine Verengung auf den politischen Sektor erfolgte insbesondere während des Ersten Weltkrieges. Die Narrative der Westmächte, vor allem aber erst der britischen, dann der US-amerikanischen Propaganda, verwandelten den Krieg imperialer Großmächte mit kleinen und jeweils interessengeleiteten Eliten in einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Kultur/Zivilisation und der Barbarei. Das Deutsche Reich war auf diese Auseinandersetzung kaum vorbereitet, verlor den Krieg an der Propagandafront rasch; und das trotz umfassender Reflektionen über Sinn und Ziele des Krieges seit 1915 und einer nachfolgenden Professionalisierung der eigenen Nachrichtengebung, Bildproduktion und auch Zensur. Die westlichen Narrative dienten 1918/19 zudem der Rechtfertigung der harschen und letztlich politisch kontraproduktiven Bedingungen des Versailler Friedensvertrages, hatten demnach Folgewirkungen weit über die Konfliktlinien des Weltkrieges hinaus.

Gängige Propagandabilder: SA-Aufmarsch am Münchener Siegestor am 9. November 1933 bzw. Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler beim Erntedankfest auf dem Bückeberg am 1. Oktober 1933 (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1529 (l.); ebd., 1445)

Propaganda wurde seither als öffentliche Macht anerkannt, theoretisiert und als Mittel gesellschaftlicher Beeinflussung weiter verfeinert (Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1922; Edward L. Bernays, Propaganda, New York 1928). Neue Medien, neue Werbemethoden der Zwischenkriegszeit, vor allem breit gestreute, multimediale, zielgruppenspezifische und zentral gesteuerte Werbekampagnen ließen die Bedeutung dieser neuen Kommunikationsformen erahnen. Obwohl die deutschen Wahlkämpfe der Weimarer Republik und auch der Präsidialdiktatur noch vielfach altbacken daherkamen, erschien Propaganda sowohl als ein unverzichtbares Mittel gegen die nationalsozialistische Gefahr, als auch als Ressource für den Wiederaufstieg des Deutschen Reiches zur imaginierten Größe vergangener Zeit. Gerade die Systemsprenger auf der linken und rechten Seite verwandten besondere Aufmerksamkeit auf die Gewinnung von Massenunterstützung durch neue Kommunikationstechniken. Nationalsozialistische Propaganda war ein Kind demokratischer Herrschaftstechniken, muss zugleich aber breiter verstanden werden als es die propagandistischen Selbstinszenierungen des NS-Regimes während des 1. Mai, des Erntedankfestes oder der verschiedenen NS-Gedenktage (30. Januar, 20. April oder 9. November) scheinbar nahelegen.

Propaganda: Worthäufigkeiten im Korpus der Zeitungsdatenbank Zeitpunkt.NRW und des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache

Propaganda ging weit über „Verführung“ und „Manipulation“ hinaus. Dies belegt schon eine einfache Wortzählung sowohl in digitalisierten Tageszeitungen als auch im breiteren Textkorpus des Digitalen Wörterbuches der Deutschen Sprache. Propaganda war seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein zunehmend üblicher Begriff für eine Alltagsrealität. Der französischen Soziologe Jacques Ellul (1912-1994) hat seine Analysen der Propaganda in den 1950er und frühen 1960er Jahren darauf aufgebaut. Im angelsächsischen Sprachraum wurden und werden sie bis heute diskutiert, nachdem 1965 eine erste Übersetzung seines 1962 erschienenen Buches „Propagandes“ [Mehrzahl!, US] im renommierten New Yorker Verlag Alfred A. Knopf erschienen war. Seit 1960 Teil des vertriebsstarken Verlages Random House, war Knopf eine wichtige Drehscheibe für die Rezeption europäischer Literatur und Theorie in den USA. Eine deutsche Übersetzung liegt erst seit 2021 vor (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021). Jacques Ellul wurde hierzulande kaum rezipiert, obwohl sein umfangreiches Oeuvre zentrale Fragen der technischen Moderne und der Konsumgesellschaft anregend und zugleich provozierend erörtert. Seine Werke haben ein spezielles Flair, seine rechtswissenschaftliche Grundbildung, insbesondere aber seine theologischen Interessen bieten gleichermaßen Stringenz wie philosophische Weite. Ellul gehörte der französischen Resistance an und war zugleich ein Gerechter unter den Völkern, ein Ehrentitel der viel zu wenigen (Ulrich Teusch, Wer war Jacques Ellul? (2021) (https://multipolar-magazin.de/artikel/wer-war-jacques-ellul).

Propaganda war für Ellul eine Notwendigkeit der technischen Moderne. In seinem 1954 erstmals erschienenen, 1964 ins Englische übersetzten Werk „The Technical Society“ hieß es bereits programmatisch: „Technik ist nicht ein isoliertes Element in der Gesellschaft […], sondern hängt mit jedem Faktor im Leben des modernen Menschen zusammen“ (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964, xxvi). Propaganda erschien ihm als eine für das gesellschaftliche Leben unabdingbare Humantechnologie (Ebd., 216). Dass sie leitende Ziel sei Effizienz und Funktionalität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, sie erlaube Koordinierung und Orientierung. Für Ellul war das kein Grund zu moralisierender Klage, sondern Teil realistischer Selbstverortung. Das Problem sei nicht der irreführende Dualismus von Diktatur oder Demokratie, sondern die Reduktion des Menschen auf eine Art Tier, „gebrochen, um bestimmten bedingten Reflexen zu gehorchen“ (Ebd., 375). Wie anders aber sollte der moderne Verkehr funktionieren, dieses Aufeinandertreffen völlig unbekannter Dinge und Wesen?

Auch Elluls Propagandabuch kreist um das Grundproblem der Effizienz der technischen Gesellschaft und ihrer Folgen für das Individuum. Propaganda verstand der französische Soziologe als eine wissenschaftsbasierte rationale Kommunikationsform, die auf ein Massenpublikum mit einem möglichst breiten Arsenal von Medien ziele, um Wirksamkeit zu erzielen. Dazu müsse sie an bestehende Prädispositionen anknüpfen, die anvisierten Menschen möglichst gut kennen. Wirksame Propaganda müsse den kulturellen Kontext präzise mit einbeziehen, denn nur so könne Aufmerksamkeit garantiert und Dauer/Wandel bewirkt werden. Die politische und gesellschaftliche Dienstbarkeit der Kulturwissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft, ist daher kein Zufall. Ellul verstand den Einzelnen als „einen schrecklich formbaren, plastischen Menschen, der seiner selbst ungewiss ist, stets bereit, sich zu unterwerfen“ (Ellul, 2021, 17 (ich zitiere nach der Paginierung des mir vorliegenden E-Books)). Dafür gäbe es gute Gründe, der Einzelne würde in einer technischen Gesellschaft die Vorteile des Gehorsams rational einschätzen. Maschinenarbeit und Musizieren basieren gleichermaßen darauf. Propaganda „ist dazu aufgerufen, Probleme zu lösen, die durch die Technik erzeugt wurden, auf Unverträglichkeiten zu reagieren, das Individuum in die technologisierte Gesellschaft zu integrieren. Propaganda ist weit weniger politische Waffe eines Regimes (was sie natürlich auch ist) denn Wirkung einer technologisierten Gesellschaft, die den ganzen Menschen einschließt und dazu tendiert, ihn vollständig zu durchdringen“ (Ebd., 18). Menschen würden aus freien Stücken gehorchen, da sie ansonsten gegen ein System fremdgesetzter Regeln und Sachzwänge ankämpfen müssten. Innerhalb eines gegebenen Rahmens schaffe dieser Gehorsam – und die darauf zielende Propaganda – aber sehr wohl einen Freiraum.

Propaganda in einer modernen Welt sei berechenbar und berechnend, ihr Einsatz evaluierbar und wandelbar, um möglichst wirksam zu sein. Sie richte sich an die Masse, spreche den Einzelnen jedoch niemals in seiner Individualität an. Der Einzelne wisse, dass er Teil einer Masse, einer Gruppe sei, dass er sich zu ihr zu stellen habe. Er teile Mythen und Narrative, sei daher emotional berührbar, könne impulsiv und überschwänglich reagieren. Er sehe sich stets als Teil einer breiteren Strömung, ihm bekannter Moden. Die von Fremden vorgegebene Frühlingsfarbe oder der Schnitt der Wintermäntel kann daher Ausdruck seiner Selbst sein, Erhebung aus der Masse in der Masse. Pointiert formulierte Ellul: „Der Mensch der Masse ist ein »Untermensch«, der sich aber für einen »Übermenschen« hält“ (Ebd., 25).

Um Wirkung zu erzielen, müsse Propaganda möglichst total sein. Das bedeute den Einsatz aller verfügbaren (oder bezahlbaren) Medien für einen Zweck. Sporadische Aktivitäten seien keine Propaganda. Erst der orchestrierte Einsatz unterschiedlicher Medien erlaube, den Einzelnen unterschiedlich und doch gleichartig anzusprechen: „So gelingt es, Denken und Fühlen pausenlos auf Trab zu halten: der Mensch und die Menschen, denn berücksichtigt werden muss auch, dass sich derlei Mittel nicht alle gleichermaßen an dasselbe Publikum richten“ (Ebd., 28). Totale Propaganda ziele darauf, „den ganzen und alle Menschen zu erreichen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben. Sie liefert ihm ein umfassendes Modell zur Erklärung der Welt und unmittelbare Handlungsmotive zugleich. Wir sehen uns hier einer Gestalt mythischer Ordnung gegenüber, die die Person im Ganzen zu fassen sucht“ (Ebd.). Das Ziel sei „nahezu Einstimmigkeit“ (Ebd., 29), sei Marktbeherrschung, sei es im wirtschaftlichen oder politischen Wettbewerb. Propaganda agiere in der Gegenwart, wolle diese prägen und beherrschen. Dazu würde, ja müsse sie „die Geschichte ihren Bedürfnissen entsprechend neu schreiben“ (ebd., 31). Das mag uns an das Wahrheitsministerium in George Orwells Dystopie „1984“ erinnern, doch es sei durchaus notwendig alte Verkehrszeichen oder Begriffe zu vergessen. Fletchern wird Rösen, Zarizyn Stalingrad, Berlin Germania, Karl-Marx-Stadt Chemnitz Studenten Studierende, Kiew Kijiv. Eins, zwei, drei, im Sauseschritt / Läuft die Zeit; wir laufen mit!

Anknüpfungsfähige Vorpropaganda: Wahlaufruf zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 und nationalsozialistisches Heldennarrativ 1933 (Der Welt-Spiegel 1932, Nr. 31 v. 31. Juli, 1 (l.); Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1075)

Jacques Elluls Analyse ist natürlich nuancenreicher als diese groben Striche. Zwei weitere Punkte scheinen mir zur genaueren Analyse der Winterhilfe 1933/34 und der darin eingebetteten Karikaturenserie um Herrn und Frau Knätschrich jedoch noch erwähnenswert. Erstens bedarf nach Ellul jede aktive Propaganda einer Art Vorpropaganda. Der plötzliche Schock wirke, doch er wirke nicht dauerhaft. Wirksame Propaganda erfordere einen Vorlauf, habe „den Menschen auf eine bestimmte Handlung hin vorzubereiten, ihn für bestimmte Einflüsse empfänglich zu machen, ihn in den Stand zu versetzen, zu gegebener Zeit in wirksamer Weise, ohne Aufschub und ohne zu zögern, an der Bewegung teilzunehmen“ (Ebd., 50). Das könne auf zwei Arten erfolgen, nämlich einerseits durch konditionierte Reflexe, also eine erwartbare Reaktion auf Worte, Bilder, Personen oder Tatsachen, die dann für ein neues Ziel genutzt werde. Anderseits sei es Ziel der Vorpropaganda „Erzählungen, Mythen zu erschaffen, in denen der Mensch ein Zuhause findet und die an seinen Sinn fürs Heilige anknüpfen“ (Ebd., 50). Sie sollen für Gutes, Gerechtes, Wahres stehen, denn dafür setzen sich Menschen ein und in Bewegung.

Zweitens hat Ellul zwischen vier verschiedenen Kategorien der Propaganda unterschieden, die hier nur zu nennen sind, die wir im Rahmen der Winterhilfe und auch der Knätschrich-Serie aber allesamt wiederfinden werden. Politische sei von soziologischer Propaganda zu trennen – und gerade letztere könne die Rationalität der Propaganda fürs Mitmachen, für die eigene Integration erklären. Ellul unterschied ferner zwischen agitierender und integrierender Propaganda – und es ist offenkundig, dass die Konsolidierung der NS-Herrschaft auf die (für die Mehrzahl) integrierende Wirkung des moralisch hochstehenden „Volksgenossen“ angewiesen war, während das blökende Ja zur Einheitsliste der Reichstagswahl am 12. November 1933 zwar ein Agitationserfolg war, die Dauer des Regimes aber keineswegs sicherte. Ellul unterschied weiterhin zwischen vertikaler und horizontaler Propaganda, also zwischen Hitler- oder Goebbelsrede einerseits und der breit gefächerten Erziehung zum deutschen „Volksgenossen“ anderseits. Schließlich trennte Ellul rationale von irrationaler Propaganda. Damit trug er dem schon während der NS-Zeit allseits sichtbaren Bezug auf „Tatsachen“ Rechnung, denn Propaganda gründet nur selten auf offenkundigen Lügen. Doch just die als Andock- und Merkpunkte für den Einzelnen erforderlichen Tatsachen, also „rationale“ Argumente, verkehren sich in propagandistischer Form meist in ihr Gegenteil: „Weit davon entfernt, die Individuen zu einem selbstständigen Urteil, zu einer eigenen Meinung zu ermächtigen, werden sie von der Vielzahl an Informationen daran gehindert, paralysiert. Sie können unmöglich dem Spinnennetz der Information entkommen, das heißt, sie sind gezwungen, auf der Ebene der ihnen gelieferten Tatsachen zu verharren. Sie sehen sich außerstande, ihre Präferenz, ihr Urteil in einem anderen Bereich, bei anderen Themen zu formulieren“ (Ebd., 114-115).

Rationale Propaganda: Der Rückgang der Arbeitslosigkeit 1932/1933 (Illustrierte Technik 11, 1933, H. 15, V)

Elluls Analyse der Propaganda liefert ein Rüstzeug für eine genauere Untersuchung der NS-Propaganda. Sie erlaubt eine detaillierte Fallstudie, ermöglicht aber auch den Vergleich mit anderen Propagandaregimen, von früheren und heutigen Propagandismen. Das NS-Regime war trotz atavistischer Mythen ein modernes Herrschaftssystem, das die Errungenschaften des technischen Zeitalters recht virtuos nutzte, um seine ideologischen, aggressiv-mörderischen Ziele zu verwirklichen. Dazu bedurfte es, wie in jeder effizienten Gesellschaft, sozialer Kohäsion. Bekenntnisdruck und Gewalt waren Teil dieser Effizienzsteigerung, Mordbereitschaft bedarf allerdings anderer Propagandismen als die Akzeptanz von Frauen in Führungspositionen. Das wird die Analyse der nicht gehorsamen und spendenunwilligen Knätschrichs zumindest tendenziell einfangen können.

Krisenbewältigung und Winterhilfe

Diese Studie ist Teil der „Neuentdeckung der Zeitung in der zeithistorischen Forschung“ (vgl. Christian Kuchler, NS-Propaganda am Kiosk?, in: Ders. (Hg.), NS-Propaganda im 21. Jahrhundert, Köln, Weimar und Wien 2014, 27-39, hier 29). Die langsame Erschließung dieser zunehmend digitalisierten Massenquelle erlaubt neuartige Einblicke in die öffentliche und veröffentlichte Sphäre. Texte, Zeichnungen und Bilder treten gleichermaßen hervor, auf Massenmedien wie Kino, Radio und den Buchmarkt wird stetig verwiesen (vgl. zu letzteren Andreas Martin, Medieneinsatz und Propaganda zum Winterhilfswerk im Dritten Reich, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Spendenkampagnen, Köln, Weimar und Wien 2008, 161-232, hier 201-226). Die Lektüre der Tages- und Wochenpresse erlaubt einen direkten Einblick in den Alltag während der NS-Zeit, allerdings gebrochen durch die Prismen der Presseanweisungen, der ideologisch enggeführten Berichterstattung und der Zensur. Unser direkter und zugleich gebrochener Einblick erlaubt demnach eine präzise Analyse der gängigen Alltagspropaganda, lässt uns unterhalb der großen Propagandainszenierungen blicken. Die strukturellen Defizite dieser Massenquelle (und dieser Studie) sind offenkundig. Wir verbleiben vielfach in der Binnenwelt der Propaganda, mag es auch vereinzelt möglich sein, deren immanente Widersprüche auszuloten. Versteht man Propaganda jedoch als einen zentralen Modus im Leben in der technischen Moderne, kann man mit ihrer Analyse in Massendruckwerken vielfach mehr erreichen als mit der Suche nach dem Bewusstsein des Einzelnen. Ist es wirklich wahrscheinlich, dass den Propagandawelten grundsätzlich andere Binnenwelten gegenüberstanden? Ist die Aufgabe geschichtswissenschaftlicher Rekonstruktion die realistische Analyse des Hauptgeschehens oder aber das hoffnungsheischende Schöpfen im seichten Gestade des Ausnahmehandelns weniger? Ellul präsentierte eine realistische Gesamtsicht, mochte er selbst auch französische Juden vor der Deportation gerettet haben (Ellul Jacques). Er war die Ausnahme, doch er wollte die Mehrzahl verstehen. Um sehen zu können, gilt es hinzuschauen.

Private Unterstützung der sozialdemokratischen Winterhilfe für Arbeitslose und Kritik an der unzureichenden Unterstützung während der Massenarbeitslosigkeit (Vorwärts 1931, Nr. 569 v. 5. Dezember, 3 (l.); Der wahre Jacob 54, 1933, Nr. 4, 4)

Winterhilfe war keine nationalsozialistische Erfindung. Sie entstand dezentral im Winter 1930/31, als Folge der rasch auf über drei, dann über vier Millionen steigenden Zahl der Arbeitslosen. Eine Arbeitslosenversicherung wurde erst 1927 institutionalisiert, finanziert durch Beiträge von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Zuschüssen der Kommunen und des Nationalstaates. An die Stelle der dezentralen kommunalen Fürsorge trat ein System von reichseinheitlichen Leistungsansprüchen. Die Arbeitslosenversicherung besaß allerdings keine Reserven, war zugleich unterfinanziert, schon 1929 betrug ihr Defizit 270 Mio. RM, 1930 gar 731 Mio. RM. Leistungsabbau war die politische Konsequenz, anfangs noch mitgetragen von den Sozialdemokraten. Im März 1930 zerbrach jedoch die große Koalition unter Hermann Müller (1876-1931) an der Höhe der Beitragssätze und des Reichszuschusses (Ulrike Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn et al. 2006, 250-254, 316-319). Damit endete die parlamentarische Demokratie, begann unter Reichskanzler Heinrich Brüning (1885-1970) eine auf die Prärogative des Reichspräsidenten gründende und krisenverschärfende Deflationspolitik. Die Massenarbeitslosigkeit war teils strukturell bedingt, ihr Anwachsen Folge der Überproduktion in den USA, des Platzens der auf billigem Geld basierenden Spekulationsblase 1929, des Abzugs der US-Kredite. Die exorbitante Höhe der Massenarbeitslosigkeit im Deutschen Reich war jedoch Ergebnis der deutschen Politik der Präsidialkabinette, die einerseits auf die Selbstheilungskräfte des Marktes setzten, anderseits aber im Massenelend ein funktionales Argument für ein Ende der Reparationszahlungen sahen (vgl. Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, Göttingen 2010, 200-271).

Im Winter 1931/32 wurden die lokalen Hilfsaktivitäten intensiviert, da viele Arbeitslose aus den zeitlich befristeten Zahlungen der Arbeitslosenversicherung herausausfielen und auf stetig reduzierte kommunale Fürsorge angewiesen waren, zunehmend aber auch keinerlei Ansprüche mehr besaßen. Die damalige Winterhilfe wurde vornehmlich von den freien Wohlfahrtsverbänden, also Arbeiterwohlfahrtsverbände, Innere Mission, Caritas und Deutsches Rotes Kreuz, und den Kommunen finanziert. Sie entfalteten eine umfangreiche Agitation, um die Not vorrangig mit Sachspenden zu begrenzen. Parallel setzten erste reichsweite Initiativen ein, insbesondere die Frachtbefreiung der Reichsbahn für Hilfslieferungen und erste Verbilligungsscheine für Heizmaterialien, Kartoffeln und Brot, ab Ende 1932 dann auch für Fleisch. Die Winterhilfe minderte die Not, das Spendenaufkommen – 42 Mio. RM 1931/32 (Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Kronberg/Ts. und Düsseldorf 1978, 453) – und die Reichshilfen – 35 Mio. RM 1932/33 (Verbilligtes Fleisch – verbilligte Kohlen, Neueste Zeitung 1932, Nr. 300 v. 22. Dezember, 1) waren jedoch auch nicht ansatzweise ausreichend. Ende 1932/33, also kurz vor der Machtzulassung der NSDAP, war die Winterhilfe ein kontroverses öffentliches Thema. Die SPD forderte eine massive Erhöhung der Reichszuschüsse auf 400 Mio. RM, drang damit aber nicht durch. Bruno Rauecker (1887-1943), Regierungsrat in der Reichszentrale für Heimatdienst, betonte an der Jahreswende: „Winterhilfe ist zu einer gebieterischen nationalen Pflicht geworden. In allen Teilen unseres Vaterlandes haben daher die Organisationen der privaten Wohlfahrtspflege zu tätiger Mitarbeit aufgerufen: überall werden Kräfte mobilisiert, Hilfsquellen erschlossen, um zur Linderung der Not breiter Volksschichten angesetzt zu werden (Winterhilfe und Volksgemeinschaft, Der oberschlesische Wanderer 1933, Nr. 1. v. 3. Januar, 1-2, hier 1). Rauecker, der seine Stellung schon bald aus politischen Gründen verlieren sollte, sprach von einer „Gemeinschaft zwischen Regierung und Volk, zwischen Führung und freiwilliger Mitarbeit […]. Keiner darf an der Abwehrfront gegen Not und Elend fehlen!“ (Ebd., 2)

Die NSDAP war Teil der dezentralen Winterhilfe, die im Juni 1932 institutionalisierte Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) stellte neben die zahlreichen Suppenküchen der SA eine weiter ausgreifende Dachorganisation. Sie sollte ab dem 3. Mai 1933 für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge im Deutschen Reich zuständig werden (Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380). An die Stelle der vielgestaltigen Hilfsaktivitäten der freien Wohlfahrtsverbände trat im Spätsommer 1933 dann das „Winterhilfswerk des deutschen Volkes“, das im September 1933 vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) vorgestellt und Anfang Oktober offiziell vom Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) eröffnet wurde. Goebbels als formaler Leiter bediente sich zur Durchführung der NSV als „Treuhänderin“. Die Spenden waren eine ergänzende Nothilfe, die deutlich gesenkten Fürsorgesätze der Zeit der Präsidialdiktatur wurden beibehalten, nicht erhöht.

Fürsorge im Zeichen des Kreuzes: Spendenaufruf für ein lokales Winterhilfswerk 1931 (Grafinger Zeitung 1931, Nr. 269 v. 21. November, 4)

Das Winterhilfswerk spiegelte die für den NS-Staat übliche Unterminierung der rechtlich verbindlichen und allgemein gültigen sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik. Die sozialdemokratische Opposition erfasste die Transformation recht präzise: „1. Die laufenden bürokratischen sozialpolitischen Leistungen werden abgebaut (Krankenkassen, Arbeitslosenunterstützung, Wohlfahrtspflege der Gemeinden) und daneben eine Reihe von Einzelaktionen mit großer propagandistischer Aufmachung unter Selbstfinanzierung durch Sammlungen aufgebaut (Winterhilfe, Aktion für Mutter und Kind). Auf diese Weise werden gleichzeitig die Partei und ihre Nebenorganisationen mit immer neuen behördlichen Funktionen ausgestattet und der alte behördliche Apparat zurückgedrängt. 2. Nebenher läuft die Ersetzung der früheren individuellen Hilfeleistung durch Kollektivaktionen mit hauptsächlich propagandistischen Zielen.“ Ziel sei es „die Partei und ihre Organe immer mehr mit der Gesellschaft und dem Staat zu verflechten und ihre Leistung und Bedeutung in den Augen der Öffentlichkeit zu haben“, allerdings sei dieses Anfang 1934 „noch nicht gelungen“ (Zitate n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 42).

Die Propaganda für die nationalsozialistische Winterhilfe konnte demnach auf vielgestaltige Vorläufer und Maßnahmen zurückgreifen. Dies erleichterte ihre Arbeit, denn eine Vorpropaganda war kaum mehr erforderlich. Hauptaufgaben waren die Steigerung der Spendeneinkünfte und die Koppelung von Hilfsaktivitäten mit der Politik der NSDAP und der von ihr gestellten Regierungen. Wie stark man dabei anfangs auf Arbeit anderer zurückgreifen konnte, zeigt nicht zuletzt der Begriff des Winterhilfswerkes selbst. Man findet ihn bereits während der Inflationszeit für lokale Hilfswerke (Westfälische Neueste Nachrichten 1922, Nr. 284 v. 5. Dezember, 6; Rhein- und Ruhrzeitung 1923, Nr. 445 v. 30. November, 2; Münchner Neueste Nachrichten 1923, Nr. 345 v. 20. Dezember, 13). Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise entstanden neuerlich lokale Winterhilfswerke, dieses Mal jedoch stärker durch die Kommunen (Velberter Zeitung 1930, Nr. 294 v. 28. Oktober, 7; Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 332 v. 6. Dezember, 7). All das war Teil der oben schon erörterten Winterhilfsaktionen. Auch einzelne Unternehmen trugen schon früh freiwillig ihr Scherflein bei: Die Belegschaft der Porzellanfabrik Tirschenreuth leistete etwa freiwillig Überstunden, deren Lohn wurde dann dem Coburger Winterhilfswerk gespendet (Coburger Zeitung 1931, Nr. 258 v. 3. November, 3). Diese notmildernden Initiativen waren nicht nur Vorläufer, sondern zugleich unausgesprochener Teil der nationalsozialistischen WHW-Propaganda seit Oktober 1933. Nothilfe war allseits akzeptiert, so dass der Appell des NS-Staates Gehorsam auch bei denen fand, die dem Regime reservierter gegenüberstanden.

Das Winterhilfswerk verkörperte im Sinne der neuen Machthaber eine völkische Opfergemeinschaft. Es ging um „Nationale Solidarität“, „blutmäßig ewig begründet“, in bewusster Abgrenzung zur „internationalen marxistischen Solidarität“, so der NSDAP-Parteivorsitzende (Adolf Hitler, „Wir wollen die lebendige nationale Solidarität des deutschen Volkes aufbauen!“, in: Führer-Reden zum Winterhilfswerk 1933-1936, Berlin 1937, 4-5, hier 4). An die Stelle von staatlich garantierten Rechten trat Unterstützung im Einklang mit politischem Wohlverhalten (Florian Wimmer, Die völkische Ordnung von Armut. Kommunale Sozialpolitik im nationalsozialistischen München, Göttingen 2014, insb. 131-153). Die im späten 19. Jahrhundert intensivierte Abkehr von der Privatwohltätigkeit wurde damit ansatzweise umgekehrt (Florian Tennstedt, Wohltat und Interesse. Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, die Weimarer Vorgeschichte und ihre Instrumentalisierung durch das NS-Regime, Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, 157-180, hier 157). Aufgrund ihrer Dauerpräsenz während des Winterhalbjahres war das WHW zugleich einer der wichtigsten, wahrscheinlich aber der wichtigste Trommler für die Volksgemeinschaftsideologie. Es zielte auf gesellschaftliche Integration, zumal des Bürgertums und der Arbeiterschaft, war Ausdruck des stets offensiv propagierten „Sozialismus“ der NSDAP und lenkte NS-Aktivisten nach dem Ende der „nationalen Revolution“ auf fordernde und beschäftigende Tätigkeitsfelder. Dazu bediente es sich einer zwar ebenfalls angelegten, in Umfang, Intensität und Totalität aber bisher nur aus Wahlkämpfen bekannten Propaganda.

Empathie, Gemeinsinn, Opfer: Totale Propaganda für die Winterhilfe

Vor mehr als neunzig Jahren kam Propaganda noch direkt, noch ungebrochen daher. Der Begriff war positiv besetzt, das Nebeneinander von Propaganda und Volksaufklärung erschien logisch, nicht nur bei den akademischen Eliten mit ihrem steten Drang nach wissensbasierter Optimierung und Massenführung. Für den angestrebten Gleichklang verwandte die teils im Reichstag residierende Leitungsgruppe der Winterhilfe eine breite Palette unterschiedlicher Formen, um Spenden zu akquirieren, systemische Integration und Gehorsam zu gewährleisten, das Publikum auf eine Aufgabe zu lenken. Wir gehen diese nun Punkt für Punkt durch, wissend, dass Einzelinstrumente nicht die monumentale Wucht des Orchesters widerspiegeln. Darmstadts Bürgermeister Karl Wilhelm Haug (1904-1940), zugleich Gauführer des Winterhilfswerks in Hessen-Nassau, betonte entsprechend: „Es gibt keinen im weiten Vaterland, der sich der Größe und der Wucht des Winterhilfswerks entziehen kann“. Der „unablässige Appell“ sei jedoch Ausdruck der bedrückenden Not und des unbeschreiblichen Elends, daher unbedingt geboten (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4).

Die Struktur des Winterhilfswerks war an sich überschaubar. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt führte, die Organisationen der NSDAP, der noch verbliebenen freien Wohlfahrtsverbände, der Behörden und der Wirtschaftsverbände unterstützten. Unter dem Motto „Kampf gegen Hunger und Kälte“ wurden monatliche Haus- und Straßensammlungen durchgeführt, ebenso allmonatliche Eintopfessen. Weit wichtiger waren faktische Zwangsabgaben, einerseits von der Einkommensteuer, anderseits von Körperschaftssteuer. Dafür erhielten Beschäftigte, Selbständige und Unternehmen (Tür-)Plaketten, durch die sie von weiteren Spenden entbunden waren. Hinzu kamen umfassende Sachspenden, anfangs vor allem Anteile an der eingebrachten Ernte, zudem Abgaben von Handwerkern, Groß- und Kleinhändlern. Hinzu trat eine Lotterie, Wohlfahrtsmarken und zahlreiche weitere, vor Ort zu entwickelnde und durchzuführende Veranstaltungen. Arbeitslose, Fürsorgeempfänger und Kleinrentner erhielten ergänzende finanzielle Zuwendungen, Sachspenden, verbilligte Nahrungsmittel und Heizmaterialien, hinzu traten Notspeisungen, Wärmestuben, aber auch Freikarten für kulturelle Aktivitäten. Im typisch nationalsozialistischen Superlativ war all das „die grandioseste soziale Organisation dieses Jahres“ (Josef Goebbels, Das deutsche Volk – eine große Not- und Brotgemeinschaft, in: Julius Streicher (Hg.), 1933. Das Jahr der Deutschen, Berlin 1934, 217-226, hier 226). Der verwaltende Sozialstaat trat in den Hintergrund, das propagandistisch nutzbare Winterhilfswerk in den Vordergrund.

Emotionale Standardpropaganda

Grundbedürfnisse: Hunger und Kälte gemeinsam brechen (Calwer Tagblatt 1933, Nr. 239 v. 13. Oktober, 4 (l.); Märkischer Landbote 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 4)

Die Winterhilfswerkpropaganda nutzte von Beginn an Bildklischees, die möglichst breite Schichten ansprachen und nicht explizit nationalsozialistisch waren. Kernpunkte war die Benennung der Not durch Verweis auf allseits nachvollziehbare Grundbedürfnisse. Der Grundtenor des Kampfes gegen Hunger und Kälte wurde aber zugleich in einen Handlungsrahmen gestellt. Brot und Kohle waren die Gegenmittel, Nothilfe par excellence. Jeder nutzte sie, fast jeder konnte sie bezahlen, selbst Bezieher kleiner Einkommen. Andere Anzeigen verwiesen auf positive Folgen einer Spende: Sie schützte die Grundzelle der Gemeinschaft, die Familie, hielt gesellschaftliche Desintegration und mögliche Kriminalität in Grenzen. Dies war horizontale Propaganda par excellence.

Kinder als propagandistischer Blickfang (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 255 v. 1. November, 4 (l.); Calwer Tagblatt 1933, Nr. 254 v. 31. Oktober, 3)

Dieses emotionale Anknüpfen an Grundbedürfnisse und ihre Befriedigung wurde durch den Einsatz von Kinderbildern gezielt unterstützt. Brot, Milch und Kartoffeln dienten dem Gedeihen, dem Wachstum der nächsten Generation, damals zumeist als Zukunft verstanden. Anders als im Ersten Weltkrieg gab es während der Weltwirtschaftskrise keine größeren Entwicklungsrückstände der Schulkinder – ein Ausdruck gezielten Verzichts und gezielter Förderung trotz immenser Not. Die emotionale Standardpropaganda konnte auf einen gesellschaftlichen Konsens setzen, auf Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe als Erziehungsideal, als Ausdruck eines entwickelten Menschen. Wer konnte gegen derartige Hilfe sein? Wer wollte sein Herz und seine Börse verschließen? In einfacher Form appellierten diese Zeichnungen an den Sinn fürs Heilige, an ein Zuhause für alle, an Gutes, Gerechtes, Wahres (Ellul, 2021, 50).

Parolen: Appelle für die Winterhilfe

Und doch unterschied sich die Winterhilfe-Propaganda von Beginn an von damals gängigen Spendenkampagnen: Dafür stehen beispielhaft die zahlreichen agitierenden Parolen. Sie standen in einer Reihe mit den um Zustimmung zum Völkerbundaustritt und zur Einheitsliste der NSDAP bemühten Parolen bei der Reichstagswahl am 12. November 1933. Die Leistungen des „Volkskanzlers“ Adolf Hitler wurden darin verdichtet hervorgehoben, der merkliche Abbau der Arbeitslosigkeit betont, vor allem aber die zunehmende Einheit des deutschen Volkes beschworen. Parolen argumentierten nicht, zielten auf den unmittelbaren Eindruck und Reflex. Allerdings gab es auch zahlreiche warnende, ja drohende Parolen: Neinsager wurden als Landesverräter beschimpft, damit Bekenntnisdruck aufgebaut. Allerdings bauten auch die Parolen Brücken, denn man konzedierte Verärgerung über den doch langsamen wirtschaftspolitischen Aufbau. Doch gemeinsam würde man weiter durchstarten, nur Geduld.

Bekenntnisdruck während der Reichstagswahl und Volksabstimmung am 12. November 1933 (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 264 v. 11. November, 3 (o.) und 4)

Die im Oktober einsetzende agitierende Parolenpropaganda für die Winterhilfe unterstrich zweierlei: Zum einen koppelte sie die mit Standardklischees werbende Kampagne fest an die federführende Einheitspartei, etwa durch die Verbindung von NSDAP-Liedgut mit Kampagnenparolen: „Die Reihen fest geschlossen zum Kampf gegen Hunger und Kälte, für Arbeit und Brot“ (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 269 v. 16. November, 4). Zum anderen erlaubten viele Parolen auch, den Bekenntnisdruck auf die Spendenbereitschaft auszuweiten: Plakativ hämmerte es: „Keine faulen Ausreden! Spende zum Kampf gegen Hunger und Kälte!“ (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 263 v. 10. November, 2). Derartiger Parolendruck ebbte langsam ab, machte sich bei Kauf und Tragen der Plaketten und Abzeichen aber stets bemerkbar: „Jeder muß die Hausplakette erworben haben!“ (Wilhelmsburger Zeitung 1933, Nr. 272 v. 20. November, 7). Es handelte sich gleichermaßen um politische und soziologische Propaganda.

Der vereinzelte Mensch als Schreckensvorstellung (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 1 v. 2. Januar, 7)

Doch der Tenor der Propaganda veränderte sich, integrative und soziologische Propaganda gewannen rasch die Oberhand. Das Winterhilfswerk, die Nationale Volkswohlfahrt, sie boten Mitmachmöglichkeiten unter dem damals zeitweilig nicht mehr möglichen Parteieintritt. Wer ehrenamtlich mitarbeitete, verpasste nicht den Anschluss an die neue Zeit, hielt das Zukunftsbanner fest in seinen Händen. Dazu diente auch die Chimäre des „Sozialismus der Tat“, die den „Marxismus“ verdammte, den Anhängern der Arbeiterbewegung aber gleichwohl etwas bot. Schließlich hatten Sozialdemokraten diesen Begriff lange an das eigene Banner geheftet (Das Ergebnis des Parteitags, Die Gleichheit 28, 1917, Nr. 3 v. 9. November, 17-18, hier 17; Freiheit 1920, Nr. 216 v. 9. Juni, 2; Vorwärts 1926, Nr. 549 v. 21. November, 3), galt vielen Genossen gar der Einkauf in der Konsumgenossenschaft oder der Alkoholverzicht als „Sozialismus der Tat“ (Vorwärts 1930, Nr. 313 v. 8. Juli, 6; Wilhelm Sollmann, Sozialismus der Tat, Berlin 1926). Auch die Winterhilfe der SPD stand vielerorts unter diesem dann von den Nationalsozialisten gekaperten Begriff (Volksstimme [Hagen] 1931, Nr. 24 v. 29. Januar, 8): „Sozialismus der Tat ist, wenn du dein Brot mit den Armen brichst“ (Volksblatt [Detmold] 1931, Nr. 145 v. 25. Juni, 2). Ähnliches galt für die KPD, die dergestalt den Aufbau in der UdSSR und den Fünfjahresplan titulierte (Bergische Volksstimme 1931, Nr. 78 v. 2. April, 5; ebd., Nr. 80 v. 4. April, 4). Nehmen wir also Abstand zu den vermeintlich klaren Linien der Zeit, blicken wir auf Überlappungen, die diese Propaganda instrumentell nutzte.

„Sozialismus der Tat” oder Abbau rechtlich garantierter Fürsorgeansprüche (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 233 v. 10. Oktober, 8)

Nationalsozialistischer „Sozialismus der Tat“ war eine Chiffre für fremdbestimmten Aktivismus zugunsten von Arbeitern, von Rentnern und Notleidenden. Er hatte wenig gemein mit einem rechtsbasierten Sozialstaat, hängte Anspruchsbedürftige vielmehr an den Tropf der Parteiorganisation. Das spiegelte sich in weiteren Parolen, die etwa die Familie als Hort gegen den „Bolschewismus“ positionierten. Selbsthilfe auf Grundlage von Blutsbanden, völkische Verantwortung allein für rassisch Gleiche – das hatte mit Solidarität, sozialer Umverteilung und Rechtsansprüchen kaum etwas zu tun.

Schreckgespenst Bolschewismus, Volkshort Familie (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 4)

Die Parolenpropaganda ebbte gegen Ende des Jahres zunehmend ab. Die Reichstagswahl hatte bei einer Wahlbeteiligung von 95,2 Prozent 92,1 Prozent Zustimmung ergeben. Das NS-Regime sah darin nicht zu Unrecht eine Bestätigung, verwies in der Folge immer wieder auf die neue Einigkeit der Deutschen. Gemeinschaftsvorstellungen drangen nun vor: „Ein Volk von Brüdern trotz allen Stürmen!“ (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 7). Zugleich aber forderte man eine geistige Wende, eine Selbstbesinnung für den „Volksgenossen“: „Eßt keinen Bissen Brot / ohne Opfer für die Not! Jeder arme Volksgenosse soll der Ehrengast der Nation sein!“ (Barop-Hombruchsches Volksblatt 1933, Nr. 284 v. 4. Dezember, 6)

Sachspenden als Ausdruck der Hilfsgemeinschaft

Das schöne Bild der Hilfe: Private Kinderspeisung eines Berliner Textilunternehmens (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1523)

Die Winterhilfe ermöglichte zahlreiche direkte Belege für aktive Hilfe. Sie wurde in Bilder umgesetzt, Abbilder der Entschlossenheit der NS-Regierungen, die Not zu wenden. So schuf man Vertrauen, motivierte zu einer „beispiellosen Opferbereitschaft und Spendenfreudigkeit“ (Winterhilfe, Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1350). Gespeiste, freudig zulangende, die Zukunft verkörpernde Kinder waren ein gern gewähltes Motiv, schulische Ergänzungsangebote und Notspeisungen suggerierten existenzielle Sicherheit, vielleicht eine Zukunft. Derart integrierende und horizontale Propaganda knüpfte nicht nur ein Band zwischen Spendern und Machern, sondern auch eines zwischen Spendern und Spendenempfängern. Die Hilfe kam offenkundig an, zauberte den Kleinen ein Lächeln ins Antlitz. Solche Bilder waren zugleich rationale Propaganda, war doch der Ertrag der eigenen Spende scheinbar direkt sichtbar.

Jedem ein Bett: Aufbereitete Matratzen, desinfiziert und „vergast“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 2)

In den ersten Monaten der Winterhilfekampagne nahmen Bilder solcher reziproken Gaben einen breiten Raum ein. Entsprechend bedeutsam waren Sachspenden. Das obere Foto stammte aus einer der vielen lokal eingerichteten Werkstätten des Winterhilfswerkes. Dort wurden Kleider, Schuhe, Bettzeug, Möbel und Matratzen begutachtet, repariert und im Wortsinne zugeschnitten. In Frankfurt/M. waren ca. 500 Personen beschäftigt, meist für eine geringe Entschädigung und Essen. Besser als herumzuhocken. In den Nähstuben der NS-Frauenschaft oder der NSV arbeiteten die meisten unentgeltlich. Eine Spende ohne Geldzahlung (Täglich 500 Paar Schuhe, 150 Pfund Wäsche, Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 2). In den einschlägigen Zeitungsberichten standen die Koppelwirkungen im Vordergrund, kamen durch Sachspenden doch viele Arbeitslose wieder in Lohn und Brot, hatten wieder einen geringen Unterhalt. Spenden halfen augenscheinlich die niederliegende Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Begrenzte Sicherheit für den Winter: Kartoffelspenden für Bedürftige (Neueste Zeitung 1933, Nr. 258 v. 18. November, 8)

Propagandistisch wichtiger noch waren die umfangreichen Lebensmittelspenden. Kartoffeln, damals mit Abstand wichtigstes Nahrungsmittel, wurden wieder und wieder aus dem Umland in die Städte gebracht, wo darbende Zeitgenossen die ihnen zustehenden zwei Zusatzzentner erwartungsfroh und dankbar in Empfang nahmen („Wir haben die Kartoffeln gern für Euch gesammelt!“, Neueste Zeitung 1933, Nr. 276 v. 25. November, 9; Edmund Hahn, Auf Kartoffelfahrt für das WHW, Neueste Zeitung 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5). Neben die Bilder traten Berichte und auch Schüleraufsätze, denn kostenlose Arbeit der Schulkinder half Transport- und Vertriebskosten zu begrenzen (… in keiner Not uns trennen …, Neueste Zeitung 1933, Nr. 281 v. 1. Dezember, 3). Die berufsständischen Organisationen wirkten im Hintergrund gezielt auf ihre Mitglieder ein, Landwirte, Einzelhändler und Bäcker spendeten vielfach publikumswirksam ihre Massengüter. Arbeitslose, Fürsorgeempfänger und Rentner standen willig für verbilligte Roggenbrote oder für Brotgutscheine an (3-Pfund-Brot für 30 Pfennig, Neueste Zeitung 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 3). Symbolisch noch stärker aufgeladen wurde am Jahresende die Verteilung von Fleisch. Viehhändler spendeten Lebendvieh (Weihnachtsspende des Viehhandels, Neueste Zeitung 1933, Nr. 295 v. 18. Dezember, 4), Metzger offerierten Frischfleisch. Auch wenn die Masse der Weihnachtsgaben gekauft wurde, die Winterhilfe Teil des Geldkreislaufs war, standen Bilder von Spendern und Empfängern immer wieder in den Zeitungen – und zeigten, dass etwas getan wurde, dass die neue Regierung den Selbstbehauptungswillen der Deutschen verkörperte.

Fleisch für Weihnachten: Schweinehälften und arbeitslose Empfänger im oberschlesischen Gleiwitz (Oberschlesien im Bild 1934, Nr. 4 v. 4. Januar, 8)

Die neue Sichtbarkeit der Spender (und Nichtspender)

Die Winterhilfe war eine Massenorganisation mit etwa ein bis anderthalb Millionen Helfern und einer hohen zweistelligen Millionenzahl von Spendern. Die Chance, dass der Einzelne in der Masse untergehen konnte, seinen Beitrag nicht leisten musste, war grundsätzlich hoch, zumal das Hilfswerk nominell freiwillig war. Hiergegen wirkte die Propaganda. Sie präsentierte nicht nur die Aktivitäten der Winterhilfe, sondern machte auch die Spender grundsätzlich sichtbar. Private Spendengaben wurden öffentlich – und damit ebenso die Nichtgabe.

Selbstkennzeichnung als Helfer: Abzeichen und Sammelplakette (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 255 v. 6. November, 4; ebd. 1934, Nr. 4 v. 5. Januar, 12)

Dazu dienten einerseits Abzeichen, anderseits die schon erwähnten Türplaketten. Die Bürokratie übernahm, ihr gegenüber schien Gehorsam angebracht: „Spender, die monatlich einen bestimmten und angemessenen Beitrag zeichnen, erhalten […] eine kleine Palette, mit der Aufschrift ‚Wir helfen‘, die sie an ihrer Wohnungstür befestigen können und die sie von weiteren Sammlungen befreit. Die Plakette wechselt von Monat zu Monat in Farbe und Aufdruck“ (Plaketten für die Spender, Calwer Tagblatt 1933, Nr. 239 v. 13. Oktober, 2). Abzeichen wurden ab Oktober 1933 ergänzend verkauft, zwanzig Pfennig das Stück. Mottonadeln machten den Anfang, doch die NSV besserte nach, investierte in Design und Form (Wolfgang Gatzka, WHW-Abzeichen. Ein Führer durch das interessante Sammelgebiet der Serien des Winter-Hilfs-Werks von 1933 bis 1945, München 1981). Im Dezember 1933 wurde während der Straßensammlung als erstes Motivabzeichen eine Christrose verkauft, 16 Millionen wurden hergestellt und abgesetzt. Sie schmückte, wurde offen getragen, zeigte den Sammlern somit, wer noch nicht gespendet hatte. Seither kamen immer wieder neue, immer wieder andere Abzeichen auf, entstand eine Sammlerszene für die letztlich ca. 8000 Abzeichen. Dieser Wechsel war Teil der Alltagspropaganda, erlaubte immer wieder neue Narrative und Themenstellungen, umrahmte das Immergleiche des Spendens immer wieder neu. Zugleich aber machte es Spender sichtbar, visualisierte das Mitziehen, die Teilhabe. Wer jedoch während der Straßensammlungen kein Abzeichen trug, wer keine Türplakette besaß, wurde von den zahllosen Sammlern immer wieder angegangen, wurde in Listen erfasst, hatte Rückfragen zu beantworten. Der freiwillige Helfer, der von Tür zu Tür ging, musste sich erst einmal selbst rechtfertigen, seine Listen, seine Hausbücher waren Ausdruck seiner Redlichkeit, der Präzision seiner Sammlung. Doch zugleich gewann die NSV so einen Überblick über die Spendenbereitschaft der Einzelnen, der Hausgemeinschaft, der Nachbarschaften. Rationale Verfahren einer arbeitsteiligen Gesellschaft erforderten Anpassung und Gehorsam.

Im Kontrollblick: Türplakette des Winterhilfswerks für den Monat Dezember und freiwilliger Helfer bei der Haussammlung (Neueste Zeitung 1933, Nr. 10 v. 12. Januar, 3 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5)

Die Winterhilfe nutzte anfangs zudem die seit langem bekannte und auch übliche Namensnennung in gedruckten Spendenlisten in den Zeitungen: Tue Gutes und sprich darüber. Das galt insbesondere für ergänzende Spenden, mit denen man sich hervorheben konnte, die man zahlte, um Zweifel zu zerstreuen. Das galt später insbesondere für Unternehmen, auch wenn deren prozentuale Belastung durch die seit Juni 1933 bestehende „Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft“ auf ein nicht allzu bedrückendes Maß reduziert werden konnte. Und doch, Spenden konnten verglichen werden, konnten freundliche, aber auch drängende Rückfragen nach sich ziehen. Hinzu traten lokale und regionale Ehrenzeichen, gesonderte Anstecker, nach Spendenhöhe voneinander abgestuft. Vorreiter fanden sich immer, denn „Lindern der Not muß zur Wahrheit für alle werden“ (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr., 247 v. 30. Oktober, 3).

Der Vergleich setzte Dynamik frei, auch zwischen den unterschiedlichen NS-Organisationen, die jeweils bestimmte Straßensammlungen durchzuführen hatten. Jede gesellschaftliche Gruppe hatte ihren Beitrag zu leisten, nicht nur „Opferwillen“, sondern auch „Arbeitswillen“ (Student und Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 289 v. 16. Dezember, 3) zu demonstrieren. Innerhalb der aktiven Gruppen gab es einen Wettbewerb der einzelnen Sammler, denn hohe Erträge mündeten in Lob und Ehrerbietungen. Das galt ebenso für herausragende Leistungen, etwa den Aktivismus der Besatzung des Fischdampfers „Horst Wessel“, der als „Beweis nordischen Menschentums und germanischer Weltanschauung“ präsentiert wurde (Beispiel wahrhaft deutschen Idealismus, Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 279 v. 29. November, 2). Wer wollte sich nicht positiv von seinen Volksgenossen abheben, schon früh dem Führer entgegenarbeiten? Jede/r konnte mitarbeiten, war in einen imaginären Wettstreit eingebunden: Eine mithelfende Erstklässlerin dichtete: „Hemdchen, Rock und Bettbezug / wird da hergestellt im Flug. / Munter regen sich ihre Hände, / daß sich Vieler Schicksal wende“ (Gerda Hartmann, Winterhilfe, Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 3). Mutter hatte gewiss geholfen, zeigte allen das abgedruckte Gedicht ihrer Gerda. Sichtbarkeit erhöhte die Propagandawirkung erheblich, denn ein stabiles Gleichgewicht war in einer heterogenen Gesellschaft kaum möglich. Die stetig steigenden Erträge des Winterhilfswerkes gründeten auf dieser propagandistisch geschürten Präsenz der Anderen. Auch Herr und Frau Knätschrich konnten sich dieser Sichtbarkeit nicht entziehen, standen daher als Negativfolien der Volksgemeinschaft im Rampenlicht der Propaganda.

Gemeinschaftsaktionen für die Winterhilfe

Weihestätte auf dem Rathausmarkt in Hamburg (damals Adolf-Hitler-Platz) (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 6 (l.); Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 17 v. 18. Januar, Abendausg., 3)

Das Winterhilfswerk schuf regelmäßig virtuelle Ereignisse, um diese propagandistisch zu nutzen, soziologisch, integrativ, horizontal. Ein markantes Beispiel dafür war eine Opfersäule auf dem Hamburger Rathausplatz, in deren Opferschale „allabendlich 3 Stunden lang ein Opferfeuer“ lodern sollte. Das passte zur erhabenen Feuermystik des Regimes, zu Fackelzügen und Bücherverbrennungen. Doch selbst die gelenkte Presse konnte nicht verhindern, dass mehr über die misslungene Benzinführung als über das so wichtige Opfer berichtet wurde, nachdem das Anzünden am Silvesterabend recht kläglich scheiterte. Es dauerte zwei Wochen bis man in der Schale zehn große Petroleumfackeln zusammengestellt hatte, die dann wahrlich Nacht für Nacht je drei Stunden brannten. Das Thema aber war gesetzt, ein wenig Schadenfreude störte nicht die Spendenbereitschaft.

Winterpfennige rollen gegen die Not (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 29 v. 5. Februar, 3)

Historisch weiter zurück griffen Heidelberger NSV-Mitglieder. Sie präsentierten den „Winterpfennig“ mannshoch, rollten ihn durch Heidelbergs Innenstadt. Ziel war es, Käufer für eine Zusatzspende beim Einkaufen zu motivieren, sei es durch Aufrunden, sei es durch die Kleingeldspende in eigens aufgestellten Büchsen. Eine Woche vor Rosenmontag hieß es: „Riesige Winterhilfsplaketten wurden von Männern in altdeutschen, oberbayerischen Trachten durch die Straßen der Stadt gerollt. Den rollenden Plaketten ging eine Trommlerschar von Hitlerjungen voraus, die die nötige Aufmerksamkeit auf den Propagandazug lenkten. Herren in Uniform der Freiheitskriege und der Landsknechte mit der Sammelbüchse verkauften die duftigen Spitzenrosetten. Auch Damen in reizenden Rokokokostümen boten die Plaketten zum Verkauf; ihnen konnte man natürlich noch weniger widerstehen“ (Heidelbergs Propagandazug für die Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 29 v. 5. Februar, 3). Ähnliches gab es in vielen Städten, mal rollten die Jungs von der Hitler-Jugend den Winter-Pfennig, mal war er Teil von Autocorsos (Schwerter Zeitung 1934, Nr. 25 v. 30. Januar, 11; Oberschlesien im Bild 1934, Nr. 4 v. 4. Januar, 4). Das galt ähnlich auch für die SA, deren Männer gerne neue Aufgaben wahrnahmen, nachdem ihr Schlagwerk kaum mehr nachgefragt, kaum mehr erforderlich war. Pferdefuhrwerke und Lastwagen holten die Sachspenden vor Ort ab, ein Trompeter informierte über die Ankunft, so wie ansonsten die Glocke des Altwarenhändlers.

Sachspendensammlung der SA für das Winterhilfswerk in Berlin 1933 (Streicher (Hg.), 1934, 445)

Selbstverständlich verbreitete sich die Winterhilfepropaganda auch in der kommerziellen Werbesphäre: Schaufensterdekorateure rangen um den schönsten Entwurf, größere Geschäfte reservierten damals immer häufiger gesonderte Schaufenster für die Propaganda des NS-Regimes. Sie hoben den Opfergedanken hervor, stellten die Sammlungen nach, enthielten vielfach lediglich die Standardmotive, nun allerdings in Plakatgröße.

Schaufensterwerbung für den „Winterpfennig“, eines Zusatzopfers beim Einkauf (Neueste Zeitung 1933, Nr. 280 v. 30. November, 7)

Die Winterhilfeaktivisten setzten weitere propagandaträchtige Ideen spendenwirksam um. Den Winterpfennig gab es auch als Siegelmarke für Briefe, ebenso Wohlfahrtsmarken: „Dein Briefzoll für die Bedürftigen“ (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 18 v. 23. Januar, 9). Da durften stimmungsvolle „Weihnachtsgabenkarten“ nicht fehlen (Neueste Zeitung 1933, Nr. 292 v. 14. Dezember, 4). Kurz vor Weihnachten begann auch die Winterhilfslotterie, die zwar nur relativ geringe Gewinne ausschütte, die aber breit propagiert wurde und deren Gewinner gerne vorbildhaft lächelten (Neueste Zeitung 1933, Nr. 298 v. 21. Dezember, 3; Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 13. Januar, 12).

Viele Aktionen hatten nur begrenzten Erfolg, wurden dennoch präsentiert, dienten der integrativen Propaganda: Man denke an den Zwillingspfennig, bei dem ein Pfennig des Käufers vom Verkäufer verdoppelt wurde (Neueste Zeitung 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 5). Gerade in den ersten Monaten stellten sich auch viele Sportvereine und Schausteller in den Dienst der Winterhilfe, denn dadurch erreichten sie größere Resonanz für Boxwettkämpfe, Fußballspiele und Radrennen (Ruhr- und Emscherzeitung 1933, Nr. 322 v. 22. November, 5; zur Kritik solcher Aktionen s. Steinfurter Kreisblatt 1933, Nr. 282 v. 1. Dezember, 6). Zielgruppe um Zielgruppe wurde anvisiert, dabei der Rückbezug auf die Einheit im Ersten Weltkrieg nicht gescheut. In den Schulen durfte gegen Opfergaben wieder genagelt werden, die Schilder waren mit einem werbenden HJ-Emblem versehen (Neueste Zeitung 1933, Nr. 259 v. 4. November, 1). Und zugleich lagen in den Postämtern große Opferbücher aus, in die man sich für 50 Pfennig und mehr eintragen konnte (Neueste Zeitung 1934, Nr. 14 v. 17. Januar, 3). Immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens, des Amüsements und der Wochenendvergnügungen wurden von der Winterhilfswerkpropaganda in Beschlag genommen. Die weitgehend zerschlagene Opposition verstand diese immer wieder variierte, immer wieder erneuerten Aktivitäten als Widerhall abnehmender Spendenwilligkeit. Sie verkannte, dass das NS-Regime lediglich den Ansprüchen einer totalen Propaganda zu entsprechen suchte.

Weihnachtsopfer in christlicher und kommerzieller Tradition

Wir wissen bereits, dass die propagandistische Präsentation der Spendenforderungen keiner Vorpropaganda bedurfte, denn diese hatten Parteien, die freien Wohlfahrtsverbände und zahllose Kommunen mit ihren lokalen Aktivitäten bereits geleistet. Sie umzudefinieren war leicht, denn konkurrierende Aktivitäten waren abseits privater Hilfe kaum vorhanden – auch wenn es noch zwei Jahre dauern sollte, bis dem Winterhilfswerk auch offiziell ein Exklusivrecht für die Sammlung von Oktober bis März eingeräumt wurde. Am Jahresende 1933 konnte die Propaganda für das Winterhilfswerk zudem von der doppelten Tradition des Weihnachtsfestes zehren: Als christliches Hochfest verwies es auf die Armut von Jesus, Maria und Josef, auf die Pflicht zur Spende für unschuldig in Not geratene. Als Wirtschaftsfaktor war Weihnachten spätestens in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in den Städten zu einem süßen, mit Konsumgütergaben zelebrierten Gabentauschzwang mutiert. Sachspenden nahmen die Form von Pfundspenden an, denn der Sehnsucht nach Bescherung nicht nur der Kinder musste entsprochen werden. Dafür nutzte das Winterhilfswerk vielfach Fotos einschlägiger Weihnachtsfeiern, setzte aber vorrangig auf massenhaft verbreitete und stetig wiederholte Zeichnungen. Wie die Standardklischees gründeten sie auf Narrativen abseits der NS-Ideologie, auf geteilten Mythen.

Geschenke und Bescherung für alle (Neckar-Bote 1933, Nr. 293 v. 15. Dezember, 5 (l.); Harburger Anzeigen und Nachrichten 1933, Nr. 68 v. 20. Dezember, 2)

Die Klischees unterstrichen unausgesprochen, dass es nicht um nichtssagende Geschenke der urbanen Konsumkultur ging, sondern um elementare Gaben, um „Nahrung, Kleidung und Wärme für die Winterkälte“ (Weihnachten in jedem deutschen Haus!, Der Landbote 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5). Die Propaganda reicherte die Weihnachtsbilder gezielt mit weiteren Inhalten an: Weihnachten spiegele „Volksnot“ und dagegen musste im gängigen Jargon dieser Zeit gekämpft werden. Standen alle zusammen, so war deutsche Weihnacht möglich, das Zusammenstehen um den einenden Baum. Mochten die Spenden und Gaben auch noch klein sein, so konnten sie doch die Depression brechen, ein neues Weihnachtsgefühl bewirken. Immer „noch ist Hunger, Kälte, Not, überall aber Glaube! Glaube an den Nächsten, an die Brüder, an die Schwestern, Glaube an den Volksgenossen, der für ihn mit dem Leben eintrat. Und wenn jetzt die Lichter aufglänzen in den Straßen, in den Häusern, überall, so braucht keiner mehr mit Bangen an das Fest denken, so soll keiner mehr bitter vor all der Freude stehen, denn in jedem deutschen Haus wird Weihnachten sein“ (Die Winterhilfe zu Weihnachten!, Die Glocke 1933, Nr. 290 v. 16. Dezember, 11). Weihnachten war die „erste große Etappe“ in einem langwährenden Kampf, die Sprache verwies zurück auf die „Liebesgaben“ des Weltkrieges, auf das Augusterlebnis der wehrhaften Nation. Die Sprache klang warm, war aber bereits militärisch durchzogen, Vorbote des Kommenden mit dem „Volksopfer“ 1944/45 als ultimative Gabe der letzten Habseligkeiten. Noch war davon nicht die Rede, noch ging es um „eine selbstverständliche Pflicht […], damit auch diese armen Volksgenossen ihr Weihnachtsfest haben“ (Neckar-Bote 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 4).

Opfer als weihnachtliche Pflicht (Hakenkreuzbanner 1933, Nr. 356 v. 14. Dezember, 5 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 290 v. 12. Dezember, 3)

Kerzen und Tannenzweige prägten viele Propagandamotive, das Opfer wurde gefordert, christliche Traditionen halfen. Für Weihnachten konstitutive Bildwelten, etwa Stall und Herberge, wurden vom nationalsozialistischen Hilfswerk genutzt. Wer konnte, sollte zeitlich befristete Patenschaften für Kinder Bedürftiger übernehmen, Kleidung und Nahrung für die in der Obhut ihrer Eltern verbleibenden Kleinen stellen. Dies sei „deutscher Sozialismus“: „Der Nationalsozialismus führt den Menschen zum Menschen, den Volksgenossen zum deutschen Volksgenossen und bejaht damit die unauflösliche Verbundenheit dazu, die eines Blutes sind“ (Patenschaft für das Winterhilfswerk, Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 293 v. 21. Dezember, 3). Dies bedeutete natürlich nicht nur Zusammenhalt, sondern auch gezielten Ausschluss, auch wenn Juden – vornehmlich mit Rücksicht auf das Ausland – erst nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 aus dem Hilfswerk ausgegrenzt wurden ([Werner] Hütwohl, Familienfürsorge nach nationalsozialistischen Grundsätzen, Herner Anzeiger 1934, Nr. 131 v. 8. Juni, 6; Aufbau der Jüdischen Winterhilfe, Jüdische Allgemeine Zeitung 15, 1935, Nr. 42, 1). Im Umfeld längst laufender Judenverfolgung brüstete man sich 1933/34 der „Großzügigkeit“, hatte man doch – so die rationale Propaganda – allein in Groß-Berlin 11.041 Juden unterstützt (Bergisch-Märkische Zeitung 1934, Nr. 181 v. 4. Juli, 5).

Christliche Bezüge: Sammelbüchsen als Adventskerzen und Verweis auf den Bruder (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 3 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 289 v. 11. Dezember, 5)

Die Winterhilfswerkpropaganda nutzte im Dezember 1933 christliche Symbole, weil diese Vorpropaganda im Ellulschen Sinne bildeten, zugleich aber noch gängige Emotionen hervorriefen. Adventskerzen und Sammelbüchsen verschwammen, die Parole „Laß Deinen Bruder nicht Hungern“ verwies auf das Gebot der Nächstenliebe. Die zweite Phase des Winterhilfswerkes wurde Ende 1933 sowohl vom nationalsozialistischen Reichsbischof der „Deutschen Christen“ Ludwig Müller (1883-1945) gefeiert als auch vom katholischen Erzbischof Adolf Bertram (1859-1945) begrüßt (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 304 v. 30. Dezember, 9; Heidelberger Volkszeitung 1934, Nr. 4 v. 5. Januar, 12). Dieser geborgte Segen lag aber auch an der noch in den Anfängen liegenden Organisation des Winterhilfswerks selbst. Die christlichen Bezüge wurden in den Folgejahren zunehmend gekappt.

Antreiben zur Selbstverpflichtung: Institutionalisierung des Opfers

Opfer als Selbstverpflichtung, als Ergänzung der Arbeit (Hamburger Anzeigen und Nachrichten 1933, Nr. 72 v. 27. Dezember, 12)

Ende Dezember 1933 wurde eine neue Phase des Winterhilfswerkes eingeläutet. Unter dem alten Leitgedanken, dem Kampf gegen Hunger und Kälte, hieß es nun „Aufwärts aus eigener Kraft“. Man habe, so Joseph Goebbels, einen ersten Sieg erreicht, doch nun sei der Helm wieder festzubinden: „Das neue Jahr soll nicht mit Böllerei und ausgelassenem Toben begrüßt werden, sondern mit dem frohen Bekenntnis zur Volksgemeinschaft. Diesem Bekenntnis müßt ihr durch freudige Opfer Ausdruck geben“ (Aufwärts aus eigener Kraft, in: Streicher (Hg.), 1934, 449-450, hier 450). Das Winterhilfswerk habe viel erreicht, doch noch nicht genug: „Kälte und Hunger drohen weiter, darum müssen wir auch weiter helfen und opfern“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 300 v. 23. Dezember, 12). Gedacht als Maßnahme im Krisenwinter, wurde das Winterhilfswerk fest institutionalisiert, auf Dauer gestellt.

Erinnerung und Aufforderung (Bergheimer Zeitung 1934, Nr. 22 v. 7. Februar, 1; ebd., Nr. 30 v. 21. Februar, 5)

Plaketten, Abzeichen und Parolen änderten sich, nicht aber der Opferzwang: „Opfert für Deutschlands Herz, für deutsche Familie“ (Märkischer Landbote 1934, Nr. 15 v. 18. Januar, 2). Die Zahl der Beschäftigten war von 11,5 Mio. im Januar 1933 auf 13,5 Mio. Menschen im Januar 1934 gestiegen, die Zahl der Arbeitslosen von 6,0 Mio. auf 3,8 Mio. gesunken (Detlev Humann, »Arbeitsschlacht«. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011, 11*, 16*). Das war beachtlich, 1936 sprach man auch international vom nationalsozialistischen „Wirtschaftswunder“ (Hans E. Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936). Dieses wurde von der Produktionsgüter- und Rüstungsindustrie hergerufen, während der Lebensstandard von 1928 auch 1938/39 kaum erreicht wurde. 1934 wurde vom Winterhilfswerk jedenfalls noch die bittere Not im nationalsozialistischen Deutschland beschworen: „Eine neue Kältewelle hat eingesetzt. […] Verzweifelt schaut so manche deutsche Mutter ihre Kinder an. Sie frieren, sie bitten um Brot. Aber sie kann ihren Hunger nicht stillen, sie hat kein Brot, sie kann sie nicht vor der grimmigen Kälte schützen, sie hat keine Kohlen, um das Zimmer zu heizen, sie hat keine Kleidung, kein Bett für die Aermsten. Deutsche Volksgenossen! Helft den deutschen Müttern und befreit sie von ihren Sorgen“ (Märkischer Landbote 1934, Nr. 20 v. 24. Januar, 2).

„Volkskanzler“ Hitler beim Beschwören und Reichsminister Goebbels beim Nageln (Ruhr- und Emscherzeitung 1933, Nr. 322 v. 22. November, 5 (l.); Streicher (Hg.), 1934, 415)

Propaganda für das NS-Regime

Die Winterhilfe bespielte die gesamte Klaviatur der von Ellul näher reflektierten Propaganda. Dazu gehörte auch die politische Propaganda. Neben den vielen kleinen und mittleren Funktionsträgern ragten vor allem der Reichskanzler Hitler und sein Reichspropagadaminister Joseph Goebbels heraus. Das konzidierte auch die sozialdemokratische Auslandspresse, mochte sie den Berliner Gauleiter auch als „Wotans Mickymaus“ verbrämen (Morgen Eintopfgericht, Sozialdemokrat 1933, Nr. 229 v. 30. September, 1-2, hier 1). Die NS-Granden waren Chiffren, Konstrukte von Visualisierungstechniken, Projektionsflächen in einer kommunikationstechnisch konstruierten, darin aber nicht aufgehenden Welt.

Kontinuität des Opfers mit neuen Motiven (Bergheimer Zeitung 1934, Nr. 19 v. 2. Februar, 2 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 293 v. 15. Dezember, 4)

Goebbels unterstützte das Winterhilfswerk mit Reden, vor allem aber mit öffentlicher Präsenz. Die zunehmend gleichgeschaltete Presse strickte zugleich am Führermythos: Ein notleidendes Mütterchen soll gesungen haben: „Doch mit dem Frühling kam ins Land / ein Retter aus der Not, / Der reichte jedem gern die Hand, / wer Arbeit schafft und Brot. // Auch bis zur dunklen Kammer drang / der frohe Ruf der Massen, / Da ward der Alten nimmer bang, / sie konnt‘ das Glück nicht fassen. // Die Winterhilfe brachte schnell: / ihr Kleider, Speis‘ und Trank. / Da ward die dunkle Kammer hell / vor Rührung und vor Dank. // Ein Ofen wurde beigeschafft, / und für den Winter Kohlen. / Kein Volksgenosse frieren darf, / Der Führer hat’s befohlen“ (Helmut Müller, Für die Winterhilfe!, Neueste Zeitung 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 9). Kanzler Hitler erschien öffentlich als erster Soldat in einer Schlacht gegen Hunger und Kälte, Not und Elend: „Wir geben wieder Glaube und Hoffnung in manches verzweifelte Herz, wir wollen nichts sein als Sozialisten der Tat. Die deutsche Volksgemeinschaft entsteht daraus“ (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4).

Das Winterhilfswerk als nationalsozialistisches Gemeinschaftswerk (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 6 (l.); Hannoverscher Kurier 1933, Nr. 543/544 v. 19. November, 27)

Zugleich durchfurchten die Insignien der NSDAP eine wachsende Zahl von Propagandaklischees. Das Hakenkreuz wurde immer wieder präsentiert, koppelte Spenden mit der Zustimmung für das Regime. Dazu halfen auch die zahlreichen Winterhilfskonzerte der SA-Standarten oder auch der Leibstandarte Adolf Hitler (SS im Dienste des Winterhilfswerks, Der Landbote 1933, Nr. 288 v. 9. Dezember, 5). Zugleich verband sich die Sammelaktivität nicht nur mit den deutschen Bewohnern des Reiches. Die Sammlung für den Bund der Auslandsdeutschen am 26. Januar 1934 öffnete den Blick auf die deutsche Diaspora in China, Brasilien, Argentinien und anderswo. Zugleich aber lenkte die Propaganda den Blick auf den europäischen „Volkstumskampf“, insbesondere nach Siebenbürgen oder ins Sudetenland, präsentierte „Deutsche Kinder, die vor Hunger sich nicht mehr außerhalb des Hauses bewegen können“ (Deutsche Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 18 v. 23. Januar, 6). Die Winterhilfe-Propaganda war auch Vorpropaganda für Kommendes.

Knätschrich – Wortfeld und Motive einer Propagandaserie

Die Propaganda für das Winterhilfswerk kam positiv daher, agitierte für Werte und Haltung, für das Opfer und die unabdingbare „nationale Solidarität“. Am Beispiel der Parolen, der Sichtbarkeit der Spender und Nichtspender, an den Imperativen und Ausrufungszeichen wurde jedoch auch die andere, drohende, auf Bekenntnisdruck zielende untergründige Botschaft der Propaganda sichtbar. Spendenunwillen gab es, doch er wurde erst einmal verwaltungstechnisch ausgehebelt. Gegen Zwangsabzüge von Einkommens- und Körperschaftssteuer gab es keine rechte Handhabe, denn auch die deutsche Justiz gehorchte den neuen Machthabern, sprach zunehmend Recht in deren Sinne. Propaganda ermöglicht aber andere, subtilere Formen der Einflussnahme und Ausgrenzung. Die Karikaturserie um Herrn und Frau Knätschrich präsentierte eine Negativfolie für den regimetreuen Volksgenossen, legte zugleich aber den Grund für mögliche verschärfte Maßnahmen gegen Bürger, die ihrer vermeintlichen Pflicht gegenüber der Volksgemeinschaft nicht oder nur unzureichend nachkamen.

Wer das Wort „Knätschrich“ sucht, wird allerdings überrascht sein: In der Datenbank Archive.org finden sich ebenso wie im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache keine Treffer, auch die Suchmaschine Google liefert nur drei (10. Januar 2025), die allesamt auf Zeitungsausgaben mit der nun näher vorgestellten Propagandaserie verweisen. „Knätschrich“ ist also ein ausgestorbenes Wort, fast gänzlich vergessen. Die Macher der Kampagne schufen ein Kunstwort, das zwar an gängige Bezeichnungen meckernder, mit ihren Mitmenschen im Kniest liegender Menschen anknüpfte, das als solches aber Herrn und Frau Knätschrich bereits als Fremdkörper der Volksgemeinschaft benannte, seine Negation gleichsam in sich selbst trug.

„Knätschrich“ war eine Substantivierung des vor allem in Nord- und Westdeutschland bekannten Adjektivs „knätschig“, das durch die Synonyme „beleidigt“, „griesgrämig“, „miesepetrig“, ‚mürrisch“ und „weinerlich“ auch denen verständlich wird, die niederdeutsche Sprachtraditionen kaum mehr kennen. Knätschig war lautmalerisch, verwies auf das Zerdrücken von Boden oder das Geräusch gedrückten, nicht voll ausgebackenen Brotes oder Kuchens (Fr[iedrich] Woeste, Wörternich der westfälischen Mundarten, Norden und Soltau 1882, 134; [Georg] Autenrieth, Pfälzisches Iditikon, Zweibrücken 1899, 77). Es bezeichnete auch das Gequengel eines Kindes, sonore Weinerlichkeit und Selbstmitleid (knätschig – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele | DWDS). Kurzum – „Knätschrich“ spiegelte rein sprachlich die nationalsozialistische Machtzulassung, war nämlich ein früher Beleg für die sich nun entwickelnde nationalsozialistisch konnotierte Sprache. Auch die „Winterhilfe“, der darin integrierte „Eintopf“ und dann vor allem das „Winterhilfswerk“ wurden mit dem NS-Regime verwoben, anderen Traditionen zum Trotz. Ellul vermerkte treffend: „Die Wörter müssen zu »Kugeln« werden und treffen“ (Ellul, 2021, 67).

Die Karikaturserie um Herrn und Frau Knätschrich setzte eine Woche nach der Reichstagswahl am 18. November 1933 ein, war integraler Bestandteil der Winterhilfepropaganda, folgte auf die Agitation für den Austritt aus dem Völkerbund. Sie bestand aus zwölf Motiven, konzentrierte sich auf den imaginierten Massentypus konservativ-liberaler Bürgerlichkeit, zielte aber auf Widerständigkeit jeder Art. Das Ehepaar im gesetzten Alter wurde lediglich dreimal gemeinsam präsentiert. Herr Knätschrich polterte in fünf, Frau Knätschrich nörgelte in vier Karikaturen. Viermal sah der Leser auch einen kleinen, teils mit Halsband geschmückten Schoßhund, der angesichts parallel laufender pronatalistischer Familienpropaganda gleichermaßen relativen Wohlstand, Verschwendungssucht und fehlende Frugalität symbolisierte. Die Einzelmotive erschienen an sich wöchentlich, zumeist am Wochenende. Die ersten und die letzten sechs Zeichnungen bildeten jeweils eine Einheit, klar voneinander abgegrenzt durch unterschiedliche Schriftarten und die spätere Verwendung eines lenkenden Slogans. Diese Trennung spiegelte zwei unterschiedliche Phasen der Winterhilfe, die erste auf das Weihnachtsfest ausgerichtet, die zweite auf die nun dauerhaft institutionalisierte „Selbsthilfe“ der „deutschblütigen“ Mehrheitsbevölkerung. Zwischen beiden Phasen gab es eine Pause von etwa drei Wochen. Typisch für die NS-Propaganda war, dass eine präzise Taktung nicht gelang, dass sie in unterschiedlichen Medien zu unterschiedlichen Terminen einsetzte und endete. Die an sich klare, durch meist vorhandene Zahlen unterstrichene Reihenfolge wurde häufig nicht eingehalten. Einzelne Zeichnungen wurden mehrfach wiederholt, allerdings ohne klare Taktung. Die letzten sechs Motive wurden seltener verwandt, der Abdruck franste teils aus. Zugleich aber gab es kein einheitliches Ende der Serie, die nach Mitte Februar 1934 nur noch sporadisch verwandt, aber bis Anfang März gedruckt wurde (Märkischer Landbote 1934, Nr. 51 v. 1. März, 6; Marbacher Zeitung 1934, Nr. 52 v. 3. März, 3). Man mag dies auf Koordinierungsschwierigkeiten sowohl des federführenden Reichministeriums für Volkaufklärung und Propaganda als auch der organisatorisch zuständigen NSV zurückführen. Dies verkennt jedoch, dass auch spätere NS-Kampagnen wie etwa der DAF um Tobias Groll kaum einmal die präzise Umsetzung privatwirtschaftlicher Werbekampagnen erreichten – und dies trotz einer zunehmend strikten Lenkung der Presse. Die Propaganda wirkte, doch sie wirkte keineswegs so perfekt wie manch inszenierte Realität glauben machte. Auch der Nürnberger NSDAP-Reichsparteitag und das erste Erntedankfest auf dem Bückeberg waren bekanntermaßen voller propagandistischer Makel, Defizite, gar unfreiwilliger Komik.

Motive 1 und 2: Frau Knätschrich am Kleiderschrank und Herr Knätschrich und Frau Amanda (Stolzenauer Wochenblatt 1933, Nr. 271 v. 18. November, 5 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 273 v. 21. November, 6)

Die Einzelmotive der Knätschrichserie dockten an einzelne Schwerpunkte der WHW-Propaganda an, stellten ihre Protagonisten jedoch als geldgierige und besitzhörige Egomanen vor. Frau Knätschrich, ebenso wie ihr Gatte stets mürrisch und abweisend, besaß zahllose Kleider und Schuhe, doch dieser exklusive Zierrat konnte ihre Unförmigkeit kaum überdecken. Der korpulente Körper beider Eheleute unterstrich die Selbstbezüglichkeit ihres Lebens, das zwischen teuren Kleidern und einer Abmagerungskur in sudetendeutschen Badeorten oszillierte. Angefressen von der Rückfrage des Dienstmädchens, vom Appell in der Zeitung, verweigerten sie sich der Mithilfe. Der Opferruf verpuffte, auch wenn es nur um eine kleine Gabe ging: „Dein Leben ist noch immer licht. / Du bist vor Tausenden gesegnet. / Vergiß im Glück den Bruder nicht, / Wenn er Dir leidgebeugt begegnet. / Sei Mensch und Christ und reih‘ Dich ein / Bei denen, die für groß und klein / Ihr Opfer bringen“ (Gerh. Schulte, Wo ist Dein Opfer?, Langenberger Zeitung 1933, Nr. 272 v. 20. November, 4). Die Serie basierte auf einer Ikonographie des wohlsituierten aber hartherzigen Bürgers, die in der Figur des (jüdischen) Kapitalisten und des (jüdischen) Plutokraten sowohl auf der linken als auch der völkisch-rechten Seite eine lange Vorgeschichte aufwies. Die Knätschrichs standen zugleich im Wettbewerb des Wandels, des von Systembrechern immer wieder erwarteten neuen Menschen. Bilder junger, gläubiger Zeitgenossen, Vertreter der Idee von Deutschlands Wiedergeburt, ließen die Knätschrichs als Ausgeburten des Alten, des Überholten erscheinen. Die beiden Anfangsmotive waren jedoch nicht eliminatorisch, sondern voller Verwunderung, dass es so etwas noch gäbe. Abgrenzung, ein verwundertes Lächeln dürfte bei den meisten Betrachtern gewiss gewesen sein. Zweifelhaft jedoch, ob die Betroffenen selbst ihr Handeln überdenken würden.

Motive 3 und 4: Eintopfgericht und Am Stammtisch der Mißvergnügten (Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 12 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 285 v. 6. Dezember, 4)

Die Knätschrichs, im dritten und vierten Motiv als solche nicht benannt, lebten in ihrem eigenen Milieu, verkehrten nur standesgemäß, sahen weniger begüterte Mitbürger lediglich als Hilfsmittel ihres eigenen Komforts. Eintopf erscheint ihnen als Zumutung, nicht als Chance, die Grenzen des Alltags zu durchbrechen, sich als Teil einer größeren Gemeinschaft, der Volksgemeinschaft, zu verstehen. Dünkel, Heuchelei, das Messen mit zweierlei Maß – das waren die für sie und ihre Bekannten offenbar angemessenen Attribute. Der Stammtisch des Herr Knätschrichs stand in einer langen Bildreihe, die von Provinzialität, Ignoranz und Bierseligkeit bis hin zur Reaktion reichte. Diese Stereotype bestanden seit der Biedermeierzeit, finden sich gleichermaßen bei liberalen, linken, völkischen und nationalsozialistischen Zeichnern. Kritikwürdig war die Abgeschlossenheit dieser kleinen Welt, die sich nicht dem Neuen widmete, keinen Blick für den Nächsten hatte. Den Knätschrichs käme nicht in den Sinn, sich an ihren Privilegien zu erfreuen, am Porzellan, am regelmäßigen Schoppen Wein. Für sie war die äußere unbekannte Welt eine Bedrohung, Veränderung eine Gefahr. Sie kämen nicht auf die Idee, dass andere sie als „Deserteur[e] der Volksfront“ einschätzen würden, ausgestattet mit fehlender „Gebefreudigkeit“ (Am Sonntag wieder Eintopfgericht, Ostdeutsche Morgenpost 1933, Nr. 331 v. 1. Dezember, 6). Stattdessen waren sie misanthropisch, trauten dem Neuen nicht, meckerten, nörgelten, haderten. Die ersten sechs Motive der Serie zielten allesamt auf eine Einheitsfront der Abwehr, auf eine Negativfolie von Menschen, die sich nicht eingliedern, die nicht mitmachen, mitmarschieren wollten. Das erleichterte der Mehrzahl Gehorsam und Folgsamkeit, erhöhte aber zugleich die Abscheu vor derartigen „Gemeinschaftsfremden“. Die Propaganda lenkte und lockte: „Morgen Eintopfgericht! Aber nicht mit solchen Gesichtern wie hier bei der Familie Knätschrich, die die neue Zeit immer noch nicht erfaßt hat“ (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 80 v. 8. Januar, 12).

Motive 5 und 6: Frau Knätschrich’s [sic!] Kaffeekränzchen und Herr Knätschrich beim Einkauf (Billstedter-Zeitung und Horner Zeitung 1934, Nr. 1 v. 2. Januar, 7 (l.); Der Grafschafter 1933, Nr. 297 v. 19. Dezember, 10)

Weihnachten rückte näher, auch Herr und Frau Knätschrich pflegten in der fünften und der sechsten Karikatur die Rituale dieser Zeit. Geselligkeit war angesagt, Geschenke für die Lieben wurden gekauft. Doch derart traute Innerlichkeit gab es nicht im Hause Knätschrich. Die Dame kaufte eine teure Torte, backte sie nicht selbst. Der Herr gab fast ein durchschnittliches Monatsgehalt für Einkäufe aus – doch zugleich war ihm der Pfennig für die Winterhilfe überbürdend, eine unverschämte Forderung. Frau Meyer, gleichermaßen bürgerliche Matrone, schwieg zu den Klagen ihrer Freundin, am Kaffeekränzchen, dem weiblichen Pendant zum männlichen Stammtisch, seit langem Ort von Klatsch, Tratsch, Gehässigkeit und übler Nachrede. Von der auch möglichen Vertrautheit und Gemütlichkeit war in der Karikatur nichts zu sehen. Kaffeekränzchen waren offenkundig nichts für richtige Frauen, die im Leben standen, gebärfähig, mitfühlend, gütig. Eine solche Frau war die Verkäuferin, eine erste Vertreterin des realen völkischen Lebens, die vor dem zahlungskräftigen Kunden nicht kuschte, sondern ihn an die Belange anderer erinnerte. Die Resonanz blieb aus, doch der Widerspruch zur Mehrzahl schien dem Betrachter offenkundig: So bin ich nicht! Ich hätte etwas abgegeben, wäre ich so reich. Ich gebe wenigstens etwas, denn ich habe verstanden, dass ich Teil eines Ganzen bin, angewiesen auf die nationale Solidarität meiner Volksgenossen.

Motive 7 und 8 (Märkischer Landbote 1934, Nr. 18 v. 22. Januar, 5 (l.); Hildener Rundschau 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 7)

Drei Wochen waren vergangen, doch Knätschrichs änderten sich nicht. Im zweiten Teil der Serie blieben die Eheleute jedoch nicht mehr allein, sondern wurden mit den konträren Einschätzungen ihrer Umgebung, ihrer Mitmenschen konfrontiert. Die Einzelmotive waren nun mit Gedichten, dann auch Slogans umrahmt. Sie waren in Schreibschrift gehalten, präsentierten nicht nur die propagandistisch erwünschte Reaktion auf die Knätschrichs, sondern visualisierten damit das einfache Volk, echoten das vielbeschworene Volksempfinden. Der Tenor wurde im siebten Motiv gesetzt, anschließend situativ variiert: „Mit Abscheu wird in Stadt und Land / der Knätschrich’sche Geiz genannt. / O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich.“ Die negative Zweisamkeit der angeprangerten Geizkragen gab es nur im Eingangsmotiv, wurde in den folgenden Karikaturen aufgebrochen. Während im ersten Teil der Serie die Knätschrichs selbst zu Worte kamen, waren sie nun still, während der Chor des Volkes ertönte: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ Der Betrachter konnte nicht mehr an sich halten, reagierte spöttisch, rückfragend, gewiss ablehnend. Besitz und soziale Stellung zählten nicht mehr länger, entscheidend war die Tat, das Eintreten für die Belange der Volksgemeinschaft: „Voll Wut schreit Knätschrich, bleich wie Kreide: / ‚Das Winterhilfswerk macht mich pleite!‘ / Die Sekretärin geht hinaus / Und denkt bei sich: ‚So siehste aus!‘“ Das ist integrierende, horizontale Propaganda. Die Knätschrichsche Negativfolie schuf eine neue virtuelle Gegengemeinschaft der Guten, die mit kleiner Münze gegenhielten, damit einen regimetreuen Unterschied machten. Das Alte, Morsche wurde unterminiert, dem Neuen so der Weg bereitet. Die Spende, der Gehorsam, waren kein Zwang mehr, sondern Votum für eine lichtere Zukunft, in der Menschen wie die Knätschrichs abstarben, nicht mehr ernst genommen wurden. „Das ist das Geheimnis der Propaganda: den, den die Propaganda fassen will, ganz mit den Ideen der Propaganda zu durchtränken, ohne daß er überhaupt merkt, daß er durchtränkt wird“ (Joseph Goebbels, Die zukünftige Arbeit und Gestaltung des deutschen Rundfunks, in: Helmut Heiber (Hg.), Joseph Goebbels. Reden 1932-1945, Bd. I, Düsseldorf 1971, 82-107, hier 95).

Motive 9 und 10 (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 9 v. 12. Januar, 8 (l.); Schwerter Zeitung 1934, Nr. 23 v. 27. Januar, 4)

Die Motive 9 und 10 präsentierten Herrn Knätschrich, teils bedrängt, teils bedrückt. Am Beginn stand eine doppelte Fanfare: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ war zu lesen – und zugleich ertönte die Trompete eines jungen Nationalsozialisten, der zur Sammlung einlud. Knätschrich kannte keine Selbstzucht, kein Zurückstecken in der Gemeinschaft. Ihm fehlte jede Ahnung von Kameradschaft, von kämpferischer Männlichkeit. Er war eine aufgeschwemmte Memme, leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen: „Tönt Winterhilfstrompetenton / Wird’s Knätscherich ganz schwammig schon / Er diente nie im deutschen Heer / Und giebt auch sonst nicht gern was her“. Doch Knätschrich hatte ein schlechtes Gewissen, ein Alb belastete ihn. Das war selbstgemacht und ungemein bedrückend. Ein Ungeheuer verfolgte ihn bis in den Schlaf, raubte ihm Gelassenheit, Ruhe und Zuversicht: „Herr Knätschrich macht ein schwer Geschnauf, / Ein dicker Kerl sitzt auf ihm drauf; / Der spricht: ‚Wir sind uns doch bekannt, / Der ‚Eigennutz‘ bin ich genannt!“ Wie einfach wäre es, diesen Alb loszuwerden. Gemeinnutz stärkte doch den Einzelnen, machte ihn froh, bettete ihn ein, ließ ihn Wurzeln schlagen. Herr Knätschrich hätte dazu die Chance, denn sein Volk reichte ihm die Hand, lud ihn ein zu gemeinsamer Hilfe. Ein bedauerlicher Mensch, so wohl die Reaktion des Betrachters. Doch selbst verschuldet. Ich werde nie ein solcher Knätschrich, ich bin Teil einer starken Gemeinschaft, in der man sich wechselseitig stützt.

Motive 11 und 12 (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 12 v. 16. Januar, 4 (l.); Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 36 v. 6. Februar, 15)

Die beiden letzten Motive waren wieder Frau Knätschrich gewidmet, nun nur noch eine bepelzte Spottfigur: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein [sic!] Knätscherich!“ Selbst Kinder, aktiv sammelnde Hitler-Jungen, kannten sie, kannten diesen Typus, waren schon weiter. Die Dame war unnahbar, materialisierter Geiz, einzig ihr Hündchen hielt ihr die Stange. Sie könnte Vorbild sein, großmütterlich, Helfer der Jugend. Doch dazu müsste sie in sich gehen, sich ändern, sich integrieren. So war sie eine böse zischelnde Alte, nicht mehr: „Kieck Max, da kommt Frau Knätscherich; Na, Mensch, die Alte kenne ich! / Jetzt paß mal auf, wie die gleich zischt: ‚Ich gebe nischt!‘“ Die beiden Jungen waren aktiv, traten für andere ein. Das war das neue Deutschland. Nicht aber Frau Knätschrich, die nicht einmal den Winterpfennig zahlte. Anna, ihr Dienstmädchen, war aus anderem Holze. Trotz eines nur kleinen Einkommens schloss sie ansatzweise die Bresche, die ihre Herrin untätig schlug: „Beim Einkauf sieht Frau Knätschrich gern / Die Sammelbüchse nur von Fern. / Da sagt die Anna so für sich: ‚Wenn sie nichts spendet – spende ich!‘“ Dieses letzte Motiv der Serie band den Betrachter direkt ein, präsentierte ein Vorbild, eine berechtigte Erwartung an alle: Egal, in welcher Situation Du bist, Du kannst einen Unterschied machen, Du kann das Richtige tun, mag es auch Dein Umfeld beschämen. Du bist mehr, mit Dir zieht die neue Zeit. Was aber nur mit der Knätschrich machen? Ignorieren?

Bewertende Überschriften: Herr Knätschrich als schlechtes Beispiel, die Knätschrichs als „Saboteure der Volkshilfe“ (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 79 v. 5. Januar, 7 (l.); General-Anzeiger für das gesamte rheinische-westfälische Industriegebiet 1933, Nr. 327 v. 30. November, 3)

Dieses strukturelle Problem jeder Propaganda, jeder modernen Gesellschaft, löste die Serie nicht auf. Die Einzelmotive präsentierten Fehlverhalten, schlechte Beispiele, Saboteure durch Nichtstun. Die Karikaturen setzten auf ein Absterben des Alten, auf den Frühling des Neuen. Sie setzten auf das Pflichtgefühl des Einzelnen, auf dem Genügenwollen, der Freude, gar Lust am Gehorsam. Die Serie wurde zumeist ohne Zusätze abgedruckt, positive Appelle, etwa „Gebt reichlich der Winterhilfe“, waren die Ausnahme (Mettmanner Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 7). Die Propaganda setzte auf den Einzelnen, seine Schwäche erschien als Stärke, bildete sie doch ein moralisches Erheben über den Geiz und die Selbstbezüglichkeit der Knätschrichs.

Kommunizierende Karikaturen (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 101 v. 31. Januar, 18)

Die Redaktionen spielten kaum mit dem Bildmaterial, kommunizierende, nebeneinander stehende Motive bildeten eine seltene Ausnahme. Ab und an wurden einzelne Motive mehrfach abgedruckt. Am häufigsten findet man das Kaffeekränzchen, gefolgt vom Einstiegmotiv der Kleidersammlung. Herr Knätschrich war weniger wohlgelitten, auch wenn das Einkaufsmotiv in einem Falle gleich vierfach abgedruckt wurde (Münsterländische Volkszeitung 1933, Nr. 348 v. 17). Man nahm die Karikaturen wahr, dachte sich seinen Teil. Korrekturen gab es nur beim nunmehr vom Duden als richtig akzeptierten „Idioten-Apostroph“ im fünften Motiv. Spätere Abdrucke präsentieren die Unterzeile korrekt, ohne Apostroph (Marbacher Zeitung 1934, Nr. 14 v. 18. Januar, 7).

Bekenntnisdruck weitergedacht: Angedrohte Gewalt gegen Meckerer, Nörgler, Miesmacher (Bremer Zeitung 1934, Nr. 137 v. 19. Mai, 9)

Der Grund für diese Zurückhaltung im Umgang mit der Serie dürfte ihre untergründige Botschaft gewesen sein: Wir kennen Euch, wir verachten Euch, wir kriegen Euch, wenn ihr Euch nicht ändert. Die Bildsprache war eindeutig, präsentierte wohlhabende Bürger als Negativfolien der Volksgemeinschaft. Der Bekenntnisdruck war offenkundig, die harte Hand des Staates, der Partei, hatte jedoch noch nicht zugeschlagen. Der propagandistisch „Röhm-Putsch“ genannte Mord an ca. 100 Menschen Ende Juni/Anfang Juli 1934 zielte jedoch nicht nur auf die für das Machtgefüge bedrohliche Spitze der SA, sondern galt auch einer Vielzahl konservativer, dem NS-Regime kritisch gegenüberstehender Personen, darunter der frühere Reichskanzler Kurt von Schleicher (1884-1934). Schon im Mai 1934 hatte Goebbels eine reichsweite Kampagne gegen sog. Meckerer, Nörgler und Miesmacher eingeleitet, gerichtet gegen Leute wie Herrn Knätschrich. Die eklatanten Finanzprobleme des Deutschen Reichs konnten damals kaum mehr übertüncht werden, die wirtschaftliche Erholung geriet in Gefahr. Das wirkte sich auch auf die nächste Runde des Winterhilfswerkes aus: Ein Aufruf an alle Haushaltungen in Harburg-Wilhelmsburg setzte einen neuen Ton: „Deutscher Volksgenosse! Erst der nationalsozialistische Staat wird diese fahnenflüchtigen und egoistischen, nur auf ihre Ichsucht eingestellten Menschen, die es heute ebenso gibt wie damals, indem sie nur Rechte für sich beanspruchen, aber Pflichten und Volksgemeinschaft nicht kennen, auf die Dauer als Staatsbürger nicht anerkennen. Beim vergangenen Winterhilfswerk des Deutschen Volkes 1933/34 haben wir gegen diese volksschädlichen Elemente noch nichts unternommen, doch im kommenden WHW wird dieses endlich werden. Es wird in diesem Winter für die Volksgenossen, die ihrer Pflicht der Volksgemeinschaft gegenüber nachgekommen sind, zur Erinnerung an gemeinsames Handeln zur Bekämpfung der Not eine Urkunde auch dann gegeben, wenn sie im vergangenen WHW ihrer Pflicht nicht voll nachgekommen sind, dies aber im kommenden Winter entsprechend nachholen“ (zit. n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 521). Eine zweite Folge der Knätschrich-Serie gab es nicht. Der Bekenntnisdruck war offenbar, der Gehorsam mündete in höhere Spenden, während zugleich die in der Serie angelegte Konfrontation zwischen Volksgemeinschaft und Spendenunwilligen zunahm (Jan Ruckenbiel, Soziale Kontrolle im NS-Regime. Protest, Denunziation und Verfolgung, Köln 2003).

Gestalter der Propagandaserie

Anzeigen und Werbeplakate der Winterhilfe wurden von führenden Werbegraphikern und Agenturen ihrer Zeit gestaltet. Beispielhaft dafür steht der nationalsozialistische Grafiker Ludwig Hohlwein (1874-1949), der bis heute vor allem als vermeintlicher Vater der deutschen „Reklamekunst“ und als prägender Akteur der Markenartikelwerbung auch der 1920er Jahre gilt. Die Propaganda für das Winterhilfswerk war ein Gemeinschaftswerk von Künstlern, NS-Staat und der NSV zum wechselseitigen Nutzen. Hohlweins hier nicht näher vorgestellte Winterhilfswerkplakate knüpften an die gängige Bildsprache der Werbung an. Das diente nicht nur der Integration der Unschlüssigen und Abwartenden, sondern stellte die gemeinsame Anstrengung in ein Kontinuum deutscher Geschichte (Birgit Witamwas, Geklebte NS-Propaganda. Verführung und Manipulation durch das Plakat, Berlin und Boston 2016, 130-151, 154-159, 243, 250). Die Winterhilfe war demnach kein Bruch, sondern ein Anknüpfen an deutsche Traditionen der Fürsorge und des Gemeinsinns.

Auch für die Knätschrich-Serie hatte das Propagandaministerium mit Werner Hahmann einen der führenden Karikaturisten der Weimarer Republik gewonnen. Er wurde als Sohn des Chemnitzer Fabrikanten Franz Hahmann und seiner Frau Marie, geb. Weigel, am 1. Dezember 1883 in Chemnitz geboren und evangelisch getauft. Nach dem Realschulbesuch studierte er ab 1900 Architektur erst an der Gewerbeakademie in Chemnitz, dann an den Technischen Hochschulen in Dresden und München (Bundesarchiv Lichterfelde (BA) R 4901/13265, Nr. 3518). Hahmann arbeitete im erlernten Fach, machte sich 1910 selbständig, war in München, Hamburg und Dresden tätig. Parallel studierte er Malerei und Graphik an der Kunstgewerbeschule Dresden und der Pariser Academie Julian. Er wechselte 1913 das Berufsfeld, war seitdem in Berlin als Maler und Graphiker tätig (https://cp.tu-berlin.de/person/729). Während des Weltkrieges wurde er verwundete, erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse, schied schließlich als Leutnant aus dem Heeresdienst aus (BA R 4901/13265, Nr. 3518).

Hahmann hatte bereits seit 1913 freiberuflich für die Karikaturzeitschrift „Kladderadatsch“ gezeichnet, deren politische Ausrichtung sich während des Krieges deutlich radikalisierte und die seit 1919 vornehmlich Positionen der völkisch-nationalistischen DNVP vertrat. Hahmann wurde 1914 fest angestellt – und eine seiner bis heute immer wieder reproduzierten Zeichnungen visualisierte massenwirksam die Dolchstoßlegende (Kladderadatsch 72, 1919, Nr. 48, 13). Während der Weimarer Republik bekämpfte er KPD, SPD und die demokratische Mitte, trat außenpolitisch für einen strikten Revisionismus ein. 1919 etablierte er sich zudem akademisch, anfangs als Assistent an der Berliner Technischen Hochschule im Freihandzeichnen. 1924 folgte die Habilitation, seit Dezember 1924 lehrte er als Privatdozent. Zuvor hatte er 1920 die fünfzehn Jahre jüngere Hermine Klöver geheiratet, wobei die Ehe kinderlos blieb. Hahmann war seit 1924 zudem regelmäßiger politischer Zeichner für die DVP-nahe Magdeburgische Zeitung, 1928 erschienen „originale“ Karikaturen auch in der nationalen Westfälischen Zeitung (Werner Hahmann, Die Karikaturen der Magdeburgischen Zeitung, Magdeburg 1925).

Nebenerwerb mit völkischen Motiven: Vier apokalyptische Reiter über Deutschland (Westfälische Zeitung 1928, Nr. 79 v. 2. April, 7)

Im Kladderadatsch agitierten zu dieser Zeit Kollegen wie Oskar Garvens (1874-1951), Arthur Johnson (1874-1954) oder Hans Maria Lindloff (1878-1960) bereits im Brackwasser völkischen Opposition und der NSDAP. Das galt auch für Hahmann, der unter dem Pseudonym Mooritz zudem für die NSDAP-Karikaturzeitschrift Die Brennessel zeichnete (Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Berlin und Boston 2013, 81). 1933 begrüßte er die Machtzulassung der NSDAP, rechtfertigte den Terror der SA, den Judenboykott, verhöhnte Emigranten wie den Kritiker Alfred Kerr (1867-1948) und in die Flucht gezwungene Politiker vornehmlich der SPD. Am 21. September 1933 erfolgte dann die Ernennung des zuverlässigen Parteigängers zum außerordentlichen Professor an der TH Berlin.

Zu dieser Zeit dürften auch die Ausschreibungen für die Propagandaserie stattgefunden haben. Die geschäftstüchtige und – wie ihr Mann, der Reichstagsabgeordneter der Staatspartei und spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963) – pekuniär während der NS-Zeit sehr erfolgreiche Werbetexterin Elly Heuss-Knapp (1881-1952) „gestaltete im Herbst 1933 für das Propagandaministerium ‚Werbung‘ für die Winterhilfe: Sie erstellte zwölf Entwürfe, ehe das Projekt stockte, da ‚unterdessen die Propaganda für die Reichstagswahlen eingesetzt‘ hatte (Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933-1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, 192, Anm. 12, Schreiben Heuss-Knapp an Toni Stolper, 7.11. 1933, BA N 1221, Nr. 488; zur Biographie s. BA R 9361-V/22131, insb. 6-8). Es ist möglich, letztlich aber nicht belegt, dass es sich bei den Texten und dem Slogan der Knätschrich-Serie um ein Werk der späteren Erfolgstexterin für Nivea, Wybert und andere führende Markenartikel gehandelt hat (vgl. beispielhaft Eckart Sackmann und Siegmund Riedel, Elly Heuss-Knapp: internationale Werbung für Gaba und Wybert, Deutsche Comicforschung 21, 2025, 58-74). Einprägsame Originalität wies jedoch einzig der Slogan „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ auf. Die in der Serie verwandte Sprache legt eine Konzeption im Spätsommer 1933 nahe, da im ersten Teil der Serie durchweg von „Winterhilfe“ die Rede war, noch nicht vom „Winterhilfswerk“, wie im zweiten Teil. Das entsprach der begrifflichen Findungsphase im Reichspropagandaministerium, dessen Leiter noch bei der Vorstellung des WHW am 13. September von Winterhilfswerk, Winterhilfsaktion und Winterhilfe sprach (Goebbels, 1934, 217-226).

Typähnlich: Matronenhafte Opernsängerin (Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 46, 6)

Karikaturist Hahmann nutzte für die Serie Personen in dem für ihn typischen Stil. Eine Frau Knätschrich recht ähnliche Dame findet sich auch im Kladderadatsch. Er zeichnete ferner kurz vor Weihnachten eine Propagandakarikatur für WHW-Sachspenden: Die Geschenke des als Weihnachtsmann verkleideten deutschen Michels waren Kartoffeln, Brot, Eintopf, Kleidung und Schuhe (Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 50, 1). Die weitere Karriere Hamanns ist für unsere Fragestellung weniger wichtig, obwohl sie recht typisch für nationalsozialistische Künstler war. Hahmann wurde am 1. November 1938 als außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Berlin verbeamtet, lehrte im angestammten Felde erst an der Fakultät für Bauwesen, ab 1942 an der Fakultät für Architektur. Schon im August 1945 „übertrug ihm der kommissarische Senat die Geschäfte des Dekans für die Fakultät II für Architektur“, ab dem 1. April 1946 wurde der nationalsozialistische Karikaturist Ordinarius für Freies Zeichnen und Malen an der Fakultät für Architektur an der Technischen Universität Berlin, für die bis 1947 auch als gewählter Dekan agierte. Hahmann wurde 1954 emeritiert und die einschlägige Webseite der TU Berlin, von der diese Angaben stammen, erwähnte die antisemitischen Hetzwerke des hochgeschätzten Ordinarius ebenso wenig wie die Winterhilfeserie um die Knätschrichs (Catalogus Professorum – TU Berlin).

Werner Hahmann: Architekt, Gebrauchsgraphiker, Maler, Antisemit, NS-Karikaturist, und von 1933 bis 1954 Professor für Freies Zeichnen und Malen an der TH bzw. TU Berlin – und eines seiner gängigen Werke (Universitätsarchiv Technische Universität Berlin 601, Nr. 235; Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 52, 3)

Kontinuitäten der Propaganda

Wir könnten unsere Analyse dabei belassen. Doch dann wären wir dem inspirierenden Ansatz Jacques Elluls nicht gerecht geworden. Propaganda, auch Bekenntnisdruck aufbauende, steht nicht allein, ist Teil eines breiteren semantischen und visuellen Feldes. Die Knätschrich-Kampagne war nationalsozialistisch, doch sie gründete auf einer weit zurückreichenden, in nahezu allen Aspekten des Lebens präsenten Bildtradition der hartherzigen und geizigen Bürger, der Wohlhabenden ohne Herz. Dies gilt für die christliche Tradition, für die Armutsbekämpfung und Fürsorge. Dies gilt aber auch und gerade für die bisher nur ansatzweise untersuchten Bildwelten der Arbeiterbewegung (Lachen Links 2, 1925, 50; ebd. 3, 1926, 200).

Sozialkritik am gesetzten Bürgertum als Thema sozialdemokratischer und kommunistischer Agitation (Lachen Links 2, 1925, 76 (l.); Die Rote Fahne 1931, Nr. 238 v. 25. Dezember, 11)

Herr und Frau Knätschrich waren Teil einer nicht nur nationalsozialistischen Kritik am bürgerlichen Spießer, an all den Verzagten, die sich um ihr eigenes Wohlergehen kümmerten, nicht aber um Not und Bedrängnis der Anderen. Sie standen zugleich für eine Kritik an den Alten, den Gesetzten, die an dem Ihren festhielten – während die Jugend dynamisch nach vorne schritt, Neuland gewann, für die Weltrevolution stritt oder auch für ein völkisches Morgen.

Druck und Lenkung: Besserverdienende abseits der imaginierten Volksgemeinschaft (Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 295 v. 17. Dezember, 3)

Und doch war die Knätschrich-Kampagne mehr als eine an sich beliebige Episode im Deutungskampf um den Geldbeutel, um die Aufgabe der Begüterten in Gesellschaften voll offenkundiger Ungleichheiten. Sie war auch Referenzpunkt für eine stete Folge nationalsozialistischer Kampagnen gegen die nicht mitziehenden Bürger. Vorrangig unterstützt vom Reichspropagandaministerium entstanden immer wieder neue, gleichwohl konzeptionell epigonenhafte Propaganda-Kampagnen und Einzelbilder voller Bekenntnisdruck (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175).

Fortschreibung der Knätschrich-Kampagne: Herr und Frau Spießer von Gerhard Brinkmann 1940 (Der Gemeinnützige 1940, Nr. 287 v. 12. April, 3 (l.); Der Führer am Sonntag 1940, Nr. 46 v. 24. November, 3)

Kurz nach Kriegsbeginn entwickelte beispielsweise der NS-Humorist und -Karikaturist Gerhard Brinkmann (1913-1990) eine wesentlich breiter greifende Kampagne über Herrn und Frau Spießer, die allen Bürgern vor Augen hielt, wie sie sich nicht benehmen sollten, um sich nicht der Lächerlichkeit und dem Ausschluss aus der Volksgemeinschaft preiszugeben. Brinkmann schuf dadurch sanften Bekenntnisdruck, die sein NS-Karikaturistenkollege Emmerich Huber (1903-1979) in der parallel laufenden Kampagne über die mustergültige Familie Pfundig flankierte. Wesentlich schärfer war die 1941/42 laufende NS-Serie um Herr Bramsig und Frau Knöterich. Mehrere führende NS-Karikaturisten, aber auch mehrere Pressezeichner attackierten zunehmend ausgrenzend die potenziellen Verräter der deutschen Volks- und Kriegsgemeinschaft. Dabei war die (kaum mögliche) Verweigerung des steten Opfers für das Kriegswinterhilfswerk nur eine von vielen strukturell verräterischen und selbstausgrenzenden Handlungen. Auch die beiden folgenden Zeichnungen der Pressezeichner Walter Schulz und Gerda Schmidt, regionale Ergänzungen der Serie um Herr Bramsig und Frau Knöterich, hatten klare Bezüge zur früheren Knätschrich-Kampagne Werner Hahmanns. Zahlreiche Einzelzeichnungen folgten, auch die 1943/44 laufende „Liese und Miese“-Serie kritisierte die immer noch fehlende Opferbereitschaft der Frau Miese (Oldenburgische Staatszeitung 1944, Nr. 56 v. 27. Februar, 6).

Fehlende Opferbereitschaft bei Frau Knöterich und Herrn Bramsig (Lippische Staatszeitung 1941, Nr. 345 v. 16. Dezember, 5 (r.); General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet und das westfälische Münsterland 1942, Nr. 30 v. 31. Januar, 3)

Man kann diese Kampagnen als integrierende, den selbst definierten Volksfeind lächerlich machende und ausgrenzende Propaganda verstehen, als indirektes Eingeständnis eines während der NS-Zeit kontinuierlich bestehenden Dissenses vieler Bürger. Wichtiger scheint mir jedoch, die Knätschriche, Spießer, Bramsige und Knöteriche als Teil eines bis heute währenden, lange vor dem Nationalsozialismus einsetzenden Propagandanarrativs zu verstehen. Man denke etwa an „Konterrevolutionäre“ in der DDR, die vehemente Kritik der „Spießer“ durch die „Studentenbewegung“, an die Ausgrenzung der „Müslis“ während der Kohlära, an „Covidioten“ oder Putinversteher. Der so wichtige, für jedes Gemeinschaftsengagement an sich wichtige Gehorsam möglichst aller, er war und ist eben immer gefährdet durch Neinsager, Meckerer, Rückfragende, Egoisten. Und was könnte man alles schaffen, wenn alle an einem Strick ziehen würden: „Wenn nur die Leute nicht wären! / Immer und überall stören die Leute. / Alles bringen sie durcheinander” (Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1955-1970, Frankfurt a.M. 1971, 128). Doch moderne Gesellschaften basieren eben auf Wahlmöglichkeiten, auf Unterschieden, auf die jede soziale Situation charakterisierende Option von „Loyalty“, „Voice“ oder „Exit“. Das ist Teil einer realistischen Weltsicht, an der die umfassende Propaganda des Alltags immer wieder abprallt, mag sie auch mächtig sein und Einfluss haben.

Abseits der Propaganda: Ergebnisse, Ineffizienz und Betrug der Winterhilfswerksammlungen

Abschließend noch ein nüchterner Blick auf das Winterhilfswerk, abseits der Propaganda. Eine zeitgenössische Analyse kam zu dem Ergebnis, dass inklusive der Familienmitglieder anfangs 16 bis 19 Millionen Personen Leistungen des WHW erhielten, also mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung (Kurt Werner, Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Winterhilfswerks, Nationalsozialistischer Volksdienst 1, 1933/34, 98-106, hier 99). Gerade Sachleistungen wurden massiv gesteigert, die Kartoffellieferungen vervierzehnfachten sich von 37.600 Tonnen 1932/33 auf 456.400 Tonnen 1933/34. Die Gesamtleistungen wurden damals auf etwa 300 Mio. RM geschätzt, also etwa 1,3 Prozent des Volkseinkommens. Dies bedeutete allerdings nur monatlich sieben RM für Bedürftige bzw. drei RM für alle Bezugsberechtigten. Spätere Berechnungen kamen 1933/34 auf Gesamteinnahmen von insgesamt 358,14 Mio. RM, darunter Sachspenden in Höhe von 126,98 Mio. RM. Die propagandistisch besonders herausgehobenen Reichsstraßensammlungen resp. die Eintopfspenden waren mit 14,40 resp. 25,13 Mio. RM nicht herausragend, die vielfach zwangsweisen Lohn- und Gehaltsspenden lagen mit 48,93 Mio. RM deutlich darüber, ebenso die Spenden von Unternehmen und Institutionen mit 33,66 Mio. RM (Ralf Banken, Hitlers Steuerstaat. Die Steuerpolitik im Dritten Reich, Berlin und Boston 2018, 386). Kontrastiert man die Propagandabilder mit den Ergebnissen, so war die permanente Mobilisierung im Sinne des Regimes ebenso wichtig wie der nicht unbeträchtliche pekuniäre Ertrag. Dieser lag deutlich über der Winterhilfe 1932/33, so dass der zeitgenössische Eindruck eines dynamisch gegen die Not agierenden NS-Regimes durchaus berechtigt war. Allerdings betraf dies kaum die propagandistisch eingeforderten Spenden im öffentlichen Raum, sondern einerseits die steuerlichen Zwangsabgaben, anderseits die Sachspenden, die vor allem auf das Drängen der neuen landwirtschaftlichen und industriellen Organisationen zurückzuführen waren. Die Belastung war unterschiedlich verteilt, Unternehmen waren begünstigt, der Mittelstand trug überdurchschnittliche Lasten.

Zur Einordnung der Winterhilfe 1933/34 ist auch ein Blick auf die Folgejahre erforderlich. Einerseits nahm die Bedeutung der Sachspenden erst relativ, dann auch absolut deutlich ab. 1938/39 lagen sie mit 113,8 Mio. RM knapp unterhalb der Einnahmen 1933/34 (Banken, 2018, 386), sanken während des Krieges dann massiv, da Lebensmittelspenden in der Rationierungswirtschaft kaum mehr möglich waren, da gesonderte Hilfswerke v.a. Kleider- und Rohstoffspenden übernahmen. 1938/39 betrugen die Geldeinnahmen aber bereits 631,6 Mio. RM, dem fast dreieinhalbfachen der 184,3 Mio. RM 1933/34 (Martin, 2008, 190). Die Ergebnisse der Reichsstraßensammlungen lagen 1938/39 um mehr als das fünffache über denen von 1933/34, erreichten während des Krieges 1942/43 dann das mehr als siebenundzwanzigfache des Ausgangswertes. Auch die propagandistisch massiv propagierten Eintopfessen erzielten 1942/43 das mehr als dreizehnfache Ergebnis von 1933/34. Anders ausgedrückt: Die Propaganda 1933/34 erntete während der Kriegszeit ihre Früchte, hatte Gehorsam und Integration unterstützt, ohne die eine effiziente Kriegsführung kaum möglich gewesen wäre. Direkter Bekenntnisdruck gewann während des Krieges an Bedeutung, Negativfolien wie die Knätschrichs, Spießer, Bramsig und Knöterich leisteten dafür und für hohe Spendenerträge einen wichtigen Beitrag.

Neue Opfer für neue sozialpolitische Arbeitsfelder (Werben und Verkaufen 23, 1939, 240 (l.); Schwarzwald-Wacht 1944, Nr. 67 v. 20. März, 3)

Das Winterhilfswerk konzentrierte sich zu dieser Zeit bereits auf ganz andere soziale Aufgaben, insbesondere in der Familien- und Gesundheitspolitik. Obwohl die Arbeitslosigkeit sank, die durchschnittliche Lebenshaltung niedrig aber doch gesichert war, nahmen Einnahmen und Ausgaben des Winterhilfswerkes stetig zu, wurden immer neue Aufgaben im Sinne der völkischen und pronatalistischen NS-Ideologie erschlossen. Während des Krieges gab es neue Aufgaben an der „Heimatfront“, sei es in der Kindesbetreuung, der Versorgung Verwundeter und Alleinstehender, dann vieler „Bombenopfer“. Dies bedeutete aber immer auch eine Konzentration auf Hilfsbedürftige im Sinne des NS-Regimes. Damit begann das WHW schon 1933 (Neueste Zeitung 1933, Nr. 281 v. 1. Dezember, 3). Die Hierarchien von Not und Bedürftigkeit waren fluid, boten effiziente Machtmittel insbesondere gegenüber allen nicht Gehorchenden. Festzuhalten ist zugleich, dass Winterhilfswerk und NSV zu den zentralen sozialpolitischen Institutionen des NS-Regimes wurden. Mehr als 17 Millionen Deutsche waren Mitglieder der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt; nur die Deutsche Arbeitsfront zählte während der NS-Zeit mehr Mitglieder.

Vier weitere Punkte sind für die Bewertung der Propaganda wichtig. Erstens war das Winterhilfswerk insbesondere in den Anfangsjahren relativ ineffizient, auch wenn die Verwaltungskosten offiziell bei lediglich ca. einem Promille lagen (Die Leistungen des Winterhilfswerks, Rundschau des Reichsbundes der deutschen Verbrauchergenossenschaften 31, 1934, 163). Der Umgang mit den Sachspenden war kostenträchtig, trotz unentgeltlicher Leistungen von Reichsbahn und Reichspost. Die Instandsetzung von Kleidern, Matratzen und Betten verschlang trotz ehrenamtlicher Hilfe „ungeheure Summen“ (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4), so dass diese Aufgaben zunehmend abgebaut wurden. Das galt auch für die Verpackung und Verteilung von Weihnachtsgaben, so dass Bescherungen zunehmend zentralisiert wurden. Gleichwohl blieben die Verwaltungskosten hoch, denn die Beschäftigtenzahl wuchs, ebenso Qualifikation und Einkommen.

Hinzu traten zweitens beträchtliche Probleme mit dem Missbrauch und der Veruntreuung der Spendengelder. Offiziell sollte das WHW „mit den saubersten und anständigsten Verwaltungsmethoden durchgeführt“, sollten Fehlgriffe „mit den härtesten und drakonischsten Strafen belegt“ werden (Goebbels, 1934, 220). In einem chronisch korrupten System war das inhaltsleere Rhetorik, mochten zahlreiche öffentlich kommunizierte Bestrafungen auch das Gegenteil suggerieren. Die Unterminierung des Vertrauens in das durch „unlautere Elemente“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 5) geprägte WHW war offenkundig, wirkte sich aber kaum auf das Handeln der Zwischeninstanzen aus (Die genaue Durchführung des Winterhilfswerkes, National-Zeitung 1933, Nr. 217 v. 15. September, 7). Höhe und Verwendung der Spenden waren unabhängig nicht zu überprüfen, viele Aktivitäten dienten nicht der Linderung von Not, sondern höchst persönlichen Zwecken. Die stete Wiederholung der Warnungen vor Missbrauch war ein indirektes Eingeständnis eines strukturellen Problems dieser Hilfsorganisation (Gegen Mißbrauch des Winterhilfswerks, Ostdeutsche Morgenpost 1933, Nr. 331 v. 1. Dezember, 6).

Kult des Ergebnisses: Präsentation der Ergebnisse des WHW 1933/34 (Buersche Zeitung 1934, Nr. 277 v. 10. Oktober, 2)

Dem wurde drittens mit rationaler Propaganda begegnet, mit der ritualisierten Präsentation von Spendenergebnissen und Rechenschaftsberichten auf allen Ebenen. Dies mutierte zu einem Kult des Details, etwa wenn das Hindenburger Winterhilfswerk Beifall erheischend von 400 Christbäumen, 100 Zentnern Zucker in Pfundtüten, 17 Zentnern Fleisch und 2500 Schuhen berichtete, die unentgeltlich verteilt worden seien (Ausgezeichnete Leistungen des Hindenburger Winterhilfswerkes, Der oberschlesische Wanderer 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 6). Die öffentliche Präsentation der Sammelergebnisse mutierte zu einem propagandistischen Ritual, das vor allem die stets höheren Erträge, die Erreichung aller Ziele, die Geschlossenheit und Einmütigkeit des Dorfes, der Stadt, des Gaues und der Nation verkündete (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 3). Die Normwelt wurde propagandistisch für wahr erklärt, denn Rückfragen waren kaum möglich, rechtliche Überprüfungen Ausnahmen. So konnte man behaupten: „Es gibt keine Rücksicht auf politische Zugehörigkeit, auf Konfession und Rasse“ (Die Erfolge des Winterhilfswerks, Mittelbadischer Kurier 1933, Nr. 275 v. 25. November, 4). Die Nennung von Tatsachen war Teil der allgemeinen Propaganda.

Diese Probleme wurden viertens innerhalb großer Teile der Bevölkerung, insbesondere aber von der aus dem Ausland berichtenden sozialdemokratischen Opposition klar gesehen. Letztere berichtete – ohne öffentliche Resonanz – von lokalen Verfehlungen, vereinzelter Widerständigkeit, dokumentierte die kargen Leistungen der Nothilfe, wenngleich aus distanzierter Sicht. Ja, es mochte stimmen, dass die Arbeitslosen auf das verwiesen wurden, „was aus einer in jedem Falle unzulänglichen, zufälligen und unkontrollierten Schnorrerei übrig“ (Morgen Eintopfgericht, Sozialdemokrat 1933, Nr. 229 v. 30. September, 1-2, hier 2) blieb – doch wenig war besser als nichts. Wahrscheinlich berechtigt hieß es – etwa aus Ostsachsen: „Die Sammlungen bringen die Menschen zur Verzweiflung“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 46). Doch das hieß noch lange nicht, dass sich die Sache totlaufen würde, hoffte man doch auf Widerständigkeit, die just durch Propaganda, durch den ausgeübten Bekenntnisdruck unterminiert wurde. Die sozialdemokratischen Berichte präsentierten zudem widersprüchliche Einschätzungen: Einerseits hoben Gewährsmänner regelmäßig und durchaus zurecht hervor, „die Mehrleistungen der Wohlhabenden stehen in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen und ihrer Leistungsfähigkeit“ (Ebd., 534). Anderseits hieß es aus Sachsen: „Der Druck auf die sogenannten ‚Bessersituierten‘ bei den Spenden für die Winterhilfe ist sehr groß.“ (Ebd., 521). Die unter hohem persönlichem Risiko erstellten und übermittelten Berichte unterschätzten generell die soziologischen, integrativen, horizontalen und auch rationalen Dimensionen der einschlägigen Propaganda. Aus der Distanz mochte es sich um Klassenherrschaft und Repression handeln; dennoch aber gehorchte die Mehrzahl, war bereit zu Opfer und Gabe, fügte sich den Vorgaben, weil dies ein besseres Leben erlaubte als das Dagegenhalten: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“

Statt eines Fazits

Blicken wir zurück auf Ellul: Für ihn war Propaganda eine Realität, war Gehorsam ein notwendiges und vielfach wohlbegründetes Element modernen Lebens. Sein Denken war jedoch dialektisch, geschult an seiner intensiven Auseinandersetzung mit marxistischen Schriften in den 1930er Jahren: Propaganda und Gehorsam waren und sind demnach ubiquitäre Elemente moderner technischer, moderner Konsumgesellschaften. Doch zugleich musste und muss der Einzelne darin nicht aufgehen. Ellul sah die eigentliche Aufgabe in einer reflektierten Distanz zu den „techniques“ und „propagandes“, zum daraus gewobenen Produktions- und Konsumtionsregime. Der Mensch habe sich aus der Natur befreit, bemühe sich heute aber, diese nicht zu zerstören. Er habe sich aus der ständischen Enge und von den strikten Vorgaben der ehedem alltagsdominanten Religion befreit, lebe aber dennoch als Individuum in einem gesellschaftlichen und ethisch-religiösen Rahmen. Ebenso gelte es, sich aus dem Käfig der Technologie und des Konsumerismus zu befreien, Distanz und Souveränität zu gewinnen, um sich selbst zu finden und zu bewahren. Dazu ist Realismus erforderlich: “Nothing is worse in times of danger than to live in a dream world” (Jacques Ellul, Propaganda. The Formation of Men’s Attitudes, New York 1973, xvi). Die vorliegende Studie ist Teil eines solchen Realismus.

Ellul hat sich keine Illusionen über die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen derartiger Beiträge gemacht: „In fact, I always apply a motto: ‚Think globally, act locally.‘ […] By thinking globally I can analyze all phenomena, but when it comes to acting, it can only be local and on a grassroots level if it is to be honest, realistic, and authentic” (Jacques Ellul, Perspectives on Our Age. Jaques Ellul Speaks on His Life and Work, Toronto 1981, 27). Wer ein großenteils propagandistisch ausgerichtetes Wissenschaftssystem verändern möchte, muss selber anderes, vielleicht gar besseres bieten, darf nicht im gängigen Einerlei aufgehen. Er darf sich aber auch keinerlei Illusionen hingeben, dass damit das technologische, konsumtive oder wissenschaftliche System bewegt oder aber systemisch verändert werden kann. Das geschieht heutzutage andernorts, sei es in Form eines technik- und konsumfeindlichen Neoluddismus, sei es in imaginären technologischen Optimierungsvisionen eines modifizierten Menschen, angepasst an fortgeschrittene Technologie (Sean Fleming, The Unabomber and the origins of anti-tech radicalism, Journal of Political Ideologies 27, 2022, 207-225, insb. 211-214). Wir glätten unsere Falten, statt sie als Ausdruck unseres Lebens, unserer Vergänglichkeit zu verstehen, daraus unsere ureigenen Schlüsse zu ziehen.

Die vorliegende, gewiss langwierige Analyse der nationalsozialistischen Propaganda für das Winterhilfswerk 1933/34 scheint von solch allgemeinen Fragen weit entfernt zu sein. Doch sie verdeutlicht – so hoffe ich – die Mechanismen einer modernen technischen Gesellschaft, um Gehorsam gegenüber bestimmten, systemisch definierten Zwecken hervorzurufen. Diese waren großenteils nicht ahuman, zielten im Gegenteil auf eine direkte Unterstützung für dringend Hilfsbedürftige. Doch sie trugen weiteres in sich, die Desintegration rechtsstaatlicher Prinzipien, die Ausgrenzung von Menschen aus dem recht willkürlich definierten Kern der Gesellschaft, die Stärkung und Forcierung einer expansiven, teils eliminatorischen Politik. Das war für eine nicht ganz kleine Zahl von Zeitgenossen offenkundig, während sich die Mehrzahl dafür nicht interessierte, dies nicht sah, nicht wissen wollte, es duldend akzeptierte, gar willig vorantrieb. Die Studie spiegelte die Propaganda selbst, dass stete Ja, das Nein gegenüber Außenseitern wie Herrn und Frau Knätschrich. Die Propaganda hob das Gute hervor, ohne aber mögliche Folgen des Ungehorsams zu verschweigen – insofern war sie bei aller Einseitigkeit und Lenkung überraschend transparent. Sie zielte auf die Schaffung einer neuen völkischen Identität, in der das Grundproblem der Moderne, dass Dinge so, aber auch anders angegangen werden können, zugunsten der einen richtigen Methode, zugunsten des Führerwillens beantwortet wurde. Gängige, positiv besetzte Flaggenworte wurden genutzt, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, Verantwortungsbereitschaft, nationale Solidarität, Gemeinschaft. Man integrierte Ideen der Gegner, nahm ihnen zugleich das Wort, führte sie als Gefahr, als Negativfolie vor. Die Gefahren einer derartigen Identitätspolitik sind offenkundig, auch wenn sie bis heute viele fasziniert. Derartige Propaganda abstrahiert von breiten Teilen der „Wirklichkeit“, mögen wir uns für sie auch nicht interessieren, sie nicht sehen, von ihr nichts wissen wollen, sie duldend akzeptieren und gar willig vorantreiben.

Geschichtswissenschaft soll – wohlverstanden – den Menschen vertraut machen mit seiner Lage in der Welt. Sie gründet auf dem Phantasievorrat der Menschheit, erlaubt Einblicke, zeigt (historische) Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten auf. Das kann kritisches Abwägen und praktisches Handeln fördern – auch wenn wir wissen: „Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer Gattung“ (Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten [Abschnitt 2], in: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1985, 183-200, hier 186).

Uwe Spiekermann, 25. Januar 2025

Blut, Blutprobe und Alkohol. Verkehrspolitik, Rassenideologie und Gerichtsmedizin während der NS-Zeit

Alle Jahre wieder beginnt Ende November ein eigenartiges Ritual. Weihnachtsmärkte laden ein, Glühwein lockt, Adventsfeiern folgen, dann der stete Reigen der weihnachtlichen Vorfeste. Jahr für Jahr starten die Polizeibehörden zeitgleich Aufklärungskampagnen über die Gefahren von Alkohol am Steuer, kündigen umfassende Kontrollen an, führen zehntausende durch, ziehen hunderte Führerscheine ein und können doch den zusätzlichen Tod einiger Dutzend Menschen nicht verhindern. Beschwipste Rituale dieser Art gehören offenbar zur Adventszeit wie Wichteln und Tannengrün. Und doch, derartige Konflikte zwischen vermeintlich rationalem Staat und irrationalen Bürgern berühren nicht nur Jahr für Jahr hunderttausende von Menschen direkt und elementar, sondern sie geben zugleich Auskunft über das Verhältnis von Staat und Individuum, von der Bedeutung wissenschaftlicher Definitionsmacht für richtiges und abweichendes Handeln, schließlich auch für sanktionswürdige Ordnungswidrigkeiten und Verbrechen.

Historiker lassen es dabei nicht bewenden. Sie wollen gern mehr wissen, einen genaueren Blick wagen: Die heutige Blutalkoholkontrolle wurde schließlich in den frühen 1930er Jahren eingeführt und während des Nationalsozialismus dann obligatorisch. Fünf Fragen möchte ich gerne beantworten – und wenn Sie die Antworten interessieren, so lesen Sie doch weiter:

  • Erstens: Wann begann diese erst einmal überraschende Beziehung von Blut und Alkohol?
  • Zweitens: Warum setzte sich die Blutprobe in Deutschland durch, just zu einer Zeit in der sowohl eine neue Verkehrspolitik praktiziert als auch eine unsägliche, gleichwohl wissenschaftlich geadelte Rassenideologie angewendet und umgesetzt wurde?
  • Drittens: Welche Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang die Wissenschaft, insbesondere die Gerichtsmedizin, von der die Blutprobe angewendet und verbessert wurde?
  • Viertens: Welchen Zusammenhang hatten die im Grundsatz bis heute geltenden Techniken der Blutprobe mit dem NS-Regime und der NS-Ideologie?
  • Schließlich fünftens: Was können wir an diesem einen Beispiel über Grundstrukturen des Nationalsozialismus, insbesondere aber über den Umgang des NS-Regimes mit seinen Bürgern lernen?

Solche Fragen zum Zusammenhang von Blut und Alkohol galten nicht marginalisierten Gruppen, sondern betrafen grundsätzlich alle Deutschen. Das galt nicht nur für die trunkenen Fahrer – 90 Prozent von ihnen waren Männer im Erwachsenenalter –, sondern grundsätzlich allen Verkehrsteilnehmern, auch den Opfern. Einfache Fragen dieser Art gewinnen allerdings an Kontur, bettet man sie in einen theoretischen Ordnungsrahmen. Die meisten von Ihnen werden gewiss ihren Foucault gelesen, zumindest aber von diesem französischen Philosophen, Soziologen, Historiker und Enfant terrible gehört haben. Pionierstudien wie „Überwachen und Strafen“ oder „Wahnsinn und Gesellschaft“ stellten eine „Mikrophysik der Macht“ in den Mittelpunkt und analysierten die Disziplinierung von Geist und Körper durch neues Wissen in Irrenanstalten, Gefängnissen und Gesellschaft. [1] Neues Wissen und dessen herrschaftliche Anwendung – genau darum ging es bei der Einführung der Blutprobe – konnten so untersucht werden, mochte das Subjekt dabei auch kaum beachtet wurde. Foucault selbst hat diesen blinden Fleck Mitte der 1970er Jahre in seinen Vorlesungen zur sogenannten Gouvernementalität theoretisch reflektiert und dadurch Modelle für die Untersuchung auch für Herrschaft und Subjektivität im 20. Jahrhundert geöffnet: „‘Gouvernementalität‘ bezeichnet einen Komplex aus Regierungstechniken und Denkweisen, der sich mit dem Auftauchen moderner (biopolitischer) Staatlichkeit allmählich durchgesetzt und in dieser sich erst institutionalisiert hat“ [2]. Moderne staatliche Herrschaft konnte nicht allein – wie während des Absolutismus – durch Souveränität erfolgen oder durch Disziplin und körperliche Strafen erzwungen werden, sondern es bedurfte neuer Institutionen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, Berechnungen und Taktiken, um auf das Handeln der Bürger und Untertanen einzuwirken. [3] Derartige gouvernementale Führung gründete auf Vorstellungen vom Gemeinwohl, vom Dienst an der Bevölkerung und war daher offen für neue Herausforderungen, wie sie sich insbesondere im Gefolge der Industrialisierung stellten. Es galt nicht mehr allein Freiheit zu beschränken, sondern sie zu organisieren. Machtausübung hieß dann die Möglichkeitsfelder des Handelns zu strukturieren, ohne dabei das Handeln selbst zu determinieren. [4] Dazu war Wissen, insbesondere wissenschaftliches Wissen über Körper und soziale Realität unverzichtbar, denn es bildete ein Scharnier zwischen Regierungstechnologie und dem Einzelnen. Dieser wurde als aktives Subjekt vorausgesetzt, zugleich aber produziert. Ohne Wissen und Wissenschaft kann in der Moderne weder Herrschaft ausgeübt, noch eine soziale Ordnung aufrechterhalten werden. Ihr Fluchtpunkt ist stets die von Foucault sogenannte „Bio-Macht“, Macht über das Leben, die nie nur Herrschaft ist, sondern zugleich Formen von Subjektivität stabilisiert. Wenn Sie sich etwas Abstand zu Ihrem Essen und Trinken, Ihrem Sport, Ihren Spaziergängen, Ihrer Nutzung von Arzneien und all den „guten“, uns stetig angebotenen Dingen leisten, so sehen sich rasch im Bannkreis derartiger „Bio-Macht“.

Die Foucaultschen Überlegungen erlauben aber mehr: Erstens kann mit ihrer Hilfe die NS-Zeit in die Kontinuität moderner Geschichte gut eingebettet werden. Zweitens aber weiten sie das Spektrum der Akteure von den in der NS-Forschung meist im Fokus stehenden Institutionen von Staat und Partei auf das Wechselspiel von Wissensmächten, zu denen explizit auch Wissenschaftler und zivilgesellschaftliche Akteure wie die Verkehrsteilnehmer gehörten. Drittens stellt sich vor dem Hintergrund gouvernementaler Führung die Frage nach dem Umgang dieser Wissensmächte mit der großen Zahl der Adressaten, also all den Leuten. Die Realität des „Führerstaates“ kann dann im Sinne einer Interaktion gedeutet werden, in der es darum ging, Politik für den rassisch definierten Kern der Gesellschaft zu machen und diesen zugleich einzubinden und zu prägen.

Blut als Indikator: Die Blutprobe und die „Objektivierung“ des gerichtsmedizinischen Wissens

Wollen wir verstehen, warum Blut und Alkohol in eine so enge Beziehung gerieten, so gilt es sich kurz der neuartigen Herausforderungen durch die im späten 19. Jahrhundert einsetzende Massenmobilität zu erinnern.

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Mobilität als Signum des 20. Jahrhunderts (Fliegende Blätter 122, 1905, 193)

Spätestens seit der Jahrhundertwende schufen ihre Folgeprobleme ein neuartiges gouvernementales Betätigungsfeld, das durch die zahlreichen neuartigen Mobilitätsmaschinen der Jahrhundertwende nahegelegt, keineswegs aber determiniert wurde. Raum- und Zeiterfahrungen veränderten sich grundlegend, insbesondere die Städte erhielten eine neue Kontur.

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Veränderte Verkehrsverhältnisse: Die Abkehr vom Pferd (Fliegende Blätter 121, 1904, 288)

Das Automobil ermöglichte einen dezentralen Individualverkehr, mochte der in der ersten Phase des „wilden Automobilismus“ auch vorwiegend Lärmbelastung und Unfallgefahr bedeuten. Staatliche Stellen konzentrierten sich auf Infrastrukturmaßnahmen, insbesondere bei Straßenbau und -befestigung, Sicherheitsaspekte und auch Fragen der Unfallfolgen blieben jedoch noch den Betroffenen überlassen.

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Kein Problembewusstsein: Alkohol als Teil moderner Mobilität (Fliegende Blätter 124, 1906, Nr. 3179, Beibl., 7)

Die frühen Kraftfahrzeuge dienten vornehmlich als Repräsentationsobjekt der Besitzenden, als Sportgerät sowie als Transportmittel. Alkohol am Steuer und dessen Untersuchung galt anfangs nicht als gouvernementale Aufgabe – und das blieb so bis in die späten 1920er Jahre. Nicht der „Staat“ drang auf eine differenzierte Ordnung des Individualverkehrs, sondern vielmehr gesellschaftliche Akteure. Es waren insbesondere die Temperenzvereine, die seit langem auf gouvernementale Führung in bisher staatsfernen Betätigungsfeldern drangen. Alkoholkonsum galt ihnen als ein zwingend einzudämmendes Risiko für die Allgemeinheit, und im Verkehr galt immer mehr: „Niemand ist sicher“ [5]. Doch es war unklar, wann eine Gefährdung wirklich einsetzte, wie diese nachzuweisen und schließlich zu bekämpfen war. Dass ausgerechnet das Blut in den Fokus der gouvernementalen Führung trat, war dabei keineswegs zufällig.

Blut ist offenbar ein ganz besonderer Saft: Die kulturhistorische Forschung hat es vorwiegend im Zusammenhang von Religion und Opfer, Recht, Genealogie und Geschlecht, der Vergemeinschaftung, der Viersäftelehre sowie einer bis heute breit gelagerten Blutmetaphorik analysiert. [6] Doch genau dieser metaphorische Überschuss geriet durch die Naturwissenschaften unter Druck. Profan wurde es in Heynes Deutschem Wörterbuch 1890 nur mehr als „rote Flüssigkeit in den Adern des tierischen Körpers“ [7] definiert. Blut bestand demnach aus exakt zu ermittelnden materiellen Substanzen, war zugleich Ausdruck für und Indikator der Umweltbedingungen des Menschen. Die 1900 erfolgte Blutgruppeneinteilung und die 1901 entwickelten Methoden, Blutflecken kriminalistisch, also zur Entdeckung von Verbrechen und Verbrechern, zu nutzen, forcierten diese Profanisierung. Auch Hygieniker scheiterten daran, Rassentypologien auf Grundlage der Blutgruppen aufzustellen.

Blut erschien als ein guter Indikator für größere Problemlagen, schien gerade durch den Einsatz naturwissenschaftlicher Wahrheitstechniken geeignet, die Gesellschaft rationaler agieren zu lassen. Für die deutsche Temperenzbewegung bedeutete dies, die methodisch nicht sehr weit entwickelte Blutalkoholbestimmung zu nutzen, um mittels Normwerten zwischen grundsätzlich tolerablem und unmäßigem Alkoholkonsum scheiden zu können. Dies galt insbesondere im Verkehr. Die vornehmlich von Medizinern, Theologen und Staatsbediensteten getragene Bewegung zielte anfangs vornehmlich auf einen alkoholfreien Dienst des Eisenbahnpersonals. [8] Nach der Jahrhundertwende traten jedoch die Automobile in den Vordergrund. Chauffeure, dann auch Privatleute, sollten „sich 24 Stunden vor Beginn der Fahrt sowie während der ganzen Dauer der Fahrt einschließlich der Fahrtpausen jeden Genusses geistiger Getränke enthalten.“ [9] Diese Agitation verpuffte bis weit in die 1920er Jahre hinein jedoch relativ wirkungslos. [10] Trunkenheit am Steuer wurde in Deutschland erst einmal kein Straftatbestand.

Anders agierten dagegen die skandinavischen Länder, deren seit langem restriktive Alkoholpolitik sich auch auf die sich neu konstituierende Verkehrspolitik auswirkte. 1921 führte Dänemark erste Strafbestimmungen ein, Norwegen und Schweden folgten. [11] Das entscheidende Problem aber blieb, Fahrunfähigkeit zu definieren und zu objektivieren. Die medizinischen Untersuchungen galten allgemeinen Körperindikatoren und stellten äußere Eindrücke, wie Sprach- und Gehfähigkeit, zusammen. Auch psychologische Tests griffen nur bei akuten Rauschzuständen. Derartige qualitativ-beschreibende Verfahren verbreiteten sich seit den späten 1920er Jahren dennoch auch in Deutschland. [12] Doch vor Gericht waren gerade geringe Beeinträchtigungen kaum kausal nachweisbar. Die „Forderung nach einem naturwissenschaftlich fundierten Urteil“ [13] war seit Ende der 1920er Jahre daher allseits vernehmbar.

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Alternative zur Blutprobe: Demonstration eines Untersuchungsgerätes der Atemluft in Chicago 1932 (Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung 29, 1932, 680)

Medizin und Gerichtsmedizin boten damals eine breite Palette von Untersuchungstechniken auf, um die Trunkenheit des Einzelnen präzise zu bestimmen. Alkohol wurde in der Atemluft und im Urin geprüft [14], doch schon vor dem Ersten Weltkrieg galt das Blut als analytisch bester Indikator für den Alkoholkonsum. [15] Die Nachweisverfahren waren jedoch „schwierig und kostspielig“ [16], äußerst fehleranfällig und erforderten zudem beträchtliche Mengen Blut. Die Blutanalyse setzte sich daher zwar bei Obduktionen durch, nicht aber bei Lebenden. Es fehlte an „Genauigkeit, Einfachheit und Kürze“ [17].

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Erik M.P. Widmark und sein Hauptwerk (Datei 708-2583_midicinhistoriskasyd.se)

Genau dieses änderte sich spätestens 1932, als der schwedische Biochemiker Erik Widmark [18] die Ergebnisse seiner mehr als fünfzehn Jahre währenden Versuche in einer auf Deutsch erschienenen Monographie vorlegte. [19] In mehr als tausend Einzeluntersuchungen hatte er die Absorption, Resorption und Diffusion von Alkohol im menschlichen Körper untersucht, die kausalen Zusammenhänge in mathematischen Formeln gebündelt und zudem ein praktikables Untersuchungsverfahren entwickelt, das in Skandinavien und im Deutschen Reich rasch adaptiert wurde.

Widmark gelang es erstens, die Menge des erforderlichen Blutes auf nur wenige Tropfen zu reduzieren. Dies erlaubte Blutabnahme mittels einfach handhabbarer Kapillare, ferner Blutproben an Fingerspitzen und Ohrläppchen.

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Die Entnahme der Blutprobe (Müller-Hess und Wiethold, 1933, 2 (l.); Pawlowski, 1939, 79)

Diese Mikromethode ersetzte zweitens das tradierte Destillieren durch eine standardisierte chemische Reaktion. [20] Das Blut wurde dazu eingetrocknet, die unterschiedlichen Diffusionsgeschwindigkeiten der Einzelbestandteile dann zur Alkoholbestimmung genutzt. Drittens erlaubten die Widmark-Formeln den Blutgehalt des Alkohols auch im Zeitverlauf zu bestimmen. Stunden nach einem Unfall konnte die damalige Promillezahl präzise rekonstruiert werden. Falls Sie übrigens selbst gerade bei dem Wort Promille den Bezug zum Alkohol implizit geknüpft haben, dann wird Ihnen unmittelbar deutlich, wie sehr auch Sie das Denken Widmarks verinnerlicht haben. Das ist Bio-Macht.

Widmarks Arbeiten wurden schon seit den späten 1920er Jahren im Deutschen Reich rezipiert, seine Methode seit 1930 in München, dann auch in Greifswald angewandt. [21] Seit 1932 besuchten wiederholt deutsche Gerichtsmediziner das Widmarksche Laboratorium in Lund. [22]

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Gottfried Jungmichel: Gerichtsmediziner, Nationalsozialist, Oberbürgermeister und bis heute Ehrenbürger der Stadt Göttingen (Der Spiegel 1963, Nr. 24 v. 12, Juni, 28)

Einer davon war etwa Gottfried Jungmichel, der sich in der Folgezeit sowohl als einer der profiliertesten Verfechter einer verbesserten Widmarkschen Methode als auch als aktiver Nationalsozialist betätigte. Seit 1936 Leiter des Göttinger Instituts für Gerichtsmedizin, gehörte er 1945 zu den wenigen längerfristig aus dem Hochschuldienst entlassenen Ordinarien. Dass er 1952 dort doch einen neuen Lehrstuhl erhielt, von 1956 bis 1966 FDP-Oberbürgermeister Göttingens war und von 1977 bis zum heutigen Tage Ehrenbürger dieser Stadt ist, sei nur am Rande vermerkt. Jungmichels Arbeiten und eine breite Rezeption der Widmarkschen Monographie [23] führten jedenfalls dazu, dass das Widmark-Verfahren schon 1933 als „jetzt allgemein in Brauch“ [24] galt.

Das war allerdings eine für Übergangsprozesse typische Übertreibung. Das neue Verfahren mochte zwar leichter erlernbar sein, doch nach wie vor dauerte eine Analyse bis zu drei Stunden [25]. Zugleich wurden zahlreiche neue Fehlerquellen offenbar, die das Vertrauen in die Methode vor Gericht mehrfach erschütterten, durch zahlreiche kleinteilige Verbesserungen aber wieder bereinigt werden konnten. [26]

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Untersuchungsset für die Blutprobe nach Widmark: Mobiles Komplettset (l.) und Widmark-Kolben (Holzer, 1933, 287 (l.); Gronover, 1935, 36)

Die Blutprobe etablierte sich in den 1930er Jahren zudem nur in wenigen Ländern. Frankreich, Großbritannien und die USA setzten auf andere Verfahren, etwa den in den 1950er Jahren auch in Deutschland genutzten Alcotest auf Basis der Atemluft.

Warum aber setzte sich die Blutprobe in Deutschland durch? Ein zentraler Grund liegt gewiss in den Professionalisierungsbestrebungen der Gerichtsmedizin. [27] Sie war in Deutschland lange Zeit eher randständig gewesen, doch nun sahen ihre Vertreter die Chance, die tradierte Fokussierung auf die „Lehre vom gewaltsamen Tode“ [28] zu durchbrechen. Nun schien es möglich, im „Kampf gegen den Mißbrauch des Alkohols“ „Volksschäden“ zu vermeiden. Widmarks Untersuchungen ermöglichten eine gezielte Biopolitik: „Trunkenheit ist zu messen“ [29] hieß es programmatisch und Widmark selbst verglich sein Verfahren „mit einem Zeugen, an dessen Objektivität nicht gezweifelt werden kann, an dessen Genauigkeit nicht getastet werden kann“ [30]. Angesichts der beträchtlichen Widerstände der klinischen Ärzte, der Chemiker und Psychologen [31], die zuvor allesamt mit Blutproben und Gutachten zur Trunkenheit betraut waren, ist aber vor allem ein Blick auf die spezifisch deutsche Konfiguration erforderlich, nämlich auf den NS-Staat und die dort praktizierte Verkehrs- bzw. Alkohol- und Rassenpolitik.

Die Geburt der deutschen Verkehrsgemeinschaft: Exklusion und Inklusion qua Blut(probe) und Alkohol(konsum)

Die propagandistischen Bilder der NS-Verkehrspolitik spielten mit den Visionen des Autobahnbaus und der nicht zuletzt von Hitler selbst propagierten Automobilisierung der Volksgemeinschaft. Demgegenüber hat die historische Forschung nachgewiesen, dass die Verkehrspolitik uneinheitlich war, die Infrastrukturentwicklung bei Straßenausbau und Verkehrssicherheit vernachlässigt wurde und die ehrgeizigen Ziele des Regimes eines Volkes auf Rädern nicht erreicht wurden. [32] Gleichwohl stieg der Kraftfahrzeugbestand in den 1930er Jahren auf bisher nicht bekannte Größenordnungen.

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Kraftfahrzeugbestand im Deutschen Reich 1933-1939 (Hochstetter, 2005, 185)

Den NS-Machthabern gelang es trotz dieser strukturellen Defizite und eines 1933 vielfach verwahrlosten Pkw-Bestandes diese Motorisierung des Straßenverkehrs als Symbol einer technischen Modernisierung und der Modernität des Regimes zu nutzen. [33] Auf der Straße wurden individuelle Freiheit, Beschleunigung und Geschwindigkeit erfahrbar, war der Einzelne Herr über mechanische Kräfte, zugleich aber Teil einer wachsenden Verkehrsgemeinschaft. [34] Doch die Kosten hierfür waren erheblich. Zwischen 1933 und 1938 nahm die Zahl der Unfälle beträchtlich zu, pendelte die Zahl der Verkehrstoten zwischen 6.500 und 8.000 pro Jahr – zum Vergleich: nach deutlich mehr als 19.000 Toten 1970 lag diese Zahl 2023 bei „nur“ mehr 2.839; und das bei einem Kraftfahrzeugbestand von 60,7 Millionen.

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Opfer eines alkoholisierten Kraftfahrers: Überfahrener Fußgänger (Buhtz, 1938, 129)

Absolut und relativ stand das Deutsche Reich damals an der Spitze der europäischen Verkehrstotenstatistik. [35] Dieser „Blutzoll“ stand im Mittelpunkt der öffentlichen und auch wissenschaftlichen Debatten und wurde zunehmend mit dem Alkohol am Steuer in Verbindung gebracht. Betrachtet man den absoluten Alkoholkonsum, war das erst einmal verwunderlich.

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Alkoholkonsum in Deutschland 1888-1990 (Tappe, 1995, 225)

1932 war der Alkoholkonsum in Deutschland auf einem Jahrhunderttief angelangt, lag bei weniger als einem Drittel des heutigen Durchschnitts. Die zeitgenössische Wahrnehmung aber konzentrierte sich damals auf den mehr als fünfzigprozentigen Konsumanstieg von 1932 bis 1939. [36] Die steigende Zahl von Verkehrstoten und der Alkoholkonsum wurden ein sich selbst stabilisierendes Dispositiv. Angesichts einschlägiger Einzelfälle schien eine präzise statistische Analyse kaum erforderlich, war aber auch kaum möglich. Erst im August 1935 wurde eine Reichsunfallstatistik eingeführt, seit 1936 musste der Alkoholstatus der Unfallbeteiligten mit angegeben werden. Etwa ein Siebtel der Unfälle waren demnach alkoholbedingt, der Anteil bei Todesfällen lag allerdings deutlich darüber. Inklusive der Dunkelziffern gingen die Gerichtsmediziner von 30 bis 40 Prozent aus. Mochte angesichts der breit gefassten Verkehrsbegeisterung eine gewisse Opferziffer gesellschaftlich akzeptabel sein, so galt dies nicht für Alkoholopfer: Hierbei handelte es sich nach Expertenansicht um „Verkehrsunfälle, die unbedingt vermieden werden können.“ [37] Staatliches Handeln schien daher unverzichtbar, und die Blutprobe ermöglichte eine glaubwürdige Biopolitik.

Seit 1932 nahm die Gesetzgebungsmaschinerie rasch Fahrt auf. Die Kfz-Verkehrsordnung vom Mai 1932 definierte erstmals Ausschlusskriterien: „Wer unter der Wirkung von geistigen Getränken oder Rauschgiften steht und infolgedessen zur sicheren Führung nicht imstande ist, darf ein Kraftfahrzeug nicht führen.“ [38] Was die für das spätere NS-System so typischen Generalklauseln wie „Wirkung“ und „sichere Führung“ dann substanziell enthielten, musste jedoch durch objektivierende Verfahren erst definiert werden. Einen Automatismus hin zu einer allseits verbindlichen Blutalkoholkontrolle gab es sicher nicht. Schließlich widersprach sie zwei grundlegenden Rechtsprinzipien, nämlich der körperlichen Unversehrtheit der Verkehrsteilnehmer und der ärztlichen Schweigepflicht. Beide wurden 1933 durch Selbstgleichschaltung der Ärzteschaft und neue Rechtsnormen geschliffen. Die neue Strafprozessordnung von November 1933 erlaubte erstmals, Blutproben auch gegen den Willen der Beteiligten zu entnehmen. Die Reichsstraßenverkehrsordnung vom Mai 1934 enthielt diesen Passus nicht, doch erlaubte sie erstmals, den Führerschein bei Fahren unter erheblicher Alkoholwirkung einzuziehen. In den Folgejahren galt das für fast die Hälfte aller einschlägigen Sanktionen, parallel verschärften die Strafgerichte ihre Urteilspraxis. [39] All diese Maßnahmen finden sich ähnlich jedoch auch in anderen europäischen Staaten. Nach wie vor galt vornehmlich Skandinavien als der Hort einer konsequenten Verkehrssicherheitspolitik.

Doch spätestens seit 1935 wurden die deutschen Regelwerke erstens weiter verschärft, zweitens aber in einen unmittelbar rassenideologischen Kontext eingebettet. Seit Mai 1935 galt Alkoholkonsum am Steuer erstmals als „geistiger Mangel“, nicht länger nur als individuelle Abweichung. [40] Parallel zur Verreichlichung der Polizeigewalt schuf seit 1936 insbesondere Heinrich Himmler – ein überzeugter Abstinenzler – als Chef der Deutschen Polizei auf dem Verordnungswege Fakten. [41]

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Völkisches Bekenntnis zur Abstinenz: Reichsinnenminister Heinrich Himmler (Auf der Wacht 55, 1938, 28)

Im September 1936 wurde die Widmarksche Blutprobe bei Trunkenheit am Steuer für die Staatspolizei obligatorisch. Zahlreiche alkoholbedingte Todesfälle um Pfingsten 1937 gaben den Anlass dazu, Trunkenheit im Verkehr zu einem eigenen Straftatbestand zu machen: „In Zukunft werden alle Schuldigen an Verkehrsunfällen, bei denen übermäßiger Alkoholgenuß durch die polizeiliche Blutuntersuchung festgestellt wird, sofort verhaftet und bleiben bis zur gerichtlichen Verhandlung in Haft. Da es nicht zu verantworten ist, daß weiterhin durch die Zügellosigkeit und den Leichtsinn einzelner Leben und Gesundheit der Allgemeinheit gefährdet wird, wird Trunkenheit am Steuer und im Straßenverkehr fortan als kriminelles Verbrechen angesehen und behandelt.“ [42] Zehn Tage später dehnte Himmler dies auf alle Unfallbeteiligten aus, im Juni 1937 ordnete er dann die öffentliche Publikation von Namen und Adresse betrunkener Unfallverursacher an. [43] Noch stärker wurden die Zügel innerhalb der NS-Bewegung angezogen, konnten Unfallverursacher doch zudem aus den Parteiorganisationen ausgeschlossen werden. Gerade innerhalb der SS propagierte Himmler ein Regime reflektierter Nüchternheit, um so den Vorbildcharakter des politischen Ordens zu unterstreichen. Für gestrauchelte SS-Männer ließ er jedoch zugleich im Konzentrationslager Buchenwald ein eigenes Trinkerlager einrichten. Und für den Dienst dieser Männerbünde galt realiter meist, dass Alkohol erst im Falle von Unfällen zum Problem wurde. Dann aber wurde auch normgemäß mit Härte vorgegangen.

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Wachsender Kontrolldruck: Blutproben im Stadtkrankenhaus Berlin 1934-1938 (Pawlowski, 1939, 77)

Die neuen Rechtsnormen ließen den Kontrolldruck insgesamt deutlich anwachsen. Diese Verschärfung ist umso bemerkenswerter, da insgesamt die Beschränkungen des Straßenverkehrs abgebaut wurden, deutlich etwa an der Aufhebung aller Geschwindigkeitsbeschränkungen 1934. Die Einstellung zur Motorisierung erhielt zugleich eine offenkundig rassenideologische Dimension. Dazu müssen wir uns nochmals mit dem schillernden Begriff des Blutes auseinandersetzen.

Blut galt im NS-Regime gemeinhin als Synonym für Rasse und als Symbol einer bestimmten Vergemeinschaftung. [44] In den Grundwerken der NS-Größen waren beide Bedeutungsebenen präsent, etwa, wenn Hitler über die „Blutvermengung des Ariers“, rassische „Blutvergiftung“, Herrenblut oder die „Reinhaltung“ des Blutes phantasierte. [45] Der tumbe Unsinn solcher Begriffe war durch Anthropologie und Biochemie gleichermaßen bestätigt worden [46], die Konsequenz waren inhaltsleerer Schwulst – so etwa bei Otto Bangert oder Alfred Rosenberg [47] – und beträchtliche Definitionsprobleme – so etwa beim Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre von 1935. Wer vom Blute schwelgte, wollte erst einmal nichts hören von wissenschaftlicher Analytik und differenzierender Kritik. Ernst Jünger betonte etwa schon 1926: „Das Blut ist der Brennstoff, den die metaphysische Flamme des Schicksals verbrennt. Was es sonst noch ist, wie seine Körperchen aussehen und wie sie chemisch reagieren, das ist für uns ohne Belang. Darüber mögen sich die Männer hinter den Mikroskopen auseinandersetzen. Mit solchen Fragen füllt der Geist Bücher, aber nicht das Leben den Schicksalsraum.“ [48] Blut stand hier für eine „Wahrheit“ eigener Qualität, stand für einen Ganzheitsmythos, der sich vorrangig im Ausschluss spezifisch definierter Andersartiger manifestierte. Für die Judendiskriminierung, -verfolgung und -vernichtung haben dies etwa Alexandra Przyrembel oder Beate Meyer an den Beispielen von „Rassenschande“ und „jüdischen Mischlingen“ analysiert. [49]

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„Blutvermischung“ und „Rassenschande“ in der populären Belletristik bzw. als nationalsozialistischer Wandspruch (Dinter, 1917, I (l.); Neues Volk 5, 1937, H. 6, 4)

Doch die hierin zu Tage tretende Wissenschaftsferne war nicht charakteristisch für zahlreiche alltägliche Varianten der Biopolitik. Die chemische Analyse des Blutes im Widmarkverfahren vermochte schließlich auch Wahrheit hervorzubringen, konnte sie im Kontext bestehender Gesetze und Ideologien doch scheinbar sicher zwischen jenen scheiden, die im Sinne der deutschen Verkehrsgemeinschaft handelten und denen, die ihre eigenen Bedürfnisse höher achteten bzw. aufgrund ihrer Erbanlagen keine andere Wahl treffen konnten. Mochte der chemische Analysetisch der Gerichtsmediziner auch ideologisch indifferent sein, in der spezifischen Konfiguration von NS-Verkehrspolitik, Rassenideologie und den fast sämtlich der NSDAP angehörenden Gerichtsmedizinern, war die Blutprobe Teil und Ausdruck einer spezifisch nationalsozialistischen Gouvernementalität.

Der Verkehrsteilnehmer im Fokus der nationalsozialistischen Gouvernementalität

Um diese innere Verbindung von Wissen, Macht und schließlich Subjektivierung angemessen zu verstehen, ist ihre Binnenlogik, ihre – im Foucaultschen Sinne – Ökonomik in den Blick zu nehmen. Alkoholkonsum war erst einmal ein Verlust von – im Wortsinne – volkswirtschaftlichen Werten.

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Unproduktive Ausgaben: Plakat zur Gesundheitsaufklärung (Neuland 43, 1934, 141)

In der Öffentlichkeit war von jährlich einer Milliarde Reichsmark die Rede, die „der produktiven Volkswirtschaft verloren“ [50] gehe. Der Kampf gegen den Alkohol am Steuer wurde als Kampf um die materiellen und ideellen Grundlagen der Volksgemeinschaft und ihrer expansiven Dynamik verstanden. Es ging zudem um den völkischen Grundbestand, um den Schutz vermeintlich reinen Blutes, denn, es „werden wertvollste Menschenleben regimenterweise vernichtet in einem völkischen Selbstbehauptungskampf, in dem jeder einzelne unersetzlich ist.“ [51]

Derartige Überlegungen wurzelten in den Degenerationsvorstellungen, die in Hygiene und Eugenik seit der Jahrhundertwende popularisiert wurden. Doch nicht allein rassenhygienische Vorstellungen griffen hier. Vielmehr vermengten sie sich mit bis heute praktizierten Simulationstechniken der Psychotechnik bzw. der Arbeitsphysiologie.

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Simulationstechniken: Reaktionstest am Dortmunder Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie 1932 (Graf, 1932, 175)

Sie sehen oben etwa einen Probanden bei einem Reaktionstest, unten einen beim Ringtest, mit dem motorische Fähigkeiten bei Trunkenheit erkundet wurden. [52]

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Psychotechnische Versuche zur Alkoholwirkung in Göttingen 1938 – Aufstecken von Ringen (Danger, 1938, 7 (l.), 10)

Einschlägige Versuche wurden in den 1930er Jahren wieder und wieder durchgeführt, um die Leistungsfähigkeit spezifisch definierter Gruppen genauer auszuloten. [53] Autofahren galt als „Arbeit mit einer gewissen geistigen Konzentration“ [54]. In der Wehrmacht, genauer in der Militärärztlichen Akademie, konzentrierte man sich seit 1937 auf Marsch- und Schießleistungen, die Reaktionsfähigkeit, das Wärmegefühl sowie die sog. „Giftfestigkeit“ der Krieger. [55] Als Resultat galt während des Dienstes ein striktes Alkoholverbot für Fahrer und „Selbstdisziplin bis zum Aeußersten!“ [56]. Steuerung und Optimierung des Mängelwesens Mensch im Sinne nationalsozialistischer Ziele standen dabei im Mittelpunkt, einschlägige Forschungen an Rauschverhütungs- und Ernüchterungsmitteln verdeutlichen dies. [57]

Diese Simulationstechniken belegten, dass Alkohol am Steuer eingeschränkte Reaktionszeiten, verringerte Konzentrationsfähigkeit, motorische Störungen und Sinnesbeeinträchtigungen verursachte.

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Alkohol als Koordinierungsgift: Lehrtafel des Reichsausschusses für Volkgesundheitsdienst (Ludorff, 1942, 293)

Parallel wurden die Grenzwerte einer erheblichen Verkehrsgefährdung, die Widmark noch bei 1,6 Promille vermutet hatte, in den 1930er Jahren erheblich reduziert. Die Gerichtsmediziner, die nicht nur die meisten Analysen durchführten, sondern ebenso die Forschung dominierten, erklärten Fahrer mit Blutalkoholwerten zwischen 0,7 und 0,9 Promille Ende der 1930er Jahre als grundsätzlich fahrunfähig. [58] Die Festschreibung der Grenzwerte verstärkte einerseits die Tendenz zu einer strikten Strafpraxis, auch wenn aufgrund verschiedener Sicherheitsmargen und der individuell nach wie vor variierenden Alkoholwirkung erst ab 1,3 Promille quasi automatisch abgeurteilt wurde.

Anderseits aber stellte der Diskurs einseitig auf den trunksüchtigen Fahrer ab, während die zahlreichen anderen unfallrelevanten Faktoren meist ausgeblendet wurden. Nicht passive und aktive Verkehrssicherheit, nicht Defizite von Autos, Straßen, Verkehrszeichen und Beleuchtung standen zur Debatte, sondern die Denunziation, Bestrafung und Erziehung betrunkener Verkehrsteilnehmer: [59] Aufgrund der volkswirtschaftlichen und volksbiologischen Schäden erschienen Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen daher unabdingbar, wollte man die Leistungsfähigkeit des Volkes steigern.

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Mäßigkeit als Arbeit für die Volksgemeinschaft: Plakat 1939 (Neuland 48, 1939, 235)

Derartige Zielsetzungen hatte der Einzelne zu verinnerlichen. „Freiheit, die dem Einzelnen erlaubt, zu tun, was er will, kennt das neue Deutschland nicht mehr.“ [60] Die Blutprobe erlaubte, zwischen Volksgenossen und Gemeinschaftsfremden zu unterscheiden. [61] Vor dem Hintergrund einer rassenhygienisch begründeten Kriminalisierung des Alkoholismus hatten betrunkene Unfallverursacher nicht nur Geld-, Haft- und selbst Todesstrafen zu erwarten, vielmehr erlaubten die 1933 erlassenen Gesetze gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher bzw. zur Verhütung erbkranken Nachwuchses auch eugenische Maßnahmen, etwa die Sterilisation. [62] Die Verkehrsgemeinschaft zielte auf rücksichtsvoll agierende Fahrer, deutlich ersichtlich im bis heute grundsätzlich geltenden Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung, nach der jeder sich so zu verhalten habe, das er den Verkehr nicht gefährde und sein Verhalten keinen anderen schädige oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindere oder belästige. Im Rahmen nationalsozialistischer Gouvernementalität erlaubten derartige Generalklauseln umfassende Ausgrenzungen: „Wir haben im deutschen Volk nach Schätzungen der Fachleute etwa 6 Millionen Menschen, die wir zu den Psychopathen, Neuropathen, Erregbaren, Asozialen und Antisozialen rechnen müssen. […] Sie sind heute auch Kraftfahrer, Radfahrer, Fußgänger. Für viele dieser Leute ist ein Glas Bier oft verhängnisvoller als für einen Gesunden mehrere Gläser. Sie gehören als Konstitutionstypen zu den unsichtbaren Ursachen der Unfälle.“ [63] Kampf dem Verkehrstod meinte immer auch Kampf für eine leistungsfähige, rassisch und charakterlich einwandfreie deutsche Verkehrs- und Volksgemeinschaft. Mochte die Blutprobe auch wissenschaftlich „objektiv“ sein, im Kontext der nationalsozialistischen Gouvernementalität diente sie den Zielen eines ausgrenzenden und tendenziell eliminatorischen Rassismus.

Die Praxis der Biopolitik

Blicken wir abschließend auf Techniken der Subjektivierung. Die Praxis der Biopolitik angesichts von Trunkenheit am Steuer griff spätestens seit 1937 auf repressive Maßnahmen zurück, die etwa durch die seit 1935 verstärkt einsetzende Zurschaustellung von sogenannten „Rassenschändern“ [64] eingeübt wurden: die Anprangerung von Straftat und Straftätern.

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Betrunkene als Volksfeinde: Plakat für Abstinenz im Berufsverkehr und Schaustellung eines Unfallwagens in Halle a.S. 1938 (Der Kämpfer 1935, Nr. 2, 1 (l.); Neuland 47, 1938, 354)

Dabei blieb die Anprangerung jedoch auf Objekte – oben ein Unfallfahrzeug inmitten von Halle – bzw. auf zuerst Namen und Adresse, dann vielfach auf Fotos der einschlägig straffällig gewordenen Verkehrsteilnehmer beschränkt. [65] Wiederholt wurden 1939 Presseberichte lanciert, nach denen betrunkene Unfallverursacher nicht nur in Haft genommen, sondern gleich ins Konzentrationslager verschickt wurden. [66] Für die große Mehrzahl der Gerichtsmediziner und staatlich Verantwortlichen war dies zwingende Notwehr, da die Gesetze der Verkehrsgemeinschaft verteidigt werden mussten. Es galt, „die Gesamtheit unserer Nation vor den wilden Uebergriffen einzelner Egoisten zu befreien“ [67]. Diese Härte sollte nach der Vorstellung der Temperenzbewegung und der vielfach für ein völliges Alkoholverbot im Straßenverkehr eintretenden Gerichtsmediziner auch für die Interessenvertreter der Automobilisten gelten.

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Inkriminierte Indifferenz gegenüber Alkohol am Steuer: ADAC-Aktivitäten in der Kritik (Neuland 46, 1937, 29 (l.); Der Kämpfer 1935, Nr. 2, 2)

Derartige Zeugnisse verwiesen nicht nur auf Interessenunterschiede im polykratischen NS-System. Die neuen Institutionen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, Berechnungen und Taktiken im Umgang mit der Trunkenheit am Steuer dienten im Sinne nationalsozialistischer Gouvernementalität immer auch der Ausbildung einer spezifisch völkischen Subjektivität, die von der Mehrzahl der Bevölkerung auch grundsätzlich praktiziert wurde: Der Einzelne konnte wählen, wie er sich den Vorgaben gegenüber verhielt, wurde durch begrenzte Wahlfreiheit durchaus als selbstverantwortliches Subjekt definiert. Diese Freiheit war Teil eines spezifisch nationalsozialistischen Erziehungsprojektes, das sich des neuen Wissens um den Blutalkohol bediente, um gemeinschaftskonformes Handeln und Denken zu produzieren. Temperenzbewegung und auch staatliche Stellen hatten während der Weimarer Republik nur allgemein auf die Gefahren des Alkohols am Steuer verwiesen.

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Verhaltene öffentliche Hinweise: Straßenplakat der Deutschen Guttempler in Bremen 1930 (Neuland 39, 1930, Sp. 621-622)

Sie sehen dafür oben ein recht typisches Beispiel. Die Aufklärungsmedien und -kampagnen der NS-Institutionen waren dagegen nicht nur strikter, sondern knüpften Verhaltenserwartungen stetig an das überlegene Wissen der Physiologie und Gerichtsmedizin.

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Aufklärung über die Wirkungen von Alkohol am Steuer: Plakat 1935 (Neuland 44, 1935, 66)

Die nationalsozialistische Gouvernementalität bemühte sich um wissenschaftlich unterfütterte Argumente und versuchte dadurch rechtskonformes Handeln und Denken herbeizuführen. Es galt, selbstgeleitete Mechanismen der Sicherheit zu entwickeln, um so Verkehrsgeschehen und völkische Gemeinschaft stabilisierten. Die Blutprobe selbst konnte dabei durchaus auch der Entlastung Beschuldigter dienen.

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Nationale Aufladung: Der deutsche Fahrzeugführer trinkt nicht! (Neuland 45, 1936, 59)

Obwohl moderne Marketingmethoden bekannt waren und praktiziert wurden, lehnten die in das NS-Gesundheitssystem integrierten Temperenzvereine sowie die Reichsstelle für die Sucht- und Rauschgiftbekämpfung ein allzu drastisches Death-Marketing, wie es beispielsweise in den USA nicht unüblich war, als „undeutsch“ ab.

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„Undeutsche“ Schockwerbung gegen Alkohol am Steuer in den USA (Neuland 48, 1939, 62)

Deutsche Aufklärungsbestrebungen banden die Information demgegenüber immer wieder an unmittelbar politische Bezüge, insbesondere die Imperative der NS-Verkehrspolitik. Zugleich wurden Botschaften von Mäßigung und Nüchternheit mit volksbiologischen Verpflichtungen des Einzelnen angesichts des sog. „Rassengiftes“ Alkohol gekoppelt.

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„Rassegift“ Alkohol: Plakat 1934 (Neuland 43, 1934, 67)

Die nationalsozialistische Gouvernementalität zielte auf ein bewusstes und überzeugtes Gehorchen, ließ eine gewisse Widerspenstigkeit aber durchaus zu. Der Anspruch des Staates auf Biopolitik zur Unfallprävention stand auch dadurch nie in Frage. [68]

27_Ludorff_1942_p295_Alkohol-am-Steuer_Verkehrssicherheit_Autobahn_Verbrechen

Neue Verkehrswege, neue Normvorgaben und neue Chancen zum Gehorsam (Ludorff, 1942, 295)

Festzuhalten bleibt allerdings auch, dass die anvisierte Nüchternheit im Verkehr nicht erreicht, dass bestenfalls eine Stabilisierung auf hohem Niveau bewirkt wurde. Trotz des Verweises auf wissenschaftliches Wissen und ihre Objektivierungsverfahren blieb die Akzeptanz der Blutprobe begrenzt. Gerichtsmediziner klagten über die Ignoranz der Massen: „Wohl kein Thema ist in den letzten Jahren in den Laienkreisen so viel erörtert worden, wie das Thema ‚Alkohol und Alkoholunfall‘, und über nichts sind mehr widersprechendere Meinungen abgegeben worden, als hierüber.“ [69] Geradezu empört hieß es: „Gegen die Blutentnahme wurde von allen Seiten Sturm gelaufen. Sie wurde als ein lebensgefährlicher Eingriff bezeichnet“.

Zum eigentlichen Kampffeld zwischen gouvernementaler Führung und trinkfreudigen Alkoholfahrern entwickelten sich einerseits der Markt, anderseits die Gerichte. Seit 1936 nahmen die Angebote von und die Nachfrage nach sog. Ernüchterungsmitteln beträchtlich zu, ohne dass derartige Ausweichhandlungen aber zu größeren Erfolgen führten. [70] Vor Gericht wurde dagegen immer wieder die Frage individueller Besonderheiten und Abweichungen verhandelt, die durch die Blutprobe und die damit verbundenen Normsetzungen grundsätzlich unterbunden werden sollte. [71] Die auch innerhalb der Gerichtsmedizin, insbesondere aber zwischen den verschiedenen Lebenswissenschaften bestehenden Interpretationsunterschiede führten zu einem regen Gutachterwesen, das gute Nebeneinkünfte garantierte. [72] Die gouvernementale Führung konnte dadurch jedoch nicht wirklich beeinträchtigt werden. Im Gegenteil: Im Rahmen der Wehrmacht und der Besatzungspolitik weitete sich das deutsche System während des Zweiten Weltkrieges über weite Teile Europas aus, während die gerichtsmedizinische Kontrolle von Verkehrsunfällen in der Blutalkoholuntersuchungsstelle der Berliner Militärärztlichen Akademie zentralisiert wurde. [73]

Zusammenfassung und Ausblick

Lassen Sie mich abschließend auf meine fünf Ausgangsfragen zurückkommen und sie beantworten.

Erstens: Die Verbindung von Blut und Alkohol wurde innerhalb der frühen Physiologie und Biomedizin ausgetestet, und als ein möglicher Indikator für Grade der Gefährdung durch zivilgesellschaftliche Akteure, durch Kraftfahrer, propagiert. Die staatlichen Instanzen zögerten lange, und griffen erst zu als die Widmarksche Blutprobe offenbar verlässliche Resultate erbrachte. Die Profanisierung des Blutes durch die Naturwissenschaft war weniger bedeutsam als der gemeinsame Fluchtpunkt einer im Blute liegenden Wahrheit über den Alkoholkonsum und auch den Trinkenden.

Zweitens: Die Blutprobe setzte sich in Deutschland durch, als die Methode elaboriert war, als die rechtsstaatlichen Widerstände gebrochen waren, die neue auf Automobilisierung setzende Verkehrspolitik eine Hege des deutschen Menschen erforderlicher machte und mit dem Begriff der Verkehrsgemeinschaft eine neue Forderungsmentalität etabliert worden war. Sie war zugleich funktional für die in sich heterogene NS-Verkehrspolitik, da nicht die Defizite der Infrastrukturmaßnahmen oder der Sicherheitstechnik im Mittelpunkt standen, sondern vielmehr der trunksüchtige Verkehrsteilnehmer. Qualitativ-individualisierende Verfahren traten gegenüber der messenden Quantifizierung in den Hintergrund.

Drittens: Führende Gerichtsmediziner bestätigten die Aussagekraft der Wahrheitstechnik Blutprobe. Als Herren des Verfahrens profitierte die relativ kleine Profession von der zunehmend obligatorischen neuen Objektivierungstechnik – und als Ergebnis lässt sich eine weit überdurchschnittliche Loyalität gegenüber und Identifikation mit Staat und NSDAP ausmachen. Sie wandten das neue Wissen im Sinne der gouvernementalen Führung an, differenzierten und verbesserten es, arbeiteten so – wissend um die rassenideologischen Implikationen – dem Führer entgegen.

Viertens: Die Geschichte der Blutprobe zeigt, dass ein Blick auf analytisch isolierte Techniken nicht ausreicht, um ihre Affinität zu bestimmten Formen gouvernementaler Führung nachzuweisen. Die Blutprobe war während des Nationalsozialismus Ausdruck der NS-Ideologie, erlaubte sie doch Biopolitik im Sinne des Regimes. In den 1950er und 1960er Jahren, als Hunderttausende von Führerscheinen eingezogen wurden, Trunkenheit am Steuer das zweithäufigste Strafdelikt war und zehntausende in die Gefängnisse wanderten, ohne dass dadurch der Anstieg der getöteten Verkehrsopfer auf fast 20.000 pro Jahr gebrochen werden konnte, verhinderte die damit verbundene Fokussierung auf den Promillewert eine differenzierte Einzelfallbewertung und förderte die Vernachlässigung moderner Sicherheitstechnik und neuer Ansätze der Rechtspflege. Gleichwohl entsprach und entspricht ihr Einsatz den Ansprüchen an „Objektivierbarkeit“ im demokratischen Rechtsstaat, gilt sie bis heute zu Recht „als wertvolles Beweismittel mit hoher Aussagekraft“ [74]. Der zeithistorische Kontext ist vielfach wichtiger als die Wahrheitstechnik selbst.

Fünftens: Auch die allgemeine NS-Forschung kann an diese Fallstudie vielfach anknüpfen:

Die Einführung der Blutprobe war Teil und Ausdruck eines gouvernementalen Erziehungs- und Subjektivierungsprozesses, der auf rassistisch gebrochene Argumente und Gemeinwohlorientierung setzte. Der „Volksstaat“ gründete nicht vorrangig auf Bestechung und materielle Vorteile, sondern auf Subjektivierungsprozessen, deren Chance für Gehorsam die Mehrzahl der Deutschen aufgriff. Dies erlaubt differenzierte Aussagen zur Frage der Ursachen für die Loyalität zum Regime.

Die Blutprobe wurde vorrangig auf die „deutsche“ Gesellschaft angewandt und lässt die Unbedingtheit in der Anwendung eines Reinheitsmythos auch abseits der Verfolgung „undeutscher“ Minderheiten aufscheinen. Ausgrenzungs- und Reinigungsmechanismen griffen tiefer und weiter als dies in vielen Studien und Handbüchern mit ihrer Fokussierung auf Judenverfolgung, Judenmord und die Kriegszeit aufscheint.

Das schillernde Konzept polykratischer Herrschaft sollte vor dem Hintergrund einschlägiger Studien insbesondere um Wissensakteure ergänzt werden. Die in der Forschung gängige gesonderte Analyse staatlicher, staatlich-wirtschaftlicher und wissenschaftsimmanenter Interessenlagen greift häufig zu kurz und könnte ertragreich durch Studien ergänzt werden, in denen die Konfigurationen zwischen Regierung, Wissen, Ökonomie und Subjektivierung genauer ausgelotet werden. Dies betrifft auch die Ausdifferenzierung nicht sehr trennscharfer Typologien, wie etwa der Fraenkelschen Unterscheidung von Ordnungs- und Maßnahmenstaat.

Die Foucaultsche Gouvernementalitätsthese erlaubt letztlich eine spannende vergleichende Perspektive zwischen nationalsozialistischen und anderen Formen gouvernementaler Führung. Dies gilt sowohl für die Vorläufer als auch die vielen Kontinuitäten des NS-Regimes, die wir so gerne ausblenden, die wir im Regelfall aber auch weder kennen, noch kennen wollen. Der Schlagschatten des Nationalsozialismus ist allseits sichtbar – doch es ist zugleich der Schlagschatten einer modernen Biopolitik, die unseren Alltag allseits durchzieht.

Uwe Spiekermann, 30. November 2024

Quellen- und Literaturhinweise

[1] Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1973; Ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977.
[2] Martin Saar, Macht, Staat, Subjektivität. Foucaults Geschichte der Gouvernementalität im Werkkontext, in: Jürgen Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt a.M. und New York 2002, 23-45, hier 30.
[3] Michel Foucault Die „Gouvernementalität“ (Vortrag), in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III: 1976-1979, hg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald, Frankfurt a.M. 2003, 796-823, insb. 820.
[4] Vgl. Susanne Krasman, Gouvernementalität: Zur Kontinuität der Foucaultschen Analytik der Oberfläche, in: Martschukat (Hg.), 2002, 79-94, hier 88.
[5] Klaus Richter, Motorisierung und Trinksitten, Berlin o.J., 21.
[6] Vgl. etwa BRAUN, Christina v. Christina und Christoph Wulf (Hg.), Mythen des Blutes, Frankfurt a.M. und New York 2007.
[7] Moriz Heyne, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1890.
[8] Vgl. etwa [Otto] de Terra, Bekämpfung der Trunksucht durch die Eisenbahnverwaltung, Der Arbeiterfreund 35, 1897, 381-383; Ders., Alkohol und Verkehrssicherheit, Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart 9, 1905/06, 663-670. Anlass waren meist Unfälle, verursacht durch Alkoholkonsum der Schrankenwärter und des Fahrpersonals. Vgl. als Einblick in die reichhaltige Publizistik Paul Schenk, Die Alkoholfrage. 1. Halbjahr 1906, Aerztliche Sachverständigen-Zeitung 12, 1906, 264-268, hier 268.
[9] Automobil und Alkohol, Zeitschrift für Socialwissenschaft 10, 1907, 253.
[10] Automobil und Alkohol, Mäßigkeits-Blätter 26, 1909, 17-21.
[11] J. Fog, Die ärztliche Untersuchung betrunkener Kraftwagenführer. (Ergebnisse aus 1000 Untersuchungen für die Kopenhagener Polizei.), Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 17, 1931, 73-88, v. a. 73-76.
[12] Paul Camerer, Die Bedeutung der Blutuntersuchung zur Feststellung von Alkoholeinwirkung in polizeilichen und gerichtlichen Fällen, insbesondere bei Kraftfahrzeugunfällen und die Eignung der Blutalkoholbestimmung nach Widmark, Zeitschrift für Medizinalbeamte 46, 1933, 194-201, hier 195.
[13] Fritz Schwarz, Der Alkoholnachweis in der forensischen Praxis unter besonderer Berücksichtigung der Technik, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 10, 1927, 377-407, hier 377.
[14] Vgl. etwa Godfrey Carter, Alcohol and the motorist. Alcoholic concentration in urine as a test of intoxication, British Medical Journal 1927, Nr. 3477, 333-335.
[15] Einen Überblick insbesondere über das Niclouxsche Verfahren bei Waldemar Schweisheimer, Der Alkoholgehalt des Blutes unter verschiedenen Bedingungen, Med. Diss. München, Leipzig 1913. Vgl. auch H. Kionka, Der Alkoholgehalt des menschlichen Blutes, Jena 1927; Erich Aue, Der Alkoholspiegel im Blut unter verschiedenen Bedingungen, Jena 1938.
[16] Müller-Hess und Wiethold, Ueber die Widmarksche Methode der Alkoholbestimmung im Blut und ihre praktische Bedeutung für die Kriminalpolizei, Kriminalistische Monatshefte 7, 1933, 1-5, 27-32, hier 2.
[17] R.M. Mayer, Zur Methodik der Alkoholbestimmung, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 18, 1932, 638-646, hier 639.
[18] Zur Person vgl. R.C. Baselt, Introduction. Erik Matteo Prochet Widmark 1889-1945, in: E.M.P. Widmark, Principles and Applications of Medicolegal Alcohol Determination, Davis 1981, V-VIII; Rune Andréasson und A. Wayne Jones, The Life and Work of Erik M.P. Widmark, American Journal of Forensic Medicine and Pathology 17, 1996, 177-190.
[19] E[rik] M.P. Widmark, Die theoretischen Grundlagen und die praktische Verwendbarkeit der gerichtlich-medizinischen Alkoholbestimmung, Berlin und Wien 1932.
[20] Zur Methode vgl. aus der Fülle der Literatur Robert Kriebs, Der Nachweis von Alkohol im Blut nach Widmark und seine Bedeutung für die gerichtliche Beurteilung von Verkehrsunfällen, Berlin-Dahlem 1934; Friedrich Masius, Ueber die Widmark’sche Blutprobe auf Alkohol. Eine experimentelle Nachprüfung auf Genauigkeit und praktische Verwendbarkeit des Verfahrens, Med. Diss. Marburg 1934.
[21] Josef Koller, Über die Durchführung der chemisch-analytischen Blutalkoholbestimmung nach Widmark und deren forensische Bedeutung. (Vorläufige Mitteilung.), Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 21, 1933, 269-274, hier 269; Gottfried Jungmichel, Die praktische Bedeutung der Widmarkschen Alkholbestimmung im Blut für die Rechtspflege, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 21, 1933, 463-473, hier 463.
[22] R[une] Andréasson und A. W[ayne] Jones, Historical Anecdote Related to Chemical Tests For Intoxication, Journal of Analytical Toxicology 20, 1996, 207-208.
[23] Vgl. etwa Ermel, Die schwedische Blutprobe auf Alkohol als Beweismittel im Strafverfahren, Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht 26, 1932, Sp. 674-675 sowie dann insbesondere Gottfried Jungmichel, Alkoholbestimmung im Blut. Methodik und forensische Bedeutung, Berlin 1933.
[24] Holzer, 1933, 284.
[25] Hugo Decker, Über die interferometrische Bestimmung des Blutalkoholgehaltes, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 33, 1940, 33-43, hier 43.
[26] Vgl. etwa Josef Koller, Zur Technik der quantitativen Alkoholbestimmung im Blut nach der Methode von Widmark, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 19, 1932, 513-515; H.R. Kanitz, Bemerkungen zur Technik der Blutalkoholbestimmung nach Widmark für Reihenuntersuchungen, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 24, 1935, 273-274; Günther Weyrich, Ein vereinfachtes Wägeverfahren für die quantitative Alkoholbestimmung im Blute nach Widmark, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 28, 1937, 354-358; G[ottfried] Jungmichel, Der Alkoholgehalt des Blutes und seine kriminalistische Bedeutung bei Verkehrsunfällen, 3. Aufl., Berlin-Dahlem 1939.
[27] Hierzu im Grundsatz kundig und detailliert Friedrich Herber, Gerichtsmedizin unterm Hakenkreuz, Paderborn 2006.
[28] Gerhard Buhtz, Begrüßungsansprache. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche, soziale Medizin und Kriminalistik auf der 29. Tagung in Innsbruck vom 15. bis 17. Mai 1940, Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 34, 1940, 1-7, hier 3 bzw. 7 (folgende Zitate).
[29] Otto Landt, Alkohol und Verkehrsgenuß. Trunkenheit ist zu messen, Neuland 43, 1934, 5.
[30] Erik M.P. Widmark, Untersuchungsobjekte für gerichtlich-medizinische Alkoholanalysen, Forschungen zur Alkoholfrage 46, 1938, 122-130, hier 123.
[31] Einen Eindruck vermitteln A. Gronover, Chemische und physikalische Bestimmungsmethoden von Alkohol im Blut, Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 70, 1935, 34-40, insb. 34; Müller-Hess und Wiethold, 1933.
[32] Als Einführung kann dienen Christopher Kopper, Modernität oder Scheinmodernität nationalsozialistischer Herrschaft. Das Beispiel der Verkehrspolitik, in: Christian Jansen, Lutz Niethammer und Bernd Weisbrod (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin-West 1995, 397-411.
[33] Vgl. Dietmar Fack, Automobil, Verkehr und Erziehung. Motorisierung und Sozialisation zwischen Beschleunigung und Anpassung 1885-1945, Opladen 2000.
[34] Vgl. hierzu differenziert Dorothee Hochstetter, Motorisierung und „Volksgemeinschaft“. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931-1945, München 2005, insb. 151-157 sowie allgemeiner Norbert Stieniczka, Wegbereiter auf bereiteten Wegen? Das Automobil als konservatives Symbol für Modernität, in: Ute Schneider und Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christoph Dipper, Frankfurt a.M. u. a. 2008, 403-421.
[35] Vgl. Hochstetter, 2005, 374.
[36] Zu behaupten, „Die Trunksucht war ein Hauptbestandteil der Nazi-Ideologie“, so Hjalmar Schacht in seiner Aussage vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg am 30.04.1946 (zit. n. Peter Steinkamp, Zur Devianz-Problematik in der Wehrmacht: Alkohol- und Rauschmittelmissbrauch bei der Truppe, Phil. Diss. Freiburg i.Br. 2008 (Ms.), 1), ist daher kaum angängig, mag es für bestimmte männerbündische Strukturen des NS-Regimes auch zugetroffen haben.
[37] Werner Haselier, Die Unfallrolle des Alkohols im Kraftfahrzeugverkehr, Med. Diss. Münster, Gelsenkirchen 1941, 17.
[38] Zit. n. Camerer, 1933, 194.
[39] Entziehung des Führerscheins wegen Trunkenheit, Neuland 44, 1935, 122.
[40] Vgl. Herbert Elbel, Blutalkoholkonzentration und Alkoholwirkung, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 28, 1937, 64-75, hier 65.
[41] Zu Himmlers Verwendung des Begriffs Blut s. Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, hg. v. Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt a.M., Berlin-West und Wien 1974, 53-57.
[42] Ferd[inand] Goebel, Kampf dem Verkehrstod! Unfälle und ihre Ursachen, Berlin-Dahlem 1937, 15.
[43] G[ottfried] Jungmichel, Der Alkoholgehalt des Blutes und seine kriminalistische Bedeutung bei Verkehrsunfällen, 3. Aufl., Berlin-Dahlem 1939, 16.
[44] Blut, in: Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin und New York 1998, 109-110.
[45] Adolf Hitler, Mein Kampf, 743.-747. Aufl., München 1942, 313, 316, 319.
[46] Vgl. hierzu schon Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz (Hg.), Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, insb. 355-381. Als Beispiel zeitgenössischer Kritik vgl. Hugo Iltis, Der Mythos von Blut und Rasse, Wien 1936.
[47] Otto Bangert, Gold oder Blut: Wege zur Wiedergeburt aus dem Chaos, München 1927; Alfred Rosenberg, Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 33.-34. Aufl., München 1934, insb. 22, 258, 560; Ders., Blut, Boden, Persönlichkeit, in: Ders., Blut und Ehre. Ein Kampf für deutsche Wiedergeburt. Reden und Aufsätze von 1919-1933, hg. v. Thilo v. Trotha, 5. Aufl., München 1935.
[48] Ernst Jünger, Das Blut [Standarte, 29. April 1926], in: Ders., Politische Publizistik. 1919 bis 1933, hg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, 191-196, hier 193, 194.
[49] Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, Hamburg 1999 (zu den Definitionsproblemen insb. 96-104); Alexandra Przyrembel, >Rassenschande<. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, insb. 24-42. Einseitig und vielfach fraglich dagegen Michael Ley, „Zum Schutze des deutschen Blutes …“. „Rassenschandegesetze“ im Nationalsozialismus, Bodenheim b. Mainz 1997.
[50] Pohl, Kampf dem alkoholbedingten Verkehrsunfall, in: Gegen den Mißbrauch – für Besseres! Ergebnisse der Jahrestagung / 6. bis 9. Oktober 1935 in Kiel / des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus, Berlin-Dahlem 1936, 18-22, hier 18.
[51] Richter, o.J., 24.
[52] Otto Graf, Über den Zusammenhang zwischen Blutalkoholkonzentration und physischer Alkoholwirkung, Arbeitsphysiologie 6, 1932, 169-213; Georg Klatt, Neue Versuche über die Wirkung des Alkohols auf die Arbeitsleistung, Neuland 41, 1932, Sp. 513-515.
[53] Wilhelm Danger, Experimentelle Studien zur Frage der Beziehungen zwischen Blutalkoholgehalt und Alkoholwirkung, Med. Diss. Göttingen 1938; Herbert Bauer, Experimentelle Beobachtungen an Kraftradfahrern unter Alkoholeinwirkung, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 29, 1938, 193-199.
[54] Siegfried Joachim Voges, Über Alkohol und Verkehrsgefährdung, Med. Diss. Düsseldorf 1937, 2.
[55] W. Hecksteden und W. Fehler, Über den Einfluß körperlicher Arbeit auf die Geschwindigkeit der Umsetzung von Alkohol im menschlichen Körper, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 36, 1942, 311-318.
[56] Haselier, 1941, 28.
[57] Vgl. etwa H[erbert] Elbel und J. Schmelz, Über Rauschverhütungsmittel, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 33, 1941, 259-264; Herbert Elbel, Pervitin und Alkohol, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 36, 1942, 90-100.
[58] R. Strohmayer, Alkohol und Verkehrsunfall, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 29, 1937, 11-33; Elbel, 1937, 66-68.
[59] Dies betont auch in anderem Zusammenhang Geoffrey J. Giles, Drinking and Crime in Modern Germany, in: Peter Becker und Richard F. Wetzell (Hg.), Criminals and Their Scientists. The History of Criminology in international Perspective, Cambridge u. a. 2006, 471-485, hier 485.
[60] Theo Gläß, Stich und Hieb im Kampf gegen den Alkohol. 50 Fragen und Antworten, 3. Aufl., Berlin 1936, 24.
[61] Dies betonte schon vgl. [Konrad] Weymann, Alkoholmißbrauch und Kriminalität, Berlin-Dahlem 1931.
[62] Vgl. Ders., Die Bekämpfung der Trunksucht und ihrer Folgen im Dritten Reich, Berlin-Dahlem 1934.
[63] Ferd[inand] Goebel, Kampf dem Verkehrstod! Unfälle und ihre Ursachen, Berlin-Dahlem 1937, 9.
[64] Vgl. etwa zu den Breslauer Prangerumzügen Przyrembel, 2003, 74-75.
[65] Richter, o.J., 29, berichtet über eine Anordnung des Magdeburger Polizeipräsidenten v. 27. August 1938, nach der die Fotos der Unfallverursacher im Haupteingang des Polizeipräsidiums öffentlich aufgehangen werden mussten.
[66] Anton Eppel, Der durch eigenes Verschulden tödlich verunglückte Fußgänger und sein Blutalkoholgehalt, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 32, 1940, 312-316.
[67] Haselier, 1941, 27.
[68] Zur Präventionspolitik vgl. Beil, Alkoholbedingte Verkehrsunfälle in Frieden und Krieg, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 33, 1941, 265-286, hier 279.
[69] Haselier, 1941, 27 bzw. 28 (nächstes Zitat).
[70] Joachim Gutschmidt, Spezifität der Blutalkoholbestimmung nach Widmark, Klinische Wochenschrift 18, 1939, 58-59.
[71] W. Deckert, Die analytisch bedingte Fehlergröße bei der Blutalkoholbestimmung nach Widmark und der Fehlereinfluss durch die Art der Blutaufnahme, Klinische Wochenschrift 18, 1939, 1193-1195.
[72] Rudolf Manz, Zur Frage psychotechnischer und psychiatrischer Alkoholversuche für forensische Zwecke, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 38, 1943, 168-190, insb. 168-169.
[73] Zur 1941 gegründeten Blutalkoholuntersuchungsstelle der Militärärztlichen Akademie vgl. Christoph Alex, Das Institut für Wehrgerichtliche Medizin der Militärärztlichen Akademie in Berlin 1938-1945, Med. Diss. Leipzig 1998, 65-75.
[74] Gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM), der deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) und der Deutschen Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Chemie (GTCH) zum Verzicht auf Blutentnahme bei Alkohol im Verkehr (2008) (https://www.gtfch.org/cms/index.php/sektorkommittee-der-dach). Vgl. auch Helmut Satzger, Die relevanten Grenzwerte der Blutalkoholkonzentration im Strafrecht, Juristische Ausbildung 2013, 345-360; Alkohol im Straßenverkehr, hg. v. d. Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (2017) (https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Broschueren/FS_Alkohol_im_Strassenverkehr.pdf).

Verschwundene Welten: Hanf, Haschisch und Cannabispräparate im 19. Jahrhundert

Die Liberalisierung von Cannabis nimmt ihren Lauf. Zahllose Einwände und Bedenken wurden in den Wind geschlagen, denn es ging um ein Freiheitsrecht, um einen weniger repressiven Zugang zu einem Kraut der Erlösung. Abseits des Binnendiskurses der Parteien wurden Interessengruppen, NGOs, medizinische und sozialtechnologische Experten eingebunden; doch nicht das Abwägen zwischen offenkundigen Gefahren, dem Jugendschutz, den vertriebstechnischen Problemen und den vielfältigen medizinischen, sozialpräventiven und wirtschaftlichen Verheißungen stand dabei im Mittelpunkt. Es galt vielmehr Wahlversprechen zu halten, eine der wenigen Gemeinsamkeiten der nun kollabierten Regierung in Form zu gießen. Für den Erfahrungsschatz der Menschheit, für die in Geschichte eingewobene Demokratie der Toten interessierte man sich dabei nicht – Vergangenheit ist heutzutage überholt, gilt es doch Neuland zu schaffen, die Zukunft zu gewinnen. Dabei ist das gängige Narrativ einer repressiven Verbotsgeschichte der Droge historisch höchst problematisch: Hanf war hierzulande im 19. Jahrhundert vielmehr doppelt präsent, verschwand aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg ebenfalls doppelt.

Zum einen zerbrach die tradierte heimische kleinbäuerliche Produktions- und Konsumkultur unter dem Zangengriff von Industrialisierung und Globalisierung. Dabei handelte es sich um den einheimischen Hanf, um Cannabis sativa. Zum andern aber blieb die Bedeutung des zwar seit langem bekannten, doch erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts voll Emphase erforschten Hanfes – also der Droge Hanf – relativ gering. Cannabis indica wurde vielfältig angewendet, war Teil zahlreicher Präparate, doch die Kombination unzureichender chemischer Kenntnisse und spekulativer Wirkmechanismen schloss eine erfolgreiche Karriere als Heilmittel letztlich aus. Die Droge Hanf fiel dem Markt zum Opfer, wurde durch leistungsfähigere Pharmazeutika verdrängt – und das lange vor der ersten gesonderten Einhegung durch das Opiumgesetz 1929.

Das Verschwinden des heimischen Hanfes: Landwirtschaftliche Produktion, gewerbliche Verarbeitung und Konsumwandel

Betrachten wir zuerst den heimischen Hanf: Cannabis sativa war keine Droge, sondern Alltagskultur. Hanf wurde vielfältig angebaut, be- und verarbeitet, war typisch für die materielle Kultur vor- und frühindustrieller Gesellschaften. Wir müssen uns daher zurückversetzen in die Welt um 1800, in der 90 Prozent der Menschen auf dem Lande lebten und klein- und unterbäuerliche Betriebe dominierten. Hanf diente nicht dem unmittelbaren Überleben, anders als Getreide und dann die Kartoffel. Hanfanbau war ein landwirtschaftliches Nebengewerbe, dezentral betrieben. Er ermöglichte einerseits Gelderwerb, anderseits aber die Herstellung von Stoffen, Kleidung und vielfältiger Hilfsmittel im hauswirtschaftlichen Verbund. Hanf war die „Leinwand der Armen“, weniger marktorientiert als die konkurrierenden Gespinstpflanzen Flachs und Leinen.

Hanf war eingebunden in eine vom Jahreslauf und Wetter abhängige Wirtschaftsweise. Die vielgestaltigen Verarbeitungsschritte zwischen Aussaat, Ernte und dem Verkauf von Faserstoffen und Samen füllten die Arbeitslücken der Subsistenzwirtschaft, erhöhten damit die Produktivität dieser Agrikultur. Hanf war Teil und Ausdruck strikt funktionaler Geschlechterverhältnisse. Aussaat und Ernte waren vornehmlich Männerarbeit, die langwierige Verarbeitung lag dagegen in den Händen der Frauen und Kinder, eventuell auch der Alten. Hanfanbau war trotz der hohen Bedeutung der Hauswirtschaft Teil des langsamen Vordringens der Geldwirtschaft und einer dann im 19. Jahrhundert bedeutsamer werdenden Marktorientierung bäuerlicher Haushalte.

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Biologische Ordnung: Abbilder von Cannabis sativa (Zorn, 1790, Taf. 532 (l.); Schlechtendal, 1833, Taf. 175; Hayne, 1856, Taf. 56 (r.))

Die Bilder, die wir von dieser Übergangswelt haben, sind daher keine Bilder des Alltags. Typisch hierfür sind die Zeichnungen des Hanfes. Seit Carl von Linnés (1707-1778) Arbeiten Mitte des 18. Jahrhunderts zielten sie vor allem auf eine Ordnung und Neuordnung der Welt, auf eine Taxonomie, die kaum ein Bauer dieser Zeit verstanden hätte: Hanf sah überall etwas anders aus. Botanisch-pharmakologische Bilder waren weniger Abbilder, denn Appelle. Sie zielten auf einheitliches Saatgut, auf höhere Erträge, auf produktivere Wirtschaftsweisen. Sie waren, so schön sie auch anmuten, bürgerlichen Utopien einer wohlhabenden und gebildeteren Welt – als solche aber auch blind gegenüber der vermeintlich indolenten Lebens- und Arbeitsweise der großen Mehrzahl.

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Frühe Mechanisierung der Hanfproduktion: Hilfen für das Brechen (Hard, 1795, Anhang)

Das zeigte sich insbesondere an den vielen dutzend Beschreibungen der komplizierten Verarbeitung der bis zu zwei Meter hohen und nach männlich und weiblich, nach Faser- oder Samenertrag unterschiedenen Hanfpflanze. Ich werde Ihnen die Einzelschritte nicht vorführen, jeder eine erfahrungsgeleitete Kunst für sich: Das Rösten, also Auslaugen und Einweichen der Stängel, das Trocknen, das Dreschen und Risten, das Brechen, das folgende Quetschen und Stampfen, schließlich das Stoßen und Hecheln – ehe dann Faser, Werk und Samen verarbeitet und/oder verkauft werden konnten.

Hanfanbau war harte Arbeit und ein kunstfertiges Nebengewerbe – und das galt ebenso für die Nutzung des Arbeitsertrages. Geprägt durch den späteren Drogendiskurs betrachten wir vornehmlich den Gebrauch des Hanfes als Heilmittel, waren Hanfsamen doch Heilspeise, diente Hanföl gegen Fieber, Diarrhoe und Harnbeschwerden. Doch verarbeiteter Hanf war zudem Stoff und Kleidung, mündete in Garn, Seile, Dämm- und Baustoffe, während Hanföl als Leucht- und Futtermittel, als Schmierstoff, Seife und Waschmittel diente.

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Wachsende Produktpaletten: Seile, Hemden, „Leinwand“, Säcke, Feuereimer und Schläuche aus Hanf (Koelnische Zeitung 1861, Nr. 186 v. 7. Juli, 4 (l. o.); ebd. 1839, Nr. 160 v. 9. Juni, 7 (l. u.); Aachener Zeitung 1843, Nr. 174 v. 24. Juni, 4 (m. o.); Kölnische Zeitung 1832, Nr. 314 v. 9. November, 8 (m. u.); Lippisches Intelligenzblatt 1826, 264 (r. o.); Kölnische Zeitung 1830, Nr. 248 v. 17. Oktober, 7)

Im historischen Längsschnitt sehen wir zugleich weniger die Größe und Bedeutung der alljährlichen Aufgaben, sondern eher die Zernierung der damit verbundenen Alltags- und Konsumkultur: Die seit dem späten 18. Jahrhundert in immer wieder neuen Artikeln, Pamphleten und Handbüchern festgehaltenen und dann vorrangig mündlich verbreiteten Anregungen für einen produktiveren Hanfanbau fanden langsam Widerhall. Dies führte zur Spezialisierung, zu marktbezogener Großproduktion. Dadurch etablierten sich bestimmte Regionen als Produktionszentren – in deutschen Landen vornehmlich Baden, international Russland als Massen- und Billiganbieter, Norditalien für gehobene Qualitäten. Diese Veränderungen waren jedoch nicht Schicksal, sondern erfolgten auch und gerade durch die Bauern selbst: Sie bauten vermehrt Kartoffeln und Rüben, Zichorien, Gemüse und Obst an, investierten zunehmend auch in die Milch- und Viehwirtschaft. Diese Agrargüter boten höheren Ertrag, etwas mehr Sicherheit. Der Hanfanbau nahm relativ langsam ab, sank seit Mitte des 19. Jahrhunderts dann aber auch in absoluten Ziffern, brach seit den 1880er Jahren schließlich zunehmend weg. 1913 wurden im Deutschen Reich noch ganze 200 Hektar mit Hanf bepflanzt.

Das langsame Ende des Hanfanbaus in Deutschland bedeutete jedoch noch kein Ende des Rohstoffs Hanf. Typisch für die beginnende erste Hochphase wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Globalisierung entwickelte sich das Deutsche Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert paradoxerweise zum weltweit wichtigsten Importmarkt für Hanfprodukte. Drehscheibe des Rohwarenmarktes waren Riga, St. Petersburg und Königsberg, verarbeitet wurde in Mitteldeutschland; zudem in großem Maße in Großbritannien.

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St. Petersburg als Ausfuhrhafen für Hanf (Das Buch für Alle 3, 1868, 21)

Die Importe erklären, dass Hanfprodukte in Deutschland bis in die 1870er/80er Jahre noch eine recht hohe Alltagsbedeutung hatten, sie teils gar noch gewannen. Seile, Hemden, Leinwand und Segeltuch, Säcke, Schläuche und Feuereimer waren Beispiele für Produkte, die anfangs in den Haushalten erstellt, dann aber von der verarbeitenden Industrie übernommen wurden. Auch neue Produkte gab es; am bekanntesten war gewiss Vogelfutter für Wellensittiche und Kanarienvögel, auch wenn hier die Gefahr bestand, das die Sänger bei einseitiger Hanfsamenmast fett wurden und nicht mehr tirilierten. Mischfutter war die marktbezogene Lösung. Selbst als gebändigte Zimmerpflanze fand man Hanf, wenngleich nur als Intermezzo der Jahrhundertwende.

Diese von Cannabis sativa getragene Konsumkultur verschwand in zwei Schritten: Erstens wurde heimischer Hanf seit den 1830er Jahren durch preiswertere, teils auch leistungsfähigere koloniale Rohstoffe substituiert – paradoxerweise landeten diese Massenartikel anfangs auf Schiffen mit Hanfsegeln an. Die kolonialen Ersatzprodukte hießen anfangs noch wie die Hanfpflanze: Sisal anfangs Sisal-Hanf, Jute Bombay-Hanf. Der Sprachwandel spiegelte das Verschwinden des Hanfes.

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Substitution des Hanfes durch koloniale Roh- und Halbfertigwaren: Anbau von Sisalagave und Produktion von Jute (Tewes, 1913, 110 (l.); Woodhouse und Kilgour, 1921, 65)

Seit den 1860er Jahren wurden Hanf zweitens dann auch durch neue industriell gefertigte Waren verdrängt: Baumwolle, Drahtseile, Petroleum, Dampfer und vieles mehr drang substituierend vor. Obwohl Hanf auch im frühen 20. Jahrhundert noch globale Handelsware war, waren Produkte aus Cannabis sativa hierzulande vor dem Ersten Weltkrieg großenteils verschwunden, boten einzig noch der deutschen Exportwirtschaft moderate Erträge.

06_Fliegende Blaetter_90_1889_Nr2285_Beil_p1_Der Welt-Spiegel_1912_05_19_Nr49_p2_Hanfsubstitute_Baumwolle_Dampfer_Hanffaser_Hanfsegel

Neue, „bessere“ Produkte: Baumwolle statt Hanffaser, Dampfer statt Segelschiffe (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2285, Beil., 1 (l.); Der Welt-Spiegel 1912, Nr. 40 v. 19. Mai, 2)

Das Verschwinden des einheimischen Hanfes war nahezu endgültig. Versuche einer Revitalisierung gab es sowohl während des Ersten Weltkrieges als auch während der NS-Zeit. Sie scheiterten recht kläglich. Verschwundene Alltags- und Konsumkulturen sind künstlich kaum wiederzubeleben. Das gilt lange Zeit auch für die zweite im langen 19. Jahrhundert verschwindende Hanfart, also den indischen Hanf, Cannabis indica, das Haschisch. Es kann allerdings erst Mitte des 19. Jahrhunderts in erwähnenswerten Mengen auf.

Der kurze Aufschwung des Indischen Hanfes: Cannabis zwischen Naturwissenschaften und Markt

Damals war das aus Indien, Ägypten und dem Nahen Osten eingeführte Haschisch – ein Extrakt des dort kulturvierten Cannabis indica – für kurze Zeit ein Modethema in der gebildeten und gelehrten Öffentlichkeit und den aufstrebenden Wissenschaften Chemie, Pharmazie und Medizin. Letztere entwickelten sich langfristig zum Taktgeber einer nicht nur fachwissenschaftlichen Debatte. Damit war das Versprechen verbunden, Hanf durch seine Reduktion auf dessen Chemie und Physiologie verstehen und einhegen, die Droge nutzen, ja sie beherrschen zu können.

Tastende Rezeption eines exotischen Rauschmittels

Dies schien rational zu sein, war zugleich aber ein Herausbrechen des Hanfs aus der Alltagskultur der Herkunftsstaaten. Der Weg von Laboratorium und Klinik zurück in die soziale, wirtschaftliche und politische Welt war lang und nicht ohne Brüche möglich. Hanf als Modethema basierte auf zahlreichen, vornehmlich in Reiseberichten beschriebenen Rauscherfahrungen, die dann hierzulande begrenzte Fortsetzungen fanden. Anders als der einheimische Hanf, eine uncharismatische Pflanze, deren Ausdünstungen einzig Schwindel und Kopfschmerzen hervorriefen, mit dem man schlimmstenfalls Hühner zum wirren Gackern und zum Tode bringen konnte, besaß Haschisch gleichsam eine Rauschgarantie und den Reiz der Sinneserweiterung.

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Der exotische Rausch als Möglichkeit (Wilhelm Busch, Krischan mit der Pipe [1864], in: Ders., Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, Hamburg 1959, 316-328, hier 321)

Im Zeitalter von Restauration und Biedermeier bewegte dies das bürgerliche Publikum – nicht aber die einheimischen Hanfbauer. Die damalige Themenkonjunktur darf allerdings nicht zum Fehlschluss verleiten, dass Haschisch damals etwas wirklich Neues war. Bereits in den zentralen Lexika des 18. Jahrhunderts finden sich ausführliche Darstellungen der „gleichsam trunken“ (Krünitz, Johann Georg, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, T. 21, 2. Aufl., Berlin 1789, 765-838, hier 826) machenden Wirkungen – und Wirkungsforschung gab es erst am heimischen, dann am indischen Hanf lange bevor die Droge hierzulande breiter verfügbar wurde.

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Sinneserweiterung und Orientinteresse: „Haschisch“ in der französischen Kultur des späten 19. Jahrhunderts (Baudelaire, 1864; Leroy, 1873; Monnier, 1877; Giraud, 1888)

Mitte des 19. Jahrhunderts bestand allerdings ein weitreichendes bürgerliches Interesse an dem exotischen Kraut, das weniger gefährlich schien als Opium beziehungsweise der hierzulande zunehmend wütende „Branntweinteufel“, also der Kartoffelschnaps. Die Folge war eine zunehmende Ästhetisierung des Haschischs, des exotischen Rausches. Die kulturellen Eliten in Frankreich und Großbritannien gingen voran, doch man folgte diesem Trend. Von diesem ästhetischen Überschuss des 19. Jahrhunderts zehrt die Droge bis heute, vom kleinen folgenarmen Lustgewinn im Rahmen der offiziell strikt disziplinierten bürgerlichen Gesellschaft.

Die kulturelle Aufladung des Haschisch ging einher mit zeittypischen Fremdbildern: Die vermeintliche Faulheit des Muselmanen fand ihren Widerhall im Drogendiskurs, die koloniale Eroberung Indiens so eine scheinbar rationale Begründung. Und der vermeintliche Gestank des russischen Hanfbauerns wurde parallel als Ausdruck slawischer Rückständigkeit gedeutet. Das gebildete Bürgertum war mythenschwanger, stellte sich an die Spitze der kulturellen und wirtschaftlichen Aufstiegsgeschichten; obwohl der parallel voll Inbrunst besungene deutsche Wein, das gesellig genossene goldene Bier Arabern, Indern und Slawen ihrerseits irritierendes Missbehagen bereitet hätte. Festzuhalten aber ist: Haschisch war nicht nur Teil eines imperialen Ausgriffs auf die naturalen Ressourcen der Welt, sondern diente auch der Rechtfertigung der europäischen Hegemonie in einer von Kolonialismus und Imperialismus zunehmend geprägten Welt.

Verwissenschaftlichung: Medizin, Pharmazie und Wirtschaft als Umgestaltungsmächte

Neben der kulturellen Aufladung unterschied sich die Rezeption des indischen Hanfes ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der früherer Zeit vorrangig durch wissenschaftliche und vor allem wirtschaftliche Interessen. Es ging um eine genauere Kenntnis der Droge, um Gesundheitsvorsorge, vor allem aber um wirtschaftlich nutzbare Anwendungsgebiete.

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Heilwirkungen des Hanfes als Forschungsproblem (Tscheppe, 1821; Freudenstein, 1841)

Gerade die deutschen Wissenschaftler waren um 1850 hoffnungsfroh, die zuvor dominierenden französischen und britischen Forscher übertreffen zu können: Selbstversuche folgten, Patientengeschichten füllten gelehrte Journale; in Berlin, Würzburg, Marburg, Erlangen und weiteren Städten wurden Experimente an Tieren und Menschen durchgeführt.

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Von der ambivalenten Exotik zur wissenschaftlichen Erforschung (Bibra, 1855; Martius, 1856; Fronmüller, 1869)

Hierzulande vermied man anfangs die in Westeuropa übliche, fast willkürliche Breite der Experimente. Man lernte aber nicht nur von den Ergebnissen dieser Vorreiter, sondern knüpfte auch an die bekannten Heilwirkungen des heimischen Hanfes an: Hanföl diente zum Einreiben, Hanfchloroform zum Inhalieren, deutsches Hanfkraut auch zum Rauchen. Hanfextrakt galt als Beruhigungsmittel, konnte Schmerzen mildern und Krämpfe stillen, diente der Therapie von Lungen- und Geschlechtskrankheiten, von Augen- und Harnleiden. Und doch: Die Begeisterung ebbte rasch ab, denn Cannabis indica war ein unsicheres Kraut. Herkunft und Zusammensetzung der Präparate waren uneinheitlich und unklar. Verlässliche Wirkungen waren kaum zu erzielen. „Die Sache schlief […] ein“ ([Georg] Fronmüller, Klinische Studien über die schlafmachende Wirkung der narkotischen Arzneimittel, Erlangen 1869, 46).

Intellektuelle Engführung: Wirkstoffsuche

Hanf blieb dennoch ein Thema: Doch die Forschung verengte sich, ging vom Naturstoff auf die Suche nach Wirkstoffen über. Dies schien der einzige Weg, um das importierte Stoffgemenge des Haschischs ordnen und neue Darreichungen bieten zu können. Angesichts der damaligen großen Erfolge etwa der Pharmazie und der Farbenchemie erscheint uns dies logisch und zielführend: Wer wollte die Leistungsfähigkeit solchen Wissens bestreiten? Doch Sie sollten vielleicht bedenken, dass die Reduktion eines dicken Buches auf wenige Passagen, gar auf nur einen Satz, vieles zur Seite drängt, vielleicht auch schlicht ignoriert.

Erste Schritte auf diesem Weg erfolgten durch die Eingliederung des Hanfes in die regulative Welt der damaligen Zeit. 1861 fanden Hanfpräparate Eingang ins preußische Arzneibuch, 1872 ins deutsche Pendant. Die Präparate wurden in Pillenform, vor allem aber in Alkohollösung verabreicht, dienten als Narkotikum, Schlaf- und Asthmamittel. Entscheidend war hierbei noch die Interaktion von Apotheker und Mediziner. Ein Risikodiskurs bestand, denn Dosierungsvorschläge unterschieden sich im späten 19. Jahrhundert um das mehr als Zehnfache.

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Versuchstiere im Haschischrausch (Fränkel, 1903, 280; Czerkis, 1907, 69)

Klarheit war von Nöten – und entsprechend entwickelte sich um die Jahrhundertwende eine recht intensive Grundlagenforschung. Durch die Suche nach dem Hauptwirkstoff verengte sich der Blick auf das Haschisch-Gemenge allerdings weiter, und eine stetig verbesserte Analytik half dabei: Damals galt das Cannabinol als Hauptwirkstoff, eine typische wissenschaftliche Modellkonstruktion, die ab 1940 ja gleichsam offiziell vom CBD, ab 1964 dann zudem vom THC übernommen wurde.

12_Haschisch_Wirkstoffforschung_Cannabiol

Was ist Cannabiol? Antworten um die Jahrhundertwende

Die damalige Forschung stand allerdings vor den gleichen Problemen wie heutige Regulierungsinstanzen. Das Wissen um die kausale chemisch-pharmakologische Wirkung des Hanfs blieb begrenzt. Mangels synthetischer Stoffe war jede Standardisierung schwierig, der Naturstoff blieb widerspenstig. Man ahnte, was man verabreichte und verarbeitete, genau aber wusste man es nur ansatzweise. Wie sollte man dann kausale Wirkungen hervorrufen?

Arznei, Geheimmittel, Beigabe: Aufkommen und Verschwinden der Cannabis-Präparate im Alltag

Die intensivierte Forschung erfolgte allerdings nicht interessenlos, sondern war immer auch auf die sich rasch entwickelnden Märkte der Spezialitäten, der pharmazeutischen Präparate ausgerichtet. Hanfforschung war Markterschließung. Doch fehlende Standardisierung, unklare Wirkstoffe, ein Risikodiskurs und das stete Aufkommen pharmazeutischer Substitute begrenzten die Markterfolge sowohl der über Apotheken vertriebenen Hanfpräparate als auch der beträchtlichen Zahl neu entwickelter Pharmazeutika.

Pharmazeutische Angebote

Deren Zahl ging weit über die in der Hanfaktivistenliteratur eklektisch genannten Beispiele hinaus. Verlassen wir also die seit den 1850er Jahren etablierte Sphäre der Apothekenpräparate und blicken näher auf die Angebote der pharmazeutischen Industrie, eine der Leitbranchen der sogenannten zweiten Industrialisierung.

Am Anfang stand die 1850 in Darmstadt gegründete Firma Merck. Sie bot von Beginn an Cannabispräparate an, entwickelte in den 1880er Jahren jedoch neuartige Angebote. Cannabium tannicum, Cannabion und Cannabin waren allerdings noch keine Arzneimittel modernen Typs, sondern Pharmazeutika auf der Suche nach Anwendungsfeldern. Es waren Annäherungen an wirkstoffbasierte Präparate, deren Zusammensetzung und Aussehen sich mit der Zeit forschungsbasiert veränderte: Cannabium tannicum wurde als Schlafmittel vermarktet, auch als Beruhigungsmittel. Cannabion war deutlich höher dosiert, sollte auch gegen Hysterie und Nervenschwächen helfen. Cannabin diente vornehmlich als Grundstoff für weitere Präparate sowie als Beruhigungsmittel.

13_Pharmazeutische-Industrie_Multinationale-Konzerne_Koloniale-Rohwaren_Cannabis

Indischer Hanf als Grundstoff für aufstrebende pharmazeutische Großbetriebe

Merck ist das wichtigste deutsche Beispiel für eine wachsende Zahl multinationaler Pharmazieunternehmen, die sich anfangs auf die Verarbeitung naturaler Rohstoffe konzentrierten, sich dagegen weniger mit der Synthese möglicher Wirkstoffe befassten. Gerade die angelsächsischen Anbieter produzierten global beworbene Geheimmittel, die sie mit neuartigen Werbeformen vermarkteten. Kolonialismus, Wirtschaftsimperialismus und Heilmittelproduktion gingen Hand in Hand.

14_Deutsche Medicinische Wochenschrift_19_1893_Nr24_Beil_Pharmazeutika_Cannabis_Schlafmittel_Bromidia_Radlauer

Bromidia: Schlafmittel mit Cannabis-Zusatz (Deutsche Medicinische Wochenschrift 19, 1893, Nr. 24, Beil.)

Typisch dafür war das von der US-Firma Battle & Co. seit 1886 produzierte Schlafmittel Bromidia, das einige Jahre später auch in Deutschland angeboten wurde. Hanfextrakt und Bilsenkraut waren darin enthalten, die eigentliche Wirkung aber resultierte aus dem seit 1873 synthetisch verfügbaren Chloralhydrat. Bromidia war von schwankender Zusammensetzung, machte rasch abhängig, wurde aber erst 1907 auf die Geheimmittelliste gesetzt. Es wurde durch erste Barbiturate – etwa das seit 1903 von Bayer und Merck produzierte Veronal – jedoch vom Markt verdrängt. Bromidia war ein Hanfpräparat, stand zugleich aber für Hanf als Beigabe. Hanf war Puffer, ein dienender Stoff, der schädigende Wirkungen der Hauptwirkstoffe abschwächte.

15_Nebelspalter_20_1894_H6_sp_Ebd_52_1926_H10_p7_Neue Zuercher-Zeitung_1892_Nr166_Bl2_p4_Engadiner Post_1910_Nr16_p5_Drogerieartikel_Huehneraugen_Haschisch_Cannabis_Karrer_Zuerich

Namensgebende Beigabe: Karrers Haschisch gegen Hühneraugen (Nebelspalter 20, 1894, H. 6, s.p. (l.); Neue Zürcher-Zeitung 1892, Nr. 166, Bl. 2, 4 (m. o.); Engadiner Post 1910, Nr. 16, 5; Nebelspalter 52, 1926, H. 10, 7 (r.))

Das zeigte sich auch beim zahlenmäßig sicher wichtigsten Einsatzfeld von Cannabis, den Hühneraugenmitteln. Auch dort diente Hanf als Puffer, in diesem Fall für die 1873 erstmals synthetisierte Salicylsäure. Anfangs als Wundermittel breit eingesetzt, begann man ab den späten 1880er Jahren mit der Imprägnierung von Wundverbänden, dann seit den frühen 1890er Jahren auch von Pflastern. Hanf dämpfte die ätzende Wirkung der Säure.

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Hanf als Pufferstoff: Hühneraugenpflaster

Die Hamburger Firma Beiersdorf war nicht nur ein Pionier bei Pflastern, sondern auch bei der Etablierung global vermarkteter Markenartikel, etwa dem hanfhaltigen Cornilin. Weltweit bedeutsamer dürfte allerdings das US-Präparat Cornicide gewesen sein. Hühneraugenpflaster mit Hanf wurden parallel aber auch von vielen Versandapotheken angeboten. In den 1920er Jahren lief diese Phase aus, denn die breit beworbenen Kukirol- und insbesondere die 1905 eingeführten Lebewohl-Präparate dämpften die Wirkung der Salicylsäure auch ohne Hanf ab.

Doch blicken wir breiter, denn es gab zudem Dutzende grundsätzlich frei oder auf ärztliches Rezept käufliche weiterer Hanfpräparate. Die Einsatzgebiete waren breit gestreut: Psychopharmaka, Tuberkulose- und Beruhigungsmittel dominierten, doch Cannabis sollte auch bei Verdauungsproblemen helfen, bei Husten, der Haarpflege, bei Menstruationsbeschwerden und Geschlechtskrankheiten sowie generell bei Schmerzen. Festzuhalten ist, dass diese zahlreichen Medikamente nach relativ kurzer Zeit durch leistungsfähigere Pharmazeutika ersetzt wurden. Hanf fiel durch das Raster des Marktes, wurde substituiert, verschwand.

Cannabishaltige Asthma-Zigaretten

Während die pharmazeutischen Angebote eng an die Interaktion von Patient, Apotheker und Mediziner angelehnt waren, verwies das Marktsegment cannabishaltiger Asthma-Zigaretten auf den damaligen Übergang zur Interaktion von Patient und Produkt. Die Asthma-Zigaretten standen zugleich für veränderte Konsumformen des indischen Hanfes, der bis in die 1870er Jahre vornehmlich gegessen, geschluckt und getrunken, aber nur selten geraucht wurde.

Asthma war keine heilbare Krankheit, doch seit dem 18. Jahrhundert konnten Hustenattacken und Atemnot zumindest gemildert werden. Dazu nutzte man vor allem Bilsenkraut, Tollkirsche und Stechapfel. Diese wurden getrocknet, in Pfeifen und Zigarren geraucht, daneben mittels Inhalatoren eingeatmet. Der Markt war breit – und wurde seit den späten 1850er Jahren durch Hanfkraut erweitert. Es waren französische Anbieter, Espic und die in Deutschland ab 1871 rasch dominierende multinationale Firma Grimault, die für solvente bürgerliche Kunden einfach konsumierbare Joints anboten. Ihr regelmäßiger Konsum, zwei Stück pro Tag, sollte die Asthmaanfälle nicht nur in akuten Fällen mildern, sondern auch präventiv wirken.

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Cannabis-Zigaretten als Alltagsphänomen (Kölnische Zeitung 1871, Nr. 359 v. 28. Dezember, 4 (l.); ebd. 1876, Nr. 64 v. 4. März, 4; ebd., 1881, Nr. 5 v. 5. Januar, 4 (r.))

Die süßlich schmeckenden und riechenden Zigaretten wurden in schicken gelben Packungen angeboten und durch Anzeigen breit beworben, in denen der Wirkstoff Cannabis in den Vordergrund trat. Hauptwirkstoff waren jedoch fein zerstoßene Tollkirschenblätter. Grimaults Indische Zigaretten wurden bis 1885 in Deutschland beworben, dann wieder ab 1895. Das zeitweilige Aussetzen war Resultat begründeter Betrugsvorwürfe: Kontrollen ergaben nämlich kaum nachweisbare Mengen des im Vergleich zu Tollkirsche deutlich teureren Cannabis. Warnungen folgten, denn zu wenig Hanf bedeutete eine „Täuschung und Übervorteilung des Publikums“ (Karlsruher Tagblatt 1885, Nr. 117 v. 30. April 1891).

Neben Grimault und Espic gab es zahlreiche weitere Asthmazigaretten, darunter auch viele ohne den Pufferstoff Cannabis. Seit den 1890er Jahren mischten auch deutsche Hersteller Hanf und andere Kräuter zu Medizinalzigaretten. Das beste Beispiel hierfür ist das 1900 gegründete Berliner Startup-Unternehmen Bronchiol, welches Tabak, Stechapfel und Cannabis vermengte. Der Absatz erfolgte über die lokalen Apotheken, im Idealfall also einem Netzwerk von etwas über 5.000 Verkaufsstellen. Nicht alle führten Bronchiol, an vielen Orten gab es nur einen Verkäufer – doch im Falle eines Falles wurden die Medizinaljoints Kunden aber auch zugesandt.

18_Hamburger Nachrichten_1900_11_29_Nr280_p11_Strassburger Post_1902_04_27_Nr390_p7_Muenchner Neueste Nachrichten_1900_09_20_Nr435_p11_Asthmazigaretten_Bronchiol_Joints_Heilmittel_Cannabis

Werbung für Bronchiol-Zigaretten in Hamburg, München und Straßburg (Hamburger Nachrichten 1900, Nr. 280 v. 29. November, 11 (l.); Straßburger Post 1902, Nr. 390 v. 27. April, 7; Münchner Neueste Nachrichten 1900, Nr. 435 v. 20. September, 11 (r.))

Die Werbung wurde reichsweit geschaltet, war informativ, nicht reißerisch. Bronchiol war deutlich billiger als die Konkurrenz, denn Tabak war günstiger als die sonst üblichen Kräuter. Dies verweist auf den Preiskampf im Markt, durch den das relativ teure Cannabis unter Druck geriet.

Bronchiol zeigte, wie einfach es im Kaiserreich war, cannabishaltige Produkte nicht nur lokal, sondern reichsweit und auch international zu vermarkten. Als 1914 die Rohstoffzufuhr nicht mehr gewährleistet war, endete der Firmenbetrieb. Zu dieser Zeit hatten jedoch schon viele Anbieter auf Hanf als Pufferstoff verzichtet. Teils wurde er durch preiswertere Pflanzen – etwa Grindelien (Brachycladus Stuckerti, Merck) – substituiert, teils übernahm getränktes Zigarettenpapier dessen Aufgabe. Obwohl Asthmazigaretten noch bis in die 1950er Jahren angeboten wurden, wurden sie seit den 1920er Jahren doch durch synthetische Arzneimittel auf Ephedrin- oder Theophyllinbasis aus dem Alltag verdrängt.

Nährpräparate

Fast vernachlässigbare Bedeutung hatten dagegen Nährpräparate. Einheimischer Hanf war noch im 18. Jahrhundert in der Alltagsküche präsent, Hanfsamen wurden in Suppen gekocht, Hanföl diente zur Stärkung und zur Würze. Im späten 19. Jahrhundert gab es lediglich noch in Ostdeutschland Hanfsuppen als Weihnachtsspeise. Hanfsamen dienten lange als Kräftigungsmittel für Schwangere, als Nährmittel für Säuglinge. Dies hielt sich in der Pädiatrie bis ins frühe 20. Jahrhundert, auch wenn einschlägige Präparate in klinischen Tests durchfielen.

In der europäischen Peripherie sah das jedoch anders aus. Jedem Hanfaktivisten steht dabei gewiss Maltos Cannabis vor Augen, das der Freigabe-Lobby 2019 während der Debatten um die EU-Novel-Food-Verordnung noch als Argument für die lang zurückreichende Tradition von Nährpräparaten mit Gesundheitswirkungen gedient hat. Wer kann schon widerstehen, wenn das Präparat den Sensenmann so wunderschön bannt. Fakt ist jedoch: Es handelte sich hierbei um Cannabis sativa, nicht um indischen Hanf. Hanfbrei aus Hanfsamen galt volksmedizinisch als Heilmittel bei Tuberkulose. Evangelikale Christen in Mittelschweden empfahlen diesen Frischkornbrei, Pharmazeuten griffen diese Anregung auf, entwickelten Hampfröeextrakt, ein getrocknetes Pulver, ein Convenienceprodukt für die vielgeplagte Hausfrau. Die Stockholmer Firma Röda Korset fügte dem Pulver 1893 Malz hinzu, um es schmackhafter und nährender zu machen, um es zugleich in heiße Flüssigkeit einrühren zu können.

19_Amerikanska Posten_1893_12_23_p28_Aftonbladet_1894_05_11_24_Ebd_1894_02_12_p1_Hanfbrei_Hanfpraeparate_Maltos-Cannabis_Roda-Korset_Hanfgetraenk_Stockholm

Vom Hanfbreipulver zum Hanfgetränk (Amerikanska Posten 1893, Ausg. v. 23. Dezember, 28 (l. o.); Aftonbladet 1894, Ausg. v. 11. Mai, 24 (l. u.); ebd. 1894, Ausg. v. 12. Februar, 1)

Dieses Produkt war zeitweilig erfolgreich, es gab auch Nachfolgeprodukte. Als Nährpräparate wurde Maltos Cannabis 1896 jedoch von einem Nährsalzprodukt ersetzt, der getrocknete, zermahlene und fortifizierte Hanfsamen vom Anbieter selbst substituiert. Malzhaltige Hanfpulver gab es in Schweden und einigen Auslandsmärkten auch danach, doch sie blieben Ausnahmen. Wieder sehen wir das typische Muster: Hanf wurde gewerblich genutzt, verschwand jedoch nach nicht allzu langer Zeit, „bessere“ Produkte traten an dessen Stelle.

Fazit und Transfer: Das 19. Jahrhundert als Bezugsrahmen für die heutige (De-)Regulierung von Cannabis

Wir sind am Ende unseres Parforceritts angelangt – und ich will ein Fazit wagen, um die historische Entwicklung im Analogieschluss als Folie für die heutige Situation nutzen; denn unsere Vorfahren hatten durchaus ähnliche Aufgaben zu meistern wie wir heute.

Erstens: Hanf verschwand im langen 19. Jahrhundert in Deutschland doppelt: Cannabis sativa im bäuerlichen Alltag und Cannabis indica in den Waren- und Dienstleistungsangebote. Dies war Folge von Substitutions- und Marktmechanismen, nicht aber von staatlicher Regulierung.

Zweitens: Im 19. Jahrhundert entstanden gleichwohl die für die heutige Debatte über Cannabis entscheidenden Akteure: Erstens eine stofflich-reduktionistische Betrachtungsweise in Form chemisch-pharmakologischer Forschung. Zweitens ein in Einzelbereichen (Alkoholprävention, Kindersterblichkeit) erfolgreich agierender Interventionsstaat, der die Aufgaben bürgerlicher Selbstbestimmung für vermeintlich vulnerable Gruppen übernahm.

Drittens: Heutige Deregulierungsdebatten erinnern an die Zeit ab den 1860er/70er Jahren, der Hochzeit des liberalen Bürgertums und des beginnenden Imperialismus: Es geht um das Zurückdrängen des in den frühen 1970er Jahren zunehmend starken Staates unter  bürgerlichen Motiven der Selbstverwirklichung und der geregelten Nutzung aller verfügbaren stofflichen Ressourcen. Wie im 19. Jahrhundert wird dies durch global agierende Unternehmen vorangetrieben, während die Wissenschaft zwischen Risikodiskurs und häufig unklaren Wirkungen schwankt. Das marktgetriebene doppelte Verschwinden des Hanfes im 19. Jahrhundert wird dabei nicht bedacht – auch nicht, dass die vielfältigen Erwartungen an den indischen Hanf im 19. Jahrhundert letztlich trogen. Stattdessen sollen heutzutage verbesserte Produktionstechniken, vertieftes chemisch-physiologisches Wissen (inklusive Synthese) und Sozialtechnologie den Unterschied machen. Diese „Verwegenheit der Ahnungslosen“ (Jürgen Dahl) ist Ausdruck eines utopischen Gestaltungsoptimismus, der sachlich kaum belegbar, empirisch aber auch kaum falsifizierbar ist. Angesichts der vorliegenden Analyse der doppelten Verschwindens des Hanfs im langen 19. Jahrhundert, angesichts auch der historischen Erfahrungen mit unterschiedlichen Drogen ist es jedoch wahrscheinlich, dass die immensen Hoffnungen auf Entkriminalisierung, neue leistungsfähige Medikamente, wirtschaftlichen Boom und eine weniger repressive Gesellschaft trügen werden.

Uwe Spiekermann, 16. November 2024

Das vorliegende Manuskript fasst zwei Vorträge zusammen: Der erste wurde am 25. Juni 2022 anlässlich einer Fortbildungsveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie in Hamburg gehalten, der zweite, in englischer Sprache, am 25. September 2024 auf dem Annual Meeting of the German Pharmaceutical Society in Münster. Zur Vertiefung sowie für Quellen- und Literaturangaben lesen Sie bitte die vier im Text verlinkten ausführlicheren Aufsätze.

Leistungskampf und NS-Betriebsgemeinschaft: Die Abenteuer des Tobias Groll

Tobias Groll war ein Strichmännchen, eine Bannerfigur des nationalsozialistischen Leistungskampfes vor dem Zweiten Weltkrieg. Zwanzig vierbildrige „Abenteuer“ spiegelten damals Herausforderungen des betrieblichen Alltags, zeichneten ein Idealbild gemeinsamer Arbeit und kameradschaftlichen Miteinanders. Sie waren eingebettet in den 1936 einsetzenden Leistungskampf der deutschen Betriebe. Die Comicstrips begleiteten und lenkten die Arbeitsintensivierung während des Vierjahresplanes, während der forcierten Umstellung der deutschen Wirtschaft auf Kriegsbedarf. Getragen von der Deutschen Arbeitsfront präsentierten die Abenteuer des Tobias Groll zugleich möglichen Lohn für all die Mühsal: Nicht nur das Leben, auch der Arbeitsalltag sollte schöner, gar schön werden, umrahmt von vielfältigen Angeboten für Geselligkeit und Fortbildung, für Hygiene und eine völkischen Betriebsgemeinschaft. All das würde gelingen, wenn man sich, wie letztlich Tobias Groll, in den Dienst für die gemeinsame Sache stellte, Teil der deutschen Leistungsgemeinschaft wurde. Die Comicstrips waren plakative Mahnungen, eröffneten Möglichkeiten des Einreihens. In ihnen wird zugleich die Vielgestaltigkeit nationalsozialistischer Alltagspropaganda deutlich, handelte es sich doch um Massenbeeinflussung abseits des großen Gepränges, der nationalen Weihetage, der Betriebsappelle und Führerreden. Tobias Grolls Abenteuer waren kleine Helfer gegen den täglichen Zweifel, gegen Widerstände im Inneren der Einzelnen. Sie waren eintröpfelnde Propaganda in kleiner Münze, als solche kaum bedeutsam, im Ensemble aber ein wichtiges Element des Alltagslebens und des willigen Mitmachens während der NS-Zeit.

Kampf und Leistungskampf: Dynamisierende Sprache

Die kleine Serie wird verständlich, führt man sich die veränderten Rahmenbedingungen des Arbeits- und Alltagslebens vor Augen: Die Zerschlagung der Betriebsverfassungen und der Gewerkschaften seit 1933, den Bedeutungsgewinn der Deutschen Arbeitsfront, die zunehmende Arbeitsintensivierung nach Abbau der Arbeitslosigkeit, die veränderte Stellung der betrieblichen Sozialpolitik. All das gilt es näher zu beleuchten, bevor wir Tobias Groll und seine Abenteuer genauer analysieren. Falls Sie gleich zu den Bildgeschichten vorstoßen wollen, so können Sie natürlich auch herunterscrollen.

Herunterscrollen ist Teil unserer heutigen Sprache – und wäre vor einem Jahrhundert nicht verstanden worden. Wir müssen uns eingangs daher umgekehrt auf die andere Sprache von Tobias Grolls Zeit einlassen, die nicht nur euphemistisch Ausgrenzung, Raub, Mord und Vernichtung ummäntelte, sondern auch die Interessengegensätze des Lebens im Begriff des Kampfes bündelte. Das hing teils mit den Besonderheiten der deutschen Sprache zusammen, denn Zusammensetzungen und Ableitungen bieten immense Möglichkeiten kreativer Wortschöpfungen (Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, 4. Aufl., München und Zürich, 1987, 45-52). Kampf war einerseits zentral für den nationalsozialistischen Sprachgebrauch. Zugleich aber spiegelte dieses Wort schon lange zuvor die Kontingenzerfahrung der Moderne, also das Grundbewusstsein, dass Sachverhalte nicht einfach mehr gegeben sind, sondern so oder auch anders verstanden und behandelt werden können. Unterschiede münden in den Konflikt, in den Kampf.

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Kampf als Schlüsselbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts (erstellt auf Basis des Wortkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache, DWDS.de)

Weiter auszuführen würde uns auf Abwege führen, allerdings auf breite. Die 1870er Jahre waren hierzulande vom Kulturkampf geprägt, parallel waberte der darwinistische Kampf ums Dasein langsam ins soziale Leben. Der Reichstag schien vom Parteienkampf, vom neuartigen Wahlkampf geprägt, in den Grenzregionen des neuen Reiches nahmen Nationalitätenkämpfe an Schärfe zu. Aufstrebende Kräfte mobilisierten im Sinne von Klassen- und Geschlechterkampf. Nicht nur sprachlich drang das Kämpfen in die Worte ein: Feuer- und Brandbekämpfung wurden modernisiert, Seuchenbekämpfung mittels neuartiger Impfstoffe möglich. Die Ernten konnten dank Schädlingsbekämpfung sicherer werden, der bürgerliche Garten gewann durch regelmäßige Unkrautbekämpfung. Auch Freizeit und Konsumsphären waren von Kampfesmetaphern erfüllt. Der Wettkampf um den Kunden war entbrannt, der Ringkampf stand für den Kampf um den Sieg im zunehmend kommerzialisierten Sport.

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Qualität und Schönheit als Hilfsmittel im Kampf ums Dasein (Über Land und Meer 103, 1910, 445 (l.); Wiener Bilder 3, 1898, Nr. 33, 15)

Der Erste Weltkrieg brachte nicht nur Leid und Tod mit sich, sondern spiegelte sich auch in zahllosen neuen Worten. Das galt nicht nur für Kämpfer der eigenen Truppen, auch für Komposita wie Einzelkämpfer, Nahkampf, Grabenkampf, Stellungskampf, Straßen- oder Häuserkampf, mit denen die Intensität des wechselseitigen Massakrierens eingefangen wurde, während der Luftkampf anfangs noch an die althochdeutschen ritterlichen Kämpen und die Tugenden des Zweikampfes zu erinnern schien. Dieser Mythos des ehrsamen Kampfes war tief eingewurzelt, fand seinen Widerhall in der Kriegslyrik dieser Zeit: „Sorge flieht, und Not wird klein, / Seit der Ruf geschah. / Mag ich morgen nimmer sein – / Heute bin ich da!“ (Hermann Hesse, Nachtgefühl auf Vorposten, Die Woche 17, 1915, 141)

Das Kriegsende war sprachlich jedoch kein Einschnitt, denn während der Barrikadenkämpfe des Kampfes um die Republik reimte sich nicht nur der Pulverdampf gefällig. Begriffe wie Weihnachtskämpfe, Ruhrkampf, Ruhreisenkampf sowie die zahllosen Kampfbünde – von dem der Deutschen Architekten bis hin zu dem gegen den Bolschewismus, später auch den Faschismus – kennzeichnen bis heute die zerklüftete, widerstreitende, kaum auf breitem Einvernehmen gründende Weimarer Republik. Das galt aber auch für den Kampf gegen die Pfunde angesichts neuer Körperideale oder des Kampfes im Massensport der Zeit, im Boxkampf und Kampfsport, bei Olympiakämpfern, Fünf- und Zehnkämpfern.

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Kampf auf allen Seiten (Die Leuchtrakete 11, 1933, Nr. 10, 2 (l.); Der Rote Stern 8, 1931, Nr. 5, 7)

Für die nationale Opposition, die völkischen Gruppen, dann für die NS-Bewegung war Kampf sprachlich auch nach 1918 weiterhin Alltag, wurde der Kampf um den Staat kriegsgemäß geführt – und dies galt ebenso für linkssozialistische und kommunistische Akteure in und außerhalb des Reichsfrontkämpferbundes. Der „Messerkampf“ (Jugend 35, 1930, 370) war für sie alle Lebenserfahrung, auch wenn sich die bedächtigere Eiserne Front in ihrem Freiheitskampf stärker zurückhielt. Der Bürgerkrieg seit Beginn der Präsidialregime und die Machtzulassung der NSDAP durch ihre nationalistisch-konservativen Bündnispartner bedeuteten gleichwohl noch keinen Höhepunkt der Begriffsverwendung. Das NS-Regime blickte eben nicht nur zurück auf Hitlers „Mein Kampf“, auf die vergangene Kampfzeit und den Kult der alten Kämpfer. Stattdessen wurde seit 1933 der Kampfesbegriff auf das Alltagshandeln übertragen, für die anstehenden Aufgaben gar geweitet (ahistorisch: Mark Dang-Anh, Kampf, in: Heidrun Kämpfer und Britt-Marie Schuster (Hg.), Im Nationalsozialismus, Göttingen 2022, 413-444).

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Kampf gegen Hunger und die Roten (Baruther Anzeiger 1936, Nr. 5 v. 1. Oktober, 6 (l.); Völkischer Beobachter 1939, Nr. 176 v. 25. Juni, 28)

Dabei übernahm das NS-Regime einerseits Kampfesmetaphern der Arbeiterbewegung, führte die Rhetorik linker und linksextremistischer Parteien fort. Zugleich aber wandelten sich die Gegenspieler, denn Klassenkampf konnte es in der neuen Volksgemeinschaft nicht mehr geben. An dessen Stelle traten abstrakte Gefährdungen, wie etwa Hunger oder Arbeitslosigkeit, zugleich aber die erklärten Feinde der NSDAP und der von ihr angestrebten Rassengemeinschaft. Das galt für den „Marxismus“, den „Bolschewismus“ und das „Judentum“. Ähnliches galt für Begriffe, die den Kampf unmittelbar positiv besetzten. Man kämpfte für Nahrungsfreiheit, für ein besseres, den Adel der Arbeit ehrendes Leben. Ebenso wie bei den Linksparteien war Kampf jedoch nicht stillzustellen. Kampf galt eben als elementar, als überindividuelles Schicksal, als Grundbedingung im nicht stillzustellenden Rassenkampf. Der Einzelne hatte sich dem anzupassen, konnte mitkämpfen oder sich volksvergessen abducken. Dadurch definierte der Einzelne selbst seine Stellung zur Volksgemeinschaft. Um seinen Beitrag wurde geworben, im Falle des Zuwiderhandelns der „Gemeinschaftsfremde“ dagegen exkludiert, in einem Akt völkischer Notwehr letztlich gar ausgemerzt. Die Gemeinschaft war aber nicht nur naturwüchsig unverrückbar, sondern zugleich fordernd: Es ging ihr um einen Beitrag für die Volksgemeinschaft, um Leistung für Alle: „Maßgebend allein ist für uns die Feststellung, welchen Wert diese Leistung der Gesamtheit, dem Volksganzen gebracht hat“ (W[ilhelm] Börger, Neue Werte!, Der Führer 1933, Nr. 8 v. 8. Januar, 7).

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Im Einklang mit der Volksgemeinschaft: Leistungssteigerung und Leistungsfähigkeit durch Kolapräparate (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1060 (l.); Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 330 v. 17. Juli, 14)

Gewiss wurden derartige Semantiken im Alltag nur gebrochen angewandt und realisiert. Doch sie waren zugleich ideologische Grundlage „einer ständigen ‚Kämpferei‘ im Zusammenhang mit Kampagnen, die die verschiedenen nationalsozialistischen Ämter und Reichsstellen, z.T. unabgestimmt und miteinander konkurrierend, mit großem Aufwand in Gang setzten“ (Jürgen Reulecke, Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad. Der „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ 1937-1939, in: Detlev Peukert und ders. (Hg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, 245-269, hier 248). Das betraf nicht zuletzt Tobias Groll, unseren Comicstriphelden. Er stand im Leistungskampf der deutschen Betriebe, einer in den Analysen der NS-Zeit häufig übergangenen Massenkampagne zur Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung vor und während des Krieges.

Institutionalisierter Leistungskampf

Der Begriff des Leistungskampfes drang 1935 vor. Zu dieser Zeit hatte die 1933 ausgerufene Arbeitsschlacht zu einem mächtigen Abbau der Arbeitslosigkeit geführt, der durch geänderte statistische Aufnahmekriterien nochmals gewaltiger erschien. Arbeitsdienst und Arbeitsbeschaffung zielten vor allem auf Arbeit an sich: Bei den frühen Infrastrukturmaßnahmen wurde vielfach auf arbeitssparende Maschinen verzichtet, sollte die Arbeit doch auf viele Schultern verteilt werden. Dies erlaubte Koppeleffekte, verstärkte die seit Ende 1932 ohnehin wirkenden Erholungstendenzen der deutschen Wirtschaft und mündete in ein seinerzeit international breit diskutiertes „deutsches Wirtschaftswunder“ (Hans E. Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936). Seither ging es wirtschaftlich immer weniger um die Extensivierung, sondern zunehmend um die Intensivierung der Arbeit. Der Fokus verschob sich von der Arbeitstätigkeit zum Arbeitsertrag. Es galt nun eine höhere Produktivität und höhere Leistungen zu erzielen – wie schon während der breit gefächerten Rationalisierungs- und Amerikanisierungsdebatten in den späten 1920er Jahren.

Den Anfang machte 1935 die Deutsche Studentenschaft, also der seit 1931 nationalsozialistisch dominierte Zusammenschluss der Allgemeinen Studentenausschüsse. Sie plädierte für einen Reichsleistungswettkampf von Studenten und Dozenten, zielte auf „Gemeinschaftsarbeit für unser deutsches Volk“ als „Mittel der geistigen Leistungssteigerung“. Es ging um die Lenkung des Geistes auf völkische Themen wie Landesplanung, Volksdeutsche Arbeit, Auslandskunde, Kulturpolitik, Deutsche Geschichte und Vorgeschichte, Rassenhygiene, Gesundheitswesen, Deutschen Sozialismus, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Judenfrage, Presse, Film, Rundfunk, Theater, Musik, Dichtung, usw. (Wettkampf des Geistes, Jeversches Wochenblatt 1935, Nr. 225 v. 26. September, 7). Die Leistung des Einzelnen sei Teil einer völkischen Gesamtanstrengung, erhalte ihren Wert nur aus dem Nutzen für das Kollektiv, für den nationalsozialistischen Staat. Dieser völkische Utilitarismus bedeutete einen klaren Bruch mit den (vielfach auch nur auf dem Papier stehenden) Grundprinzipen der Humboldtschen Universität. Akademiker sollten sich im „Lebens- und Machtkampf, den unser Volk in der Gegenwart auszutragen hat“ einbringen. Das würde Studenten- und Dozentenschaft über die antisemitischen, politischen und antifeministischen Maßnahmen hinaus weiter sieben: „Schwätzer, Nichtskönner, Intriganten haben wir genug“ (Könner und Schwätzer, Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 573 v. 8. Dezember, 32).

Leistungskampf wurde seither zu einem zentralen politischen Schlagwort, das immer breiteren Gruppen aufgebürdet, teils aber auch willig angenommen wurde. Der Leistungskampf des Landvolkes bezweckte „Bauern und Landwirte zu noch stärkerem Einsatz im Kampfe um die Nahrungsfreiheit anzuspornen“ (Wer wird der beste Bauer?, Jeversches Wochenblatt 1937, Nr. 127 v. 4. Juni, 1). Immer neue Leistungskämpfe hielten die Parteiorganisation auf Trapp, insbesondere die SA. Wichtiger noch wurde der „Leistungskampf der Jugend“ (Nachrichten für Stadt und Land 1935, Nr. 73 v. 15. März, 10), zu dem der 1934 begonnene Reichsberufswettkampf mutierte.

Es handelte sich um einen Wettbewerb für noch nicht Volljährige in der beruflichen Ausbildung. Die Deutsche Arbeitsfront hatte die Federführung, die Hitler-Jugend kooperierte. Gleichwohl handelte es sich um eine der vielen Übernahmen aus anderen politischen Lagern: Seit 1925 hatte der etwa 300.000 Mitglieder starke liberale Gewerkschaftsbund der Angestellten einen solchen Wettbewerb durchgeführt, der spätestens seit 1928 auch breitere Resonanz hervorrief (Deutsche Reichs-Zeitung 1930, Nr. 15 v. 20. Januar, 5; Westfälische Zeitung 1928, Nr. 238 v. 10. Oktober, 7). Dieser Reichsberufswettbewerb der Angestelltenjugend stand bereits unter nationalen Vorzeichen: „Tüchtige Arbeit ist der beste Dienst am Vaterland“ (Kölner Lokal-Anzeiger 1928, Nr. 518 v. 11. Oktober, 3). Unternehmen und auch viele Ministerien unterstützten ihn als Teil einer Qualifizierungsoffensive, 1930 übernahm gar der sozialdemokratische Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt (1864-1943) die Schirmherrschaft (Essener Allgemeine Zeitung 1930, Nr. 22 v. 22. Januar, 3). Parallel startete die Katholische Kaufmännische Vereinigung einen eigenen „Reichsberufswettkampf“, ebenso der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (Münsterische Zeitung 1931, Nr. 332 v. 2. Dezember, 3). Bessere „berufliche Leistungsfähigkeit“ (Lippische Post 1930, Nr. 22 v. 27. Januar, 6) war ein parteiübergreifendes Ziel – und daran knüpfte man an.

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„Adel der Leistung“: Jungarbeiterin der Metallindustrie, Jungapotheker beim Fahnenappell (Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 23, 4 (l.); Deutsche Apotheker-Zeitung 52, 1937, 245)

Seit 1934 stand der Reichsberufswettkampf offensiv im Dienst des NS-Staates, war Ausdruck des vielbeschworenen Willens zum Sozialismus, wurde Jahr für Jahr erweitert. Mit Beginn des Vierjahresplans galt der Elan der Jugend vermehrt der Aufrüstung, galt es doch fehlende devisenträchtige Rohstoffe durch „gesteigerte Leistung und verdoppelten Pflichteifer“ zu substituieren (Reichsberufswettkampf 1937 im Zeichen des Vierjahresplanes, Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 232 v. 3. Oktober, 6). Neben berufspraktische und theoretische Fertigkeiten traten zudem weltanschauliche und geschlechtsspezifische Anforderungen: Hauswirtschaftliche Kenntnisse für die Frauen, Wehrsport für die Männer, abzuleisten bis ins Alter von 35 Jahren: „der totale Mensch soll die totale Leistung vollbringen“ (Die Leistung allein entscheidet, Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 323 v. 29. November, 11).

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Leistungsorientierung im Einzelhandel: Tengelmann und die Konsumgenossenschaften (Der deutsche Volkswirt 8, 1933/34, Nr. 12/13, Sdr.-Beil., 16 (l.); Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 5, 32)

Für die Deutsche Arbeitsfront (DAF) war dies Teil einer immer ausgefächerteren Erfassung der Arbeitskräfte (Rüdiger Hachtmann, >Volksgemeinschaftliche Dienstleister?< Anmerkungen zu Selbstverständnis und Funktion der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude«, in: Detlef Schiemchen-Ackermann (Hg.), ‚Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘?, Paderborn et al. 2012, 111-131). Die nationalsozialistische Organisation war nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 10. Mai 1933 mit dem Ziel eines vermeintlichen Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit gegründet worden. Die DAF war kein Rechtsnachfolger der Gewerkschaften, sondern stand für eine andere, eine völkisch-nationalsozialistische Pazifierung des Klassenkonfliktes und der wirtschaftlichen Gegensätze. Aufgrund verpflichtender Mitgliedschaft hatte sie Mitte 1933 bereits sieben bis acht Millionen Mitglieder, bis 1938 mehr als 23 Millionen. Damit war sie die größte Organisation der NSDAP, weit größer als die Einheitspartei selbst. Trotz einer anfangs eher ständischen Arbeitsverfassung, wurde sie zunehmend ein innerbetrieblicher Machtfaktor, offerierte Rechtsberatung und Betreuungsprogramme, organisierte die Berufsbildung und förderte die Gesundheitsfürsorge. Mit der Übernahme des Vermögens der Gewerkschaften besaß sie bereits 1933 ein vielgestaltiges Wirtschaftsimperium, Konsumgenossenschaften oder die Volksfürsorge wurden Teil davon. Auch durch die verpflichtenden Mitgliedbeiträge war die DAF die finanzstärkste NS-Organisation. Mit der 1933 gegründeten Organisation „Kraft durch Freude“ gewann sie neue Gestaltungskraft innerhalb der Betriebe, manifestierte dadurch ihren Anspruch, die Freizeit der meisten Deutschen zu organisieren. Und mit dem Volkswagenwerk schuf sie 1937 einen nach amerikanischen Vorbildern gestalteten Automobilkonzern zur Massenmotorisierung (und für Rüstungszwecke), plante großzügigen Wohnungs- und Siedlungsbau und vieles mehr. 44.000 hauptamtliche Beschäftigte und ca. 1,3 Millionen Ehrenamtliche verkörperten damals das offizielle Versprechen einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, eines artgemäßen Lebens in relativem Wohlstand.

Leistungskampf der deutschen Betriebe

Unserer Serienheld Tobias Groll war Teil dieser breit gefächerten Leistungskämpfe. Er wurde zu einem Gesicht einer neuen, 1936 einsetzenden Kämpferei, dem Leistungskampf der deutschen Betriebe (vgl. allgemein Matthias Frese, Betriebspolitik im »Dritten Reich«. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933-1939, Paderborn 1991; Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der Arbeit“, Opladen 1989). Dieser war von Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) angestoßen worden, als er am 29. August 1936 eine neue Auszeichnung verfügte, die Ehrenbezeichnung „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“. Diejenigen Betriebe, „in denen der Gedanke der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft […] auf das vollkommenste verwirklicht“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1936, Nr. 242 v. 2. September, 2) worden sei, würden am Maifeiertag eine Urkunde erhalten und dürften ehrenhalber ein Jahr lang eine goldene DAF-Fahne mit goldenen Fransen führen. So weit, so klar. Überraschend aber war, dass dieser Kampf nicht von den eigentlich zuständigen Wirtschaftsorganisationen resp. den 1933 eingesetzten Treuhändern der Arbeit, sondern von der DAF veranstaltet und ausgestaltet werden sollte (vgl. Matthias Frese, Nationalsozialistische Vertrauensräte. Zur Betriebspolitik im „Dritten Reich“, Gewerkschaftliche Monatshefte 43, 1992, 281-297; Sören Eden, Die Verwaltung einer Utopie. Die Treuhänder der Arbeit zwischen Betriebs- und Volksgemeinschaft 1933-1945, Göttingen 2020, insb. 143-151).

Für den Reichsleiter der NSDAP und Leiter der DAF Robert Ley (1890-1945) bot dies eine lang erhoffte Chance, den Einfluss der Partei in den Betrieben zu vergrößern, Unternehmen und ihre Belegschaften stärker gleichzuschalten und zugleich die DAF zum entscheidenden sozialpolitischen Akteur zu machen (Reulecke, 1981, 246). Die schwammige Zielsetzung einer nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft wurde in ihrem Sinne in eine soziale, technische und wirtschaftliche Dimension aufgefächert: „Es wird dabei u.a. der Geist der Betriebsgemeinschaft gewertet, weiterhin die technischen Voraussetzungen, unter denen die Leistungen zustande kommen und schließlich die wirtschaftlichen Bedingungen und ihre Ergebnisse“ (Der Totalitätsanspruch der DAF., Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 214 v. 12. September 1936, 7). Der Leistungskampf sollte entfacht werden, seine Resultate aber dem deutschen Volke und der deutschen Wirtschaft insgesamt zugutekommen. Ley wies von Beginn an jede Ähnlichkeit mit „Antreibersystemen“ in Ost und West zurück – vornehmlich also dem Taylorismus/Fordismus der USA und der 1935 einsetzenden sowjetischen Stachanow-Bewegung. Deutsche Arbeit sei Ausdruck eines kulturell hochstehenden und leistungsbereiten Volkes, sie müsse in einem Rahmen erfolgen, der Arbeitsfreude erhalte und fördere, der zugleich die Arbeitskraft und die völkische Reproduktion sicherstelle (zur ideologischen Einordnung s. Franz Horsten, Die nationalsozialistische Leistungsauslese, Würzburg 1938; Achim Holtz, Nationalsozialistische Arbeitspolitik, Würzburg 1938; Karl Arnhold, Menschenführung im Betriebe, Berlin und Wien 1941; Richard Bargel, Neue deutsche Sozialpolitik, Berlin 1944). Die Deutsche Arbeitsfront konnte dadurch ihrem programmatischen Anspruch einer Besserstellung der Arbeiter und Angestellten durch eine gezielte betriebliche Sozialpolitik Taten folgen lassen – und zwar durchaus zu Lasten und auf Kosten des Einflusses der Unternehmensleitungen und der staatlichen Bürokratien (Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975, 126). Da die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe mitbewertet wurde, erhielt die DAF Zugang zu betriebsinternen Daten (Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, 6. erw. u. aktualisierte Auf., München 2001, 110).

Doch schon der stetig ausgeweitete Reichsberufswettkampf hatte gezeigt, dass die „Kämpferei“ nicht übers Knie gebrochen werden konnte. Die sozialdemokratische Exilpresse vermerkte völlig zurecht, dass die Beteiligung 1936/37 recht gering blieb, dass auch viele Großbetriebe dieser Art des Kampfes reserviert begegneten (Dreißig Musterknaben – Muster ohne Wert, Neuer Vorwärts 1937, Nr. 207 v. 30. Mai, 8). Zugleich war für viele Arbeiter klar, dass das Streben nach der goldenen Fahne nicht nur ein Kampf gegen vermeintliche innerbetriebliche „Faulenzer“ und „Drückeberger“ war, sondern sozialpolitische Fortschritte eng an erhöhte Arbeitsleistungen geknüpft wurden (Grundsätzliches zur faschistischen Sozialpolitik, Neuer Vorwärts 1937, Nr. 215 v. 25. Juli, 8). Zudem war die Verbindung zu dem im September 1936 verkündeten Vierjahresplan allzu offensichtlich. Es ging um eine „Mobilmachung für den Vierjahresplan“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 4, 1937, Nr. 9, 68).

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Güldene Fransen, gelbes Rad: Die Goldene Fahne für NS-Musterbetriebe und Vergabe des Siegeszeichen mit Theo Hupfauer und Adolf Hitler (sitzend) (Der Schulungsbetrieb 5, 1938, n. 204 (l.); Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 5, 4)

Gleichwohl unterschätzt eine derartige Engführung auf den Kampf von Arbeit und Kapital die Anstrengungen der DAF um größeren Einfluss. Sie setzte sich 1937 gegen führende Unternehmen und insbesondere das Reichswirtschaftsministeriums durch, die ein Ende des Leistungskampfes forderten, damit aber scheiterten. Zudem kostete der Leistungskampf: Bis 1938/39 erhöhten sich die Lohnkosten in der Industrie nicht zuletzt durch sozialpolitische Maßnahmen um ca. 6,5 Prozent (Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, 2. Aufl., Opladen 1978, 252). Und zugleich knüpfte die DAF mit der Idee öffentlich ausgezeichneter Musterbetriebe an US-amerikanische Vorbilder Marketingmaßnahmen deutscher Unternehmer während der Weimarer Republik an (Karin Hartewig, Kunst für alle! Hitlers ästhetische Diktatur, Norderstedt 2018, 169). „Musterbetriebe Deutscher Wirtschaft“ waren damals Garanten deutscher Wertarbeit. Die DAF stellte sich zudem in die bis weit ins Kaiserreich zurückreichende Tradition betrieblicher Sozialpolitik, die auf eine enge Bindung zwischen Belegschaft und Unternehmen setzte, die Arbeiterbewegung so außen vor lassen wollte. Und nicht nur bei Krupp oder Carl Zeiss war man sich 1936/37 bewusst, dass man die Sonderkonjunktur der Aufrüstung nur mit zusätzlichen Arbeitskräften bewältigen konnte – und dafür waren innerbetriebliche Sozialleistungen ein wichtiger Faktor.

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Kernelemente des Leistungskampfes der deutschen Betriebe (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1937, Nr. 40 v. 16. November, 6)

Die DAF unterstützte den neuen betrieblichen Wettbewerb, indem sie die Bewertungskriterien klärte und ihn propagandistisch unterstützte. Während 1936/37 vor allem um die Auszeichnung als „NS-Musterbetrieb“ gerungen wurde, gab es im Folgejahr relative klare, auf die Breite der gewerblichen Wirtschaft zielende Bewertungsmaßstäbe. Der nun explizit als „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ ausgelobte Wettbewerb begann auf regionaler Ebene, wo um Gaudiplome „für hervorragende Leistungen“ gerungen wurde. Dazu mussten die Betriebsführer sich bis zum 1. August bei der DAF anmelden, anschließend einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Danach wurde der Betrieb anhand von fünf Kriterien bewertet: Die Erhaltung und Gewährung des sozialen Friedens, die Erhaltung und Steigerung sowohl der Volkskraft als auch der Arbeitskraft, eine gesteigerte Lebenshaltung und Wirtschaften im Einklang mit den politischen Zielen des NS-Regimes. Man rang dabei aber nicht nur um Urkunden, sondern auch um vier von der DAF etablierte Leistungsabzeichen über vorbildliche Berufserziehung, Arbeit auf dem Gebiet der Volksgesundheit, die Förderung von Siedlungs- und Wohnungsbau sowie der Unterstützung der DAF-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“. Die Gausieger qualifizierten sich für die Reichsebene, die mit neuerlichen Prüfungen verbunden war. Parallel gab es vielfältige innerbetriebliche Aktivitäten, Appelle, Leistungspräsentationen und Selbstbeschwörungen. Am 1. Mai schließlich wurden sowohl auf Gau- als auch auf Reichsebene die errungenen Diplome und Ehrenzeichen überreicht. Sie konnten auf Plaketten im Betrieb angebracht, aber auch in Werbung und Geschäftskorrespondenz genutzt werden.

Selbstverständlich handelte es sich bei alledem nicht um einen fairen Leistungswettbewerb: Proporz zwischen Gauen und Branchen bestimmte die Auswahl, die gängige Günstlingswirtschaft und Kungelei innerhalb der DAF schlugen auf das Ergebnis durch. Innerbetrieblich setzte der Wettbewerb vielfach Dynamik frei, verblieb vielerorts aber auch an der Oberfläche von Parolen und Sprechblasen. Insgesamt nahm der Leistungsdruck innerhalb der Betriebe zu, die politische Einvernahme, aber auch das von Tobias Groll dann im Detail durchdeklinierte Arsenal sozialpolitischer Maßnahmen. Zugleich darf man nicht ausblenden, dass der Leistungskampf eine immanent rassistische Dimension hatte, Teil der Judendiskriminierung und -verfolgung war. Jüdische Arbeitnehmer durften der DAF nicht angehören, sie blieben organisationslos, da entgegen anfänglicher Verlautbarungen keine Ersatzorganisation anerkannt wurde (Zur Frage der Organisation der jüdischen Arbeitnehmer, Informationsblätter 1, 1933, Nr. 16, 4). Robert Ley vermerkte von Beginn an: „Wir stehen im Leistungskampf. Nicht der Jude gehört zum auserwählten Volk“ (Dortmunder Zeitung 1936, Nr. 523 v. 9. November, 5). Und 1938 entschied das Arbeitsgericht Leipzig, dass man jüdische Mitarbeiter bei Teilnahme am Leistungskampf entlassen dürfe, da deren Beschäftigung die Chancen auf eine Auszeichnung entscheidend mindere (Betriebe mit jüdischen Beschäftigten im Leistungskampf, Israelitisches Familienblatt 40, 1938, Nr. 32, 11). Leistungskampf war praktizierter Antisemitismus, „Juden stören im Leistungskampf“ (Westfälische Neueste Nachrichten 1938, Nr. 183 v. 8. August, 4).

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Leistungsabzeichen der Deutschen Arbeitsfront (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 113 v. 28. April, 12 (l.); Jeversches Wochenblatt 1938, Nr. 154 v. 5. Juli, 4)

Diese Verrechtlichung von Unrecht war dem „deutschen Sozialismus“ immanent, der von den führenden DAF-Repräsentanten dröhnend propagiert wurde, um die als strukturell unzuverlässig geltende Arbeiterschaft für die Ziele des Regimes einzunehmen ([Theo] Hupfauer, Auf Vormarsch zum Sozialismus, Unser Wille und Weg 7, 1937, 364-366). Dabei schloss man nicht ohne Erfolg an autoritäre Traditionen an, nutzte zudem den selbstbewussten Stolz auf „deutsche Qualitätsarbeit“ (Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Neuauflage Münster 2015, 373-380). Der Leistungskampf deutscher Betriebe war Teil der politischen Neutralisierung der Arbeiterschaft – und dass, obwohl den meisten Beschäftigten klar war, dass die Beschwörungsformeln Propaganda waren und die Enge der eigenen Lebenshaltung weiterhin spürbar blieb. „Deutscher Sozialismus“ war Teil einer künstlich geschaffenen und durchaus integrativen Volksgemeinschaftsideologie. Die Zerschlagung von Gewerkschaften und Parteien, von Presseorganen und Buchverlagen bedeutete zugleich ein Zerschlagen von Gegennarrativen zur NS-Ideologie. Distanz zum Regime konnte daher sehr wohl mit Zustimmung zu einer verbesserten betrieblichen Sozialpolitik einhergehen (Ian Kershaw, Alltägliches und Außeralltägliches: ihre Bedeutung für die Volksmeinung 1933-1939, in: Peuckert und Reulecke (Hg.), 1981, 273-292, insb. 278, 285, 287). Der Leistungskampf der deutschen Betriebe verdichtete nämlich nicht nur die Arbeit, sondern verhieß auch individuelle Besserstellung und sozialen Aufstieg, zernierte damit auch die teils noch bestehenden sozialdemokratischen und katholischen Milieus. Die Abenteuer des Tobias Groll sollten die wachsende Heimatlosigkeit des Einzelnen gezielt aufgreifen.

Der Leistungskampf der deutschen Betriebe spielte entsprechend mit integrativen Zukunftsverheißungen einer gerechten und mehr als auskömmlichen nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Sie schien möglich, doch sie musste erkämpft und erarbeitet werden: „Der Nationalsozialismus lehrt einen männlichen Sozialismus. Wir versprechen kein bequemes Leben und maßen uns nicht an, das Paradies herbeizuzaubern, sondern wir wissen, daß alles, was der Mensch an Gütern gewinnen will, vorher durch ihn oder andere erarbeitet werden muß. Einem Volke wird nichts geschenkt, sein Lebenserfolg liegt einzig und allein in seiner mühsamen Arbeitsleistung. Daraus folgert der Grundsatz, daß – je höher ein Volk entwickelt ist – um so größer seine Ansprüche an das Leben sind – desto größer auch eine Leistung sein müssen“ (Auf zum zweiten Leistungskampf!, Volksstimme 1938, Nr. 1 v. 1. Juli, 1-2, hier 1). Der Leistungskampf verhieß ein besseres Leben – und dieses Aufstiegsversprechen wirkte bis weit in den Krieg hinein; die Ratenzahlungen für den geplanten Volkswagen oder das Eiserne Sparen unterstrichen dies.

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Der Glaube an die Masse: Mobilisierungszahlen 1937 (Gelsenkirchener Zeitung 1937, Nr. 313 v. 15. November, 7)

Der Leistungskampf deutscher Betriebe war schließlich auch ein Plebiszit über das NS-Regime und seine Politik. Entsprechend wichtig wurde die reine Anzahl der nominell ja freiwillig teilnehmenden Betriebe. Das galt auch für die Preisträger: Die Zahl der NS-Musterbetriebe war von dreißig 1937 auf 103 im Folgejahr gestiegen (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 116 v. 1. Mai, 5). Schrieb man anfangs noch zurückhaltend von der „November-Aktion der Deutschen Arbeitsfront“ (Oberbergischer Bote 1937, Nr. 267 v. 13. November, 12), so berichtete man später markig von einer stetig wachsenden Zahl teilnehmender Betriebe. Auch Drohungen waberten: „Wer sich aus diesem Leistungskampf ausschließt, vergeht sich an unserer Volks- und Leistungsgemeinschaft“ (Hier spricht die Deutsche Arbeitsfront!, Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 201 v. 29. Juli, 9). Gleichwohl nahm 1937/38 die Mehrzahl der Betriebe nicht teil, darunter auch Großunternehmen wie Siemens oder die Gutehoffnungshütte (Christian Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013, 480-481). Man glaubte, dies nicht nötig zu haben – oder die Teilnahme schien zu teuer.

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Moralischer Druck: Appell zur Teilnahme am Leistungskampf der deutschen Betriebe (Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 202 v. 30. Juli, 11)

Bei der Neuauflage 1938/39 wurde die Teilnahme daher moralisch weiter aufgeladen: Sie galt als „Gradmesser dafür, wieweit sich jeder deutsche Betrieb aus innerer Verpflichtung gegenüber Führer und Volk in die vorderste Front des Nationalsozialismus stellt und die Ziele des Führers an seinem Platz und unter Ausnutzung seiner Möglichkeiten zu seinen eigenen Zielen Macht“ (Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 165 v. 19. Juli, 4). Die DAF weitete den Kreis der adressierten Betriebe bewusst aus, verlieh nun auch ein fünftes Leistungsabzeichen für vorbildliche Kleinbetriebe (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 200 v. 27. Juli, 6). Die Teilnehmerzahl von zuvor ca. 84.000 sollte mehr als verdoppelt werden.

Eingefordert wurde ein Bekenntnis der Unternehmer und selbständiger Gewerbetreibender für das Regime – und zugleich lockte man sie. Robert Ley sprach von einem neuartigen edlen Wettbewerb, einer neuen Form der Menschenführung, „die aus unserem Volke weit mehr herausholen wird, als es die Peitsche und Antreibung jemals vermögen. Es ist der Weg der nationalsozialistischen Erziehungsarbeit, der Aufklärung, des Ansporns, des Einsatzes“ (Rechenschaftsbericht, in: Der Parteitag Großdeutschland vom 5. bis 12. September 1938, München 1938, 224-234, hier 226). Der Leistungskampf gehe eben nicht in Lohnforderungen auf, sondern ziele auf eine klügere und zielgerichtetere innere Sozialpolitik, auf engere Bande zwischen Unternehmen und Beschäftigten, auf Wachstum für alle Deutschen im Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Zielen des NS-Regimes (Astrid Gehrig, Nationalsozialistische Rüstungspolitik und unternehmerischer Entscheidungsspielraum. Vergleichende Fallstudien zur württembergischen Maschinenbauindustrie, München 1996, 162). Parolen wie „Leistungskampf ist Leistungssteigerung!“ (Bremer Zeitung 1938, Nr. 205 v. 28. Juli, 11) oder „Betriebsgemeinschaft—Leistungsgemeinschaft—Schicksalsgemeinschaft“ (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 350 v. 29. Juli, 6) unterstrichen dies. Dass man dabei an noch weit verbreitete Formen patriarchaler Unternehmensführung anknüpfte, zielte insbesondere auf Handwerk und Handel. Zugleich aber sprach insbesondere der DAF-Bevollmächtigte für den Leistungskampf Theo Hupfauer (1906-1993) von Sozialtechnologie, von der „Steuerung der sozialen Leistung“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 202 v. 31. August, 3; Ders., Die Auszeichnung gilt der Gemeinschaft, Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 10-11). Der Leistungskampf war für ihn artgerechtes Management – und er dürfte damit in einer Linie mit der großen Zahl junger aufstrebender Betriebsführer gestanden haben, die für die Kriegsführung entscheidend werden sollten. Leistungsfähig und leistungsfroh trotz ständiger Höchstleistungen – nur so könne man die Zukunft gewinnen (Die großen Ziele des Leistungskampfes, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 189 v. 16. August, 2).

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Einschwören der Unternehmer und DAF-Repräsentanten: Eröffnung des Leistungskampfes der deutschen Betriebe in der Stuttgarter Liederhalle (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 301 v. 1. Juli, 3)

Diese neuen Eliten – die wie Hupfauer ihre Karrieren nach 1945 meist ohne größere Brüche haben fortsetzen können – akzeptierten und begrüßten durchaus die politischen Ziele von DAF und NSDAP: „Das gesteckte Ziel dieses Leistungskampfes ist das Hinsteuern darauf, daß in Bälde die ganze deutsche Wirtschaft als einziger NS.-Musterbetrieb angesprochen werden kann“ (Der NS.-Musterbetrieb Ausdruck höchster wirtschaftlicher Sauberkeit!, Völkischer Beobachter 1938, Nr. 120 v. 15. Juli, 8). In diesem Betrieb gab es nur einen Willen, dominierte das gemeinsame Ziel im Völkerringen: „An die Stelle von Humanität und Gefühlsduselei, von Klassenhaß und Klassenvernichtung setzen wir die Gemeinschaft, geboren aus der Rasse, und die Gerechtigkeit als das, was dem Volke nützt“ (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 424 v. 10. September, 2). Tobias Groll war ein werbendes Hilfsmittel, um die Zielsetzungen des Regimes auch bei denen zu verankern, die noch nicht überzeugt waren, die aber gewonnen werden konnten.

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Aufforderungen zum freiwilligen Leistungskampf (Marbacher Zeitung 1938, Nr. 156 v. 7. Juli, 3)

Tobias Groll – Name, Mann und Zeichner

Obwohl die NS-Sozialpolitik insbesondere in den 1970er bis 1990er Jahren ein wichtiger Forschungsbereich war (heute ist dies leider anders), konnte ich in der Fachliteratur nicht einen Hinweis auf die Comicstrips „Die seltsamen Abenteuer des Tobias Groll“ und „Neue Abenteuer von Tobias Groll“ finden. Die hier gezeigten und analysierten Quellen entstammen denn auch der letzten „Geheimquelle des ‚Dritten Reiches‘“, der Tagespresse (Peter Longerich, NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart. Bedeutung der nationalsozialistischen Tagespresse für Zeitgenossen und Nachgeborene, in: Christian Kuchler (Hg.), NS. Propaganda im 21. Jahrhundert […], Köln, Weimar und Wien 2014, 15-26, hier 15). Obwohl diese zunehmend digital verfügbaren Massenquellen aufgrund von Gleichschaltung und Presselenkung nur mit Vorbehalt genutzt werden können, spiegeln sie treulich das Selbstbild des NS-Regimes und ermöglichen insbesondere im Konsumsektor vielfältige Neuentdeckungen – dieser Blog zeugt davon. Digitalisierte Tageszeitungen werden dennoch von der Mehrzahl der Historiker bisher nicht genutzt, denn ihre Auswertung ist (auch aufgrund der vielfach qualitativ schlechten Digitalisierung) arbeitsintensiv und erfordert eine bedingte Abkehr von der leider immer noch weit verbreiteten Texthörigkeit der Zunft. Zudem tappen viele Regionen Deutschlands aufgrund fehlender Arbeitsamkeit von Archiven und Bibliotheken weiterhin im pressetechnischen Dunkel. Aus nicht nachvollziehbaren volkspädagogischen Überlegungen sind ferner die wichtigsten nationalsozialistischen Tages- und Wochenzeitungen weiterhin digital nicht verfügbar; zumindest nicht im deutschen Inland. Dies steht im klaren Widerspruch zu der hierzulande offiziell immer wieder beschworenen vermeintlich vorbildlichen „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus. In diesem von Antisemitismus weiter und neu durchfurchten Land liebt man es halt öffentlich ein verlogenes „Nie wieder!“ zu heucheln, um zugleich den Nationalsozialismus im politischen Alltagsgeschäft als denunzierende politische Waffe unkundig zu verzwecken. Dafür braucht man in der Tat keine seriöse Forschung oder die Breite der Quellen. Gleichwohl entstammt die Mehrzahl der nachfolgend verwandten Quellen aus (leider kaum koordinierten) deutschen Digitalisierungsprojekten. Wenig ist besser als nichts.

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Ein seltsamer Zeitgenosse wird vorgestellt (Wittener Volks-Zeitung 1938, Nr. 151 v. 1. Juli, 4)

Und hier erscheint nun endlich unser „Held“, Tobias Groll. Er erschien erstmals während der Anmeldephase für den zweiten Leistungskampf der deutschen Betriebe im Juli 1938. Lassen Sie das Bild auf sich wirken, das Bild eines gesetzten Herrn im schlecht sitzenden Anzug, der trotz Sonnenschein den Regenschirm nutzte. Sprechend war schon der Name: Tobias war eine überraschende Wahl. Zum einen war dieser Vorname in den 1930er Jahren relativ selten, zum anderen hatte er eine ins Alte Testament zurückreichende Geschichte, war hebräischen Ursprungs, Name eines Erzengels. Im Katholizismus wurden gleich zwei Heilige mit Namenstagen geehrt. Doch der gemeinhin langsam ausgesprochene dreisilbige Vorname bot einen guten Einstieg in den dynamischen, schnell ausrollenden Gesamtnamen. Das gab ihm rhythmisierende Qualität, zumal durch die verborgene Alliteration des Buchstabens O.

Die Wahl des Nachnamens erfolgte dagegen sicher mit Bedacht: Groll war ein seit dem späten Mittelalter im deutschen Sprachraum verwandtes Substantiv, das während der NS-Zeit aber nur noch selten verwandt wurde. Während ältere Bedeutungsnuancen eher den im Jähzorn ansprechend eingebundenen plötzlich hervorbrechenden Zorn stärkten – das mittelhochdeutsche Grellen entspricht dem von Zorn hervorgerufenen laut Schreien – war Groll vor allem im 19. Jahrhundert ein zunehmend auf Dauer angelegter Begriff. Der Groll war still, verinnerlicht, versteckt, ein verborgener, doch steter und kaum zu brechender Zorn. Er war von Ressentiments geprägt, gegen etwas gerichtet, präsent und feindlich, schwer zu brechen. Das deckte sich – im Gegensatz zur öffentlichen Propaganda – durchaus mit der Stellung der vielgestaltigen Arbeiterschaft und auch vieler Unternehmer zum NS-Regime zur Zwangsinstitution der DAF. „Tobias Groll“ war 1933 bereits Held einer Kurzgeschichte, war damals ein kleiner Trickbetrüger (Alois Brunner, Tobias Groll findet eine Uhr, Merseburger Tageblatt 1933, Nr. 73 v. 27. März, 7). Doch dies galt nicht für seinen Nachfolger, einen ambivalenten, schwer zugänglichen Charakter, der vielleicht schon zu alt war, um sich zu ändern, um in der neuen Zeit bestehen zu können. Wäre er doch ein Kind: „Kinder hegen keinen Groll, das rettet sie“ (José Saramago, Das steinerne Floß, Hamburg 2015, 69) – allerdings dann im Sinne einer gläubig angenommenen NS-Ideologie.

Die Nutzung eines solchen Namens war dennoch recht typisch für die NS-Zeit. Tobias Groll reihte sich ein in eine rasch wachsende Zahl einschlägiger Bildreihen und Comicstrips, in denen ein sprechender Name den Charakter widerspiegelte: Herr Hase, Herr und Frau Spießer, Familie Pfundig, Herr Bramsig und Frau Knöterich (auch Herr Knöterich). Sie wurden ergänzt von nur kurzfristig in Kampagnen auftauchenden Personen, etwa Herr Knauserig bei Sammlungen des Winterhilfswerkes (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175) oder Herr Gebefroh beim Eintopfsonntag (Erzgebirgischer Volksfreund 1939, Nr. 60 v. 11. März, 10). Charakterisierende Namen wurden während des Weltkrieges gar modisch, ein gängiges Element in Werbung und Propaganda: Herr Soll in der Groschengrab-Kampagne (Neußer Zeitung 1940, Nr. 155 v. 8. Juni, 4); Herr Pfiffig in der Bramsig-Kampagne (Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1941, Nr. 342 v. 13. Dezember, 3); Herr Freundlich in der Wybert-Werbung (Schlesische Sonntagspost 13, 1942, Nr. 12, 11) und Herr Friedlich in den Anzeigen für Schaub Radios (Die Kunst für Alle 57, 1941/42, H. 4, Anh., 17). Derartig sprechende Namen gab es schon zuvor, sie wurden teils fortgeführt, symbolisierten auch in der Nachkriegszeit Kontinuität. Dr. Unblutig war seit 1925 im Kukirol-Einsatz gegen Hühneraugen, hatte auch zu Grolls Zeiten seine Tätigkeit noch nicht eingestellt (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1064), setzte sein Werbewesen während des „Wiederaufbaus“ fort (Hamburger Abendblatt 1952, Nr. 189 v. 16. August). Einen zeitgenössischen Höhepunkt derartig sprechender Namensverwendung stellte aber die Werbung für Darmol-Abführmittel dar: Während des sich ausweitenden Weltkrieges diskutierten dort typisierende Gegensatzpaare, etwa Herr Fettlich und Herr Schläuling, Frau Launig und Frau Nett, Frau Sauertopf resp. Schlau, etc. (Die Kunst für Alle 57, 1941/42, H. 8, Anhang, 18; ebd., H. 7, Anhang, 16; ebd., H. 9, Anhang, 12). Genug der Abschweifung, nähern wir uns wieder Herrn Groll.

Tobias Groll war ein Auftragsprodukt, gezeichnet von dem in Karlsruhe geborenen Graphiker und Schriftsteller Franz Roha (1908-1965). Er hatte den Leistungskampf bereits 1937 in Schaubildern illustriert, die Sie schon oben haben sehen können. Im gängigen Lexikon, verfasst von einem fidelen NS-Humoristen, heißt es schwammig und irreführend: „Karikaturist der Berliner Presse in den dreißiger Jahren, Illustrator eigener Reportagen mit Sinn für’s [sic!] Aktuelle“ (Kurt Flemig, Karikaturisten-Lexikon, München etc. 1993, 237; Dank an Eckart Sackmann für den Hinweis). Da die nationalsozialistische Presse von der Berliner Staatsbibliothek recht konsequent nicht digitalisiert wurde, ist dies kaum zu überprüfen. Roha erscheint Mitte der 1930er Jahre abseits der Hauptstadt jedoch als Illustrator von Schaubildern (Essener Volks-Zeitung 1936, Nr. 86 v. 5. April, 8), etablierte sich zugleich aber als systemtreuer politischer Karikaturist.

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Sich dem Regime andienen: Stangenware von Franz Roha 1938 (Arbeitersturm 1938, Nr. 90 v. 28. Juni, 5; Die Glocke, Ausg. A 1938, Nr. 261 v. 25. September, 8)

Der Comicstrip war für den jungen Zeichner eine Chance, um sich als Pressezeichner etablieren zu können. Er nutzte diese, seit 1941 firmierte er unter dieser Bezeichnung im Berliner Fernsprechbuch, obwohl er noch 1939 einen ersten Roman veröffentlicht hatte (Franz Roha, Stiller Ozean Insel X. Ein abenteuerlicher Roman, Berlin 1939). Roha war publizistisch breit einsetzbar, schon in der Vorkriegszeit visualisierte er antisemitische Verschwörungsmythen. Während des Krieges avancierte er zu einem der meistgedruckten deutschen Pressezeichner – und ich behalte mir vor, nach Einsicht in seine NS-Personalakten hierzu genaueres zu veröffentlichen. Franz Roha war freiberuflich tätig, Auftragszeichner, dessen Arbeiten anfangs über Scherl-Matern und den RD.-Dienst verbreitet wurden. Während des Krieges wurde er jedoch zum Hauptzeichner einer seit Frühjahr 1939 vom Berliner Verlag Rudolf Dehnen herausgegebenen modernen „Korrespondenz des politischen Zeitgeschehens“ (Zeitungswissenschaft 16, 1941, 140) namens „Bilder und Studien“. Diese vertrieb anfangs vornehmlich Karten, erweiterte ihr Angebot aber während des Krieges um politische Kommentare und Hintergrundberichte – und eben gängige Karikaturen (Handbuch der deutschsprachigen Zeitung im Ausland, hg. v. Walther Heide, Essen 1940, XVIII; Zeitungswissenschaft 15, 1940, 584). „Bilder und Studien“ bündelte die Pressezeichnungen dutzender führender visueller Propagandisten und war neben der Agentur Interpress eine der auch europaweit wirkmächtigsten deutschen Presse- und Materndienste. Franz Roha arbeitete nach dem Krieg als Graphiker und Kunstmaler weiter, erst in Celle, dann in Hamburg, wo er nicht zuletzt für das sozialdemokratische Hamburger Echo zeichnete.

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Der Jude als weltbewegende Kraft: Antisemitische Zeichnungen von Franz Roha (Westfälische Neueste Nachrichten 1937, Nr. 293 v. 15. Dezember, 1; Innsbrucker Nachrichten 1938, Nr. 257 v. 5. November, 1)

Während wir den Zeichner der Comicserien über Tobias Groll zumindest einordnen können, bleibt der Texter unbekannt. Die Serien wurden zudem kaum eingeleitet. Die meisten Zeitungen veröffentlichten die Comics ohne Vorrede, häufig auch ohne die Zeichnung des Mannes mit dem Regenschirm bei Sonne. Die Schriftleiter konnten gewiss voraussetzen, dass Leser und potenzielle Teilnehmer um den neuerlich anlaufenden Leistungskampf der deutschen Betriebe wussten. Vielleicht genügten sie auch einfach nur einer vermeintlichen Publikationspflicht oder meinten, die Einzelepisoden würden für sich sprechen. Derartig fehlende Einrahmung war nicht ungewöhnlich, war eher charakteristisch für den NS-Journalismus, die NS-Propaganda. Auch die 1938 anfangs parallel laufende, vom NS-Zeichner Hans Kossatz (1901-1985) ausgestaltete Comicserie „Groschengrab“ verzichtete auf eine gesonderte inhaltliche Einführung, schloss inhaltlich aber an die drei 1937/38 durchgeführten Kampagnen „Brot ist kostbares Volksgut“, „Richtig Verbrauchen“ und „Kampf dem Verderb – so gut wie Erwerb“ an. Dennoch gab es vereinzelte Einführungen der Tobias Groll-Serie, geschrieben auf Grundlage der Handreichungen der DAF. Lesen wir nach, was unser Held bezwecken sollte.

Einerseits ging es um die Bildwerdung eines seit 1933 immer wieder kritisierten Menschentypus: „Groll. Grollt immer ein wenig, nimmt übel, hockt auf veralteten Anschauungen, will Neues nicht anerkennen, nicht verstehen. Lebt in der ‚guten alten Zeit‘. Tobias Groll, ein wenig erfreulicher Herr, so will uns zunächst scheinen. Ganz so arg ist er vielleicht nicht, aber schließlich hatte jeder schon seine Kollision mit ihm. Solcher Grolls gibt es viele im Alltag. Im Frack erscheinen sie, im Sportdreß, aber ebenso im Arbeitskittel. Das ist einerlei. Das Tobias-Groll-sein ist ein Zustand. Mal erheitert er uns, meistens verursacht er aber Aerger, selten erfreut er“ (Kiebitz, Gestatten: Tobias Groll .., Hamburger Neueste Nachrichten 1938, Nr. 135 v. 2. Juli, 3). Tobias Groll stand damit in der Reihe mit den spätestens seit 1934 vom NS-Staat offensiv attackierten und in immer wieder neuen Kampagnen adressierten „Meckerern“ und „Kritikaster“, den der Milleniumsmission des Nationalsozialismus nicht aufgeschlossenen „Spießern“. Diese vermeintlich egomanischen Gestalten wurden in der NS-Propaganda durchweg entlarvt, dienten als Negativbeispiel, von der sich der echte Volksgenosse abzugrenzen hatte. Das war Teil innerer Überwindung – und entsprechend zielte der Comicstrip auch auf den kleinen Groll, der in den meisten steckte.

Anderseits sollte Tobias Groll unterhalten, ein ambivalentes, sich selbst erkennendes und korrigierendes Lachen ermöglichen. Die Bildgeschichten verwiesen offensiv auf noch bestehende Hindernisse im Leistungskampfe der deutschen Betriebe, boten zugleich aber eine Handreichung für die Willigen: Tobias Grolls „tragisch-komischen Erlebnisse, die aus dem täglichen Arbeitsleben herausgegriffen sind, werden jede Lachmuskel reizen und so das Eis brechen. Tobias Groll wird mit seinen Abenteuern allen, die noch nicht froh und frei mitmarschieren können, mögen sie nun Betriebsfüührer [sic!] oder Gefolgschaftsmitglieder sein, mögen sie im Betrieb hohe oder niedrige Stellen bekleiden, einen Spiegel vorhalten. Und jeder wird sich in die Brust werfen und sagen: ‚Nein, so bin ich nicht, so handele ich nicht!‘ […] Er wird die Herzen öffnen helfen, und darauf kommt es im Leistungskampf ja an, daß nicht nur das Hirn, der kalte Verstand, sondern daß das Herz marschiert“ („Tobias Groll“ hilft mit!, Westfälisches Volksblatt 1938, Nr. 189 v. 15. August, 9). Entsprechend handelte es sich bei dem Comicstrip um eine in immer neuen Konfigurationen dargebotene Erlösungsgeschichte. Tobias Groll, allein und ohne Familie, nahm misstrauisch, ja feindlich, die raschen Veränderungen in seinem Lebensumfeld war, räsonierte, wurde mitgezogen, eingebunden – und am Ende zum eifrigen Protagonisten des Leistungskampfes.

Die seltsamen Abenteuer des Tobias Groll

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Der Albtraum: Der Leistungskampf als Bruch mit dem Alten (Der Patriot 1938, Nr. 175 v. 30. Juli, 5)

Tobias Grolls Abenteuer begannen mit einem Albtraum: Der Held, offenkundig ein kleiner Unternehmer, wurde von der Regsamkeit anderer Firmen aufgeschreckt. All das ängstigte ihn, befürchtete er doch von des „Fortschritts schnellen Tritt“ überrollt zu werden. Doch Nachdenken führte zum Wandel: Groll reihte sich ein, „ist belehrt“, „ist zum Leistungskampf bekehrt“. Die Konversion mag abrupt anmuten, doch die erste Episode will noch keinen inneren Wandel nachzeichnen, sondern ein dem relativen Anpassungszwang folgendes Einreihen. Zugleich machte sie den Leser mit dem Leistungskampf der deutschen Betriebe bekannt, erinnerte an die schon 1937 an vielen Unternehmen prangenden Banner. Es galt als „das Ehrenschild, das an die Hauptfront jedes deutschen Betriebes gehört“ (Nationalsozialistische Gesinnung entscheidet!, Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 12). Selbstverständlich handelte es sich um einheitliches Bestellgut, käuflich erwerblich bei der jeweiligen DAF-Kreis- oder -Stadtverwaltung: Das Banner war eine Art Vordiplom, griff dem Zeigestolz der gewonnenen Auszeichnung vor. Zugleich war es ein Bekenntnis: „Zeige mit diesem Schild der Oeffentlichkeit, daß du mit deiner Gefolgschaft selbstverständlich dem Führer entgegenmarschierst mit dem unerschütterlichen Willen deinen Betrieb zum nationalsozialistischen Musterbetrieb zu gestalten!“ (Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 164 v. 18. Juli, 10). Wie die geflaggten Hakenkreuze suggerierten die mit dem DAF-Signet versehenen Marsch-Banner einheitliches Wollen, einheitliches Tun. Der Einzelne hatte sich zu entscheiden, für oder gegen das große „Wir“. Wer auf einer schmissigen Demonstration schon einmal die 1968er-Parole „Solidarisieren – mitmarschieren“ skandiert hat, wird ein Gefühl für die damit verbundenen Emotionen, für die damit verbundene Dynamik haben.

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Bekenntnisparolen: Bannertext des Leistungskampfes der deutschen Betriebe (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 10)

Die erste Episode zeigt zugleich den Aufbau der Serie: Vier Einzelbilder, jeweils von einem sechszeiligen Gedicht unterlegt. Einfache Sprache. Paarreim. Groll anfangs am Grollen, am Schwanken, schließlich mit einem verhaltenen, doch vorhandenen Lächeln. Abstrakt: Getragen von der Erwartungszukunft einer leistungsfähigen und wohlhabenden NS-Konsumgesellschaft, geht die Serie unmittelbar in eine Art Gestaltungszukunft über – so, als wären mit dem Start des Leistungskampfes auch gleich Ergebnisse verbunden (Rüdiger Graf und Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung, Geschichte und Gesellschaft 42, 2016, 497-515, hier 505, 508). Analog waren die NS-Musterbetriebe allein durch die Auszeichnung schon Vorbilder – was innerhalb der Unternehmen geschehen war, blieb meist recht unklar. Tobias Groll machte jedenfalls mit, wusste um die einmonatige Zeitspanne, in der er den Banner „Wir marschieren mit!“ werbeträchtig nutzen durfte (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 4, 1937, Nr. 9, 66-67).

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Betriebssport: Ein Volk macht gemeinsam mobil (National-Zeitung 1938, Nr. 203 v. 28. Juli, 10)

Tobias Groll war Eigenbrötler, zudem unsportlich. Freiwillig würde er sich körperlich nicht betätigen, aus dem Alter des Vereinssports war er entwachsen, als Chef hatte er andere, vermeintlich wichtigere Aufgaben als einem Ball hinterherzujagen. Doch die DAF vertrat noch höhere Ziele: „Es gilt […] ein körperlich gestähltes Volk zu erreichen.“ Turnen, Sport und Spiel waren einerseits Ausgleich zum Einerlei der Arbeit. Anderseits beharrte der NS-Staat auf einer Pflicht des Einzelnen zur Gesunderhaltung. Das diente nicht nur der Kostendämpfung im Gesundheitswesen, sondern auch der eigenen Leistungsfähigkeit. Betriebssport sollte vielgestaltig sein, jedem das Seine bieten, doch dazu mussten Sportstätten und -geräte vorgehalten werden. Richtig umgesetzt würde er die Betriebsgemeinschaft stärken. Groll verstand dies, die Niederlage im sportlichen Kampf wog demgegenüber wenig. Der Betriebssport erschloss körperlichen Fähigkeiten, stärkte das Durchhaltevermögen. Als Gemeinschaftswerk war er „Quell der Lebensfrische und Leistungsfähigkeit unseres Volkes“ (Alfred Kettler, Betriebssport, Werkzeitung der Gebr. Böhler & Co. AG 1, 1938, Nr. 1, 17-18 (beide Zitate)). Großbetriebe bereiteten hierfür den Weg, Betriebssportgemeinschaften kämpften miteinander. Einzelne oder Mannschaften standen dabei für das gesamte Unternehmen, unterstützten damit beträchtliche öffentliche Sportinvestitionen, die während der Olympiade 1936 zu einem hierzulande nie wieder erreichten Medaillensegen geführt hatten. Zugleich erlaubten sie die Schaffung betrieblicher und völkischer Geschlossenheit. Dem Betriebssportappell bei Robert Bosch in Stuttgart wohnten im September 1938 fast alle der 8000 Beschäftigten bei (Schwäbischer Merkur 1938, Nr. 2144 v. 11. September, 11).

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Schönheit der Arbeit: Bruch mit den grauen Mauern des Betriebs (Dortmunder Zeitung 1938, Nr. 233 v. 21. Juli, 8)

Das 1933 von der DAF gegründete Amt „Schönheit der Arbeit“ zielte auf eine Verbesserung der innerbetrieblichen Arbeitsbedingungen. Jahr für Jahr wurde ein neues Ziel ausgegeben, einschlägige Verbesserungen sollten nun auch Teil des Leistungskampfes sein: „Saubere Menschen in sauberen Betrieben“ hieß es 1933, danach „Grün in die Betriebe“, „Kampf dem Lärm“, „Gutes Licht – gute Arbeit“, 1938 dann „Gesunde Luft im Arbeitsraum“, begleitet von der bis 1939 laufenden Aktion „Warmes Essen im Betrieb“. Disziplinierung und Humanisierung gingen dabei Hand in Hand (Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Zeitalter, Bielefeld 2014, v.a. 95-162). Die Arbeit des Amtes erschöpfte sich wahrlich nicht in dem vielfach verspotteten Blumenschmuck in den Firmen, auf den auch der Comicstrip anspielte. Tobias Groll repräsentierte darin den gewalttätigen Patriarchen der alten Zeit, und sein Lernprozess war hier nachvollziehbarer als in anderen Episoden. Beschämt von der eigenen Grobheit, vom ehrenamtlichen Engagement eines Lehrlings, besann sich der Chef und kehrte – den Schirm geschlossen geschultert – mit Blumen zurück in den Betrieb. Die „Schönheit der Arbeit“ blieb vielfach Propaganda, doch die immer wieder beschworenen Verheißungen veränderten das Bild des Betriebes als solchen: „Ein netter, in der wärmeren Jahreszeit in frischem Grün prangender Fabrikgarten in frischem Grün prangender Fabrikgarten grüßt sie bei ihrem Eintreten, und an ihren eigentlichen Arbeitsplätzen erwartet sie blitzende Sauberkeit. Keine Maschine, die früher viele Unfälle, ja selbst Menschenleben forderte, die nicht in hinreichendem Maße gesichert wäre. Aus den weiten Fabrikhallen sind die matten, den Blick ins Freie verwehrenden Milchtafelgläser verschwunden“ (Der NS.-Musterbetrieb Ausdruck höchster wirtschaftlicher Sauberkeit! Völkischer Beobachter 1938, Nr. 120 v. 15. Juli, 8-9, hier 8). Der Leistungskampf stand in der Tradition reflektierter Humankapitalwahrung, schuf zugleich aber Anspruchshaltungen und Vorstellungen, die in beiden Nachfolgestaaten weiter wirksam blieben.

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Betriebsausflug: Geselliges Miteinander als Ziel (Bergedorfer Zeitung 1938, Nr. 187 v. 12. August, 6)

Die weit zurückreichende Rationalisierung und Mechanisierung gewerblicher Arbeit veränderte die Produktionswelt aber auch indirekt, denn Freizeit und Konsum gewannen zumal in den 1920er Jahren für viele Arbeitnehmer eine immer größere Bedeutung. Die DAF bemühte sich, wie zuvor schon Gewerkschaften, Parteien und eine wachsende Zahl von Unternehmen, diese Aufgabe im Sinne des NS-Staates aufzugreifen. Durch die Konsumgenossenschaften, vor allem aber durch die Organisation „Kraft durch Freude“ besaß sie ein elaboriertes Instrumentarium für gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten (Karsten Uhl, Visionen der Arbeit im Nationalsozialismus. Automatisierung und Menschenführung in der Leistungsgemeinschaft, in: Franziska Rehlinghaus und Ulf Teichmann (Hg.), Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert, Bonn 2019, insb. 107-126). Die Parolen zielten auf Einflussnahme: „Mindestens einmal im Jahr, mitten in der Woche, einen KdF.-Betriebsausflug ins deutsche Land!“ (Betriebsausflüge nur an Wochentagen, Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 198 v. 26. August, 15). Während der Sommerzeit, meist im Juni oder Juli, standen Betriebsausflüge daher auf der Tagesordnung einer wachsenden Zahl von Betrieben. Sie waren nicht immer wohlgelitten, erfolgten vielfach im kleineren Rahmen etwa der Betriebsleitung oder der Facharbeiter. Groll versuchte sich dieser Zwangsvergemeinschaftung zu entziehen, wurde aber von den Ausflüglern eines Konkurrenzunternehmens abgepasst und zu seinem Glück gezwungen. Am Ende marschierte Groll wieder im Leistungskampf, der Schirm blieb geschlossen, mutierte zum Taktstock.

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Genrebeitrag ohne direkte propagandistische Einbettung (Ostmark-Woche 7, 1939, Nr. 22, 7)

Dieser vierte Comicstrip lenkt unseren Blick zugleich auf die Form der Bildergeschichten. Die vier Einzelbilder erschienen zumeist als fast quadratischer Block, meist als Eckenfüller der Zeitschriften. Variationen waren jedoch möglich, in diesem Fall als Bilderabfolge in horizontaler Reihung. Für den Leser war dies einfacher, denn die im Block teils noch erfolgte Nummerierung der Einzelbilder verwies auf Probleme im Verständnis der jeweiligen Reihenfolge. Zugleich spielte die Serie mit Abenteuermotiven, die von anderen Medien parallel aufgegriffen wurden. Betriebsausflüge waren damals ein gängiger Anlass für humoristische Auslassungen. Das galt auch für Tobias Groll, für sein angestrengtes Sackhüpfen. Doch die Serie verblieb nicht in Witz und Schabernack, sondern bettete diese in eine völkische Verpflichtung ein: Der Betriebsausflug sollte Volksgemeinschaft im Kleinen zelebrieren, die Kampfgemeinschaft als Feiergemeinschaft darstellen.

24_Jeversches Wochenblatt_1938_08_10_Nr181_p4_Tobias-Groll_Warmes-Essen-im-Betrieb_DAF_Franz-Roha_Leistungskampf-der-deutschen-Betriebe_Comic

Warmes Essen im Betrieb: Dezentrale Versorgungsstrukturen (Jeversches Wochenblatt 1938, Nr. 181 v. 10. August, 4)

Eine der Begleitparolen des zweiten Leistungskampfes war: „Fort mit Stulle und Butterbrot“ (Der Grafschafter 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 14). Das folgte dem schon im Februar 1938 einsetzenden „Aufklärungsfeldzug“ für „Warmes Essen im Betrieb“ (Speiseräume für die Gefolgschaft, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 528 v. 10. November, 3). Das fünfte Grollsche Abenteuer führte die Leser entsprechend in die Mängel insbesondere der Mittagsverpflegung ein. Arbeitszeit, Arbeitsweg und Überstunden konnten sich auf zwölf, gar vierzehn Stunden aufaddieren – und die üblichen Stullen konnten den Substanzverlust nur teilweise kompensieren. Die DAF unterstützte daher einen deutlichen Ausbau betrieblicher Kantinen bzw. auch mittäglicher Verpflegung durch zentralisierte Küchen. Der Comicstrip präsentierte die oft desolate Ausstattung betrieblicher Kochgelegenheiten, setzte unausgesprochen ein Interesse der Arbeitnehmer an einem einheitlichen Mahl voraus. Das widersprach der betrieblichen Realität, doch man kann davon ausgehen, dass sich die Zahl der Kantinen in der unmittelbaren Vorkriegszeit auf Anfang 1940 geschätzte 7.000 bis 7.500 verdoppelte (Otto Suhr, Neue Formen der Werkverpflegung, Monatshefte für NS-Sozialpolitik 9, 1942, 215-216, hier 215). Die weitere Entwicklung unterstrich, dass Kantinen als wichtige Grundlage einer leistungsfähigen Rüstungswirtschaft galten. 1943 gab es bereits 17.500 „Werksküchen“, zudem 2.000 Fernverpflegungsbetriebe, 1944 nahmen 26 Millionen Beschäftigte an der Gemeinschaftsverpflegung teil (Gemeinschaftsverpflegung 1944, 363; Arbeitertum 13, 1944, Nr. 18, 7). All das wurde – wie bei den öffentlichen Eintopfessen – als Teil einer Volksgemeinschaft am Tisch präsentiert. Doch anders als im Comic, wo Tobias Groll und der Vorarbeiter August Schmidt gemeinsam das Mittagessen einnahmen, speisten Chefetage und Belegschaft weiterhin zumeist anderes und andernorts.

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Das Schwimmbad oder Solidarität mit dem Chef (Tremonia – Westdeutsche Volkszeitung 1938, Nr. 227 v. 22. August, Bl. 2, 1)

Bei der sechsten Episode der Abenteuer kam mir unwillkürlich August Bebels (1840-1913) spöttische Sentenz vom „Paradies der großen Fabrikbetriebe“ in den Sinn (Heinz Marr, Die Industriearbeit (Das Fabriksystem), in: Karl Peppler (Hg.), Die Deutsche Arbeitskunde, Leipzig und Berlin 1940, 115-138, hier 129). Ein Schwimmbad in einem Industriebetrieb? Das gab es natürlich, die Anlage der Uhrenfabrik Junghans diente ganz Schramberg zum Pläsier (Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 13, 22), generell ging es um ein sicheres Erlernen des Schwimmens (Illustrierter Beobachter 12, 1937, 1022). Doch in der Bildgeschichte ging es vorrangig um die Solidarität der Arbeiter mit ihrem Chef, aber auch um den Willen zur Selbsthilfe. Eine Gemeinschaftsaktion abseits der eigenen Hierarchieebene unterstrich die Kraft des Gemeinschaftsgedankens: Alle für einen, einer für alle. Zugleich erinnerten die Bilder an die stetig wiederholte Parole, dass es im Leistungskampf keine Geschenke gäbe, sondern jede Verbesserung erarbeitet werden müsse. Tobias Groll war jedenfalls hoch erfreut über den Wandel der nationalsozialistisch inspirierten „Gefolgschaft“ – und sprang stellvertretend für seine Volksgenossen in das kühle Nass.

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In variabler Form: Vertrauensrat und Kameradschaftsabend (Der Führer 1938, Nr. 222 v. 14. August, 5 (l.); Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 229 v. 21. August, 5)

Die folgenden zwei Abenteuer spiegeln eine weitere formale Variation der Serie, die in einigen Zeitungen nicht nur im Quer-, sondern auch im Längsformat erschien. Inhaltlich ging es um zwei weitere Elemente des betrieblichen Alltags während der NS-Zeit. Da war zum einen der Vertrauensrat, der als Vermittlungsinstanz an die Stelle der bis 1933 bestehenden Betriebsräte trat. Das im Januar 1934 erlassene Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit führte das Führerprinzip auch in die Betriebe ein. Die Gefolgschaft hatte dem Betriebsführer treu und gehorsam zu folgen, während sich letzterer um das Wohl seiner Beschäftigten sorgen musste. Für sozialpolitische Konfliktfälle gab es einen beratend arbeitenden Vertrauensrat, dessen Mitglieder der DAF angehören mussten (Frese, 1992, 282-283). Sollte kein Einvernehmen erzielt werden, so entschieden die staatlich ernannten Treuhänder der Arbeit. Der Leistungskampf der deutschen Betriebe sollte diesem recht zahn- und machtlosen Gremium neuen Glanz verleihen, sollte es doch den „Generalstab des Leistungskampfes“ bilden (Die Parole des Monats, Bremer Zeitung 1938, Nr. 214 v. 6. August, 6). Der Vertrauensrat war vertraut mit der innerbetrieblichen Sozialpolitik – und sollte nun Vorschläge für die Maßnahmen im Leistungskampf machen (Unser Betrieb im Leistungskampf, Werkzeitung der Gebr. Böhler & Co. AG 2, 1939, Nr. 6, 20). Der Betriebsführer sollte sie abwägen, dann mit dem Vertrauensrat besprechen. Konflikte konnten dabei kaum offen ausgetragen werden, denn der Betriebsfrieden stand über allem.

Kameradschaftsabende waren ähnliche Gesprächsforen, allerdings weniger reguliert. Sie dienten vornehmlich der Geselligkeit, dem Erfahrungsaustausch und der Sozialisation. Der Begriff war Teil einer idealisierten Rückbesinnung auf das Fronterlebnis des Weltkrieges, gewann im NS-Umfeld vor allem seit 1933, im betrieblichen Bereich seit 1934 an Bedeutung. Beide Episoden spiegelten die im Leistungskampf nicht berührten innerbetrieblichen Machtverhältnisse. Chef Tobias Groll etablierte beide Institutionen, versuchte damit die Beschäftigten formal einzubinden und Konflikte abzumildern. Doch trotz neuer Besprechungen und eines Klaviersolos behielt er die eigentliche Macht in der Hand – wobei er nun erstmals ohne Schirm gezeichnet wurde.

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Lehrlingswerkstatt: Qualifizierung als Anrecht (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 235 v. 27. August, 6)

Die Qualifizierung des Nachwuchses war schon während der Reichsberufswettkämpfe ein zentrales Anliegen sowohl der Wirtschaft, des Staates und der DAF. Die Massenarbeitslosigkeit hatte zu einer relativen Dequalifizierung vieler Lehrlinge geführt, so dass Facharbeiter rasch Mangelware waren. Die Neugründung vieler Lehrlingswerkstätten nach der Weltwirtschaftskrise war eine Reaktion auf den „merklichen Mangel an qualifizierten Arbeitern“ (Herner Zeitung 1934, Nr. 77 v. 3. April, 3), der das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“ schon früh gefährdete. Der im Comic verwandte Begriff der „Lehrlingswerkstatt“ griff allerdings über die betriebliche Bildung hinaus. So hatte etwa die Zeche Zollverein schon 1934 eine Lehrlingswerkstatt geschaffen, „die nicht nur den beruflichen Fortschritt fördern soll, sondern auch außerhalb des Berufes dem jugendlichen Arbeiter Gelegenheit gibt, sich durch Turnen und Wandern körperlich zu ertüchtigen und durch vielseitigen Unterricht geistig weiterzubilden.“ Auch die Eltern wurden einbezogen, waren Gast bei gemeinsamen Unterhaltungsabenden. Ziel der Einrichtungen war es, „die ihr anvertrauten jungen Menschen zu körperlich und geistig tüchtigen Volksgenossen […] im Sinne unseres Führers“ zu erziehen (Essener Allgemeine Zeitung 1934, Nr. 19 v. 20. Januar, 4 (auch zuvor)). Sie waren, wie das duale System der Lehrlingsausbildung, eine Erbschaft des Kaiserreichs und dienten vornehmlich der Ausbildung von Kernbelegschaften (Marhild v. Behr, Die Entstehung der industriellen Lehrwerkstatt, Frankfurt a.M. und New York 1981). Lehrlingswerkstätten waren typisch für Großbetriebe, gewannen aber auch in Mittelbetrieben schon lange vor dem Beginn des Leistungskampfes der deutschen Betriebe an Bedeutung, waren sie doch kostengünstiger als Einzelausbildung. Für Tobias Groll war es daher keine Frage, dass er dem Lehrling Fritz letztlich bessere Rahmenbedingungen zubilligte. Zugleich mutierte er vom erschreckten Griesgram zu einem zunehmend aktiven Gestalter. Im Gegensatz zu dem im Alten verharrenden Vorarbeiter nahm er den Flügelschlag der neuen Zeit wahr. Groll verinnerlichte langsam Grundlagen des Leistungskampfes und füllte seine Funktion als Betriebsführer zunehmend zum Wohle seiner Mitstreiter aus.

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Werkswohnungen: Betriebsanbindung und Familiengrund (Siegblätter 1938, Nr. 207 v. 6. September, 8)

Das NS-Regime hat im Vergleich zum Weimarer Staat deutlich weniger Wohnungen gebaut. Gleichwohl berichtete die Propaganda immer wieder von neuen kleinen Siedlungen, hob die Bedeutung auch des betrieblichen Wohnungsbaus stetig hervor. Anfangs setzten die neuen Machthaber auf eine begrenzte Reagrarisierung des Neubaus. An die Stelle der fabriknahen Mietswohnung sollte ein einfaches, häufig nicht wirklich unterkellertes Kleinhaus mit einem großen Wirtschaftsgarten und Kleintierhaltung treten. Diese „Eigenheimstätte“ blieb als gerade noch zu finanzierendes Ideal bestehen, doch spätestens mit dem Vierjahresplan war sie zu teuer. Angesichts von 1938 ca. 1,5 Millionen fehlenden Wohnungen versuchte man nachzubessern, da ansonsten die wirtschaftlichen und politischen Ziele des Regimes gefährdet seien: „Ein Gefolgschaftsmann, der in einer dunklen, dumpfigen, beengten Behausung mit Frau und Kindern zu leben gezwungen ist, kann am Arbeitsplatz bei den schönsten und besten Einrichtungen der Arbeitsstätte kein leistungsfähiges, vollwertiges und besonders frohes Mitglied der Betriebsgemeinschaft sein“ (Heimstätten – nicht Mietswerkwohnungen, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 318 v. 11. Juli, 6). Die DAF steuerte um, zielte nunmehr auf eine Mischung von Eigenheimen und Vierraumwohnungen in Wohlblocks ohne Garten. Man gab vor, damit auch dem Willen der Arbeiter zu entsprechen – die angesichts der hohen Arbeitsbelastung vielfach keine Möglichkeiten für Nebenerwerbslandwirtschaft hatten (Carl Wellthor, Richtige Wirtschaft – falsche Wirtschaft, Württemberger Zeitung 1938, Nr. 206 v. 3. September, 2). Waren im ersten Leistungskampf der deutschen Betriebe 1937/38 nominell knapp 29.000 Werkswohnungen gebaut worden, so sollte diese Zahl nun einerseits deutlich erhöht, die Förderung zugleich auf Mittel- und Kleinbetriebe, auf kleinere Projekte konzentriert werden (Der Wohnungsbau im 2. Leistungskampf, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 409 v. 2. September, 4).

Tobias Groll hatte diese Veränderungen bereits verinnerlicht. Wie zuvor vom eigenen Lehrling lernte er nun vom Vorbild seines Konkurrenten. Er investierte in einen Wohnblock, bot seinen Beschäftigten damit einen festen Grund. Am Ende der ersten Staffel der Abenteuer des Tobias Groll lachte die Sonne und der Schirm steckte in der zu besiedelnden Erde. Unser Held hatte die Anregungen des Leistungskampfes angenommen, handelte sozial verlässlich, von „der Gefolgschaft dicht umringt“. Am Ende verspürte er gar ein „Gefühl des Glücks“ – und unterstrich damit, dass er seinen Weg gefunden hatte, da er „im Leistungskampf marschiert!“

Perspektivwechsel: Neue Abenteuer des Tobias Groll

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Die Abenteuer des Tobias Groll: Ein thematischer Überblick

Damit sind wir an das Ende der seltsamen Abenteuer des Tobias Groll gelangt – und zehn neue Abenteuer sollten folgen. Neue Themen des Leistungskampfes wurden angesprochen, die vielgestaltigen Verbesserungsmöglichkeiten weiter ausgelotet. Wichtiger aber war, dass Tobias Groll seine Rolle wechselte. Aus dem Chef der ersten Reihe wurde nun ein Kollege, der teils als Werkmeister, teils auch als einfacher Arbeiter agierte. Durch diesen Perspektivwechsel konnten innerbetriebliche Aufgaben anders angesprochen werden. Das folgerte auch aus dem fortschreitenden Leistungskampf. Der Abdruck der ersten Reihe begann im Juli, die einzelnen Geschichten folgten bis August/September im Wochentakt. Genau getaktete Erscheinungsdaten gab es allerdings nicht, ebenso fehlte eine verbindliche, gar logische Abfolge. Die Zeitungen variierten durchaus. Die Serie selbst erschien reichsweit. Sie fand sich in einer recht großen, aber doch überschaubaren Zahl von Tageszeitungen, nicht jedoch in Wochenzeitschriften oder Illustrierten.

Die zweite Reihe setzte Ende September ein – und fokussierte sich auch deshalb stärker auf innerbetriebliche Aufgaben, weil die Mobilisierung der Betriebe zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war, es nun um die Arbeit in den Unternehmen selbst ging. Dass dabei die Belegschaften auf die besonderen Bedingungen eines Krieges eingeschworen werden sollten, ist angesichts von Hitlers Kriegswillen offenkundig – auch wenn das Münchner Abkommen 1938 einen unmittelbaren Waffengang auf Kosten der Tschechoslowakei noch abwenden konnte. Die neuen Abenteuer des Tobias Groll erschienen weiterhin im Wochentakt, setzten im September ein, endeten im November/Dezember. Parallel franste der Abdruck jedoch zunehmend aus. Während die einzelnen Episoden anfangs noch durchnummeriert waren, endete diese innere Ordnung spätestens mit dem vierten Abenteuer. Die Abfolge geriet in Unordnung, variierte zwischen verschiedenen Presseorganen, teils wurde die Reihe vor ihrem Ende beendet. Für mehrere Zeitschriften schien es sich um eckenfüllende Einzelepisoden zu handeln. Entsprechend ist nicht verwunderlich, dass die neuen Abenteuer in Einzelfällen auch später einsetzten resp. endeten. Der letzte Abdruck stammt aus dem Februar 1939. All dies entspricht nicht der Imagination eines zackigen und mörderisch-effizienten NS-Regimes, war aber durchaus kennzeichnend für ein Umfeld großen Wollens und improvisierten Tuns: Die Presse war teils nicht in der Lage, die gezeichnete NS-Propaganda einheitlich an den Mann, an die Frau zu bringen. Das galt nicht nur für Propaganda, sondern auch für die visuelle und textliche Propagierung der vielgestaltigen Sammelaktivitäten einer Mangelökonomie, zumal des Winterhilfswerkes.

Zugleich unterstreichen die Abenteuer des Tobias Grohl, dass gängige Vorstellungen von einer Comic-Feindlichkeit des NS-Regimes mehr als zu relativieren sind (vgl. bereits Eckart Sackmann, Die Braune Post – die Nazis und die Sprechblase, Deutsche Comicforschung 12, 2016, 74-83; ders., »>Comics< sind als undeutsch verpönt.« Die Nazi-Jahre, ebd. 15, 2019, 56-93). Auch wenn die Abenteuer nicht in Form der vermeintlich „amerikanischen“ Sprechblasencomics erschienen – die aber durch NS-Zeichner wie Emmerich Huber schon lange zuvor auch in offiziellen Kampagnen angewendet wurden – so unterstreicht der aus zwanzig Episoden bestehende Comicstrip, dass das NS-Regime Comics auch für staatspolitisch vorrangige Themen und für Erwachsene nutzte. Zeitgenössische NS-Kritik an bestimmten Ausprägungen der US-Comickultur darf nicht mit grundsätzlicher Ablehnung verwechselt werden. Comics waren sowohl für Propaganda- als auch für Unterhaltungszwecke eine gängige literarisch-visuelle Form der NS-Zeit – auch und gerade in den bisher kaum beachteten Tageszeitungen. Doch nun zu den neuen Abenteuern:

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Berufsbildung oder Kämpfen und Können (Münsterischer Anzeiger 1938, Nr. 436 v. 21. September, 6)

Schon in der ersten Folge sehen wir einen äußerlich gewandelten Tobias Groll: Schirm und Anzugsjacke waren weggefallen, wurden ersetzt durch ein schlecht sitzendes Arbeitshemd und eine Hose, beide unvorteilhaft für den übergewichtigen Griesgram, der den gängigen Idealbildern deutscher Kämpfer und nationalsozialistischer Aktivisten wahrlich nicht entsprach. Unser Held donnerte gleich los, konnte der Leserei des Lehrlings nichts abgewinnen. Doch anders als in der ersten Serie wurde Werkmeister Groll nun rasch überzeugt, ließ den Jungen gewähren, verstand seine eigenen Defizite, ging in die Betriebsbücherei und arbeitete an sich – in trauter Gemeinschaft mit dem ehedem getadelten Lehrling, der den Sinn des Leistungskampfes schon früher verstanden hatte. Die Konversion des Griesgrams erfolgte in den neuen Abenteuern schneller, das Abwägen wurde vermehrt durch rasches Begreifen und Folgsamkeit ersetzt.

Da Berufsbildung bis heute eine mit massivem Ressourceneinsatz verbundene Gemeinschaftsaufgabe von Staat, Wirtschaft und Individuum ist, gilt es den NS-Kontext der Bildgeschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Berufsbildung stand damals im Spannungsgefüge einer vermeintlich „liberalistischen“ Vergangenheit und der nationalsozialistischen Gegenwart. Erstere sei durch „selbstsüchtige Wünsche“ nach raschem Fortkommen und Reichtum geprägt gewesen, letztere berücksichtige auch „die höheren und höchsten Interessen des Volkes“. Egoisten hätten materialistische Gruppenbildungen, etwa von Gewerkschaften, vorangetrieben, während nun „das Wohl und das Leben der Volksgemeinschaft einzige Richtschnur für das Handeln des einzelnen“ sei (Zitate aus Der Angestellte und die Wirtschaft, Vestische Neueste Nachrichten 1934, Nr. 300 v. 31. Oktober, 3). Derartiges Wortgeklingel unterschlug, dass just während der NS-Zeit viele Facharbeiter gezielt in ihren sozialen Aufstieg investierten und sich ihnen insbesondere nach Beginn des Vierjahresplans neue Chancen in Betrieben und der Wehrmacht eröffneten. Volksgemeinschaftsrabulistik konnte die erodierenden Solidaritätsstrukturen innerhalb der Milieus nicht ansatzweise substituieren. Erfolgreiche Fernunterrichtsangebote wie etwa des Rustinschen Lehrinstituts in Potsdam, des Konstanzer Christiani-Fernunterrichts oder der Berliner Fernunterrichts-Gesellschaft bewarben „den Weg nach Oben“ und ließen eine Berufsbildung für das völkische Ganze zur Feiertagsphrase verkommen – mochte beide Wege für die expansiven Ziele des Regimes auch dienlich gewesen sein.

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Kleiner Betriebsknigge: Der Ton macht die Musik (Herner Zeitung 1938, Nr. 222 v. 22. September, 4)

Das NS-Regime propagierte offiziell einen respektablen Umgang der Volksgenossen untereinander, kernig und versöhnlich, direkt und auf Gemeinsames zielend. Das stand quer zum generellen Ton dieser Zeit, der schon aufgrund der hierarchischen Strukturen eines „Führersystems“ und dem Ausgrenzungs- und Vernichtungswillen gegenüber allem nicht „Arteigenen“ gänzlich anders klang. Das spiegelte sich etwa in der Tätigkeitsbeschreibungen der sozialen Ehrengerichte, die offenkundige Verstöße gegen den undefinierten Betriebsknigge sanktionierten. Sie sanktionierten „asoziale Gesinnung, […] Mißbrauch der Machstellung, […] versteckte Böswilligkeit, […] Mißachtung und sozialen[n] Unverstand.“ Die vielbeschworenen gekränkten Leberwürste sollten dort aber ebenfalls kein Forum erhalten: „Der viel belächelte Kommißton sei keine Kränkung der Soldatenehre, und auch der Arbeiter schätze eine kernige Sprache, den rauhen aber herzlichen Ton, während ihm Leisetreterei und doppelzüngige Ironie verhaßt sei.“ Im Betrieb ging es normativ um eine richtige soziale Gesinnung, um Taktgefühl angesichts von Kränkungen und kleineren Pflichtwidrigkeiten (Zitate aus Soziale Ehrengerichtsbarkeit als Erziehungsinstrument, National-Zeitung 1936, Nr. 129 v. 5. Juni, 8). Der kleine Betriebsknigge zielte auf wechselseitige Achtung. Soweit folgte er dem Vorbild des Freiherrn Adolph von Knigge (1752-1796). Dessen 1788 erschienenes Hauptwerk „Ueber den Umgang mit Menschen“ war allerdings eine Handreichung für den höflichen Umgang ständisch unterschiedlicher Menschen. Benimmregeln in einer Volksgemeinschaft der nominell Gleichen konnten daraus nur bedingt abgeleitet werden.

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Die Betriebsbrause: Hygienepflicht und Unfallschutz (Höxtersche Zeitung 1938, Nr. 229 v. 1. Oktober, 6)

Waschgelegenheiten waren seit dem späten 19. Jahrhundert eine von Sozialreformern und Arbeitervertretern beharrlich eingeforderte Schutzmaßregel, um insbesondere im Umgang mit Staub, Glas, Metallen und Chemikalien Gesundheitsgefährdungen einzudämmen. Doch gerade in mittleren und kleineren Unternehmen waren sie meist unzureichend (von den Aborten ganz zu schweigen). Während der NS-Zeit wurde das Thema im Rahmen der Gesundheitsführung propagandistisch weiter aufgeladen, Vorzeigeeinrichtungen wie das 1935 von Daimler-Benz in Gaggenau erbaute „Haus der Gesundheit“ (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 128) illustrierten Notwendigkeit und Ideal zugleich. Tobias Groll war dennoch skeptisch gegenüber derartigen Neuerungen, die er erst schätzen lernte, als ein kleiner Unfall ihn an das Labsal der Reinigung erinnerte. Er fügte sich in sein Schicksal, auch wenn er scheinbar noch mit dem Dreck der alten Zeit gut hätte leben können.

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Urlaubsfahrt mit „Kraft durch Freude“ (Der Patriot 1938, Nr. 234 v. 7. Oktober, 7)

Die DAF zielte auf eine Kompletterfassung der arbeitenden Bevölkerung: „Die betriebliche Betreuung darf daher keinesfalls am Betriebstor enden“ (Hans Rasch, Pioniere der neuen Sozialordnung, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 5, 3-4, hier 4). Entsprechend hoch war die nicht nur propagandistische Bedeutung der DAF-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, die breit gefächerte Freizeitaktivitäten anbot. Reisen und Wanderungen galten vornehmlich den deutschen Landen, doch propagandistisch wichtiger wurden die im Mai 1934, also lange vor Beginn des Leistungskampfes der deutschen Betriebe, mit gecharterten Passagierdampfern begonnenen Kreuzfahrten. Die kurzen Reisen nach Norwegen, insbesondere aber zum portugiesischen Madeira standen für den Traum einer erschwinglichen Fernreise, von Urlaub allgemein (Sascha Howind, Kraft durch Freude und die Illusion eines besseren Lebens. Sozialpropaganda im Dritten Reich 1933-1939, Phil. Diss. Hannover 2011 (Ms.), insb. 150-189). Als „deutsche Friedensflotte“ dienten die Schiffe auch außen- und bündnispolitischen Zwecken. Die Kiellegung und der Stapellauf der beiden für knapp 2000 Personen ausgelegten Dampfer „Wilhelm Gustloff“ und „Robert Ley“ wurden reichsweit zelebriert, sollten diese mit Einheitskabinen ausgestatteten Schiff doch Vorstellungen einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft nähren. Nicht jeder konnte zudem mitfahren, politische Zuverlässigkeit war verpflichtend: „Die Fahrten ‚Kraft durch Freude‘ sind keine einfachen Vergnügungsfahrten, sondern einer der Wege der Verwirklichung des Gedankens nationalsozialistischer Volksgemeinschaft“ (Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 214 v. 12. September 1936, 7). Wer sich in diesem Rahmen daneben benahm, konnte unmittelbar entlassen werden.

Trotz vergleichsweise hoher Kosten, die ebenso wie beim KdF-Wagen mit einer eigenen Reisesparkarte zusammengekratzt werden mussten, handelte es sich um ein gern genutztes Angebot – schon, weil die Zahl der Reisenden sehr überschaubar blieb. Tobias Grolls Ängste sind daher unglaubwürdig – im Gegensatz zu seinen grundsätzlich positiven Erfahrungen. Dagegen passte sein Glücksgefühl, denn der Poesiealbumspruch „Lebe glücklich, lebe froh, wie der Mops im Paletot“ reichten bis ins Kaiserreich zurück und stand – auch durch den 1933 veröffentlichen Foxtrott „Immer lustig, immer froh, wie der Mops im Paletot“ – für eine gewisse spießbürgerliche Häuslichkeit (Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung 1933, Nr. 26 v. 31. Januar, 8). Der Texter dürfte aber kaum an den Refrain „Denn die große Pleite kommt ja so wie so“ gedacht haben (Mittelrheinische Landeszeitung 1936, Nr. 118 v. 23. Mai, 14).

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Werkskapelle: Wir machen Musik – im Betrieb (Lippische Staatszeitung 1938, Nr. 287 v. 18. Oktober, 5)

Weniger bedeutsam waren die Werkskapellen, die es – anders als die noch zahlreichen Männergesangvereine – zumeist nur in Großbetrieben gab. Werkskapellen spielten zu besonderen Anlässen auf, gaben vereinzelt auch die in der Episode angesprochenen Mittagskonzerte (Die Bewegung 4, 1936, Nr. 40, 7). Sie standen für Frohsinn und Freude, gegen das „Heer von Tränenklößen und Lebensverneinern“ (Walter Krause, Der Weg zur Leistung. Wir brauchen Herrenmenschen, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 6, 3-4, hier 3). Das angetönte, aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Lied zielte mit seiner Hauptzeile „Waldeslust, Waldeslust, / o wie einsam schlägt die Brust“ direkt auf den im „Jammertal“ verharrenden Tobias Groll. Schunkelnd reihte er sich ein, mutierte zum passionierten Mitmarschierer.

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Betriebsarzt: Gesundheitsfürsorge und Expertenwissen (Wittener Tageblatt 1938, Nr. 304 v. 29. Dezember, 5)

Mit der sechsten Episode der neuen Abenteuer wurde eine weitere Facette der DAF-Arbeit vorgestellt, der Implementierung von Betriebsärzten auch durch das Amt für Volksgesundheit. Dessen Ziel war es, jeden „deutschen Menschen zu der auf Grund seines Erb- und Rassegutes überhaupt erreichbaren höchsten Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu führen und Gesundheit und Leistung bis ins höchste Alter zu erhalten“ (Die Deutsche Arbeitsfront, ihre Ämter und Leistungen. XV. Das Amt für Volksgesundheit, Illustrierter Beobachter 12, 1937, 949-950, hier 949). Dabei legte man besonderes Gewicht auf Frauen ab ca. 35, Männer ab 40-45 Jahren, der damaligen Zeitspanne nachlassender Arbeitskraft. Tobias Groll spürte diese vor allem aus wehrwirtschaftlichen Gründen bedrohlichen Entwicklung bereits am eigenen Leibe. Der Betriebsarzt empfahl, wie schon seine seit dem späten 19. Jahrhundert eingestellten Kollegen in den Berufsgenossenschaften und auch Großbetrieben, Ernährungsumstellung, vor allem aber den Verzicht auf Fett und Alkohol. Ob unser Held diese Ratschläge umgesetzt hat, ist nicht bekannt.

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Betriebskindergarten: Kinder als Zukunftsgaranten (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 309 v. 9. November, 8)

Die neuen Abenteuer des Tobias Groll spielten in einer reinen Männergesellschaft, obwohl die DAF auch für Frauen zuständig war – und die Erwerbstätigkeitsquote im Deutschen Reich vor dem Krieg europaweit relativ hoch lag. Frauenarbeit wurde nicht zuletzt durch den Vierjahresplan immer wichtiger, stand jedoch in Konflikt mit der pronatalistischen Politik des NS-Regimes. Betriebskindergärten erlaubten Kompromisse, die im Pathos der Zeit gleichsam hymnisch belobigt wurden: „Bewundernd blicken wir auf die Unmenge von Maßnahmen weitblickender und gesund denkender Betriebsführer, die darauf abzielen, bei der deutschen betriebstätigen Frau die Freude am Kinde zu wecken, die dem Zwecke dienen, die Zeit der Mutterwerdung zum größten und schönsten Erlebnis werden zu lassen, die eine verstärkte Menschenbetreuung darstellen und jede ernste Sorge der Schwangeren und Mutter nehmen“ (Hupfauer, Auszeichnung, 1938, 10). Tobias Groll teilte derartige Begeisterung nicht, verband Kinder mit Lärm und Störungen. Doch auch hier lernte er im Umgang mit den Kleinen andere Seiten seines Ichs kennen, folgte der Belehrung durch „Kindermund“ und wurde so neuerlich durch „Leistungskampf belehrt“.

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Rücksichtnahme: Tobias Groll als Helfer (Herner Zeitung 1938, Nr. 262 v. 8. November, 7)

Das NS-Regime war gnadenlos gegenüber den selbst definierten Feinden, doch der Vernichtungsfuror ging einher mit immer wieder eingeforderten und praktizierten Formen der Hege, des Respektes und der Höflichkeit. Daran wurde öffentlich immer wieder appelliert, im Mai 1942 initiierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) gar eine eigene Kampagne für mehr Höflichkeit, zumal in Berlin (Wer ist der höflichste Berliner?, Bremer Zeitung 1942, Nr. 124 v. 7. Mai, 6). Dies war Ausdruck nationalsozialistischer Moral, ebenso wie die Mutter- und Tierliebe (Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Bonn 2010; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014). Kampf und Gewalt, Mord und Vernichtung standen in engem Zusammenhang zu diesem Tugendkatalog, zur Scheidekunst zwischen Lebens- und Liebenswerten einerseits, Unterdrückungs- und Vernichtungswertem anderseits. Entsprechend überrascht der neuerliche Schwenk der Reihe auf Umgangsformen innerhalb des Betriebes kaum. Die Betriebsgemeinschaft war rassistisch konnotiert, innerhalb half man auch Schwächeren und Älteren: „Einer beobachtet den anderen. Jeder hilft ohne Aufforderung, wenn er sieht oder auch nur empfindet, daß die Arbeit des andern durch seine Mithilfe – und häufig sind ja nur kleine Handreichungen erforderlich – gefördert wird“ („Kamerad wart, ich helfe dir!“, Stuttgarter NS-Kurier, Nr. 319 v. 12. Juli, 3). Tobias Groll verkörperte dies, dämpfte seinem Unmut über den älteren Kollegen, überwand in gar. Fast könnte man eine Referenz an den alttestamentarischen alten Tobias sehen, der auch in der assyrischen Gefangenschaft an seiner Treue zu Gott festhielt, der sich durch Nächstenliebe und Almosen auszeichnete. Doch dieser Tobias war ein Jude – und Tobias Groll hätte dann wohl seine andere Seite gezeigt.

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Theaterbesuch: Kultur als Ressource (Höxtersche Zeitung 1938, Nr. 270 v. 19. November, 13)

Groll selbst war ein einsamer, in sich gekehrter Mann, der trotz ärztlicher Mahnungen immer wieder dem Alkohol zusprach. Die Angebote der Kraft durch Freude-Organisation verschmähte er, selbst wenn es um einen verbilligten Theaterabend ging. Doch auch in diesem Falle lernte Groll hinzu, schämte sich seines Katers, seiner selbst gewählten Isolation. Gemeinsam mit anderen setzte er dann doch auf einen freudigen Theaterabend. Robert Ley hätte dies anders gefasst: „Gebt dem Volke einen wahrhaften Feierabend, aus dessen Jungbronnen [sic!] es neu emporsteigen kann, und man wird die höchste Leistung von diesem Volke verlangen können“ (Der Schulungsbrief 5, 1938, 2. S. n. 276). Theaterbesuche waren Teil des Leistungskampfes.

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Kraft durch Freude-Wart: Mitgestalten statt Meckern (Wittener Tageblatt 1939, Nr. 44 v. 21. Februar, 5)

Auch die zweite Tobias Groll-Comicserie endete in anderem Ton, präsentierte einen gewandelten und geläuterten Helden. Er, der ewig Griesgram und Meckerer, ging ohne Anlass, aus innerem Antrieb gegen Kollegen vor, die wie einst er selbst meckerten um des Meckerns willens. Zuvor hatte er sich endlich auch formal eingereiht, hatte das Amt des KdF-Wartes übernommen, war damit zuständig für die betrieblichen Freizeitangebote der DAF. „Eifer, Saft und Kraft“ waren an die Stelle seines früheren Missmutes getreten. „Heiter“ und licht würde die gemeinsame Zukunft sein, die Errungenschaften des Leistungskampfes würde er mit ausbauen helfen. Tobias Groll marschierte mit, hatte endlich seinen Platz gefunden, im Gefolge seines Betriebsführers Leitungsaufgaben übernommen. Das freute auch die Initiatoren des Leistungskampfes, die diese Neumenschwerdung immer beabsichtigt hatten: „Kraft durch Freude soll mithelfen, den Begriff des Proleten zu überwinden und aus dem deutschen Arbeiter eine unbekümmerte und stolze Herrennatur zu machen“ (Ein stolzer Rechenschaftsbericht der DAF, Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 113 v. 27. April, 9).

Auf Dauer gestellter Leistungskampf

Mit diesem nationalsozialistischen Happyend könnte man schließen. Comicheld Tobias Groll hatte den Kampf gegen seinen Missmut, seine Indifferenz gewonnen, würde seinen Beitrag zum Leistungskampf der deutschen Betriebe leisten. 164.239 Betriebe mit ca. vier Millionen Beschäftigten hatten teilgenommen. Sie folgten aus Überzeugung und Opportunität, folgten ihren eigenen, sich vielfach im NS-Regime widerspiegelnden Interessen. Am Ende stand Belobigung, teils in Form von Urkunden und Fahnen, teils aber auch nur in Form gemeinsamen Bemühens. Die Teilnehmer bewährten sich vor Ort, im kleinen Leben. Die Comicserie Tobias Groll bot hierfür eine Deutungsvorlage, mochte sie den zeithistorischen Kontext auch großenteils ausblenden. Das dürfte nicht allen Teilnehmern gelungen sein. Doch die DAF hatte – wie auch die NSDAP – eine Kultur der schaffenden Überbietung in Gang gesetzt: „Das Herz, auch es bedarf des Überflusses, / Genug kann nie und nimmermehr genügen“ (Conrad Ferdinand Meyer, Gedichte, Leipzig 1882, 3).

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NS-Kader unter sich: Vergabe von Gaudiplomen im Gau Weser-Ems 1939 (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 113 v. 27. April, 9)

Ende April 1939 wurden 2.165 Gaudiplome verliehen und 1.251 Leistungsabzeichen (Zeno-Zeitung 1939, Nr. 119 v. 30. April, 3). In der Reichskanzlei verlieh Herr Hitler 202 Goldene Fahnen, zu den im Jahr zuvor verliehenen 103 Auszeichnungen traten 99 neue (National-Zeitung 1939, Nr. 101 v. 1. Mai, 4). Hupfauer sprach Eröffnungsworte, las die Namen der ausgezeichneten Betriebe vor. Der Reichskanzler schüttelte anschließend jedem Betriebsführer oder -obmann die Hände, der Vierjahresplanbeauftragte Hermann Göring (1893-1946) und Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) reihten sich ein, Ley beglückwünschte und verteilte die zugehörigen Urkunden (Oberbergischer Bote 1939, Nr. 101 v. 2. Mai, 5). Danach eröffnete Hitler den 3. Leistungskampf der deutschen Betriebe 1939/40. Er sollte der erste Kriegsleistungskampf werden.

Parallel hatten die Oberen Bilanz gezogen, im Detail, mit langen Listen aller Einzelmaßnahmen. Man sprach von „Durchbruchsschlachten für die Arbeitshöchstleistungen der Nation“, von einem in „seiner Bedeutung überhaupt noch nicht abschätzbaren revolutionären Beitrag zur politischen Freiheit der Nation“ (E.G. Dickmann, Der 3. Leistungskampf der deutschen Betriebe, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 8, 4-5, hier 4). Wichtiger noch war, dass der Leistungskampf auf Dauer gestellt wurde. Reichsorganisationsleiter Robert Ley verkündete: „Das ist erst ein Anfang unseres Beginnens! Ich erwarte, daß die Teilnahme an dem neuen Leistungskampf der deutschen Betriebe […] sich verdoppelt und verdreifacht! Ich will nicht ruhen und nicht rasten, bis auch der letzte deutsche Betrieb – ganz gleich, welcher Größe und welcher Sparte – sich beteiligt“ (Volksblatt 1939, Nr. 103 v. 4. Mai, 9). Tobias Grolls Comicstrips war an ein Ende gekommen, das NS-Regime aber sah darin nur den Beginn kontinuierlicher Kämpferei.

Bevor diese neuerlich einsetzte hatte der evangelische Pfarrer, alte Kämpfer und Reichstagsabgeordnete Ludwig Münchmeyer (1885-1947) den Leistungskampf nochmals präzise benannt: „Der Einzelne ist nichts, die Gemeinschaft ist alles! Wenn einer an seinem Arbeitsplatze nicht voll und ganz seine Pflicht tut, schädigt er dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinschaft. Er wird zum Verräter an seinen Kameraden, die auf seine Arbeitsleistung angewiesen sind, um auf ihrem Arbeitsgebiet schaffen zu können. […] Wir stehen alle als Soldaten der Arbeit in einer großen Front. Absichtlich ist die deutsche Arbeit zu einer großen Front zusammengeschweißt worden und wird es noch immer mehr werden. Auch der Schaffende im Zivilkleid ist Soldat, nämlich Soldat der Arbeit. […] Nicht mürrisch und gedrückt sollen wir unsere Arbeit verrichten, sondern mit Freude im Herzen. Wir wollen und können heute froh sein, daß wir im schönen Reiche Adolf Hitlers schaffen können. Mißgunst und Neid müssen aus den Betriebsgemeinschaften verschwinden. Alle müssen an einem Strang ziehen, um die beste Leistung für den Betrieb und damit für das große Ganze zu erreichen“ (Jevers Betriebsgemeinschaften zum Leistungskampf aufgerufen, Jeversches Wochenblatt 1939, Nr. 118 v. 23. Mai, 3). Parallel wurde die nationalsozialistische Betriebsgemeinschaft in güldenen Farben präsentiert und ausgemalt.

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Die schöne Propagandawelt der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft (Der Führer 1938, Nr. 118 v. 1. Mai, 1)

Darin, aber auch in den Comicserien über Tobias Grolls Abenteuer, fehlt das Entscheidende: Der kritische rückfragende Blick der Historie, das Aufbrechen des licht Präsentierten durch ergänzende Einschübe, durch erweiternde Empirie. Die Serie tilgte die Vergangenheit betrieblicher Sozialpolitik, zeichnete einen selbstbezüglichen Mann, der sich am Ende stets dem Kollektiv zuwandte, der schließlich selber tätig wurde. Sie spielte mit einer Zukunft voller Verheißungen, kitzelte den Glauben, nicht den Zweifel. Diesen zu nähren und zu artikulieren mag ermüdend sein, eine Sisyphusarbeit. Aber beharrlicher Zweifel ist das wichtigste Hilfsmittel gegen die Propaganda vergangener und heutiger Tage.

Uwe Spiekermann, 26. Oktober 2024

Wilhelm Busch im Nationalsozialismus: Die 4. WHW-Reichsstraßensammlung 1940

Wilhelm Busch (1832-1908) hatte ich nie vergessen. Die zweibändige Bertelsmann-Ausgabe seiner Werke war für mich eine der ersten Entdeckungen, mehr als zweitausend Seiten, durch die ich im Alter von sieben, acht, vielleicht noch elf Jahren stöberte. Wilhelm Busch war Teil der Ferien bei „Oma Antfeld“, die ich als ihr vermeintlicher Liebling während der Oster- und Sommerzeit immer besuchen musste. Meine Oma, Maria Spiekermann, geb. Obertrifter, hatte meinen Opa, Karl Spiekermann, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geheiratet, nachdem meine leibliche Oma an Tuberkulose verstorben war. Sie hatte seither deren fünf Kinder aufzuziehen, stand nach dem Krieg gar alleine da, als ihr Mann nicht lang nach Kriegsende ebenfalls verstarb. Zuvor, im April 1945, hatte das Haus, das man noch mit dem Vieh teilte, einen Treffer abbekommen, während sie mit ihren Kindern in einem Schieferstollen Zuflucht suchte. Für meinen Vater, Helmut Spiekermann, waren das gern erzählte Abenteuer seiner Kindheit.

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Kindheitserinnerungen: Wiederbegegnung mit „meiner“ Werk-Ausgabe im Wilhelm-Busch-Museum Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Knappschaftsrente, ein bisschen Landwirtschaft, dazu fünf Blagen. Als Kind ahnte ich nichts von der Lebensleistung dieser alten Frau, der bei meinen Besuchen noch zwei Räume, eine Vorratskammer und ein Bad in ihrem Haus zustanden, die sie mit mir teilte. Oma Antfeld war keine gebildete Frau, Wilhelm Busch eine Ausnahme im kargen Regal. Für mich schienen dessen Bildgeschichten fast noch zeitgemäß, denn das nur wenige hundert Bewohner zählende Dorf besaß Schloss, Kirche, Gaststätte, Schlachter und einen kleinen Edeka-Laden, die man allesamt durch eine kleine Drift, das Pekchen, erreichte. Fast so wie bei Max und Moritz. Heute ist das Dorf glatt, sauber, konturlos – wenngleich die zwischendurch auch mal zerschlagene Mutter Gottes am Hamberg immer noch über Antfeld wacht. Wilhelm Buschs Geschichten spielten in derartigen Milieus, seine Figuren kamen mir, genau besehen, bekannt vor. Doch bei ihm gab es immer auch noch mehr, nicht nur diesen irren Virtuosen. Ihn zu lesen, weitete die Welt, sie begann in höherem Takt zu schlagen. Und die Besuche endeten rascher.

02_Das Kleine Blatt_1940_02_04_Nr034_p01_Reichsstrassensammlung_WHW_Wilhelm-Busch_Winterhilfswerk

Mobilisierung im Zeichen des Humors (Das Kleine Blatt 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 1)

Entsprechend war ich irritiert, als ich unlängst in einigen Zeitungen des Jahres 1940 meinen Kindheitsheros prangend wiederfand. Vereint mit zahlreichen seiner Figuren sammelte Wilhelm Busch für das nationalsozialistische Winterhilfswerk. Das war wie ein Stich ins Herz, in meines und das meiner Oma, einer, trotz Liboriusblatt, aufrechten Sozialdemokratin. Doch dann wollte ich weiter blicken, mehr wissen, so wie einst. Professionelles Handeln überwölbte die nie vergessene Kindheitserinnerung. Was also hatte es mit Wilhelm Busch im Nationalsozialismus auf sich?

Versteckte Abgaben: Sammlungen und Abzeichen als Alltagsbegleiter

Am Beginn stand, notwendig, Distanz. Wilhelm Buschs Konterfei warb auf der Zeichnung von 1940 inmitten seiner unvergessenen Charaktere für eine Straßensammlung des Winterhilfswerkes. Sammlungen erfolgten in dieser Zeit noch direkt, Daueraufträge und Katastrophenportale gab es so noch nicht. Sie standen in der Tradition religiöser Kollekten oder bürgerlicher Initiativen, ihre Anlaufpunkte waren ehedem Kirchen und Synagogen, Komitees und Notable. Im 19. Jahrhundert hatten Sammlungen für Wohlfahrts- und Fürsorgezwecke stark zugenommen, ohne sie hätte es die Denkmalmanie der wilhelminischen Zeit nicht gegeben. Auch der politische Massenmarkt erforderte Spenden, Selbsthilfe der Mitglieder, praktizierte Solidarität. Hinzu kamen globale Katastrophen, Telegraphie schürte Notgemeinschaften der Unterstützung. Während der Weimarer Republik nahm die Zahl sozialer Anliegen weiter zu, Parteienmaschinerien liefen mit Sondergeld geschmierter. Nach Beginn der Präsidialdiktatur verlangten nicht nur Sozialdemokraten Freiheitsopfer, sondern insbesondere die aufstrebende NSDAP sammelte öffentlich für die „nationale Sache“.

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Der Bürger als Beute: SA-Sammlung 1932 (Ulk 61, 1932, Nr. 49, 1)

Nach der Machtzulassung 1933 ging dies weiter, doch geregelter, zielgerichteter, mit Hintersinn. Neben den Weimarer Sozialstaat, neben die seit 1926 reichsweit anerkannten freien Wohlfahrtsverbände trat nun vor allem die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV). Sie war eine seit dem 22. Juni 1932 als eingetragener Verein etablierte NSDAP-Untergliederung, die am 3. Mai 1933 für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge zuständig wurde. Die erst seit 1935 offiziell zu den Verbänden der NSDAP zählende Institution bedrängte voller „Machthunger“ (Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380, hier 343) die nach dem Verbot der Arbeiterwohlfahrtsverbände weiter bestehenden Konkurrenten Innere Mission, Caritas und Deutsches Rote Kreuz. Zugleich stand sie in stetem Kompetenzgerangel zu anderen NS-Organisationen, insbesondere dem Deutschen Frauenwerk, der Deutschen Arbeitsfront und der Hitlerjugend.

Die freien Wohlfahrtverbände hatten seit dem Winter 1931/32 eine gemeinsame Winterhilfe organisiert, um die Härten der durch das Notverordnungsregime der Regierung Brüning nochmals verschärften Weltwirtschaftskrise zu mildern (Andreas Martin, Medieneinsatz und Propaganda zum Winterhilfswerk im Dritten Reich, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Spendenkampagnen. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Köln, Weimar und Wien 2008, 161-232, hier 165-172). An deren Stelle trat Mitte 1933 dann das „Winterhilfswerk des deutschen Volkes“, das im Oktober offiziell vom Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) eröffnet wurde. Er hatte zuvor die Leitung an Reichpropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) übertragen, der sich zur Durchführung der NSV als „Treuhänderin“ bediente. Das Winterhilfswerk (WHW) galt als Ausdruck des nationalen Sozialismus, einer neuen nationalen Solidarität, hatte eine völkische Agenda. Die anderen Wohlfahrtsverbände und Parteigliederungen kooperierten. Die Spenden dienten als ergänzende Nothilfe, die deutlich gesenkten Fürsorgesätze der Zeit der Präsidialdiktatur galten parallel weiter. Das WHW war rechtlich lange schwer zu fassen, seit Dezember 1936 handelte es sich um eine Stiftung des bürgerlichen Rechtes, die mit den stetig wachsenden Spenden ein gewichtiger Faktor nicht nur der Sozial-, sondern auch der Wirtschaftspolitik wurde. Dabei half das Sammlungsgesetz vom 5. November 1934, das dem WHW ein exklusives öffentliches Sammelrecht während der sechs Wintermonate garantierte, also von Oktober bis März. Juden wurden seit 1936 exkludiert, eine segregierte Jüdische Winterhilfe geschaffen.

Das Winterhilfswerk verkörperte im Sinne der Machthaber eine völkischen Opfergemeinschaft. An die Stelle von staatlich garantierten Rechten trat Unterstützung im Einklang mit politischem Wohlverhalten. Die im späten 19. Jahrhundert intensivierte Abkehr von der Privatwohltätigkeit wurde damit ansatzweise umgekehrt (Florian Tennstedt, Wohltat und Interesse. Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, die Weimarer Vorgeschichte und ihre Instrumentalisierung durch das NS-Regime, Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, 157-180, hier 157). Aufgrund ihrer Dauerpräsenz während des Winterhalbjahres war das WHW einer der wichtigsten, wahrscheinlich aber der wichtigste Trommler für die Volksgemeinschaftsideologie (vgl. Anja Kafurke, Anstiften zur guten Tat. Die »Aktion Gemeinsinn« und die westdeutsche Zivilgesellschaft, 1957-2014, Bielefeld 2024, 36-37). Es zielte auf gesellschaftliche Integration, zumal des Bürgertums und der Arbeiterschaft, war Ausdruck des stets offensiv propagierten „Sozialismus“ der NSDAP und lenkte NS-Aktivisten nach dem Ende der „nationalen Revolution“ auf fordernde und beschäftigende Tätigkeitsfelder.

04_Hildener Rundschau_1935_4_1_Nr3_p10_Rhein- und Ruhrztg_1936_1-26_Nr26_p6_Winterhilfswerk_WHW_Pfundspende_Tuerplakette

Sachspenden für das Winterhilfswerk (l.) und Türplakette zur Kennzeichnung schon errichteter Gaben (Hildener Rundschau 1935, Nr. 3 v. 1. April, 10 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1936, Nr. 26 v. 26. Januar, 6)

Die Spenden für das Winterhilfswerk waren nominell freiwillig, faktisch aber handelte sich zunehmend um Zwangsspenden (Ralf Banken, Hitlers Steuerstaat. Die Steuerpolitik im Dritten Reich, Berlin und Boston 2018, 382-389). Die Straßensammlungen dominierten propagandistisch, doch zu einer faktischen Zwangssteuer entwickelten sich die Spenden einerseits durch verpflichtende Abzüge von Lohn und Ertrag – zehn Prozent und mehr der Lohnsteuer bzw. erwartete und gegebenenfalls erzwungene Abgaben von Firmen und Organisationen. Hinzu kamen die Erträge der Eintopfessen resp. Opfersonntage sowie beträchtliche Sachspenden. 1933/34 machten letztere 35 Prozent der Gesamtspenden aus. Die Erträge des Eintopfessens lagen erst 1938/39 unter denen der Reichsstraßensammlungen. Letztere wurden insbesondere seit Kriegsbeginn nochmals bedeutsamer: 1939/40 kamen 119 Mio. RM zusammen, im Folgejahr waren es 203, dann 302 und 1942/43 schließlich 397 Mio. RM. Das war allerdings nur ein knappes Viertel der damaligen Gesamtspenden von 1,596 Mrd. RM. Nicht vergessen darf man mögliche Mitgliedsbeiträge für die NS-Volkswohlfahrt von den bei Kriegsbeginn mehr als elf Millionen Zahlern. Die bei aller grundsätzlichen Unterstützung doch offenkundige Aversion gegen die Sammlungen des WHW – unter der Hand auch „Waffenhilfswerk“ (Deutschland-Berichte der Sopade 3, 1936, Nr. 5 v. 9. Juni, A-94) genannt – wurde auch dadurch befördert, dass die Sammlungen nicht allein die Straßen beherrschten, sondern auch das gesamte kulturelle Leben, Kinos, Sportereignisse und Konzerte, dass sie zudem durch systematische Haussammlungen ergänzt wurden. Diese „Spenden“ wurden in Listen erfasst, Nichtspenden galt nicht nur als regimefeindlich, sondern konnte strikt sanktioniert werden – bis hin zu Entlassungen. Gewiss gab es zahlreiche Formen von Devianz, doch angesichts der Woche für Woche stattfindenden Sammlungen auf Reichs-, aber auch auf Gau- und Kommunalebene, war die Zwangsspende ein Grundelement des Alltagslebens während des NS-Regimes. In der Bildwelt der Zeit wurde sie umgemünzt in einen Kampf gegen den bürgerlichen Spießer, gegen die Geizkragen der alten Zeit.

05_Westfaelischer Beobachter_1933_12_9_Nr289_p14_Illustrierter Beobachter_11_1936_p175_WHW_Sammlungen_Stammtisch_Buergertum_Abzeichen

Abseits der Volksgemeinschaft: Gemeinschaftsfremde Spießer (Westfälischer Beobachter 1933, Nr. 289 v. 9. Dezember, 14 (l.); Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175)

Die Reichsstraßensammlungen erfolgten monatlich an einem Wochenende, pro Winter gab es sechs. Ihr besonderes Gepräge erhielten sie durch die offensiv vorgehaltene rote Spendenbüchse, durch die Präsens der Parteigliederungen auf den Straßen und an der Haustür. Spenden waren ein sichtbares Bekenntnis für die Ziele des Regimes. Die Türplaketten für gezahlte Lohnabzüge führten diese tagtäglich vor Augen. Während der Straßensammlungen markierten jedoch Anstecknadeln, dann zunehmend ansprechende Abzeichen die Teilnahme. Diese wurden offensiv vermarket: „Die erste Reichsstraßensammlung findet am 14. und 15. Oktober statt. Es sammelt die DAF., die dabei eine Serie von sechs Büchlein verteilt, deren Motto ‚Der Führer macht Geschichte‘ lautet. Die Büchlein enthalten Bilder und Texte aus den Jahren 1933 bis 1938. Bei der zweiten Reichsstraßensammlung am 4. und 5. November sammeln die Gliederungen, SA., SS, NSKK., NSFK und verteilen dabei Ansteckzeichen in Form germanischer Schwerter und Dolche. Zur dritten Reichsstraßensammlung tritt am 16. und 17. Dezember die HJ. an; sie vertreibt gedrechselte Holzfiguren. Auch Gaustraßensammlungen, WHW.-Briefmarken und -Postkarten sowie Spendenkarten der Reichsbahn sind wieder vorgesehen“ (Der Plan des Kriegswinterhilfswerks, Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 281 v. 11. Oktober, 1). Allerdings halfen Türplaketten und Abzeichen nicht sicher gegen weitere Spendenforderungen, zumal zwischen den Sammlern durchaus ein Wettbewerb um möglichst hohe Ergebnisse bestand, man auf jeden Fall die Vorjahresergebnisse übertreffen wollte. Die Uniformträger verwiesen auf eine imaginäre „moralische Pflicht“ (Noch ein Wort zur Winterhilfe!, Steinfurter Kreisblatt 1933, Nr. 291 v. 12. Dezember, 6). Die Spendenforderung war eine kleine Machtdemonstrationen im Alltag, ein Verweis auf die Machtmittel von Partei und Staat.

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Gemeinschaftspropaganda und individueller Schmuck (Deutsche Apotheker-Zeitung 52, 1937, 37 (l.); Illustrierter Beobachter 11, 1936, 358)

In diesem Umfeld erfolgte im Februar 1940 auch der Verkauf der Wilhelm-Busch-Figuren. Einschlägige Anstecker wurden seit Oktober 1933 gegen eine Spende von zwei Groschen ausgegeben. Zuerst handelte es sich um Einzelstücke, doch rasch folgten Serien mit zehn, zwölf, bis zu dreißig Motiven (Wolfgang Gatzka, WHW-Abzeichen. Ein Führer durch das interessante Sammelgebiet der Serien des Winter-Hilfs-Werks von 1933 bis 1945, München 1981, 32). Den Anfang machten Motivnadeln, zumal „Gegen Hunger und Kälte“, deren Motto dann monatlich wechselte. Die Gesamtzahl der bei den Straßensammlungen verkauften Abzeichen lag bei knapp fünftausend. Sie wurden ergänzt durch regionale, lokale und anlassbezogene Abzeichen, so dass man insgesamt von etwa 8000 Stück ausgehen kann (vgl. Handbuch der WHW Abzeichen, 2. Aufl., München 1939; Rainer Baumann, WHW-Abzeichen der Reichs-Straßensammlung 1933-1934, Nürnberg 1973; Harry Rosenberg, Spendenabzeichen des WHW, Berlin-West 1974).

Als erstes Motivabzeichen allein für die Straßensammlung diente im Dezember 1933 eine Christrose. 16 Millionen wurden hergestellt, und die ansprechende Gestaltung ließ Sammelherzen höherschlagen. Schmuck- und Dekorationsartikel kamen auf, florale Elemente, zudem Christbaumschmuck und kleine Spielwaren. All das war begleitet von lenkender Propaganda, von Liederbüchern, von Märchen. Die Abzeichen galten als Ausdruck der Volkskultur, von Handwerkskunst, bestanden aus deutschen (billigen) Rohstoffen. National- und Regionalstolz wurden gezielt gefördert, so wie zeitgleich die regional disparate deutsche Kost. Die materielle Kultur von Handwerk und Bauerntum, von Germanen und Parteiorganisationen sollte den völkischen Zusammenhalt stärken. Zugleich aber gab es zahlreiche „moderne“ Serien, etwa über Verkehrszeichen und auch die während der Verdunklung durchaus praktischen Leuchtplaketten. Die Abzeichen waren das werbeträchtigste Hilfsmittel des WHW, das auch mittels Plakaten, Radio- und Wochenschausendungen dauerpräsent war (vgl. Martin, 2008, 193-232; Michael Hughes, The Anarchy of Nazi Memorabilia. From Things of Tryanny to Troubled Treasue, London und New York 2022).

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Ein künstlerischer Spendenbeleg: Winterhilfswerks-Anstecknadeln (Gebrauchsgraphik 12, 1935, Nr. 10, 54)

Wilhelm Busch: Volksdichter oder völkischer Seher?

All das scheint weit entfernt von Wilhelm Busch, noch weiter von meinen Kindheitsentdeckungen. Warum nutzte man nun einen Maler und Dichter wie Busch im Rahmen der Reichsstraßensammlung des Winterhilfswerks? Popularität allein kann kein Kriterium gewesen sein, denn Karl May (1842-1912) und dessen Figuren verschmähte man. Zwei Aspekte schienen vorrangig: Zum einen war Buschs Biografie und Werk seit der Jahrhundertwende deutungsoffen, zum anderen gab es mit der 1930 gegründeten Wilhelm-Busch-Gesellschaft eine Institution, die einer nationalsozialistischen Deutung ihres verehrten Meisters die Scholle bereitete.

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Öffentliche Gestalt fernab der Öffentlichkeit: Wilhelm Busch (Über Land und Meer 31, 1874, 461 (l.); Das Deutsche Blatt 1907, Nr. 101 v. 14. April, 5)

Wilhelm Busch war ein im Schaumburger Land geborener Maler und Dichter, eine Doppelbegabung, wie es sie im deutschen Sprachraum kaum gab (Gerd Ueding, Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, erw. u. rev. Neuausgabe, Frankfurt a.M. und Leipzig 2007; Eva Weissweiler, Wilhelm Busch. Der lachende Pessimist, Köln 2007). Er absolvierte ein Kunststudium in Düsseldorf, Antwerpen und München, doch einem breiteren Publikum war er vor allem durch seine in den späten 1850er Jahren einsetzenden Zeichnungen in den Münchener Bilderbögen und den Fliegenden Blätter bekannt. Ruhm gewann er mit seinen seit Mitte der 1860er Jahre veröffentlichten Bildergeschichten: Max und Moritz (1865), Hans Huckebein (1867), Die fromme Helene (1872) oder Fipps, der Affe (1879) sind bis heute bekannt. Dieser Reigen endete 1884 mit Maler Klecksel. Busch lebte in seinem Geburtsort Wiedensahl, publizierte nur wenig, malte nicht mehr für den Markt. Nie verheiratet, wurde er von seiner verwitweten Schwester Fanny Nöldeke (1834-1922) versorgt, lebte im verwandtschaftlichen Familienverbund der protestantischen Pfarrerfamilie Nöldeke. 1898 zog er in das Pfarrhaus der kleinen, am Harzrand gelegenen Gemeinde Mechtshausen, wo er 1908 verstarb. Er gilt bis heute als führender Kinderbuchautor, als Mitbegründer des Comics (vgl. dagegen Eckart Sackmann, Der deutschsprachige Comic vor »Max und Moritz«, Deutsche Comicforschung 11, 2015, 6-29), als Knittelreimer und Sentenzenschmied. Seine präzise Sezierung des (ländlichen) Bürgertums, die Entlarvung allgemeiner Heuchelei und seine Schilderung der Brüchigkeit der Existenz machten ihn sehens- und lesenswert – und Historiker kennen ihn natürlich auch als Aktivisten des Kulturkampfes der 1870er Jahre, für den sich der Begriff der Katholikenverfolgung ja nicht eingebürgert hat.

Die hier nur angedeutete Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit des Werkes, ebenso aber sein recht zurückgezogenes dörfliches Leben erschwerten eine Einordnung als der alte Herr anlässlich seiner runden Geburtstage 1902 und 1907 zu einem reichsweit gefeierten Nationaldichter und Humoristen mutierte. Der Gegensatz zu künstlerischen Selbstdarstellern dieser Zeit wie den sehr unterschiedlichen Ernst von Wildenbruch (1845-1909), Oscar Blumenthal (1852-1917), Hermann Sudermann (1857-1928), Frank Wedekind (1864-1918) oder dem als NS-Vorzeigedichter endenden Gerhart Hauptmann (1862-1946) war offenkundig – und daher weiteten sich Person und Werk schon vor dem ersten Weltkrieg fast beliebig aus, hatten doch fast alle Lager ihren Busch, konnten ihre Wahl auch mit lustigen Versen belegen.

Mit Blick auf die spätere Präsentation des Humoristen im Rahmen der 4. Reichstraßensammlung 1940 sind zwei Aspekte festzuhalten. Auf der einen Seite wurden nicht nur Buschs Charaktere „zu massenproduzierten Symbolen einer vorindustriellen Ära“ (Thomas A. Kohut, Wilhelm Busch: Die Erfindung eines literarischen Nationalhelden (1902-1908), Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 134, 2004, 147-157, hier 152). Sie waren um die Jahrhundertwende schon antiquiert, kaum mehr existent, allen Rückzugsgefechten der damaligen Mittelstandsbewegung zum Trotz. Auch Busch selbst erschien als „eine vorindustrielle Figur“ (Ebd. 150), Ausdruck vergangener Behaglichkeit, einer besseren, weniger fordernden Zeit. Ja, er zeichnete mit Bleistift oder Gänsefeder, mit selbst hergestellter brauner Sepiatinte. Dass der nikotinabhängige Künstler seine unverzichtbaren Zigaretten in feines JOB-Papier aus dem ferner Paris drehte, dass er seine Anzüge aus Frankfurt a.M. bezog, dass er also auch in der vermeintlichen ländlichen Idylle Teil der Konsumgesellschaft seiner Zeit war, mochte zwar nicht recht passen, doch Deutungen und kulturelles Marketing sind durch widersprechende Fakten kaum zu bremsen.

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Wilhelm Buschs Zigarettenpapier in einer Vitrine im Wilhelm-Busch-Haus Mechtshausen (Uwe Spiekermann)

Busch war vor dem Ersten Weltkrieg ein äußerst erfolgreicher Autor mit einer Millionenauflage, an der vorrangig seine Verleger verdienten. Er verkörperte Massenerfolg, hob sich damit deutlich von der Mehrzahl zeitgenössischer Künstler, Schriftsteller und Journalisten ab. Sein Erfolg war der Erfolg eines Massengeschmacks, eines Volksdichters. Busch bot etwas zum Lachen – und das mit künstlerischen Mitteln. Er verkörperte die Souveränität des Massenpublikums, das sich von kulturellen Eliten nurmehr bedingt anleiten ließ. Hier liegt zweitens – und ich folge weiter der Argumentation Kohuts – der Grund für die Verdenkmalung Buschs am Ende seines Lebens. Die zahllosen Analysen und Deutungen waren Versuche einer kulturellen Elite, ihre Deutungshoheit auch über den widerspenstigen Alten und sein Publikum zu behaupten. Sie zielten, in der Massenpresse, in Massenzeitungen, darauf, Buschs Werk eine neue (durchaus vorhandene) Tiefe zu geben, um so den vermeintlich wahren Gehalt seines Werkes und seiner Person herauszuarbeiten. Wilhelm Busch wurde auch dadurch zur fast beliebigen Projektionsfläche. Der Meister schwieg – und der Chor der schreibenden Deuter dröhnte umso stärker. Das war bildungsbürgerlicher urbaner Habitus, der mehr über die Deuter als über das Gedeutete aussagte.

Es ist daher nicht überraschend, dass Wilhelm Busch beispielsweise von sozialdemokratischen Journalisten als zukunftsgewandter Skeptiker gedeutet wurde, der die Heuchelei des Bürgertums „an der Schwelle einer neuen Zeit, die erst nach ihm kam, die er ahnte“ (Ernst Schur, Wilhelm Busch, Unterhaltungsblatt des Vorwärts 1907, Nr. 72 v. 13. April, 286-287, hier 287) selbstkritisch demaskiert hatte. Und auch deutlich später, inmitten des Reichspräsidentenwahlkampfes 1932, porträtierte ihn der sozialdemokratische Kunstkritiker Paul F. Schmidt (1878-1955) als Mitstreiter im Freiheitskampf: „Der Hundertjährige erfüllt wahrlich erst heute seine Mission, denn der deutsche ‚Untermensch‘, den er wie kein zweiter geschildert hat, erfährt nun seine historische Mission, erst heute tritt er aus der Anonymität des Privatlebens, das Busch mit dem Blick des Genies und abgrundtiefem Haß gezeichnet hat, in die politische Arena und wirkt, wie er es allein kann und muß, zerstörend. Man versetze die Hunderte von Gestalten Wilhelm Buschs in den Sportpalast, und siehe da, es sind Mann für Mann die treuen Schildhalter und Schildbürger des Nationalsozialismus!“ (Wilhelm Busch, Vorwärts 1932, Nr. 176 v. 15. April, 10). Der Wiener Kulturphilosoph Egon Friedell (1878-1938) hatte Busch derweil zu einem humoristischen Dokumentaristen des bürgerlichen Zeitalters geadelt, beredt seine Fähigkeit gepriesen, den Philister zu demaskieren und zugleich zu verklären. Busch erschien als Meister der Ambivalenz, der die Widersprüchlichkeit der Moderne in seinen Charakteren einzufangen vermocht hatte, der das Dasein trotz aller Verwüstungen feierte (Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele. Von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg, London 1940, 380-383).

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Ein gefeiertes Chamäleon: Grab Wilhelm Buschs in Mechtshausen, Denkmal in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Es wundert daher kaum, dass nach der Machtzulassung der NSDAP völkische Deutungen Wilhelm Buschs die Oberhand gewannen – denn die meisten Mitglieder der kulturellen Eliten der Weimarer Zeit passten sich an, stießen gar ins Horn der neuen, nun nationalsozialistischen Zeit. Von den mehr 1.250 Bauhausstudierenden blieben beispielsweise ca. 900 im Deutschen Reich. Von diesen engagierten sich nicht weniger als 188 in der NSDAP (Anke Blümm und Patrick Rössler, Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine statistische Annäherung, in: Dies. u. Elizabeth Otto (Hg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, 2. Aufl., Weimar und München 2024, 72-77, insb. 75, 77). Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral…

Entsprechend wurde Busch nun als Kenner der Rassen und Temperamente der Menschen gewürdigt, etwa des Juden in Plisch und Plum: „So bietet Wilhelm Busch nicht nur den weitesten Kreisen unseres Volkes Unterhaltung, sondern er schenkt auch dem Rassenseelenforscher mit seinen Gestalten wertvollen Beobachtungsstoff“ (Rez. v. Wilhelm-Busch-Album, Jubiläumsausgabe, München 1936, Volk und Rasse 11, 1936, 508). Er mutierte zum Repräsentanten echt deutschen Humors, der strikt abgegrenzt wurde vom „Witz anderer Völker, insbesondere von der amerikanischen Blödelei“, da er die „Wärme des Gemüts mit philosophischer Lebensbetrachtung verbindet“ (Rez. v. Wilhelm-Busch-Album, Jubiläumsausgabe, München, Unser Wille und Weg 7, 1937, 349). Die Deutung von Busch als „völkischem Seher“ war schon lange vor der 4. Reichsstraßensammlung 1940 gängig, auch bevor der nationalsozialistische Archivar der Wilhelm-Busch-Gesellschaft ihn als solchen porträtierte (Karl Anlauf, Der Philosoph von Wiedensahl. Der völkische Seher Wilhelm Busch, Berlin 1939). 1940 war diese Deutung jedenfalls dominant (vgl. etwa Kurt Pfeiffer, Wilhelm Busch – ein Streiter der Wahrheit, Lodscher Zeitung 1940, Nr. 53 v. 22. Februar, 6).

Eine wichtige, gleichwohl nicht präzise einzuschätzende Rolle für diese völkische Deutung spielte die Wilhelm-Busch-Gesellschaft in Hannover, die ihre eigene NS-Geschichte bis heute nur rudimentär erforscht hat (vgl. Monika Herlt, 75 Jahre Wilhelm-Busch-Gesellschaft – eine Chronik, Satire 2005, Nr. 69, 9-34). Die Verwendung von Wilhelm Busch und seiner Charaktere für die Zwecke des nationalsozialistischen Winterhilfswerkes war eben nicht eine typische „Indienstnahme durch ein totalitäres System“ (Herbert Günther, Der Versteckspieler. Die Lebensgeschichte des Wilhelm Busch, Springe 2011, 205). Es handelte sich vielmehr um die gezielte Nutzung eines einseitig gedeuteten Erbes durch interessierte kulturelle Eliten, darunter nicht zuletzt die Repräsentanten der Wilhelm-Busch-Gesellschaft. Sie gaben vor, die eigentlichen Kenner und Sachwalter Buschs zu sein; und es war diese Gesellschaft, die von der 4. Reichsstraßensammlung 1940 unmittelbar profitierte. Die Mitgliedszahlen stiegen im Anschluss steil an, führten die literarische Gesellschaft „auf einem Höhepunkt ihrer Popularität“ (Herlt, 2005, 16). Zeitweilig handelte es sich um die reichsweit mitgliederstärkste Organisation ihrer Art, größer als etwa die Anfang der 1930er Jahre noch führende Goethe-Gesellschaft. Die völkische Deutung Buschs zahlte sich für die Hannoveraner aus.

Sie steht allerdings in einem breiteren Zusammenhang. Ihre Gründung am 24. Juni 1930 resultierte aus einer ganz wesentlich vom Heimatbund Niedersachen getragenen Wilhelm-Busch-Spende 1927, dank der nicht nur dessen Geburtshaus in Wiedensahl renoviert und erworben werden, sondern auch der Grundstock einer dann zielstrebig erweiterten Sammlung gelegt werden konnte. Schon 1930 schrieb Kurt Voss (1896-1939), Feuilletonschriftleiter des Hannoverschen Kuriers: „Wir haben allen Grund, in Wilhelm Busch einen der großen Niedersachsen zu erkennen, die aus dem Bauerntum und seiner markanten Lebensphilosophie ihr Bestes geschöpft haben“ (Bei Wilhelm Busch in Wiedensahl, Hannoverscher Kurier 1930, Nr. 292 v. 25. Juni, 3). Als nationalsozialistischer Hauptschriftleiter der 1933 gleichgeschalteten Zeitung lieferte er der neuen Gesellschaft steten Flankenschutz. Diese war anfangs ein bildungsbürgerlicher Verein, der „weiteste Volkskreise“ für eine „Wilhelm-Busch-Ehrung“ gewinnen wollte (Hannoverscher Kurier 1930, Nr. 292 v. 25. Juni, 3). Anlässlich der Centenarfeier 1932 präsentierte er im Hannoveraner Provinzialmuseum eine Busch-Ausstellung, die vom Hamburger Kunsthistoriker Robert Dangers (1896-1987) und dem Direktor des Provinzialmuseums Alexander Dorner (1893-1957) kuratiert worden war (R[ichard] Abich, Dem Dichter, Maler und Philosophen. Ueber die Geschichte der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Hannoverscher Kurier 1932, Nr. 357 v. 2. August, 6). Dieses Duo spiegelte die Ambivalenz der Anfangszeit: Dorner war ein ausgesprochener Förderer der modernen Kunst und des Bauhauses, sein Haus hatte parallel Busch schon länger gesammelt (Stefanie Waske, Der Traum vom neuen Leben. Niedersachsen und das Bauhaus, Hannover 2019, 24-25; hagiographisch: Reinhard Spieler, Die Entwicklung des Provinzial-Museums unter Alexander Dorner, in: Karin Orchard (Hg.), RevonnaH. Kunst der Avantgarde in Hannover 1912-1933, Hannover 2017, 189-203). Während Dorner 1936 ins Exil ging, gehörte Dangers seit spätestens 1930 zu den niederdeutsch-völkischen, vermeintlich „sachlichen“ Interpreten und zugleich intellektuellen Repräsentanten der Wilhelm-Busch-Gesellschaft (Walter Pape, Wilhelm Busch, Stuttgart 1977, 14; Robert Dangers, Wilhelm Busch. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1930).

Die Wilhelm-Busch-Gesellschaft erreichte ihre selbstgesetzten Ziele, nicht zuletzt die Erweiterung und „einwandfreie Unterbringung“ der Sammlung (Die Eröffnung des Wilhelm-Busch-Museums und Jahrestagung 1937, Mitteilungen der Wilhelm-Busch Gesellschaft 1938, Nr. 8, 1-14, hier 3). Die Machtzulassung der NSDAP hatte mit den Suiziden des jüdischen Vorstandsmitgliedes Otto Levin am 15. März 1933 und des Vorstandsvorsitzenden und Staatsparteipolitikers Martin Frommhold am 10. April intern gravierende Folgen (Herlt, 2005, 11-12). Doch diese halfen ihre öffentliche Position zu stärken und sich den neuen Machtverhältnissen anzupassen. Die neue Zeit schuf neue Chancen nicht zuletzt für den Erwerb neuer Objekte, der quirlige Kulturfunktionär und spätere Direktor des Wilhelm-Busch-Museums Emil Conrad (1885-1967) nahm diese wahr. Zwischen 1933 und 1945 wurden mehr als 2.200 der heutigen ca. 3.000 Busch-Artefakte erworben – und die Dokumentation von mehr als 1.250 war „auffallend ungenau und lückenhaft“ (Ruth Brunngraber-Malottke, Provenienzforschung im Wilhelm-Busch-Museum Hannover, 2013 (Ms.). Öffentlich hieß es dagegen, dass alles „sorgfältig erworben und gesammelt worden“ sei (Straßensammlung mit Wilhelm Busch, Gelsenkirchener Zeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 4).

Die Repräsentanten der Gesellschaft erreichten ihre Ziele nicht zuletzt durch das Wohlwollen der Stadt Hannover und des Oberbürgermeisters Arthur Menge (1884-1965), eines Welfen, der auch ohne NSDAP-Mitgliedschaft 1933 im Amt blieb, zugleich als Vorsitzender der Wilhelm-Busch-Gesellschaft einsprang. Deren neues Hauptziel, die Gründung eines Wilhelm-Busch-Museums, wurde 1937 schließlich erreicht und verkörperte die Deutungshoheit über Wilhelm Busch institutionell: „Wer Wilhelm Busch sehen, ihn studieren und sich an ihm erfreuen will, der mache sich auf nach Hannover, dazu ist das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover da“, so Walther Lampe (1894-1985), stellvertretender Vorsitzender, zugleich Vorsitzender des Heimatbundes Niedersachsen, NSDAP-Mitglied und Deutscher Christ (Jahrestagung, 1937, 10).

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Bildungsbürgerliche Weihestätte für einen Volksdichter: Einblicke in das Wilhelm-Busch-Museum Hannover (Wiener Illustrierte 59, 1940, Nr. 5, 6)

Lampe sprach für die Wilhelm-Busch-Gesellschaft als er 1938 an Buschs Todestag an dessen Grab, umgeben von Jungvolk, ausführte: „Wir müssen ihn hören, weil er das Selbstverständliche sagt, denn er sagt damit das ewig Schlichte und ewig Große seiner Weisheit. In dieser Klarheit und Selbstverständlichkeit berührt sich Busch mit dem geistigen Inhalt unserer deutschen Welt von heute, nämlich dem Nationalsozialismus“ (Gedenkfeier zum 30jährigen Todestage von Wilhelm Busch in Mechtshausen, Mitteilungen der Wilhelm-Busch Gesellschaft 1938, Nr. 8, 20-28, hier 21). Was Lampe flötete, dröhnte der Hildesheimer NSDAP-Landrat Albert Schneider deutlicher: „Die breite Masse sähe in ihm immer noch nur den Humoristen, er aber sei ein Prophet gewesen. Er habe schon vor 50 Jahren die Schäden der damaligen Zeit erkannt, er wußte um die Fäulnis in der Politik und in den Parlamenten, ihm war der Blutsgedanke vertraut, und er verwurzelte ganz in seinem Boden, auf den ihn das Schicksal gestellt“ (Ebd., 21).

Das Museum fand seinen Platz in einem im April 1936 von der Stadt an die Wilhelm-Busch-Gesellschaft übertragenen Haus am repräsentativen Rustplatz. Die Ausstellung war gediegen, präsentierte vor allem die eigenen Sammelstücke. Sie war biographisch angelegt, folgte den Orten von Buschs Leben, mündete aber nicht allein in Wiedensahl und Mechtshausen, sondern stellte auch die Größe des Meisters und die Glückwünsche zu Buschs 70. und 75. Geburtstag zusammen, um dadurch die historische Bedeutung des Namensgebers zu veranschaulichen (vgl. etwa Wilhelm-Busch-Museum. Eröffnung am 13. Juni, Hannoverscher Kurier 1937, Nr. 214 v. 11. Mai, 5; Hermann Wiebe, Busch-Museum und Fest-Theater, Bremer Zeitung 1937, Nr. 161 v. 15. Juni, 12; Hans Pusen, Wilhelm Busch: „Ich hab’n hübschen Krug“, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 62 v. 3. März, 9; Und nun zu ihm selbst. Wilhelm-Busch-Museum neugestaltet, ebd. 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 4). Das Museum war sicher kein „Museum für das Lachen“, als das es teils bezeichnet wurde (Bremer Zeitung 1937, Nr. 121 v. 5. Mai, 5). Es war eine neue, zentralisierte Weihestätte abseits von Wiedensahl und Mechtshausen – und Buschs erste Studienjahre am Hannoveraner Polytechnikum legitimierten nur ansatzweise den Bruch mit den mühevollen Busfahrten in die Provinz. Das Wilhelm-Busch-Museum diente der Zentralisierung der Erinnerung an einen großen Deutschen und war bildungsbürgerliches Pendant zu gängigen Zentralisierungsbestrebungen des NS-Regimes. Die Bauern trafen sich zum Erntedank am nicht fernen Bückeberg, Partei und Wehrmacht in Nürnberg, die ewige Flamme der Blutsopfer des 9. November brannte am Königsplatz in München – und Originaldrucke und Gemälde Buchs fanden nun in Hannover ihre Heimstatt. Eine „deutsche Kulturstätte, einzig in ihrer Art, […] geweiht dem Genius des großen deutschen und niedersächsischen Mannes Wilhelm Busch“ (Eröffnung, 1937, 2 (Arthur Menge)).

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Werbebesuch im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover (Bildbeobachter des Volksrufs 10, 1940, Nr. 49, 2 (l.); 3)

Die 4. Reichsstraßensammlung nutzte Wilhelm Busch im Sinne der (Hannoveraner) Bildungsbürger, im Sinne ihrer völkischen und nationalsozialistischen Deutung des Dichters. Mir fallen hierzu Zeilen eines im Sommer 1944 geschriebenes Gedicht des protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) ein: „Leidensscheu und arm an Taten, / haben wir Dich vor den Menschen verraten. / Wir sahen die Lüge ihr Haupt erheben / und haben der Wahrheit nicht Ehre gegeben“ (Nächtliche Stimmen in Tegel, in: Ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, 2. Aufl., München 1977, 383-389, hier 388). Entsprechende Worte hat es in der Nachkriegszeit von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft zu ihrer Busch-Deutung nicht gegeben; nicht verwunderlich angesichts einer bemerkenswerten personellen Kontinuität der Leitungskader. Stattdessen lobte man sich selbst, schwieg beredt, freute sich am neuen, das alte, in der Bombennacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943 zerstörte Haus ersetzende Museum, und blickte freudig in die Zukunft (Martin Anger, 25 Jahre Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Jahrbuch der Wilhelm-Busch-Gesellschaft 1955, 7-28). Die Wilhelm-Busch-Gesellschaft war dabei in Hannover in guter Gesellschaft. Die Universität Hannover reintegrierte beispielsweise mit Konrad Meyer (1901-1973) einen der Hauptverantwortlichen des Generalplans Ost. Auch Hans Adalbert Schweigart (1900-1972), führender NS-Ernährungswissenschaftler, fand in Hannover Lehrstuhl und Heimstatt. Der NS-Hygieniker Werner Kollath (1892-1970) wurde vom Hannoveraner Unternehmer Bahlsen aufgenommen und erhielt zeitweilig Salär, nachdem seine Anbiederung an die SED in Rostock nicht erfolgreich war (nicht erwähnt in der Auftragsarbeit von Hartmut Berghoff und Manfred Grieger, Die Geschichte des Hauses Bahlsen. Keks – Krieg – Konsum 1911-1974, Göttingen 2024). Die Hannoveraner Tiermedizin wurde weiterhin vom NSDAP-Mitglied Richard Götze (1890-1955) geleitet; der kurze Einschnitt britischer Reeducation und Denazification währte nicht lange. Auch die Politik wies bemerkenswerte Kontinuitäten aus: Im dritten Landtag des neuen Bundeslandes Niedersachen lag der Anteil der NSDAP-Mitglieder 1951-1955 bei mehr als einem Drittel aller Abgeordneten (Stephan A. Glienke, Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter, Hannover s.a. [2012], 19). Selbst der „rote Welfe“, der sozialdemokratische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf (1893-1961) konnte dem Land seinen Stempel aufdrücken, obwohl an sich bekannt war, dass er sich seit 1933 mit der Arisierung jüdischer Betriebe beschäftigt, dass er während des Krieges als Generaltreuhändler der Haupttreuhandstelle Ost die Germanisierung Oberschlesiens forciert hatte (Teresa Nentwig, Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961). Ein konservativer Sozialdemokrat, Hannover 2013, Kap. 5). Dass er die Wilhelm-Busch-Gesellschaft unterstützte, versteht sich von selbst.

Kampagnenbeginn: Einstimmende Artikel und erste Bilder

Doch zurück in die Weite des Deutschen Reiches. Anfang 1940 war der Krieg alltagsprägend, doch zugleich war es wie ein Leben zwischen den Kriegen. Polen war besiegt, die westlichen Teile okkupiert, Besatzungsherrschaft, Germanisierung, Umsiedlung, Raumplanungen und Ghettobildungen nahmen Gestalt an. An den Westgrenzen gab es Scharmützel während des sog. „Sitzkrieges“, Erfolgsmeldungen von See- und Luftkämpfen prägten die Titelseiten der Tageszeitungen. Im Alltag hatte man sich an die Rationierung der wichtigsten Güter und die Verdunkelung gewöhnt, kaum aber an die immense Kälte dieses Winters. Gängige Alltagsfreuden waren eingeschränkt worden, etwa der an sich Anfang Februar anstehende Karneval. Der bevorstehende reale Krieg mit Frankreich und dem britischen Expeditionskorps führte zu allgemeiner Besorgnis, denn die Härten des Ersten Weltkriegs waren noch nicht vergessen.

Das Winterhilfswerk wurde nach Kriegsbeginn in Kriegswinterhilfswerk umgetauft, der Krieg schien Anlass für vermehrte Spenden, doch zugleich ging es um eine neuartige innere Rüstung. Programmatisch betonte Reichspropagandaminister Goebbels Ende Januar 1940, dass man sich im Krieg auf „alle Kraftquellen“ besinnen müsse: „Eine solche Quelle der Kraft ist insbesondere auch die deutsche Kunst, und weil andererseits gerade die Freude den Menschen stark macht für den Lebenskampf, so darf in einer so harten, schwierigen Zeitspanne wie der unsrigen, das Lachen nicht verlernt werden, wenn wir nicht in Griesgram und Verbitterungen ersticken wollen“ (alle Zitate des Absatzes n. Pruys, Holt mir das Glas, o Seelentrost Humor!, Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 3). Wilhelm Busch sei eine solche Kraftquelle, „weil er eine unerschöpfliche Quelle von Freude und Kraft den nur uns Deutschen in dieser Reinkultur eigenen Humor in noch nicht wieder erreichter Weise gleichzeitig mit Zeichenstift und Federhalter so ausgezeichnet und gottbegnadet beherrscht“. Seine Kunst sei ein „Gesundbrunnen, in dem jeder meckernde Pessimismus ertränkt werden“ könne. Man pries das befreiende Lachen, die Abkehr von Sorge und Trübsal angesichts kommender Fährnisse. „Niemand verlangt von den Menschen jetzt Luftsprünge und Freudenausbrüche. Aber man leistet heute schon viel, wenn man sich zusammenreißt und der Aufheiterung und Lebensfreude einen Spalt in seinem Innern aufläßt.“

In seiner Rede fasste Goebbels zentrale Punkte der Kampagne für die 4. Reichsstraßensammlung zusammen. Sie war sprechend, verweist aber auch auf die Grenzen ihrer Rekonstruktion auf Grundlage der damaligen Publizistik. Es handelt sich um eine Deutung der Macher, der Propagandisten, der Nutznießer, um propagandistische Selbstbeschreibungen. Unmittelbare Kommentare oder Kritik fehlen. Dennoch hat diese Analyse nationalsozialistischer Pressewerke ihren unverzichtbaren Wert. Es handelte sich erstens um zwar gebrochene, gleichwohl reale Berichterstattung. Zweitens spiegelte sie Wunschwelten der politischen (und kulturellen) Eliten. Drittens finden wir Begründungen und Erläuterungen, lernen mehr über die mit den Kampagnen verbundenen Erwartungen an die Bevölkerung. Viertens findet sich auch in der gelenkten Presse ein Widerschein möglicher Widerständigkeiten, möglicher Bruchpunkte. Und fünftens erschließen Zeitungen und Zeitschriften Alltagsbereiche von Propaganda und Konsum, die bis heute wissenschaftlich nur höchst oberflächlich untersucht wurden. Nationalsozialistische Presse ist gewiss gefährlicher Stoff. Doch präzise hinterfragt bietet ihre Analyse Erkenntnismöglichkeiten, die die gängige Selbstbeschreibung des NS-Regimes in Archivalien ganz wesentlich ergänzt.

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Stete Propaganda – veränderte Motive: Werbung für die Reichsstraßensammlungen (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 12 v. 25. März, 5 (l.); General-Anzeiger 1936, Nr. 96 v. 5. April, 14)

Generell standen die einzelnen Reichsstraßensammlungen für etwa zwei Wochen im Licht der Berichterstattung. Erste Berichte setzten ca. zwei Wochen vor dem Sammelwochenende ein. Der Themenkranz wurde angerissen, in verschiedenen Aspekten erörtert. Anfangs dominierten nicht Bilder, sondern Texte. Sie stammten meist aus den Bürokratien des Reichspropagandaministeriums, des Winterhilfswerkes und der NSV, wurden durch Materndienste verbreitet, setzten die Schwerpunkte, den Tenor der Kampagnen. Eine Woche vor der Sammlung wurde die Berichterstattung dann nicht nur intensiviert, sondern vor allem visualisiert. Nun nutzte man Abbildungen unterschiedlicher Art: Die Abzeichen wurden in verschiedenen Brechungen vorgestellt, hinzu traten die gängigen Plakate, kleine Bildeinsprengsel, Parolen und Erinnerungsfetzen. Diese zweite Phase war stärker dezentralisiert, neben die allüberall gedruckten Artikel traten auch lokale resp. regionale Besonderheiten – Fachleute und die einschlägigen Gau- und Kommunalämter lieferten zu. Die Redaktionen, deren Aufgaben ja auch über tägliche Presseanweisungen gelenkt wurden, hatten für einen gewissen lokalen Flair zu sorgen. Zugleich verwiesen sie jedoch auch auf Begleitpublizistik, meist einschlägige Radiosendungen. Dies mündete in eine mahnende Berichterstattung am Sammlungswochenende, in der das Opfer gefordert wurde, in dem zugleich die näheren Umstände der Sammlungen erläutert wurden. Das schloss lokale Begleitprogramme mit ein, etwa Konzerte oder Gemeinschaftsessen. Am Wochenende traten dann die Dinge, die Abzeichen und die Sammelbüchsen in den Mittelpunkt: Texte, Bilder, Dinge. Zum Abschluss gab es die Sammelergebnisse. Steigende Summen waren geboten, denn es sollte von neuen Erfolgen an der Heimatfront berichtet werden. Die Kampagnen dienten als verbindendes Band einer imaginierten und zugleich eingeforderten Not-, Sorge- und Volksgemeinschaft. Sie sollten zugleich aber auch den lokalen Zusammenhalt stärken, die Leistungsgemeinschaft vor Ort. Was als Einzelkampagne werbetechnisch gut durchdacht und konsequent umgesetzt war, dürfte die Zeitgenossen auf die Dauer jedoch auch ermüdet haben. Die WHW-Sammlungen folgten Routinen, ihr Ablauf war vorhersagbar, barg kaum Überraschungen. Entsprechend bedeutsam war die thematische Aufladung, waren die Abzeichen. Und da war Wilhelm Busch gewiss attraktiver als die soundsovielte Präsentation der Großtaten der Partei oder Hitlers. Entsprechend legten sich Bürokraten, Bildungsbürger, Journalisten und Aktivisten hier besonders ins Zeug.

Die staatliche Propaganda für die 4. Reichsstraßensammlung setzte am 20. Januar ein, also zwei Wochen vor dem Sammelwochenende des 3. und 4. Februar. Unter dem Titel „Jeder kennt Wilhelm Busch“ knüpfte man an dessen Popularität als Humoristen an. Man werde in Zukunft mehr von ihm hören, von ihm, „der still und bescheiden im ‚klimperkleinen‘ Ort Wiedensahl lebte, urwüchsiges Niedersachsentum auch in seinem Schaffen verkörpert und uns allen gerade im Ernst dieser Zeit viel zu sagen hat“ (Hagener Zeitung 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 9; auch Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 5; Tremonia 1940, Nr. 20 v. 21. Januar, 7; Hasper Zeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4; Amts-Zeitung 1940, Nr. 10 v. 23. Januar, 2; Volksblatt 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 2). Lachen und Lächeln seien wichtig, um das Leben zu meistern, um sich im Alltag zu bewähren. Zwei Tage später begann der Abdruck von „Erinnerung an Wilhelm Busch“ (auch unter dem Titel „Ein guter Freund“): Wilhelm Busch sei als Kinderautor bekannt, sei aber heute dank seines „wunderbaren Optimismus“ Vorbild für Jung und Alt (Volksblatt 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 2; Wittener Volks-Zeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 5; Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4; Tremonia 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 3; Schwerter Zeitung 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 5; Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 4; Volksblatt 1940, Nr. 21 v. 25. Januar, 4). Busch kennzeichne eine heitere Ernsthaftigkeit, seine Werke schenkten „gerade inmitten gewaltiger Aufgaben und härtester Anforderungen die nötige Entspannung und Erholung“. Das spiegele sich in den immensen Verkaufsziffern seiner Bücher, in den Ausleihrekorden der öffentlichen Büchereien.

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Die gute alte Welt des Wilhelm Busch (Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 35 v. 4. Februar, 1)

Erst im Anschluss informierten die Zeitungen, dass bei der anstehenden Reichsstraßensammlung die Kampfverbände der Partei, also SA, SS, das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps und der NS-Fliegerkorps, just Wilhelm-Busch-Abzeichen verkaufen würden (In jeder Gemeinde wird ein Opferbuch ausgelegt, Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 5). Es folgte eine nähere Beschreibung der noch nicht bildlich dargestellten Figuren: „Max und Moritz, Julchen und Adele, die fromme Helene und der Maler Klecksel, Herr und Frau Knopp, die gute Tante und der Meister Böck und schließlich der alte Bauer Nolte und die Witwe Bolte kommen wieder zu uns und rufen schöne Stunden der Erinnerung an unsere Kindheit, aber auch an manche späteren Jahre in uns wach“ (Die Kampfverbände sammeln für das WHW., Ratinger Zeitung 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 9; auch für das folgende Zitat). Die Kindheit aber sei vergangen, die heutige Zeit fordere nun ein „starkes Herz und den unerschütterlichen Willen zur Einsatzbereitschaft für unser Vaterland, das nun Mann für Mann angetreten ist, um den uns aufgezwungenen Krieg siegreich zu beenden. In diesem Kampf wollen wir kompromißlos sein wie der Niedersachse Wilhelm Busch, der seinen Weg gegangen ist, auch wenn ihn viele Feinde belächelt und bespöttelt haben.“ Sentimentalität und Prinzipientreue standen in der NS-Propaganda Seit an Seit – die Comicserie der „Familie Pfundig“ von Emmerich Huber (1903-1979) gab zeitgleich Ratschläge für den Alltag an der Heimatfront.

Entsprechend erschienen nun auch erste stimmungsvolle Begleitgeschichten: Wilhelm-Busch-Anekdoten zeichneten das Bild eines knorrigen, humorvollen und uneitlen Menschen; vorbildlich für die Kriegszeit (Fasse dich kurz!, Westfälische Neueste Nachrichten 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 10). Wilhelm Buschs Humor schien mit seinem Lachen, seinem freudigen Ja zum Leben Front und Heimat verbinden zu können (Wochenendbrief an unsere Soldaten, Westfälischer Kurier 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 5). Vergessene und weniger beachtete Werke Buschs wurden kurz charakterisiert, zum Lesen ermuntert. Bei der Reichsstraßensammlung würden daher auch weniger bekannte Figuren des „lachenden Philosophen“ (Schön ist ein Zylinderhut, Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 3) angeboten werden.

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Wilhelm-Busch-Abzeichen zwischen Erinnerung und Gegenwart (Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 57 v. 1. Februar, 2. Morgenbl., 9 (l.); Solinger Tageblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 3)

Am Ende der Vorbereitungswoche wurden erste Abzeichen gezeigt – die Bildvorlagen meist zentral von Scherls Bilderdienst, Presse-Hoffmann oder Zander-Klischees geliefert. Die vor Augen geführten Figuren traten ins Zwiegespräch mit den Betrachtern, Bildmontagen zeigten die Motive, zugleich aber die vermeintliche Freude der Busch-Figuren selbst (Wilhelm-Busch-Figuren werben für das Kriegs-WHW., Wittener Tageblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Sie erschienen als Geschenk, nicht aber als erwartete Zweigroschengabe an das WHW. Noch war Zeit bis zur Sammlung, ein Zwischenraum der Wonne wurde gewährt: „Wer viel arbeitet, muß auch viel Freude haben, um immer neue Kraft daraus zu gewinnen“ (Lachendes Lebensbekenntnis, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 244 v. 29. Januar, 5). Frohsinn und Ernst seien keine Gegensätze, sondern bedingten einander. Und dann tauchte auch der Meister selbst auf, als Bild inmitten seiner Schöpfungen. Nun, eine Woche vor Beginn, setzte stakkatohaft das Buschsche Versmotto der 4. Reichsstraßensammlung ein: „Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern auch für andere mit“ (Tremonia 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5; Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5; Frankenberger Tageblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 6).

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Wilhelm-Busch inmitten der Abzeichen des Winterhilfswerkes (Volksblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 2)

Der Blick auf den Nächsten erschien als Verpflichtung innerhalb der Volks- und Kriegsgemeinschaft. Opferfreudigkeit wurde eingefordert und die sammelnden Formationen der Partei würden bald lustig und froh agieren, aber „auch ihre Streiche da einzusetzen, wo man zur Mitarbeit am Kriegswinterhilfswerk mal etwas nachhelfen muß“ (Max und Moritz helfen dem WHW., Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Da verging manchem das Lachen.

Ein Volk schaffender Menschen: Die Produktion von 34,5 Millionen Abzeichen

Bevor die Sammelbüchsen schepperten, gab es jedoch noch ein propagandistisches Zwischenspiel, nämlich den vom Publikum fast schon erwarteten Blick auf die Produktion der jeweiligen WHW-Abzeichen. „Arbeit und Brot“ war eine der wichtigsten NS-Parolen, entlehnt aus dem reichen Arsenal der Arbeiterbewegung. Die Geldspenden standen für das notbrechende Brot, für die solidarische Hilfe der Volksgenossen. Doch die Abzeichen erinnerten zugleich an Arbeit als Grundbedingung völkischer Existenz und siegreichen kriegerischen Ringens. Diese Arbeit verkörperten die zahlreichen Hersteller der Anstecker, Schmuckstücke, des künstlerischen Zierrats. Von Beginn an vergab das WHW (nach eigener Auskunft) die Aufträge in wirtschaftliche und soziale Krisengebiete, bevorzugte einheimisches Handwerk und Heimarbeit. Es galt Arbeit zu schaffen, Not durch unverhoffte Zuarbeit zu wenden. Was machte es schon, dass die Aufträge nicht selten an findige Parteigenossen gingen. Auch 1940 folgte die Wilhelm-Busch-Kampagne dieser Erwartung, obwohl schon lange Vollbeschäftigung herrschte, Arbeitskräfte fehlten und die Zahl polnischer Zwangsarbeiter bald über einer Million liegen sollte. Dennoch verzichtete man noch nicht auf dieses Zwischenspiel: Arbeit und Produktion erlaubten, auch über die verarbeiteten Materialien, die Herstellungsorte, die Formgestalter und die mit Hand und Maschine schaffenden Menschen zu berichten. Der vielbeschworene „Sozialismus der Tat“ sollte dadurch Kontur gewinnen, nachvollziehbar werden (vgl. Felix H. v. Eckhardt, Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Gebrauchsgraphik 12, 1935, H. 4, 54-59).

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Beispiele für die bemalten Majolika-Figuren im Museum im „Alten Pfarrhaus“ in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Die 34,5 Millionen Wilhelm-Busch-Abzeichen wurden offiziell in zehn Betrieben in Baden, der Eifel, der Steiermark und in Hamburg hergestellt (Frankenberger Tageblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 6; Gießener Anzeiger 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4). Die Aufträge gingen an wenige Hauptbetriebe, die ihrerseits Subunternehmer verpflichteten. Die Zahl der Betriebsstätten lag aber schon aufgrund des hohen Anteils von dezentraler Heimarbeit höher. Charakteristisch für die Abzeichenproduktion war gering bezahlte Frauenarbeit, war ein ergänzender Nebenerwerb. Das WHW erschloss 1940 Arbeitsreserven, sorgte zugleich aber für eine Grundauslastung der während der Kriegszeit zunehmend zurückgefahrenen Konsumgüterindustrien. Die Berichte betonten paternalistisch: „Tausende von Händen hatten willkommene Arbeit, Tausende von Menschen, die mit Sorgen in den Winter gingen, lernten lächeln wie die 12 fingerhutgroßen Gesichter, die unter ihren Fingern entstanden“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4). Hervorgehoben wurde die monatelange Vorbereitung, ebenso die arbeitsteilige Produktion. Die Arbeitsfreude schien augenscheinlich, eine Referenz an den zeitgenössischen Leistungskampf der deutschen Betriebe der Deutschen Arbeitsfront, für den die „Schönheit der Arbeit“ ein wichtiges Bewertungskriterium war (Da sind sie: Zwölf Busch-Figuren, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 4).

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Ein seitlicher plastischer Eindruck der bemalten Majolika-Figuren im „Alten Pfarrhaus“ in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Die Wilhelm Busch-Figuren wurden von dem Bildhauer Max Heinze (1883-1966) gestaltet, der seit 1910 in der Staatlichen Majolika-Manufaktur Karlsruhe beschäftigt war und 1939/40 die Gipsformerei leitete. Er setzte Buschs Flächenzeichnungen in etwa dreieinhalb Zentimeter hohe Reliefs um. Der Entwurf wurde in Ton modelliert, in Gips abgegossen, dann tausende von Negativgipsformen erstellt, die nicht nur in Karlsruhe, sondern auch an den anderen Brennorten genutzt wurden. Männer füllten die Formen anschließend mit Ton, prüften sie auf blasenfreie Füllung, ließen sie trocknen und brannten sie dann bei ca. 1.000 Grad Celsius. Anschließend begannen Frauen mit der Bemalung der Figuren, trugen Klebstoff für die noch fehlenden Nadeln auf. Es folgte eine neuerliche Trocknung und dann die Verpackung in Pappschachteln, aus denen während der Sammlung verkauft wurde. Die Packungen enthielten teils vollständige Serien, teils jedoch auch Figuren nur eines Charakters. Die Staatliche Majolika-Manufaktur koordinierte die Arbeit in weiteren Brennstätten in Baden-Oos, Mosbach, Kandern und Zell a.M. Die Auftragsnehmer organisierten dann die weitere Produktion vor Ort. In Durlach bedeutete das etwa die Umwandlung des Gasthauses „Zur Krone“ in eine Malstube, in der im Auftrag der Grötzinger chemischen Firma Petunia mehr als hundert Frauen die Figuren bemalten, mit einer Nadel versahen und verpackten (Durlach und die Wilhelm Busch-Abzeichen, Durlacher Tageblatt 1940, Nr. 29 v. 4. Februar, 3).

Karlsruhe hatte die Federführung, dorthin führte auch der reichsweit veröffentlichte und anschaulich beschreibende Bericht des Sonderkorrespondenten der Nationalsozialistischen Parteikorrespondenz Friedrich Karl Haas (1912-1975), seit 1931 für die Mannheimer NSDAP-Zeitung Hakenkreuzbanner tätig (An der Geburtsstätte von Max und Moritz, Der Führer 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 5; analog Wilhelm Busch in der Majolikaindustrie, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 8; Gelsenkirchener Zeitung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 8; Aachener Anzeiger 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 3; Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Dort sprach man von 300 für ein halbes Jahr zusätzlich vor Ort Beschäftigten, reichsweit waren es ca. 3.000 Arbeiterinnen. Gefertigt wurde im Stundenlohn, Sorgfalt sollte das Werk prägen, hatte dieses doch eine „künstlerische, kulturelle Sendung“, sollte sich Wilhelm Busch würdig erweisen, sei gleichsam ein millionenteiliges Denkmal. Junge und auch deutlich ältere Frauen wurden hier angelernt, in den Berichten schwangen die Schwierigkeiten mit, ehe der Pinselstrich richtig saß, ehe der Arbeitsrhythmus für die jeweiligen Einzelstriche und die einzeln aufgetragenen Farben einer Figur rasch und verlässlich funktionierte (Majolika-Manufaktur Karlsruhe maßgebend beteiligt, Badische Presse 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 8).

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Frauenarbeit in den Hamburger Werkstätten (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 5)

Während in Karlsruhe die Abzeichen nur Teil einer breit angelegten Majolikaproduktion waren, bildeten sie an anderen Orten monatelang die Hauptbeschäftigung. In der Steiermark, in Mürzzuschlag, soll die dortige keramische Werkstätte die Stammbelegschaft von zweiundsiebzig Beschäftigten auf 120 Personen aufgestockt haben, hinzu kamen 390 Heimarbeiter (Fromme Helene aus Mürzzuschlag, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 29 v. 29. Januar, 5; auch für das Folgende). Anders als im „Altreich“ nutzte man in der „Ostmark“ den Bericht, um die kürzlich einsetzende wirtschaftliche Aufbauleistung des Nationalsozialismus zu feiern. Noch vor wenigen Jahren hätte die alte Industriestadt darniedergelegen, nun sähe man „heinzelmännchenhafte Emsigkeit in Stadt und Umgebung“. Die seit 1936 vom nationalsozialistischen Sohn des alten Firmengründers Birnstingl wieder angekurbelte Keramikfirma sei dafür verantwortlich (Kleine Volks-Zeitung 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 4). Voll Wonne listete man die großen Mengen dort bewegter Werk- und Rohstoffe auf, allein 3,2 Tonnen Eisen für die Nadeln, oder auch 30.000 kleine und 300 große Kartons, erforderlich für die pünktliche Herstellung der georderten 2,5 Millionen Abzeichen (Kleine Meisterstücke ostmärkischer Keramik, Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5).

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Heimarbeit im steiermärkischen Mürzzuschlag (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 5)

Im Norden wurden sechs Millionen Abzeichen in Wandsbek, Kiel und Schnelsen gebrannt, anschließend dezentral bearbeitet. In Hamburg präsentierten lokale Berichte dann 120 freudig singende Frauen in den Räumen der Firma Hermeneit, die dort an langen Tischen saßen. Die angelernten Kräfte arbeiteten mit einfachen, speziell entwickelten Hilfsmitteln (Wilhelm Busch in Hamburg wieder auferstanden, Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 5). Im Bericht spürt man den Zeitdruck vor Ort. Von den 800.000 für Hamburg vorgesehenen Abzeichen konnte nur 615.000 fertiggestellt werden, weitere blieben unbemalt (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 5). Die Presse kritisierte jedoch nicht die Produktionsmängel, sondern kommentierte eulogisch: Vielleicht „werden gerade diese Figürchen besonders gefragt sein, weil diese Kinder sich ein Vergnügen daraus machen werden, sie selbst zu bemalen“ (Morgen kommen sie!, Hamburger Fremdenblatt 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 5). Insgesamt dominierte in der Presse der Stolz über das fertiggestellte Millionenwerk – das nun von den Käufern entsprechend gewürdigt werden sollte. Das WHW nutzte die etablierte Arbeitsorganisation weiter, noch die im Februar 1943 – just nach Stalingrad! – angebotenen 59 Millionen Kasperletonfiguren stammten neuerlich aus Karlsruhe, Hamburg, Mürzzuschlag und ergänzend aus Gmünden und Mengersgereuth (Aachener Anzeiger 1943, Nr. 26 v. 1. Februar, 3). Die Einblicke in die Arbeit sollten Lust machen auf die neuen Wilhelm-Busch-Abzeichen, die eine Woche vor der 4. Reichsstraßensammlung nun Gestalt annahmen.

Vorabpräsentation der Wilhelm-Busch-Abzeichen

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Aktivierung durch Wilhelm-Busch-Abzeichen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14385 v. 4. Februar, 1)

Die „Wilhelm-Busch-Woche des WHW“ (Volksblatt 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 1) mündete seit dem 29. Januar in immer neue Artikel, Hinweise und Appelle, die unmittelbar vor der Sammlung ihren Höhepunkt erreichten. Parallel aber drangen die Wilhelm-Busch-Abzeichen visuell vor. Trotz der zunehmend spürbaren Papierknappheit, trotz verringerten Umfangs, trotz der insgesamt noch nicht sonderlich zahlreichen Presseabbildungen präsentierten die Zeitungen die Anstecker augenfällig: Erst schauen, dann spenden. Erst zeigen, dann appellieren.

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Die Abzeichen im Umfeld der Buschschen Bildgeschichten (Herforder Kreisblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 5)

Die Abbildungen verbanden Wilhelm Busch und seine Figuren, erlaubten schon vorher angerissene Themen zu wiederholen und zu vertiefen. Nationalstolz wurde geschürt, so wie in den zeitgleichen Ufa-Filmen über große Deutsche, indem man „Max und Moritz“ irreführend zum „heute nächst der Bibel“ meistgelesenen „Buch der Welt“ erhob (Wilhelm Busch an der Mantelklappe, Der Grafschafter 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Der nationalsozialistische Journalist Jan Kondring, ab 1941 Pressereferent des Reichskommissars für Altmaterialverwertung, pries Busch als Niedersachsen, der sich niemals vom Urwesen des Volkes entfernt habe, als Pionier der neuen Zeit: „Wilhelm Buschs volkhafte Bedeutung wird uns gerade in unseren Jahren volklichen, kulturellen Erwachens immer klarer“ (Zwölf Wilhelm-Busch-Figuren werden, Neue Mannheimer Zeitung 1940, Nr. 31 v. 31. Januar, 5). Der Meister sei kein Nationalsozialist gewesen, wohl aber ein Vorkämpfer für die nationalsozialistische Sache: „Nicht nur Jesuiten, Juden oder andere undeutsche Elemente, sondern alles Unwahre und vor allem Unnatürliche ist Busch verhaßt“ (Wilhelm Busch, der deutsche Künstler, Herforder Kreisblatt 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 4). Busch mutierte zum Kritiker der wirtschaftlichen Not seiner Zeit, zum Verfechter seiner angestammten Heimat (Wilhelm Busch, Buersche Zeitung 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 3). Und ein solches Vorbild verpflichtete: „Wilhelm Busch marschiert an der Spitze des Feldzuges deutscher Opferbereitschaft. Er, der immer alles Deutsche tapfer und unerbittlich verteidigt hat, fordert zum deutschen Opfer auf und lehrt uns deutschen Siegesglauben“ (Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 5). Man schulde ihm, aber auch den Männern im Felde, eine großzügige Gabe, würdig ihres Einsatzes (Aufruf zu der vierten Reichsstraßensammlung, Hannoverscher Kurier, Nr. 32 v. 2. Februar, 4). Und mit weniger Patina tönte es auch plump: „Im Jahre 1940 wollen wir noch fester zusammenstehen und durch ein kleines Opfer dazu beitragen, den Endsieg über die Geldsackbarone Englands und Frankreichs sicherzustellen“ (Der Führer 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 5).

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Präsentation und virtuelle Vorabauswahl der zwölf Wilhelm-Busch-Abzeichen (Die Glocke am Sonntag 13, 1940, Nr. 5, 1)

Die Abzeichen wurden präsentiert, parallel über deren Ankunft bei der lokalen NS-Volkswohlfahrt berichtet. Zahlen wurden genannt, machten die Spendenaufgabe deutlich. Und vielfach war man der Ansicht, dass „so etwas Schönes noch garnicht dagewesen“ sei. Vorfreude machte sich breit: „Am Freitag kommen die freiwilligen Helfer mit ihren Handwägelchen zur Kreisamtsleitung, um die Abzeichenpakete abzuholen, und dann kann die große Offensive der Männer aus den Formationen auf das gute Herz“ beginnen (Kein Knopfloch bleibt am Sonntag leer!, Westfälische Landeszeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 9). Die schönen Figuren seien Sammlerstücke, Wertsteigerungen fast sicher, der Kauf nicht nur einer Figur, sondern ganzer Serien sei ratsam (Des Rätsels Lösung, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3).

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Präsentation ohne Einordnung: Wilhelm-Busch-Figuren im Wiedensahler Museum im „Alten Pfarrhaus“ (Uwe Spiekermann)

Die plakative Freude mischte sich jedoch auch mit Anleitungen und Ermahnungen. Die Reichsstraßensammlung galt als Lebensbekenntnis, „und reif und stark werden wir als Sieger aus diesem Kriege hervorgehen, den man unserem Volk aufgezwungen hat, weil man keine Ahnung von der unzerstörbaren Lebenskraft und dem herrlichen, einmütigen Siegeswillen der Nation unter der Führung Adolf Hitlers hatte! […] Mit Wilhelm Busch packen wir froh und siegesgewiß auch jetzt wieder das Leben an – und uns, nur uns allein wird der Sieg gehören!“ (Wilhelm Buschs Auferstehung, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5). Die Figuren ließen Kinderaugen erstrahlen, erlaubten eine Auszeit, um „frischen Atem zu holen und dann neugekräftigt ans harte, anforderungsreiche Werk dieser Kriegszeit zu gehen!“ („Mutti, bitte – Max und Moritz!“, Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 3). Wilhelm-Busch-Abzeichen standen gegen schlechte Laune und Disziplinlosigkeit, seine Werke vermittelten „kernhafte Kraft“, zeigten „wie man allezeit den Kopf oben und das starke, zuversichtliche Lachen in hellen Augen behält!“ (Ein Meister der Lebenskunst, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 1). Die Figuren erlaubten Einkehr und Besinnung, das gemeinsame Opfer sei ein schon von Busch antizipierter „Sozialismus des deutschen Volkes“ (Falsche Wohltätigkeit, Erzgebirgischer Volksfreund 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 5).

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Plakate, auch als Anzeigen verwandt (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 3 (l.); Volksblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4)

Die Propaganda spielte auch leisere und ernste Töne. Lieselotte Henckel, promovierte Autorin der NS-Frauenwarte, nach dem Krieg dann einflussreiche Herausgeberin der „Filmblätter“, formulierte sinnreich und linientreu: „Wenn wir jetzt in ernsten Zeiten / Freude durch Humor bereiten, / liegt darin ein tiefer Sinn. / Fröhlichkeit regt an zum Geben, / ist im grauen Alltagsleben / guter Taten Anbeginn. // Kleine Wilhelm-Busch-Gestalten / emsig ihres Amtes walten / Lustig, pfiffig und gescheit, / werden sie im lust’gen Reigen / sich beim Winterhilfswerk zeigen. / Helfer sein in großer Zeit“ (Fröhlichkeit regt an zum Geben!, Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5).

Wilhelm Busch und deutscher Humor

Die 4. Reichsstraßensammlung 1940 propagierte aber nicht nur eine völkische, kriegsfreudige und opferbereite Deutung des Menschen und des Werkes Buschs. Auch Humor wurde im Sinne des NS-Regimes umgedeutet. Buschs Humor war doppelbödig, realistisch bis zur Desillusionierung. Seine Charaktere waren böse, niederträchtig und boshaft. Über das junge Julchen hieß es beredt: „Denn der Mensch als Kreatur / Hat von Rücksicht keine Spur“ (Wilhelm Busch, Humoristischer Hausschatz, 5. Aufl., München 1896, 144). Der Leser sah sie scheitern, an sich, an den Umständen. Buschs Werk plädierte für stete Skepsis, für einen illusionslosen Blick auf seine Mitmenschen. Busch wusste um die Begrenztheit und Vergeblichkeit menschlichen Tuns, Strebens und auch Duldens: „Ewig an des Lebens Küsten / Wirst du scheiternd untergehn“ (Wilhelm Busch, Schein und Sein, München 1909, 2). Damit war die Großsprecherei der NS-Propaganda, auch die völkische Utopie eines großdeutsch beherrschten Europas nicht in eins zu bringen. Buschs Humor musste daher umgedeutet werden.

Die NS-Propagandisten und Bildungsbürger sprachen von Humor, doch sie reduzierten ihn auf einen Appell für Mäßigung und Duldsamkeit, verstanden ihn als Grundlage für Zuversicht, als eine Ressource für Erholung und Leistungsfähigkeit: „Was uns ärgert, ist vergänglich, / aber wer da lebenslänglich / am Humor sein Herz entfacht, / der hat nicht umsonst gelacht, / wenn er Feierabend macht!“ (Wau-Wau, Humor ins Haus!, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 24 v. 25. Januar, 4). Anlässlich der 4. Reichsstraßensammlung galt Humor als Lebenswürze, während der Malerdichter fast schon als moderner Candide gezeichnet wurde: „Immer aber war er zufrieden, immer vergnügt, und wenn ihn Sorgen drückten, zeichnete und schrieb er sie sich vergnügt vom Herzen“ (… sagt Wilhelm Busch, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 22 v. 26. Januar, 3). Sein Humor würde „allen Dingen noch eine gute Seite abgewinnen“ (Klassiker deutschen Humors, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 1). Zugleich aber raunten die NS-Deuter vom Humor als einer eigenartigen deutschen Seelenhaltung, als Mischung von Tiefe und Tun, als „Weltanschauung, die sich zwischen Schicksal und Freiheit des menschlichen Willens in einer Schwebelage hält und darin alle Widerwärtigkeiten des Lebens geistig und tatsächlich überwindet“ (Des Rätsels Lösung, Volksblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 2). 1940 bedeutete das die Abkehr von Selbstreflektion, Eindimensionalität, kein sardonischer Ingrimm auf die eigene Führung, sondern ein Lachen „über die sture Dummheit und teuflische Bosheit unserer Feinde, die glauben, ein unter seinem Führer einiges und vertrauendes 80-Millionen-Volk besiegen und sein Reich zerstückeln zu können“ (Tante Bolte im Anmarsch auf Schwerte, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Solcher Humor war Kriegstugend, Folgewille, verband seichte Kindheitsschwelgerei mit dem fröhlichen Aus- und Entspannen nach getaner Arbeit (Die fromme Helene am Rockaufschlag, Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3).

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Deutscher Humor, abgegrenzt und präzise gezählt (Der Gemeinnützige 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3)

Dieser in Buschs Schuhe geschobene Humor bedeutete Lachen und Weitermachen trotz Spendenzwang, Krieg und Sorge um die Lieben. Dieser Humor war verdammend, war Lebensgarant und Endsieggarantie. Humor „ist die beste Waffe, die man den feindlichen Gewalten des Lebens entgegensetzen kann –: die fröhliche Tapferkeit eines festen gewappneten Herzens!“ (Das fröhliche Herz, Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 3). Dieser Humor war unerschütterlich, gläubig und beharrend. An sich hätte diese Diskrepanz jedem Leser, und gewiss jedem Kenner Buschs auffallen müssen. Doch nicht nur seitens der Wilhelm-Busch-Gesellschaft fehlten Rückfragen, fehlten andere Interpretationen. Sie profitierte jedenfalls von der nationalsozialistischen Aufmerksamkeitsökonomie, war Teil davon. Das reichte.

Knittelverse und Poesie: Übernahmen und Nachdichtungen

Als im August 1914 deutsche Armeen gen Westen stürmten, erreichte die deutsche Dichtkunst einen Höhepunkt. Die Zeitungen quollen über von patriotischen Reimwerken, eine hohe sechsstellige Zahl soll gedruckt worden sein. Eine solche Welle blieb 1939 aus, trotz des propagandistisch beschworenen Sieges im Osten. Die 4. Reichsstraßensammlung 1940 vertraute dennoch nicht nur auf Prosatexte und Bilder, sondern setzte auch auf Gedichte und Spricker von und nach Wilhelm Busch: „Ueberall sieht man die Tante, / wie sie Wilhelm Busch benannte. / Außerdem noch weitere Köpfe, / welche mit und ohne Zöpfe, / stellen sich mit viel Humor / für das WHW. jetzt vor“ (Hallische Nachrichten 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 5).

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Die Geste reicht: Eine Wilhelm Busch-Zeichnung dient dem Winterhilfswerk, auch Lehrer Lämpel hält die Sammelbüchse hoch (Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 4; ebd., Nr. 33 v. 3. Februar, 4)

Die Busch-Abzeichen waren eingebettet in ein Umfeld visueller Übernahmen, visueller Umdeutungen. Ebenso bediente man sich der Verse des Dichterphilosophen. Als Motto wählte man eine Sentenz aus Balduin Bählamm, wo es hieß „Doch guter Menschen Hauptbestreben / Ist, Andern auch was abzugeben“ (Busch, 1896, 222). Das „Doch“ wurde getilgt, mal wandelte sich das „Andern“ zu anderen (Ratinger Zeitung 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 9; Ohligser Anzeiger 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3). Was kümmerte es, dass Busch mit seinem Vers just den unstillbaren Mitteilungsdrang moderner Dichter karikiert hatte. Was kümmerte es, dass er die Sentenz 1905 wieder aufgegriffen hatte: Um eine Widmung für einen Berliner Wohltätigkeitsbazar gebeten, schrieb er: „Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern für das Andre mit“ (Wilhelm Busch, Schein und Sein. Nachgelassene Gedichte, München 1909, 68). Sich um das Andre kümmern schien ihm unbequem, menschlicher Altruismus sei eine Ausnahme. Doch nun, 1940, war er Gewährsmann für Opfer und Zwangsspende, da konnte man vermengen und verfälschen: „Guter Menschen Hauptbestreben / Ist, andern auch was abzugeben. / Mit sanftem Druck legte sie in seine / Entzückte Hand zwei größere Scheine. / Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern auch für andere mit“ (Sächsische Elbzeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 4). Entkontextualisierung, parolenhafte Verdichtung und Umdeutung kennzeichneten die Verskunst der 4. Reichsstraßensammlung 1940.

Dabei verschwammen die Grenzen zum Werbegedicht, obwohl doch die NSDAP seit 1933/34 emsig bemüht war, „nationalen Kitsch“ zurückzudrängen, Hitler und Hakenkreuz als Werbeschmuck aus dem Schaufenster des Metzgers zu verbannen. Gleichwohl nutzten die Volksgenossen die gebotene Gelegenheit. Die deutschen – explizit nicht jüdischen – Buchhändler im Gau Wien legten sich bildungsbürgernd und geschäftstüchtig ins Zeug: „Busch-Figuren ringsherum: / Max und Moritz, Plisch und Plum, / Maler Klecksel, Witwe Bolte / und der liebe Onkel Nolte, / Vetter Franz und Fromm‘ Helene, / Schneider Böck und Rektor Klöhne, / Julchen, ach und Fipps der Affe / und so mancher Geck und Laffe, / Huckebein, der Unglücksrabe / und Filuzius samt dem Stabe, / all‘ die trauten Buschiaden, / Freunde unserer Soldaten, / unsrer Kinder, unsrer Väter, / Freudenspender, jetzt und später, / Rufen Dich zum Hilfswerk auf! / Darum hemme Deinen Lauf, / kaufe eifrig die Figürchen, / trage froh sie an den Schnürchen, / kauf‘ Dir auch ein Buch dazu: / Deine Seele hat dann Ruh‘!“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14382 v. 1. Februar, 4)

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Reichsstraßensammlung mit Knittelversunterstützung (Alpenpost 1940, Nr. 5 v. 2. Februar, 5 (l.); Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5)

Im öffentlichen Raum wurden damals allseits bekannte Buschverse repetiert. Philologen hatten zuvor das Werk Buschs nach einschlägig nutzbaren Stellen durchforstet, selbst öffentlich kaum mehr erinnerte Verse aus Buschs erster Gedichtsammlung, der bei Kritik und Publikum durchgefallenen „Kritik des Herzens“ (1874), wurden um der Sammelsache willen herangezogen („Sorge nicht nur für das Deine…“, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 4; auch für das folgende Zitat). Auch die Wilhelm-Busch-Gesellschaft durchforstete ihre Sammlung und fand noch ein Schreiben Buschs für einen Wohltätigkeitsbasar, das sein Neffe Otto Nöldeke (1867-1948) übereignet hatte: „Zu nehmen, zu behalten / Und gut für sich zu leben, / Fällt jedem selber ein. / Die Börse zu entfalten, / Den andern was zu geben, / Das will ermuntert sein.“ All das war bemüht, vielleicht auch augenzwinkernd, doch hinter der Propagandafassade stand der Zwang zur Gabe am kommenden Wochenende: „Und wenn die Sammelbüchsen kommen, / laßt euch von Busch ein Verslein frommen: / ‚Enthaltsamkeit ist das Vergnügen / an Sachen, welche wir nicht kriegen! / Drum lebe mäßig, lebe klug, / wer nichts gebraucht, der hat genug!‘“ (Wilhelm Busch und das WHW., Westfälische Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5). Das Versmarketing bot Abwechslung, ja Erheiterung inmitten klirrender Kälte (Ueberlistete Kälte, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5). Poesie wurde genutzt, kommodifiziert, verschlagert. Der schöne Schein der Diktatur blinkte.

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Spendenappelle in gereimter Form (Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 3 (l.); Gladbecker Volkszeitung 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 3)

Durchführung und Begleitprogramm der 4. Reichsstraßensammlung

Am Freitag und Samstag, dem 2. und 3. Februar 1940, erreichte die Pressekampagne ihren Höhepunkt. Geborgte und befohlene Gefühle prägten die Publizistik. Neuerlich gab es mehrere reichsweit genutzte Zeitungsartikel mit Buschbezug und Versgehalt (Der Griff ins „Camisol“, Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 3; analog Völkischer Beobachter 1940, Nr. 32 v. 1. Febr., 6; etc.). Nun dominierte der freundlich verbrämte, auf den Kauf und das Opfer zielende Appell, typisch dafür war ein von Herbert Winkelmann, dem Leiter der Berliner Ortsgruppe der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, verfasster Artikel mit dem vielfach variierten Titel „Wilhelm Busch sammelt für das Kriegswinterhilfswerk“ (Kreisbote 1940, Nr. 2126 v. 2. Februar, 2; analog Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 6; Westfälischer Kurier 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 5; Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 1). Parallel fanden sich nun überall kleine Verweisbilder der Busch-Figuren, mal mit, mal ohne Reime, mal die Tonfiguren, mal die Buschzeichnungen. All das war reichsweit koordiniert, doch zunehmend dominierte das Geschehen vor Ort.

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Gemeinsame Motive im Großdeutschen Reich (Die Glocke – Ausg. C 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 3 (l. o.); Kattowitzer Zeitung 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 7 (r. o.); Lodscher Zeitung 1940, Nr. 34 v. 3. Februar, 12 (l. u.); Sächsische Elbzeitung 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 3)

Sechs Punkte sind dabei hervorzuheben. Erstens führte die Präsenz der uniformierten Parteiformationen – neben SA, SS, NSKK und NS-Fliegerkorps sammelten lokal auch der NS-Reichskriegerbundes oder der Reichsbund Deutscher Beamter (Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 5; Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 31 v. 31. Januar, 11) – den Krieg und den Ernst der Lage wieder plastisch vor Augen: „Jeder Groschen, der in die Sammelbüchse wandert und jedes Abzeichen, das erworben wird, sind Zeichen des gemeinsamen Abwehrwillens und des Dankes zugleich für diejenigen Kämpfer, die draußen an der Front zu Lande, zu Wasser und in der Luft die deutsche Heimat beschützen“ (Heute geht’s los!, Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 32 v. 3. Februar, 6). Wilhelm Busch lehre ein Leben in „heldischem Gleichmut“ (Gestern und heute, Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 7); und dieser sei nötig angesichts neuer Aufgaben des Kriegswinterhilfswerkes, etwa der Betreuung von Umsiedlern im just neu errichteten Reichsgau Wartheland, der Sorge um die Evakuierten an der Westgrenze, der Unterstützung von Kriegerwitwen und -waisen, der Pflege einer wachsende Zahl von Kriegsverwundeten und -versehrten (Viel Freude mit Wilhelm Busch!, Westfälische Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). Die uniformierten Sammelformationen erinnerten aber auch an den Krieg als Grundzustand menschlicher Existenz, handelte es sich doch um eine Sammlung alter Kameraden, die einst im Waffenrock ihre Pflicht getan hatten, die nun die Heimatuniformen des Nationalsozialismus trugen, in der Hand die „Waffe der Heimat: Die Sammelbüchse des Kriegs-WHW.!“ (Alles für Deutschland!, Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3)

Der Ernst der Lage mündete zweitens in eine neue Erwartungshaltung an die Spender. Für jeden Soldaten einen Groschen mehr, hieß es. Eigene finanzielle Probleme seien unwichtig, müssten überwunden werden – auch Wilhelm Busch habe seine Sehnsucht auf eine große Malerkarriere einst fallen gelassen und sei doch ein großer Deutscher geworden (Der heitere Philosoph, Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 2). Noch hieß es drängend wie in Friedenszeiten: „An allen Mänteln, Anzügen, Paletots oder Kleidern werden am Samstag und Sonntag die schönen Abzeichen der Kriegs-WHW. baumeln“ (Münstersche Zeitung 1940, Nr. 34 v. 3. Februar, 7). Doch der Krieg erforderte mehr, ein neues Bekenntnis, noch lauter, noch deutlicher, nun erst recht. Das sei eine Antwort an das feindliche Ausland, auf den Hass gegenüber dem „sozialistische[n] Deutschland […], das alle Klassengegensätze überwunden und sich zu einer geschlossenen und unzertrennbaren nationalen Einheit zusammengefunden“ habe (F.W. Schulze, Der Kreis Olpe marschiert!, Sauerländer Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3). Das Opfer sei ein Bekenntnis zum wehrhaften Volk, zum Krieg. Der Einzelne solle beweisen, dass er „bereit ist zum Opfer, zum deutschen Freiheitskampf und zum festen, unerschütterlichen Glauben an den Sieg, der einzig und allein uns gehört!“ (Alles für Deutschland!, Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3) Die Sammlung sei ein Plebiszit: Sag mir, wo du stehst. Abseitsstehende Volksgenossen gäbe es immer noch, solche die sich nicht einreihen wollten: „Wie schade ist es da, daß wir nicht einmal Max und Moritz sein können und diesen Menschen ohne Gemeinschaftssinn und ohne Humor den wackligen Stieg, über den sie laufen, einmal so ansägen können, daß sie ins Wasser plumpsen. Das würde eine Freude und ein Spaß sein, aber leider, leider geht das nicht“ (Max und Moritz setzen sich durch, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 3. Februar, 2). Das von der Dorfgemeinschaft einhellig begrüßte Ende der beiden jugendlichen Abweichler in Buschs Bildgeschichte warf drohend ihren Schatten voraus. Rasch eine Figur kaufen…

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Ankunft und Verteilung der Schachteln mit dem Wilhelm-Busch-Abzeichen (Westfälische Landeszeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 9)

Drittens war der Samstag, der erste Sammlungstag, der Tag der zielgerichteten Poesie. Falls Sie noch Beispiele ertragen können: „Max und Moritz, Witwe Bolte, / Knopp, die knusprige Adele, / Maler Klexel [sic!], Onkel Nolte / Und Helenes fromme Seele. // Vierunddreißig Millionen / Bunter Wilhelm-Busch-Figuren. / Die in kleinen Kästen wohnen, / Heften sich an deine Spuren. // Locken dich zur Klapperdose. / Wähle möglichst viel von ihnen, / Und dann hast du die famose / Reihe für dein paar Zechinen. // Suche nicht vorbei zu huschen, / Wenn ein Sammler in der Näh, / Schmücke dich mit Wilhelm Buschen, / Und du hilfst dem WHW!“ (Neueste Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 2) Kleingeld wurde besungen, als Taschenfeind beschrieben – erst im Sammelgrund würde es seiner wahren Bestimmung zugeführt (Wilhelm Busch würde sagen, Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5).

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Busch-Figuren beim Sammeln: Hannover und Berlin (Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 4 (l.); Der Grafschafter 1940, Nr. 31 v. 6. Februar, 4)

Max und Moritz starteten zu neuen Streichen, wurden verfolgt, gefasst – und ans Revers geheftet (Max und Moritz, Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 3). Doch auch die Racker waren alt geworden, denn andernorts entsagten sie der Lust am Chaos, fügten sich ein in die Sammelkolonnen: „Münzen kommen – wie sie sollen – / dabei ganz von selbst ins Rollen, / in die Büchs‘ hinein, husch-husch! / Droben freut sich Wilhelm Busch“ (Max und Moritz wieder da, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 4). Und auch der alte Meister grüßte schließlich mit zielgerichteter Poesie: „So hat des Schicksals freundlich Walten / auch meinen heitern Spottgestalten / nun einen schönen Sinn geschenkt, / indem mit ihnen voll behängt / heut jedermann einher wird schreiten, / zum Zeichen, daß die ernsten Zeiten / auch seinen Opfersinn erhöht, / was sich ja ganz von selbst versteht“ (Murtaler Zeitung 1940, Nr. 5 v. 3. Februar, 2). Der Trubel konnte nun seinen Lauf nehmen.

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So wird es kommen: Vorabsimulation der 4. Reichsstraßensammlung (Der Grafschafter 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 6)

Viertens zeichneten die Tageszeitungen die Sammlung als ein Volksvergnügen. Am kriegsbedingt verbotenen Karnevalwochenende schien der Frohsinn ein Ventil zu finden. Doch wir müssen hier kurz innehalten, Distanz wahren. All das passierte, doch es war zugleich eine Inszenierung, über dessen präzise Gestalt wir kaum etwas aussagen können. Wir wissen, dass es an diesem Wochenende klirrend kalt war, dass die Versorgung durch massiven Frost, fehlende Treibstoffe und requirierte Fahrzeuge beträchtlich erschwert war: „Der Wind fegte durch die Straßen. Die Kälte trieb alle Straßenpassanten zu großer Eile an“ (Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Handschuhe, warme Kleidung, Schals und Hüte waren unverzichtbar für den Gang nach draußen; und man schrieb zurecht von der kältesten aller bisherigen Reichsstraßensammlungen (Flott, aber kalt, Bremer Zeitung 1940, Nr. 34, v. 4. Februar, 5).

Dennoch spiegeln die Zeitungsberichte die Sammlung selbst und die Art der sie umrahmenden Angebote. Kaum erwähnt wurden dagegen die Haussammlungen, denn in den Zeitungen galt es die Opfergemeinschaft in Aktion zu zeigen, das sich selbst helfende Volk. Die SA lockte mit Feldküchen, in denen eine „kräftige Fleischbrühe“ brodelte (Viel Freude mit Wilhelm Busch!, Westfälische Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). Wärmende Getränke gab es, doch angesichts offizieller Genussgiftdiskussionen wurde darob kaum berichtet. Jugendliche hatten, schulisch unterstützt, vielerorts Bilder gemalt und trugen Gedichte vor. Mobile Kinos wurden errichtet, auch Schießstände (Im Zeichen Wilhelm Busches, Illustriertes Tageblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). An vielen Orten gab es militärische Schauübungen (Gelsenkirchener Anzeiger 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 3), Platzkonzerte, meist Marschmusik, kaum Schlager. Volkslieder wurden intoniert, die alten Weisen, aber auch “Wir fahren gegen Engelland“ (Großer Erfolg der WHW-Sammlung, Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 64 v. 5. Februar, Morgenbl., 2; Ratinger Zeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 1). Manche Orte präsentierten Militariaschmankerl, so etwa die auf dem Dresdner Altmarkt aufgefahrenen tschechischen Geschütze, die ebenso wie Skoda-Panzer ein wichtiger Bestandteil des deutschen Aufmarsches im Westen waren (Kanonen auf dem Altmarkt, Dresdner Nachrichten 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 4).

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Tschechische Geschütze auf dem Dresdner Altmarkt (wo in der zweiten Februarhälfte 1945 fast 7.000 Bombenopfer auf Scheiterhaufen verbrannt wurden) (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 4)

Häufiger als bei früheren Sammlungen wurden die „Spähtrupps der Gebefreudigkeit“ (Wilhelm Busch an der Mantelklappe, Badische Presse 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 7) von kostümierten Gesellen unterstützt, häufig sammelten als Buschfiguren verkleidete Ehrenamtler (Max und Moritz, höchst persönlich, Aachener Anzeiger 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3).

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Karneval verboten – doch Witwe Bolte schenkt in Neuwaldegg aus und zwei junge Stuttgarterinnen spielen Max und Moritz (Der Montag 1940, Nr. 6 v. 5. Februar, 3 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 5)

Fünftens erschienen nun auch erstmals die Käufer und Sammler, wenngleich in vorhersehbarer Weise. Sie erfreuten sich an den allseits belobigten Abzeichen, schmückten damit Mäntel, Hüte, Kappen. Wie üblich, war schon am Samstag vom „Abzeichenerfolg“ die Rede. Der Verkauf hatte vielfach nämlich schon am Freitag begonnen, insbesondere Sammler sicherten sich vorab ganze Serien – die Schachtel für 3,20 RM. Am Samstagmorgen waren viele der bekannteren Figuren bereits ausverkauft. In Frankfurt a.M. hatte man mittags alle 250.000 Abzeichen abgesetzt, seit dem Nachmittag gab es lediglich noch Ersatzabzeichen und Postkarten (Fromme Helene – stark begehrt, Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 29 v. 4. Februar, 2. Morgenblatt, 3). Die Folge war ein reger Tauschhandel: „‚Geben Sie mir noch mal Herrn Knopp und Schneidermeister Böck‘ oder: ‚Haben Sie noch das ‚Julchen?‘“ (Nochmal Herr Knopp!, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 4). Immer wieder wurde über komplett dekorierte Mäntel berichtet, über ausverkaufte Sammeltrupps (Mit Max und Moritz ins Wochenende, Bergische Post 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Und zugleich hoffte man auf neue Rekordergebnisse.

Sechstens gilt es noch an das kulturelle Begleitprogramm zu erinnern. Da waren zum einen die schon vorher, auch dank der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, immer wieder stattfindenden Lichtbildreihen, die zu Jahresbeginn häufig dem Erscheinen von „Max und Moritz“ im Jahre 1865 gewidmet waren (Stolzenauer Wochenblatt 1940, Nr. 5 v. 6. Januar, 3; Solinger Tageblatt 1940, Nr. 9 v. 11. Januar, 5). Lokale „Kraft durch Freude“-Gruppen und das Deutsche Volksbildungswerk der DAF führten Wilhelm-Busch-Abende durch, luden Rezitatorinnen wie etwa Thea Leymann ein, eng verbunden mit der Folkwang-Schule in Essen (Heitere Buschabende, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 21 v. 22. Januar, 1; Freude hilft den Sieg erringen, National-Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 6). Viele weitere Kulturabende schlossen sich an, etwa mit dem Freiburger Sprecherzieher Walter Kuhlmann (1906-1988) (Wilhelm Busch – Meister der Lebenskunst, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 3. Februar, 1).

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Die rote Sammelbüchse des Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt im Museum Hameln und im Einsatz (Uwe Spiekermann (l.); Tremonia 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3)

All das nährte seinen Mann, seine Frau. Größere Reichweite hatte zum andern der Rundfunk, der im Vorfeld der 4. Reichsstraßensammlung gleich mehrere Auftragsarbeiten ausstrahlte. Der eng mit der Wilhelm-Busch-Gesellschaft verbundene Schriftsteller Hans Balzer (1891-1960) schrieb das Hörspiel „Wilhelm Busch“, in dem dessen Leben von den eigenen Figuren erzählt wurde (Aachener Anzeiger, Nr. 27 v. 1. Februar, 4; Münstersche Zeitung 1940, Nr. 40 v. 9. Februar, 5). Deutlich aufwändiger war das musikalische Hörspiel „Tack, tack, tack, da kommen sie!“ des Reichssenders Hamburg. Unter der Regie von Günther Bobrik (1888-1957) und komponiert von Walter Girnatis (1894-1981) und Helmut Wirth (1912-1989) traten die zwölf mit Abzeichen geehrten Busch-Figuren auf, um die allgemeine Sammelpropaganda zu unterstützen (Max und Moritz, Tremonia 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 3; Bremer Zeitung 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 5; Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 6). Das waren arrivierte NS-Künstler, Giratis hatte nur kurz zuvor die DAF-Fanfare „Freut euch des Lebens“ geschaffen. Wilhelm Busch war für sie Broterwerb. Auch andere Sender sprangen auf den Propagandazug, etwa der Reichssender München mit „Klingt der Name Busch ans Ohr, heißt das Lachen und Humor“ und der Reichssender Wien mit einem vom Maler Klecksel verantworteten Bunten Abend (National-Zeitung 1940, Nr. 30 v. 30. Januar, 3; St. Pöltner Bote 1940, Nr. 5 v. 1. Februar, 6). Da konnte der Deutschlandsender Berlin nicht fehlen und präsentierte Gotthard Wlokas „lustige Sendung“ „Eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit..“ (Das Kleine Radio Blatt 7, 1940, Nr. 5, 9; Volksfunk 1940, 30).

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Augenfang und Sammlungszwang (Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3 (l.); Innsbrucker Nachrichten 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3)

Kleine Beiträge für den „Endsieg“: Ergebnisse des Kriegswinterhilfswerkes

Am Ende der zweiwöchigen Kampagne herrschte Zufriedenheit. Am Rosenmontag, dem 5. Februar 1940, fanden sich in fast allen Zeitungen Erfolgsmeldungen: „Von dem Erfolg hätte sich Meister Busch wahrlich nicht träumen lassen! Bielefeld glich – mit einiger Phantasie gesehen – in diesen Sammeltagen einem großen aufgeschlagenen Busch-Album“ (Westfälische Zeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 5). Gezeichnet wurde ein heroisches Gemälde. Spendenunwilligkeit gab es, wurde aber gebrochen. Die Abzeichen wurden sämtlich verkauft. Die Heimatfont stand, die Erträge erreichten neue Rekorde. Die Meldungen waren austauschbar, bestanden aus fast identischen Textbausteinen, waren jedoch lokal koloriert worden. Stolz hieß es: „Ein Sieg bei einer Sammlung ist auch eine gewonnene Schlacht“ (Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Solche Siege waren wichtig angesichts der unsicheren Lage inmitten des Krieges, zwischen den Kriegen. Solche Erfolgsmeldungen waren aber auch notwendig, um dem Einzelnen die Aussichtslosigkeit grundsätzlicherer Kritik, gar von Devianz und Widerstand deutlich zu machen. Der Sieg der Sammlung bestätigte die zahlende und mitmachende Mehrzahl, mobilisierte für die Ziele des Regimes: „Die Kampfformationen der Bewegung […] schlugen ihre letzte Schlacht im lustigen Abzeichen-Krieg und meldeten von allen Fronten Erfolge auf Erfolge, so daß der Endsieg nun gesichert ist“ (Hamburger Fremdenblatt am Montag 1940, Nr. 6 v. 5. Februar, 2).

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Belobigung und Vorbild: Heinz Hopfer, der Spitzensammler im niederösterreichischen Kaltenleutgeben (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14392 v. 11. Februar, 13)

Ergebnisse tröpfelten ab dem 5. Februar ein, doch Zahlen wurden nur lokal aufgelistet: 3.000 RM in Hilden, alle 7.500 Abzeichen „restlos abgesetzt“ (Rheinisches Volksblatt 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 5). In Olpe 10.552,32 RM, alle 20.000 Abzeichen verkauft (Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 2). Aggregierte Daten fehlten, doch es galt als ausgemacht, dass die Reichsstraßensammlung die bisherigen Ergebnisse weit in den Schatten gestellt hatte. Die eingangs schon erwähnten, jährlich veröffentlichten Gesamtergebnisse des Winterhilfswerkes bestätigten dies.

Zwei Wochen Sammlungspropaganda, doch das war nun alles kein Ereignis mehr: „Die Front kämpft – die Heimat aber opfert und schweigt“ (Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 5). Die nächsten Sammlungen liefen an, die Propagandisten blickten nach vorn. Aus dem just germanisierten Lodsch hieß es, „liebe Lodscher: beim nächstenmal wir [sic!] noch mehr gegeben – auch wenn es nicht gerade Wilhelm Buschs Figuren sind, die werben werden. Niemals für etwas, sondern immer nur um der Sache willen geben“ (Max und Moritz halfen, Lodscher Zeitung 1940, Nr. 39 v. 8. Februar, 4). Die 5. Reichsstraßensammlung am 2. und 3. März kreiste bald schon „Rund um den Dorfteich“. Die neuen Glasabzeichen stammten aus dem Sudentengau und würden „schnell ihre Käufer gefunden haben“ (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 57 v. 27. Februar, 6). Das nächste Rekordergebnis lockte.

Nationalsozialismus und Dichtererbe

Und Wilhelm Busch? Er wurde weiter geehrt, doch auf deutlich kleinerer Flamme. Die Zahl der Kulturabende sank schnell, auch wenn die schwer messbare Popularität des Malerdichters gewiss gewachsen war, wie die gestiegenen Mitgliedszahlen der Wilhelm-Busch-Gesellschaft unterstrichen. Manche Busch-Freunde sahen im Widerhall aber auch Bestätigung für ihren Eigensinn. General Friedrich von Rabenau (1884-1945) freute sich an den Abzeichen, war jedoch skeptisch, ob diese Präsentation dem aus seiner Sicht größten deutschen Philosophen nach Kant gerecht geworden sei (Von Geist und Seele des Soldaten, 162.-177. Tausend, Berlin 1941, 18). Buschs Humor, seine Kunst, die Wahrheit im Scherz zu sagen, sei den Deutschen nach 1918 abhandengekommen. Als Mitwisser des 20. Juli wurde Rabenau im KZ Flossenbürg erschossen.

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Wilhelm Busch gegen Winston Churchill: Propagandakarikatur (Ostmark-Woche 8, 1940, Nr. 29, 5)

Die nationalsozialistische Propaganda spielte in der Folgezeit immer mal wieder mit der neu geschaffenen Popularität Wilhelm Busches und seiner Werke. Seine Deutung als völkischer Seher erlaubte derbe Hiebe und damals gängige Hetze.

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Mit Wilhelm Busch den deutschen Bombenkrieg bemänteln (Hamburger Illustrierte 1941, Ausg. v. 18. Oktober, n. 260)

Ein Beispiel hierfür waren die beiden vom NS-Zeichner Wolfgang Hicks (1909-1983) Ende 1941 „nach Wilhelm Busch“ erstellten Comicserien „Win und Franklin“ und „Die fromme Elene“ (Carol Galway, Wilhelm Busch: Cryptic Enigma, PhD Waterloo, Ontario 2001, 258-265). Max und Moritz sowie die fromme Helene standen Pate für Hetze gegen Winston Churchill (1874-1965), Franklin D. Roosevelt (1882-1945), seiner Gattin Eleanor Roosevelt (1884-1962) und Stalin (1878-1953). Hicks zeichnete auch andernorts, etwa antisemitische und antibolschewistische Karikaturen für die „Wacht im Westen“ (Wolfgang Hicks – Lambiek Comiclopedia). Als späterer Karikaturist von Stern, Zeit und dann insbesondere der Welt führte er seine Mission unverdrossen weiter, so seine Kritiker (Politische Karikaturen | NDR.de – Fernsehen – Sendungen A-Z – Panorama – Sendungsarchiv – 1968). Er war einer der vielen NS-Karikaturisten, die in der Bundesrepublik Deutschland die politischen und humoristischen Bildwelten mit prägten. Das von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft heute weiter als „Deutsches Museum für Karikatur & Zeichenkunst“ betriebene Wilhelm-Busch-Museum könnte mit der Aufarbeitung dieser Geschichte eine wichtige Aufgabe übernehmen.

Uwe Spiekermann, 21. September 2024

Familie Roth gegen die Nationalsozialisten: Ein sozialdemokratischer Comicstrip vor der Reichstagswahl im Juli 1932

Der heutige „Kampf gegen rechts“ ist modisch und kostenarm, richtet sich diffus gegen recht beliebige Gegner. Das war in den frühen 1930er Jahren anders. Damals setzte sich die NSDAP als gewalttätige Schlägertruppe und parlamentarische Opposition in einem handfesten Bürgerkrieg soweit durch, dass ihre Regierungsbeteiligung erst auf Kommunal- und Landes-, 1933 dann auch auf Reichsebene für ihre nationalistisch-konservativen Bündnispartner opportun schien. Die historische Forschung hat den Zerfall der Weimarer Republik seit den 1950er Jahren detailliert untersucht, galt es doch einem neuerlichen Rückfall in die Barbarei zu entgehen, aus der totalitären Erfahrung zu lernen. Die Alltagsgeschichte war dann in den 1980er Jahren ein wichtiges Scharnier um nunmehr auch die nationalsozialistische Gesellschaft genauer auszuloten, parallel die Verfolgung und Diskriminierung zahlreicher „Gemeinschaftsfremder“ nachzuzeichnen. Judenverfolgung und Judenmord entwickelten sich in der Folge auch hierzulande zu einem dominanten Untersuchungsfeld – und zugleich gewann die (europäische) Herrschaftsgeschichte von NS-Regime und Wehrmacht an Bedeutung, gefolgt von einer breit gefächerten Täterforschung. Im Hintergrund sachlicher Analyse wabert allerdings eine Erinnerungskultur, die vornehmlich der wohligen Selbstverortung dient, kaum mehr der schmerzhaften historischen Rückfrage. Der Aufstieg des Nationalsozialismus geriet bei alledem zunehmend aus dem Blick, denn dieser war gesetzt, schien erforscht und erklärt. Damit wurde auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor 1933 aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet. Dieser „Kampf gegen rechts“ scheiterte – und die Gründe lagen nicht nur bei Nationalsozialisten, Nationalisten und Konservativen.

Die folgende Analyse eines an sich unbedeutenden Comicstrips der Eisernen Front kann vielleicht daran erinnern, dass die Deutschen 1932 durchaus noch eine Wahl hatten – und dass demokratische Kräfte mit modernen visuellen Methoden versuchten, der Dominanz der NS-Bewegung etwas entgegenzustellen. Die imaginäre Familie Roth zeigte im Juni und Juli 1932 Handlungsmöglichkeiten auf, wie man der NSDAP im Alltag, in kleiner Münze, entgegentreten konnte. Sie war Teil weit umfangreicherer Bestrebungen, mit denen die Sozialdemokratie für die freiheitliche Republik während des Reichstagswahlkampfes im Sommer 1932 eintrat. Sie scheiterten, gewiss. Doch als Zeugnis selbstbewussten Gegenhaltens haben sie vielleicht mehr als historiographische Bedeutung.

Lernen von der NSDAP? Sozialdemokratische Debatten über politische Propaganda

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Folge 1: Eine sozialdemokratische Musterfamilie stellt sich vor (Hamburger Echo 1932, Nr. 144 v. 16. Juni, 5)

Familie Roth war eine sozialdemokratische Vorzeigefamilie. Sie bot das Ideal engagierter Menschen, die sich für die SPD einsetzten und dazu offenbar über genügend Freizeit verfügten. Die Rollenverteilung war traditionell, Vater Karl Roth verdiente das Familieneinkommen im Baugewerbe. Frau Roth blieb vornamenlos, anders die drei Kinder Elise, Franz und Ernst, allesamt aktiv in einer vielgestaltigen Arbeiterjugendkultur, in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend oder im Arbeitersport. In der ersten Anzeige der Serie traten als sie als verschworene Einheit auf, als Familienkollektiv, bereit zum Einsatz für Partei und Republik.

Doch ehe wir ihren Spuren genauer folgen, gilt es innezuhalten. Warum machte sich Familie Roth Mitte Juni 1932 auf den Weg? Das Reihenbild, der Comicstrip markierte die Endphase der Präsidialkabinette, ein Atemholen vor der Machtzulassung der NSDAP durch die damals auf Reichsebene noch allein regierenden konservativ-nationalistischen Kräfte. Das Kabinett des früheren Zentrumsmitglieds Franz von Papen (1879-1969) war am 1. Juni 1932 ins Amt gesetzt worden, hatte die von der SPD unwillig tolerierte Regierung unter dem Zentrumskanzler Heinrich Brüning (1885-1870) abgelöst. Damit hatte die SPD ihre duldende Mitverantwortung für die Regierungspolitik verloren, stand nicht mehr für ein Notverordnungsregime, das die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise als Reinigungskrise verstand. Nach außen ging es der neuen Regierung um ein Ende des Versailler Friedensvertrages, zumal um ein Ende der immer noch beträchtlichen Reparationszahlungen und der Rüstungsbeschränkungen. Nach innen zielte das von dem im April 1932 für weitere sieben Jahre gewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934) eingesetzte und gestützte „Kabinett der Barone“ auf ein Ende der parlamentarischen Republik, auf die Festigung eines autoritären Präsidialregimes, auf eine Reinigung des Deutschen Reiches von „Marxismus“, „Bolschewismus“ und „Gewerkschaftsmacht“. Auf diese doppelte „Reinigung“ zielte bereits die Regierung Brüning, auch wenn sie diese Ziele zurückhaltender kommunizierte. Gestützt vom Reichspräsidenten und ohne eigene parlamentarische Mehrheit stand sie für das Ende der Weimarer Republik als parlamentarische Demokratie. Sie war Ende März 1930 auf die Große Koalition unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller (1876-1931) gefolgt, die an dem symbolträchtigen, objektiv aber recht unwichtigen Thema der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung scheiterte. Der Reichstag verlor danach seine Entscheidungshoheit an den Reichspräsidenten. 1931 wurden 44 Notverordnungen erlassen, während der Reichstag lediglich 34 Gesetze verabschiedete. 1932 standen derer fünf sechzig Notverordnungen gegenüber. Das  war die Normalität eines autoritären Präsidialregimes jenseits parlamentarischer Mehrheiten (Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, 2. Aufl., München 2009; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2017, 280-296).

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Abgehalfterte Schreihälse: Widerhall auf Adolf Hitler 1928 (Der wahre Jacob 49, 1928, Nr. 24, 8 (l.); Jugend 33, 1928, 320)

All dies war begleitet von beträchtlichen Stimmengewinnen der NSDAP. Sie trat nach den Reichstagswahlen im September 1930 ins Zentrum der politischen Debatten. Die SPD hatte zuvor gewagt, die erste Notverordnung der Regierung Brüning im Reichstag abzulehnen. Die Auflösung des Parlaments erfolgte unmittelbar – just um die Mehrheitsverhältnisse zu Lasten der SPD umzukehren. Dennoch tolerierte diese nach den Wahlen die Minderheitsregierung, die wohl bewusst auf die staatspolitische Verantwortung der Sozialdemokraten setzte, die da waren, wenn es galt Schlimmeres zu verhindern. Das Schlimmere war eine Reichsregierung mit nationalsozialistischer Beteiligung, gar Führung. Seit 1929 hatten sich Vertreter der demokratischen Linken mit der NSDAP genauer beschäftigt, wollten sie von der Exekutive fernhalten.

Lange bevor Familie Roth im Sommer 1932 auftrat, hatten die Nationalsozialisten bereits beachtliche Wahlerfolge erzielt. Stimmengewinne gab es 1929 etwa in Mecklenburg, Sachsen, in Coburg und – natürlich – an den Universitäten. Heinz Pol (1901-1972), damals Filmredakteur der Vossischen Zeitung, sah darin Vorboten für eine „Partei der Masse“. Sie verband primitives Aufputschen mit einem idealistischen Programm. Pol sah einen im Sinne der Partei ausgezeichnet arbeitenden Presseapparat, verstand den Parteivorsitzenden Adolf Hitler (1889-1945) als genialen Organisator. Zugleich fabulierte er über die Finanzierung der NSDAP durch die Industrie und eine Interessengemeinschaft mit den Deutschnationalen. Pols Fazit war realistisch: „Mit Achselzucken und ironischen Witzchen jedenfalls ist dieses Wiedererstarken nicht aus der Welt zu schaffen“ (Heinz Pol, Die Nationalsozialisten, Die Weltbühne 25, 1929, T. II, 77-81, hier 77). Zu dieser Zeit hatte die SPD bereits eine Werbeabteilung eingerichtet, die Zeitungen und Zeitschriften analysierte, zudem Wahlkampfmaterial produzierte und vertrieb (Benno Nietzel, Die Massen lenken. Propaganda, Experten und Kommunikationsforschung im Zeitalter der Extreme, Berlin und Boston 2023, 43).

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Die Nationalsozialisten als Gewalttäter (Lübecker Volksbote 1929, Nr. 182 v. 7. August, 3 (l.); Der wahre Jacob 51, 1930, Nr. 19, 6)

Systematischer und grundsätzlicher war die Analyse eines der wenigen jungen Hoffnungsträger der SPD, Carl Mierendorff (1897-1943). Er wuchs in bürgerlichen Verhältnissen in Darmstadt auf, war promovierter Nationalökonom, stand fest zur Republik, hatte für Gewerkschaften und die Parteipresse gearbeitet, dann in der SPD-Reichstagsfraktion, ehe er 1928 Pressereferent des hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner (1890-1944) wurde. Ebenso wie Pol verstand Mierendorff die NSDAP-Wahlerfolge – nun auch in Sachsen, Thüringen und bei den Kommunalwahlen in Preußen und Hessen – im November 1929 als Konsequenz organisatorischer Innovation, „in der Geschlossenheit und Schlagfertigkeit der Parteimaschine, des Apparates. Was nun bisher keine andere Partei fertig bekommen hat: der Sozialdemokratie einen auch nur entfernt ebenbürtigen Organisationsmechanismus entgegenzustellen, ist den Nationalsozialisten heute zweifellos gelungen. Entsprechend der Kürze seiner Entstehungszeit ist dieser Apparat heute zwar immer noch lückenhaft, teilweise sogar völlig embryonal, auf jeden Fall noch nicht ausbalanciert und auch noch nicht kampferprobt. Aber das sind Mängel, die zunächst durch den Elan dieser Bewegung ausgeglichen werden dürften“ (Carl Mierendorff, Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, Die Gesellschaft 7, 1930, 489-504, hier 493). Verweise auf eine Wiederkehr des politischen Radau-Antisemitismus der Vorkriegszeit seien daher irreführend, denn der NS-Erfolg läge in der „Verbindung zwischen Rassenressentiment und dem Ressentiment der sozialen Lage, zwischen ökonomischen Einzelinteressen und elementaren Haßgefühlen verschiedenster Art“ (Ebd., 494). Die Nazis würden an das Gefühl appellieren – und der sozialdemokratische Appell an die Vernunft sei daher nicht ausreichend. Die NSDAP sei eine akute Gefahr, weil sie gnadenlose Agitation und professionelle Organisation verbinde und die SPD in einer neuartigen Weise attackiere, die nicht mehr mit den tradierten Mitteln bekämpft werden könne.

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Abrechnung mit dem „System“: Selbstbeschwörung im völkischen Umfeld (Kladderadatsch 83, 1930, Nr. 43, s.p.)

Solche Stimmen waren Ausnahmen, obwohl es an Stellungnahmen zur NS-Bewegung zumal ab 1930 nicht mangelte. Doch gerade die „Linke“ war in einer ideologischen Engstirnigkeit befangen, die einer angemessenen Antwort abträglich war. Die Nationalsozialisten erschienen als brutale „Landplage“, geschützt von „rechten“ Richtern (Carl von Ossietzky, Hausdorf – Professor Waentigs Symbolik – Jornsprozeß – Der Fall Slang, Die Weltbühne 26, 1930, T. II, 77-80, hier 78). Plump griff man in die Mottenkiste der damaligen Faschismusdebatten, verglich mit Italien. Und natürlich nutzte man – nicht nur bei den Gläubigen der KPD – die Versatzstücke des historischen Materialismus, sah die NSDAP als Hilfstruppe des Monopolkapitals, verwechselte also soziale Folgen einer Gemeinschaftsideologie mit der Dynamik einer Bewegungspartei (K.L. Gerstorff [d.i. Fritz Sternberg], Die Chancen des deutschen Fascismus, Die Weltbühne 26, 1930, 296-300). Statt präzise zu analysieren beschimpfte man voller Wonne das politisch kollabierende Bürgertum und beschwor phrasenhaft die opferbereite Einheitsfront der Arbeiter (Carl v. Ossietzky, Vor Sonnenaufgang, Die Weltbühne 26, 1930, 425-427, hier 426). Denkfaul und selbstbezüglich ignorierte man die Unterschiede zwischen nationalistisch-konservativem und nationalsozialistischem „Faschismus“. An die Stelle intellektueller Anstrengungen setzte man Verschwörungstheorien: „Der Nationalsozialismus steht im Solde von Industriellen, die nach dem Grundsatz ‚Teile und herrsche‘ das Proletariat kunstreich in einander feindliche Heerhaufen zerlegen“ (Kurt Hiller, Warnung vor Koalitionen, Die Weltbühne 26, 1930, 466-470, hier 468). Angesichts des nahenden Zusammenbruchs des Kapitalismus plädierten Einzelne gar für die Regierungsbeteiligung, für ein NS-geführtes Kabinett. Das werde sich an den Problemen abarbeiten, scheitern und dann den Weg zum Sozialismus freimachen (Hanns-Erich Kaminski, Die Rechte soll regieren, Die Weltbühne 26, 1930, T. II, 470-473, hier 471). So blieb es 1930, 1931, 1932, während sich die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Krise verschärfte. Man wartete auf bessere Zeiten: Die Regierung Brüning bei der Bekämpfung der rapide wachsenden Arbeitslosigkeit und der Zahl der Insolvenzen; und die Sozialdemokraten auf den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems, dem gesetzmäßig der Sozialismus folgen würde, der demokratische.

Wissenschaftliche Anregungen für den Wahlkampf

Familie Roth war nicht Teil solcher Debatten, war vielmehr Bestandteil der „Massen“, die nach Ansicht der Schreibtischagitatoren und Parteiführer letztlich nur das umsetzten, was man ihnen vorgab, was man von ihnen verlangte. Innerhalb der SPD war dies schon länger umstritten, die Abspaltung der Sozialistischen Arbeiterpartei im Oktober 1931 verdeutlichte dies. Entsprechend war es keineswegs Zufall, dass sich Karl Roth im zweiten Comicstreifen von der eigenen Funktionärskaste distanzierte, denn Genosse „Meckerviel“ stand für viele Bedenkenträger, die zwar die Gefahr des Nationalsozialismus sahen, die aber nicht aktiv dagegen vorgingen. Vater Roth war da aus anderem Holze geschnitzt, war ein Mitglied, das über die strategischen Debatten 1931/32 informiert war. Damals entstanden nämlich wissenschaftlich rückgebundene Antworten auf die Herausforderungen durch die NS-Bewegung.

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Folge 2: Kritik der trägen, dem Neuen nicht aufgeschlossenen Funktionäre (Volksblatt – Detmold 1931, Nr. 141 v. 18. Juni, 3)

Eine Neuorientierung der Wahlkampfagitation war innerhalb der SPD allerdings schwieriger als in anderen Parteien. Die Partei war von Anbeginn eine Bewegung für eine bessere Ausbildung, für eine nicht engführende, sondern sinnesweitende Bildung. Von den bürgerlichen Arbeiterbildungsvereine hatte man gelernt, hatte Besseres, Eigenes an deren Stelle gesetzt. Bildung war Emanzipation, Wissen war Macht: „Der Befreiungskampf der Arbeiterklasse ist von jeher mit geistigen Waffen geführt worden. Diese Waffen hat sie sich selbst geschmiedet, denn die herrschenden Gewalten haben sich ihrem Streben nach Licht und Aufklärung mit allen Mitteln widersetzt“ (Richard Weimann, Unsere Arbeiterbildung. Eine Bilanz, Vorwärts 1931, Nr. 12 v. 8. Januar, 5). Innerhalb der Partei hatte sich eine Funktionärselite etabliert, die teils über die Parteischule(n) gelernt hatte zu organisieren, sich öffentlich zu artikulieren, das Parteiprogramm in kleiner Münze und einfachen Parolen zu vermitteln. Sie stellte die Masse der Abgeordneten in Parlamenten, füllte Redakteursposten aus, wusste um die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus. Doch all dies ging einher mit obskuren Vorstellungen von einer breiten „Masse“, die es zu schulen und anzuleiten galt. Die SPD-Funktionäre zielten auf eine rationale Erziehung der Mitglieder und der Wähler, sahen sich als Gralshüter einer intern immer wieder in harten Richtungskämpfen (ab-)geschliffenen Programmatik. Sie kultivierten ihr unter vielfach widrigen Rahmenbedingungen erworbenes Wissen. Wahlkämpfe waren demnach Bildungsanstrengungen, denn aufgeklärte Wähler würden SPD wählen. Entsprechend verstört und angeekelt waren sie durch das „dumpfe Bumbum“ der NS- (oder KPD-)Propagandapauke (Hermann Wendel, „Zerbrecher des Marxismus“ oder schlechter Trommler, Der Abend 1931, Nr. 18 v. 12. Januar, 5). Insbesondere Jüngere forderten dennoch ein Durchbrechen, ein Öffnen des eigenen, an sich beeindruckenden Presse- und Verlagswesens. Sie forderten „heraus aus dem Ghetto“ (K. Hartig, Kein Bildungssalat!, Vorwärts 1931, Nr. 36 v. 22. Januar, 5). Doch das war leichter gesagt als getan, denn dies ging immer auch mit einer Erosion des sozialdemokratischen Milieus und Lebenszuschnittes einher. Kampf gegen die NSDAP bedeutete immer auch ein Aufstechen der eigenen, selbstbezüglich wabernden Blase.

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Die NS-Propagandamaschinerie in Aktion – leicht verbrämt (Ulk 61, 1932, Nr. 3, 1)

Das war seitens der NSDAP anders, denn sie wollte ihr Milieu just erweitern, andere gewinnen und zerstören. Sie zielte auf Eroberung und Lenkung der Massen durch Propaganda. Deren Aufgabe, so ihr Vorsitzender, sei „nicht das Abwägen der verschiedenen Rechte, sondern das ausschließliche Betonen des einen eben durch sie zu vertretenden“ Standpunktes (Adolf Hitler, Mein Kampf, 172.-173. Aufl., München 1936, 200). Wahrheit sei nicht entscheidend, sondern Beharrlichkeit und Konzentration auf wenige zentrale Botschaften. Wie die alliierte Propaganda im Ersten Weltkrieg müsse man die „Primitivität der Empfindung der breiten Masse“ (Ebd., 201) ernst nehmen und bedienen. Die NSDAP verfügte mit dem 1920 offiziell eingeführten Hakenkreuz, der schwarz-weiß-roten Hakenkreuzfahne, den uniformierten Parteigruppierungen sowie dem visuell klar erkennbaren Vorsitzenden über wichtige Elemente eines erfolgreichen Marketings, eines Corporate Designs. Die zeitgenössische Werbeliteratur und Erkenntnis der Massenpsychologie wurden rezipiert, von der Parteienkonkurrenz unbefangen abgekupfert (Alexander Schug, Hitler als Designobjekt und Marke. Die Rezeption des Werbegedankens durch die NSDAP bis 1933/34, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Marketinggeschichte, Frankfurt a.M. und New York 2007, 325-345).

Diese Herausforderung, diese Potenzierung bekannter Mittel wurden als solche verstanden. Der sozialdemokratische Theoretiker und Journalist Alexander Schifrin (1901-1951) betonte nach den Septemberwahlen: „Das nationalsozialistische Plakat, die Zeitung und die Versammlungsrede haben ihre besonderen Züge, sie überraschen, verblüffen, hämmern ein. Diese Einwirkungsmittel werden mit einer in der politischen Geschichte Deutschlands unbekannten Intensität angewendet“ (Alexander Schifrin, Parteiprobleme nach den Wahlen, Die Gesellschaft 1930, T. 2, 395-412, hier 397-398). Die NS-Bewegung sei gewalttätig, ziele aber zugleich auf die Eroberung parlamentarischer Macht. Dies erfordere eine „Ueberprüfung der Methoden des Kampfes um die Massen“, eine „Steigerung der politischen Leistung“ und „die große und ehrenvolle Kunst der Werbung um die menschlichen Seelen“ (Ebd., 401, 411). Doch auch Schifrin setzte auf eine Intensivierung der eigenen Arbeit, also auf ein Weiter so. Mitte 1931 sah er den Kulminationspunkt der NSDAP überschritten, fabulierte von der „endgültigen Liquidierung der Gegenrevolution“ (Ders., Wandlungen des Abwehrkampfes, Die Gesellschaft 1931, T. 1, 394-417, hier 416). Und noch am Jahresende 1932 sah er in einer Regierungsbeteiligung der NSDAP eine „Rehabilitierung der deutschen Demokratie“, eine unwillige Akzeptanz ihrer formalen Spielregeln (Ders., Krisenfazit und Kampfesperspektiven, Die Gesellschaft 1932, T. 2, 471-485, hier 480).

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Verfassungstag: Die Freiheit als Hauptfigur der deutschen Republik (Der wahre Jacob 48, 1927, Nr. 3, 2)

Karl Roth hätte dem wohl widersprochen. In der zweiten Folge des Comicstrips plädierte er für ein „Freiheitsopfer“, für Spenden im „Freiheitskampf“ der Sozialdemokratie. Das politische Flaggenwort „Freiheit“ war natürlich geborgt, war Teil der liberalen und republikanischen Bewegungen des Vormärzes und der Revolution 1848/49. Während des Kaiserreichs zierte es die Namen linksliberaler Parteien. Sozialdemokraten dachten jedoch nicht vorrangig an Freizügigkeit, Staatsferne und freies Marktwalten. Freiheit hieß für sie, die kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung zu durchbrechen, eine Abkehr vom Joch des Marktes und entfremdeter Arbeit. Als solches gewann der Begriff während und nach der Revolution 1918/19 neues Gewicht, nicht umsonst war „Die Freiheit“ der Titel der USPD-Parteizeitung. Das Wandervogellied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ mutierte seit 1920 zu einer SPD-Hymne. Doch „Freiheit“ stand auch auf dem Banner der aufstrebenden NSDAP. „Der Freiheitskampf“ war eine seit 1930 erscheinende Dresdener NS-Tageszeitung. Der Bruch mit Versailles bedeutete Freiheit nach außen, der Kampf gegen links und den Parlamentarismus Gestaltungsfreiheit nach innen (Carl Mierendorff, Was ist der Nationalsozialismus. Zur Topographie des Faschismus in Deutschland, Neue Blätter für den Sozialismus 2, 1931, 149-154, hier 149). „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ wurden 1927 von den Nazis umgedichtet und gesungen. Auch die moskauhörige KPD beschwor „Freiheitskämpfer“, etwa in „Auf, auf zum Kampf“, einem 1919 umgedichteten Soldatenlied, das 1930 ebenfalls zum NS-Lied mutierte. Freiheit war umkämpft, war Teil eines politischen Ringens um Deutungshoheit. Für die SPD war es aber zugleich ein Ringen um den „demokratischen Volksstaat“, um Schutzrechte und freiheitswahrende Institutionen (Carl Mierendorff, Vom Ideal zur Wirklichkeit. Die Zielsetzung der sozialistischen Jugend, Kölnische Zeitung 1930, Nr. 702 v. 24. Dezember, 5).

Die Debatte über Freiheit spiegelte die Schwierigkeit, eingespielte und schön klingende Begriffe mit Inhalt zu füllen. Carl Mierendorff, Reichsbannermann und seit September Reichstagsabgeordneter, kritisierte 1930 beispielhaft eine Parteitagsrede des damaligen Führers der Sozialistischen Arbeiterjugend Erich Ollenhauer (1901-1961), der beredt vom „Sozialismus“ tönte: „Das Bekenntnis wird zur Phrase, wenn wir nicht sagen können, welchen Inhalt wir mit diesem Begriff verbinden“ (zit. n. Jugend und SPD, Opladener Zeitung 1931, Nr., 229 v. 1. Oktober, 11). Ebenso fehle im Bekenntnis zur Demokratie eine Antwort darauf, wie die offenkundigen „Lähmungs- und Entartungserscheinungen“ (Carl Mierendorff, Überwindung des Nationalsozialismus, Sozialistische Monatshefte 37, 1931, 225-229, hier 228) des Parlamentarismus reformiert werden könnten. Auch fehle eine politische Vision, für Mierendorff etwa eine krisenmindernde europäische, vor allem aber deutsch-französische Kooperation. Seitens der SPD müsse man zugleich den Herausforderungen der NSDAP etwas entgegensetzen – eine andere Form der öffentlichen Präsenz, eine andere Form des Wahlkampfes. Mierendorff nahm 1931 daher Kontakt mit dem Mikrobiologen Sergej Tschachotin (1883-1973) auf, einem Gastwissenschaftler am Heidelberger Institut für medizinische Forschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Richard Albrecht, Sergej Tschachotin oder »Dreipfeil gegen Hakenkreuz«. Eine biographisch-historische Skizze, Exilforschung 4, 1983, 208-228, hier 216; es war nicht das damals noch nicht existierende Max-Planck-Institut, so Nietzel, 2023, 44. Zur Biographie s. Annette Vogt, Sergej Tschachotin an Albert Einstein im Dezember 1933 – ein Zeitdokument, Dahlemer Archivgespräche 12, 2006, 198-220, hier 199-206). Der aus Russland geflohene Menschewik hatte sein Denken an Zellkulturen entwickelt, es im Widerstand gegen Lenin und Stalin geschärft. Er propagierte einen recht simplen Behaviorismus, der in der Wirkungs- und Meinungsforschung dieser Zeit in vor allem in den USA fortentwickelte Stimulus-Response-Modelle mündete, sich aber von der „Reflexiologie“ seines Lehrers Ivan Petrovich Pavlov (1849-1936) deutlich abhob (Benjamin Diehl, Sergei Chakhotin against the Swastiaka: Mass Psychology and Scientific Organization in the Iron Front’s Three Arrows Campaign, Central European History, First View, 1-20 fällt insbesondere hier hinter den Forschungsstand zurück).

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Frühe Präsentation des Dreipfeils als aktivierendes Kampfzeichen (Das Reichsbanner 9, 1932, 97)

Die genaue Chronologie der Arbeiten Tschachotin ist unklar, doch sie dürften 1931 in gemeinsamen Gesprächen mit Mierendorff Form angenommen haben (zum zeitgenössischen Kontext s. Thymian Bussemer, Propaganda. Theoretisches Konzept und geschichtliche Bedeutung, Version 1, in: Docupedia-Zeitgeschichte (2013), http://docupedia.de/zg/Propaganda). Auszuschließen sind spätere Legenden, dass das neue Symbol der drei Pfeile entstand, als der Wissenschaftler Arbeiter in Heidelberg beim Durchstreichen von Hakenkreuzen beobachtet habe (Georg Maranz, Wie die Drei Pfeile entstanden, Arbeiter-Zeitung 1949, Nr. 89 v. 15. April, 5). Tschachotin legte seine Überlegungen jedenfalls in einem Aufsatz Anfang Mai 1932 näher dar, eine gemeinsam mit Mierendorff verfasste reich illustrierte Broschüre folgte Mitte Juli (Grundlagen und Formen politischer Propaganda, Magdeburg 1932). In seinem Artikel ging er von einer allgemeinen Krise der „Wahrhaftigkeit“, einer Verdrängung des Logischen durch das „Gefühlsmäßige“ aus (Sergey Tschachotin, Die Technik der politischen Propaganda, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 425-431, hier 425). Die NSDAP habe das erkannt, entsprechend werbe sie, betreibe Einschüchterung. Dem dienten nicht nur die Aufmärsche der SA, sondern vornehmlich die Allgegenwart des Hakenkreuzes im öffentlichen Raum. Die implizite Botschaft sei, dass das Dritte Reich kommen würde. Moderne Wählerwerbung könne daher nicht mehr länger auf Flugblätter mit langen Texten oder veraltete Plakate setzen. Der Kampf um den öffentlichen Raum sei entbrannt. Dazu diene die neue Symbolik der drei Pfeile. Sie zeige die Dynamik des Kampfes, erinnere an die Kampfgemeinschaft der Arbeiterschaft. Die drei Pfeile ständen für Aktivität, Disziplin und Einigkeit, forderten diese aber auch ein. Aufmärsche und Massenveranstaltungen sollten von ihnen geprägt sein, rote bepfeilte Fahnen sie stolz zeigen. Doch der Dreipfeil erlaube auch direkte Aktionen gegen die Hakenkreuzpräsenz. Das NS-Zeichen sei möglichst durchweg mit den Pfeilen durchzustreichen. Das sei positiver Abwehrwille, der zugleich Zuversicht schüre: „Das Dritte Reich kommt nicht, weil wir es nicht zulassen“ (Ebd., 427). Aufmärsche und Versammlungen würden dieses bestärken, gäbe es dort direkte Kommunikation zwischen Rednern und Masse. Eigener Kampfeswillen und Siegesgewissheit würden die Gegenseite schwächen, müssten allerdings systematisch eingesetzt und auch organisiert werden. Dazu forderte Tschachotin professionelle Personalapparate, Dokumentationspflicht, Kontrollen und regelmäßige Erfolgskontrollen. Zugleich warnte er, dass ohne eine „fortreißende neue politische Idee“ (Ebd., 430) die neuen Formen allein nicht ausreichen würden.

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Aufladung eines Symbols: Bedeutungen der drei Pfeile (Das Reichsbanner 9, 1932, 97)

Dieses Spiel mit der Massenseele, mit dem Gefühlhaushalt der eigenen Anhänger war rational, gelte es doch, so Tschachotin in einem Brief an Albert Einstein (1879-1955) vom 28. Dezember 1933, „die Arbeitermassen aus der Sackgasse zu holen und sie in Reih‘ und Glied gegen die wachsende Gefahr aufzustellen“ (Vogt, 2006, 208; vgl. Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien, Wiesbaden 2005, 323-325 und kritisch hierzu Nietzel, 2023, 45). Die Familie Roth handelte aus seiner Sicht nicht selbstbestimmt, sondern war ein quasi fremdgesteuerter Teil einer Mission überlegenen Geistes. Selbst nach der Machtzulassung der NSDAP ließ der Exilant davon nicht ab: „wir können heraus aus der Sackgasse, aus der Gefahr, aber nur mit Hilfe der Wissenschaft: wir Wissenschaftler können heute die Welt retten, das ist ja auch einer Ihrer Gedanken, das Unglück der Welt ist, dass die Wissenschaftler sich in ihre Studierstuben verkrochen haben und die Welt von Ignoranten, von Journalisten, Rechtsanwälten und Abenteurern regiert und malträtiert wird“ (Ebd., 212). Wissenschaft als Reduktion von Komplexität…

Es ist offenkundig, dass Tschachotins Überlegungen nur in Kooperation mit einem pragmatischen und vermittlungsfähigen Mitstreiter wie Mierendorff Umsetzungschancen hatten. Erst seine Weitungen und Ergänzungen machten das Konzept handhabbar, erst er bettete dies in den sozialdemokratischen Wertehimmel ein: Drei Pfeile standen für drei Gruppen der Arbeiterbewegung, nämlich Gewerkschaften, SPD sowie das Reichsbanner und die assoziierten Arbeitersportler. Drei Pfeile bekämpften drei Gegner, die NSDAP, die Reaktion und die KPD. Drei Pfeile versinnbildlichten nicht nur Aktivität, Disziplin und Einigkeit, sondern auch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, zudem Kampfesbereitschaft, Treue und Siegesgewissheit. Auch Familie Roth – Vater, Mutter, Kinder – war nämlich mehr als ein Aktionsverbund mit bedingten Reflexen.

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Kritik seitens selbständiger Werbefachleuten (Seidels Reklame 16, 1932, 304)

Selbstverständlich stieß Tschachotins mechanistisches Konzept auf teils scharfe Kritik. Werbefachleute monierten vor allem die „abwärtszeigende Richtung der Pfeile“ (Heinz L. Bachmann, Psychologische Fundamentalfehler, Seidels Reklame 16, 1932, 304), die eben keine Zuversicht vermittelten, sondern negativ wirkten, entmutigten. Dabei unterschätzten sie allerdings die praktische Seite der drei Pfeile, die risikobereite Lust am Kampf mit den Symbolen der Nationalsozialisten. Wiederholt wurde von Jugendlichen berichtet, die Hakenkreuze malten, um sie dann mit dem Dreipfeil beharken zu können (Kristian Mennen, Selbstinszenierung im öffentlichen Raum. Katholische und sozialdemokratische Repertoirediskussionen um 1930, Münster et al. 2013, 124). Linkssozialisten mokierten sich derweil an der Verwendung von „Reklametechnik“ als Wegbereiter des Sozialismus (Die Rettung Deutschlands durch Reklame, Der Funke 1932, Nr. 175 v. 28. Juli, 3). Nicht das Nachäffen kapitalistischer Manipulationstechniken sei erforderlich, sondern die zielbewusste Aktion klassenbewusster Kader.

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Eine Publikation schon im Exil (S. Tschachotin, DREIPFEIL gegen HAKENKREUZ, Kopenhagen 1933, I, IV)

Innerhalb der SPD setzte sich die neue Symbolik nur langsam, unvollständig und gegen starke Widerstände insbesondere des Partei-Vorstandes durch. Er verlangte noch Mitte 1932 die Zurücknahme der vom Reichsbanner verlegten Broschüre „Grundlagen und Formen politischer Propaganda“ (Vogt, 2006, 202). Das Symbolkampf-Konzept wurde dennoch parallel in der niederländischen Sozialdemokratie diskutiert und genutzt (Mennen, 2013, 122-124). Die Internationale Kommission zur Abwehr des Faschismus führte den Dreipfeil und den damit verbundenen Freiheitsgruß schließlich am 2. Oktober 1932 als internationales Kampfabzeichen gegen den Faschismus ein (Drei Pfeile als internationales Kampfzeichen, Lodzer Volkszeitung 1932, Nr. 276 v. 6. Oktober, 5).

Die Eiserne Front und Symbolpolitik: Proletarische Massen und neue Methoden

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Folge 3: Direkte Ansprache der Nachbarschaft (Leipziger Volksblatt 1932, Nr. 141 v. 18. Juni, 2)

Die neue Symbolpolitik erforderte vermehrten Einsatz – und Karl Roth war dazu bereit. Er überzeugte andere direkt, doch er agierte und agitierte nicht allein. Die wichtigste organisatorische Innovation der sozialdemokratischen Bewegung war die Gründung der Eisernen Front als Abwehr- und Angriffsinstitution am 16. Dezember 1931 (Sebastian Elsbach, Eiserne Front. Abwehrbündnis gegen Rechts [sic!] 1931 bis 1933, Wiesbaden 2022): „Wir werden unsere Kampfmethoden denen unserer Feinde anpassen: Auf dem Boden des gesetzlichen Rechtes, solange sie sich selbst legal betätigen, anderenfalls mit anderen Mitteln, werden wir die republikanische Verfassung, die sozialen Rechte und kulturellen Ziele der Arbeiterklasse und den europäischen Frieden verteidigen“ (Bereit zu jedem Kampfe!, Vorwärts 1931, Nr. 589 v. 17. Dezember, 1). Das war Ausdruck eines neuen Realismus, denn das 1924 gegründete Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war nicht mehr länger ein Koalitionsverband der Weimarer Parteien zum Schutz der Republik, war zudem vielerorts kein Gegengewicht mehr zu den paramilitärischen Verbänden der SA, des Stahlhelms und des Rotfrontkämpferbundes (Sebastian Elsbach, Schwarz-Rot-Gold – Das Reichsbanner im Kampf um die Weimarer Republik, Berlin 2023; Marcel Böhles, „Golden flackert die Flamme!“ Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in Baden und Württemberg 1924 bis 1933, Berlin 2024): „Eisern ist diese Zeit. Eisern sind die Weihnachten im Zeichen der Arbeitslosigkeit. Aber eisern schließt sich auch die Front der Werktätigen gegen Faschismus und Reaktion zusammen“ (Eiserne Weihnachten, Vorwärts 1931, Nr. 603 v. 25. Dezember, 1). Das schien notwendig – und war doch ein Beitrag zu einem Bürgerkrieg, der hierzulande größtenteils vergessen ist (Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1933-1933, Frankfurt a.M. 2008, 9-21). Hunderte Tote, Pistolen-, Gewehr- und Messermorde, Attentate, Hinterhalte, zertretene Körper, Milzrisse, Knochenbrüche, Blutzeugen auf allen Seiten, stolz und zugleich aufpeitschend präsentiert. Kraftstrotzend prangende Körper, Fäuste und Hämmer, ein allseits beklagter, allseits geförderter Kult toxischer Männlichkeit. Bei den vielen arbeitslosen Kämpfern waren Wunden Substitute zum langsam aus der Mode kommenden akademischen Schmiss. Karl Roth agierte und agitierte jedoch anders, zivil, redete mit Menschen in seinem Umfeld. Comics als Abbild einer Welt des solidarischen Miteinanders.

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Die Wehrhaftigkeit der deutschen Republik (Das Reichsbanner 9, 1932, 360 (l.); ebd., 49)

Gegen die Eiserne Front wetterten nicht nur Nationale, Nationalsozialisten und Kommunisten, sondern auch viele „linke“ Propagandisten einer Arbeitereinheitsfront. Das war absurd angesichts des Kurses der KPD, die eine „sozialfaschistische“ Sozialdemokratie teils strikter bekämpfte als die Nationalsozialisten, mit denen sie beim Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft kurz vor der Reichstagswahl im November 1932 gemeinsame Sache machte. Gleichwohl waberte die „geschichtsbildende Kraft des Proletariats“ noch in den Köpfen umher, etwa dem des Thälmann-Propagandisten, NS-Opfers und Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky (1889-1938). Hellsichtig fragte er aber auch: „Was will eine eiserne Front gegen dies System der Abmachungen hinter gepolsterten Türen ausrichten? Was bedeuten Massenaufmärsche gegen diese trockene Fascisierung?“ (Carl von Ossietzky, Eiserne Front, Die Weltbühne 28, 1932, T. I, 41-43, hier 43) Er vermisste, ebenso wie viele Sozialdemokraten, ein politisches Konzept. Der Gewerkschafter Walther Pahl (1903-1969) begrüßte die Neugründung der Eisernen Front zwar als Schritt ins Freie, als Weitung der Partei zur Bewegung, begrüßte insbesondere die anvisierte Gründung sog. Hammerschaften in den Betrieben. Die „innere Entfremdung zwischen Partei und großen Volkskreisen“ könne jedoch nur mit klaren Zielen aufgebrochen werden, die eben nicht allein in der „Intensivierung der Agitation“ liegen könnten. Moralische Erneuerung wurde gefordert: „Der neue Geist erfordert eine neue Führung, die von neuen Menschen ausgeübt werden soll“ (Walther Pahl, Was bedeutet die Eiserne Front?, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 228-232, hier 232 resp. zuvor 231). Pahl unterstützte zugleich Bemühungen, den ADGB aus „Parteifesseln“ zu lösen, doch trotz Kooperationsbereitschaft 1933 musste er ins Exil gehen, um zurückgekehrt ab 1935 die nationalsozialistische Politik in zahlreichen Publikationen zu verteidigen und zu propagieren.

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Massenveranstaltungen der Eisernen Front Anfang 1932: Selbstvergewisserungen eigener Stärke in den Hochburgen Hamburg und Leipzig (Das Reichsbanner 9, 2932, 28 (l.); ebd., 52)

Die Eiserne Front begann mit öffentlichkeitswirksamen Massenveranstaltungen in ihren Hochburgen. Es ging um unübersteigbare Dämme, an denen sich die nationalsozialistische Welle brechen sollte, um das Abschütteln eines weit verbreiteten lähmenden Gefühls (Die Eiserne Front, Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 41). Propagandisten sprachen gleich davon, dass sich nun „feurige Kampfentschlossenheit, ein Draufgängertum und vor allen ein Schwinden des Mißbehagen zeigte, was auch sofort eine Steigerung der Intensität der politischen Technik zur Folge hatte“ (Wilhelm Ellenbogen, Wurzeln und Geisteshaltung des internationalen Faschismus, Der Kampf 25, 1932, 193-204, hier 204). In der Tat hatte die SPD spätestens 1930 zunehmend Mikrophone und Lautsprecher eingesetzt, um Massenveranstaltungen für die Besucher nachvollziehbar zu machen. Auch die Plakate waren moderner, konzentrierter, bildhaltiger geworden (Daniela Janusch, Die plakative Propaganda der Sozialdemokratischen Partei zu den Reichstagswahlen 1928-1932, Bochum 1989). Auf den Massenveranstaltungen nahm die Zahl der Transparente und Banner zu, neben die Fahnen der Einzelorganisation und dem schwarz-rot-goldenen Banner der Republik traten erstmals auch rote Fahnen mit den drei Pfeilen (Große Linkskundgebung in Bochum. General-Anzeiger für Dortmund und das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet 1932, Nr. 44 v. 13. Februar, 2). Musikkapellen spielten auf, die Disziplin der Kolonnen nahm zu, obwohl man in den Jahren zuvor doch eher auf fröhliche Stimmung gesetzt hatte, auf augenzwinkernden Volksfestcharakter. Der Parademarschtakt des wilhelminischen Heeres war schließlich verhasst.

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Anfängliche Dominanz des Hammersymbols, nicht des Dreipfeils (Der Abend 1931, Nr. 590 v. 17. Dezember, 1 (l.); Volksstimme – Magdeburg 1932, Nr. 83 v. 8. April, 3)

Dennoch blieb die Eiserne Front (wie auch vielfach die NSDAP) anfangs eine „Versammlungsbewegung“, verkörperte weiterhin die „sprachzentrierte Tradition der deutschen Kommunikation“ (Thomas Mergel, Wahlen, Wahlkämpfe und Demokratie, in: Nadine Rossol und Benjamin Ziemann (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Bonn 2022, 198-225, hier 212). Nicht der direkte Kampf stand im Mittelpunkt, sondern Saalschutz und die Organisation von Großereignissen. Die drei Pfeile wurden kaum genutzt, stattdessen dominierte anfangs der im Reichsbanner und im gewerkschaftlichen Umfeld weit verbreitete Hammer: „Hammerschlag ist Krieg und Frieden, ist Erlösung und Gewalt. Schlagt den Hammer auf den Jammer, schlagt den Hammer auf den Jammer, daß sich ändre diese Zeit“ (Max Barthel, Lied der Hammerschaften, Das Reichsbanner 9, 1932, 63).

Das galt auch noch für die erste Runde der Reichspräsidentenwahl 1932, in der die Eiserne Front die schwierige Aufgabe bewältigte, die sozialdemokratische Wählerschaft für den autoritären Hindenburg zu mobilisieren, um Hitler zu verhindern. Hinter den Kulissen tobten derweil jedoch die üblichen Ränkespiele, denn die Mitglieder der Eisernen Front wollten ihre jeweilige organisatorische Unabhängigkeit nicht aufgeben. Auch um die Finanzen wurde gerungen, denn die Gewerkschaften lieferten die größten finanziellen Beiträge, während die Mehrzahl der Gelder als Honorare und Spesen für sozialdemokratische Redner ausgegeben wurde (Wolfram Pyta, Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989, 473-475). Die von Familie Roth betriebenen Geldsammlungen blieben davon unberührt.

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Einschüchterung des Gegners und aufmunternde Verse (Das Reichsbanner 9, 1932, 51 (l.); Volksstimme – Magdeburg 1932, Nr. 79 v. 4. April, 4)

Der relative Sieg Hindenburgs am 13. März beruhigte jedenfalls viele Bürger. Gleichwohl modifizierte die Eiserne Front ihre Wahlkampftaktik im Vorfeld des zweiten Wahlgangs. Die Demagogie der NSDAP hatte Eindruck gemacht: „Es war alles auf Schockwirkung berechnet wie bei dem ersten Masseneinsatz der Tanks im Weltkrieg“ (Der Friedensmarschall, Vossische Zeitung 1932, Nr. 125 v. 14. März, 1-2, hier 1). Die Eiserne Front setzte nun die drei Pfeile vermehrt aktiv ein, durchstrich in Hochburgen das Hakenkreuz an Häusern, Zäunen und Mauern, setzte Handzettel und Klischees gegen den NSDAP-Kandidaten ein (Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin-West und Bonn 1987, 594-595). Bei einem Kandidaten wie Hindenburg fiel es leichter, sich auf die Ablehnung von Hitler (und Thälmann) zu konzentrieren.

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„Die Eisernen drei Pfeile jagen das Hakenkreuz in die Flucht“. Motiv einer Massendemonstration der Eisernen Front für Hindenburg in Magdeburg am 4. April 1932 (Das Reichsbanner 9, 1932, 116)

Dem begrenzten, von deutlichen Stimmengewinnen Hitlers begleiteten Sieg Hindenburgs am 10. April folgte Erleichterung – und kurz danach eine schwere Niederlage in Preußen am 24. April 1932. Die sozialdemokratisch geführte Regierung von Otto Braun (1872-1955) blieb zwar geschäftsführend im Amt, doch im Parlament gab es nun eine negative Mehrheit aus NSDAP und KPD. Die wichtigste noch bestehende Machtbastion der Republik wankte, die Kontrolle über die Polizei stand in Frage. Während des Wahlkampfes hatte die SPD wahltechnisch kaum neue Akzente gesetzt: Ein späterer Bericht, wohl von Mierendorff, verwies auf Widerstand des früheren Reichsbannervorsitzenden Otto Hörsig (1874-1937): Die Symbolpolitik seit zu modern, zu gefährlich, verstoße gegen Polizeivorschriften. Sie könnte dazu führen, in der Öffentlichkeit falsch verstanden zu werden (Chakotin, 1940, 197). Hörsig besaß damals jedoch nur noch wenig Rückhalt in der Partei und wurde nach der Gründung der „Sozial-Republikanischen Partei Deutschlands“ im Juli aus der SPD und im September auch aus dem Reichsbanner ausgeschlossen. Doch auch ein Gespräch Mierendorffs mit dem zögerlich abwägenden SPD-Vorsitzenden Otto Wels (1873-1939) brachte keine Unterstützung für einen moderneren Symbolwahlkampf.

Carl Mierendorff forderte nach der Preußenwahl dennoch intensivere außerparlamentarische Aktivität. Gute Ansätze seien vorhanden, auch guter Wille – aber: „Der Kampf gegen den Nationalsozialismus ist nur zu gewinnen, wenn der sozialdemokratische Parteiapparat bis zum letzten Mann sich in seinen Methoden nicht nur scheinbar sondern tatsächlich modernisiert. Ohne Phantasie, ohne Geschlossenheit des Einsatzes ist im Ringen mit diesem Gegner keine durchschlagende Wirkung zu erzielen“ (Carl Mierendorff, Die volle Wahrheit, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 396-404, hier 401). Der systematische Einsatz neuer Wahlkampfmethoden wurde damit zur Machtfrage innerhalb der Sozialdemokratie. Die preußischen, aber auch die ebenfalls mit massiven Gewinnen der NSDAP endenden Landtagswahlen in Bayern, Württemberg, Hamburg und Anhalt hatten gezeigt, dass die Verluste gering waren, teils gar Gewinne erzielt werden konnten, wenn vor Ort ein intensiver Direktwahlkampf betrieben wurde (Walther Pahl, Die deutsche Situation nach den Länderwahlen, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 404-408, hier 406). Mierendorff setzte nun auf die Landtagswahl in seiner Heimat, dem Volksstaat Hessen. Er wurde zum ersten Test für einen modernen Wahlkampf auf Grundlage der neuen Symbole der Eisernen Front (Richard Albrecht, „Freunde – Greift ein!“ Carlo Mierendorff (1897-1943), Zeitgeschichte 51, 1992, 51-59, hier 55).

Hessen als Durchbruch?! Eine neue Kommunikationsstrategie für die Reichstagswahl im Juli 1932

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Folge 4: Solidarität der Facharbeiter (Volkswille 1932, Nr. 146 v. 24. Juni, 9)

Karl Roth wusste von diesem allen nichts, doch ihm war klar, dass die Nationalsozialisten nur durch die Solidarität seiner Mitbürger, seiner Kollegen zu bezwingen waren. Dafür sollte er bald Geld sammeln, treppauf – treppab, um die neue Maschinerie der Gegenwehr, des Angriffs in Gang zu setzen. Die Ereignisse im Volksstaat Hessen sollten ihn hoffnungsfroh stimmen.

Die schon erwähnten Wahlen erfolgten unter gänzlich anderen Vorzeichen als in anderen deutschen Ländern. Schon im November 1931 hatte es eine reguläre Wahl gegeben, die mit einem Erdrutschsieg der NSDAP und beträchtlichen Stimmengewinnen der KPD endete. Die sozialdemokratisch geführte Regierung von Bernhard Adelung (1876-1943) blieb trotz der negativen Mehrheit der Oppositionsparteien im Amt. Der Volksstaat war Rechtsnachfolger des 1918 aufgelösten Großherzogtums Hessens. Das Staatsgebiet deckte sich nicht mit dem des heutigen Bundeslandes Hessen, sondern bündelte Teile Süd-, Mittel- und Rheinhessens, bis 1930 teils französisch besetzt. Große Teile des heutigen Bundeslandes, inklusive der Metropole Frankfurt a.M., waren damals Teil der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Der Volksstaat war der einzige ununterbrochen von einer Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP regierte Freistaat. Die Landtagswahl 1931 musste aufgrund eines Formfehlers jedoch wiederholt werden. Der NSDAP und den Deutschnationalen fehlte nur ein Sitz, um die Regierungsgewalt zu übernehmen (Zur Hessenwahl, Bergsträßer Anzeigeblatt 1932, Nr. 140 v. 18. Juni, 1). Angesichts der Wahlerfolge in den Monaten zuvor schien dies ein Selbstläufer zu sein. Die Wahl am 19. Juni 1932 wurde dann von der Demission des Kabinetts Brüning am 30. Mai überschattet – und natürlich auch von der Ernennung des neuen Kabinetts von Papen am folgenden Tage. Landesthemen spielten im Wahlkampf kaum eine Rolle (Die Hessen-Wahlen, Neueste Zeitung 1932, Nr. 141 v. 18. Juni, 1). Da die Beschäftigungs- und Konfessionsstruktur des Volksstaates in etwa dem Reichsdurchschnitt entsprach, wies die Landtagswahl weit über Hessen hinaus.

Die Berliner Parteizentrale ließ den hessischen Genossen freie Hand. Und diese griffen bei der nach dem Schiedsspruch des Staatsgerichtshofes am 9. Mai verordneten Neuwahl auf die Methoden zurück, die während des zweiten Reichspräsidentenwahl zaghaft, aber durchaus erfolgreich angewandt worden waren. Heidelberg, Tschachotins Wohnort, war damals ein Experimentierfeld gewesen (Chakotin, 1940). Der folgende Bericht hebt – gewiss nicht ohne Übertreibung – die wichtigsten Neuerungen hervor: „Die Eiserne Front hat mit äußerster Entschlossenheit den Kampf gegen die Hitlerei aufgenommen. In der richtigen Erkenntnis, daß erst einmal die Bevölkerung von dem Gefühl der Ueberlegenheit der Nazis befreit werden muß, hat sie eine planmäßige Symbolpropaganda organisiert. Dem Hakenkreuz setzt sie das Symbol der drei Pfeile entgegen. Wo nur ein Hakenkreuz zu sehen war, wurde es mit drei Pfeilen durchstrichen. Innerhalb kurzer Zeit gab es im ganzen Lande kein freies Hakenkreuz mehr, dafür aber zeugten allenthalben an Chausseebäumen, Hauswänden, Zäunen die drei Pfeile von der Aktivität, Disziplin und Einigkeit der Eisernen Front. Eine Welle des Selbstvertrauens durchflutet die Republikaner des Landes. Männer, Frauen und Kinder tragen mit Stolz die Nadel mit den drei Pfeilen. Innerhalb einer Woche sind nicht weniger als 30.000 dieser symbolischen Zeichen umgesetzt worden, und noch immer herrscht stürmische Nachfrage nach ihnen. Dieses Vertrauen in die eigne Kraft äußert sich auch in der Form des Grußes. Wo immer sich Menschen treffen, die das Symbol der eisernen Pfeile führen, wechseln sie mit emporgestreckten Fäusten den Gruß ‚Freiheit‘ und bekennen sich so offen zur Armee der Kämpfer für die Freiheit des Landes“ (K. Wiegner, Mit Höltermann im Hessenwahlkampf, Das Reichsbanner 9, 1932, 194). In den nicht allzu zahlreichen größeren Städten fanden Umzüge und Massenveranstaltungen statt, so etwa in Darmstadt: Die Passanten „waren nicht nur passive Zuschauer, sondern sie streckten den Marschierenden die emporgereckten Fäuste mit dem Gruß ‚Freiheit‘ entgegen, der in dem Zuge tausendfachen Widerhall fand. Die am Monument des ‚Langen Ludwig‘ versammelten Störungsgruppen der Nazis fühlten: Die Hitlerpsychose ist zu Ende. Ihr Versuch, die Spitzengruppe mit dem Bundesführer anzugreifen nahm ein klägliches Ende“ (Ebd.). Familie Roth stand just für diese Art des Wahlkampfes, schon vor dem hessischen Wahltag sollten ihre Bildgeschichten reichsweit erscheinen.

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Präsenz im hessischen Wahlkampf: „Eiserne Tafeln“ werben für die SPD (Neueste Zeitung 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1)

Abseits derartiger Binnensicht schilderten Journalisten nuancenreicher: „Der Wahlkampf ist in den letzten Tagen immer mehr zu einem Kampf der Symbole geworden. Die beachtliche Initiative, die die Eiserne Front entfaltete, gibt dem Gesicht der Städte und Dörfer in starkem Maße das Gepräge. Ueberall wehen die roten Fahnen mit den drei weißen Pfeilen, das neue Symbol der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Ueberhaupt dominiert Rot, sei es das Rot des Hakenkreuzbanners, sei es das Rot der Sowjetfahne. Während in den großen hessischen Arbeiterwohnsitzgemeinden in der Umgebung der Großstädte Frankfurt, Offenbach, Darmstadt, Mainz die Fahne der Sozialdemokratie bei weitem stärker in Erscheinung treten als die Hakenkreuzbanner, werden die kleinen ländlichen vorwiegend aus Bauernbevölkerung bestehenden Gemeinden mehr von der nationalsozialistischen Parteiflagge beherrscht. Hier und da weht auch von einem kleinen Bauernhaus die schwarze Landvolkfahne mit dem Hakenkreuz auf weißen Grund. In diesem Flaggenkrieg treten die schwarz-rot-goldenen Farben des Reiches und die schwarz-weiß-roten Farben bürgerlich-konservativer Haltung stark in den Hintergrund“ (Fahrt durch das hessische Land, Frankfurter Zeitung 1932, Nr. 454 v. 20. Juni, 1-2). Resümierend glaubte man zu beobachten, „daß die Massenpsychose der Hitlerei mancherorts hier schon an Wirkung wieder eingebüßt hat“ (Die hessischen Landtagswähler, Frankfurter Zeitung 1932, Nr. 455/456 v. 21. Juni, 2).

Das engagierte und neuartige Auftreten der Anhänger der Eisernen Front machte Eindruck selbst beim politischen Gegner. Joseph Goebbels (1897-1945) berichtete: „In Lauterbach ist der ganze Marktplatz überfüllt. Ein paar rote Schreier haben sich im Hintergrunde der Demonstration aufgestellte und brüllen den ganzen Eindruck weg. Unsere dortige Ortsgruppe ist von einer bemerkenswerten Schlappheit. […] In Langen endet die Versammlung mit einer Prügelei. […] Bei der Durchfahrt durch Meerfelden wird unser Wagen von einem Steinbomdardement zugedeckt. In Groß-Gerau gab es eine wunderbare Versammlung. Auf der Rückfahrt durchqueren wir 20 Minuten lang rote Demonstrationszüge. Zwar schreien alle ‚Nieder!‘ aber keiner erkennt uns. Vielleicht ist das unser Glück“ (Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, München 1934, 113).

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Parallel zum Erscheinen von Familie Roth: Anleitung zum Wahlkampf (Das Reichsbanner 9, 1932, 232)

Wahlkämpfe zu führen ist etwas anderes als Wahlergebnisse zu nutzen. Entsprechend war Carl Mierendorff nicht nur rastlos vor Ort tätig, sondern beschrieb in mehreren Artikeln einerseits den Wahlkampf selbst, versuchte aber anderseits diese, seine Prinzipien nun auch innerhalb der gesamten SPD zu verankern: Man müsse heran an die Mehrzahl der Wähler, die politisch Inaktiven, die mit den gängigen Hilfsmitteln nicht erreicht würden. Man müsse daher Symbol, Ruf und Gruß der Nationalsozialisten, also das Hakenkreuz, „Heil Hitler“ resp. „Deutschland erwache“ und den römischen Gruß in ihrer Wirkung begrenzen. „Mit Freiheits-Ruf, Freiheits-Gruß und dem Freiheits-Zeichen der Eisernen Front sind wir zum Angriff übergegangen.“ Diese neuen Symbole müssten allerdings überall angebracht, von allen Mitkämpfern ständig getragen und auch Ruf und Gruß bei jeder Gelegenheit genutzt werden: „Das Geheimnis des Erfolges in der modernen Propaganda besteht in der ständigen Wiederholung. Unsere Kampfeslosung ‚Freiheit!‘ muß den Massen deshalb ständig eingehämmert werden! Unser Symbol ihnen ständig vor Augen geführt werden!“ Das sei möglich, wenn die SPD ihre überlegene Massenorganisation geschlossen einsetze. Daneben sollten wuchtige „Kundgebungen unter freiem Himmel“ durchgeführt werden, just um Indifferente zu gewinnen. All dies sei keine Kopie der NS-Propaganda, denn diese stehe in den Fußstapfen der Sozialdemokratie, habe deren rote Fahne, deren rote Nelke, deren rote Krawatten, deren Bebel-Bärte und deren einheitliche Kleidung abgekupfert. Die neuen Methoden knüpften daran an, seien jedoch Resultate moderner Wissenschaft (Carl Mierendorff, Die neuen Waffen. Die Bedeutung der neuen Propaganda im Wahlkampf, Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 165 v. 16. Juli, 9; analog Volkswacht – Bielefeld 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 4 und viele andere Druckorte).

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Hoffen auf neue Propagandaformen: Berichte über den Hessen-Wahlkampf (Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 139 v. 16. Juni, 3)

Unmittelbar nach der Wahl meldete Mierendorff auf der Titelseite der Parteizeitung „Vorwärts“ „Symbolpropaganda und Außenpropaganda“ hätten den Unterschied gemacht. „Planmäßige Massenorganisation hat ihre Ueberlegenheit über wilden, faschistischen Massenwahnsinn erwiesen. Wir sind stolz, daß wir der Partei im Reich diesen guten Auftakt zur Reichstagswahl liefern konnten!“ (Carl Mierendorff, Die gute Hessenwahl. Der Bann ist gebrochen, Vorwärts 1932, Nr. 287 v. 21. Juni, 1-2, hier 1, 2). Es folgte ein berichtender und reflektierenden Aufsatz im Theorieorgan „Sozialistische Monatshefte“: „Erkenntnisse der psychologischen Wissenschaft liegen dieser neuen Propagandamethode zugrunde, exakte Berechnungen, die mit erstaunlicher Promptheit bei der praktischen Erprobung bestätigt wurden“ (Carl Mierendorff, Die Rettung Deutschlands, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 575-581, hier 577). Man könne wieder stolz sein, links und frei zu sein. Ein ähnlicher Erfolg sei auch bei der nach der Auflösung des Reichstages am 4. Juni auf den 31. Juli festgesetzten Reichstagswahlen möglich: „Jedoch wird dies nur gelingen, wenn man mit der selben Exaktheit und organisatorischen Präzision wie in Hessen zu Werk geht, wo das Geheimnis des Erfolgs darin bestand, daß die Durchführung der neuen Propagandamethode unter ständiger scharfer Kontrolle und im Rahmen einer bis zum letzten Propagandaleiter und Propagandastoßtrupp sorgfältig durchgeführten Organisation erfolgt ist, damit der einmal angekurbelte Motor während der Zeit des Wahlkampfes ständig auf der höchsten Tourenzahl blieb“ (Ebd., 577-578).

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Abwehrerfolg der geschäftsführenden SPD-Regierung (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 144 v. 22. Juni, 10 (l.); Neueste Zeitung 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1)

Das Wahlergebnis war nicht ganz so glorios, doch es stimmte Sozialdemokraten hoffnungsfroh, nötigte auch Vertretern anderer Parteien Respekt ab (Die SPD. gewinnt bei den Landtagswahlen in Hessen, Volkswille – Münster 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1; Die Hessen-Wahlen, Neueste Zeitung 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1). Die NSDAP gewann deutlich hinzu, gewann Mandate ihrer Bündnispartner, blieb jedoch unter dem Ergebnis der zweiten Runde der Reichspräsidentenwahlen. Die Sozialdemokraten gewannen Stimmen und Mandate – just dort, wo sie am intensivsten Wahlkampf betrieben hatten. Am Ende stand neuerlich eine negative Mehrheit der Demokratiefeinde, doch die sozialdemokratisch geführte Regierung konnte im Amt bleiben. Sozialdemokratien sahen die „Hochwelle der nationalsozialistischen Flut“ im Abklingen, Nationalsozialisten ihre Partei „weiter im Vormarsch“ (Herner Anzeiger 1932, Nr. 141 v. 20. Juni, 1; Ohligser Anzeiger 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1). Unklar blieb, ob das Ergebnis wirklich auf „die neuen Waffen“ der Eisernen Front zurückzuführen war, denn auch die neue Oppositionsrolle im Reich und die Schwäche der hessischen Kommunisten schlugen durch (Keine Klärung, Gießener Anzeiger 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, Frühausg., 1). Parteiintern blieb die „irrationalistische Propaganda“ zudem umstritten, denn dadurch würde die Eiserne Front „zur Vergiftung der politischen Kultur“ beitragen (Stefan Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918-1945, Bonn 2006, 326-328). Doch schon am 14. Juni hatte der Parteivorstand die SPD zur Führung des Symbolkampfes verpflichtet (Pyta, 1989, 479). Und Familie Roth begann nun offiziell ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Familie Roth: Mobilisierung für den Freiheitskampf

Der sozialdemokratische Comicstrip über die Familie Roth, von dem wir bereits vier Motive gesehen haben, bestand aus insgesamt fünfzehn Folgen. Er wurde allein in sozialdemokratischen Tageszeitungen veröffentlicht, nicht aber in der beträchtlichen Zahl von Gewerkschaftszeitungen. Neunzehn Titel wurden von mir durchgesehen, in sechzehn erschien die Geschichte der Familie Roth. Drei nicht ganz unwichtige Zeitungen setzten sie nicht ein, die Dresdner Volkszeitung, die Magdeburger Volksstimme und der Vorwärts. Angesichts der 1931 insgesamt 196 sozialdemokratischen Tageszeitungen (davon 71 Kopfblätter) sind die Ergebnisse tendenziell verlässlich (Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1931, Berlin s.a. [1932], 185). Das gilt zumal angesichts der nur in wenigen Ländern zufriedenstellenden Digitalisierung und der – mit Ausnahme des Vorwärts – desaströsen Digitalisierungsarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die Veröffentlichung begann am 16. Juni 1932, setzte bei einigen Zeitungen aber auch erst in den folgenden Tagen ein, bei der Volkswacht für Schlesien erst am 29. Juni. Am 16. Juni wurde das SA- und SS-Verbot aufgehoben, doch das eigentliche Startzeichen der Serie war wohl die Entscheidung des SPD-Vorstandes für einen neuartigen Symbolkampf zwei Tage zuvor. Die Serie endete zumeist am 2. Juli, teils einige Tage später, im Falle der Volkswacht für Schlesien erst am 19. Juli. Derartig stetige Taktung erreichte spätere NS-Propaganda zumeist nicht, denn Serien wie Familie Pfundig, Herr und Frau Spießer oder Herr Bramsig und Frau Knöterich erschienen in von Zeitung zu Zeitung recht unterschiedlichen Zeitspannen. Ähnliche, man kann fast sagen, NS-typische Friktionen gab es bei späteren Comic-Kampagnen für Anzeigenwerbungen oder aber Zeitungsabonnements (Herr Hase-Kampagnen). Der Comicstrip der Familie erschien Tag für Tag, entsprach damit den gängigen Fortsetzungsromanen, auch den damals in sozialdemokratischen Zeitungen schon üblichen humoristischen Bildgeschichten. Als politischer Comicstrip aber bildete Familie Roth eine Innovation, war ein neuer Pfeil im Agitationsarsenal.

Familie Roth unterstützte den Wahlkampf der Eisernen Front. Die Serie diente der Mobilisierung der eigenen Mitglieder, zeigte auf, wie man gegen den Nationalsozialismus im kleinen Alltag tätig sein konnte. Familie Roth gab ein Beispiel, ihr Schwung und ihre Begeisterung sollten mitreißen. Der Comicstrip war Teil des neuen Symbolkampfes, für den die Familie Opfer, Freiheitsopfer brachte. Der Erscheinungszeitraum mehr als einen Monat vor der Reichstagswahl am 31. Juli war gut begründet, denn es galt erst einmal die eigene Wahlkampfkasse zu füllen, um die eigenen Möglichkeiten dann genauer abschätzen zu können. Doch es ging nicht nur und nicht vorrangig um Geldsammlung. Die Serie zielte auf eine Aktivierung der Mitglieder in einem neuartigen Wahlkampf, der nicht mehr allein aus Parteiversammlungen und dem Kleben von Plakaten bestand. Der in Hessen offenbar erfolgreiche Symbolkampf erforderte aktions-, ja kampfbereite Sozialdemokraten. Nicht proletarischer Heroismus war gefordert, sondern ein stetes, zielbewusstes Handeln. Mehr war immer möglich, doch es ging eben nicht um spektakulärere Abenteuer der Familie Roth, um einen gewitzten, streichartigen, gar mutigen Kampf mit Nazis und Reaktion. Jeder konnte nachahmen, jeder konnte etwas beitragen. Das war Teil einer erwartbaren Solidarität angesichts der Herausforderungen durch die NS-Bewegung und ihre nationalistisch-konservativen Bündnispartner.

Eine präzisere Einordnung des Comicstrips scheitert an einer praktisch nicht vorhandenen Resonanz. Die Serie wurde nicht gesondert eingeleitet, im Sozialdemokratischem Pressedienst (Pressedienste (fes.de)) findet sich auf sie kein Hinweis. Verweise oder Kommentare konnte ich ebenfalls nicht finden; entsprechend breit musste die Kontextualisierung sein, denn nur dadurch wurde die Bedeutung der Serie im Rahmen der sozialdemokratischen Wahlkampfplanung deutlich. Doch nun zu den weiteren Folgen:

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Folge 5: Sonderopfer der Arbeitslosen (Wittener Volkswacht 1932, Nr. 147 v. 25. Juni, 15)

Die fünfte Folge zeigt uns weiterhin Karl Roth beim Sammeln im eigenen Umfeld. Wichtig ist hieran dreierlei. Erstens wurde die Arbeitslosigkeit am Beispiel des Bauproleten „Heinz Mauerfest“ thematisiert. 1932 waren im Deutschen Reich durchschnittlich ca. 5,6 Millionen Menschen arbeitslos, fast ein Drittel der Beschäftigten. Die Dunkelziffer lag gewiss noch höher, denn eine wachsende Zahl von Arbeitslosen erhielt keine Leistungen resp. wurde nicht mehr erfasst. Im Baugewerbe lag die Arbeitslosenquote im Winter 1931/32 gar bei ca. 90 Prozent. Zweitens verzweifelte Heinz nicht, sondern blieb auch in der Not solidarisch mit seiner Klasse, gab etwas für seine Partei. Das war sicher auch ein Wink auf mögliche Abirrungen hin zur eigentlichen Arbeitslosenpartei, der KPD. Drittens spiegelte sich im Bild der Symbolkampf: Der Freiheitsgruß wurde gesprochen, die Geste der erhobenen und geballten Faust doppelte ihn. Es handelte sich dabei nicht um eine flüchtige Geste, sondern um ein Versprechen: Die Eiserne Front werde für bessere Verhältnisse kämpfen, werde Lohn und Brot politisch und wirtschaftlich sicherstellen. Heinz Mauerfest mochte arm sein, doch er war selbstbewusst, bewahrte seine Würde auch in der Not.

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Folge 6: Erweiterung der sozialen Basis: Der alte Mittelstand (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 148 v. 27. Juni, 6)

Karl Roth ließ sich bei seiner Sammeltour nicht von vielfach imaginären Klassengrenzen einhegen. Der noch solvente „Kaufmann Hürtig“ um die Ecke wurde ebenfalls angesprochen – und er gab sein Freiheitsopfer, war er doch vom Gedeihen und Einkommen seiner Kunden abhängig. Dies war außergewöhnlich, denn die Mehrzahl der selbstständigen Einzelhändler dürfte zu dieser Zeit „national“ oder NSDAP gewählt haben. Doch die neue Symbolpolitik stand eben nicht nur für die Behauptung des sozialdemokratischen Milieus, sondern zielte auf die Erweiterung der eigenen Wählerbasis.

Diese Folge lädt aber auch ein, den Begriff des von Karl Roth immer wieder erbetenen „Freiheitsopfers“ zu klären. Der Begriff hatte eine lang zurückreichende bürgerliche Tradition, handelte es sich doch um eine Ehrengabe, „eine Aufopferung, für die Freiheit gemacht“ (Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache, T. 2, Braunschweig 1808, 160). Das war im 19. Jahrhundert weniger Geld, denn Leib und Leben. Die Märzgefallenen der Revolution von 1848 in Wien und Berlin waren „Freiheitsopfer“, für die gesammelt wurde. Ähnliches galt um die Jahrhundertwende aber auch für Auslandsdeutsche angesichts der Verteidigung ihres Deutschtums. Freiheitsopfer war ein selten verwandtes Wort, emotional besetzt, an weniger Betroffene, an Beisteuernde gerichtet. Während des „Ruhrkampfes“ 1923 zahlten etwa Mitglieder des Gewerkschaftsbundes der Angestellten ein „Freiheitsopfer“ für die von den „Franzosen“ geschädigten Kollegen (Grazer Volksblatt 1923, Nr. 22 v. 24. Januar, 2). Dieses Beispiel machte zeitweilig Schule, initiierte Sammlungen im gesamten deutschen Sprachraum (Murtaler Zeitung 1923, Nr. 5 v. 3. Februar, 5; Vorarlberger Tagblatt 1923, Nr. 74 v. 31. März, 4). Die Weite und Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffes erlaubte, ja forderte zunehmend unbestimmte „Freiheitsopfer“ im Dienst von Vaterland, Volkstum und Allgemeinheit. Ein „Freiheitsopfer“ passte semantisch in die Tschachotinsche Symbolwelt, doch die Wahl des Begriffes unterstrich auch, dass man sich elementare Worte nicht einfach nehmen lassen wollte. Wenn Nationalsozialisten und Kommunisten von ihren Freiheitskämpfe(r)n, ihren Freiheitsopfern redeten, so sah ein Sozialdemokrat darin eine ideologische Pervertierung.

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Ein Freiheitsopfer im Zeichen der drei Pfeile (Neueste Nachrichten 1932, Nr. 137 v. 14. Juni, 2)

Zugleich aber spiegelte das „Freiheitsopfer“ eine Organisationsleistung, die erforderlich war, um einen aufwändigen Wahlkampf durchzufechten. Schon am 14. Juni, also vor dem Start des Comicstrips, wurden die Prinzipien präsentiert und begründet: Jedes SPD-Mitglied, auch jeder Sympathisant sollte geben, von ersten wurde dies erwartet.

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Freiheitsopfer auch für Gewerkschafter (Der Proletarier 41, 1932, 154 (l.); Metallarbeiter-Zeitung 50, 1932, 154; Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 192 (r.)).

Das „Opfer“ war sozial gestaffelt, konnte auch über den üblichen 15 oder 50 Pfennigen (dem monatlichen SPD-Mitgliedsbeitrag) liegen. Das „Freiheitsopfer“ war Teil des Dreipfeil-Designs, der Geber erhielt nicht nur eine Marke, sondern auch eine „Eiserne Quittung“ (Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 163 v. 14. Juli, 6). Sammler hatten die Erträge an die lokalen Schatzmeister der SPD abzugeben. Das Freiheitsopfer war „Munition“ für den Wahlkampf, war Ausdruck der Tugend des Kämpfers. Die SPD folgte damit anderen Parteien, warnte entsprechend etwa vor dem Kauf der „Antifaschisten-Marke“, deren Erlös der KPD zukam (Vorsicht! Kauft nur Freiheitsopfer-Marken, Volksblatt – Solingen 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 3).

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Folge 7: Erweiterung der sozialen Basis: Der neue Mittelstand (Volksblatt – Oldenburg 1932, Nr. 145 v. 23. Juni, 9)

Karl Roth setzte seine Sammlung stetig fort, traf mit dem Vertreter „Paul Niezuhause“ einen Repräsentanten des neuen Mittelstandes, der innerhalb der SPD zunehmend an Gewicht gewann. Dieser opferte, bestätigte dabei auch allen Lesern, dass es bei dieser Wahl um Wohl und Wehe gehe. Die Serie sprach eben auch alle Geber an.

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Folge 8: Aktivierung der von der Notverordnungspolitik betroffenen Rentner (Volksblatt – Solingen 1932, Nr. 157 v. 7. Juli, 9)

Doch Karl Roth war noch nicht am Ende seiner Sammeltour. Sie galt auch den Alten, den zahlenmäßig noch nicht prägenden Rentnern. Damals lag das Renteneintrittsalter bereits bei 65 Jahren, doch die durchschnittliche Lebenserwartung lediglich bei 59 Jahren für Männer und 61 Jahren für Frauen. Das Ehepaar „Riemeneng“ opferte trotz einer kleinen Rente und zeigte mit dem Freiheitsgruß, dass Betagtheit Lernen in und von der Gemeinschaft keineswegs ausschloss.

Erlaubt sei hier noch ein Hinweis auf „Comicstrips“ und ihre Geschichte. Der Comictheoretiker Scott McCloud definierte in einem wunderbaren Standardwerk einst Comics breit als „Juxtaposted pictoral and other images in deliberate sequence, intended to convey information and/or to produce an aesthetic response in the viewer“ [zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen] (Understanding Comics. The invisible Art, New York 1994, 9). Der Doyen der deutschen Comicforschung Eckart Sackmann fasste dies enger als „eine Erzählung in wenigstens zwei stehenden Bildern“ (Eckart Sackmann, Comic. Kommentierte Definition, Deutsche Comicforschung 6, 2010, 6-9, hier 6). Ein Comic ist demnach Literatur und mehr als eine Bildsequenz, denn die Bilder tragen die Handlung. „Comicstrip“ ist noch enger gefasst, denn dieser Begriff erfordert eine aus Comics bestehende Fortsetzungsgeschichte.

„Comics“ sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Teil der Alltagskultur, die Münchener Bilderbögen adressierten bereits für ein Massenpublikum – keineswegs allein von Kindern. Die heute gängigen Sprechblasen gehören nicht zwingend zum Comic. Gesonderte Reime dominierten bis in die 1920er Jahre als Sprechblasen üblicher wurden (vgl. Eckart Sackmann, Comics sind nicht nur komisch. Zur Benennung und Definition, Deutsche Comicforschung 4, 2008, 7-16; Eckart Sackmann und Harald Kiehn, Der Sprechblasencomic im Widerstreit der Kulturen, Deutsche Comicforschung 6, 2010, 22-25 und Eckart Sackmann, dass., ebd. 7, 2011, 43-48). Familie Roth war ein politischer Comicstrip – und hob sich damit von den zahlreichen Einzelcomics in sozialdemokratischen Karikaturzeitschriften oder aber den zahlreichen Unterhaltungsbeilagen der Parteipresse ab. Näheres zum Zeichner resp. Texter des Familie Roth Comicstrips ist leider nicht bekannt (vgl. allgemeiner Michael F. Scholz, »Comics« in der deutschen Zeitungsforschung vor 1945, Deutsche Comicforschung 11, 2015, 59-84; Eckart Sackmann, »>Comics< sind als >undeutsch< verpönt.« Die Nazi-Jahre, ebd. 15, 2019, 56-93).

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Folge 9: Verliebt ins Gelingen oder Lob des eigenen Einsatzes (Lübecker Volksbote 1932, Nr. 148 v. 26. Juni, 9)

Mit der neunten Folge endete Karl Roths Sammlung stilgerecht in der Stehbierhalle. Man musste sich auch selbst was gönnen; nach der Arbeit, nach der Pflicht. Die wandernden Münzen gaben nochmals Erwartungshaltungen an die Leser kund.

Der Plausch von Karl mit Arthur erlaubt einen tieferen Blick in das sozialdemokratische Milieu. Im politischen Umfeld hatten es Comics, zumal politische, schwer. In der bereits 1879 gegründeten Karikaturzeitschrift „Der wahre Jacob“ gab es sie, doch es handelte sich um lustige Bildfolgen ohne Sprechblasen, häufig ohne Worte. Anders als bei Einzelkarikaturen und Kontrastbildern fehlte eine dezidiert politische Zuspitzung. Auch in den sozialdemokratischen Tageszeitungen dominierten Einzelkarikaturen. Das war auf Seiten der NSDAP deutlich anders: Im „Illustrierten Beobachter“ finden sich schon 1931 zahllose Viererbilder, die aggressiv die nationalsozialistischen Anliegen versinnbildlichen.

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Nationalsozialistische Comic-Adaption sozialdemokratischer Sammeltätigkeit (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1131)

Dennoch war auch Familie Roth visuell eingerahmt. Zeitgleich erschienen in vielen sozialdemokratischen Zeitungen die humoristischen Bildgeschichten des niederländischen Zeichners Gerrit Theodoor Rotman (1893-1944). Bild und Text waren darin strikt voneinander getrennt und die jeweiligen Zeichnungen einzeln durchnummeriert. Seit 1924 zeichnete er für die sozialdemokratische Tageszeitung Voorwaarts, 1928 erschien eine deutschsprachige „Prinzessin Sternmire“ in erster Auflage, erlebte 1934 eine zweite. 1932 erschien parallel zu Familie Roth „Der Esel des Herrn Pimpelmann“, ein Kinderroman in Fortsetzungen, ebenso „Die Geschichte der Spitzmaus und der Zitternase“ resp. „Neue Abenteuer der Spitzmaus und der Zitternase“; Kindergeschichten, die auch Erwachsenen ein Lächeln in ernster Zeit ermöglichten, die aber als unpolitisch galten, so dass „Neue Abenteuer des Herrn Pimpelmann“ 1937 in NS-Zeitungen erscheinen konnte.

Es gab gewiss auch politisch aufgeladene Bildgeschichten abseits der Tageszeitungen, etwa den 1929 in „Der Bücherkreis“ erschienenen Bilderroman von Adolf Uzarski über Rassendiskriminierung und die Kolonialpolitik der Großmächte (Haltmut Kronthaler, Adolf Uzarski: »Eine nachdenkliche Geschichte in 48 Bilder«, Deutsche Comicforschung 17, 2021, 44-53). Die Sozialdemokraten, die in ihrer Bildung formal durchaus konservativ waren, nutzten Comics auch im Vergleich zur KPD und den Gewerkschaften aber erst relativ spät (Gerd Lettkemann, Kindercomics und Klassenkampf – die AIZ, Deutsche Comicforschung 2, 2006, 68-71; Eckart Sackmann, »Der kleine Genossenschafter«, Deutsche Comicforschung 4, 2008, 62-74). Das unterstreicht die Bedeutung von Familie Roth – und die Bedrohungslage 1932.

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Folge 10: Frauenengagement im Konsum (Volksfreund 1932, Nr. 152 v. 2. Juli, 6)

Endlich, in der zehnten Folge, trat auch Frau Roth ins Rampenlicht der Serie. Sie wurde im Konsumverein gezeigt, einer bis heute weit unterschätzen Säule der Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen und der katholischen. 1932 versorgte sie 2,9 bzw. 760.000 Mitglieder, genauer Familien, also ca. weit über zehn Millionen Menschen. Bis heute zu wenig für die Friedrich-Ebert-Stiftung, um sich ihr irgendwie zu widmen. Die Konsumgenossenschaften wurden von Männern geleitet, doch im gängigen Patriarchalismus gab es eine recht quirlige Binnenkultur der Frauen. Frau Roth nutzte sie, sprach mit anderen Hausfrauen, machte ihnen die Bedeutung der Wahlen klar, verkaufte Freiheitsmarken. Die Konsumgenossenschaften boten Gestaltungsräume, auch wenn ihre Leitungsgremien in der sie spät treffenden Weltwirtschaftskrise nicht mehr zu einer adäquaten Kommunikation mit ihren Mitgliedern fanden, zumal solchen wie Frau Roth (Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags, Stuttgart 1995, 150-189, hier 184-188).

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Folge 11: Frauensolidarität in der Nachbarschaft (Volkswacht – Essen 1932, Nr. 160 v. 11. Juli, 3)

Doch wozu auf die Männer warten? Frau Roth wies den Weg, zielte voller Optimismus auf den „Aufbau dieser Erde“, auf den demokratischen Sozialismus als Ziel. Klar, dass zuvor Opfer gebracht werden mussten, Freiheitsopfer. Nun trat auch der Dreipfeil ins Gesichtsfeld.

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Folge 12: Wahlkampf als Thema der Jugend (Volkswacht – Bielefeld 1932, Nr. 157 v. 7. Juli, 12)

Die Kinder der Familie Roth waren noch eingehegt in Freundeskreis, Nachbarschaft, Milieu. Doch Franz, das älteste, wusste schon, dass abseits des Konsums auch Investitionen nötig waren, wollte man seinen Lebenszuschnitt nicht verlieren. Mit kleinem Opfer ging er voran, zog seine Freunde mit.

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Folge 13: Weitung der sozialen Basis: Eisenbahnbeamte als Beispiel (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 164 v. 15. Juli, 8)

Beamte fehlten bisher im Zielpublikum der Agitation; obwohl sie in den frühen Spendenaufrufen ausdrücklich genannt worden waren. Dabei dachte man natürlich nicht an die Ministerialbürokratie, an die hohen Herren. Doch die unteren und mittleren Beamten bei Reichsbahn, Reichspost, in Kommunalverwaltungen engagierten sich auch in der SPD, gaben der Eisernen Front „Pulver“. Sie wussten um ihren Beitrag, trotz Sonderopfern und Lohnabbau: „Im Wahlkampf wird mit ‚Pulver geschossen! / Und die Gegner frohlocken heimlich schon: ‚Den ausgepowerten Roten Genossen / Fehlt’s ja an ‚Munition‘!‘ […] Das Freiheitsopfer – unsere Parole! / Das Freiheitsopfer – unsere Tat! / Wir kämpfen fürs Volk, nicht dem Geldsack zum Wohle! / Wir üben um keinen Geldsack Verrat! / Hier steht das Recht – dort der Kassenschrank… / Ihr Gold ist schmutzig – unser Groschen ist blank! / Wir müssen hart und heiß um ihn fronen / Und setzen ihn trotzig gegen Millionen! / Der Freiheit ein Opfer, Kameraden, Genossen! / Im Wahlkampf wird mit ‚Pulver‘ geschossen…“ („Pulver!“, Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 144 v. 22. Juni, 9).

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Folge 14: Anbindung des Bürgertums (Volksstimme – Hagen 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 3)

Das klang trotzig, doch auch ein wenig nach Delegation der Tat an andere, an die Aktivisten der Eisernen Front, an Genossen wie Karl Roth. Der bemühte sich weiter um ein breites, über die sozialen Klassen hinausgehendes Abwehrbündnis. „Adolf Kindermann“, der unpolitische Skatdrescher, wurde direkt angesprochen, Parole und Flugblatt verdeutlichten ihm, dass all dies kein Spiel war, dass es auch um seine Zukunft, gar seine Ruhe ging.

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Folge 15: Den Hitlerherren öffentlich entgegentreten (Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 158 v. 8. Juli, 4)

Am Ende, in der fünfzehnten Folge, wurde schließlich zur Tat geschritten. Geld war gesammelt, nun zählte die mannhafte Präsenz in der Öffentlichkeit. Das erforderte Mut, denn die Gegner traten meist nicht isoliert auf, verkörperten nicht den hier gezeigten Typus des völkischen Sprücheklopfers. Dessen Beleidigung, erstmals als Wort im Bild gebannt, begegneten Karl und sein Mitstreiter mit dem Freiheitsgruß, mit ihrer Alternative zum Ressentiment. Geld war gesammelt, nun, im Juli 1932, musste der eigentliche Kampf um die Republik beginnen.

Die fünfzehn Folgen sind beschrieben – und ich hoffe, dass Sie meinen Aufwand nachempfinden können. Bilder, Comicstrips, Comics sind Quellen mit Wert, die für ein angemessenes Verständnis der Vergangenheit zwingend in die gängige historische Analyse mit einzubeziehen sind (Gerhard Paul, Visual History. Version 3.0, http://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v3_de_2014; Zur Forschungsgeschichte s. Ders., Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, in: Ders. (Hg.), Visual History, Göttingen 2006, 7-36). Bei Familie Roth gaben sie – gewiss strategisch ausgerichtet und unter dem Zwang der Geldnot – einem Ideal der damaligen Arbeiterbewegung genauere Konturen, genauere vielleicht als die Schriften der Funktionäre, als die Fleischmasse der fahnenbewehrten Kolonnen.

Vor etwa zwei Jahrzehnten war der „Visual Turn“ Mode, füllte die Publikationen der Zunft. Statt einer wirklich anderen, offeneren, weniger textlastigen Geschichtswissenschaft, gibt es heute zusätzliches Spezialistentum kleiner Kreise. Nicht Bilder, gar Comics, sondern weiterhin Texte dominieren die Zunft. Die heutige Diskursgeschichte mündet vielfach in den bequemen Quellenzugriff auf nur wenige passende Texte und Narrative. Weiterhin werden Aktenberge durchgeackert, vielfach nur wiedergekäut, nicht aber kontextualisiert. Vielfach sind es Außenseiter, die der sprachlich verquaßten Zunft den Spiegel ihrer Möglichkeiten vorhalten – die Zeitschrift „Deutsche Comicforschung“ ist dafür ein gutes Beispiel. Fast erinnert die Zunft an die Funktionäre der SPD, die sich erst spät, zu spät, Neuem zuwandten und von den bald geschliffenen Trutzburgen hinunterschauten.

Drei Pfeile und mehr: Wahlkampf unter Dampf

Damit könnten wir enden. Doch vielleicht wollen Sie noch wissen, wie es weiterging, damals im Juli 1932, damals, als der „Kampf gegen rechts“ mehr war als Gerede und Vorwand für die Einschränkung von Grundrechten aller. Lassen wir also die Freiheitspfeile sausen.

Versetzen Sie sich dazu in eine Kolonne des Reichsbanners, die von Braunschweig nach Dortmund fuhr: „Die Sonne meint es gut und ließ die schwarzrotgoldenen Fahnen und die drei Pfeile unsers über den Kühler des Autos gespannten Fahnentuches weithin leuchten. In Städten und Dörfern, bei Männern, Frauen und Kindern, bei Arbeitern, Bürgern, Bauern, Wandrern, Rastenden am Wege Stutzen, Staunen und dann immer wieder, immer wieder der mit blitzenden Augen und hochgestoßener Faust begleitete packende Ruf der Eisernen Front: ‚Freiheit! – Freiheit!‘ Eine kaum abreißende Kette solcher Kampfrufe grüßte unsern dahinbrausenden Wagen. Wie hat sich doch Deutschland verändert in kurzer Zeit? Vor drei Vierteljahren wäre diese spontane Art, sich zu bekennen, andre mitzureißen, nicht denkbar gewesen“ (Freiheitstag der Eisernen Front, Das Reichsbanner 9, 1932, 228). All das mündete in einen Riesenumzug zum „Freiheitstag der Eisernen Front“, der in einer Großveranstaltung in der Westfalenhalle endete. Der Bericht ist übertrieben, gewiss, doch er spiegelt eine gewollte Hoffnung im Angesicht des Abyssos. Erste Freiheitsopfer waren gebracht, nun setzte sich die Wahlkampfmaschinerie in Bewegung.

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Drei Pfeile gegen den Feind, für das eigene Lager (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 154 v. 3. Juli, 7 (l.); Holzarbeiter Zeitung 30, 1932, 204)

Die eigene Presse quoll über vom Dreipfeil, der nun popularisiert wurde. Er wurde erläutert, Zeigestolz geschürt.

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Der Dreipfeil als Siegeszeichen (Rheinisches Signal 1932, Nr. 25 v. 2. Juli, 1 (l.); Volkswacht – Essen 1932, Nr. 152 v. 1. Juli, 2)

Der Dreipfeil schien ein Siegeszeichen zu sein, mit dem der Siegeszug von Nationalsozialismus und Deutschnationalen gebrochen werden konnte. Nicht alle mochten das glauben, doch warum nicht versuchen? Die Werbeabteilungen legten sich jedenfalls in die Riemen, präsentierten immer neue Varianten – und auch vor Ort ergänzte man mit Sinn für lokale Besonderheiten.

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Der Dreipfeil erläutert und präsentiert (Vorwärts 1932, Nr. 303 v. 30. Juni, 6 (l.); Volkswille 1932, Nr. 145 v. 23. Juni, 1)

Doch zugleich konnten die Funktionäre nicht aus ihrer Haut: Die Massen wurden textreich aufgeklärt, an die Morde an eigenen Leuten erinnert. Das aber war nicht mehr angstschürend, sondern Verpflichtung: „Das darf nicht schrecken. Nun erst recht!“ Und trotz aller Propaganda, die Bildung, die schwer erworbene, die konnten die Redakteure nicht weglassen. „Der Freiheit eine Gasse!“ – das war Schillers Wilhelm Tell: „Der Freiheit eine Gasse! – Wasch‘ die Erde, / Dein deutsches Land, mit deinem Blute rein!“ (Schiller’s Werke, Bd. 4, hg. v. Robert Boxberger, 2. Aufl., Berlin 1890, XLIII). Das war aber auch Georg Herwegh (1817-1875), der Freiheitsdichter und Revolutionär, der 1841 ein gleichnamiges Gedicht veröffentlicht hatte: „Wenn alle Welt den Mut verlor, / Die Fehde zu beginnen, / Tritt Du, mein Volk, den Völkern vor, / Laß Du Dein Herzblut rinnen! / Gib uns den Mann, der das Panier / Der neuen Zeit erfasse, / Und durch Europa brechen wir / der Freiheit eine Gasse“ (Georg Herwegh, Gedichte eines Lebendigen, 9. Aufl., Stuttgart 1871, 46).

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Mit Gedichten gegen die Hitler-Barbarei (Der Volksfreund 1932, Nr. 147 v. 27. Juni, 1 (l.); Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 156 v. 6. Juli, 10)

Solche Männer suchte man noch, der Parteivorstand blieb unverändert. Deren Bildungshintergrund, deren nicht einfach wegzudrückende Parolenscheu, waren wohl auch die zahllosen Gedichte zu verdanken, die dem Wahlkampf weitere Würze gaben. Doch auch KPD und NSDAP hatten ihre Barden. Das war eine Rückkehr des Pathos, stand gegen die analytische Distanz, ein Rückfall gegenüber der neuen Sachlichkeit.

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Handreichung für die Anwendung des Dreipfeils und Verweis auf die gefährdeten Errungenschaften der Republik (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 153 v. 2. Juli, 16; Der Kuckuck 4, 1932, Nr. 22, 4)

Die Pfeile sollten aber nicht nur das Revers, die Fahne, das Haus zieren, sie sollten auch die Symbole der Gegner verändern. Durchstreichen war das einfachste. Doch es gab noch eine Vielzahl alternativer Einsatzmöglichkeiten. Der Wahlkampf war seitens der Eisernen Front zudem, mehr in Text- als in Bildform, vom Stolz auf das Erreichte geprägt, kündete von den Errungenschaften der Republik, für die man stand und stritt. Dazu gehörten auch Frauenrechte, Genossinnen sprach man immer wieder gesondert an (vgl. etwa Der Proletarier 41, 1932, 166, 177).

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Das Ende von „Heil Hitler“ (Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 213 (l.); Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 148 v. 27. Juni, 2; Volkswacht 1932, Nr. 162 v. 13. Juli, 6 (r.))

Der Freiheitsgruß war neu, als zwischenmenschliche Geste schwierig durchzusetzen, passte eher in Aufmärsche und Massenveranstaltungen. Anfangs wurde er jedenfalls breitflächig vorgestellt und anempfohlen.

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Aufmärsche in großer Zahl (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 5 (l.); Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 153 v. 2. Juli, 6)

Daneben gab es zahllose Demonstrationen, die Reden wichtiger Funktionäre, das Erlebnis der Masse Mensch – trotz des sich verschärfenden Polizeirechts, trotz nicht weniger noch bevorstehender Verbote durch Polizeibehörden und Reichsregierung. Sie boten die einfachste Form der Solidarität, denn bei den nicht unüblichen Angriffen und Sprengversuchen stand man nicht allein.

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Benennung des Feindes (Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 205 (l.); Leipziger Volkszeitung 1932, Nr. 153 v. 2. Juli, 1)

Festzuhalten an diesem aus der historischen Distanz gewiss anders wirkenden, einst konkreten Zwecken dienenden Kampfmitteln, sind noch zwei Aspekte. Die NSDAP, personalisiert vorwiegend in Hitler, war gewiss Hauptgegner. Doch man stritt erstens zugleich gegen die „Reaktion“, gegen Stahlhelm und das Kabinett von Papen. Die KPD wurde demgegenüber fast ignoriert, ebenso das Zentrum. Die Analyse der NS-Bewegung war jedoch immer noch ambivalent, sie galt den meisten Sozialdemokraten als Hilfstruppe nationaler und schwerindustrieller Kreise. Das sollte noch die Exil-SPD prägten.

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Neues Wahlkampfmaterial und die Kontinuität der tradierten Symbole (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 163 v. 14. Juli, 11 (l.); Das Reichsbanner 9, 1932, 226)

Zweitens sollte man nicht unterschätzen, dass trotz Freiheitsopfern und wachsendem Engagement vieler Mitglieder der Eisernen Front die neuen Symbole nicht überall präsent waren. Alte tradierte Symbole wurden weiter hochgehalten, die vorhandenen Banner nicht eingemottet, die Schwarz-Rot-Goldene Nationalfahne weiter geschwungen. Der Beschluss des Parteivorstandes zugunsten des Neuen traf vielerorts auf Kritik an vermeintlich abgehobenen Reklametechnikern (Der Schuß ins Hakenkreuz, Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung 1932, Nr. 152 v. 1. Juli, 5). Einheitsfrontillusionen konnten auch durch den Slogan „Eiserne Front ist Einheitsfront“ nicht beiseite gedrückt werden (Dringender Appell für die Einheit, Der Funke 1932, Nr. 147 v. 25. Juni, 2). Die eigene Organisation war zudem nicht leistungsfähig genug, um binnen weniger Wochen die anvisierten Werbeabteilungen auf Bezirksebene einzurichten. Vielen Unterbezirken und Ortsvereinen fehlten solche Gremien, sie blieben auf die Initiative von Wenigen angewiesen (vgl. Winkler, 1987, 515-516). Hinzu kam die reale Gefahr durch SA, Stahlhelm, Rotfrontkämpferbund: Vom 14. Juni bis 25. Juli hatte allein das Reichsbanner zehn Tote, 72 schwer und hunderte leicht Verletzte zu beklagen (Die Toten des Reichsbanners, Der Abend 1932, Nr. 348 v. 26. Juli, 2). Wachsender Bekennermut in den Hochburgen ging einher mit Passivität und auch Resignation in ländlichen, vielen südlichen und östlichen Regionen (Pyta, 1989, 481).

Preußenschlag und Selbstbegrenzung: Das Auslaufen der neuen Methoden

Gleichwohl war die Eiserne Front vielerorts im Angriff, hatte an Elan, Mut und Präsenz gewonnen. Doch dann kam der 20. Juli 1932, der vergessene „Preußenschlag“, der Staatsstreich von rechts. Ministerpräsident Otto Braun und Innenminister Carl Severing (1875-1952) wurden für abgesetzt erklärt, in der Folge 150 republiktreue Spitzenbeamte entlassen. Der Preußenschlag war eine konservativ-nationalistische Blaupause für die spätere „Machtergreifung“ der NSDAP, wenngleich mit deutlich weniger physischer Gewalt, wenngleich ohne die epidemische Verfolgung politischer Gegner. Er unterminierte den deutschen Föderalismus. Ummantelt wurde er als Reaktion auf den Altonaer Blutsonntag, einem SA-Zug durch die kommunistische Hochburg mit achtzehn Toten, als Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Der Preußenschlag zielte auch auf die Reichstagswahl, bis zum 26. Juli wurde der Belagerungszustand erklärt (Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik […], Düsseldorf 1978, 530).

Innenminister Severing verlautbarte, dass er nur der Gewalt weiche und verließ von Polizisten begleitet sein Ministerium. Die Regierung strengte ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof an. In den Hochburgen forderten Vertreter der Eisernen Front stattdessen aktiven Kampf, den Generalstreik und mehr. Doch die Gewerkschaften waren durch die Massenarbeitslosigkeit geschwächt. Und die SPD-Spitze bezweifelte einen Sieg der Eisernen Front gegen ein mögliches Bündnis von SA und Reichswehr, zumal die Loyalität der preußischen Polizei nicht mehr garantiert war. Man beschloss, die Reichstagswahl auch zur Abstimmung über den Preußenschlag zu machen. Das war vernünftig und desaströs zugleich: Zurück blieb „Ratlosigkeit hinter der radikalen Phraseologie“ (Detlev Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983, Frankfurt a.M. 1983, 153). In dem bereits zitierten, wahrscheinlich Mierendorff zuzuschreibenden Bericht hieß es im Nachklang: Nach dem kampflosen Rückzug war alle Hoffnung verloren. „Depression was universal in the workers’ organizations; everyone seemed paralysed.“ Freiheits-Rufe verstummten, die Zahl der öffentlich sichtbaren Dreipfeile nahm ab. „Chaos and panic reigned in all the central organizations; everyone was doing his best to dissociate himself from all activities. There was no longer any discussion of plans of action, or anything but exchanges of news and views and suppositions” (Chakotin, 1940, 227, 228; vgl. auch Carl Mierendorff, Sommer der Entscheidungen, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 655-660, insb. 656). Die Folgen waren tiefgreifend. In Wuppertal, in München, an vielen anderen Orten gaben zahlreiche Mitglieder, zumal solche bei Post, Bahn und in der Verwaltung, ihre Parteibücher zurück (Benjamin Ziemann, Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924-1933, Bonn 2011, 63). Es dürften Menschen wie Karl Roth gewesen sein.

Parallel jauchzten die Nationalsozialisten: Der Goebbelsche Tagebucheintrag lautete: „Man muß den Roten nur die Zähne zeigen, dann kuschen sie. SPD. und Gewerkschaften rühren nicht einen Finger.“ Und am Folgetag hieß es: „Alles rollt wie am Schnürchen ab. Die Roten sind beseitigt. Ihre Organisationen leisten keinen Widerstand. […] Es laufen zwar Gerüchte von einem bevorstehenden Reichsbanneraufstand um, aber das ist alles Kinderei. Die Roten haben ihre große Stunde verpaßt. Die kommt nie wieder“ (Goebbels, 1934, 131, 132, 133). Am 22. Juli folgte: „Unsere Propaganda klappt wunderbar. Die roten Schriftplakate erregen an den Litfaßsäulen großes Aufsehen. Die Linken haben den Fehler gemacht, daß sie ihr Pulver zu früh verschossen. Wir dagegen haben mit der Munition hausgehalten, drehen nun die Propagandamaschine an und sind ganz auf der Höhe.“ (Ebd., 133). In den Großstädten setzte parallel ein Flaggenkrieg ein, denn der Straßenwahlkampf war ausgesetzt (Das erwachte Berlin, Vorwärts 1932, Nr. 344 v. 24. Juli, 5).

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Aktiv bis zur Gewaltanwendung (Der Volksfreund 1932, Nr. 166 v. 19. Juli, 2 (l.); Volksblatt – Solingen 1932, Nr. 177 v. 30. Juni, 2)

Der Reichstagswahlkampf war in der letzten Woche nochmals erbitterter. Plakate und Werbematerialien der Eisernen Front wurden aggressiver, der Stiefel trat visuell hervor. Auf Papier war Aktivität einfach.

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Nazis töten – im Cartoon (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 164 v. 15. Juli, 7)

Auch der Dreipfeil wurde gewalttätiger eingesetzt, das Schlagen wörtlich, das Totschlagen billigend in Kauf genommen. Doch das war Verbalradikalismus, waren Rückzugsgefechte nach verlorener Schlacht.

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Kämpfer auf dem Vormarsch (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 177 v. 30. Juli, 1 (l.); Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 176 v. 29. Juli, 6)

Zugleich veränderten sich – auf dem Papier – die Akteure der Eisernen Front. Individuell waren sie schon vorher nicht gewesen, sondern Typen, Platzhalter von Kraft und Masse. Nun aber regierten die Schemen, marschierten kaum mehr vorhandene Arbeitermassen. Sie sollten beruhigen, die Abstimmung beschirmen, Trost spenden. So wie die Hoffnung auf die Armee Wenck beim Vorsitzenden der NSDAP im Bunker unter der alten Reichskanzlei im April 1945. Bis zum Ende kopierte er die Arbeiterbewegung…

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Sonnenschein und Nazipein: Zerrbild der Eisernen Front (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 172 v. 25. Juli, 13)

Aus den Mannen der Eisernen Front war derweil eine ununterscheidbare Masse geworden. Man mühte sich auch die letzten Tage vor dem Wahltermin, doch die „Aktivität“ des Junis und des frühen Julis war dahin. Phrasen wurden gedroschen, doch nicht mehr geglaubt. Die außerparlamentarische Aktivität wurde zurückgefahren, es blieb nur der zunehmend unwichtigere parlamentarische Hebel.

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Wahlaufruf per Comic (Vorwärts 1932, Nr. 357 v. 31. Juli, 3)

Dennoch hieß es am 31. Juli: „Die sichtbare Arbeit der Partei in diesem Wahlkampf war glänzend“ (Holt das Treibholz!, Vorwärts 1932, Nr. 355 v. 30. Juli, 1). Pfeifen im Gegenwind. Doch man hatte offenkundig den Humor behalten. Wie anders war zu verstehen, dass der Vorwärts am Wahltag just ein Comic veröffentlichte, das die letzten Großtaten zur allerletzten Mobilisierung visuell vor Augen führte. Familie Roth hatte keinen Platz in der Parteizeitung gefunden, doch vielleicht trauerte die Redaktion dem Elan nach, den dieser kleine und an sich unbedeutende Comicstrip vermittelte.

Die SPD verlor am 31. Juli 2,9 Prozentpunkte, erreichte 21,6 Prozent, konnte aber keinen Wahlkreis mehr gewinnen. Die NSDAP verdoppelte ihr Ergebnis auf 37,3 Prozent, doch auch gemeinsam mit der DNVP erreichte sie keine parlamentarische Mehrheit. Damit erreichte die SPD ihr Minimalziel. Der neue Reichstag wurde rasch wieder aufgelöst, im November neu gewählt. Im Wahlkampf zeigte die Eiserne Front wieder Flagge, doch der Dreipfeil stand nicht mehr für den Aufbruch, sondern für die Niederlage, an der man selbst gerüttelt Anteil hatte. Die Weimarer Republik scheiterte jedoch nicht an den offenkundigen strukturellen Problemen der SPD und der Eisernen Front. Sie scheiterte am Rechtsruck des protestantischen oder säkularen Bürgertums, an der Destruktionspolitik der sowjethörigen KPD, an der strukturellen Verfassungsfeindschaft der traditionellen Eliten in Adel, Militär, Landwirtschaft und Wirtschaft, die einen autoritären Staat anstrebten. Sie allesamt ermöglichten eine Gemengelage, in der die Kräfte der linken Volkspartei SPD (und bedingt des katholischen Zentrums) nicht mehr ausreichten, um die Herausforderung der NSDAP und ihre Bündnispartner abwehren zu können. Der Reichstagswahlkampf im Juni/Juli 1932 hatte dabei Schrittmacherfunktion. Familie Roth und ihre Genossen hatten sich zumindest um ein anderes Auskommen bemüht.

Uwe Spiekermann, 31. August 2024

Aufbruch in die Konsumgesellschaft. Das deutsche Kaiserreich als Experimentierfeld moderner Konsummodelle

„Das Buch der Geschichte findet mannigfaltige Auslegung“ (Heinrich Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung, in: Ders., Historisch-kritische Gesamt­ausgabe der Werke, Bd. 10, Hamburg 1993, 301-302, hier 301). Diese Sentenz Heinrich Heines charakterisiert trefflich die unterschiedli­chen Haltungen der historischen Forschung, wenn es denn gilt, Anfänge und Durch­setzung der sog. „Konsumgesellschaft“ zu bestimmen. In der internationalen Kon­sumforschung werden ihre Anfänge zumeist ins England des späten 18. Jahrhunderts verlegt. Carole Shammas, Margit Schulte-Beerbühl, Neil McKendrick, John Brewer und insbesondere Maxine Berg haben die Konturen dieser bürgerlich geprägten, aber auch auf die große Mehrzahl der sog. Unterschicht ausstrahlenden „Consumer So­ciety“ präzise gezeichnet. Jan de Vries hat in seinen zahlreichen, unlängst bis in die Gegenwart fortgesetzten Studien zur „industrious revolution“ zugleich ein Modell vor­gestellt, mit dem Haushaltsökonomik, Marktproduktion und die familiären Kon­sum­bedürfnisse dynamisch gekoppelt wurden (Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behaviour and the Household Economy, 1650 to the Present, New York 2008). Bedürfniswandel und Konsummög­lich­­keiten waren demnach entscheidend für den Take-off in eine Welt industrieller Pro­duktion, in deren Mittelpunkt mit der Textilproduktion der damals wichtigste gewerb­liche Konsumgüterbereich stand.

Die deutsche Konsumgeschichtsforschung hat deutlich andere Akzente gesetzt. Sie zeichnet sich einerseits durch eine wahrlich überraschende Selbstbezüglichkeit aus. Christian Kleinschmidts schmales Bändchen „Konsumgesellschaft“ verzichtet prak­tisch auf die Rezeption der internationalen Forschung und nimmt selbst große Teile der deutschen kulturanthropologischen und auch historischen Forschung schlicht nicht zur Kenntnis (Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008). Auch das von Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp vorgelegte Handbuch „Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990“ kon­zent­riert sich – bei allen Verdiensten – vornehmlich auf eine Zusammenschau der bishe­rigen deutschen Forschung (Heinz-Gerhardt Haupt und Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. und New York 2009). Ist damit die hiesige Konsumgeschichte erstens durch Rezeptionsdefizite gekennzeichnet, so zeichnet sie sich zweitens durch eine starke Fokussierung auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aus (vgl. auch Frank Trentmann, The Long History of Contemporary Consumer Society. Chronologies, Practices, and Politics in Modern Europe, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 107-128). Auch kritisch rückfra­gende Studien, wie etwa die von Michael Wildt oder Arne Andersen, basieren para­doxerweise auf dem Narrativ des Wirtschaftswunders, des Andockens des verlo­ren­en Sohnes (West-)Deutschlands an die dominante Entwicklung des westlichen Konsummodells. Es handelt sich um einen eigenartigen Nachhall der Sonderwegs­these: Das ökonomisch arme, relativ spät industriell entwickelte Deutsche Reich habe zwar Vorformen einer modernen Konsumgesellschaft entwickelt, sei aber durch die Kriegs- und Krisenerfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entschei­dend zurück­geworfen worden. Erst der materielle Wohlstand der Nachkriegszeit habe dann zu einer irreversiblen, in sich aber problematischen Adaption der Konsummo­derne ge­führt.

Diese These wird besonders prononciert von dem Technikhistoriker Wolf­gang König vertreten. In seiner die Forschungsliteratur nur ansatzweise und einseitig rezipierenden „Kleinen Geschichte der Konsumgesellschaft“ heißt es pointiert: „Die Konsumgesellschaft ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts“ (Wolfgang König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2008, 9). In den USA könne man seit den 1920er, in Westdeutschland erst seit den 1960er Jahren von einer Konsumgesellschaft sprechen. König gibt zahlreiche, sich teils widersprechende, teils tautologische Kriterien für diese Periodisierung; doch diese lassen sich überprüfen: „In der Konsumgesellschaft konsumiert ein überwiegender Teil der Bevölkerung deutlich über die Grundbedürf­nisse hinaus. Dabei stehen neuartige, kulturell geprägte Konsumformen im Mittel­punkt, wie der ubiquitäre und omnitemporale Verzehr industriell hergestellter Le­bensmittel, die Bekleidung mit modischer Massenkonfektion, das Wohnen in techni­sierten Haushalten, eine dramatisch gestiegene Mobilität und eine medial gestaltete Freizeit“ (Ebd., 28). Zudem solle „die Mehrheit der Bevölkerung an neuen Konsumformen teilha­ben, der Konsum eine herausragende kulturelle, soziale und ökonomische Be­deutung haben und der Konsument zur soziokulturellen Leitfigur geworden sein“ (Ebd., 9-10).

Ich möchte diese Definitionen nutzen, um eine andere Periodisierung zu diskutieren: Nach meiner Auffassung war das Kaiserreich eine Kon­sumgesellschaft – wenngleich eine sehr spezifisch geprägte. Sie war charakterisiert von mindestens drei miteinander ringenden und sich parallel institutionalisierenden Kon­summodellen, die in unterschiedlichen Konstellationen auch die ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts bestimmten. Zuvor gilt es sich jedoch genauer der Frage zu widmen, ob das Kaiserreich eine Konsumgesellschaft war.

Die Erfahrung des Wandels: Kommerzialisierung als Alltagserfahrung

Beginnen möchte ich mit einigen sog. Doppelbildern, die sämtlich aus der im rela­tiv rückständigen München erscheinenden Karikaturzeitschrift „Fliegende Blätter“ stammen (zur historischen Einordnung s. Uwe Spiekermann, Gesunde Ernährung im Spiegel von Karikaturen der Jahrhundertwende. Das Beispiel der „Fliegenden Blätter“, in: Gesunde Ernährung zwischen Natur- und Kulturwissenschaft, hg. v. d. Dr. Rainer Wild-Stiftung, Münster 1999, 61-82). Die liberal-konservativen Zeichner begleiteten Neuerungen jedweder Art mit bitter-melancholischem Spott und einer sentimentalen Sympathie für die im Niedergang begriffene Kultur des ländlichen Bayerns. Sie waren daher sensible Beobachter, die Wahrnehmungen ihrer Klientel, mittelständische Städter und solvente Landbewohner, in ihren Bildern verdichteten.

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Das Ende der Gemütlichkeit oder Die Herrschaft von Geld und Rationalität (Fliegende Blätter 88, 1888, 178, 179)

Geld und Rechenhaftigkeit veränderten demnach schon in den 1880er Jahren den ländlichen Raum. Moderne Transportmittel und gepflasterte Straßen er­schlossen den Städtern die Schönheiten der Heimat, veränderten so aber auch deren Kern. Die ge­rade Linie wurde dominant, Gaslicht und Telegraphenleitungen koppelten Stadt und Land enger aneinander, das Hotel brachte Geld und diente dem temporären Aufenthalt der Fremden.

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Das Ende der Gemütlichkeit oder Die Herrschaft von Geld und Rationalität (Fliegende Blätter 88, 1888, 178, 179)

Die Veränderungen begannen in der Stadt, doch diese kannte keine Grenzen mehr und wurde zum dominanten Typus für die Umgestaltung des Umlandes und der tradierten Welt. Vergleicht man die Bildinhalte, so fallen neben dem jeweils aktualisierten Stand der Transport- und Kommunikationstechnik vor allem zwei Un­terschiede auf: Zum einen die Ubiquität der modernen Reklame, zum andern aber – achten Sie auf die „Naturheil-Anstalt“ – eine zunehmend reflexive Modernisierung, die durch die Bekämpfung der Modernisierungsfolgen zusätzliche Dynamik gewann.

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Modernisierung und Kommerzialisierung oder Die moderne Stadt (Fliegende Blätter 116, 1902, 102, 103)

Folgen wir den Zeichnern in die Mitte der Stadt, so erscheint diese als dynamischer Ort des Konsums und der funktionalen Vergesellschaftung. Die Verdichtung war un­mittelbar erfahrbar, die kollektiven Transporttechnologien reichten kaum mehr aus. Sin­nenmächtig fanden sich allüberall Werbebotschaften, Markenartikel kündeten von den hochwertigen Produkten der im Hintergrund rauchschwangeren Industrie, deren Internationalität „Kodak“ dokumentiert. Umrahmt von Magazinen und Bazaren, stand im Mittelpunkt raumgreifend der moderne Menschenfänger, das Warenhaus. Er offerierte nicht nur Waren, sondern lenkte die Menschen auf den Preis der Güter als deren verlässlichen Wertmaßstab. Wer hier nicht mithalten konnte, dem winkte „Credit“.

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Tempo und Verlorenheit oder Der überbürdende Formwandel des Alltags (Fliegende Blätter 121, 1904, 266, 267)

Die Konsummoderne erscheint in diesen Quellen als hereinbrechende Macht, der die Menschen nachhasteten, die sie zugleich aber kaum bestimmen konnten. Die Automobilisten, ihrerseits Konsumpioniere, erscheinen wie apokalyptische Reiter, de­nen man sich nicht mehr entziehen konnte. Die fremde Formsprache des Ju­gendstils, die hier Intellekt und Kommerz symbolisierte, übermächtigte das biedermeierliche Idyll ebenso wie die im Hintergrund erscheinenden Versprechen „billig“ und „reell“ die Aushandlungsprozesse der scheinbar vergangenen Welt.

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Verfahren oder Die Konsummoderne als Sackgasse (Fliegende Blätter 131, 1909, 70)

Die Zeichner der „Fliegenden Blätter“ konzentrieren sich auf den „Clash of Cultures“ einer gemütlichen und historisch gewachsenen bäuerlich-bürgerlichen Gesellschaft der Ähnlichen und einer funktional differenzierten Konsummoderne, in der Menschen kaum mehr miteinander sprachen, sondern über symbolisch generalisierte Kommuni­kationsmedien miteinander interagierten. Die Künstler empfanden dies als eine verfah­rene Situation, doch sie wussten, dass ihr Spott die dominanten Entwicklungen nicht wirklich bremsen konnte.

Was wir in diesen und hunderten anderer Karikaturen wiederfinden, ist die Vorstel­lung einer Zeitenwende, in deren Mittelpunkt die Errungenschaften des industriellen Zeitalters standen, deren Nutzung und Konsum immer größeren Gruppen der Gesell­schaft möglich wurde – und zu dem es keine realistische Alternative zu geben schien. Augenzwinkernd fügte man sich ins Unvermeidliche, wohl wissend, dass die Aus­handlungen des Alltags die Überbürdungen des neuen kommerziellen Zeitalters noch menschennah abschleifen würden. Hier gab es keine Debatten über die Konsumgesellschaft, denn sie war schon lange vor Ende des Kaiserreichs eine sinnbetörende und alltagsdurchdringende Realität.

Konturen der Konsumgesellschaft: Strukturveränderungen und Pro­duktinnovationen

Derartige Quellen mögen Einblicke in die Denkweisen der Zeitgenossen erlauben, doch Evidenz und Repräsentativität sind ihnen kaum abzuringen. Ich möchte deshalb in einem zweiten Schritt in sechs Punkten empirisch begründete Argumente für die Annahme aufzuzeigen, dass das Kaiserreich eine Konsumgesellschaft war.

Erstens finden wir während des Kaiserreichs ein weder zuvor noch danach wieder erreichtes quantitatives Wachstum der „Basis der Konsumgesellschaft“, also des Ein­zelhandels (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850.1914, München 1999). 1875 gab es im Warenhandel 480.000 Betriebe, 1907 waren es dagegen mehr als 1,1 Millionen. Ihre Branchenverteilung spiegelte ansatzweise die Konsum­strukturen, knapp die Hälfte war im Gebrauchsgüterbereich tätig. 1914 entfiel ein Laden auf 61 Einwohner, jeder einunddreißigste Deutsche arbeitete im Warenhandel. Wichtiger aber war ein qualitativer Wandel. Der kleine spezialisierte Laden wurde zunehmend von sog. neuen Betriebsformen ergänzt, die jeweils spezielle Zielgruppen besaßen und eine erhebliche Sogwirkung zur Modernisierung und Ökonomisierung des Han­dels entfalteten. Magazine, Bazare und Kaufhäuser machten den Anfang, veränder­ten den Absatz von Kleidung und Gebrauchsgütern fundamental.

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Vorboten des Kommenden: Modemagazin Landsberger, Berlin, ca. 1860 (Robert Springer, Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, 336)

Konsumgenossenschaften verbesserten die Konsummöglichkeiten der Arbeiter und der unteren Mittelschicht. Wanderlager und Wanderauktionen veräußerten gewerbli­che Güter in Stadt und Land, setzten den Kleinhandel unter gehörigen Preisdruck. Die deutschen Versandgeschäfte waren die größten Kontinentaleuropas und ver­sorgten nicht zuletzt den ländlichen Raum mit den Novitäten modernen Konsums. Massenfilialbetriebe drangen sowohl im Lebens- als auch im Gebrauchsgüterhandel vor, während die bis heute völlig unterschätzten Abzahlungsgeschäfte Arbeitern und kleinen Angestellten den Kauf von Gebrauchsgütern, vorrangig Möbeln und Konfektionswaren, erlaubten.

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Abzahlungsgeschäft in München (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1887, Nr. 83 v. 27. März, 10)

Verkaufsautomaten veränderten nicht nur den Dienstleistungssektor, sondern ein­zelne Branchen des Handels. Die deutschen Warenhäuser schließlich erreichten rasch das Niveau ihrer französischen Vorbilder und dienten nach 1900 als weltweites Vor­bild für die Präsentation neuer Konsumwelten.

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Lichthof des Berliner Warenhauses Wertheim (Alphons Schneegans, Geschäftshäuser für Kleinhandel, Großhandel und Kontore, in: Ders. und Paul Kick, Gebäude für die Zwecke des Wohnens, des Handels und Verkehrs, Leipzig 1923, 3-119, hier 40)

Zweitens kreierte die Werbung während des Kaiserreichs neues Produktwissen und neue Konsumträume. Das rasche Wachstum der Tagespresse erlaubte den tagtäglichen Einsatz informierender Anzeigen, die zahlreichen illustrierten Wochenblätter konzent­rierten sich zunehmend auf Reklame mit Bildelementen. Der rechtlich abgesicherte Markenartikel wurde vornehmlich über Plakate und Emailleschilder beworben, die Werbegraphik des frühen 20. Jahrhunderts veränderte den Kaufappell nachhaltig.

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Neuer Realismus: Die Prägnanz der Plakatwerbung (Fliegende Blätter 104, 1896, 231)

Sie wurden durch Werbeabteilungen in Industrie und Handel unterfüttert, schon vor dem Ersten Weltkrieg entstanden zahlreiche Dienstleistungsberufe in der Werbebran­che. Die Straßen erhielten durch Litfaßsäulen, Plakatwände und Fassadenmalerei einen neuen kommerziellen Anstrich, wichtiger noch wurde die permanente Ausstel­lung der Konsumgüter in den Schaufenstern des Einzelhandels. Und auch die Waren selbst wurden anders präsentiert, gezielt gestaltete und vielfach farbige Verpackungen erweiterten die Palette der Kaufanreize.

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Mode und Schaufenster oder Der Malstrom des Konsums (Fliegende Blätter 91, 1889, 209)

Drittens war die Freizeitgestaltung vielfach noch klassen- und milieugebunden, bür­gerliche, katholische und sozialdemokratische Vereine und Institutionen waren streng voneinander getrennt. Trotz Temperenzbewegung nahmen Kneipen und Gaststätten jedoch einen immensen Aufschwung. Im Kaiserreich kamen mit dem Restaurant und Aus­flugslokalen neue Konsumorte der Mittelschichten auf, Animierkneipen, Music-Halls und Tanzcafés fanden nach Alter und Klasse segmentierte Kundschaft. Jahr­märkte veränderten ihre Gestalt, der Übergang zum preiswerten Vergnügen der Kir­mes war fließend. Ein gänzliches neues, zukunftsweisendes Vergnügen boten seit Mitte der 1890er Jahre die Kinos. Um 1910 gab es in Deutschland ca. 1.000 stationäre Lichtspieltheater mit täglich 1,5 Millionen Besuchern. Nicht nur männliche Erwachsene, sondern auch Kinder, Jugendliche und Frauen wurden angesprochen.

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Kinos als neue Form des Theaters in Berlin (Berliner Leben 15, 1912, Nr. 6, s.p.)

Viertes war die Konsumgesellschaft des Kaiserreichs durch eine Vielzahl neuartiger Gebrauchsgüter geprägt, die teils erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Sätti­gungsgrenzen stießen. Das Automobil, das Grammophon, elektrische Haushaltsge­räte, Telefone und vieles andere mehr blieben Beziehern höherer Einkommen vorbe­halten, doch im Alltag waren sie präsent und schufen neue Konsumwünsche.

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Konfektionsware für Frauen (Der Bazar 39, 1893, nach 100)

Die Konfektionsindustrie legte Jahr für Jahr neue modische Waren vor, Bedarfswe­ckung durch Veralterung, nicht Gebrauchswertverlust prägte auch den Konsum des neuen Mittelstandes. Neue Konservierungs- und Verarbeitungstechniken veränderten die tägliche Kost, die durch Kolonialprodukte und ihre Substitute zunehmend geprägt wurde. Neue Lebensstilprodukte warben für ein gesundes Leben, eine immense Zahl von Diät- und Aufbaupräparaten verwies auf die zunehmende Kommerzialisie­rung auch der Körper.

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Gewerbliche Herstellung der Konsumgüter (Fliegende Blätter 123, 1905, 265)

Fünftens drangen diese neuen Produkte zunehmend auch auf das Land vor. Die Zahl der landwirtschaftlichen Subsistenzbetriebe lag unter einer Million, Kolonialprodukte und gediegene Gebrauchsgüter bildeten Renommierprodukte gerade der Bauern.

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Dorfladen im ländlichen Umfeld Bremens, ca. 1885 (Brigitta Seidel, MarkenWaren. Maggi, Odol, Persil & Co. erobern den ländlichen Haushalt, Husum 2002, 34)

Die Sortimente der Dorfläden verbreiterten sich während des Kaiserreich auf weit über das Doppelte, die Zahl der Hausierer lag vor dem Ersten Weltkrieg über der Zahl der Beschäftigten der Chemieindustrie, Versandgeschäfte erlaubten den Kauf modischer Artikel, der Eisenbahntransport erleichterte den Einkauf in der nächstge­legenen grö­ßeren Stadt. Die Werbung drang nicht ohne Grund zunehmend auf das Land vor, auch wenn die Heimatschutzbewegung vielfach erfolgreichen Widerstand gegen diese kommerzielle Landnahme organisierte.

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Abglanz des Möglichen – Ländlicher Konsum in der Karikatur (Fliegende Blätter 122, 1905, 192)

Betrachtet man sechstens schließlich makro- und mikroökonomische Daten, so stieg der reale durchschnittliche Jahresverdienst von Arbeitnehmern von 1871 bis 1913 um ca. 80 Prozent. Dies wurde zumeist in eine bessere Ernährung umgesetzt, insbesondere den Kon­sum von Fleisch umgesetzt. Zugleich aber vergrößerte sich die freie Spitze der Haushaltsbudgets nachhaltig. Man mag darüber streiten, ob 10 Prozent disponibles Ein­kommen bei Arbeitern ausreichten, um im modernen Sinne zu „konsumieren“ – doch es reichte für Alltagsfreuden und kleine Anschaffungen, die zwei Generationen zuvor noch un­denkbar gewesen wären.

Fasst man diese, zugegeben, kursorischen Bemerkungen zusammen, so konsumierte aller Enge zum Trotz die Mehrzahl der Bevölkerung über die Grundbedürf­nisse hin­aus. Auch die anderen Kriterien Königs werden im Wesentlichen erfüllt, einzig das Wohnen in technisierten Haushalten ließ noch auf sich warten, auch wenn die Ver­besserungen der Gas- und Wasserversorgung sowie der Abfallentsorgung vielfach bemerkenswert waren. Das Kaiserreich war demnach eine Konsumgesellschaft.

Die innere Gebrochenheit der deutschen Konsumgesellschaft

Konsum und Konsument im zeitgenössischen Diskurs

Und doch: Diese Aussage ist zu relativieren. Denn die Vorstellung einer deutschen „Konsumgesellschaft“ ist schon deshalb schwierig, da die ver­meintlich stählerne Nation vielfältig zerklüftet war. Das Kaiserreich war eine Klas­sengesell­schaft in Stadt und zunehmend auch auf dem Lande, regionale und soziale Unterschiede beein­flussten den Konsum tiefgreifend.

Die Länder wiesen beträchtliches Eigengewicht auf, so dass die Vorstellung eines einheitlichen nationalen Marktes vielfach in die Irre führt. Selbst Markenartikel, wie Maggis Suppen, waren Mitte der 1890er Jahre im nördlichen Deutschland vielfach nicht erhältlich. Die Stadt-Land-Unterschiede waren bedeutsam, auch wenn sich der Konsum einzelner Produkte und Warengattungen langsam anglich. Kategorien wie Geschlecht bildeten Demarkationslinien des Alltags, auch wenn die modernen Wa­renhäuser und das breite Netzwerk neuer Läden Frauen neue Räume und Aufgaben zuwiesen.

Diesen Unterschieden zum Trotz wurde in der Ökonomie seit dem 18. Jahrhundert intensiv um allgemeine Aussagen zur Konsumtion und auch zum Konsumenten ge­rungen. Im deutschen Fall war dies immer auch eine Suche nach einem neuen Gan­zen, nach der inneren Gesetzmäßigkeit der durch Arbeitsteilung in Frage gestellten bürgerlichen Gesellschaft. Die Lehren der westlichen Ökonomie und des Industrialis­mus wurden mit gehöriger Skepsis wahrgenommen. Schon Friedrich Schiller (1859-1805) betonte: Das an­tike Menschenideal „machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Le­ben im Ganzen sich bildet. Der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes Bruch­stück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Har­monie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts“ (Friedrich v. Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung (1795), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, 3. Aufl. München 1962, 584).

Ökonomik war daher Suche nach Ausgleich, nach Harmonie von Produktion und Kon­sumtion. Trotz der bekannten Smithschen Sentenz vom Konsum als Ziel aller Pro­duktion galt dieser jedoch lange Zeit als nachgeordnet und potenzieller Störfak­tor. Karl von Rotteck (1775-1840) bezeichnete ihn etwa als Wert­zerstörung, als „Reichthumsver­minderung“ (Carl v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 4: Oekonomi­sche Politik, Stuttgart 1835, 215). Wie viele andere Staatswissenschaftler hob er jedoch zwei Punkte hervor: Zum einen war die Konsumtion nur deshalb weniger wichtig, weil gemäß dem Sayschen Theorem sich die Produktion stets ihre Nachfrage schaffe, so dass man hierfür keine Sorge tragen müsse. Zum anderen war die „Privat-Verzeh­rung“ (Ebd., 238) nicht Gegenstand der Staatswissenschaft, da für sie das Prinzip grundsätzli­cher Freiheit galt.

Damit war der Konsum immer auch Ausdruck der Moral und der Sittlichkeit der Kon­sumenten, war demnach gebunden an wandelbare normative Ideale. Bei Johann Schön (1802-1839) hieß es prägnant: „Ideal ist die Consumtion, welche hinsichtlich ihrer Quantität durch das Maaß des Ertrages, hinsichtlich ihrer Qualität durch das vernünftige Be­dürfnis und durch die wirthschaftliche Vorsicht sich bestimmt“ (Neue Untersuchungen der Nationalökonomie und der natürlichen Volkswirthschaftsordnung, von Schön, Morgenblatt für gebildete Leser 31, 1837, 425-428, hier 427). Wenn der Londoner Historiker Frank Trentmann in den letzten Jahren vielfach her­vorgehoben hat, dass der „Konsument“ Ausdruck einer historischen Rollenidentität ist, die von der Entstehung einer modernen Konsumgesellschaft deutlich zu trennen ist, so ist diese These richtig und falsch zugleich (Frank Trentmann, Synapses of Consumer Politics: The Genealogy of the Consumer, o.O. 2003 (Ms.)., 2). Es ist richtig, dass es im Deutschen Reich, anders als etwa im spätviktorianischen England, nur bescheidene Anfänge ei­ner Kon­sumentenidentität gab. Abgesehen von den Konsumgenossenschaften und dann den bürgerlichen Käuferligen artikulierten sich moderne Konsumenten erst im Rahmen der verschiede­nen Teuerungsdebatten des frühen 20. Jahrhunderts, auch wenn deren expressive Handgreiflichkeit vielfach noch in der moralischen Ökonomie der vor- und frühindus­triellen Zeit gründete (Christoph Nonn, Verbraucherprotest und Parteisystem im Wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1996). Doch zugleich macht eine auch nur oberflächige Analyse etwa der Außenhandelsdebatten schnell deutlich, dass der Konsument spätestens seit den 1870er Jahren Fluchtpunkt so zentraler Debatten, wie der um Freihandel oder Schutzzoll war.

Gilt dies, so muss erklärt werden, warum der „Konsument“ in der zeitgenössi­schen ökonomischen Diskussion nur ein Schattendasein führte. Hier wurde er vorrangig als Widerpart zum Produzenten verstanden (vgl. etwa Karl Marlo [d.i. Karl Georg Winkelblech], Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie, 2. vollst. Aufl., Bd. 3, Tübingen 1885, insb. 294-295). Er erzwang „die Waren resp. Leistungen nach Bedarf und möglichst bequem, mannigfaltig, brauchbar und preis­wert zu erhal­ten“; doch schon in dieser Passage aus dem Schönbergschen Handbuch der politi­schen Ökono­mie klang die Malaise einer derartigen Orientierung am Verbraucher an, biete sie doch „keine Garantie mehr für die Güte, die Qualität, die Preiswürdigkeit der Waren. Der Konsument muß selbst prüfen und ist, wenn er dies nicht thut oder nicht kann, der Gefahr der Benachteiligung ausgesetzt“ (G[ustav] v. Schönberg (Hg.): Handbuch der Politischen Oekonomie, 4. Aufl., Bd. 2, Halbbd. 1, Tübingen 1896, 662 (auch für das vorherige Zitat)). Daher sei für den Konsu­menten zu denken, hätten Produzenten und Händler für seine Belange Sorge zu tra­gen. Das Rollenwesen des Konsumenten musste daher aus den Handlungsidealen an­derer Akteure herausgelesen werden. Dann aber war er durchweg präsent.

Er diente vielfach als „Prügelknabe“ (Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Ergänzungsbd. 2: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Freiburg i.Br. 1903, 497) von Wissenschaft und Öffent­lichkeit, als Projekti­onsfläche der inneren Debatten über die liberale Wirt­schaftsordnung und den Übergang von der Agrar- zur Industriege­sellschaft. Der „Konsument“ war meist ein­gebettet in moralische Debatten über Lu­xus und Spar­samkeit, war Gegenstand steti­ger Aufklärungs- und Erziehungsbestre­bungen: Es galt, „daß die sittliche Erziehung des Konsumenten darauf ausgehen muß, ihn mit den Herstel­lungskosten der Ge­genstände vertraut zu machen, ihm ei­nen Begriff von den Kosten volkswirtschaftli­cher Produktion beizubringen, damit er nicht einfach planlos nach dem Billigsten greift“ (G[ottfried] Traub, Ethik und Kapitalismus. Grundzüge einer Sozialethik, 2. verb. u. verm. Aufl. Heilbronn 1909, 138). Öko­nomen und Sozialwissenschaft­ler, die nach der Jahrhundertwende auf den Konsumenten setzten, um Kritik an der korpo­ratistischen Wirtschaftsstruktur und seiner „Bevormundungs­tendenz“ (Karl Oldenberg, Die Konsumtion, in: Grundriss der Sozialökonomik, Abt. II, Tübingen 1914, 103-164, hier 120) im Konsumgü­termarkt zu üben, oder aber auf seinem Wollen und Streben die Grundlagen einer genossenschaftlich organisierten „sozialen Tauschgemein­schaft“ (zur allgemeinen Diskussion vgl. etwa Oskar August Rosenqvist, Die Konsumgenossenschaft, ihr föderativer Ausbau und dessen Theorie. (Der Föderalismus), Basel 1906) zu gründen, standen allerdings in einer fast hun­dert-jährigen Tradition.

Fasst man diese Debatten abstrakter, so handelte es sich beim deutschen Narrativ des Konsumenten um eine Form der „economic citizenship“ (Gunnar Trumbull, National Varieties of Consumerism, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2006/I, 77-93) im Sinne Gunnar Trum­bulls. Der Konsument galt als integraler und funktionaler Teil der Wirtschaft, der dann in den Vordergrund trat, wenn Märkte versagten; dies galt bei mangelnder Transpa­renz der Qualität, bei ungleichen Machtverhältnissen und beschränktem Wett­bewerb. Institutionelle Phantasie, also marktbezogene Regelmechanismen, schienen erforderlich, um dem mit Blick auf den Konsumenten zu begegnen. Die Interessen des Rol­lenwesens „Konsument“ wurden im Konsumgütermarkt des späten Kaiserreichs ab­seits der un­sichtbaren Hand des Marktes vornehmlich von wissenschaftlichen und ökonomischen Akteuren vertreten (Uwe Spiekermann, From Neighbour to Consumer. The Transformation of Retailer-Consumer Relationships in Twentieth-Century Germany, in: Frank Trentmann (Hg.), The Making of the Consumer. Knowledge, Power and Identity in the Modern World, Oxford und New York 2006, 147-174, hier 147-148). Wir haben es nicht mit sich selbst bewussten und artikulierenden „Konsumenten“ zu tun, wohl aber mit einem virtuellen Konsu­menten, dessen Inte­ressen von der Wirtschaft und den Sachwaltern des Funktions­wissens, also die wis­senschaftlichen und bedingt technischen Eliten, antizipierend nachgebildet wurden. Entsprechend galt vielfach: „die ‚Jury‘ – das Publikum“ (Werner Sombart, Der moderne Kapitalis­mus, Bd. 2: Die Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Leipzig 1902, 424). Je nach Konsummodell wurde der Konsument ganz unterschiedlich definiert. Mindestens drei rangen während des Kaiserreichs um Anerkennung und Domi­nanz: Ich unterscheide zwischen (wirtschafts-)liberalen, mittel­ständischen und konsumgenossenschaftlichen Konsummodellen.

Aufstieg zur Mitte: Das (wirtschafts-)liberale Konsummodell

Die Vertreter der deutschen Manchesterschule, hier sind Namen wie John-Prince Smith (1809-1874), Max Wirth (1822-1900), Julius Faucher (1820-1878), Heinrich Bernhard Oppenheim (1819-1880) oder Eugen Rich­ter (1838-1906) zu nennen, entwickelten ihre Konzepte vornehmlich in der Fortschreibung der britischen Klassiker, aber auch zahlreicher französischen Wirtschaftstheoretiker.

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Eugen Richter (l.) und Julius Faucher als Vertreter des „entschiedenen“ Liberalismus (Der Welt-Spiegel 1906, Ausg. v. 15. März, 4 (l.); Gartenlaube 1863, 269)

Schon Jean-Baptiste Say (1767-1832) hatte die menschlichen Bedürfnisse mit einem Thermometer verglichen, das zwar eine untere Grenze habe, nicht aber einen Mittel- oder End­punkt. Bedürfnisse seien nicht statisch, es galt vielmehr, sie zu entwickeln, sie zu heben. „Je mehr aber die Bedürfnisse überhand nehmen, desto glücklicher befindet sich die Gesellschaft; denn die Bedürfnisse nehmen nur überhand mit den Mitteln zu ihrer Befriedigung“ (Max Wirth, Grundzüge der National-Oekonomie, Bd. 1, 2., vollst. umgearb., verm. u. verb. Aufl., Köln 1860, 424). Produktion und Konsumtion bedingen sich, doch es wird „desto mehr producirt, je mehr die Bedürfnisse in die breitesten Schichten steigen“ (auch für das folgende Zitat Ebd., 425). Folgt man dem Nationalökonom Max Wirth, Vorstand des Congresses Deutscher Volks­wirthe, so war die Konsumtion mit einer Pyramide vergleichbar, die Armut und Be­dürfnislosig­keit, aber auch Reichtum und Verschwendung widerspiegele: Sie galt es tenden­ziell in eine Säule zu transformieren: „Während aber auf der einen Seite die unters­ten Schichten der menschlichen Pyramide hinsichtlich der Zahl ihrer Bedürf­nisse ge­hoben werden sollen, weil sie dadurch auch ihre Production vermehren, so muß die Tendenz der wirthschaftlichen Bewegung doch wieder dahin gehen, die übertriebe­nen Bedürfnisse zu vermindern, die obersten Spitzen der Pyramide den mittleren zu nähern, weil die Befriedigung übertriebener Bedürfnisse (Luxus) in der Regel durch irreproductive Consumtion geschieht, durch welche das Capital, die Pro­duction somit, vermindert und der allgemeine Zustand der Gesellschaft verschlech­tert wird.“ Luxus sei zu verdammen, da er nicht mit der generellen Leistungsfähigkeit der Wirtschaft einhergehe und dem Ökonomie-Prinzip entspreche. Grundsätzlich aber seien die Be­dürfnisse zu einer „unendlichen Ausdehnung fähig“ (Ebd., 440), so dass der verdammens­werte Luxus von heute sehr wohl die rationale Konsumweise von morgen sein könne. Die Orientierung auf das mittlere Segment der Gesellschaft sei nicht nur Aus­druck des staatsbürgerlichen Ideals von Menschen gleichen Besitzes und Bildung, sondern hier sei der „Umfang des Marktes“ (Ebd., 1860, 427) am größten, seien Kostendegressionen also am besten möglich. Konsum hatte aber nicht nur Economies of Scale, sondern ansatzweise auch Eco­nomies of Speed zu beachten, denn er sollte im Einklang mit Jahreszeiten und Pro­duktionsrhythmen erfolgen. Der Konsument sollte zudem in möglichst großen Mengen ein­kaufen und hierbei auf möglichst dauerhafte, gediegene Ware setzen. Das liberale Konsummodell deutete den Konsumenten als ein Kulturprodukt, das die Besonder­heiten des regionalen und nationalen Marktes mit dessen allgemein geltenden Geset­zen handelnd in Bezug setzte. Es gründete auf Freiheit vom Staate, seien doch die Konsu­menten selbst in der Lage, eine angemessene „Ordnung“ zu gewährleisten. Sie zie­lten nämlich auf das „allgemeine Wohl“ (Ebd., 438), dessen Definition aber ihnen selbst überlassen bleiben müsse.

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Die Gediegenheit des bürgerlichen liberalen Konsummodells: Einkaufsstraße im wieder aufgebauten Hamburg Ende der 1840er Jahre (Hamburgs Neubau, Hamburg o.J. [1846/47], Bl. 17)

Entsprechend finden wir selbst in einem der prägnantesten Texte des deutschen Manchesterliberalismus, John Prince-Smiths Artikel über die sogenannte Arbeiter­frage von 1874, nicht nur eine entschiedene Abfuhr konservativer und marxistischer Menschheitsbeglücker, sondern auch ein Konsumideal für die breite Mehrzahl der Bevölkerung. Gegen das eherne Lohngesetz Ferdinand Lasalles (1825-1864) setzte Prince-Smith das sog. „goldene Gesetz“, nach dem sich „das Leben der Wirthschaftswelt auf ein Gesetz steter Fort­entwicklung zum Besseren gestellt ist“ (John Prince-Smith, Die sogenannte Arbeiterfrage, Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft und Kulturgeschichte 4, 1874, 192-207 (auch die folgenden Zitate)). Technische und institutionelle Innovationen würden die Produkte verbessern und verbilligen. Diese Kapitalvergrößerung erlaube höhere Löhne und höhere Lebensansprüche insbesondere der Arbeiter: „Das aufwachsende Geschlecht gewöhnt sich an geräumigere und sauberere Wohnungen, bequemere Möbel, vollständigeren Hausrath, reichlichere Nahrung, bessere Kleidung, auch an gewisse Geistesgenüsse und eine anständigere Geselligkeit.“ Mögliche Verschlechte­rungen würden nicht einfach hingenommen, sondern begünstigen rationale Anstrengungen, um dem Rückfall Widerstand entgegen zu setzen. Ein hohes Konsumniveau sei Ziel des modernen Wirtschaftens – und der Bruch hin zu dieser neuen Dynamik sei mit der wirtschaftlichen Freiheit seit 1815, seit 1848, seit der Gründung des Norddeutschen Bundes verbunden. Der Aufstieg zu immer anspruchsvollerem Konsum erfolge ge­setzmäßig, vorausgesetzt, die unteren Schichten brächten die moralische Kraft auf, ihre Beiträge zur Produktion und ihre konsumtiven Handlungen in die rechte Balance zu bringen.

Es waren derartige Annahmen, die Abgeordnete wie Theodor Barth (1849-1909), Ludwig Bamberger (1823-1889) und insbesondere Eugen Richter spätestens seit den 1870er Jahren zu beredeten Vertretern von Verbraucherinteressen werden ließen – wenngleich im Ord­nungsrahmen des liberalen Konsummodells. Für sie war das Kaiserreich eine Kon­sumgesellschaft auf dem Wege – hin zu einer sich immer wieder veränderten Mitte; man müsse nur Produzenten und Konsumenten ihre Freiheit(en) lassen.

Ordnung und Qualität: Das mittelständische Konsummodell

Doch gerade die „Mitte“ der Gesellschaft vertrat mehrheitlich andere Vorstellungen. Schon die begrenzte Liberalisierung der deutschen Gesellschaft, insbesondere aber der Be­deutungsverlust der Korporationen und auch des Staates, hatte nach Ansicht vie­ler mittelständischer Geschäftsleute zu „anarchistischen Verhältnissen“ geführt. Seit den 1860er Jahren führte jede neue Betriebsform zu Klagen über Niedergang und Verfall der schaffenden Stände, zum Konkurs der kleinen Händler, die doch das ei­gentliche Rückgrat von Staat, Nation und Alltagskonsum bildeten. Seit den späten 1870er Jahren wurden zahllose mittelständische Interessenverbände gegrün­det und nahmen mit teils beträchtlichem Erfolg Einfluss auf politische Ent­scheidun­gen. Sie führten den Staat zurück in den Ring, indem sie eine Parteinahme für ihr Recht forderten, Schutz gegen das von den Liberalen so harmlos verbrämte „Groß­kapital“. Doch hier zählte nicht der Erfolg dieser Staatshilfe, auch nicht die fak­tisch viel wichtigere Selbsthilfe dieser Gruppe kleiner selbstständiger Gewerbetrei­bender. Im Rahmen unserer Fragestellungen rückt das Konsummodell dieser mittel­ständischen Gruppen in den Mittelpunkt, deren Vertreter doch die Mehrzahl der deutschen Kon­sumenten tagtäglich versorgten.

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Modische Gediegenheit für eine Solide Kundschaft: Das Kaufhaus Gustav Cords (Schneegans, 1923, 63)

Der Ausgangspunkt lag dabei nicht in Vorstellungen abstrakten Bedürfnisse und einer gleichsam me­chanisch ablaufenden Geschichte. An ihre Stelle trat eine organische Auffassung der Gesellschaft, ein moralisch geprägtes Subsidiaritätsrecht und ein Geschichtsmodell, das Niedergangsszenarien tendenziell begünstigte. Die Wirtschaft wurde als eine Art geschlossene Volkswirtschaft verstanden, in der die Industrie mögliche Werte schaffte, die Groß- und Einzelhandel mit angemessenem Nutzen realisierten. Die ei­gentliche Leistung der nachgelagerten Stufen bestand im Wissen der selbständigen Händler um die richtige Behandlung und Vermarktung der Ware, die ihnen durch ihre ge­nauen Kenntnisse der Konsumenten und ihrer Bedürfnisse möglich war. Nicht der günstigste Preis sei anzustreben, sondern ein Mix aus gutem Service, hoher Qualität und einem ange­mes­senem Preis. Konsumenten und Händler, Händler und Großhändler, Großhändler und Fabrikanten – sie alle kannten sich und vertrauten einander, „Treu und Glaube“ durch­drang das Geschäftsleben, „Jedem das Seine“ gilt als Imperativ. Dies schloss hohe, sozial angemessene Löhne und wechselseitigen Respekt mit ein. Diese „Inte­ressen­gemeinschaft zwischen Geschäftsmann und Kundschaft“ (Der rechte Weg, Deutsche Rabattsparvereins-Zeitung 5, 1908, 97-98, hier 98) sei jedoch be­droht, wenn das „Großkapital“ die gewachsenen Beziehungen untergrub, das Publi­kum zur „Bil­ligkeitssucht“ erzog und es mit unlauteren Mitteln und überbürdender Reklame in die eigenen Läden expedierte.

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Kommerzialisierung als Bruch mit mittelständischen Werten (Fliegende Blätter 84, 1886, 60)

Die Folgen derartiger Kommerzialisierung seien verderblich: sinkende Qualität der Waren, sin­kende Löhne der Be­diensteten, sinkende Einkommen der Stützen des Staates, eine schwindende Zahl selbständiger Existenzen, ein Niedergang der Staats­finanzen. Der Staat habe daher aus wohlverstandenem Selbstschutz die Pflicht, die Zernierung des Wirtschaftslebens ge­gen Kommerz und Kollektiv zu verteidigen – und dies hatte zumeist auch eine antisemitische Schlagseite.

Das mittelständische Konsummodell betonte nicht allein, dass im Erwerbsleben „alles Hand in Hand“ (J. Rosenbaum, Filialtreiberei und Masse-Bazare, deren Auswüchse und Folgen, Bamberg 1895, 19), sondern auch, dass es einen jeweils opportunen Konsum des Einzelnen gäbe. Dessen Konturen sollten am besten von den Fachhändlern als Konsumexperten abgesteckt werden. Dadurch seien sowohl heterogene Konsumstile als auch eine geordnete stabile monarchische Ordnung möglich. Obwohl das Modell die Einbindung des Einzelnen in klar umrissene Lebenszuschnitte betonte, war es doch mit Wachstum und moderatem sozialen und konsumtiven Wandel kompati­bel.

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Rationalisierung in vorgegebenen Sozialbezügen – Einkaufszentrale der Berliner Edeka, 1907 (Edeka. 75 Jahre immer in Aktion, Hamburg 1982, 12)

Das mittelständische Konsummodell setzte die sozialen Strukturen statisch, zielte daher nicht auf einen sich hebenden mittleren, sondern auf einen standesspezifischen Konsum. Obwohl politisch vor­nehmlich defensiv zur Verteidigung der Besitzstände des nur wenige Dekaden zuvor auf breiter Front entstandenen Facheinzelhandels und des Handwerks genutzt, war dieses Mo­dell reflektiverer Rücksichtnahme das für die politisch Verantwortlichen wohl attrak­tivste Konsummodell. Nicht materiell definierbare, sich in Preisen und Kaufakten nie­derschlagende Bedürfnisse standen dabei im Mittelpunkt, sondern das Ideal einer Ge­meinschaft, in der jeder seinen Platz und seine Funktion hatte.

Aufstieg von unten: Das konsumgenossenschaf­tliche Konsummodell

Diesen Platz mussten sich andere erst erstreiten, das Wirtschaftsbürgertum, die Arbeiterschaft. Die Vertreter mittelständischer Konsummodelle kämpften mit Verve gegen die neuen Betriebsformen des Handels, die für sie vielfach Vertreter einer gelben bzw. roten Internationale bildeten. Als Repräsentant des Umsturzes galten die Konsumgenos­senschaften, deren Herkunft aus der liberalen Idee der Selbsthilfe seit den späten 1880er Jahren kaum mehr bedacht wurde (Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenos­senschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags, Stuttgart 1995, 150-189, insb. 151-155).

Abhängig von der Fremdversorgung der Krämer, wandten sich die ersten, vornehm­lich aus der bürgerlichen Mittelschicht und der Facharbeiterschaft stammenden Ge­nossenschafter handelnd gegen die Überteuerung und schlechte Qualität der Grund­nahrungsmittel und einfacher Konsumgüter. Sie bündelten ihren Einkauf, kauften so billiger und verteilten die wenigen Waren in unansehnlichen Verteilstellen. Man wandte sich gegen die Gewinnabsicht des Kleinhandels, teilte nicht dessen Ge­schäftsgebaren und die darin inkorporierten paternalistischen Elemente. Von der organisierten Arbeiterschaft rigide abgelehnt, von der auf Kredit-, Agrar- und Produktionsgenossenschaften fixierten liberalen Spitze des Genossenschaftsverbandes weit­gehend negiert, gelang es den Konsumgenossenschaften in den ersten drei Dekaden ihres Bestehens nicht, mehr als regionale Bedeutung zu gewinnen.

Erste Vorstellun­gen einer auf genossenschaftlicher Basis gründenden Konsumgesellschaft, wurden seit den 1860er Jahren etwa vom Stuttgarter Konsumvereinsgründer Eduard Pfeiffer (1835-1921) entwickelt. Seine Vorstellung eines auf gemeinsamer Produktion und Distribu­tion gründenden nicht kapitalistischen Konsummodells war noch vielfach liberalen Wirtschaftsideen verpflichtet, da die Kooperation der Konsumenten eine naturwüchsige Lösung der sozialen Frage und eine Integration der Arbeiter in die moderne Konsumgesellschaft erlauben würde. Dies änderte sich erst, nachdem die Konsumgenossenschaften seit Mitte der 1880er Jahre zunehmend von Arbeitern als Mittel zur Verbesserung ihres Lebens­standards und Lebens genutzt wurden. Gestützt auf die seit 1889 mögliche beschränkte Haft­pflicht verän­derte sich erst die soziale Zusammensetzung, dann auch die Leitung und Zielsetzung der „Arbeiterkonsumgenossenschaften“. Sie forcierten die Eigenproduk­tion und bün­delten seit 1894 wachsende Teile ihres Großhandels in der Großein­kaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine.

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Die Hamburger Großeinkaufsgesellschaft als Symbol eines konsumtiven Gegenmodells (Postkarte 1904)

In nur 15 Jahren verfünffachte sich die Konsumgenossen­schaftsbewegung, die seit 1901 mehr als 630.000 Mitglieder hatte – und der 1930 dann mehr ein Fünftel aller Haushalte angehören sollte. Diese Genos­sen wollten nicht für den freien Markt pro­duzieren, sondern einen bekannten Massenbedarf de­cken. Der Ausbau der rasch wachsenden Bewegung erforderte planen­des, auf einem eigenständigen Konsummo­dell basierendes Handeln. Der Generalsek­retär Heinrich Kaufmann (1864-1928), vor allem aber der Philosoph und Genossenschaftslehrer Franz Staudinger (1849-1921) entwarfen seit der Jahr­hundertwende ein heute weitgehend vergessenes Ge­genmo­dell zur bestehenden „Profitwirtschaft“ des Kaiserreichs.

Ziel war „die Herstellung einer Gemeinschaft, in die die arbeitsteilig produzierenden Menschen miteinander so verbunden sind, daß sie sich und ihre zugehörigen Bedürfniskreise durch ihre Tätigkeit geordnet voneinander versorgen können, ohne dadurch in Dienstbarkeit voneinander und in vernichtende Konkurrenzkämpfe miteinander zu geraten“ (Franz Staudinger, Die geregelte Tauschgemeinschaft als soziales Ziel, Konsumgenossenschaftli­che Rundschau 14, 1917, 173-175, hier 173). Die Errungenschaften der modernen Zeit sollten in eine neue, höhere Form des Miteinanders transformiert werden. Der Mensch wurde als ein vernunftbe­gabtes Wesen verstanden, das seine materiellen Bedürfnisse erkennen konnte und demnach die Produktion organisieren könne. Die Konsumgenossenschaftsbewegung bildete hierfür die institutionelle Infrastruktur. Sie bot eine Alternative, um sich vom Kleinhändler und der Profitwirtschaft abzuwenden. Dazu konnte man nicht bei der günstigen Beschaffung und Verteilung von Waren sowie der Investition eines Teils der Überschüsse stehen blieben. Man musste vielmehr aus der distributiven Selbst­beschränkung ausbrechen, um Waren billiger und zugleich qualitativ hochwertiger anbieten zu können. Dazu bedurfte es der Disziplin der Mitglieder, die aus freien Stü­cken Teile der betrieblichen Ersparnisse in neue Anlagen investieren wollten. Idee und Opferbereitschaft bedingten einander. Ebenso wie der Einkauf erst in regionalen, dann nationalen, schließlich internationalen Großeinkaufsorganisationen gebündelt werden sollte, sollte die Eigenproduktion mit der lokalen und regionalen Produktion von frischen Gütern, etwa Brot, Milch oder Fleisch, beginnen.

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Das Ganze im Einzelkonsum sehen: Konsumgenossenschaftliche Eigenmarken (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 8, 1911, Nr. 7, I)

Dann aber galt es, die Größenvorteile zentraler Gebrauchsgüterherstellung zu nut­zen. Den Anfang sollten verarbeitete Lebensmittel machen, dann Haushaltswaren und Einrichtungsgegens­tände hinzutreten. Im nächsten Schritt sollte die landwirt­schaftliche Produktion über­nommen, dann Dienstleistungen und Infrastrukturaufbau integriert werden. Die Kon­sumgenossenschaft wurde als „Genossenschaft schlecht­hin“ definiert, die „Güter be­ziehen, Eigenproduktion treiben, Sparkassen einrichten, Wohnungen bauen, […] Schulen, Bibliotheken, Krankenhäuser usw. ins Leben ru­fen“ (Franz Staudinger, Die Konsumgenossenschaft, Leipzig 1908, 113) könne. Diese Infrastruktur ermöglichte den Genossen die Bildung von individuellen Ei­gentum, schuf relative Sicherheit, erlaubte so ein reflektive Anhebung der Bedürf­nisse. Diese galt es nicht in Konkurrenz zu anderen durchzusetzen, sondern koope­rativ, in Diskussionen ohne Machtgefälle. Wird hier die Friedensmission der Konsum­genossenschaften deutlich, so zeigte sie sich auch im Wettbewerb mit der „Profit­wirt­schaft“, die sie langfristig ersetzen wollte. Gute Ware, geringe Preise und ein überlegenes Ideal sollten „eine neue Kulturepoche“ (Martin Krolik, [Diskussionsbeitrag], Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 9,1, 1911, 648-650, hier 648) der Menschheit ermöglichen.

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Zigarren aus fairer, selbstbestimmter Produktion für den Arbeiter – Konsumgenossenschaftliche Aufklärung (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 8, 1911, Nr. 34, XVI)

Man nahm den Kampf auf, kämpfte aber nicht mit den Mitteln des Gegners. Ange­sichts der heutigen Mikrosegmentierung der Märkte mag man über den Idealismus dieser neukantianischen Konzeption kritteln, doch bis 1918 bündelten die Konsumge­nossen­schaften fast drei Millionen Haushalte – und angesichts der vierstelligen Zahl von Pro­dukten lässt sich im Kaiserreich zumindest mehr als ein Abglanz eines konsumti­ven Bedarfsdeckungsmodells nachweisen.

Das Kaiserreich als Experimentierfeld moderner Konsummodelle – ein vorläufiges Fazit

Die drei vorgestellten Konsummodelle machen deutlich, warum mein so hoffnungsfroh vorgetragenes Zwischenergebnis, das Kaiserreich sei eine Konsumgesellschaft gewesen, zu differenzieren ist. Das Kaiserreich war vielmehr da­durch charakterisiert, dass sehr unterschiedliche, einander gar feindlich gegenüber­stehende Konsummodelle parallel erdacht, diskutiert und praktisch umgesetzt wur­den. Sie enthielten sämtlich Versatzstücke der nach dem zweiten Weltkrieg bzw. seit den 1960er Jahren realisierten „Konsumgesellschaft“. Sie ist als Resultante dieser Mo­delle zu verstehen, ging folgerichtig auch nicht im Vorbild der USA auf. Weitere gingen in sie ein, so etwa schon während des Kaiserreichs gedachte und in nuce vorhandenen rassistisch-völkische und lebensreformerisch-ökologische Konsummodelle. Doch sie alle folgten anderen Imperativen, denen ihrer Zeit. Sie alle sind jedoch auch heute noch präsent, wenngleich als Palimpsest eingeschrieben, nicht aber klar voneinander getrennt.

Enden möchte ich mit einigen vielleicht weiterführenden Thesen: Erstens zeigt sich an den unterschiedlichen Konsummodellen des Kaiserreichs wieder einmal ein fruchtbarer Kontrast zwi­schen einer empirisch und einer stärker diskursiv ausgerichteten Methodologie. Das Kaiserreich war mehr als eine fragmentierte Konsumgesellschaft, denn parallel zu dessen Auf- und Ausbau, entwickelten Theoretiker und Praktiker, Journalisten und Wissen­schaftler ihre Modelle einer anders ausgerichteten, in sich stimmig konstruierten konsumtiven Zukunft. Die Entwicklungsdynamik des Kaiserreichs erlaubte intellektu­elle Experimente, sie führte zu systematischen Rückfragen und vielfältigen prakti­schen Verbesserungen. Zugleich aber beeinflussten die Konsummodelle nur Teile der konsumtiven Wirklichkeit, an der sie sich – gleichermaßen hoffend und verzweifelnd – abarbeiteten.

Zweitens erfordert die Diskussion über abstrakte Begriffe wie „Konsum“, „Konsumtion“, „Konsument“ und „Konsumgesellschaft“ Brückenkonzepte, um fruchtbar zu wer­den und nicht – wie vielfach üblich – die Modelle und Selbstverständlichkeiten unse­rer Gegenwart auf eine vielfach anders gelagerte historische Epoche zu projizieren. „Konsummodelle“, also normative zeitgenössische Deutungen und Leitbilder, können dabei eine wichtige Rolle spielen – nicht zuletzt, um die im planierenden Begriff der „Konsumge­sellschaft“ kaum angelegten Unterschiede analysieren zu können.

Drittens war die Konsumgesellschaft des Kaiserreichs von normativen Vorgaben des rechten „Konsums“ durchdrungen und band, je nach Verhalten, den Konsumenten in höchst unterschiedliche Zukunftsszenarien ein. Es ging nicht um einen hybriden Konsumen­ten, sondern um einen stimmig handelnden Menschen, der um die gesellschaftlichen Folgen seines Konsums wusste und um den deshalb zu werben war. Die seit langem wieder aufkommende „Moralisierung“ von Märkten findet hier ihre Vorläufer – und es ist eine offene Frage, ob die Konsummodelle des Kaiserreichs nicht doch moderner waren als wir dies gemeinhin denken.

Viertens erlaubt Konsumgeschichte die kritische Selbstvergewisserung des Men­schen in einer kommerzialisierten Gesellschaft. Der Verweis auf experimentelle histo­rische Zeiten und heterogene Konsummodelle ermöglicht, die vielfältigen Brechun­gen des Gegenwartskonsums genauer zu analysieren und zugleich Alternativen hierzu zu entwickeln. Gerade die deutsche Geschichte mit ihren vielfältigen und widersprüchlichen Kon­summodellen bietet hierfür ein reichhaltiges und analytisch fruchtbares Arsenal – auch wenn man dafür zeitlich weiter zurückgreifen muss, als uns die manche deutschen Historiker suggerieren.

Uwe Spiekermann, 16. August 2024

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem am 22. Dezember 2009 im Forum Neuzeit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gehaltenen Vortrag. Die Vortragfassung wurde beibehalten, die Quellenbelege wurden auf ein Minimum beschränkt.

Ernährungswissenschaft(en), Wirtschaft und Staat. Geschichte einer Symbiose

„Ernährung“ war im 18. Jahrhundert „die natürliche Verrichtung, da der Cörper durch Speiß und Tranck erhalten wird“ [1]. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ging es dann jedoch immer weniger um lebenserhaltendes Essen. Der Blick richtete sich vielmehr in den Körper, war Ernährung seither doch „die Aufnahme der Nahrungsstoffe von außen und Verwandlung derselben in organische Masse, welche zum Wachsthum und zum Wiederansatz der verlornen Theile des organischen Körpers tauglich ist“ [2]. Ernährung war nicht mehr länger eine aktive menschliche Handlung, sondern wandelte sich zu einem notwendigen Anpassungshandeln gegenüber Naturgesetzen. Ausgehend von der organischen Chemie etablierte sich seit den 1840er Jahren dann eine neue Wissenschaft, die beanspruchte, Nahrung präzise zu beschreiben, den Stoffwechsel zu analysieren und aus alledem ein optimiertes Paket für den Einzelnen, klar definierte Gruppen und das Gemeinwesen schnüren zu können. Diese Ernährungswissenschaft besaß von Anbeginn ein Janusgesicht: Sie zielte auf Folgsamkeit, auf richtige Ernährung, lebte vom Anspruch, Krankheiten präventiv verhindern und diätetisch mildern zu können. Das erfolgte echoarm durch Appelle und Ratschläge, beeinflusste das Essen der Gesunden kaum. Durchsetzungs- und Gestaltungskraft gewann das neue Wissen dennoch: Markt und Wirtschaft wurden von chemisch-stofflichem Wissen zutiefst geprägt, denn es ermöglichte einen neuen Zugriff auf die Materie, veränderte Herstellungsverfahren und Produkte, neue Formen der Marktsegmentierung und des Marketings. Heutige Lebensmittelverpackungen tragen daher nicht vorrangig Preise, sondern ernährungswissenschaftliche Produktinformationen, nämlich Stoffgehalt und Stoffwechselrelevanz.

1. Frühe Präsenz, späte Professionalisierung. Die drei Wege hin zur heutigen Ernährungswissenschaft

Die Ernährungswissenschaft etablierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie war Teil der Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften einerseits, des Aufkommens sozialer Ordnungswissenschaften anderseits. [3] Anfänge lassen sich in der Naturlehre finden, der damit eingehenden Reduktion der Welt auf kleinste Grundstoffe, zuerst der anorganischen, dann auch der organischen Natur. Ein zusammenhängendes, auf nachvollziehbaren und reproduzierbaren Fakten gründendes Gesamtbild entstand jedoch erst seit den späten 1830er Jahren. Seither trat wissenschaftliches Wissen erst neben, dann vor die Deutungshoheit früherer philosophischer Systeme der Lebenskunst, religiöser Weltdeutungen und der ordnenden Diätetik im frühneuzeitlichen Haushalt. Das gilt, auch wenn der Schlagschatten von Philosophie, Religion und Haushaltsökonomik bis heute spürbar ist – Gesundheitslehren, die Trennung der Geschlechtersphären, die jahreszeitliche Zyklik vieler Mahlzeitensysteme sowie zahlreiche Nahrungstabus zeugen davon.

Die sich neu konstituierende Ernährungswissenschaft verstand sich jedoch nicht mehr länger als Hort von Sicherheit und Tradition. Ihr Ziel war es, den Dingen auf den Grund zu gehen, bestehende Rätsel zu lösen. Wissen wurde fluid, herstellbar. Wissenschaft implizierte Forschung, wurde eine „Maschinerie zur Herstellung von Zukunft“ [4]. Das regelhafte Erschließen neuer Bezirke des Wissens war möglich durch die Abkehr vom Spekulativen, durch eine klare Reduktion auf die materielle Welt, auf sinnlich Wahrnehmbares. Neue Mess- und Experimentalsysteme halfen dabei, ergaben genauere Kenntnisse über die Nahrung und ihre Veränderungen, über die Interaktion von organischer Materie und lebendigen Körpern. Die Folge war ein Ordnungs- und Gestaltungswissen, das im sich nun etablierenden Laboratorium entstand, das darin aber nicht verblieb. [5] Historisch etablierte es sich nacheinander als Wissenssystem, als Innovations- und Ordnungssystem, schließlich auch als akademische Teildisziplin.

Ernährungswissenschaft als chemisch-physiologische Grundlegung einer im Stoffwechsel verbundenen Welt

Für die Ernährungswissenschaft konstitutiv waren Justus Liebigs (1803-1873) wagende Untersuchungen, die er ab 1840 zuerst in Lehrbüchern, dann auch in populären Darstellungen bündelte. Der Gießener Pharmazeut und Chemiker plädierte für zielgerichteten Reduktionismus. Er verstand Leben nicht mehr spirituell, sondern als einen gleichermaßen für Pflanze, Tier und Mensch geltenden Stoffwechsel. Die chemisch definierten Nährstoffe besaßen klare Aufgaben, dienten dem Körperaufbau und -betrieb, dem reibungslosen Funktionieren der organischen Lebewesen. Derartiges Wissen erlaubte stoffliche Interventionen durch Düngung der Pflanzen, Fütterung der Tiere und Ernährung der Menschen. Es war unmittelbar anwendungsbezogen, verschiedene Nährregime verwiesen auf Wahl- und Gestaltungsoptionen. Die neu aufgehende „Sonne der Ernährungswissenschaft“ [6] sollte eine vernünftige, auf Grundlage empirisch nachweisbaren Wissens geordnete Welt erleuchten.

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Liebigs Gießener Laboratorium im Deutschen Museum (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 27, VI)

Liebig und seine Kollegen waren zwar Kämpfer gegen alles Immaterielle, doch sie waren immer auch Jünger der Aufklärung, der Herrschaft des schaffenden Gedankens, des Modelldenkens. Erst die physiologisch ausgerichtete Münchner Schule der Physiologie schnürte ab den 1860er Jahren in dieses Denken ein empirisches Sicherheitskorsett ein, gewonnen durch Experimente an Tieren und Menschen, gründend auf der Messung und Wägung der Speisen, der Zufuhr und der Ausscheidungen. Nun wurde die Kalorienrechnung zur Messlatte für den notwendigen und doch variablen Nahrungskonsum. Nun etablierten sich physiologische Kostmaße, am bekanntesten das des Münchener Physiologen Carl Voit (1831-1908), mit dessen Hilfe gesellschaftliche Ordnung begründet und optimiert werden konnte. Die wissenschaftliche Gleichheit der menschlichen Tiere setzte auch soziale Dynamik frei, denn Herr und Knecht wurden mit gleicher Elle gemessen, hatten gleichermaßen Anrecht auf genügend Nahrung, genügend (tierisches) Eiweiß. [7]

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Resorptionsversuche an Hunden im Spiegel der populären Presse (Des Lahrer hinkenden Boten neuer historischer Kalender 1897, 47)

Die langwierige Durchsetzung ernährungswissenschaftlichen Denkens folgte denn auch ökonomischen und staatlichen Nutzenerwägungen. Die Chemie mochte zwar lange als „eine völlig esoterische Wissenschaft“ [8] gelten, doch die umkämpfte Einführung der Agrikulturchemie mit ihrer neuartigen Düngerlehre, die raschen Erfolge der Farbchemie und die Entwicklung pharmazeutischer Spezialitäten bahnten ihr den Weg zu einer Leitwissenschaft der sog. zweiten Industrialisierung. Im Ernährungssektor bereiteten gewerblich produzierte Nahrungsmittel dem neuen Wissen den Weg. Für den Staat aber, der viele der nun entstehenden agrikulturchemischen Institute und eine wachsende Zahl von chemischen, hygienischen und physiologischen Lehrstühlen finanzierte, ging es um gesellschaftliche Ordnung: Die Versorgung von Gefangenen und Soldaten, von Waisenkindern und Fürsorgeberechtigten konnte mit neuem Wissen optimiert, die Löhne auf einen vermeintlich gültigen Grundbedarf ausgerichtet werden. Das ernährungswissenschaftliche Wissen wurde daher rasch entgrenzt und vergesellschaftet. Es handelte sich um eine bürgerliche Errungenschaft, um eine „sehr allmälig und spät reifende Frucht des Culturlebens“ [9]. Ernährung wurde zu einer gesellschaftlichen Querschnittsaufgabe, die Anstrengungen zahlreicher, nicht nur naturwissenschaftlicher Wissenschaften erforderte. Ernährungswissenschaftliches Wissen fand Widerhall auch in Human- und Veterinärmedizin, der Pharmazie sowie den sozialen und Staats-Wissenschaften. Es waren insbesondere Statistik und Nationalökonomie, deren Effizienzideal und Knappheitsdenken dem der Ernährungswissenschaften entsprachen.

Ernährungswissenschaft als Gemeinschaftswerk des „Eisernen Dreiecks“

Trotz alledem, trotz einer weltweiten Vorreiterrolle der Münchener Schule, konnte sich der Begriff der Ernährungswissenschaften vor dem Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen. Der disziplinäre Traditionalismus der universitären Professionen war schon damals stark. Doch während des Ersten Weltkrieges änderte sich dies zumindest begrifflich. Ineffiziente Bürokratien, fehlende Expertise der Militärbefehlshaber und interessenpolitische Rücksichten gegenüber der Landwirtschaft verschärften die durch die völkerrechtswidrige Seeblockade seit 1915 hervorgerufenen Versorgungsprobleme, mündeten in ein erst 1924 beendetes Jahrzehnt der Ernährungskrise. [10] Ernährungswissenschaft etablierte sich damals als Gegenentwurf, als programmatischer Sammlungsbegriff, als Ausdruck einer nationalen Kraftanstrengung unterschiedlicher Teilwissenschaften am Tische der darbenden Nation. Das Flaggenwort stand für den Anspruch, das vorhandene Ernährungswissen zu bündeln und in praktische, krisenwendende Forschung zu lenken. Ein „tieferes geordnetes Eindringen in die Materie“ [11] sollte nicht nur eine gerechte Verteilung auf Basis des physiologischen Grundbedarfs ermöglichen, sondern Wege weisen, um mit den kargen Ressourcen angemessen haushalten zu können. Dies bedeutete vermehrte staatliche Investitionen in angewandte Grundlagenforschung. Es galt Konservierungstechniken zu optimieren, (Ersatz-)Produkte herzustellen sowie neue Nahrungsressourcen zu erschließen. Die Ergebnisse waren ernüchternd, doch die damals geforderten Strukturen prägten seit Anfang der Weimarer Republik den Ernährungssektor.

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Der Physiologe Max Rubner (1854-1932), Doyen der Ernährungswissenschaft vor und während des Ersten Weltkriegs (Zeitbilder 1928, Nr. 31, 3)

Das galt weiterhin weniger disziplinär. „Ernährungswissenschaft“ etablierte sich nach dem Ersten Weltkrieg jedoch als Interessengemeinschaft von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat zur Erforschung, Produktion und Kommunikation einer gesunden und preiswerten Volksernährung. Das damals geformte „Eiserne Dreieck“ kennzeichnet bis heute den Agrar- und Ernährungssektor. Die vom stofflichen Denken, von einem Stoffparadigma geprägte Symbiose bedeutete für alle Beteiligten Legitimation und materielle Absicherung. Die Wissenschaftler nahmen eine formal dienende, faktisch aber leitende Funktion für Nation und Bevölkerung ein, sicherten dadurch auch ihre materielle und gesellschaftliche Position. Der Staat profitierte von der Glaubwürdigkeit und dem Renommee der Wissenschaft, konnte zugleich aber die im Stoffparadigma liegenden Ordnungs- und Versorgungsaufgaben angehen, sah er sich doch zunehmend unter dem Zwang zu intervenieren und zu regulieren. Die Wirtschaft gewann durch die Kooperation verlässliche Produktionsparameter und Marktstrukturen, zudem reduzierten großenteils staatlich finanzierte Institutionen ihre Forschungs- und Entwicklungskosten deutlich. Gegenüber dem Verbraucher gewann man dadurch Vertrauen, konnte zugleich aber den ökonomischen Wettbewerb zähmen und ansatzweise lenken. Die relative Ausgrenzung des Verbrauchers wog demgegenüber gering, boten Marketing und Sozialtechniken in einem von ökonomischer Enge begrenzten Umfeld doch ausreichende Möglichkeiten der Marktintegration. Kaum verwunderlich, dass man auch seitens der Nationalökonomie wünschte, „daß der jungen Ernährungswissenschaft erhöhte Aufmerksamkeit zuteil werde und daß sie bald die Vollkommenheit der landwirtschaftlichen Fütterungslehre erlange.“ [12]

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Das Selbstbild der Wissenschaft: Auszug aus einer Waschmaschinenwerbung (Frankfurter Illustrierte 1959, Nr. 20, 31)

Die hohe Leistungsfähigkeit des Wissens und der Sozialtechnologie des „Eisernen Dreiecks“ zeigte sich nicht nur in dem bemerkenswert glatten Übergang von der tradierten kalorisch-energetischen Ernährungslehre hin zu einem dynamisch-funktionellen, Vitamine, Mineralstoffe und biochemische Prozesse integrierenden Forschungsparadigma. Die Vitamin- und Mineralstofflehre trat in die Fußstapfen der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts dominanten Bakteriologie, konnten doch viele bisher nur zu mildernde Mangelkrankheiten seit der Zwischenkriegszeit effizient bekämpft werden. Wissenschaft, Staat und Wirtschaft gewannen Gestaltungsmacht, standen für Fortschritt und Interventionen zugunsten des Volksganzen. Der Nationalsozialismus bildete dabei keinen Bruch, sondern führte bestehende Denkmuster nur konsequenter weiter. Das galt auch für zahlreiche neue Teildisziplinen, etwa die Ernährungspsychologie, die Hauswirtschaftslehre oder das weite Feld des Social Engineering. Die Ernährungswissenschaft dieser Zeit war interdisziplinär, die Fachzeitschriften „Zeitschrift für Volksernährung“ oder „Die Ernährung“ zeugten davon. Allerdings galt nicht mehr länger der bürgerlich-liberale Wertekanon der ersten Phase, trat doch nicht erst während der NS-Zeit eine rein zweckrationale, vielfach politisch determinierte Forschung in den Mittelpunkt, die in einem physiologisch-rassistischen Rationierungssystem ebenso Niederschlag fand, wie in den Verbrechen führender Ernährungswissenschaftler.

Ernährungswissenschaft als Fachdisziplin

Angesichts der massiven Versorgungsprobleme während und insbesondere unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg stand ein Austausch dieser Fachleute jedoch nicht zur Debatte – in West- und Ostdeutschland. Das „Eiserne Dreieck“ schien alternativlos – und doch änderten sich mit den beträchtlichen Wohlstandsgewinnen der 1950er Jahre die Rahmenbedingungen ernährungswissenschaftlicher Arbeit. Nicht mehr Mangel galt es zu bekämpfen und zu begrenzen, sondern Fülle. „Überernährung“ und damit verbundene „Zivilisationskrankheiten“ wurden zum zentralen Fokus einer sich neu – und nun auch zunehmend disziplinär aufstellenden Ernährungswissenschaft. [13]

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Forschungsgebiete des Gießener Instituts für Ernährungswissenschaften I 1967 (1957-1967. Zehn Jahre Institut für Ernährungswissenschaft, Gießen 1967, 12)

Ab 1962 etablierte sich, erst in Gießen, dann an zahlreichen anderen Universitäten und vor allem Fachhochschulen, die heutige Ernährungs- und Haushaltswissenschaft. Im Kern naturwissenschaftlich ausgerichtet, integrierten die ursprünglichen Konzepte auch ergänzende ökonomische, soziale und psychologische Aspekte der Humanernährung. Mangel- und Unterversorgung wurden weiterhin behandelt, sei es bei Armen, Alten und Ausländern, sei es bei der Ernährung in Entwicklungsländern. In den letzten drei Jahrzehnten gewannen biochemische Ansätze wachsende Bedeutung, wurden zudem sozialtechnologische Perspektiven gestärkt. Ausgegrenzt blieben kulturwissenschaftliche Fragestellungen: Essen als eigenständige Handlung eigensinniger Menschen war nicht Forschungsgegenstand, sondern Störgröße.

2. Unternehmerisches „Pröbeln“ auf wissenschaftlicher Grundlage, 1850-1890

Ernährungswissenschaftler und Unternehmer sind nicht getrennt zu denken. Beide waren Bürger, wissenschaftliche Erfindungen dienten immer auch dem materiellen Gewinn. Eine große Zahl erfolgreicher Erfinderunternehmer prägte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie standen für eine erste Phase individuellen „Pröbelns“, also der Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse auf eng begrenzte Märkte und namentlich gekennzeichnete Markenartikel. Wirtschaft war angewandte Forschung, praktizierte in Produkte geronnene „Menschenwirtschaft“ [14].

Erfinderunternehmer und ihre Pionierprodukte

Typisch für die neuen ökonomischen Chancen einer stoffbasierten Nahrungsmittelproduktion war bereits Liebigs Fleischextrakt, ein globaler Markenartikel, ein zum Produkt geronnenes Sozialprogramm. [15] Das Grundrezept entsprang der chemischen Analyse des Fleisches und seiner Bestandteile. Durch Kochen schien es möglich, die nährende Essenz des Fleisches gleichsam zu destillieren, ein mit Salz und Gewürzen angereichertes aromatisches Küchenprodukt zu gewinnen. [16] Das 1847 veröffentliche Grundrezept wurde mehrfach verbessert, doch aufgrund seines hohen Preises blieb der Fleischextrakt eine Münchner Apothekerware. Das änderte sich 1862, als Liebig mit finanzkräftigen Investoren übereinkam, die Produktion ins uruguayische Fray Bentos zu verlagern und mit seinem Namen für das Produkt zu werben. Die Nährkraft der dortigen Rinder sollte in einem großbetrieblich hergestellten Produkt konzentriert, ein billiges, eiweißhaltiges Volksnahrungsmittel geschaffen werden. Stoffliches Wissen und Globalisierung schienen einen Beitrag zur Lösung der zunehmend drängenden sozialen Frage leisten zu können. [17] Liebigs Fleischextrakt etablierte sich als bequemer Suppengrundstoff und als Würze. Doch die Grundannahme Liebigs trog, dass nämlich sein Produkt nähren könne. Liebigs Fleischextrakt war ökonomischer Erfolg und wissenschaftliches Desaster zugleich, denn er enthielt kein Eiweiß, lediglich Mineralstoffe.

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Liebigs Fleischextrakt: Vorreiter wissenschaftlich-industrieller Nahrung (Bonner Zeitung 1869, Nr. 236 v. 1. September, 4)

Dennoch wurde er zu einem Wegbereiter wissensbasierter Nahrung: Der wissenschaftliche Impuls war zentral, gewiss. Doch drei weitere Aspekte prägten fortan derartige „künstliche Kost“: Erstens gab es intensive Debatten über den Wert des neuen Angebotes, der eine wohlschmeckende häuslich bereitete Fleischbrühe nur ansatzweise ersetzen konnte. Bequeme Zubereitung und Gaumenkitzel durch „Nährsalze“ schienen jedoch als ausreichendes Substitut für ein Nährmittel. Zweitens bewirkte der hohe Salzgehalt eine stete Risikodiskussion. Auch wenn vom Extrakt keine Gesundheitsgefahr ausging, schien doch Vorsicht bei der Veränderung tradierter Nahrungsmittel angeraten – und damit wissenschaftliche Kontrollverfahren. Drittens wurde die soziale Positionierung des Produktes zur Marketingaufgabe. Gedacht für alle Bevölkerungsschichten, etablierte sich der Fleischextrakt just wegen seines fehlenden Nährwertes als gängiger Markenartikel bürgerlicher Käufer.

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Ein Massenprodukt lange vor Dr. Oetker: Backpulver (Leipziger Tageblatt 1879, Nr. 96 v. 6. April, 1926)

Die Diffusion des Liebigschen Fleischextraktes unterstrich, dass eine einfache und überzeugende wissenschaftliche Idee für ein erfolgreiches Produkt nicht ausreichte. Kopfgeburten dieser Art standen immer in der Gefahr, einzelne Vorteile zu stark zu gewichten, zugleich aber deren Bedeutung im Alltag der Kunden falsch einzuschätzen. Das zeigten etwa die seit den 1880er Jahren breit beworbenen Fleischpeptone, die Nährwert besaßen, deren schlechter Geschmack aber ein Vordringen abseits der Krankenernährung unmöglich machte. Die Umsetzung wissenschaftlicher Ideen in Produkte war komplexer als gedacht. Abermals kann Liebig als Beispiel dienen, stand der Münchener Ernährungswissenschaftler doch auch der gängigen Art des Brotbackens kritisch gegenüber. Wohlmeinende Ratschläge, das Brot aus „ganzem Mehl“ zu backen, um so dessen Nährstoffdichte zu erhöhen, scheiterten jedoch kläglich, da – so Liebig – Arme und Reiche gleichermaßen helles Brot aus geschmacklichen Gründen bevorzugten und „Vernunftgründe“ sehr wenig Einfluss auf den Geschmacksinn der Menschen hätten. [18] Die Versorgungskrise in Ostpreußen führte in den späten 1860er Jahren jedoch zu einem neuerlichen Anlauf für eine verbesserte, nun „chemische Methode der Brodbereitung“. Es galt, die beim Mahlen verloren gegangenen „Nährsalze“ zu substituieren, Mahlverluste also auszugleichen, ohne dabei aber den Geschmack des Brotes zu beeinträchtigen. Liebig griff dabei auf Vorarbeiten seines amerikanischen Schülers Eben Norton Horsford (1818-1893) zurück, der seit 1856 erfolgreich Backpulver produzierte. Das Produkt bestand aus zwei Pulvern, nämlich Phosphorsäure und doppelt-kohlensaurem Natron. Liebig ersetzte letzteres durch Chlorkali. Beide Komponenten waren mit dem Mehl zu vermengen, sein Zusatz ergab ein kompaktes, wohlschmeckendes Brot, das sowohl zu Hause als auch beim Bäcker hergestellt werden konnte. Gleichwohl scheiterte das 1869/70 in deutschen Landen in allen führenden Zeitungen und Publikumszeitschriften vorgestellte und annoncierte Horsford-Liebigsche Backpulver. Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien, wo Brot zunehmend in „Fabriken“ gebacken wurde, dominierten in Kontinentaleuropa noch das häusliche Backen mit Sauerteig. Bäckereien besaßen nicht das Kapital für notwendige technischen Umstellungen, auch der Geschmack des teureren Backpulverbrotes ließ zu wünschen übrig. Backpulver wurde weiter angeboten und begrenzt genutzt, doch es mutierte erst seit den 1890er Jahren zu einem Massenprodukt für das sich erst damals allgemein etablierende häusliche Kuchenbacken. [19]

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Nahrungskonzentrat Protein-Graupen (Jeversches Wochenblatt 1863, Nr. 113 v. 22. September, 7)

Diese Nähe zum Markt führte schon früher dazu, dass Unternehmer wissenschaftliche Ideen zwar aufgriffen, dass sie diesen aber nur so weit folgten, wie sie ökonomisch verantwortbar schienen. Suppenpräparate boten dafür ein gutes Beispiel: Seit den 1870er Jahren gewannen Suppenmehle an Bedeutung, Mischungen getrockneter Gemüse mit Gewürzen. Dabei ging es um nährende Suppen, meist Gemenge von Mehlen und Leguminosen. Sie standen in der Tradition der vom (Ersatz-)Kaffee verdrängten Morgensuppen, erlaubten aufgrund ihres Eiweißgehaltes auch eine billige Grundversorgung. [20] Die gewerblich hergestellten Suppenpräparate waren jedoch zu teuer, mundeten nicht recht, hatten eine nur begrenzte Haltbarkeit. Um diese Defizite zu beseitigen, lockten sozial bewegte Philanthropen Innovatoren. Der Kempthaler Unternehmer Julius Maggi (1846-1912) war einer von nicht wenigen, die eine wissenschaftlich-gewerbliche Antwort auf die sozialen Wandlungen geben wollten. Optimierung des individuellen Stoffwechsels und des gesellschaftlichen Volkskörpers verschmolzen dabei. [21] Maggi pröbelte zwei Jahre, stellte 1884 schließlich seine erste „Leguminose“ vor. Das Suppenpräparat war solide, fand Absatz, verfehlte jedoch seine Zielgruppe. [22] Nicht Arbeiter, sondern Kleinbürger griffen zu. Maggi, wie auch andere Anbieter, beließen es dabei jedoch nicht. Sie setzen den geschmacksarmen Leguminosenmehlen Gewürze und andere Zutaten zu. Würzen, Bouillonsuppen und Brühwürfel folgten bis zur Jahrhundertwende. Sie erst bahnten den Fertigsuppen den Weg, mochte der geringe Preis auch zulasten des anfangs so zentralen Eiweißgehaltes gehen. Diese Unternehmer emanzipierten sich in wissenschaftlicher Nachfolge von allzu engen stofflichen Konzepten, entwickelten neuartige Massenprodukte, fanden profitable Kompromisse zwischen Ideen nutritiver Umgestaltung und akzeptablen Veränderungen im Kernbereich menschlicher Existenz.

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Wissensbasierte Ernährungsreform: Maggis Suppen und Würzen (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2224, 11)

Neue Branchen durch neues Wissen

Ernährungswissenschaftliches Wissen ermöglichte jedoch nicht nur neuartige Einzelprodukte. Auch ganze Marktsegmente wandelten sich, so etwa seit den 1860er Jahren die Säuglingsernährung. An die Stelle der „natürlichen“ Muttermilch sollte etwas Besseres, etwas Künstliches gesetzt werden – vorausgesetzt, die Mutter war nicht in der Lage oder aber willens, ihr Kind zur Brust zu nehmen. „Künstliche“ Säuglingsernährung bezog sich nicht auf den Einsatz von Ammen oder Kuh- und Ziegenmilch, sondern umgriff gewerblich hergestellte, chemisch analysierte und häufig von Ärzten verordnete Produkte. Das Wissen von Nahrungsmittelchemie und Ernährungsphysiologie eröffnete neue Märkte, bahnte der Profession der Pädiater den Weg. „Künstliche Säuglingsernährung“ war eine Antwort auf die epidemisch verbreitete Kindersterblichkeit, neben den Infektionskrankheiten die wichtigste Todesursache im 19. Jahrhundert. In Preußen war sie seit den 1820er Jahren vergleichsweise kontinuierlich gestiegen und erreichte zwischen 1860 und 1900 Werte von etwa zwanzig Prozent.

Doch es ging nicht um Mitgefühl. Der Säugling war wissenschaftlich ein organisches Wesen mit unausgebildeter Physiologie, dessen Bedürfnisse vornehmlich um Essen und Wachsen kreisten. Dazu genügten wenige Nahrungsmittel, bei denen Verdaulichkeit und die Resorption der Nahrungsstoffe entscheidend zu sein schienen. Die Muttermilch galt lange Zeit als Ideal, schien alles zu enthalten, was der Säugling benötigte. Einerseits konnte man die Tiermilch durch Verdünnung und Substitution der menschlichen Norm anzupassen, anderseits die Muttermilch gewerblich nachbilden. Das Stoffparadigma war erkenntnisleitend, doch Nahrungsmitteltechnologie und die Erfordernisse der Bakteriologie setzten Grenzen. Die theoretischen Vorteile künstlicher Säuglingskost waren schlagend, war sie doch gleichmäßig zusammengesetzt, dauerhaft verfügbar und keimarm produziert.

Ärzte und Chemiker standen am Anfang, entlehnten ihre Präparate anfangs der häuslichen Praxis. Das galt etwa für die Liebigsche Malzsuppe, die jedoch rasch scheiterte, da ihr Geschmack zu wünschen übrig ließ, sie immer wieder frisch gekocht werden musste, zudem relativ teuer war. Davon ernüchtert begannen zahlreiche Erfinderunternehmer mit Eigenkreationen. Auf der einen Seite orientierte man sich an der Milch, auf der anderen am Mehl, also an Eiweiß oder an Kohlenhydraten. Für den ersten Weg stand das Rahmgemenge des Mediziners Philipp Biedert (1847-1916), gewerblich in Lizenz gefertigt. Sein Erfolg war begrenzt, auch aufgrund der noch kaum elaborierten Eiweißchemie bzw. der fehlenden Nahrungsmitteltechnologie. Die zweite Produktgruppe, die Kindermehle, fand seit den 1860er Jahren dagegen deutlich breiteren Widerhall. Nestlés Kindermehl war ein Leitprodukt, doch 1881 konkurrierten mehr als vierzig verschiedene Präparate um die Gunst der Käufer. [23]

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Rational zusammengesetzt und leicht verdaulich: Kindermehle (Kladderadatsch 28, 1875, Nr. 36, Beibl. 1, 3)

Die frühen Kindernährmittel wurden erst seit den 1890er Jahren auch industriell gefertigt. Es handelte sich um Fertig- und Halbfertigprodukte, entwickelt auf Grundlage ernährungswissenschaftlichen Wissens, regelmäßig untersucht und in einem möglichst hygienischen Umfeld hergestellt. Sie blieben Aushilfen, konnten schon aufgrund ihres Preises die bestehende Alltagspraxis nicht wirklich verändern und die Kindersterblichkeit reduzieren. Dennoch etablierten sie einen neue „Industrie“. Ähnlich gelagerte, teils wesentlich breiter geträumte Umgestaltungsvisionen scheiterten dagegen kläglich, etwa Ende des 19. Jahrhunderts der Versuch, gewerbliche Eiweißpräparate an die Stelle von Fleisch, Ei, Milch und Leguminosen zu setzen. [24] Synthetische Nahrung blieb dennoch ein wissenschaftliches Ziel.

Entstehung und Wandel der Ernährungsindustrie

Wissensbasierte Einzelprodukte und neue Unternehmensbranchen stehen für den langwierigen Wandel des Nahrungsmittelangebotes. Dieser aber setzte früher ein, deutlich vor der Entstehung der Ernährungswissenschaften. Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm der Konsum von Kolonialwaren, wie Rohrzucker, Kaffee, Kakao und Tee zu, doch dieser blieb lange Zeit Luxus, ein Vorrecht Begüterter. Wichtiger war der vermehrte Anbau neuer Agrarprodukte. Seit Ende des 18. Jahrhunderts trat die Kartoffel zunehmend neben das bis dahin dominante Getreide, ermöglichte billigen Kartoffelschnaps. Anfang des 19. Jahrhunderts folgten Zuckerrüben, Zichorien und Tabak. Eine Ernährungsindustrie entwickelte sich auf Basis derartiger Rohwaren, gründete zugleich auf der Ende des 18. Jahrhundert sich verstärkenden Rationalisierung und Intensivierung der Landwirtschaft. [25] Die sozialen Umschichtungen im Gefolge der Bauernbefreiungen ließen eine aufstrebende und zunehmend marktorientierte Schicht von „Agrarkapitalisten“ aufkommen, die für die Versorgung der langsam wachsenden Städte und die seit Mitte der 1830er Jahre einsetzende Industrialisierung unverzichtbar wurde.

Die Ausbildung einer frühen Ernährungsindustrie war ein wichtiger Teil des neuen Maschinenzeitalters, doch sie erfolgte nur in wenigen Branchen. Leitsektor war die Rübenzuckerindustrie, es folgten Getreide- und Ölmüllerei sowie die Tabak- und Zichorienfabrikation. Ziel war durchweg die Weiterverarbeitung und Veredelung von Pflanzen, die Einzelhaushalte nur unzureichend bearbeiten konnten. Brot- und Backwaren sowie Fleisch und Bier wurden dagegen kleingewerblich und verbrauchernah hergestellt, als Teil von Handwerk und Hausgewerbe. [26] Um die Mitte des Jahrhunderts entstanden dann Branchen, die allesamt neue Techniken und Zusatzstoffe nutzten: Mineralwässer, Sekt, Konserven, Schokolade und Konfitüren blieben jedoch lange Zeit relative Luxusprodukte von Adel und wohlsituiertem Bürgertum.

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Gesundheit für alle: Künstliches und natürliches Mineral-Wasser (Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte 15, 1885, Nr. 12, Beil.)

Gleichwohl profitierte die frühe Ernährungsindustrie vom stofflichen Reduktionismus der Ernährungswissenschaft. In der als landwirtschaftlichem Nebengewerbe betriebenen Rübenzuckerindustrie dominierten Praktiker. Sie besaßen genaue Kenntnisse des Produktionsprozesses, weniger aber der verarbeiteten Rohwaren. [27] Dies änderte sich durch ein in den deutschen Staaten schon zunehmend etabliertes Netzwerk landwirtschaftlicher Versuchsstationen. Auf Grundlage der Stöckardtschen und Liebigschen Agrikulturchemie testeten und entwickelten sie Maschinen und Geräte, verbesserten sie die Düngung und insbesondere die Pflanzenzüchtung. [28] Nicht das Kohlenhydratkomprimat Zucker stand im Mittelpunkt, sondern die Zuckerrübe, deren optimierte Varietäten beträchtliche Ertragssteigerungen ermöglichten. Größere Betriebe konnten diese nutzen, Massenproduktionsvorteile generieren und langsam preiswerteren Zucker im In- und Ausland anbieten.

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Rübenzucker, seit 1844 auch in Würfelform erhältlich (Augsburger Tagblatt 1844, Nr. 170 v. 22. Juni, 733)

Kapitalkraft war auch Grundlage für den Wandel des Bierbrauens. Um 1860 emanzipierte sich das Braugewerbe aus seinen kleingewerblichen Strukturen und wurde aufgrund von Gewerbefreiheit und zunehmend scharfen Wettbewerbs seit den 1880er Jahren zum Vorreiter großbetrieblicher Produktion. Sein rasches Wachstum basierte auf der Übernahme ernährungswissenschaftlicher und technischer Innovationen. Der Einsatz von Reinhefen, der Pasteurisierung, des Malzdarrens und der Lindeschen Kältemaschinen erlaubte seit den späten 1870er Jahren eine zuvor nicht denkbare Steuerung des Brauprozesse. Davon profitierten vornehmlich Anbieter untergäriger Biere in Bayern und Böhmen, deren Produktionsweise sich erst reichsweit, dann global verbreitete. Ähnlich wie die Rübenzuckerindustrie gründete die Bierbrauerei auf einem Jahrzehnte zuvor etablierten Netzwerk lokaler und regionaler Brauereischulen, die zu Modernisierungsagenten wurden und stoffliches Denken vermittelten, um standardisiertes Bier zu produzieren.

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Biervielfalt durch Verwissenschaftlichung: Helles Exportbier als regionale Spezialität (Essener Volks-Zeitung 1887, Nr. 124 v. 4. Juni, 2)

Die „fortschreitende Ernährungswissenschaft“ [29] erlaubte jedoch nicht nur neue Produktionstechniken, sondern etablierte bereits im 19. Jahrhundert erste für Massenversorgung unabdingbare Konservierungstechniken. [30] Das betraf vorrangig die Hitzesterilisierung. Technisch war die „Konserve“ seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannt, seit den 1840er Jahren entstandenen erste handwerklich geführte Betriebe, nennenswerte Produktionsmengen erreichte aber erst die Braunschweiger Spargelindustrie in den 1860er Jahren. Die biochemischen Veränderungen waren unklar, doch seit den 1870er Jahren ermöglichten neuartige Autoklaven Konserven für bürgerliche Abnehmer. Neben das Luxusgut Spargel traten seitdem vermehrt preiswertere Gemüse, meist Erbsen und Bohnen. Seit 1889 konnten automatische Dosenverschlussmaschinen das bisher übliche Verlöten der Konservendosen per Hand ersetzen. Erbsenlöchtemaschinen mechanisierten die Arbeit weiter. Um 1900 produzierten ca. 300 kleine und mittlere Unternehmen jährlich etwa ein Kilogramm Standardware pro Kopf. [31]

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Versandgeschäft mittels Blechdosen (Hamburger Nachrichten 1879, Nr. 53 v. 2. März, 10)

Konserven waren intransparente Waren, vielfach ohne Etiketten und Herstellerangaben, mit schwankenden Füllgewichten und hygienischen Problemen. Eine Sinnesprüfung durch den Verbraucher war erst nach dem Öffnen der Dosen möglich. Schwieriger noch gestaltete sich der Umgang mit der wachsenden Zahl von chemischen Konservierungsmitteln, die seit den 1870er Jahren an Bedeutung gewannen. Salizyl- oder Borsäure waren umstritten, unter Wissenschaftlern und auch Unternehmern. Öffentliche Debatten mündeten in frühes Risikomanagement und staatliche Interventionen, etwa durch das Blei-Zinkgesetz von 1887 und vereinzelten Verboten von Konservierungsmitteln. Für die Anbieter aber waren sie unverzichtbar, erlaubten sie doch Marktpräsenz über längere Zeit und in größeren Gebieten.

Die Ambivalenz des Fortschritts

Ernährungswissenschaftliches Wissen erweiterte den Nahrungsspielraum, erlaubte Spezialisierung, war unabdingbar für die Industrialisierung nicht nur des Ernährungssektors – für den damals mehr als die Hälfte des privaten Konsums aufgewendet werden musste. Ernährungswissenschaftliches Wissen veränderte tradiertes Wissen um Nahrung und Ernährung, um Produkte und gesundheitliche Gefahren. [32] Das Stoffparadigma erlaubte die Nachbildung einer fiktiven Natur, war daher aber auch prädestiniert für Nahrungsmittelverfälschung. „Natur“ erwies sich als Fiktion, das „Künstliche“ schuf eine neue, hybride Natur, leistungsfähiger und billiger.

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Weltfremde Forschung? (Lustige Blätter 18, 1903, Nr. 42, 13)

Das unterstrichen die zahlreichen Weinverbesserungsmethoden, deren bekannteste das Gallisieren war. Es stand einerseits für die Prägekraft der durch chemische Analysen ermittelten Normalzusammensetzung der Nahrungsmittel, wies anderseits aber auch Wege, um diese mit künstlichen Mitteln nachzubilden, also „Weinschmiererei“ [33] zu betreiben. Der Erfinder, Ludwig Gall (1791-1863), war ein pfälzischer Reformbeamter, Gewerbeförderer und Sozialpolitiker. [34] Sein Verfahren der Nasszuckerung von Weißweinen resultierte aus den akuten Absatzproblemen der Moselwinzer während der von Missernten und Kälte geprägten 1840er Jahre. Gall empfahl seit 1850 auf Basis eigener Experimente nicht ausgereiften Reben Wasser und vor Beginn der Gärung Zucker und/oder Alkohol zuzusetzen. [35] Das Gallisieren schloss sich an französische Verfahren an und war Teil eines sozialpolitischen Gesamtpaktes, das die Bildung von Absatzgenossenschaften, verbesserte Pflanzenzucht und regionale Lehr- und Versuchsanstalten vorsah: Selbsthilfe auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Methoden. Doch die Methode ließ sich nicht auf den Ausgleich lagenbedingter Defizite des Weines begrenzen. Winzer und insbesondere Zwischenhändler erhöhten die Weinmenge über Gebühr. Eine klare chemische Unterscheidung von (gallisierten) „Kunstweinen“ und „Naturweinen“ gelang erst Ende des 19. Jahrhunderts. Die Ernährungswissenschaft setzte also verschiedene und teils gegensätzliche Entwicklungen in Gang. Gallisieren blieb allerdings eine gängige Technik und wurde in der Europäischen Union erst 1984 durch einfachere Formen der nicht nur in Deutschland weiterhin üblichen Nachzuckerung abgelöst.

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Kunst statt Natur: Wein als Beispiel (Berliner Wespen 10, 1877, Nr. 38, 4 (l.); Kladderadatsch 49, 1896, 38)

Ernährungswissenschaftliches Wissen ermöglichte bereits im 19. Jahrhundert eine sowohl billigere, als auch breitere Produktpalette. Rübenzucker und Zichorienkaffee waren noch Substitute kolonialer Importwaren. Der seit 1823 gewerblich hergestellte „künstliche“ Holzessig entstand dagegen auf Basis organischer, gemeinhin nicht konsumierbarer Materialien, bildete eine scharfe Würze auch ohne langwierige Vergärung auf Apfel- oder Weinbasis. Grundlagenforschung ermöglichte schließlich auch erste synthetische Produkte, so den seit 1887 angebotenen Süßstoff Saccharin und das als Sucrol vertriebene Dulcin. Sie unterminierten ansatzweise die Stellung des frühen Wissensprodukts Rübenzucker, bis ihr Vertrieb abseits von Apotheken 1902 schließlich verboten wurde. [36]

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Neue Süßstoffe: Werbung für Saccharin (Frankfurter Zeitung 1888, Nr. 32 v. 1. Februar, Morgenbl., 4)

Die langfristig wohl wichtigste Innovation erfolgte jedoch im Fettsektor. Die Entwicklung der „Kunstbutter“ entsprang staatlicher Förderung, aber auch dem Pröbeln zahlreicher wissenschaftlich gebildeter Praktiker. Hippolyte Mège Mouriès (1817-1880) wird gemeinhin als Erfinder genannt, 1869 gilt als Jahr des Durchbruchs zur Produktionsreife. Das übergeht vieles, nicht zuletzt weit vorher einsetzende Zwischenlösungen und Produkte sowie die folgende kontinuierliche Veränderung von Produkt und Produktion in Unternehmen. Das anfangs vor allem aus Milch- und Rinderfett, nach der Jahrhundertwende dann aus kolonialen Ölen und Waltran hergestellte Kunstprodukt erhielt den heutigen Namen „Margarine“ allerdings erst 1887 per Reichstagsbeschluss. Die Produktion stieg von ca. 15.000 t 1887 über 100.000 t 1900 auf 210.000 t 1913. [37] Anders als beim Saccharin konnten Verbotsforderungen im späten 19. Jahrhundert abgewehrt werden – Folge der starken Politisierung des Billigfetts durch Linksliberale und Sozialdemokraten, Folge aber auch der Unbedenklichkeitsbescheinigungen durch die aufstrebende Nahrungsmittelchemie.

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Bakterienfreiheit als ambivalentes Produktionsziel (Apotheker-Zeitung 6, 1891, Nr. 3, Anzeigen, 24)

Dies war wichtig, denn im ökonomischen aber auch politischen Kampf gewannen wissenschaftliche Argumente im späten 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Der Grund lag nicht allein in einer zunehmend wissenschaftlich grundierten Nahrungsmittelproduktion, sondern auch in den Paradoxien, die die Ernährungswissenschaften kennzeichneten. Die Säuglingssterblichkeit wurde mittels keimfreier Angebote bekämpft, doch ohne Beikost verursachten sie, wie auch durch die weitverbreiteten Soxhletschen Milchkonservierungsapparate, Vitaminmangelkrankheiten, die vor Benennung dieser Stoffe nicht berücksichtigt werden konnten. Eine große Zahl der Eiweiß- und Kräftigungspräparate der Jahrhundertwende bestanden aus Rest- und Abfallstoffen, ohne dass dies den Verbrauchern bekannt war. Erfinderunternehmer nutzten ihren Wissensvorsprung auch zu gezielter Täuschung. Der vom Münchener Chemiker Hermann Scholl (1869-1943) 1897 eingeführte „Fleischsaft Puro“ bestand eben nicht aus Ochsenfleisch, wurde aber dennoch von zahlreichen Ärzten verschrieben, da er der Wirkung eines frisch gepressten Fleischsaftes nahe kam. Die Rolle des Staates beim Gesundheits- und Verbraucherschutz trat dadurch neuerlich hervor.

3. Nahrungsmittelchemie als Kontroll- und Setzungsinstanz, 1870-1920

Neues stoffliches Wissen und darauf beruhende Produkte hatten die seit dem Hochmittelalter geltenden Kontrollmechanismen im Nahrungsmittelsektor unterhöhlt. Die Sprache des alten Rechts, der Zunftordnungen und obrigkeitlichen Reglements entsprach immer weniger den Marktgegebenheiten. Nahrungsmittel und Ernährung differierten von Ort zu Ort, rechtliche Vorgaben griffen auf dem Lande kaum, in den Städten immer weniger. Man behalf sich mit einem Flickenteppich rechtlicher und wirtschaftlicher Maßregeln. Preistaxen, Gewichtsbestimmungen und die strikte Regelung der Konkurrenzverhältnisse sollten Konsumenten und Verkäufer vor Überteuerung schützen, Lebensmittelvisitation der „Policey“ verdorbene und verfälschte Nahrungsmittel verhüten. Der Bedarf an weiteren Rechtsnormen wuchs allerdings rasch, führten doch Verbesserungen im Transportwesen und das Ende lang bestehender Zollschranken zu einem vermehrten interregionalen Warenaustausch. Der während der frühen Neuzeit zumeist noch enge Kontakt zwischen lokaler Agrarproduktion und städtischer Versorgung wurde nach und nach durchbrochen, Versorgung im späten 19. Jahrhundert zur wissensbasierten Fremdversorgung.

Angesichts wachsender Deregulierung beschränkte sich die Nahrungsmittelkontrolle zunehmend auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit. Pharmazeuten, dann aber vor allem Chemiker waren deren Garanten. [38] Ihr Wissen setzte bereits bei der Produktion, bei neuartigen Fälschungs- und Herstellungsmethoden an, wurde zum Garanten für reine, unverfälschte Ware. Chemiker boten gerichtsverwertbare „objektive“ Dokumentationen von Abweichungen und Verfälschungen. Die Mythen von Zahl und exakter Analyse lieferten Schrittmacherdienste für eine betriebliche und öffentliche Professionalisierung von Pharmazeuten, Handels- und dann vor allem Nahrungsmittelchemikern.

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Nahrungsmittelchemiker im Laboratorium und im Außendienst (Der Welt-Spiegel 1912, Nr. 68 v. 25. August, 3 (l.); Fliegende Blätter 115, 1901, 9)

Der Aufschwung der Nahrungsmittelchemie setzte in den 1870er Jahren ein. Anfang der 1880er Jahre ordneten erste systematisierende Monographien die Nahrungsmittel nach ihrem Stoffgehalt. [39] Sie boten – so der Anspruch – „objektives“ Wissen, kamen der Natur auf den Grund, grenzten sich strikt ab von „Methoden qualitativer Natur, die meistens den Stempel der Oberflächlichkeit an sich tragen und zu den gröbsten Täuschungen Veranlassung geben können.“ [40] Die Scheidung zwischen der „normalen“ Beschaffenheit eines Nahrungsmittels und seiner Verfälschung wurde durch das Stoffparadigma auf eine neue Ebene des Wissens gehoben, ermöglichte verbindliche Produktdefinitionen unabhängig von Zeit und Raum. Im ersten Nahrungsmittelgesetz von 1879 gewann diese Wissenselite einen Hebel für Ordnung, für ihre Ordnung. Die vermeintliche Neutralität der Wissenschaft war hierfür zentral, konnten so doch unterschiedliche kommerzielle Interessen auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden. Das Gesetz zielte auf das „Wesen“ [41] der Nahrungsmittel. Das stoffliche Vokabular der Chemiker und Tierärzte bot hierfür einen kleinsten gemeinsamen Wissensnenner. Sie positionierten sich nun als staatlich bestellte „Wächter des Gesetzes“ [42]. Was im Bereich der Gesellschaft der Staat und die Sprache des Rechtes, schien ihnen im Felde der Ernährung die normierende Sprache der chemischen Stoffe.

Das international vorbildliche deutsche Nahrungsmittelgesetz von 1879 war allerdings überraschend folgenlos, obwohl es einige Formen der Verfälschung und Täuschung reichsweit unter Strafe stellte. Nahrungsmittelqualität blieb ein öffentliches Thema, klagestark hieß es, „daß die große Masse des Volkes nicht mehr im Stande ist, unverfälschte Nahrungsmittel zu kaufen“ [43]. Qualifiziertes Kontrollpersonal fehlte, auch das Verständnis der Gerichte. 1880 gab es reichsweit nur ca. 100 öffentlich alimentierte chemische Nahrungsmittelkontrolleure. Noch trugen Pharmazeuten, Tierärzte und Mediziner die Hauptlast der lokalen Untersuchungen, ergänzt von einer wachsenden Zahl freiberuflicher Handelschemiker. Doch bis 1909 war die Zahl promovierter Nahrungsmittelchemiker auf ca. 500 gestiegen, hinzu kamen etwa 300 in landwirtschaftlichen Untersuchungsanstalten angestellte Chemiker. [44] Diese waren regional höchst unterschiedlich verteilt. Besonders Preußen war anfangs kaum in der Lage, dem geltenden Recht Geltung zu verschaffen, während in Bayern schon seit 1876 mit Universitäten verbundene Untersuchungsanstalten bestanden.

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Kontrollaufgabe Trichinenkontrolle (Kladderadatsch 53, 1900, Nr. 41, 2)

Dieses Nord-Süd-Gefälle schliff sich langsam ab. Das war Folge einer effiziente Selbstorganisation der Nahrungsmittelchemiker, die 1883 die „Freie Vereinigung bayerischer Vertreter der angewandten Chemie“ gründeten, aus der 1901 die „Freie Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker“ hervorging. Ihre regelmäßigen Tagungen erfüllten quasiamtliche Funktionen, ihre Setzungen dienten Gerichten als Referenzmaterial. Die Professionalisierung wurde durch die 1894 eingeführte verbindliche Staatsprüfung für Nahrungsmittelchemiker wesentlich beschleunigt. Das half den staatlich alimentierten Wissenschaftlern sich zunehmend gegenüber Handelschemikern, aber auch Pharmazeuten und Medizinern durchzusetzen – und zugleich ihre Definitionen der Ernährung gegenüber der Wirtschaft selbstbewusst zu vertreten. Seit dem späten 19. Jahrhundert folgten umfassende Begriffsbestimmungen und Kennzeichnungsvorschriften im Nahrungsmittelsektor. Nicht der Staat, sondern Produzenten, Händler und Wissenschaftler legten Standards für immer mehr Nahrungsmittel fest. Diese hatten um die Jahrhundertwende in teils intensiven Konflikten um die Ordnung im Markte gerungen, doch ihre wechselseitige Anerkennung ermöglichte tragfähige Kompromisse. Die Kartellierung der deutschen Wirtschaft fand ihr Pendant in der Kooperation der „interessierten Kreise“ im Ernährungssektor.

21_General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen_1913_12_18_Nr348_p07_Einkaufsgenossenschaft_Edeka_Handelsmarken_Sortiment_Apfelsinen_Lebbin_Nahrungsmittelkontrolle_Werbemittel

Werbeträchtige Kontrolle – hier bei Edeka (General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1913, Nr. 348 v. 18. Dezember, 7)

Wissenschaftliche Experten und wirtschaftliche Repräsentanten verstanden sich gleichermaßen als Sachwalter der Konsumenten. Abseits einiger weniger Konsumgenossenschaften, Käuferligen, Hausfrauenvereinigungen und dann Konsumentenkammern waren die Verbraucher jedoch an den Festschreibungen der Nahrungsmittelqualität und der Kontrollverfahren nicht beteiligt. Das änderte sich auch nicht während der Mangel- und Hungerjahre 1914-1923. Während der Weimarer Republik etablierten die Experten mit dem Lebensmittelgesetz von 1927 und seinen zahlreichen Folgeverordnungen allerdings einen verbesserten Ordnungs- und Kontrollrahmen, der auch noch für die Bundesrepublik Deutschland und die DDR Bestand haben sollte – und das Stoffparadigma rechtsverbindlich festschrieb.

4. Firmenlaboratorien und Verbundforschung, 1900-1950

Wissensbasierte Produktion war das Kennzeichen der sog. zweiten Industrialisierung: Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemikalien, Farben und Pharmazeutika – ihnen allen gemein war wissenschaftliche Expertise, waren zunehmend akademisch ausgebildete Techniker und Wissenschaftler. Naturwissenschaftlich-technische Forschung wurde Teil des Betriebes, zumal größerer Unternehmen. Das Nahrungs- und Genussmittelgewerbe übertraf die genannten Branchen zwar an Umfang – noch 1925 beschäftigte es mit 1,36 Millionen Personen mehr als viermal so viele Menschen wie die chemische Industrie –, doch es war klein- und mittelbetrieblich geprägt. Handwerk, teils Heimarbeit dominierten, ausgeprägte Gewerbecluster gab es nur in wenigen Regionen und Branchen. [45] Die Unternehmen besaßen klar abgrenzbare Sortimente, die sich meist unmittelbar an den verarbeiteten Agrarprodukten orientierten. Die Verwissenschaftlichung der Produktion war begrenzt. Größere Laboratorien wurden zumeist auf Branchenebene unterhalten, Grundlagenforschung erfolgte an Universitäten und in staatlichen Forschungsinstituten. Dies war auch Folge des deutschen Bildungssystems. Chemiker und Ingenieure waren als solche keine Fachleute für die Nahrungsmittelproduktion, Tierärzte und Pharmazeuten hatten andere Berufsbilder. Querschnittsstudiengänge für Lebensmitteltechnologen und Betriebslebensmittelchemiker wurden zwar seit Ende des Ersten Weltkrieges zunehmend gefordert, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisiert. Die Rationalisierung durch Verwissenschaftlichung blieb hinter den Verheißungen der Etablierung stofflichen Denkens in Wissenschaft und Wirtschaft zurück.

Betriebslaboratorien zwischen Qualitätssicherung und Produktentwicklung

Welche Bedeutung besaß ernährungswissenschaftliches Wissen in der Ernährungsindustrie? Die Brauindustrie war um 1900 von großen kapitalkräftigen lokalen Betrieben geprägt, generierte mehr Umsatz als die gesamte Montanindustrie. [46] Im späten 19. Jahrhundert wurde aber nicht nur die Produktion von Bier grundlegend verändert, auch das Produkt veränderte sich durch Zusatz-, Farb- und Konservierungsstoffe jenseits der Grenzen des Reinheitsgebotes. Diese kurze Phase gestalterischer Kreativität war noch vom Pröbeln geprägt, vom Ausprobieren und Austesten, führte zu öffentlichen Debatten über „Dividendenjauche“ und „Surrogatenbrühe“. Sie endete 1906 mit der Durchsetzung des Reinheitsgebotes auch im Norddeutschen Brauereigebiet. Die bayerischen Großbrauereien waren damals Vorreiter preiswerter Massenproduktion. Um Skaleneffekte zu generieren bedurfte es einer berechen- und kontrollierbaren Bierproduktion. Malz, Hopfen und dann auch Wasser mussten dazu innerhalb bestimmter stofflich definierter Qualitätsparameter verbleiben, vom „erfahrungsmäßigen Beurteilungsvermögen“ [47] der Braumeister wollte man immer weniger wissen. Kenntnisse über die agrarischen Rohstoffe wurden durch zahlreiche staatliche Lehranstalten vermittelt; allein die 1883 gegründete Berliner Versuchs- und Lehranstalt bildete bis 1907 mehr als 3.000 Fachleute aus. Für die Unternehmen ging dies einher mit einer systematischen biologischen und dann auch chemisch-technischen Untersuchung der Rohwaren. Betriebslaboratorien wurden vermehrt eingerichtet, zumeist von Chemikern geleitet. Ihre Aufgabe bestand aber eben nicht in der Produktentwicklung, sie sicherten den Brauereien vielmehr „eine sichere Schaffensbasis“ [48]. Dies garantierte eine verlässliche Qualität, etablierte aber zugleich ein Mengendenken im Immergleichen, was spätestens ab den 1960er Jahren ein Grundproblem des deutschen Braugewerbes werden sollte.

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Frauenberuf chemische Assistentin – hier, ein wenig gestellt, in der Zuckerindustrie (Die Woche 5, 1903, 592)

Eine ähnliche Entwicklung nahm auch die Schokoladenindustrie. Kakao und Schokolade waren noch im frühen 19. Jahrhundert vielfach salzig konsumierte Genussmittel, dienten zugleich als Trägerstoffe für zahllose Zumengungen, um dann Stärkungs- und Heilmittel anbieten zu können. Da die hochpreisigen Kolonialwaren schon früh verfälscht und von Surrogaten höchst unterschiedlicher Zusammensetzungen preislich unterboten wurden, setzte der 1876 gegründete „Verband deutscher Chocolade-Fabrikanten“ auf korporative Selbsthilfe. Dessen Mitglieder etablierten ein eigenes stofflich definiertes Reinheitsgebot, das sie mittels einer Gütemarke bewarben und durch ein Branchenlaboratorium kontrollieren ließen. [49] Der Marktführer Stollwerck ging 1884 dazu über, zudem ein Betriebslaboratorium einzurichten, das von einem Nahrungsmittelchemiker geleitet wurde, das zahlreiche Schokoladepräparate, Puderkakao, Fruchtzubereitungen und Backwaren entwickelte, die meist auch patentiert wurden. Die Innovationskraft ließ jedoch seit den 1890er Jahren nach, denn der Kakao- und Schokolademarkt hatte sich etabliert, Nahrungsmitteldefinitionen den Spielraum für konzeptionell neue Produkte verengt. Betriebslaboratorien übernahmen stattdessen vermehrt Kontrollaufgaben. In den 1920er Jahren schulterten sie weitere, vorwiegend kommunikative Aufgaben. Während die Lebensreform- und Schlankheitsbewegung Schokolade als Karies fördernden Dickmacher kritisierte, lobten die Firmenexperten sie als nahrhaftes und anregendes Genussmittel.

23_Der Welt-Spiegel_1931_11_29_Nr48_p11_Schokolade_Naehrwert_Stollwerck_Gesundheit_Richelieu

Stoffe machen das Produkt: Schokolade ist gesund, da voller Nähr- und Anregungsstoffe (Vorwärts 1924, Nr. 577 v. 7. Dezember, 22)

Während Stollwerck seine Marktführerschaft in den 1920er Jahren durch externes Wachstum stärkte, nutzten kleinere Konkurrenten ihre Laboratorien auch für Neuentwicklungen. Ein gutes Beispiel hierfür war der „Mauxion-Trunk“ des gleichnamigen Saalfelder Unternehmens. [50] Dieser „Kakaotrunk“ bestand aus Magermilch, Zucker und Kakao, wurde in ¼ Liter-Flaschen mit Strohhalm angeboten. Der Erfolg war beträchtlich, so dass rasch ein „Schokotrunk“ nachgeschoben wurde, bestehend aus Kondensmilch, mehr Zucker und Kakao, angeboten in einer trinkfertigen Büchse. Aufgrund der vorverarbeiteten Milchprodukte konnte der Preis niedrig gehalten werden, litt der Geschmack nicht durch die Milchpasteurisierung, die damals nur sehr süße Fertigkakaogetränke ermöglichte. Der „Schokotrunk“ war Gegenstand kontroverser regulativer Debatten, war Kakao doch keine Schokolade. Doch Mauxions Markenname blieb bestehen – und stand für die marktbildenden Chancen wissensbasierter Produktinnovationen.

Korporative Strukturen von Forschung und Entwicklung

Ernährungswissenschaftliches Wissen etablierte sich demnach auch auf betrieblicher Ebene. Die im Vergleich zu anderen Branchen dennoch relativ geringen Forschungs- und Entwicklungsausgaben der Agrar- und Ernährungswirtschaft hatten ihren Grund nicht allein in der Vielzahl der Branchen, der noch stark handwerklichen Ausrichtung und der überschaubaren Zahl von Großbetrieben. Der Grund lag in einer anderen Forschungsorganisation. Der einzelne Bauer griff auf die Expertise der landwirtschaftlichen Vereine und Untersuchungsanstalten zurück, auf ein breites Netzwerk regionaler und nationaler Fachzeitschriften. Das galt analog auch für handwerkliche und industrielle Betriebe. Hinzu kam ein breiter Ratgebermarkt. Neben die Wissenschaftler trat eine wachsende Zahl von Fachjournalisten und Schriftstellern, die durch Verbreitung wissenschaftlichen Wissens Einkommen und Einfluss gewannen. Die Grenzen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staatsbediensteten waren fließend, die Konservenindustrie belegt dies. In Braunschweig etablierte sich 1889 das private Untersuchungslaboratorium Dr. Friedrich & D. Rossée, untersuchte Rohwaren und stichprobenartig Konserven. Mit der „Konserven-Zeitung“ erschien sich 1900 eine erste Fachzeitschrift, 1901 folgte der „Verein deutscher Konserven- und Präservenfabrikanten“, der die Zeitschrift, eine Auskunftsstelle für die Mitglieder und eine Versuchsstation unterhielt. Daraus entstand 1911 auch eine Versuchskonservenfabrik, die Verfahren und Maschinen prüfte, verbesserte und entwickelte, zudem Betriebsleiter ausbildete. Geleitet vom Chemiker Herrmann Serger (1884-1971) und dem Kaufmann Bruno Hempel (1882-1936) übernahm sie Forschungsaufträge, Betriebskontrollen, beriet Unternehmen und stellte betriebliche Mängel ab. In den 1920er Jahren weitete sich die Versuchsstation zum Wissenszentrum, war Mittelpunkt eines erst nationalen, dann zunehmend internationalen Expertennetzwerkes. Angesichts derart leistungsfähiger Forschungsstrukturen konnten sich auch große Konservenhersteller auf Produkt- und Prozesskontrolle konzentrieren.

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Forschungsprofil als Dienstleistung (Minerva 28, 1926, 306)

Während in Braunschweig Ernährungswissenschaftler und Betriebe miteinander kooperierten, wurden auf der anderen Ebene staatliche Akteure tätig. Die Nahrungsmittelchemiker sahen sich nicht nur als Sachwalter der Verbraucher, sondern beanspruchten Akzeptanz ihrer in langwieriger Kleinarbeit ausgearbeiteten Festlegungen analytischer Methoden und „normaler“ Zusammensetzungen von Nahrungsmitteln und Produkten. Der 1901 gegründete „Bund Deutscher Nahrungsmittelfabrikanten- und -Händler“ entwickelte konkurrierende Realdefinitionen, die den vielfach regional noch deutlich voneinander abweichenden Handelsbräuchen breiten Raum gaben und den Sinn abstrakter, reichsweit geltender chemischer Definitionen in Frage stellten. Der Staat etablierte sich als Makler zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, doch ihren gemeinsamen Nenner formulierten sie in der Sprache der Chemie, verhandelten Klagen von Verbrauchern nur in derartiger Brechung.

Grundlagenforschung im Schatten des „Eisernen Dreiecks“

Während des Ersten Weltkrieges wurde diese Kooperation anfangs nicht intensiviert. Die groben Konturen der Rationierungspolitik folgten zwar ernährungswissenschaftlichem Wissen, doch die Details der Kriegsernährungspolitik wurden von Militärs und Staatsbediensteten festgelegt. [51] Erst der Hungerwinter 1916/17 veränderte dies. Im Kriegsministerium wurde beispielsweise ein „Nährstoffausschuss“ eingerichtet, dessen Arbeitsgruppen führende Chemiker, Hygieniker und Agrarwissenschaftler zusammenführten, die über die weitere Streckung des Brotes, effizientere Nahrungsmittelproduktion und die nutritive Nutzung bisher wertloser Stoffe forschten. Die Ergebnisse waren begrenzt, folgten Wunschwelten, ökonomische Expertise fehlte. Doch im Gefolge setzten folgenreiche Institutionalisierungen ein, die dem „Eisernen Dreieck“ Gehalt und Gestalt gaben.

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Groß angelegte Planungen (Theodor Paul, Die neu errichtete Deutsche Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie in München, München 1919, 1)

Die konzeptionell bemerkenswerteste Neugründung erfolgte im April 1918: Die in München eröffnete Deutsche Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie zielte auf eine breit angelegte nationale Industrieforschung, um die im Reich verfügbaren Nahrungsressourcen möglichst optimal zu nutzen. Der Blick wurde dabei über die Produktion und die Rohwaren hinaus geweitet, umgriff auch Fragen des Geschmacks, der Verpackung, der Haltbarkeit, der Lagerhaltung und der Abfallvermeidung. Die Forschungsanstalt wurde vornehmlich staatlich finanziert, erhielt geringe Zuwendungen aber auch aus der Wirtschaft. Die Ergebnisse blieben überschaubar, der Kapitalstock schwand während der Hyperinflation, erst der NS-Staat intensivierte die Deutsche Forschungsanstalt neuerlich.

Während nationale Forschungseinrichtungen weiterhin ein Schattendasein fristeten, gewann die „Erhöhung der Erzeugung durch Geistesarbeit“ [52] auf Länderebene massiv an Gewicht. Neue Forschungsanstalten zielten auf die Fisch-, Getreide-, Milch- und Fleischwirtschaft, also auf die wichtigsten heimischen Nahrungsressourcen. Agrarwissenschaftliche Perspektiven dominierten, doch diese Ressortforschung integrierte zunehmend ernährungswissenschaftliche Expertise. Pflug und Sense, Butterfaß und Zentrifuge, Rüttelkasten und Verpackungsmaschine, Kühlaggregat und Blanchierkessel – sie alle mutierten zu Waffen im Kampf um nationale Selbstbehauptung, die ohne eine funktionierende Agrar- und Ernährungswirtschaft nicht denkbar schien.

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Forschungsinstitut für die Fischindustrie in Altona (Das Buch der Weisen 1926, 249)

Parallel setzte auch auf Reichsebene eine systematische, auf drängende Alltagsaufgaben ausgerichtete Forschungsförderung ein, von der die Wirtschaft direkt profitierte. Das 1920 gegründete Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft etablierte 1921 einen Reichausschuss für Ernährungsforschung, dem nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Mediziner, Hygieniker und Volkswirte angehörten. Versorgungssicherheit und eine preiswerte und schmackhafte Ernährung sollten durch Forschung ermöglicht, durch verbesserte Technik umgesetzt werden.

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Führungspersonal der Staatlichen Milchwirtschaftlichen Lehr- und Forschungsanstalt Wangen (Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, Festschrift, 89)

Diese Verbreiterung der Forschungsperspektiven fand in einem erweiterten stofflichen Kanon statt. Vitamine, Geschmacks- und Geruchsstoffe wurden Forschungsthemen, ihre Erhaltung und Optimierung vom Acker bis zum Verbraucher verfolgt. Staatliche Interventionen und präventive Kontrolltätigkeit gingen Hand in Hand. Nach Erlass des Lebensmittelgesetzes 1927 konnten Betriebe direkt untersucht werden. Zudem kooperierten die mehr 400 Nahrungsmittelchemiker in den Ende der 1920er Jahre knapp 140 Untersuchungsanstalten eng mit staatlichen Institutionen. [53] Auch die Forschung der Ernährungsindustrie orientierte sich formal am nutritiven Gemeinwohl. Der 1930 gegründete „Fachausschuß für Forschung in der Lebensmittelindustrie“ bündelte Expertise wissenschaftlich-technischer Fachverbände, um „plangemäße Forschung“ [54] in der Fleisch-, Milch- und Fischwirtschaft zu initiieren und zu finanzieren. Auch zahlreiche Einzelhändler, in erster Linie Konsumgenossenschaften und Filialbetriebe, etablierten Laboratorien, um ihre Produkte anhand stofflicher Kriterien oder aber äußerlicher Merkmale zu testen und eigene Handelsmarken zu entwickeln.

„Gesunde“ Ernährung als Marktchance

Die Debatten innerhalb des „Eisernen Dreiecks“ zielten sämtlich auf einen sich dynamisch verändernden Lebensmittelmarkt, in dem der Wettbewerbsdruck nicht zuletzt durch die nach Kriegsende gefallenen Zollmauern massiv zunahm. Ende der 1920er Jahre bedeutete dies umfangreiche Gemeinschaftswerbung zugunsten heimischer Waren. 1930 bewarben fünfzehn Branchen deutsche Agrarprodukte, etablierten Gütemarken, priesen die verlässliche Standardisierung ihrer Angebote, etwa den einheitlichen Fettgehalt von Butter und Milch oder die „Frische“ des deutschen „Frischeies“. Größere Betriebseinheiten, Produktions- und Absatzgenossenschaften waren erforderlich, um den Anforderungen einer neuen Warenwelt genügen zu können. Auch die Produkte der Ernährungsindustrie veränderten sich. Bei den Edeka-Einkaufsgenossenschaften stieg der Anteil der Markenartikel, der vor dem Ersten Weltkrieg etwa bei einem Viertel gelegen hatte, bis 1934 auf 44 % des Umsatzes, Eigenmarken traten hinzu. [55] Die Weltwirtschaftskrise und die NS-Autarkiepolitik setzen diese Bestrebungen nicht außer Kraft, doch milderten sie den Wettbewerbsdruck und verminderten damit den Zwang zu kontinuierlichen Innovationen. [56]

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Gemeinschaftswerbung für Obst (Vorwärts 1927, Nr. 99 v. 28. Februar, 6)

Die veränderte Form und Aufmachung der Lebensmittel mochte wissensbasierte und stofflich standardisierte Angebote begünstigen, doch wichtiger noch wurde „Gesundheit“. [57] Dieser ohne Kontext inhaltsleere Begriff verwies auf das reibungslose Funktionieren der Körpermaschine. Viele Anbieter spielten mit „Vitaminangst“ [58], mit dem Gegensatz von Gesundheit und Krankheit, mit Unterversorgungen bei essenziellen Lebensstoffen. Sie vermarkteten die expliziten und impliziten Versprechungen der Wissenschaft, obwohl die Reindarstellung der Vitamine erst 1925 einsetzte und synthetische Produkte erst 1933 verfügbar waren. Beworben wurden frische, gering verarbeitete Produkte, was nicht zuletzt Konservennahrung unter massiven öffentlichen Druck setzte und nachhaltige Veränderungen der Hitzesterilisierung nach sich zog. Vorreiter aktiver Vitamin- und Gesundheitswerbung war die sehr kleine Reformwirtschaft, die ihre meist hoch verarbeiteten Produkte als Gesundheitskost propagierte. Ein Beispiel war Vitam-R, ein Hefeextrakt, der als „Fleischextrakt des Vegetariers“ [59] und „natürliches“ Produkt vermarktet wurde. Doch konventionelle Anbieter passten ihre Werbung rasch an, argumentierten mit „Sonnenenergie“, mit „Lebenskraft“ oder anderen Werbephrasen, die durch klinische oder biochemische Studien nicht gedeckt waren, die aber von Marketingexperten immer wieder gefordert wurden, um die Wertigkeit beworbener Produkte herauszustreichen.

29_Dresdner Nachrichten_1930_04_23_Nr189_p5_Der Adler_1939_H07_p30_Vitamine_Vitaminbrot_Bestrahlung_Vitaminpraeparate_Vitalin_Eusovit_Hormo-Pharma

Vitamine im Angebot (Dresdner Nachrichten 1930, Nr. 189 v. 23. April, 5 (l.); Der Adler 1939, H. 7, 30)

Reindarstellungen und synthetische Präparate setzten allerdings neue Dynamiken frei, schienen sie doch die Fortifizierung von vitaminarmen Lebensmitteln zu ermöglichen. Margarine wurde bereits in den späten 1920er Jahren vitaminisiert. Rama im Blauband setzte man das Vitamin A-Präparat Heliozitin zu, Vitmargarin oder Vitamina enthielten Sojabohnenkonzentrate. Mittels wissenschaftlicher Kompetenz schien die Ernährungsindustrie gesunde Produkte schaffen können, lange bevor der NS-Staat die Vitaminisierung der Margarine zur öffentlichen Aufgabe erklärte. Anfang der 1930er Jahre folgten fortifizierte Kindermehle, Puddingpulver oder Lebertran. All das waren wagende Angebote, die vor dem scharfen Schwert der Lebensmittelkontrolle nicht bestehen konnten. Die neuen Präparate hielten sich durchweg nur kurze Zeit, führten nicht zu nachhaltigen Markterfolgen. Wissenschaftlich unterstrichen sie vor allem die noch geringen Kenntnisse über die Wirkungen und den Bedarf des sich ausdifferenzierenden Feldes unterschiedlicher Vitamine. Die Lebensmittelanalytik scheiterte vielfach an Nachweisen im Mikrogrammbereich. Vitamine setzten sich daher eher als pharmazeutischer Präparate, denn als fortifizierte Lebensmittel durch. Für die Ernährungsindustrie bedeutete all dies Forschungsbedarf, um möglichst große Mengen der neuen Stoffe bei der Produktion bewahren zu können, um so die „Frische“ und „Gesundheit“ ihrer Angebote weiter propagieren, um billigere Pflanzenrohware adeln zu können.

Produkte zur Lebensstilstützung

Doch es war nicht nur die Vitaminforschung, die dazu führte, dass in den 1920er Jahren eine „leichtere“ Kost propagiert wurde. Ernährungswissenschaftler verwiesen vor allem auf den veränderten Arbeitsalltag, den Rückgang schwerer manueller Arbeit, die zunehmende Frauenarbeit. All das begünstige Angebote mit einer hohen Nährstoffdichte, konzentrierte und einfach zuzubereitende Produkte mit geringem Kohlehydrat- und hohem Eiweißanteil. [60] Derartige Convenienceprodukte gab es bereits im Kaiserreich, Liebigs Fleischextrakt oder Fertigsuppen waren Wegmarken eines langen Wandels der Enthäuslichung weg vom individuellen Kochen, hin auf die vorgelagerten Produktionsstätten der Ernährungswirtschaft. Auch Backmischungen oder Fertigspeisen entstanden, beide Prototypen einer wissensbasierten Produktentwicklung. Die frühen Convenienceprodukte waren noch länger haltbare, meist pastös eingedickte oder getrocknete Waren, deren Zubereitung an hauswirtschaftlichen Praktiken angelehnt war. In den 1920er Jahren aber stiegen vor dem Hintergrund neuer Stoffwelten die Ansprüche an Gesundheitswert und Geschmack – und diese konnte die Ernährungsindustrie nur auf Basis präziserer Stoffkenntnisse und Prozessführung erfüllen.

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Picknick als Marktchance für Convenienceprodukte (Das Leben 8, 1930/31, Nr. 3, 26)

Das zeigen etwa Angebote für die Wochenendbewegung der späten 1920er Jahre. Naturerfahrung und Gemeinschaftserlebnis wurden durch verkürzte Arbeitszeiten, vor allem aber durch Nahverkehrssysteme und Motorräder möglich. Picknick-Produkte von Metzgern und Feinkostläden waren für diese Klientel oft zu teuer. Hausmannskost dominierte daher, gekochte Eier, Schmorbraten, Obst und Kuchen, dazu Limonaden und Stärkeres. Doch parallel entstanden komplexe Wissensprodukte. 1933 wurden alleine vom Marktführer Heine zehn Millionen Bockwürstchen in Dosen verkauft. [61] Gebrauchsfertig Tubensahne erlaubte verfeinerten Kuchen- und Obstgenuss auch im Freien, aromatisierte Trinktabletten ergaben durch Wasserzusatz geschmacksintensive aromatisierte Getränke. [62] Touristen- und Wochenendkonserven wurden angeboten, lockten ein Massenpublikum mit preiswertem serbischen Reisfleisch oder aber Rinderschmorbraten mit Makkaroni. Das waren einfache häusliche Gerichte mit internationalem Flair, doch technisch war es schwierig, Nährmittel und Fleisch voneinander zu trennen, Textur und Eigengeschmack trotz Hitzeeinwirkung über Monate zu bewahren.

31_Seidels Reklame_16_1932_Nr01_p25_Schaufensterwerbung_Konserven_Fertiggericht_Tafelfertig_Haushaltsrationalisierung

Vorgekocht und tafelfertig: Werbeschaufenster (Seidels Reklame 16, 1932, Nr. 1, 25)

Diese Aufgabe übernahmen vielfach mittlere Firmen, vielfach noch von Wissenschaftlern geleitet. Die forschungsstarken Großunternehmen entwickelten ihr Sortiment dagegen kontinuierlich weiter. Maggi, das 1921 allein im Singener Hauptwerk 1500 Personen beschäftigte, präsentierte nun auch Saucenprodukte, 1919 gebundene Bratensaucen, 1930 auch klare Varianten. 1935 reihte die erste Tütensuppe ohne Kochzeit an, nur zum Erhitzen in Wasser. 1935 folgte eine erste Fleischsuppe in Tablettenform, 1938 dann flüssige Dosensuppen. [63] Sie beruhten sämtlich auf ernährungswissenschaftlicher Expertise. Ihre Markteinführung wurde durch Marktforschung vorbereitet, die Rezepturen durch Verbraucherbefragungen und Produkttests optimiert. Stoffgehalt und Geschmack blieben Kernaufgaben wissensbasierter Produktentwicklung, doch die Vermarktung erforderte zunehmend neue wissenschaftliche Kompetenzen. Süßwaren, Tabakprodukte und Alkoholika mochten als „ungesund“ gelten, wurden aber dennoch massenhaft produziert, wissenschaftlich optimiert und entsprechend beworben: Ästhetischer Kapitalismus in Reinform. [64]

Goldene Zeiten als Teil des NS-Regimes

Die Zäsuren der politischen Geschichte decken sich vielfach nicht mit denen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Viele Ordnungskonzepte der Agrar- und Ernährungswirtschaft folgten den Verordnungen im Gefolge des Lebensmittelgesetzes von 1927. Das Milchgesetz von 1930 war eine Blaupause für die Umstrukturierung und Rationalisierung zentraler Bereiche der deutschen Wirtschaft. Handelsklassen und Standardisierungen veränderten die Arbeit in den Wertschöpfungsketten, waren auch für den Verbraucher spürbar. Die nationalsozialistischen Machthaber setzten viele Ideen um, die zuvor Agrar- und Ernährungswissenschaftler entwickelt hatten. Charakteristisch wurde allerdings der Trend zur Neuorganisation, zur Größe. Der bis 1934 leidlich etablierte Reichsnährstand war nicht nur eine Institutionalisierung des „Eisernen Dreiecks“, sondern kontrollierte direkt und indirekt mehr als ein Viertel des deutschen Bruttoinlandsproduktes, war damit „die größte Wirtschaftseinheit der Welt“ [65]. Der zuvor schon kaum geltende Preismechanismus wurde durch ein umfassendes System von Festpreisen und festgelegten Handelsspannen außer Kraft gesetzt, zugleich aber unternehmerische Initiative eingefordert und weiter ermöglicht. Die anfangs vor allem um Fragen der Selbstversorgung und Autarkie, der Branchenrationalisierung und stofflich ausreichender Versorgung kreisenden Planungen waren Essenzen wissenschaftlichen Denkens. Doch ihr Horizont war nicht mehr, wie noch Mitte des 19. Jahrhunderts, der sozialen Ausgleichs und globaler Arbeitsteilung, sondern der Kampf um Ressourcen, um Selbstbehauptung von Nation und Rasse und um zweckrationale Innovationen für kaum hinterfragte wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Ziele: „Alle Subjektivität muß ausgeschaltet werden, alles was die Objektivität fördert, ist willkommen.“ [66]

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Gleichschritt zwischen Wirtschaft und Ernährungswissenschaft (Der Markenartikel 6, 1939, 231)

Die NS-Herrschaft war materiell eine goldene Zeit der Ernährungswissenschaften, ihr stofflich-physiologisches Wissen entscheidend für die Intensivierung der Agrar- und Ernährungswirtschaft. [67] Lebensmitteltechnologie und Konservierungstechnik, Lagertechnik und Verpackungswesen, nutritive Prävention und Wirkstoffversorgung – überall war Neuland zu entdecken. Zivile und militärische Arbeit waren kaum mehr zu trennen, „Erzeugungsschlachten“ dienten der „Nahrungsfreiheit“, Aufrüstung und „Blockadefestigkeit“ waren ohne „Verbrauchslenkung“ nicht möglich. Dazu wurde die „deutsche“ Ernährungsforschung – auf Grundlage einer meist freudigen Selbstgleichschaltung und ideologischer Durchdringung – in neue „Gemeinschaftswerke“ institutionalisiert, die auch die Wissenschaftslandschaft der deutschen Nachfolgestaaten prägten. Der 1934 gegründete „Forschungsdienst“ bündelte die staatliche Forschung im Sinne des Regimes, seine mehr als 150 Arbeitskreise dienten der „Überwindung wissenschaftlicher Einzelgängerei“ [68]. Interdisziplinäres Arbeiten und Kooperation wurden so gestärkt, Forschung war unmittelbar anwendungsbezogen. Die 1935 gegründete „Deutsche Gesellschaft für Ernährungsforschung“ führte unter Federführung des Reichsgesundheitsamtes Chemiker, Physiologen, Mediziner und Biochemiker zusammen, stand für staats- und wehrpolitische Forschung. Die 1933 umorganisierte „Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung“ intensivierte ihre schon in der Weimarer Republik betriebene autoritative Vermittlung wissenschaftlichen Wissens, ergänzt von der in der „Deutschen Frauenschaft“ organisierten Expertise der Hauswirtschaftslehre. Ihre Testverfahren sollten eine Blaupause für die spätere „Stiftung Warentest“ bilden.

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Wissenschaftler im völkischen Staat: Der Handschlag mit Bauer und Arbeiter (Morgen-Zeitung 1933, Nr. 117 v. 1. Mai, 1)

Nach dieser ersten Welle des Zusammenschlusses entstanden zwischen 1936 und 1942 zahlreiche neue Forschungsinstitute, organisiert zumeist auf Reichsebene. Die Reichsanstalten für Fleischwirtschaft (1938), Fischerei (1938), und Getreideverarbeitung (1942) standen in der Nachfolge der Länderinstitute, zielten auf die optimale Nutzung heimischer Rohwaren, auf deren effizientere Verarbeitung. Die Reichsanstalten für Lebensmittelfrischhaltung (1936) und Gemeinschaftsverpflegung (1939) dienten der gesunden Versorgung von Großgruppen, repräsentierten zugleich das Ideal einer wissenschaftlich ernährten Volksgemeinschaft. Die Reichsanstalten für Fett- (1941) und Vitaminforschung (1942) standen für neue stoffliche Verbundforschung, zielten auf Verträglichkeit von Ersatzstoffen und die Verbesserung bestehender Lebensmittel. Sämtlich lieferten sie der Wirtschaft zu, ermöglichten zahllose wissensbasierte Lebensmittel. Sie waren erstens eng mit der staatlichen Gesundheitsführung verwoben, beschleunigten zweitens den relativen Bedeutungsverlust chemischer Lebensmittelkontrolle und den Bedeutungsgewinn der auch durch den Vierjahresplan intensivierten Industrie- und Wehrforschung. Ihre Arbeit berücksichtigte drittens, durch Befragungen und Produkttests, die Verbraucherperspektive. Durch Bromatik geschmacklich verbesserte sowie einfacher zuzubereitende Lebensmittel sollten die defizitäre Praxis der Hausfrauen verbessern, in Produkte geronnene Haushaltsrationalisierung ermöglichen. Viertens schließlich hatten alle Einrichtungen zwischen biologisch-alternativen und funktional-materialistischen Ansätzen abzuwägen. Es galt, das lebensreformerische, das „biologische Moment“ [69] dem wirtschaftlichen einzugliedern, ja überzuordnen. Fruchtsäfte, Vollkornbrot und Bratlinge waren charakteristische Ergebnisse derartiger Forschung.

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Werbliche Stilisierung des Forschers als Verkörperung deutschen Geists (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1349)

Militärverpflegung als Blaupause der NS-Konsumgesellschaft

Entsprechende Entwicklungen gab es auch in den westlichen Staaten. Was die NS-Zeit jedoch hervorhob, waren massive Investitionen in einen neuen Kranz industriell gefertigter Lebensmittel, die teils von der Wehrmacht selbst, teils von beauftragten Firmen entwickelt und produziert wurden. [70] Großunternehmen und zahlreiche, teils neu gegründete Firmen profitierten von Forschungen im Verpackungswesen, vor allem von neuen Konservierungsverfahren, namentlich der Gefrier- und Trocknungstechnik. Nicht nur die zivile Lebensmittelrationierung stand unter dem Bannstrahl der Versorgungskatastrophe im Ersten Weltkrieg. Auch das Militär hatte sich schon seit 1917 gezwungen gesehen, erst die Rationen der immobilen Truppen, dann auch der Frontsoldaten zu kürzen. Eingestellt auf einen kurzen Krieg, fehlte es seit 1914 an Expertise, um die Millionenheere ausreichend, gesund und abwechslungsreich versorgen zu können. Die Nachführung riesiger Viehherden stockte, Feldküchen fehlten, ebenso qualifiziertes Küchenpersonal. Liebesgaben aus der Heimat deckten anfangs Lücken der Grundversorgung, doch mit Alkoholika und Kaffeeextrakten, Rauchwaren und Kakao, Tee und Kräftigungsmitteln konnte die Grundversorgung nur ergänzt, nicht aber gewährleistet werden. Neben die (Frisch-)Versorgung aus den besetzen Gebieten trat nach kurzer Zeit vermehrt Konservennahrung. Die private Konservenindustrie wurde zwangsverpflichtet, die anfangs geringe Zahl der Armeekonservenfabriken bis 1918 auf ca. 30 erhöht. Gleichwohl sank die Menge der verausgabten Fleisch- und Gemüsekonserven nach zwei Kriegsjahren deutlich, konnte durch das massiv produzierte Dörrgemüse nicht kompensiert werden. [71] Es fehlte nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern insbesondere an Verpackungsmaterialien. Industriell hergestellte Ersatzmittel halfen Lücken zu schließen, doch bei Kriegsende war der körperliche Zustand der deutschen Truppen deutlich schlechter als der der Entente.

Die Aufrüstung der deutschen Militärverpflegung setzte 1933 ein, nun erst wurden die Ergebnisse der Vitaminlehre und der sog. „Neuen“ Ernährungslehre rezipiert. [72] Ausreichend Kalorien, ein hoher Eiweiß- und Fettanteil, ganzjährige Vitamin- und Mineralstoffversorgung, zudem guter Geschmack und lange Haltbarkeit, hoher Conveniencegrad und Abwechslung, all dies zu niedrigen Preisen und aus einheimischen Rohstoffen – so lautete die Wunschliste, die Militärverwaltung und Lebensmittelindustrie abzuarbeiten hatten. [73] Parallel erfolgte ein massiver Ausbau der militärischen Forschungskapazitäten, ein noch umfassenderes Netzwerk von Musterküchen und neue Institute für Lebensmitteltechnologie und -forschung, die im Dreiklang von „Wehrmacht, Wirtschaft, Wissenschaft!“ [74] marschieren sollten.

35_Die Wehrmacht_4_1940_Nr07_p19_Militaerverpflegung_Soldat

Wehr- und Nährpropaganda (Die Wehrmacht 4, 1940, Nr. 7, 19)

Das Ergebnis war ein deutscher Rüstungsvorsprung in der Militärverpflegung. [75] Die Ausbildung von 160.000 Feldköchen bis Mitte 1942 erlaubte trotz eher altertümlicher Küchentechnik eine abwechslungsreiche Vollverpflegung, in der Fleisch teils durch Fisch ersetzt wurde, Salate und Gemüse ihren Platz fanden. Neue Gewürze und schonende Zubereitung führten zu schmackhaften und vitaminhaltigen Speisen, Gefrierkonserven und schonend getrocknete Kartoffeln bzw. Gemüse unterstützten dies. Die Zahl der ausgegebenen Lebensmittel lag Mitte 1941 lag bei 138, Oktober 1942 bei 158, von denen 146 gewerblich verarbeitet waren. [76] Viele davon waren fortifiziert, Würstchen enthielten zusätzliches Sojaeiweiß, Bratlinge Stärke- und Gewürzsubstitute. [77] Ersatzmittel kamen nicht mehr von außen als Liebesgaben, sondern waren als Austauschprodukte Teil der Verpflegung. Die meisten Angebote waren so oder ähnlich auch für Zivilisten gedacht, manche als Bestandteile einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft nach dem Sieg: Gefriergetrocknete Gemüsesäfte, Käse-, Tomaten-, Apfel- oder Marmeladenpulver wurden in den 1950er Jahren zwar keine Kassenschlager, doch das darin geronnene ernährungswissenschaftliche Wissen ermögliche zahlreiche Produkte während dieser neuerlichen „Wirtschaftswunderzeit“, etwa Kartoffelpuffer und -klöße. [78] Militärplaner und die ihnen zuarbeitenden Wissenschaftler und Unternehmen verstanden die verbesserte Militärkost stets als Blaupause für eine Küchenrevolution im Zivilleben, für eine männlich-wissenschaftliche Alternative zum weiblich-ineffizienten Küchenalltag.

Zwischen- und Austauschprodukte

Charakteristisch für die NS-Zeit waren zudem zahlreiche Innovationen im rückwärtigen Produktionsprozess, bei den Zwischenprodukten. Das war Ausdruck immer kleinteiligerer Veränderungen, die sich den Verbrauchern nicht direkt erschlossen, durch die aber bestehende Angebote schmackhafter, länger haltbar oder auch billiger wurden. Beispielgebend wurde die wachsende Palette von Backhilfsmitteln, die als Teigzusätze eine einheitliche Qualität, gleichmäßiges Ausbacken, einheitliche Porung sowie ein lockereres Backwerk ermöglichten. Auch Fett konnte durch den Einsatz von Austauschstoffen auf Zucker-, Kapillärsirup- und Kunsthonigbasis eingespart werden.

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Dreibandtrockner zur automatischen Produktion von Migetti in Nürnberg (Die Milchwissenschaften 1, 1946, 60)

Andere Austauschstoffe wurden erfolgreiche Markenartikel, etwa das 1939 eingeführte kochfertige Migetti, ein reisähnliches Nährmittel für die schnelle Küche, hergestellt aus Molke, Weizen- und Kartoffelstärkemehl, also einheimischen Agrarprodukten. Konzipiert wurde es von Chemikern und Ingenieuren der Bayerischen Milchversorgung GmbH in Nürnberg, die vollautomatische Produktion erfolgte in Kooperation mit Wehrmachtsstellen. Migetti wurde mittels Kundenbefragungen optimiert, sein Vertrieb mit Rezeptbüchern begleitet, eine modern gestaltete Werbung machte das Präparat reichsweit bekannt. Die Produktion konnte während des Zweiten Weltkrieges gesteigert werden, 1943 und 1944 wurden jährlich etwa 16 Millionen Packungen hergestellt.

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Produktion und Test von Milei bei der Württ. Milchverwertung, Stuttgart (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 244 v. 27. Mai, 14)

Noch größere Bedeutung gewann das Eiaustauschprodukt Milei. Es war eines von vielen Präparaten zur Milderung der deutschen Eiernot, zur Verringerung der Abhängigkeit von devisenträchtigen Importen und der Glättung der damals noch beträchtlichen saisonalen Versorgungsunterschiede. Es bestand aus knapp 90 % Magermilch, etwa 10 % Molke sowie technischen Hilfsstoffen. Das Ende 1938 erstmals angebotene Milei war ein Verbundprodukt von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat, entstanden aus der Kooperation der Württ. Milchverwertung AG, der Vierjahresplanbehörde und dem württembergischen Wirtschaftsministerium. Milei wurde zur Dachmarke verschiedener Austauschstoffe, konnte Eiweiß und Eigelb nahezu gleichwertig ersetzen, war zudem billiger als das Hühnerei. Wie Migetti wurde es innovativ beworben, auch in Wehrmacht und Gemeinschaftsverpflegung eingesetzt. Die Firma expandierte während des Krieges erst im Reichsgebiet, dann auch in den besetzten Gebieten in West- und Osteuropa, wies knapp 20 Produktionsstätten auf. Die Produktion substituierte 1944 1,293 Mrd. Eier oder 17% des deutschen Eierkonsums 1936. Dies entsprach den damaligen Eierimporten. Während die meisten Pläne der NS-Experten Chimären waren und Aufwand und Ertrag in keinem angemessenen Verhältnis standen, war Milei eine seltene Ausnahme. Das Präparat behauptete sich in der Nachkriegszeit als gängiges Präparat in Bäckereien, Eisdielen und Kantinen.

38_Karlsruher Tagblatt_1935_04_11_Nr101_p05_Ersatzmittel_Holzzucker_Goering_Marzipan_Torte

Werbung für Austauschstoffe: Marzipantorte für das Ehepaar Göring aus Holzzucker (Karlsruher Tagblatt 1935, Nr. 101 v. 11. April, 5)

Die enge Kooperation zwischen Wirtschaft, NS-Staat und Ernährungswissenschaft mündete in zahlreiche weitere Produkte, die keine Breitenwirkung entfalteten. Zu denken ist etwa an Holzzucker, an synthetische Fette, an Biosyn-Wurst. [79] Ihre Entwicklung steht für die Hybris von Wissenschaftlern, Nahrungsmittel gleichsam selber schaffen zu können. Sie stehen für Menschenversuche, für die Tötung von KZ-Häftlingen, für Fütterungsexperimente mit Soldaten und auch der Zivilbevölkerung. Das Interesse an diesen Produkten und der zugrundeliegenden Forschung war nach dem Zweiten Weltkrieg international dennoch beträchtlich.

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Mindestbedarf hinterfragt: Öffentliche Kritik an der Rationalität der Rationierung (Simpl 3, 1948, 61)

5. Marketinggetriebene Forschung und ihre Probleme, 1950-2020

Die Wirtschaftswunderjahre waren eine Zeit außergewöhnlicher wirtschaftlicher Wachstumsraten. Die langfristige Trendentwicklung lässt das „Superwachstum“ jedoch weniger exzeptionell erscheinen, handelt es sich beim „Wiederaufbau“ doch zu beträchtlichen Teilen um die Realisierung von Wachstumspotenzialen, die vor 1945 aufgebaut worden waren. Erst nach der Bewältigung der drängenden Versorgungsaufgaben wurden die Konservierungstechnologien und das differenzierte stoffliche Wissen der Zwischenkriegszeit breitenwirksam und bestimmten immer stärker das Lebensmittelangebot. Die viel beschworenen Wirtschaftswunder in Ost- und Westdeutschland gingen dabei nicht auf eine quantitativ wachsende Zahl von Experten zurück. Anfang 1956 gab es in der Bundesrepublik ca. 250 amtliche Lebensmittelchemiker, weitere 100 arbeiteten freiberuflich, 250 dieser promovierten Fachleute verdingten sich in der Industrie und nur 50 waren in wissenschaftlichen Institutionen tätig. [80] Hinzu kamen mehrere hundert meist diplomierte Lebensmitteltechnologen. Die Industrie zehrte stark von den Forschungsergebnissen der NS-Zeit einerseits, der Adaption ausländischer Technik anderseits. Die DDR investierte mit ca. 100 amtlichen und 25 freiberuflichen Lebensmittelchemikern sowie 25 Fachleuten in wissenschaftlichen Einrichtungen deutlich mehr in die zentrale Lebensmittelkontrolle und -entwicklung, doch in der Industrie gab es nur promovierte 50 Fachwissenschaftler. [81]

Kontinuität bei Personal und Strukturen

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Temporärer Notstand oder Die Mär vom Bruch (Simpl 5, 1950, 22)

Die wichtigsten technologischen Veränderungen der 1950er Jahre liefen in den angelegten Bahnen der Vorkriegs- und Kriegszeit. Die Entnazifizierung blieb praktisch folgenlos. Die faktische Beibehaltung der Reichsnährstandsverwaltung unterstützte diese Kontinuität der Wissenseliten. Die Netzwerke zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat blieben stabil, wurden durch die deutsche Teilung wesentlich stärker beeinträchtigt als durch die Demokratisierungsbestrebungen der Besatzungsmächte. Als 1951 die „Arbeitsgemeinschaft Ernährungswissenschaftlicher Institute“ als Kooperationseinrichtung der vom Bundesernährungsministerium geförderten Forschungsinstitute gegründet wurde, waren deren Leiter größtenteils frühere Nationalsozialisten. [82] Das stoffliche Wissen schien nach wie vor unangefochten und unverzichtbar. In Ost- und Westdeutschland gab es in den jeweiligen eisernen Dreiecken einen unterschiedlich aufgeladenen Paternalismus, um den Verbraucher zu richtiger Ernährung und dem Kauf gesunder und heimischer Produkte anzuleiten. Nach mehr als einer Dekade von ihnen ersonnener und mitgetragener Austausch- und Zusatzstoffe, positionieren sich Ernährungswissenschaftler neuerlich als Sachwalter der Konsumenten. Angesichts wachsender und qualitativ stark gespreizter Angebote schien ihnen „Gesundheitsführung“ [83] weiterhin unverzichtbar. [84]

Selbstbedienung und neue Absatzwelten

Und doch, trotz der Versuche, die alten Figurationen beizubehalten, veränderte sich die Stellung des eisernen Dreiecks, da sich Wirtschaft und Gesellschaft änderten. Zentral war dabei die viel beschworene „Revolution im Einzelhandel“, der spätestens in den 1960er Jahren die Entscheidungsgewalt über die Lebensmittelsortimente übernahm. Größere Betriebe und andere Einkaufsformen folgten aber nicht nur betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten, sondern waren Konsequenzen der während der NS-Zeit entwickelten neuen Technologien und Produkte.

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Neue Absatzformen: Übergang zur Selbstbedienung bei Edeka (So baut man heute an der Ruhr, o.O. 1960, s.p.)

Trotz intensiver Diskussionen in den 1920er Jahren und praktischen Versuchen ab 1938 ließ die Selbstbedienung lange auf sich warten. In der Bundesrepublik Deutschland gab es 1950 39, 1955 erst 738 SB-Läden, in der DDR stellte man erste Läden 1951 um. Doch erst Ende der 1950er Jahre begann ein grundstürzender, bis in die frühen 1970er Jahre erstreckender Wandel. [85] Hauptgrund für die anfangs langsame Umstellung war, dass es sich bei der Selbstbedienung nicht um ein neues Verkaufssystem handelte, sondern um ein koordiniertes Absatzsystem, das Groß- und Einzelhandel, Produzenten, Verpackungsindustrie und Konsumenten gleichermaßen forderte. Die Produkte mussten nicht einfach in andere Regale gepackt werden, sondern wurden zum Verkäufer ihrer selbst. Präzises Wissen über Lebensmittel, ihre Veränderungen, ihr optimales Erscheinungsbild, ihr Verpackungskleid war erforderlich. [86] Die Verkaufsräume wurden umgestaltet, Verkaufsmöbel ersetzten die Verkaufstheken, wurden ergänzt durch Kühlmöbel und Registrierkassen. Die Ladengröße wuchs rapide, im Westen von anfangs schon bemerkenswerten 200 m² auf 1000 m² gegen Ende der 1950er Jahre. [87] Die Läden mutierten zu kalkuliert eingerichteten kommerziellen Kunsträumen, die Zahl der darin zum Verkauf arrangierten Produkte stieg rasch an: Sie betrug 1954 durchschnittlich zuvor unglaubliche 1.383 und verdoppelte sich bis 1969 auf 2.767. [88] An die Stelle mittelständischer, um eine Warengruppe herum organisierter Fachgeschäfte traten nun integrierte Lebensmittelgeschäfte. Frischwaren gewannen zahlenmäßig an Bedeutung, doch die Zahl verarbeiteter Lebensmittel nahm noch stärker zu. Die Bedeutung des Marketings für die Lebensmittelbranche wuchs weiter. Dies war auch Folge der Reintegration Westdeutschlands in den internationalen Handel, durch den Branchen wie etwa die Konserven- oder die Käseindustrie unter massiven wirtschaftlichen Druck gerieten.

Ausdifferenzierung der Nahrungs- und Genussmittelindustrie

Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie erwirtschaftete 1950 fast ein Fünftel, 1960 fast ein Siebtel des industriellen Gesamtumsatzes der Bundesrepublik Deutschland. Nachholeffekte und der vermehrte Konsum geschmacksintensiverer eiweiß- und fetthaltiger Lebensmittel führten 1950 bis 1954 zu gegenüber der Gesamtindustrie überdurchschnittlichen Wachstumsraten von jährlich 9,7 %, die von 1955 bis 1959 absolut auf 8,8 % stiegen, relativ aber zurückgingen. [89] Angesichts rasch wachsender Märkte stand im Mittelpunkt der „Massenfertigung“ [90] der Lebensmittel die betriebliche Rationalisierung. Sie erfolgte durch einen nochmals gesteigerten Mechanisierungsgrad sowie die intensivere Nutzung eingesetzter Rohware. Der beträchtliche Maschineneinsatz führte zu einem rasch steigenden Umsatz pro Beschäftigtem, der trotz relativen Rückgangs 1960 mehr als doppelt so hoch lag wie in der gesamten Industrie. Ergänzt wurde dies durch vermehrten Einsatz von elektrischen Sensoren für einfache Geruchs- und Geschmacksprofile sowie eine gegenüber der Zwischenkriegszeit deutlich verbreiterte Palette von Präzisionswaagen. [91]

42_Deutsche Lebensmittel-Rundschau_60_1964_p8_Die Ernaehrungswirtschaft_09_1962_p315_Ernaehrungsindustrie_Maschinen_Verpackungsmaschinen_Trocknungstechnik_Dragoco

Zerstäubungstrockner für Frucht- und Gemüsepulver, Etikettensigniergerät, Verpackungsautomat (Deutsche Lebensmittel-Rundschau 60, 1964, 8 (l.); Die Ernährungswirtschaft 9, 1962, 315)

Innerhalb der Branche kam es durch die skizzierten Konsumveränderungen zu deutlichen Verschiebungen. [92] Parallel erhöhte sich der Konzentrationsgrad der insgesamt mittelständisch geprägten Branche. 1955 entfielen auf die 29 Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten lediglich 9,7 % des Branchenumsatzes, während die 934 Unternehmen mit 100-999 Beschäftigten 55,9 % auf sich vereinigten. [93] Der Konzentrationsgrad änderte sich erst in den frühen 1960er Jahren, als sich die Wachstumsraten deutlich abschwächten und zugleich höhere Investitionen erforderlich wurden. Die wachsende Nachfragemacht des Handels machte sich bemerkbar, zum anderen erreichte die Branche strukturelle Sättigungsgrenzen, die sich auch durch höherwertige Rohwaren kaum mehr durchbrechen ließen. [94] Erhöhte Wertschöpfung erforderte immer höhere Aufwendungen, insbesondere für Know-how und Technologie. Viele Unternehmen übernahmen aber auch Lohnfertigungen insbesondere von Handelsmarken.

Industrieforschung zwischen Mittelstand und Großunternehmen

Die Ernährungsforschung erfolgte in den frühen 1950er Jahren erst einmal in tradierten Bahnen. Staatliche Forschungseinrichtungen dienten der Grundlagenforschung, die Industrie kooperierte branchenbezogen, größere Betriebe unterhielten eigene Laboratorien. Anders als in den USA gab es nur selten eine enge Verbindung von Theorie und Praxis, mochte das Stoffparadigma auch die Arbeit leiten. Es fehlte die im „Forschungsdienst“ und vor allem während der Kriegswirtschaft praktizierte Gemeinschaftsforschung von Unternehmen und öffentlich finanzierten Ernährungsfachleuten. Anfang der 1950er Jahre wurde die Theorielastigkeit der Ernährungswissenschaft beredt beschworen. [95] Die Wissenschaftler beklagten wiederum eine allgemeine Unterfinanzierung, mangelndes Humankapital sowie fehlende apparative Ausstattungen.

Die wichtigste institutionelle Konsequenz hieraus war der Anfang 1953 gegründete „Forschungskreis der Ernährungsindustrie“. 30 Verbände der Lebensmittelindustrie und zehn Ressortforschungsinstitute kooperierten, gefördert zuerst vom Bundesernährungsministerium, dann auch vom Bundeswirtschaftsministerium. [96] Bis 1963 hatte sich auf dieser Basis ein Netzwerk von 33 Branchenverbänden und 34 Forschungsinstitutionen etabliert. [97] Der „Forschungskreis der Ernährungsindustrie“ war ein funktionales Äquivalent für die weggebrochene Gemeinschaftsforschung der NS-Zeit. Dem eisernen Dreieck gelang so ansatzweise die Tilgung der „schwachen Stellen“ [98] der Produktion. Kooperationen erfolgten bei den schon in der Zwischenkriegszeit dominanten Fragen der Ernährungsphysiologie, Prozesstechnik, bei neuen Analysemethoden und Qualitätsforschung.

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Selbstdarstellung per Flyer (FEI, Bonn o.J. (2000) (Ms.)

Gleichwohl wurden spätestens mit Ende der Jahre des leichten Wachstums die Mängel der Industrieforschung offenkundig. Hygiene- und Qualitätssicherungsverfahren mochten gut etabliert sein [99], doch die Aufwendungen der Ernährungsindustrie für Forschung und Entwicklung betrugen 1965 lediglich 0,05 % vom Umsatz (Gesamtindustrie 1,1 %) und auf 1.000 Beschäftige entfielen lediglich 1,7 Wissenschaftler (Gesamtindustrie 4,9). [100] Für die mittelständischen Unternehmen war es preiswerter, Patente und Lizenzen einzukaufen – das Negativsaldo gegenüber den USA betrug 1962 10,6 und 1970 12,1 Mio. DM – als in eigene Betriebslaboratorien zu investieren. Forschungsaktivitäten wurden zudem an den Spezialmaschinenbau und die Verpackungsindustrie gleichsam delegiert, in Branchen also, die von der neuen Berufsgruppe der Lebensmitteltechnologen geprägt waren. [101] Multinationale Konzerne investierten systematisch in Forschung und Entwicklung. Unilever beschäftigte dafür 1963 global 1.600 Personen, darunter 300 Akademiker. Das Hamburger Laboratorium, das nicht zuletzt für die Wiedereinführung der Tiefkühlkost sowie in der Fett- und Stärkeforschung Pionierarbeit leistete, war mit 200 Beschäftigten, darunter ca. 40 promovierten und diplomierten Chemikern, Physikern, Mikrobiologen und Ingenieuren, die größte einschlägige Forschungseinrichtung in der Bundesrepublik Deutschland. [102] Insgesamt verstärkte sich während der 1960er Jahre auch im Forschungs- und Entwicklungsbereich die innere Heterogenität der Branche. Während einige Großbetriebe die Trends setzen, versuchte sich die Mehrzahl der mittleren Unternehmen durch den Einkauf von technologischem Know-how sowie eine rasche Adaption von Konkurrenzprodukten auf dem Markt zu behaupten.

Institutionalisierte Ernährungswissenschaft mit schwindendem Wirtschaftsbezug

Die Ernährungswissenschaft reinstitutionalisierte sich in den 1950er Jahren unter dem Dach der „Deutschen Gesellschaft für Ernährung“ (DGE). Sie war 1953 als gemeinsame Initiative von sieben eigenständigen Organisationen gegründet worden und stand in personeller und inhaltlicher Kontinuität zur „deutschen“ Ernährungsforschung, insbesondere der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsforschung und der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung. [103] Die DGE wurde von früheren nationalsozialistischen Funktionseliten gegründet und bis Anfang der 1970er Jahre von diesen repräsentiert und entscheidend geprägt. Ihr Aufstieg erfolgte nicht zuletzt aufgrund der Förderung durch die öffentliche Hand. Ihre Zielgruppe, die Ernährungsfachleute, erreichte die DGE mittels der Zeitschrift „Ernährungs-Umschau“, wissenschaftlicher Kongresse, kleineren Fachsymposien, dann durch Arbeitstagungen sowie mit Hilfe weiterer auf Landesebene eingerichteter Sektionen. Markstein einer auch öffentlichen Anerkennung bildete die Auftragsforschung für den 1969 erstmals erscheinenden Ernährungsbericht. [104]

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Mit bewährten Kräften: Erste wissenschaftliche Tagung der DGE in Mainz 1954 (Ernährungs-Umschau 1, 1954, 3)

Während die Bedeutung der Politik hoch blieb, schwächte sich die Verbindung der Ernährungswissenschaft zur Ernährungsindustrie langsam ab. Das war auch Folge der seit 1962 erfolgten disziplinären Institutionalisierung. Das seit langem bestehende, aber spät etablierte Fach hatte sich zwischen tradierten Fächern wie der Chemie, der Human- und Tiermedizin, den Agrarwissenschaften und dem Maschinenbau zu behaupten und fokussierte sich primär auf die Erforschung und Propagierung „richtiger“ und „gesunder“ Ernährung. Hinzu kamen Nachklänge harter und ausgrenzender Debatten mit lebensreformerischen Ansätzen, die in der NS-Zeit noch wissenschaftsimmanent geführt wurden, die seit den frühen 1970er Jahren dem Fach jedoch einen konservativ-gouvernantenhaften Anstrich gab. Eine wichtige Ausnahme bildete allerdings die Vollwert-Ernährung und die darauf aufbauende Ernährungsökologie. Ihre Anfänge lagen zwar im Nationalsozialismus, doch unter der Federführung des Chemikers und Mikrobiologen Claus Leitzmann behauptete sie sich nicht nur in harten fachinternen Debatten, sondern dominiert heute die öffentliche Rede von nachhaltiger und verantwortbarer Ernährung sowie die Empfehlungen der DGE. [105] Bemerkenswert sind bis heute die beträchtlichen Unterschiede der Lehr- und Forschungsschwerpunkte der unterschiedlichen Standorte. Die Blickrichtung auf die Gefahren des Wohlstandes und einer nicht rationalen Ernährung haben zwar seit den 1960er Jahren die Bedeutung der Ernährungswissenschaft für die Politik erhöht, haben ihre Position als dynamisches Zentrum des Eisernen Dreiecks jedoch unterminiert. [106] Gerade die forschungsstarken multinationalen Konzerne prägen seit den 1980er Jahren öffentliche Ernährungsdebatten stärker als die DGE oder universitäre Wissensproduzenten, wie etwa die Debatten über Gentechnik, Functional Food und vegane Kost belegen.

Neue technische Lebensmittel für Wohlstandsbürger

Dieser Funktionswandel begann in den 1960er Jahren, zeigte sich an Instantprodukten, Fertiggerichten und Tiefkühlkost. Was früher Ersatz hier, stand nun für Fortschritt [Verweis Ersatzmittel]. Entsprechende Angebote gab es schon in den 1940er Jahren, doch erst in den SB-Läden fanden sie ein angemessenes Verkaufsumfeld, profitierten zudem vom gesellschaftlichen Wandel und der Technisierung der Haushalte. Die drei Produktgruppen unterstreichen aber auch einen zunehmend raschen Wandel der Angebote. Bei „Instant“ dachte man lange Zeit an das von Nestlé entwickelte Pionierprodukt Nescafé. In den 1950er Jahren instantisierte man zudem Milchpulver, Zucker und Mehl, in den 1960er Jahren folgten Suppen und Puddingpulver, Kakaogetränke, Kuchenmischungen und auch Fertiggerichte. Der damals in der Werbung als Modernitätsmarker gern verwandte Begriff verlor danach seine Strahlkraft, wurde üblicher Bestandteil gängiger Produkte. Nun wurden an sich bekannte Verfahren auf weitere Produktgruppen übertragen. Fertiggerichte gab es schon im 19. Jahrhundert, nicht erst seit Maggis 1958 eingeführtem Ravioli-Dosengericht. Anspruchsvoller waren Fertiggerichte in Papp- und Kunststoffbeuteln, dann in Aluminiumschalen, durch die der Geschmack besser bewahrt werden konnte. Großabnehmer dominierten anfangs den Käufermarkt, hohe Preise und der vielbeschworene Hausfrauenstolz begrenzten ihre Durchsetzung in den Haushalten. 1967 kauften immerhin 28% Fertigmenüs, während Kartoffelfertiggerichte bei 43% Anklang fanden. [107] Darin manifestierte sich aber auch ein Trend, der das quantitative Wachstum der Sortimente entscheidend bestimmen sollte. Komplettangebote trafen auf mehr Skepsis als Einzelkomponenten, mochte die dafür verwandte Technologie auch identisch sein. Entsprechend gewannen Pommes frites, Pudding oder Frikadellen als Convenienceprodukte weitere Marktanteile, kaum aber vollständige Mahlzeiten. Fertiggerichte waren dabei zugleich immer häufiger Tiefkühlwaren – der Siegeszug der in den USA entwickelten Tiefkühlpizza begann in Westdeutschland 1970. Nestlé, Unilever und die GEG bestimmten Anfang der 1960er Jahre die Trends. Von 1960 bis 1980 verzwanzigfachte sich der Verbrauch von Tiefkühlkost, die bei Hähnchen auch Wegbereiter der Massentierhaltung wurde. [108] Die Leistungsfähigkeit dieses Produktions- und Absatzsystems war auch im Systemkonflikt relevant, denn entsprechendes gelang in der DDR nicht. [109]

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Fertiggerichte aus der Dose und tiefgekühlt (Frankfurter Illustrierte 1960, Nr. 9, 48 (l.); Das Beste aus Reader’s Digest 26, 1973, Nr. 5, 196)

Investitionen in den Produktgeschmack

Diese Produktgruppen wurden seitens der Ernährungswissenschaften sehr unterschiedlich bewertet: Instantprodukte wurden erklärt, Fertiggerichte kritisiert, Tiefkühlkost gefeiert. Während sich die Politik bedeckt hielt, propagierte eine marketinggeprägte Ernährungswirtschaft ihre Produkte und verwies auf den vermeintlichen Willen der Käufer. Derartig divergierende Bewertungen wurden seit den 1970er Jahren üblicher, unterminierten den Grundguss des Eisernen Dreiecks. Wissenschaftlich gebildete Experten standen gegen wissenschaftlich gebildete Antipoden. Das zeigte sich etwa an der seit den 1960er Jahren zunehmenden Aromatisierung der Lebensmittel. Sie folgte der seit Mitte der 1950er Jahre etablierten Gaschromatographie, durch die Aromenspektren einfacher auszuloten und dann synthetisch nachzubilden waren. 1970 waren 1.100 künstliche Aromastoffe bekannt, knapp 600 davon zulässig, weitere 300 vorläufig zulässig. [110] Ihr Einsatz war die Spiegelseite längerer Haltbarkeit und höheren Conveniencegrades, denn sie verringerten die Diskrepanz zwischen den Werbeversprechen und dem realen Lebensmittel. Diese Zusatzstoffe erlaubten mittels elektronischer Nasen eine erhöhte Prozesskontrolle und zahllose neue Angebote: Liköre, Limonaden und Brausen, Süßwaren, Schokoprodukte, Speiseeis, Backwaren, Puddingpulver, Suppen und Soßen, Kaugummi sowie Tabakwaren standen dabei im Mittelpunkt. 1981 waren ca. 13 % aller Lebensmittel aromatisiert, Mitte der 1990er Jahre dagegen schon 20 %. [111] Zwei Punkte sind festzuhalten: Erstens kritisierten viele Ernährungswissenschaftler diesen Trend. Mittelfristig führte dies zu vermehrter Regulierung und zum Siegeszug „natürlicher“ Aromastoffe. Die Hersteller verwiesen – wie schon Mitte des 19. Jahrhundert die Weinverbesserer – darauf, dass sie mit ihren (gesundheitlich unbedenklichen) Zusätzen lediglich Aromaverluste ausgleichen und das Angebot in seinen Ursprungszustand versetzen würden. [112] Zweitens unterstrich die Aromatisierung die zunehmende Spezialisierung der Ernährungswirtschaft. Aromenhersteller wie Döhler, Wild, Dragoco und Haarmann & Reimer etablierten sich aber nicht nur als Zulieferer, sondern boten zunehmend komplette Produktkonzepte an. Die Auftraggeber produzierten zwar noch, Forschung, Entwicklung und auch Marketing wurden jedoch als Dienstleistungen eingekauft. All dies erfolgte zunehmend auch im europäischen und globalen Rahmen.

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Geschmacksabrundung durch nicht kennzeichnungspflichte Essenzen (Süsswaren 4, 1960, 543)

6. Wertschöpfung, Selbstoptimierung und Kontrollregime

Die Fortschreibung all dieser Entwicklungen bis in die Gegenwart ist nicht Aufgabe eines Historikers. Die Ernährungswissenschaften konzentrierten sich allerdings in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf die weitere Fortschreibung des Stoffparadigmas; nun allerdings nicht mehr in den Makrowelten von Eiweiß, Kohlenhydraten und Fetten, sondern in den Mikrowelten vieler bisher nicht erforschter Stoffgruppen. Dies diente auch der innerwissenschaftlichen Behauptung, verbleiben die Ratschläge der Ökotrophologie doch zumeist echolos, ergibt nur „harte“ Forschung Renommee im naturwissenschaftlichen Kosmos. Sie erschloss in engem Kontakt mit staatlichen Regulierungsbehörden weiterhin Märkte. Es ging dabei um neue Figurationen des seit Mitte des 19. Jahrhundert immer wieder variierten Stoffparadigmas und der damit verbundenen Leistungsfähigkeit wissenschaftlichen Reduktionismus.

In den späten 1990er Jahren begann eine anfangs vor allem von Nestlé, Danone und Unilever in Gang gesetzte Kampagne für Functional Food. Die Produktgruppe wurde mit zahlreichen anderen Neologismen umschrieben, Performance Food dürfte das (Selbst-)Optimierungsziel noch besser treffen. Inhaltlich ging es um die Entfernung von Stoffen mit unerwünschten Effekten, um die Konzentration natürlicher Inhaltsstoffe mit positiven Wirkungen, um Stoffsubstituierungen sowie eine erhöhte Bioverfügbarkeit bestimmter Stoffe. Stoffe wurden mit gesundheitlichen Wirkungen verbunden, sie virtuos zu arrangieren und rearrangieren unterstrich die Kompetenzen von Ernährungswissenschaftlern und Wirtschaft. Ein scheinbar besseres und vor allem gesünderes Leben schien möglich. Trotz massiver Werbekampagnen und breiter Präsenz in Massenmedien waren die ökonomischen Ergebnisse jedoch unbefriedigend, setzten sich einschlägige Produkte nur in Nischen durch.

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Rotwein essen – Functional-Food Werbung 2000 (Der Spiegel 2000, Nr. 43 v. 23. Oktober, 110)

Auch die Forschung für Mood Food hatte weit zurückreichende Vorgänger, vor allem in der Psychotechnik, der klinische Psychiatrie und der Neurobiologie. Genussmittelwerbung nutzte die Grundidee seit ihren Anfängen. Lebensmittelinhaltsstoffe haben demnach eindeutige Auswirkungen auf menschliche Emotionen und Stimmungen, können also genutzt werden, um die persönliche Befindlichkeit zu verbessern, um Stimmungsschwankungen auszugleichen und die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Mood Food ist – wie das heute gängige Nudging – ein mikroautoritaristisches Konzept, das auf Selbst- und Fremdsteuerung ausgerichtet ist. Die belastbaren Ergebnisse der bisherigen Forschungen sind gering, sieht man von recht banalen Aussagen ab, die in der Erfahrungsmedizin seit langem bekannt sind. Zwar wurden zahllose bioaktive Stoffe untersucht, ihre exakten Wirkungen in einem komplexen physiologischen Umfeld bleiben aber unklar. Die Effekte hängen auch stark vom Ess- und Arbeitsumfeld ab, stärker noch von der „Umwelt“. Gleichwohl ist der Reiz derartiger Forschungen kaum abgeflaut. Sie helfen das methodische Arsenal der Ernährungswissenschaften zu weiten, erlauben zugleich wissensbasierte PR. Auf der Produktebene haben sie seit der Jahrtausendwende dazu geführt, Entspannungs- und Wohlfühlaspekte in der Werbung und insbesondere in der Namensgebung hervorzuheben. Wer wollte nicht – trotz fehlenden Wirknachweises – die Teemischung „Quelle der Entspannung“ konsumieren.

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Teegetränke mit Gute-Laune-Namen (Schrot & Korn 2007, H. 6, 69)

Das tradierte Ideal einer gesunden Ernährung fand Widerhall aber auch auf mikrobiologischer Ebene. Waren für Liebig noch die chemischen Grundstoffe die Lettern im Buch des Lebens, so sind es nun DNA-Sequenzen. Sie können gewiss zu einem vertieften Verständnis zahlreicher Krankheiten führen. Doch die Nutrigenomics versprechen mehr: Auf Basis individueller Gentests lässt sich ein Risikoprofil erstellen, können Krankheitsdispositionen benannt werden. Daraus kann man rationale Ernährungsschlüsse ziehen, Lebensmittelmittelinhaltsstoffe variieren und reduzieren, um seine Chancen für ein Leben ohne Krankheit zu erhöhen. Dies bietet Wissenschaft und Wirtschaft neue Wachstumsmärkte: Auf der Grundlage verbesserter Kenntnisse der Wirkungsmechanismen der Stoffe und fortgeschrittener Technik können mittels flexibler Spezialisierung Produkte hergestellt werden, die von der Rohware über die Zusatzstoffe, den Produktionsprozess, die Verpackung, die Lagerhaltung und schließlich die Zubereitung auf die genetischen Besonderheiten des Einzelnen zugeschnitten sind. Wertschöpfungskreislauf und Stoffwechsel gehen damit eine neuartige Symbiose ein. Damit dies gelingt, muss man lediglich die Modellannahmen teilen und die Kosten tragen können. Man kann dies als Zukunftsvision feiern oder abtun, doch die „Verwegenheit der Ahnungslosen“ [113] wird weiterhin Märkte schaffen und Kunden generieren. [114]

Das Stoffparadigma trägt Wissenschaft und Wirtschaft – evaluiert und reguliert von staatlichen Akteuren – also weiter. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert wird die Wirkung einzelner Stoffe und Stoffgruppen selbstbewusst festgeschrieben, werden auf dieser Grundlage Produkte und Dienstleistungen geschaffen. Als Teil der „Bereicherungsökonomie“ [115] werden diese immer wieder mit neuen Werten versehen, materialisieren Sehnsüchte nach „Gesundheit“, „Kraft“, „Fitness“, „Genuss“, „Natur“, „Gerechtigkeit“ und anderen Plastikwörter kommerziellen Hoffens. Das erlaubt es den Akteuren des Eisernen Dreiecks sie immer wieder neu aufzuladen und mit jeweils unterschiedlichem Sinn zu versehen. Sie werden damit zugleich enträumlicht und entzeitlicht, aus ihren historisch konkreten Bezügen gelöst. Durch diese semantischen Illusionen wird Kontinuität geschaffen, wird Geschichte getilgt. Die massiven Veränderungen aller Lebensmittel und aller Produkte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden unsichtbar gemacht, können in Szenarien steten Fortschritts eingebettet werden. Die Moralisierung von Essen/Ernährung ist eine logische Folge, ebenso echoloser Paternalismus und wohlstandssteigernde Marktsegmentierungen unter Bannern von Nachhaltigkeit, Klimaschutz und einer neuen Lust am Ersatz.

Uwe Spiekermann, 25. Mai 2024

Quellen und Literatur

[1] Ernährung, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 8, Halle und Leipzig 1734, Sp. 1698.
[2] Ernährung, in: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch der gebildeten Stände, Neue Ausg., Bd. 2, Stuttgart 1818, 570.
[3] Uwe Spiekermann, Pfade in die Zukunft. Entwicklungslinien der Ernährungswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: G[esa] U. Schönberger und Ders. (Hg.), Die Zukunft der Ernährungswissenschaft, Berlin u.a. 2000, 23-46.
[4] Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, 84.
[5] Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 31-42 (auch als Bezugsrahmen für spätere Passagen).
[6] Max v. Pettenkofer, Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt, Braunschweig 1873, 33.
[7] Zuletzt Laura-Elena Keck, Fleischkonsum und Leistungskörper in Deutschland 1850-1914, Göttingen 2023.
[8] Kurt Hoesch, Emil Fischer. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1921, 140.
[9] Pettenkofer, 1873, 33.
[10] Mary Elisabeth Cox, Hunger in War and Peace. Women & Children in Germany, 1914-1924, New York 2019.
[11] Max Rubner, Die Ernährungswissenschaft, Deutsche Revue 41, 1916, 262-268, hier 268.
[12] Heinrich Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 4, Freiburg i. Br. 1922, 138, FN.
[13] Alice Weinreb, Modern Hungers. Food and Power in Twentieth-Century Germany, New York 2017, 196-236.
[14] Max v. Pettenkofer, Dr. Justus Freiherrn von Liebig zum Gedächtnis, München 1874, 49.
[15] Mark R. Finlay, Early Marketing of the Theory of Nutrition. The Science and Culture of Liebig’s Extract of Meat, in: Harmke Kamminga und Andrew Cunningham (Hg.), The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam und Atlanta 1995, 48-74; Spiekermann, 2018, 130-138.
[16] Justus Liebig, Ueber die Bestandtheile der Flüssigkeiten des Fleisches, Annalen der Chemie und Pharmacie 62, 1847, 257-369, hier 360-364.
[17] Zur Einbettung s. Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017.
[18] Zitate n. Justus v. Liebig, Eine neue Methode der Brodbereitung, Annalen der Chemie und Pharmacie 149, 1869, 49-61.
[19] Hans-Gerd Conrad, Werbung und Markenartikel am Beispiel der Markenfirma Dr. Oetker von 1891 bis 1875 in Deutschland, Berlin 2002.
[20] [Fridolin] Schuler, Ueber die Ernährung der Fabrikbevölkerung und ihre Mängel, Zürich 1883.
[21] Jakob Tanner, Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950, Zürich 1999, 90-107.
[22] Martin R. Schärer, Ernährungsanalyse, Lebensmittelindustrie und Produktinnovation: Der Fall der Leguminosenmehle, Lebensmittel-Technologie 29, 1996, 591-601; Spiekermann, 2018, 139-144.
[23] [Albert] Villaret, Von der Hygiene-Ausstellung, Berliner klinische Wochenschrift 20, 1883, 735.
[24] Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209.
[25] Karl-Peter Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie 1750-1914, Stuttgart 1993.
[26] Einseitig und oberflächlich Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung, Paderborn 2020.
[27] Ralf Schaumann, Technik und technischer Fortschritt im Industrialisierungprozeß. Dargestellt am Beispiel der Papier-, Zucker- und chemischen Industrie der nördlichen Rheinlande (1800-1875), Bonn 1977, 59-62.
[28] Thomas Wieland, »Wir beherrschen den pflanzlichen Organismus besser,…«. Wissenschaftliche Pflanzenzüchtung in Deutschland 1889-1945, München 2004.
[29] Deutsche Heeres-Zeitung 4, 1879, 490.
[30} Uwe Spiekermann, Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Industrie und Haushalt 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, Köln 1997, 30-42, hier 31-32.
[31] F[ranz] Stegemann, Die Konservenindustrie, in: Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands, Bd. III, Leipzig 1904, 830-844.
[32] Vgl. (auch als Forschungsüberblick) Veronika Settele und Norman Aselmeyer, Nicht-Essen. Gesundheit, Ernährung und Gesellschaft seit 1850, in: Dies. (Hg.), Geschichte des Nicht-Essens, Berlin und Boston 2018, 7-35.
[33] Siemens, Ueber die Verbesserung des Weins durch einen Zusatz von Zucker und Wasser, Agronomische Zeitung 9, 1854, 716-718, hier 716.
[34] Heinz Monz, Ludwig Gall. Leben und Werk, Trier 1979.
[35] Ludwig Gall, Zur Geschichte des Fortschritts der Weinbereitung, Praktische Mittheilungen zur Förderung eines rationellern Betriebs der landwirthschaftlichen Gewerbe 2, 1857, 1-9.
[36] Christoph Maria Merki, Zucker gegen Saccharin. Zur Geschichte der künstlichen Süßstoffe, Frankfurt a.M. und New York 1993.
[37] W[alther] G. Hoffmann, 100 Years of the Margarine Industry, in: J[ohannes] H[ermanns] van (Hg.), Margarine. An Economic, Social and Scientific History 1869-1969, Liverpool 1969, 9-36, hier 22.
[38] Vera Hierholzer, Nahrung nach Norm. Regulierung der Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871-1914, Göttingen 2010.
[39] Joseph König, Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, T. 2, Berlin 1883.
[40] Ebd., VIII.
[41] Gesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen, in: Stenographische Berichte […] des Deutschen Reichstags [Bd. 44]. 3. Legislaturperiode, II. Session 1878, Bd. 3, Anlagen, Berlin 1878, 766-830, hier 772.
[42] J[oseph] König, Bestand und Einrichtung der Untersuchungsämter für Nahrungs- und Genussmittel in Deutschland und außerdeutschen Staaten […], Berlin 1882, 152.
[43] Berliner Volksblatt 1885, Nr. 181 v. 6. August, 2.
[44] J[oseph] König, Die Bedeutung der Chemie in wissenschaftlicher wie wirtschaftlicher Hinsicht sowie die soziale Stellung der Chemiker, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 18, 1909, 179-188, hier 181-182.
[45] Das Nahrungs- und Genussmittelgewerbe im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der gewerblichen Berufszählung 1925, Wirtschaft und Statistik 8, 1928, 262-272.
[46] Mikulás Teich, Bier, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800-1914, Wien, Köln und Weimar 2000.
[47] F[riedrich] Hayduck, Das deutsche Brauereigewerbe im Spiegel der Wissenschaft, Der deutsche Volkswirt 8, 1933/34, Nr. 48, Sdr.-Beil., 8-10, hier 10.
[48] Concurrenz und Publikum, Deutsche Brau-Industrie 29, 1904, 465-466, hier 465.
[49] [Bruno] Kuske, Ausführliche Firmengeschichte […], Stollwerck-Archiv Köln, Bl. 17.
[50] Walter Schwädke, Schokoladenfabrik Mauxion m.b.H. Saalfeld-Saale, Berlin 1931; Claudia Streitberger, Mauxion Saalfeld, Erfurt 2016.
[51] Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan. Eine Denkschrift, Braunschweig 1914.
[52] Otto Eisinger, Die Ernährung des deutschen Volkes eine Organisationsfrage der Erzeugung, Berlin 1921, 112.
[53] Hugo Böttger, Entwurf von Grundsätzen für eine einheitliche Durchführung des Lebensmittelgesetzes, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1930, 110-114, hier 111.
[54] Fachausschuß für die Forschung in der Lebensmittelindustrie, Die Fischwirtschaft 7, 1931, 33-37, hier 33.
[55] Bericht der Edekazentralorganisationen über das Geschäftsjahr 1934, Edeka Deutsche Handels-Rundschau 28, 1935, Sdr.-Nr., 25-57, hier 49.
[56] Willi Oberkrome, Ordnung und Autarkie […], Stuttgart 2009.
[57] Corinna Treitel, German Health. Narratives between Life Reform and Medical Enlightenment, 1890-1930, Seminar 59, 2023, 69-94.
[58] Gerhard Venzmer, Lebensstoffe unserer Nahrung, Stuttgart 1935, 17.
[59] Vegetarische Warte 62, 1929, 109.
[60] Otto Kestner, Beruf, Lebensweise und Ernährung, Klinische Wochenschrift 2, 1923, 150-154; Ders., Die Rationalisierung der Ernährung, ebd. 6, 1927, 1461-1462.
[61] Halberstädter Wurst- und Fleischkonservenwerke Heine & Co., A.-G., Halberstadt, Edeka Deutsche Handels-Rundschau 27, 1934, Nr. 2, XVI.
[62] Edeka Deutsche Handels-Rundschau 27, 1934, Nr. 1, 9; Der Materialist 49, 1928, Nr. 9/10, 10.
[63] Daten aus der Entwicklung der Maggi-Unternehmung, o.O. 1983, 5.
[64] Gernot Böhme, Ästhetischer Kapitalismus. Frankfurt/M. 2016.
[65] Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, 226.
[66] H[ermann] Serger, Sinnenprüfung und chemische Analyse bei Nahrungsmitteln, Die Umschau 16, 1912, 70-73, hier 70.
[67] Gustavo Corni, Agrarpolitik, in: Marcel Boldorf und Jonas Scherner (Hg.), Handbuch Wirtschaft im Nationalsozialismus, Berlin und Boston 2023, 395-417. Oberflächlich: Ulrich Schlie, Das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Horst Möller u.a. (Hg.), Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Berlin und Boston 2020, 103-256.
[68] Konrad Meyer, Drei Jahre Forschungsdienst, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit […]. Neudamm und Berlin 1938, 1-8, hier 4.
[69] Ebd., 1.
[70] Ulrike Thoms, »Ernährung ist so wichtig wie Munition«. Die Verpflegung der deutschen Wehrmacht 1933-1945, in: Wolfgang U. Eckart und Alexander Neumann (Hg.), Medizin im Zweiten Weltkrieg […], Paderborn u.a. 2006, 207-229; Spiekermann, 2018, 580-611.
[71] [Gerhard] Lemmel, Denkschrift […], Zeitschrift für die Heeresverwaltung 5, 1940, 1-7, hier 4; Rudolf Schmidt, Die Trocknungsfragen der Gegenwart, Zeitschrift für angewandte Chemie 32, 1919, 108-113.
[72] M[ikkel] Hindhede, Die neue Ernährungslehre, Dresden 1922; E[lmer] V[erner] McCollum und Nina Simmonds, Neue Ernährungslehre, Berlin und Wien 1928.
[73] Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, Dresden und Leipzig 1936.
[74] [Hugo] Theunert, Ansprache, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 3.
[75] Zum Vergleich s. Lizzie Collingham, The Taste of War. World War Two and the Battle for Food, London 2011.
[76] [Ernst] Pieszczek, Lebensmittelforschung bei der Wehrmacht, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 3-4, hier 3.
[77] Joachim Drews, Die „Nazi-Bohne“. Anbau, Verwendung und Auswirkung der Sojabohne im Deutschen Reich und Südosteuropa (1933-1945), Münster 2004.
[78] Uwe Spiekermann, A Consumer Society Shaped by War: The German Experience, 1935-1955, in: Hartmut Berghoff, Jan Logemann und Felix Römer (Hg.), The Consumer on the Home Front: Second World War Civilian Consumption in Comparative Perspective, Oxford 2017, 301-311.
[79] Vgl. Uwe Fraunholz, »Verwertung des Wertlosen«. Biotechnologische Surrogate aus unkonventionellen Eiweißquellen im Nationalsozialismus, Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften 32, 2008, 95-116; Reinhold Reith, »Hurrah die Butter ist alle!«, »Fettlücke« und »Eiweißlücke« im Dritten Reich, in: Michael Pammer, Herta Neiß und Michael John (Hg.), Erfahrung der Moderne […], Stuttgart 2007, 403-426, hier 422-426; Christine Stahl, Sehnsucht Brot. Essen und Hungern im KZ-Lagersystem Mauthausen, Wien 2010, 294-308; Birgit Pelzer-Reith/Reinhold Reith, »Fett aus Kohle«? Die Speisefettsynthese in Deutschland 1933-1945, Technikgeschichte 69, 2002, 179-205, v.a. 182-186.
[80] Volker Hamann, Die Entwicklung der deutschen Ernährungsindustrie und ihre Beziehungen zur Lebensmittelwissenschaft, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 52, 1956, 39-42, hier 42.
[81] Ebd.
[82] Arbeitsgemeinschaft Ernährungswissenschaftlicher Institute (AEI), Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 236-237.
[83] K[arl] G[ustav] Bergner, Probleme der Lebensmittelchemie in der Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 5-7, hier 5.
[84] Oberflächlich und hagiographisch: André Cloppenburg, Konrad Lang und die Ernährungswissenschaften in der frühen Bundesrepublik (1945-1970), Göttingen 2019.
[85] Hans-Victor Schulz-Klingauf, Selbstbedienung. Der neue Weg zum Kunden, Düsseldorf 1960, 328; Lydia Langer, Revolution im Einzelhandel. Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949-1973), Köln, Weimar und Wien 2013.
[86] Mit der Selbstbedienung kam die Technik, Der Verbraucher 1977, Nr. 13, 18-23.
[87] Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-129, insb. 111-114.
[88] Sortimentspolitik. Köln und Opladen 1962, 28; Explosive Sortiments-Entwicklung […], Dynamik im Handel 1970, Nr. 5, 3-15, hier 14.
[89] G[ünther] Heinicke, Entwicklung und heutiger Stand der Ernährungsindustrie, Ernährungswirtschaft 22, 1975, A67-A71, hier A69.
[90] Hans Weiß, Ergebnisse der wissenschaftlichen Tätigkeit des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 52, 1956, 165-167, hier 165.
[91] W. Wendt, Vom möglichen Nutzen der Elektronik für die Produktion in der Ernährungsindustrie, Die Ernährungswirtschaft 1, 1954, 12-13; Carl Freybe, Die Technik in der Fleischwirtschaft, Hannover 1962.
[92] Bärbel Heinecke, Strukturwandlungen in der westdeutschen Ernährungsindustrie, Die Ernährungswirtschaft 10, 1963, 168-172, 174, hier 169.
[93] Bärbel Heinicke, Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Berlin-West und München 1964, 25.
[94] K[arl] A. Disch, Auswirkungen der Konzentration im Handel auf die Betriebe der Ernährungsindustrie und die sich hieraus ergebenden Forderungen, Die Ernährungswirtschaft 10, 1963, 668-671.
[95] Max Erich Schulz, Fritz Schmitt-Carl und Anton Kühnel, Zum Geleit! „Die Wissenschaft von heute ist die Praxis von morgen“, Milchwissenschaft 9, 1954, 2-4, hier 3.
[96] Liselotte Gau, Aufgaben und Entwicklung des Forschungskreises der Ernährungsindustrie, Die Ernährungswirtschaft 11, 1964, 78, 80, 82, hier 80.
[97] Hans Weiss, Praktische Bedeutung der durch den Forschungskreis der Ernährungsindustrie ermöglichten Forschungen, Ebd. 10, 1963, 1037-1044, 1046.
[98] Ebd., 1038.
[99] Kurt Täufel, Ernährungsphysiologie und zukünftige Lebensmittelanalytik, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 239-245; Volker Hamann, Die Entwicklung der deutschen Ernährungsindustrie und ihre Beziehungen zur Lebensmittelwissenschaft, ebd. 52, 1956, 39-42.
[100] Carsten Mahn, Kein Grund zum Jubeln: Forschung und Entwicklung in der Ernährungsindustrie, Ernährungswirtschaft/Lebensmitteltechnik 21, 1974, 778, 780, 787-788.
[101] I[wan] Kuprianoff, Die Ausbildung von Ingenieuren für die Lebensmittelindustrie, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 50, 1954, 155-162, hier 159.
[102] Wilhelm Lederer, Lebensmittelindustrie und Forschung, Die Ernährungswirtschaft 11, 1964, 74, 76, 78, hier 78.
[103] Ulrike Thoms, Einbruch, Aufbruch, Durchbruch? Ernährungsforschung in Deutschland vor und nach 1945, in: Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt und Alexander Neumann (Hg.), Medizin im Zweiten Weltkrieg […], Paderborn u.a. 2006, 111-130.
[104] Joachim Opitz, 25 Jahre DGE – 10 Jahre Ernährungsberichte, Ernährungs-Umschau 25, 1978, 340-342.
[105] Jörg Albrecht, Vom „Kohlrabi-Apostel“ zum „Bionade-Biedermeier. Zur kulturellen Dynamik alternativer Ernährung in Deutschland, Baden-Baden 2022.
[106] Heiko Stoff, Gift in der Nahrung. Zur Genese der Verbraucherpolitik Mitte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2015; Kevin Rick, Verbraucherpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Geschichte des westdeutschen Konsumtionsregimes, 1945-1975, Baden-Baden 2018.
[107] Was kauft der Durchschnittshaushalt?, Der Markenartikel 30, 1968, 438.
[108] Verbrauch an Tiefkühlkost 1960 bis 1998 in Deutschland, hg. v. Deutschen Tiefkühlinstitut, o.O. 1999, 1-3. Vgl. Ulrike Thoms, The Introduction of Frozen Foods in West Germany and Its Integration into the Daily Diet, in: Kostas Gavroglu (Hg.), History of Artificial Cold, Scientific, Technological and Cultural Issues, Dordrecht 2014, 201-229. Zur Tierhaltung s. Veronika Settele, Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland, 1945-1990, Göttingen 2020; Barbara Wittmann, Intensivtierhaltung […], Göttingen 2021.
[109] Patrice G. Poutrus, Die Erfindung des Goldbroilers. Über den Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentenentwicklung in der DDR, Köln 2002. Vgl. allgemein Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln, Weimar und Wien 1999; Clemens Villinger, Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt? Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel von 1989/90, Berlin 2022.
[110] Hail, Die Aromastofflisten des Europarats, Ernährungswirtschaft 18, 1971, A115-A116, A137-A138.
[111] Essenzen/Aromen/Aromastoffe, Ernährungswirtschaft 1982, Nr. 1/2, 21-22, hier 22; Karl v. Koerber/Rainer Roehl/Gunther Weiss, Aromastoffe, UGB-Forum 12, 1995, 340-343, hier 340.
[112] Günter Mattheis, Aroma und Lebensmittel, Dragoco-Report 42, 1997, 157-187.
[113] Jörn Sieglerschmidt, Die Verwegenheit der Ahnungslosen, Haushalt & Bildung 76, 1999, 31.
[114] Jan Grossarth und Günther Hirschfelder, Future Food: Trends und Prognosen, in: Günther Hirschfelder (Hg.), Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral, Stuttgart 2022, 153-176
[115] Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018.

Anzeigenappell: Inseratenwerbung in der NS-Presse 1935

„Wie kecke doch und schlichte / Sich drängen Zeil‘ an Zeil‘; / Es liegt Kulturgeschichte / In dem Annoncentheil!“ (Das Inserat, Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 27, 4) Dieser Vers fiel mir ein, als ich bei einer abendlichen Durchsicht der Neuen Westfälischen Zeitung eine Anzeige entdeckte, die ich gleich dem Graphiker Emmerich Huber (1903-1979) zuordnen konnte, einem führenden NS-Humoristen, der anpassungswillig später auch Kriegspropaganda und antisemitische Hetze betrieb.

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Ein Fundstück abendlicher Recherche (Westfälische Neueste Nachrichten 1935, Nr. 7 v. 9. Januar, 8)

„Braucht man am Nordpol Badehosen?“ Tja… Was steht hinter einem solchen Fundstück vom Januar 1935? Man lacht, gewiss, denn Pinguine gab es dort nicht. Doch es geht offenkundig um Werbung für die Werbung, um das Inserieren in Tageszeitungen. Die im Rechteck genannte Zahl verweist auf eine größere Kampagne. Ich habe weiter recherchiert, die Einzelquelle zeithistorisch eingebettet, sie „kontextualisiert“. Heraus kam eine seismographische Bohrung in die frühe, von der Forschung weniger beachtete Zeit des NS-Regimes. Sie führt uns zurück in die Dauerkrise der NS-Wirtschaft, abseits der außenpolitischen „Erfolge“, der innenpolitischen Stabilisierungsmaßnahmen, abseits der mehrheitlich gebilligten, mit Gewalt und Gewaltandrohung begleiteten Maßnahmen gegen staatlich definierte Minderheiten. Sie führt uns in den Alltagsbereich der Presse, der Tageszeitungen, die durch die Nachklänge der Weltwirtschaftskrise, Zeitungsverbote, durch Übernahmen und wirtschaftlichen Druck in eine neue, dienende und erklärende Rolle für das Regime gedrängt wurden. Die Kontextualisierung muss Zeitungen als Wirtschaftsunternehmen ernst nehmen, die sich nicht zuletzt aus Einnahmen aus Inseraten finanzierten. Sie wird Mittlerinstitutionen benennen, die im Sinne des NS-Staates die Werbung beeinflussten und lenkten. Und sie gibt auch einen Blick frei auf die Wandlung eines Graphikers hin zum Dienst für ein Regime, das öffentlich Moral hochhielt und beschwor, das zugleich von täglicher Korruption und Heuchelei geprägt war. All das steckt in diesem Fundstück über Badehosen am Nordpol. Lesen Sie weiter, wenn Sie dies interessiert.

Zerschlagung und Neuordnung: Presse und NS-Regime 1933/34

Wie war die Lage der Presse zu Beginn der NS-Zeit? Das NS-Regime erscheint uns heute kaum in Form gedruckter Texte, sondern vor allem bildmächtig, in Wochenschauschnipseln, Massenkundgebungen, den Inszenierungen der NS-Granden und zahllosen Kinofilmen. Propaganda ist darin allgegenwärtig, mag dieser Begriff auch schwer zu fassen, noch schwerer analytisch zu nutzen sein (Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 527-559). Daneben hören wir in gängigen Dokumentationen schnarrende Stimmen, die Reden der Spitzenpolitiker, die Fanfaren des Wehrmachtsberichts, Marschmusik und Wunschkonzert. Doch der Rundfunk wurde erst langsam Allgemeingut. Obwohl das Billigradio des „Volksempfängers“ ab August 1933 angeboten wurde, kann man doch erst ab 1937 von Massenverbreitung sprechen. Nicht die Presse, sondern die audiovisuellen Medien prägen den heutigen Blick auf die NS-Zeit. In der Frühphase der Diktatur aber dominierten Tageszeitungen (und auch Zeitschriften) die Alltagsberichterstattung, das Wissen der Mehrzahl (Karl-Christian Führer, Die Tageszeitung als wichtigstes Massenmedium der nationalsozialistischen Gesellschaft, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55, 2007, 411-434; Rudolf Stöber, Presse im Nationalsozialismus, in: Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel (Hg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn et al. 2010, 275-294).

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Presse als Meinungsmacht, als Grundlage des Weltwissens (Das Magazin 9, 1932/33, Nr. 98, 58)

Bei der Presse aber scheint das Erbe der Weimarer Republik überwältigend; und schon sind da Erinnerungsfetzen an die kulturelle Blüte der Zwischenkriegszeit. Folgt man dem Handbuch der deutschen Presse, gab es 1932 4.703 Zeitungen, darunter 980 Nebenausgaben (Konrad Dussel, Die Nazifizierung der deutschen Presse. Eine Fallstudie am Beispiel der Presse Badens 1932 bis 1944, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 161, 2013, 427-456, hier 428). Die Auflagenhöhe ist schwer zu bestimmen, schwankte je nach Einbezug der Nebenausgaben zwischen 26 und ca. 19 Millionen. Das ist viel im Vergleich zu heute – im ersten Quartal 2024 wurden 10,4 Mio. Tageszeitungen verkauft – zugleich aber deutlich weniger als 1983, als 30,1 Mio. verkaufte Exemplare einen Höhepunkt in der Verkaufsgeschichte der deutschen Tagespresse markierten (Andreas Vogel, Talfahrt der Tagespresse: Eine Ursachensuche […], Bonn 2014, 19). Die Weltwirtschaftskrise führte Anfang der 1930er Jahre zum Abschmelzen der Zahlen, während die neuen Medien Radio und Kino (mit ersten Tonfilm-Wochenschauen ab 1930) absolut und relativ an Bedeutung gewannen.

Auch wenn die Vielgestaltigkeit, Informationsdichte und Periodizität der Tagespresse der frühen 1930er Jahre selbst die des späten Kaiserreichs übertraf, waren die ökonomischen Probleme jedoch beträchtlich. Die große Mehrzahl der Tageszeitungen hatte eine nur geringe Auflage. 1935 gab es lediglich zwölf Tageszeitungen mit eine Verkaufsauflage von mehr als 100.000 Exemplaren, über 30.000 lagen nicht einmal hundert Titel (Otto Suhr, Der deutsche Anzeigenmarkt, Werben und Verkaufen 20, 1936, 244). Die Tageszeitung war allgemein etabliert, doch das deutsche Zeitungswesen war dezentral organisiert – auch wenn die Großstädte von der Zahl der Zeitungstitel herausragten. Die große Mehrzahl der Zeitungen erschien in Klein- und Mittelstädten. Der Inhalt dieser Zeitschriften war abhängig von Nachrichtenagenturen und Materndiensten. Grundlage der wirtschaftlichen Existenz waren einerseits die während der Weltwirtschaftskrise sinkenden Abonnements, kaum aber der sichtbare Straßen- oder Kioskhandel. Daneben traten anderseits die Anzeigen: „Die große Presse lebt heute durchweg nicht von den Einnahmen der Verkaufskosten, die gerade die Herstellungs- und Vertriebskosten decken, sondern vom Inserat. Der Inseratenteil ist das Barometer für ihre wirtschaftliche Gesundheit. Es ist zugleich die Stelle, an der sie empfindlich getroffen werden kann“ (Eugen Hadamovsky, Propaganda und nationale Macht. Die Organisation der öffentlichen Meinung für die nationale Politik, Oldenburg 1933, 116). Dieser Markt war seit dem Kaiserreich fest in der Hand von Annoncen-Expeditionen, also Agenturen, die im Auftrage ihrer Kunden Anzeigen schalteten, vielfach auch gestalteten, dafür aber gewisse Gebühren und Rabatte verlangten. Lange dominierte die 1867 gegründete Berliner Firma Rudolf Mosse den Anzeigenmarkt, doch seit 1920 trat mit der ALA ein weiterer Großbetrieb hinzu. Es handelte sich um eine Gründung der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, die zum Kernstück des konservativ-nationalen Hugenberg-Konzerns werden sollte, gewolltes Gegengewicht zum liberal eingestellten Mosse-Konzern. Anzeigen- und Zeitungsmacht gingen dabei Hand in Hand. Während der Weltwirtschaftskrise gerieten die Annoncenexpeditionen allerdings unter massiven wirtschaftlichen Druck. Der Umsatz der ALA sank von 1929 bis 1932 auf fast die Hälfte. Mosse verschleppte die Insolvenz, die offiziell erst am 12. Juli 1933 erklärt wurde (Ulrich Döge, Max Winkler. Ein treuer Diener vieler Herrn, Hamburg 2022, insb. FN 1420). Zuvor war das Unternehmen im April 1933 an die neu gegründete Rudolf Mosse GmbH zwangsübertragen worden (Claudia Marwede-Dengg, Die Enteignung der Familie Lachmann-Mosse (MARI (mari-portal.de)). Im Mai 1934 wurde die seither den Markt klar dominierende ALA im Rahmen der Zerschlagung des Hugenberg-Konzerns vom nationalsozialistischen Franz-Eher-Verlag übernommen. Damit gewannen NSDAP und Staat einen weiteren wirtschaftlichen Hebel zur Kontrolle der Presse.

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Zeitungsverbote als Mittel der Stabilisierung während der Präsidialkabinette 1931/32 (Vorwärts 1932, Nr. 409-415 v. 3. September, 1 (l.); Kladderadatsch 84, 1931, Nr. 22, s.p.)

Zuvor hatte der Maßnahmenstaat Fakten geschaffen. Im Februar und März 1933 wurde die linke Presse verboten, im Gefolge auch liberale und einzelne zentrumsnahe Zeitungen – wobei dies anfangs durchaus in der Tradition zeitlich begrenzter Zeitungsverbote durch die Präsidialkabinette stand. Die zuvor nicht wirklich bedeutende NSDAP-Presse wurde nun massiv ausgebaut. Wichtiger war jedoch die Selbstgleichschaltung der meisten Tageszeitungen, vielfach willig, immer aber auch mit Gewalt resp. Gewaltdrohung. Dazu diente auch das brutale Vorgehen gegen linke, demokratische und jüdische Journalisten, die das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 gleichsam legalisierte. Redakteure mussten rassischen und politischen Kriterien genügen, als Mitglieder der im November 1933 gegründeten Reichspressekonferenz dem nationalsozialistischen Staat gegenüber loyal agieren. Tägliche Presseanweisungen folgten. Parallel nahm der wirtschaftliche Druck auf die bestehenden Zeitschriften zu. „Arisierungen“ erfolgten, doch auch „bürgerliche“ Zeitschriften wurden zunehmend von NS-Verlagen, insbesondere dem Franz-Eher-Verlag übernommen. Politische Kontrolle und wirtschaftliche Übernahmen verwoben sich.

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Zeitungsverbote im Gefolge der Notverordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat v. 28. Februar 1933 (Der Kuckuck 5, 1933, Nr. 10, 1)

Die Zahl der Zeitungen nahm weiter ab, die gesamte Druckauflage sank. Die Verbote trafen vornehmlich sozialdemokratische und kommunistische Leser, denn diese verweigerten sich anderen Angeboten der gleichgeschalteten Presse (Karl Christian Führer, Umbruch und Kontinuität auf dem Hamburger Zeitungsmarkt nach 1933, Repositorium Medienkulturforschung 2013, H. 2, 16). Ansonsten aber herrschte 1933 eher Kontinuität durch Selbstgleichschaltung. Das aber betraf nicht nur Verleger und Journalisten, „sondern auch die Käufer der Tageszeitungen[, die] das Ende der freien Presse im Jahr 1933 schweigend und ohne erkennbare Reaktion hinnahmen“ (Ebd.). Neben der wachsenden Einflussnahme von NS-Staat und NSDAP verstärkte sich zugleich die während der Weltwirtschaftskrise nur ansatzweise intensivierte wirtschaftliche Rationalisierung der Presse (Konrad Dussel, Die Nazifizierung der württembergischen Tagespresse, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 78, 2019, 295-325, insb. 324-325). Dazu gehörte auch der Aufbau einer verbesserten Statistik über das Pressewesen. Die ökonomische Bedeutung der Anzeigenwerbung war zwar offenkundig, doch im Gegensatz zur USA gab es keine entwickelte Statistik der Anzeigen (Benno Ludwig Manns, Der wirtschaftliche Wert der Reklame, Badische Wirtschaftszeitung 9, 1929, 25-30; Otto Friebel, Werbungstreibende und Anzeigenstatistik, Werben und Verkaufen 19, 1935, 129-131; Alfons Brugger und Carl Schneider, Der deutsche Anzeigenmarkt, Leipzig 1936, 126-153). Man hoffte, dass der durch die „nationale Regierung“ versprochene Wirtschaftsaufschwung nun die Lage der Verlage verbessern würde, denn damals wurde prozyklisch geworben, wurde also kaum Werbung zur Bekämpfung von Umsatzrückgängen geschaltet. Die Auflagenzahlen des Jahres 1934 waren jedoch ernüchternd. Die Gleichschaltung der Tageszeitungen erodierte langsam deren ökonomische Substanz: Betrug die Druckauflage im ersten Quartal 1934 noch 16.360.349 Exemplare, so sank sie in den drei Folgequartalen über 15.958.993 und 15.742.635 auf lediglich 15.549.220 Exemplare (Die Gesamtauflage der deutschen Zeitungen, Zeitungs-Verlag 41, 1940, 374-376, hier 374). Dies schlug auch auf die an die Auflagen gekoppelten Anzeigenerlöse durch. Lustige Anzeigen über Badehosen am Nordpol waren Teil eines Maßnahmenpaketes, um diesen Schwund zu wenden.

Eigenwerbung: Eine zunehmend relevante Tradition

Mein Zufallsfund warb Anfang 1935 für vermehrte Werbung – doch dies war damals keineswegs neu. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es analoge Bemühungen, allerdings in einem Markt mit wachsenden Druckauflagen, vor dem Hintergrund immer neuer vielfach kleiner Zeitungen.

05_Paderborner Anzeiger_1913_05_23_Nr117_p4_Werbung_Reklame_Anzeigenwerbung

Zeitungsreklame als Aufgabe des Geschäftsmannes vor dem Ersten Weltkrieg (Paderborner Anzeiger 1913, Nr. 117 v. 23. Mai, 4)

Derartige Eigenwerbung erfolgte jedoch eher sporadisch, wurde auch genutzt, um Lücken auf den eigenen Seiten zu schließen. Auch in den 1920er Jahren fand sie sich regelmäßig, doch von einem systematischen Einsatz, von einer wissenschaftlich reflektierten Anwendung kann nicht die Rede sein. Das gilt trotz des Wachstums der Werbewirtschaft allgemein, der Absatzorientierung im Speziellen. Für Inserate warben vorrangig die auflagenstärkeren Zeitungen gezielt in Fachzeitschriften einzelner Branchen, auch in der wachsenden Zahl der Werbezeitschriften. Doch dies erfolgte wohl eher durch die Anzeigen-Expeditionen, kaum durch die Zeitungen selbst (E[dmund] Lysinski, Die Organisation der Reklame, Berlin 1924). Deren Eigenwerbung hatte zudem noch keine klare Form gefunden. Sie bestand meist aus einfachen Appellen an die potenzielle Kundschaft, die zumeist an allgemein gehaltene (Vor-)Urteile über die Chancen der Werbung anknüpften: „Inserieren! / Das ist der Punkt, / Um den sich alles dreht, / Ob es im Leben schlecht, / Ob gut es geht. / Am Ende ist es nur die Tat, / Die dem Geschäftsmann / Bringt das Resultat, / Nichts anderes kann / Zu einem Wohlstand führen, / Als immer wieder: / Inserieren! Inserieren!“ (Die Zeitungsanzeige – ein wirksames Reklamemittel, Der Volksfreund 1927, Nr. 134 v. 11. Juni, Sdrbeil., 4). Erst Ende der 1920er Jahre führte die wachsende Verwissenschaftlichung der Absatzlehre und des Marketings zu neuartigen Formen. Auf Basis des gängigen Handbuchwissens der Zeit extrahierten einzelne Zeitungen beispielsweise Anzeigenserien, sog. Reihenwerbung, in denen sie Händler und Gewerbetreibende auf moderne Absatzorientierung – und damit auch eine systematische Anzeigenwerbung – verwiesen. Die folgenden textlastigen Anzeigen entstammen etwa einer 19-teiligen Serie der Zentrumszeitung Westdeutsche Landeszeitung, die im Oktober 1933 ihr Erscheinen einstellte.

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Den Werbetreibenden über die Werbung aufklären: Eine Anzeigenreihe 1930 (Westdeutsche Landeszeitung 1930, Nr. 286 v. 18. Oktober, 13 (l.); ebd., Nr. 304 v. 6. November, 12)

Derartige Eigenwerbung spiegelte den zunehmend reflektierteren Einsatz der Werbemittel, der durch den Bedeutungsgewinn leistungsfähiger Werbeagenturen und einer wachsenden Zahl von Werbeabteilungen zugleich professionalisiert wurde. Für kleinere Firmen gab es eine wachsende Zahl von Ratgebern, in denen die organisatorischen und insbesondere betrieblichen Aufgaben umrissen und gewichtet wurden. Werbung war unverzichtbar, stand zugleich aber erst am Ende einer langen Kette innerbetrieblicher Maßnahmen (Viktor Vogt, Taschenbuch der Geschäftstechnik, 2 Bde., 2. Aufl., Stuttgart 1926; ders., Absatzprobleme. Das Handbuch der Verkaufsleitung für Erzeuger, Groß- und Einzelhändler, 2 Bde., Stuttgart und Wien 1929). Zeitungsinserate befanden sich im Wettbewerb mit anderen Werbemitteln, mit den vielfältigen Formen der Direktwerbung, der Zugaben und der Außenwerbung.

Zeitungsinserate besaßen Ende der 1920er Jahre allseits akzeptierte Vorteile, vorrangig die dichte Streuung in klar umgrenzten Gebieten und die dadurch mögliche Anpassung an die lokalen und regionalen Besonderheiten. Das häufige Erscheinen erlaubte Intensität, einen Eindruck von Neuigkeit und Dynamik. Zeitungsinserate waren billiger als Zeitschrifteninserate, zudem erfolgten sie in enger Kooperation zwischen Hersteller und Einzelhändler, erlaubten also parallele Werbung für Produkte und Produktgruppen. Doch es gab auch Nachteile: Das Zeitungspapier war qualitativ schlechter als das gängiger Zeitschriften, Beilagen federten dies nur ansatzweise ab. Inserate hatten keine Langzeitwirkung, wurden Zeitungen doch nicht aufbewahrt oder wiedergelesen. Markenartikler und Werbeagenturen waren vielfach nicht in der Lage, sich mit den Besonderheiten der lokalen und regionalen Märkte zu befassen; das relative Scheitern der „amerikanischen“ Werbung seit Ende der 1920er Jahre war dafür beredtes Beispiel. Zeitungsanzeigen standen zudem nicht allein, insbesondere bei Großformaten verschwand die Einzelanzeige angesichts der Menge der Anzeigen. Obwohl die Partei- und die konfessionelle Presse noch relativ homogene Milieus ansprachen, war außerdem eine genaue Zielgruppenansprache nicht möglich, da der Leserkreis einer Lokalzeitung recht heterogen war (Vogt, 1929, 570-572). Die Relation von Reklamepreis und Reklamewert blieb auch theoretisch unklar, da Werbeeffekte vielfach kaum zugerechnet werden konnten (Joh. Schupp, Reklamepreis und Reklamewert, Seidels Reklame 14, 1930, 414-415).

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Anzeigennot während der der Weltwirtschaftskrise (Der Führer 1932, Nr. 326 v. 16. Dezember, 8)

Während der Weltwirtschaftskrise nahm die Eigenwerbung angesichts der „Anzeigennot“ tendenziell zu. Sie stand damit gegen den prozyklischen Trend der Konsumgüteranbieter, die durch ihre wachsende Zurückhaltung die Krise tendenziell verstärkten: „Im Laufe der schlimmsten Krisenzeiten hat er [der Einzelhändler, US] sich aber vielfach unter dem Gesetz radikalster Ersparung selbst produktiver Unkosten das Zeitungswerben ‚abgewöhnt‘, und ist noch nicht genügend wieder darauf zurückgekommen“ (Das Schaufenster allein tut’s nicht!, Sauerländisches Volksblatt 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 3).

Prozyklisch wirkte sich auch die zunehmende Werbeabstinenz der Annoncen-Expeditionen selbst aus. Sie erfüllten zwar weiterhin ihre üblichen Aufgaben, also die möglichst kostengünstige und wirksame Platzierung, zudem die Gestaltung der Anzeigen (vgl. zum Profil Zeitungs-Katalog der Annoncen-Expedition Rudolf Mosse, 46. Aufl., Berlin 1913, VII-VIII). Angesichts ihrer wachsenden ökonomischen Probleme versuchten sie aber nicht, den Werbemarkt insgesamt zu vergrößern, sondern konzentrierten sich auf den unmittelbaren Wettbewerb mit Konkurrenten. Preisunterbietungen, Kundenabwerbungen und Einschüchterungsversuche konnten die Probleme allgemein massiv schrumpfender Werbeausgaben jedoch nicht regeln (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing, Berlin 1993, 114-115).

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Gezielte Werbung für die Werbung – durch Annoncenexpeditionen (Ulk 61, 1932, Nr. 14, 2)

Die bestehenden ökonomischen Probleme der Tageszeitungen wurden nach der Machtzulassung der Koalition von NSDAP und Konservativen trotz eines begrenzten Wirtschaftsaufschwungs 1933/34 kaum geringer. Das lag nicht allein am politischen und wirtschaftlichen Druck und den Folgen der (Selbst-)Gleichschaltung. Das war auch Folge dirigistischer, vermeintlich mittelstandsfreundlicher Eingriffe in die Wirtschaft. Errichtungsverbote bei Warenhäusern, Einheitspreisgeschäften und Konsumgenossenschaften minderten das Anzeigengeschäft, ebenso die währungspolitisch gebotenen Produktionsbeschränkungen in Handel und Gewerbe. Angesichts von Devisenzwangswirtschaft und Importrestriktionen wurde zahlreiche Rohstoffe knapp, so dass die Werbung für daraus gefertigte Produkte entfiel. Viele Anbieter und Händler beobachteten propagandistisch gefeierte staatliche Interventionen mit gebotener Skepsis, etwa die Regulierung des Radio- und Automobilsektors oder aber der Zwang zum Einsatz heimischer Ersatzstoffe, etwa in der Margarine oder dem Brot. Auch die staatlich propagierte Gemeinschaftswerbung zu Weihnachten, für Elektrogeräte oder heimische Agrarprodukte minderte den Wettbewerb, bewirkte Werbezurückhaltung (Heinrich Hunke, Ein Jahr Werberat der deutschen Wirtschaft. Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Werberates der deutschen Wirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 56-60, hier 59).

Gleichwohl hatte die Zeitungsannonce weiterhin eine dominante Stellung in der deutschen Werbewirtschaft. 1934 machte sie 55% des gesamten Werbemarktes aus, während Anzeigen in Zeitschriften auf 28% und Plakate auf 6% kamen. Auch bei der Markenartikelwerbung dominierte die Anzeige mit einem Anteil von 55%, während die Außenreklame hier beträchtliche 25% erreichte (Die Zeitungsanzeige steht an der Spitze, Neusser Zeitung 1935, Nr. 13 v. 13. Januar, 2). Für die Zeitungsverleger war dies eine noch kommode Ausgangslage – trotz der durchaus erörterten „Uniformierung der Presse in politischer Hinsicht“ (Verband der Werbungtreibenden „werbefreudig“, Frankfurter Zeitung 1934, Nr. 616 v. 4. Dezember, 7). Der Anzeigenappell im Januar 1935 sollte die Dinge zum Guten wenden.

Der Reichsverband der Anzeigenmittler

Die Serie, von der die Anzeige für Badehosen am Nordpol ein Teil war, war jedoch auch Teil der für das NS-Regime (und alle modernen Gesellschaften) charakteristischen institutionellen Konkurrenz. Die viel beschworene Neuordnung der deutschen Werbewirtschaft, die die NS-Regierung mit dem Gesetz über die Wirtschaftswerbung vom 12. September 1933 auch in rechtlich-bürokratische Formen gegossen hatte, gab den Rahmen vor. Am 27. Oktober 1933 wurde der Werberat der deutschen Wirtschaft gegründet, eine Körperschaft des öffentlichen Rechtes mit starkem Einfluss der Wirtschaft. Er ordnete das Anzeigenwesens neu, beendete die „Mißstände“ einer Marktgesellschaft. Verleger und Werbewirtschaft hatten seit den späten 1920er Jahren immer wieder staatliche Regulierung gefordert: Das Anzeigengeschäft sollte transparent und berechenbar werden, die Aufgaben der Annoncenexpeditionen klar umrissen sein. In seiner 3. Bekanntmachung lieferte der Werberat, normierte die Anzeigenbreiten, etablierte verbindliche Allgemeine Geschäftsbedingungen, regulierte Rabatte und verpflichtete die Periodika zu Auflagentransparenz, regelmäßigen Meldungen, persönlicher Haftung und einer Werbeabgabe (Der Werberat ordnet das Anzeigenwesen, Badische Presse 1933, Nr. 547 v. 23. November, 8). All das hatte seinen Preis: Einerseits wurden die nun Anzeigenmittler genannten früheren Annoncen-Expeditionen als Berufsgruppe in die Nationalsozialistische Reichsfachschaft Deutscher Werbefachleute zwangsintegriert, mussten sich also an der politischen und rassistischen Elle des Regimes messen lassen (Uwe Westphal, Werbung im Dritten Reich, Berlin-West 1989, 57). Anderseits stellte der Werberat die gesamte Werbung unter Aufsicht und in den direkten Dienst für den NS-Staat: „Der Werberat soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein Erziehungsinstrument sein, das das deutsche Volk mit den Zielen der deutschen Wirtschaftspolitik bekannt macht, und ein Werbeinstrument, das die deutsche Volkswirtschaft auf propagandistischem Wege zu einer richtigen Gestaltung der Erzeugung veranlaßt, durch Hinweis auf die Notwendigkeit, sich bei Befriedigung der Bedürfnisse in erster Linie deutscher Erzeugnisse zu bedienen, zur Abdrosselung des überflüssigen Imports anhält und andererseits jede Möglichkeit benutzt, den Absatz deutscher Waren und deutscher Leistungen im Auslande zu fördern“ (Hunke, 1935, 56). Werbung war damit nicht mehr länger ein Mittel im wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern diente immer auch völkischen und staatlichen Zielsetzungen. Der NS-Staat folgte mit der verstärkten Regulierung der Werbung durchaus Anregungen anderer Länder, insbesondere den britischen „Marketing Boards“ (David M. Higgins und Brian D. Varian, Britain’s Empire Marketing Board and the failure of soft trade policy, 1926-33, European Review of Economic History 25, 2021, 780-805). Doch er band diese zugleich an spezifisch nationalsozialistische Imperative, 1934 nicht zuletzt an die vielbeschworene „Arbeitsschlacht“, an „Nahrungsfreiheit“ und militärische „Gleichberechtigung“ – kurzum an die Mobilisierung der deutschen Volkswirtschaft und Gesellschaft für Krisenbewältigung, Machtgewinn und Aufrüstung. Werbung sollte die Verbraucher im Sinne des Regimes beeinflussen, den Verbrauch lenken. Der bedingte Freiraum des Konsums wurde verengt, galt als tägliches Plebiszit über die Vorgaben des Regimes.

Der Begriff „Annoncen-Expedition“ wurde nun zur Seite geräumt, da er an die „liberale“ Wettbewerbsgesellschaft erinnerte. Die NS-Sprachpflege ersetzte ihn seit dem Sommer 1934 durch „Anzeigenmittler“. Werbedienstleister hatten sich im neu gegründeten „Reichsverband der Anzeigenmittel“ einzureihen (Werbetreibende, Anzeigenvermittler und Verleger, Der Landbote 1934, Nr. 196 v, 23. August, 3). Verordnete Sprache ist Ausdruck autoritärer Regime: „Die Annoncen-Expedition heißen künftig ‚Anzeigenmittler‘“ (NS-Kurier 1933, Nr. 398 v. 23. Dezember, 4). All das wirkte nicht recht, im Mai 1935 folgte der nächste Begriff, denn nach der offiziellen Zulassung auch der Anzeigenmittler für Außenwerbung wurde der Reichsverband der Anzeigenmittler im Mai 1935 zum „Reichsverband der deutschen Werbungsmittler“ zusammengeschlossen (Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 218 v. 10. Mai, 11).

Solche Verbände vermittelten aber nicht nur zwischen Staat und Wirtschaft. Sie traten auch zeigefreudig an die Öffentlichkeit. Am 20. November kündigte Heinrich Hunke (1902-2000), stellvertretender Vorsitzender des Werberates, öffentlich eine neue Gemeinschaftswerbung an, „die vom Reichsverband der deutschen Anzeigenmittler vorgeschlagen worden ist und die den Zweck hat, alle Kreise der Wirtschaft über den Wert und die Notwenigkeit guter Werbung aufzuklären“ (Tagung der Anzeigenmittler, Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1934, 1052). Dieser Anzeigenappell galt nachträglich als eine der wichtigen PR-Leistungen des nur kurz bestehenden Reichsverbandes (Günter Schäfer, Die Werbungsvermittler, Köln 1938, 16). Die Badehosen am Nordpol rücken näher.

Emmerich Hubers Weg zum NS-Humoristen

Gezeichnet wurde die Kampagne vom schon erwähnten Graphiker Emmerich Huber, dessen Biographie in den letzten Jahren immer konturenreicher herausgearbeitet wurde (Eckart Sackmann, Emmerich Huber, Deutsche Comicforschung 1, 2005, 56-71; ders., Emmerich Huber – zum Zweiten, Deutsche Comicforschung 6, 2010, 87-92, in der Zeitschrift folgten weitere kleinere Ergänzungen). Insbesondere der Doyen der hiesigen Comicforschung, Eckart Sackmann, hat sich an ihm abgearbeitet, seine Rolle während der NS-Zeit mit wachsender Quellenkenntnis immer kritischer bewertet (Eckart Sackmann, Per aspera ad astra… 20 Jahre Deutsche Comicforschung, in: Ders. (Hg.), Deutsche Comicforschung. Register der Bände 2005-2024, Leipzig 2023, 3-5, hier 4). Ich kann nur empfehlen dort nachzulesen, denn die „Deutsche Comicforschung“ ist ein Muster für wissenschaftliche Entdeckerfreude nach dem viel beschworenen und fast schon wieder vergessenen „visual turn“. In einem Meer zumeist lieblos zusammengebundener und meist hochsubventionierter Fachzeitschriften ragt diese Zeitschrift turmhoch heraus.

Emerich Alexander Julius Karl Huber wurde am 24. September 1903 in Wien geboren, wuchs jedoch seit 1905 in Berlin auf. Volks- und Mittelschule schlossen sich an, Handwerksausbildungen scheiterten. Es folgten erste Ausflüge in die Kunst unter dem kritischen Realisten und Sozialdemokraten Hans Baluschek (1870-1935), dann die Ausbildung zum Gebrauchsgraphiker unter Joe Loe (d.i. Josef Loewenstein (1883-?)), einem der damals führenden Werbespezialisten, bekannt durch seine Arbeit für Salamander, Beiersdorf und Jasmatzi, Mitte der 1920er Jahre vor allem für Fachinger und Kahlbaum. 1924 bis 1926 schloss sich eine erste Anstellung bei Rudolf Mosse an, dann ein kurzer Arbeitsaufenthalt in Dresden, seither freiberufliche Arbeit in Berlin (Lebenslauf v. 17. August 1945, Bundesarchiv Lichterfelde, DR 1, Ministerium für Kultur, Nr. 91452). Emmerich Huber – so der Künstlername mit dem doppelten „M“ – heiratete am 5. September 1930 die Buchhalterin Hildegard Johanna Petero (Landesarchiv Berlin, Heiratsregister 1874-1936, 1930, Nr. 495). Das Ehepaar wohnte in Wilmersdorf, zuerst in der von Huber 1928 bezogenen Wohnung in der Prinzregentenstraße 25, von 1932 bis 1935 in der nahegelegenen Hindenburgstraße 86a, seither in der Prinzregentenstraße 86 (Berliner Adreßbuch 1938, Bd. 3, T. IV, 1468; ebd. 1932, Bd. 1, T. 1, 1349; ebd. 1936, Bd. 1, T. 1, 1084). Die Ehe blieb kinderlos.

Huber wurde in den 1920er Jahren bekannt als Zeichner von Kindergeschichten, kleinen Comics in der Kundenzeitschrift Blauband-Woche, für die er neue Figuren schuf: „Das Neueste von Onkel Jup“ und „Hans und Lottchen“ waren nicht nur bei Kindern beliebt (Eckart Sackmann und Thomas Plock, Frisch gekirnt – »Blauband-Woche« und »Fermetsa-Kurier«, Deutsche Comic-Forschung 19, 2023, 20-37; einschlägige Digitalisate finden Sie unter Archive.org). Parallel arbeitete er schon früh als Werbegraphiker. Man findet Hubers Zeichnungen in so herausragenden Zeitschriften wie „Sport im Bild“, vor allem aber 1931/32 in der Karikaturzeitschrift „Ulk“, einer auch gesondert verkauften Beilage des linksliberalen Berliner Tageblattes, des überschuldeten Herzstücks des Mosse-Konzerns. Parallel zeichnete er auch Werbegraphiken für die Rudolf Mosse-Druckerei (Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 20 v. 17. Mai, 8; ebd., Nr. 21 v. 24. Mai, 8).

09_Ulk_060_1931_Nr53_p2_Silvester_Neujahrswuensche_Emmerich-Huber_Punsch_NSDAP_Preisabbau_Weltwirtschaftskrise_Buergerkrieg_Republik_Boerse

Emmerich Hubers Abbild des Wahnwitzes der Präsidialdiktatur (Ulk 60, 1931, Nr. 53, 2)

Huber war kein politischer Karikaturist wie der Ulk-Zeichner Rudolf Herrmann, dessen Karikaturen die Republik zur Zeit der Präsidialdiktatur gegen die „Reaktion“ und die NSDAP verteidigten. Huber war Humorist, seine Beiträge spiegelten die Erfahrungen der zurückgehenden Zahl der Leser, ließen vereinzelt auch Kritik an den Hakenkreuzlern erkennen. Seine Ulk-Zeichnungen waren meist Comics mit acht bis zehn Abbildungen nebst Sprechblasen, kaum Einzelkarikaturen, zudem Wimmelbilder, die ab Mitte der 1930er Jahre für ihn als NS-Humoristen typisch werden sollten. Der Ulk gewann durch solche Beiträge, bot eine gelungene Balance zwischen Unterhaltung und republikanischer Agitation. Parallel setzte Huber seine Arbeit für Kinder fort, illustrierte eine Reihe von Kinder- und Jugendbüchern, war Allzweckwaffe der kleinen Schmunzelei, des innehaltenden Lächelns (H[ermann] K[arl] Frenzel, Emmerich Huber. Ein lustiger Zeichner, Gebrauchsgraphik 9, 1932, Nr. 4, 4-11).

Die „nationale Revolution“ 1933 war für den österreichischen Staatsbürger Huber offenbar kein wirklicher Bruch. Seine Arbeit, sein Leben standen im Vordergrund – und er dürfte kaum Rilke zitiert haben: „Ich sehe den Bäumen die Stürme an, / die aus lau gewordenen Tagen / an meine ängstlichen Fenster schlagen, / und höre die Fernen Dinge sagen, / die ich nicht ohne Freund ertragen, / nicht ohne Schwester lieben kann“ (Rainer Maria Rilke, Der Schauende, in: ders., Gesammelte Werke. Die Gedichte, Köln 2020, 361-362, hier 362). Huber hat seinen Opportunismus nach 1945 nur beschwichtigt, nicht verleugnet. Doch es bleibt eine offene Frage, wie jemand, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft (Prinzregentenstraße 69/70) eine für 2.300 Gläubige eingerichtete Synagoge während der Novemberpogrome 1938 niedergebrannt wurde, sich auch zu einem antisemitischen Hetzzeichner entwickeln konnte (vgl. etwa Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 108, 1941, 1145; Österreichischer Beobachter 6, 1941, 2. Märznr., 24).

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Gut versus Böse, Optimisten versus Pessimist (Optimist sein, mein Herr! Ein fröhliches Bilderbuch für Große, Zeichnungen von Emmerich Huber, Verse von Hermann Schneider, Berlin s.a., 47)

Emmerich Huber empfahl sich weniger durch seine Jugendbücher oder die Werbezeichnungen für die Serie der Anzeigenmittler, sondern durch ein gemeinsam mit Hermann Schneider verfasstes, im Dezember 1933 veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Optimist sein, mein Herr!“ (Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 100, 1933, Nr. 286 v. 9. Dezember, 6092-6108). Dieses scheinbar unpolitische Buch wurde im Sommer 1934 vielfach angezeigt und positiv besprochen: „In diesem Bilderbuch, welches für Erwachsene bestimmt, zieht Herm. [sic!] Huber gegen die ewigen Pessimisten ins Feld“ (Siegblätter 1934, Nr. 217 v. 19. September, 7). Am Ende des lustigen Bandes wurde der Pessimist wahrlich ins „Pökularium“ geführt, erstickt oder verbrüht, die Welt von ihm befreit: „Die Welt ist schön, das Leben herrlich! Nur Sie sind ganz und gar entbehrlich! Und wenn Sie’s anders sehen, Mann, dann sind sie selber schuld daran – Sie und kein anderer! Marsch, hinaus!! Silentium! Schluß! Ex! Finis! Aus!“ (Optimist, s.a., 54). Damit standen Schneider und Huber in einer Reihe mit dem im Mai 1934 einsetzenden Feldzug gegen „Miesmacher und Kritikaster, Gerüchtemacher und Nichtskönner, Saboteure und Hetzer“, für die vermeintliche Alternativlosigkeit der NS-Politik („Gegen Miesmacher und Kritikaster“. Der Feldzug gegen die Miesmacher, Hamburger Fremdenblatt Nr. 130A v. 12. Mai, 1-2, auch für die folgenden beiden Zitate).

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Emmerich Huber vor Ausgaben seines Optimismus-Buches (Deutsche Fotothek, df_e-0050274, https://www.deutschefotothek.de/documents/obj/70223162)

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) wollte damit die abschwellende Dynamik der „nationalen Revolution“ wieder anfachen, zugleich aber die Deutschen angesichts der offenkundigen ökonomischen Probleme auf ihre Pflicht verweisen, „diese Krise überwinden zu helfen.“ Schließlich sei Deutschland derweil wieder „das Land des Lächelns geworden“. Dieser Feldzug ging einher mit strikt antisemitischen und antiklerikalen Drohungen, forderte von allen eine positive Einreihung: Sag mir, wo du stehst. Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) machte dies unumwunden klar: „Es gibt auch bei uns Leute, die niemals zufrieden zu stellen sind, weil sie nicht bereit sind, positiv mitzuarbeiten. Aber diese Schädlinge werden wir ausmerzen“ (Reichsminister Dr. Frick im Kampf gegen Kritikaster und Nörgler, Jeversches Wochenblatt 1934, Nr. 124 v. 31. Mai, 1). Die Röhm-Morde mit weit über hundert Toten sollten einen Monat später folgen. Es hieß, Optimismus sei Teil des nationalsozialistischen Aufbauwerks, der dadurch mögliche gestalterische Willen werde bestehende Schwierigkeiten überwinden. Oder, in den Worten des politischen Herrn über die deutsche Presse: „Kein Deutscher darf heute mäkeln und kleinliche Kritik üben, es ist nicht die Zeit für kleinliche, persönliche Wünsche, es geht jetzt um das Ganze, um das Reich“ (Auf zum Kampf!, Mittelbadischer Kurier 1934, Nr. 120 v. 26. Mai, 6). Emmerich Huber hatte den Pessimisten zuvor der Ausmerze anheimgegeben, die jovialen krisenwendenden Optimisten gepriesen. Damit arbeitete er dem Regime entgegen: „Wir dürfen uns nicht kleinkriegen lassen von all den mehr oder weniger harmlosen Anfechtungen des Alltags. Wir müssen immun werden gegen den Bazillus der Schwarzseherei“ (Walfried Mayer, Ein Fünklein Schalk im Auge…, Edeka Deutsche Handels-Rundschau 27, 1934, 211).

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Alltagsgeschäft Werbung – Emmerich Hubers Zeichnung für das Berliner Residenz-Casino (Velberter Zeitung 1935, Nr. 15 v. 16. Januar, 8)

Das Optimismus-Buch war Hubers Eintrittsbillett in die Arbeit für Staat und Partei. Er war zuvor Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste geworden, hatte seine rassische Herkunft, politische Loyalität und seine künstlerische Tätigkeit nachgewiesen (Bescheinigung d. Reichskammer der bildenden Künste v. 12. Mai 1936, Landesarchiv Berlin A Rep. 243-04, Nr. 3709). Er war 1934 immer noch vorrangig Gebrauchsgraphiker. Erst 1937 übertrafen seine Einkünfte aus Pressezeichnungen die der Werbeaufträge. 1934 lagen die Anteile bei 37%, 1935 bei 31%, sanken 1936 gar auf lediglich 26% (Schreiben v. Emmerich Huber an d. Reichskammer der bildenden Künste v. 25. Oktober 1937, Landesarchiv Berlin A Rep. 243-04, Nr. 3709). Seither aber wurde er zum breit beworbenen Zeichner mehrerer führender Massenzeitschriften der NSDAP – und erzielte weit überdurchschnittliche Einkünfte (Erklärung zur Beitragsfestsetzung der Reichskammer der bildenden Künste f. d. Rechnungsjahr 1937 v. 19. März 1937, Ebd.). Im Berliner Adressbuch erschien er seit 1936 als Pressezeichner, nicht mehr als Graphiker (Berliner Adreßbuch 1936, Bd. 1, T. 1, 1084; ebd. 1935, Bd. 1, T. 1, 1055). Hubers Serie für den Reichsverband der Anzeigenmittler mochte über Badehosen am Nordpol witzeln. Doch durch sie gewann er das Vertrauen führender nationalsozialistischer Kreise.

Die Kampagne: Motive und Zielsetzungen

Damit sind wir am Jahreswechsel 1934/35 angekommen. Entgegen der gängigen Vorstellung eines durch die Regierung Hitler initiierten schnellen Wirtschaftsaufschwungs, dessen Widerhall sich vor allem in der überraschend schnellen Reduktion der Arbeitslosenzahlen zeigte, blieb die wirtschaftliche Lage 1933/1934 prekär. Im Sommer 1934 stand das Deutsche Reich gar „am Rande einer wirtschaftlichen Katastrophe“ (Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2006, 95). Devisenmangel führte zu Rohstoffmangel, dieser betraf vor allem die Konsumgüterbranchen. Der Wirtschaftsaufschwung geriet ins Stocken, politische Imperative förderten vor allem die Schwer- und Investitionsgüterindustrie. Die für Zeitungsannoncen zentralen Branchen Textil und Bekleidung, Nahrungsmittel, Kosmetika und Drogerieartikel stagnierten, die öffentlichen Kampagnen gegen vermeintliche Miesmacher, Kritikaster und Spießer hielten im Sommer 1934 dagegen, konnten aber die allgemeine Kritik nur im Zaum halten, nicht wirklich brechen.

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Versprechungen 1933 – Ernüchterung 1934 (Der Nebelspalter 59, 1933, Nr. 11, 1)

Der Anzeigenappell begann in den meisten Tageszeitungen am Mittwoch, den 2. Januar 1935, spätestens aber am Freitag, dem 4. Januar. Er währte einen Monat, endete während des am 28. Januar 1935 einsetzenden Inventurverkaufs, zumeist am 30. Januar 1935 (etwa Verbo 1935, Nr. 26 v. 30. Januar, 12; Duisburger General-Anzeiger, Nr. 30 v. 30. Januar, 5). Auch andere Medien trommelten: Am 2. Januar 1935 strahlte der Rundfunk reichsweit einen Vortrag des Juristen und alten Kämpfers Hans Culemann (1901-1944) über „Das neue Gesicht der Zeitungsanzeige“ aus (Gladbach-Rheydter Tageblatt 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 12; vgl. Matthias Rücker, Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus […], Frankfurt a.M. 2001, 361). Vor Ort gab es Ausstellungen, etwa eine Werbeschau der Reichsfachschaft deutscher Werbefachleute in Bonn über neuzeitliche Werbung (Mittelrheinische Landes-Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 3).

Gleichwohl gab es – typisch für die meisten NS-Kampagnen – Friktionen. Eine erste Anzeige findet sich schon am Heiligabend 1934 (Westfälischer Kurier 1934, Nr. 297 v. 24. Dezember, 4), in wenigen anderen Zeitungen setzte die Kampagne bereits Ende Dezember ein (Langenberger Zeitung 1934, Nr. 302 v. 28. Dezember, 5). Andere Zeitschriften begannen die Kampagne teils beträchtlich später (Bremer Zeitung 1935, Nr. 10 v. 10. Januar, 4; Bergische Landes-Zeitung 1935, Nr. 12 v. 15. Januar, 10; Lenneper Kreisblatt, Nr. 15 v. 18. Januar, 4). Und entgegen der Vorstellung einer effizient funktionierenden Diktatur beendeten andere Zeitschriften den Abdruck der Serie schon mal früher (Annener Zeitung 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 4; Ottendorfer Zeitung 1935, Nr. 11 v. 25. Januar, 4; Echo der Gegenwart 1935, Nr. 22 v. 26. Januar, 8). Dafür findet man einzelne Motive noch Anfang Februar (etwa Rheinisch-Bergische Zeitung 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 10; Bürener Zeitung 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 4), die letzten Anzeigen erschienen in der zweiten Februarwoche (Welt am Sonnabend 1935, Nr. 6 v. 9. Februar, 16; Haaner Zeitung 1935, Nr. 36 v. 12. Februar, 7).

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Motiv 1: Einleitung (Verbo 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 6)

Der Anzeigenappell bestand in den Tageszeitungen aus acht Anzeigen, die allesamt ähnlich aufgebaut waren. Am Kopf stand jeweils ein in Sütterlin gedruckter Einzeiler. Er war appellativ gehalten, enthielt durchweg Satzzeichen, meist Frage- und Ausrufungszeichen, teils Auslassungspunkte. Es folgte die eigentliche Aussage der Anzeige, durchweg in lateinischer Schrift, noch nicht aber in der 1941 gängigen Deutschen Normalschrift. Sie war üblicherweise elf Zeilen lang, konnte aber auch bis zu dreizehn Zeilen umfassen. Am unteren Rand enthielt die Anzeige dann einen zumeist zweizeiligen in Sütterlin-Schrift gehaltenen Abschluss, meist die Quintessenz des Gesagten. Den eigentlichen Hingucker bildete jedoch die stets rechts eingefügte Zeichnung Emmerich Hubers. Sie besaß durchweg Sprechblasen, deren Inhalte auf den Anzeigentext Bezug nahmen, ihm damit eine humoristische Note verliehen. Huber präsentierte Durchschnittsmenschen, durchweg Männer, Leute im gesetzten Alter, Menschen wie Du und Ich. Nur in vier Fällen finden sich weitere Geschöpfe, am Nordpol die dort fehlplatzierten Pinguine, ein Singvogel, eine Maus und der für Huber unverzichtbare Zwergschnauzer. An der linken unteren Ecke prangte ein Dreieck mit der Abkürzung RAM, dem Signet des Reichsverbandes der Anzeigenmittler. An der rechten unteren Ecke wurde die Anzeige mit einem Rechteck abgeschlossen, der die Nummer des Motivs enthielt und mit einem befehlshaften „Aufheben!“ die Wertigkeit der Anzeige unterstreichen sollte. Die Anzeigen besaßen eine in sich geschlossene Erscheinung, stachen aus den sonstigen Inseraten klar hervor. Mitreißend und innovativ waren sie nicht, wohl aber gefälliger Durchschnitt.

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Motiv 2: Die negativen Folgen fehlender Werbung (Velberter Zeitung 1935, Nr. 7 v. 8. Januar, 8)

Während das erste Motiv Spannung erzeugte und „Wichtiges“ ankündigte, thematisierte die zweite Anzeige die Macht der Anzeigenwerbung: Sie setze „die Armee der Kunden in Marsch“, lasse „den Schornstein rauchen“. Sie müsse gepflegt werden, andernfalls drohe der ins Bild gesetzte Räumungsverkauf. Wie schon im Feldzug gegen die Pessimisten, Miesmacher und Kritikaster wurde wirtschaftliches Scheitern individualisiert, dem Fehlverhalten des Einzelnen zugerechnet. Wer breiter dachte und die Möglichkeiten annahm, die der nationalsozialistische Volksstaat bot, der würde jedoch nicht scheitern, wäre aufgehoben in einem Netzwerk des Gebens und Nehmens.

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Motiv 3: Der Preis der Werbung (Bremer Zeitung 1935, Nr. 17 v. 17. Januar, 4)

Das dritte Motiv thematisierte die während der Weltwirtschaftskrise so wirksame Vorstellung, dass Werbung teuer sei, tendenziell ein kostspieliger und überflüssiger Luxus. Dies aber, so die Anzeigenmittler, sei allein bei falsch und unreflektiert geschalteter Werbung gegeben. Sie sei jedoch eine ernste Angelegenheit, erfordere Selbstreflektion und Kompetenz. Wie der einzelne Volksgenosse erst zu sich kommen müsse, um völkische Verbundenheit zu erfahren, um sich als Teil eines gemeinsamen Aufbauwerkes zu verstehen, so müsse man auch als Geschäftsmann seine Rolle im Wirtschaftsgeschehen verstehen. Dann aber würde man einsehen, dass Inserate ein unverzichtbares und wirksames Hilfsmittel für den eigenen Erfolg im Rahmen einer prosperierenden Gemeinschaft seien.

Der Inhalt dieser Anzeige machte schon deutlich, dass die Serie einer inneren Logik, einer nachvollziehbaren Argumentation folgte. Die korrekte Reihung war für den Erfolg also wichtig, ebenso das Ausschneiden, Aufheben und nachträgliche Bedenken der einzelnen Anzeigen. Und die meisten Zeitschriften veröffentlichten die Serie in der vorgesehenen Reihenfolge. Das in Dortmund-Hörde erscheinende „Volksblatt“ begann dagegen mit dem letzten Motiv, druckte das erste Motiv gar als Abschluss (Volksblatt 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 4; ebd., Nr. 22 v. 26. Januar, 12). Andere Zeitungen begannen mit späteren Motiven, gingen dann zum gewünschten Reihenabdruck über (Velberter Zeitung 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 8). Weitere wiederum unterbrachen die vorgegebene Abfolge. Dies waren Ausnahmen, zumeist folgte der Abdruck willig den Vorgaben.

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Motiv 4: Werbehilfe durch die Anzeigenmittler (Ottendorfer Zeitung 1935, Nr. 5 v. 11. Januar, 4)

Das vierte Motiv griff die Abwägung des vorherigen Inserates wieder auf. Gegen die Skepsis vor Ort setzte sie nun aber die professionelle Unterstützung: Siehe, Du bist nicht allein, denn wir, der Reichsverband der Anzeigenmittler, haben eine Broschüre mit allen wichtigen Informationen zusammengestellt. Sie weise nicht nur „den rechten Weg“, sondern sei auch „vollkommen kostenlos“ erhältlich. Das Motiv präsentierte den neuen Staat und seine Institutionen als sorgende und zugleich besorgte Instanz: Der Einzelne sei im neuen Volksstaat nicht allein, sondern könne sich auf die Hilfe der Gemeinschaft verlassen. Darin liege allerdings auch eine Pflicht. Wer nicht auf den fahrenden Zug springe, sei selbst schuld, vergehe sich gegenüber sich selbst und der hilfswilligen Gemeinschaft.

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Motiv 5: Unterstützung durch die Werbefachleute (Kölnische Zeitung 1935, Nr. 27 v. 15. Januar, 4)

Dieses Motiv der Hilfe und Unterstützung – die wirtschaftlichen Effekte wurden völlig ausgeblendet – wurde in der fünften Anzeige geweitet. Neben die Anzeigenmittler traten nun auch die Werbefachleute selbst. Mit deren Hilfe könnten auch größere Unternehmen passgenau werben; und diese Profis hätten Spezialisierungsvorteile, entwickelten erfolgsversprechende Ideen. Sie seien nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen begrenzt, sondern vermöchten durch ihre breiteren Kenntnisse von Markt und Verbraucherseele Wege zu weisen, die dem Einzelnen erst einmal fremd seien. Dieser Rat sei nicht kostenlos, gewiss. Doch er werde sich rechnen, für Firma und Volk.

Halten wir angesichts derartiger Beschwörung von Hilfsinstanzen kurz inne. Die Kampagne wurde durch den Reichsverband der Anzeigenmittler initiiert, doch im Rahmen des Werberates umgesetzt. Der Abdruck der vom Reichsverband gelieferten Werbeklischees erfolgte kostenlos, war zugleich aber Dienstleistung für andere Werbetreibende. Das unterstrich ein Gemeinschaftshandeln der Fachleute, bot ein Vorbild für den Umgang auch der Geschäftsleute untereinander. Allerdings spiegelten die Anzeigen nicht immer die Federführung der Anzeigenmittler: Das Dreieck in der linken Ecke war zumeist Bestandteil der Anzeige, mindestens ein Achtel der von mir herangezogenen Vorlagen druckte dieses jedoch nicht mit ab (etwa Wittener Tageblatt 1935, Nr. 2 v. 5. Januar, 2; Bergische Landes-Zeitung 1935, Nr. 18 v. 22. Januar, 1; Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 25 v. 25. Januar, 8). Die am rechten unteren Rand verzeichnete Motivnummer fehlte ebenfalls ab und an, allerdings seltener als das Dreieck des RAM (Oberbergischer Bote 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 12).

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Motiv 6: Die wirksame Anzeige (Jeversches Wochenblatt 1935, Nr. 18 v. 22. Januar, 4)

Das sechste Motiv fächerte das Gemeinschaftsgebot für die Inseratenwerbung weiter aus, nun wurden auch die Zeitungsverlage erwähnt. Bei den Fachleuten herrschte scheinbar Eintracht und Hilfsbereitschaft – und die Anzeige machte dem Werbetreibenden Mut, dass auch sein Beitrag erfolgreich sein könne. Der Einzelne war eingewoben und trotzdem speziell – so wie die Anzeige in der Zeitung.

Auch hier noch eine Ergänzung: Die Motive wurden zumeist in regelmäßigen drei- bis viertägigen Intervallen geschaltet. Ausnahmen bestätigten die Regel, etwa die parteiamtliche NSDAP-Zeitung „Bremer Zeitung“, die mit dem Abdruck spät begann, dann die Motive 2 bis 7 innerhalb von acht Tagen veröffentlichte, ehe nach drei weiteren Tagen die Serie ihren recht frühen Abschluss fand. Zu beachten ist auch, dass die Motive hier gleichsam rein präsentiert werden: Die große Mehrzahl erschien in der Tat ungerahmt, doch es gab auch solche mit Ober- und Unterstrichen (Karlsruher Tagblatt 1935, Nr. 21 v. 21. Januar, 8), Seitenbalken (Bremer Zeitung 1935, Nr. 23. v 23. Januar, 4) oder Komplettrahmen (N.S. Volksblatt für Westfalen 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 8). Die Normierung der Anzeigen durch den Werberat schuf eine gewisse Normierung im Anzeigenteil, nicht aber vollständige Uniformierung.

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Motiv 7: Badehosen am Nordpol oder Zielgruppenfindung (Badische Presse 1935, Nr. 19 v. 23. Januar, 16)

Damit kommen wir schließlich zum siebenten Motiv, dem Fundstück, das diese Tiefenbohrung in Gang setzte. Ja, Werbung für Badehosen war am Nordpol offenkundig unangemessen. Werbung benötige eine innere Begrenzung, bedürfe klarer Zielgruppen, müsse sich auf die Medien konzentrieren, mit denen diese angesprochen werden könnten. Auch hierfür gab es Hilfe, denn die Anzeigenmittler kannten nicht nur den Markt, sondern auch die Medien und ihre Publika. Der Anzeigenappell ging dem Ende entgegen, die federführende Organisation hob ihre Kompetenz nochmals gebührend hervor.

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Motiv 8: Die Partner nachhaltiger Wirtschaftswerbung (Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 27 v. 27. Januar, 12)

Das achte und letzte Zeitungsmotiv fasste den kleinen Serienkurs nochmals zusammen: Es griff die Skepsis gegenüber der Werbung auf – die man wohlweislich nicht „Reklame“ nannte, denn dieser Begriff war Teil der überwundenen ungezügelten „liberalen“ Marktwirtschaft. Zugleich aber plädierten die Macher für einen Vertrauensvorschuss gegenüber der neuen Ära der Werbung, gegenüber den staatlich zugelassenen Fachleuten und dem NS-Staat als Ordnungsmacht. Sie lenkten die Aufmerksamkeit neuerlich auf das kostenlose Vertiefungsmaterial der Anzeigenmittler. Der Werbetreibende hatte durch die Serie nicht nur Anregungen erhalten, sondern auch Kontaktadressen. Zwischen Erfolg und Misserfolg stand nurmehr der Einzelne, der durch die Serie gewappnet wurde, um die Kraft der Werbung auch für sich wirken zu lassen. Anzeigenwerbung wurde nicht befohlen, doch ein um das Volkswohl und das eigene Fortkommen bemühter Geschäftsmann würde den neuzeitlichen Gesetzen wirtschaftlicher Kommunikation folgen. Wer sich anders entschied, würde die Konsequenzen seines Zauderns und Fehlens selbst tragen müssen.

Der Anzeigenappell des Reichsverbandes der Anzeigenmittler richtete sich vorrangig an Zeitungen, darin erschien er reichsweit und fast flächendeckend. Daneben gab es zwei weitere Motive für Zeitschriften. Es ist unklar, ob sie in gleichen Umfang erscheinen sollten. Sie boten jedenfalls eine konzise Zusammenfassung der Zeitungskampagne, präsentierten die Anzeige als „Heilmittel“ gegen die wirtschaftliche Krise, gegen die Stagnation des eigenen Geschäftes. Und sie verwiesen deutlicher auf die kostenlose Broschüre „Anzeigen helfen verkaufen“. In den Zeitschriften im Januar und Februar 1935 aber finden sie sich nur selten (Mitteilungen an die Mitglieder der Hahnemania 1934, 4; Neue Bienen-Zeitung 34, 1935, 32; Westermanns Monatshefte 1935, 96; Illustrirte Zeitung 184, 1935, 90). Zeitschriftenanzeigen folgten einer anderen Werbelogik, ihre teils wöchentliche, vielfach aber auch nur monatliche Erscheinungsweise erlaubte nicht die intensive Verdichtung einer Kampagne. Emmerich Huber illustrierte auch diese Anzeigen, doch die Zeichnungen traten gegenüber dem Text deutlich zurück. Der Anzeigenappell erfolgte vorrangig in Zeitungen, zudem in der auch andernorts angebotenen Broschüre.

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Zwei Motive für Zeitschriften – nicht mehr (Marienbote 18, 1935, Nr. 2, 16 (l.); Jugend 35, 1935, 61)

Flankenschutz und Vertiefung: Die Broschüre „Anzeigen helfen verkaufen“

Nimmt man die Broschüre zur Hand, so fühlt man sich an den Lateinunterricht erinnert: Repetitio delectat. Sie wiederholte im Wesentlichen die Kernargumente der Anzeigen, vertiefte sie ein wenig, war aber mehr Beschwörung als ein Für und Wider der Anzeigenwerbung. Eine klare Gliederung fehlte, die Broschüre erscheint als Nacheinander von Textbausteinen. Am Anfang stand ein Überblick verschiedener Werbemittel, der sich aber rasch als Lob der Anzeige entpuppte (3-6). Sie galt als Königsweg zum deutschen Verbraucher, stand daher zurecht im Mittelpunkt des Werbegeschehens (6-7). Ein längerer praktischer Teil folgte, in dem die Inserate nach verschiedenen Zielsetzungen unterschieden, der mögliche Aufbau dargeboten wurde. All das war präsentistisch, diente dem Einschwören auf Standardlösungen, auf die erforderliche Hilfe durch Fachleute (7-14). Es ging dabei nicht um unmittelbare ideologische Einbindung, denn diese war durch die Auswahl der Fachleute und den wirtschaftspolitischen Rahmen ohnehin gegeben. Der Ton war sachlich, argumentativ, nannte und kannte allerdings kaum Alternativen. Bemerkenswert war die immer wieder aufscheinende ökonomische Engführung: „Die Umsatzsteigerung ist der einzige Wertmesser des Werbeerfolgs.“ (13) Nur Fachleute könnten derartigen Werbeerfolg „garantieren“ – allerdings nicht ohne Risiko. Wichtig sei der Wille zur Werbung – ansonsten aber hieß es „loswerben!“

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Die offizielle Broschüre des Reichsverbands der Anzeigenvermittler (Anzeigen, 1935, I; ebd., 1)

Ausführungen zum Werberat und seinem bisherigen Wirken schlossen sich an (15-17), gefolgt von der Beschreibung der Aufgaben und ständischen Position der Helfer, der „Fachleute“, der Werbeberater, der Anzeigenmittler und der Verlagsvertreter (18-20). Es folgten Adressenlisten einerseits der regional ansprechbaren Werbegestalter (21-24), dann auch der zugelassenen Anzeigenmittler (25-29). Die Broschüre endete mit den zehn Motiven des Anzeigenappells. Zuvor dominierte der Text, auch wenn einzelne Zeichnungen Emmerich Hubers diesen auflockerten und Lücken füllten.

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Anzeigen als Brücke zwischen Konsumenten und Werbetreibenden (Anzeigen, 1935, 24 (l.); ebd., 2)

Trotz der hohen Intensität der Anzeigen, trotz ihrer zeitweilig großen Alltagspräsenz ist unklar, wie viele Exemplare der Broschüre gedruckt, wie viele nachgefragt wurden. Die Zahl heutiger Antiquaritätsangebote ist überschaubar, der Preis von 9 bis 15€ höher als der gängiger Massenbroschüren; das ist nicht unbedingt ein Ausdruck späterer Millionenauflagen, etwa im Umfeld der Kampf-dem-Verderb-Kampagnen oder aber der Anleitungen zum richtigen Heizen. Die Broschüre war schwarz-weiß gehalten, erschien auf gängigem Druckpapier, keinem Tiefdruck. Die Konsumenten wurden zwar immer wieder indirekt beschworen – man war schließlich deren Sachwalter –, doch wie in der Anzeigenserie selbst waren sie nicht präsent. Die Broschüre stammte von einer nationalsozialistischen Körperschaft, vermied aber eine zu offenkundig ideologische Einbettung, die dröhnende NS-Propaganda. Es galt schließlich Zurückhaltung aufzubrechen, einvernehmlich für die eigene Sache zu werben.

Die Kampagne nährt die Massenkampagne: Eigenwerbung der Zeitungen

Der Anzeigenappell wurde reichsweit durchgeführt, war Bestandteil der meisten Zeitungen, nicht aller. Er präsentierte den Reichsverband deutscher Anzeigenmittler einer breiteren Öffentlichkeit, wandte sich dabei vorrangig an Werbetreibende, weniger an die Konsumenten. Als solcher scheint er nicht sonderlich bedeutsam gewesen zu sein: Zehn Anzeigen, ein Monat intensives Trommeln für die Inseratenwerbung – welchen Effekt soll das gehabt haben? Solche Engführungen unterschätzen jedoch die Folgen einschlägiger Kampagnen. NS-Kampagnen waren materialisierte Vorgaben, deren Ausgestaltung von den Volksgenossen – hier den Zeitungsverlegern und Inserenten – selbst unternommen werden sollte. Dahinter stand die Idee eines von einzelnen Institutionen verkörperten Volkswillens, der in Gang gesetzt werden musste, dann aber eigenmächtig wirkte. Dies war Teil deutschen Selbstbewusstseins, deutschen Idealismus: Theodor Körners (1791-1813) nachgelassene Zeile „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ war Anfang des 19. Jahrhunderts Ausdruck des freiheitlichen Aufbegehrens gegen die französische Fremdherrschaft (Männer und Buben, in: Theodor Körners Gedichte, Bd. 1, Stuttgart 1818, 199-201, hier 201). In der Goebbelsschen Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 wurde sie umformuliert und als Mobilisierungsappell genutzt. Appelle gaben vor, das Handeln sollte, ja musste folgen. Dieser simple Mechanismus war eine der wichtigsten Grundlagen der destruktiven Dynamik des NS-Regimes.

Anzeigen waren damals eben nicht Ausdruck einer kommerziellen Mittel-Zweck-Relation, sondern Ausdruck völkischer Verbundenheit: „Es ist so mühelos Deiner Zeitung zu nützen. Berufe Dich bei allen Einkäufen auf die Anzeigen in Deiner Zeitung (Neusser Zeitung 1935, Nr. 2 v. 2. Januar, 8). Die Begleitappelle zielten auf die Nähe zur Heimatzeitung, mit „unserer“ Zeitung, mit dem großen, wohligen „Wir“. Das war ein Geben und Nehmen: „Der Anzeigenteil einer Zeitung ist der beste Berater. Tausende treffen ihre Wahl nach den Zeitungsanzeigen. Das weiß der fortschrittliche Geschäftsmann deshalb inseriert er!“ (Buersche Zeitung 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 8) Der Anzeigenappell gründete auf etwas Überpersönlichem, etwas Gemeinschaftsbildendem. Er setzte auf die Volksgemeinschaft, war Ausfluss der willig geglaubten NS-Parole „Gemeinnutz vor Eigennutz“. Allerdings war die Grenzziehung schwierig, da parallel immer auch Artikel aus den USA über die Erfolge kommerzieller Selbstwerbung veröffentlicht wurden, da Amerika immer auch als Land gewürdigt wurde, das den Wert der Zeitungsanzeige umfassend verstanden habe („Ich bin faul, unzuverlässig, unehrlich“, Werner Zeitung 1935, Nr. 2 v. 2. Januar, 8; Dortmunder Zeitung 1935, Nr. 15 v. 10. Januar, 6). Entsprechende rein ökonomisierte Formulierungen gab es: „An die Kundschaft heran durch Zeitungsanzeigen, die unter allen Werbearten den 1. Rang einnehmen“ (Neusser Zeitung 1935, Nr. 3 v. 3. Januar, 10; ebd., Nr. 27 v. 27. Januar, 5). Doch die Anzeigen und die Broschüre des Reichsverbandes der Anzeigenmittler wollten Anfang 1935 Werbung und Zeitungen durchaus völkisch aufladen.

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Kleine Schläge ins Gehirn: Werbungswerbeanzeigen (Stadtzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1935, Nr. 32 v. 2. Februar, 10 (beide oben); Die Uhrmacherkunst 60, 1935, Nr. 35, Beil., 8 (Mitte, l.); Bergische Zeitung 1935, Nr. 24 v. 29. Januar, 12 (Mitte, r.); Weißeritz-Zeitung 1935, Nr. 19 v. 23. Januar, 4)

Im Januar 1935 waren die deutschen Zeitschriften daher voller Inserate für die Zeitungswerbung: Sie klangen stakkatohaft, schienen nicht still zu stellen: „Anzeigen helfen kaufen und verkaufen“, „Anzeigen helfen gegen Umsatzrückgänge“, „Anzeigen helfen aufbauen“, „Zeitungs-Anzeigen helfen richtig kaufen und verkaufen!“, „Kleine Anzeigen helfen auch Ihnen“, „Bewußt werben! Klug werben! Durch Zeitungsanzeigen werben!“ Sie wollen mehr? Kein Problem: „Die Bearbeitung Tausender von Interessenten und Käufern jeden Alters erreichen sie durch eine Zeitungsanzeige“, „Dauernde Werbung hebt das Geschäft! Wir machen es dem Geschäftsmann leicht, regelmäßig durch die Zeitungsanzeige zu werben“, „Die beste Reklame ist und bleibt die Zeitungsanzeige“, „Unerreicht an Wirksamkeit ist von allen Reklamemitteln die Zeitungsanzeige.“ Die Kleininserate für die eigene Sache, für das Wohlergehen der Zeitungen (und damit der Leser) erschienen in immer neuen Formulierungen: „Die Zeitungsanzeige ist ein Verkaufsgespräch!“, „Versuche es auf jeden Fall! Die Zeitungsanzeige hilft überall!“, „Erfolg, Umsatz, Gewinn – wo dies groß geschrieben wird, ist man auch von der Werbekraft der Zeitungs-Anzeige überzeugt“, „Vertrauen Sie der hohen Werbekraft der Zeitungsanzeige“. Es klang wie eine Schallplatte mit Sprung, war die Variation des Immergleichen.

Dieses Begleitrauschen war lauter und sinnesbetörender als die eigentliche Kampagne des Reichsverbandes der Anzeigenmittler. Es kumulierte im Inventurausverkauf, der am 28. Januar 1935 begann: „Versäumen Sie unter keinen Umständen die Gelegenheit, durch zugkräftige Anzeigen […] Ihr Geschäft während dieser Inventur-Verkauf-Tage günstig zu belegen. Wer nicht durch Zeitungs-Anzeigen sagt, was er zu verkaufen hat, wird beim Einkauf übersehen! Wer nicht inseriert, wird vergessen!!“ (Sauerländisches Volksblatt 1935, Nr. 20 v. 24. Januar, 7). Nun fand man ergänzende Worte, zumeist für den deutschen Kaufmann: „Die billigste und beste Werbung, die dem Kaufmann zur Verfügung steht, ist die Anzeigenwerbung. Durch die Zeitungsanzeige ist die Möglichkeit gegeben, an die Käufer in all ihren Schichten heranzukommen. Diese müssen über die Vorteile, die der Inventurverkauf bietet, aufgeklärt werden. Und diese Aufklärung geschieht einfach und billig durch die Zeitungsanzeige“ (Gelsenkirchener Zeitung 1935, Nr. 24 v. 25. Januar, 10). Zugleich aber erging der Appell an die Kundinnen: „Die Hausfrau tut gut, wenn sie nicht wahl- und planlos kaufen will, vorher genau die Zeitungsanzeigen zu verfolgen und sich eine Liste über die Dinge anzufertigen, zu deren Kauf sie sich entschlossen hat. Natürlich muß diese Liste im Einklang mit dem Geldbeutel stehen. Kaufen schafft Arbeit!“ (Inventurverkäufe, Wittener Tageblatt 1935, Nr. 23 v. 28. Januar, 3).

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Einer Dauerschleife abstrakten Nutzens (Velberter Zeitung 1934, Nr. 355 v. 29. Dezember, 8 (l.); ebd. 1935, Nr. 22 v. 23. Januar, 8)

Zeitungsinserate wurden als einfaches und zugleich modernes Hilfsmittel präsentiert: „Der Mensch von heute bedient sich bei jeder passenden Gelegenheit der Zeitungsanzeige“ (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 28 v. 28. Januar, 7). Die Anzeige wurde naturalisiert, metaphorisch mit der Nordorientierung des Kompasszeigers verglichen (Gevelsberger Zeitung 1935, Nr. 26 v. 31. Januar, 4). Selbstverständlich durfte die „Wissenschaft“ dabei nicht fehlen: Anzeigen präsentierten die Quintessenz einer Studie des Berliner Psychotechnikers und NSDAP-Mitglieds Walther Moede (1888-1953), aus der hervorgehen sollte, „daß das weitaus zugkräftigste und erfolgreichste Werbemittel die Zeitungsanzeige ist“ (Bergische Wacht 1935, Nr. 2 v. 4. Januar, 2). Daher sollten Geschäftsleute auch nicht allzu viel experimentieren, denn das koste nur Geld. Anzeigen waren wirksam und einfach, die Anzeigenmittler würden ihre Brückenfunktion preisgünstig erfüllen (Rheinisches Volksblatt 1935, Nr. 1 v. 5. Januar, 6). Derartige Eigenwerbung wurde zugleich auf die eigene Zeitung gelenkt, somit die Bande zwischen Inserenten, Leserschaft und Verlagen gestärkt. Das galt auch für die vielgestaltigen Kleinanzeigen, also die gleichsam private Welt der Diktatur.

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Anzeigenlenkung auf die eigene Zeitung (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 4 v. 4. Januar 1935, 15 (l.); Der Gemeinnützige 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 12 (Mitte, o.); Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 10 (Mitte, u.); Bremer Zeitung 1935, Nr. 20 v. 20. Januar, 12)

Derart kleinteilig, pseudofreiheitlich blieb es allerdings nicht: Die Werbung für das Inserat machte den einzelnen als Schmied seines eigenen wirtschaftlichen Glückes verantwortlich. Nicht die auf die Mitarbeit des Einzelnen setzende staatliche Wirtschafts- und Währungspolitik war für Umsatzrückgänge oder fehlenden Erfolg verantwortlich, sondern die fehlende Werbeinitiative im Rahmen der ja weiterhin laufenden „Arbeitsschlacht“. Einerseits schien der Weg klar: „Man kann alles durch die Zeitungsanzeige verkaufen!“ (Gevelsberger Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 5). In der seit Jahren andauernden Krise habe sich die Kluft zwischen Handel, Gewerbe und Verbrauchern vergrößert, doch nun, im laufenden Aufschwung, müsse man sie wieder verringern, mit frischem Mut die Anzeige als „sicherste Brücke von Produzenten zum Konsumenten“ nutzen (Bürener Zeitung 1935, Nr. 10 v. 12. Januar, 4). Anderseits sei der Einzelne dafür verantwortlich, die Reserven des Marktes für sich und die allgemeine Wohlfahrt zu nutzen: „Alles mobil machen! Ihre Reserven heranholen. Auch den säumigsten Käufer für Ihr Haus, für Ihre Waren interessieren!“ (Zeno-Zeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 4) Erfolg erfordere einen Mentalitätswandel, hin zum Dienst am Kunden, hin zur stetigen Kundenwerbung mittels Annonce (Bochumer Anzeiger 19355, Nr. 6 v. 8. Januar, 11).

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Teil der Arbeitsschlacht: Werbung für Anzeigen in der Tageszeitung (Hildener Rundschau 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 10)

Die damalige Wirtschaftskrise wurde nur selten direkt benannt, stattdessen die Verantwortung des Einzelnen hervorgehoben. Werbung war Kernelement der Arbeitsschlacht des Handels, des Gewerbes. Und Marktbeobachtung der Beitrag des Verbrauchers.

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Sonderkampagnen vor Ort: Frau Schlauberger als fiktives Bremer Vorbild (Bremer Zeitung 1935, Nr. 25 v. 25. Januar, 4 (l.); ebd., Nr. 26 v. 26. Januar, 4)

Der Anzeigenappell der Reichsverbandes der Anzeigenmittler war somit Ausgangspunkt und Referenz einer wesentlich umfangreicheren Selbstmobilisierung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Er wurde flankiert vom üblichen Storytelling, etwa über die Geschichte der Kleinanzeige (Kuriositäten aus der „Zeitungskiste“, Gütersloher Zeitung 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 5). Vor Ort wurden eigene Werbefiguren ersonnen, die kaufenden und verkaufenden Stände gleichsam an die Hand genommen, auf ihre wechselseitigen Verpflichtungen füreinander verwiesen. „Kleinigkeiten – auf die es ankommt…“ hieß eine Serie in der Gevelsberger Zeitung. Das war die vom NS-Regime gewünschte Eigeninitiative. Sie ging einher mit üblichen Kaskadeneffekten. Auch die Werbung für Werbemittel wurde intensiviert: „Gedrucktes Wort ist Werbekraft, das ständig neue Arbeit schafft!“ (Velberter Zeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 8)

Begrenzter Erfolg und weitere Werbung

Insgesamt steigerte die Werbewirtschaft seit 1934 ihre Umsätze deutlich. Die Ausgaben für Inserate stiegen von 258 Mio. RM 1934 über 276,1 1935 und 305,9 1936 auf 336,1 Mio. RM 1937 (Westphal, 1989, 60). Auch die Annoncen-Expeditionen fassten wieder Tritt, konnten ihren Anteil am Werbekuchen allerdings nicht wirklich ausbauen: Nach Angaben des Werberates stiegen ihre Umsätze von 47,3 Mio. RM (1934) über 64,1 (1935), 73,2 (1936) und 78,9 (1937) bis auf 93,5 RM (1938) (Reinhardt, 1993, 117). Dies war gewiss nicht auf den Anzeigenappell zurückzuführen, denn das damals viel diskutierte nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“ schlug letztlich auch auf die Konsumgütermärkte durch. Doch er war Teil einer nicht nur propagandistischen Kraftanstrengung, die psychologisch wirkte.

Die Auflagenverluste der Tageszeitungen setzten sich bis 1937 moderat fort. Danach nahm sowohl die Druck- als auch die Verkaufsauflage der deutschen Zeitungen aufgrund der Okkupation Österreichs, des Sudetenlandes und der sog. Resttschechei zu (Gesamtauflage, 1940, 374-376), während die Relation Auflage und Bevölkerung weiter sank. Die Zeitungsverleger initiierten 1936/37 resp. 1939 (in Österreich) dagegen die von Albert Schaefer-Ast (1890-1951) gezeichnete Herr Hase-Kampagne, konnten damit aber keinen durchschlagenen Erfolg erzielen. Generell nahm die Bedeutung der Tageszeitungen weiter ab: Die NSDAP übernahm immer mehr Blätter, während die Zahl der Zeitungstitel insbesondere 1935/36 nochmals deutlich abnahm. Innerhalb der deutschen Presse wurde der Kampf gegen den inneren Feind, gegen vermeintliche Kritikaster in weiteren Kampagnen verstetigt. 1939/40 galt das für „Herr und Frau Spießer“ von dem auch in der Nachkriegszeit sehr erfolgreichen Gerhard Brinkmann (1913-1990), 1941/42 dann für die Kampagne „Herr Bramsig und Frau Knöterich“, zu der mehrere Graphiker beitrugen.

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Vorgaben für ein geordnetes Anzeigenwesen während der NS-Zeit (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 38)

Die Eigenwerbung der Zeitungen wurde großenteils verstetigt, vom Werberat zugleich durch immer neue Vorgaben und Ratschläge ergänzt (vgl. etwa Aug[ust] Hans Brey und Fritz Gerathewohl, Werben und Verkaufen im Kunstgewerbe- und Hausrathandel, Bamberg 1937). Werbung wurde eine Pflicht des „deutschen Handels“, diente insbesondere ab 1937 in immer neuen Figurationen der Verbrauchslenkung, die Blaupausen auch für heutige Kampagnen für „gesunde Ernährung“ oder aber die Reduktion der Lebensmittelabfälle schuf.

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Anzeigenkurse in der Tageszeitung (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 130 v. 13. Mai, 16 (l.); Westfälischer Kurier 1936, Nr. 136 v. 19. Mai, 4)

Die Rahmensetzung des Werberates begünstigte zudem eine wachsende Zahl von Werbelehrgängen oder Werbetipps, die immer wieder die Anspruchshaltung an Konsumenten, vor allem aber an die werbetreibende Wirtschaft transportierten: Man habe „einen Schlußstrich gezogen unter die Methoden marktschreierischer Anpreisungen mit ihrem vielfachen Hang zur Täuschung und Unwahrheit, so daß es besonders dem kleinen Geschäftsmann wieder möglich gemacht wurde, seine auf dem Wahrheitsprinzip aufgebaute Werbung im Anzeigenteil der Tageszeitungen zur verdienten Beachtung zu bringen.“ Nun aber müsse gehandelt werden: „Werbung tut not! Anzeigen helfen verkaufen!“ (Beide n. Anzeigen helfen verkaufen! Weihnachtswerbung von Einzelhandel und Handwerk, Bremer Zeitung 1936, Nr. 333 v. 30. November, 7). Die den Anzeigenappell prägende Parole „Anzeigen helfen verkaufen“ sollte bis in die 1970er Jahre ein gängiger Slogan bleiben.

Uwe Spiekermann, 13. Mai 2024

Porter, Schwindel und Bankrott – Johann Hoffs Scheitern im Biermarkt der Gründerzeit

Johann Hoff, der Berliner Krösus, ist heutzutage unbekannt. In den 1860er und 1870er Jahren war er dagegen der wohl bekannteste deutsche Unternehmer. Wie kein anderer hat er die Macht der Reklame genutzt, um einfache Produkte mit einem betörenden Gloriolenschein zu umgeben. Er adelte Malzextrakt zum „Gesundheitsbier“, etablierte überteuerte Malzprodukte als Garanten für Genesung und Heilung. Johann Hoff war ein Schwindler großen Stils, doch er fand Kundschaft und gewinnträchtigen Absatz. Als glühender Patriot verkörperte er die Nationalstaatsbildung, als orthodoxer Jude die brüchige deutsch-jüdische Symbiose. Kaum ein anderer wurde gleichermaßen befehdet, von Karikaturisten, Dramatikern, Konkurrenten und naturwissenschaftlichen Experten. Schon zu Lebzeiten eine mythische Figur, fehlen seriöse Arbeiten zu seinem Leben, seinem Werk. Johann Hoff war ein Selbstdarsteller per Inserat, feilte an seinem öffentlichen Bild, ließ aber weitere Einblicke kaum zu. Forschung fehlt, Historiker folgen eben nur selten vergangener Bedeutsamkeit, sondern meist heutigen Vorstellungen von Erinnerungswürdigkeit.

Mag sein, dass ein biographischer Schneisenschlag sinnvoll wäre – und ich behalte mir diesen vor. Doch in diesem Beitrag möchte ich lediglich eine, wenngleich eine zentrale Episode aus Johann Hoffs Karriere näherungsweise rekonstruieren. Es geht um den wichtigsten Bruch in seinem Leben, dem faktischen Bankrott seines Firmenimperiums während der Gründerkrise 1873. Dieser war Folge einer ungebührlichen Überschätzung der Möglichkeiten moderner Werbung und der Fehleinschätzung des Biermarktes der frühen Kaiserzeit. Johann Hoff wollte damals „Deutschen Porter“ einführen, also ein dunkles kräftiges Bier, wie es vornehmlich in England gebraut wurde. Er antizipierte den damaligen dramatischen Wandel des Biermarktes: Doch statt auf die neuen untergärigen Biersorten, auf bayerisches Lager und böhmisches Pilsner zu setzen, wollte er den englischen Porter billiger herstellen – und diesen zum neuen „Nationalgetränk“ machen. Das war – aus heutiger Sicht – fantastisch und zum Scheitern verurteilt; doch das galt auch für die Marktetablierung des Malzextraktes seit den späten 1850er Jahren. Bevor wir aber auf die Struktur und den Wandel des deutschen Biermarktes Mitte des 19. Jahrhunderts eingehen, sind einige biographische und unternehmenshistorische Grundlagen zu legen.

Johann Hoff – Unternehmer und Unternehmen

Johann Bernhard Hoff wurde am 20. Dezember 1826 in Pleschen, im südöstlichen Posen, als Sohn des Handelsmanns Leob Hoff und seiner Frau Dorothea Hoff, geb. Lefschütz geboren (Landesarchiv Berlin, Sterberegister 1874-1920, Berlin I, 1887, Nr. 216). Er erlernte wohl seit 1852 das Brauereihandwerk und ließ sich Mitte der 1850er Jahre in Breslau nieder, wo er eine Gaststätte mit eigenem Brauereibetrieb eröffnete. Das war Sesshaftwerdung nach seiner Heirat mit Johanna Fränkel (1829-1894), Tochter aus einem Kaufmannshaushalt im nordöstlich von Breslau gelegenen Städtchen Festenberg. Dort hatten Mitte des 18. Jahrhunderts aus Breslau vertriebene Juden eine formidable Gemeinde gegründet, deren Mitglieder ein Jahrhundert später wieder in die wachsenden Städte wanderten. 1855 gebar Frau Hoff in der schlesischen Hauptstadt die Tochter Selma (1855-1916), Therese und die Söhne Max und Martin folgten.

Johann Hoff verlegte später die Anfänge der familiären Malzproduktion in das Jahr 1847, datierte die Geschäftsgründung in Breslau auf 1849 (Vendette 19, 1887, Nr. 1, 8) – doch das waren selbstgenährte Mythen, die gleichwohl Wirkung auf Kritiker hatten, die zwischen Sein und Schein kaum unterscheiden konnten und ihrerseits negative Legendenbildung betrieben (Wilhelm v. Varchim, Die Medicinal-Pfuscherei der Jetztzeit und ihre Koryphäen […], 2. verm. u. verb. Aufl., Bremen 1867, 32). Nachweisbar sind eine Erwähnung des „Brauermeisters Bernhard Hoff“ 1856 (Breslauer Zeitung 1856, Nr. 103 v. 1. März, 44) sowie Anzeigen aus dem Jahre 1857, in denen „Hoff’s Brauerei“ und dann „Hoff’s Pariser Restauration, Wein- und Bierkeller“ beworben wurden (Schlesische Zeitung 1857, Nr. 77 v. 15. Februar, 367; ebd., Nr. 467 v. 7. Oktober, 2447). Beide lagen an der Südseite des Breslauer Rings, also in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rathaus. Hoff produzierte zudem präpariertes Brustmalz zur Linderung von Husten und Atemwegserkrankungen, vertrieb dieses auch regional (Lublinitzer Kreisblatt 1858, Nr. 3 v. 16. Januar, 16). Im Mittelpunkt seiner Geschäftstätigkeit stand jedoch ein „Gesundheitsbier“, das er „Malz-Extrakt“ nannte. Dieses bewarb er offensiv als Heilmittel, gab vor, „Autoritäten der Medicin“ hätten es untersucht, propagierte es dann als Kräftigungsmittel und Hilfe bei zahlreichen unspezifischen Krankheiten (Schlesische Zeitung 1857, Nr. 277 v. 18. Juni, 1473).

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Malzextraktangebot von Johann Bernhard Hoff in Breslau 1858 (Schlesische Zeitung 1858, Nr. 121 v. 13. März, 624)

Die Breslauer Anzeigen spiegeln erstens eine systematische Nutzung der lokalen Inseratenpresse, zweitens einen ausgeprägten Drang nach Größe und Bedeutsamkeit. Schon 1857 gab Hoff vor, Niederlagen in London, Hamburg, Berlin, Magdeburg und ganz Ostelbien zu unterhalten (Ebd., Nr. 439 v. 20. September, 2286). Drittens nahm die Palette seiner durch Zubereitung und Zumischung allesamt heilkräftigen Malzpräparate weiter zu. Sein „Bäder-Malz“ empfahl er zur Kräftigung und gegen degenerative Krankheiten (Ebd., Nr. 535 v. 15. November, 2798). Mit solchen Offerten stand er keineswegs allein, lokale Konkurrenzen offerierten ähnliche Malzpräparate seit den 1840er Jahren (Ebd., 2801). Viertens aber nutzte er schon in Breslau systematisch vermeintliche Zusendungen resp. Empfehlungsschreiben, druckte sie in Anzeigen ab. Damit hob er die Qualität seiner Produkte nochmals hervor, verortete sie im oberen gesellschaftlichen Spektrum. Vielfach handelte es sich allerdings um reine Erfindungen. Der von ihm als Garant erwähnte Prinz Friedrich Wilhelm Karl von Preußen starb beispielsweise schon 1851.

Aller Werbung, allen Anstrengungen zum Trotz ging Hoffs Geschäft spätestens im Sommer 1859 bankrott, der Konkurs über sein Vermögen folgte im Herbst (Ebd. 1859, Nr. 459 v. 22. September, 6). Warum ist unklar, berichtet wurde über „eine unvorsichtige Speculation“ (Der Israelit 8, 1865, 527). Familie Hoff siedelte jedenfalls nach Berlin über, wo er das fortsetzte, was er in Breslau begonnen hatte. Er etablierte sich im Zentrum der preußischen Hauptstadt, in der unmittelbar an der Spree gelegenen Neuen Wilhelmstraße 1 – und begann unter dem Namen Johann Hoff ab spätestens März 1860 neuerlich sein Malzextrakt-Gesundheitsbier und seinen Brustmalz anzubieten (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 30 v. 31. März, 155).

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Schwindel in Premiumlage: Ansicht des Geländes von Johann Hoffs früherem Firmensitz Neue Wilhelmstr. 1, heute ARD Hauptstadtstudio (Uwe Spiekermann, 2019)

Johann Hoff wurde in Berlin zum Exponenten moderner Geheimmittelproduzenten, die ihre objektiv überteuerten Produkte mit Heilsversprechen aufluden und einem zahlungskräftigen Publikum als Alltagshelfer anpriesen. „Malzextrakt“ war eine sprachliche Fiktion, denn darunter hatte man zuvor kein Bier, sondern ein medizinisches Stärkungsmittel verstanden. Hoff betonte stetig und unbeirrt, dass sein Produkt Heilwirkungen habe – und es seine Pflicht sei, seine Mitbürger darüber in Kenntnis zu setzen. Das tat er direkt, vor allem aber mittels realer und großenteils wohl fiktiver Dank- und Empfehlungsschreiben. Als Adressat sah er sich in der „Pflicht, die leidende Menschheit unausgesetzt auf dieses vortreffliche und dabei wohlschmeckende Getränk aufmerksam zu machen“ (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 209 v. 30. Juli, 6).

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Ein altes Familienrezept aus Ägypten: Geheimmittelwerbung a la Johann Hoff (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 82 v. 17. Juli, 332)

Hoffs virtuose Nutzung moderner Werbung machte ihn zu einem der wichtigsten Vorläufer heutigen Marketings. Dies reicht tiefer als der eventuell zutreffende Verweis, Hoff habe als erstes deutsches Unternehmen eine eigenständige Werbeabteilung eingerichtet (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing, Berlin 1993, 24). Der junge Unternehmer verstand die Grundprinzipien moderner Massenmärkte: Hohe Werbekosten waren einerlei, wenn es dadurch gelang, den Umsatz überproportional zu steigern. Hoff meinte dazu anekdotenhaft: Als „ich die ersten Tausend Thaler mit meinem Malzextract verdient hatte, sagte ich mir: die hast du nicht verdient, und steckte sie als Inserate in die Zeitungen. Als es zehntausend geworden waren, sagte ich mir: die Hälfte davon hast du nicht verdient und steckte sie wiederum in die Zeitungen, und so fort“ (Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 9 v. 11. Januar, 2-3, hier 3 – auch für das Folgende). Anfang der 1860er Jahre soll er einen Jahresumsatz von ca. 250.000 Talern gehabt und für Anzeigen ca. 100.000 Taler aufgewandt haben. Produktions- und Betriebskosten dürften bei ca. 50.000 Talern gelegen haben, so dass der Gewinn exorbitant war. Hoff betonte aber auch: „Aber das kann ich Ihnen sagen, mit Schund hat man keine Aussicht auf Erfolg, und wenn man Millionen verinserirt.“ Daraus entstand ein Nimbus immensen und wachsenden Reichtums (Altonaer Mercur 1862, Nr. 273 v. 19. November, 2). Während die meisten Geheimittelhersteller nach kurzer Zeit wieder vom Markt verschwanden, etablierte sich Hoffs Malzextrakt als einer der bekanntesten Markenartikel der 1860er Jahre, dessen Produktion hierzulande erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg eingestellt wurde.

Als Person blieb Johann Hoff relativ unsichtbar. Er war ein mediales Phänomen, das mittels seiner Anzeigen kommunizierte, in denen er einen Avatar seiner selbst schuf, sich als sendungsbewussten Unternehmer stilisierte: „Es ist eine weise Lehre, man solle sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern vor den Leuten leuchten lassen“ (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 186 v. 7. Juli, 5). Dabei verwob er Lobpreis seines Produktes mit unbeirrbarem Eigenlob. Er sah sich als Wegbereiter einer neuen Heilsindustrie, als Wegbereiter des Aufschwungs der nationalen Industrie: „Wie können wir eine Anerkennung von außen erwarten, wenn wir sorgfältig das zu verdunkeln suchen, was fähig wäre, uns eine solche zu verschaffen. Mit um so größerer Freude muß uns jeder Ausnahmefall erfüllen, und wir werden es uns zur Pflicht machen, einen solchen im Interesse der vaterländischen Industrie auch jedesmal zur öffentlichen Kenntnis zu bringen, sobald er nur von einiger Bedeutung ist“ (Kölnische Zeitung 1861, Nr. 46 v. 15. Februar, 4).

Widerspruch und erbitterte Kritik

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Bewertungen und Einschätzungen als „Thatsachen“ (Die Presse 1861, Nr. 335 v. 6. Dezember, 6)

Bei aller Übertreibung, bei allem Lobpreis setzte Johann Hoff gleichwohl auf eine quasi dokumentarische Werbung. Die Textmasse seiner Anzeigen bestand aus Zitaten von Empfehlungsschreiben, aus Geschäftskorrespondenz, aus Nachrichten über den erfolgreichen Fortgang des eigenen Geschäftes und die zahlreichen Ehrungen, die ihm zuteilwurden. Die alle paar Tage geschalteten Anzeigen, zuerst in Berlin, ab 1861 zunehmend im ganzen deutschsprachigen Raum, hatten zwar Stakkatocharme, doch sie veränderten sich stetig, waren eine Art Fortsetzungsroman des Immergleichen. Das Publikum war sich gewiss bewusst, dass nicht alles eins zu eins zu nehmen war – doch die Wiederholung machte Eindruck, führte zur Probe, zum Kauf. Dieser mochte seinen eigenen Charme haben – moderater Alkoholkonsum unter dem Deckmantel des Heilmittels –, doch man reihte sich zugleich ein in die große Schar der in den Anzeigen erwähnten Persönlichkeiten. Hoff zielte auf den Adel, den Hochadel, hatte Erfolge bei finanzarmen Häusern, die gegen Gebühr auch Titel vergaben, mit denen er dann weiter warb. Die Empfehlungsschreiben entstammten dagegen dem gehobenen Bürgertum, dem Militär, den Pfarrhäusern. Hoffs Malzextrakt war ein bürgerliches Produkt nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution, war die Materialisierung des dann in der Reichsgründung manifesten Bündnisses des nationalen Bürgertums mit dem angestammten Adel. Hoffs Anzeigen waren Ausdruck selbstbewussten Untertanengeistes, freuten sich am huldvollen Dankeschön, an der Ehrerbietung für ein gelungenes Produkt. All das rief teils erbitterten Widerspruch hervor – vor und auch nach dem preußischen Verfassungskonflikt, der 1866 schließlich mit dem Indemnitätsgesetz gelöst wurde, das das königliche Unrecht nachträglich legitimierte.

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Ein virtueller Johann Hoff inmitten einer Schar durch wissenschaftliche Aufklärung entlarvter Scharlatane (Industrie-Blätter 3, 1866, 1)

Die Kritik zielte erstens auf das Produkt selbst. Den Hoffschen Bewertungen wurden chemisch-pharmazeutische Analysen entgegengestellt: „Es geht daraus zur Genüge hervor, daß der vielgepriesene Hoff’sche Malzextrakt weiter keinen Vorzug hat, als daß er völlig unschädlich ist, sonst aber mit den übrigen Wundermitteln auf gleicher Stufe steht, die keinen andern Nutzen stiften, als den, ihren Erfinder reich zu machen“ (Hoff’scher Malzextrakt, Mittheilungen ueber Gegenstände der Landwirthschaft und Industrie Kärntens 19, 1862, 61-62, hier 62). Es war offenkundig, dass der Malzextrakt ein „dunkles Braunbier“ mit ca. 3% Alkoholgehalt war, dem ein Aufguss aus Dreiblatt und Faulbaumrinde zugefügt wurde (Hoff’sches Malz-Extrakt, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 3, 1861/62, 55 – auch für das Folgende). Die Herstellung einer der üblichen 12-Unzen-Flaschen (ca. 340 ml) kostete demnach ca. 6 Pfennig für das Gebräu und 12 Pfennig für Flasche, Etikett und Kork. Das waren 1 Silbergroschen und 6 Pfennige, während der Verkaufspreis bei 7½ Sgr. lag – das Publikum wurde also offenkundig übervorteilt. Hoff kritisierte derartige Analysen, stellte sie methodisch in Frage (Entlarvte Geheimmittel, Ebd., 193-194) – und in der Tat war die Analytik damals lückenhaft und fehlerbehaftet (Ueber die Analyse des Hoff’schen Malzextrakts, Ebd., 200-202). Hinzu kam, dass viele Mediziner durchaus anderer Meinung waren: Es fehlte an gemeinsamen Standards im Umgang mit gewerblichen Anbietern, gekaufte Gutachten waren nicht unüblich. Während Pharmazeuten und öffentlich besoldete Chemiker versuchten, die Expertenreihen zu schließen – die 1864 gegründeten „Industrie-Blätter“ waren dafür eine Wegmarke – blieb die medizinische Profession deutlich offener gegenüber kommerziellen Zuwendungen.

Hoffs Malzextrakt war für viele Wissenschaftler und Publizisten zweitens ein beredtes Beispiel für die negativen Wirkungen der wachsenden Kommerzialisierung des Alltagslebens im Gefolge zunehmender Gewerbefreiheit und des raschen Wachstums der gewerblichen Produktion. Obwohl es vereinzelte öffentliche Warnungen und auch Verkaufseinschränkungen gab – in Wien, in Hannover – so schien die neue liberale Zeit doch tradierte Schutzrechte erodieren, den Konsumenten zurück auf eigene Urteilskraft zu werfen, die durch die Kapitalkraft über Inserate vernebelt wurde: „Die heutigen Alchymisten tragen Fracks und werden nicht verbrannt, das ist der ganze Unterschied“ (Rosafarbene Blätter aus Hamburg, Nordischer Courier und Altonaer Nachrichten 1862, Nr. 218 v. 18. September, 2).

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Etikettenpräsenz: Konterfei von Johann Hoff (Deutscher Reichsanzeiger 1875, Nr. 246 v. 20. Oktober, 6)

Drittens stießen sich die Kritiker an Johann Hoffs ausgeprägter öffentlicher Spendenbereitschaft, die 1862 mit dem preußischen Kommissionsratstitel und dann mit weiteren Orden obrigkeitlich anerkannt wurde. Für den gläubigen Juden Hoff war dies Ausdruck der Zedeka – und innerhalb der orthodoxen Gemeinschaft dankte man ihm für seine vielfältigen Spenden für Arme in Berlin, in Pleschen, in Osteuropa, in Erez Israel, für Bildungseinrichtungen, für die Gründung einer eigenen Haussynagoge und seine Stipendien (Der Israelit 6, 1865, 527; ebd. 7, 1866, 813; ebd. 8, 1867, 39, 885). Doch Hoff unterstützte als Konservativer und Hohenzollernverehrer parallel die nationale Sache, richtete Stiftungen für Veteranen, Invaliden und Kriegerwitwen ein, begleitete jeden Krieg mit Malzextraktschenkungen, spendete dem König und dem Kriegsministerium anlässlich der zahlreichen nationalen Gedenktage, flaggte seine Fabrik preußisch und deutsch – und breitete diese Wohltätigkeit in seinen Inseraten aus. Für Kritiker war dies übergriffig, eine strategische Ausnutzung von Mildtätigkeit für kommerzielle Zwecke, für öffentliche Aufmerksamkeit. Das entsprach nicht ihrer Vorstellung vom alten Preußen und vom neuen Deutschland.

Es überrascht daher nicht, dass Johann Hoff viertens auch Zielscheibe des schon deutlich vor der Gründerkrise und dem Berliner Antisemitismusstreit akuten Antisemitismus wurde. Sein „Reklamegeschmetter“ galt als jüdische Überhebung, war Teil gängiger bildungsbürgerlicher Kritik an „der“ Reklame (W[ilhelm] Giese, Die Judenfrage am Ende des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1899, 35). Hoff stand für die „ungeheuerlichen, beispiellos frechen und materiell erfolgreichen Schwindel-, Luxus-, Lugs- und Betrugs-, Unsittlichkeits- und Unzuchtsindustrien“, die sie als sittlich verderblich und undeutsch gegeißelt wurden (H[einrich] Beta [d.i. Johann Heinrich Bettziech], Die Geheimmittel- und Unsittlichkeits-Industrie, Berlin 1872, 4). Sein Reichtum, sein Schwindel spiegelte einen aus den Fugen geratenen, vermeintlich von Juden geprägten Kapitalismus. Kurzum, in der Figur von Johann Hoff bündelten sich die vielfältigen Tropen des Alltagsantisemitismus, der nicht nur von bürgerlichen Konservativen und Nationalliberalen, sondern auch von weiten Teilen des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft getragen wurde.

Malz und Malzextrakt – Sprache als Marktelement

Diese vier Kritikpunkte müssten allesamt aufgefächert und ausdifferenziert werden. Für unsere Fragestellung nach dem späteren Scheitern des Braumeisters Hoff an der Etablierung eines neuartigen „Deutschen Porters“ als Substitut des importierten englischen Porters und der damals (in Berlin) noch vorherrschenden obergärigen Biere ist ein Blick auf die Nischenmärkte des Braugewerbes dieser Zeit jedoch wichtiger. Obwohl Hoff sich als „Erfinder“ des Malzextraktes präsentierte, obwohl er sich später auch als Neuerer des „Deutschen Porters“ stilisierte, so zeigt eine genauere Analyse des damaligen Marktumfeldes, dass der Berliner Erfolgsbrauer lediglich die einfach erkennbare Spitze eines vernischten und regional disparaten Marktes von Medizinalbieren war.

Was aber verstand man Mitte des 19. Jahrhunderts unter „Malzextrakt“? Malzextrakt war Teil der Brauersprache, galt als „die Würze“, als zu vergärender Grundstoff (J[ohann] F[riedrich] Dorn, Praktische Anleitung zum Bierbrauen und Branntweinbrennen […], 3. gänzl. umgearb. u. verm. Aufl., Berlin 1833, 65; Heinrich Förster, Praktische Anleitung zur Kenntniß über Besteuerung des Branntweins und des Braumalzes […], 2. umgearb. u. verm. Aufl., Berlin 1830, 72-73). Malzextrakt war einerseits ein aus Dextrin und Traubenzucker bestehendes nichtalkoholisches Vorprodukt der Bierproduktion (Eduard Reich, Die Nahrungs- und Genussmittelkunde, Bd. 1, T. 1, Göttingen 1860, 289-290). Anderseits aber handelte es sich um den stofflichen Rückstand, den man nach dem Abdampfen des Bieres bei der Nahrungsmittelkontrolle zurückbehielt. Bei dunklen Süßbieren, etwa der Braunschweiger Mumme, war er dominant, lag beim englischen Porter hoch, ebenso beim bayerischen Starkbier. Sein Anteil betrug gemeinhin zwischen 4 und 8 Prozent des Bieres (Hermann Klencke, Die Verfälschung der Nahrungsmittel und Getränke […], Leipzig 1858, 311).

Malzextrakt war, wenngleich nicht immer unter diesem Begriff, spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert diätetisches Heilmittel bei Erkältungen. Die relativ rasche Zersetzung der Enzyme und die aufwendige Herstellung begrenzten seine Verbreitung. Apotheker mussten es frisch zubereiten, konnten es nicht lange bevorraten. Dazu wurde Malz, also gekeimtes und wieder getrocknetes Getreide, geschrotet und vollständig mit Wasser bedeckt. Nach 6-8 Stunden wurde die Flüssigkeit abgelassen und dann bei geringer Hitze zu einem Sirup eingedampft. Dieser wurde anschließend nochmals mit Wasser bedeckt – und nach weiteren 6-8 Stunden neuerlich verdampft (Aerztliches Intelligenz-Blatt 9, 1862, 231). Das Resultat bestand aus einfach löslichen Kohlehydraten, war ein Nährmittel für Kranke und Kinder. Zeitweilige Bedeutung gewann ab 1864 die sog. Liebigsche Malzsuppe, ein häuslich zubereitetes Kindernährmittel, das die Muttermilch ersetzen sollte, als gewerbliches Substitut aber kaum Bedeutung gewann (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 91-93).

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Werbung für Liebigs Suppenpulver, einem Malzpräparat für Kinder (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 30 v. 30. Januar, 4)

Es ist offenkundig, dass derartige Nähr- und Heilmittel etwas anders waren als die Hoffschen Angebote in Breslau und Berlin. Und entsprechend hieß es apodiktisch: „Der sogenannte Hoff’sche Malz-Extrakt ist kein Malz-Extrakt“ (Wiener Medizinische Wochenschrift 15, 1865, Nr. 42, Beilage). Es handelte sich vielmehr um „ein ziemlich starkes Bier, angeblich mit heilkräftigen Stoffen versetzt“ (Annalen der Landwirtschaft 7, 1867, 342). Hoffs Erfolg gründete jedoch just auf der Illusionskraft der Sprache: Er vermengte begrifflich ein Medizinalprodukt und ein Vorprodukt des Bierbrauens, machte aus ordinärem Bier ein „Gesundheitsbier“, einen neu definierten „Malzextrakt“. Die Schaffung neuer Dachbegriffe war nicht unüblich, überdeckte vielfach Produktänderungen ohne nähere Kennzeichnungen. Backpulver war in den späten 1860er Jahren etwas anderes als um die Jahrhundertwende, auch Brot und Bier veränderten sich derweil beträchtlich. Johann Bernhard Hoff hat die für moderne Konsumgütermärkte üblichen semantischen Illusionen für seine unternehmerischen Zwecke genutzt – und konnte seine Wertschöpfung dadurch massiv erhöhen.

Hoffs Malzextrakt im Marktkontext: Gesundheitsbiere, Deutscher Porter und medizinische Malzextrakte

Die Überlappung von Bier- und Medizinalmarkt, die damit einhergehenden Veränderungen tradierter Marktsegmente wurden von Zeitgenossen als Bruch mit der alten Ordnung verstanden, nicht aber als Übergang zu moderneren Formen der Marktgestaltung. Functional Food oder vegane Ersatzprodukte waren und sind in den letzten Jahrzehnten gleichfalls von intensiven Debatten eingerahmt worden, die nicht beachten, dass Fluidität, das Zerbrechen bestehender Ordnung, ein konstitutives Element moderner Marktwirtschaften ist. Ohne Einbezug der ökonomischen Logik bleiben solche Debatten halbgar, erschöpfen sich in medial gut aufzubereitenden Aufregungen. So auch die Debatten über Bier und Malzextrakt seit den 1860er Jahren: „Die Fabrikate des Hrn. Hoff in Berlin und das des Hrn. Rohrschneider in Potsdam […] sind dünnflüssige gegohrene Flüssigkeiten, die zwar ursprünglich ein Malz-Auszug gewesen seyn können, gegenwärtig aber vollständig den Charakter des Bieres angenommen haben“ (Ueber Malz-Extract, Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1861, Nr. 282 v. 28. November, 4).

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Konkurrierende Malzextraktangebote in Berlin: Rohrschneider, Potsdam (Königlich privilegirte Berlinerische Zeitung 1860, Nr. 230 v. 30. September, 33)

Derartige Zitate belegen, dass Hoff nicht alleine stand. Auch andere Anbieter verkauften ihr Bier als Gesundheitsbier, als Malzextrakt. Die zeitgenössischen Blicke richteten sich vorrangig auf den Marktführer, den Anzeigenkönig. Doch Hoffs Angebote wurden von Konkurrenten unmittelbar nachgeahmt und in ähnlicher Weise beworben. Sprachwandel ist einfacher als eine kapitalintensive produktionstechnische Umgestaltung. Nachahmungen und allgemeine Produktbezeichnungen lassen sich ohne Patentrechte resp. Markenschutz nicht verhindern. Derartiger Rechtsschutz fehlte, hätte auch kaum gewirkt – und die öffentliche Klage über die stets als schlechter bezeichneten Konkurrenzprodukte spiegelte dies nur.

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Andauernde Konkurrenz – auch in der Berliner Nachbarschaft (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 36 v. 27. März, 4)

Bei der den „Malzextrakt“ charakterisierenden Überlappung von Bier- und Gesundheitsmärkten sind drei eng miteinander verwobene Entwicklungen auseinanderhalten: Erstens nutzten zahlreiche kleinere Brauereien den von Hoff gesetzten Trend, um ihrerseits lokale und regionale Märkte zu bedienen. Zweitens griffen weitere Anbieter die Hoffschen Sprachspiele auf und vermarkteten Malzextraktprodukte unter anderen Namen, zumal als „Deutschen Porter“. Drittens grenzten sich Anbieter diätetischer Spezialitäten von den modischen Gesundheitsbieren ab und etablierten einen neuen Markt haltbarer und nichtalkoholischer Malzextrakte, die als Kräftigungs- und Heilmittel „seriös“ beworben wurden und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für Kinder, Kranke und Alte genutzt wurden. Dass all dies ab den späten 1880er Jahren auch zum neuen Getränkesegment der alkoholfreien Malz- und Nährbiere führte, sei nur ergänzt. Doch blicken wir genauer hin.

Lokale Konkurrenz bereiteten Johann Hoff in Berlin vor allem die Hofbrauer und Hoflieferanten Gebrüder Auerbach. Ihre Bitterbierbrauerei bestand seit 1855. Sie hatten seit den späten 1850er Jahren bereits mit Malzpulver als Muttermilchersatz experimentiert, nahmen also die Liebigsche Malzsuppe tendenziell vorweg (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 60 v. 24. Mai, 244). Seit Sommer 1860 boten sie als „kräftig-nahrhaftes, aber nicht aufregendes Getränk“ ein Gesundheits-Bier an, 15 Flaschen für einen Taler (Ebd., Nr. 87 v. 28. Juli, 352). Das war günstig, gab es für den Taler doch neun Flaschen mehr als bei Hoff. Selbstverständlich betonten die Hersteller, ihr „Gesundheits-Malz-Bier“ schon „seit Jahren“ zu brauen, den guten Ruf bei „fast sämmtlichen berliner Aerzten“, hoben ferner freie Zustellung und mäßige Preise durch „Massenabsatz“ hervor (Ebd., Nr. 99 v. 25. August, 400). Selbst der tägliche Genuss bei Hofe und „von den Königl. Prinzen“ durfte nicht fehlen (Ebd., Nr. 102 v. 1. September, 412). Die Gebrüder Auerbach etablierten Niederlagen ihres „Malz-Extractes“ auch außerhalb Berlins, nutzten bei der Werbung auch Empfehlungsschreiben (Rhein- und Ruhrzeitung 1861, Nr. 147 v. 25. Juni, 4: Dresdner Anzeiger 1861, Nr. 261 v. 18. September, 8). Die Inserate endeten jedoch 1863, danach konzentrierte sich die Firma vorrangig auf Malzpräparate für Kinder (Berliner Gerichts-Zeitung 11, 1863, Nr. 101 v. 29. August, 6). Das galt auch für eine Reihe anderer Berliner Anbieter, etwa die Schweizer Bierbrauerei von B. Weidner (National-Zeitung 1860, Nr. 485 v. 16. Oktober, 9). Einzig das von Julius resp. Carl Schultz seit 1860 angebotene Malz-Extrakt-Gesundheitsbier überdauerte die Hoffsche Marktpräsenz.

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Gesundheitsbier als Getränk des deutschen Michels 1862 (Frankfurter Latern 3, 1862, 108)

Dennoch gab es wiederholt lokale Konkurrenten, die sich nicht nur gegen Hoff behaupteten, sondern ihn offensiv attackierten. Das galt vor allem für die erbitterte öffentlich ausgefochtene Konkurrenz zwischen Johann Hoff und dem Kölner Braumeister Hubert Koch. Seit Mai 1862 bot er einen „Malz-Extract“, ein Gesundheitsbier an, in Flaschen für 3 Sgr., als Hauskrug, aber auch im Ausschank seiner Gast- und Speisewirtschaft (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 126 v. 7. Mai, 6). Hoff warf dem Konkurrenten Täuschung vor, beklagte Angebote von „geborgtem Ruf“, verwies auf fehlende Gutachten (Ebd., Nr. 124 v. 5. Mai, 4). Koch nahm den Fehdehandschuh auf, machte sein Produktionsverfahren transparent und sich über seinen Konkurrenten in bemerkenswerter Weise lustig. Er, der „Braumeister ohne Titel“, verspottete den Hoffschen Titelfirlefanz, das Trallala seiner Gewährsleute. Er persiflierte dessen Werbung mittels erfundener Gutachten und forderte Hoff wieder und wieder auf, ihre Produkte vergleichend zu analysieren, statt lediglich die „Annoncen-Drehorgel“ zu spielen: „Nicht Wappensiegel zieren meine Flaschen, / Doch bergen sie viel edlern Saft, / Der – gar nicht wirkend auf die Taschen – / dem Schwachen neue Kräfte schafft“ (Ebd., Nr. 255 v. 14. September, 7). Die Auseinandersetzung zog sich über Monate hin, die Verbalinjurien nahmen zu, struktureller Antisemitismus brach sich Bahn. Als die Fehde im Januar 1863 endete, hatte sich Hubert Koch auf Kosten des Marktführers einen Namen gemacht, das Publikum über die „Malz-Extract-Schwindelei“ (Ebd. 1863, Nr. 25 v. 25. Januar, 8) aufgeklärt. Er verkaufte weiterhin seinen Malzextrakt, konzentrierte sich dann stärker auf das Gaststättengeschäft. Die Kölner Posse unterstrich die Brüchigkeit der Hoffschen Marktstellung, zugleich aber die Kraft einer unbeirrt durchgehaltenen Werbung. Kochs Vorwürfe mochten berechtigt sein, gingen aber an der Essenz des Marktgeschehens und der Konsumentenpsychologie vorbei. Dass zeitgleich der Kölner Braumeister Johann P. Schmitt mit seinem „Malz-Extract (Gesundheitsbier)“ Hoff und Koch erfolgreich Konkurrenz bereitete, unterstreicht die Dynamik des lokalen Wettbewerbs (Ebd. 1862, Nr. 154 v. 4. Juni, 8; ebd., Nr. 297 v. 26. Oktober, 8).

Hoffs Marktführerschaft wurde aber nicht nur von lokalen Braumeistern bedroht, die von Hoff gesetzte Begriffe aufgriffen und die Waren billiger anboten. Das galt auch für Nachfolgeanbieter im Ausland, etwa Wander in Bern oder aber die Wilhelmsdorfer Malz-Produkten-Fabrik in Linz. Allen Klagen über den „Malzextrakt-Gesundheitsbier-Schwindel“ (Malzextrakt nach rationellen Prinzipien bereitet, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 8, 1867, 109-110, hier 109) zum Trotz löste das anders benannte Bier zeitweilige Konsummoden hervor: „Malzextrakt ist die Universalmedizin, die man nicht löffel- sondern gleich krügelweise zu sich nimmt. Jedes Gasthaus ist zur Apotheke geworden und bei der herrschenden Gewitterschwüle schreit alles nur nach Malzextrakt. […] Karawanenweise zieht die Bevölkerung hinaus in den Weichselgarten und – medizinirt“ (Der Wiener Beobachter, Der Zeitgeist 2, 1862, Nr. 29, 5). Innerhalb der Brauereiwirtschaft akzeptierte man die neuartig beworbene Biersorte, plädierte für eine standardisierte und kontrollierte Massenproduktion: „Wenn dabei ferner jeder Schein von Schwindel ängstlich vermieden wird, dann kann jedes solche Etablissement eine glückliche Zukunft ‚anhoffen‘“ (Eigentliches Malzextrakt, Der Bierbrauer 7, 1865, 49-53, hier 53).

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Wettbewerb zwischen Malzextrakten unterschiedlicher Namen: Deutscher Porter vs. simplen Malzextrakt (Coburger Zeitung 1864, Nr. 180 v. 3. August, 1928)

Dazu kam es nicht. Stattdessen fächerte sich der Markt weiter auf – und dies mit Hilfe der zuerst von Hoff genutzten Sprachspiele. Der Leipziger Bierhändler und Hoflieferant Carl Grohmann verkaufte seit spätestens 1858 Zerbster Bitterbier als „Malz-Extrakt-Bier“ (Illustrirter Dorfbarbier 1858, Nr. 12 v. 21. März, 8; Illustrirte Zeitung 1860, Nr. 873 v. 24. März, 228). Dabei handelte es sich um ein seit der frühen Neuzeit gebrautes dunkles Bier, dessen Malz besonders geröstet wurde und in seinem Geschmack an die starken englischen Biere erinnerte. Grohmann ließ seit 1861 ein ähnliches Bier auf eigene Rechnung brauen, verkaufte es aber als „Deutscher Porter (Malzextrakt)“ (Illustrirte Curorte-Zeitung 22, 1897, Nr. 10, 11). Das war ein weiteres Gesundheitsbier, doch die neue Bezeichnung verlieh dem Produkt zeitweilig ein Alleinstellungskriterium, das zudem gut zur laufenden Adaption englischer Biere in deutschen Landen passte. Es handelte sich um ein hochpreisiger Heilsprodukt, zugleich aber um ein „diätetisches Genußmittel“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 9 v. 10. Januar, 179). Grohmann verstand es als Alternative zum Malzextrakt, als Tafelgetränk sollte es auch Wein ersetzen können. Die Werbung setzte mit einer gewissen Verzögerung ein, folgte ab spätestens 1863 der Hoffschen Art der Werbung mit großen Anzeigen (Leipziger Zeitung 1863, Nr. 16 v. 18. Januar, 288; ebd., 1864, Nr. 282 v. 27. November, 6298).

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Moderner Werbeauftritt (Neues Fremden-Blatt 1869, Nr. 68 v. 9. März, 18 (l.); Leipziger Zeitung 1867, Nr. 256 v. 27. Oktober, 6094; Illustrirte Curorte-Zeitung 26, 1901, Nr. 10, 18 (r.))

Johann Hoff blieb Grohmanns Hauptwettbewerber, Gutachten hoben stoffliche Gleichwertigkeit, jedoch höheren Wohlgeschmack und den etwas niedrigeren Preis hervor. Dennoch entwickelte sich der Deutsche Porter eher in Richtung eines Medizinalbieres: Er wurde angepriesen als das „gesündeste und wohlschmeckendste Stärkungsgetränk für Gesunde, Kranke und Reconvalescenten jeden Alters und Geschlechts“ (Dresdner Nachrichten 1865, Nr. 101 v. 11. April, 4), dann gar als prophylaktisches Mittel gegen Cholera (Ebd. 1866, Nr. 285 v. 12. Oktober, 3). Wie Hoffs Malzextrakt sollte es bei „Krankheiten der Respirationswege, Verdauungsbeschwerden, Appetitlosigkeit, geschwächtem oder verdorbenem Magen, Hämorrhoidalleiden“ helfen (Leipziger Zeitung 1868, Nr. 255 v. 25. Oktober, 6465). Auch Grohmann verlieh seinem Deutschen Porter eine längere, bis 1856 zurückreichende Vorgeschichte (Ebd., Nr. 234 v. 1. Oktober, 5997). Bier wurde damals zunehmend zu einem Traditionsgetränk. Geschmack, Nutzen und ein angemessener Preis reichten für die Vermarktung abseits von Haus und Gaststätte nicht mehr aus.

Grohmanns „Deutscher Porter“ unterschied sich zugleich aber vom Hoffschen Vorbild. Seine Zusammensetzung wurde mehrfach verändert, am Ende stand ein für damalige Zeiten sehr starkes Getränk von 4,7 % Alkohol – damals lagen fast alle Biere um 3 % Alkoholgehalt, erst die bayerischen Biere sollten dies ändern (Ebd. 1867, Nr. 54 v. 3. März, 1288; Chemisch-technisches Repertorium 21, 1882, 65). Der Deutsche Porter war kein reines Bier, sondern mit Traubenzucker und konservierenden Schwefelsäure versetzt (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 23, 1892, 406). Zudem pflegte Grohmann einen engen Bezug zum wissenschaftlichen Establishment Sachsens, nutzte Gutachten und Empfehlungsschreiben von Pharmazeuten und vor allem von Medizinern (Leipziger Zeitung 1866, Nr. 268 v. 11. November, 5837). Das half, sich gegenüber dem „Absude nachahmender Speculanten“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 54 v. 3. März, 1288) abzugrenzen. Die Werbung selbst war moderner als die Hoffs, nutzte früher sächsische Hoheitszeichen und Medaillen als Bildelemente (Leipziger Zeitung 1864, Nr. 6298 v. 27. November, 282). Berlin war damals werbetechnisch eher rückständig, während Sachsen vom Lehrmeister Wien profitierte. Grohmann nutzte auch ab 1865 einen Slogan, „genau nach medicinischer Vorschrift gebraut“ (Leipziger Zeitung 1865, Nr. 275 v. 19. November, 5966). Der Absatz konzentrierte sich auf Sachsen, Bayern und Cisleithanien, dort konkurrierte man mit Hoffs Malzextrakt. Dazu dienten niedrigere Verkaufspreise, anfangs 6,5 Sgr., 1868 aber nur noch 5 Sgr. pro Flasche. Hoff bewarb vorrangig Letztkunden, Grohmann zielte stärker auf den Großhandel und konzessionierte Depots (Wiener Medizinische Wochenschrift 19, 1869, Nr. 20, Sp. 36). Das entsprach dem Geschäftsgebaren eines großstädtischen Bierhändlers.

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In vertrautem Ton: Anzeige von Carl Eduard Werners „Deutschem Porterbier“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 253 v. 24. Oktober, 6031)

Ansonsten finden wir in Sachsen ähnliche Marktentwicklungen wie beim Hoffsche Malzextrakt. Grohmanns nachgeahmtes Pionierprodukt Deutscher Porter wurde seinerseits ab Mitte der 1860er Jahre vom Leipziger Restaurateur Carl Eduard Werner nachgeahmt (Dresdner Anzeiger 1866, Nr. 346 v. 12. Dezember, 18). Dessen Werbung war selbstbewusst, gründete auf chemischen Analysen. Der Mediziner Gustav Hoppe bestätigte, dass Werners „Deutscher Porter“ den vergleichsweise „meisten Nahrungsstoff“ besitze (Dresdner Nachrichten 1866, Nr. 365 v. 31. Dezember, 3). Auch bei Werner ging dem Vertrieb ein Bierhandel und ein Bierausschank voran, auch hier stand das Zerbster Bitterbier am Anfang (Leipziger Tageblatt 1864, Nr. 97 v. 6. April, 1753). Der Herausforderer forderte zudem deutlich niedrigere Preise, 1873 lediglich 2 Sgr. pro Flasche resp. 17 Flaschen für einen Taler (Ebd. 1873, Nr. 57 v. 26. Februar, 3). Damit war auch ein gewisser Rahmen für die 1872 beginnende Einführung des Hoffschen Deutschen Porters gesetzt.

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Hammers Deutscher Porter – Ein weiteres billiges Substitut für Hoffs Malzprodukte (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6241)

In Sachsen etablierten sich in den 1860er und frühen 1870er Jahren mehrere Anbieter Deutschen Porters. In Schlesien lieferte seit spätestens 1868 die Lagerbier- und Porterbrauerei A. Hausdorf „Deutscher Porterbier“ für drei Sgr. die Flasche (Kladderadatsch 21, 1868, Nr. 5, Beibl., 1; ebd. 23, 1870, Nr. 11, Beibl., 4). Auch in Halle a.d.S. entstand mit der Firma Lehmer ein neuer Billiganbieter (Saale-Zeitung 1873, Nr. 233 v. 5. Oktober, 6), verschärfte mit Preisen von 2 Sgr. die Wettbewerbslage für das 7½ Sgr. teure Hoffschen Produkt weiter (Ebd., Nr. 236 v. 9. Oktober, 6). Die Einführung des Hoffschen Deutschen Porters war 1872 daher auch ein Konter gegenüber neuen Billigangeboten. Dass es sich dabei durchweg um ähnliche Biere handelte, versteht sich sicher von selbst. Es ging um Kraftmeierei in einem sprachlich heterogenisierten Markt. Entsprechend verstand Carl Grohmann den Hoffschen Deutschen Porter als Nachahmung seines vermeintlichen Pionierproduktes: „Diese Copien stehen natürlich hinter dem Original weit zurück“ (Leipziger Zeitung 1873, Nr. 30 v. 3. Februar, 678).

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Malzextrakt auf dem Weg zum Pharmazeutikum (Schwäbische Kronik 1872, Nr. 294 v. 11. Dezember, 4413; Dresdner Journal 1878, Nr. 24 v. 29. Januar, 95)

Die mitteldeutsche Produktion Deutschen Porters spiegelte den wettbewerbsbedingten Preisverfall der neuen Gesundheitsbiere. Parallel aber entstanden neue höherpreisige Segmente für neuartige Medizinalprodukte. Firmen wie Eduard Loeflund (Stuttgart) und J. Paul Liebe (Dresden), dann auch Gehe (Dresden) und Schering (Berlin) griffen die Tradition des Malzextraktes als Apothekerware wieder auf. Am Anfang standen trockene alkoholfreie Malzextrakte. In Sirupform waren sie eine Beigabe der Säuglingsernährung, ein ärztlich verordnetes Nährmittel bei Entkräftung und Krankheit (Trocknes Malzextrakt und trocknes Mehlextrakt, Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin 154, 1872, 384-385). Genaueres chemisches Wissen über Kohlehydrate, vorrangig die Dextrine, insbesondere aber die Maltose, erlaubten durch veränderte Prozessführung gehaltreichere, kaum gärende und haltbarere Produkte. Malzextrakte blieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Standardpräparat (Eugen Seel, Zur Kenntnis des Malzextrakts, Medizinische Klinik 7, 1911, 456-458).

Englisches Nationalgetränk: Der Porter

Die marktbezogenen Sprachspiele von Johann Hoff und Carl Grohmann hatten die tradierte Bedeutung von Malzextrakt und Porter unterminiert, spiegelten zugleich aber die innere Gärung des Biermarktes in Mitteleuropa. In der Forschung lesen wir vom Siegeszug der untergärigen Lagerbiere, deren Ursprünge in Böhmen und dann vor allem in Bayern lagen. Diese waren weit aufwändiger herzustellen als die noch dominierenden obergärigen Biere. Doch der Einsatz moderner Technik, der Dampfmaschine, automatischer Malzdarren, dann auch moderner Kühlmaschinen und Reinhefen, ermöglichten eine zuvor nicht erreichbare Kontrolle des Brauprozesses. Technisierung und Verwissenschaftlichung mündeten seit den 1870er Jahren in vollmundigere und alkoholhaltigere Biere bayerischer Art. „Deutsche“ Biere begannen damals ihren internationalen Siegeszug, weniger in Form von Exportbier als vielmehr durch den Export von Brauern, Hopfen, Malz, Maschinen und zahllosen technisch-analytischen Geräten. Die Akzeptanz des Reinheitsgebotes im norddeutschen Braugebiet war 1906 demnach Schlussstein einer Entwicklung hin zur Weltgeltung deutschen Lagerbieres, die zugleich die obergärigen Biere Großbritanniens weltweit verdrängten. Gewiss, so war es – wenn man allein auf die großen Linien blickt. Doch schon der Aufstieg des Deutschen Porters im Sachsen der 1860er und 1870er Jahre sollte aufhorchen lassen. Noch viel mehr, dass Johann Hoff seinen Deutschen Porter just 1872/73 propagierte, parallel zur Gründung zahlreicher Aktiengesellschaften für bayerisches Bier. Er erklärte letzteres für überholt und vergangen und wollte einen Deutschen Porter zum Nationalgetränk machen wollte.

Porter entstand in England, genauer in London im frühen 17. Jahrhundert (Martyn Cornell, Porter for the Geography of Beer, in: Nancy Hoalst-Pullen und Mark W. Patterson (Hg.), The Geography of Beer, Cham 2020, 7-22; James Sumner, Status, scale and secret ingredients: The retrospective invention of London porter, History and Technology 24, 2008, 289-306). Das dunkle, nährstoffreiche und relativ alkoholhaltige Bier war deutlich länger haltbar als die gängigen Biere, als Ale und Stout. Porter setzte sich in Großbritannien auch in breiten Teilen der Arbeiterschaft durch, wurde zudem weltweit exportiert. Das Wachstum des British Empire ging einher mit der Verbreitung des Porterbieres. In deutschen Landen war es seit dem späten 18. Jahrhundert präsent, Hamburg der wichtigste Importhafen (Hamburger Relations-Courier 1780, Nr. 177 v. 6. November, 4; Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 1796, Nr. 32 v. 24. Juli, 7; Altonaischer Mercurius 1798, Nr. 104 v. 29. Juni, 7). Importierter englischer Porter war Anfang des 19. Jahrhunderts im nördlichen und westlichen Deutschland erhältlich (Lippstädtische Zeitung 1800, Nr. 78 v. 16. Mai, 6; Leipziger Zeitung 1814, Nr. 189 v. 26. September, 2694; Berlinische Nachrichten 1814, Nr. 117 v. 29. September, 8). Die Bewertung des ausländischen Bieres war allerdings unterschiedlich: Während es auf der Hamburger Boulevardbühne hieß, dass man „Lüstern nach Porterbier“ sei (Friedrich Ludwig Schmidt, Die Theilung der Erde, Hamburg 1824, 75), urteilte ein bayerischer Reisender nach Besichtigung führender Londoner Brauereien: „So ungeheuer auch die Braustätten […] sind, so ungenießbar ist ihr Porter und ihr Ale für einen Baier, dessen Gaumen und Magen nie ohne Ekel an den stattlichen Porter […] und an das starke Ale […] sich zurück erinnern kann, wenn er auch nur einmahl in seinem Leben zu dem martervollen Versuche aus Durst gezwungen war, davon zu kosten“ (Barclay’s Brauerei in London, Polytechnisches Journal 17, 1825, 129-130). Porter war im deutschsprachigen Raum durch Transport und Zölle zudem teuer, ein Luxusbier für Begüterte, kein Massengetränk.

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Importbier als teures Angebot für deutsche Kenner (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 25, Beibl. 1, 1)

Porter verkörperte im frühen 19. Jahrhundert England, stand für einen militärisch starken, wirtschaftlich prosperierenden Staat mit hohem Lebensstandard: „Des Tages ein- oder mehrmal einige Eier, ein Beefsteak oder Rostbeef, einige Tassen Thee mit Zucker und Porterbier gehören zu den allgewöhnlichsten Lebensbedürfnissen, ohne welche der englische Fabriksarbeiter, so wie selbst der sogenannte Arme über die bitterste Noth klagen würde“ (Liebich, Ueber Vermehrung des Arbeitsfondes und des Brennstoffs, Mittheilungen des Vereines zur Ermunterung des Gewerbegeistes in Böhmen 3, 1844, 637-653, hier 637). Das entsprach nicht der historischen Realität, die Friedrich Engels (1820-1895) präziser beschrieb. Doch auch für ihn spiegelte sich die besondere Not des Armenhauses in dem karg bemessenen, teils gar fehlenden Bier (Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845, 342). Porter galt als englisches Nationalgetränk – so wie der Schnaps für Preußen, das Bockbier für Bayern und der leichte Wein für Österreich. Die neue chemische Lehre der Nahrungsstoffe und des Stoffwechsels ließ Trank und Menschen miteinander verschmelzen, spiegelte vermeintliche Nationalcharaktere: „Der Porterbier trinkende, schwerfällige, ruhige, finstere, schweigsame, Strick-Nerven besitzende Britte bedarf seines Porterbieres, er braucht ein dem Nebel und Kohlendampf besiegendes, mächtig erregendes, den Magen beschäftigendes Getränk; dort wo ein Anderer eines Fingerdruckes bedarf, braucht er einen Rippenstoß, um aus seinem Gleichmuthe zu kommen: der immer rege, thätige Geist fordert Essenzen“ (Der Blasirte, Echo von der Elbe 1875, 127-128, hier 128).

„Nationalgetränke“ spiegelten das Zeitalters des Nationalismus, waren mit der komplexen Realität regional, teils auch lokal geprägter Trinkweisen jedoch nicht in Einklang zu bringen. Sie standen für simplifizierende Homogenität in einer zunehmend fragmentierten Welt, geprägt vom Vordringen neuer „fremder“ Waren, teils aus dem Ausland, teils aus den gewerblichen Betrieben. Letztere nutzen die wohlige Fiktion des Eigenen denn auch konsequent für ihre Werbung. Kräuterlikör von August Dennler mutierte zum „schweizerischen Nationalgetränk“ (Süddeutsche Post 1874, Nr. 63 v. 6. August, 6), doch auch der mit Zichorie versetzte Kaffee tauchte als deutsches Nationalgetränk auf, während „Bier“ damals den Altbayern zugeschrieben wurde und der „Haustrunk“ Most in weiten Teilen Hessens, des Südwesten und Österreichs als Nationalgetränk vermarktet wurde. Der Begriff spiegelte die wachsende Bedeutung, die Speis und Trank für die Identität großer von Wahlmöglichkeiten geprägten Gruppen hatten, der Kümmel etwa für Preußen, der Wein für die Rheingegend. In dem erst 1871 in einem kleindeutschen Rumpfstaat zusammengeführten Deutschland waren Nationalgetränke Herausforderungen, war man doch auf der Suche nach Einheit, gar nach einer nicht vorhandenen deutschen Küche. Der Kauf von Porterbier war lange Zeit ein Verstoß gegen die sittlich gebotene Sparsamkeit: Champagner und Porter verkörperten unangemessenen Luxus, gar Verschwendung. Bierbrauen sei eine deutsche Kunst – trotz der Dominanz des häuslichen Brauens, trotz der Unzahl kleinster Brauereien mit kläglichem, nach Wetterlage unterschiedlichen Resultaten. Doch in einer vielgelesenen Erörterung über die deutsche Misere nach den an sich gewonnenen napoleonischen Kriegen hieß es, nachdem ein billiges und wohlschmeckendes Bier anstelle des Porters gereicht wurde: „Herrmann. Nur wenige deutsche Bierbrauer werden aber ein solch herrliches Bier zu bereiten vermögen? Biedermann. Und doch bin ich überzeugt, daß er jedem diese Kunst gelernt haben würde, der ihn darum ersucht hätte!“ (Unterhaltungen des Pfarrers Biedermann zu Roßberg […] über Deutschland bedenklich-kränklichen Zustand […], Stuttgart 1821, 93)

Lernprozesse, Nachahmung und Adaption: Englischer Porter in deutschen Landen

Der Import von englischem Porter war aufwändig und teuer. Entsprechend gab es schon im späten 18. Jahrhundert Bemühungen, ihn auch in deutschen Landen zu brauen. Das geschah im merkantilistischen Umfeld anfangs nicht marktbezogen, sondern wurde obrigkeitlich angestoßen. Charakteristisch war eine hamburgische Preisaufgabe, die demjenigen „hiesigen Bierbrauer, welcher ein braunes Bier, das dem ächten Englischen Porterbier an Geschmack, Stärke, Klarheit und Dauer gleich kommt, zu einem verhältnißmäßig billigen Preis liefert, eine Prämie von 8. Sp. Duc“ versprach (Intelligenzblatt der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek 1796, Nr. 3, 39).

Zu dieser Zeit war Nachahmung zwar anrüchig, zugleich aber gängige Praxis. Kolonialwaren wurden in wachsendem Maße gekauft, doch abseits von Adel und gehobenem Bürgertum waren Surrogate ein gängiges Mittel bedingter Teilhabe an den Gütern der Welt. Dazu nutzte man einheimische Ressourcen, mit deren Hilfe man sich dem begehrten Original näherte: Aus Rüben wurde Zucker extrahiert, Zichorenwurzeln, Gerstenkörner, gar Eicheln mutierten zu Kaffeeersatz. Oft fehlende Kenntnisse des Originals erleichterten den Ersatz, machten ihn akzeptabler. Wärmender „Kaffee“ war ein Heißgetränk neuer Qualität, der Rübenzucker erweiterte die Geschmacksvielfalt.

Beim Bier, bei der Nachahmung des Porters setzte man hierzulande anfangs auf die Veränderung des Bewährten. In Nord- und Mitteldeutschland gab es eine reiche Tradition starker, haltbarer Biere. Sie waren, wie das schon erwähnte Zerbster Bitterbier, Handelsgüter, die angesichts der Verbreitung des englischen Porters unter Druck gerieten. Auf Basis recht rudimentärer Kenntnisse des Porters veränderte man Anfang des 19. Jahrhunderts daher in vielen Orten tradierte Brauweisen, um neue lokale Spezialitäten herzustellen, mit denen man zumindest den Heimatmarkt gegen die „englischen Biere“ behaupten konnte. Entsprechende Angebote gab es etwa in Lüneburg, in Braunschweig, in Magdeburg und Frankfurt a.M., allesamt Städte mit einer weit zurückreichenden Brau- und Handelstradition (Joh. Heinrich Moritz Poppe, Technologisches Lexicon, T. 1, Stuttgart und Tübingen 1816, 441). Porterbier wurde aber nicht nur nachgeahmt, sondern an vielen Orten auch unter diesem und dem eigenen Namen vermarktet: Althaldenslebener, Halberstädter und Prillwitzer Porter oder aber das Stettiner Porterbier waren bekannte Beispiele (Johann Herrmann Becker, Versuch einer allgemeinen und besondern Nahrungsmittelkunde, T. 2, Abt. 2, Stendal 1822, 151).

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Echtes Porterbier aus Köstritz (Leipziger Zeitung 1815, Nr. 186 v. 23. September, 2218)

Trotz dieser offenbar eindeutigen Bezeichnungen war die Frage nach der genauen Zusammensetzung nicht nur dieser Biere, sondern insbesondere des englischen Porters vielfach offen. In London gab es schon großbetriebliche und maschinelle Porterbrauereien, doch deren Rezeptur war Geschäftsgeheimnis. Damalige Konsumgüter waren aber auch aufgrund der fehlenden Standardisierung der Rohprodukte chamäleonhafte Angebote. Die Brauweise war an sich bekannt, die Zutaten aber unklar. So wurde Hopfen vielfach durch Bitterklee ersetzt (Bereitung des so berühmten, englischen Porter-Biers, für Bierbrauer, Oettingisches Wochenblatt 1802, Nr. 45 v. 10. November, 3). In Deutschland folgten umfangreiche Versuche, Hopfensubstitute sollten das gesamte 19. Jahrhundert über ein kontroverses Thema bleiben. Süßholz resp. Lakritzsaft war ebenfalls üblich und wurde hierzulande ebenso eingesetzt – etwa beim Köstritzer Doppel- und Porterbier (Der Anbau des Süßholzes, Wochenblatt 1812, Nr. 3 v. 17. Januar, Sp. 46-28, hier 47). Daneben aber nutzte man weitere Zusatzstoffe, um Farbe, Geschmack und Haltbarkeit zu verbessern: „Malz, Hopfen, Syrup, Süßholzwurzel, […karamelisierter Zucker…, US], Farbe (gebrannter Zucker, weniger lang und daher weniger bitter) und Capsium (Cayennepfeffer), spanischer Süßholzsaft, Fischkörner, Alaun, Eisenvitriol und Weststeinsalz (Pottasche), Ingwer, gelöschter Kalk, Leinsamen und Zimt“ (Vorschrift zu Porterbier, Das Neueste und Nützlichste der Erfindungen, Entdeckungen und Beobachtungen […], Bd. 8, Aufl. 2, Nürnberg 1820, 18-20). Angesichts derartiger Rezepte war Nachahmung immer auch innovativ, konnte keine Reproduktion des englischen Porters sein. Bis weit über die Jahrhundertmitte wiesen die Angebote aus London oder Dublin beträchtliche Unterschiede auf. Bier war damals immer auch ein Abenteuer, ein Überraschungsmoment im Alltag. Es war den vielfältigen Geheimmitteln dieser Zeit nicht völlig unähnlich.

Stärker als in England debattierte man hierzulande über die genaue Stellung des Porterbieres: War es ein Medizinalbier, wie viele der deutschen Schwarz- und Braunbiere? Oder war es ein nährendes Alltagsgetränk wie in Großbritannien? Das galt analog für viele andere Importwaren: Schokolade und Kakao wurden damals vielfach salzig konsumiert, galten als Genussmittel und als Medizin. Einer der ersten Ratgeber für die Brauerei englischer Biere enthielt demnach „erprobte Anweisungen und Recepte, aus verschiednen Ingredienzien die besten Gesundheitsbiere zu verfertigen, die bey gewissen Krankheiten die herrlichsten Dienste thun“ (Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyschen Correspondenten 1808, Nr. 83 v. 24. Mai, 4). Als Stärkungsmittel wurde Porter, wie die Mumme, ärztlich empfohlen (Medicinisch chirurgische Zeitung 1798, Erg.-Bd. 2, 266). Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein besaß Porter nach Auskunft der Zeitgenossen „einen arzneilichen Geschmack“ (J[ohann] C[arl] Leuchs, Brau-Lexicon, 3. Ausg. v. Leuchs Braukunde, Nürnberg 1867, 165). Erst langsam emanzipierte sich das englische Bier von dieser Bürde. Brauer aber blickten auf die englischen Verhältnisse, auf ein Alltagsgetränk: „Es ist der Trank der untern Volksklasse, der stetige Gesellschaft am Tisch des Bürgers, und niemals fehlend beim Mahle des Reichen“ (Adolph Lion, Handbuch der Medicinal- und Sanitätspolizei, Bd. 1, Iserlohn 1862, 360).

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Wissenstransfer durch Ratgeber (Accum, 1821 (l.) und Hermbstädt, 1826)

Das Wissen um die Porterproduktion wurde seit Anfang des 18. Jahrhunderts in Deutschland erst durch Spezialartikel, dann durch Ratgeber und Lehrbücher verbreitet. Üblich waren Übersetzungen englischer Werke: Johann Gottfried Bönischs (1777-1831) 1806 erschienenes Buch „Ueber das Bierbrauen der Engländer“ stammte großenteils aus dem 1802 erschienenen „A Treatise on brewing“ des Londoner Brauers Alexander Morrice. Andere Arbeiten unterstreichen die Bedeutung von Emigranten beim Wissenstransfer. Andreas Freeport veröffentlichte nach zwanzigjähriger Arbeit als Brauer in Deutschland und England 1808 seine „Theorie und Praxis von dem braunen und weißen Englischen und Deutschen Bierbrauen“ (Reich der Todten 23, 1808, 519-520). Friedrich Accums (1769-1838) 1820 erschienene Anweisung zum Brauen englischer Biere erschien ein Jahr später in deutscher, dann auch in französischer Übersetzung. Als Standardwerke dürften sich aber Sigismund Friedrich Hermbstädts (1760-1833) „Chemische Grundsätze der Kunst Bier zu brauen“ bzw. Johann Carl Leuchs (1797-1877) 1831 erschienene „Vollständige Braukunde“ durchgesetzt haben. Ersterer beschrieb die konstitutive Mischung dreier Malzarten und den Zusatz von Zucker und Süßholz- oder Lakritzsaft, letzterer verglich die verschiedenen Verfahren der Porterbrauerei in England und Deutschland. Gleichwohl bezeichneten Mediziner Porter weiterhin als „ein wahres Compositum giftiger Substanzen“ (A[nton] H[einrich] Nicolai, Grundriss der Sanitäts-Polizei, Berlin 1835, 48).

In der Tat wurde der Exporterfolg in deutschen Landen von fehlenden Standardisierungen und häufigen Verfälschungen insbesondere der Fassware beeinträchtigt. Flaschenware war hochwertiger, doch aufgrund der hohen Verpackungskosten und schlechter Glasqualität nochmals teurer (E.A.F. Hoffmann, Der Getränke-Prüfer, Quedlinburg und Leipzig 1826, 29-35). Porter blieb ein städtisches, gutbürgerliches und norddeutsches Getränk, war unterhalb der Mainlinie selten. Deutschland war keineswegs das typische Bierland, denn im Norden und Osten dominierte der Kartoffelschnaps, der „Branntwein“, in Bayern und den südwestlichen Mostländern wurde weit mehr als doppelt so viel Bier getrunken. Vor allem die Hafen- und Handelsstadt Hamburg galt als Porterstadt, dort gab es zahlreiche Import- und Handelsfirmen, dort wurden englische Biere ausgeschenkt und in Fachgeschäften verkauft (Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1859, Nr. 8 v. 19. Januar, 4).

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Porterverkauf in Hamburg (Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1836, Nr. 130 v. 3. Juni, 10 (l.); Hamburger Fremdenblatt 1871, Nr. 201 v. 27. August, 4)

Entsprechend überrascht es nicht, dass sich Porterbrauereien nur in Nord- und Mitteldeutschland etablieren konnten. Neugründungen waren anfangs selten, zumeist handelte es sich um die schon erwähnten lokalen Brauereien, die ein als Porter bezeichnetes Bier in ihr Angebot integrierten. Die wichtigste Neugründung war die Porterbrauerei der Nathusiuschen Gewerbeanstalten in Althaldensleben bei Magdeburg, einem in den 1820er Jahren einzig dastehenden Mischkonzern mit weit über tausend Beschäftigen. Über die dort durchgeführten Versuche und die Produktionstechnik unterrichtete das 1821 veröffentliche Buch „Der deutsche Porterbrauer oder Anweisung, ein dem englischen Porter gleichkommendes Bier zu brauen“, das noch 1836 in vierter Auflage überarbeitet herausgegeben wurde (vgl. auch Leuchs, 1831, 384-386). Zeitgenossen sprachen damals vom „Uebergang aus dem Gebiete der Oekonomie zu dem der Technologie“, lobten insbesondere das dort gebraute Ale, während man dem Porter gegen skeptisch war, „da er seines säuerlichen Geschmacks wegen, der auch dem ächt englischen eigen ist, dem teutschen Gaumen im Allgemeinen schwerlich zusagen wird“ (Oekonomische Neuigkeiten und Verhandlungen 1824, Nr. 93, 742 – beide Zitate). Andere lobten dagegen seine lange Haltbarkeit, seine Nährkraft und betonten, dass der Porter „neuerlich in Deutschland Cours erhalten“ habe (Emil Ferdinand Vogel, Geschichte der denkwürdigsten Erfindungen […], Leipzig 1842, 172 (Zitat)-173).

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Schema einer dampfgetriebenen englischen Porter-Brauerei (Leuchs, 1831, 596)

Mitte des 19. Jahrhunderts war die erste Welle der Gründungen abgeebbt, doch steigende Importe und der insgesamt wachsende Bierkonsum führten im Gebiet des deutschen Zollvereins zu vermehrtem Porterkonsum. Weiterhin gab es regionale Gründungen, so 1853 die kleine Brauerei von Christian Rose (1803-1877) im mecklenburgischen Grabow, der die Porterbraukunst zuvor in London studiert hatte. Im gleichen Jahr entstand auch in München eine erste Porterbrauerei (Philipp Heiß, Die Bierbrauerei mit besonderer Berücksichtigung der Dickmaischbrauerei, München 1853, 156-160). Der Siegeszug des hellen bayerischen Bieres war von weiteren Gründungen gegen die vermeintlichen Trends der Zeit begleitet: 1865 errichtete der Großbrauer Gabriel Sedlmayr (1811-1891) ein Brauhaus für englischen Porter – sechs Jahre bevor er mit der Installation der ersten Lindeschen Großkältemaschine in der Spatenbrauerei sein Gewerbe technisch grundstürzte (Tag-Blatt der Stadt Bamberg 1865, Nr. 76 v. 17. März, 2). Porter wurde in der Fachliteratur jedenfalls stetig behandelt (Ladislaus von Wagner, Handbuch der Bierbrauerei, 5. sehr verm. u. gänzl. umgearb. Aufl., Weimar 1877, 904-907). Wie die bayerischen Biere mit ihrer gemeinschaftsbildenden Gemütlichkeit verkörperte auch der Porter als Getränk aller gesellschaftlichen Klassen die gesellschaftspolitische Idee der bürgerlichen Gesellschaft.

Diese Entwicklungen bildeten den Rahmen für die Sprachspiele mit dem „Deutschen Porter“ erst in Sachsen, dann im gesamten mitteldeutschen Raum. Festzuhalten aber ist, dass Porter englischer Art ein gänzlich anderes Getränk war als die Malzextrakte und Gesundheitsbiere Hoffscher und Grohmannscher Art. Sie waren alkoholhaltiger, süffiger und auch billiger. Es handelte sich nicht um flüssige Medizin, sondern um Bier mit hohem Nährwert. Das schuf Marktchancen, erste Aktiengesellschaften wie die 1868 begründete Norddeutsche Ale- und Porter-Brauerei in Hemelingen entstanden: „Für die Produktion von Ale und Porter ist in Deutschland noch keine Konkurrenz vorhanden; die wenigen in Bremen und Hamburg existierenden Ale- und Porterbrauereien exportiren ihr Produkt überseeisch; es müssen daher alle dergleichen Biere für den Konsum im Zollvereine vom Auslande eingeführt werden“ (Westfälischer Merkur 1868, Nr. 158 v. 12. Juli, Ausg. 2, 1). Die englische Brauart sei kostengünstiger und weniger fehleranfällig als die Produktion untergäriger bayerischer Biere. Mit den niedrigeren deutschen Löhnen und dem besseren Zugang zu heimischen Rohwaren könne man billiger als die englische Konkurrenz produzieren, könne man auch in die Massenproduktion einsteigen.

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Weitreichendes Versandgeschäft: Englische obergärige Biere aus Deutschland (Aschaffenburger Zeitung 1869, Nr. 281 v. 14. November, 3)

Von den 300.000 Goldtalern Grundkapital wurden 200.000 eingezahlt, 1869 begann die Produktion, Anerkennung in der Fachpresse folgte. Englands Brauereien erhielten scheinbar mehr als gleichwertige Konkurrenz, denn moderne Technik ermöglichte ein chemisch reineres Bier (Werner, Porter und Ale, Allgemeine Hopfen-Zeitung 10, 1870, 54). Parallel nahm schon vor der Gründerzeit die Zahl der Gaststätten und Bierhallen zu, die ihren Kunden andere Biere von auswärts boten. All das erfolgte, während Johann Hoff den Einstieg in die Produktion „Deutschen Porters“ vorbereitete, um eine Umgestaltung der deutschen Bierkultur und ein weltweites Verdrängen des englischen Porters zu bewirken.

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Begrenztes Vordringen englischer Biere: Englische Taverne in Köln 1872 (Kölnische Zeitung 1872, Nr. 90 v. 30. März, 8)

Gründerboom: Johann Hoffs Einstieg in die Porterproduktion

Am 22. Februar 1872 blickte Johann Hoff auf eine dreißigjähre Tätigkeit im Brauereifach zurück, ließ sich als Vertreter von „Patriotismus, Wohlthätigkeit, Frömmigkeit und Industriefleiß“ feiern (Der Israelit 13, 1872, 270). Er war umstritten, gewiss, doch erfolgreich, eine Person des öffentlichen Lebens, „eine herrliche Zierde des hiesigen, ja des gesammten orthodoxen Judenthums“ (Der Israelit 13, 1872, 270). Das Malzextraktgeschäft war jedoch nicht mehr so dynamisch wie in den 1860er Jahren, und ein reines Abschöpfen der weiterhin hohen Erträge schien im Umfeld des Gründerbooms der frühen 1870er Jahre nur eine Selbstbeschränkung. Hoff spekulierte, setzte auf eine Ausweitung und Diversifizierung seines Geschäftes, wollte ein noch größeres Rad drehen. Zugleich erhöhten der massive Zufluss französischer Reparationszahlungen und die allgemeine Deregulierung der Wirtschaft den Druck auf alle im tradierten Fahrwasser wirtschaftenden Betriebe.

Zu dieser Zeit litt Berlin unter einer „Bierfrage“, die lange Zeit Wind in die Segel Johann Hoffs war. Berlin besaß spätestens seit den 1860er Jahren nicht genügend Braukapazität für die rasch wachsende Bevölkerung, so dass es insbesondere während des Sommers zur regelmäßigen „Biernoth“ kam. Wie bei anderen Konsumgütern, etwa dem an sich aus Berlin stammenden Baumkuchen, war die neue Reichshauptstadt eine Importstätte für Bier allgemein, für Lagerbiere und Spezialitäten im Besonderen. Das Aktiengesetz vom 11. Juni 1870 initiierte eine Gegenbewegung, denn mit Bier ließ sich scheinbar rasch Gewinn machen.

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Brauereiaktien als Handelsgut (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 92 v. 20. April, 21)

Berlin war traditionell eine Stadt obergärigen Bieres. Im späten 18. Jahrhundert dominierte Braunbier, auch Kufenbier, als lokale Spezialität zudem die „Weiße“. Allerdings gab es damals schon eine erste Brauerei für „englische Biere“ (Otto Wiedfeld, Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720 bis 1890, Leipzig 1898, 148, auch für das Folgende). Bis Mitte des 19. Jahrhundert dominierte der steuerfreie Haustrunk, die Brauereien waren eher mittelständisch. Die Braun- und Weißbierbrauerei geriet in den folgenden Jahrzehnten jedoch unter massiven Druck des zuerst importierten, dann aber zunehmend auch in Berlin produzierten untergärigen bayerischen Bieres. Noch 1860/61 wurden in Berlin 126,334 Ztr. Malz für obergärigen und 75,023 für untergärige Biere versteuert. 1875/76 hatte sich die Relation umgekehrt, zugleich die Produktion massiv erhöht (293,508 vs. 531,448 Ztr. Malz) (Julius Frühauf, Der Bierverbrauch in Berlin, Arbeiterfreund 15, 1877, 253-258, hier 257). Das bayerische Bier galt als schmackhafter und vollmundiger, doch in Berlin produzierten die neuen Aktiengesellschaften fast durchweg „Dividendenjauche“, also schlecht schmeckende Getränke geringer Qualität. Quantitativen Wachstums zum Trotz erodierte in den 1870er Jahren das Vertrauen in das lokale Bier, das als „Erzeugnis der chemischen Bierfabriken“ galt (Gustav Dannehl, Die Verfälschung der Nahrungs- und Genußmittel. 2. Das Bier, Die Gartenlaube 1877, 600-602, hier 600). Importbiere legten weiter zu, der Markt für Spezialitäten schien chancenreich. Auch „Naturwein“ gewann, Oswald Nier wurde später dessen Propagandist. All dies schuf grundsätzlich gute Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige Alternative, für den Johann Hoffschen „Deutschen Porter“.

Die Aktienbrauereien veränderten zugleich die tradierte Art des Bierkonsums. Sie bauten eigene Vertriebsnetze auf, insbesondere von ihnen gepachtete, teils auch errichtete Bierhallen. Die Aktienbrauerei Moabit, die ihren Ausstoß binnen eines Jahres fast verdoppelt hatte, besaß zu Beginn der neuen Saison 1873 gleich acht solcher Etablissements (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 92 v. 20. April, 41). Diese Gaststätten neuen Typs erforderten Hunderte von Gästen, lockten diese mit Musik, Theater und relativ günstigen Speisen. Kellner gewannen an Bedeutung, Trinkgelder erforderten zusätzliche Ausgaben, dennoch wurde immer wieder über die Anhebung des Bierpreises für das Standardbier von 1 Sgr. 6 Pfg. diskutiert (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 185 v. 7. Juli, 3). Mittelfristig setzten sich die Kapitalkräfte durch, seit den 1880er Jahre verbesserte sich die Qualität des Bieres wieder, Folge wachsender Investitionen nicht nur in den Maschinenpark, sondern vor allem in die Mälzerei, die Kühltechnik, den Hefeeinsatz und die chemische Kontrolle des Produktionsprozesses. Seit den 1890er Jahren wurde Berlin schließlich zu einem Bierexporteur mit zugleich hohen Importraten (Henry Gidom, Die Geschichte der Berliner Brauereien von 1800 bis 1925, Rostock 2021).

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Berliner Stammtisch mit Weißbier (Berliner Wespen 6, 1872, Nr. 2, 2)

Investitionsentscheidungen: Glashütte, Ausschankstätten, Ausflugslokal

Der Hoffsche Einstieg in die Produktion eines weiteren Bieres war komplexer als die Gründung einer der vielen Aktienbrauereien in Berlin. Diese bedienten vorrangig den aufnahmefähigen lokalen Markt, während Johann Hoff offenbar von Beginn an auf überregionalen, gar internationalen Erfolg zielte. Entsprechend erwarb er als erstes eine Glashütte, um genügend Flaschen für den Versand und den Verkauf in und vor allem abseits der preußischen Metropole zu haben. Zweitens folgte er dem Trend der Zeit, indem er vor Ort Grundstücke erwarb, auf denen er Ausschankstätten einrichtete, die aber auch als Brauereistandorte dienen sollten. Drittens zielte er auf ein großzügiges Ausflugslokal vor den Toren Berlins, das regelmäßig Tausende in seinen Bann schlagen sollten. Mangels einschlägiger Akten ist leider nicht abzusichern, ob dieser Geschäftsplan 1871 entstand und dann recht konsequent umgesetzt wurde; oder ob es sich um ein sich verstärkendes Wunschgebilde handelte, das immer größer wurde, bevor es zusammenbrach. Angesichts des Einsatzes eines Großteils seines von Zeitgenossen auf ca. 3 bis 4 Millionen Taler geschätzten Vermögens scheint es mir jedoch wahrscheinlicher, von einem durchaus rationalen Plan auszugehen: Man müsse nur die Grundlagen legen – die Werbung und der Durst würden den Rest schon erledigen.

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Erweiterte Kapazitäten in einem strukturschwachen Raum (Stettiner Zeitung 1872, Nr. 207 v. 5. September, 4)

Hoff erwarb erstens am 9. Juni 1871 die Schönemannsche Glashütte zu Neufriedrichsthal bei Uscz, einer südöstlich von Schneidemühl gelegenen Kleinstadt mit etwas mehr als 2000 Einwohnern (Deutscher Reichsanzeiger 1871, Nr. 41 v. 19. Juni, 7). Die Hohlglashütte hatte sich lange Zeit auf Spirituosen- und Süßweinflaschen konzentriert, besaß zum sicheren Versand auch eine eigene Korbflechterei (Königlich Preußischer Staats-Anzeiger 1856, Nr. 1669, 1395). Johann Hoffs verstärkter Einkauf von Malzextraktflaschen verbreiterte die Produktionspalette, zumal nach der 1865 erfolgten Einführung eines mit Torf befeuerten Siemens-Regenerativofens (Ferdinand Steinmann, Compendium der Gasfeuerung in ihrer Anwendung auf die Hüttenindustrie, Freiberg 1868, 55). Wöchentlich produzierte man damals mehr als 15 Tonnen Flaschenglas (Polytechnisches Journal 182, 1866, 216). Die Übernahme ging einher mit massiven Investitionen. Hoff erweiterte den Betrieb um vier neue Glasschmelzöfen: „Die Glasschmelzöfen sind sämmtlich auf Massenproduction eingerichtet, indem z.B. an einem Flaschenofen 24 Mann Glasmacher aus 12 Häfen arbeiten und dieselben in einer Arbeit zusammen mindestens 10,000 Stück Hoff’sche Malzextractflaschen oder ähnliche Größen fabriciren“ (Die Glasindustrie im Regierungs-Bezirk Bromberg, Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 540 v. 17. November, 8). Drei weitere Öfen waren geplant, ein eigenes Torfmoor sicherte die Feuerung, zudem gab es eine Kalkbrennerei und eine Ziegelei, die auch Baumaterial für die Berliner Erweiterungen lieferte.

Der Posener Betrieb wurde von Beginn an als Teil des Hoffschen „Weltgeschäftes“ beworben (Extra-Felleisen des Würzburger Stadt- und Landboten 1872, Nr. 1 v. 2. Januar, 3-4). Hoff sah darin den Eckstein einer massiven Ausweitung erst der Malzextraktproduktion, dann auch des Vertriebs Deutschen Porters (Berliner Börsenzeitung 1872, Nr. 418 v. 7. September, 7-8, hier 8): „Um eine derartige Concurrenz eröffneten zu können, muß auch auf billigste Beschaffung der Materialien Rücksicht genommen werden“. Von Glaswaren im Wert von jährlich 200,000 Talern war die Rede (Altonaer Nachrichten 1872, Nr. 219 v. 18. September, 1-2). Am 23. Dezember 1872 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Neue Friedrichsthaler Glashüttenwerke AG hatte ihren Sitz in Berlin, ein Grundkapital von 400,000 Talern und Johann Hoff fungierte als Direktor (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 5 v. 7. Januar, 6). Die Emission erfolgte durch die Vereins-Bank Quistorp & Co., Berlin, die die meisten Hoffschen Grundstücksgeschäfte federführend begleitete (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 228 v. 27. September, 6).

In einem zweiten Schritt erwarb Johann Hoff eine Reihe zusätzlicher Grundstücke in Berlin, war Teil der Terrainspekulation der Gründerzeit. Ausgangspunkt war weiterhin das Stammhaus in der Neuen Wilhelmsstraße. Dort lag die Brauerei, die Malzschokolade- und Malzbonbonfabrik, eine Druckerei für Etiketten, Verpackungen und Werbematerialien sowie, als „Seele des ganzen Geschäfts“, ein chemisches Laboratorium (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 1 v. 4. Januar, 4). Hier lag auch Johann Hoffs Büro, die Verwaltung, ferner Abfüllerei und Packkeller.

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Sitz des Hoffschen Brauerei: Neue Wilhelmstraße 1 1882 (Droschken-Wegemesser (berliner-stadtplansammlung.de)

Die recht beengten Verhältnisse hatten bereits zur Anmietung weiterer Lager geführt. Am Louisenplatz 6 befand sich zudem eine Mälzerei. 1871 kaufte Johann Hoff weitere Grundstücke in dessen Nachbarschaft. Das betraf erst einmal Louisenstraße 2. Die Mälzerei sollte dadurch erweitert, weiterer Lagerraum geschaffen werden. Wichtiger aber noch war die dortige Schaffung eines neuen Gartens und gleich zweier große Bierlokale. Ergänzt wurde diese Phase des Geschäftsausbau mit einem großen Gelände in Potsdams Bertinistraße 5-6, nördlich des späteren Schlossses Cecilienhof gelegen, zwischen den späteren Villen Strack und Mendelssohn Bartholdy. Bei der Villa Bertini wurde Eis gewonnen und gelagert, das mehr als 20.000 m² große Gelände sollte zu einem Malzkurort umgewandelt werden. Daraus wurde nichts, ebenso wie der Ausbau eines großes, nach Hoffs Auskunft für 50 Häuser ausreichenden Terrains in Charlottenburg.

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Wachsendes Angebot und neue Betriebsstätten: Werbung für Malzseifen und Malzpomade (Schwäbischer Merkur 1872, Nr. 298 v. 15. Dezember, Beil. n. 1298)

Im März 1872 erwarb Hoff dann weitere Grundstücke zur Arrondierung des Besitzes in der Louisenstraße, nämlich die angrenzenden Häuser Louisenplatz 7 und das Eckhaus Louisenstr. 1 (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 138 v. 22. März, 9). Der Komplex sollte als ganzer entwickelt werden, einerseits Lager- und Kühlräume bündeln, anderseits Platz für eine großen Ausschankstätte inklusive Biergartens bieten (Altonaer Nachrichten 1872, Nr. 219 v. 18. September, 2). Dieser Plan schien unwiderstehlich: „So sehen wir im Johann Hoff’schen Weltgeschäft ein Rad in das andere greifen und einen Gesammt-Mechanismus erzeugen, dessen Großartigkeit einzig und allein dasteht“ (Berliner Börsenzeitung 1872, Nr. 418 v. 7. September, 7-8, hier 8).

Dennoch veränderte Johann Hoff dieses Räderwerk des sicheren Erfolgs im Dezember 1872: Er kaufte drittens das in der Nähe von Spandau gelegene Schloß Ruhwald (Ebd., Nr. 604 v. 25. Dezember, 7). Und sogleich präsentierte er diesen Ort als neuen Eckstein seiner Mission Deutscher Porter. Er habe „von der unter Quistorps genialer Leitung so vortrefflich blühender Westendgesellschaft das von dem Herrn von Schäfer-Voit [sic!] in der Nähe des Spandauer Bockes erbaute und allen Berlinern wohlbekannte Schloß Ruhwaldsruh nebst einem großen Länderterrain angekauft“ und werde „nun an dieser Stelle für die Sommermonate ein Ausschanklokal des Deutschen Porterbieres errichten, welches für 10,000 Gäste ausreichenden Platz haben wird. Das himmlisch schön gelegene Etablissement wird wie ein Volksgarten eingerichtet werden und es besteht die Absicht, daselbst allwöchentlich regelmäßig prachtvolle Feuerwerke und Concerte abhalten zu lassen“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 2 v. 3. Januar, 14). Hoff hatte seine Karten werbeträchtig ausgebreitet, doch unbefangene Beobachter dürften den blinden Fleck gleich vermerkt haben. Der Geschäftsplan war auf massives Wachstum ausgelegt, doch es fehlten neue Braustätten. Sie sollten – so immer wieder zwischendurch erwähnt – erst in der Louisenstraße, dann bei Schloß Ruhwald gegründet werden. Doch Hoffs Aktivitäten setzten andere Schwerpunkte: Zuerst die Popularisierung des neuen Deutschen Porters, dann die Vergrößerung des Absatzes per Versandgeschäft, in den Ausschanklokalen, im Ausflugslokal. Und so ging Hoff denn an die Umsetzung seiner ambitionierten Pläne.

Deutscher Porter als neues deutsches Nationalgetränk

Die neuen Gaststätten sollten noch Anfang 1873 dem allgemeinen Ausbau des Hoffschen Brauereigeschäftes dienen. Malzextrakt war dafür nicht geeignet, die Kunden sollten dieses Gesundheitsbier ja entweder mehrfach täglich aus kleinen Weingläsern trinken – oder den Flascheninhalt erhitzen und es als Kurgetränk nutzen. Malzextrakt war ein häusliches Getränk, daher bedurfte es neuer Biersorten. Von Deutschem Porter wurde seit im Mai 1872 gesprochen, im Vorfeld der angekündigten Grundsteinlegung war von „einer Bayerisch-Bierbrauerei (resp. Deutschen Porter-Bierbrauerei) mit Ausschank und Garten“ die Rede (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 240 v. 26. Mai, 9). Über das neue Bier hielt man sich bedeckt, denn bayerisches Bier und deutscher Porter galten als Gegensätze, mochten sie auch beide untergärig herstellbar sein. Dieser Dualismus prägte noch die reichsweite Ankündigung, die „Porter- und Bairisch-Bierbrauerei“ am 1. Oktober zu eröffnen (Bielefelder Wochenblatt 1872, Nr. 103 v. 29. August, 2). Das neue Etablissement – die Blickrichtung war stets die Gaststätte – würde die Reichshauptstadt weiter verschönern und durch die Porter-Brauerei „eine abermalige industrielle Superiorität über die anderer Städte des deutschen Reiches“ erlangen (Westfälischer Merkur 1872, Nr. 227 v. 23. August, 3). Zugleich begann verbal die Mission Deutscher Porter: „Der englische Porter wird nun wohl seinem deutschen Rivalen weichen müssen, besonders da wir endlich zu der Einsicht gekommen sind, daß Deutschland bezüglich seiner Fabrikate dem Auslande in keiner Hinsicht nach zu stehen braucht“ (Hannoverscher Courier 1872, Nr. 5671 v. 24. August, 3). Ab September kippte die Hoffsche Werbung dann vollends in Richtung Deutscher Porter. Spötter kommentierten: „Der Malzextract zieht gewiß nicht besonders mehr, darum ein anderes Bier!“ (Volksblatt für den Kreis Mettmann 1872, Nr. 70 v. 31. August, 3)

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Auftragsannahme für den „Berliner Porter“ – ein Werbeversprechen (Hamburger Nachrichten 1872, Nr. 232 v. 29. September, 9)

Die Anzeigen unterschieden sich deutlich von dem seit 1857 gepflegten Werbestil. An die Stelle einer Abfolge scheinbar nicht versiegender Dank- und Empfehlungsschreiben trat eine für diese Zeit völlig neuartige Werbekampagne. Die Inserate boten eine Art redaktionellen Text, eine Fortsetzungsgeschichte mit immer neuen Ergänzungen und Neuigkeiten. Werbung war für Johann Hoff seit jeher Teilhabe der Kunden an seinem Erfolg, an der Qualität seiner Produkte. Nun aber gewann der Geschäftsplan Gestalt, wurde in immer neuen Facetten öffentlich ausgebreitet. Die Anzeigen wurden parallel in den Berliner Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, nur selten wiederholt. Der Inhalt glich einer Abfolge von Fanfarenstößen. Zugleich aber berichtete man inhaltlich über die Fortschritte und Pläne, ermöglichte den Kunden dadurch Teilhabe. Die Werbung für Deutschen Porter war nicht mehr länger produktzentriert, sie zielte auf die Seele des Kunden, auf seinen Stolz als Deutscher, als Zeitgenosse des allgemeinen Aufstieges. Die Aufforderung zur kommerziellen Teilhabe war Teil eines Plebiszits für einen Prozess, der dank Johann Hoffs Voraussicht, der Größe seines bereits bestehenden Geschäftes und der herausragenden Qualität seines Deutschen Porters sich ohnehin durchsetzen würde. Es galt, einer imaginären Kraft zu folgen, die wie die Eisenbahnen und Dampfschiffe der neuen Zeit ihren Stempel aufdrücken würde.

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Anzeigen in Form von Fortsetzungsgeschichten (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 416 v. 6. September, 4 (l.); Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 152 v. 31. Dezember, 4)

Deutscher Porter bildete von September 1872 bis Ende April 1873 denn auch den begrifflichen Kern der Hoffschen Bier- und Gaststättenwerbung. Lange stand im Keller des Stammsitzes ein großes Bierfass mit der Inschrift „Weil es der Industrie in Preußen Ehr’ gebracht, / drum ward dem Bier zur Ehr‘ / das große Faß gebracht.“ Im Mai 1872 wurde es in werbeträchtigem Umzug in die Louisenstraße verfrachtet – und nun trug es die sloganhaften Worte: „Ruhmvoll besiegt / Deutsches Porterbier / Englisch Porter hier!“ Nun galt es, das neue Getränk vorzustellen.

Erstens sollte der Deutsche Porter ein neues Nationalgetränk der Deutschen werden. Johann Hoff knüpfte an die damals (und noch heute) weit verbreiteten Stereotypen über Völker und die sie charakterisierenden Getränke an: Wodka dem Russen, Tokayer dem Ungarn, dem Franzosen sein leichter Bordeaux. Deutschland sei dagegen ein Bierland. Doch „Bier“ sei wandelbar, müsse sich einem sich wandelnden Volk anpassen: „Wir haben im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts vor den Augen der Welt eine große, gewaltige Umwälzung vollzogen, wir sind vollgewichtiger, kräftiger, imponirender geworden, ganz in derselben Weise, wie unser Nationalgetränk, das Bier“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 534 v. 14. November, 7-8 – auch für das Folgende). Noch vor 40 Jahren sei Weißbier das hiesige Nationalgetränk gewesen, „das Symbol der Ruhe, des Friedens.“ Dann folgte das bayerische Bier: „Der starke, kräftige, braune Trunk war das Symbol der Thatkraft, des Wirkens, des Ringens im Leben, welches ja auch oft mit Bitterkeit gemischt ist. So verging wieder eine Reihe von Jahren und wir Deutsche wurden mit unserem Nationalgetränk großgesäugt, wir nahmen zugleich mit ihm auch diejenigen Eigenschaften an, deren Symbol es ist.“ Doch der Sieg gegen Frankreich hatte die Machtfrage geändert – und damit auch den Charakter der Deutschen: „Wohl sind unsere Grundzüge unverändert geblieben, aber rastlos, athemlos ist unser Aller Thätigkeit im neuen Deutschen Reiche! Wir stehen mitten in der schäumenden Brandung! Wir sind jetzt bis zu dem Moment gekommen, wo unser unaufhörlich arbeitendes Gehirn, unsere stählernen Nerven anderer stärkerer Anregungen bedürfen, als sie uns unser bisheriges Nationalgetränk verschafft!“ Deutscher Porter sei dieses neue Getränk, es repräsentiere eine Nation, die mit England konkurrieren könne. Es sei kräftig und dunkel, nährend und anregend, eine Abkehr von „dem leichten, hellen, dünnen, süßsäuerlichen Getränk vergangener Decennien“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 149 v. 21. Dezember, 3). Diese Aussagen sind doppelt bemerkenswert, denn einerseits war der Trend hin zum „bayerischen“ gerade in Berlin besonders ausgeprägt, anderseits bot Hoff selbst dieses hellere Gebräu an.

Zweitens sei der Deutsche Porter auf friedliche Konkurrenz ausgerichtet, eine Kampfansage an ein Kernprodukt des Welthegemons Großbritannien. Der Konsum des Neuen würde erst einmal helfen, die Importe in Höhe von zwei Millionen Talern zu beenden. Dann aber werde es „nicht nur in unserem Vaterlande, sondern über die Marken desselben hinaus, über das englische schließlich den Sieg davontragen“ (Ebd., Nr. 109 v. 19. September, 4). Als Getränk einer wettbewerbsfähigen und letztlich siegreichen Nation sei es zugleich aber klassenübergreifend, binde alle Schichten in die gemeinsame Anstrengung ein. Der Preis erlaube auch Unbemittelten regelmäßigen Konsum (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 538 v. 16. November, 7), ermögliche es als „Lieblings- und Hauptgetränk selbst der weniger Bemittelten“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 104 v. 7. September, 4). Deutscher Porter war konservative Sozialpolitik, ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage.

Drittens aber vermittelte die Werbung schon lange vor dem ersten Anstich eine Idee des Bieres selbst. Als Nationalgetränk war die Meßlatte hoch gelegt worden – und der Deutsche Porter war „feurig und perlend, stark und kräftig, dunkel und schäumend“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 534 v. 14. November, 7-8, hier 7). Der Geschmack sei milder als der des englischen Produktes. Dieses galt zwar als Vorbild, doch die Importware habe einen „sauren, scharfen, oft widerlich bittern Geschmack“. Deutscher Porter hebe sich davon ab, sei „ein mildes angenehmes, weder kratzendes noch Husten erregendes Getränk, welches voll und gewichtig das Blut durch unsere Adern treibt und an bluterzeugender Kraft vielleicht seines Gleichen sucht. An Farbe ist es dunkel und braun, es schäumt in jenem festen soliden weißen Schaume, der nicht lockere Blasen antreibt und das Kennzeichen eines vorzüglich guten Bieres ist. Es wirkt für den Körper nahrhaft und für den Geist anregend. Es verdirbt nicht unseren Magen noch vergiftet es unsere Säfte durch schädlich Substanzen wie andere Porterbiere. Es rinnt mit einem milden Feuer die Kehle hinab und erweckt das größte Wohlbehagen des Leibes und des Geistes!“ (beide Zitate n. Ebd., Nr. 538 v. 16. November, 7) Deutscher Porter war ein Wunschbier, ein Labetrunk, auf dem Papier unerreicht.

Viertens wiederholten die Hoffschen Anzeigen eine Reihe rationaler Argumente für den Kauf, für den Trank. Der Preis sei mit 2½ Sgr. pro Flasche nur leicht höher als bei Standardbieren; und deutlich niedriger als bei englischen Importen. Die Transportkosten seien gering, Zölle fielen weg. Die Qualität des Deutschen Porter sei höher, da der langwierige und vom steten Wellengang geprägte Seetransport das englische Produkt schädige. Auch aus nationalen Gründen schienen deutsche Kunden verpflichtet, das preiswertere und bessere Hoffsche Getränk zu kaufen. Schließlich klang immer wieder die Größe der „Weltfirma“ an, die anders als die bisherigen deutschen Porterbrauer in der Lage sei, mit den Engländern zu konkurrieren: „Denn an den meisten größern, nach vielen Tausenden zählenden Orten hat Herr Johann Hoff seit fast 30 Jahren einen festen, sicheren, reellen Kundenkreis sich geschaffen, dem er sein Fabrikat ohne Weiteres zusendet und es dadurch in demselben Augenblicke schon fast in den entferntesten Theilen der Erde eingeführt und eingebürgert, wo in Berlin selbst, dem Orte der Fabrikation, vielleicht noch keine Flasche öffentlich verkauft worden ist“ (Ebd., Nr. 560 v. 29. November, 11).

Fünftens prägte die Anzeigen der schrille Klingklang des Erfolgs. In Berlin war noch keine einzige Flasche verkauft worden, da hieß es triumphal: „Mit dem Moment, wo das Johann Hoff’sche Deutsche Porterbier ans Licht der Welt getreten ist, hat es sich auch nicht nur über alle Städte Deutschlands, nicht nur über alle Staaten Europas, sondern fast über alle civilisirten Länder der Welt verbreitet“ (Ebd.). Mögliche Kritik versuchte man im Vorfeld zu entkräften, denn die Malzfabrikate hätten sich doch „über alle bewohnten und civilisirten Theile unserer Erde“ verbreitet. Dieses Vertriebsnetz werde man nutzten – nicht, um angesichts des sinkenden Malzextrakonsums andere Pferde zu reiten, sondern um auf Grundlage globalen Erfolgs eine weitere Mission anzugehen (Ebd., Nr. 594 v. 18. Dezember, 8).

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Kritik an Hoffs Werbung und „Schwindel“ (Frankfurter Latern 9, 1873, 214)

Hoffs Argumente einer globalen Mission des Deutschen Porters trafen vorhersehbar auf Widerspruch. Wie, um Gottes willen, wollte der Berliner Brauer die behaupteten Transport-, Qualitäts- und Zollvorteile bewahren, wenn er mit seinem neuen Bier in der Ferne mit englischem Porter konkurrieren würde? Nicht in Frage gestellt wurde allerdings Johann Hoffs Fähigkeit, eine solche Kraftanstrengung national und international anzugehen. Dabei gab es abseits Cisleithaniens kein wirklich dichtes Absatznetz. Gewiss, es gab Depots und Großhandelsdependancen in Westeuropa, auch in Russland. Hoffs Malzextrakt wurde per Versand verkauft, ihn gab es in Drogerien, Bier- und Feinkosthandlungen. Doch ein straffes Vertriebsnetz fehlte, ebenso Gebietskonzessionen im In- und Ausland – und dieses war für den Absatz von Deutschen Porter daher auch nicht zu nutzen. Selbst in Österreich-Ungarn, dem wichtigsten Auslandsmarkt, wurden die neuen Biere nicht angeboten – und anders als beim Malzextrakt wurde über Deutschen Porter, gar ein neues Nationalgetränk in der K.u.K.-Monarchie nicht diskutiert. In der Schweiz wurde vereinzelt Werbung für Deutschen Porter geschaltet, doch mehr als eine Kuriosität war er dort nicht (Das deutsche Porterbier, Der Bund 1873, Nr. 110 v. 22. April, 6).

Johann Hoff nährte die Idee weltweiter Präsenz allerdings mit regelmäßigen Erfolgsnachrichten über den Export großer Mengen Malzextrakt, etwa nach Holland oder Russland (Hannoverscher Courier 1872, Nr. 5792 v. 4. November, 3). Typisch war die Notiz über einen japanischen Agenten, der nach einer Probe gleich hunderttausend Flaschen für sein Heimatland orderte (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 31 v. 15. März, 4; Saazer Hopfenzeitung und Lokal-Anzeiger 1873, Nr. 53 v. 3. Juli, 2). Da zeitgleich japanische Studenten in Berlin und Weihenstephan als Brauer ausgebildet wurden, war das grundsätzlich denkbar (Jeffrey W. Alexander, Brewed in Japan. The Evolution of the Japanese Beer Industry, Vancouver 2013). Doch eine Parallelüberlieferung fehlt – und angesichts nachgereichter Exporterfolge in der Türkei, gar der Nachricht von einem ablehnten Angebot, eine „Malzbrauerei“ in London zu errichten, dürfte es sich eher um Wünsche gehandelt haben (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 93 v. 14. August, 4; ebd., Nr. 96 v. 21. August, 4)

Neue Ausschanklokale, neues Bier: Neue Wilhelmstraße und Louisenstraße

Doch blicken wir stattdessen auf die Geschehnisse vor Ort. Johann Hoff hatte die Eröffnung seiner beiden neuen Ausschanklokale am Stammsitz Neue Wilhelmstraße und am umgestalteten Komplex der Louisenstraße anfangs für den 1. Oktober und dann den 1. Dezember angekündigt, ebenso, mit etwas anderen Terminen, den Beginn des lokalen Liefergeschäftes: Am 25. Dezember war es dann so weit, das Geschäft mit dem Deutschen Porter begann.

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Das Warten hatte ein Ende: Eröffnungsanzeigen vor Weihnachten (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 600 v. 22. Dezember, 7 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1872, Nr. 301 v. 24. Dezember, 15)

Betrachten wir zuerst das von Hoff ausgiebig belobige Interieur beider Gaststätten. Am Stammsitz hatte er den an der Spree gelegenen Eckladen mit dem Nebenraum zu einem chinesischen Boudoir umgestaltet: „An allen Stellen von den Wänden herab blicken ihn [den Besucher, US] die langzöpfigen Söhne und Töchter des himmlischen Reiches an und eine reiche chinesische Landschaft dehnt sich vor seinen Augen aus. Das Lokal ist bereits aus des Künstlers Hand fertig hingestellt und wartet nur noch des Tages, wo es unter der Obhut eines tüchtigen Oekonomen den Deutschen hier mitten in China die braune Fluth des schäumenden deutschen Porters neben den dampfenden Würstchen oder dem duftenden Beefsteak darreichen wird, vielleicht in demselben Augenblicke, wo im fernen, wirklichen himmlischen Reiche China das erste deutscher Porter im Hafen landet und die langzöpfigen Mandarinen dann mit uns zugleich ein Glas trinken werden zum Lobe der deutschen Industrie, welche mit ihren Produkten die Meere durchfurcht und die fernsten Länder überfluthet“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 588 v. 15. Dezember, 8). Exotik sollte offenbar locken, die Mischung war ein Nebeneinander des Eklektischen – doch das galt auch in den damaligen gehobenen Weinrestaurants, die vermeintliche Nationalgerichte nebeneinander darboten, in denen Pressglas und Furnier ein Ambiente scheinbarer Größe schufen.

Weitaus wichtiger als die Aufhübschung des Stammsitzes war der neu erworbene und ausgestattete Komplex an der Louisenstraße, der bei seiner Grundlegung über 2000 Gäste beherbergen sollte (Ebd., Nr. 240 v. 26. Mai, 9). Hier sollte ursprünglich eine zweite Porterbrauerei entstehen, die derweil in Betrieb gegangen sein sollte (Ebd., Nr. 582 v. 12. Dezember, 7). Gleichwohl stammte bei der Eröffnung der Deutsche Porter aus der Stammbrauerei.

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Lage und Umfeld des Hoffschen Brauerei- und Gaststättenkomplexes Louisenstraße (Droschken-Wegemesser (berliner-stadtplansammlung.de)

Wie sah es nun vor Ort aus, in der „Hofbrauerei Friedrich-Wilhelmstadt“? Die Werbung versprach viel: „Der ganze Bau ist ein Meisterwerk und mit fabelhafter Schnelligkeit in wenigen Monaten hergestellt worden. Das Ganze zerfällt in fünf Räume, von denen zwei nach hinten und höher gelegen sind und als lichte, hübsch decorirte Glashallen den Garten des Etablissements umschließen. Die anderen drei mit den Hallen verbundenen Räume sind der mit Oberlicht versehene Mittelsaal und seine beiden Seitenhallen. Der Styl der neuesten italienischen Renaissance, in dem das Ganze erbaut wurde, bringt sich namentlich in der feindurchdachten reichen Ornamentik der Decke zur Geltung, während das Mobiliar, die festen, schweren, eichenen Tische, die soliden, dauerhaften und mit dem Namenszuge J.H. versehenen Stühle, sowie das kunstvoll geschnitzte Büffet sich dem Uebrigen würdig anreihen. Die Wandbilder ringsum in den Seitenhallen zieren die in reich vergoldeten Rahmen befindlichen Bilder der sämmtlichen Herrscher unseres Königshauses. Im Mittel-Saale befinden sich zwei Bilder: Wilhelm I. als Deutscher Kaiser und als Preußens König. Das berühmte große, von Weber in Berlin erbaute Faß befindet sich vorm am Eingang des Gartens, wo es die Blicke der sämmtlichen Besucher fesselt“ (Ebd. 1873, Nr. 23 v. 15. Januar, 9). Der an einen Restaurateur verpachtete Betrieb bot gängige Speisen und Platz für 500 Gästen. Im Ausschank waren Deutscher Porter und Hoffsches Kaiserbier (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577).

Folgt man der Hoffschen Werbung, so war die Eröffnung ein kolossaler Erfolg. 35.000 Flaschen Deutscher Porter seien während der ersten zwei Tage getrunken worden, die Räume waren überfüllt, Tausende fanden keinen Einlass mehr. Alle Stände waren vertreten, „da es sich um ein Nationalgetränk handelte und der Erfolg der deutschen Industrie gegenüber derjenigen Englands gesichert werden mußte. England hat uns lange genug sein Porter geschickt, wofür es unsere Millionen einsackte, nun haben wir eigenes Porterbier im eigenen Lande, und es ist eine That des deutschen Patriotismus, des deutschen Nationalgefühls, uns dessen zu freuen“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 152 v. 31. Dezember, 4 – auch für das Folgende). Doch der Appell an nationale Pflichten unterstrich, dass etwa schief gelaufen war. Das konnte man selbst zwischen den Zeilen der Anzeigen lesen. Deutscher Porter wurde günstig beurteilt, „namentlich“ von Kennern – und „mißgünstige Bemerkungen neidischer Konkurrenten“ wurden zumindest erwähnt. Das sei Teil erwartbarer und notwendiger Kämpfe gegen fremdländische Erzeugnisse, „aber wir Deutsche werden endlich doch siegen und in der Industrie das erste Volk der Erde werden“.

Ein realistisches Bild findet sich ausgerechnet in einer der mit Daueranzeigen Hoffs bedachten Presseorgane. Das lapidare Fazit zeugte von einem Fiasko, von Großtönerei und grauem Alltag: „Das Local in der Wilhelmstraße an der Weidendammerbrücke ist wenig geräumig und unansehnlich, dagegen ist der in der Louisenstraße 2 erbaute Saal der Residenz würdig. Namentlich fesselt dort die Besuchenden das große, prächtig ausgestattete Porterbierfaß. Für den Sommer wird der dort vorhandene kleine Garten aber schwerlich ausreichen. Das Porterbier traf auf eine sehr gemischte Stimmung der Gäste. Nicht der Preis des Glases mit 2½ Sgr., sondern die große Jugend des Bieres wurde übel bemerkt. Gewöhnliches bayerisches Bier, das dort auch geschenkt werden soll, wurde in den Feiertagen noch nicht verabreicht“ (Ebd., 3).

Das galt auch für das parallel anlaufende Liefergeschäft in Berlin. Schon lange zuvor hatte man von den für sechs Monate ausreichenden ausländischen Großaufträgen berichtet (Ebd., Nr. 127 v. 31. Oktober, 4), vom unausgesetzten Brauen (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 582 v. 12. Dezember, 7). Noch unmittelbar vor dem Ernstfall der Lieferung verwies man auf den in der Provinz seit Monaten laufenden Verkauf und die fehlenden eigenen Braukapazitäten. Das sei Ausdruck immenser Nachfrage, und man wüsse nicht „wo das hinausführen soll, wenn es nicht gelingt, noch eiligst einige Brauereien des Johann Hoff’schen Deutschen Porterbieres einzurichten, was allerdings lebhaft betrieben wird“ (Ebd., Nr. 596 v. 20. Dezember, 11).

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Notbremse angesichts von Qualitätsmängeln (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 4 v. 5. Januar, 32)

Schon kurz nach Beginn der Lieferungen stoppte man das Geschäft teilweise. Der mittlerweile zum „munteren Portersieder“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 2, 1) stilisierte Johann Hoff reagierte damit auf die mangelhafte Qualität seines Deutschen Porters. Er war bestenfalls nicht lange genug gelagert worden, erinnerte viele an einfaches Lagerbier mit Farbstoff und Geschmackszusätzen. In der Werbung klang dies gänzlich anders, denn der große Absatz in den Ausschanklokalen sei klein angesichts „der enormen Anzahl von Flaschen, welche in dem in der Neuen Wilhelmstraße 1 gelegenen Verkaufslocale abgesetzt werden, theils durch direkten Verkauf an solche Kunden, welche das Bier gleich abholen lassen, theils an Andere, welche mündlich oder brieflich Bestellungen auf Porter machen. So haben seit dem Beginn dieses Jahres allein in Berlin drei Wagen in Betrieb gesetzt werden müssen, welche unaufhörlich vom frühen Morgen bis zum späten Abend den Kunden das Johann Hoff’sche Deutsche Porterbier zufahren“ (Ebd. 1873, Nr. 15 v. 10. Januar, 8). Der Deutscher Porter sei ein Erfolg, habe sich als neues Nationalgetränk „bereits bei dem größten Theile der hauptstädtischen Familien so sehr eingebürgert, daß der Fabrikant bei Weitem nicht im Stande ist, selbst nachdem die doppelte und dreifache Anzahl von Wagen in Betrieb gesetzt worden sind, um das Bier nach den Haushaltungen zu fahren“ (Ebd., Nr. 33 v. 21. Januar, 10). Hoff versprach rasche Lieferungen, denn alle sollten sein Bier testen können, „sei es im Palast oder in der Hütte“ (Ebd., Nr. 15 v. 10. Januar, 8). Dies gelang in der Folgezeit – nicht zuletzt aufgrund der recht geringen Bestellungen. Da half es auch nicht, dass man das neue Bier zeitweilig wie den Malzextrakt anpries, indem man auf lobende Urteile von Kennern verwies – ohne sie aber zu veröffentlichen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 12 v. 30. Januar, 4).

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Preise für die lokale Zustellung aller neuen Biere Johann Hoffs (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 98 v. 27. April, 22)

Gegenwind: Verzögerungen, schlechter Geschmack und der Eindruck des Nepps

Die Bewertung des Geschmacks eines vor mehr als 160 Jahren ausgeschenkten Getränkes birgt natürlich Probleme, gab es damals doch noch keine Sensorik, keine einschlägig definierte Sprache, war der Sinneseindruck subjektiv. Beim Hoffschen Deutschen Porter waren sich die Zeitgenossen jedoch einig: Es schmeckte schlecht, reichte nicht ansatzweise an das englische Original an, erreichte auch nicht die damalige Qualität hierzulande produzierter Porterbiere englischer Art. Nüchtern bilanzierte der Mediziner Shephard Thomas Taylor (1840-1936): „Wenn es jemals eine gefälschte Imitation gab, dann war es zweifellos das englische Porter-Bier von Johann Hoff. Deutsche und Engländer waren gleichermaßen unzufrieden damit und kehrten der neuen Brauerei entschlossen den Rücken. Ich selbst trank ein Glas und bestellte nie wieder eines. Wenn ich mir eine Vermutung über die genaue Zusammensetzung erlauben darf, würde ich sagen, dass es sich um gewöhnliches deutsches Bier handelte, das mit Lakritz gesüßt war. Wie ein so kluger Mann annehmen konnte, dass die Berliner Öffentlichkeit ein solches Getränk durch noch so viel Werbung gut finden würde, ist schwer zu verstehen“ (Reminiscences of Berlin during the Franco-German War of 1870-71, London 1885, 224 – eigene Übersetzung).

Zeitgenössisch war der Deutsche Porter schon kurz nach dem ersten Ausschank gebrandmarkt, Ende des Frühlings fielen Hemmungen gegenüber dem wichtigen Anzeigenkunden zunehmend weg. In den Berliner Wespen kokettierte eine Bildgeschichte mit „Unwohlsein“ nach dem Genuss von deutschem Porter (6, 1873, Nr. 21, 4). Im Kladderadatsch sandte der just zum Besuch in Berlin weilende Schah von Persien einem nicht getöteten Verwandten eine Flasche Deutschen Porterbiers, denn das sei Mord im Schenkungsgewande (26, 1873, Nr. 266, Beibl. 2, 1). Und in der Tribüne bekam der Autor des damals verbrochenen Pressegesetzes kein Weißbier ausgeschenkt – und man mutmaßte, dass er sich jetzt aus „Verzweiflung […] dem deutschen Porterbier ergeben“ würde (Neues Fremden-Blatt 1873, Nr. 166 v. 18. Juni, 3).

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Schlechter Porter und Infektionsgefahren auf Schloß Ruhwald (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 32, 4)

Sarkastischer Spott dieser Art traf, muss jedoch auch vor dem Hintergrund des insgesamt schwindenden Geschmacks der Biere gesehen werden. Die Aktienbrauereien sicherten sich Braustätten und Ausschanklokale, verpflichteten Wirte zum Absatz allein ihrer Angebote: „Die Qualität des Bieres wird unter diesen Umständen immer erbärmlicher, wenn anders eine Verschlechterung der ‚Dividendenjauche‘ noch möglich ist“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 462 v. 4. Oktober, 8). Ökonomisch war dies ein nicht nur von Johann Hoff betriebenes zynisches Setzen auf das damals allgemein akzeptierte Saysche Gesetz. Jedes Angebot findet seine Nachfrage, schlechtes Bier war eben besser als kein Bier: „Der biedere Bürger sieht verwunderungsvoll / Und weiß nicht, was vom Bier er sagen soll, / Er nippt am Glas und seufzt voll tiefer Trauer; / Erst’s zweite Glas, schon packt mich tiefer Schauer! / Wer hätte das vor 20 Jahr’n gedacht, / Daß man aus solcher Schmier je ‚Biere‘ macht? / Da knallt der Spund; ein Geist ruft aus dem Loch: / ‚Warum so jammern Freund? / Du saufst es doch!“ (Echo der Gegenwart 1874, Nr. 223 v. 15. August, 6) Bezeichnend, dass Hoff seinen Porter als hochwertige Alternative zur „Mangelhaftigkeit der eingeführten fremden Biere“ bewarb (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 209 v. 6. Mai, 8).

Werbung für ein schlechtes Produkt

Wie wirbt man für ein schlecht schmeckendes Bier, dessen Produktion hohe Investitionen verschlungen hat, von dessen Erfolg die eigene wirtschaftliche Zukunft abhängt? Johann Hoff verfolgte ab Januar 1873 eine fünfteilige Strategie, da ein Produktionsstopp das Vertrauen auch zu seinen Malzprodukten weiter unterminiert hätte und Qualitätsverbesserungen Zeit brauchten.

Erstens gewann die nationale Note der Werbung an Bedeutung. Hoffs Unternehmerkarriere war eng mit einem offensiven Bekenntnis zu Herrscherhaus und Nation verbunden gewesen. Er war Patriot, unterstützte die preußischen Soldaten, vergaß aber die österreichischen nicht vollständig (Stettinger Zeitung 1866, Nr. 564 v. 4. Dezember, 3). Seine Malzpräparate präsentierte er stetig als Blätter im „Ehrenkranze deutscher Industrie“ (Kujawisches Wochenblatt 1867, Nr. 22 v. 18. März, 3). Deutscher Porter war nun Ausdruck deutscher Schaffenskraft, deutschen Genies: „Was wär’s, das Deutsche Industrie / Nicht auch zu Stand brächte? / Wo wär‘ das Wunder von Genie, / Das uns beneiden möchte? – / Was England lange, lange Zeit / Gehalten für Unmöglichkeit, / das sieht’s par excellence nun hier: / Ein Hoch dem Deutschen Porterbier! / Dem Reichen nur, wie Jeder weiß, / War Porter eine Labe, / Denn England hielt gar hoch den Preis / Für solche Wundergabe; / Doch heut ein jeder Deutscher Mann / Am Porter sich erquicken kann. / Der Wunderquell, er sprudelt hier: / Ein Hoch dem Deutschen Porterbier!“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 81 v. 18. Februar, 9) Bier wurde weiter historisiert, zum Nationalgetränk der „alten Deutschen“ stilisiert (Ebd., Nr. 75 v. 14. Februar, 9). Es galt als Kennzeichen der Völker germanischen Ursprungs, grenzte diese ab von den Weintrinkern des Südens und Westens. Bier war deutsche Mission, deutsche Kulturtat: „Und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag, überall, wo der Deutsche auf Erden hingekommen ist, hat er sein Bier mitgenommen und dort eingeführt und dadurch die Verbreitung dieses Getränkes unendlich gefördert“ (Ebd., Nr. 241 v. 27. Mai, 8). Und auch der Porter würde endlich deutsch werden – sein Konsum sei daher nationale Pflicht im In- und Ausland, denn er sei Bannerträger deutscher Industrie.

Zweitens veröffentlichte Johann Hoff erstmals chemische Analysen, um allen Kritikern die Güte des Porter vor Augen zu führen: Der Alkoholgehalt betrug 5,1%, Pflanzenfarbstoff war enthalten, 8% stickstoffhaltige Nährstoffe gaben ihm Nährwert. Deutscher Porter enthielt mehr Malzextrakt als sein englisches Pendant (Theobald Werner, Wissenschaftliches Gutachten über das Johann Hoff’sche ‚Deutsche Porterbier‘, Ebd. 1873, Nr. 85 v. 20. Februar, 9). Hoff behauptete, dass sein Deutscher Porter „mit ganz besonderer Sorgfalt gelagert“ werde und „weder zu jung noch überreif zum Ausschank“ gelange (Ebd., Nr. 109 v. 6. März, 9). Damit wurde indirekt eingestanden, dass die Markteinführung zu früh erfolgt war. Zweifelhaft, dass die Kunden ein „höchst liebliches Aroma“ schmeckten (Ebd., Nr. 169 v. 10. April, 9).

Drittens wurde der Tenor der Werbung beibehalten, Erfolgsmeldungen weiterhin verkündet. Doch es war schwierig, Hybris und Lobhudelei stetig und zugleich sensationsstark fortzuführen. Die Nachteile des englischen Porters wurden weiterhin hervorgehoben (Ebd., Nr. 43 v. 26. Januar, 10), die Weltgeltung des Deutschen eifrig beschworen. Erfolgsgeraune war allzeit präsent, so auch, dass sich das neue Getränk allseits verbreitet habe „wie niemals zuvor irgend ein anderes Product heimischer Industrie“, dass es „in fast allen Nachbarländern Deutschlands seinen siegreichen Einzug gehalten“ habe und große Sendungen nach Polen, Rußland und Österreich, ja auch nach Skandinavien versandt wurden“ (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 70 v. 23. März, 15). Der Porter sei feurig und milde zugleich, „das reinste gesündeste Gebräu der Welt“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 21 v. 20. Februar, 4). Die Werbung raunte vom neuen „Lieblingsgetränk ganzer Generationen“, „welches nur aus den besten Bestandtheilen, dem vorzüglichsten Malz, dem schönsten Hopfen stark eingebraut und in stets gleichbleibender Güte […] hergestellt“ werde (Ebd., Nr. 41 v. 8. April, 4). Dem öffentlichen Spott hielt man entgegen, dass ein Johann Hoff sich „nur mit ganz vorzüglichen Ideen“ beschäftige, er „dem Publikum nur das Beste vom Besten“ geben wolle. Ihm und seinem Porter müsse man einfach vertrauen (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 60 v. 11. Februar, 9). Werbung als Fortsetzungsroman der Eitelkeiten.

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Bestellungen nur am Stammsitz und ein neuer Konzertort (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 195 v. 27. April, 16 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 104 v. 4. Mai, 16)

Viertens veränderte man parallel das Angebot in der Louisenstraße, während das chinesische Ecklokal am Stammsitz nicht mehr weiter erwähnt wurde. Die seit langem angekündigte neue Porterbierbrauerei wurde nur nominell in Angriff genommen, der Lieferdienst auf den Stammsitz zurückgeführt. Neben den Deutschen Porter trat nun vermehrt Bayerisches Bier, auch Bockbier und Ale waren im Ausschank. Zugleich erweiterte man das Konzertangebot, glich sich damit der gängigen Praxis anderer Bierhallen an. Aus der Wiegestätte des Deutschen Porters wurde eine Bierhalle mit Chancen auf Amortisierung der Investitionskosten.

Fünftens aber verlagerte Johann Hoff die Werbung spätestens ab März zunehmend auf sein neues Ausflugslokal, das Schloß Ruhwald. Dort würde eine weitere Porterbrauerei, würde ein Vergnügungsort für Zehntausende entstehen, für die ganze Berliner Bevölkerung. Johann Hoff gab nicht klein bei, verfolgte seinen Geschäftsplan unbeirrt weiter. Zeitgenössischer Spott erreichte ihn nicht, etwa dass Deutscher Porter nicht schmecken wolle, wenn man in das Glas blicken würde (Vom bösen Blick, Berliner Wepsen 6, 1873, Nr. 5, 3). Er trug seinen Kopf oben, verfolgte weiterhin seine Mission.

Abseits von Berlin – Deutscher Porter als Versandware

Johann Hoff hatte seine Pläne eines neuen deutschen Nationalgetränks seit August 1872 reichsweit verbreitet. Geschehen aber war wenig, denn anders als verlautbart war sein Deutscher Porter abseits von Berlin kaum erhältlich. Mit dem Verkaufsbeginn, mit dem Ausschank in eigenen Lokalen änderte sich dies im Frühjahr 1873. Neuerlich wurde die Werbetrommel auch fern der Hauptstadt gerührt, etwa in Baden: „Was Ihr wollt! sagt Herr Johann Hoff in Berlin im neuen Jahr zu seinen Kunden. Er hat nämlich eine Bierhalle in der Louisenstraße gebaut, in welcher das beste bayerische Bier und englischer Porter geschenkt wird, so gut daß es manche Trinker sogar dem Malzextrakt vorziehen“ (Durlacher Wochenblatt 1873, Nr. 11 v. 25. Januar, 2). In der Ferne kannte man das Hoffsche Bier nur aus den Anzeigen, nicht aber spätere Warnungen Berliner Karikaturzeitschriften: „Hier schenkt man deutschen Porter! hieß ein Schild. / Das las ein kund’ger Trinker, ungeheuer / Vom Durst geplagt, allein er ganz wild: / Nein, auch geschenkt ist’s mir zu theuer!“ (Der Unbestechliche, Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 34, 3)

Insgesamt lief die Werbekampagne in der Ferne deutlich später an, mit etwa drei Monaten Abstand. Zugleich konzentrierte sich Hoff auf nur wenige Anzeigentexte, verzichtete auf den kommerziellen Fortsetzungsroman, der die hauptstädtischen Zeitungen füllte. Zugleich enthielten die Inserate wesentlich häufiger Preise. Das neue Bier wurde gemeinhin im noch nicht breit entwickelten Fachhandel angeboten, zudem konnte man es sich als Versandbier ins Haus liefern lassen. Doch auch abseits Berlins gab es Verzögerungen, so dass Hoff Ende Januar, Anfang Februar erst einmal Abbitte leisten musste – wie schon seit Anfang Januar in Berlin.

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Produktionsprobleme im Spiegel einer Massenanzeige (Zweibrücker Zeitung 1873, Nr. 29 v. 4. Februar, 4 (l.); Kölnische Zeitung 1873, Nr. 25 v. 25. Januar, 7)

Reichsweit bewarb man den Deutschen Porter und das eigene Lagerbier mit Verweis auf „massenhaft einlaufende Aufträge“. Die begehrten Bierinnovationen waren deshalb „nicht sofort lieferbar“ (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 27 v. 27. Januar, 2; Hannoverscher Courier 1873, Nr. 5928 v. 26. Januar, 4; Wittener Zeitung 1873, Nr. 12 v. 28. Januar, 4). Das Weltgeschäft wurde zwar beschworen, kam jedoch nicht recht ins Rollen.

Die Preise waren jedoch recht moderat, 12 Flaschen Porter oder Ale für einen Taler im bürgerlichen Milieu konkurrenzfähig. Und wahrlich: Ab Anfang März konnte grundsätzlich geliefert werden, wurde der Deutsche Porter auch abseits von Berlin vereinzelt ausgeschenkt.

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Hoffs Getränk in Essen (Essener Zeitung 1873, Nr. 56 v. 7. März, 4)

Hinzu trat ab spätestens April 1873 der Flaschenbierverkauf; wobei die Preise nun teils deutlich höher lagen. In Essen wurden beispielsweise 5 Sgr. für eine Flasche der knappen Ware gefordert (Essener Zeitung 1873, Nr. 115 v. 18. Mai, 4). Dennoch, der Verkauf schien offenbar anzurollen.

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Absatz in Aachen – fern von Berlin (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 95 v. 5. April, 3)

Der moderate Aufschwung wurde ab Februar durch Werbeanzeigen flankiert. Mittels der schon aus Berlin bekannten Anzeigen wurde dem englischen Porter der Kampf angesagt, der Deutsche Porter als friedliches Kampfmittel gegen den globalen Hegemon präsentiert (Bonner Zeitung 1873, Nr. 45 v. 14. Februar, Bl. 2, 2; Zweibrücker Zeitung 1873, Nr. 102 v. 2. Mai, 4). Der Porter erschien als „neues Nationalgetränk“, als Zukunftsbräu (Dresdner Journal 1873 v. 10. Mai, 648; Bonner Zeitung 1873, Nr. 127 v. 9. Mai, Bl. 1, 2). Dominant war der Lobpreis, die Präsentation des Deutschen Porter als „Perle aller Biere“: Von Februar bis April erschien wenigstens diese eine Anzeige reichsweit – und kündete von der laufenden Umwälzung im Braugewerbe (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 42 v. 11. Februar, 4 Wittener Zeitung 1873, Nr. 19 v. 13. Februar, 4; Karlsruhe Tagblatt 1873, Nr. 74 v. 16. März, 7; Jeversches Wochenblatt 1873, Nr. 60 v. 19. April, 7; Passauer Zeitung 1873, Nr. 49 v. 20. Februar, 3; Rosenheimer Anzeiger 1873, Nr. 51 v. 29. April, 4).

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Ausschank in Bielefeld (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 63 v. 29. Mai, 4)

Die Werbung fern der Reichshauptstadt war damit epigonenhaft, hofffolgsam. Doch es gab zugleich vereinzelt Annoncen mit eigenständigen Formulierungen (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577). Sie boten meist kondensierte Berichte über die großartigen Geschehnisse in Berlin, präsentierten den Deutschen Porter in vermeintlich hauptstädtischem Glanze. Das galt auch für Schloß Ruhwald, dessen gestaltete Natur gepriesen und als Muster großstädtischer Unterhaltungskunst präsentiert wurde, dass „das Publikum wie mit Zaubergewalt nach diesem Fundorte aller Vergnügungen“ hinzog (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 68 v. 10. Juni, 2). Und doch: Eine Analyse der Porter-Werbung abseits von Berlin unterstreicht, dass die Hoffschen Verweise auf seine Weltfirma schlicht haltlos waren. Es gab eine gewisse Vermarktung des Deutschen Porters, doch diese blieb weit hinter der des Malzextraktes und der weiterhin laufenden Offerten des Gesundheitsbieres Deutscher Porter durch andere Anbieter zurück. Das Hoffsche „Nationalgetränk“ scheiterte nicht nur in der Hauptstadt, es scheiterte parallel auch in den deutschen Landen.

Scheitern in Schloß Ruhwald

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Die heutige Schönheit Berlins: Blick auf den Volkspark Ruhwald (Uwe Spiekermann, 2019)

1872 hatte der Verleger der Modezeitschrift „Der Bazar“ sein Anwesen Schloß Ruhwald für 280.000 Taler an die Westend-Gesellschaft H. Quistorp verkauft, der dieses im gleichen Jahr an Johann Hoff weiterverkaufte (Hannoverscher Courier 1881, Nr. 11216 v. 27. Oktober, 6). Schloß Ruhwald war 1867/68 im neoklassizistischen Stil erbaut worden, bildete nun jedoch den attraktiven Rahmen einer umfassenden Transformation des Parks in eine Ausschankstätte des Deutschen Porters, in ein volksgartenhaftes Ausfluglokal. Hoff begann unmittelbar mit neuen Bauten, ließ dort 1873 ein Kavaliershaus mit einem heute noch bestehenden, jedoch verfallenden Arkadengang anlegen.

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Noch erhaltener Arkadengang des nach dem Zweiten Weltkrieges abgerissenen, 1873 von Johann Hoff erbauten Kavaliershaus (Uwe Spiekermann, 2019)

Schon im Januar 1873 begann Johann Hoff die Werbetrommel für seinen wichtigsten Grundstückskauf zu rühren – auch als Reaktion auf die nur schwache Resonanz auf seine beiden ersten Ausschankstätten für Deutschen Porter. Solche seien jedoch für ein Nationalgetränk nur ein Anfang. Schon am 20. Mai sollte Schloß Ruhwald öffnen, 10.000 Gäste sollten Platz finden: „Das himmlisch schön gelegene Etablissement wird wie ein Volksgarten eingerichtet werden und es besteht die Absicht, daselbst allwöchentlich regelmäßig prachtvolle Feuerwerke und Concerte abhalten zu lassen. [… Das] Deutsche Nationalgetränk wird alle Plätze füllen!“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 2 v. 3. Januar, 14) Mitte Februar folgte die nächste Prozession des großen Porterfasses, das „reich bekränzt, gefolgt von sämmtlichen Beamten und Arbeitern des Etablissements mit Musikbegleitung“ nach dem neuen Außenposten geleitet wurde (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 47 v. 16. Februar, 2). Dieser sollte ein Sommerlokal werden, größere Überdachungen abseits der Schankstätten waren nicht geplant (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577). Das Gelände wurde fotografiert, eine Ausstellung in Hoffs Ausschanklokalen ergänzte die lockende Werbung. Die Eröffnung wurde auf April vorverlegt, schließlich galt es Einnahmen zu generieren (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 33 v. 20. März, 4). Glaubt man den Inseraten, so schufen viele fleißige Hände einen neuen „Lieblingsort unserer hauptstädtischen Bevölkerung“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 17, Beibl. 2, 2).

Dieses Mal gab es keine weiteren Verzögerungen, zu Ostern eröffneten Hoff und sein Ökonom Schloß Ruhwald, den „Ausschank im Fichtenwalde“. Park und Schloß boten mit ihren Naturschönheiten die Kulisse für den Verkauf von Deutschem Porter und Märzen. Flankiert wurde das Vergnügen von Konzerten einer Militärkapelle und abendlichen Feuerwerken. Damit hob sich Johann Hoff deutlich ab von der Konkurrenz der hauptstädtischen Aktienbrauereien und ihren Bierhallen.

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Eröffnung von Johann Hoffs Ausflugslokal Schloß Ruhwald am Ostersonntag 1873 (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 86 v. 13. April, 20)

Hoff pries sein neues Etablissement als den „Tempel des Deutschen Porterbiers“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 48 v. 26. April, 4). Säle und Hallen mochten noch nicht fertiggestellt sein, doch „Tausende“ seien zu Gast gewesen, hätten Johann Hoffs Geschäftsplan bestätigt: „Und so geht denn von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde das reizende Etablissement seiner gänzlichen Vollendung entgegen und binnen wenigen Wochen werden wir es in einem Glanze und in einer Pracht dem Publikum übergeben sehen, daß wir mit Recht den Ausspruch machen dürfen: Hier finden wir das beste aller Biere im schönsten aller Locale“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 193 v. 26. April, 7).

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Mängel der Bewirtung und kontinuierliche Konzerte (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 90 v. 18. April, 16 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 185 v. 22. April, 16)

Auch dies war ein geschönter Bericht, denn dieses Mal musste pünktlich und rasch eröffnet werden – und der Ökonom sah sich genötigt, Abbitte für die noch vorhandenen baulichen Mängel zu leisten. Von den versprochenen „exquisiten Leistungen von Küche und Keller“ war noch wenig zu sehen (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 76 v. 30. März, 36). Doch Schloß Ruhwald lockte nun regelmäßig mit Konzerten – und die Anbindung des zehn Kilometer von der Stadtmitte gelegenen Parks sollte die Pferde-Eisenbahn spätestens ab 1. Juli gewährleisten. Das – zugegeben – „nur provisorisch eröffnete Etablissement“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 53 v. 10. Mai, 3) wurde parallel weiter ausgebaut, neben die regelmäßig aufspielende Militärkapelle traten auch andere Klänge, so die der serbischen Hof-Tambura-Kapelle, die sowohl in Schloß Ruhwald als auch in der Louisenstraße auftrat. Man bedauerte allerdings, dass das Ausschanklokal „nicht mehr im Mittelpunkt der Stadt“ liege, denn dann wäre es dank vorzüglichem Deutschen Porter und seiner exzellenten Küche wohl eines der besuchtesten Gaststätten der Hauptstadt (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 219 v. 13. Mai, 7).

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Serbische Tambura-Klänge in Schloß Ruhwald und der Louisenstraße (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 223 v. 15. Mai, 14 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 109 v. 11. Mai, 15)

Derweil trieb Johann Hoff die Verwandlung des früheren Herrensitzes zu einem Volksvergnügungsort konsequent voran. Er wollte „dieses für Berlin außergewöhnlich schöne Stückchen Erde aller Welt zum Beschauen und Mitgenießen“ öffnen: Plätze, Anlagen und Gastronomie sollten „von einer fröhlichen, der Sorge für diese Augenblicke enthobenen Menschenmenge“ bevölkert werden, die bis Ende Mai vollendeten Bauten gegen die Unbilden des Wetters schützen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 53 v. 10. Mai, 3). Die Pfingstfeiertage wurden zur eigentlichen Premiere, die nach Auskunft der Werbeberichte erfolgreich verlief. Fünfzehntausend Erwachsene zahlten Eintritt, Kinder mussten nichts bezahlen: “Doppelconcert, Theater, Beleuchtung durch bengalische Flammen, steigende Luftballons, die in einer gewissen Höhe allerlei niedliche Sächelchen über die Erdbewohner ausbreiten, belustigende Erscheinungen von Thieren, kurz, ein Leben, welches Vergnügen und freudige Ueberraschung auf den Gesichtern des Publikums erkennen ließ, war sowohl am ersten wie am zweiten Feiertage bei den Besuchern Ruhwalds sichtbar“ (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 68 v. 10. Juni, 2). Ebenso wichtig waren mehr als 100 Tonnen ausgeschenkten Bieres. Kein Wunder, dachte man, dass sich schon englische Investoren für den Platz interessierten – fast meinte man, die Anzeigen wären auf solche ausgerichtet (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 225 v. 3. Mai, 7; ebd., Nr. 225 v. 22. Mai, 7). Die Werbung sprach jedenfalls von hunderttausenden zukünftigen Besuchern auf dem 26 Morgen großen Areal. Schloß Ruhwald sei der „künftige Centralpunct des Deutschen Porterbieres, welches ja so richtig schnell das Englische Porter auf dem Continente besiegt hat“ – und auf dem Gelände sei eine Porterbrauerei „bereits in Angriff genommen, da die bisherige in Berlin nicht ausreicht, und sie wird, ehe man sich dessen versieht, in unausgesetzter Thätigkeit sein“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 25, Beibl. 1, 1).

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Großes Theater – nebst Konzerten und Volksbelustigung (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 126 v. 1. Juni, 12 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 261 v. 8. Juni, 14)

Die Transformation des Geländes ging derweil weiter, neben die Konzerte traten Theatervorstellungen mit populären Schwänken. Die Pferdebahn fuhr nun regelmäßig – und das bis spät in die Nacht. Die Werbung hob dies breit hervor, denn zuvor war Einkehr in Schloß Ruhwald meist mit einem längeren Fußweg verbunden (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 267 v. 12. Juni, 8; Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 67 v. 14. Juni, 4). Dreimal wöchentlich gab es nun Illuminationen, bengalische Feuer tauchten das Gelände in verfremdendes Licht (Ebd., Nr. 63 v. 5. Juni, 4). Johann Hoff hatte nach Eigenauskunft das „Privatvergnügen eines Millionairs“ demokratisiert, ein Plateau mit zehntausend Sitzplätzen geschaffen, eine erholsame Wunderwelt für bürgerliches Flanieren, Naturgenuss, eine gute Speise, einen kühlen und erfrischenden Trank (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 273 v. 15. Juni, 9).

Die betriebswirtschaftliche Realität sah jedoch anders aus. Ex post monierten Beobachter, dass Schloß Ruhwald „nur von den unteren Volksschichten besucht wird und keineswegs die Reklame rechtfertigt, welche dafür, in einzelnen Blättern sogar redaktionell, betrieben wird“ (Neues Fremden-Blatt 1873, Nr. 202 v. 24. Juli, 14-15, hier 14). Das alles sei nicht rentabler Humbug gewesen; und Johann Hoff trieb parallel die Gründung einer neuen Aktiengesellschaft voran, der Baubank Imperiale, der er das Etablissement für 2½ Millionen Taler verkaufen wollte. Das aber sollte nicht klappen.

Schon vor dem Scheitern solcher Verkaufspläne zog man intern die Reißleine und veränderte das Angebot. Zum einen nahm die Werbepräsenz des Deutschen Porters zunehmend ab. Hatten anfangs die Anzeigen die Hoffsche Hofbrauerei und ihr Leitprodukt immer prominent hervorgehoben, so traten diese im Laufe zunehmend in den Hintergrund. Parallel bewarb man verstärkt die Bierauswahl von Porter, Ale und Lagerbier. Wichtiger aber war zum andern die neuerliche Transformation des Vergnügungsprogramms. Die gestaltete Natur des Parks pries man, doch sie wurde zunehmend Beiwerk, Mittel zum Zweck. Schloß Ruhwald mutierte zum Veranstaltungsort, zum Stelldichein des Mittelstandes. Kapellmeister Gustav Roßberg präsentierte mit dem Musikkorps des 4. Garderegiments flott getaktete Weisen und eigene Kompositionen, die teils vor Ort uraufgeführt wurden. Der Park wurde konzertant genutzt, um „Tongemälde aufführen“, um dem Publikum neuartige Raumerlebnisse zu bieten (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 287 v. 24. Juni, 8).

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Possen, Patriotismus und Porterbier (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 289 v. 25. Juni, 14 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 149 v. 29. Juni, 15)

Parallel träumte Johann Hoff von weiterer Expansion: Die Porterbrauerei sollte im Herbst vollendet, in Berlin ca. 60 Ausschanklokale gegründet werden (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 72 v. 26. Juni, 4). Dies dürfte, wie auch weitere Angaben über den Export von einer Millionen Flaschen Porter und Ale, weniger auf potenzielle Besucher, eher auf potenzielle Investoren gerichtet gewesen sein. Das galt ebenso für die letzte Ausbaustufe von Schloß Ruhwald. Neben Konzerte und Schwänke traten nun auch nationale Weihefeste. Jahrestage der Schlachten von Königgrätz (3. Juli) und Gravelotte (18. August) wurden für Reenactments genutzt: „Bei hereinbrechender Dämmerung wird ein großartiges Schlachtfeuerwerk abgebrannt, welches die Einnahme von Königgrätz, das Defilée der Truppen durchs Gebirge und den Einzug der Sieger darstellt. Kanonendonnner und bengalische Beleuchtung nebst electrischem Licht werden den hierzu nothwendigen Effect hervorbringen. Das ganze Etablissement wird prachtvoll illuminirt und decorirt werden. Zum Schluß findet ein großartiger Zapfenstreich und Gebet statt“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 74 v. 1. Juli, 4). Wie schön doch der Krieg ist, wenn er sich auf Sieg reimt, und nicht mit Blut, ausquillenden Därmen und dem letzten Ruf zur Mutter verbunden ist. Der Park wurde zum Riesensandkasten, Sturmangriffe wurden nachgespielt, Preußens Gloria erschien nun auch in elektrischer Beleuchtung (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 309 v. 6. Juli, 7-8). Auf dem Gelände wurden Heerführerbilder ausgestellt, die Ruhwaldschen Felsen spielten die Gebirgspässe Böhmens: „Dazu Festtheater, Illumination, Ballons, Feuerwerk etc. etc.“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 297 v. 29. Juni, 7). Karl Kraus hätte auf Schloss Ruhwald schon lange vor seiner „Reklamefahrt in die Hölle“ entsprechendes Material gefunden.

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Gefahren der weiten Fahrt nach Schloß Ruhland (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 21, 4)

Doch selbst das nationale Spiel im Grünen konnte nicht alles überdecken. Betrunkene Gäste waren leichte Opfer für Diebe; und darüber wurde gerne berichtet. Bis in die USA verbreitete sich Schloss Ruhwalds Ruf als „Monstrum von Wirthshaus-Prellerei“, drang Kunde über „liederliche Wirthschaft und die systematische Prellerei auf Schloß Ruhwald“ (Aus des Deutschen Reiches Hauptstadt, Illinois Staats-Zeitung 1873, Nr. 37 v. 16. September, 2). Ein späteres Resümee klang weniger dramatisch: „Berliner Familien setzen sich an frisch gestrichene Tische und eilige Kellner schleppten gefüllte Seidel herbei. Aber der Name des Schlosses, so poetisch er klingt und so anheimelnd er dem Lyriker sein mag, schien das Verhängnis des öffentlichen Lokals zu werden. Es war in der Tat ein Ruhwald, das Leben erstarb, immer mehr und mehr, schließlich herrschte selbst an Sonntagen solche Ruhe, daß Johann Hoff die Thore wieder schließen ließ“ (Vorwärts 1891, Nr. 239 v. 13. Oktober, 8). An der Schließung im August hatte der Deutsche Porter beredten Anteil: „Trüb, übelriechend und schlammig fließt der Rest deutschen Porterbieres zum Orkus hinab: Johann Hoff […] macht die Bude zu, und Barklay und Perkins in London athmen erleichtert auf. Der gewichtige Spruch: ‚Ruhmvoll besiegt deutsches Porterbier englisch Porter hier‘ wird nicht mehr alle Zeitungsbeilagen zieren, Schloß Ruhwald wird nicht ferner von Leuten umlagert sein, deren Stoffwechsel Herr Hoff unbarmherzig beschleunigt hat“ (Erheiterungen. Belletristisches Beiblatt zur Aschaffenburger Zeitung 1873, Nr. 166 v. 23. Juli, 3-4, hier 3).

Zahlungseinstellungen und Bankrott

Der Gründerboom erreichte im Frühsommer 1873 Höhepunkt und Ende zugleich. Am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873, kollabierte in Wien die Börse, doch es schien einige Zeit, als könne ein weiteres Ausgreifen der Krise verhindert werden. Angesichts der internationalen Verflechtungen im Kredit- und Anleihegeschäft zerstoben diese Hoffnungen im Spätsommer. Zahlreiche Bankrotte an der New Yorker und schließlich auch der Berliner Börse läuteten den Beginn einer längeren Wirtschaftskrise ein. Die Vorzeichen waren jedoch schon im Sommer nicht zu übersehen. Am 17. Juli brach das Hypothekengeschäft Isidor Filehnes zusammen, am 18. konnte Johann Hoff anstehende Zahlungen nicht mehr leisten: „Dieser Vorfall macht hier [in Berlin, US] großes Aufsehen und es wird besorgt, Zahlungseinstellungen anderer Speculanten dürften nicht ausbleiben“ (Hallesches Tageblatt 1873, Nr. 153 v. 20. Juli, 713).

Die Wirtschaftspresse behandelte den Fall als eine zwar gravierende, dennoch zu handhabende Affäre. Sie schien eine nur „augenblickliche Zahlungsstockung“ (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 197 v. 19. Juli, 3) zu sein, hervorgerufen durch unglückliche „Terrainspeculationen“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 330 v. 18. Juli, 3). Doch Johann Hoff war reich, galt als der höchstbesteuerte Berliner (Der Beobachter 1873, Nr. 168 v. 22. Juli, 4). Und so war man am 18. Juli zuversichtlich, dass mit den Gläubigern ein Arrangement erzielt werden könne – auch, um weitere Dominoeffekte auf die beteiligten Kreditgeber zu verhindern. Am 19. Juli fand ein erstes Treffen „dreier Unbetheilgter“ (Fremden-Blatt 1873, Nr. 199 v. 21. Juli, 4) statt – und die von der Preussischen Hypotheken-Versicherungs AG erstellte Vermögensübersicht stimmte sanierungsfroh: Hoff besaß Häuser und Grundstücke im Werte von 1,944,633 Taler. Die Hypotheken lagen bei 360,811, die Wechselschulden bei etwa 900.000 Taler. Der Überschuss betrug demnach 683,822 Taler; wenngleich es warnend hieß, dass er „nicht sogleich flüssig gemacht werden kann“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 332 v. 19. Juli, 3).

Eine Gläubigerversammlung wählte am 20. Juli ein sechsköpfiges Komitee, das die Aktiva realisieren und alles erforderliche tun sollte, um die Schulden zu bedienen: „Die anwesenden Gläubiger waren sämmtlich mit den gemachten Vorschlägen einverstanden und cedirte Herr Joh. Hoff an dieselbe behufs Sicherstellung seine sämtlichen Grundstücke und Liegenschaften“ (Ebd., Nr. 334 v. 21. Juli, 4). Hoff verlor damit die Kontrolle über zentrale Bestandteile seines Geschäftes, doch die Zeitungen meldeten sanierungssicher, dass das Geschäft fortgeführt werden könne. Es gab eine temporäre Zahlungsstockung, eine formelle Zahlungseinstellung, eine Insolvenz gab es jedoch nicht (Die Presse 1873, Ausgabe v. 22. Juli, 11). Doch schon kurz darauf wuchsen die Zweifel: Hoff sah sich außerstande, die von ihm zuletzt geschalteten Anzeigen zu bezahlen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 84 v. 24. Juli, 3). Und das neugegründete Komitee konnte seine Arbeit noch nicht aufnehmen, weil rechtliche Zweifel bestanden, ob die von Hoff gewährten Zugriffsrechte auf „seine“ Aktiva rechtens seien (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 201 v. 23. Juli, 2). Der parallele Zusammenbruch der Berliner Hypotheken-, Credit- und Bau-Bank unterstrich den Unterschied von Werten und Buchwerten (Ebd., Nr. 204 v. 26. Juli, 2).

Johann Hoff hatte dem Comité gegenüber „sich der selbständigen Disposition über sein Vermögen zu enthalten verpflichtet“ (Wittener Zeitung 1873, Nr. 86 v. 26. Juli, 1). Die Gläubigerversammlung am 25. Juli ließ zu befürchten, „daß trotz aller dagegen gerichteten Bestrebungen die Anmeldung des Concurses werde erfolgen müssen“ (Kölnische Zeitung 1873, Nr. 204 v. 25. Juli, 6). Die Bücher schienen nun unsicher, die Angaben Hoffs zweifelhaft, so dass sich das Komitee weigerte, die Aktiva aufzunehmen und dafür die Schulden abzuwickeln (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 207 v. 26. Juli, 3724). Hoff hatte all dies wahrscheinlich kommen sehen. Mit der Gründung der Baubank Imperiale – nominell ausgestattet mit einem Kapital von 18 Mio. Talern – hatte er noch im Juni versucht, die Grundstücke seines Portergeschäftes an eine andere Firma gewinnträchtig zu verkaufen (Leipziger Tagblatt 1873, Nr. 184 v. 3. Juli, 16). Doch er hatte insbesondere für Schloss Ruhwald einen zu hohen Preis gefordert, so dass zwar ein Abschluss erzielt wurde, das Geschäft aber mangels Kapitals letztlich scheiterte (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 6182 v. 22. Juli, 2; Hamburger Nachrichten 1873, Nr. 177 v. 27. Juli, 4). Wahrscheinlich wäre die Imperiale aber ohnehin nicht in der Lage gewesen, die notwenigen Zahlungen zu leisten, denn es handelte sich vorrangig um eine Börsenfiktion. Johann Hoff war zudem gesundheitlich indisponiert. Bei der Besichtigung seines Besitzes am Louisenplatz hatte er sich – nach eigenem Bekunden – bei den Verkaufsverhandlungen im Eiskeller eine „Erkältung des Gehirns“ zugezogen, war anschließend auf einer Hintertreppe schwer gestürzt (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 179 v. 3. August, 18). Gleichwohl beharrte das Berliner Stadtgericht auf Hoffs Anwesenheit vor Gericht, um die sich häufenden Wechselklagen behandeln zu können (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 227 v. 15. August, 4050). Ende Juli 1873 war klar, dass Johann Hoff die Kontrolle über sein Geschäft verlieren würde.

Reaktionen auf den Abstieg

Die Zahlungsschwierigkeiten und der drohende Konkurs führten zu einer beträchtlichen Resonanz in der Öffentlichkeit. Unglauben und Häme begleiteten viele Meldungen: War er wirklich gescheitert, er, der „durch seine übertrieben großen, marktschreierischen Annoncen bekannte Malz-Extract-Fabrikant Johann Hoff in Berlin“ (Sächsische Dorfzeitung 1873, Nr. 56 v. 22. Juli, 7)? In den Wirtschaftsteilen wurde vorrangig distanziert-sachlich berichtet, standen die Rettungsversuche und die möglichen Auswirkungen auf die Börse im Mittelpunkt. Doch ohne Schadenfreude ging es nicht, zumal im Ausland. Aus dem gebeutelten Wien hieß es: „Die Berliner Börse wurde am 18. d. M. durch die Nachrichten von der Zahlungsstockung des bekannten Reclamehelden und Malzextract Fabrikaten Johann Hoff in sehr unangenehmer Weise deprimirt. Hoff’s Relation zur Börse leitet sich daher ab, daß der Mann über Hals und Kopf in Grundspeculationen steckt und sich momentan nicht flott machen konnte. […] An seinem Malzbier wäre Hoff, hätte er sich darauf beschränkt, sicherlich nicht zu Grunde gegangen. Vielleicht curirt es ihn auch wieder“ (Börse und Malzextract, Der Reporter 1873, Nr. 166 v. 22. Juli, 3).

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Ein Abgang in Reimen (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 34, Beibl. 1, 1 (l.); Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3)

Die lokalen Karikaturzeitschriften reagierten mit gewisser Trauer auf den möglichen Verlust einer öffentlichen Figur, die schon für viele Lacher gedient hatte: „Vater Hoff hat eingepackt / Und geschnürt sein Bündel? / Manchmal hilft doch Malz-Extract / Auch nicht gegen Schwindel! / Große Trauer dort und hier / In den Deutschen Gauen: / Wer wird Deutsches Porterbier / Uns in Zukunft brauen? / Deutschland, du wirst wieder klein! / Armes Deutschland, denke, / Jetzt hast du nun wieder kein / Nationalgetränke! / Einer nach dem Andern, der / Sonst und ließ genesen, […] / Vater Hoff, du bliebst allein / Treu uns gegenwärtig; / Aber jetzt – was kann da sein? – / Bist auch du schon fertig?“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 34, Beibl. 1, 1). Zugleich hieß es angesichts großtönenden Wagemutes, Hoff hätte doch weniger groß aufspielen sollen. Die virtuelle Dame Reklame klagte beredt: „Johann, mein Hoff, war das der Lohn? / Ich liebte, Dein Weib, Dich unendlich, / Da, mit der Andern, der Spekulation, / Hast Du mich verrathen schändlich. / Es ist heraus! Ich machte Dich groß, / Doch Alles, was ich Dir brachte, / Warfst Du der Anderen in den Schooß, / Die elend Dich dafür machte. / Du Ungetreuer! Sie zog Dich aus, / Die feilste aller Maitressen, / Hat abgeschmeichelt Dir Schloß und Haus, / Die Mitgift, die ich besessen. / Du warfst Dich verliebt an ihren Hals, / Sie hat Dir Treue geschworen, / Jetzt ist verloren so Hoff als Malz, / Ach, jetzt ist Alles verloren!“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3). Hoff schien „Ruhmvoll besiegt“, war doch das Leben „zu grausam gegen den Malz-Millionär“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3 resp. 4). Allerdings nicht so grausam, dass er selbst von seinem Deutschen Porter getrunken hätte, „um sich den Verfolgungen seiner Gläubiger zu entziehen“ (Berliner Wespen 7, 1873, Nr. 31, 2).

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Der Deutsche Porter entschuldigt sich (Kladderadatsch 26, 1873, 134)

Hoff wurde auch in der ausländischen Presse durch den Kakao oder andere braune Brühe gezogen, denn die Diskrepanz zwischen werblicher Selbstdarstellung und profanem Ende bedurfte einer Einordnung: „Ein fürchterliches Sterben wird stattfinden und die Welt verheeren, falls nicht die Schaar der Gläubiger eines großen Mannes sich zusammenthut, um uns vor diesem Unheil zu bewahren. Johann Hoff, der Retter der Menschen aus den Fährnissen aller möglichen Krankheiten, vom Tode und von der Gewalt des Doktors, – Johann Hoff ist insolvent, und hat, vom Geiste Banquo’s böse heimgesucht, seine Zahlungen eingestellt; sein Malzextrakt soll fürder nicht mehr als flüssige Gesundheit die Adern der Welt durchströmen und ‚Deutsch Porterbier‘ nicht mehr als Pelikan aus der Asche des seligen Stayl aufsteigen, um nicht nur ‚Englisch Porter‘, sondern auch ‚habituelle Leibesverstopfung‘ siegreich zu verdrängen, – falls eben, wie gesagt, nicht die Gläubiger des großen Propheten aller Gläubigen ein Einsehen haben und dem Wohl der Menschheit zu Liebe einen Accord schließen, der ihn und das Menschengeschlecht vor dem Untergang rettet“ (Tagblatt der Stadt Biel 1873, Ausg. v. 23. Juli, 4).

Im Lande des Porters, wo man die Herausforderung des Deutschen Porters nie ernst genommen hatte, hieß es ebenso süffisant: “Johann Hoff, called (by himself) the ‘benefactor of mankind.’ Yes, him have I found—but in the bankrupt list. The man whose miracles, by means of his ‘porter-beer,’ made those in the New Testament look very old-fashioned, and out of date, is discovered to be no better than his own Wunder-Trank—a humbug” (Letter from Berlin, The Scotsman 1873, Nr. 9378 v. 15. August, 2). Kurz darauf, als die Cholera sich in Danzig, Breslau, Dresden und auch in Berlin, am Schiffbauerdamm, gegenüber von Hoff, ausbreitete, spann man in Großbritannien eine vom Kladderadatsch erfundene Anekdote fort (The Evening Standard 1873, Nr. 15288 v. 27. September, 3): Der in Berlin weilende Schah nutzte den Hoffschen Porter, um heimische Rivalen mit Prösterchen aus dem Weg zu räumen. Bis Ende November wurde diese kleine Notiz in dutzenden Zeitungen übernommen:

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Häme über die Qualität des Deutschen Porters – auch international (Edinburgh Evening News 1873, Nr. 57 v. 31. Juli, 4)

Johann Hoffs Abgang machte also auch Spaß, zumindest den nicht Beteiligten. Parallel aber hatte sich auch Obergerichtsanwalt Dr. Georg Setzer, Verwaltungsrat der Ersten Ale- und Porterbrauerei in Hemelingen aus dem Staub gemacht. Zuvor hatte er inexistente Aktien der Firma in Höhe von 80.000 Talern verkauft, ferner Gelder verschiedener Privatanleger unterschlagen (Pfälzischer Kurier 1873, Feuilleton, Nr. 63, 252). Setzer setzte sich offenkundig ins Ausland ab, von der Türkei, von Holland war die Rede. Schon 1869 hatte er das beträchtliche Vermögen seiner Gattin verspekuliert, musste Privatbankrott anmelden. Doch die Spekulationswelle der frühen 1870er Jahren erlaubte ihm einen Neueinstieg (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 6145 v. 30. Juni, 3). Der Hype um Deutschen Porter boten ihm und den Aktienkäufern zeitweilig Träume vom raschen Gewinn (Leipziger Tagblatt 1873, Nr. 184 v. 3. Juli, 16). Anders als Setzer blieb Johann Hoff vor Ort, stand mit seinem Vermögen ein und stellte sich bis zur Liquidierung der Geschäfte zahlreichen Wechselklagen.

Liquidierung

Parallel lief die Schlachtmusik in Schloß Ruhwald aus, die Werbung für Hoffs Malzpräparate weiter. Das Gläubigerkomitee setzte seine Tätigkeit fort, um einerseits den Konkurs abzuwenden, anderseits aber die Ansprüche der Gläubiger zu bedienen.

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Fern der Schlachtmusik – Letzte Konzerte in Schloß Ruhwald und kontinuierliche Werbung für Johann Hoffs Malzextrakt (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 191 v. 17. August, 14 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 405 v. 31. August, 8)

Die Wirtschaftspresse veröffentlichte in den folgenden Wochen zahlreiche Details nicht nur zu Hoffs Geschäften, sondern zu den dahinterstehenden Firmen- und Personennetzwerken. Indirekt spiegelten sich diese auch in raschen Absetzbewegungen früherer Geschäftspartner Hoffs. Den Beginn machte die Deutsche Prämien-Credit- und Renten-Bank, für die Hoff als Direktor tätig war (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 340 v. 24. Juli, 2). Treibende Kraft der am 4. März 1873 mit einem Grundkapital von 2 Mio. Talern gegründeten Bank war der Lotterieveranstalter Siegfried Braun (Die Berliner Banken, bearb. v. Rudolph Meyer, Berlin 1873, Nr. XCIV, 1-7). Spielbanken wurden Ende 1872 reichsweit verboten, die neue Firma sollte dem Bürger eine Alternative bieten, indem sie Lotterien zwischenfinanzierte, die in kleinen Tranchen jedem den Traum vom großen Gewinn ermöglichten (Problematische Existenzen, Nachrichten für Stadt und Land 1873, Nr. 53 v. 8. März, 2). Die Geschäfte kamen nicht recht in Gang, im Dezember 1873 wurde die Liquidation der Bank beschlossen, die Verluste waren gering (Karl Wilhelm Kunis, Neueste Münz-, Maass- und Gewichtskunde, 5. neubearb. Aufl, Bd. 2, Leipzig 1879, 414). Das Beispiel zeigt, dass Hoff Investitionen deutlich über das Malz- und Biergeschäft hinaus getätigt hatte.

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Finanzierung bürgerlichen Glücksspiels (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 167 v. 20. Juli, 16)

Wichtiger noch war die Abkehr von Hoffs wichtigstem finanziellen Partner, der Vereinsbank Quistorp. Sie verweigerte im August einen außergerichtlichen Vergleich, forderte die vorrangige Bedienung ihrer Forderungen (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 234 v. 25. August, 4). Der Konkurs des Hoffschen Geschäftes schien dadurch zeitweilig unabwendbar (Die Presse 1873, Nr. 235 v. 26. August, 12). Solche Forderungen standen für die mittlerweile tiefgreifende Zerrüttung der Kreditverhältnisse in Berlin, für das von nahenden Zahlungsterminen geprägte Handeln vieler Unternehmer. Der Zusammenbruch der Vereinsbank markierte Anfang Oktober denn auch den Höhepunkt der Berliner Börsenkrise 1873.

Hoff, Braun und Quistorp standen öffentlich für den „Börsenschwindel“, der langwierige Auswirkungen auf den Finanzplatz Deutschland haben sollte: „Wie es möglich geworden ist, daß ein Crösus, wie Johann Hoff, der durch jahrelange fortgesetzte erfolgreiche Spekulation auf die Dummheit seiner Mitmenschen sich anerkannt so enorme Mittel erworben hat, jetzt seinen Verbindlichkeiten nicht nachkommen kann, wäre rätselhaft“, würde man nicht die allgemeine Spekulation betrachten (Nachrichten für Stadt und Land 1873, Nr. 85 v. 24. Juli, 1). Aus der Gier vieler Einzelner ergab sich ein Sittengemälde der Gründerzeit: „Die Corruption an der Börse […] ist so groß, daß man die Bestechlichkeit der Presse für selbstverständlich und jeden für einen Thoren hält, der allen Beeinflussungen sich unzugänglich zeigt und die Interessen des Publikums über einen schnöden Geldvortheil stellt“ (Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik 1, 1874, 196). Obwohl bei Otto Glagau (1834-1892), dem antisemitischen Investigationsschriftsteller, nicht genannt, galt Johann Hoff als typischer Schwindler und Spekulant: „Die Börsenleute zogen Porter und Ale vor oder vertieften sich in gewisse Weinkeller mit geheimen Gemächern, welche später von der Polizei ihres eindeutigen Charakters wegen verboten wurden“ (Die Biere Bayerns in Berlin, Münchener Gastwirths-Zeitung 3, 1892, Nr. 4, 1).

In Berlin gelang es den Gläubigern dennoch, die Hoffschen Geschäfte so weit zu stabilisieren, dass eine Auffanggesellschaft gegründet werden konnte. Ein außergerichtlicher Masseverwerter wurde eingesetzt, dem es nach Begleichung vorrangiger Ansprüche Anfang September gelang, die vorhandenen Aktiva in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien zu überführen: „Das Geschäft mit dem aus saurem Bier, Gummi, Syrup, Faulbaumwurzel etc. bestehenden Gebräu […] will man fortsetzen“ (Der Zeitgeist 1873, Nr. 46 v. 27. Juli, 2). Die neue Gesellschaft sollte ein Aktienkapital von 1,2 Mio. Talern haben, Johann Hoff davon ein Drittel halten (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 439 v. 20. September, 3). Dadurch konnten die Zahlungen wieder aufgenommen werden. Das öffentliche Fazit war ernüchternd: „Mit Ausnahme einiger einziehbarer Forderungen und Außenstände (ein großer Theil der letzteren ist muthmaßlich nicht beizutreiben), besteht die ganze, den Gläubigern überlassene Masse in Grundstücken, die sehr schwer zu realisiren sind, und die, wenn selbst realisirt, nach Abtragung der darauf haftenden hypothecarischen Lasten für die Gläubiger nur einen sehr geringfügigen Resterlös übrig lassen dürften. Die Ausnutzung der Bierfabrication und der übrigen Malzfabrikate erweist sich, wie sie sich schon im Hoff’schen Privatbesitz während der letzten Jahre erwiesen hat, als eine höchst unfruchtbare. Niemand beißt mehr auf Extract, Bonbons und Chocolade an, seitdem die Concurrenten Alles bei Weitem billiger und besser liefern“ (Kölnische Zeitung 1873, Nr. 291 v. 20. Oktober, 6).

Für Johann Hoff bedeutete all dies einen tiefen Einschnitt. Am 2. Oktober 1873 wurde in Berlin die „Johann Hoff, Commanditgesellschaft auf Actien“ gegründet. Sie übernahm das bisherige Geschäft und die Grundstücke, führte zugleich aber den Betrieb mit Malzpräparaten fort. Johann Hoff wurde zusammen mit dem Berliner Kaufmann Moses Blumenthal persönlich haftender Gesellschafter. Er verlor allerdings seine unternehmerische Handlungsfähigkeit, war alleine nicht mehr zeichnungsfähig (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 463 v. 4. Oktober, 11). Am 23. Oktober 1873 wurde die bisherige Firma Johann Hoff im Handelsregister gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 253 v. 27. Oktober, 5). Am 7. November schied Johann Hoff aus dem Vorstand der Neu-Friedrichsthaler Glashüttenwerke aus (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 533 v. 14. November, 12). Die Firma ging 1877 in Konkurs (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 101 v. 1. Mai, 8), überstand das Verfahren und etablierte sich als eine führende Glashütte in Posen. Am 18. November wurde Hoffs Filiale in Hamburg aufgehoben (Hamburgischer Correspondent 1873, Nr. 274 v. 20. November, 2).

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Verrottende Reste eines Schlossparks: Kopien der von Carl Cauer (1828-1885) gestalteten Büsten von Ludwig von Schaeffer-Voit (1819-1887) und seiner Gattin Margarethe Voit (1820-1894) im Ruhwaldpark (Uwe Spiekermann, 2019)

Fortsetzung des Geschäfts in altbewährter Weise

Nachdem Johann Hoff intern seine Macht- und Leitungspositionen verloren hatte, begann ab Mitte November 1873 abseits von Berlin der Abverkauf des noch vorhandenen Deutschen Porters (Bonner Zeitung 1873, Nr. 315 v. 15. November, 3). Dazu griff man auf das schon im Februar 1873 erstellte Gutachten des Breslauer Chemikers Theobald Werner zurück, strich dessen Prädikat „vorzüglich“ heraus, seine Einschätzung als „Nationalgetränk“: „Seine Ausführung hält die Ehre unserer vaterländ. Industrie aufrecht und räumt dem Deutschen Porterbier einen höheren Rang ein, als selbst dem besten Englischen Porter“ (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1873, Nr. 93 v. 19. November, 3; ebenso etwa Teltower Kreisblatt 1873, Nr. 95 v. 26. November, 379; Zeitung für Lothringen 1874, Nr. 22 v. 28. Januar, 4). Zugleich druckte man das Gutachten selbst auszugsweise ab (Iserlohner Kreisblatt 1873, Nr. 135 v. 15. November, 2).

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Konzessionen für den Abverkauf in der Ferne (Iserlohner Kreisblatt 1873, Nr. 134 v. 13. November, 4)

Zudem bemühte man sich um neue Großhändler, die den Deutschen Porter fern des Ortes seines Scheiterns verkaufen sollten (Karlsruher Zeitung 1873, Nr. 274 v. 21. November, 4; ebd., Nr. 281 v. 29. November, 4). Der Erfolg dürfte begrenzt gewesen sein, die Bemühungen zogen sich bis mindestens Januar 1874 hin (Zeitung für Lothringen 1874, Nr. 28 v. 28. Januar, 4). Auch das Versandgeschäft wurde zumindest bis zu diesem Zeitpunkt aufrechterhalten (Hannoverscher Courier 1874, Nr. 6472 v. 13. Januar, 4).

Weit wichtiger war jedoch die Fortführung des Kerngeschäftes. Spöttisch hieß es: „Deutscher Porter- und Malzextract müssen ohne Barmherzigkeit weiter getrunken werden, damit für die Gläubiger noch etwas herauskommt“ (Kladderadatsch 26, 1873, 162). In der Tat nahm die Werbung wieder Fahrt auf, schon Ende Oktober kündigten die neuen Besitzer an, die Brauerei und die Kelleranlagen aufgrund wachsender Bestellungen des Malzextraktes zu vergrößern (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 498 v. 25. Oktober, 8). In den Anzeigen schien die Position der Werbefigur Johann Hoff unangefochten, ebenso die des vorzüglichsten „Heilnahrungsmittel, […] jenes göttliche Geschenk, welches der leidenden Menschheit gegeben wurde“ (Ein enormer Consum, Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 548 v. 23. November, 8). Man druckte, wie in diesem Falle, einfach alte Anzeigen nach – doch neue sollten in großer Zahl folgen.

Hoff verließ nach dem Konkurs Berlin in Richtung St. Petersburg, wo er nicht nur Malzpräparate, sondern auch Porterbier produzierte und verkaufte. Warnungen begleiteten ihn: „Doch nun kommt aus Berlin der Hoff, / Nun, Russe, nimm Dich wohl in Acht! / Nun braut er seinen Porter Dir, / Der Jeden radikal kurirt / Vom Uebermuth, der dieses Bier / Mit durst’gen Lippen je berührt!“ (Unfehlbares Gebräu, Berliner Wespen 8, 1875, Nr. 2, 2) 1878 gründete er mit Hilfe seiner Frau in Berlin eine neue Handelsfirma, die 1880 die Kontrolle über die Malzpräparate wiedererlangte. 1881/82 folgte die Filiale in Hamburg. Zuvor, 1881 hatte Victor Schäffer-Voit Schloß Ruhwald zurückerworben. Die Kommanditgesellschaft auf Aktien bestand weiter, liquidierte ihre Aktiva bis 1888 und löste sich dann auf.

Johann Hoff starb als reicher Mann am 16. März 1887 in Berlin. Lapidar hieß es: „In der Gründerzeit ließ er sich zu Speculationen verleiten, die er mit schweren Verlusten büßen musste. Er konnte aber die finanziellen Schäden, die damals erwachsen waren, bald wieder verwinden“ (Prager Tageblatt 1887, Nr. 78 v. 19. März, 3). Seinem „Deutschen Porter“, „welcher eine Zeit lang in vielen Städten verkäuflich war“ (Carl Reclam und J. Ruff, Das Buch der vernünftigen Krankenpflege, Leipzig 1889, 179), wurde kaum mehr gedacht – auch wenn Hoffs frühere Wettbewerber weiterhin andere Biere unter diesem Namen verkauften. Derweil hatte sich das bayerische Lagerbier als deutsches Nationalgetränkt etabliert – und gewann die Weltgeltung, von der Johann Hoff so sehr geträumt hatte.

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Grabstätte von Johann Hoff und seiner Frau Johanna (1828-1894) auf dem Jüdischen Friedhof Weissensee (Uwe Spiekermann, 2019)

Uwe Spiekermann, 29. März 2024