Trug und Weltgeschäft: Der Bierersatz Hopkos

Um 1900 konnte man mit alkoholfreien Getränken eine schnelle Mark machen. Kohlensäure, Essenzen und Aromastoffe ermöglichten neuartige Angebote, die neben Wasser, tradiertem Fruchtsirup, die Heilwässer und Heißgetränke traten. Seit 1896 entstanden zudem alkoholholfreie Weine und auch alkoholfreie Biere. Sie waren teils Werbefiktionen, entsprachen vor allem geschmacklich nur selten den alkoholhaltigen Originalen. Doch Alkoholika wurden damals verstärkt in Frage gestellt, Mäßige und Abstinente forderten eine Nüchternheitswende – und der Markt, viele Tüftler und Geschäftsleute lieferten. Sie agierten in einem gestalterischen Möglichkeitsraum, denn die uns geläufigen Produktkategorien waren noch nicht definiert und staatlich reguliert. Die Nichtalkoholika spiegelten und materialisierten denn auch die tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen und technologischen Brüche der Jahrhundertwende, des Fin de Siècle.

Die soziale Frage dominierte die Politik, der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital überwölbte und verdrängte die autoritäre Ordnung der ständischen Gesellschaft. Die Ernährungswissenschaften hatten tradierte Vorstellungen über richtiges Essen (und Trinken) in Frage gestellt. Das Wissen um chemische Stoffe und den Stoffwechsel in Pflanzen, Tieren und Menschen erlaubte überzeugende, „gesunde“ Alternativen. Neu entwickelte Maschinen ermöglichten Eingriffe in das Innere der nun gewerblich umgestaltbaren Natur. Seit den 1860er Jahren nahm die Zahl neuartiger Lebensmittel rasch zu, Rübenzucker und Säuglingskost, Margarine und Suppenpräparate sind nur plakative Beispiele für eine große und wachsende Palette immer neuer Angebote. Auch die Getränke veränderten sich: Seit den 1820er Jahren kam der Kartoffelschnaps, der „Branntwein“ auf, und das tradierte Bier veränderte sich seit den 1870er Jahren zu einem zuvor kaum denkbaren standardisierten Produkt. Auch Nichtalkoholika blieben vom Malstrom der Umgestaltung nicht unberührt: Die zunehmend separierte, gefilterte, auf hohen Fettgehalt optimierte und teils auch pasteurisierte Milch unterschied sich deutlich vom Melkertrag früherer Zeiten. Ähnliches galt für die „künstlichen“, mit Kohlensäure prickelnd gehaltenen Mineralwässer, die gegenüber ihren „natürlichen“ Namensvettern Geschmacks- und Haltbarkeitsvorteile hatten. Während aber in Großbritannien und den USA auch „Soft Drinks“, also kunstfertige Mischungen aus Wasser, Kohlensäure, Kräuterextrakten, Aromen, Zucker und Süßstoffen entstanden – Tonic Water und Coca-Cola sind bekannte Beispiele –, blieb dieses Marktsegment in Mitteleuropa unterentwickelt. Teurer Zucker, das Hausbrauen, ein weniger strikt agitierender Protestantismus und die vermeintlich „schwache“ Natur dieser Getränke bieten Erklärungen.

Der Aufschwung der alkoholfreien Getränke um die Jahrhundertwende war demnach eine nachholende Entwicklung. Sie verlief entsprechend stürmisch, schuf zugleich Wildwuchs und Marktverwerfungen. In dem neuen Marktsegment wurden nicht einfach Getränke entwickelt und verkauft, sondern zugleich Träume von Gesundheit und Nüchternheit. Das lockte Investoren, Techniker und Wissenschaftler: Hier war Neuland zu gewinnen, Vermögen anzuhäufen, ein späteres ehrsames Leben als wohlsituierter Erfinder und Unternehmer möglich.

Hopkos war eines der bekanntesten Beispiele dieser ersten Welle alkoholfreier kohlensäurehaltiger Getränke, die langfristig die hiesigen Trinkgewohnheiten tiefgreifend umgestalten und neue Probleme schaffen sollten. Doch Hopkos verkörperte erst einmal Fortschritt, zielte auf ein neues besseres Leben. Es wurde als Bierersatz vermarktet, gar als alkoholfreies Bier, schließlich bestand es – so die lockende Werbeaussage – aus Hopfen und Malz. Wohlschmeckend und alkoholfrei war es, die Tage des alten, alkoholhaltigen Bieres schienen gezählt. Doch Hopkos verschwand nach ein, zwei Jahren wieder vom Markt, wurde ersetzt durch andere, ähnliche Getränke. Die schnelle Mark machten nur wenige, denn trotz einer modernen „amerikanischen“ Werbung verloren die meisten Investoren Geld. Es ist besonders reizvoll, ein solches Scheitern historisch zu analysieren, denn gängige Lohnschreiber präsentieren vorrangig Erfolgsgeschichten. Das Beispiel Hopkos steht zugleich beispielhaft für die große Zahl von Lebensmittel-„Hypes“, die bis heute immer wieder aufköcheln, von Werbung und (nicht nur käuflichen) Medien unterstützt und forciert. Um 1900 klangen die hoffnungsfrohen Aussagen von Wandel, Reform und Transformation vielfach ähnlich wie heutzutage, die „wir“ immer noch um Antworten angesichts von Alkoholmissbrauch, globaler Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung ringen. Wir sind nur neue Hamster im alten Rad.

Dieser Beitrag ist der zweite von insgesamt vier Artikeln, in denen ich der Geschichte des alkoholfreien Bieres empirisch fundiert untersuche. Am Anfang stand eine Arbeit zum „Original alkoholfreien Bier“ des sächsisch-fränkischen Brauers Valentin Lapp (1856-1908). Damit wurde in der Tat Neuland betreten, auch wenn dieses kräftig schäumende und fast alkoholfreie Produkt nur von 1896 bis 1905 verkauft wurde. Der Ihnen vorliegende Artikel wird sich am Beispiel von Hopkos mit den nichtalkoholischen Kunstgetränken beschäftigen, die das Idealbild eines wirklichen Bierersatzes nutzten, um hochverarbeitete Markenartikel anzubieten, die einzig Trugbilder eines solchen Substituts waren. Im dritten Artikel wird es um das alkoholfreie Bier Trinkmit der Bochumer Schlegel-Brauerei gehen, um neuartige Marktchancen, die auch Alkoholproduzenten durch die Verbreiterung des Getränkemarktes erhielten. Viertens schließlich werden diese drei Beispiele in den breiten Kontext der Neugestaltung der deutschen Trinkkultur um die Jahrhundertwende gestellt werden, die ein treffliches Spiegelbild der laufenden Versuche sind, „unsere“ heutige Ernährung fundamental umzugestalten.

Britische Ursprünge – Hopkos und Gingerbeer

Der Begriff „Hopkos“ führt erst einmal ins England der 1890er Jahre. John Abbey, Sekretär der Church of England Temperence Society in Norwich, hatte in den späten 1880er Jahren in zahlreichen Pamphleten mannhaft gegen die Trunksucht der Arbeiter, insbesondere aber der Landarbeiter agitiert. Wohlbegründet verwies er auf den durch Alkohol bewirkten körperlichen und geistigen Verfall, auf die Gefahren für das Familien- und Berufsleben, auf die persönlichen und volkswirtschaftlichen Kosten (John Abbey, Thoughts for Working Men, London 1889). Doch er wusste offenkundig um die begrenzte Wirksamkeit moralischer Appelle. 1891 bot er daher auch praktische Anregungen, präsentierte Rezepte von drei griffig benannten alkoholfreien Sommergetränken: Stokos wurde aus Haferflocken, Zucker und geschnittenen Zitronen zubereitet, Cokos war ein Mischgetränk aus Haferflocken, Kakao und Zucker. Hopkos schließlich bestand aus Hopfen, Ingwer und Zucker, der namensgebende Hopfen konnte auch durch getrockneten Andorn ersetzt werden. Abbey verwies stolz darauf, dass das alkoholfreie Trio “quite popular with the crop-gatherers of 1892” geworden sei (Three Temperance Beverages, Journal of the American Medical Association 23, 1892, 677). Die Anglikaner griffen den Vorschlag auf, popularisierten ihn, Mitglieder berichteten von einer schmackhaften und erfrischenden Alternative zum schweren Porter, zum dunklen Ale: „‚That is good!‘ ‚This is better than ale!’ ‘This is something to work upon!’ ‘I should like a recipe of this!’” (C.E.T.S Work at the Rotts. Agricultural Show, Southwell Diocesan Magazine 6, 1893, 107-108, hier 108). Auch Spottgedichte über die neuen alkoholfreien Billiggetränke wurden geschrieben, auch sie halfen Stokos, Cokos und Hopkos weiter zu popularisieren.

Spottgedicht auf die Mäßigkeitsgetränke – Hopkos war billig und wirksam (Fun 53, 1891, 250)

Die Rezepte verbreiteten sich rasch über England hinaus, fanden sich in den USA, im britischen Empire (Items of Interest 15, 1893, 561; American Analyst 9, 1893, 157; Hawaiian Gazette 1893, Nr. 43 v. 24. Oktober, 4; The Cultivator & Country Gentleman 58, 1893, 661; The War Cry 4, 1898, Nr. 2, 12; Hildagonda J. Duckitt, Hilda’s Diary of a Cape Housekeeper, London 1902, 234 (Südafrika); Pearsons’ Weekly 1904, Nr. 735 v. 18. August, 118; ebd. 1905, Nr. 784 v. 27. Juli, 62; W.H. Simmonds, The Practical Grocer, Bd. 4, London 1909, 190; Everything a Lady should know, 26. Aufl., hg. v. George B. Philip & Son, Sydney s.a. [1923-24], 69 (Australien)). Stokos, Cokos und Hopkos etablierten sich, wurden die Rezepte doch immer wieder in Zeitungen und Zeitschriften reproduziert, fanden ihren Platz in gängigen Kochbüchern. Auch in Europa gab es beträchtlichen Widerhall; die Sommergetränke ließen sich zudem in den „Tropen“, also den europäischen Kolonien, häuslich zubereiten (De Baanbreker 10, 1911, Ausg. v. 12. August, 4).

Die drei Nichtalkoholika fanden auch rasch den Weg nach Österreich-Ungarn und ins Deutsche Reich, wo der Anteil der Landarbeiter deutlich höher lag als im Stammland der Industrialisierung (Englische Sommergetränke, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 18, 1891, 514-515; dass., Die Fundgrube 19, 1892, 577). Dort versuche man zeitgleich, den paraguayischen Mate-Tee einzuführen (Maté als Getränk für Landarbeiter, Das Land 3, 1894/95, 313-314). Die neuen englischen Rezepte boten ergänzende Optionen, forderten aber angesichts der noch holz- und kohlenbefeuerten Herde Hausfrauen, Köchinnen und Dienstbotinnen: „Hopkos: 25 g Hopfen und 15 g gepulverter Ingwer werden 25 Minuten hindurch in 6,75 l Wasser gekocht, dann setzt man zur Flüssigkeit 500 g Rohrzucker, kocht weitere 10 Minuten, seiht das Getränke [sic!] durch ein sauberes leinenes Tuch und füllt den Hopkos auf die Flasche“ (Josef Bersch, Chemisch-technisches Lexikon, Wien, Pest und Leipzig 1893/94, 251).

Stokos, Cokos und Hopkos standen Anfang der 1890er Jahre für eine große Zahl in den deutschen Landen bekannten und vornehmlich im Norden auch getrunkenen „englischen“ Getränken, von denen das Ginger Beer, das Ingwerbier, sicherlich das bekannteste war. Ähnlich wie Hopkos wurde es lange häuslich hergestellt. Dazu mischte und verkochte man Ingwer etwa mit Zucker, Limonensaft und Eiweiß, mengte Honig und Zitronenöl hinzu, füllte die Masse dann nach vier Tagen Lagerung ab (Die Reform 1863, Nr. 102 v. 26. August, 2). In Großbritannien, vornehmlich in Nordengland und Schottland gab es schon längst ein breit gefächertes Angebot, mehr als tausend Markennamen zeugten von einem beträchtlichen kommerziellen Erfolg. Die Hausbrauerei wurde parallel von vorgefertigten Extrakten aus Hopfen, Kräutern, zunehmend aber auch Essenzen, ätherischen Ölen, Aromen, Süß- und Farbstoffen, umgestaltet (John Burnett, Liquid Pleasures. A Social History of Drinks in Modern Britain, London und New York 1999, 97). Derartige Bierpulver hatten auch im Zollvereinsgebiet die chemisch-technische Modernisierung der Brauerei begleitet, und angesichts etwa des „Berliner Bierpulvers“ der Firma Grüne & Co. unkten Zeitgenossen schon zur Jahrhundertmitte, mit „der Bierbrauerei scheint’s zu Ende zu gehen“ (Westfälische Zeitung 1859, Nr. 167 v. 17. Juli, 2). Diese Vorhersage war verfrüht, die Bierpulver verschwanden rasch, kamen in den späten 1890er Jahren jedoch neuerlich auf, ermöglichten unmittelbar nach der Jahrhundertwende auch breit beworbene Do-it-yourself-Aktivitäten der vor allem im Spirituosenbereich boomenden Essenzenindustrie.

Ingwerbier als Medizinalgetränk (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1891, Nr. 27 v. 4. März, 4)

Schon seit Anfang 1890er Jahre, parallel mit dem englischen Hopkos-Rezept, erweiterte sich auch das Angebot von Ingwerbier. Vor allem die in Kassel ansässige Firma Dr. G. Hilgenberg Nachf., Ende 1878 vom Chemiker Gustav Hilgenberg als Mineralwasserfabrik und Laboratorium gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 5 v. 7. Januar, 4), praktizierte Konsumgütertransfer. Ingwerbier war damals vornehmlich anonyme Apothekerware. Ingwersirup wurde mit Weinsäure und Zuckercouleur versetzt, das schaumige Getränk erinnerte farblich durchaus an Bier (G. Schneider, Alkoholfreie Getränke, Deutsche Apotheker-Zeitung 18, 1903, 794-796, hier 796). Hilgenbergs Firma wurde 1885 vom Kasseler Apotheker Ludwig Scherff (1836-1899) übernommen, der neben Ginger Beer dann auch weitere „alkoholfreie Biere“ produzierte (Wiesbadener Fachausstellung für das Hotel- und Wirtschaftswesen, Wiesbadener General-Anzeiger 1896, Nr. 184 v. 8. August, 1). 1896/97 präsentierte er im Rahmen zahlreicher Ausstellungen alkoholfreies Bockbier, Ale und vor allem Bassara. Bier wurde nach dem Brauen der Alkohol entzogen und Kohlensäure zugesetzt. Das auch als Exportgetränk gedachte Bassara enthielt aus England importierte Pflanzenauszüge, das Rezept aber wurde geheim gehalten. Das schien ein Erfolgsgarant zu sein: “Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Getränke bei dem immer mehr an Terrain gewinnenden Streben nach Heilung auf ‚naturgemässe‘ Art, eine grosse Zukunft haben, und es wäre wohl angebracht, wenn die deutschen Apotheker versuchten, den Debit dieser Getränke ihrem Handverkauf zu sichern“ (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 38, 1897, 558).

Zwischen Bier und Brause: Werbung für Ingwerbier und Ingwerbier-Extrakte (Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1897, Nr. 136 v. 15. Juni, 14 (l.); Leipziger Tageblatt 1900, Nr. 273 v. 31. Mai, 4487)

Ingwerbier war aus heutiger und auch aus damaliger Sicht gewiss kein Bier, denn es war nicht gebraut worden, hatte keine Gärung durchlaufen. Es wurde dennoch als „alkoholfreies Bier“ beworben (Geschäftsblatt für den obern Teil des Kantons Bern 1899, Nr. 40 v. 20. Mai, 4). Noch gab es keine verbindlichen Definitionen der neuen Produkte, noch herrschte die Setzungsmacht der Anbieter. Die Brauer protestierten gegen derartige Anmaßungen, seien doch Bier und Wein zwingend alkoholhaltig. Auch Abstinente stimmten dem zu: „Diese Getränke verdanken nur der Rücksicht auf die Trinksitte ihren Ursprung und sind nichts als eine lächerliche Nachahmung des Bieres, ohne irgend einen besonderen Vorzug zu besitzen, der ihre Bierform entschuldigen könnte. Sie zeigen nur, wie schwer es den Menschen wird, sich sogar von der Form des Bieres, von dem braunen, schäumenden Getränk, ganz zu trennen, und müssen von der Abstinenzbewegung rücksichtslos abgelehnt werden“ (Georg Keferstein, Ueber die alkoholfreien Getränke, Der Alkoholismus 3, 1902, 266-290, hier 273). Die federführenden Mäßigen aber sahen in derartigen alkoholfreien Bieren ein wichtiges Brückenangebot, konnte man doch dem Alkohol entsagen, ohne mit seinen Trinkgewohnheiten strikt zu brechen.

Der technische Fortschritt schien zudem immer bessere, auch geschmacklich zusagende Angebote zu ermöglichen. Neben die Ingwerbiere traten Ingwerbierkonzentrate, ermöglichten rasch zuzubereitende, brausende und alkoholfreie Erfrischungen. Neue Bierpulver folgten: „Man schüttet einfach einen Eßlöffel der köstlichen Substanz in ein Glas Wasser, und der besiegte Bacchus […] verhüllt sich klagend das Haupt“ (Das Bierpulver!, Bonner Volkszeitung 1901, Nr. 224 v. 7. Juli, 9). Gewiss, noch war der Geschmack gewöhnungsbedürftig, doch grundsätzlich konnte das Trinken so auch billiger werden. Ernst Kochs Bier-Extrakt versprach alkoholfreies Bier für vier Pfennig pro Liter (Vorwärts 1901, Nr. 135 v. 13. Juni, 8). Die neuen Produktbezeichnungen unterminierten allerdings die bestehende Sprache, unterminierten zugleich die Sprache des Rechts. Ein Speisewirt lockte Kunden mit einem unentgeltlichen alkoholfreien Bier, das er „durch Auflösen von Pillen in Wasser herstellte“. Er wurde daraufhin wegen einer fehlenden Schankkonzession letztinstanzlich zu einer Geldstrafe verurteilt (Schankwirtschaft und Zuckerwasser, Kölnische Zeitung 1903, Nr. 446 v. 25. Mai, 1). Damit fügte man neue Kunstgetränke ungewollt in den Reigen des Bestehenden ein.

Intermezzo: Alkoholfreie Biere vor der Gründung der American German „Hopkos“ Company 1903

Die englischen Getränke waren alkoholfrei und wurden seit 1896 auch vermehrt als „alkoholfreie Biere“ vermarket. Deren Erfindung und Etablierung im Deutschen haben wir bereits am Beispiel des „Original alkoholfreien Bieres“ von Valentin Lapp genauer analysiert. Für unsere Analyse des neuen Hopkos sind vier Aspekte festzuhalten:

Auch wenn der Begriff des „alkoholfreien Bieres“ vereinzelt schon Mitte der 19. Jahrhunderts nachweisbar ist und – zumeist mit Bezug auf England – sich seit den späten 1880er Jahren langsam einbürgerte, handelte es sich erstens doch um ein Lehnwort einer technischen Innovation des Schweizer Önologen Hermann Müller-Thurgau (1850-1927). Er pasteurisierte frisch gepresste Fruchtsäfte bei 60-70 °C, ermöglichte dadurch sterile, nicht weiter vergärende Fruchtsäfte. Sie wurden seit 1896 mit breiter Unterstützung von Alkoholgegnern als „alkoholfreie Weine“ vermarktet. Das war sprachliches Neuland, an sich widersprüchlich, zeigte jedoch die Absicht, den Kampf gegen den alten alkoholischen Wein auch praktisch aufzunehmen. In den Anzeigen wurde daher nie nur das Fehlen des Alkohols vermerkt, sondern immer auch die mit der neuartigen Verarbeitung einhergehenden Vorteile, zumal den aufgrund des gestoppten Abbauprozesses höheren Nährwert.

Werbung für Müller-Thurgaus neu entwickelte „alkoholfreien Weine“ (Schweizer Frauen-Zeitung 18, 1896, Nr. 44, Beil., 4)

Müller-Thurgau richtete zweitens das Augenmerk der Ingenieure und Tüftler auf neue Technologien, um auch das Bier alkoholfrei zu machen. Grundsätzlich wurden seit 1895/96 drei Verfahren angewandt: Erstens folgte man dem Schweizer Vorbild, destillierte den Alkohol kunstvoll ab, frischte das Gebräu dann mit Kohlensäure auf. Ein solches Verfahren ließ sich der Chemiker, Lebensreformer, Konserven- und Fruchtsafthersteller Walther Nägeli (1851-1919) 1896 patentieren. Dieser Rechtsakt bedeutete die grundsätzliche Akzeptanz des neuen Begriffs „alkoholfreies“ Bier, gegen den nicht nur die Brauerlobby seit 1898 durchaus erfolgreich Sturm lief. Nägelis Frada-Bier hatte allerdings nur geringen Erfolg, seine Marktpräsenz blieb gering. Zweitens wurde die Bierwürze nicht weiter vergoren, auf eine Gärung also verzichtet. Dem Sud wurde Diastase und auch Hopfen zugefügt, alles zentrifugiert, gefiltert und mehrfach mit Kohlensäure imprägniert. Diesen Weg wählte Valentin Lapp für sein „Original alkoholfreies Bier“, für ein Jahrzehnt der wichtigste Vertreter der neuen Getränkesorte. Beide Verfahren waren aufwändig, erforderten hohe Investitionen. Deshalb begannen drittens insbesondere Apotheker und Mineralwasserfabrikanten an ihre recht simple Technik anzuknüpfen. Ein Mineralwasserapparat erlaubte die Imprägnierung einer Flüssigkeit mit Kohlensäure, zentral für Textur und mundkitzelnde Frische. Anstelle von Wasser konnte man auch Fruchtsäfte sättigen, ebenso Mixturen von Wasser, Malz- und Hopfenextrakten. Das perlende Getränk konnte anschließend mit Süß- und Farbstoffen oder auch Zucker weiter modifiziert werden. Diese dritte Variante hatte den Vorteil geringerer Fixkosten, einfachen Maschineneinsatzes und einer variantenreichen Ausgestaltung des Geschmacks. Der Unterschied zu den damals insbesondere für Kinder und Frauen vermehrt produzierten farbig-grellen und pappig-süßen Brauselimonaden war allerdings gering. Im Gegensatz zu den ersten beiden Verfahren bestand außerdem die Gefahr einer fortgesetzten Gärung. Der kurz nach Hopkos in Hamburg auf den Markt gebrachte Hansatrunk hatte beispielsweise 1,44 Prozent Alkohol (Pharmaceutische Praxis 6, 1907, 152) – und war Teil langwieriger Debatten über Grenzwerte und die Redlichkeit der Hersteller.

Wabernde Begriffe: Alkoholfreier „Hansatrunk“ – mit 1,44 Prozent Alkoholgehalt (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 130 v. 5. Juni, 27)

Drittens waren alkoholfreie Biere nicht nur Reflex auf eine schnelle Mark, auf die Marktchancen der Jahrhundertwende. Sie materialisierten zugleich Forderungen der Mäßigkeitsbewegung nach positiven Hilfsmitteln im Kampf gegen Trunksucht und Alkohol. Alkoholfreies Bier würde die modernde Hast, die modernde Nervosität reduzieren, würde auch die randständige Position der Enthaltsamen verringern. Einmal entwickelt, würde es sich im Lebenskampf durchsetzen: „Wo es Enthaltsame giebt, stellt sich auch bald alkoholfreies Bier und alkoholfreier Wein ein“ (Matthaei, Die Erhöhung der Kriegstüchtigkeit eines Heeres durch Enthaltung vom Alkohol, Der Alkoholismus 1, 1900, 164-184, hier 174). Die großenteils bürgerliche, von protestantischen Pfarrern, Lehrern und Notablen geprägte Bewegung erschien nicht nur als sicherer Nischenmarkt, sondern auch als ein Bundesgenosse für nichtkommerzielle Werbung und Verbreitung. Wirklich „alkoholfreie“ Biere konnten vielleicht auch die schwelenden Konflikte zwischen den bier- und weintrinkenden Mäßigen und den Abstinenten befrieden. Das galt selbst für Nahrungsmittelchemiker. Bernard Carl Niederstadt, Hamburger Chefkontrolleur, empfahl Hopkos nicht nur aufgrund seiner stofflichen Zusammensetzung, sondern auch, „da der Alkohol größere Verheerungen anrichte“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 110 v. 12. Mai, 13). Dies wurde von den Produzenten des neuen Bierersatzes unmittelbar verwertet: „Hopkos ist keine schwächliche Limonade, sondern ein bierähnliches, aber alkoholfreies Getränk. Als Kampfmittel gegen den Alkohol unvergleichlich!“ (Hamburger Echo 1903, Nr. 166 v. 19. Juli, 10)

Alkoholfreie Biere etablierten sich seit 1896 im Flaschenbierhandel, langsam auch in den alkoholfreien Cafés und Gaststätten, mochte ihr höherer Preis von den sparsamen Bürgern auch stets moniert werden. Wichtiger bleib viertens aber der ungewohnte Geschmack. Selbst in der Krankenkost urteilten einzelne Ärzte apodiktisch-ablehnend: „Die neuerdings hergestellten ‚alkoholfreien Biere‘ sind wegen ihres schlechten Geschmackes untrinkbar“ (Carl Wegele, Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke, Jena 1900, 18). Süße Bierersatzgetränke mochten davon weniger betroffen sein, doch seitens des Alkoholhandels hieß es immer noch selbstbewusst: „Alle Surrogate und Ersatzmittel für Alkohol erscheinen völlig wirkungslos. Kohlensaure Malzwürze, als alkoholfreies Bier getrunken, ist so wenig Bier, wie eine Brauselimonade ein Champagnerwein sein kann“ (Wattenscheider Zeitung 1904, Nr. 297 v. 28. Dezember, 3). Hopkos wurde folgerichtig als wohlschmeckender alkoholfreier Bierersatz angeboten.

Die American German Hopkos Company und der moderne Touch der Amerikanisierung

Warenzeichen der American German „Hopkos“ Company (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 256 v. 30. Oktober, 12)

Die „American-German Hopkos Company mit beschränkter Haftung“ wurde am 14. Januar 1903 ins Hamburger Handelsregister eingetragen, der Gesellschaftsvertrag war am 3. Januar abgeschlossen worden (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 25 v. 16. Januar, 5; Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 14 v. 17. Januar, 12). Gegenstand des Unternehmens war „die Einrichtung von Fabriken zur Herstellung des alkoholfreien, kohlensäurehaltigen, in Amerika erfundenen und unter dem Namen ‚Hopkos‘ geschützten Getränkes zum Ersatz für helle und dunkle Biere, der Vertrieb dieses Getränkes sowie die Eingehung aller mit diesem Gesellschaftszwecke zusammenhängenden Geschäfte“ (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 14 v. 17. Januar, 13). Das Stammkapital betrug 59.000 M, von den Gesellschaftern wurden nur zwei namentlich erwähnt: Der Magdeburger Unternehmer Theodor Freytag brachte Hopfen und Malzextrakt im Wert von 1250 M ein, die Weißenburger Handelsgesellschaft M. & G. Weid Maschinen im Wert von 1000 M, erhielt aber zugleich eine ungenannte Barauszahlung. Geschäftsführer wurden die beiden Kaufleute Otto Karl Heinrich Schorre und Hermann Friedrich Hannesen. Das oben abgebildete Warenzeichen war bereits am 2. Januar beantragt worden, der vor einer aufgehenden Sonne flügelschlagende Adler hielt die deutsche und die US-amerikanische Fahne in seinen Klauen. Viel Pathos angesichts einer „Limonadenfabrik“, die ein „alkoholfreies, limonadenähnliches Getränk“ produzieren wollte.

Der Firmennamen und das prangende Signet machen stutzig. Schließlich hat uns die Geschichte des Landarbeitergetränks „Hopkos“ nach England geführt, ebenso die Ingwerbiere und Bierextrakte. Doch noch Jahre nach dem Konkurs der Firma hieß es so lapidar wie selbstverständlich: „Hopkos ist ein aus Amerika eingeführtes, alkoholfreies Getränk, das aus Extrakten hergestellt wird“ (Heinrich Timm, Limonaden und alkoholfreie Getränke, Wien, Pest und Leipzig 1909, 165). Trotz emsiger Recherche gibt es jedoch keinen Beleg für diese Kommerzlegende, keine einschlägigen Patente, keine beim späteren Konkurs bevorzugten Zahlungen an Erfinder oder Lieferanten in der neuen Welt. Dennoch machte dieses auch offiziell verbreitete Narrativ wirtschaftlich Sinn. Mit dem globalen Hegemon Großbritannien befanden sich deutsche Kaufleute im Wettbewerb, ebenso die der zweiten Flügelmacht, der aufstrebenden Vereinigten Staaten. Hamburg war zwar Einfuhrplatz englischer Waren, galt als Hort englischer Ideen und Konsummuster. Bei Hopkos aber ging es um den Weltmarkt, um eine gemeinsame Anstrengung der beiden Herausforderer gegen den Hegemon. Amerika war nicht mehr länger das Land der Freiheit und neuer Chancen, in das bis 1914 insgesamt 5,5 Millionen Deutsche auswanderten, um ein besseres Leben zu führen. Es war auch ein Land neuer praktischer Massenprodukte; und diesen Anspruch sollte das neue Hopkos materialisierten. Entsprechend stellte man „American“ vor „German“ – als einzige deutsche Firma vor 1945.

Die amerikanische Invasion im Konsumgütersektor (Der Wahre Jacob 18, 1901, 3553; Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 345 v. 26. Juli, 8)

Die schutzzollbewehrte US-Wirtschaft galt bis in die 1870er Jahren vorrangig als Agrarexporteur, dessen billigen Weizen, Kühl- und Gefrierfleisch, hochwertiges Obst und Gemüse das Deutsche Reich mit Zöllen und Hygienevorschriften begrenzte (vgl. Uwe Spiekermann, Dangerous Meat? German-American quarrels over Pork and Beef, 1870-1900, Bulletin of the German Historical Institute 46, 2010, 93-110). Zunehmend traten aber auch preiswerte massenproduzierte Gebrauchsgüter hervor, etwa Nähmaschinen oder Klaviere. Die Deutschen führten dies lange auf die rührige Exporttätigkeit deutscher Auswanderer und ihrer Söhne zurück – etwa Isaac Merritt Singer (1811-1875) oder Heinrich Engelhard Steinway (1797-1871) –, verstanden aber nicht, dass sich Massenproduktion und hohe Qualität nicht zwingend ausschlossen. Dabei unterstrichen die US-Exporterfolge etwa im Bereich der Elektrotechnik und der Unterhaltungsindustrie, dass die deutsche Wirtschaft dem Hegemon Großbritannien zwar wirtschaftlich zusetzte, dass sie parallel aber unter Druck aus Übersee geriet. Selbst deutsches Bier wurde in den 1890er Jahren von US-Bier in globalen Drittmärkten erfolgreich be- und verdrängt (Stefan Manz und Uwe Spiekermann, Making Food Empires. German Technology and Global Mass Production, 1870-1914, Oxford 2026 (i. E.), Kap. 7 und 8).

US-Einflüsse auf die Trinkgewohnheiten: American Bars und Cocktails (Jugend 8, 1903, 89)

Hopkos, so meine nicht sicher zu belegende These, Hopkos wurde von den deutschen Eignern bewusst (und wahrheitswidrig) als amerikanische Innovation präsentiert, denn so konnten sie auf einer Erfolgswelle schwimmen, die seit der Jahrhundertwende nicht mehr zu ignorieren war: Billige amerikanische Haushalts- und Fitnessgeräte, Uhren und Petroleumlampen, Rechen- und Schreibmaschinen, Schuhe und Fahrräder fanden ihren Weg ins Reich, Kosmetika, Modeschmuck, Korsetts, Füllfederhalter und natürlich Kodak-Fotoapparate wären zu ergänzen. Nicht nur Karl May schuf Bilder des Wilden Westens, sondern auch der exportierte Buffalo Bill oder die gefeierten Schaustellungen von Barnum & Bailey, dem größten Zirkus der Welt. Gleichermaßen verbreiteten sich verarbeitete Nahrungsmittel, Frühstückcerealien wie Quaker Oats, Reformwaren von John Harvey Kellogg oder Maizena Maisprodukte. Die Hafenstadt Hamburg war dabei vielfach der Ausgangspunkt für die Eroberung des deutschen Marktes, etwa beim zeitgleich vermarkteten Nährmittel Force (Hannoverscher Courier 1903, Nr. 24199 v. 27. Januar, 4; Schwäbischer Merkur 1903, Nr. 91 v. 25. Februar, 10). Auch wenn die Deutschen amerikanische Limonaden und Temperenzgetränke kaum schätzten, waren diese in den US-amerikanischen Kolonien in den Großstädten durchaus gängig. Hopkos schloss an all das an, ihre Macher wollten davon profitieren.

Erträge durch angewandte Wissenschaft und Technik. Die „Macher“ von Hopkos

Meine Skepsis gegenüber den amerikanischen Ursprüngen des alkoholfreien Getränkes resultiert auch aus genaueren Informationen über die führenden Repräsentanten der neuen American-German Hopkos Company. Es handelte sich fast durchweg um junge, hochqualifizierte Naturwissenschaftler und Kaufleute, die den Märkten ihrer Zeit mit neuen Konsumgütern, mit massenfabrizierten Markenartikeln, ihren Stempel aufdrücken wollten. Schauen wir uns also die Riege quirlig begabter Herren näher an.

Theodor Freytag war nicht ohne Bedacht der erstgenannte Gesellschafter. In Magdeburg ansässig, war er gewissermaßen der „Erfinder“ von Hopkos, hatte er doch bereits am 20. September 1900 das einschlägige Warenzeichen beantragt, das ihm am 10. November 1900 dann erteilt wurde. Er dürfte zuvor von den drei englischen Temperenzgetränken gehört haben, noch 1905 sicherte er sich das erinnernde Warenzeichen Storkos (Warenzeichenblatt 1906, 49). Das Hopkos-Warenzeichen wurde allerdings erst am 25. Juli 1903 auf die Hamburger Hopkos Company übertragen (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 178 v. 31. Juli, 8). Das deutsche Hopkos hatte mit dem englischen Getränk einzig den Namen gemein.

Das offizielle Hopkos-Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 291 v. 7. Dezember, 12)

Theodor Freytag war Fabrikant von alkoholfreien Erfrischungsgetränken. Seine Magdeburger „Frucht-Sirup- und Essenzen-Fabrik“ (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 86 v. 13. April, 56), seine „Dampf-Fabrik ätherischer Öle, Essenzen, Fruchtsaftpresserei“ (Adressbuch für Magdeburg 1910, T. I, 73) koppelte die Errungenschaften der modernen Chemie, der weltweit führenden deutschen Aromenindustrie, mit dem Marktbedarf kohlensäurehaltiger alkoholfreier Markenartikel. Während er in Magdeburg nur für einen überschaubaren regionalen Markt produzierte, sollte Hopkos ein Weltgeschäft werden. Dazu aber bedurfte es Partner.

Auszüge aus Theodor Freytags wachsender Palette der immergleichen neuen Produkte (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 43 v. 19. Februar, 13 (o.); ebd., Nr. 219 v. 16. September, 11)

Die Handelsgesellschaft M. & G. Weid lieferte die maschinelle Grundausstattung der Hamburger Firma – und auch der späteren auf Lizenzbasis gegründeten Hopkos-Filialen. Sie war, abseits ihres eigentlichen Handelsgeschäfts, seit 1896 in einem Wachstumsmarkt tätig, produzierte immer wieder verbesserte Mineralwasserapparate zur selbsttätigen Abfüllung in Flaschen (Bonner Volkszeitung 1896, Nr. 28 v. 25. Januar, 3). Schon 1900 offerierten die beiden in Weißenburg im Elsass ansässigen Kaufleute reichsweit eine „Anleitung und Rezepte zur Selterswasser-, Brauselimonade-, Schaumwein- etc. Fabrikation“ (Hamburger Echo 1900, Nr. 64 v. 17. März, 8; Hamburger Neueste Nachrichten 1900, Nr. 65 v. 18. März, 14; Lippische Landes-Zeitung 1900, Nr. 64 v. 16. März, 3; Badische Presse 1900, Nr. 64 v. 17. März, 7). Der Wachstumsmarkt karbonisierter Getränke lockte, unbedingt alkoholfrei mussten diese allerdings nicht sein. Mit „Weids Ideal“ verkauften M. & G. Weid seit 1902 einen neuen Apparat, mit dem Wasser „ohne Fachkenntnisse“ mit Extrakten und Kohlensäure versetzt werden konnte. Seine Tagesproduktion lag bei 500 bis 1000 Flaschen. Eine derart bereitete Flasche Mineralwasser kostete einen Pfennig, Brauselimonaden zwei bis drei Pfennige. Schaumwein resp. Milchsekt dürften etwas teurer gewesen sein (Der Schwarzwald 14, 1902, Nr. 17, 15). Durch diesen Apparat konnte man auch Hopkos preisgünstig herstellen, konnte die damals recht hohen Handelsspannen der preisgebundenen Markenartikel problemlos tragen, zugleich einen hohen Gewinn erzielen. Die Einrichtung und die Vertragsverhandlungen forderten Präsenz in Hamburg, entsprechende Übernachtungen der Weids in Hamburger Hotels sind nachweisbar (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 4 v. 6. Januar, 8; ebd., Nr. 40 v. 17. Februar, 8; ebd., Nr. 82 v. 7. April, 20).

Preiswerte Technik für die neue alkoholfreie Getränkewelt (Der Schwarzwald 14, 1902, Nr. 17, 15)

Über die beiden Geschäftsführer ist weniger bekannt. Otto Karl Heinrich Schorre war Mitinhaber der im Jahr zuvor gegründeten nicht näher spezifizierten offenen Handelsgesellschaft Schorre & Co. (Hamburgischer Correspondent 1902, Nr. 279 v. 18. Juni, 4). Diese kümmerte sich um ein erstes werbeträchtiges Hopkos-Plakat, eventuell auch um weitere Werbeklischees (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 37 v. 12. Februar, 29). Ebenso greifbar war das Interesse an marktgängigen Konsumgütern. Schorre & Co. agierte 1904 als Generalagentur von Kummers Kuchen, einer neuen fertigen Kuchenmasse.

Neue Sensationen: Backmischung für willige Hausfrau (Hamburger Echo 1904, Nr. 118 v. 21. Mai, 12 (l.) Warenzeichenblatt 1904, 828)

Derartige Backmischungen kamen damals neu auf, Kummers Kuchen entstammte der Berliner Fabrik von Heinrich Stern (Berliner Tageblatt 1904, Nr. 617 v. 4. Dezember, 47). Sie etablierten sich rasch, basierten auf billigen und gelingsicher vermischten Zutaten. Da der zweite Geschäftsführer zuvor kaum hervorgetreten war – Hermann Friedrich Hannesen agierte lediglich als Liquidator einer Kaffee-Import-Firma (Hamburger Fremden-Blatt 1902, Nr. 89 v. 17. April, 10) – können wir zum anfangs nicht genannten Eigentümer der Hamburger Hopkos Company übergehen, dem Chemiker Bruno Friling (1870-1934). Sein Name zierte von Januar bis April alle Hamburger Hopkos-Anzeigen (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 47 v. 29. Januar, 8), ehe er sich dann auf das wohl lukrativere Feld der Backmischungen konzentrierte.

Eine sichere Sache: Frilings fertige Kuchenmasse „Backe bequem“ (Hamburger Fremdenblatt 1904, Nr. 148 v. 26. Juni, 23)

Doch der Reihe nach: Peter Julius Bruno Friling wurde im August 1899 mit einer Dissertation „Ueber β-Benzylisochinolin“ promoviert, interessierte sich also für Alkaloide des Schlafmohns – und wohl auch für die damals aus den Naturstoffen gewonnenen opiatbasierten Medikamente, die als Schmerz- und Schlafmittel einige Zeit freudig-unschuldig eingesetzt wurden. Nicht nur Cannabis war damals frei käuflich. 1901 wurde der junge Chemiker Prokurist bei Möller & Linsert, einer Hamburger Fabrik chemischer und pharmazeutischer Präparate, verließ diese aber Ende August 1902 (Hamburger Fremden-Blatt 1902, Nr. 13 v. 16. Januar; Hamburgischer Correspondent 1902, Nr. 411 v. 3. September, 5). Über seine anschließenden geschäftlichen Beziehungen zu Hopkos konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Friling, der schon parallel zur Hopkos-Etablierung eine eigene Kommanditgesellschaft gegründet hatte, beantragte Ende Juli 1903 jedenfalls das Warenzeichen seiner neuen Backmischung, das unter dem Markennamen „Backe bequem“ ein kommerzieller Erfolg wurde (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 49 v. 30. Januar, 6; Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 304 v. 29. Dezember, 12). Der Begriff zeugt von einer genauen Kenntnis der damaligen Werbesprache, in der aktivierende Slogans modisch waren: „Werde gesund“ war die Dachmarke einer Berliner Fabrik heilgymnastischer Apparate; und das den Kaiserbart festigend-stützende Bartbindenwasser „Es ist erreicht“ des Hoffriseurs Francois Haby (1861-1938) wurde gar zu einem häufig karikierten Signet der wilhelminischen Gesellschaft (Lustige Blätter 18, 1903, Nr. 19, 13; ebd., Nr. 1, 20). „Backe bequem“ enthielt, wie Hopkos, nur „beste Zutaten“, stand unter chemischer Kontrolle und ermöglichte acht verschiedene Kuchensorten zu relativ billigem Preis. 1906 siedelte die von Friling gegründete Nährmittelfabrik schließlich nach Berlin über (Hamburger Correspondent 1904, Nr. 174 v. 29. Januar, 5; Gordian 12, 1906/07, 697-698).

Unternehmen Handelschemie: Vorstellung von Carl Enochs Chemisch-hygienischem Institut (Hamburger Adressbuch 1893, Werbung, 19)

Ein „Macher“ fehlt noch. Carl Enoch (1866-1922) überwachte die Produktion von Hopkos, hatte zudem ein werbeträchtig ausgeschlachtetes Gutachten über dessen chemische Zusammensetzung erstellt. Enoch hatte im Laboratorium von Emil Fischer (1852-1919) in Würzburg gearbeitet, promovierte 1890 unter Leitung von Julius Tafel (1862-1918) in Erlangen über Säureamide. Er wechselte anschließend als Assistent an das Prager Hygienische Institut unter Ferdinand Hueppe (1852-1938), einem führenden Hygieniker, zugleich Eugeniker, Abstinenter, Antisemit und später auch erster Vorsitzender des Deutschen Fußball-Bundes. Der jüdische Chemiker Carl Enoch zog rasch nach Hamburg weiter, wo er 1892 ein Chemisch-hygienisches Institut gründete (F.W. Eitzen, Hamburger Börsenfirmen im Jahre 1898, Hamburg und Berlin s.a. [1898], 116). Mit ambivalenten Marktangeboten kannte er sich bald aus, teilte er doch die Geschäftsadresse mit der Vertriebszentrale des Malzextraktproduzenten M. Hoff, ehe er mit seinem Laboratorium 1900 umzog.

Enoch war ein erfolgreicher Unternehmer, zugleich ein glänzender Wissenschaftler, 1900 zum Ehrenmitglied der Londoner „Society of Biological Chemistry” gewählt (Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 469 v. 6. Oktober, 12). Als einer von knapp zwanzig in Hamburg vereidigten Handelschemikern übernahm er vielfältige Gutachten, bewertete dabei neue Präparate häufig positiv und anbieterfreundlich. Das betraf etwa das zum Brauen geeignete Konservierungsmittel Chinosol, das Haarfärbemittel Gloria-Wasser und das frühe Haarshampoo Javol, nach der Jahrhundertwende das Desinfektionsmittel Vitalin, das pepsinhaltige Magenmittel China-Bitter und die Angebote der Antwerpener General Wine Company. Enoch war ein Mann für das öffentlich vorzeigbare Gutachten, der seinen analytischen Blick kundennah zu begrenzen wusste. Das galt auch für Hopkos. Der weit über Hamburg geschätzte Enoch war zugleich Temperenzler und ein Mann vom Fach. Im Jahre 1900 wurden ihm gleich zwei Patente „zur Herstellung blanker, alkoholfreier Fruchtsäfte“ erteilt (Hamburger Fremden-Blatt 1901, Nr. 286 v. 6. Dezember, 21; ebd. 1902, Nr. 50 v. 28. Februar, 21).

Fasst man diese biographischen Skizzen zusammen, so handelte es sich bei den Machern von Hopkos um wissenschaftlich hochqualifizierte, um zumeist junge aufstiegsorientierte Männer, die ihre Expertise konsumnah nutzten, um gewinnträchtige Markenartikel im Massenmarkt zu etablieren. Obwohl sie sich alle um den neuen Bierersatz Hopkos scharten, besaßen sie sämtlich jedoch genügend Flexibilität und rasch zu erschließende alternative Optionen, um ihr Geschick auch mit anderen ähnlichen Produkten zu versuchen. Die Macher waren an einer schnellen Mark interessiert, nicht an einem spezifischen Produkt, das nur Mittel zum Zweck war.

Zwischen Ingwerbier, alkoholfreiem Bier und Limonade: Was war Hopkos?

Hopkos wurde in Hamburg, aber auch an allen Filialorten als ein neuartiges Getränk fernab gängiger Kategorien angeboten: „Es gleicht den Bieren im Aussehen und Farbe und ist erfrischender, bekömmlicher und äußerst wohlschmeckend“ (Pester Lloyd 1903, Nr. 124 v. 26. Mai, 4). Hopkos war ein karbonisiertes Getränk, ähnlich und doch besser als Bier, farblich erinnerte es an Ingwerbier. Den Anspruch verdeutlichen die unteren Werbezeichnungen. Hopkos wurde in zwei Varianten, als Helles und Dunkles, in kleinen mit aufwändigem Bügelverschluss versehenen Flaschen angeboten. Es stand für die Selbstbehauptung des Menschen angesichts der in der Natur, ja im Menschen selbst stetig stattfindenden Gärung, der scheinbar nicht stillzustellenden Alkoholproduktion. Dies führte zu lebensbedrohlichen Stoffwechselprozessen, zum Abbau, zum frühen, zu frühen Tod. Doch der mannhaft-beherzte Hopkostrinker konnte durch Kauf, konnte durch Konsum diese Gefahr reduzieren, dem Tod ein Schnippchen schlagen.

Den Tod bannen: Werbedarstellung als gesundheitlicher Labetrunk (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4; ebd., Nr. 169 v. 20. Juni, 4. Morgenbl., 3 (l. u. r.))

Fernab der Marktsphäre urteilten die Nahrungsmittelchemiker prosaischer, unterminierten den güldenden Glanz des vermeintlich amerikanischen Gesundheitstranks. Der schon erwähnte Bernhard Carl Niederstadt resümierte, dass Hopkos eine Mischung kohlensäurehaltigen und gefärbten Wassers mit Malz- und Hopfenextrakten sei: „Es ist davon ein dunkler Porter und ein heller Ale im Handel. […] In beiden Getränken ist gut Hopfen und Malz enthalten. Fremde Bitterstoffe, ebenso Conservierungsmittel (Salicylsäure und Borsäure) fehlen absolut. Die Biere sind absolut frei von Alkohol, sind gut kohlensäurehaltig und gesund“ (Niederstadt, Die Abstinenz und die alkoholfreien Getränke, Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 31, 1903, 343-346, hier 345-346, Bundesarchiv Lichterfelde R 86 Nr. 2032). Derartige Analysen konzentrierten sich auf das Endprodukt, die Zusammensetzung und Güte der Einzelkomponenten konnte so nicht ermittelt werden. Das schien aber kaum erforderlich, denn die Produktion folgte der gängigen Praxis der Apotheken bei ähnlichen Getränken. Bierextrakte bestanden zumeist aus dem aufkommenden kalorienhaltigen Zwischenprodukt Invertzuckersirup, zudem aus Weinsäure für einen erfrischend säuerlichen Geschmack. Die gerade im norddeutschen Braugebiet noch häufig zum Schönen der Biere verwandten Hopfenextrakte simulierten mit ihren Bitter- und Aromastoffen eine gewisse Biernähe. Schließlich fügte man Zuckerkulör oder Farbmalzextrakte hinzu, um die Farbe, aber auch den Malzgehalt einzustellen. Die fertige Mischung gab man in Flaschen, füllte dann maschinell kohlensäurehaltiges Wasser hinzu (Schneider, 1903, 796). Das gut geschüttelte Ergebnis konnte schließlich mit einem schönen Namen, etwa Hopkos, verkauft werden.

Hopkos als alkoholfreies Bier (Langenberger Zeitung 1903, Nr. 206 v. 3. September, 4)

In Hamburg konzentrierte sich das Untersuchungsamt allerdings weniger auf die Produktionstechnik. Hopkos schien kein gesundheitsschädliches Ersatzgetränk zu sein (Übersicht über die Jahresberichte der öffentlichen Anstalten zur technischen Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln für das Jahr 1903, Berlin 1906, 166). Stattdessen konzentrierten sich die Analysen auf die offenkundige Differenz zwischen den Werbeaussagen und dem Stoffgehalt, um den Hersteller wegen unlauteren Wettbewerbs, wegen Verbrauchertäuschung zu belangen. Doch derartiger Trug war schwer nachzuweisen, auch wenn an Enochs Gutachten kollegialer Anstoß genommen wurde. Erste Beanstandungen sowohl nach dem Nahrungsmittelgesetz als auch dem Gesetz gegen Unlauteren Wettbewerb blieben ohne greifbares Resultat (K. Farnsteiner et al., V. Bericht über die Nahrungsmittelkontrolle in Hamburg in den Jahren 1903 und 1903, Hamburg 1905, 70). Hinweise, dass Hopkos hell und dunkel jeweils 0,05 Prozent Alkohol enthalte, reichten angesichts der undefinierten Begriffe „alkoholfrei“ und „alkoholarm“ nicht einmal für eine öffentliche Meldung (Pharmaceutische Praxis 6, 1907, 152).

Die spätere Umfirmierung der American German Hopkos Company in Internationale Hopkos-Gesellschaft führte jedoch zu neuerlichen Untersuchungen. Wie schon 1903 stieß man sich an der intensiven Reklame, stellte bei einer offenkundig verdorbenen Probe auch einen Alkoholgehalt von 0,97 Prozent fest (Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten 18, 1908, 161). Doch das reichte nicht für den vom Nahrungsmittelgesetz verlangten Nachweis einer täuschenden Absicht. Und eine Rückfrage wegen unlauteren Wettbewerbs wurde von der Staatsanwaltschaft abschlägig behandelt, zumal keinerlei Strafanträge vorlagen (Übersicht über die Jahresberichte der öffentlichen Anstalten zur technischen Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln für das Jahr 1904, Berlin 1908, 146). Angesichts der parallel bestehenden und öffentlich immer wieder beredt beklagten Missstände bei „Geheimmitteln“ oder „Kräftigungsmitteln“ wurden zwar stetig präzisere und schärfere Gesetze gefordert, doch einzig die Novelle des Gesetzes gegen Unlauteren Wettbewerb 1909 sollte mit dem schwammigen Straftatbestand „Verstoß gegen die guten Sitten“ Wildwüchse in der Warenanpreisung etwas stutzen.

Werbeversprechen und die nachweisbare Zusammensetzung ausgesuchter „alkoholfreier Biere“ (A[dolf] Beythien, Über alkoholfreie Getränke, Sitzungsberichte und Abhandlungen der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS 1905, Dresden 1906, 70-90, hier 79)

So blieb es bei analytischen Daten in der Fachliteratur und benennenden Einschätzungen für Chemiker und Pharmazeuten: „Hopkos, ein alkoholfreier Bierersatz ist […] eine alkoholfreie, mit Kohlensäure imprägnierte Zuckerlösung, welche nur ganz geringe Mengen aus Malz und Hopfen herstammender Bestandteile enthält“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 35, 1908, 285). Die Brauer fühlten sich in ihrer strikten Ablehnung, in ihren frühen Warnungen bestätigt (Denkschrift des Zentralverbandes der österr. Brauerei-Industriellen-Vereine gegen die projektierte Biersteuererhöhung, Der Böhmische Bierbrauer 36, 1909, 334-338, hier 337). Und die Hamburger Untersuchungsbehörde beanstandete Hopkos pflichtgemäß und folgenlos auch noch 1905, als der Markt, die Verbraucher, schon längst ihr Verdikt ausgesprochen hatten (Fünfter Bericht über die Nahrungsmittel-Kontrolle in Hamburg. II. (Schluß.), Hamburger Fremden-Blatt 1906, Nr. 24 v. 30. Januar, 21). Alle beteiligten Interessenvertreter verteidigten ihre Sichtweisen, hofften auf neue oder altbewährte Konsummuster, auf einen Wandel der Begriffsbestimmungen, der angesichts der Novelle des Branntweinsteuergesetzes (und des Weingesetzes) 1907 auch kam. Es war der Steuerstaat, der Geldbedarf für die Flottenrüstung, durch den der Kranz von Normalbestimmungen auch auf alkoholfreie Getränke ausgeweitet wurde, indem man einfachen und recht willkürlichen Vorgaben der Nahrungsmittelchemiker folgte. Rückblickend führte man sich dann die wilden Zeiten fast schelmisch vor Augen: „Es ist vielleicht auf keinem Fabrikationsgebiet so viel gesündigt worden“ (Walther Schrauth, Genussmittel, ihre Surrogate und ihre Entgiftung, Technische Rundschau 14, 1908, Nr. 35, 501-503, hier 501). Die Macher von Hopkos konnten also ungefährdet und ungestraft am Rande des Rechtes agieren.

Der Geschäftsbetrieb in Hamburg

Die American German Hopkos Company residierte anfangs in einem repräsentativen Kontorhaus, dem Asia-Haus, erbaut vom Schiffsmakler Emil Theodor Lind in Hamburgs Altstadt, am Standort Alte Gröningerstraße 24-25 und Zippelhaus 10, gegenüber der Speicherstadt. Viele Firmen teilten sich die Adresse des mit kolonialen Ornamenten gezierten, vielfach im neuen Jugendstil gehaltenen Geschäftshauses, darunter das technische Büro der Hapag. Der Bau bot große, flexibel eingeteilte Kontore, zudem auch Kellerräume, Personen- und Warenaufzüge und Elektrizitätsversorgung (Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 398 v. 26. August, 15). Das Asia-Haus stand für das Weltgeschäft Hamburgs, bildete zugleich einen Informationscluster: Die dort ab 1904 ansässige Firma Handels- und Schiffsbedarfsfirma Carl Bödiker vertrieb ebenfalls alkoholfreies und auch alkoholhaltiges Bier (Warenzeichenblatt 1907, 48).

Kontorhaus Asia-Haus, Geschäftssitz der American German Hopkos-Company 1903 (Wikipedia-Dirtsc, 2011)

Die repräsentative Hülle des zerstörten, neu aufgebauten und mehrfach aufgehübschten Asia-Hauses darf jedoch nicht vergessen machen, dass die Rekonstruktion des eigentlichen Geschäftsbetriebes nur ansatzweise möglich ist. Die Hopkos-Company und ihre Macher haben keine Archivalien hinterlassen. Werbeanzeigen in einem für Übertreibungen und auch bewusste Irreführungen bekanntem Marktsegment haben nur begrenzten Aussagewert, gewerbliche An- und Abmeldungen, Warenzeichen und Patente bieten allein ein karges Informationsraster. In einem sich weitenden Marktfeld beurteilten Zeitgenossen häufig nicht die einzelnen Produkte, sondern eher die gesamte Branche. Oder erinnern Sie sich an einzelne vegane Markenartikel? Auch Hopkos war Flugsand der Geschichte.

Die Markteinführung des namensgebenden Getränks begann zwei Wochen nach der Konstituierung des Unternehmens. In den Hamburger Zeitungen tönte es weltenwendend: „Der American-German Hopkos-Company Zentrale Hamburg, ist es gelungen, ein alkoholfreies Getränk ‚Hopkos‘ herzustellen, welches in jeder Beziehung den Anforderungen an ein gesundes, wohlschmeckendes und durststillendes Getränk entspricht. Nicht nur allen Gesunden, Kranken und Rekonvalescenten ist es als ein vornehmes Tafelgetränk zu empfehlen, sondern es ist auch ein äußerst nahrhaftes und bekömmliches Volksgetränk. Es wirkt erfrischend und anregend. Da das Bier auch durchaus nicht teurer ist wie unsere billigsten Biere, darf mit der Erfindung des Hopkos ‚Ale‘ und Hopkos ‚Porter‘ die so wichtige soziale Alkoholfrage um ein gut Teil gelöster erscheinen“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 27 v. 1. Februar, 20). Das moderne Leben mit seiner Hast, seinem „vielfach rasenden Tempo“ verbrauche rasch die Kräfte, verbiete aber zugleich den Alkoholkonsum, den „so zu Herzen gehenden Trank des Gambrinus“. Hopkos erlaube Erholung und Gemütlichkeit ohne Harm, zugleich fördere es die Verdauung, verdränge die Harnsäure, fördere „das Wohlbefinden des Menschen“ (Zeitgemäße Betrachtungen, Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 53 v. 1. Februar, 3). Hopkos bekämpfe auch die bei rastlos tätigen Menschen immer wieder eintretende Erschöpfung, die bei alkoholischen Erfrischungen wie dem Bier nicht zu vermeiden sei. „Analysen erster Autoritäten der Nahrungsmittel-Branche“ würden bestätigen, dass dieses „aus reinsten Ingredienzien“ bestehende Getränk Neuland beträte (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 53 v. 1. Februar, 18). Nicht Limonade oder Selterswasser, schon gar nicht Bier, sondern Hopkos materialisiere die Zukunft des Trinkens des modernen, tätigen und vorwärtsstrebenden Menschen (Ein neues Volksgetränk, Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 28 v. 3. Februar, 5).

Hopkos wurde als neues, gesellschaftliche Probleme aufgreifendes und ansatzweise lösendes alkoholfreies Getränk präsentiert, als Substitut gleichermaßen für Bier und die alten schwachen karbonisierten Wässerchen. Hopkos wurde als Getränk für alle angeboten, mochte der Schwerpunkt des Lobpreises auch auf den modernen Bürger, den modernen Angestellten zielen. Hopkos war ein Labetrunk für Alt und Jung, für Männer und Frauen, für Gesunde und Kranke. Sein Platz war das Kontor, die Arbeitsstätte, das gemütliche Heim, die Krankenstätte, das Sanatorium. Hopkos transformierte den Getränkekonsum – so die Werbung – in eine neue Sphäre, würde die Konkurrenz daher verdrängen, galt doch auch im Markt das Gesetz des Besseren, des Stärkeren. Wir werden dies unten genauer analysieren, denn Hopkos wurde nicht mit nur mit einem schönen Werbebild präsentiert, sondern mit breit angelegten, vielfach variierten Werbemitteln.

Umzug zu einem neuen Fabrikationsgebäude und Prämienangebote zwecks Auslastung der neuen Produktionskapazitäten (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 229 v. 17. Mai, 26 (l.); Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 137 v. 14. Juni, 7)

Die Gesellschaft zog Mitte 1903 von der Altstadt in die Arndtstraße 14 im nördlich gelegenen Stadtteil Uhlenhorst um, das nicht lange zuvor erstellte Funktionsgebäude war per Fleet mit der Außenalster verbunden. Das heute denkmalgeschützte Ensemble wurde damals vornehmlich gewerblich genutzt, das Unternehmen annoncierte eine eigene „Hopfen- u. Malz-Extract-Fabrik“ (Hamburger Adressbuch 118, 1904, T. III, 13). Nicht das wahrscheinliche Aussteigen des Eigentümers Bruno Friling stand im Vordergrund, nicht die folgende Staffelstabübergabe des Alltagsgeschäftes an den Generalagenten Carl W. Meyer, der in der Brennerstraße 74-78 residierte, nahe dem Steindamm, einer quirligen Geschäftsstraße im zentralen Stadtteil St. Georg. Auch Meyers parallele Tätigkeit für Alkoholproduzenten, wie die Berliner Bockbrauerei AG, blieb unerwähnt (Verzeichnis der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen im Oberpostdirektionsbezirk Hamburg 1903, 42).

Stattdessen präsentierte die American German Hopkos Company den Umzug als Teil einer stellaren Erfolgsgeschichte des neuen Bierersatzes. Dessen „schon jetzt“ enormer Absatz habe „die Uebersiedelung in ein grösseres Fabrikgebäude und die Fabrikation des Extraktes an Ort und Stelle nötig gemacht“. Die dampfbetriebene und mit neuen Maschinen ausgestattete Fabrik habe eine „tägliche Herstellungskapazität von Extrakten zu einem für 250.000 Flaschen reichenden Quantum“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 115 v. 17. Mai, 16). Anders ausgedrückt: An der neuen Produktionsstätte wurden Extrakte gefertigt, sie war Zentrum des Versands lizensierter Grundstoffe an die parallel langsam entstehenden Filialen im In- und Ausland. Der Getränkeabsatz dürfte zu dieser Zeit allerdings nicht den erhofften Umfang erreicht haben. Einerseits fabulierte man plötzlich von der neuen Entdeckung einer eminent durststillenden Wirkung des Hopkos, um rechtszeitig zum Sommergeschäft auch Touristen, Radfahrer, Turner und körperlich Arbeitende explizit anzusprechen. Anderseits lobte man kurz nach dem Bezug der neuen Produktionsstätte Erfolgsprämien für Einzelhändler aus, um dadurch den Absatz zu steigern. Für Juli schrieb man einen Wettbewerb aus, in dem der Krämer, der zuerst 1000 Flaschen eingekauft habe, eine Prämie von 50 Mark erhielt. Zugleich zahlte man jedem Abnehmer, der diese Marke überschritt, 10 Mark (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 137 v. 14. Juni, 40). Die Firma gewährte also ohne Reduktion des Endpreises von zehn Pfennig einen Mindestrabatt von zehn Prozent (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 273 v. 14. Juni, 13; ebd., Nr. 285 v. 21. Juni, 4). Bei einer monatlichen Produktionskapazität von nominell 7,75 Millionen Flaschenportionen waren derartige Prämien für recht geringe Abnahmemengen einzig Beleg für einen recht überschaubaren Absatz in Hamburg.

Wir Konsumenten dürfen allerdings nicht ignorieren, dass das Kerngeschäft nicht allein der lokale Absatz eines alkoholfreien Bierersatzes war. Laut Telefonbuch war das Unternehmensziel „Paten[t]verwert.“, ebenso konnte man im Adressbuch lesen: „American-German Hopkos Company mit beschränkter Haftung, Patentverwerthungen“ (Verzeichnis der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen im Oberpostdirektionsbezirk Hamburg 1903, 19; Hamburger Adressbuch 117, 1903, Mai-Anhang, 103). Das Hamburger Geschäft hatte Modellcharakter, sollte möglichen Investoren nicht nur abstrakt von Marktchancen tönen, sondern ein belegbares und besichtigungsfähiges Beispiel eines Erfolgsunternehmens geben. Das Hamburger Unternehmen war ein Franchiseunternehmen, gehörte zu den Pionieren dieses heutzutage allgegenwärtigen Geschäftsmodells im Deutschen Reich. Hopkos wurde in Hamburg als Marke etabliert, einheitliche Werbeklischees entwickelt, klare Rezepturen, Maschinen und die geschmacksgebenden Extrakte. Interessierte konnten gegen regelmäßige Gebühren die Rechte für einen entsprechenden Be- und Vertrieb an einem anderen Ort, in einer anderen Region erwerben – und dann in begrenzter Eigenregie Hopkos verkaufen. Der Lizenznehmer trug eigenes unternehmerisches Risiko, nicht jedoch die Kosten für die erfolgreiche Etablierung eines Geschäfts. Der Lizenzgeber profitierte von steten Gebühren, war zugleich gegenüber lokalen Absatzschwankungen abgesichert. Im Deutschen Reich waren damals Gebietsmonopole durchaus üblich, doch diese bezogen sich zumeist auf den alleinigen Absatz eines bestimmten Markenartikels in einem klar umrissenen Gebiet. Steinway-Flügel oder Singer-Nähmaschinen konnte man vor Ort nur von einem Unternehmen kaufen, mochte dieses in Großstädten auch verschiedene Filialen eröffnet haben. Bei Hopkos aber übernahm der Lizenznehmer nicht Fertigprodukte, sondern hatte diese Produkte dezentral selbst herzustellen, erhielt dafür Extrakte und Werbemittel. Das war in den USA durchaus üblich, Coca-Cola ein gutes Beispiel. Im Deutschen Reich gewann das Franchise-System später nicht nur im Getränkesektor an Bedeutung, wo die aus Milchsäure hergestellte Limonade Chabeso seit 1911 diese Geschäftsmodell nutzte (Ueber Milchsäuregetränke und deren Nutzen für die menschliche Gesundheit, Deutsch-Englischer- Reise-Courier 9, 1912/13, H. 11, 11-13).

Auf der Suche nach Investoren „in jeder Stadt der Welt“ (Badische Presse 1903, Nr. 49 v. 27. Februar, 4 (l.); Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 57 v. 26. Februar, 3. Morgenbl., 4)

Entsprechend schaltete die Hopkos-Company seit Ende Februar erst reichsweit, seit Mai auch europaweit nahezu gleichlautende Anzeigen in führenden Wirtschaftsmedien, um potenzielle Franchisenehmer mit den neuen Geschäftschancen vertraut zu machen. Hopkos war dabei nur Mittel zum Zweck für eine schnelle Mark, für scheinbar sichere Einkommen. Der Tenor war entsprechend lockend: „Bedeutender Gewinn! Vornehmen, lukrativen Industriezweig bilden die Hopkos-Fabriken in jeder Stadt der Welt. Einheitliche Organisation!! Einheitliche Reklame!! Hopkos […] ist ein Massenconsumgetränk vorzüglichster Qualität. Verkaufspreis per Flasche franco Haus 10 Pfg. für Arm und Reich“ (Schwäbischer Merkur 1903, Nr. 91 v. 25. Februar, 10). Nicht die Reform der Gesellschaft, nicht die Transformation der Trinksitten, nein, die Rendite war treibende Kraft aller Anstrengungen. Die Hopkos-Company lieferte bei Vertragsabschluss „complette Fabrik-Anlagen mit elektrischem Betriebe sammt sämmtlichen zu einem Bierversandt-Geschäft nötigen Requisiten wie: Wagen, Flaschen etc. franco Haus“ (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1903, Nr. 48 v. 27. Februar, 7). Dieser Service hatte seinen nach Ortsgrößen gestaffelten Preis: In Städten unter 50.000 Einwohner 9000, in Großstädten 25.000 Mark. Hamburg war Vorzeigeort, doch die Gesellschaft verwies auch auf Berlin und Leipzig, auch wenn dort noch keine festen Filialen bestanden. Investoren erhielten zudem Rentabilitäts-Nachweise, also Werbeunterlagen mit ansprechend hochgerechneten lokalen Markterwartungen.

Diese erste Anzeigenwelle führte zum Aufbau von Franchiseunternehmen in Bremen, Berlin, Frankfurt a.M., Leipzig, Wiesbaden – und Ennigerloh. Im Mai begann dann der Einstieg in das europäische Lizenzgeschäft, in das Weltgeschäft. Das „bekannte alkoholfreie Erfrischungsgetränk ‚Hopkos‘“, so hieß es „wird sich bald über ganz Europa verbreitet haben. Die Verbreitung geht mit erstaunlicher Geschwindigkeit vor sich, ein Zeichen, daß dieses als Bierersatz vielgepriesene Getränk eine Lücke füllt.“ Man sprach von einer Hopkos-Vertriebs-Gesellschaft in London, einer russischen Zentrale in Lodsch, von bald folgenden russisch-finnischen, französischen, italienischen, belgischen und holländischen Pendants. Die im Deutschen Reich derweil gegründeten Filialen mutierten zu Zeugen des weitergehenden Aufschwungs, „so daß jeder Deutsche bald überall sein Hopkos trinken kann“ (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 229 v. 17. Mai, 17; Neue Hamburger Zeitung 1903, Nr. 232 v. 19. Mai, 10). Das war begleitet von neuen, allerdings kürzer gehaltenen Annoncen, die mit der wichtigsten Botschaft endeten: „Großartige Rentabilität!“ (Kölnische Zeitung 1903, Nr. 776 v. 25. August, 4; ebd., Nr. 790 v. 29. August, 4). Andernorts nannte man auch Zahlen. Über eine anvisierte Filialfabrik in Oldenburg hieß es: „Das Kapital verzinst sich mit ca. 300% pro anno“ (Nachrichten für Stadt und Land 1903, Nr. 164 v. 16. Juli, 4). Das war offenkundig illusionär, größerer Trug als der Verkauf eines karbonisierten Getränks als „Bierersatz“, als verbessertem alkoholfreiem Bier. Doch die Zahlen blendeten nur wenige. Im September versprach die American German Hopkos-Company nicht mehr länger „Große Rentabilität“, sondern hatte bereits Mittelsmänner einschaltet, das kriselnde Geschäft teils übergeben (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1903, Nr. 412 v. 6. September, 6). In der zweiten Jahreshälfte zeigte sich erst in Deutschen Reich, in der Folge auch im europäischen Ausland, dass die Verheißungen trogen, dass Hopkos ein Auslaufprodukt war. Das alkoholfreie Getränk teilte dieses Verdikt mit vielen anderen ähnlichen Produkten, auch wenn die Macher von deren Scheitern durchaus lernten.

Ein Blick auf die Konkurrenz: Methon als Beispiel

Die American German „Hopkos“ Company war als nationales, gar multinationales Franchiseunternehmen, mochte ihr auch kein durchschlagender Erfolg beschieden gewesen sein. Das alkoholfreie Getränk sollte Bier ersetzen, stand zugleich aber in erbittertem Wettbewerb mit anderen alkoholfreien Angeboten. Deren Macher annoncierten abschätzig: „Alkoholfr. Bier (Methon), sehr wohlschmeckend, nicht zu verwechseln mit Hopkos!“ (Velberter Zeitung 1903, Nr. 217 v. 16. September, 4). Hopkos präsentierte sich als Bierersatz, vereinzelt auch als alkoholfreies Bier. Dieser Anspruch war unbegründet, die Analysen hatten dies offenbar unterstrichen. Und doch stand Hopkos für zahlreiche Versuche, Bier nicht technisch, sondern chemisch nachzubilden. Uns Nachgeborenen mag dies anmaßend erscheinen, doch nicht so unseren Ahnen: Kindermehle und Säuglingsmilch bildeten seit den 1860er Jahren die Muttermilch chemisch nach, um Gewinne zu erzielen und die horrende Säuglingssterblichkeit zu verringern. Aus Sicht der Tüftler bildeten sie Stoffkonglomerate, die um Kohlehydrate resp. Eiweiß gruppiert waren, sich aber dem Ideal der Muttermilch annäherten. Das naturwissenschaftlich-chemische Denken kreiste um Gemeinsamkeiten fernab des Alltagswissens, darin waren Rohr- und Rübenzucker gleichermaßen Glukose. Alkoholfreies Bier war demnach ein Getränk, das der chemischen Zusammensetzung des Bieres möglichst nahe kam. Geschmack, Textur, Technologie und Tradition erschienen demgegenüber zweitrangig. Wer fragte schon ein Baby (einen Kunden) nach seinen Präferenzen, entscheidend war der Nährerfolg (Markterfolg).

Das oben beworbene Methon war eines der neuen alkoholfreien Getränke, dessen Absatz durch Hopkos grundsätzlich bedroht wurde. Das Warenzeichen war sieben Monate vor Hopkos im Mai 1900 für die Dresdener „Fabrik ätherischer Oele und Essenzen“ von Franz Hermann Loebel in Dresden. Sie hatte sich bis Mitte der 1890er Jahre vor allem auf Zwischenprodukte konzentriert, belieferte Bäcker, Konditoren, Destillateure, Süßwaren- und Getränkehersteller (Kölnische Zeitung 1895, Nr. 207 v. 9. März, 11). Doch in den Folgejahren öffnete sich Loebel auch dem Endkundengeschäft. Vor Methon offerierte er schon den Bierextrakt Süss-Meth-Extrakt (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 259 v. 30. Oktober, 13), 1903 folgte die Limonade Apfelborn und die Brotaufstriche Schleckerchen und Frugalin. Begleitet war all das von verbalem Klappern; ein Flugblatt über Süss-Meth tönte hoffnungsfroh, das die Herstellung alkoholfreien Bieres nun „bequem und einfach ohne irgend welche Neuanschaffungen mit denjenigen Apparaten und Einrichtungen vorgenommen werden kann, welche in jeder, auch der kleinsten Mineralwasserfabrik vorhanden sind. Das neue Volksgenußmittel, das technisch, da seine Herstellung nicht auf dem altüblichen Maisch-, Brau- und Gährverfahren beruht, nicht als ‚Bier‘ zu bezeichnen ist, gelangt unter meiner Originaletiquette Süßmeth-Extract zur Einführung.“ Das war alkoholfreies Bier in chemischer Nachbildung. Brauer urteilten abschätzig: „Wir glauben kaum, daß sich auch nur ein vernünftiger Mensch auf der Welt finden dürfte, der Lust hat, diesen sonderbaren Extract zu versuchen“ (Zitate n. Unfug mit der Wortbezeichnung ‚Bier‘, Gambrinus 27, 1900, 248-249).

Methon, suggestiv angezeigt als „Alkoholfreies Bier“ (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 83 v. 9. April, 15)

Ähnlich, doch aktiver wurde das Folgeprodukt Methon beworben: „Alkoholfreie Biere herzustellen war daher längst eine brennende Frage, bisher allerdings ungelöst im Sinne einer Bereinigung von Wohlfeilheit und Schmackhaftigkeit. Neueste Erfahrungen haben in dem würzigen, gänzlich alkoholfreien, patentamtlich geschützten Methon ein Volksgenußmittel gezeitigt, welches mit erfrischendem Geschmack, glanzheller Färbung und prickelndem, sahnigen Mouffleur den hohen Extraktgehalt und die Vollmundigkeit der besten Münchner Biere vereinigt, ohne deren durch den Alkohol bedingte Schwere und berauschende Wirkung zu besitzen. – Nicht nach dem altüblichen Brauverfahren gewonnen, daher frei von allen Gährungskeimen, aber auch frei von künstlichen Süß-. Farb- und Konservierungsmittel ist Methon ein echter Haus-, Familien-, Tafel- und Gesundheitstrank“ (Lippstädter Zeitung 1901, Nr. 41 v. 6. April, 1). Methon war demnach kein Ersatz, sondern eine alkoholfreie Fortentwicklung des Bieres. Auch weißer Rübenzucker wurde als reiner Fortschritt gegenüber dem braunen Rohrzucker voller Rückstände beworben.

Loebel produzierte Methon seit 1900, doch erst nach der Gründung der Deutschen Methon-Gesellschaft im Mai 1901 nahm der Vertrieb Geschwindigkeit auf (Bautzener Nachrichten 1901, Nr. 115 v. 20. Mai, 133). Doch die Methon-Gesellschaft produzierte keine Getränke, sondern lediglich Grundstoffe. Methon wurde unmittelbar am Verkaufsort „frisch“ hergestellt (Lippstädter Zeitung 1901, Nr. 86 v. 20. Juli, 1). Abnehmer erhielten für fünf Mark eine Kiste mit zwei Flaschen fertigem ‚Methon‘ zum Kosten, Extrakt für die Herstellung von 250 Flaschen, Etiketten und eine Erläuterung des Verfahrens (Alkoholfreies Bier, Gambrinus 28, 1901, 291-292). Glasflaschen und ein Mineralwasserapparat wurden vor Ort angekauft. Die Werbung verwies auf den biergleichen Geschmack, die Reinheit des Getränks. Für die Brauer war Methon jedoch irreführender „Pantsch“, handelte es sich doch um nichts anderes als „eine gewöhnliche Brauselimonade ohne Hopfen und Malz“ (Unfug mit der Wortbezeichnung „Bier“, Gambrinus 28, 1901, 673). Eine Analyse des Stettiner Chemikers Paul Mecke konnte im Methon dann auch weder Hopfen noch Malz nachweisen, befand es als eine „parfümirte, mit Schaumessenz versetzte Zuckercouleur“ (Pharmaceutische Presse 6, 1901, 278). Das aus Invertzucker, Saponin und dem bis heute weit verbreiteten E 150 bestehende Getränk geriet darauf unter öffentlichen Druck, musste seine Werbung moderat verändern, wurde aber weiterhin als „alkoholfreies Bier“ angeboten (Gladbecker Zeitung 1901, Nr. 212 v. 14. September, 4: Essener Volks-Zeitung 1902, Nr. 170 v. 26. Juli, 10). Die Deutsche Methon-Gesellschaft stellte ihr Produkt „den besten Bieren gleich“ (Geseker Zeitung 1903, Nr. 54 v. 7. Juli, 4). Als vermeintlichen Beleg nutzte sie dafür ein Gutachten des Dresdner Nahrungsmittelchemikers und Inhaber eines öffentlichen chemischen Laboratoriums Friedrich Schmidt.

Trotzwerbung gegen die chemischen Untersuchungsergebnisse (Dresdner Neueste Nachrichten 1906, Nr. 219 v. 15. August, 14 (l.); ebd. 1909, Nr. 225 v. 20. August, 13)

Das Konkurrenzprodukt Methon dürfte von den Machern des Hopkos präzise analysiert worden sein. Es war demnach erstens ratsam, polarisierende Begriffe wie „alkoholfreies Bier“ nicht zu verwenden, diese zu umschreiben, die Assoziationsfähigkeit der (deutschen) Sprache zu nutzen. Es war zweitens ratsam, die Überzeugungskraft der Wissenschaft von Beginn an zu nutzen, mit einem eigenen Gutachten voranzugehen, nicht auf spätere chemische Kontrollen zu warten. Drittens schien es ratsam, den bei Methon grundsätzlich noch vorhandenen Zugriff auf die wertgebenden Grundstoffe nicht aus der Hand zu geben. Die Analyse allein des Endproduktes bot viel mehr Ausflüchte – und entsprechend weniger Möglichkeiten der Regulierung oder gar sanitätspolizeilicher Intervention. Methon mochte ein irreführend beworbener Bierersatz und Konkurrent von Hopkos gewesen sein. Doch zugleich war es ein Steigbügelhalter für eine passgenauere, mit dem geltenden Recht nicht im direkten Konflikt stehende Marktpräsenz. Die für uns heute selbstverständlichen definitorischen Unterschiede zwischen Limonaden, Extrakten und alkoholfreien Bieren wurden dadurch vorgeformt.

Werbung und Vermarktung in Hamburg

Hamburg war der Geschäftssitz der American German Hopkos Company, hier musste ein Beispiel für das gegeben werden, was nachfolgend an anderen Orten und in anderen Ländern geschehen sollte. Wir hatten zuvor bereits die verbale Anpreisung des Bierersatzes genauer betrachtet, den Eigenlob, die Positionierung von Hopkos als Getränk für alle, die nicht länger am alten Bier, an schwachen Nichtalkoholika festhielten. Die Sprache war großspurig, herausfordernd, teils anmaßend – doch formal waren die ersten Anzeigen altbacken. Hopkos wurde in Hamburg nicht wirklich „amerikanisch“ beworben, fehlten doch die visuellen Marker entweder des Produktes selbst oder aber glücklich-überzeugter Konsumenten. Der Eindruck einer „amerikanischen“ Reklame gründete denn auch mehr auf der steten Präsenz der Werbebotschaften. Drei Phasen lassen sich grob unterscheiden.

Graphisch aufbereitete Kaskaden der Kaufgründe (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 47 v. 29. Januar, 8 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 91 v. 19. April, 24)

Von Ende Januar bis etwa Mitte April 1903 dominierten informierende, die Hauptanliegen der Selbstdarstellung gleichsam einhämmernde Anzeigen. Visueller Ankerpunkt war der Produktname, entweder markant wiederholt oder aber graphisch ansprechend aufbereitet. Die Annoncen erschienen in allen führenden Tageszeitungen Hamburgs, adressierten damit die gesamte Bevölkerung, Arbeiter, einfache Bürger, die urbane Kaufmannschaft. Das Einhämmern verankerte den Preis, die edle Grundlage von Hopfen und Malz, den hohen Nährwert, die Kampfstellung gegen das Bier, die repräsentative Kraft des Neuen, unbedingte Alkoholfreiheit und schließlich das duale Angebot einer hellen und einer dunklen Variante. Das war Überwältigungsreklame, zielte auf die Verankerung von Werbebotschaften im Hirn der Massen – und damit ihre bedingte Dressur für den Kauf, ging man damals doch noch von der starken Wirkungsmacht der Reklame aus.

Belehrung des Publikums über den wahren Preis (Hamburger Nachrichten 1903, Nr. 115 v. 10. März, 7)

Die gefühlte Überlegenheit der Hopkos-Macher führte denn auch dazu, dass man der sich in recht geringen Absatzzahlen niederschlagenden Ignoranz der Konsumenten durch belehrende Information begegnete. Hopkos war nicht billig: Zwar kosteten auch gängige Flaschenbiere zehn Pfennig pro Flasche, doch diese enthielten zwischen 0,3 und 0,4 Liter, während Hopkos in Fläschchen von lediglich 0,1 Liter verkauft wurde. In Gaststätten – und dort wurde die Masse des Bieres getrunken – lagen die Bierpreise nochmals niedriger. Außerdem verdoppelte sich der Einstiegspreis durch das Flaschenpfand von nochmals zehn Pfennigen. Die Macher ignorierten die damaligen Debatten über das Besitzrecht an gekauften Produkten und ihren Verpackungen. Und man unterstrich mit der oberen wieder und wieder geschalteten Anzeige, dass die kleine Erfrischung einen ganzen Groschen kostete. Bei Monatssalären von vielfach nur 60 bis 100 Mark, bei Frauen stetig weniger, war das eine Hürde, die den Massenabsatz deutlich begrenzte. Zudem waren derartige Nichtalkoholika auch in der Mitte der Gesellschaft vielfach noch nicht eingeführt. Die aufstrebende Hamburger Konsumgenossenschaft „Produktion“ verkaufte 1903 ihren etwa 15.000 Mitgliedern ganze 5186 Liter Saft und keine Limonaden (Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ zu Hamburg. Geschäfts-Bericht für das Fünfte Geschäftsjahr 1903, Hamburg 1904, 29).

Weg vom Alkohol, hin zur Abstinenz: Hopkos als Brückengetränk (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 159 v. 4. April, 8)

Im März/April 1903 gab es weitere Anzeigenmotive – doch ihre Größe (und die Kosten) sank gegenüber den Einführungsmonaten. Man bewarb Hopkos als idealen, als wunderbaren Bierersatz, stellte nun jedoch auch einzelne Vorteile des Getränks besonders hervor. Zugleich positionierte man es noch deutlicher als Temperenzgetränk, als Novität mit einer hohen Mission.

Vermarktung im Schlagschatten der Abstinenz (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 80 v. 4. April, 8)

Die zweite Phase reicht von Mitte April bis Mitte Mai. Den Machern dürfte damals deutlich geworden sein, dass die anvisierten Absatzzahlen kaum zu erreichen waren. Der Inhaber zog daraus Konsequenzen und sattelte auf den marktgängigeren Absatz von Backmischungen um. In dieser Phase dominierten neuerlich Textanzeigen. Im Gegensatz zur Einführungszeit bedienten sie nun jedoch höchst heterogene Themen, verbanden diese mit Hopkos. Parallel zu den Pferderennen in Hamburg Horn war es „ein totsicherer Tip im Kampfe des Lebens, im nimmer rastenden Rennen um die Gesundheit von Geist und Körper“, gleichermaßen geeignet „für Abstinenzler und Biertrinker“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 97 v. 26. März, 24). Man grenzte sich ab von Konkurrenzangeboten, insbesondere zu dem in Hamburg produzierten Apfelpräparat Pomril, bemängelte dessen moderaten Alkoholgehalt, verwies dagegen auf die gutachterlich bestätigte Alkoholfreiheit. Man bettete dies aber auch ein in den Wettstreit der Völker, bei dem sich Zivilität in den Trinksitten manifestiere (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 189 v. 24. April, 12). Hopkos, so die Aussage, erlaube „allen Alkoholgegnern die große Freude, daß sie jetzt Bier trinken dürfen, alkoholfreies Bier; denn Hopkos – der Name ist etwas schwer, und die Zunge macht jedesmal einen Hopser – enthält keinen Alkohol und besteht doch aus Malz und Hopfen“ (Hopkos, Märkischer Sprecher 1903, Nr. 111 v. 13. Mai, 7). Neben derartige redaktionelle Reklamen setzte man aber auch kleine Geschichten, gleichsam literarische Schleichwerbung, versah sie augenzwinkernd mit „Nachdruck erlaubt“: Ein Wagnersänger musste etwa trunken eine Lohengrin-Aufführung abbrechen, die gramgebeugte Gattin fragte einen alten Sanitätsrat um Rat. Nein, die Nerven seien wirklich ein Problem, Lampenfieber müsse bekämpft werden, Gesang und Durst seien eng miteinander verbunden. Einem Künstler Genüsse und Erfrischung zu verwehren sei kontraproduktiv. Nur gut, dass es Hopkos gebe, diese bierähnliche Stärkung aus der Flasche. Und der Sanitätsrat empfahl der Dame, „‚lassen Sie ihren Mann statt Bier nur noch Hopkos trinken. Er wird den Unterschied kaum merken und binnen kurzem der alte sein‘“ (Ewaldo v. Santen, Ein furchtbares Erlebnis, Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 91 v. 19. April, 27). Ja, die Welt war (und ist) einfach: Kaufen, Trinken, Gesunden…

Ein eingeführtes Getränk (Hamburger Echo 1903, Nr. 184 v. 9. August, 6)

Drittens: Nach dem erfolgreichen Umzug nach Uhlenhorst startete die Hopkos-Company dann von Mitte Mai bis Mitte August eine dritte Werbephase. Die Anzeigentaktung nahm neuerlich zu, eingesetzt wurden nun auch vereinzelte visuelle Elemente, etwa den schon oben präsentierten Wegweiser an den neuen Standort. Parallel weiteten sich die Themen, gab es formale Variationen. Hopkos wurde – im bürgerlichen Hamburg! – in vielfältigen Formen zum König der alkoholfreien Getränke gekrönt, erschien als Hilfsmittel gegen Durst und Trunkenheit, diente zugleich dem Kampf gegen „Nervosität, Armut, Zunahme der Verbrechen, Arbeitsscheu, Lebensüberdruss“ (Hamburger Neueste Nachrichten 1903, Nr. 149 v. 28. Juni, 14).

Hopkos als volkswirtschaftlicher Aktivposten, als König aller alkoholfreien Getränke, als Getränk der Getränke (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 321 v. 12. Juli, 8 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 191 v. 16. August, 16)

Neuerlich wurden die Vorteile des idealen Bierersatzes Hopkos aufgelistet und mit Ausrufungszeichen versehen. Es schien, als wolle man mit diesen unten abgebildeten Anzeigen den Verbraucher nochmals aufrütteln, während parallel die Geschäfte immer schlechter liefen. Die Werbesprache blieb appellativ-trotzig: „Das Getränk der Getränke! Hopkos ist nahrhaft, da es aus Hopfen und Malz hergestellt wird, wie Bier. Hopkos ist belebend, wie Wein und kräftigt dabei die Nerven, da es absolut alkoholfrei ist. Hopkos ist erfrischend und blutreinigend und löscht wunderbar das Durstgefühl. Hopkos ist ein wissenschaftlich absolut einwandfreies modernes Getränk für die Tafel, den Hausgebrauch, das Krankenzimmer, die Restauration, den Turn- u. Spielplatz – kurz für alle Welt. […] Prosit!“ (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 191 v. 16. August, 16). Doch die erwünschte Resonanz blieb aus, auch wenn es an ironischer Unterstützung nicht fehlte. Ein abgelehnter Dichter musste lesen: „Ihr ‚Lied eines Wüstlings‘ ist so entsetzlich, daß wir uns nicht zum Abdruck entschließen konnten; einem Redakteur, der das durchlas, mußte sofort mit zwei Flaschen Hopkos wieder auf die Beine geholfen werden“ (Hamburgisches Fremden-Blatt 1903, Nr. 203 v. 30. August, 17).

Ein Getränk für alle (Hamburger Anzeiger 1903, Nr. 174 v. 28. Juli, 5 (l.); Hamburger Echo 1903, Nr. 178 v. 2. August, 4)

Auch in dieser dritten Phase gelang es den Hopkos-Machern nicht, ihr Produkt zielgruppengenau anzudienen, den Ersatzbiergarten für alle zu verlassen: „Für Jung und Alt, Gesunde und Kranke!“ (Hamburgischer Correspondent 1903, Nr. 345 v. 26. Juli, 8). Ein Massengetränk müsse sich auch an die Masse der Konsumenten richten, dürfe nicht ausgrenzen. Dieses Credo mochte vielleicht in den vergleichsweise wohlhabenden, an Mittelstandsnormen und hochwertigen Standardprodukten angepassten Vereinigten Staaten gelten. In der hanseatischen Klassengesellschaft verfehlte eine derartige Werbung tendenziell die Absatzaufgaben. Die Hopkos-Macher adressierten zwar durchaus die „tapferen Frauen der arbeitenden Klasse“, präsentierten Hopkos aber nicht in deren Lebenswelt, sondern als Verbürgerlichungsgetränk, als Bestandteil einer vielfach verhassten fürsorglichen Belagerung just der Chemiker, Ärzte, Lehrer und Sozialpolitiker, die Hopkos warm empfahlen (Hamburger Echo 1903, Nr. 166 v. 19. Juli, 10).

Unterentwickelter Vertriebsweg Gaststätte: Hopkos-Bier und andere Limonaden (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1903, Nr. 172 v. 25. April, 8 (l.); ebd. 1903, Nr. 241 v. 17. Juli, 8)

Überraschend war schließlich, dass Hopkos trotz aller Bemühungen um Akzeptanz der Lebensmittelhändler auf deren eigenständige Werbeunterstützung kaum zählen konnte. Die Hopkos-Werbung erfolgte zentral, nicht dezentral. Das galt selbst für Cafés und Restaurants, auch für die langsam wachsende Zahl der alkoholfreien Gaststätten.

Werbeträchtige Scheindebatten

Die Hopkos-Macher zogen in Hamburg allerdings eine bemerkenswerte Konsequenz aus den Marktauftritten alkoholfreier Konkurrenzprodukte, nicht nur von Methon. Sie inszenierten vermeintliche Angriffe, auf die sie dann souverän öffentlich reagierten. Damit nahm die American German Hopkos Company einerseits den bürokratisch-sachlichen Hinweisen der Untersuchungsämter präventiv Wind aus den Segeln, konnte anderseits aber den Blick der Verbraucher gezielt auf die scheinbar eindeutigen Vorteile von Hopkos lenken.

Volle Breitseite gegen Kritik am neuen Getränk (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 63 v. 15. März, 15)

Anlass einer ganzseitigen „Zur Abwehr!“ übertitelten Anzeige war einerseits ein öffentlich kontrovers diskutiertes Anti-Alkoholpamphlet des Hamburger Richters Hermann Martin Popert (1871-1932), anderseits die Abwehr von nicht näher spezifizierten Vorwürfen, Hopkos sei nicht alkoholfrei. Popert hatte die negativen Auswirkungen aller Alkoholika beredt beschworen, ließ dabei das Bier nicht aus: „Vor allen Dingen sind die Brauereien und die Bierwirtschaften nicht minder Ausstrahlungspunkte schwerer nationaler Schädigung, als die Brennereien von Trinkbranntwein oder die Keller der Branntweinwirte“ (Hermann M. Popert, Hamburg und der Alkohol, Hamburg 1903, 49). Der Autor war eine schillernde Persönlichkeit, jüdischstämmiger Jurist, Schriftsteller, liberaler Bürgerschaftsabgeordneter und Guttempler. Mit seinem 1910 erschienen Erfolgsroman „Helmut Harringa“ veröffentlichte er einen Schlüsseltext der antimodernen und rassistischen Lebensreform (Kai Detlev Sievers, Antialkoholismus und Völkische Bewegung. Hermann Poperts Roman Helmut Harringa, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29, 2004, 29-54). Popert schlug präzise Maßnahmen zur Austrocknung der Alkoholwirtschaft in Hamburg vor, darunter auch die öffentliche Förderung alkoholfreier Wirtschaften. Nichtalkoholika waren für ihn Garanten einer Umkehr von allgemeiner Entartung. Ein alkoholdürstendes Volk sei nicht in der Lage Weltgeltung und „Deutsche Seeherrschaft“ (Ebd., 51) zu erlangen.

Hopkos wurde nicht erwähnt, doch Poperts Aussagen konnten dem Absatz nur förderlich sein. Entsprechend lobte der Anbieter das Produkt als „vollgültiger Ersatz des Bieres […]. Hopkos besitzt alle Vorzüge eines guten, nahrhaften Bieres und keinen seiner Nachteile“. Es sei ein „Temperenzgetränk par excellence“, ignoriere auch nicht die auch von Popert propagierte Lebensfreude. Mäßige hatten dieses Recht eingefordert, verteidigten es in der intensiv geführten öffentlichen Debatte, da Alkoholtrinker ohne Pragmatismus nicht zu gewinnen seien ([Theodor] Deneke, Dr. H. Poperts Buch „Hamburg und der Alkohol“, Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 59 v. 11. März, 13). Hopkos wurde in diesen Scharmützeln nicht erwähnt, nicht als Hilfsmittel der Umkehr benannt. Die Anzeige sollte das Getränk propagieren, entsprechend erfand die Firma nicht näher bezeichnete schädigende „Ausstreuungen“. Das bewirkte sarkastische Antworten: Forderungen eines Guttemplers nach Zwangsmitgliedschaft von Arbeitern in dieser, gerade in Hamburg wichtigsten Abstinentenvereinigung konterte ein sozialdemokratischer Redakteur übersteigernd: „Natürlich! Und zugleich sollte man ihm die Verpflichtung auferlegen, täglich mindestens fünf Liter Pomril oder Hopkos zu konsumiren“ (Hamburg und der Alkohol, Hamburger Echo 1903, Nr. 65 v. 18. März, 5).

Nachgelegt: Hopkos als alkoholfreies Substitut für Bier (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 71 v. 25. März, 24)

Derartiger Spott missfiel den Hopkos-Machern, eine weitere ganzseitige Stellungnahme folgte. Neuerlich sprach man dunkel von Schmähbriefen und Hohn. Dagegen erhob man sich wacker, betonte Wohlgeschmack und Alkoholfreiheit des Hopkos, präsentierte die Ergebnisse des bestätigenden Gutachtens des eigenen Mitarbeiters Carl Enoch. Und es folgte eine Eloge auf den „Bierersatz ersten Ranges“, billig und zukunftsträchtig. So brachte die Firmenleitung ihr Getränk in die Diskussion – zu allerdings hohen Kosten: Die beiden Inserate im Fremden-Blatt kosteten 316,80 Mark; und sie wurden auch in den günstigeren Hamburger Nachrichten veröffentlicht (Hamburger Fremden-Blatt 1903, Nr. 74 v. 28. März, 17). Wie sehr es in dieser Debatte allein um Publizität ging, unterstrichen zwei gleichartige, mehr als drei Monate später mit anderen Einleitungen versehene Anzeigen der Frankfurter Hopkos-Gesellschaft (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 177 v. 28. Juni, 4. Morgenbl., 4; ebd. , Nr. 174 v. 25. Juni, 3. Morgenbl. 3). Pseudodebatten und erfundene Niedertracht gehörten zur Präsentation von Hopkos.

Verdammung durch die Brauwirtschaft

Empörung über derartige Machenschaften ist kaum angebracht, denn solches Gebaren gehörte zum wirtschaftlichen Wettbewerb. Plagiatsvorwürfe durchzogen damals die Gazetten, Verfahren wurden vielfach angestrengt, um Strafbefehle von zehn, fünfzig, hundert Mark öffentlich annoncieren zu können, um die eigene Ehrsamkeit und Rechtschaffenheit dann angemessen zu beleuchten. Die American German Hopkos-Company schwieg allerdings ihre profunden Kritiker öffentlich tot, schuf also lediglich eine Werbewelt eigener Qualität. Das betraf die Analysen und Rückfragen der Untersuchungsämter, das betraf aber vor allem die Kritik der Brauer, die am vermeintlichen Bierersatz Hopkos kein gutes Haar ließen.

Deutsche und böhmische Fachzeitschriften berichteten anfangs durchaus sachlich über die neu gegründete Hamburger Gesellschaft, um dann gleich in die Hörner der Abwehr und Verdächtigung zu stoßen: „Wieder einmal ein Ersatz für Bier! Es wäre wahrlich höchste Zeit, daß sich die Sanitätsbehörden mit derlei problematischen Erzeugnissen etwas eingehender befassen sollten, als dies bisher der Fall gewesen“ (Alkoholfreier Schwindel, Gambrinus 30, 1903, 193; Hopkos, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 26, 1903, 291). Die Einlassungen der Brauwirtschaft spiegelten die vielgestaltigen Verwerfungen des Fin de Sieclé, verteidigte sie mit dem Bier doch nicht nur ihr eigenes Geschäft, sondern zugleich das tradierte Leben vor den Herausforderungen einer rasch vorwärtsdringenden Moderne. Die Kritik war vielfach zutreffend, seitens der sich in den Jahrzehnten zuvor grundstürzend modernisierten Brauwirtschaft aber doch überraschend und selbstblind. Die Antialkoholbewegung wurde nicht als Resultat verbesserter physiologischer und medizinischer Kenntnisse verstanden und ernstgenommen, sondern als eine aus dem Norden nach Süden vordringende utopisch-kreischende Bewegung, deren Vertreter man eigentlich, wie die Vegetarier, als Sonderlinge ignorieren müsse. Produkte wie Hopkos hätten dies jedoch verändert, „die nur schlecht eingewurzelte, künstlich genährte Pflanze treibt nämlich giftige Blüten mit hochtönenden Namen, gar wundersam anzusehen.“ Hopkos verkünde lautstark, gesünder als Bier zu sein, dieses verdrängen zu können. „Diese in echt amerikanischer Manier veröffentlichte Reklame ist offenbar ein Attentat auf die Leichtgläubigkeit des Volkes, und es ist nun unsere Pflicht, in dieser Angelegenheit ein offenes fachmännisches Wort zu sprechen, damit nicht tausende von Personen, welche das gedruckte Wort als ein Evangelium betrachten, diesem Humbug zum Opfer fallen.“ das tradierte Gute stand dem anmaßenden Neuen gegenüber: „Das tatsächlich aus Hopfen und Malz erzeugte Bier, das seit Jahrhunderten von aller Welt getrunken und verehrt wurde, ist zum Kampfobjekt der Abstinenzler geworden, das ‚Hopkos‘ aber, ein auf chemischem Wege erzeugtes Getränk, das niemals aus Malz und Hopfen erzeugt sein kann, dieses Getränk also, das der Gesundheit kaum zuträglich sein kann, wird dem Volke als Genußmittel angepriesen! Eine große Gesellschaft mit bedeutenden Mitteln konstituiert sich, die Behörden geben auch noch ein Patent auf dieses Produkt, Agenten durchziehen das Reich und machen Proselyten und das Volk, welches sich zum Genuß des ‚Hopkos‘ verleiten läßt, wird geschädigt, den Vorteil einzig und allein haben die ausländischen Unternehmer, die ‚Hopkos‘-Company, welche sich mit den im Schweiße seines Angesichtes verdienenden Hellern des Arbeiters die Tasche füllen und schließlich, wenn das Volk zur Einsicht gekommen sein wird – liquidieren.“ Die Untersuchungsbehörden müssten einschreiten, denn letztlich würden solche Unternehmen den monarchischen Staat, die mittelständische Gesellschaft unterminieren. „Geradezu frech“ sei es zudem, dass derartige Produkte von Wissenschaftlern verteidigt würden. Als Sachwalter des Gemeinwohls müsse die Brauwirtschaft daher „das Volk eindringlich vor dem Genusse eines Getränkes, das bisher unbekannt war und es noch ist“ warnen (Zitate n. Ein Appell an die Sanitätsbehörden, Gambrinus 30, 1903, 704-705). Antiamerikanismus, Antikapitalismus, Ideen eines einheitlichen Volkskörpers, einer einheitlichen Wissenschaft, Vorstellungen von Überfremdung und Angst vor der Innovationsflut der Moderne; all dies findet sich hier, hatte über die damalige Mittelstandsbewegung auch beträchtliche politische Auswirkungen. Die Abwehr von Hopkos ging weit über das Trinken oder Nicht-Trinken einer trügerisch beworbenen Getränkeinnovation hinaus. Hopkos war auch Projektionsfläche vielfach nicht erwünschter, gleichwohl kaum zu stoppender Veränderungen des Alltagslebens, der Kommerzialisierung zumindest des urbanen Alltags.

Beschwörung des Alten: Selbstdarstellung der Münchener Braukunst 1905 (Münchener Bier-Chronik 1905, Ausg. v. 1. September, 1)

Entsprechend wurden die neuen alkoholfreien Getränke nicht distanziert analysiert, auch die damit verbundenen eigenen Marktchancen außer Acht gelassen: Es hieß, „die Fabrikanten der alkoholfreien Getränke treiben ein gefährliches Spiel mit ihren Anpreisungen von chemischen Produkten“ (Alkoholfrei, Gambrinus 30, 1903, 830, auch zum Folgenden). Immer wieder forderten die Brauereivertreter das scharfe Schwert der Wissenschaft, forderten Enthauptungsschläge gegen die Konkurrenz. Sie ignorierten, dass die neuen Produkte zumeist nicht gesundheitsschädlich – und wirtschaftliche Schädigungen kaum nachweisbar waren. Sie warnten vor zeittypischen Getränken, etwa Ceres-Fruchtsäften, Bilz-Brause und eben auch Hopkos, während sie die Gründe für den im Deutschen Reich seit 1900 zurückgehenden Bierkonsum nur unwillig in den Blick nahmen. Die Kritik am Neuen sollte die Reihen schließen und führte zu einer Wagenburgmentalität der Branche, die apodiktisch verteidigte statt sich zu verändern. Typisch dafür war das unausgesprochene Verbot als Brauer „alkoholfreie Biere“ zu produzieren und anzubieten. Das veränderte sich langsam, Trinkmit der Bochumer Schlegel-Brauerei war später eine seltene und doch zukunftsweisende Ausnahme.

Die Kritik der Brauer an Hopkos und ähnlichen Getränkeinnovationen unterstrich aber auch die beginnende Stagnation des Braugewerbes, dessen Symbol die rechtlich verbindliche Festschreibung des Reinheitsgebotes im gesamten deutschen Braugebiet 1906 war. Man wetterte gegen die „Abstinenzfanatiker“ (Cluss, Die wichtigsten Gesichtspunkte der Alkoholfrage vom Standpunkte der Mässigkeit. II, in: Letter on Brewing 6, 1906, 80-99, hier 91), gegen ihre unanständige Propaganda, ihre steten Unwahrheiten und Übertreibungen. Die neuen Getränke, „dargeboten unter sprechenden Phantasienamen wie „‚Methon‘, ‚Hopkos‘, ‚Pomril‘, ‚Kaiserperle‘, ‚Edelblume‘ u.s.w.“ (Ebd., 95), lehnten sie sämtlich ab, verwiesen auf das gute altbewährte Bier mit seinem nur geringen Alkoholgehalt. Anbieter wie die Hopkos-Company – aber auch die Brauer folgten den eigenen Narrativen, blickten nicht über den Glasrand hinweg (vgl. Birgit Speckle, Streit ums Bier in Bayern. Wertvorstellungen um Reinheit, Gemeinschaft und Tradition, Münster 2001, 197-206). Diese allseits bestehende Ignoranz gegenüber konfligierenden Ansprüchen begünstigte in den USA den Weg in die Prohibition, die sich die erfolgsverwöhnten Brauer letztlich nicht vorstellen konnten, gegen die sie zu spät aufbegehrten (Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010, 11-50). Die wechselseitigen Attacken von Brauern und Anbietern neuartiger Nichtalkoholika führten auch in Deutschland zu einer Versäulung der jeweiligen Vorstellungen vom richtigen und falschen Trinken.

Nationale Expansion: Hopkos-Lizenznehmer im Deutschen Reich

Die seit spätestens Februar 1903 laufenden Bemühungen um Franchisenehmer hatten im Deutschen Reich nur gegrenzten Erfolg. Die Hamburger Hopkos-Zentrale lieferte zwar Maschinen, Extrakte und Werbevorlagen, erlaubte vor Ort durchaus eigenständige Marketingmaßnahmen, doch die Verträge engten die lokalen Aktivitäten auch ein, wurden lokale Besonderheiten doch kaum berücksichtigt. Insbesondere der reichsweit einheitliche Verkaufspreis war zu hoch, schon für eine einkommensstarken Standort wie Hamburg, gewiss aber für wirtschaftlich schwächere Regionen. Auch gleichartige Werbung war im regional heterogenen deutschen Föderalstaat nicht immer ein Vorteil. Unser kurzer Überblick wird sich daher vor allem auf lokale Besonderheiten und das für ein Franchise-Geschäft typische Spannungsgefüge zwischen Lizenzgeber und -nehmer konzentrieren. Drei Beispiele also, Frankfurt a.M./Wiesbaden, Berlin und Ennigerloh, zudem ein Memento zu Beginn.

Eine Leipziger Gesellschaft wurde aller Wahrscheinlichkeit schon im Februar 1903 vertraglich vorbereitet, doch sie entfaltete vor Ort kaum Wirkung (Leipziger Tageblatt 1903, Nr. 96 v. 22. Februar, 1356). Die Bremer American German Hopkos Company wurde am 14. Mai 1903 mit einem Stammkapital von 30.000 M gegründet, das im März 1904 gar auf 39.000 M erhöht wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 117 v. 19. Mai, 13; ebd. 1904, Nr. 73 v. 25. März, 29). Die Gesellschaft bemühte sich neben dem Kerngeschäft um die Etablierung von Filialen im Großherzogtum Oldenburg (Nachrichten für Stadt und Land 1903, Nr. 164 v. 16. Juli, 4; Jeversches Wochenblatt 1903, Nr. 195 v. 21. August, 3). Der Erfolg blieb aus, die Firma wurde am 4. April 1904 aufgelöst, erlosch nach erfolgreicher Liquidation im Januar 1907 (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 104 v. 3. Mai, 25; ebd. 1907, Nr. 31 v. 2. Februar, 20).

Das erste Beispiel führt uns nach Frankfurt a. M. und die benachbarte Kur- und Residenzstadt Wiesbaden. Als Handelsstadt mit Hafen und rasch wachsender Industrie war die frühere Freie Hansestadt mit Hamburg durchaus vergleichbar. Die American German Hopkos Company W. & P. Foucar begann am 15. April 1903, Gesellschafter waren der Kaufmann Wilhelm Foucar und seine Gattin Paula (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 111 v. 12. Mai, 27). Wilhelm Foucar hatte zusammen mit seinem Bruder 1900 die zuvor von seinem Vater Heinrich Wilhelm Foucar, einem seit 1870 in der Rheinprovinz tätigen Kaufmann, geführte Firma Foucar & Bender in eine neue Handelsgesellschaft überführt (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 175 v. 27. Juli, 7; ebd. 1900, Nr. 38 v. 10. Februar, 15). Für das noch junge Ehepaar schien Hopkos eine Chance der Emanzipation vom Familienverband und eine selbstbestimmte Zukunft zu sein.

Tagesproduktion 12.500 Flaschen, Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 132 v. 13. Mai, 1. Morgenbl., 4)

Die Foucars übernahmen Technik, Grundstoffe und Flaschen aus Hamburg, setzen aber von Beginn an eigene Akzente in der Werbung. Die Charakteristika wurden dem Publikum zwar ebenso eingehämmert, doch die Werbeklischees von Beginn an variiert (Frankfurter Israelitisches Familienblatt 1, 1902/03, Nr. 28, 8). Dicke Ränder sorgten in der werblich eher rückständigen Frankfurter Zeitung für besondere Aufmerksamkeit, zudem informierte man aus Renommeegründen genauer über den Geschäftsgang. 12.500 Flaschen Hopkos sollen Anfang Mai produziert worden sein, ein beachtlicher Wert auch für eine Metropole mit mehr als 300.000 Einwohnern und einem dicht besiedelten Umfeld. Die Frankfurter Dependance listete zudem mehrfach die Hopkos-Niederlagen auf, Läden also, in denen man den Bierersatz sicher kaufen konnte. Schon im Mai standen unter den Anzeigen 89 Adressen, darunter auch der aufstrebende Lebensmittelfilialist Jakob Latscha. Parallel hatte man früh fünf Generaldepots in Hanau, Cronberg, Oberursel, Hofheim und Darmstadt eingerichtet (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4). Die Firma expandierte auch weiter gen Norden, etwa nach Gießen (Gießener Anzeiger 1903, Nr. 117 v. 20. Mai, 4).

Ein alkoholfreies Getränk in kleinen Bierflaschen – gleichwohl ein großes Kampfmittel gegen Siechtum und Tod (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 155 v. 6. Juni, 3. Morgenbl., 4 (l.); ebd., Nr. 136 v. 17. Mai, 1. Morgenbl., 4)

Selbstbewusst schuf das Ehepaar Foucar eigene Werbemittel, führte Hopkos damit den Kunden genauer vor Augen, griff in Illustrierten und Karikaturzeitschriften schon länger übliche Werbetrends auf. Selbstbewusst zettelte das Duo auch Scheinfehden an, um Hopkos in der Öffentlichkeit als hochwertiges, wohlschmeckendes und vor allem alkoholfreies Getränk zu etablieren (Frankfurter Zeitung 1903, Nr. 174 v. 25. Mai, 3. Morgenbl., 3; ebd., Nr. 177 v. 28. Juni, 4. Morgenbl., 4).

Produktdiversifizierung als Grundlage für höhere Krisenfestigkeit (Neues Adressbuch für Frankfurt am Main und Umgebung 1904, T. III, 2 (l.); ebd., T. I, 28)

Die American German Hopkos Company W. & P. Foucar offerierte neben dem Bierersatz eine breitere Palette alkoholfreier Getränke, darunter das Kunstgetränk Calvella, Ersatz des am Main so wichtigen Apfelmosts. Entsprechend glaubte man sich von dem Konkurs der Hamburger Zentrale abkoppeln zu können, versprach nicht nur von Hopkos, sondern auch die „künstlichen Mineralwässern und Limonaden“ weiterproduzieren zu wollen (Ebd. 1904, Nr. 77 v. 17. März, 1. Morgenbl., 3). Gleichwohl musste das Frankfurter Franchise-Unternehmen kurz darauf Konkurs anmelden und wurde am 24. Januar 1905 aufgelöst (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 30 v. 3. Februar, 14). Das Ehepaar Foucar verschwand, war im August 1905 nicht mehr greifbar, als die Berliner Annoncenexpedition Haasenstein & Vogler versuchte, ausstehende Insertionszahlungen in Höhe von 2.283,77 Mark einzuklagen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 197 v. 22. August, 6).

Die Dezentralisierung des Hopkos-Lizenzgeschäftes wurde von den Foucars konsequent vorangetrieben, Hopkos war im zentralhessischen Raum allseits präsent. Wiesbaden, die Hauptstadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau, wurde dem alteingesessen Handelsunternehmen Carl Doetsch übertragen, das 1879 vom gleichnamigen Weinhändler gegründet, 1889 aber an neue Eigentümer verkauft worden war (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 46 v. 22. Februar, 6; ebd. 1889, Nr. 58 v. 28. Februar, 13). Auch in Wiesbaden griff man auf die Hamburger Werbevorlagen zurück, veränderte sie aber mit Regionalbezug. Der ‚Dorscht‘ der Hessen wurde beschworen, die hohen Preise des lokalen Apfelweins beklagt, das vermeintlich amerikanische Hopkos gepriesen. Man reduzierte den Hopkos-Preis in Gaststätten auf fünfzehn Pfennig, fünf Pfennig niedriger als andernorts (Ein billiges, nahrhaftes und erfrischendes Getränk, Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 292 v. 27. Juni, Morgenausg., 3). Einheimische und auch Touristen durften Hopkos vor Ort kostenlos probieren, Koppeleffekte auf andere Orte wurden erhofft (Wiesbadener Streifzüge, Wiesbadener General-Anzeiger 1903, Nr. 160 v. 12. Juli, 1).

Einführung in Wiesbaden mit Proben (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 280 v. 19. Juni, Abendausg., 7)

In Wiesbaden war die Werbung variantenreich, doch es blieb zumeist bei gestalteten Textanzeigen, die regelmäßig die lokalen Hopkos-Händler auflisteten. Wurden Ende Juni zwanzig Namen genannt, waren es Anfang Juli schon 93, Anfang August schließlich 109 Niederlagen (Wiesbadener General-Anzeiger 1903, Nr. 144 v. 25. Juni, 7; ebd., Nr. 156 v. 8. Juli, 6; ebd., Nr. 177 v. 1. August, 5). Hinzu kamen Anfang Juli gezielte Hinweise auf immerhin zwölf „Ausschänkstätten“ (Wiesbadener Bade-Blatt 1903, Nr. 182 v. 2. Juli, 34). Das galt auch für übliche Cafés und Gaststätten, nicht nur für das alkoholfreie Restaurant „Zur Gesundheit“ (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 561 v. 2. Dezember, Morgenausg. 12).

Aufbau eines lokalen Vertriebsnetzes in Wiesbaden (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 286 v. 23. Juni, Abendausg. 10)

Die zeitlich begrenzte Vertretung von Hopkos war für das Wiesbadener Generaldepot Carl Doetsch wahrscheinlich erfolgreich. Die Großhandelsfirma belieferte ihre Kunden mit einer ganzen Palette alkoholfreier Markenartikel und auch eigener Handelsmarken (Wiesbadner General-Anzeiger 1904, Nr. 19 v. 23. Januar, 7). Hopkos war im Vergleich zu anderen Reformwaren relativ billig, ein Einstiegprodukt für solvente Interessenten. In Wiesbaden wurde es bis Mitte 1904 verkauft (Wiesbadener General-Anzeiger 1904, Nr. 56 v. 6. März, 6: ebd. Nr. 113 v. 15. Mai, 5; ebd., Nr. 167 v. 20. Juli, 12).

Das zweite Beispiel führt uns nach Berlin, gewinnen wir dort doch nähere Informationen über die Vertragsverhältnisse, die Größe der dezentralen Betriebe und die bisher ja völlig ausgeblendeten Beschäftigungsverhältnisse. Die Berliner Hopkos-Gesellschaft mit beschränkter Haftung wurde relativ spät gegründet (Volks-Zeitung 1903, Nr. 300 v. 30. Juni, 3). Der Etablierung am 27. Juni 1903 waren jedoch lange Verhandlungen vorausgegangen, ging es doch um „den Kauf einer Fabrikanlage mit Maschinen und Zubehör und die Lizenz, betreffend die ausschließliche Herstellung und den ausschließlichen Vertrieb des ‚Hopkosgetränkes‘ für den gesamten Postbezirk Berlin (Berliner Börsen-Zeitung 1903, Nr. 304 v. 2. Juli, 21). Die Verhandlungen hatten im Februar mit einem Vorvertrag begonnen, ein Zessionsvertrag vom April regelte Kreditlinien und Anteilsrechte der Hamburger Zentrale. Das Stammkapital lag schließlich bei 120.000 M, die Geschäftsführung teilten sich der Schöneberger Kaufmann Wolf Cohn und der Berliner Ingenieur Johannes Brandes (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 154 v. 3. Juli, 13). Rasch zeigten sich Friktionen, die Geschäftsführung wurde bereits nach knapp zwei Wochen ausgetauscht (Ebd., Nr. 164 v. 15. Juli, 10).

Übernahme und Variation Hamburger Werbeklischees in der Reichshauptstadt (Vorwärts 1903, Nr. 119 v. 24. Mai, 14 (l.); ebd., Nr. 125 v. 31. Mai, 13)

Auch in Berlin war Hopkos zeitweilig breit präsent, konnte etwa in den ca. 300 Filialen der Likörfabrik, Weingroßhandlung, Fruchtsaftpresserei, Mineralwasser- und Schaumwein-Fabrik Hermann Meyer & Co. gekauft werden (Vorwärts 1903, Nr. 125 v. 31. Mai, 133). Ähnliches galt für die in Berlin besonders wichtigen Flaschenbiergroßhandlungen. Das Geschäft wurde allerdings durch ein behördliches Verkaufsverbot vom 20. Oktober bis 28. November 1903 begrenzt (Berliner Börsen-Zeitung 1903, Nr. 557 v. 28. November, 14). Ende Januar 1904 konnte man die Groß-Berliner Lizenz und den Maschinenpark dann „unter coulanten Bedingungen“ erwerben (Berliner Tageblatt 1904, Nr. 51 v. 29. Januar, 11). Es folgte die Zahlungseinstellung und am 12. April 1906 schließlich die Löschung der Berliner Hopkos-Gesellschaft (Berliner Börsen-Zeitung 1906, Nr. 179 v. 18. April, 14).

Die im Herbst 1903 auch öffentlich diskutierte Absatzkrise erlaubt genauere Einblicke in den Geschäftsgang. Die in der Chausseestraße 3 gelegene Hopkos-Fabrik beschäftigte anfangs etwa fünfzehn Arbeiter und sieben Kutscher. „Da das Unternehmen aber finanziell sehr schlecht fundiert war und das Fabrikat auch nicht genügend Abnehmer fand, verkrachte die Gesellschaft bereits nach einigen Monaten. Der Konkurs wurde zwar angemeldet, doch wegen Mangel an Masse zurückgewiesen. Schon während der ersten Monate war das Personal verringert worden, so daß zuletzt noch zwei Kutscher, drei Kellerarbeiter und eine Buchhalterin verblieben“ (Vorwärts 1903, Nr. 240 v. 14. Oktober, 9). Lohn wurde keiner mehr gezahlt, die Ansprüche addierten sich. Doch die komplexen Vertragsverhältnisse erschwerten den Regress, derweil beträchtliche Teile des Inventars verkauft wurden. Dem Rechtsanwalt der Arbeiter gelang es, die maschinelle Grundausstattung vor dem Verkauf zu retten. Dennoch bekamen seine Mandanten ihre zwischen 75 und 300 Mark liegenden Forderungen nicht erstattet, da es vorrangige Mietschulden gab. Die öffentlich angegriffene Berliner Hopkos-Gesellschaft verwies den sozialdemokratischen Vorwärts auf die bestehende Rechtslage. Der Zessionsvertrag begünstige einige Gläubiger, auch Zugriffsrechte der Hamburger Zentrale unterbänden die Lohnzahlung an die Beschäftigten (Vorwärts 1903, Nr. 251 v. 27. Oktober, 10-11). Das sind bis heute vielfach typische Folgen eines auf Franchise aufbauenden Geschäftsmodells. Deutlich wird aber auch, dass der Berliner Lizenznehmer – und gewiss nicht nur dieser – seit Spätsommer 1903 vornehmlich abwickelte. Hopkos scheiterte rasch, an fehlendem Betriebskapital, vor allem aber am fehlenden Absatz. Die anfangs ausgegebenen „Rentabilitäts-Nachweise“ trogen, gründeten auf illusionären Erwartungen.

Das dritte Beispiel führt uns von der Reichshauptstadt in die westfälische Provinz, nach Ennigerloh, einer landwirtschaftlich geprägten Gemeinde mit etwa 1.500 Einwohnern. Es erlaubt einerseits Einblicke in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Lizenznehmer, unterstreicht anderseits die trotz Verträgen nicht unbeträchtliche unternehmerische Freiheit fernab der Zentrale in Hamburg.

Bierersatzwerbung im Münsterland und in Ostfalen (Die Glocke 1903, Nr. 106 v. 9. Mai, 3 (l.); Bielefelder Volks-Zeitung 1903, Nr. 128 v. 6. Juni, 8)

Die American-German ‚Hopkos‘ Company Badde & Schlemann in Ennigerloh hatte bereits am 1. April 1904 ihren Betrieb aufgenommen (Münsterischer Anzeiger 1903, Nr. 253 v. 1. Mai, 3). Die treibende Kraft war der als Prokurist fungierende Heinrich Schlemann. Er war ehedem Landwirt, seit 1900 Mitinhaber eines lokalen Wasserkalkwerks (Bielefelder Volks-Zeitung 1900, Nr. 79 v. 3. April, 5). Der Betrieb scheiterte, über das Vermögen Schlemanns wurde 1902 der Konkurs eröffnet, 1905 schließlich aufgehoben (Ebd. 1902, Nr. v. 20. Mai, 4; ebd. 1904, Nr. 52 v. 4. März, 3; Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 44 v. 20. Februar, 42). Der lokale Absatz des alkoholfreien Bieres verlief in den gängigen Bahnen, Hopkos-Klischees buhlten in der westfälischen Provinz um Käufe. Der Absatz dürfte überschaubar gewesen sein.

Doch Schlemann sah, ebenso wie zuvor Konstantin Delpy in Hamburg, im Hopkos-Konkurs eine Chance. Er gründete im September 1904 mit Hilfe seiner Frau Anna die Mineralwasserfabrik Dr. Tietzsch u. Schlemann (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 264 v. 8. November 1904, 29). Sie produzierte das von Carl Enoch entwickelte, von der Hopkos-Gesellschaft vermarktete Erfrischungsgetränk Calvina und das neu kreierte Mineralwasser Heinrichs-Sprudel, ein mit Kohlensäure angereicherten Trinkwasser. Die Geschäftsidee war, die „teueren natürlichen Mineralwässer“ durch „ein billiges Tafelwasser“ zu ersetzen; ein Geschäft, das heutzutage Groß- und Handelskonzernen hohe Gewinne sichert (Bielefelder Volks-Zeitung 1904, Nr. 266 v. 19. November, 12).

Angebote über Bande: Calvina, Mineralwasser und Alkoholika (Die Glocke 1904, Nr. 243 v. 21. Oktober, 4)

Nach dem beendeten Konkurs und dem Selbstmord des Kompagnons Rudolf Tietzsch, der, „ein bedauernswerter Mann ohne sittlichen Halt“, zuvor in Berlin die „letzten Reste seines Vermögens durchgebracht hatte“ (Bielefelder Volks-Zeitung 1905, Nr. 96 v. 27. April, 2) gründete der wieder voll handlungsfähige Heinrich Schlemann im August 1905 die Schlemann & Co. GmbH. Mit einem Stammkapital von 21.000 Mark produzierte sie, wie die Internationale Hopkos-Gesellschaft, alkoholfreie Fruchtextrakte und weitere alkoholfreie Getränke.

Fortsetzung Calvinas unter neuem Namen und neuer Flagge (Warenzeichenblatt 1906, 51)

Schlemanns Kalvina war eine eingedeutschte Reminiszenz an die American German Hopkos Company, in dessen im August 1905 beantragten Warenzeichen der Adler nunmehr allein die deutsche Fahne in seinen Klauen hielt. Es ist unklar, wie lange dieses alkoholfreie Erfrischungsgetränk in der westfälischen Provinz verkauft wurde. Die Ennigloher American-German Hopkos Company erlosch jedenfalls am 10. Januar 1909 (Bielefelder Volks-Zeitung 1909, Nr. 12 v. 16. Januar, 4). Sie war der letzte noch bestehende deutsche Lizenznehmer der einstmals verheißungsvoll gestarteten Hamburger Hopkos-Zentrale. Schlemann arbeitete anschließend wohl als Landwirt resp. im lokalen Hotel seines Bruders und nach dem Krieg unter anderem als Repräsentant einer Weinfirma (Die Glocke 1922, Nr. 17 v. 21. Januar, 5). Die schnelle Mark dürfte er nicht gemacht haben, auch wenn er auf die Disruptionen seines Umfeldes professionell reagiert hatte.

Weltgeschäft: Hopkos in Auslandsmärkten

Weltgeschäft… Dieser Begriff ist bei Franchiseunternehmen wie Hopkos eigentlich immer mitzudenken, selbst im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus. Es galt ein erfolgreiches Modell zu etablieren, dieses dann wieder und wieder zu reproduzieren. Franchiseunternehmen sind Spekulationen auf geringe Unterschiede im Konsumverhalten großer Konsumentengruppen. Die Macher sahen Hopkos als einen innovativen Traditionsbrecher, der länderübergreifend Erfolg haben würde. In der Tat gelang der Verkauf von Hopkos-Lizenzen auch außerhalb des Deutschen Reiches. Hopkos repräsentierte in allerdings gebrochener Weise den für viele Nahrungsmittelbranchen typischen Erfolg deutscher Grundstoffe und Maschinen (Manz und Spiekermann, Making Food Empires, Oxford 2026 (i.E.)). In den meisten anvisierten Ländern scheiterte Hopkos jedoch.

Der Blick über die Grenzen lehrt erst einmal, dass das seit 1900 geschützte Warenzeichen schon vor dem Ankauf der Rechte durch die American German Hopkos Company genutzt wurde. 1901 wurde die Ausfuhr von „Hopkos (Ersatz für Weizen-Malz-Bier)“ nach Russland offiziell genehmigt (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 275 v. 19. November, 6; Deutsches Handels-Archiv 1902, 54). 1902 konnte man es durch den Zürcher Unternehmer Albert Bruhin beziehen. Er gehörte zu den Pionieren der Produktion alkoholfreien Bieres in der Schweiz, verkaufte seine Schweizerische Fabrik zur Herstellung alkoholfreier kohlensäurehaltiger Getränke jedoch bereits im Folgejahr (Der Freisinnige 1903, Nr. 75 v. 1. Juli, 4).

Frühe Präsenz in der Schweiz (Neue Zürcher Zeitung 1902, Nr. 300 v. 29. Oktober, 7)

Im wichtigsten europäischen Markt, in Großbritannien, wurde keine Hopkos-Vertriebs-Gesellschaft gegründet, der Bierersatz lediglich als eine „new alcohol-free popular drink“ (The National Druggist 35, 1905, 275) wahrgenommen. Die Hamburger Hopkos-Company plante dagegen die Expansion nach Frankreich. Schon am 6. April 1903 erhielt sie ein fünfzehnjähriges Patent für Flaschenabfülleinrichtung mit vorgelagerter Mischung von Fruchtsirup und kohlensäurehaltigen Flüssigkeiten (Bulletin des Lois de le République Francaise 69, 1904, 428). Über die Nutzung dieses Patents Nr. 330.953 ist allerdings nichts bekannt (Brevet d’Invention 1903, Nr. 14, s.p.). In dem damals noch in Personalunion mit Norwegen vereinten Schweden, einem Kernland der Temperenzbewegung, bemühte sich die Hopkos-Gesellschaft um Franchisenehmer, lud Interessenten jedoch vergeblich zu persönlichen Verhandlungen nach Stockholm ein (Stockholms Dagblad 1903, Nr. 179 v. 7. Juli, 8). Erfolg hatte die Hamburger Firma jedoch im russischen und österreichisch-ungarischen Reich.

Erfolglose Werbereise zur Etablierung von Hopkos in Schweden – erfolgreiche Investorensuche in Budapest (Dagens Nyheter 1903, Nr. 11938 v. 7. Juli, 4; Pester Lloyd 1903, Nr. 124 v. 26. Mai, 4)

Nachdem die Investorensuche im cisleithanischen Österreich ohne Erfolg geblieben war, entstand im August 1903 in Budapest die Continental-Hopkos-Company, vermeintlich aufgrund der „in den letzten Wochen in massenhafter Weise aus allen europäischen und überseeischen Ländern an uns gelangten Aufträge zur Errichtung von Anlagen zur Hopkoserzeugung“ (Neue Freie Presse 1903, Nr. 13999 v. 18. August, 19). Sie sollte das Geschäft in Ungarn, Österreich und dem Orient organisieren.

Budapest als Standort der geplanten weiteren europäischen Expansion von Hopkos (Pester Lloyd 1903, Nr. 197 v. 16. August, 3)

Am Standort Budapest waren Lizenzen zu vergeben, wurden offiziell Extrakte und Maschinen gefertigt (Die Zeit 1903, Nr. 317 v. 18. August, 13). Die dortige Werbesprache lehnte sich an die deutschen Vorlagen an, propagierte das in Flaschen zu je vierzehn Heller erhältliche Erfrischungsgetränk aber auch als ein stärkendes „Heilgetränk“ für Sanatorien und Krankenhäuser (Pester Lloyd 1903, Nr. 235 v. 30. September, 13). Der Aufbau des Geschäfts erfolgte langsam, erst im Frühjahr 1905 bemühte man sich via Anzeige um kapitalkräftige Lizenznehmer in der Habsburgischen Monarchie (Kärtner Zeitung 1905, Nr. 40 v. 7. April, 7; Kurjer Lwowski 1905, Nr. 98 v. 8. April, 8). Der Konsum in Budapest soll damals 20.000 Flaschen täglich betrugen haben (Grazer Tagblatt 1905, Nr. 95 v. 4. Mai, 14). Nach wie vor aber hatte die mittlerweile in Fabrik alkoholfreier Fruchtextrakte Delpy & Co. m.b.H. umbenannte Hamburger Zentrale die Patentrechte inne (Österreichisches Patentblatt 13, 1905, 303). Die Budapester Dependance versuchte Hopkos in Galizien, insbesondere aber an Adriaküste, in Triest und Dalmatien, zu etablieren (Il Picolo 1905, Nr. 8508 v. 30. April, 3; ebd. 1905, Nr. 8582 v. 13. Juli, 3). Dies dürfte misslungen sein. Wahrscheinlich endete die Budapester Continental-Hopkos-Company 1907/08 (Adressbuch aller Länder der Erde 10, 1908, Bd. 18, 38).

Versuche der Etablierung von Hopkos im österreichischen Triest (Il Picolo 1905, Nr. 8485 v. 7. April, 5)

Schneller erfolgte die Etablierung in Russland, genauer im russisch beherrschten Finnland. Erste Werbeanzeigen findet man im Juni 1903; Mitte Juni 1903 wurde schließlich der Gesellschaftervertrag der „Finska Hopkos Aktiebolag“ in Helsinki genehmigt (Hufvudstadsbladet 1903, Nr. 161 v. 20. Juni, 3). In den Zeitungen klang es fast wie in Hamburg: „Das neue Erfrischungsgetränk ‚Hopkos‘, das in Finnland große Aufmerksamkeit erregt und sich in ganz Europa verbreitet, wird auch in Finnland immer beliebter“. Die Sachaussagen waren oft jedoch Wunschvorstellungen: „Der Preis wird so niedrig angesetzt, dass es hoffentlich auch in unserem Land Bier verdrängen kann, wie es in Deutschland, der Heimat des Bieres, bereits der Fall ist“ (Uusi Aura 1903, Nr. 128 v. 6. Juni, 1).

Werbung für Hopkos in der finnischen Hauptstadt Helsinki und in der Gewerbestadt Turko (Hufvudstadsbladet 1903, Nr. 280 v. 18. Oktober, 5 (l.); Uusi Aura 1903, Nr. 76 v. 7. Juli, 3; ebd., 1 (r., o.))

Hopkos galt anfangs als technische Errungenschaft, neben Anzeigen bekannten Tons traten vor Ort zudem Werbebeilagen und Flugblätter (Uusi Aura 1903, Nr. 205 v. 5. September, 2; Uusi Aura 1903, Nr. 160 v. 15. Juli, 1). Hopkos galt als „Amerikkaalista raittiusjuomaa“, als „Amerikanisches Mäßigkeitsgetränk“ (Wiipuri 1904, Nr. 36 v. 4. Mai, 1), während man Hamburg in der Werbung auch mal nach Sachsen verortete (Turun Lethi 1903, Nr. 66 v. 6. Juni, 2). Wie bei vielen deutschen Lizenznehmern war das amerikanisch-deutsche Getränk meist Teil eines breiteren Angebotes alkoholfreier Getränke (Uusi Aura 1903, Nr. 86 v. 30. Juli, 4; ebd. 1904, Nr. 44 v. 19. April, 1). Auch in Finnland wurde die Alkoholfreiheit des Bierersatzes besonders betont, musste auch hervorgehoben werden, da einzelne Analysen geringe Alkoholanteile ergaben (Wiipuri 1904, Nr. 94 v. 24. April, 2; Uusi Aura 1904, Nr. 157A v. 10. Juli, 2). Die lokale Produktion in Finnland dürfte Ende 1904 eingestellt worden sein.

Scheitern, Fortsetzungen und Ende in Hamburg

Die Lizenzeinkünfte aus mehreren deutschen Filialen und zwei europäischen Staaten waren allerdings nicht ausreichend für einen weiter profitablen Geschäftsbetrieb in Hamburg. Ein Jahr nach der Gründung begann der Ausverkauf. Die Einrichtung der Hopkos-Company, ihr Maschinenpark, auch weitere Produktionsmittel wurden erst Anfang Januar, dann nochmals Anfang öffentlich versteigert. Es galt offenbar, noch bestehende Werte zu monetarisieren.

Versteigerung der Hopkos-Einrichtung Anfang 1904 (Hamburgischer Correspondent 1904, Nr. 9 v. 7. Januar, 7 (l.); Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 20 v. 21. Januar, 14)

Das Weltgeschäft war vor Ort überschaubar, versteigert wurde je ein Destillier- und Pasteurisierapparat, eine Flaschenspülmaschine, ein kleiner Elektromotor, mehrere Kessel, nur 9000 Flaschen und 200 Flaschenkästen, zudem 100 Korbflaschen und schließlich drei große Fässer mit Hopkos-Extrakt. Alles musste raus, schließlich auch der eiserne Geldschrank. Parallel verkaufte man weiter Restbestände des früheren Getränks der Zukunft.

Der Verkauf geht trotz Verkauf des Interieurs und Geräteparks weiter (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 23 v. 28. Januar, 8; ebd. Nr. 25 v. 30. Januar, 8)

Mit Gesellschaftervertrag vom 1. Februar 1904 wurde die American German Hopkos Company in eine Nachfolgegesellschaft, die Internationale Hopkos Gesellschaft Delpy & Co. mbH überführt, die ein durchaus stattliches Stammkapital von 70.000 Mark aufwies (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 35 v. 10. Februar, 11). Die früheren Macher waren großenteils nicht mehr mit an Bord, Hauptgesellschafter wurde der Kaufmann und Zivilingenieur Maria Hubert Felix Marbaise, der für die für 20.000 Mark bar von der Hopkos-Company erworbenen Firmenrechte – offenkundig Lizenzverträge – einen doppelt so hohen Kapitalanteil angerechnet bekam. Marbaise war nach der Heirat 1898 in die Hamburger Fa. Wilhelm Cordts eingetreten, die unter anderem Repräsentant des Aufzügeherstellers Deutschen Otis-Gesellschaft war, dessen Stammsitz in Yonkers, New York lag, direkt neben der Zuckerraffinerie eines Sohnes des deutsch-amerikanischen Zuckermagnaten Claus Spreckels. Marbaise übernahm diese Gesellschaft später, gründete zudem eine eigene Maschinenfabrik, scheiterte damit jedoch, musste 1910 Konkurs anmelden (Hamburger Fremyden-Blatt 1898, Nr. 270 v. 18. November, 22; Hamburgischer Correspondent 1900, Nr. 422 v. 9. September, 23; ebd. 1905, Nr. 110 v. 1. März, 17; ebd. 1910, Nr. 131 v. 13. März, 36; Hamburger Fremdenblatt 1911, Nr. 34 v. 9. Februar, 14). Neuer Geschäftsführer wurde der Harburger Kaufmann Konstantin Delpy, Kaufmann in Harburg (Neue Hamburgische Börsen-Halle 1904, Nr. 63 v. 7. Februar, 5). Diese Nachfolgegesellschaft wickelte die bisherige Hopkos-Company ab, führte das Lizenzgeschäft weiter, begann zudem mit der Produktion und dem Vertrieb eines neuen alkoholfreien Erfrischungsgetränkes.

Veränderter Firmennamen, unveränderte Anzeige, kontinuierlicher Absatz auch im Facheinzelhandel (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 50 v. 28. Februar, 16 (l.); Bergedorfer Zeitung 1904, Nr. 73 v. 26. März, 5)

Die American German Hopkos Company mbH stellte am 13. Februar 194 ihre Zahlungen ein (Hamburgischer Correspondent 1904, Nr. 74 v. 13. Februar, 13). Die Umsetzung des Konkurses verzögerte sich mehrfach, der finale Prüfungstermin erfolgte schließlich Anfang August 1904. Die noch vorhandenen Mittel von 21.150 Mark wurden an die Gläubiger verteilt, insgesamt gab es Forderungen von 115.426,44 Mark (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 163 v. 14. Juli, 22). Der Konkurs konnte daher Ende August aufgehoben werden (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 205 v. 31. August, 11). Die American-German Hopkos Company mbH wurde schließlich am 25. September 1905 gelöscht (Ebd. 1905, Nr. 230 v. 29. September, 12).

Derweil waren ihre früheren Warenzeichen Anfang April 1904 auf die neue Internationale Hopkos-Gesellschaft übertragen worden, so dass es zumindest rechtlich keine Friktionen im parallel allerdings bröselnden Lizenzgeschäft gab (Ebd. 1904, Nr. 83 v. 8. April, 29). Doch die neue Gesellschaft präsentierte seit Ende April 1904 auch ein weiteres „nach patentiertem Verfahren aus Früchten zubereitet[es], hervorragendes Erfrischungsgetränk“ (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 102 v. 1. Mai, 44). Das Warenzeichen für Calvina war bereits am 18. Juli 1903 beantragt worden, befand sich seit Ende September im Besitz der Hopkos-Company (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 244 v. 16. Oktober, 15). Es handelte sich um gewerblich Nutzung eines der beiden 1900 an Carl Enoch erteilten Patente (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 285 v. 2. Dezember, 13; ebd. 1905, Nr. 77 v. 30. März, 18; DE130103 – Google Patents).

Erweiterung der Produktionspalette: Erfrischungsgetränk Calvina (Hamburger Nachrichten 1904, Nr. 284 v. 23. April, 4)

Das neue Getränk wurde aktiv, doch deutlich verhaltener angepriesen als Hopkos. Es hatte 0,37 Prozent Alkohol, war also durchaus „alkoholfrei“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 33, 1906, 465). Doch neben Calvina wurde weiterhin auch Hopkos angeboten, beide mit Aplomb: „Von den alkoholfreien Getränken, welche jetzt eine große Rolle spielen, gehören die Fabrikate der ‚Internationalen Hopkos-Gesellschaft‘ zu den beliebtesten. Die unter den Namen ‚Hopkos‘ und ‚Calvina‘ hergestellten Getränke zeichnen sich durch leichte Bekömmlichkeit und angenehmen Geschmack aus, sodaß namentlich für den Sommer das Getränk sehr zu empfehlen ist“ (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 102 v. 1. Mai, 30). Nur vereinzelt brachen die früheren Hopkos-Elogen sich Bahn, wurde vom Durst und der Durstnot geschrieben, bei der die „Hopkos-Gesellschaft“ helfen könne: „Wir trinken Hopkos abwechselnd hell und dunkel und zur besonderen Erbauung unserer Schluckwerkzeuge Calvina. Der ‚viele Durst‘ ist gestillt und keiner kann uns was anhaben!“ (Hopkos, Neue Hamburger Zeitung 1904, Nr. 207 v. 5. Mai, 3)

Daueranzeige für Hopkos und Calvina (Hamburger Fremden-Blatt 1904, Nr. 119 v. 22. Mai, 27)

Beide Produkte wurden im Mai/Juni 1904 mit nur einem Werbeklischee kontinuierlich angezeigt, Enochs geistige Vaterschaft darin nicht näher erwähnt, wohl aber seine kontinuierliche chemische Kontrolltätigkeit. Die Getränke verschwanden anschließend langsam, erschienen noch in Annoncen einzelner Händler (Bergedorfer Zeitung 1905, Nr. 222 v. 21. September, 4). Derweil hatte sich die Internationale Hopkos-Gesellschaft umbenannt, die Warenzeichen wurden Ende August 1905 an die Fabrik alkoholfreier Frucht-Extracte Delpy & Co. mbH übertragen (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 54 v. 3. März, 23). Sie währte nicht lang, wurde am 19. Januar 1907 schließlich aufgelöst und von Konstantin Delpy liquidiert (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 22 v. 25. Januar, 14).

Das Warenzeichen Hopkos überdauerte sie – zumindest formal. Es erlosch im Dezember 1910 nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist (Deutscher Reichsanzeiger 1910, Nr. 289 v. 9. Dezember, 36). Der Bedeutungsgewinn alkoholfreier karbonisierter Getränke, insbesondere von süßen Limonaden, wurde dadurch nicht gebremst, die schnelle Mark lockte weiterhin Investoren. Herbere Getränke, insbesondere die „alkoholfreien Biere“ hatten damals allerdings „noch keinen besonderen Anklang gefunden […] und es muß daher abgewartet werden, ob die Anstrengungen der Fabrikanten zur Verbesserung ihrer Erzeugnisse zum Ziele führen“ – so das Zwischenresümee der Temperenzler, die unter „alkoholfreien Bieren“ nach wie vor auch „braun gefärbte und aromatisierte Zuckerlösungen“ wie Methon und Hopkos verstanden (Mäßigkeits-Blätter 24, 1907, 202).

Uwe Spiekermann, 25. Oktober 2025

Gescheitertes Volksnahrungsmittel: Das Milcheiweißbrot 1934/35

Seit 2023 werden hierzulande überteuerte Produkte mit Proteinanreicherung breit vermarktet – und viele Journalisten und „Experten“ sprangen freudig auf diesen nun abebbenden Trend auf. Es handelt sich um eine der vielen strohfeuerartigen Wachstumsgeschichten, die keinerlei Nachhaltigkeit besitzen, die aber für ein, zwei Jahre Gewinne in einem gesättigten Lebensmittelmarkt generieren können. Dabei sind solche „Hypes“ erwartbar, fast schon langweilig. Proteine, Stoffe „von erster Qualität“, standen nämlich seit ihrer 1838 durch den niederländischen Chemiker Gerhard Johann Mulder (1802-1880) erfolgten Benennung im Zentrum vieler wissenschaftlicher Kontroversen und begleitender Kaskaden marktgängiger Offerten.

Im 19. Jahrhundert hatte dies elementaren Sinn. Zum einen galt es die stofflichen Strukturen der Nahrung zu verstehen, um die Defizite der Alltagskost gezielt zu reduzieren. Das deutsche Wort Eiweiß bezeichnete zwar keinen einheitlichen Stoff, doch die Einzelstoffe dieser Gruppe waren offenkundig unmittelbar am Körperaufbau und der Bildung von Muskeln beteiligt, verkörperten Kraft und Leistungsfähigkeit. Gerade tierisches Eiweiß, einverleibt durch Fleisch und Milch, schien förderungswürdig, denn darauf gründete die Entwicklung der Neugeborenen und die Muskelkraft der Männer. Eiweiß trat an die Spitze der unverzichtbaren Nahrungsstoffe – auch, weil die Alltagskost der breiten Bevölkerung eiweißarm war. Die frühen Empfehlungen der Ernährungswissenschaft forderten daher mehr davon, das Kostmaß des Münchener Physiologen Carl von Voit (1831-1908) sprach von täglich 118 Gramm für ein auskömmliches Leben. Zum anderen aber waren eiweißhaltige Nahrungsmittel nicht nur hochwertig, sondern auch deutlich teurer als Kohlenhydrate, letztere in Form von Mehl, Brot und Kartoffeln Rückgrat der täglichen Kost. Die Eiweißfrage war im 19. Jahrhundert demnach immer auch eine sozialer Gerechtigkeit, nach der Integration aller in die bürgerliche Gesellschaft. „Mehr Eiweiß“ wurde ein Flaggenwort der Emanzipation der Arbeiterschaft sowohl auf dem Lande als auch in den rasch wachsenden Städten.

Doch dieser Artikel greift auf die Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts nur zurück; ohne sie ist das auf- und abebbende Angebot proteinreicher und -angereicherter Lebensmittel eben nicht zu verstehen. Im Zentrum dieses Artikels wird jedoch ein historischer Flop stehen, ein scheiterndes Möchtegernvolksnahrungsmittel, das für kurze Zeit reichsweit propagierte Milcheiweißbrot. Es war der deutsche Staat, der nationalsozialistische Staat in seinen Anfangsjahren, der 1934/35 versuchte, das gängige Brot zu verbessern und ergänzend und verdrängend ein eiweißreicheres Milcheiweißbrot zu etablieren. Dazu wurde die staatliche Werbetrommel dröhnend geschlagen, darauf galt es die Konsumenten lockend zu verpflichten. Doch auch NS-Propaganda konnte ins Leere laufen, war keineswegs so erfolgreich, wie uns das die Inszenierungen des Regimes und viele spätere Pseudoerklärungen des „Wie konnte es geschehen“ weismachen wollen. Das Milcheiweißbrot fiel jedenfalls durch – auch wenn es als deutsches Zukunftsbrot, als Kraftbrot, als Resultat deutschen Forschergeistes propagiert wurde. Es fiel durch, auch wenn die Eiweißversorgung im Ausklang der Weltwirtschaftskrise kaum besser war als im späten 19. Jahrhundert. Dabei ging es gar nicht um grundstürzende Veränderungen der täglichen Kost, sondern um eine an sich kleine Veränderung: Das Milcheiweißbrot war ein Kunstprodukt, dem üblichen Brotteig wurde ein wenig getrocknete Magermilch beigemengt. Der Nährwert und der Eiweißanteil lagen dadurch ein wenig höher als zuvor. Und doch, es fiel durch.

Eiweißpräparate als (unzureichende) Alternative tradierter Kost

Um dieses Scheitern zu verstehen, gilt es sich ein wenig genauer mit der Stellung von Eiweiß in den Konsumgütermärkten vor dem NS-Regime auseinanderzusetzen, uns also den Markterfahrungen der damaligen Konsumenten zu widmen. Einerseits war die wissenschaftlich propagierte Vorrangstellung des Eiweißes nicht unkommentiert geblieben. Die vegetarische Bewegung kämpfte schon seit den 1860er Jahren gegen die „Ritter vom Fleische“, verwies auf pflanzliche Proteine, auf Hülsenfrüchte, Getreide, auch die Kartoffeln. Physiologische Forschungen ergaben zudem, dass der Mensch mit deutlich weniger als täglich 118 Gramm Eiweiß leben konnte. In der Eiweißminimum-Debatte, die seit den 1890er Jahren in immer neuen Wellen über mehrere Jahrzehnte geführt wurde, unterschied man zunehmend zwischen einem deutlich niedriger liegenden Mindestbedarf und einem anzustrebenden, die Körperfunktionen optimal ausbildenden höheren Wert. Dabei ging es nicht allein um wissenschaftliche Wahrheit. Ein niedriger Eiweißbedarf und preiswerteres pflanzliches Eiweiß waren insbesondere im Sinne der damaligen Arbeitgeber, mündeten in geringere, am Mindestbedarf ausgerichtete Löhne. Entsprechend gab es intensive Forschungen, Eiweiß billig und haltbar anzubieten. Fleisch wurde gekocht, konzentriert, getrocknet – und Fleischextrakte, Fleischpeptone sowie Fleischpulver wie Carne pura versprachen eine bessere und preisgünstige Ernährung, ohne aber Breitenwirkung zu erzielen. Auch Milch wurde nicht nur frisch verkauft, sondern seit den 1860er Jahren als Kondensmilch resp. später in Form der Heilspeisen Kumys oder Kefir angeboten. Hinzu traten Suppen- und Kindermehle, auch Eipulver oder Trockeneier. Diese Nahrungsinnovationen waren nur in Nischenmärkten erfolgreich. Doch davon ließen sich Erfinderunternehmer nicht bremsen. Seit den 1890er Jahren wurden mit den Eiweißpräparaten neuartige Produkte beworben, die auch im Massenmarkt Erfolg haben sollten.

Neue Formen für Abfall- und Trockenprodukte: Werbung für Aleuronat und Nährstoff Heyden (Vossische Zeitung 1899, Nr. 311 v. 6. Juli, 17 (l.); Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 2 v. 4. Januar, 8)

Zwei damals entwickelte Strategien waren für unsere Fragestellung nach der Einführung und dem Scheitern des Milcheiweißbrotes 1934/35 vorreiterhaft. Einerseits bemühten sich Anbieter, Eiweiß aus möglichst billigen Grundstoffen herzustellen. Reststoffe boten sich dabei an, also nicht lukrativ verwertbare Ergebnisse industrieller Nahrungsmittelproduktion. Das Eiweißpräparat Aleuronat gründete auf den Albfallprodukten der seit 1869 von der Hammer Firma R. Hundhausen produzierten Weizenstärke. Sie dienten anfangs als Tierfutter. Mit der Übernahme der Firma durch den Chemiker Carl Johannes Hundhausen (1856-1946) begann 1881 jedoch ein Umdenken. Die Stärkereste wurden genauer untersucht, die Eiweißbestandteile isoliert und zu einem Pulver verarbeitet (Wichtige Erfindung, Rhein- und Ruhrzeitung 1887, Nr. 34 v. 10. Februar, 2). Das neue, seit 1886 angebotene Aleuronat war nahrhaft, hatte aber einen kratzigen Geschmack, war auch relativ teuer, so dass es als Suppen- oder Brotzusatz Anfang der 1890er Jahre scheiterte. Hundhausen feilte daraufhin an der Trocknungs- und Filtertechnik, konnte auch den Preis massiv verringern. Der Einbruch in den Massenmarkt misslang dennoch. Stattdessen etablierte sich Aleuronat als Diabetikerpräparat, während des Eiweißhypes der Jahrhundertwende auch als kräftigendes Nährpräparat für Rekonvaleszente. Aleuronat war ein chamäleonhaftes Pionierprodukt, ähnlich wie die folgende Lawine: Die bald dreistellige Zahl der Eiweißpräparate war in sich heterogen, die Preisunterschiede beträchtlich, die Grundstoffe vielfach unbekannt. Schlachtabfälle wurden geadelt, ähnlich wie zuvor bei den Fleischfuttermehlen. Der oben angeführte Nährstoff Heyden bestand dagegen aus Eiereiweiß, war daher leicht verdaulich. Vermarktet wurde er jedoch als Ergänzungsnahrung für Wöchnerinnen und Neugeborene (Nährstoff Heyden, Pharmaceutische Post 32, 1899, 408).

Eiweißhype um die Jahrhundertwende: Fortifizierte Nahrungsmittel auf Grundlage von Plasmon und Tropon (Berliner Morgenpost 1900, Nr. 100 v. 1. Mai, 14 (l.); Westdeutsche Bäcker- & Conditor-Zeitung 2, 1900, Nr. 13, 4)

Doch es war nicht nur die hohe Zahl der neuen Eiweißpräparate, die um die Jahrhundertwende einen beträchtlich intensiveren Hype in Gang setzte als das laue Lüftchen der letzten Jahre. Die neuen Trockenpräparate – pastöse Angebote blieben Ausnahmen – konnten und sollten nämlich die gängigen Nahrungsmittel auch anreichern, ihnen ausgewogenere Nährstoffprofile verleihen. Der Mensch schuf sich eine neue Nahrungsgrundlage. Damals gängige Markenartikel wie Plasmon oder Tropon wurden nicht nur als essbare Pulver verkauft, sondern in zahlreiche zumeist kohlehydrathaltige Nahrungsmittel eingebacken, eingerührt. Gemeinsam mit den damals modischen Nährsalzen schien die gewerbliche Produktion neue Angebote schaffen zu können, teils billiger, teils besser als die tradierte Kost. Derartige Konsumträume scheiterten an mangelnder Haltbarkeit, am schlechten, ungewohnten Geschmack, an der nicht sehr elaborierten Produktionstechnik, vor allem aber an den unzureichenden Kenntnissen der Nahrungsstoffe selbst (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Die große Palette der für Eiweiß konstitutiven Aminosäuren wurde erst damals gezielt erkundet. Vitamine waren noch nicht bekannt, die Wirkungen von Mineralstoffen großenteils unklar. Doch die treibende Idee der Anreicherung, der Fortifikation bestehender Nahrungsmittel wurde unbeirrt hochgehalten. Man müsse nur die Mängel abstellen, das stofflichen Wissen verbessern.

Das galt nicht zuletzt für das Brot, nach der Kartoffel das Hauptnahrungsmittel dieser Zeit. Nicht aber Bäcker waren Pioniere der Umgestaltung, sondern Naturwissenschaftler: Der Göttinger Mediziner Wilhelm Ebstein (1836-1912) zielte beispielsweise auf Nährbrote für die Krankenkost, für die wachsende Zahl der Diabetiker. Versuche mit Tiereiweiß hatten sich nicht bewährt, das seit den 1840er Jahren gängige Kleberbrot schmeckte nach längerem Konsum widerwärtig. Er experimentierte daher mit Aleuronat-Zusätzen in Suppen, Gebäck, Panaden und Brot. Doch es bedurfte der Not der Krankheit, um letzteres regelmäßig zu essen ([Wilhelm] Ebstein, Ueber Ernährung der Zuckerkranken, Internationale Klinische Rundschau 6, 1892, Sp. 952). Da half es auch nicht, das die Resorption von solchem „Milcheiweissbrot“ an sich hoch war (W[ilhelm] Prausnitz, Ueber ein neues Eiweisspräparat (Siebold’s Milcheiweiss), Münchener Medizinische Wochenschrift 46, 1899, 849-858). Für Zuckerkranke waren die fortifizierten Brote seither eine wichtige Ernährungshilfe, nicht aber im Massenmarkt (Salabrose, Medizinische Klinik 25, 1929, 29; Plaschkes, Diabetikerbrot, Wiener Medizinische Wochenschrift 81, 1931, 1505).

Das zeigte sich auch bei verschiedenen Bemühungen, mit Magermilch angereichertes Brot zu vermarkten. Versuche gab es in den frühen 1890er Jahre erst einmal in der Schweiz, wo die Butter- und Käseproduktion zu kaum mehr verwertbaren Magermilchmengen führte. Oskar Gottwald Ambühl (1850-1923), Kantonschemiker St. Gallen und zeitweilig auch Präsident der Schweizerischen Gesellschaft analytischer Chemiker, trat emsig für das neue Brot ein, doch bedauernd blieb zu konstatieren, „die liebe Gewohnheit siegte über eine vorteilhafte Neuerung in der Volksernährung“ (Jahrbuch der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft 48, 1907, 202-203). Auch die stärker elaborierten Vorschläge des Leipziger Hygienikers und Kgl. Oberapothekers Georg Marpmann (1849-1911), flüssige Magermilch resp. das kompaktere Zwischenprodukt Kasein zu einem „Eiweissbrot“ (Jahresbericht der Pharmacie 30, 1895, 640) zu verbacken, scheiterten letztlich an der fehlenden Resonanz bei Bäckern und Konsumenten (G[eorg] Marpmann, Die Verwertung der Molkereiabfälle, Apotheker-Zeitung 10, 1895, 169-170, hier 170). Die neuen Produkte mochten zwar volkswirtschaftlich und physiologisch gut begründbar sein, doch angesichts des ungewohnten Geschmacks und höherer Preise gab es für die gesunde Mehrzahl keinen Anlass, ihren Alltagskonsum zu verändern.

Entsprechend scheiterten auch während des Ersten Weltkriegs neuerliche Initiativen für sog. Magermilchbrote oder aber andere Eiweißbrote (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 7, 1916, 250). Auch das 1915 zeitweilig propagierte Bluteiweißbrot konnte die Hürde des Probierens und raschen Ausspeiens trotz Versorgungsengpässen nicht überwinden. Wir finden damals allerdings bereits das für das nationalsozialistische Milcheiweißbrot dann so charakteristische propagandistische Beschönigen. Das Neue galt als „Spartanerbrot“, es sei schmackhaft, haltbar und billig, im Ostseeraum und Skandinavien schon länger bewährt und werde bereits allüberall in Deutschland gebacken (Das Spartanerbrot, Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger 1915, Nr. 200 v. 29. August, 6; Die neue Eiweißquelle – das Blut-Eiweiß-Brot, Sächsische Volkszeitung 1915, Nr. 166 v. 23. Juli, 1933). Das waren Wunschwelten der Propaganda. Auch das sogenannte N-Brot, ein mit Nährhefe fortifiziertes eiweißreicheres „Kraftbrot“, scheiterte am schlechten, durchdringenden Geschmack (N-Brot, ein Kraftbrot, Die Umschau 20, 1916, 14-15).

Verbesserte Zusatzstoffe: Trockenmilch

Der Fehlschlag der Eiweißanreicherung des Brotes in den 1890er Jahren und auch in den Notjahren des Weltkrieges war – so die naturwissenschaftlichen Experten – vorrangig Folge wenig ausgefeilter Zwischenprodukte, einer dringend verbesserungswürdigen Produktionstechnik und unzureichender Grundlagenforschung. Letzteres bezog sich auf die nur rudimentären Kenntnisse über den Geschmack der Nahrungsmittel und dessen Veränderungen während der Bearbeitung. Das war Gegenstand der Bromatik, die erst in der Zwischenkriegszeit größere Bedeutung gewann. Während des Kaiserreichs war Deutschland international führend in der Entwicklung und der Synthetisierung von Essenzen und Aromastoffen; und entsprechend der Außenblick, die Neigung, nicht die Produkte selbst zu optimieren, sondern ihnen verbessernd etwas zuzumengen. Die Lebensmittelherstellung blieb daher tradiert, „bewährt“. Das galt gerade für das Brot, dem seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder leistungsfähigere Backhilfsmittel beigemengt wurden, nachdem noch vor der Reichsgründung der Übergang vom Sauerteig- zum Backpulverbrot kläglich gescheitert war. Auch die seit den 1890er Jahren lautstark propagierte Brotreform zielte vorrangig auf anders vermahlene und vorbehandelte Mehle, während die chemischen Veränderungen während des Backens vielfach unbekannt waren und großenteils auch blieben.

Die Bewegung hin zu einem angereicherten Milcheiweißbrot wurde daher nicht von den Bäckern getragen. Sie war stattdessen Folge einer zunehmend marktbezogen arbeitenden Landwirtschaft. Dort entwickelte sich die Milchwirtschaft zur wichtigsten Einzelbranche, ökonomisch wichtiger als die gemeinhin mit dieser Zeit verbundene Schwerindustrie oder die chemischen Industrien. Wachsende urbane Märkte, das massenhafte Aufkommen von Separatoren, die Bildung von Molkereien und Molkereigenossenschaften, zunehmende Spezialisierung und die verstärkte Verwendung von Kraftfutter veränderten den Zuschnitt einer immer größeren Zahl bäuerlicher Existenzen. Tiermast, Butter- und Käseproduktion  spiegelten sich im wachsenden Aufkommen von Magermilch, die gemeinhin verfüttert wurde, während man Vollmilch und Milchfette verkaufte. Die um die Jahrhundertwende intensiv und mit kulturpessimistischen Tönen geführte Debatte um die „Entmilchung“ des Landes spiegelte diese Verschiebungen.

Die Magermilch enthielt meist nur einem halben Prozent, gar weniger Fett, war vorrangig Tierfutter. Marktnah wurde sie zu Magermilchkäse, den vor allem in Mitteldeutschland allgemein üblichen Weichkäsen bzw. Quark verarbeitet, diente auch als Grundlage für Buttermilch. Doch nicht zuletzt aufgrund fehlender Kühltechnik waren die Marktchancen für Kleinbetriebe begrenzt, blieb die Nutzung im eigenen Betrieb üblich. Dennoch wurde über neue, finanziell einträglichere Produkte aus Magermilch nachgedacht. Dabei gewann die Trocknung zu Trockenmilch, Milchpulver und Kasein wachsende Bedeutung. Das war Herrschaft über Zeit und auch Raum. Ein Teil davon mutierte zu Eiweißpräparaten, doch dieser Absatzmarkt war begrenzt – auch, weil die vielen kleinen Höfe und die regional noch sehr unterschiedlich verteilten Molkereien ihre Rohware schlechter bündeln konnten als etwa in Städten konzentrierte Schlachthöfe oder größere Stärkefabriken.

Die Masse der Trockenmilch wurde ohnehin importiert, lag der Schwerpunkt der ländlichen Industrie doch eher in Ostpreußen, wo 1913 neun Fabriken bestanden (W[ilhelm] Fleischmann, Lehrbuch der Milchwirtschaft, 5. neu bearb. Aufl., Berlin 1915, 469). Die inländische Produktion setzte 1890 ein, meist als Nebengewerbe größerer städtischer Milchverarbeiter wie Gebr. Pfund in Dresden oder Loeflund in Stuttgart (A[dalbert] Rabich, Ein Jahrhundert Molkereiwesen, in: Die deutsche Milchwirtschaft im Wandel der Zeit, Hildesheim 1974, 11-208, hier 92). Das Magermilchpulver wurde vorrangig in der Säuglingsernährung eingesetzt, zunehmend gefolgt von der Süßwarenindustrie. Anfangs wurde die Milch in Pfannen eingedampft, war entsprechend vitaminarm. Erst um 1900 führte man schonendere Walzenverfahren ein. Während des Ersten Weltkrieges nahm die Produktion beträchtlich zu, konnte aber die wegbrechenden Importe auch nicht ansatzweise ersetzen. Einen nennenswerten quantitativen Effekt auf die Magermilchverwertung besaßen die neuen Produktionsstätten ohnehin nicht.

Trockenmilch als Ersatzmittel für die kaum mehr verfügbare (Voll-)Milch während des Ersten Weltkrieges (Vorwärts 1915, Nr. 223 v. 28. September, Unterhaltungsbl., 2)

Trockenmilch milderte während des Ersten Weltkrieg in vielen urbanen Zentren die quantitative und qualitative „Milchnot“ – auch wenn das Pulver in Wasser teils nur schwer löslich war (Hugo Kühl, Trockenmilchpräparate als Liebesgaben, Zeitschrift für physikalische und diätetische Therapie 23, 1919, 693-696). Gewalzte Trockenmilch war keimarm, enthielt noch Vitamine, war preiswerter zu transportieren als Vollmilch (L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927, 46-49). Dennoch dominierten nach dem Ende der Zwangswirtschaft wieder die Importe vorrangig aus den Niederlanden. Erst 1926 konnten die Deutschen die zuvor untersagten Schutzzölle neuerlich erhöhen, was den nun vermehrt entstehenden deutschen Unternehmen eine gewisse Plansicherheit gab. 1934 gab es reichsweit 41 Trocknungsanlagen, 26 Sterilisierungsbetriebe und vierzehn Kaseinwerke mit einer Kapazität von ca. 375 Mio. Liter, etwa drei Prozent des Anfalls. Ausgenutzt wurde davon aber nur ein Drittel (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Das neue Milcheiweißbrot sollte, so der Plan, die Auslastung massiv erhöhen und der Industrie einen dauerhaften Aufschwung verleihen. Obwohl die Qualität mittlerweile deutlich verbessert wurde – Wasserlöslichkeit war kein Problem mehr und neue Sprühtrockenverfahren verbesserten die Haltbarkeit und den Vitamingehalt – blieb die Akzeptanz der Trockenmilch begrenzt. In der Schweiz hatte man seit 1927/28 neuerlich Magermilchbrot propagiert, doch dies wurde weder von Bäckern noch Konsumenten angenommen (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 19, 1928, 275). Der andersartige, teils fade Geschmack und auch die raschere Abgegessenheit ließen die Versuche immer wieder erfolglos enden (Magermilchbrot ist nicht begehrt, Der Bund 1934, Nr. 563 v. 2. Dezember, 6).

Eingesacktes Milchpulver der Trockenmilchwerke Lippstadt und Trockenmilchpresslinge (Zeno-Zeitung 1938, Nr. 282 v. 15. Oktober, 7 (l.); Illustrierter Beobachter 12, 1937, 1197)

Erfolge der Agrarlobby: Beimischungszwang 1933

Das seit 1934 im Deutschen Reich propagierte Milcheiweißbrot war denn auch keine Angelegenheit marktnah arbeitender Kreise. Es stand vielmehr in der Tradition der seit 1929 von der damals gut organisierten und äußerst einflussreichen Agrarlobby durchgesetzten Beimischungszwänge. Das war Folge der schon länger schwelenden internationalen Agrarkrise, der trotz beträchtlicher Investitionen fehlenden Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft und ihrer wachsenden Überschuldung. Doch die Zeche einer Jahrzehnte zurückreichenden, teils bewusst unterlassenen Modernisierung, die ein wichtiger Aspekt auch der Versorgungskatastrophe während des Ersten Weltkrieges gewesen war, sollten nun die Verbraucher zahlen, deren Wahlmöglichkeiten man durch staatliche Interventionen marktfern verringern wollte. Das hatte Tradition, das 1914 eingeführte K-Brot wurde zwar als Kriegsbrot vermarktet, war jedoch ein mit Kartoffelwalzmehl angereichertes Produkt, das helfen sollte, die schwindenden Getreidevorräte zu strecken (Lebensmittelstreckung, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 25, 1915/16, Sp. 559-562; Ferdinand Hueppe, Unser Kriegsbrot, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 726-731). Das Ergebnis war klitschig, wurde bald verschmäht. Zusätze von Stroh und Holz wurden erforscht, als Notbrote aber kaum eingesetzt (Heinrich Mohorcic und Wilhelm Prausnitz, Die Verwendung des Holzes zur Herstellung von Kriegsbrot, Archiv für Hygiene 86, 1917, 219-240). Der Mensch war doch kein Vieh…

Staatlich verordnete Beimischungszwänge wurden mit Beginn der Weltwirtschaftskrise nicht nur im Deutschen Reich modisch, waren während der NS-Zeit endemisch und sind bis heute Teil auch sich marktwirtschaftlich nennender Wirtschaftspolitiken (Bioethanol). Es handelt sich um dirigistische Eingriffe in den Preismechanismus zu Lasten einzelner Gruppen. Sie sind ein klarer Bruch mit einer damals von der liberalen und katholischen Mitte und der SPD verteidigten Konsumentensouveränität. Den Anfang machte das qua Notverordnung veränderte Brotgesetz vom Dezember 1930, das zwar nicht die „Brotzwangswirtschaft“ (Das Roggenbrotgesetz, Vorwärts 1930, Nr. 51 v. 31. Januar, 3) einführte, wohl aber einen Beimischungszwang von Roggen zum Weizenmehl vorsah. Dies erfolgte gegen den massiven Widerstand der Bäcker, die um die Qualität des Standardbrotes fürchteten und Umstellungen ihrer Produktionsverfahren scheuten (Zwangsweise Beimischung von Roggenmehl zum Weizenmehl?, Weckruf 16, 1929, 1149-1150). Auch die Konsumgenossenschaften sahen die Roggenbegünstigung kritisch, wandten sich aber noch strikter gegen den Beimischungszwang von Butter zur Margarine 1933 (G[eor]g Büchlein, Beimischungszwang von Butter zur Margarine, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 30, 1933 4-5). Beimischungszwänge gab es jedoch zunehmend auch in anderen Wirtschaftsbranchen: Ab 1930 waren dem Treibstoff 2,5 Prozent Kartoffelsprit beizumengen, bis 1932 sollte dieser Anteil auf zehn Prozent steigen. Während der NS-Zeit sollte derartiger staatlicher Dirigismus die Umsteuerung auf deutsche Austauschstoffe begleiten und zur „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsfähigkeit führen. Er war nicht länger vorrangig agrar-, sondern zunehmend staatspolitisch motiviert. Entsprechend erfolgten Beimischungszwänge ab 1936 zunehmend ohne Kennzeichnung, gleichsam hinter dem Rücken der Konsumenten. Die prekäre Devisenlage des Reiches und die teure Aufrüstung ließen derartige Eingriffe erforderlich erscheinen.

Kritik an den willkürlich erscheinenden Beimischungszwängen der Regierungen während der Präsidialdiktatur (Ulk 62, 1933, Nr. 1, 1)

Für unsere Frage nach dem Entstehen und der Propagierung des Milcheiweißbrotes 1934/35 müssen wir jedoch genauer hinschauen. Das im Juni 1931 neuerlich per Notverordnung geänderte Brotgesetz beendete erst einmal die Roggenmehlbeimischung zum Weizen, erlaubte nun aber dem Weizenbackwerk bis zu zehn Prozent Kartoffelstärkemehl beizumengen (Das neue Brotgesetz 1931, Nr. 174 v. 25. Juni, 3). Im Herbst 1931 endete die Freiwilligkeit, nun musste dem Brot Kartoffelstärkemehl zugefügt werden, um so zusätzlich 600-700.000 Tonnen Kartoffeln abzusetzen (Neue Erleichterung des Kartoffelabsatzes, Kölnische Zeitung 1931, Nr. 533 v. 30. September, 1). Das Bäckerhandwerk protestierte scharf, konnte den Beimischungszwang jedoch nicht verhindern. Ähnlich war es im Dezember 1932, als zudem Kartoffelwalzmehl genutzt werden sollte, also der vom K-Brot des Weltkrieges bekannte Hilfsstoff: „Wenn der Reichsinnenminister glaubt, daß der Bäckermeister sich bereitfinden würde, neben dem aufgezwungenen Kartoffelstärkemehl auch noch Kartoffelwalzmehl zu verwenden, dann ist er in einem großen Irrtum“ (Kartoffelwalzmehl zum Roggenbrot?, Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung (RBKZ) 35, 1933, 40). Beides gehöre nicht in die Backstube. All dies erfolgte während der Präsidialdiktaturen, bereitete aber dem Milchweißbrot den Weg.

Wie verwerten? Magermilch zwischen Tierfutter und Eiweißreserve (Ernährungsdienst Nr. 13, 1936, 5)

Schon vor der Machtzulassung der NSDAP wurden weitere Beimischungszwänge für die Brotherstellung diskutiert, darunter auch die verpflichtende Verwendung von Magermilch. Während der Agrar- und Weltwirtschaftskrise war dieser Reststoff der bäuerlichen Milchwirtschaft zu einem immer größeren Problem geworden. Eine breitere gewerbliche Nutzung war jedoch kaum möglich, auch das Verbacken frischer Magermilch schien unmöglich: Die Bäcker intervenierten früh, verwiesen auf die hohen Transportkosten, fehlende Kühltechnik und Maschinen, sprachen von einem um fünf bis sechs Pfennig teureren Brot: „Das Bäckerhandwerk kann derartige Lasten erst recht nicht auf sich nehmen, abgesehen davon, daß die Bevölkerung sich noch mehr vom Brotverzehr – nicht zuletzt auch zum Schaden der Landwirtschaft – abwenden wird“ (Magermilch in Bäckereien, RBKZ 35, 1933, 74). Dennoch wurde am 12. September 1933 das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch erlassen. Milch und Brot gingen damit eine erzwungene Symbiose ein, die ein gutes Jahr später in das Milcheiweißbrot münden sollte.

Auf dem Weg zur reichsweiten Einführung

Das neue Brot wurde offiziell Ende Oktober 1934 vorgestellt und sollte ab dem 1. November allgemein verfügbar sein. Dies war nicht Ausfluss einer stringenten Agrarpolitik, sondern Resultat einer durch die massiven staatlichen Eingriffe mit verursachten Versorgungskrise. Sie hatte sich bereits 1933 ankündigt, war während der ernsten Wirtschafts- und Finanzkrise im Frühjahr 1934 jedoch kaum mehr zu überdecken. Kartoffeln wurden zunehmend knapp, die Kritik der Bäcker an der zwangsweisen Verwendung des Kartoffelmehls hallte nach, zugleich galt die Magermilch aufgrund der freien Kapazitäten als gut erschließbare Nahrungsreserve (P[aul] Schuppli, Ueber Beimischung von Magermilch bei der Broterzeugung in Deutschland im Interesse der besseren Milchverwertung, Der fortschrittliche Landwirt 17, 1935, 70). Das Gesetz über die Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch sah anfangs allerdings nur geringe Anteile von einem halben bis einem Prozent Milchpulverzusatz vor. Anfang 1934 wurde erst in Bayern, dann auch im Südwesten erlaubt, das Kartoffelmehl gänzlich durch Magermilch zu ersetzen (Verwendung von Trockenmagermilch in Württemberg, RBKZ 36, 1934, 140). Als am 15. Oktober 1934 das Gesetz auslief, trat an seine Stelle nunmehr eine formal freiwillige Anreicherung der Brote mit mindestens 2,5 Prozent Magermilchpulver. Die gleichgeschaltete Presse applaudierte: Schon Kartoffelmehl habe die Brotqualität gehoben, doch mit der neuen eiweißhaltigen Magermilch werde eine „weitere Verbesserung“ (Milch-Eiweiß-Brot, Hannoverscher Kurier 1934, Nr. 498 v. 24. Oktober, 2) erzielt.

Bevor wir uns der Einführungspropaganda widmen, müssen wir uns noch einem eigenartigen Phänomen zuwenden, das für die NS-Ernährungspropaganda recht typisch werden sollte. Das Milcheiweißbrot erschien als begrüßenswerte Neuschöpfung – doch faktisch wurde es bereits 1933 öffentlich immer wieder erwähnt, mutierte seit Frühjahr 1934 gar zu einem gängigen Vorzeigeobjekt. Es gab also eine Vorpropaganda, die zwar die Vorstellung einer grundstürzenden Neuerung unterminierte, die aber die Einführung des Milcheiweißbrotes vorbereitete.

Die Machtzulassung der NSDAP Ende Januar 1933 bedeutete anfangs massive Gewalt gegen die Opposition, doch parallel führte die neue konservativ-nationalsozialistische Regierung Maßnahmen der Zeit der Präsidialdiktatur, teils auch der parlamentarischen Demokratie weiter. Für die Milchwirtschaft war das Milchgesetz von 1930 die entscheidende Wegmarke. Und es war der 1926 gegründete Reichsmilchausschuss, der 1933 nicht nur weiter für einen höheren Milchkonsum warb, sondern auch ein Milcheiweißbrot freudig präsentierte (Flugtag in Berlin, Stuttgarter Neues Tagblatt 1933, Nr. 357 v. 3. August, 17). Das sei Ergebnis neuerlicher agrarwissenschaftlicher Forschungen zur Nutzung der Magermilch: „Bei der Brotherstellung fand Milch schon Verwendung, soweit es sich um Weißbrot handelt. Eingehende Versuche haben nun ergeben, daß auch die Verwendung entrahmter Milch in flüssiger Form oder als Milchpulver bei der Herstellung von Roggenbrot ein sehr wohlschmeckendes Brot ergibt, das durch Erhöhung des Eiweißgehalts dem mit Wasser hergestellten Roggenbrot vorzuziehen ist“ („Milcheiweißbrot“, Neckar-Bote 1933, Nr. 206 v. 5. September, 5).

„Milcheiweißbrot“ vor der Einführung: Stellenanzeige für Milchpulver-Vertreter (Neue Mannheimer Zeitung 1934, Nr. 409 v. 6. September, 14)

Backversuche schlossen sich an, umfangreiche Überlegungen zur Werbung, zunehmend auch Gespräche mit den beteiligten Wirtschaftskreisen. Gerade in der Trockenmilchindustrie bereitete man sich vor, musste die Milchpulverproduktion doch beträchtlich gesteigert werden, um den erwarteten Bedarf zu decken. Die Dauermilchindustrie wurde neu strukturiert, ihr eine staatliche „Marktordnung“ und ein neues Ziel verliehen: „Milcheiweißbrot, das deutsche Kraftbrot, wird in kurzer Zeit das tägliche Brot von Millionen Verbrauchern sein, und damit wird ein erhöhter Absatz von entrahmter Milch auf lange Zeit hinaus gesichert“ (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Die Milchwirtschaftsverbände luden schon im September 1934 Journalisten, Frauenverbände und NS-Repräsentanten zu Besichtigungsfahrten von Molkereien und auch – wenn vorhanden – Trockenmilchfabriken ein, präsentierten dort schon Milcheiweißbrothäppchen für die Multiplikatoren (Besichtigungsfahrt in das Milcheinziehungsgebiet Witten, Wittener Tageblatt 1934, Nr. 204 v. 1. September, 4; Eine Fahrt ins Milchland, Bottroper Volkszeitung 1934, Nr. 268 v. 29. September, 5). Milcheiweißbrot wurde vorher bereits auf der seit Ende April 1934 in Berlin gezeigten NS-Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ präsentiert, die heute vornehmlich durch die Beiträge führender Bauhäusler in Erinnerung geblieben ist (RBKZ 36, 1934, 510). Ende Mai fand man es auf der ersten Reichsnährstand-Ausstellung in Erfurt, 11.000 Brote sollen damals in Bäckereien und der Milchkosthalle verkauft worden sein (Ostpreußische Zeitung 1934, Nr. 294 v. 24. Oktober, 12). Das Mitte März neu gegründete Reichskommissariat für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft präsentierte das Milchweißbrot dann auf der Jahresmesse für das Gastwirts-, Hotelier- und Konditorengewerbe in Berlin: „Die neue Brotart wird erst ab 15. Oktober im Handel sein, um dann schlagartig in jeder Bäckerei um die Gunst des Publikums zu werben“ (Milcheiweißbrot und Drei-Fett-Topf. Revolution im Haushalt, Dresdner Nachrichten 1934, Nr. 466 v. 4. Oktober, 6). Schlagartige Präsenz mit zugestandenem Vorlauf.

Werbefotos mit Brot und Plakaten (Volksgemeinschaft 1934, Nr. 293 v. 27. Oktober, 4 (l.); Velberter Zeitung 1934, Nr. 292 v. 24. Oktober, 3)

Das Reichskommissariat verbreitete derweil vorbereitete Artikel, in denen die kommende Melange von Milch und Brot schmackhaft gemacht wurde (Milch und Brot – Milcheiweißbrot, Nethegau- und Weser-Zeitung 1934, Nr. 125 v. 15. Oktober, 4). Das neue Brot sei traditionsreich, eiweißreich und doch billig, ein „Aufbaubrot für jung und alt“, ein wahres Volksbrot, „das als kraftvolles, kerniges Brot ein kraftvolles, kerniges Volk zu schaffen vermag“ (Steinheimer Zeitung 1934, Nr. 240 v. 16. Oktober, 6). Hausfrauen wurden gezielt angesprochen, das Kommende vor Augen geführt: „In den Schaufenstern zahlreicher Bäckereien wird ein Schild, das ein appetitliches, mit Banderole versehenes Brot zeigt, den Hausfrauen in die Augen springen“ (Jetzt gibt’s Milcheiweißbrot, Zeno-Zeitung 1934, Nr. 288 v. 19. Oktober, 8). Trotz weiterhin hoher, wenngleich rasch abklingender Arbeitslosigkeit, trotz eines nur langsam und mit Stockungen in Gang kommenden Wirtschaftsaufschwungs, sollten sich die Konsumentinnen auf das neue Brot freuen. Man gab sich sicher, dass es gern gekauft werden würde („Milcheiweißbrot“, National-Zeitung 1934, Nr. 249 v. 23. Oktober, 4), schließlich sei man dem neuen Deutschland und seinem „Volkskanzler“ gegenüber verpflichtet. Experten- und Diktatorenträume…

Ein neues, vielgestaltiges Produkt

Sorgender Staat: Kunde von einem neuen Volksnahrungsmittel (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3)

Das Milcheiweißbrot wurde im Oktober 1934 als neues Volksnahrungsmittel angekündigt, also als ein wichtiger und bleibender Beitrag zur Alltagsernährung. Trotz der Vorpropaganda, trotz der auf mehreren Ausstellungen und Messen verteilten Proben handelte es sich jedoch erst einmal um eine erläuterungsbedürftige Worthülse. Entsprechend war die Propaganda geprägt von vermeintlichen Sachinformationen. Propaganda, auch die nationalsozialistische, bedarf nachprüfbarer Fakten, sogenannter rationaler Propaganda (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [ebook], 114-115). Was also war das neue Milcheiweißbrot?

Seitenansicht eines Milcheiweißbrotes (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 555)

Erste Nachrichten besagten, daß es „jetzt nach einem vorgeschriebenen Rezept ein Milcheiweißbrot [gibt, US], das als neuartiges Kraftbrot anzusehen ist, denn es enthält im Gegensatz zu dem üblichen Brot das außerordentlich nahrhafte Milcheiweiß“ (Rheinisches Volksblatt 1934, Nr. 249 v. 24. Oktober, 8). Genauere Information findet man nur in der Fachliteratur. Ein Grundrezept lautete bei der Einführung: „750 Gramm Vollsauer aus Roggenmehl Type 997, 10 Gramm Salz, 475 Gramm Mehl Type 997 und 25 Gramm Milchpulver (bzw. 15 Gramm Kasein und 485 Gramm Mehl) wurden zu einem normalen Teig von 27 Grad Celsius verarbeitet. Der Tag kam eine Stunde in den Gärschrank von 38 Grad Celsius, hierauf wurde durchgewirkt, gewogen und ein Laib von 1400 Gramm Teiggewicht ausgeformt. Nachdem die Ofengare der Laibe erreicht war, wurden sie innerhalb 45 Minuten bei 260 Grad ausgebacken“ (P[aul] Pelshenke und A[dolf] Zeisset, Backprüfung der Magermilchpulver, RBKZ 38, 1936, 5-6, hier 5). In der Backstube waren die Mengen natürlich größer.

Der Einführung gingen umfangreiche Backversuche in verschiedenen Gebieten Deutschlands voraus, auch wenn nicht klar ist, ob die immer wieder genannte Zahl von mehr als 100.000 Versuchsbroten wirklich belastbar war oder nicht doch der nationalsozialistischen Freude am Mächtig-Gewaltigen entsprach. Sie wurden unter den Auspizien von Hans Adalbert Schweigart (1900-1972) vorgenommen, einer schillernden Figur während der NS-Zeit, auch während der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik. Nach der Promotion zum Chemiker arbeitete er von 1928 bis 1932 in der Produktentwicklung der Saalfelder Schokoladenfabrik Mauxion, deren Schoko- und Kakaotrunk damals beträchtlichen Erfolg hatte. Schweigart wechselte dann zum Reichsmilchausschuss, agierte als Hauptabteilungsleiter des Reichsnährstandes, wurde 1935 schließlich Direktor des Berliner Instituts für Milchwirtschaft. Er war ein gutes Beispiel für zahlreiche junge nationalsozialistische Akademiker, die ihre Karrieren vor allem den massiven Investitionen in die Agrar- und Ernährungsforschung verdankten. Nach Schweigart erprobte man „bei Privatbäckern, in Konsumbäckereien, in der Militärbackanstalt“ verschiedene Backverfahren. Im Gegensatz zur Vorstellung vom Einheitsrezept gab es jedoch keine verbindlichen Backvorschriften. Milcheiweißbrot konnte „als Vollkornbrot, Schwarzbrot, Graubrot oder Feinbrot gebacken“ werden, wahlweise „mit Sauerteig- oder Hefeführung“ (Hans Adalbert Schweigart, Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 510-512, hier 511).

Varianten des Milcheiweißbrotes (National-Zeitung 1936, Nr. 195 v. 18. Juli, 3)

Positionierung und Abgrenzung einer Lebensmittelinnovation

Milcheiweißbrot war demnach ein Dachbegriff, denn es konnte sehr unterschiedlich ausfallen. Das verbindende Element dieser Brote war schlicht der Zusatz von Magermilchpulver oder – sehr selten – Nährkasein. Angesichts der zuvor schon beleuchteten Vorgeschichte war sein Platz im etablierten Gefüge der Standardbrote unklar. Die rationale Propaganda positionierte es erst einmal negativ.

Milcheiweißbrot war demnach erstens kein Einheitsbrot. In zahllosen Artikel wurde im Oktober 1934 immer wieder hervorgehoben, dass der Kauf freiwillig sei, „kein Zwang“ (Karlsruher Tagblatt 1934, Nr. 295 v. 25. Oktober, 5) auf die Konsumenten ausgeübt würde. Es handele sich um ein ergänzendes Angebot: „Um den Schein eines Abnahmezwanges zu vermeiden, wird es nur dort verkauft, wo auch normales Brot feilgehalten wird“ (Stadtanzeiger für Wuppertal und Umgebung 1934, Nr. 251 v. 26. Oktober, 4). Zweitens grenzte man das Milcheiweißbrot explizit vom Kriegsbrot ab; ein Vorwurf, der nicht zuletzt innerhalb der Arbeiterschaft, innerhalb der unterdrückten und still geprügelten Opposition artikuliert wurde. Der Dresdener Arzt und Sachbuchautor Georg Kaufmann betonte demgegenüber: „Das jetzt zur Einführung gelangende Kraftbrot (Eiweißbrot) stellt keineswegs ein Ersatznahrungsmittel dar. Es handelt sich nicht lediglich um eine Streckung des Brotgetreides, wie wir das aus der Kriegszeit her kennen“ (Kraft durch Brot. Zur Einführung des neuen Milcheiweißbrotes, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 256 v. 3. November, 5).

Derartige negative Positionierung sollte Ängste abzubauen, Ängste, die den Propagandisten durchaus gewahr waren. Es gab jedoch zweitens eine durchaus zutreffende positive Positionierung. Sie zielte auf den praktischen Nutzen des neuen Brotes für die Käufer. Das neue „Volksbrot“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1934, Nr. 303 v. 3. November, 5) wurde erstens als wichtige Erweiterung und Verbesserung der gängigen Nahrungspalette vorgestellt. Man klebe in dieser dynamischen Zeit des Umsturzes nach vorn nicht an den vom Bäckerhandwerk emsig verteidigten fünf Grundsorten, führe zugleich nicht auf Abwege in die Irrungen und Wirrungen der lebensreformerischen Spezialbrote. Das war noch vor der reichsweiten Propagierung erst von Knäcke-, dann vor allem von Vollkornbrot. Zweitens konzentrieren sich die Artikel immer wieder auf den höheren Nährwert des Milcheiweißbrotes. Das war die Essenz des Werbeattributs „Kraftbrot“. Diese Bezeichnung stand in einer langen Bedeutungskette, nicht nur weil man im frühen 19. Jahrhundert damit das teuer-lockende Marzipan vermarktete. Seit den 1860er Jahren findet man es auch in Anzeigen von Bäckern, doch sein Durchbruch in die Alltagssprache erfolgte erst drei Jahrzehnte später. Der bescheidene Vorzeigemönch und Marketingvirtuose Sebastian Kneipp (1821-1897) gab seinen Namen nicht nur für zahllose Reformwaren, sondern auch einem von ihm grob empfohlenen „Kraftbrot“ (Linzer Zeitung 1891, Nr. 37 v. 15. Februar, 9; Der Landbote 1893, Nr. 31 v. 14. März, 2). Der Begriff fand dadurch breiten Widerhall, zumal im schillernden Umfeld der Lebensreformbewegung. Das Steinmetz-Vollkornbrot war als Spezialbrot recht teuer, zeichnete sich durch eine ausgefeilte Werbung und auch eine Verbreiterung der eigenen Angebotspalette aus. Seit spätestens 1911 trat das „Kraftbrot“, ein dunkles Familienbrot, an die Seite des hellen Vollbrotes, des Rheinischen Roggenschrotbrotes und des nach Dr. Bircher benannten Grahambrotes (Badischer Beobachter 1911, Nr. 126 v. 3. Juni, 8; Badische Presse 1911, Nr. 207 v. 5. Mai, 6). Diesen Reformbroten gemein war eine niedrigere Ausmahlung, entsprechend warb man mit dem leicht höheren Eiweißgehalt, mochte die Resorption auch geringer sein. Das schon erwähnte N-Brot war mit seinem Zusatz von 2,5 Prozent Nährhefe, seinem höheren Eiweißgehalt und seinem einige Pfennige höheren Preis nicht nur „Kraftbrot“, sondern ein unmittelbarer Vorläufer des Milcheiweißbrotes (Das N-Brot, ein Kraftbrot, Fremden-Blatt 1916, Nr. 49 v. 18. Februar, 2).

Schlagzeilen des Neuen (Bergische Wacht 1934, Nr. 247 v. 25. Oktober, 1 (o.), Buersche Zeitung 1934, Nr. 292 v. 25. Oktober, 1)

Dessen Nährwert lag durch die zwar kleine, doch konzentrierte Beimischung von Magermilch in der Tat leicht höher als beim Standardbrot. Das neue „Kraftbrot“ sei daher nahrhafter, nährstoffreicher, sein leicht höherer Preis keine Verteuerung (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 248 v. 26. Oktober, 4). Dies wurde auch durch den pointierten Slogan „Kraft durch Brot“ auf den Punkt gebracht (Kraft durch Brot, Stuttgarter Neues Tagblatt 1935, Nr. 28 v. 17. Januar, 17). Die NS-Sprache schuf ihren eigenen Welten: „Kraft durch Freude“ werde die Freizeitgestaltung revolutionieren, das Milcheiweißbrot die Alltagsernährung. In der Tat propagierten mehrere Ärzte, etwa der Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1946), das angereicherte Brot als Beitrag gegen die während der Weltwirtschaftskrise qualitative Eiweißunterernährung großer Bevölkerungsschichten, die zu Wachstumsrückständen und Nährschäden geführt hatte (Naturgemäße Ernährung und Eiweißstoffwechsel, Medizinische Klinik 31, 1935, 331).

Intrinsische Motivation: Der Konsument als ein angeleitetes, doch selbst handelndes Wesen (Victor Vogt, Taschenbuch der Geschäftstechnik, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart 1927, 853)

Drittens schließlich diente das Milcheiweißbrot auch der Formung des modernen Konsumenten in der Zeit des Nationalsozialismus. Die fortifizierte Innovation wurde einerseits als Teil einer umfassenden Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion präsentiert. Adolf Bickel habe seit 1929 für eine moderne Magermilchverwertung plädiert: „Die nationalsozialistische Regierung hat diesen Gedanken aufgegriffen und in dem Milcheiweiß verwirklicht“ (Auf das Eiweiß kommt es an!, Herforder Kreisblatt 1935, Nr. 27 v. 1. Februar, 7). Brot fern des Tradierten, als Anwendungsfeld des deutschen Geistes. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), zentrale Figur für die Umgestaltung der Wehrmachtsverpflegung und anschließend zentrale Figur der Versorgungswirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, betonte die Koppeleffekte des Eiweißzusatzes: Brot habe einen Eiweißgehalt von fünf bis sieben Prozent, das Milcheiweiß erhöhe ihn um an sich geringe ein bis zwei Prozent. Entscheidend aber sei die weit größere physiologische Wirkung. Das Milcheiweiß erlaube eine deutlich bessere Erschließung des Getreideeiweißes, das im Standardbrot nur zur Hälfte genutzt werde. Milcheiweißbrot sei daher ein wichtiges Element einer vollwertigen Ernährung (Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, Dresden und Leipzig 1936, 148). Für die jungen Experten und die NS-Machthaber war das neue Brot anderseits Testlauf für den neuen nationalsozialistischen Konsumenten, der den eigenen Nutzen nicht vernachlässige, der ihn aber in einen völkischen Zusammenhang stelle. Zwang werde nicht ausgeübt, müsse auch nicht ausgeübt werden, denn nun werde „an die Stelle des Zwanges der Gemeinschaftssinn“ treten („Neues Brot“, Lippische Tageszeitung 1934, Nr. 251 v. 27. Oktober, 5). Das Neue sei sinnvoll, würde daher gekauft werden, denn es sei Materialisierung der wechselseitig verpflichteten Volksgemeinschaft auf rassischer Grundlage. Milchweißbrot werde die zuvor teils nutzlos vergossenen Ströme entrahmter Milch wieder in den Kreislauf menschlicher Ernährung lenken. Die Bauern würden davon unmittelbar profitieren, auch alle Konsumenten: „Was für den zartesten Säugling, der eben der Mutterbrust entwöhnt ist, taugt und ihn zu einem aufblühenden Menschenkinde macht, das gesund und quicklebendig ins Leben geht, das ist auch geeignet, dem Heranwachsenden und dem im Kampf ums Dasein nach dem täglichen Brot greifenden Aelteren die Kräfte zu erhalten und aufzubessern. Die für die Gesundheit der Familie verantwortliche Hausfrau, der allein für sich sorgende Berufsmensch, das lebendig hungrige Jungvolk und die hart arbeitenden Männer, sie alle finden, was sie suchen und für den täglichen Kampf brauchen, im Milcheiweißbrot“ (Was ist Milcheiweißbrot?, Der Weckruf 22, 1935, 138). Das war typischer NS-Kitsch, doch er etablierte sich, wurde wohl auch geglaubt. Wichtig ist, dass die hier aufgeführten sechs Positionierungen nicht nur in derartigen Kitsch, in die übliche Selbstbeweihräucherung mündeten. Alle besaßen ein Fünkchen Wahrheit, alle waren nicht unmittelbar von der Hand zu weisen. Blicken wir nun aber auf die Markteinführung und die sie begleitende, deutlich breiter gefasste Propaganda.

Reichsweite Einführung mit Wumms

Das Milcheiweißbrot wurde am 25. und 26. Oktober in fast allen deutschen Tageszeitungen ähnlich vorgestellt, ein zweiter oft mit Bild versehener Text folgte vielfach am nächsten Tag. Das war Ergebnis des nationalsozialistischen Presselenkung. Die Presseanweisung am 24. Oktober lautete lapidar: „Bitte übernehmen Sie von DNB eine Meldung des Reichsnährstandes über die Schaffung eines Mich-Eiweiß-Brotes [sic!]“ (Gabriele Toepser-Ziegert (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 2: 1934, München et al 1985, 437). Das war eine Meldung ganz im Sinne des Regimes, setzte es der sich 1934 allgemein verschlechternden Brotqualität und -versorgung doch etwas Positives entgegen. Und sie war gewiss angenehmer, als die wabernden Gerüchte einer bevorstehenden Brotstreckung oder aber der chemischen Konservierung von Brot und Getreide zu dementieren (ebd., 406 (5. Oktober), 423 (18. Oktober)).

In der verpflichtend abzudruckenden Meldung wurde erstens das Ende der Kartoffelmehlbeimengung bestätigt und zweitens für den 1. November ein neues Milcheiweißbrot mit einer „Beimischung pulverisierter entrahmter Milch“ angekündigt. Drittens präsentierte man das neue Produkt als Spezialbrot, als Ergänzung des ortsüblichen Brotes, etwas teurer, doch kräftiger, nahrhafter und gesunder. Mit nationalsozialistischem Paukenschlag tönte sie von einem „Erzeugnis des Gemeinschaftsgeistes vom Erzeuger bis zum Verbraucher“. Zwang werde nicht ausgeübt, doch die Bäcker müssten klare Vorgaben erfüllen, wenn sie das neue „Kraftbrot“ anbieten wollten. Viertens schließlich präsentierte man die Neueinführung als Ausdruck eines sorgenden Staates, in dem Wissenschaft und Praxis zielgerichtet zusammenarbeiten würden, um „Qualitätsleistung“ für den Verbraucher zu gewähren, um Bauern und Bäcker zu entlasten. 18.000 Anträge für die Herstellung lägen bereits vor, bald schon könne man das mit Streifband und Marke versehene Brot kosten und kaufen (Milcheiweißbrot, das Kraftbrot, Badische Presse 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 7; Das neue Milch-Eiweißbrot, Der Sächsische Bauer 82, 1934, 889). Der Grundtext scheint im Norden etwas ausführlicher abgedruckt worden zu sein, schließlich gab es in Bayern und dem Südwesten bereits ein gering angereichertes Magermilchbrot (Das neue Kraftbrot, Aachener Anzeiger 1934, Nr. 248 v. 24. Oktober, 1).

Reichsweite Präsentation in der Presse Ende Oktober 1934: Banderole und Marke des Milcheiweißbrotes (Hakenkreuzbanner 1934, Nr. 497 v. 27. Oktober, 4)

Die Vorlage des Reichsnährstandes wurde von den seit dem Schriftleitergesetz vom Oktober 1933 zwingend „politisch unbedenklichen“ und „arischen“ Redakteuren inhaltstreu, doch mit leichten Variationen und unterschiedlichen Schlagzeilen umgesetzt. Man schrieb durchaus von dem geringen Beifall zur Kartoffelstärkemehl-Beimischung, präsentierte das neue Produkt als Resultat eines Kritik aufgreifenden Staates (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3). Die deutschsprachige Presse des Auslandes berichtete ebenso (Einführung des Milcheiweißbrotes in Deutschland, Pester Lloyd 1934, Nr. 241 v. 25. Oktober, 9; Lodzer Volkszeitung 1934, Nr. 293 v. 25. Oktober, 1; Milch – Eiweißbrot – das deutsche Kraftbrot, Deutsche Rundschau in Polen 1934, Nr. 248 v. 30. Oktober, 2). Nur wenige Redakteure gaben zusätzliche Informationen, erwähnten etwa, dass die Rezepte erst später backtechnisch erprobt und verbreitet werden würden (Das Milcheiweißbrot, Dortmunder Zeitung 1934, Nr. 498 v. 25. Oktober, 12).

Plakatwerbung in Bäckereien (Rheinisches Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 511)

Die Meldungen informierten über das Neue, positionieren das Brot in den oben dargelegten Formen, ermöglichten zugleich ein Vorabbild des Brotes. Gedruckt wurde einerseits das in den Bäckereien anzubringende Werbeplakat, das nur die teilnehmenden Betriebe nutzen durften. Es zeigte ein aufgeschnittenes Langbrot mit hellem Teig, kennzeichnete es als gehaltvoll, wohlschmeckend und nahrhaft. Daneben trat häufig ein kleines adlerbewehrtes Zeichen, eine Marke, die von außen sichtbar die Verkaufsstelle markierte. Man schuf also Bilder, wenngleich das Brot noch nicht zu kaufen war. Damit glaubte man eine gewisse Spannung schaffen zu können. Konsumenten wurden im Sinne eines simplen Reiz-Reaktions-Schemas angesprochen: Hier Plakat und Verkaufsstellen-Signet, dort kaufen. Weitere Bilder unterstrichen das Versprechen eines hochwertigen Spezialbrotes. Das Milcheiweißbrot war ein Markenprodukt, war mit einer Banderole versehen, mit einer Garantiemarke beklebt (Bremer Zeitung 1934, Nr. 297 v. 27. Oktober, 7; Durlacher Tagblatt 1934, Nr. 254 v. 30. Oktober, 7). Die Bäcker waren an strikte Qualitätsvorgaben gebunden, durften das Brot erst nach einem Anerkennungsverfahren backen, in dem sie sich an reichsweite Vorgaben binden mussten. Dazu gehörte auch die Verwendung einheitlicher Werbematerialien. Gleichwohl sollten die Bäcker auch eigenständige Propaganda betrieben. Einheitlicher Auftritt und variable Ergänzungen, so das Ziel.

Freiwillige Ergänzungen gab es schon in den Zeitungen und (seltener) Zeitschriften. Das galt vor allem für ein kurzes „Interview“ mit Hans Adalbert Schweigart, der Kernbotschaften bündelte und freudig betonte, dass das neue Brot schon bald an der Spitze der Spezialbrote des Reiches stehen werde (Westfälische Zeitung 1934, Nr. 252 v. 26. Oktober, 5; Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 5). Darin kündigte er zudem einen „großen umfassenden Werbefeldzug“ an (Milchweißbrot [sic!] an der Spitze der Spezialbrote, Badischer Beobachter 1934, Nr. 293 v. 26. Oktober, 8).

Nachziehender Aufbau des Vertriebs

Die Werbung für das Milcheiweißbrot war visuell durchaus ansprechend, erfolgte in der Tradition der landwirtschaftlichen Werbeausschüsse, die im Anschluss an das landwirtschaftliche Notprogramm seit 1928 mit immensen Kosten für heimische Lebensmittel warben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Göttingen 2018, 334-339). Auch wenn das neue Brot „gesund“ war, so stand dieses für spätere NS-Kampagnen typische Attribut noch nicht im Mittelpunkt der Propaganda, ging es beim Kraftbrot doch weit stärker um den Nährwert.

Dennoch war die Einführung des Milcheiweißbrotes durchaus charakteristisch für die Propaganda in der Frühphase des NS-Regimes. Es ging nicht mehr um martialisch ins Bild gesetzte Massenveranstaltungen und SA-Aufmärsche, um einen fordernden Redner, wie während der Durchbruchsphase 1930 bis 1932. Diese Bildwelten waren verfälschend geglättet, zeigten nur selten – wie etwa in Leni Riefenstahls (1902-2003) Film „Sieg des Glaubens“ über den 5. NSDAP-Reichsparteitag – irritiert in die falsche Richtung marschierende Männerhorden. Sie widmeten sich auch nicht den massiven hygienischen Problemen urinierender und defäktierender Menschen, geschweige denn den unzähligen Übergriffen auf fesche Mädel. All dies wurde propagandistisch glattgezogen, wird in heutigen Dokumentationen entsprechend übergangen. Bei der Einführung eines neuen Lebensmittels aber bildete die Verkaufstheke ein regulatives Moment. Die Einführung blieb größtenteils virtuell, denn es gelang anfangs nicht, Milcheiweißbrot in nennenswerter Menge herzustellen und zu verkaufen. Milcheiweißbrot steht entsprechend für das Maulheldentum der frühen NS-Expertokatrie, das an den Willen zur Veränderung und zum Mitziehen appellierte, zugleich aber die Mühen der Ebene vernachlässigte. Es bedurfte mehrerer Jahre organisatorischen Feinschliffs, ehe die Interaktion zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, NSDAP und Staat soweit eingespielt war, das angekündigte Produkte auch wirklich käuflich waren. Vollkornbrot, der Eiersatz Milei oder das Molkenährmittel Migetti waren dafür gute Beispiele.

Die Einführung des Milchweißbrotes 1934 verzögerte sich nicht nur aufgrund der für die deutsche Wirtschaft und insbesondere Naturwissenschaftler recht typischen Vernachlässigung der Vertriebsprobleme, sondern es hakte auf verschiedenen Ebenen: Beim bürokratischen Antragswesen, der unzureichenden Integration der Bäcker und Magermilchproduzenten sowie der Neigung, die Lebensmittelinnovation schlagartig einzuführen, statt sie langsam und stetig in den Markt einsickern zu lassen.

Werbung für Spezialbedarf: Gummierapparat und Backhilfsmittel für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 640 (l.); ebd. 37, 1935, 23)

Beginnen wir mit der rasch zunehmenden Bürokratie: Seit 1930 wurde die Gewerbefreiheit im Deutschen Reich vielfältig eingeschränkt. Die Beimischungszwänge entfernten tradierte Lebensmittel aus den Läden, setzten an ihre Stelle Kunstprodukte staatlichen Willens. Die Devisenzwangswirtschaft verringerte die Möglichkeiten, Rohwaren frei einzukaufen. Notverordnungen und der im Aufbau befindliche Reichsnährstand legten Preise (und Löhne) fest, ebenso Mengenbeschränkungen. Staatliche, vor allem aber vom Staat (und der NSDAP) beauftragte Institutionen etablierten eine umfangreiche Bürokratie. Milcheiweißbrot war nur mit einer offiziellen Erlaubnis möglich. Dazu musste ein Bäckermeister ein Antragformular von seinem Obermeister anfordern, der dieses wiederum vom regionalen Milchwirtschaftsverband erhielt. Der Antrag musste ausgefüllt an den Obermeister zurückgesandt werden, dieser kommentierte ihn, um ihn dann dem Milchwirtschaftsverband zur Entscheidung weiterzuleiten, der schließlich eine im Regelfall zeitlich begrenzte Genehmigung erteilte (Anträge auf Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 555). Anschließend musste sich der Bäckermeister um die Trockenmilch kümmern, die er nicht einfach so kaufen konnte. Milchpulver wurde den regionalen Innungen und Verkaufsgenossenschaften entweder von der Reichszentrale Deutscher Bäckergenossenschaften eGmbH in Berlin oder aber der dort ebenfalls residierenden Gemeinschaft Deutscher Lebensmittel-Großhändler zugewiesen, deren Kontingente zuvor bei der Reichsstelle für Milcherzeugnisse, Öle und Fette angemeldet und bewilligt werden mussten (Werner Johann, Der Vertrieb des Milchpulvers, RBKZ 36, 1934, 555). Es ist nachvollziehbar, dass die Anfang Oktober 1934 vielen Bäckern noch nicht bekannte Einführung zum 1. November nicht umgesetzt werden konnte. Ende November waren in Rheinland und Westfalen 4.500 Anträge bewilligt worden, ein knappes Drittel der 14.000 brotherstellenden Betriebe (Zeno-Zeitung 1934, Nr. 331 v. 1. Dezember, 7). Das bedeutete aber nicht, dass diese schon das entsprechende Milchpulver hatten. Und auch die je nach Brotart erforderlichen Umstellungen in den Bäckereien und den (recht wenigen) Brotfabriken waren vielfach noch nicht erfolgt.

Genehmigungszahlen als trügerischer Erfolgsausweis (Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 330 v. 2. Dezember, 11)

Parallel aber gab es strikte Ansprüche auch an die Innungen. Die Milchwirtschaftsverbände hatten vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft die Vorgabe erhalten, mindestens 80 Prozent der Betriebe zu erfassen und einzubinden (Das Milch-Eiweißbrot, Solinger Tageblatt 1934, Nr. 279 v. 30. November, 11). Dieser Druck wurde durchgereicht: „Die Bäckerobermeister sind nunmehr durch ihre übergeordneten Bäcker-Innungsverbände verpflichtet worden, dafür Sorge zu tragen, daß auch dort, wo die Beteiligung augenblicklich noch zu wünschen übrig läßt, in kürzester Frist alle Bäckermeister, deren Betrieb als geeignet zu betrachten ist, sich in den Dienst der nationalen Sache zu stellen haben“ (Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 616).

Rezeptdienst für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 76)

Derweil hatten die Bäcker zwar die einer Genehmigung folgenden Werbematerialien erhalten, nicht aber die für die Produktion erforderlichen Grundrezepte. Anfang Dezember hatte das Reichsbildungsamt des Bäckerhandwerkes drei Rezepte für unterschiedliche Milcheiweißbrote getestet und reichsweit 20.000 einschlägige Hochglanzbögen gegen Gebühr versandt. So sollten die nicht wenigen Brotfehler minimiert werden, die vor allem aufgrund falscher Mengen und schlechter Roggenmehle bei vorpreschenden Bäckermeistern entstanden waren. Diese Rezepte durften sie ihren Kollegen allerdings nicht weitergeben. Ohne Entgelt kein Rezept. Und bei Produktion abseits der Grundrezepte wurde die Genehmigung zurückgezogen. Dadurch veränderte sich auch das Milcheiweißbrot selbst. Während Werbeplakat und Verkaufssignet-Signet runde Brote zeigten, sollte die Form nun vierkantig sein, um es besser vom Standardbrot abheben zu können (Hans Lubig, Rezeptdienst und Gesellenaustausch, RBKZ 36, 1934, 614). All dies unterstreicht, dass die auf den 1. November 1934 gesetzte Einführung des Milcheiweißbrotes illusorisch war, von der bürokratischen Struktur des selbstgeschaffenen Systems abstrahierte.

In solchen Fällen setzt Propaganda auf Aktivisten und Vorzeigebäcker. Das galt etwa für Bielefeld, wo vermeintlich alle Bäcker das neue Kraftbrot backen und verkaufen wollten. Die Ostfalen hatten sich daher schon größtenteils mit Milchpulver eingedeckt. Bald werde man durchstarten: „Die Bäcker werden sofort mit dem Backen beginnen, sobald die Kennzeichnung (Streifband und Aushängeschilder) von Berlin bei der Innung eingegangen und den einzelnen Bäckern zugestellt worden ist“ (Alle Bielefelder Bäcker backen, Westfälische Zeitung 1934, Nr. 253 v. 27. Oktober, 5). Eine Woche danach sprach man von Mitte November, musste der Bäcker doch „erst einen Fragebogen auszufüllen, […] in dem er sich verpflichtet, eine vorgeschriebene Menge an Milchpulver zu verbacken“ (NS-Volksblatt für Westfalen 1934, Nr. 258 v. 2. November, 10). Zeitgleich meldete man aus Bonn, dass es Verzögerungen gäbe, denn ohne Genehmigung kein Milchpulver: „Alle die kleinen und großen Feinschmecker, die sich schon auf die neuen Leckerbissen freuen, müssen sich also noch einige Zeit gedulden“ (Das Mittelrheinische Landes-Zeitung 1934, Nr. 254 v. 3. November, 6). Andernorts stammelte man bescheidener, so Anfang Dezember in Remscheid, wo nun knapp 50 der 102 Bäckereibetriebe „ihre Anmeldungen dazu einreichen“ wollten (Remscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 1. Dezember, 5). Und in Solingen wurde Rezepte und erste Genehmigungen erst kurz vor Weihnachten verteilt (Gemeinschaftsveranstaltung der Bäcker, Ohligser Anzeiger 1934, Nr. 293 v. 15. Dezember, 5). In all diesen Städten wurde Milcheiweißbrot (noch) nicht gebacken, von Ausnahmen abgesehen.

Uneingestandenes Scheitern als Schlagzeile (Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 595 v. 20. Dezember, 5)

Etwas ehrlicher tönte es aus dem Südwesten: „Zur Zeit wird in den Bäckereien eifrig nach dem neuen Milcheiweißbrot gefragt. […] Aber es ist noch nicht soweit, und es wird auch am 1. November […] noch nicht soweit sein. Die Vorbereitungen nehmen offenbar einige Zeit in Anspruch“ (Wann kommt das deutsche Kraftbrot?, Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 508 v. 30. Oktober, 5). Kurz vor Weihnachten setzte die Landesbauernschaft Württemberg den Produktionsbeginn auf Neujahr 1935 fest (Milcheiweißbrot ab 1. Januar, Schwäbischer Merkur 1934, Nr. 297 v. 21. Dezember, 5). Auch aus Sachsen wurde damals die lichte Zukunft schönfärberisch beschworen: „Bald wird es jeder Bäcker als eine Ehre betrachten, auch in seinem Laden das Schild zu haben: ‚Verkaufsstelle für Milcheiweißbrot‘“ (Der Bote von Gesing und Müglitztal-Zeitung 1934, Nr. 147 v. 15. Dezember, 3). Festzuhalten ist also, dass der so machtvolle NS-Staat es nicht nur nicht schaffte, den selbstgesetzten Einführungstermin auch nur ansatzweise einzuhalten, sondern dass Milcheiweißbrot offenbar erst Anfang 1935 in größerer Menge angeboten wurde.

Auch dann waren genauere Informationen rar: Im rheinischen Rheydt war Milcheiweißbrot Anfang Februar 1935 „in sämtlichen Bäckereien zu haben, aber bisher wird es noch nicht viel gekauft“ (Gladbach-Rheydter Tageblatt 1935, Nr. 28 v. 2. Februar, 5). Einzig die Aktivistenstadt Bielefeld machte eine Ausnahme: Dort „bezifferte sich die Nachfrage in den ersten Tagen des Verkaufs auf rund 1000 Stück je Tag, dann aber ließ das Interesse der Käufer nach, heute werden täglich rund 600 bis 700 Stück in sämtlichen Bäckereibetrieben der Stadt verkauft. Im ganzen wird von maßgeblicher Stelle der Verkauf bisher auf rund 100.000 Milcheiweißbrote geschätzt“ (Westfälische Neueste Nachrichten 1935, Nr. 35 v. 10. August, 6). Das war innerhalb von acht Monaten knapp ein Brot für jeden der ca. 110.000 Einwohner. Recht wenig für ein Volksnahrungsmittel. Und das war eine sehr seltene Erfolgsmeldung.

Werbefeldzug für das Milchweißbrot

Propaganda ist weit mehr als die Einführung und Positionierung von etwas Neuem. Die Milcheiweißbrotpropaganda zielte weit über die Kastenformen hinaus. Sie zielte auf eine für Machtpolitik funktionale Lebensmittelpalette, für die Nutzung heimischer Ressourcen, für die Revision der verhassten Ordnung der Pariser Friedensverträge. Sie zielte auch auf einen neuen nationalsozialistischen Konsumenten, gläubig und folgsam, begeisterungsfähig und Teil eines völkisch-reflektiert agierenden Kollektivs. Um diese Weitung der NS-Propaganda, auch bei einem einzelnen Volksnahrungsmittel, wirklich in den Blick zu bekommen, müssen wir uns den Narrativen und Praktiken widmen, die immanenter Teil der neuen Brotpropaganda waren. Als solche waren sie harmlos, fast wie zuvor. Doch im Kontext der Zeit, eines sich trotz massiver Krisen konsolidierenden und unbeirrt, wenn auch im Detail flexibel, auf die Umsetzung einer mörderischen Ideologie zielenden Regimes, dienten sie immer auch dieser breiteren Zielsetzung.

Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus war hierarchisch, die vielfach wissenschaftlich begründeten Produkte und Praktiken standen in einem Verpflichtungsdiskurs, in dem der Verbraucher nicht manipuliert, sondern regimekonform angeleitet wurde. Oder, in den Worten von Wilhelm Ziegelmayer: „Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit). Durch eine solche Werbung kann wirklich Nachfrage nach Milcheiweißerzeugnissen geschaffen werden, ähnlich wie mit dem Schlagwort ‚Vitaminen‘ berechtigter- oder unberechtigterweise der Verbrauch vieler Nahrungsmittel gehoben wurde“ (Ziegelmayer, 1936, 145). Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus knüpfte damit an gut begründbare und bis heute gängige Werbeformen an. Zugleich aber schuf sie – und auch das soll heute noch vorkommen – an eine selbst geschaffene und geglaubte Welt an, in der es darum ging, Zukünftiges so auszuleuchten, dass es die „Volksgenossen“ mitzog, das Anvisierte dann doch erreichte. Entsprechend konnten objektiv wahrheitswidrige Wunschwelten eröffnet werden: „Wo man geht und steht, spricht man vom Milcheiweiß-Brot, hervorgerufen durch die vorzügliche Reklame, die durch Radio, durch die Zeitung und durch die Vorträge […] durchgeführt ist. Ob beim Friseur, ob in der Wirtschaft, ob im Zigarrenladen, überall wird gefragt“ (Richard Lubig, Das neue Milcheiweiß-Brot. Beginn des Rezeptdienstes, RBKZ 36, 1934, 555). Das waren verlogene Aussagen der Macher, Aussichten auf ihren möglichen Sieg. Die Werbung für das Milcheiweißbrot wurde vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft und den regionalen Milchwirtschaftsverbänden getragen, die Innungen unterstützten. Hausfrauen standen als Verwalterinnen des Wirtschaftsgeldes im Mittelpunkt der Werbe- und Propagandaanstrengungen.

Der angekündigte Werbefeldzug setzte reichsweit Mitte Januar 1935 ein (Stand der Milcheiweißbrotaktion, Der Weckruf 22, 1935, 218). Er vertiefte und verbreiterte die oben näher vorgestellten sechs Positionierungen des neuen Produktes, hatte ansonsten den Charme des Unbedingten, des Einhämmerns: „Durch den immerwährenden Hinweis auf das neue Milcheiweißbrot wird jeder Verbraucher unbedingt aufmerksam werden müssen. ‚Milcheiweißbrot‘ muß unbedingt zu einem volkstümlichen Begriff werden“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Dies sollten auch die Bäcker vorantreiben. Sie ergänzte und erweiterte vor allem die Presseberichterstattung.

Den Übergang zu einer intensiveren öffentlichen Werbung markierten im Februar und März 1935 zahllose Werbeumzüge. In Hannover trugen beispielsweise vier berufsgekleidete Bäckergesellen zwei Riesenbrote durch die Innenstadt, Lautsprecherwagen tönten vom neuen Milcheiweißbrot (Zwei Brote wandern durch die Stadt, Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 69 v. 10. Februar, 10). Zwei Wochen später rollten die Lautsprecherwagen neuerlich, spielten nun jedoch flotte Märsche. Im Mittelpunkt aber stand eine Wagenkolonne, darunter ein feierlich geschmückter Vierspänner. Transparente forderten: „Eßt Milcheiweißbrot!“ (Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 91 v. 23. Februar, 10). Die Wirtschaftswerbung Niedersachsen bewegte sich damit in der Tradition des Reichsmilchausschusses. Ähnliches gab es in vielen Städten. Teils blieb es bei Propagandawagen, teils wurden aber auch Proben an die Passanten verteilt. In Düsseldorf sollen es Anfang März 20.000 sauber verpackte Schnitten gewesen sein (3000 besuchen die Ausstellung „Täglich Brot“, Heimat-Zeitung 1935, Nr. 18 v. 2. März, 1).

Deutlich breitenwirksamer waren mehrere Flugblätter, die einerseits durch die Bäcker als Beigabe beim Einkauf verteilt wurden. Sie versuchten, den recht altbackenen Slogan „Milch und Brot machten Wangen rot“ zu popularisieren. Der knüpfte an bekannte Redewendungen an, etwa an „Salz und Brot macht Wangen rot“. Er war jedoch auch eine Umdeutung einer gänzlich anders verstandenen Sentenz: „Milch und Brot macht Wangen rot“ stand traditionell eben für genügend Milch, genügend Brot, getrennt gegessen (Fürs Haus 9, 1890, Probenummer, 6). Und zugleich war er wenig originell, gab es doch bereits kommerzielle Slogans wie „Union-Brot macht Wangen rot!“ (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1934, Nr. 80 v. 6. April, 4).

Sloganwerbung ohne Kraft (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Die Flugblätter priesen das Milcheiweißbrot als Volksnahrungsmittel, als neuen Standard: Es war kräftigend, stärkend, nahrhaft, wohlschmeckend, leichtverdaulich und frischbleibend, gab Kraft, förderte die Gesundheit, verband Stadt und Land. Ein Brot für alle – und auch die Werbung zielte auf alle möglichen Käufergruppen, unterschied kaum Zielgruppen. Der positiv-preisende Tenor wurde durch Ängste vor Unterversorgungen gesteigert. Das Milcheiweißbrot helfe gegen den Eiweißmangel, ergänze andere Grundnahrungsmittel, erschließe das pflanzliche Eiweiß besser.

Die Gefahr des Eiweißmangels (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Flugblätter wurden aber auch an die Frauenorganisationen gesandt. In Schulen wurden Klassensätze verteilt, um sie im Unterricht zu besprechen, um über die Kinder die Eltern zu erreichen. „Die Milch auf der Walze“ spielte mit der Faszination der Technik, der Transformation der Kinder bestens vertrauten flüssigen Vollmilch in trockene Formen (Stolzenauer Wochenblatt 1935, Nr. 37 v. 13. Februar, 1). „Geburtsanzeige“ spielte mit der Kraft des umgestaltenden Geistes, mit der Vorstellung guter sorgender Mächte, sei es der Wissenschaft, sei es des Staates (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Spätere Flugblätter spannen solche Geschichten weiter, erzählten das „Märchen“ vom Milcheiweißbrot. Darin präsentierte man das neue Volksnahrungsmittel als Teil der „Erzeugungsschlacht“, wies den Kritikaster „Freund Alleswisser“ in die Schranken, der an Brote aus den „hungrigen Kriegs- und Nachkriegsjahren“ erinnerte. Die Eltern sollten nachdenken, dann handeln: „Schicke also Deinen kleinen Hansi oder Deine kleine Gretl zum Bäcker und mache einen Versuch! Du wirst sicherlich zufrieden sein und Deine Kinder werden mit Stolz ein Stück Milcheiweißbrot zur Schule tragen und dann wird der Lehrer oder die Lehrerin lächelnd und freudig sagen: So, das ist ein wackeres Kind, es ißt sein Stück Brot und kämpft mit im Kampf um eigenes – um deutsches Brot“ (Verbo – Der Rottum-Bote 1935, Nr. 70 v. 22. März, 8). Propaganda appellierte an das Gute, an das heilige deutsche Brot, bis heute eines „unserer“ Vorzeigeprodukte.

Das Milcheiweißbrot wurde zugleich aber von Frauenverbänden reichsweit propagiert. Kleine Ausstellungen und Hausfrauenabende besaßen einen Januskopf von Geselligkeit und verpflichtender „Aufklärung“. Die Amtsleiterinnen der NS-Frauenschaft erhielten gesonderte Schulungsblätter, Vollzug war zu melden. Schon Ende 1934 waren an vielen Orten Proben verteilt worden – selbst wenn das Brot nicht wirklich zu kaufen war (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 279 v. 17. November, 10; Erzgebirgischer Volksfreund 1934, Nr. 277 v. 28. November, 3). Im Januar tourten Wissenschaftler wie Schweigart, Moog und Hennewig, beschworen die Magermilchverwertung, die „Selbstdisziplin vom Erzeuger wie vom Verbraucher“, priesen die gut haushaltende „planmäßige Volkswirtschaft“, beantworteten im Hausfrauendialog auch Fragen (Vom Detmolder Hausfrauenbund, Lippische Landes-Zeitung 1935, Nr. 8 v. 10. Januar, 8; Hausfrauen und Marktregelung, Münsterischer Anzeiger 1935, Nr. 27 v. 16. Januar, 3; Speisenausstellung der Frauenwirtschaftskammer, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 36 v. 5. Februar, 6).

Präsentation von Milch-, Käse- und Brotvarianten während einer Veranstaltung der NS-Frauenschaft in Mannheim (Neue Mannheimer Zeitung 1935, Nr. 85 v. 20. Februar, 7)

Charakteristischer noch war gemeinsames Verkosten in trauter lokaler Runde. Das war auch typisch für parallel stattfindende Ausstellungen, etwa der Berliner „Grünen Woche“, der Düsseldorfer Fachausstellung „Täglich Brot“ oder aber den noch üblichen „Braunen Messen“. Die Auswirkungen sind nicht wirklich einzufangen, in der Presse aber klang es appetitanregend: „Da ist zunächst das neue Milcheiweißbrot, hübsch knusprig, in länglichen Formen gebacken, sieht es appetitanregend aus und schmeckt, wie eine Kostprobe bewies, einfach wunderbar“ (Streiflichter von der Schau „Täglich Brot“, Der Mittag 1935, Nr. 52 v. 3. März, 8). Mit etwas mehr Abstand besehen, handelte es sich jedoch um eine Art Fremdbeglückung. Standen bei Hausfrauenveranstaltungen ansonsten oft selbst zubereitete Speisen im Mittelpunkt, so war es nun ein von Bäckern hergestelltes, nur als Fertigware zu erprobendes Milcheiweißbrot. Die Hausfrauen wurden als Konsumentinnen angesprochen, ihre haushälterischen Fertigkeiten noch nicht herausgefordert. Das sollte in den folgenden Jahren anderes werden, insbesondere beim „Kampf dem Verderb“.

Werbung für Rundfunkwerbung (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 38)

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot nutzte zudem gezielt audiovisuelle Medien. Audiovisuelle Medien faszinierten schon vor der Machtzulassung nationalsozialistische Kader, die rasche Übernahme der Kontrolle des Films und des Rundfunks durch das neu gegründete Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda diente der Machtsicherung, der Machtausweitung. Die NS-Illustrierte „Illustrierter Beobachter“ besaß seit 1931 eine gesonderte Rubrik „Der Funk-Beobachter“, und schon im Februar 1933 gründete der parteieigene Franz-Eher-Verlag die bald erfolgreichste Programmzeitschrift der NS-Zeit, den „NS-Funk“.

Entsprechend diente auch der Rundfunk der Propagierung des Milcheiweißbrotes. Dies war nicht Werbung, sondern eine staatspolitische Aufgabe. Einerseits wandte man sich im Januar 1935 zwei Wochen lang direkt an die Hausfrau, machte sie während der kurz vor Mittag ausgestrahlten „Stunde der Hausfrau“ mit sogenannten Werbesprüchen, also in der Regel gereimten Jingels, auf das neue Produkt aufmerksam. So könne sie am „Aufbau der deutschen Wirtschaft und an der Gesundung unseres Volkes gewissenhaft mitarbeiten“ (Milcheiweißbrot, Lippspringer Anzeiger 1935, Nr. 13 v. 16. Januar, 8).

Doch es gab auch eine Art Bildungsprogramm, also moderierte Gespräche über aktuelle Themen. Am 8. Februar 1935 diskutierten der Ingenieur Emil Moog, Abteilungsleiter des Rheinisch-westfälischen Milchwirtschaftsverbandes sowie der 33-Jährige „alte Kämpfer“ Richard Lubig, Reichsbildungsobmann des Bäckerhandwerkes, in der Nachkriegszeit bekannt für sein Laktasebrot und das sog. Schaumsauerverfahren, über die Frage „Kennen Sie schon das Milcheiweißbrot?“ Stichwortgeber war Karl Holzamer (1906-2007), späteres NSDAP-Mitglied, langjähriger SWF-Rundfunksratvorsitzender und von 1962 bis 1977 Intendant des ZDF. Lubig lobte die Schmackhaftigkeit des neuen Brotes, Moog eher den Gesundheitswert (Das Milcheiweiß-Brot im Rundfunk, RBKZ 37, 1935, 75-76).

Inszenierung der Betriebsgemeinschaft: Gemeinschaftliches Hören einer Rundfunksendung über das Milcheiweißbrot in einer Backstube (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 75)

Breitenwirksamer waren wohl die von April bis Juni 1935 in den Kinos laufenden Werbekurzfilme. Hinzu kamen reichsweit präsentierte „Ton-Diapositive“, also vertonte, mit einem kurzen Merkspruch erläuterte Werbebilder. Auch es blieb nicht beim Sehen, denn viele Kinos boten parallel Milcheiweißbrot als gesunden Snack an (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Eine größere Präsenz in den Gaststätten scheiterte jedoch (Milcheiweißbrot in den Gaststätten, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 142 v. 23. Mai, 4).

Nicht näher eingehen muss man auf die nicht kleine Zahl populär gehaltener Propagandaartikel. Trotz der Affinität zu audiovisuellen Massenmedien gründete der Aufstieg der NSDAP immer auch auf der Presse, wenngleich der Ausbau der eigenen Verlagsmacht relativ spät einsetzte, die SPD- und Zentrumspresse Anfang 1933 weit höhere Auflagen aufwies. Der Parteivorsitzende Adolf Hitler (1889-1945) betonte immer wieder: Die Presse „besorgt in erster Linie diese ‚Aufklärungsarbeit‘ und stellt damit eine Art von Schule für die Erwachsenen dar“ (Die ‚öffentliche Meinung‘ und ihre Fabrikation!, Illustrierter Beobachter 6, 1931, 453).

Insgesamt variierten die vielgestaltigen Propagandaartikel, die meist von lokalen Akteuren platziert wurden, die bereits hinlänglich bekannten Weisen. Es galt mit Magermilch zum Vorteil aller zu haushalten (Eiweiß von 20 Millionen Schweinen, Weißeritz-Zeitung 1934, Nr. 275 v. 26. November, 7), den Sinn des neuen Volksnahrungsmittels zu unterstreichen, das Bild des sorgenden Staates zu unterfüttern (Flörsheimer Zeitung 1934, Nr. 146 v. 6. Dezember, 2; Etwas vom Brotbacken. Ein Wort an die Hausfrau, Lippspringer Anzeiger 1934, Nr. 288 v. 12. Dezember, 8). Wie schon in den Flugblättern präsentierte man die Milchtrocknung als wissenschaftliches Husarenstück, als Milch in der Tüte (Der Neuling auf dem Frühstückstisch, Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1934, Nr. 15076 v. 2. November, 3). Und man nahm immer wieder die Hausfrau in die Pflicht: Bringt „das vorzügliche Milcheiweißbrot auf den Tisch! Ihr seid es der besseren Ernährung unseres Volkes schuldig“ (Hausfrauen, paßt mal auf!, Niederrheinische Landeszeitung 1934, Nr. 288 v. 13. Dezember, 5).

Im Rahmen des Werbefeldzuges 1935 konzentrierten sich die Propagandaartikel zunehmend auf die Eiweißfrage, auf die damit verbundene Sorge der Frau für Kinder und Mann (Das neue gute Brot, Wittener Volks-Zeitung 1935, Nr. 25 v. 30. Januar, 3; „Bitte, geben Sie ein gut ausgebackenes Milcheiweiß-Brot“, Hildener Rundschau 1935, Nr. 45 v. 22. Februar, 3). Zudem finden sich nun reichsweit platzierte Artikel für die bunten Seiten und Wochenendbeilagen. Sie simulierten teils Alltagssituationen, etwa Gespräche zwischen bürgerlichen Hausfrauen (Erlauschtes vom Kaffeeklatsch, Bremer Zeitung 1935, Nr. 76 v. 17. März, 22). Da erschien die freundliche Ratgeberin, die von Frau zu Frau das Milcheiweißbrot vorstellte und pries (Liesel Wulff, Milcheiweißbrot, Die Glocke am Sonntag 1935, Nr. 6 v. 10. Februar, 20; Sächsische Volkszeitung 1935, Nr. 35 v. 10. Februar, Beil. Die praktische Hausfrau, s.p.; Oldenburger Landwirt 29, 1934, Nr. 49, 1). Und da war Milcheiweißbrot als Waffe gegenüber dem feindlichen Ausland, als Teil der Ersatzmittelwirtschaft, als Pendant zum synthetischen Treibstoff, den neuen Kunstfasern: „Wir tanken Holz. Wir essen Milcheiweißbrot. Wir haben eine fabelhafte funktionierende Marktordnung geschaffen. Wir haben Wunder gewirkt“ (Fleischlose Tage, Altenaer Kreisblatt 1935, Nr. 256 v. 1. November, 1). Derartiges Selbstlob mündete fast zwingend in Sendungsbewusstsein. Wahrheitswidrig wurde behauptet, dass auch die Niederlande und die Schweiz ähnliche Spezialbrote entwickeln würden, dann auch Schweden (Ernährungsdienst 1934, Nr. 2, 2; Deutsches Brot wird in Schweden als Vorbild hingestellt, Die Glocke, Ausg. B 1937, Nr. 117 v. 1. Mai, 3). Wir sind wieder wer…

All das war Propaganda, zielte auf einen seine völkischen (Einkaufs-)Pflichten stolz erfüllenden nationalsozialistischen Konsumenten. Realistischere Einschätzungen findet man in den Berichten der Auslands-SPD. Lapidar meldete man die Maßnahmen: „Brot wird mit Trockenmilchpulver versetzt gebacken und als besonders wertvoll und nahrhaft zu teuren Preisen angeboten“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 2, 1935, Nr. 5, A-12). Nach Auskunft der unter hohen persönlichen Risiken berichtenden Gewährsleute war dies Teil und Ausdruck einer vor allem im Fettsektor krisenhaften Lebensmittelversorgung. Für sie weckte die Propaganda „die Erinnerung an Kriegswirtschaft und Kriegsnot […], so dass jede ‚Versorgungsspannung‘ automatisch neue Hamsterwellen hervorruft. Seit man z.B. aus agrarpolitischen Gründen das Brot verschlechtert hat, macht man für dieses neue „Milcheiweissbrot‘ eine Propaganda, die der Propaganda für das Kriegsbrot aufs Haar gleicht“ (Ebd., Nr. 9 v. 16. Oktober, A-39). Das mochte so nicht zutreffen, doch es gab Einblicke abseits der Propaganda: „Auch das Brot ist schlechter geworden – wie das Kriegsbrot. Die Bäcker schimpfen, sie behaupten, das Mehl habe sich verschlechtert. Zudem hat sich ihre Preisspanne verringert, da sie die Festpreise nicht überschreiten dürfen. Das Milcheiweissbrot setzt sich nicht durch, es schmeckt aber auch trocken wie Stroh. Ausserdem habe sich nur wenige Firmen zur Herstellung entschlossen“ (Ebd. 3, 1936, Nr. 12 v. 15. Januar, A-12). Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot verfehlte offenbar sein Ziel. Öffentlich wurde das beschwiegen, propagandistisch übertüncht. So findet sich das vermeintliche Volksnahrungsmittel immer mal wieder in den damals zunehmend üblichen Wochenspeisezetteln (etwa Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 97 v. 27. Februar, 14; Nr. 146 v. 27. März, 15; Nr. 401 v. 28. August, 12; Nr. 473 v. 9. Oktober, 18; ebd. 1936, Nr. 46 v. 29. Januar, 17; Nr. 180 v. 18. April, 21; Nr. 307 v. 4. Juli, 23). Selbst den Heiligabend 1935 sollte man mit (Ersatz-)Kaffee und Milcheiweißbrot mit Honig beginnen.

Den Heiligabend mit Milcheiweißbrot beginnen (Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 583 v. 13. Dezember, 31)

Paradoxien der Werbung: Milcheiweißbrot als Fabrikware

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot blieb also keine Ankündigung. Milchwirtschaft und Reichsnährstand unternahmen vielgestaltige Anstrengungen um trotz des katastrophalen Startes das neue Brot stärker zu popularisieren. Die eingesetzten Werbemittel hätten auch von den landwirtschaftlichen Werbeausschüssen Ende der 1920er Jahre eingesetzt werden können. Und doch fehlte eine entscheidende Zwischenstufe. Während gängige Lebensmittel und nicht zuletzt Innovationen sehr rasch ihren Weg in die Anzeigen des mittelständischen Einzelhandels, der Filialbetriebe oder aber der Einkaufsgenossenschaften fanden, waren entsprechende Anzeigen für das Milcheiweißbrot selten.

Einzelanzeigen (Der Sächsische Erzähler 1934, Nr. 275 v. 26. November, 4 (l.); Merseburger Korrespondent 1934, Nr. 288 v. 10. Dezember, 10)

Das lag gewiss an den recht kleinen Einzugsgebieten, an einem meist recht überschaubaren Sortiment, an einem habitualisieren Einkaufsverhalten. Doch gerade zu den christlichen Hochfesten und den neuen staatlichen Feiertagen schalteten größere Bäckereien häufig Anzeigen, schmückten auch ihre Schaufenster, vielfach nach staatlichen Vorgaben. Für das Milcheiweißbrot wurde in den Zeitungen jedoch kaum geworben.

Einzelanzeigen (Sauerländisches Volksblatt 1934, Nr. 278 v. 3. Dezember, 4 (l.); Langenberger Zeitung 1935, Nr. 191 v. 17. August, 6)

Man bediente sich in diesen Fällen der einschlägigen Werbephrasen, lobte das Kraftbrot, verwies auf die staatliche und institutionelle Propaganda. Ansonsten wurde höchstens bei der Einführung kurz annotiert. Gemeinschaftswerbung der Innungen fehlte. Darin zeigt sich deutlich die kritische, ja häufig ablehnende Grundhaltung vieler Bäcker gegenüber dem Milcheiweißbrot. Die eingeforderten Plakate und Verkaufs-Signets mussten reichen. Die Sache würde schon enden…

Milcheiweißbrot bei der verfemten Konkurrenz der Konsumgenossenschaften (Bote für Stadt und Land 1935, Nr. 53 v. 22. Februar, 5 (o.); Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 11 v. 14. Januar, 6)

Konkurrenten nutzten dagegen die mit dem neuen Brot verbundenen Chancen. Die durch Handwerksbäcker strikt bekämpften und durch das Gesetz über Verbrauchergenossenschaften vom Mai 1935 eng begrenzten und zunehmend bedrohten Konsumgenossenschaften ließen in ihren zumeist größeren und leistungsfähigen Bäckereibetrieben vielfach Milcheiweißbrot herstellen, stellten dadurch ihre Loyalität zum NS-System öffentlich unter Beweis. Die Anzeigen setzten Anfang 1935 ein, finden sich aber auch noch im Folgejahr (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1936, Nr. 152 v. 30. März, 12; Hamburger Tageblatt 1936, Nr. 98 v. 8. April, 10; ebd. 1937, Nr. 82 v. 24. März, 6; Verbo – Der Rottum-Bote 1936, Nr. 79 v. 3. April, 12; Verbo – Buchauer Tagblatt 1936, Nr. 84 v. 9. April, 8).

Milcheiweißbrot als Teil eines breiteren Sortiments von Spezialbroten (Frankenberger Tageblatt 1936, Nr. 80 v. 9. April, 3 (l.); Viernheimer Volkszeitung 1938, Nr. 100 v. 30. April, 8)

Filialbetriebe folgten ebenfalls, integrierten das Milcheiweißbrot in ihre breiten Sortimente. Im Bäckereihandwerk wurde es dagegen ab 1936 einzig noch bei Spezialbäckereien beworben. Das angereicherte Produkt diente dann aber nicht als Volksnahrungsmittel, sondern als Alltagshilfe für Kranke und Rekonvaleszente. In gewisser Weise folgte das Milcheiweißbrot also der Marktpositionierung der einst massiv beworbenen Eiweißpräparate der Jahrhundertwende vom Massenmarkt in die Nische.

Mythenproduktion: Nationalsozialistische Konsumlegenden

Dier NS-Propaganda zielte (wie jede Propaganda) auf totale Propaganda. Sie versuchte, „den ganzen und alle Menschen zu erreichen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben“ (Ellul, 2021, 28). Die NS-Propaganda agitierte in ihrer Zeit, wollte diese prägen und beherrschen. Doch sie zielte zugleich darauf, „die Geschichte ihren Bedürfnissen entsprechend neu schreiben“ (ebd., 31).

Die Milcheiweißbrot-Propaganda zielte daher auch auf die Mythisierung und Umdeutung der deutschen (Konsum-)Geschichte. Auf der einen Seite erklärte man das neue Brot einfach als eine modernisierte Rückkehr zur bewährten Praxis der Vorkriegszeit: „Bis zum Kriege war es üblich, daß jeder Brotteig mit Milch, und zwar hauptsächlich mit entrahmter Milch, angesetzt wurde. Dieser Jahrhunderte alte Brauch ist erst in den schweren Kriegsjahren – der Not gehorchend – verloren gegangen: man ersetzte seitdem die Milch durch Wasser“ (Lippische Tageszeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 6). Teils wurde auch die Industrialisierung für diese Abkehr von der eigenen Tradition bemüht, teils an weit verbreitete Agrarromantik angedockt: „Nur auf dem Lande hat sich der alte Brauch meist noch erhalten. Darum schmeckt uns Städtern auch das Landbrot, das Bauernbrot so besonders gut!“ (Ellen Schweigart, Milcheiweiß-Brot – das neue Kraftbrot, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 3. Dezember, 10).

Man fühlt sich angesichts solch systematischer Irreführungen an die heutige Bereicherungsökonomie erinnert, an die gängige Naturmystik bei der Vermarktung von Bio-Lebensmitteln. Doch schon ein flüchtiger Blick ergibt keinen Beleg für das Verbacken von Milch bei der Brotbereitung im Kaiserreich (Fritz Elsner, Die Praxis des Lebensmittelchemikers, Leipzig 1880, 64-69; R. Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 70-73; A. Bender, Brot, in: O[tto] Dammer, Handbuch der chemischen Technologie, Bd. III, Stuttgart 1896, 373-389). Die Eiweißfrage wurde stattdessen vorrangig am Problem des Feinmehls diskutiert. Kleiebrot galt Physiologen teils als gehaltreicher, während andere auf die geringe Ausnutzung des Brotes verwiesen (Palm, 1882, 73). Auch in Kochbüchern findet man keine Belege für das Verbacken von Magermilch im Brot (vgl. etwa Henriette Davidis und Luise Rosendorf, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, 25. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1882, 523-524). Eine Ausnahme bildet lediglich leichtes, mit kalter Milch gebackenes Weißbrot (Luise Holle, Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch […], 37. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1898, 555). Brotrezepte fehlen in der Mehrzahl der bürgerlichen Kochbücher. Magermilch wurde verfüttert, getrunken, zu Weichkäse verarbeitet, nicht aber dem Brot zugemengt.

Ebenso typisch war ein zweiter historischen Mythos, der die Entwicklung der Ernährungswissenschaft schlicht ad absurdum führte. Demnach habe die moderne Wissenschaft, insbesondere die Vitaminlehre, zu einer Neubewertung des Natürlichen geführt, zu einer neuen Wertschätzung „der natürlichen Lebensweise unserer Vorfahren“, zu einem fundierten Weckruf, „die Irrwege einer Zivilisation verlassen, die uns schon in so manche Sackgasse geführt haben“ (Etwas über Milcheiweißbrot, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 264 v. 15. November, 4). Die Nähe zwischen NS-Regime und Ernährungsreformern war bis 1935/36 in der Tat eng (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext, Baden 2010, 134-150). Doch Lehrbücher nationalsozialistischer Hygieniker wie Werner Kollath (1892-1970), die derartige Narrative adelten, erwähnten just das Milcheiweißbrot nicht (Grundlagen, Methoden und Ziele der Hygiene, Leipzig 1937, 314-321). Bei aller berechtigten Kritik an den Fehlern der neuzeitlichen Lebensmittelproduktion, nicht zuletzt der Eiweißanreicherung: Die natürliche Lebensweise der Vergangenheit ist ein irreführender Romantizismus, ebenso die wohlfeile Klage über die Irrwege der Zivilisation. Dass gerade ein wissenschaftliches Kunstprodukt wie Milcheiweißbrot ein „Vorwärts zur Natur“ bedeuten sollte, war überraschend.

Drittens schließlich findet sich in der Propagandaliteratur auch die weitverbreitete Idee eines guten alten Brotes, das durch die neuere Hochmüllerei (und auch der Abkehr von der flüssig verbackenen Magermilch) seine Kernigkeit und seinen Nährwert verloren habe. Dies vorausgesetzt erschien das Milcheiweißbrot als ein neuerliches „Höherwertiger-Machen“ (Hans Schlachcikowski, Wer hat den richtigen Schlüssel?, Altenaer Kreisblatt 1934, Nr. 282 v. 3. Dezember, 6). Technik und Wissenschaft erlaubten demnach eine virtuelle Rückkehr zu den guten alten Zeiten. Dieser Mythos wurde bereits von den Brotreformern der Jahrhundertwende vertreten, sollte die kurze Zeit später begonnene Vollkornbrotpolitik kennzeichnen (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im »Dritten Reich«, 1999 16, 2001, 91-128). Modernes Vollkornbrot war und ist jedoch ein modernes, technisch elaboriertes Produkt, keine Wiederkehr von etwas Verlorenem. Das Umschreiben der Vergangenheit dürfte dennoch auf Zustimmung getroffen sein, so wie die zahllosen Konsummythen unserer Zeit.

Unwillige Bäcker

Das Milcheiweißbrot war ein Flop. Es scheiterte fast schon jämmerlich, auch wenn es noch nach Mitte 1935 angeboten und verzehrt wurde, als der Werbefeldzug endete. Das lautstark und vielgestaltig angepriesene Volksnahrungsmittel mutierte zu einem Nischenprodukt, über dessen reale Bedeutung wir leider nichts sagen können, da es nicht mehr Gegenstand der vom NS-Regime gewährten Öffentlichkeit war, da archivalische Quellen fehlen.

Das Milcheiweißbrot als Eckenbrüller auf der Kölner Gastwirte-Ausstellung im September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Die Ursachen für diesen Flop waren vielgestaltig. Das neue Brot war teurer, der fachlich begründete Verweis auf mehr Eiweiß und einen etwas höheren Nährwert blieb demgegenüber abstrakt. Brot war ein Grundnahrungsmittel, meist unhinterfragtes Korsett der täglichen Kost. Änderungen bedurften daher besonderer Anreize, die diese Morgengabe an die Landwirtschaft kaum hatte. Das neue Kraftbrot folgte auf mehrere staatliche erzwungene Neugestaltungen des Brotes, so dass die Propaganda für ein dauerhaft etabliertes Volksnahrungsmittel recht unglaubwürdig war. Die neue „nationale“ Regierung war 1934 in einer tiefen Krise, konnte viele Versprechungen nur unzureichend erfüllen, eröffnete im Mai einen Feldzug gegen „Miesmacher und Kritikaster, Gerüchtemacher und Nichtskönner, Saboteure und Hetzer“, tötete zwecks Herrschaftsstabilisierung Ende Juni 1934 ca. einhundert SA-Granden und meist konservative Kritiker. Es war nicht ausgemacht, dass diese Regierung nicht zusammenbrechen würde. Hinzu kam der äußerst schwer zu rekonstruierende neuartige Geschmack des Milcheiweißbrotes und schließlich die desaströs verzögerte Einführung, die unartikulierte Zweifel an der Seriosität des ganzen Unterfangens schürte.

Die verzögerte Einführung des neuen Brotes war jedoch nicht nur Folge organisatorischer Versäumnisse, einer nicht reibungslos funktionierenden gelenkten Agrarwirtschaft und ineffizienter Bürokratie. Sie spiegelte vor allem den nur selten öffentlich artikulierten Unwillen der Bäcker, das gegen ihren Willen und gegen ihre Expertise eingeführte Milcheiweißbrot wirklich zu backen. Um das zu begründeten, müssen wir noch einmal genauer auf die Debatten um die Beimischungszwänge eingehen. Das Bäckerhandwerk hatte die neue „nationale“ Regierung freudig begrüßt, Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865-1951) schien einer der Ihren zu sein. Man hoffte Anfang 1933 auf ein rasches Ende der erzwungenen Kartoffelstärkemehlbeimischung, die man mit dem Slogan „Schweinefutter im Brot, gesundes und gutes Getreide im Schweinetrog“ strikt ablehnte (Das Bäckerhandwerk gegen den Kartoffelstärkemehl-Verwendungszwang, RBKZ 35, 1933, 74). Doch dieser „Qualitätsverschlechterung“ der Brotherstellung wurde nicht Einhalt geboten, stattdessen sah man sich zusätzlich mit dem vom Deutschen Landwirtschaftsrat und dem Milchwirtschaftlichen Verband propagierten „Verwendungszwang“ für Magermilch konfrontiert. Die wichtigste Dachorganisation der Bäcker, der Germania-Verband, protestierte gegen die kostenträchtige und nicht praktikable „Aenderung in der bisherigen Arbeitsweise“ (Der Germania-Verband wendet sich an den Reichsernährungsminister, RBKZ 35, 1933, 123). Diese grundsätzliche Kritik behielt der Verband auch im Sommer 1933 bei. Der Magermilchzusatz führe zu „einer erheblichen Verschlechterung der Qualität des Brotes“, verringerte die Backfähigkeit des Mehles, erfordere eine andere Teigführung, die wiederum den natürlichen Getreidegeschmack unterminiere: „Wirtschaftlich gesehen ergibt sich also, daß bei Einführung des Verwendungszwanges von Magermilch ein weniger schmackhaftes Brot für einen erhöhten Preis verkauft werden müßte.“ Der Brotkonsum würde sinken, dadurch auch die Landwirtschaft geschädigt werden. „In der Verschlechterung und Verteuerung sieht es [das Bäckerhandwerk, US] nicht nur für seine Existenz und die Verbraucher, sondern gleichzeitig auch für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung eine unübersehbare Gefahr“ (Ausdehnung des Verwendungszwanges bei der Brotherstellung?, RBKZ 35, 1933, 325 [auch vorherige Zitate]). Das waren deutliche und auch mutige Worte in einer von massiver Gewalt durchzogenen Gleichschaltungsphase der Gesellschaft. Die Bäcker kränkte besonders, dass ihre Expertise nicht genutzt und geschätzt wurde (Kommt die Ausdehnung des Verwendungszwanges?, RBKZ 35, 1933, 349).

Die NS-Regierung erließ dennoch das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch vom 12. September 1933. Den kargen archivalischen Unterlagen gemäß teilte man die Sorgen der Bäcker nicht. Der Zusatz von Trockenmilch würde das Brot verbessern, auch wenn die gesundheitlichen Folgen unklar seien. Da aber keine negativen Erfahrungen vorlägen, sei die Beimischung von Kartoffelstärkemehl und Trockenmilch unproblematisch, andernfalls könne man beide ja auch getrennt verwenden (Bundesarchiv Lichterfelde R 43 II, Nr. 863, Bd. 14, 27-42). Im quasi-amtlichen Völkischen Beobachter hieß es autorativ, dass ein mit Magermilch angereichertes Brot, ein „Milchweißbrot“, entscheidend „zur Versorgung der eiweißhungrigen Volksmassen mit billigstem deutschem Nahrungseiweiß beiträgt“ (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Völkischer Beobachter 1933, Nr. 225 v. 2. Oktober, 13). Der Bakteriologe Traugott Baumgärtel (1891-1969) sekundierte in der auflagenstärksten Ernährungszeitschrift, dass Magermilch „das beste und billigste Naturprodukt“ zur Anreicherung des Brotes sei, und das „neue ‚Milcheiweißbrot‘ eine wertvolle Bereicherung der deutschen Volksnahrungsmittel darstellen“ dürfte (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Zeitschrift für Volksernährung 8, 1933, 316-317, hier 317). In der Fachpresse des Bäckereihandwerkes wurde dies zur Kenntnis genommen, blieb nunmehr unkommentiert (Was ist Trockenmagermilch?, RBKZ 35, 1933, 395).

Es ist nicht davon auszugehen, dass die fachlichen, geschmacklichen und wirtschaftlichen Bedenken gegen das Milcheiweißbrot damit ausgeräumt waren. Im Gegenteil dürfte die deutliche Erhöhung der beizumischenden Magermilchmenge diese nochmals erhöht haben. Doch mit dem am 15. Oktober 1934 auslaufenden Beimischungszwang war nunmehr Freiwilligkeit Trumpf. Das Milcheiweißbrot wurde von der Milchwirtschaft vorangetrieben, sie wachte über die Genehmigungen, sie entwickelte und koordinierte die Propaganda. Die Bäcker aber zogen nicht mit, trotz strikter bürokratischer Überwachung, trotz eindeutiger Vorgaben einer erwarteten achtzigprozentigen Teilnahme.

Flankenschutz für das Milcheiweißbrot: Milchpulverangebote von den Großeinkaufsgesellschaften der Bäcker (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 537)

Anfang 1935, parallel zu einem mangels umfassender Marktpräsenz des Milcheiweißbrotes teils ins Leere laufenden Werbefeldzuges hieß es in einem Rundschreiben des Abteilungsleiter des Rheinisch-Westfälischen Milchwirtschaftsverbands Emil Moog: „Alle Bäckereibetriebe, die die Genehmigung zur Herstellung des Milcheiweißes erhielten, haben nicht nur das Recht, nunmehr das Brot zu backen, sondern auch die Verpflichtung, sich mit Energie und Eifer für die neue Sache einzusetzen.“ Zugleich ließen sich aber die technischen Probleme kaum mehr überdecken: „Wenn beim ersten Back- und Verkaufsversuch auch der volle Erfolg auf einen Anhieb hin noch nicht erreicht ist, so darf dieses den Bäckermeister nicht entmutigen. Der Anfang ist bei einer Neueinführung immer etwas schwieriger. Beim zweiten und dritten Mal wird es schon besser klappen, bis schließlich bei richtiger Ausdauer auch der Erfolg nicht ausbleibt“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Das backtechnisch nicht angemessen erprobte Milcheiweißbrot sollte in der Backstube pröbelnd Gestalt gewinnen. Das war kaum akzeptabel, selbst während der NS-Zeit.

Es folgten Drohungen, ersichtlich etwa in einem Schreiben der Dauermilcherzeuger an den Germania-Verband Anfang 1935: „Ich habe mich während meines Urlaubes überzeugen können, daß die Bäcker, die Milcheiweißbrot führen, tatenlos dem Verkauf gegenüberstehen. Teilweise wird kein Brot den Kunden angeboten, teilweise vergißt man so nebenbei die Banderole um das Brot zu legen usw. Es ist selbstverständlich, daß bei dieser Art von Verkauf man nicht vorwärts kommt. Wenn die Bäcker auch schon ein Interesse daran haben, ein Brot zu propagieren, bei dem sie mehr verdienen, als beim anderen Brot, so ist es doch tiefbedauerlich, daß nicht aus sich selbst heraus das Bäckergewerbe hier das nötige Verständnis aufbringt. Sie werden selbst einsehen, daß ich unter solchen Umständen einen anderen Weg beschreiten muß und werde. Muß denn bei den einzelnen beteiligten Kreisen immer ein Zwang einsetzen?“ (Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 101).

Appelle zur Verwendung von Trockenmilch Anfang 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 19)

Doch dazu kam es nicht, denn das Bäckerhandwerk umfasste 1933 mehr als 100.000 Betriebe mit fast 400.000 Beschäftigten (Das Bäckerhandwerk in der Gewerbestatistik, RBKZ 37, 1935, 241). Parallellaufende Verhandlungen mit dem Reichskommissar für Milcherzeugnisse, Öl und Fett und dem Reichsernährungsministerium führten jedoch dazu, dass der Germania-Verband „den Kampf gegen Materialvergeudung durch Verringerung der Magermilchschwemme“ formal unterstützte. Das aber bedeutete lediglich den Einsatz von Trockenmilchprodukten bei (Weizen-)Kleingebäck und Kuchen. Von der Verbandsleitung wetterte man zwar pflichtgemäß gegen die „Sabotage unverantwortlicher Kreise“, doch erstreckten sich die ebenfalls angedrohten Sanktionen nur auf eine Nicht-Verwendung von Trockenmilchprodukten, nicht aber auf die Nicht-Produktion von Milcheiweißbrot (Trockenmagermilch, Der Weckruf 22, 1935, 74). Die Blockademacht der Bäcker hatte sich im Wesentlichen durchgesetzt.

Milchweißbrot wurde zwar weiter gebacken, keineswegs aber im anvisierten Umfang. Entgegen Gerüchten über ein Ende der Produktion bekräftigte die Brotmarktordnung vom 15. Juni 1935 nochmals seinen Status als Spezialbrot (Milcheiweißbrot und Brotmarktordnung, Verbo 1935, Nr. 52 v. 1. März, 11). Dieser war jedoch zunehmend eine leere Hülle. Von den NS-Aktivisten verlautete verbrämend: „Schon im vergangenen Jahre versuchte man in dem Milcheiweißbrot eine Absatzmöglichkeit für die Magermilch zu finden, aber durch eine Reihe von Ursachen wurde das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte. Jetzt gibt man der Werbearbeit eine neue Richtung, indem man zunächst einmal das deutsche Bäckerhandwerk mit der Verwendung von Magermilch vertraut machen und ihm zeigen will, welche Werte auch für das Bäckerhandwerk die Magermilchverwendung hat“ (Richard Lubig, Milch im Brot, RBKZ 37, 1935, 386). Im Spätsommer 1935 wurden Ausstellungen zwar weiterhin mit Milcheiweißbroten bestückt, doch in das Zentrum traten trotz des Slogans „Milch in Brot“ das im Jahr zuvor stärker geförderte Knäckebrot, vor allem aber Roggen- und Roggenschrotbrote: „Es ist das deutsche Kraftbrot der Zukunft, das Vollkornbrot, das gesundeste von allen, weil es infolge seiner Zusammensetzung die Eigenschaften besitzt, die Zähne, den Rachen, den Magen und Darminhalt zu reinigen“. Das Milcheiweißbrot solle dagegen als Kastenbrot neu erscheinen, „hergestellt nach einem besonderen Rezept“, […] demnächst in ganz Deutschland einheitlich zu haben“ (Das Bäckerhandwerk auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung, RBKZ 37, 1935, 433-434, hier 434). Diese Ankündigung wurde nicht umgesetzt. Wenig später hieß es dann: „Milcheiweißbrot, dem man einen Teil der Magermilch zugesetzt hatte, konnte sich nicht einführen“ (Zentralblatt für innere Medizin 59, 1938, 56).

„Milch in Brot“: Roggen- und Roggenschrotbrot mit verbackenem saurem Milchpulver auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung in Köln, September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Neue Formen der Magermilchverwertung

Das Scheitern des Milcheiweißbrote war auch deshalb möglich, weil die wissenschaftlichen Begleit- und auch die intensive Produktforschung zunehmend andere Formen der Magermilchverwertung bevorzugten. Erstens wurde der anfangs hervorgehobene Beitrag des Milcheiweißbrotes zur Eiweißversorgung stark relativiert, der „Gehalt an Milcheiweiß ist nicht sehr hoch“ (Frank Lamprecht, Die Verwendung von Magermilch, insbesondere Milcheiweiss, in der menschlichen Ernährung, in: Wissenschaftliche Berichte des XI. Milchwirtschaftlichen Weltkongresses, Bd. II, Hildesheim 1937, 270-273, hier 271). Effizientere Präparate seien vorzuziehen.

Zweitens ergaben Untersuchungen möglicher Backverfahren und -mischungen, dass die Qualität der zumeist aus Roggen hergestellten Milcheiweißbrote geschmacklich nicht überzeugen konnte. Paul Friedrich Pelshenke (1905-1985), führender NS-Experte, seit 1934 Leiter des Berliner Instituts für Bäckerei der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung, betonte nach der NS-Herrschaft, „daß insbesondere beim Roggenbrot der Zusatz von normalem Milchpulver völlig indiskutabel ist, weil der Brotgeschmack unangenehm wird. Es verträgt sich nun einmal die Säure im Roggen- wie auch im Roggenmischbrot nicht mit dem typischen Milchgeschmack, den man ja von der Magermilch her kennt“ (P[aul] F[riedrich] Pelshenke, Über Milcheiweißbrot, Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 15, 5-6, hier 5). Das klang in seinen früheren Analysen weniger eindeutig, 1935 sprach er von einer teilweisen „Verflachung des typisch kernigen Sauerteigbrotgeschmacks“, bei einigen Milchpulvern auch von einer „dem Brot fremde Säuerung, die als nachteilig angesprochen werden muß und zu völliger Ablehnung führen kann“. Weizengebäck sei besser geeignet, könne auch mehr Magermilchpulver aufnehmen (Pelshenke und Zeisset, 1936, 5-6).

Drittens entstand seit 1937 für Wehrmacht und Zivilbevölkerung eine rasant wachsende Palette von mit Eiweiß angereicherten Produkten. Wilhelm Ziegelmayer hob Bratlingspulver mit Soja-, Milch- und Molkeneiweiß, Suppenkonserven mit Hülsenfrüchten und aus Roggenschrot, Frischwurst bzw. Dauerwurst mit Keimmasse, Nudel und Käsepulver mit Hefe, Kekse und kochfertige Saucen mit Sojaeiweiß, Migetti und Puddingpulver mit Milcheiweiß, Pemmikan mit Soja- und Milcheiweiß bzw. Weinsäuredrops mit Molken- und Milcheiweiß nach dem Krieg besonders hervor (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 145). Milcheiweiß machte den Anfang, gefolgt von Soja-, Hefe- und Molkeneiweiß. Es handelte sich zumeist um Zwischenprodukte bei Suppen, zur Fleischstreckung und von Süßwaren (Angewandte Chemie 51, 1937, 829). Sie waren auch in der Nachkriegszeit wichtige Bestandteile der Alltagskost, finden sich täglich in unserer Ernährung.

Verhäuslichung der Rohware: Milcheiweißpulver im Haushalt (Ernährungsdienst Nr. 21, 1938, 25; Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Viertens begann man spätestens mit dem Übergang zum Vierjahresplan, Milcheiweißpulver und Trockenmilch auch als häusliches Convenienceprodukte anzubieten. Sie galten als stark machende, lang haltbare und universell einsetzbare Hilfsmittel im Haushalt, waren Vorschein einer neuen modernen nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. In der Nachkriegszeit wurden sie in Ost und West weiter verfeinert und geschmacklich verbessert. Der heute abebbende Eiweiß-Hype macht diese weit verbreiteten Produkte immerhin sichtbar; vorausgesetzt, man kennt ihre, also unsere Geschichte.

Lob der kräftigenden Trockenmilch (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 54 v. 4. März, 14)

Fünftens hatten die raschen Veränderungen auch Rückwirkungen auf das noch vorhandene Nischenprodukt Milcheiweißbrot: 1938 wurde die für eine Anerkennung erforderliche Beimischung von Magermilchpulver resp. Nährkasein auf fünf bzw. 2,5 Prozent verdoppelt. Das behielt man auch während des Krieges bei, obwohl Trockenmilch zunehmend knapp wurde (Milcheiweißbrot als Spezialbrot, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 42, 1940, 45). Die Verordnung vom 26. März 1942 beendete dann die Geschichte des Milcheiweißbrotes während der NS-Zeit (Die neuen Brotzusammensetzungen, Renchtäler Zeitung 1942, Nr. 220 v. 19. September, 5).

Alles neu? Revitalisierung des Milcheiweißbrotes 1953/54

Das Jahr 1945, der militärische Sieg über das Großdeutsche Reich und seine Verbündeten, brachte ein Ende des Schlachtens und Mordens. Das betraf den Krieg, auch die derweil laufenden sieben nationalsozialistischen Massenmordkampagnen (Alex J. Kay, Das Reich der Vergeltung, Darmstadt 2023). Eine Stunde Null hat es dennoch nur ansatzweise gegeben, die gut gemeinten Bemühungen der Besatzungsmächte für einen Neuanfang blieben aus vielerlei Gründen Stückwerk. Nach 1945 dominierte gerade im Agrar- und Ernährungssektor eine Kontinuität der Eliten und der Praktiken. Man vergaß das Geschehene, vergaß die Namen der Macher und Täter, doch diese knüpften in ihren neuen alten Positionen vielfach wieder an das Geschehene an. Das Milcheiweißbrot ist dafür ein beredtes Beispiel.

Im Herbst 1953 lancierte das mit ehedem nationalsozialistischen Funktionseliten gespickte Bundesernährungsministerium – damals waren 70 Prozent der führenden Mitarbeiter frühere NSDAP-Mitglieder, wenige Jahre später dann 80 (Friedrich Kießling, Landwirtschaftsministerium und Agrarpolitik in der alten Bundesrepublik, in: Horst Möller et al. (Hg.), Agrarpolitik im 20. Jahrhundert, Berlin und Boston 2020, 365-512, hier 425-426) – in sechs nordrhein-westfälischen Großstädten eine Gemeinschaftswerbung für „ein mit Milcheiweiß angereichertes Brot“ (Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1). Neuerlich handelte es sich um ein Spezialbrot mit Banderole, neuerlich wurde es als Kraftbrot beworben. Neuerlich war es die Agrarlobby, die hoffte, „ein neues Absatzgebiet für Magermilchpulver zu erschließen“ (Calwer Tagblatt 1953, Nr. 174 v. 30. Juli, 2). Paradoxerweise wurde das altbekannte Milcheiweißbrot jedoch als neu beworben; so als hätte es seinen Vorläufer nie gegeben.

Das „neue“ Milcheiweißbrot in Westdeutschland 1953/54 (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8 (l.); Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1)

Das „neue Milcheiweißbrot“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8) wurde am 1. November 1953 eingeführt – doch bescheidener als ehedem im Oktober 1934. Man hatte offenbar aus der reichsweiten Einführung des Vollkornbrotes 1939 gelernt, das zuvor in zwei Testregionen, in Sachsen und dem Südwesten, eingeführt und evaluiert worden war (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, Comparativ 11, 2001, 27-50). Nunmehr testete man in sechs Großstädten Nordrhein-Westfalens. Vorangegangen waren die üblichen Absprachen der interessierten Kreise, „dem Bundes- und Landesernährungsministerium, dem Bäckerhandwerk, den Brotfabriken und der Milchwirtschaft“ (Brot mit Eiweis [sic!], Sauerländisches Volksblatt 1953, Nr. 4. November, 4). Die Konsumenten blieben außen vor, auch ihre damaligen Repräsentanten, die Konsumgenossenschaften und die Hausfrauenverbände. Mit an Bord waren abermals Vorzeigewissenschaftler. Der Physiologe Heinrich Kraut (1893-1992), trotz NSDAP-Mitgliedschaft und umfangreicher Minimalbedarfsuntersuchungen an Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges wieder Leiter der Abteilung für Ernährungsphysiologie des Max-Planck-Instituts in Dortmund und einer der führenden, auch international gefragten Ernährungswissenschaftler der Bundesrepublik, betonte wie schon seine Vorgänger 1934/35, dass Milcheiweiß in eine moderne und gesunde Kost gehöre, dass es zugleich um billiges Eiweiß für ärmeren Segmente der Bevölkerung gehe. Das unterstrich auch der mittlerweile als Leiter der späteren Bundesanstalt für Getreideforschung in Detmold reetablierte Paul Pelshenke, der ab 1940 die Reichsanstalt für Getreideverarbeitung geleitet hatte (Bundesarchiv Lichterfelde R 4901/13273). Neuerlich führte er Backversuche mit Magermilchbroten durch, allerdings ohne direkt auf seine früheren Forschungen zu verweisen, in denen er verschiedene Roggenmehlvarianten ausdrücklich gutgeheißen hatte. Nun, in einem Umfeld neuer Mehle, neuer Technik, neuer Backhilfsmittel und neuer Milchpulver, sei es jedoch ratsam vom nicht geeigneten Roggen auf Weizen umzustellen (Pelshenke, 1954).

Rein technisch hatte man also aus dem ersten Scheitern gelernt, denn das neue Brot bestand nicht mehr vorrangig aus Roggenmehl, sondern nunmehr zu mindestens 70 Prozent aus Weizenmehl, welches damals massenhaft aus den USA und Kanada importiert wurde. Der Magermilchanteil betrug nun drei Prozent, der Preis lag drei Pfennige höher als der weiterhin staatlich administrierte Preis des Standardbrotes (Eine neue Brotsorte, Honnefer Volkszeitung 1953, Nr. 176 v. 31. Juli, 4). Und wieder klang es erfolgstrunken wie in alten Zeiten: „In Dortmund und Düsseldorf hatten die Bäcker ihre Vorräte von dem Brot, da auch besser schmeckt und sich besser hält, sehr schnell verkauft“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8). Schon einen Monat sprach das NRW-Landwirtschaftsministerium von einer dank einschlägiger Werbung erfolgreichen Einführung (Milcheiweißbrot setzt sich durch, Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 279 v. 1. Dezember, 10). Die Landwirtschaft sekundierte, auch wenn der Preisabstand teils auf fünf Pfennige hochgeschnellt war (Milcheiweißbrot gefällt, Bünder Zeitung 1953, Nr. 300 v. 28. Dezember, 5). Da machte auch der Bäcker mit.

Integration des „Eiweissbrotes“ in die staatliche Agrarwerbung der Bundesrepublik (Honnefer Volkszeitung 1954, Nr. 132 v. 9. Juni, 4 (l.); Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 109 v. 12. Mai, 8)

Anfang 1954 war man dann fast wieder dort, wo man 1934 begonnen hatte: „Das je Kilo um drei Pfennig teurere Brot soll demnächst in allen Städten mit über 50.000 Einwohnern verkauft werden. Bundesernährungsminister Lübke wolle allen Ländern empfehlen, ähnliche Versuche durchzuführen. Falls dieser Plan in die Wirklichkeit umgesetzt wird, ist nach Meinung des Landwirtschaftsverbandes damit zu rechnen, daß der Ueberschuß an Magermilch bis auf einen kleinen Rest aufgefangen werden kann“ (Eiweißbrot soll sich durchsetzen, Bünder Zeitung 1954, Nr. 15 v. 19. Januar, 5). Das Milcheiweißbrot wurde seit Februar 1954 in 26 nordrhein-westfälischen Städten angeboten, die Werbung entsprechend ausgeweitet (Eiweißbrot bewährt sich, Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 39 v. 16. Februar, 3). Stolz hieß es, es „werden jetzt Vorbereitungen getroffen, dieses Milcheiweißbrot im ganzen Bundesgebiet anzubieten“ (Münstersche Zeitung 1954, Nr. 62 v. 13. März, 9). Weitere Pilotprojekte folgten in Kassel, dann in ganz Hessen. Die Bäckereien waren nach wie vor zögerlich, doch das sollte sich langsam legen: 60 Prozent der Kasseler Bäcker beteiligen sich, „nachdem sich zuerst nur zehn Bäckereien zögernd dazu entschlossen hätten“ (Milcheiweißbrot jetzt für ganz Hessen, Mannheimer Morgen 1954, Nr. 170 v. 24. Juli, 10). Zuvor hatte sich das Brot nochmals gewandelt, wurde nunmehr als „Eiweißbrot mit Milch-Eiweiß“ Teil der staatlichen Gemeinschaftswerbung. Trotz weiterer Erfolge blieb der Erfolg jedoch begrenzt. Die 1957 folgende EWG-Gründung führte die nun gemeinsame Agrarpolitik ohnehin in neue Dimensionen, Milchseen und Milchpulverberge wurden gängige Bilder der weitergeführten subventionieren Unvernunft.

Überproduktion und Vorratswirtschaft als Folge der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik, karikiert vom früheren NS-Propagandazeichner Hanns Erich „Erik“ Köhler (1905-1983) (Das Beste aus Reader’s Digest 28, 1975, Nr. 12, 55)

Uwe Spiekermann, 31. August 2025

Als die Werbebilder laufen lernten: Der Fleckenentferner Benzolinar in den 1890er Jahren

Die Werbebilder lernten im Deutschen Reich spätestens seit den 1890er Jahren laufen. An die Stelle der bereits weit verbreiteten Werbeklischees, also stetig reproduzierter Einzelbilder, traten nun zunehmend Bildserien, Ausfächerungen einer immer breiteren Produktwelt, mit denen Konsumenten angesprochen und gewonnen werden sollten. Die Fortentwicklung der Lithographien und eine wachsende Zahl von (Werbe-)Graphikern veränderte Bedeutung und Stellung der Werbung grundlegend, schufen zugleich die Möglichkeiten für deren Ästhetisierung, für eine hochwertige Plakatkunst, für eine Abkehr von billigen, künstlerisch nicht sonderlich ansprechenden Motiven. So lautet die Quintessenz mehrerer, bis heute regelmäßig zitierter Arbeiten zur Geschichte der Werbung in Deutschland (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993; Christiane Lamberty, Reklame in Deutschland 1890-1914. Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung, Berlin 2000; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln und Weimar 2009).

Dieses Narrativ einer zunehmend reflektierten, professionalisierten, sich zudem sittlich hebenden Werbebranche ist vorrangig Resultat einer höchst einseitigen Quellengrundlage: Die gedruckten Selbstdarstellungen der Werbebranche, der Werbegraphiker und der wichtigsten Markenartikelproduzenten und Warenhäuser waren bereits in diesen Tenor gehalten, mehr Wunsch als Wirklichkeit, ihrerseits Illusionstheater. Erzählt wurde die Geschichte der Versöhnung von Kunst und Kommerz, die zahllosen Konflikte dieser Zeit erschienen als Reinigungskrisen, an deren Ende die Vorboten unserer heutigen Konsum- und Werbewelt standen. Ausgegrenzt bzw. unterschätzt wurden vor allem drei Aspekte: Erstens gab es schon lange vor den 1890er Jahren ein trotz staatlicher Presse- und Werbezensur hochdifferenziertes Annoncenwesen, das man allerdings lesen können muss. Zweitens war der lokale Einzelhandel Hauptträger der Werbewirtschaft, doch er nutzte vor allem die Tages- und Wochenzeitungen, die erst durch die Digitalisierung wieder in den Blick geraten. Drittens fehlt es an empirischen Fallstudien, die einerseits die Anfänge und den Wandel einzelner Produkte und Firmen detailliert untersuchen, die anderseits aber nicht zum stetig hochgehaltenen Kranz des späteren Markenartikelverbandes oder der Interessenvertretungen der Werbegraphiker und der Großbetriebe des Einzelhandels gehörten.

Das war meine Überlegung, um mich einem vermeintlich abseitigen Produkt wie dem Fleckenwasser „Benzolinar“ genauer zu widmen. Es steht für den seit den 1880er Jahren einsetzenden Bedeutungsgewinn neuer chemisch-pharmazeutischer Präparate, die als „Geheimmittel“ bezeichnet und kritisiert wurden. Darunter verstand man Waren, deren Zusammensetzung vom Hersteller nicht offengelegt wurde, die zugleich mit weit überzogenen, vielfach auch schlicht erfundenen Werbeaussagen angepriesen wurden. Da es sich zumeist um Produkte ohne unmittelbaren Gebrauchswert handelte, nutzten ihre Produzenten die neuen Möglichkeiten der Werbung, insbesondere aber der Visualisierung weit stärker als ihre Konkurrenz. Werbekampagnen etwa des Bartwuchsmittels „Professor Migargees“ (1881-1892) sowie der „Hühneraugenringe in der Uhr“ des Ottensenschen Unternehmers August Wasmuth (1893-1896/7) waren Wegmarken der modernen Wirtschaftswerbung, finden sich zugleich aber nicht im gängigen Kanon der historischen Werbungsforschung. Die Kampagne für das Fleckenwasser „Benzolinar“ stand zeitlich und inhaltlich dazwischen – und spiegelt daher den typischen Wandel der Konsumgüterwerbung dieser Zeit. Sie legt allerdings ein anderes Narrativ nahe: „Benzolinar“ und das in gleicher Firma seit 1894 produzierte „Leipziger Putzwasser“ stehen für generelle Veränderungen in den noch relativ unregulierten 1890er Jahren, in denen mit Geheimmitteln und einer konsequent eingesetzten Werbung rasch ein Vermögen erzielt werden konnte – vorausgesetzt, man bot den Konsumenten mehr als nur ein überteuertes Markenprodukt. Diese Selbstbestätigung war Aufgabe der Werbung, vor allem aber einer neuartigen Visualisierung der Waren. Die schöne Ware war nicht Ausdruck allgemeiner Ästhetisierung, sondern einer möglichst hohen Rendite.

Drogerieartikel als Wachstumsmarkt

Im Gegensatz zur harten Alltagsarbeit des Wäschewaschens, die als zentrale Lebensrealität der Hausfrauen vielfach analysiert wurde (einschlägig v.a. Barbara Orland, Wäsche waschen. Technik und Sozialgeschichte der häuslichen Wäschepflege, Reinbek bei Hamburg 1991), wurden die diffizileren Tätigkeit textiler Pflege deutlich seltener untersucht. Das mag daran liegen, dass Sozialgeschichte, Frauen- und Gendergeschichte sowie die Konsumgeschichte bis heute nicht recht zusammenfinden. Die Kommodifizierung des Alltags durch immer neue Produkte, die dahinterstehenden Strategien und Motive, sie gelten scheinbar wenig, wenn man alltägliche Fron auch anders, scheinbar direkter analysieren kann. Dabei ist just dies ein verbindendes Element zwischen den Lebenswelten des späten 19. Jahrhunderts und dem so anderen Haushaltshandeln in einer technisierten und chemisierten Gegenwart.

Fleckenreinigung war eine Kunst, die einer genaue Kenntnis der Textilien, der Reinigungsmittel und der Fleckenarten voraussetzte. Der Fleck war der Ausgangspunkt, das Reinigungsmittel wirkte auf ihn ein, die Stoffarten lenkten und begrenzten den Einsatz. Fleckenreinigung war ein alltägliches Experiment, praktische Chemie, dieser Wissenschaft der stofflichen Veränderung. Mechanische Reinigung war grundlegend, das Abklopfen und Abbürsten von Staub und Anhängseln. Das half nicht, wenn Schmutz in den Stoff eingedrungen war. Üblich war dann die nasse Wäsche, bei der das (teils erwärmte) Wasser und verschiedene Seifenarten eingesetzt wurden. Speichel oder Zuckerarten konnten einfach ausgewaschen werden, doch schon Fettflecken erforderten weitere Hilfsmittel, Seifen, Salmiakgeist. Bei Seidenwaren, bei Ölfarben oder Harzen reichte dies nicht mehr aus. Man nutzte dazu neue, seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend verfügbare Hilfsmittel der Alkoholdestillation und der Steinkohlenchemie. Spiritus, Terpentin, Benzin oder reiner Alkohol reagierten mit den Flecken, die neuen Stoffe verflüchtigten sich teils. Der Einsatz dieser flüchtigen chemischen Substanzen ermöglichte eine trockene Wäsche, denn Wasser war dazu nicht mehr erforderlich. Seit der Jahrhundertmitte gab es einen immer genaueren Kanon, um Flecken jeder Art gezielt und mit möglichst geringer Beschädigung der Textilien selbst beseitigen zu können (Vgl. G[ustav] A[dolf] Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, T. 2, 3. verm. Aufl., Berlin 1898, 335-336).

Chemie als Helfer: Werbung für Judlins Chemische Wäsche-Anstalt (Kladderadatsch 23, 1870, Nr. 11, Beibl. 1, 1)

Seit den 1850er Jahren entwickelten sich zudem professionelle Dienstleister, die aus der Kunst der Reinigung ein Geschäft für ein zahlungskräftiges Publikum machten (als Fallstudie Drei Generationen im Reiche der Färberei, Wäscherei und Chemischen Reinigung. Eine Denkschrift zur Feier des 75jährigen Geschäfts-Jubiläums der Firma W. Spindler, Berlin 1907; deutlich umfassender Josef Kurz, Die Kulturgeschichte der professionellen Textilpflege. Zweitausend Jahre textile Sauberkeit durch Waschen und Reinigen, Heidelberg 2008). Diese Spezialisten optimierten die trockene Wäsche, nutzten die noch teuren Chemikalien. Diese „französische Wäscherei“ entwickelte sich im Zentrum des chemischen Wissens, insbesondere in Paris, der einfache Fleckenputzer hieß daher Detacheur, am Ende der Reinigung stand die aufwändige Appretur. In den 1850er Jahren etablierten sich auch in deutschen Landen chemische Reinigungen, eng verbunden mit dem noch dominanten Färbereigeschäft: Wilhelm Spindler, Judlin, der Hannoveraner Friedrich August Stichweh waren Pionierunternehmen der Reinlichkeit, die ihren Betrieb vor allem seit den späten 1860er Jahren respektabel ausbauten (Josef Kurz, Hans Ziehm und Hans W. Hoepfner, 125 Jahre Stichweh, Hannover 1978; J. v. Sydow, Die Wäsche sonst und jetzt, Die Gartenlaube 1878, 278-279; Chemische Wäsche, Illustrirte Zeitung 64, 1875, 259; M. Reimann, Die sogenannte chemisch-trockene Reinigung zur Entfernung des Schmutzes aus getragenen Stoffen, Industrie-Blätter 8, 1871, 217-219). Die Dienstleistung war teuer, doch das Samtpaletot im Benzinbad war Wunderwerk: „Kaum zehn Minuten aber, und es entsteigt wie ein Phönix der Asche und Pelz und Sammet scheinen uns so schön, wie sie je gewesen sein können. Kein Fältchen, kein Spiegel! Es ist wie ein Zauber!“ (Die Wissenschaft im Dienst des täglichen Lebens, Correspondent für das Großherzogthum Oldenburg 1880, Nr. 61 v. 23. Mai, 1-2, hier 1) Die chemischen Mittel wurden stetig variiert, das geruchsintensive Terpentin wich dem Benzin, dieses vielfach dem preiswerteren Benzol. All das war gefährliche Arbeit, unbrennbare Lösungsmittel wie v.a. Tetrachlorkohlenstoff setzte sich erst um die Jahrhundertwende durch.

Allen Dienstleistungen zum Trotz wurden Flecken jedoch vorrangig von den Hausfrauen im Haushalt bekämpft, das Wäschewaschen blieb die dominante Form der Reinigung. Individuelle Sauberkeit wurde ein bürgerliches Ideal, saubere Kleidung zunehmend erforderlich, schloss man doch vom Äußeren auf das Innere der Menschen. Entsprechend nutzten die Haushalte auch die Chancen der neuen Hilfsmittel: Seifen wurden zunehmend chemisch produziert, Petroleum- und Teerderivate in kleinen Mengen verfügbar. Die Haushalte reinigten, doch sie nutzten verstärkt ein chemisch-technisches Angebot. Dabei handelte es sich teils um Alltagschemikalien aus Drogerien und Apotheken, teils auch von Schneidern, Friseuren und Parfümerien. Hausfrauen mixten auf Grundlage regelmäßig in der Presse zirkulierender Rezepte ihre vermeintlich eigenen Hilfsmittel. Das war eine hybride Verwissenschaftlichung, einerseits durch die Rezepte, anderseits durch die Grundstoffe.

Ein Beispiel mag genügen, auch um die Schwierigkeit der damaligen Hauswirtschaft zu unterstreichen: „Fettflecke entfernt man sehr gut und ohne Aenderung der Farbe der Zeuge durch folgende Flüssigkeit: 4 Loth sehr reines Terpentinöl, 2 Quentchen höchst rectificirten Weingeist und eben so viel Schwefeläther, mit ein wenig Citronenöl gut zusammengeschüttelt und in einer verschlossenen Flasche aufbewahrt“ (Salzburger Chronik 1880, Nr. 89 v. 24. Juli, 6). Die häuslichen Fleckenmittel wurden vielfach auch gekocht, umrahmt von zahlreichen Gewürzen und Duftstoffen, um so den Geruch der Chemikalien zu dämpfen und zu überdecken. All dies war Notwendigkeit, Ausdruck erforderlicher Sparsamkeit (Universal-Fleckentinctur, Unser Hausfreund. Sonntagsblatt des Hannoverschen Courier 1891, Nr. 13, 102).

Doch auch die Drogerien, teils die Apotheken, bedienten den Wachstumsmarkt Fleckenreinigung mit eigenen Angeboten, meist Mixturen nach Rezeptbuch. Sie ersparten das Kochen und Vermengen im Haushalt, doch über die Zutaten herrschte vielfach Stillschweigen, allein Preis und Wirksamkeit entschieden (L. F. Dietrich, Illustrirte Encyclopädie praktischer Rezepte und Belehrungen, Leipzig und Dresden 1862/63, 336-340; J[oseph] Thein, Chemisch-technische Instructionen, 3. sehr verm. u. verb. Aufl., Prag 1871, 294).

Produzent und Produkt – Ausnahme Kelydon (Leipziger Zeitung 1858, Nr. 69 v. 23. März, 1425 (l.); ebd. 1853, Nr. 229 v. 27. September, 4772 (u.); National-Zeitung 1867, Nr. 5 v. 4. Januar, 4)

Diese Drogistenangebote wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch überregional abgesetzt. Am bekanntesten war das seit 1849 angebotene Brönnersche Fleckenwasser, das vorrangig aus Benzin bestand. Zahlreich Konkurrenzprodukte entstanden in den Folgejahrzehnten, durchweg Geheimmittel, meist angepriesen unter dem Namen des Produzenten. Produkte mit Eigennamen, wie das in Berlin hergestellte Kelydon, etablierten sich noch nicht.

Angebote ohne Produktidentität, teils per Versand (Deutscher Haus- und Landwirths-Freund 1884, Nr. 1, 4 (l.); Dortmunder Zeitung 1885, Nr. 330 v. 1. Dezember, 6)

Der deutsche Markt wurde durch vielfältige Angebote aus dem Ausland bereichert, erst aus Frankreich, dann insbesondere aus Großbritannien. Englisches Fleckenwasser war in den 1860er bis 1880er Jahre gängig (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1876, Nr. 108 v. 10. Mai, 5). Und auch später gab es zahlreiche kurzlebigere Angebote wie etwa „Electric Cleansing Compound“, ein „wirklich vorzügliches, unentzündliches und geruchloses Fleckenwasser“ (Duisburger Tageblatt 1893, Nr. 8 v. 10. Januar, 4). Marktchancen für Markenartikel gab es also, doch vielfach gelang es den Anbietern weder eine Absatzstruktur aufzubauen, noch die Konsumenten per Werbung anzusprechen und zum Kauf zu bewegen.

Scheitern des Universal-Fleckenwassers von Albert Roebelen, Stuttgart 1890 (Bonner Volkszeitung 1890, Nr. 126 v. 8. Mai, 3 (l.); Neckar-Bote 1890, Nr. 53 v. 8. Mai, 255 (u.); Schwäbischer Merkur 1890, Nr. 197 v. 21. August, 12 (M.); Neues Tagblatt 1890, Nr. 278 v. 27. November, 4)

Typisch hierfür war das 1890 im Westen des Deutschen Reiches angebotene Universal-Fleckenwasser des Stuttgarter Kaufmanns Albert Roebelen. Es wurde in kleinen Textanzeigen ohne Produktinformation angepriesen. Allgemein gehaltene Texte unterstützen den Markteintritt, doch der Erfolg blieb aus – auch aufgrund eines Preises, der höher lag als der gängiger Drogistenmixturen (Remscheider Zeitung 1890, Nr. 104 v. 6. Mai, 4). Nur ein halbes Jahr nach dem Beginn der Werbekampagne konnte Roebelen die Rechnungen nicht mehr zahlen, wurden die Geschäftsutensilien und nicht verkauften Fleckenwasserflaschen zwangsversteigert. Marktchancen gab es, nicht aber eine Garantie für unternehmerischen Erfolg.

Wilhelm Roloff, Leipzig, Dachpappen und Teerprodukte

Das Universalfleckenmittel Benzolinar wurde seit Februar 1891 von der Leipziger Firma Wilhelm Roloff angeboten – und das allein war bemerkenswert. Hersteller war weder eine chemische Reinigung, ein Drogist, noch ein Konsumgüterproduzent, sondern eine seit den 1840er Jahren aktive Terresin-, Asphalt- und Dachpappenfabrik. Wilhelm Roloff hatte sich unmittelbar neben der 1838 in Betrieb genommene städtische Gasanstalt angesiedelt, nutzte deren Nebenprodukte Koks, Teer und Ammoniak, machte dadurch ihren Betrieb wirtschaftlich. Anfänglich produzierte sein Unternehmen das von Friedrich Busse (1794-1862) entwickelte Terresin, ein aus Teer, Kalk und Sand bestehender Baustoff, der vornehmlich für Eisenbahntrassen verwandt wurde (Leipziger Zeitung 1847, Nr. 157 v. 2. Juli, 3155).

Kern- und Nebengeschäft von Wilhelm Roloff (Leipziger Zeitung 1857, Nr. 173 v. 23. Juli, 3730)

Wilhelm Roloff, einer aus „der Classe der unangesessenen Bürger vom Handelsstande“ (Deutsche Allgemeine Zeitung 1856, Nr. 288 v. 9. Dezember, 2457), nutzte Teerprodukte aber auch eigenbestimmt, entwickelte seit Mitte der 1850er Jahre sog. Steinpappen (Die Steinpappen-Fabrik von Wilhelm-Roloff in Leipzig 10, 1859, 488-490). Pappe wurde nach schwedischem Vorbild mit Steinkohlenteer imprägniert. Die relativ leichten, flexiblen und doch festen Schindelsubstitute verdrängten zunehmend schwerere Materialien, so den damals üblichen Asphaltfilz. Dachpappe von Wilhelm Roloff galt als „bewährtes Fabrikat“, mit ihr wurden seit den späten 1850er Jahren auch größere Gebäude, etwa Bahnhöfe, Fabriken und Gasanstalten gedeckt (Die Dachpappe, Paque’s Panorama des Wissens und der Gewerbe 1865, 603-605, hier 605). Der Unternehmer war als Sachverständiger gefragt (W. Hamm, Die Dachpappe, Centralblatt der Land- und Forstwirthschaft in Böhmen 10, 1861, 278-279, hier 279) – und er bewarb seine Dachpappen nicht nur in Sachsen als eine leichte, billige, gegen Feuer, Regen, Schnee, Wind und Sturm schützende Innovation, sondern ermöglichte damit relativ flache Dächer und günstigeres Bauen.

Grenzüberschreitende Diffusion der Roloffschen Dachpappen (Donau-Zeitung 1860, Nr. 135 v. 16. Mai, 4)

Wilhelm Roloff diversifizierte in benachbarte Branchen, seine „Stein-Dachpappen-, Terresin & Asphalt-Fabrick“ (Regensburger Tagblatt 1859, Nr. 128 v. 10. Mai, 4) etablierte sich als Technologieführer. Verbessertes Schmirgelpapier wurde entwickelt, Anstriche für Pappdächer, für andere Anbieter war man zudem in Kommission tätig (Illustrierte Zeitung 37, 1861, Nr. 961, 396; Leipziger Zeitung 1862, Ausg. v. 6. September, 4582; Friedrich Georg Wieck’s Deutsche Illustrierte Gewerbezeitung 30, 1865, Nr. 2, Inserate, 3). 1870 verkaufte Roloff seine Firma an den Chemiker Heinrich Caspersen und starb ein Jahr später (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1870, Nr. 206 v. 25. Juli, 6874; ebd. 1871, Nr. 178 v. 27. Juni, 2618).

Die Firma entwickelte sich jedoch kontinuierlich weiter, Holzzementelemente modernisierten die Palette der Baumaterialien (Bautzener Nachrichten 1873, Nr. 123 v. 30. Mai, 1433; Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie Deutschland, Oesterreichs, Elsass-Lothringens und der Schweiz, Bd. II, Leipzig 1874, 14). Caspersen plante 1872 einen Neubau im nördlichen Leipzig, nicht zuletzt um dort Kohlen- und Wasserstoffpräparate herzustellen (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1872, Nr. 361 v. 26. Dezember, 6219). Auch der Chemiker Carl August Müller, der 1875 die Firma übernahm, verfolgte dieses Projekt weiter, allerdings erfolglos (ebd. 1875, Nr. 116 v. 26. April, 2309). Die Firma wurde innerhalb der Familie weiter übergeben, doch 1885 trat mit dem „Kaufmann Johannes Meister“ ein junger Chemiker als Kompagnon in die Geschäfte ein, die er 1886 schließlich vollständig übernahm (Ebd. 1884, Nr. 313 v. 8. November, 5952; Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 71 v. 244. März, 26; ebd. 1886, Nr. 35 v. 9. Februar, 9). Am Firmenprofil änderte sich durch den späteren Hersteller des Fleckenwassers Benzolinar erst einmal wenig, Innovationen wurden weiter ersonnen, umgesetzt und regelmäßig annonciert.

Technische Werbung als Betriebsstandard (Mittheilungen aus der Praxis des Dampfkessel- und Dampfmaschinen-Betriebes 14, 1891, 214)

Johannes Meister (1865-1916) stammte aus Zittau. Sein Vater Guido Meister (1818-1891) war einerseits einer der führenden Bankiers und Kapitalisten der Oberlausitz, seit 1871 stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der 1871 gegründeten Oberlausitzer Bank zu Zittau (Jahrbuch der Berliner Börse 1885-1886, Berlin 1885, 102; ebd. 1888-1889, Berlin 1888, 107). Er engagierte sich breit und grenzübergreifend, etwa als Repräsentant der Gothaer Feuerversicherungsbank, als Aufsichtsrat der Leitmeritzer Bierbraugesellschaft zum Elbschloss. Der überzeugte Liberale heiratete 1855 Marie Helfft, mehrere Kinder folgten, Johannes war der jüngste Sproß. Guido Meister war anderseits seit 1848 auch führender Freimaurer, Alt- und Ehrenmeister vor Ort, zeitweilig stellvertretender Vorsitzender des Vereins deutscher Freimaurer (Latomia NF 2, 1879, 167; Freimaurer-Zeitung 42, 1888, 364). Er gründete mehrere philanthropische Stiftungen, war seit 1885 wiederholt Stadtrat, auch Mitglied des lokalen Handelsgerichtes (Die Bauhütte 34, 1891, 175).

Johannes Meisters Vater war demnach ambitioniert, gut vernetzt, aufstiegsorientiert und wohlhabend. Sein Sohn besuchte die Bürgerschule, dann das Realgymnasium in Zittau, studierte ab 1883 in Leipzig Naturwissenschaften, schloss das Studium nach etwas mehr als vier Jahren mit der Promotion ab (Johannes Meister, Ueber eine Condensation zwischen Acetessigäther und Urethan, Phil. Diss. Leipzig 1888, 24). Seine unter den Auspizien des Chemikers Robert Behrend (1856-1926) entstandene und auch in einer führenden wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichte Dissertation untersuchte die Chemie des Duft- und Aromastoffs Azetatessigäther (Ders., Dass., Justus Liebigs Annalen der Chemie 244, 1888, 233-253; Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 221, 1888, 427-428). Das passte in die Forschungsinteressen nicht nur am Physikalisch-Chemischen Institut, sondern auch im 1879 eingerichteten Versuchslaboratorium der in der Berliner Straße angesiedelten Firma Schimmel & Co., damals auf dem Weg zum Weltmarktführer für ätherische Öle und Riechstoffe. Meisters Übernahme von Wilhelm Roloff war demnach mehr als ein simples Investment, sondern Eintritt in einen Wissenscluster, in der die Teerstoffchemie zunehmend für Konsumgüter fruchtbar gemacht wurde. Der Fleckenentferner Benzolinar war das erste und prominenteste Ergebnis dieser Erweiterung der sich 1890 „Chemisch-Technische Fabrik“ nennenden Firma Wilhelm Roloff (Leipziger Adreß-Buch 69, 1890, T. 1, 293).

Der ambivalente Glaube an die Kraft der Reklame

Benzolinar steht aber nicht nur für die gestalterischen Möglichkeiten der modernen Chemie, sondern ebenso für einen noch kaum getrübten Glauben an die Wirkmächtigkeit der Reklame, für die es gerade im Bereich medizinisch-pharmazeutischer Geheimmittel seit den 1860er Jahren zahllose Beispiele gab. Johann Hoffs Malzextrakt galt als prominentes Beispiel, auch wenn dessen reichsweite Werbekampagne für „Deutschen Porter“ krachend scheiterte und die Grenzen der Vermarktung schlechter Produkte unterstrich. In immer neuen Wellen wandten sich damals Mediziner gegen Quacksalber, Ehrenmänner gegen Geheimmittelproduzenten – doch aus ihrer Sicht scheiterten sie immer wieder an der vielbeschworenen und emsig beklagten Einfältigkeit der reklamegläubigen Konsumenten. Zugleich riefen sie nach dem Staat, nach dem harten Schwert der Justiz. So berechtigt die Mehrzahl der Einsprüche auch war, so unklar blieb jedoch, wie man wirksame und weniger wirksame Präparate sicher voneinander abgrenzen konnte, wo die Grenzen von Täuschung und Betrug verliefen, wo das Schickliche, das Sittliche ins Unschickliche und Unsittliche kippte. Richtschwert wurde jedenfalls „die Wissenschaft“, wohl wissend, dass diese vielstimmig war und irren konnte, wohl wissend, dass diese korrumpierbar war, wohl wissend, dass ihre Vorstellungen von Gesundheitsgefährdungen vorläufig und vielfach industrienah waren, wie etwa bei Konservierungsmitteln oder Farbstoffen. Dennoch träumten Experten von Wahrheitsinstitutionen. Ziel wäre „ein höheres, wirthschaftliches und sittliches Aichungsamt für Messung und Wägung von Tugend und Laster, Nutzen und Schaden, Schönheit und Häßlichkeit“ (H[einrich] Beta, Die Geheimmittel- und Unsittlichkeits-Industrie, Berlin 1872, 32). Dabei wurde ausgeblendet, dass die Mehrzahl der Anbieter des Neuen durchaus wissenschaftlich gebildet war und Geheimmittel das Janusgesicht just „der Wissenschaft“ verkörperten.

Da der Staat sich damals lediglich bei offenkundigen Gefahren oder aber akutem Marktversagen autorativ einschaltete, war die weit verbreitete Schelte gegen die Reklame die einfachste Möglichkeit, die Reihen der Tugend geschlossen zu halten: „Alles was nötig ist, einem Geheimmittel den Erfolg zu sichern, ist Geld und Geschick, es zur Reklame zu benutzen. Was es für ein Mittel ist, kommt nicht in Frage, die Wahl der Ingredienzien ist die geringste Sorge“ (Halversche Zeitung 1883, Nr. 97 v. 5. Dezember, 2). Seit den späten 1870er Jahren, als die Etablierung zahlreicher leistungsfähigerer Betriebsformen des Einzelhandels (Versandgeschäfte, Filialbetriebe, Bazare und schließlich auch Warenhäuser) immer größere Sortimente und zugleich anonymere Formen des Kaufens ermöglichte, kam die Gier der Anbieter hinzu – und das mit dem üblichen antisemitischen Odeur. Dabei erforderten komplexere und ausdifferenzierte Sortimente, arbeitsteilige und internationale Absatzmärkte eine andere Ansprache des Konsumenten. Nationalökonomen warfen sich daher für die Reklame ins Zeug: „Sie macht die Gleichgültigen aufmerksam; sie redet eine eindringliche, zum Nachdenken auffordernde Sprache. Sie verfeinert die Bedarfsbefriedigung und eröffnet den Fortschritten der Technik und Kultur, der Einführung von Neuheiten die Bahn. Sie wirkt auch erzieherisch, indem sie auffordert, sich der für die Gesundheit oder Ernährungsweise bedeutsamen neueren Mittel und Gegenstände zu bedienen, nicht im alten Schlendrian bei der Befriedigung des Bedarfs zu bleiben“ (Wilhelm Roscher, Nationalökonomik des Handels und Gewerbfleißes, 8. verm. Aufl. bearb. v. Wilhelm Stieda, Halbbd. 2, Stuttgart und Berlin 1917, 69).

Kommerzialisierung des Alltags: Außenreklame für die schönen neuen Dinge (Münchner humoristische Blätter 6, 1890, 224)

Reklame blieb daher notwendig und umstritten zugleich. Das galt zumal für das Wissensfeld der Fleckenentferner. Es gab nur wenige wirklich verlässliche Mittel – und ein technischer Durchbruch würde rasch ein Vermögen nach sich ziehen. Dieser Mechanismus prägte die neu entstehenden und sich in den 1890er Jahren rasch ausweitenden Märkte pharmazeutisch-technischer Artikel: „Da nun aber jeder Erfinder in seinem Mittel das beste gefunden zu haben glaubt, so hat er natürlich nichts dringenderes zu thun, als die Zusammensetzung desselben möglichst geheim zu halten, damit sich nicht dieser oder jener der Erzeugung desselben bemächtigte und ihn um den Lohn seiner Versuche bringe. Das wäre wohl an und für sich ganz gerechtfertigt; allein da gibt es speculative Köpfe, die es unternehmen, aus nichts Geld zu machen und Mittel, die im besten Falle harmlos, wenn nicht gar schädlich sind, dem Publikum für theueres Geld unter Aufwendung maßloser Reklame anzuhängen suchen und thatsächlich anhängen. […] Und was die Reclame zu leisten vermag, dafür gibt beispielsweise das vor nicht allzulanger Zeit auftretende Fleckreinigungsmittel ‚Benzolinar‘ einen treffenden Beweis. Wenn es auch für schweres Geld verkauft wird, so besteht es eben doch einzig und allein aus Benzin, den man füglich um einige Kreuzer bei jedem Kaufmanne bekommen kann“ (Kosmetische Geheimmittel, Neue Wiener Friseur-Zeitung 1, 1894, Nr. 1, 2). Derartige Kritik traf auf ein Präparat, das offenkundig von einem Experten, vom frisch promovierten Chemiker Johannes Meister auf den Markt geworfen war. Retrospektiv hieß es angesichts des ebenfalls üppig aufschäumenden Seifenmarktes: „Wieder ist ein neues Weltwunder aufgetaucht. Es scheint, daß es die ‚Erfinder‘ hauptsächlich auf unser Fach abgesehen haben: Flecken-Reinigungsmittel, natürlich ‚Universal‘, dutzendweise zu erfinden (die Namen dafür: Aphanizon, Benzolinar, Opal in der Tonne etc., ist wohl die schwierigste Erfindung dabei), genügt wohl nicht mehr. Jetzt geht es ans Färben à la minute, von Jedem spielend ausführbar! […] Unzählige Leichtgläubige lassen sich von den gleißnerischen Reclamen bethören, meistens sind es unsere pantschlustigen Damen, die ihm aufsitzen, jedoch machen fast Alle ausnahmslos schlechte Erfahrungen mit dem ‚unfehlbaren Mittel.‘“ (Maypole Soap (Färbe-Seife), Deutsche Färber-Zeitung 32, 1896, 649-650). Derart in das Zeitkolorit der 1890er Jahre zurückversetzt, können wir uns nun mit gebührender Distanz der Markteinführung und der Marktpräsenz von Benzolinar widmen.

Benzolinar: Markenaufbau und Marktdurchdringungen

Das Warenzeichen des Fleckenwassers Benzolinar wurde am 30. Juni 1891 bewilligt, nur rekordverdächtige vier Tage nach der Anmeldung (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 154 v. 3. Juli, 10). Die Marke bestand aus einer stilisierten antikisierten Atlas-Figur, entsprach damit historistischen Bildwelten. Sie wurde Teil des Flaschenetiketts. Der Markenschutz wurde im Oktober 1898 für zehn Jahre verlängert und endete schließlich am 27. Oktober 1908 (Ebd. 1898, Nr. 247 v. 18. Oktober, 10; ebd. 1908, Nr. 257 v. 30. Oktober, 16).

Die Markteinführung begann bereits im Februar 1891 (Kölnische Zeitung 1891, Nr. 139 v. 19. Februar, 4). Die Werbung konzentrierte sich auf reichsweit präsente Zeitschriften, zudem auf führende Tageszeitungen. In einigen an sich lukrativen Regionen, etwa in Hamburg oder Baden, wurde für Benzolinar allerdings erst ab Mitte 1891 regelmäßig beworben. Dies dürfte mit einer noch fehlenden Großhandelsorganisation zusammengehangen haben. Im Gegensatz zu vielen anderen Geheimmittelanbietern setzte die Chemische Fabrik Wilhelm Roloff nämlich auf die im Hauptgeschäft bewährten traditionellen Formen des Absatzes: Man belieferte den Großhandel, delegierte den Vertrieb an regionale Generalagenturen, die ihrerseits an weitere Agenturen oder aber direkt an die Drogerien lieferten. Die ersten Anzeigen bewarben daher nicht nur das neue Fleckenmittel Benzolinar, sondern warben zudem um Zwischenhändler: „Wiederverkäufer gegen hohen Rabatt gesucht“. All das basierte auf der Preisbindung, also Privatverträgen, die allen Beteiligten relative hohe, rechtliche verbindliche Handelsspannen garantierten. Drogerieartikel waren dafür bestens geeignet, handelte es sich doch um homogene Güter mit geringen Lagerkosten und langer Haltbarkeit. In der Fachpresse hieß es einladend: „Großen Nutzen bringender Handverkauf! Wiederverkäufer gegen hohen Rabatt gesucht. Die Original-Flasche kostet für das Publicum 1 M“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 184).

Geteiltes Leid unter Freundinnen (Schlesische Zeitung 1891, Nr. 127 v. 20. Februar, 3)

Die Anzeigen präsentierten die Vorteile dieses Absatzkonzept: „Die Leistungsfähigkeit dieses Fleckenwassers ‚Benzolinar‘ sowohl als auch eine dauernde und zeitgemässe Reklame […] in über 70 der gelesensten Journale Deutschlands sorgen für einen grossen Absatz“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 248). Werbung war immer auch ein Versprechen eines guten Geschäftes, adressierte sowohl Käufer als auch Zwischenhändler. Der hohe Preis war für Wiederverkäufer attraktiv. Gängige Preise, etwa 40 Pfennig für ein Fläschchen Drogistenware (Hasper Zeitung 1888, Nr. 37 v. 9. Mai, 3), führten automatisch zu niedrigeren Gewinnen beim Einzelverkauf.

Als Offiziere ihre Uniformen noch selbst bezahlen mussten (Kölnische Sonntags-Anzeiger 1891, Nr. 753 v. 29. März, 7 (l.); Bonner Volkszeitung 1891, Nr. 268 v. 20. Juni, 4)

Die anfänglichen Anzeigen suggerierten wahrheitswidrig einen allgemeinen Markterfolg, hieß es doch: „Benzolinar führt jede Droguenhandlung“ (Fliegende Blätter 94, 1891, Nr. 2385, Beibl. 3, 2). In lokalen Zeitschriften klang das vorsichtiger, realistischer, so etwa in München: „Zu haben in den durch Plakate ersichtlichen Verkaufsstellen: Droguen, Apotheken und Parfümeriehandlungen“ (Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 143 v. 25. Mai, 6). Trotz breit gefächerter Hintergrundarbeit gelang es der Firma Wilhelm Roloff letztlich nicht, Benzolinar reichsweit in allen Drogeriehandlungen zu etablieren – die Gewerbezählung 1895 sollte etwas mehr als 5.000 Hauptbetriebe ergeben (Statistik des Deutschen Reiches NF, Bd. 113, Berlin 1898, 126-127). Dies wurde sprachlich kaschiert, war aber betriebliche Realität hinter Verweisen wie „Benzolinar führen die meisten Drogenhandlungen etc.“ oder „In allen bess[eren] Drogen- u[nd] Parf[ümerie]-Handl[ungen]“ erhältlich (Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 182 v. 5. August, 4; ebd., Nr. 219 v. 17. September, 4). Die prominente Hervorhebung des Firmennamens Wilhelm Roloff war daher kein Zufall: Interessierte sollten in den Läden vor Ort nachfragen, so Großhandelsbestellungen anregen. Zugleich erlaubte es den Käufern, die Firma direkt zu kontaktieren, um das Fleckenwasser per Nachnahme zugeschickt zu bekommen. Wilhelm Roloff bemühte sich also um Marktpräsenz, ließ sich aber das Schlupfloch zum gängigen Versandhandel offen.

Der Graf und seine Tänzerin (Fliegende Blätter 94, 1891, Nr. 2385, Beibl. 3, 2)

Blicken wir nun genauer auf die Werbung für Benzolinar: Am Beginn standen vier ordentlich gezeichnete (und signierte) Zeichnungen. Es handelte sich um vier Paare, Freundinnen und Bekannte, Männer und Frauen. Dies erlaubte einen kommunikativen Einstieg, ein Gespräch über das Fleckenwasser, das anschließend in stanzenhafter Form vorgestellt wurde. Benzolinar durfte zwar in „keinem Haushalt fehlen“ (Thorner Ostdeutsche Zeitung 1891, Nr. 159 v. 111. Juli, 4), doch das Zielpublikum war deutlich enger, konzentrierte sich auf wohlsituierte Bürger. Hervorgehoben wurden insbesondere „Militärs und Beamte“, da deren Kleidung immer auch repräsentativ sein musste (Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 57 v. 26. Februar, 4).

Befleckte Männer kaufen Alltagsdrogen (Wochenblatt für das christliche Volk 29, 1891, 487)

Die Zeichnungen präsentierten die gehobenen Stände: Graf und Tänzerin, bürgerliche Ballbesucherinnen, Offiziere sowie modisch gekleidete Bürger am Sonntag. Benzolinar war Hilfsmittel für eine repräsentative Position in der begrenzten Öffentlichkeit von Funktionseliten. Nicht die Oberschicht wurde angesprochen, sondern das breite Bürgertum, für das ein Fleck auf einem Kleidungsstück mehr war als ein Ärgernis. Das Fleckenmittel half eine an sich gesicherte, gleichwohl immer wieder neu zu behauptende Stellung zu bewahren. Dafür schien der an sich hohe Preis angemessen.

Die serielle Bildwerbung hob Benzolinar von Anbeginn gegenüber anderen Fleckenmitteln hervor. Auf der einen Seite hatte Johannes Meister einen werblichen Kunstbegriff geschaffen, der die Aura der Wissenschaft als Markenidentität nutzte, sich abhob von den mit Erfindern oder Firmen verbundenen Konkurrenzprodukten – oder gar von der anonymen Ware lokaler Drogistenmixturen. Auf der anderen Seite nutzte der Leipziger Chemiker eine Sequenz ansprechender Zeichnungen voller Anleihen an die gängigen Karikaturzeitschriften bzw. Illustrierten. Ein einheitlicher, auf allgemeine Marktpräsenz zielender technischer Markenartikel wurde durch eine vielgestaltige Produktpräsentation interessant gemacht. Das war neu, setzte einen neuen Werbestandard für eine Wachstumsbranche der 1890er Jahre.

Parallel nutzte die Firma Wilhelm Roloff jedoch auch andere Werbemittel, etwa die damals gängigen Prospekte (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 144). Wichtig war ebenfalls redaktionelle Reklame, also kleine Geschichten und Texteinschübe im Grenzgebiet zwischen redaktionellen Texten und Inseraten. Sie gaben sich vermeintlich sachlich, mündeten dann jedoch in einen Lobpreis der Ware. Hören wir zu, wie ein eloquentes bürgerliches Publikum angesprochen wurde: „Die chemische Fabrik Wilhelm Roloff in Leipzig bringt seit Kurzem ein neues Fleckenwasser, Benzolinar genannt, in den Handel. Dies Benzolinar übertrifft alle anderen Fleckenmittel. Alle Flecken von Theer, Harz, Oel, Fett, Oelfarbe, Schmutz etc., ausgenommen Tinte und Obstflecken, müssen weichen, und es ist wirklich erstaunlich, wie selbst alte Flecke durch den Gebrauch von Benzolinar verschwinden. Es besteht aus chemischen reinen Producten, die den Stoff etc. nicht im Geringsten angreifen, die zarteste Farbe unbehelligt lassen und keinen Rand beim Abreiben hervorrufen, wie dies bei den meisten Fleckenmitteln der Fall ist. Jede Hausfrau wird sich freuen, damit ein wirklich gutes Mittel in die Hand zu bekommen“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1891, Nr. 67 v. 8. März, 1532). Benzolinar war demnach ein Universalmittel, fast allseits anwendbar. Es war zugleich Qualitätsführer, das beste seiner Art. Die Anwendung schien einfach, Gefahr bestand nicht. Das war wichtig, denn der Umgang mit dem fertigen chemischen Hilfsmittel war angesichts des häuslichen Waffenarsenals von Wasser, Seife und fettlösenden Hilfsmitteln erst zu erlernen. Vertrauen in die moderne Chemie war angesagt, Schaden fast auszuschließen, zumal die Verpackung auch eine Gebrauchsanweisung enthielt.

Benzolinar war relativ teuer, doch gewiss billiger, schneller und weniger aufwändig als eine chemische Reinigung. Reinigungsarbeit wurde, insbesondere bei der Alltagswäsche, zwar vielfach außer Haus erledigt, doch mit dem neuen Fleckenwasser konnte man selbst tätig werden, auf die Fährnisse des Alltags unmittelbar reagieren. Auch wenn die Arbeit idealerweise an ein Dienstmädchen oder einen Burschen delegiert werden konnte, war die bürgerliche Selbstermächtigung durch das neue Präparat doch ein Kernthema in den Werbetexten: „Hier ist ein theueres seidenes Ballkleid durch Bratenbrühe verdorben, ein neuer Rock hat sich in zu inniger Berührung mit einer frisch gestrichenen Thür befunden, da ist ein theueres Kunstwerk mit schmutzigen Händen angegriffen und dadurch unsauber und werthlos geworden, – bei sachkundiger Behandlung mit Benzolinar läßt sich der Schaden bald wieder ausbessern. Schmutzig gewordene Sammetkragen, Sammet, Seide, Aufschläge von Uniformen, Kravatten, seidene Fächer etc. werden, mit Benzolinar behandelt, wieder wie neu, Gold- und Kunstgegenstände in Elfenbein erhalten neues Aussehen, kurz, Benzolinar wird sich in jedem Haushalt bald unentbehrlich machen“ (Danziger Zeitung 1891, Nr. 18795 v. 11. März, 6).

Vorteile auf den Punkt gebracht (Münsterischer Anzeiger 1891, Nr. 171 v. 30. Juni, 3)

Derartige Reklametexte atmeten noch den Geist der Werbewelt vor der allgemeinen Visualisierung in den 1890er Jahren. Doch die Texte änderten sich ebenfalls. Wilhelm Roloff verdichtete die Kernbotschaften (und den Lobpreis) seit Mitte 1891 in einem immer wieder reproduzierten Kurztext, der die Vorteile des eigenen Fleckenwassers auf den Punkt brachte (Dortmunder Zeitung 1891, Nr. 176 v. 30. Juni, 3; Neusser Zeitung 1891, Nr. 143 v. 30. Juni, 4; General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1891, Nr. 183 v. 5. Juli, 19; Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 1182 v. 5. August, 4). Der Inhalt wurde lokal leicht variiert, die Umrahmungen und Hervorhebungen ebenso. Doch der Kurztext half, die parallel weiter geschalteten Bildanzeigen preisgünstig zu ergänzen. Das Versprechen war eindeutig, unterstrich den Anspruch der Qualitätsführerschaft: „Benzolinar funct[ioniert] wo andere Mittel versagten“ (Münchner Neueste Nachrichten 1891, Nr. 222 v. 17. Mai, 11).

Die Markteinführung von Benzolinar war einerseits erfolgreich, denn anders als etwa das oben vorgestellte Universal-Fleckenwassers von Albert Roebelen verschwand es nicht nach nur wenigen Monaten vom Markt. Anderseits aber waren die Absatzchancen doppelt begrenzt: Auf der einen Seite sozial, denn das bürgerliche Zielpublikum mochte tonangebend sein, doch Massenkonsum war damit kaum zu erreichen. Auf der anderen Seite war die Preisdifferenz zur Konkurrenz, zumal zu den lokalen Drogeriemixturen so groß, dass ein Massengeschäft nicht zu erwarten war. Das mochte bei pharmazeutischen Geheimmitteln funktionieren, deren hohe Preise möglichst viel Gewinn in einer nur kurzen Zeitspanne abschöpfen wollten, da ihre begrenzte Wirksamkeit rasch bekannt war und es kaum Nachfolgebestellungen gab. Benzolinar aber war als seriöses Dauerangebot gedacht. Entsprechend senkte die Firma Wilhelm Roloff scheinbar die Preise: An die Seite der Originalflasche für eine Mark trat ab Spätsommer 1891 eine kleinere Flasche für 50 Pfennig. Damit reduzierte man die Kaufhürde erheblich, bot auch weniger solventen Kunden eine Kaufgelegenheit. Auf der anderen Seite blieben die Handelsspannen immer noch hoch genug, um die Drogisten für den Verkauf des Fertigproduktes zu motivieren.

Rettung durch Benzolinar: Mal vertikal, mal horizontal (Frankfurter Zeitung 1891, Nr. 329 v. 25. November, 1. Morgenbl., 4 (l.); Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 219 v. 17. September, 4)

Die neue Preisgestaltung wurde durch zwei neue, deutlich kleinere Werbeabbildungen kommuniziert. Sie knüpften an die Einführungsanzeigen unmittelbar an: Neuerlich Paare, neuerlich ein Gesprächseinstieg, neuerlich Produktinformation, Preise und der Name der Firma. Doch die Anzeige war geschrumpft, das Gespräch war eine Ansprache, die Kernbotschaft zurückgefahren. Das war deutlich preiswerter, zumal die neuen Motive sowohl horizontal als auch vertikal eingesetzt werden konnten. Das zweite Motiv war auf Weihnachten zugeschnitten, fand sich aber auch noch im neuen Jahr. Es enthielt zudem einen Verweis auf eine der damals unabdingbaren Medaillen der teils eigens für diesen Zweck durchgeführten Gewerbeausstellungen – ohne sie irgendwie genauer zu spezifizieren.

Ein praktisches Geschenk zu Weihnachten (Echo der Gegenwart 1891, Nr. 290 v. 10. Dezember, 8 (l.); Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 289 v. 8. Dezember, 6)

In den Folgejahren 1892/93 prägten vornehmlich drei Motive die Werbung für Benzolinar: Die Textanzeige mit den Hauptvorteilen, die Bildanzeige mit dem Leutnant und seinem Diener und nun auch der gezielte kommerzielle Flankenschutz durch Werbeanzeigen lokaler Drogerien. Sie folgten einheitlichen Werbetexten aus Leipzig, präsentierten aber lediglich Produkt und Preis(e), verzichteten auf Abbildungen, lenkten das Kaufinteresse direkt auf den benannten Drogisten.

Benzolinar-Werbung lokaler Drogisten (Emscher Zeitung 1891, Nr. 46 v. 24. Februar, 3 (l.); Mindener Zeitung 1891, Nr. 84 v. 11. April, 3 (o.); Lenne-Zeitung und Hohenlimburger Wochenblatt 1893, Nr. 47 v. 25. April, 4 (M.); Bautzener Nachrichten 1891, Nr. 99 v. 1. Mai, 7)

Ergänzt wurde dies durch kleinere redaktionelle Texte, die – wie schon die oben gezeigte Weihnachtsanzeige – insbesondere dem Vorwurf entgegentraten, dass Benzolinar kein erstklassiges Spezialprodukt, sondern lediglich ein parfümiertes Benzin sei (Danziger Zeitung 1891, Nr. 19250 v. 8. Dezember, 3; Die Reform 1891, Nr. 295 v. 18. Dezember, 7). Die fehlende chemische Deklaration des Geheimmittels führte nämlich Ende 1891 zu einer existenzbedrohenden Krise, auf die erst werblich, dann aber auch rechtlich geantwortet wurde.

Qualitätsversicherungen (Posener Zeitung 1891, Nr. 858 v. 8. Dezember, 7)

Benzolinar: Zusammensetzung und Bewertungen

Johannes Meister hat die genaue chemische Zusammensetzung seines Fleckenwassers nie veröffentlicht. Die Werbung gab lediglich Wertungen ab, sprach unspezifisch vom besten, „alle anderen übertreffenden Fleckenmittel“ (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1891, Nr. 63 v. 17. März, 10). Damit ließ sich die Öffentlichkeit, zumal die wissenschaftliche, jedoch nicht stillstellen. Bei chemisch-technischen Präparaten war eine fachliche Kontrolle üblich, zumal bei Waren ohne Patentanspruch. Das diente nicht nur einer möglichen Gefahrenabwehr, sondern war eine Absicherung gegen Übervorteilung und Betrug. Gesichertes Produktwissen half den Drogisten zudem, einschlägige Angebote eigenständig herzustellen und preiswerter zu verkaufen.

Entsprechend war es nicht verwunderlich, dass bei der Sitzung der Polytechnischen Gesellschaft zu Berlin am 5. November 1891 die Frage debattiert wurde: „Woraus besteht das jetzt so vielfach als Fleckwasser angezeigte Benzolinar?“ Chemiker waren nicht zugegen, Analysen waren nicht angefertigt worden. Doch kein geringerer als Emil Blenck (1832-1911), Direktor des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus in Berlin, ergriff das Wort, erzählte seine Erfahrungen: “Vor einiger Zeit bat mich meine Frau, ihr von dem neuen gepriesenen Reinigungsstoffe etwas zu besorgen. Ich kaufte zunächst eine kleine Flasche bei einem mir bekannten Droguisten. Auf meine Vorstellung, daß das Fabrikat furchtbar teuer sei, ob er mir dasselbe nicht billiger liefern können, erwiderte derselbe achselzuckend: Nehmen Sie Benzin und kleben Sie das Etiquett von Benzolinar darauf. Ob man hieraus schließen darf, daß der Unterschied zwischen beiden Fleckmitteln lediglich in der Ausstattung der Flasche und im Preise besteht, muß ich anheimstellen“ (Polytechnisches Centralblatt 4, 1891/92, 77). Damit trat er eine Lawine los, denn die pharmazeutische Fachliteratur griff diese Aussage begierig auf: „Benzolinar soll nach Blenck nichts als Benzin sein“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 544). Die Geschichte gewann rasch Fahrt, auch versierte Wissenschaftler fragten nicht nach der Wissensgrundlage, sondern ergänzten das eine oder andere: „Wie der Name schon sagt, ist im Benzolinar die Hauptsache das Benzin. Das Andere wird Nebensache sein“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 18, 1891, 382). Die Produktwerbung wirkte wie ein Brandbeschleuniger einschlägiger Nachrichten: „Benzolinar, auch vielfach angekündigt, soll ein gut gereinigtes Benzin sein“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 32, 1891, 742). Und man übernahm auch ohne genauere Überprüfung einschlägige Presseberichte, etwas der Prager Rundschau: „Benzolinar, ein von Deutschland aus mit amerikanischer Reklame in den Handel gesetztes Fleckwasser, ist nach Geheimrath Blenk [sic!] weiter nichts als gewöhnliches reines Benzin“ (Seifensieder-Zeitung 18, 1891, 389; analog Rundschau. Wochenschrift für die Interessen der Pharmazie, Chemie, und der verwandten Fächer 17, 1891, 970). Schlimmer noch machte es die an sich für ihre Seriosität bekannte Berliner Börsen-Zeitung, deren Berichterstatter Blencks Aussage pointiert veränderte: „Benzolinar, das neue vielfach angepriesene Fleckwasser, das zum Preise von 1 Mk. in eleganten Flaschen verkauft wird, ist, wie Geheimrath Blenk [sic!] in der Polytechnischen Gesellschaft constatirte, nichts weiter wie ganz gewöhnliches Benzin, dessen Werth natürlich weit geringer ist“ (Berliner Börsen-Zeitung 1891, Nr. 521 v. 7. November, 8).

Da half es dem wichtigsten Statistiker Preußens nicht, dass er in der Folgesitzung am 19. November 1891 versuchte, die Geschehnisse gerade zu rücken: Die spekulative Äußerung stamme von seinem Drogisten, sei eine Mutmaßung, nicht mehr. Als chemischer Laie könne er nur dazu aufrufen, Benzolinar zu gebrauchen, um seinen Wert praktisch zu erkunden (Polytechnisches Centralblatt 4, 1891/92, 82). Das war aber alles zu spät, denn Johannes Meister hatte sich bereits zur Wehr gesetzt: Sein Einspruch wurde am 10. November in Deutschlands wichtigster Wirtschaftszeitung veröffentlicht: „Nach der uns mitgetheilten Analyse enthält das Benzolinar durchaus kein Benzin, und dies auch der Polytechnischen Gesellschaft darzuthun, hat die genannte Fabrik die geeigneten Schritte eingeleitet“ (Berliner Börsen-Zeitung 1891, Nr. 525 v. 10. November, 7). Bleck wurden gleich zwei chemische Analysen zugesandt, eine vertraulich, mit der genauen Zusammensetzung, eine zweite mit einer Analyse des Leipziger Pharmazeuten und Nahrungsmittelchemikers Fritz Elsner (1842-1921), dessen 1880 erstmals erschienene „Praxis des Nahrungsmittel-Chemikers“ ein Standardwerk seiner Zeit war (Hermann Schelenz, Geschichte der Pharmazie, Berlin 1904, 699-700). Das Ergebnis war eindeutig, Benzolinar enthielt kein Benzin. Die Werbung der Firma Wilhelm Roloff verkündete dies auch mit der ihr zur Verfügung stehenden Werbemacht.

Die Gegenmaßnahmen griffen jedoch zu spät. Selbst Fachjournale, die sich stets ostentativ vom verlogenen Gebaren der Geheimmittelanbieter abhoben, verbreiteten auch im neuen Jahr die Falschmeldung, passte sie doch in das von ihnen erwartete Muster (Chemisch-technisches Repertorium [30,] 1891, Bd. 2, Berlin 1892, 344; Industrie-Blätter 29, 1892, 53). Man traf sich vor Gericht: Johannes Meister hatte gegen Blenck, den Redakteur der Berliner Börsen-Zeitung Dr. Theobald Konewka und den Berichterstatter Alfred Lange Privatbeleidigungsklage angestrengt. Blenck bedauerte sein Versehen, verwies jedoch auf die verfehlte Berichterstattung und seine nach der Pressemeldung unmittelbar an die Börsenzeitung geschriebene Berichtigung. Lange „erklärte, daß er die Aeußerung des Geheimraths Blenck nur dem Sinne und nicht dem Wortlaute nach wiedergegeben habe, wie ein Berichterstatter dies auch nicht anders könne“ (Das ‚Benzolinar‘ vor Gericht, Internationale Pharmaceutischer General-Anzeiger 1892, Nr. 17, 176). Und auch Konewka sah sich ohne Schuld, denn er habe Lange vertrauen müssen. Dennoch wurde der Prozess für Johannes Meister zum PR-Desaster. Der an sich recht wirtschaftsfreundliche Gerichtschemiker Carl Bischoff (1851-1912) sagte aus, „daß Benzolinar kein einheitliches Produkt, sondern eine Mischung aus einem Theile Aethyläther, vier Theilen Steinkohlen-Benzol und einigen Tropfen Birnenäther sei. Benzin sei es nicht, sondern ein Produkt, welches diesem Stoffe ähnlich sei und wohl auch kaum hinsichtlich der Leistungsfähigkeit auf einer höheren Stufe stehe. Wenn es Flecken bestimmter Art leichter entferne als Benzin, so sei auch umgekehrt dasselbe der Fall. Der Werth einer Flasche Benzolinar, die mit einer Mark verkauft werde, sei höchstens auf 25 Pfennige zu bemessen“ (Vom Benzolinar, Berliner Tageblatt 1892, Nr. 289 v. 10. Juni, 4). Ein zweites Gutachten des Gerichtsmediziners Paul Lohmann soll „ungünstiger“ (Vorwärts 1892, Nr. 134 v. 11. Juni, 7) gelautet haben, der Inhalt wurde jedoch nicht publik. Der Prozess endete ohne Urteil, wahrscheinlich mit einem Vergleich. Johannes Meister wurde einerseits bestätigt, denn sein Produkt konnte nicht mit Billigprodukten auf eine Ebene gestellt werden, die zwar wie das Brönnersche Fleckenwasser eine lange Historie besaßen, die in den frühen 1890er Jahren aber dem Leistungsstandard der Branche nicht mehr entsprachen. Auf der anderen Seite verdeutlichten die quasi amtlichen Gutachten, dass Benzolinar ein hochprofitables Produkt mit überschaubarem Materialwert war. Zu beachten ist dabei, dass die Grundstoff Benzol wahrscheinlich im Roloffschen Hauptbetrieb anfiel, dass es sich hierbei also um eine Nebenverwertung des Dachpappengeschäftes handelte. Auch wenn man berücksichtigen muss, dass die gängigen Handelsspannen für Groß- und Einzelhandel wohl bei jeweils etwa 20-30 Prozent lagen, so betrug der Nettoertrag des Fleckenwassers nach Abzug der Herstellungs-, Ausstattungs- und Werbekosten doch ebenso 20 bis 30 Prozent des Verkaufspreises. Ein Fortgang des Prozesses hätte eventuell mit einer erfolgreichen Beleidigungsklage und einer symbolischen Geldstrafe geendet, doch der durch die Falschmeldungen entstandene Renommeeschaden konnte nach damaliger Rechtslage schlicht nicht angemessen entschädigt werden.

Preiswertere Substitute für Benzolinar aus der Drogerie (Sächsischer Landes-Anzeiger 1891, Nr. 275 v. 24. November, 3)

Immerhin wurde die falsche Zusammensetzung nach dem Prozess zumeist korrigiert: „Benzolinar, welches für gut gereinigtes Benzin gehalten wurde, ist nach einer Analyse von Bischoff eine mit Birnäther parfumirte Mischung von Schwefeläther (Aethyläther) 1:4 Steinkohlenbenzol“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 19, 1892, 471, ähnlich Rundschau. Wochenschrift für die Interessen der Pharmazie, Chemie, und der verwandten Fächer 18, 1892, 541). Eine solche korrigierende Rücknahme blieb allerdings eine Ausnahme, denn die meisten Fachjournale meldeten schlicht, dass ein neues Gutachten vorliege – und berichteten dessen Resultate (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 33, 1892, 546; Die Heimat 18, 1893, Bd. II, Nr. 49, 783; Eduard Hahn und J[ohann] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel mit Angabe ihrer Zusammensetzung, 5. völlig umgearb., verm. u. verb. Aufl., Berlin 1893, 276). Die breite Aufmerksamkeit in der Fachpresse führte zugleich dazu, dass über die Zusammensetzung von Meisters Fleckenwasser nun auch im Ausland berichtet wurde (The Pharmaceutical Era 8, 1892, 265; The Western Druggist 14, 1892, 339; De Nijverheid 1, 1893, 285). Dennoch hielten Falschmeldungen an: Im Jeverschen Wochenblatt hieß es weiterhin: „Das mit so großer Reklameanstrengung in den Handel gebracht, mit dem Phantastenname Benzolinar belegte Fleckenwasser ist im wesentlichen nichts weiter als theueres Benzin“ (Jeversches Wochenblatt 1893, Nr. 63 v. 16. März, 3). Fachjournale griffen derartige Meldungen weiterhin auf, schürten Unsicherheit aufgrund einander widersprechender Aussagen: „Wir selbst haben das köstliche Benzolinar noch nicht gesehen, brauchen es auch nicht zu sehen, denn die Art und Weise, wie dieses in den Mantel eines Geheimmittels gehüllte Präparat in jedem Käse- und Wurstblättchen den Offiziersburschen und den ‚verehrten Hausfrauen‘ empfohlen wird, ist nicht geeignet, Vertrauen zu erwecken“ (Deutsche Färber-Zeitung 28, 1892, 174). Offenkundig war die veröffentlichte Meinung komplexer als die simple, wissenschaftlich immer wieder herausgestrichene Gegenüberstellung von ruchlosen Geheimmittelproduzenten und hehrer Wissenschaft.

Unabhängige Untersuchungen aus dem Jahre 1896 führten schließlich zu leicht modifizierten Ergebnissen. Benzolinar bestand demnach aus etwa 89 Prozent Benzol, zehn Prozent Essig- und einem Prozent Birnenäther (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 37, 1896, 657; Neueste Erfindungen und Erfahrungen 23, 1896, 610). Drogisten wurde geraten, ihre Fleckenwassersubstitute im Verhältniss 80:18:2 zu mischen (Karl Fr. Töllner, Vorschriften-Buch für Apotheker, Drogisten, chemische Fabriken und verwandte Gewerbe-Betriebe, Strassburg i.E. 1899, 23; Neueste Erfindungen und Erfahrungen 26, 1899, 509).

Fasst man diese Debatten zusammen, so zeigt sich ein tendenziell paradoxes Bild. Benzolinar war ein eher seltenes Beispiel für eine verfehlte Berichterstattung just durch die wissenschaftlich gebildeten Kontrolleure der Geheimmittelindustrie. So berechtigt deren Arbeit und deren stete Benennung von Betrug, Fälschung und Unlauterkeit auch war, so waren sie selbst keineswegs fehlerlos. Ähnlich wie viele der Geheimmittelproduzenten scheuten sie Selbstkritik, benannten eigene Fehler nicht mit der gleichen Emphase wie die der Inkriminierten. Das Geheimmittel Benzolinar entpuppte sich jedenfalls als ein vorrangig aus den Nebenprodukten der Teerproduktion bestehendes und dann aromatisiertes Präparat. Es war gewiss kein wirklich innovatives Produkt, jedoch ein wirksames Hilfsmittel für den bürgerlichen Haushalt. Als Convenienceprodukt beendete es die häusliche Zubereitung von Fleckenmitteln, die insbesondere in weniger gut gestellten Haushalten aber weiter praktiziert wurde. Unabhängige Bewertungen sind selten, doch diese bescheinigten dem Fleckenwasser eine ordentliche Wirkung (Deutsche Malerzeitung 1895/96, Nr. 8, 78). Die Gewinnspanne war relativ hoch, war aber keineswegs exorbitant. Genaue Angaben sind kaum zu treffen, doch ein Erlös von 50 Prozent des Verkaufspreises entsprach durchaus dem Branchendurchschnitt (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 552-558, auch mit vertiefender Literatur). Guter Absatz vorausgesetzt, führte dies zu hohen Einkommen. Angesichts der auch damals schon bestehenden hohen Flopraten handelte die Firma Wilhelm Roloff jedoch durchaus im Einklang mit der Preisgestaltung der Branche. Benzolinar konnte sich jedenfalls trotz der Debatten über seine Zusammensetzung als ein Standardprodukt etablieren. Das spiegelte auch sein Auftauchen in einem Fremdwörterlexikon der Zeit (Dr. Joh. Christ. Aug. Heyses allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch, neu bearb. v. Otto Lyon, 17. Ausg., Hannover und Leipzig 1896, 107).

Auslandsmärkte

Benzolinar wurde im Deutschen Reich produziert. Doch es wurde auch jenseits der Reichsgrenzen vermarktet, war Teil der wachsenden Anstrengungen der deutschen Konsumgüterindustrien, auch im Ausland erfolgreich zu sein. Die günstigsten Rahmenbedingungen bot gewiss der Handelsverkehr mit der Habsburger Monarchie, denn der 1881 abgeschlossene und zehn Jahre später nochmals verlängerte Handelsvertrag hatte nicht nur Einfuhr-, Ausfuhr- oder Durchfuhrverbote streng begrenzt, sondern auch die Zölle auf die meisten Drogeriewaren abgeschafft.

Marktanalogon Österreich-Ungarn: Aufbau eines Vertriebsnetzes (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 158)

Entsprechend begann die Firma Wilhelm Roloff schon im März 1891 mit dem Aufbau eines Vertriebsnetzes in Österreich-Ungarn. Dazu nutzte sie die auch im Deutschen Reich verwandten Anzeigen, auch lokal rühmten Annoncen schon früh „das berühmte Fleckenwasser ‚Benzolinar‘“ (Innsbrucker Nachrichten 1891, Nr. 80 v. 10. April, 13). Gleichwohl verging fast ein halbes Jahr, ehe mit der Budapester Medizinaldrogerie Leopold & Franz Reiner ein Generalvertreter gefunden war (Fremden-Blatt 1891, Nr. 199 v. 22. Juli, 8). Das Deutsche Reich bot die Blaupause für die Marktpräsenz: Der Preis der Originalflasche Benzolinar lag anfangs bei 60 Kreuzern (Budweiser Zeitung 1891, Nr. 55 v. 17. Juli, 112), analog zum Deutschen Reich wurden jedoch 1891 auch kleinere Flaschen zum halben Preis angeboten (Neue Freie Presse 1893, Nr. 10343 v. 10. Juni, 16). Die Zeitungsanzeigen konzentrierten sich vorrangig auf die größeren Metropolen, zumal auf Wien, Prag und Budapest (Neue Freie Presse 1893, Nr. 10343 v. 10. Juni, 16; Prager Tagblatt 1893, Nr. 125 v. 6. Mai, 28; Pester Lloyd 1893, Nr. 130 v. 1. Juni, 7). Eine Besonderheit Österreichs war gewiss die recht hohe Bedeutung sog. Empfehlungen, mit denen redaktionelle Textreklame erweitert wurde. Darin wurde der Name des importierten Fleckenwassers immer mal wieder erwähnt, mögliche Kauflaune so gestärkt (Grazer Tagblatt 1892, Nr. 119 v. 29. April, 11; ebd. Nr. 245 v. 4. September, 13; ebd. 1893, Nr. 50 v. 19. Februar, 8; ebd. 1894, Nr. 245 v. 6. September, 6). Illustrierte Anzeigen erschienen bis mindestens 1897, wobei das Militär eine wichtige Zielgruppe blieb (Neue Armee-Zeitung 1897, 563).

Polnischsprachige Benzolinar-Werbung in Cisleithanien (Czas 1891, Nr. 156 v. 12. Juli, 6 (l.); Gazeta Narodowa 1891, Nr. 158 v. 3. Juli, 4 (o.); ebd. Nr. 268 v. 8. November, 4)

In der Vielvölkermonarchie erschienen Benzolinar-Anzeigen in vielen Sprachen, oben sehen Sie polnischsprachige Beispiele aus Krakau. Die deutschen Anzeigen wurden dazu einfach übersetzt, einzig die Ansprechpartner variierten. Wilhelm Roloff machte keine Anstrengungen für eine den Besonderheiten des Habsburgerreiches entsprechendere Gestaltung der Anzeigen.

Übersetzungen und ein anderes Generaldepot: Benzolinar-Werbung in der Schweiz (La Tribune de Genève 1891, Nr. 296 v. 16. Dezember, 4 (l.); Neue Zürcher-Zeitung 1891, Nr. 334 v. 30. November, 8)

Das galt auch für die Schweiz, wo die Importware aufgrund von Zöllen und einer gesonderten Monopolgebühr jedoch deutlich teurer war (Chemiker-Zeitung 16, 1892, 87; Austria 43, 1891, 516). Die nicht allzu zahlreichen Anzeigen wurden vorrangig Ende 1891 geschaltet, eine nachhaltige Marktpräsenz ist trotz eines in Kreuzlingen, just in der Nachbarschaft von Konstanz gelegenen Generaldepots nicht nachweisbar (Der Bund 1891, Nr. 332 v. 1. Dezember, 4). Der Markteintritt erfolgte also deutlich später als in Österreich-Ungarn, endete aber nach kurzer Zeit.

Auch in Schweden konnte sich Benzolinar nicht längerfristig etablieren. Die frühen Anzeigen variierten zwar leicht, doch illustrierte Anzeigen hatte der Generalagent nicht gewagt – obwohl diese sich im schwedischen Markt damals zunehmend etablierten (Norrtelja Tidning 1891, Nr. 79, 4; Dagens Nyheter 1891, Nr. 8145 v. 10. Oktober, 3; Arvika Tidning 1891, Nr. 47A v. 20. November, 4; Sydsvenska Dagbladet 1891, Nr. 544 v. 23. November, 4). Insgesamt war der Exporterfolg der Firma eher begrenzt. Österreich-Ungarn war eine erfolgreiche Ausnahme, das Deutsche Reich blieb der zentrale Absatzraum.

Fortgesetzter Wandel: Werbemittel seit 1893

In der Zwischenzeit hatten sich die Absatzwege der Firma Wilhelm Roloff etabliert, zudem erweitert. Die Anzeigen verwiesen bereits auf Parfümhandlungen, ebenso dürfte das Fleckenwasser auch von großstädtischen Friseurgeschäften geführt worden sein. Zudem fand es Eingang in die Sortimente schnelldrehender Bazare und größerer Versandgeschäfte (Lindauer Tagblatt 1891, Nr. 148 v. 30. Juni, 4; Deutsche Verkehrs-Blätter und Allgemeine Deutsche Eisenbahn-Zeitung 12, 1896, 140). In der selbstpreisenden Sprache der Werbung hieß dies: „Benzolinar […] hat sich in allen Gesellschaftsklassen eingeführt“ (Fliegende Blätter 98, 1893, Nr. 2484, Beibl. 3, 4).

Der Traum vom Markenartikel für alle: Vom Globus bis zum herrschaftlichen Haushalt (Über Land und Meer 71, 1894, 202 (l.); Illustrirte Zeitung 101, 1893, 569)

Das war jedoch Wunsch, keine genauer belegte Marktrealität. Nach wie vor adressierte die Werbung vornehmlich das etablierte Bürgertum und das Militär. Der kurze Austausch zwischen Leutnant und Burschen prägte die Werbepräsenz 1892/93. Dann aber veränderte sie sich neuerlich. Einerseits präsentierte das Leipziger Unternehmen neue Werbezeichnungen. Diese spannten einen breiten Bogen, von der herrschaftlichen Dienerschaft bis hin zur vermeintlich globalen Nutzung und Weltgeltung des Benzolinars. Ebenso wichtig war der Übergang zur Werbung mit Empfehlungsschreiben, sog. Zeugnissen. Dies war typisch für pharmazeutisch-technische Geheimmittel, während seriöse Anbieter zurückhaltender agierten. Die Benzolinar-Werbung entsprach zunehmend dem Fremdbild des Produkts, das die Kritiker während der Debatte über die Zusammensetzung 1891/92 gezeichnet hatten. Immerhin, die beiden in den Anzeigen zu Wort kommenden Firmen existierten, waren respektierte Anbieter von Handschuhen und Kleiderstoffen. Die Zeugnisse erlaubten jedenfalls, bestimmte Vorzüge des eigenen Produktes stärker zu akzentuieren.

Lasst andere für mich sprechen: Empfehlungsschreiben für Benzolinar (Hamburger Fremdenblatt 1893, Nr. 138 v. 15. Juni, 12 (o.); Münchner Neueste Nachrichten 1893, Nr. 293 v. 29. Juni, 6 (M.); Posener Zeitung 1893, Nr. 491 v. 16. Juli, 12)

Wilhelm Roloff versuchte auf diese Art, die Nutzenperspektive der Konsumenten einzunehmen, also die Frage zu beantworten, warum sie ein recht teures Produkt dieser Art kaufen sollten. Das zeigte sich noch deutlicher in drei Textanzeigen, die 1893/94 zum Rückgrat der Werbepräsenz wurden: Benzolinar wurde als Spezialprodukt für teurere Textilien und Handschuhe beworben, Woll- und Seidenwaren standen dabei im Mittelpunkt. Empfehlungsschreiben bestätigten diesen Nutzen.

Diese Textanzeigen wurden ab 1894 wiederum von Bildanzeigen abgelöst. Einerseits lenkte man den Blick direkt auf das Produkt, folgte damit einer Erfolgsstrategie des Mundwassers Odol oder der Waschmittelanbieter Sunlicht/Sunlight, Luhns oder Dr. Thompson. Die Ware trat gegenüber dem Produzenten zurück, gewann eine eigene kommerzielle Identität. Das galt bereits für die Spirituosenbranche, für Maggis Würze, Nestles Kindermehl oder Kosmetika.

Die Warenverpackung als Werbeträger (Von links: Donau-Zeitung 1892, Nr. 186 v. 19. August, 6; Allgemeine Zeitung 1893, Nr. 92 v. 2. April, 8; Illustrirte Zeitung 101, 1893, 152; Der Bazar 39, 1893, 337)

Anderseits bediente man auch tradierte Bildwelten der Frauenillustrierten: Benzolinar wurde als Hilfsmittel der Mutter angepriesen, mit seiner Hilfe hielt man den Schaden kleckernder Kinder im Zaum. Von einer gezielten Definition und Ansprache neuer Zielgruppen konnte dabei aber noch nicht die Rede sein, eher um einen netten, freundlichen Hingucker. Nach mehrjähriger Marktpräsenz präsentierte man jedenfalls stolz „ein vorzügliches, langjährig erprobtes Fleckenmittel“ (Neue Freie Presse 1897, Nr. 11819 v. 19. Juli, 7). Doch neuer Werbebilder entwickelte man nicht mehr. Benzolinar wurde ab 1896 nur noch von Abnehmern beworben, vorrangig in breiter gehaltenen Anzeigen einzelner Drogerien. Die werbliche Markenpräsenz ebbte deutlich ab, blieb aber zumindest bis kurz vor der Löschung der Marke 1908 bestehen (Wildbader Chronik 1906, Nr. 111 v. 20. September, 4).

Die Marke bewirbt die Marke; die Graphik bewirbt alle Absatzmärkte (Über Land und Meer 72, 1894, 788 (l.); Fliegende Blätter 103, 1895, Nr. 2611, Beibl. 4, 5)

Wachsende Konkurrenz: Der Zwang, Gewinne abzuschöpfen

Es waren vor allem drei Gründe, warum Benzolinar ab 1896 eine auslaufende Marke wurde. Erstens schliffen sich die bekannten First-Mover-Advantages ab, also die Vorteile einer Produktpioniers. Neben Benzolinar traten zunehmend ähnliche, mit breit gestreuter Werbung angepriesene Produkte, allesamt proklamierend, das beste Fleckenmittel zu sein.

August Falks Fleckenpaste Aphanizon (Fliegende Blätter 103, 1895, Nr. 2606, Beibl. 3, 2)

Im März 1893 wurde in Österreich Aphanizon eingeführt, dessen Werbung sich visuell offenkundig an der Benzolinars orientierte (Publication des Central-Marken-Registers für das Jahr 1893, Wien 1895, 315). Es handelte sich um eine „automatisch wirkende Fleckenreinigungs-Paste“, die als trockener Brei auf die Flecken gestrichen, trocknen gelassen und dann ausgebürstet wurde (A. Schneider, Aphanizon und Pasta Magica, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 36, 1895, 347). Der griechisch tönende Markenname stand für Wissenschaftlichkeit, die Werbung war trommelnd, erfolgte auch über redaktionelle Reklame („Aphanizon.“ Ein neuer Hausfreund, Das Echo 13, 1894, 1833) und kostenlose Probepackungen. Der Wiener Chemiker August Falk, der vor allem durch seine kurz vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten entnikotinisierten Zigaretten in Erinnerung geblieben ist, setzte allerdings nur auf zwei Werbezeichnungen, also nicht auf den für Benzolinar üblichen Wechsel. Trotz unterschiedlicher Zusammensetzung und Konsistenz standen beide Fleckenmittel in unmittelbarem Wettbewerb (Illustrirte Zeitung 104, 1895, 721). Bezeichnenderweise wurde obige Anzeige nach einigen Jahren als Ausdruck künstlerischer Werbung gefeiert (Philipp Rath, Künstlerische Inseraten-Reklame, Zeitschrift für Bücherfreunde 2, 1898/99, 506-519, hier 514-515). So wurden Übernahmen und Anleihen unkundig geadelt.

Massive Werbepräsenz im Gefolge der Hühneraugenringe: A. Wasmuths Opal (Fliegende Blätter 105, 1896, Nr. 2668, Beibl. 3, 2)

Eine deutliche variablere und vor allem von Zeichnungen geprägte Werbung charakterisierte Opal, dem ebenfalls besten Fleckenwasser der Welt. Es wurde 1896 eingeführt, die 24-teilige Serie einfacher Textanzeigen im „Vorwärts“ verwies auf einen bisher unbekannten Werbeaufwand. Produzent August Wasmuth hatte zuvor schon mit seinen nicht sonderlich wirksamen Hühneraugenringen Werbegeschichte geschrieben, doch mit „Opal in der Tonne“ präsentierte die Firma ein Fleckenwasser von äußerst fraglichem Wert: Es müsse, „bei seinem geringen Gehalt an eigentlich wirksamer Substanz gegenüber der großartigen Reclame als ein sehr geringes und nichts weniger als allgemein anwendbares Fleckenwasser bezeichnet werden“, so die Badisch chemisch-technische Prüfungs- und Versuchsanstalt (Deutsche Färber-Zeitung 32, 1896, 545). Das Geheimmittel verschwand rasch vom Markt.

Regionale Konkurrenz: Fleckenreinigungsmittel Purin von Berndt aus Berlin; Furor Fleckenwasser von Oswald Rudolph aus Liegnitz (Internationaler Pharmaceutischer General-Anzeiger 1891, Nr. 19, 203 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 2 v. 3. Januar, 7)

Opal setzte dennoch einen neuen Werbestandard, dem nur mit hoher Kapitalkraft zu genügen war. Parallel aber wurde die Marktstellung von Benzolinar durch zahlreiche kurzlebige und meist nur regional verfügbare Markenartikel angegriffen. Angesichts der noch geringen Markenloyalität dürften diese immer wieder neu mit dem Anspruch des Besten angekündigten Präparate das Geschäft von Wilhelm Roloff beeinträchtigt haben – zumal sie vielfach preiswerter waren, teils den Wiederverkäufern auch bessere Konditionen boten. Dennoch war Benzolinar bis Mitte der 1890er Jahre nicht nur ein Pionier der Branche, sondern zugleich auch Referenzprodukt. Schon 1894 warb das Electric-Fleckenwasser mit dem Hinweis „bedeutend besser als Benzin und Benzolinar“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1893, Nr. 10 v. 12. Januar, 4). Weitere Markenartikel bezogen sich in ihrer Werbung unmittelbar auf das Leipziger Fleckenwasser, grenzten sich von diesem ab, betonten ihre Vorzüge, ihre größere Preiswürdigkeit.

Abgrenzung zum Referenzprodukt Benzolinar: Koch’s Benzinol und das Viktoria-Fleckenwasser (Tag- und Anzeigeblatt 1894, Nr. 22 v. 28. Januar, 3 (l.); Der Zeitungs-Bote 1896, Nr. 74 v. 27. Juni, 4)

In der Werbung der lokalen Drogerien war Benzolinar entsprechend stetig präsent, war jedoch umgeben von einer wachsenden Zahl einschlägiger Konkurrenten. Diese Anzeigen verwiesen einerseits auf die weiterhin hohe Bedeutung von lokalen Mixturen der Drogisten. Anderseits gab es eine wachsende Zahl spezialisierter anonymer Angebote, für Weißzeug etwa das Fleckenwasser „Schneeweiß“ oder für Vorsichtige das Fleckenmittel „Feuersicher“. Benzolinar stand für die wachsende Bedeutung von Universalmitteln, doch zugleich fächerte sich der Markt durch Spezialangebote weiter auf (Würzburger Stadt- und Landbote 1898, Nr. 66 v. 23. März, 8). Dies stellte auch in Wachstumsmärkten neue unternehmerische Aufgaben.

Benzolinar als Teil eines wachsenden Angebotes (General-Anzeiger für Essen und Umgegend 1895, Nr. 165 v. 22. Juli, 6 (l.); ebd. 1899, Nr. 65 v. 17. März, 4 (r.); Hagener Zeitung 1896, Nr. 172 v. 24. Juli, 4)

Nachläufer: Das Leipziger Putzwasser

Der zweite Grund für das Auslaufen der Marke Benzolinar dürfte im Scheitern einer Dachmarkenstrategie gelegen haben. In den 1890er Jahren entstand nicht nur eine größere Zahl von Waschmittelanbieter, die angesichts der nur geringen Unterschiede ihrer Produkte versuchten, diese mit Hilfe von Werbung voneinander abzuheben. Ähnliches erfolgte auch im Bereich der Reinigungsmittel. Nicht nur Fleckenmittel, sondern auch Schuh- und Ledercreme, Möbel- und Ofenpolituren, Bohnerwachs und Metallputzartikel bestanden aus ähnlichen und überlappenden Rohmaterialien, wurden zugleich allesamt über die gleichen Absatzketten vermarktet. Da lag es nahe, die Rohwaren in einer Firma in größerem Umfang – und damit billiger – einzukaufen, zugleich aber Marktmacht aufzubauen, um die Handelsmargen zugunsten eines marktrelevanten Anbieters zu verändern. In Leipzig zeigte der gezielte Umbau der 1878 gegründeten Firma von Fritz Schulz jr. den einzuschlagenden Erfolgsweg. Sie konzentrierte sich anfangs vornehmlich auf Schleifmittel. Die Abhängigkeit von wenigen Rohstofflieferanten führte 1893 dazu, diese aufzukaufen. Auf dieser Grundlage erweiterte Schulz sein Portfolio von Putzmitteln, baute 1897 eine große Fabrik in Leipzig-Plagwitz und bündelte seine Firmen 1900 in der Fritz Schulz jr. AG mit einem Aktienkapital von 5,1 Mio. Mark (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 157 v. 4. Juli, 11).

Gängige Metallputzmittel (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1885, Nr. 157 v. 3. April, 8 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1896, Nr. 21 v. 25. Januar, 8)

Schleifmittel wurden für Metallputzmittel benötigt. Bürgerliche Haushalte besaßen schon seit der Gründerzeit eine stetig wachsende Menge von Besteck, Schlössern, Lampen, Kesseln, Kerzenhaltern, von Metallknöpfen und anderen blinkenden Dingen ganz abgesehen. Bis weit in die 1890er Jahre dominierten Spezialisten den Markt. Sie boten vor allem Pulver und Pasten, bei denen die Gefahr des Verkratzens immer groß war. Rein mechanisch handelte es sich beim Putzen nämlich um eine Politur der verdreckten Metallwaren: Sie wurden durch Gase und Dämpfe chemisch angegriffen, Staub, Fett und andere Schmutzarten lagerten sich ab. Metallputzmittel hatten also eine doppelte Aufgabe, mussten sie doch erst mit Hilfe gängiger Lösemittel den Schmutz beseitigen, ehe sie dann mittels eines Poliermittels die eigentlichen Metallschichten wieder zum Glänzen brachten (G. Schneemann, Metallputzmittel, Seifensieder-Zeitung 1913, 18-20, 53-54, 77-78). Seit den frühen 1890er Jahren bemühte man sich, diese Aufgaben mit flüssigen Präparaten zu erfüllen, die zudem die Gefahr des Zerkratzens verringerten (Lüdecke, Metallputzmittel, in: Fritz Ullmann (Hg.), Enzyklopädie der technischen Chemie, Bd. 8, Berlin und Wien, 51-59, hier 55). Ein Fleckenwasseranbieter wie Wilhelm Roloff konnte also seine Expertise und seine Rohwaren nutzen, Poliermittel ergänzen und dann ein modernes Metallputzmittel anbieten. Diese Überlegungen standen hinter der Entwicklung des Leipziger Putzwassers, das ab Mitte 1894 neben Benzolinar trat (Deutscher Reichsanzeiger 1894, Nr. 131 v. 6. Juni, 9). Es stand für die Fortentwicklung der Chemischen Fabrik Wilhelm Roloff zu einem breit aufgestellten Putzmittelanbieter.

Zwei Präparate, ein Hersteller (Dies Blatt gehört der Hausfrau 9, 1894/95, 788)

Abermals beanspruchte man mit dem Markteintritt eine Preis- und Qualitätsführung, pries die Firma es doch als „billigstes und bestes Putzmittel für alle Metallgegenstände“ (Badische Landes-Zeitung 1894, Nr. 149 v. 30. Juni, 8). Belege hierfür gab es nicht, auch die Konkurrenten suggerierten ähnliches. Als „Wasser“ war das neue Produkt jedoch weniger invasiv als gängige Pasten, so dass man offensiv behauptete: „Leipziger Putzwasser schmiert nicht, greift nicht an und ist sparsam im Verbrauch“ (Aachener Anzeiger 1894, Nr. 153 v. 7. Juli, 6). Oder auch: „Bestes und billigstes Putzmittel. Kein Beschmutzen, kein Angreifen der Metalle“ (Neusser Zeitung 1894, Nr. 237 v. 17. Oktober, 4). Dies war bestenfalls ansatzweise richtig, denn auch flüssige Metallputzmittel waren nicht davor gefeit, das sich die sorgsam vermengten Lösungs- und Poliermittel voneinander trennten, es dann doch zu Kratzschäden kommen konnte.

Die Markteinführung des Leipziger Putzwasser erfolgte analog zu Benzolinar, auf dessen Vertriebsnetz man unmittelbar bauen konnte: Es hieß: „In allen einschlägigen Geschäften zu haben“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1894, Nr. 327 v. 29. Juni, 4771) oder aber „In allen Drogenhandlungen und anderen einschlägigen Geschäften“ zu haben (ebd. 101, 1894, Nr. 2571, Beibl. 5, 11). Dazwischen aber mischten sich vorsichtigere Töne: „Wo keine Verkaufsstellen, versende direkt“ (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2567, Beibl. 5, 7). Dabei konnte man auf die Vorarbeiten für Benzolinar unmittelbar zurückgreifen. Das Leipziger Putzwasser wurde – analog zum Markt – billiger angeboten, zudem offerierte man von Beginn an Fläschchen zu 50 und 25 Pfennig. Spätestens ab Mai 1895 konnte auch eine noch kleinere Menge für 10 Pfennig gekauft werden (Mayener Volkszeitung 1895, Nr. 113 v. 16. Mai, 4). Wenige Jahre später reduzierte Roloff gar den Preis für die Standardflasche auf 25 Pfennig (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1899, Nr. 115 v. 18. Mai, 6). Damit eröffnete man sich sozial breitere Kreise, hatte eventuell auch die Hoffnung, das teure Benzolinar in ein kleinbürgerliches Milieu einzuführen.

Varianten eines Werbemotivs für das Leipziger Putzwasser (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1894, Nr. 273 v. 23. November, 6 (l.); Illustrirte Frauen-Zeitung 21, 1894, H. 12, Beibl., 4)

Auch dieses Mal war die Markteinführung von Werbezeichnungen begleitet – allerdings nutzte man nun lediglich zwei Motive. Beide knüpften an die Benzolinar-Werbung an, präsentierten Produkt, Lobpreis und den Namen des Herstellers. Doch die Unterschiede waren beträchtlich. Schon der Verweis auf das (von mir zumindest nicht nachweisbare) Datum der Firmengründung war neu, Ausdruck einer Art Renommeewerbung mit Unternehmenstraditionen. Entscheidender aber: Präsentiert wurde kein Paar, auf Gesprächsfetzen wurde verzichtet, stattdessen zeigte man eine Frau beim Putzen eines Kerzenhalters (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1894, Nr. 327 v. 29. Juni, 4771; Badische Landes-Zeitung 1894, Nr. 149 v. 30. Juni, 8; General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1894, Nr. 179 v. 1. Juli, 9; Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart 1894, Nr. 154 v. 5. Juli, 11). Die Werbung zielte also auf die selbst arbeitende Hausfrau, auf die normale Zeitungsleserin.

Aufmerksamkeit zählt: Mohren sehen Dich an (Posener Zeitung 1894, Nr. 526 v. 31. Juli, 4)

Überraschender noch war das zweite Motiv, antiquiert wirkende Mohren. Sie standen in der Tradition ähnlicher Schwarzer, die in den 1890er Jahre für Drogerieartikel jeder Art warben, vorrangig für Zahnpasta und Schuhcreme. Den altertümlich wirkenden Figuren wurde attestiert „nichts Negroides“ zu haben (Nana Badenberg, Mohrenwäschen, Völkerschauen: Der Konsum der Schwarzen, in: Birgit Tautz (Hg.) Colors 1800/1900/2000: Signs of Ethnic Difference, Amsterdam und New York 2004, 163-184, hier 166, FN 8). Doch die schwarzen Männer erregten gewisse Aufmerksamkeit, brachen sie doch mit den gängigen Werbefiguren der Zeit, ohne zugleich rassistisch herzukommen. Beide Motive dominierten 1894/95, wurden auch als Werbeklischees verwandt, bei denen die Firmenadresse durch die Einkaufsstätte ersetzt wurde (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1894, Nr. 273 v. 23. November, 6; Hagener Zeitung 1895, Nr. 42 v. 19. Februar, 3).

Kleines Lob im redaktionellen Gewande (Thorner Ostdeutsche Zeitung 1894, Nr. 181 v. 5. August, 5)

Wie schon bei Benzolinar wurden die beiden Anzeigen von redaktioneller Reklame flankiert. Sie hoben ebenfalls die Flüssigkeit und den Preis des Leipziger Putzwassers als entscheidende Vorteile hervor (Rheinisch-Westfälische Zeitung 1894, Nr. 211 v. 2. August, 3). Dies wurde innerhalb der Redaktionen vielfach variiert, vielfach auch als Zuschrift bezeichnet (Wittener Tageblatt 1894, Nr. 178 v. 1. August, 3). Die Journalisten nutzten den Grundtext von Wilhelm Roloff, nahmen sich aber der Reinigungsmission zugunsten der Hausfrauen direkt an (Aachener Anzeiger 1894, Nr. 168 v. 25. Juli, 1; Schönburger Tageblatt und Waldenburger Anzeiger 1894, Nr. 177 v. 3. August, 4). Die immer wieder eingeforderte Trennung von redaktionellem und Werbeteil blieb eine Chimäre.

Farbakzente und lokale Drogistenwerbung (Schönburger Tageblatt und Waldenburger Anzeiger 1894, Nr. 183 v. 10. August, 4 (l.); Emscher Zeitung 1894, Nr. 142 v. 20. Juni, 3)

Auch bei Roloffs zweitem Drogerieartikel gab es einfache Variationen der Grundwerbung, die zwischen Text und Slogan chargierte (Westfälischer Merkur 1894, Nr. 217 v. 10. August, 4; Solinger Zeitung 1894, Nr. 187 v. 11. August, 6). Lokale Anbieter nutzten und variierten neuerlich die Vorlage aus Leipzig. Zugleich bemühte sich die Werbung um eine Verschränkung der anvisierten Zielpublika. Das Leipziger Putzwasser wurde explizit auch für Militärzwecke beworben, Militärverwaltungen und Kantinen erhielten überdurchschnittliche Rabatte, hoffte man dadurch doch auf ein besseres Geschäft für Benzolinar (Militär-Zeitung 49, 1894, 159).

Hilfsmittel auch für den einfacheren bürgerlichen Haushalt (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2571, Beibl. 5, 11)

Die Markenkarriere des Leipziger Putzwasser verlief insgesamt ähnlich wie die Benzolinars. Weitere Zeichnungen präsentierten doch wieder miteinander sprechende Paare, nutzten ebenso einschlägige „Zeugnisse“ von nachweislich bestehenden Institutionen und Firmen (mit anderem Empfehlungsschreiben Fliegende Blätter 102, 1895, Nr. 2580, Beibl. 3, 3). Die Werbung gab sich volkstümlicher, präsentierte fiktionale Figuren damaliger Hausfrauen.

Glückliche Hausfrauen dank des Leipziger Putzwassers (Über Land und Meer 73, 1895, 180)

Auch beim zweiten Drogerieartikel von Wilhelm Roloff trugen Drogisten die Alltagswerbung nach der Jahrhundertwende (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1900, Nr. 151 v. 2. Juli, 8; ebd. 1901, Nr. 127 v. 3. Juni, 8; Rhein- und Ruhrzeitung 1903, Nr. 113 v. 15. Mai, 3), nachdem die aktive Firmenwerbung 1896/97 endete. Das galt auch für die cisleithanischen Gebiete Österreich-Ungarns, wo neben Drogerien auch Parfümerien für das Putzwasser und Benzolinar warben (Neues Wiener Journal 1897, Nr. 1425 v. 20. Oktober, 13). Bildwerbung wurde für das Flüssigputzmittel im Ausland jedoch nicht mehr geschaltet. Apotheken und Drogerien wurden über den Großhandel beliefert, die dann eigenverantwortlich warben (Nowa Reforma 1896, Nr. 27 v. 2. Februar, 6 [Krakau]; Glos Narodu 1896, Nr. 42 v. 20. Februar, 8 [Przemysl]).

Festzuhalten ist, dass die Chemische Fabrik Wilhelm Roloff eine mögliche Expansion zu einem Drogerieartikelanbieter ab 1894 zwar versuchte, sie Ende 1896 aber aufgab. Das mochte mit der aufstrebenden lokalen Konkurrenz durch Fritz Schulz zusammenhängen. Doch angesichts des beträchtlichen, teils Jahrzehnte andauernden Erfolges anderer Anbieter scheint dies zu kurz gegriffen. Starke Metallputzmittel wie Globus (Fritz Schulz, ab spätestens 1888), Amor (ab 1895 durch Lubszynski & Co., Berlin) und hier nicht näher zu charakterisierende reichsweit präsente Marken wie Geolin, Gentol, Blendol oder Sidol unterstreichen, dass eine konsequente Dachmarkenstrategie auch für Wilhelm Roloff Chancen hätte bieten können. Wir müssen drittens und abschließend daher nochmals auf den Eigner der Chemischen Fabrik zurückkommen, auf Johannes Meister.

Reinvestitionen: Ein Unternehmer in der ersten Reihe der Leipziger Gesellschaft

Für den jungen Chemiker und Unternehmer begann nach dem Tode seines Vaters und mehrerer Umzüge eine Zeit privater und finanzieller Etablierung (Leipziger Adreß-Buch 69, 1890, T. 1, 293; ebd. 72, 1893, T. 1, 453). 1893 verlobte er sich mit Melanie Zeyen, Tochter des Kommerzienrates Leopold Zeyen (1844-1918) und seiner Frau Louise, geb. Heerbrandt; 1894 heirateten sie (Kölnische Zeitung 1893, Nr. 796 v. 6. Oktober, 3; Saale-Zeitung 1894, Nr. 219 v. 12. Mai, 6). Sein Schwiegervater war Ingenieur und Eigentümer der in Raguhn gelegenen Papiermaschinenfabrik und Metallweberei Gottlieb Heerbrandt, die 1897 in die mit 1,5 Million Mark Aktienkapital ausgestatte Maschinenbau- und Metalltuchfabrik AG umgewandelt wurde. Meister wurde später in den Aufsichtsrat gewählt (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 211 v. 7. September, 7). Das Paar wohnte anfangs in repräsentativer Lage in der Pfaffendorfer Straße 13, ehe es 1899 kurzzeitig in das kurz zuvor gekaufte sog. Mückenschlösschen umzog (Leipziger Adreß-Buch 74, 1895, T. 1, 493; ebd. 80, 1901, T. 1, 657). Nach dem Neubau der lange noch in der Berliner Straße 86 gelegenen Firma residierte Familie Meister-Zeyen dann in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Unternehmen im Plösener Weg 22. Mindestens zwei Töchter, Alice und Ilse, sind nachweisbar (Leipziger Tagblatt und Handels-Zeitung 1916, Nr. 507 v. 5. Oktober, 5; Dresdner Nachrichten 1917, Nr. 358 v. 29. Dezember, 7).

Das Kerngeschäft der Firma Wilhelm Roloff wurde 1898 auf ein größeres Areal verlegt, die „Dachpappenfabrik, Asphaltkocherei und Theerdestillation“ gewann dadurch neue Expansionsmöglichkeiten (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1898, Nr. 230 v. 8. Mai, 3529). Wichtiger noch war die Kooperation mit dem Leipziger Unternehmer Emil Köllner, der Mitte der 1890er Jahre ein Alphaltvorkommen in den italienischen Abruzzen erworben hatte (Das tausendjährige Leipzig. Die Stadt der Mitte, hg. v. Walter Lange, Leipzig 1928/29, 284). Meister wurde 1899 Mitinhaber von Köllner, der seinerseits in die Firma Wilhelm Roloff eintrat (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1899, Nr. 116 v. 5. März, 1762). Nach außen blieben beide Firmen unabhängig, Wilhelm Roloff firmierte als Chemische Fabrik, Emil Köllner als Holzcement-, Dachpappen- und Asphaltfabrik (Leipziger Adreß-Buch 80, 1901, T. 1, 657). Köllner verlies die Firma 1909, Meister übernahm (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 35 v. 10. Februar, 25). 1913 fusionierte er beide Firmen schließlich in die Emil Köllner-Wilhelm Roloff-Werke mbH (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 254 v. 27. Oktober, 17). Das Stammkapital betrug 350.000 Mark, der neue Geschäftsführer Johannes Meister brachte davon 260.000 Mark ein, seine finanziell unabhängige Gattin Melanie Meister-Zeyen gewährte einen Kredit für die fehlenden 90.000 Mark. Ein Ehevertrag sicherte ihre Unabhängigkeit 1914 nochmals ab (Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung 1914, Nr. 349 v. 12. Juli, 14).

Innovationen im tradierten Kernsegment: Anmeldung von Pappinol 1900 (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 282 v. 27. November, 16)

Das gemeinsame Geschäft mit Emil Köllner schien Johannes Meister offenbar attraktiver als ein Ausbau der Drogerieartikelsparte in einem hochkompetitiven Umfeld. Die neuartige Holzzement-Klebedachpappe „Pappinol“ war jedenfalls ein Erfolgsprodukt (Das Pappinolpappdach, Architekten- und Baumeister-Zeitung 10, 1901, Ausg. v. 22. September, 8-9). Der selbst produzierte Teer tränkte nun Strohpappen, auf die anschließend eine Kiesschicht aufgepresst wurde. Weitere neue Markenprodukte folgten, das wasserlösliche Holzschutz- und Pflanzenschutzmittel „Marke Roloff“, der „Drei-Kronen“ Asphaltmastix, „Eka“-Falzbaupappen (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 86 v. 10. April, 14; ebd. 1910, Nr. 37 v. 12. Februar, s.p.; Süddeutsche Bauzeitung 24, 1914, Nr. 19, 46). Johannes Meister konnte weiterhin selbstbestimmt im Feld der Teerchemie arbeiten, mochte es sich auch um eher gewerbliche Anwendungen handeln.

Wichtiger noch dürfte der Eintritt in die erste Reihe der Leipziger Geschäftswelt gewesen sein. Meister begann jedenfalls Mitte der 1890er Jahre mit ersten Immobilieninvestitionen, darunter ein staatliches viergeschossiges Eck- und Mietshaus in der Sidonienstr. 1 (https://www.architektur-blicklicht.de/artikel/touren/paul-gruner-strasse-Leipzig-kohlenstrasse/).

Es folgten Investitionen in zwei führende Leipzig Unternehmen, deren Besitzer verkaufen wollten, teils verstorben waren. Anfang 1896 wurde Johannes Meister Teil der Gründergruppe der neuen Aktiengesellschaft von Grimme & Hempel, einer reichsweit für ihre Diaphanien und Kunstglaserei bekannten Kunstanstalt, die ein Aktienkapital von einer Million Mark aufwies (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 174 v. 23. Juli, 7; Dresdner Journal 1896, Nr. 172 v. 27. Juli, 1419). Meister war zuerst Aufsichtsrat, dann stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender (Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1896/97, 146; Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 138 v. 14. Juni, 7). 1898 wurde er zudem Mitgründer und Aufsichtsratsmitglied der Leipziger Schnellpressenfabrik AG, vorm. Schmiers, Werner & Stein, einem Unternehmen mit einem Aktienkapital von ebenfalls einer Million Mark (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 79 v. 1. April, 20; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1897, Nr. 551 v. 28. Oktober, 7922). 1900 folgte dann noch der Einstieg in die Leipziger Centraltheater AG, die ihr Aktienkapital von 1,3 Million Mark nutzte, um am Thomasring ein Areal zu erwerben und dort ein Theater „mit großen Sälen und Gesellschaftsräumen“ zu erbauen. Johannes Meister war und blieb langjähriges Mitglied des Aufsichtsrates, gehörte aber nicht zu den Gründern (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1900, Nr. 431 v. 25. August, 6719).

Fassen wir diese verschiedenen Facetten zusammen, so eröffneten sich dem Besitzer von Wilhelm Roloff Mitte der 1890er Jahre mehrere Chancen, die einem verstärkten Engagement in der Reinigungsmittelbranche vorzuziehen waren. Er baute das Kerngeschäft der 1886 erworbenen Firma gezielt aus, stärkte ihre Stellung als ein führendes sächsisches Baumaterialunternehmen. Zugleich etablierte er sich in der kleinen aber feinen Welt der Leipziger Wirtschaftselite, agierte auf Augenhöhe mit den wichtigsten Unternehmern der Stadt. Beides waren nachvollziehbare Gründe, sich nicht mehr länger mit Nebenprodukten wie Benzolinar und dem Leipziger Putzwasser zu beschäftigen, sein Engagement auslaufen zu lassen.

Johannes Meister starb am 12. Oktober 1916, die näheren Umstände sind unbekannt (Sächsische Staatszeitung 1916, Nr. 241 v. 16. Oktober, 4). Unklar sind auch die Hintergründe für mehrere Zwangsversteigerungen seiner außerhalb Leipzigs gelegenen Immobilien (Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung 1914, Nr. 593 v. 22. November, 8; ebd. 1915, Nr. 99 v. 24. Februar, 13; ebd., Nr. 591 v. 20. November, 5; Sächsische Staatszeitung 1919, Nr. 133 v. 16. Juni, 7; ebd. 1920, Nr. 38 v. 10. Februar, 7). Schon 1914 waren mehrere Patente der Emil Köllner-Wilhelm Roloff-Werke nicht auf seinen, sondern den Namen seiner Frau ausgestellt worden (Tonindustrie-Zeitung 38, 1914, 1773; Cement 5, 1916, 116). Sie führte das Unternehmen bis 1921 weiter (Leipziger Tageblatt und Handelszeitung 1916, Nr. 593 v. 21. November, 6; Sächsische Staatszeitung 1921, Nr. 297 v. 22. Dezember, 5). All dies berührt jedoch nicht die für uns relevante Entscheidung zum langsamen Ausstieg aus der Reinigungsmittelbranche seit Ende 1896. Die anfangs sicher nicht geringen Gewinne aus diesem Geschäft dürften sowohl für seine lokalen Investitionen als auch für die Erweiterung der eigenen Chemischen Fabrik wichtig gewesen sein. Ein neues Fleckenwasser, ein flüssiges Metallputzmittel, eine für ihre Zeit innovative Bildwerbung – sie alle dienten letztlich einer anerkannten sozialen Position in der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Uwe Spiekermann, 10. Mai 2025

Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda: Kohlenklau, Wasserplansche und Begleitkampagnen

Wie funktionierte NS-Propaganda? Die historische Forschung über diese für das Verstehen des Nationalsozialismus zentrale Frage ist nach wie vor dominiert von den großen politischen Inszenierungen, also der Selbstdarstellung des Regimes. Doch eine Propaganda des Nationalsozialismus gab es nicht, eben so wenig wie eine Verfolgung, eine Gewalt, eine Sprache, eine Kunst und eine Werbung. Der Nationalsozialismus war modern – und daher vielgestaltig. Dies war entscheidend für die mörderische Dynamik des Regimes, für seinen irritierenden Zusammenhalt bis zur totalen Niederlage. Die Vorstellung einer NS-Propaganda verdeckt daher mehr als sie enthüllt.

Das liegt auch daran, dass Propaganda eben nicht spezifisch nationalsozialistisch war und ist, sondern ein Grundelement moderner technischer Gesellschaften (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964 [französisches Original von 1954]; ders., Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [erstmals 1962]). Propaganda im engeren Sinne entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Propaganda war nicht vorrangig politisch, sondern Notwendigkeit einer effizienten arbeitsteiligen Gesellschaft, ermöglichte dem Einzelnen Orientierung, koordinierte Individuen und Gruppen, verringerte die Kosten des verzahnten Miteinanders unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Praktiken. Ein beträchtlicher Teil der nationalsozialistischen Propaganda findet sich – wenngleich in modifizierter Form – auch in anderen Staaten wieder. Denken Sie an Verkehrserziehung, Brandschutz, Zivilverteidigung, Hygiene, Gesundheitsfürsorge, Sparsamkeitsappelle und vieles andere mehr. Dies macht die Frage nach dem Besonderen, gar dem Spezifischen der NS-Propaganda nochmals schwieriger (Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 527-559; Stefan Scholl, Für eine Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Nationalsozialismus. Ein programmatischen Forschungsüberblick, Archiv für Sozialgeschichte 59, 2019, 409-444).

Will man genauer hinschauen, will man die Bindekraft des Nationalsozialismus präziser verstehen, so ist daher zudem eine detaillierte Analyse einzelner Kampagnen des Staates, der NSDAP und der nationalsozialistischen Zivilgesellschaft erforderlich. Wie funktionierte die Winterhilfe der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt? In welchem Kontext standen Verbrauchslenkung und Kampf dem Verderb? Welche Bedeutung besaßen die inner- und außerbetrieblichen Kampagnen der Deutschen Arbeitsfront? Wie wurde deutsche Kultur  definiert, präsentiert und genutzt? Wie änderte sich die Propaganda während des bewusst herbeigeführten Krieges? Solche genaueren Blicke sind erforderlich, um Verbindungen zu knüpfen zwischen Alltagsproblemen und ihrer propagandistischen Einfärbung. Sie sind aber auch erforderlich, weil sich die stets eingeforderte nationalsozialistische Moral hierin stärker spiegelte als in den Marschkolonnen auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände oder den Redeinszenierungen im Reichstag. Dabei stellt sich die Frage, wie man mit gebotener analytischer Distanz aus den ja bewusst öffentlichen Quellen schöpfen kann. Die nationalsozialistische Propaganda war eben nicht geheim, Führer suchten Volk, offerierten Orientierung, zielten auf ein effizienteres Handeln im Sinne des Regimes.

Doch auch dann gilt es weiter zu fragen, genauer zu analysieren. Die in der damaligen publizistischen Wirkungsforschung noch prägende Vorstellung von eindeutigen Sendern und eindeutigen Empfängern, von klar abgrenzbaren, gleichsam für sich stehenden und zu analysierenden Kampagnen ist hochgradig fraglich. Nicht nur, dass sie aufeinander aufbauten, das immer Gleiche in immer neuer, immer wieder variierter Form präsentierten. Die Kampagnen selbst standen nicht für sich, sondern wurden aufgegriffen, fortgeführt, dadurch genutzt und popularisiert. Just innerhalb der offiziellen Propaganda gab es bewusst eröffnete Freiräume, die dann regimenah, regimedienend genutzt wurden. Wer bei Kampagnen wie Groschengrab (1938/39) oder Roderich das Leckermaul (1939) allein auf die überschaubare Zahl der offiziellen Zeichnungen und Comicstreifen blickt, verkennt Breite und Bedeutung dieser propagandistischen Anstrengungen. Sie erschließen sich erst, wenn auch die umkränzenden Artikel und Rezepte, Bildgeschichten und Gedichte in die Analyse mit einbezogen werden. Dies aber fehlt in der historischen Forschung, entsprechend eng ist und bleibt die Analyse der NS-Propaganda.

Der vorliegende Beitrag wird an einem an sich wenig bedeutsamen regionalen Beispiel untersuchen, wie innerhalb einer NS-Propagandakampagne solche Weitungen und Häutungen erfolgten. Als Bezugsrahmen dient die wichtigste, kostenträchtigste und wahrscheinlich besterinnerte Kampagne während des Zweiten Weltkrieges. Kohlenklau war seit Ende 1942 allgegenwärtig. Eine bedrohlich-groteske Figur wurde genutzt, um in steter Abfolge und mit immer wieder anderen Akzenten zentrale Probleme der Kriegswirtschaft zu adressieren, um zugleich aber auch zu unterhalten, dem Ernst Humor unterzumengen. Doch dabei blieb es nicht, denn es entstanden dezentral zahlreiche weitere Unterkampagnen, von denen hier die der Wasserplansche, der imaginierten Frau des Kohlenklaus, beispielhaft hervorgehoben werden wird.

Kohlenklau – Konturen einer unterschätzten Kampagne

Die Kohlenklau-Kampagne wird in der historischen Forschung immer mal wieder erwähnt, doch sie dient in den Darstellungen der Kriegsgeschichte vornehmlich als kolorierendes Beiwerk, wird kaum gesondert untersucht. Auch genauere Untersuchungen schielen, denn sie verfolgen andere, ihrerseits durchaus wichtige und spannende Fragestellungen. Der Regisseur und Comicverleger Ralf Palandt stellte Kohlenklau unlängst in den Kontext zahlreicher Energiesparmaßnahmen der Nachkriegszeit (Ralf Palandt, Propaganda-Figuren: vom Kohlenklau zum Wattfraß, in: Eckart Sackmann (Hg.), Deutsche Comicforschung. Register der Bände 2005-2024, Leipzig 2023, 6-18). Fachwissenschaftlich näher sind die Arbeiten des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Reinhold Reith (Reinhold Reith, Kohle, Strom und Propaganda im Nationalsozialismus: Die Aktion „Kohlenklau“, in: Theo Horstmann und Regina Weber (Hg.), „Hier wirkt Elektrizität“. Werbung für Strom 1890-2010, Essen 2010, 142-157). Erst 2023 ergänzt und erweitert, geht es in seinen Beiträgen jedoch nicht vorrangig um Propaganda, sondern um die breiter gefasste Ressourcenpolitik des NS-Regimes (Reinhold Reith, Die »Kohlenkalamität« und der »Kohlenklau«. Kohle in der Ressourcenpolitik des »Dritten Reiches«, in: Lutz Budraß, Torsten Meyer und Simon Große-Wilde (Hg.), Historische Produktionslogiken technischen Wissens, Münster und New York 2023, 107-137; ders., Stromsparen/Kohlenklau (1943). Propaganda in der Kriegswochenschau, in: Nicolai Hannig, Annette Schlimm und Kim Wünschmann (Hg.), Deutsche Filmgeschichten, Göttingen 2023, 69-75). Reith liefert wichtige Informationen zum Kriegsalltag, zur Kohlenknappheit im eiskalten Winter 1939/40, der Kürzung der ohnehin engen Hausbrandversorgung um 10 Prozent erst 1942 und dann nochmals 1943, zur dann folgenden Kohlennot 1944/1945 – und analysiert all dies als Teil der Konsumgeschichte des Weltkrieges. Die Darstellung der Kampagne selbst ist allerdings lücken-, teils fehlerhaft; wohl auch, weil die herangezogenen Quellen lückenhaft sind. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist eben keineswegs „ausgeforscht“. Insbesondere die zunehmend digitalisierten Tageszeitungen erlauben vielfältige tiefere Einblicke nicht nur in das lokale Geschehen. Sie bilden eine wichtige Erweiterung zu den – im Bereich des Reichsministeriums für Propaganda und Volksaufklärung – großenteils vernichteten Archivalien.

Stete öffentliche Präsenz: Litfaßsäule in Münster und Kohlenklau-Plakat (Westfälische Tageszeitung 1943, Nr. 23 v. 24. Januar, 5 (l.); Tagebuch einer Straße. Geschichte in Plakaten, hg. v. d. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1981, 251)

Blicken wir nun genauer auf die Kohlenklau-Kampagne, die nach Aussage des Journalisten und Sprachstilisten Wolf Schneider (1925-2022) „ein öffentliches Anliegen geschickt“ personifizierte, „in der zutreffenden Annahme, daß dies mehr Sparsamkeit bewirken würde, als abstrakt vor ‚Verschwendung‘ zu warnen“ (Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, München und Zürich 1976, 162). Die Figur war markant, etwas Neues: „Das rechte Auge geschlitzt wie eine Katze, die mausend und miauzend durchs Dunkel streift, das linke aufgeblendet wie den Kegel einer diebisch zuckenden Taschenlampe ins finster Schleichende haltend, – ha, so duckt er sich dahin, der Millionendieb. Seine Faust ist schwarz, seine Kappe sitzt bedrohlich, sein Schnurrbart sträubt sich gefährlich. Man möchte ihm nicht im Dunkel begegnen, diesem Burschen“ (Der Millionendieb, Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 353 v. 22. Dezember, 3). Ihn einzuladen, in die Wohnung zu lassen, schien gefährlich, denn in seinem Sack verschwanden die Erträge völkischer Arbeit, Heizkraft, Dampfkraft, Gaskraft, Stromkraft.

Die Figur blieb in der Erinnerung haften, machte Karriere sowohl in der Nachkriegsliteratur (Günter Grass, Die Blechtrommel, 20. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1983, 301ff.), als auch in Dutzenden Erinnerungen an die kriegsgebrochene Kindheit: „Der Kohlenklau war faszinierend, ängstigend und universal wie der schwarze Mann, mit dem man im Kleinbürgertum den Kindern Angst machte. Im kindlichen Bewußtsein muß er auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wassermann besessen haben, der ja von den Grimms her bekannt war und sich beim Ablaufen des Badewassers grunzend bemerkbar machte. […] Aber Kohlenklau war jemand; ein Bild des Volksschädlings, der dem eigenen Volk in einer Zeit, wo jedes Brikett gebraucht wurde, in den Rücken fiel“ (Dieter Hoffmann-Axthelm, Das Kind und der Kohlenklau. Erinnerungsfunde 1943-1945, in: Johannes Beck et al. (Hg.), Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus, Reinbek b. Hamburg 1980, 315-321, hier 320). Solche Veröffentlichungen waren bereits reflektiert, spiegelten auch daher nur unzureichend die Faszination des Ungeheuers: „Da ist er wieder! / Sein Magen knurrt, sein Sack ist leer, / und gierig schnüffelt er umher. / An Ofen, Herd, an Hahn und Topf, / an Fenster, Tür und Schalterknopf / holt er mit List, was Ihr versaut. / Die Rüstung ist damit beklaut, / die auch Dein bißchen nötig hat, / das er jetzt sucht in Stadt und Land. / Fasst ihn!“ (Horst Bosetzky, Brennholz für Kartoffelschalen. Roman eines Schlüsselkindes, München 1997, 12) Ja, man sollte ihn fassen, sein Handeln an die Imperative des schon lange vor Stalingrad ausgerufenen totalen Krieges sparend anpassen. So wie 1938/39 bei Groschengrab. Doch fern der reflektierten Erinnerung blieb da eine Faszination am Abweichler, an einer Figur, die all das tun durfte, was in der Drangsal des Krieges nicht geboten schien. Das vom humoristischen NS-Zeichner und späterem Tagesspiegel-Karikaturisten Hans Kossatz (1901-1985) gezeichnete Groschengrab wurde aus diesem Grunde populär. Das galt auch für Kohlenklau, dessen Abenteuer (wenngleich ohne Quellenhinweise) heute noch (wenngleich nur zum Teil) einfach greifbar sind (energieverbraucher.de | Im Energiesparmuseum: Der Kohlenklau: Energiespar-Propaganda im Zweiten Weltkrieg).

Kohlenklau hatte viele virtuelle Vorläufer in den zahllosen, seit dem Vierjahresplan 1936 verstärkt einsetzenden Appellen an Sparsamkeit und Ressourcensensibilität in der nationalsozialistischen Mangelökonomie. Ende 1940 bündelten der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, der Reichskohlekommissar, die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz und die Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung diese zu einer ersten reichsweiten Kampagne für sparsames Heizen, visualisiert durch den freundlichen Kobold „Flämmchen“. Bis Ende 1942 wurden von der Deutschen Arbeitsfront offiziell 150.000 Männern in den „Schulgemeinschaften“ der „Heize Richtig“-Kampagne angelernt, die häuslichen Brandstätten möglichst energiearm laufen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Vorbereitungen für eine neue, dieses Mal jedoch weit umfassendere Kampagne zum Energiesparen, längst begonnen.

Vertreter der „Kohlen-, Energie- und Gaswirtschaft“ hatten Anfang Mai 1942 eine Energiesparpropaganda für mindestens zwei Millionen Reichsmark angeregt, die ab dem 15. Juli 1942 in drei gesonderten Wellen die „Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit der Bevölkerung beim Kohle-, Gas- und Energieverbrauch“ beheben sollte (Propagandavorschlag für eine Sparaktion bei Kohle, Energie und Gas v. 6. Mai 1942, Bundesarchiv Lichterfelde, NS 18/138, Bl. 23-33, hier 32). Das war aufgrund der Kriegslage, der angespannten Personal- und Materialsituation der deutschen Energiewirtschaft und auch der Lieferverpflichtungen gegenüber Verbündeten durchaus geboten, doch angesichts der bereits strikten Hausbrandrationierung schien der NSDAP-Reichsleitung folgenloses Mahnen eher problematisch. NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann (1900-1945) monierte am 20. Juli: „Dergleichen könnte leicht wie Hohn wirken! Die Bevölkerung hat ja nur ungenügend Kohle, kann also alles anders als verschwenden. […] An dieser Propaganda-Aktion werden wir uns aus genanntem Grund nicht beteiligen! Wir wollen uns nicht lächerlich machen“ (Vorlage. Betrifft: Kohlenwirtschaft; Versorgungslage v. 15. Juli 1942, ebd., 15-17, hier 17). Die Reichsministerien rangen in der Folge weiter darum, die vom Reichsrüstungsminister Albert Speer (1905-1981) geforderten Einsparungen sicherzustellen: Aktivierung der Hausfrauen zum Gas- und Elektrizitätssparen, verstärkter Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen mit auskömmlichen Rationen oder größere Transportkapazitäten – die Lösung des Ressourcenmangels glich der Quadratur des Kreises (vgl. insb. Ministervorlage von Tieseler v. 31. Juli 1942, ebd., Bl. 9-10).

Die Kohlenklau-Kampagne wurde schließlich vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in enger Kooperation mit den Reichspropaganda- und Reichsrüstungsministerien durchgeführt, durch die Interessenvertretungen der Energiewirtschaft vielfach gefördert (Heinrich Lepthien, Kohlenklau und seine ersten Lebenstage, Die Deutsche Werbung 36, 1943, 75-79). Sie war reichsweit getaktet, die Presseanweisungen diktierten regelmäßige und – fast bis zum Schluss – vollständige Anzeigenserien.

Deutsche Mahnsprüche – Begleitreime der frühen Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1942, Nr. 297 v. 18. Dezember, 3 (l. o.); Nr. 302 v. 24. Dezember, 4; 1943, Nr. 4 v. 6. Januar, 3 (l. u.); Nr. 5 v. 7. Januar, 3 (r. o.); Nr. 9 v. 12. Januar, 3 (r. M.); Nr. 15 v. 19. Januar, 3 (r. u.))

Ab dem 7. Dezember 1942 erklangen im Rundfunk einschlägige Durchsprüche, also kleine, nicht allzu billige Werbejingels, in denen freundlich mahnend Ratschläge für die kleinen Verbesserungsmöglichkeiten im Alltag gegeben wurden. Nachhaltiger waren gewiss die ab dem 10. Dezember 1942 in der Tagespresse geschalteten Mahnsprüche. Bis Ende Januar finden sich mindestens zwanzig einheitlich umsäumte Reime: „Der spart an Gas, der sehr geschickt / zwei Töpfe aufeinanderrückt!“ (Straßburger Neueste Nachrichten 1942, Nr. 346 v. 15. Dezember, 5) Die eigentliche Kampagne begann mit dem Auftritt des zuvor nicht benannten Protagonisten in der seit dem 19. Dezember 1942 abgedruckten Einführungsanzeige „Wer ist Kohlenklau?“

„Die Jagd auf Kohlenklau geht los!“: Einstiegsanzeige und erstes Motiv der Serie „Kohlenklau’s schmähliche Niederlage“ (Stuttgarter NS-Kurier 1942, Nr. 348 v. 19. Dezember, 6 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 355 v. 24. Dezember, 5)

Theorie und Praxis waren fast deckungsgleich, innerhalb von vier Tagen war Kohlenklau Deutschlands Zeitungslesern bekannt (auch Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1942, Nr. 350 v. 20. Dezember, 3; Mittagsblatt 1942, Nr. 299 v. 21. Dezember, 7; Bochumer Anzeiger 1942, Nr. 300 v. 22. Dezember, 3, Hamburger Tageblatt 1942, Nr. 353 v. 23. Dezember, 3). Dazu diente aber auch der massive Flankenschutz durch bis zu 120.000 Plakate und eine gezielte Kinowerbung. Die imaginierte Hassfigur wurde durch das Würfel- und Brettspiel „Jagd auf Kohlenklau“ (Würfel- und Brettspiel), das Quartett „Sei schlau, sonst wirst du Kohlenklau“, durch Postkarten, Streichholzschachteln, Sammelmarken, Ankleber, Diapositive und vieles andere mehr verbreitet. Die Kosten hierfür stellten alle früheren Kampagnen weit in den Schatten, angesetzt waren im Winter 1942/43 5,4 Mio., im Sommer 1943 2,45 Mio. und im Winter 1943/44 5 Mio. Reichsmark (Reif, 2010, 149). Kohlenklau war eine multimediale Kampagne, bis 1944 wurden einschlägige Werbefilme produziert, waren Teil des gerade im Kriege üblichen Kinogangs (Kohlenklau – Animation 1944 (Will Dohm) – YouTube; Zugluft 1944 (Will Dohm) – YouTube). Den Kern aber bildeten, nicht zuletzt finanziell, die Anzeigenserien in Zeitungen und Zeitschriften.

Kampf gegen Kohlenklau: Beispiele aus der ersten und letzten Anzeigenserie (Badische Presse 1943, Nr. 16 v. 20. Januar, 4 (l.); Lippische Staatszeitung 1945, Nr. 72 v. 31. März, 3)

Die Kohlenklau-Kampagne wurde zu einem der seltenen Dauerläufer der NS-Propaganda, der ersten Serie folgten immer wieder neue. Das hatte mit der immer schwierigeren Ressourcenlage des NS-Regimes zu tun, aber auch mit der Attraktivität der an sich bedrohlichen Figur des Dauerdiebes. In den spätestens nach der Niederlage in Stalingrad immer dünneren, vor allem aber zunehmend bildarmen Zeitungen und Zeitschriften war Kohlenklau ein durchaus willkommener, das Einerlei durchbrechender Gast, mochte er auch an staatspolitisch zentrale Pflichten erinnern.

Die erste Serie „Kohlenklau‘s schmähliche Niederlage“ erschien vom Dezember 1942 bis zum April 1943 und umfasste zwanzig Einzelmotive, meist im wöchentlichen Abstand gedruckt. Die Nachfolgekampagne „Denk jetzt im Sommer schon an den Winter“ verzichtete auf den Kohlenklau, präsentierte die Alltagprobleme beim Energiesparen, vor allem aber bei der Pflege und Vorbereitung der Herde und Heizungen für die Winterzeit. Sie stand noch stark in der Tradition der Flämmchen- und der Heize Richtig-Kampagnen, erneuerte vielfach Ratschläge aus der vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in Millionenauflage verteilten 16-seitigen Broschüre „‚Flämmchen‘ antwortet auf die Frage: Wie heize ich richtig?“. Technische Zeichnungen dominierten die von Mai bis August 1943 laufende Kampagne, doch in den fünfzehn Anzeigen fanden sich lediglich zwei Männer, sieben Mal jedoch aktive Hausfrauen. Mindestens fünf gereimte Mahnsprüche flankierten die vorrangig auf den Kohleverbrauch zielende Serie.

Meisterdetektiv Styx auf Kohlenklaus Fährte (Die Bewegung 11, 1943, 62)

Kohlenklau trieb derweil weiter andernorts sein Werbewesen: Im Frühjahr 1943, genauer im März, setzte sich der Meisterdetektiv Styx viermal auf seine Fährte. Das dürfte auch eine Referenz an den im Jahr zuvor aktiven Detektiv Pelle gewesen sein, der gegen Schleichhandel und Wucher ermittelte, auch im Kleingarten und Kartoffelkeller nach dem Rechten sah. Gezeichnet vom NS-Karikaturisten Manfred Schmidt (1913-1999), war er eines der Vorbilder für seinen Meisterdetektiv Nick Knatterton, der ab 1950 ein kommerzieller, auch später mehrfach revitalisierter Erfolg werden sollte. Kohlenklau wurde durch solche Serien zunehmend populär, verlor seinen bedrohlichen Kern, wurde mahnender Alltagsbegleiter. Das unterstrich auch die zehnteilige Kampagne „Steckbrief Kohlenklau“, die Mitte 1943 ebenfalls in Zeitschriften erschien. Sie war aufwendig gestaltet, zielte auf ein sparsames Haushaltshandeln, rechnete dieses unmittelbar in Waffen um, die durch die nötige Achtsamkeit produziert werden konnten. Nun wurden auch verstärkt Pimpfe und Jungmädel auf das „Gespenst“ angesetzt, Beginn einer verstärkten Mobilisierung der Jugend für die energie- und kriegspolitischen Ziele des NS-Regimes (Müglitztal- und Geising-Bote 1943, Nr. 42 v. 8. April, 3).

Die Volksgemeinschaft als Karikatur: Fräulein Etepetete und Bruder Leichtfuß als Beispiele einer unernsten, doch bekehrungswilligen Bevölkerung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 260 v. 6. November, 4 (l.); Schwarzwald-Wacht 1944, Nr. 42 v. 19. Februar, 4)

Derweil wurde Kohlenklau immer mehr zum Klamauk, zu einem kleinen Lacher mit ernstem Hintersinn. Die in den Tageszeitungen abgedruckte Serie „Kohlenklau‘s Helfershelfer“ setzte im Oktober 1943 ein, die zwanzig Motive erschienen bis März 1944. Altbesetzung Kohlenklau trumpfte in seiner bewährten Rolle als gieriger Energiedieb auf, doch interessanter waren die neuen Charaktere. Die Volksgemeinschaft erschien nicht mehr stählern, sondern voller unernster, selbstbezüglicher Typen, die Kohlenklaus Raubzug immer neue Chancen eröffneten. So sehr die Texte das Hauptthema der Energieverschwendung in immer neuen, doch altbekannten Weisen präsentierten, dürfte das Interesse vieler eher der nächsten ironisch gezeichneten Knallcharge gegolten haben: Direktor Hochglanz oder Frau Erstkommich, Ella Fassade oder Lilo Hastig erinnerten allgesamt an Bekannte und Freunde, ein wenig auch an einen selbst. Gemäß dem Ideal nationalsozialistischer Moral führte das zu einer Gesellschaft rücksichtsvoller, doch erforderlicher Korrekturanstrengungen – im Alltag aber etablierte sich eher eine Kultur des Neids und der Denunziation. Kohleklau war etablierter Propagandaakteur, er verlor jedoch seine Härte und sein anfangs intendiertes Grauen.

Vollbad als Fehlverhalten: Kohlenklaus Rechenbuch Nummer 9 (Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 12, 9)

Zwei weitere Einzelkampagnen schlossen sich an: Im Frühjahr 1944 knüpfte „Kohlenklau‘s Rechenbuch“ an die Steckbrief-Serie an. In den nicht mehr allzu vielen Zeitschriften wurde ressourcenintensives Fehlverhalten wieder in Rüstungsgüter umgerechnet – während parallel die Kriegswirtschaft in diesem Jahr in der Tat ihren höchsten Ausstoß erreichen sollte. Ab November 1944 folgte die abermals zwanzigteilige Zeitungskampagne „Waffen gegen Kohlenklau“. Der gierige Held erschien nun im Umfeld der Alltagsdinge; und Handfeger und Sodawasser, Hilfsbrikett und Kellerschlüssel halfen den Deutschen, den Energieverbrauch verlässlich zu begrenzen. Kohlenklau erschien als Getriebener, als stetig Fehlender, als ein Mime ohne Fortune. Nicht alle Motive kamen noch zum Abdruck, angesichts des nahenden Endsieges wurde die anfangs getreulich begonnene Einzelzählung nach kurzer Zeit aufgegeben. Doch die meisten verbliebenen Zeitungen druckten und druckten – wie parallel im Februar/März eine Reichsbahn-Kampagne über angemessenes Verhalten bei Fliegergefahr. Der NS-Staat sorgte, warnte und lenkte bis zum Ende des Schlachtens.

Künstler für das NS-Regime: Hans Landwehrmann

Soweit die immer wieder veränderte NS-Propaganda-Kampagne, die aber nur den kleineren Teil der Auftritte Kohlenklaus in Zeitungen und Zeitschriften umgriff. Bevor wir darauf eingehen, gilt es sich aber noch mit dem Zeichner der Kernkampagnen zu beschäftigen; auch wenn es auf den Druckwerken keine einheitliche Signatur gab. Hans Landwehrmann (1895-1976) bricht nämlich mit den so bequemen und zugleich so fraglichen Vorstellungen einer klar voneinander zu scheidenden Kultur der demokratischen Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes. Von den so gern als Vorläufer der demokratischen Bundesrepublik Deutschland präsentierten mehr als 1.250 Bauhausstudierenden blieben beispielsweise ca. 900 im Deutschen Reich. Von diesen engagierten sich nicht weniger als 188 in der NSDAP (Anke Blümm und Patrick Rössler, Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine statistische Annäherung, in: dies. u. Elizabeth Otto (Hg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, 2. Aufl., Weimar und München 2024, 72-77, insb. 75, 77).

Hans Landwehrmann zeichnet den Kohlenklau (Westfälische Zeitung 1943, Nr. 271 v. 18. November, 3)

Hans Landwehrmann wurde am 13. Oktober 1895 als Sohn des Küsters und Rendanten der Neustädter Marienkirche Hermann Heinrich Paul Landwehrmann (1857-1931) und seiner Gattin Johanne Wilhelmine Friederike, geb. Horstmann (1868-1941) in Bielefeld geboren (Ancestry Person; Adreß-Buch von Bielefeld 1894/95, 100; ebd. 1896, 111). Hans, geboren als Johannes Theodor Walter, war das dritte von vier Kindern, dem schon 1911 verstorbenen Hermann (*1889), Elisabeth (*1892) und Marianne (*1902) (Ancestry Person). Hans war schon früh zeichnerisch aktiv, Arbeiten des Fünfzehnjährigen wurden bereits gedruckt (Illustrationen zu Walter Schulte von Bruhl, Vom westfälischen Dorfe, Die Gartenlaube 58, 1910, 1083-1087). Er besuchte von 1912 bis 1914 die 1907 gegründete Staatlich-Städtische Handwerkerschule mit kunstgewerblichen Tagesklassen in Bielefeld, die anfangs vom Architekten und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Wilhelm Thiele (1873-[? 1945]) geleitet wurde. 1914 wechselte Landwehrmann an die Königliche Kunstakademie in Düsseldorf, wurde 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, war bis Kriegsende Soldat. In Bielefeld wurde er dann Mitglied der Künstlergruppe „Rote Erde“, trat bei Ausstellungen als Landschaftsmaler hervor (Westfälische Zeitung 1920, Nr. 234 v. 11. Oktober, 5: Westfälische Neueste Nachrichten 1920, Nr. 152 v. 6. Juli, 2). Vor der Inflation war er in Dortmund tätig (s. unten), lebte dann zumindest kurzzeitig in Bremen (und bedingt Worpswede) (Handbuch des Kunstmarktes, Berlin 1926, 156), zeichnete ab Ende 1925 unter anderem für die sozialdemokratische Karikaturzeitschrift „Lachen Links“ (Volkswille 1925, Nr. 276 v. 25. November, 5: Lachen Links 3, 1926, 290, 366). Er siedelte nach Berlin über, wo er allerdings erst seit 1929 sicher nachweisbar ist (Amtliches Fernsprechbuch für Berlin und Umgegend 1929, 665). Auch dort pflegte er weiterhin kritische Kunst im Umfeld der Sozialdemokratie (Lübecker Volksbote 1931, Nr. 162 v. 15. Juli, Der Spatz, Nr. 29, 2). Landwehrmann gilt auch in der einschlägigen publizistischen Forschung als ein republikanischer Künstler (Frank Zeiler, Verfassungsbildsatiren zwischen Republikfeindschaft, Vernunftrepublikanismus und Republiktreue, Jahrbuch der Juristischen Zeitschrift 17, 2016, 395-435, hier 421, FN 104; Winfried Nerdinger und Ute Brüning, Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus, 1993, 46; Klaus Haese und Wolfgang U. Schütte, Frau Republik geht pleite. Deutsche Karikaturen der zwanziger Jahre, Leipzig 1989, 125, 127). Auch als Kunstmaler war er weiter aktiv, erreichte über die Illustrirte Zeitung ein gehobenes Massenpublikum (Tages-Post 1931, Nr. 295 v. 23. Dezember, 9).

Eigenwerbung des Graphikers Hans Landwehrmann 1932 und 1936 (Seidels Reklame 16, 1932, H. 1, XI; Gebrauchsgraphik 13, 1936, Nr. 11, 11)

Das Hauptgeschäft aber verlagerte sich auf die Werbung, wobei Landwehrmann nicht nur Markenartikelwerbung etwa für Blauring-Pfeifentabak, sondern auch Gemeinschaftswerbung für Bohnenkaffee oder aber Agrarwerbung für deutsches Obst und Gemüse gestaltete (Seidels Reklame 16, 1932, 109, 111, 113; Dokumente deutscher Werbearbeit: Der Gebrauchsgrafiker Hans Landwehrmann, Berlin, ebd. 195-197). Ob die Machtzulassung der NSDAP und ihrer nationalistischen Koalitionspartner für Landwehrmann einen tieferen Einschnitt bedeutete, ist unklar. Er arbeitete jedenfalls weiter als Werbegraphiker, zeichnete dabei auch weiterhin modern, wie etwa die Fotos und Zeichenfiguren verbindende Werbung für den Adressograph der kurz zuvor arisierten Adrema unterstrichen (Werben und Verkaufen 20, 1936, 290).

1942 beteiligte sich Hans Landwehrmann schließlich an der Ausschreibung für die Energiesparkampagne und gewann den ersten Preis. Dies gab relative Sicherheit, recht hohe Honorare, zudem öffentliches Renommee, wusste doch jeder: „Kohlenklau ist wohl im Augenblick die populärste Figur der deutschen Werbung“ (Ein Westfale schuf den ‚Kohlenklau‘, Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4). Ende 1943, Anfang 1944 präsentierten zahlreiche Artikel den „Vater“ Kohlenklaus. Seine Biographie wurde umgeschrieben, die Aufstiegsgeschichte eines Frontsoldaten präsentiert, der sich in Berlin als „Pressezeichner, Industriegraphiker, Buchillustrator“ durchgesetzt hatte (Hans Niemeier, Der Zeichner „Kohlenklaus“ Westfale, Bochumer Anzeiger 1943, Nr. 304 v. 28. Dezember, 3), der zugleich aber als Modell eines deutschen, eines kernig westfälischen Künstler diente: „Ein buntes, unruhiges Leben. Erfüllt von Arbeit und der Liebe zu allem Schönen, zur Musik, zur Literatur. Ein guter Goethe-Kenner, ein stiller Lyriker, Aphorismenschreiber – vor allem ein Mann voll warmer Menschlichkeit, ein alle Situationen meisternder Humor“ (Ders., Kohlenklaus Schöpfer, DGA. Generalanzeiger 1943, Nr. 350 v. 19. Dezember, 8; ähnlich ders., Der Zeichner „Kohlenklaus“. Hans Landwehrmann: Ein westfälischer Künstler, Westfälische Tageszeitung 1944, Nr. 5 v. 7. Januar, 3; gekürzt auch in Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Tremonia, Ausg. E, 1944, Nr. 6 v. 8. Januar, 3).

Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Spitzen der NS-Propaganda öffnete Landwehrmann zudem Türen zu weiteren Aufträgen. So entwickelte er eine positive Gegenfigur zum Energiedieb Kohlenklau. Der Knobelmann war „der als Vorbild herausgestellte Gefolgsmann, der nach der gewissenhaften Erledigung seines Tagespensums sich mit Verbesserungsvorschlägen befaßt, die die Arbeitskameraden anspornen wollen und neue technische Höchstleistungen anstreben. Auf dieser Linie liegt überhaupt die Arbeit Landwehrmanns, der sein künstlerisches Schaffen vorbehaltlos kriegswichtigen Dingen zugewendet hat. Er zeichnet Figuren, die den Gedanken propagieren, alles zu tun und nichts zu unterlassen, um den Sieg zu erreichen“ (Kohlenklau sieht in den Spiegel, Die Glocke, Ausg. D, 1944, Nr. 316 v. 30. November, 4). Knobelmann erlangte während der NS-Zeit keine größere Bedeutung, doch in der DDR wurde Oskar Knobelmann Vorreiter einer Knobelmann-Bewegung für Verbesserungsvorschläge (Sozialistische Finanzwirtschaft 15, 1961, 219): „Sei ein Knobelmann, / streng Dein Köppchen an, / hilf, / wo man helfen kann“ (Elise Riesel, Lexikalische Auflockerung als Stilmittel und als sprachliche Umnormung, in: Probleme der Sprachwissenschaft. Beiträge zur Linguistik, The Hague und Paris 1971, 477-485, hier 482). Die Figur war Teil einer regimeübergreifenden Brigade der Verbesserer, stand Seit an Seit mit Bastelfritz, Kollege Denkmit, Peter Grips, Kollege Tüftel, Frieda Findig oder auch der Brigade Zack.

Nach 1945 knüpfte Landwehrmann ohne größere Brüche an seine Arbeit als Gebrauchsgraphiker in den 1930er Jahren an, zuerst in Essen (Adreßbuch Essen-Mülheim 1953, 428; Charlotte Fergg-Frowein, Kuerschners Graphiker-Handbuch. Deutschland, Österreich, Schweiz, Berlin/W. 1959, 101), ab 1957 dann in Frankfurt/M. (Dies., Dass., 2. erw. Aufl., Berlin/W. 1967, 169; Amtliches Fernsprechbuch […] Frankfurt am Main 1957, 176). Hans Landwehrmann, der nach 1945 unter dem Namen Johannes Landwehrmann arbeitete, illustrierte anfangs auch Jugendbücher (Die Raabe-Post, Berlin 1950). Er starb am 9. November 1976. Zu Kohlenklau und seiner Rolle als Zeichner der wichtigsten NS-Propagandakampagne der Kriegszeit hat er sich nicht näher geäußert. Dabei lautete doch ein Kohlenklau-Werbeslogan: „Halt dir den Spiegel vor’s Gesicht…“.

Alliierte Pendants: Sparsamkeit als Teil jeder Kriegsanstrengung

An diesem Punkt enden die üblichen Darstellungen von NS-Propagandakampagnen, denn deren Konturen, deren zeithistorischer Kontext, deren Macher wurden benannt. Drei Aspekte sind jedoch zwingend zu ergänzen, um einer solchen propagandistischen Anstrengung gerecht zu werden. Erstens fehlt eine vergleichende Perspektive, die über die Grenzen des Deutschen, des Großdeutschen Reiches hinausweist. Mitte 1943 wurde in Großbritannien „Squander Bug“ von der Kette gelassen, eine kleine, mit Hakenkreuzen übersäte Wanze, die vor überbordender Verschwendung warnte und britische Konsumenten dazu bringen sollte, stattdessen britische Kriegsanleihen zu kaufen (Paradox of the Squander Bug, Britain 3, 1943, 20-22). Entwickelt vom Graphiker Phillip Boydell (1896-1984) und lanciert von der bereits während des Ersten Weltkriegs aktiven National Savings Movement, wurde das tuschelnde Ungeheuer im Deutschen Reich als „eine kleine Anleihe bei der so erfolgreichen deutschen Kohlenklaufigur“ präsentiert und als Methode „der geschäftlichen Reklame“ denunziert (Grosse Reklame zur Deckung der Kriegskosten, Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 23 v. 8. Juni, 3).

Alliierte Kohlenklau-Pendants: Squander Bug in den USA (l.) und Großbritannien (Gwiadzda Zachodu 1944, Nr. 10 v. 3. März, 4 (l.); Evening Star 1943, Nr. 3671 v. 30. November, A-03)

Squander Bug wurde in Australien, vor allem aber in den USA aufgegriffen und als Propagandafigur neu gestaltet (Diana Noyce, The Squander Bug: Propaganda and its Influence on Food Consumption in Wartime Australia, in: Mark McWilliams (Hg.), Food & Communication, London 2016, 305-318). In den Vereinigten Staaten beauftragte die War Finance Division des Finanzministeriums keinen geringeren als den Karikaturisten und Kinderbuchautoren Dr. Seuss, Theodor Seuss Geisel (1904-1991), mit der Vorlage für eine wie in Großbritannien multimediale Propagandakampagne (Charles D. Cohen, The Seuss, the whole Seuss, and nothing but the Seuss. A visual biography of Theodor Seuss Geisel, New York 2004, 254-257; The „Squander Bug”, Monthly Bulletin. Interdepartmental War Savings Bond Committee 1944, No. 2, 10). Trotz breiter Akzeptanz erreichten Kohlenklaus alliierte Pendants jedoch nie die Alltagspräsenz des deutschen Diebes. Umgekehrt bezichtigte der US-amerikanische Schriftsteller John Scott Landwehrmann (ungerechtfertigt), seine Figur an den Stil des US-Karikaturisten Peter Arno (1904-1968) angelehnt zu haben, einem der bekanntesten Zeichner der Zeitschrift „The New Yorker“ (John Scott, Europe in Revolution, Boston 1945, 164). Für unsere Argumentation ist dieses Hin und Her wichtig, da es die Frage nach dem spezifisch nationalsozialistischen Charakter Kohlenklaus nochmals schärfer stellt. All diese Figuren waren Antigeneralisierungen von Kriegsnotwendigkeiten, mochten sie sich auch formal und in Bezug auf ihre spezifischeren Zielsetzungen deutlich voneinander unterscheiden.

Kleinkampagnen: Markenartikelhersteller präsentieren Kohlenklau

Die stete Abfolge immer neuer Kampagnen und auch die Lagebeurteilen des Sicherheitsdienstes der SS zeugen von einer insgesamt positiven Aufnahme der Propaganda: „Die Energie-Sparaktion („Kohlenklau“-Propaganda) hat […] fast überall eine gute Aufnahme gefunden. „Kohlenklau“ sei rasch eine volkstümliche Figur geworden, und sehr häufig werde beobachtet, daß Volksgenossen sich, wenn irgendwo ein Fenster oder eine Tür offen steht, gegenseitig durch den Zuruf: „Kohlenklau“ zum Sparen anhalten. Die zeichnerische Gestaltung des „Kohlenklau“ sei recht originell und die Knittelverse sowie die übrigen Texte recht gelungen. Vor allem die Jugend habe ihren Spaß daran und trage viel dazu bei, die Gestalt und die damit verbundenen Sparparolen durchzusetzen“ (Meldungen aus dem Reich, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718). Diese Meldungen unterstrichen zugleich eine differenzierte Beurteilung der Propaganda. Rundfunksendungen galten als Kinderkram, das propagierte Turmkochen wurde schon deshalb belächelt, weil es im mächtigen Deutschen Reich nicht mehr genügend Töpfe dafür gäbe. Bei Strom und Gas könne man wohl noch sparen, nicht aber bei der Kohleheizung. Bezeichnend war auch eine bemerkenswerte Umdeutung der Kampagne: „Die breiten Schichten der Bevölkerung bezögen deshalb den Appell zum Sparen nicht so sehr auf sich und meinten, daß in der ‚Kohlenklau-Propaganda‘ nicht nur Beispiele dafür gebracht werden sollten, wie noch mehr gespart werden könne, sondern vor allem solche Beispiele, die eine regelrechte Verschwendung sichtbar machten und den Aufruf zum Sparen deutlicher an die Kreise richteten, die es in erster Linie angeht“ (Ebd., 4719). Kohlenklau spiegelte demnach auch die allseits bekannte und hinter der Hand strikt kritisierte Korruption und den Protz führender NS-Repräsentanten.

Anderseits entsprach die Kohlenklau-Kampagne den Vorstellungen der zwar regulierten und gelenkten, durchaus aber noch eigenständigen Privatwirtschaft. Es ging um die Herstellung einer völkischen Effizienzgemeinschaft, die sich im Angesicht der Krise bewährte, die individuelle Bedürfnisse zurücknahm, um den Rüstungs- und Kriegsanstrengungen zu genügen. Kohlenklau verkörperte ein schon in den Rationalisierungsdebatten der Weimarer Zeit stetig präsentes Ideal unternehmerisch rationaler Mittelverwendung: „Heute arbeitet man so nicht mehr. Heute soll man aber auch auf Kohlenklau achten“ (Maurerschweiß, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 22 v. 22. Januar, 4). Der einzelne Arbeitnehmer, insbesondere aber die im Gegensatz zu disziplinierten Betriebsgemeinschaften noch undisziplinierten Hausfrauen sollten dies endlich umsetzen: „Hausfrauen sollen heute nicht nur Kochfrauen, sondern Kochkünstlerinnen sein, auch was das Ersparen des Brennstoffes betrifft, dann kommen wir alle mit kleinsten Rechnungen auf unsere Rechnung, nur Kohlenklau nicht“ (Schwarz auf weiß, Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 313 v. 12. November, 6). Auch der Alltag sollte effizient umgestaltet werden, das alte Mittelstandsideal von Leben und Leben lassen war veraltet. Selbstmobilisierung war just im Kleinen erforderlich, etwa bei nicht schließenden, zugigen Türen: „Dann malte ich, der Untermieter, zwei Schilder und hing sie draußen und drinnen an die Tür: Zugemacht, ist halb gelacht! Sei du schlau, nieder mit’m Kohlenklau!“ (Selbstgespräch, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 45 v. 14. Februar, 4) Kohlenklau war daher viel mehr als ein neugewandter schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne jedoch die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man wusste, dass Anleitung und Lenkung achtsam erfolgen musste, wertschätzend. Die tägliche Denunziation und Volksschädlingsexekutionen gehörten gewiss zur Realität des NS-Regimes, doch der verpackte Hinweis war weiter verbreitet, bekam just dadurch Gewicht.

Es ist daher nicht überraschend, dass ab Februar 1943 die Markenartikelindustrie Kohlenklau nutzte, um einerseits ihre Anzeigen mit einer attraktiven Werbefigur zu zieren, andererseits ihr Effizienzideal gegenüber den Konsumenten hochzuhalten. So breit die Kohlenklau-Kampagne auch sein mochte, so wurde sie zahlenmäßig von der nun einsetzenden privaten Kohlenklau-Werbung deutlich übertroffen. Mit dieser Neugestaltung der Unternehmenskommunikation arbeiteten die Unternehmen dem Führer entgegen, folgten dabei aber immer auch eigenen Zwecken. Angesichts zumeist hoher Kriegsgewinne war zielgerichtete Kooperation mit dem NS-Staat unternehmerisch rational: „Auf fast allen hier genannten Gebieten ist die Privatwirtschaft in der einen oder andern Form im Sinne der Staatsinteressen mit tätig“ (Alfred Helzel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124).

Sparsamkeit bei Zahnpasta und heißem Wasser: Solidox-Werbung mit Kohlenklau (Junge Welt 5, 1943, H. 5/6, III (l.); Das Deutsche Mädel 1943, Nr. 11/12, III (M. o.), Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 18, 9 (M. M.); Das Deutsche Mädel 1943, H. 7/8, IV (M. u.); ebd. 1944, H. 5/6, 20)

Ein Beispiel mag genügen: Solidox war eine seit 1935 im Deutschen Reich als Mittel gegen Zahnstein vermarktete Zahnpasta (Deutscher Reichsanzeiger 1935, Nr. 215 v. 14. September, 7). Sie war Teil des Markenportfolios von Unilever resp. Elida und profitierte ab 1938 von den neuen Absatzchancen im großdeutschen Markt. Angesichts der strikten Regulierung des Fettmarktes, aber auch aufgrund der nichtdeutschen Kapitaleigner agierte die Berliner Solidox Gesellschaft für Zahnhygiene mbH regimenah, unterstützte die allgemeine Propaganda für Volks- und Zahngesundheit. 1943 gab es die allseits üblichen Produktionskürzungen und Lieferschwierigkeiten, doch Kohlenklau machte die Anzeigenwerbung staatspolitisch wichtiger. Die neuen Motive zielten dabei unter anderem auf eine Abkehr vom Zähneputzen und Gurgeln mit heißem Wasser – eine den meisten Nachgeborenen wohl bereits völlig undenkbare Praxis. Der Schlagschatten sparsamen Kriegshandelns war lang.

Markenartikelwerbung mit Kohlenklau 1942-1945: Eine Auswahl aktiver Unternehmen

Untersucht man die Anzeigen in den Zeitungen und Zeitschriften ab Anfang 1943, so findet man dutzende Firmen mit ähnlichen Kohlenklau-Kampagnen. Die Übersicht enthält zwei Dutzend Firmen, ist aber unvollständig. Das Hamburger Unternehmen Beiersdorf, „entjudet“ und regimetreu (Alfred Reckendrees, Beiersdorf. The Company behind the Brands NIVEA, tesa, Hansaplast & Co., 96-138, allerdings ohne Eingehen auf die Kriegswerbung), stellte schon im März 1943 sein Sortiment in den Dienst der Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1943, Nr. 55 v. 7. März, 7; ebd., Nr. 61 v. 14. März, 8). Neben die Markenartikelwerbung einzelner Firmen trat zudem Gemeinschaftswerbung mit Kohlenklau. Angesichts dieser breit gefächerten Aktivitäten erscheint Kohlenklau nicht mehr länger als Kampagne staatlicher Akteure und der Energiewirtschaft, sondern auch als privatwirtschaftliche Anstrengung. Der Blick vorrangig auf die staatliche NS-Propaganda verkennt und verdeckt ihre zunehmend breitere Trägerschaft.

Wasser als zunehmend gefährdetes Grundgut

Das Effizienzideal der Kohlenklau-Kampagne konzentrierte sich auf den Umgang mit Kohle, Strom und Gas, griff jedoch von Anbeginn darüber hinaus. Ressourcenschonendes Handeln ist im Idealfall nur schwer zu begrenzen, führt zu allgemeiner Sparsamkeit. Entsprechend gab es immer wieder Anklänge, den Verbrauch auch von Grundgütern wie Wasser auf das notwendige Maß zu reduzieren. In der staatlichen Kohlenklau-Kampagne wurde mehrfach eine mit Warmwasser gefüllte Badewanne gezeigt. Ähnliches galt auch für die eigenständige Fortführung der Propaganda in den Werkszeitungen der Industrie. Diese zeichneten, wie im folgenden Bild des Mannheimer Landmaschinen- und Rüstungsproduzenten Lanz, ihren eigenen Kohlenklau, modifizierten den Ressourcendieb für ihre eigenen Zwecke.

Kohlenklau als Wasserdieb: Serienmotiv und Fortzeichnung der Serie in der Industrie (Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 41 v. 10. Februar, 4 (l.); Energie 22, 1943, H. 7/8, IV)

Wasser war 1942/43 an sich genügend vorhanden, die Trinkwasserversorgung funktionierte, die Qualität war ausreichend. Der immer stärkere Druck der alliierten Bomberangriffe unterstrich jedoch, dass sich dies rasch ändern konnte, denn die an sich geltenden völkerrechtlichen Regeln waren für alle kriegsführenden Parteien längst Makulatur. Das von den Talsperren und Wasserreservoirs im Sauerland und in Waldeck abhängige Ruhrgebiet sollte dies zu spüren bekommen, nachdem Spezialeinheiten der britischen Royal Air Force in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 die Eder- und Möhnetalsperren massiv treffen konnten. Knapp 1.600 Menschen, darunter mehr als eintausend Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, wurden bei dieser Operation Chastise durch Wassermassen und ihre Folgeschäden getötet. Die Wasserversorgung wurde erheblich beeinträchtigt, Notmaßnahmen und Rationierungen waren die Folge. Auch wenn die Angriffe ihre strategischen Ziele nicht erreichen konnten, und die Wasserversorgung Ende Juni 1943 wieder vollständig hergestellt war, wurde Wasser zu einem öffentlichen Thema.

Wasserknappheit als Drohung: Temporäre Versorgungseinrichtungen nach der Zerstörung der Eder- und Möhnetalsperre durch die Royal Air Force am 17. Mai 1943 (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 117 v. 21. Mai, 5)

Der recht trockene Sommer 1943 verschärfte die Versorgungssituation. Seit August 1943 begannen im Rhein-Ruhrgebiet neuerlich Kampagnen für das Wassersparen. Getragen vor allem von den jeweiligen Stadtwerken beinhalteten sie zumeist praktische Ratschläge für Hausfrauen und Haushalte – und knüpften dabei vielfach an die Kohlenklau-Motive an: Die Wanne sollte nur zum Teil gefüllt werden, das damals noch eher unübliche Duschen sei eine gute Alternative. Das Warmwasser für Heißgetränke und das Spülen sollte vorab ausgemessen werden (Lippische Staatszeitung 1942, Nr. 208 v. 2. August, 5): „Wer Wasser spart, spart Kohle!“ (Annener Zeitung 1943, Nr. 55 v. 6. März, 3) Und auch beim Wassersparen galt: „Jeder Tropfen Wasser, der im Haushalt nutzlos abfließt, fehlt an wichtiger Stelle für die Rüstung“ (Wasser sparen!, Rheinisch-Bergische Zeitung 1943, Nr. 193 v. 19. August, 3). Die regionale Propaganda appellierte an Einsicht und Rücksichtnahme. Ein echter Deutscher könne sich auf die berechtigten Belange der Volksgemeinschaft einrichten, seinen eigenen Bedarf einsichtig zurückfahren (Wie kann man Wasser sparen?, Langendreerer Zeitung 1943, Nr. 186 v. 11. August, 4). Diese Selbstzucht, diese Pflege der technischen Infrastruktur sei kriegswichtig: „Wasser sparen bedeutet Beihilfe zum Endsieg!“ (Aachener Zeitung 1943, Nr. 188 v. 16. August, 4) Die andauernde Trockenheit ließ die Vorgaben bedrohlicher werden, Verschwendung würde „im Sinne der bestehenden gesetzlichen Vorschriften geahndet werden“ (Spart mit dem Wasser! Eine saisonbedingte Mahnung, Völkischer Beobachter 1943, Nr. 237 v. 25. August, 3). Freiwillige Einschränkungen könnten vor „Zwangsmaßnahmen“ bewahren (Es bleibt beim freiwilligen Energiesparen, Aachener Zeitung 1943, Nr. 224 v. 27. September, 4). Adressat all dessen war vorrangig die Hausfrau (Auch die Hausfrau hilft mit!, Lippische Staatszeitung 1943, Nr. 253 v. 15. September, 3). Im Betrieb würde ohnehin gespart, doch auch der Hausfrauenarbeitsplatz dürfe nicht schwimmen.

Wasserplansche und Kohlenklau im Hochzeitsornat (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5)

Vor diesem Hintergrund erscheint das Auftauchen der Wasserplansche nachvollziehbar. Ein neues Ungetüm, eine Ausgeburt der Verschwendung. Doch als sie am 9. November 1943 erstmals gedruckt wurde, just zwanzig Jahre nach dem in München zusammengeschossenen „Blutmarsch“ der Hitler-Bewegung und ihrer Bündnisgenossen, hatte sie Kohlenklau an ihrer Seite. Der galt als bedrohlich, war als Monster und Feind eingeführt worden. Das wurde auch der Wasserplansche nachgesagt, doch richtig ernst zu nehmen war das offenbar nicht: „Kohlenklau / Ei, wie schlau, / Nimmt sich eine reiche Frau. / Wasserplansche ist der Name / Dieser wassergier’gen Dame. / Er stiehlt Kohlen, Licht und Gas, / Ihr macht’s Wasserplanschen Spaß. / Wasserplansch und Kohlenklau, / Dieser Mann und diese Frau, / Sind im Kriege böse Geister, / Im Verschwenden große Meister. // Sollten sie sich mal verstohlen / Bei euch neue Beute holen, / Sperrt sie ein und laßt sie flittern, / Bis sie ihre Strafe wittern. / Denn Strafe folgt, das ist doch klar – Für dieses saub’re Ehepaar“ (Treliko, Kohlenklau macht Hochzeit, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5). Obacht, Volksgenossen, war der Tenor der neuen Kampagne. Doch angesichts der schon viele Wochen laufenden Großkampagne „Kohlenklau’s Helferhelfer“ war tiefer Ernst auch in bedrohlicher Kriegslage kaum mehr aufzubringen.

Die Wasserplansche war eine Erfindung der Redaktion der nationalsozialistischen Parteizeitung „Westfälische Landeszeitung – Rote Erde“ in Dortmund. Die „Westfälische Landeszeitung. Rote Erde“ war seit dem 30. Januar 1934 die Parteizeitung der NSDAP und amtliche Zeitung des Gaus Westfalen-Süd. Sie folgte auf den „General-Anzeiger für das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet“, der bis zum 20. April 1933 vom Dortmunder Verlagshaus Krüger herausgegeben, dann enteignet und unter dem tradierten Namen erst einmal fortgeführt wurde. In ihr ging ab Anfang Mai 1933 die vorherige NSDAP-Parteizeitung „Rote Erde“ auf. In den Folgejahren etablierte sie sich mit einer Druckauflage von 1937 205.000 und 1939 225.000 Exemplaren und acht Bezirksausgaben als reichweitenstärkste Tageszeitung Westfalens (Kurt Peschel, Von der Asphaltpresse zur Presse des neuen Reiches, Unser Wille und Weg 8, 1938, 247-253, hier 252; Schlag nach!, 2. erw. u. verb. Aufl., Leipzig 1939, 506; Nationalsozialistisches Jahrbuch 13, 1939, 322).

Das Erscheinen der Wasserplansche war Resultat des Zusammenwirkens von Texter und Pressezeichnerin, das wir weiter unten noch genauer auffächern werden. Doch es knüpfte auch an das besondere Renommee des Kohlenklau-Zeichners Hans Landwehrmann an, der 1922/23 in Dortmund als Graphiker der Dortmunder West-Werbe-Gesellschaft tätig war und auf Anregung des Stadtbaurates Hans Strobel (1881-1953) auch Notgeld gestaltete (Das Westfalenlied als Notgeldschmuck, Düsseldorfer Zeitung 1922, Nr. 344 v. 11. Dezember, 2). Die Stadt habe dadurch „auf ihren soeben zur Ausgabe gelangten Notgeldscheinen zu 25 und 50 Mark nicht nur Kirchturmspolitik getrieben, sondern weitherzig die Ehre und Schönheit der Roten Erde, deren größte Stadt sie ist, gepriesen zu haben und so aller Welt zu verkünden“ (Das Westfalenland im Bilde, Wittener Tagblatt 1922, Nr. 292 v. 13. Dezember, 5). Landwehrmann malte damals auch Landschaftsbilder Dortmunds, Industriebilder, der Härte der Montanregion angemessen und stellte 1923 in der Stadtbibliothek Dortmund einen Zyklus „Der Reinoldus“ aus, gewidmet dem Stadtpatron der größten Stadt Westfalens (Gemäldeausstellung bei C.L. Krüger, Dortmunder Zeitung 1923, Nr. 309 v. 30. November, 2; Erich Schulz, Stadtbibliothek Dortmund. Kurzer Bericht über die ersten 25 Jahre, Dortmund 1932, 20). Die Wasserplansche dürfte daher auch eine Hommage an einen früheren Künstler im Land der Roten Erde gewesen sein.

Der machtlose Staat und das Duo der Verschwendung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5)

Eine Woche nach dem Hochzeitsbild begann ein von einem Lesergedicht eingeleitetes Pas de Deux zwischen Zeichnerin und Texter. Sie setzten sich zusammen, fabulierten über die Fortsetzung, sie zeichnete, er schrieb, am Ende stand ein ernst gefasstes und humoristisch präsentiertes Duett. Anlass war die beträchtliche Resonanz aus der Leserschaft. Demnach habe sich das Staatliche Gesundheitsamt Klaustedt gemeldet, um die Ehe von Wasserplansche und Kohlenklau für ungültig zu erklären. Schließlich handele es sich um zwei organisch missgebildete Personen, die daher vor Eheschluss hätten sterilisiert werden müssen. Dieser Nachweis aber fehle. Im Gegenteil, ein Leser habe bereits über den Sohn der beiden geschrieben, offenbares Zeichen nicht praktizierter Eugenik. Der Humor verschwand, schließlich wurden aufgrund des im Juli 1933 erlassenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, wobei knapp 5.000, meist Frauen, an den Folgen des Eingriffes starben. Das war, wie der Judenmord, zu dieser Zeit ein offenes Geheimnis. Und die Humoreske gebar den Feind, Wasserplansche und Kohlenklau „werden in wilder Ehe weiterleben, uns Schaden zufügen, wo sie können, an Strom und Kohle, Wasser, Licht und Gas räubern, was sich räubern läßt, und wir wollen nur hoffen, daß der ‚Dr. Pforgaff‘ (der Name ist leider nicht zu entziffern, aber dafür ist es ja auch ein Doktor!) ebenso eifrig, wie er den Paragraphen schwingt, auch Licht ausknipst und die Wasserhähne schließt! Denn mit Paragraphen allein ist nichts voran zu bringen…“ (Kondi, Die Vertreibung aus dem Paradies oder „Kohlenklau und das Gesundheitsamt“, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5).

Autor Kondi hat von Ende 1943 bis Herbst 1944 mindestens 28 Beiträge in der Westfälischen Landeszeitung veröffentlicht, zumeist Kommentare über Alltagsfragen, die teils in der Kolumne „Sowas gibt es heutzutage…!“ im Sinne des Regimes erläutert und bewertet wurden. Derartiger Anleitungsjournalismus prägte ab April 1944 auch die Kolumne „Auf die Art geht’s besser“. Bei der Sorge für das Ganze ging es allein um das Ganze der fast beliebig zu definierenden Volksgemeinschaft.

Wasserplansche und Kohlenklau als trautes Paar (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Getragen von Leserzuschriften und -anfragen wurde das missgebildete Paar jedoch weiter präsentiert, voller Gier, auf der Suche nach Kohle und Wasser. Sie wurden nicht gefürchtet, sondern belacht – und das war gefährlich, denn auch sie lachten den Leser aus, ergötzten sich an dessen unbedachtem Handeln, das sie nährte: „Hilfe! Rettung! Kohlenklau und Wasserplansch [sic!] bedrohen mich!“ (Kondi, Da blüht der Weizen…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Familie Kohlenklau beim Spaziergang (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Am 27. November ging es weiter, ein Leser konnte nun endlich die schon bekannte Nachricht über neues Glück und neues Leben formgerecht verbreiten: „Kohlenklau ist sehr benommen, / er hat einen Sohn bekommen, / der der ganze Vater ist, / am ersten Tag gleich Kohlen frißt. // Grausam ist’s mit anzuschau’n, / wie sie Strom und Gas uns klau’n, / bringt die Schlingel zum Gericht, / Gnade gibt es für sie nicht. // Frau Wasserplansche will versuchen, / am Waschtag Frauen zu besuchen. / Liebe Hausfrau’n, habet acht, / wie Wasserplansch euch Schaden macht! // Sie schwatzt gar lang und schwatzt gar breit / stiehlt schwatzend euch nicht nur die Zeit, / nein, auch noch Wasser, Kohle, Licht! / Seid wachsam, Frau’n und duldet’s nicht!“ (Rudi Simoneit, Kohlenklau – hat einen Sohn…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Andere, leider nicht näher bezeichnete Quellen, diskutierten sogleich seinen Namen, warnten zugleich aber davor das wachsende Monster als Kind misszuverstehen, es gar zu füttern. Im Reimmodus der an Mahnsprüche gewöhnten deutschen Nation mutierte das gleich zum Totschlag: „Kohlenklau hat einen Sohn! / Ist das nicht ein großer Hohn? / Und sein Nam‘ ist Kohlenkläuschen. / Das junge Paar ist aus dem Häuschen. / Es will das Kläuschen so erzieh’n, / Daß es kann auf Raub ausgeh’n. // Wasserplansch, Kohlenklau und Klaus, / Faßt sie, schmeißt sie raus! / Nichts soll ihnen mehr gelingen, / Wir wollen alle drei umbringen! / Drum helft uns nun alle mit, / Gebt ihnen den verdienten Tritt!“ (Wie soll der „Knabe“ heißen?, https://www.energieverbraucher.de/de(kk-s-familie__1461)

Parallel begann jedoch eine Selbstreflektion innerhalb der Westfälischen Landeszeitung, die den offenkundigen Spaß der Leser an den selbst kreierten, zunehmend aber fremd imaginierten neuen Gefährten Kohlenklaus einzufangen hatte: Sie alle seien westfälische Geschöpfe, entstammten somit der Roten Erde: „Jedenfalls stammt der Zeichner, der den Herrn Kohlenklau erdacht hat, aus Westfalen. Und die Frau Kohlenklau, geborene Wasserplansche, hat ihre geistigen Eltern in der Schriftleitung der ‚Roten Erde‘. Als drittes hat der Sprößling der beiden bei unseren Lesern seine geistigen Urheber, und würden wir die Kohlenklau-Familiengeschichte nicht schleunigst beenden, dann würden wir in kurzer Frist ein eigenes Kohlenklau-Familienblatt herausgeben müssen. Wir haben so viele Gedichte und andere Beiträge zur Familiengeschichte der sauberen Spitzbuben-Familie bekommen, daß wir beim besten Willen mit dem Abdruck nicht nachkommen können. Wir machen also einen dicken Strich und lassen die Familiengeschichte der Kohlenklaus nunmehr auf sich beruhen“ (Kondi, Die Kohlenklau-Familiengeschichte, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 283 v. 3. Dezember, 5). Denn noch vergnüglicher als das Umfeld der Wasserplansche sei die Zeit nach dem Sieg, dem über Familie Kohlenklau, dem über die Alliierten. “Kohlenklau, Wasserplansche und ihr Sprößling sind zwar die heitere Form, ernste Dinge zu behandeln, aber davon werden diese ernsten Dinge nicht aus der Welt geschafft. Ueber Kohlenklauscherze wollen wir lachen, aber im Ernst wollen wir das tun, was damit doch immer wieder geraten wird: Kohlen sparen, Licht sparen, Strom sparen, Wasser sparen, bei sich und auch bei andern und wo es heutzutage noch ‚so etwas‘ gibt, dort wollen wir energisch zupacken!“ (Ebd.)

Doppelte Verschwendung im Brausebad (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5)

Doch die Schriftleiter wurden die Geister nicht mehr recht los, die sie einst gerufen hatten. Wohl auf Ansinnen der Leser folgten noch weitere Episoden, nun aber in ernster, mahnender Manier. Herren im Brausebad verschwendeten heißes Wasser – und schon tauchen sie auf, „Kohlenklau und Wasserplansche, das saubere Ehepaar; er begierig nach sinnlos vergeudeter Kohle und sie in vollen Zügen nutzlos verplanschtes Wasser schlürfend“ (Kondi, Kohlenklau im Bade, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5). Und die beiden Herren redeten derweil, vielleicht gar über die gierigen Ungeheuer, die sie doch nährten.

Familienstreit um Wasser und Kohlen (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Familie Kohlenklau blieb auch danach Gesprächsthema in Westfalen. Die Texte kreisten stärker um das Thema der Energie- und Wassereinsparung, doch die Familiengeschichte wurde mit dem ersten Krach der jungen Ehe fortgesetzt. Sie wollte Wasser, er Kohle, man stritt um die Wasserleitungen, ob diese gefroren platzen oder aber mit loderndem Feuer zum Fließen gebracht werden sollten. Da kannte die Wasserplansche keinen Spaß, begoss wutrasend Vater und Sohn. Die Moral war klar: „Aber irren wir uns nicht, sie sind bald wieder einig und ziehen wieder zusammen aus, Wasser, Kohlen, Licht, Strom und Gas gemeinsam zu stehlen, wo sie können! Drum lacht über sie – aber legt ihnen das Handwerk!“ (Krach im Hause Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Das Über-Ich der Volksgemeinschaft: Wasserplansche und Kohlenklau beobachten alle (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Und da waren sie schon wieder, nutzten die gute Laune und den laufenden Wasserhahn freudig aus. Und schon nahte der mahnende Zeigefinger des NS-Texters: „Nein, wenn auch noch so gut rasiert, gute Laune kann man bei solchem Unfug nicht mehr haben!“ (Kondi, Frisch rasiert – gut gelaunt!, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Familie Kohlenklau unter Druck (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Mahnung und Gewissenserforschung gingen jedoch miteinander einher. Die Leser wurden ernst genommen, gar ein Kohlenklau-Jahr ausgerufen. Sein Sinn aber wurde umgedeutet, Ausdruck spezifisch deutschen Humors. „Humor ist, Wilhelm Busch sagt es uns, wenn man trotzdem lacht. Und Kohlenklau ist Humor, ist die heitere Behandlung einer bitterersten Sache. Ist kein Witz, der leicht dahertändelt, sondern handfester Humor, der eine Sache derb und fest und humorig sagt, wie sie ist. […] Weiß Gott, dieser Krieg ist eine harte Schule, aber sie ist gut und leider für viele auch notwendig. Seien wir dankbar, auch wenn es wehe tut, auch wenn wir weinen müssen, auch dann, wenn wir nicht mehr lächeln, sondern nur noch grimmig grinsen, wenn wir nur hinter zusammengebissenen Zähnen lachen können. – Das kann man! Rüsten wir uns auf ein Kohlenklaujahr! Auf ein Jahr, das schwer, hart, vielleicht sogar noch ärger wird. Rüsten wir uns darauf, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, sie zu nehmen und dabei doch zu lachen.“ Der Krieg erfordere Humor, „heitere Herzen, steife Nacken, zähen Willen, feste Zuversicht“. Dann werde man die Feinde, werde auch Wasserplansche und Kohlenklau besiegen: „Rückt ihnen auf den Leib, jagt sie hinaus, laßt sie verhungern und verdursten und mit ihnen alle [sic!, US] Kleinmut, alle Zaghaftigkeit, alles Wehleidige und Müde – nun erst recht!“ (Kondi, Das Kohlenklau-Jahr, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Wasserplansche, Kohlenklau und Söhnchen Kohlenklaus mit reicher Jahresernte (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Fast schien es, als sei dadurch das letzte Wort geschrieben, die Kampagne beendet. Doch bei einer Auflage von über 200.000 Exemplaren finden sich immer Zuschriften, die nicht übergangen werden konnten. Elf Dortmunder, Reichsarbeitsdienstmännern im „Hohen Norden“, beschrieben ihren eifrigen Kampf gegen den unrühmlich bekannten Energiefeind Kohlenklau. Das beigefügte Gedicht entsprach allerdings nicht den Grundansprüchen an deutsche Reimkunst. Daher wurde es graphisch umgesetzt, und die regimetreue Moral in verbesserten Reimen dargeboten: „Nun, liebe Leute, seid ganz Ohr: / kommt sowas auch bei ihnen vor? / Habt ihr Kohlenklau im Haus, / schmeißt ihn gleich zur Tür hinaus! / Dann wird so ein Tag gewonnen, / spart der Rüstung viele Tonnen“ (Kohlenklau im RAD, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5).

Ergänzung der Kohlenklau-Kampagne aufgrund einer Leser-Zuschrift (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5)

Danach ebbte der Zufluss offenbar ab. Doch für ein Grande Finale war noch Raum. Im Frühling wurde nochmals des schnurrigen Kohlenklaus gedacht, der „uns im Winter viel Spaß gemacht“ hat. Die Gefahr der Kohleverschwendung sei durch das Ende der Heizperiode verringert, auch wenn weiterhin „die Dame Wasserplansch, die wir dem wüsten Kohlenfresser angetraut haben, umso fleißiger nach allem umtun [wird, US], was sich schlucken läßt.“ Doch es galt nun die Blicke zu weiten, hin auf neue Schädlinge. Kohlenklau, dessen Helfershelfer im Märzen just alle besiegt waren, habe allen die Augen geöffnet, ebenso die Wasserplansche: „Den Kohlenklau sind wir los, seine Trabanten, die Schädlinge jeder Art, wollen wir aber weiter jagen, wo sie sich zeigen“ (O. Schr., Abschied von Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3). Das war der letzte Auftritt von Wasserplansche, Kohlenklau und Kohlenkläuschen – noch wusste man nichts von den Fortsetzungen der staatlichen Propaganda, von den „Waffen gegen Kohlenklau“. Nun standen wieder andere Fraßfeinde im Mittelpunkt, die Motten, die Ratten, die Kartoffelkeime, der abzuwehrende Verderb.

Familie Kohlenklau im Umfeld weiterer „Volksschädlinge“ (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3)

Leisten wir uns nach alledem ein wenig Abstand: Die Wasserplansche erschien exklusiv in der führenden westfälischen Tageszeitung von November 1943 bis März 1944 an der Seite ihres Gatten Kohlenklaus, häufig mit ihrem Sohn Kohlenkläuschen. Die Familienerweiterung war eine Folge der zunehmend humoristischen Perzeption der staatlichen Hauptserie und deren zunehmender Umdeutung durch das lesende und schauende Publikum. Zeichner und Texter der Westfälischen Landeszeitung gaben dem anfangs nach, wurden dann jedoch vom Druck des Volkes teils unwillig mitgerissen. Der Ernst des Kampfes gegen Energie- und Wasserverschwendung ging zunehmend verloren, wurde zugleich aber umso stärker beschworen. Die Fortführung der Geschichte von Wasserplansche und Kohlenklau war eine Konzession an ein Publikum, das Unterhaltung wollte, ein wenig Amusement im brutalen Tagestrott, das Sparsamkeit zumal bei denen einforderte, die von diesem Regime profitierten. Diese Tendenz schwindender Wirksamkeit wohnte auch der staatlichen Kohlenklau-Kampagne inne, konnte dort durch Berücksichtigung der spielerischen und humoresken Akzente der Hauptfigur aber begegnet werden. In den Nebenkampagne aber zeigten sich die Grenzen der Propaganda auch und gerade des Nationalsozialismus. Zeitgleich optierte das Publikum in der Ende 1943 einsetzenden Liese-Miese-Kampagne, zumindest in den Kinos, eher für die eigensüchtig agierende Miese statt für die blonde linientreue Liese (Brigitta Mira, Kleine Frau, was nun? Erinnerungen an ein buntes Leben, München 1988, insb. 100). Auch Wasserplansche war so wie man gerne hätte sein wollen, ein wenig eigensüchtig, ein wenig verschwenderisch. Dennoch hat diese Figur dem realen Problem der Wasserverschwendung ein Bild gegeben. In den weiter gepflegten Hilfsangeboten der Tageszeitungen fragten Leser nicht nur wie man Verluste im Wasserkasten der Toilette begrenzen könne, sondern direkt, „wie der Wasserplansche“ beizukommen sei (Wenn der Wasserkasten im WC dauernd läuft, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 109 v. 11. Mai, 3). Die Nebenkampagne wurde in der Nachkriegszeit und auch der Erinnerungskultur allerdings rasch vergessen.

Künstlerin für das NS-Regime: Erika Beccard-Pilius, Pressezeichnerin und Kampagnenhelferin

Damit könnten wir eigentlich ein allgemeineres Fazit ziehen – und Herunterscrollen ist Ihr Privileg. Doch angesichts der biographischen Näherung an Hans Landwehrmann scheint mir ein paralleles Eingehen auf Erika Beccard-Pilius, die Schöpferin der Wasserplansche, hilfreich und notwendig. Eine Pressezeichnerin als NS-Propagandistin, das ist auf den ersten Blick besonders spannend: Die „Interpress“, von 1940 bis 1942 führende Bildagentur für politische Zeichnungen, vertrieb Arbeiten von mindestens 80 Männern – und von keiner Frau. Für die Bild- und Textagentur „Bilder und Studien“ zeichneten mindestens 26 Männer – und auch darunter kein weibliches Wesen. Doch dies ist eine Einseitigkeit, die das Vordringen von Frauen im NS-Pressewesen unterschlägt. Nicht nur bei Mode- und Kinderzeichnungen oder ein wenig Kunst, sondern auch im Alltagsgeschäft konnten sie sich während der NS-Zeit zunehmend etablieren. Neben Erika Beccard-Pilius ist im westfälisch-rheinischen Gebiet an Erika Feder (Remscheider General-Anzeiger), Magdala Häußer-Poly (Bonner General-Anzeiger) und insbesondere an Gerda Schmidt (Essener Allgemeine Zeitung) zu erinnern, die 1942 auch eigene Beiträge für die ebenfalls ausfransende Propaganda-Kampagne um Herr Bramsig und Frau Knöterich zeichnete. Der Anteil von Frauen bei den Schriftleitern (inklusive der Pressezeichnerinnen und Fotografinnen) lag 1935 reichsweit bei ca. 5,6, 1939 dagegen schon bei 8,8 Prozent (Susanne Kinnebrock, Frauen und Männer im Journalismus. Eine historische Betrachtung, in: Martina Thiele (Hg.), Konkurrierende Wirklichkeiten, Göttingen 2005, 101-132, hier 122, FN 29). Dieser Anteil stieg während des Krieges weiter, allerdings in einem insgesamt schrumpfenden Arbeitsmarkt.

Erika Beccard-Pilius im Selbstporträt (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8)

Erika Beccard – der Name verweist auf hugenottische Vorfahren – war die Tochter der Bürovorstehers Wilhelm Beccard und seiner ihm 1903 angetrauten Gattin Luise (1881-1956), die unter dem Doppelnamen Beccard-Blensdorf bis heute als „Siegerländer Heimatdichterin“ gilt (Dortmunder Adreßbuch 1903, T. 2, 19; Siegener Zeitung 1903, Nr. 242 v. 16. Oktober, 3). Ihre Lyrik, gedruckt vor allem in der Siegener Zeitung, wurde 1909 in „Gedichte“, dann 1918 in „Aus Sturm und Stille“ gebündelt. Sie verband protestantische Innerlichkeit mit einer Vergötterung der Natur, mit melancholisch-hymnischem Nationalismus. 1936 folgte „Nachsommer“ mit einer Einbandzeichnung von Erika und Scherenschnitten ihrer Schwester Hanna (Münsterischer Anzeiger 1939, Nr. 435 v. 23. September, 2). Eine dritte Schwester, Trude, ist nachweisbar (Siegener Zeitung 1926, Nr. 301 v. 24. Dezember, 4).

Das junge Ehepaar Beccard-Blensdorf zog spätestens 1906 nach Bielefeld, wo Wilhelm als Generalagent einer Schweizer Versicherung tätig war, wo 1906 Hanna und 1909 eine weitere Tochter, wahrscheinlich Erika, geboren wurden (Bielefelder General-Anzeiger 1907, Nr. 171 v. 1. Juli, 8; ebd. 1906, Nr. 72 v. 26. März, 10; Volkswacht 1909, Nr. 278 v. 29. November, 8). Die Familie zog ca. 1912 nach Dortmund. Wilhelm arbeitete auch dort als Generalagent, seit Kriegsbeginn als Buchhalter, in den frühen 1920er Jahren als Versicherungs- resp. Bürobeamter und war seit 1929 schließlich wieder als Generalagent tätig (Dortmunder Adreßbuch 1912, T. 2, 18; 1915, T. 2, 21; 1924, T. 2, 29; 1929, T. 2, 28). Erika dürfte also im gesicherten bildungsbürgerlichen Umfeld aufgewachsen sein. Ihre Schwester Hanna reüssierte schon früh mit ihren Scherenschnitten, Erika steuerte 1929 Zeichnungen zum Heft „Dortmunder Fasching“ bei (Siegener Zeitung 1918, Nr. 69 v. 22. März, 2; ebd. 1926, Nr. 161 v. 13. Juli, 7; Dortmunder Zeitung 1929, Nr. 57 v. 3. Februar, 7). Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits als „Helferin“ tätig, eventuell in der Imkerei, wie zuvor ihre Schwester Trude (Dortmunder Adreßbuch 1928, T. 2, 19; Landwirtschaftliche Mitteilungen für das Siegerland 1925, Nr. 15 v. 22. Juli, 4).

Die Biographie Erika Beccard-Pilius ist nur ansatzweise zu rekonstruieren, Archivalien fehlen, Widersprüche bleiben. Doch es handelt sich um das Hereinwachsen einer jungen begabten Frau in das NS-Regime, um das Werden einer gläubigen Propagandistin abseits des Martialischen. Sie präsentierte 1933 jedenfalls „elegante Farbzeichnungen“ bei einer Ausstellung, erschien damals auch erstmals mit einem Doppelnamen – analog zu ihrer Mutter („Fleiters gute Stuben“, Dortmunder Zeitung 1933, Nr. 525 v. 9. November, 7). Ihr Gatte dürfte Hans Pilius gewesen sein, der 1930 als Baupraktikant firmierte, dann als Schlosser, ab 1934 als Zeichner, seit 1938 als Polier, schließlich als Bauführer (Dortmunder Zeitung 1930, Nr. 26 v. 11. Juni, 7; Dortmunder Adreßbuch 1930, T. 3, 21; ebd. 1934, T. 2, 421; ebd. 1938, T. 2, 441). Möglich, dass sich das Paar 1938 getrennt hat, jedenfalls signierte die Zeichnerin von 1938 bis 1941 meist als Erika Beccard. Im Dortmunder Adreßbuch tauchte sie 1938/39 noch als „Erika Pilius, Ehefr[au]“ auf, ab Ende 1939 als „Pressezeichnerin“ Erika Beccard (Dortmunder Adreßbuch 1938, T. 2, 441; 1939, T. 2, 444; 1940, T. 2, 25). Erika Pilius-Beccard dürfte zuvor hinter ihrem Mann als Haushaltsvorstand verschwunden sein. Ob die Trennung mit einem 1940 gegen Hans Pilius geführten Prozess zusammenhing ist unklar (Bundesarchiv Lichterfelde R 3001/114014, NS 14/313). Die Ehe blieb jedenfalls kinderlos, während Erika, die auch den Doppelnamen Pilius-Beccard wählte, sich innerhalb der NSDAP-Gauzeitung etablierte.

Dort zeichnete und textete sie anfangs Mode- und vor allem Kinderzeichnungen, schwärmte darin „von der großen Aufbauarbeit unseres deutschen Volkes“ (Erika Pilius Beccard, Deutsche Frühjahrs-Moden, Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 83 v. 25. März, Beil. Wir Frauen, 10). 1934 nahm die Zahl ihrer Zeichnungen in der Westfälischen Landeszeitung rasch zu, sie illustrierte teils mit ihrem Namen, teils mit ihrem Kürzel ebp, teils aber auch ohne jede Signatur die wöchentliche Kolumne „Von Sonntag zu Sonntag“, lieferte zudem zahlreiche Beiträge für die illustrierte Wochenbeilage „WLZ am Sonntag“. Ende des Jahres zeichnete sie sich als selbstbewusste junge Frau, die Neid und Klatsch den Kampf ansagte, die das Leben einfing und feierte: „Strömt herbei zur ebp, es wird gemalt und tut nicht weh“ (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8).

Alltags- und Kinderwelten: Wochenendfahrt ins Hochsauerland und der Osterhase (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 42 v. 11. Februar, 6 (l.); WLZ am Sonntag 1936, Nr. 15 v. 12. April, 6)

Erika Beccard-Pilius illustrierte vorrangig Unterhaltungsartikel, visualisierte Alltagseindrücke, sei es den Wochenendausflug ins Hochsauerland oder den Bratwurststand in Dortmund. Dabei kooperierte sie eng mit den virtuell federführenden Textern. Zugleich aber begann sie das politische Geschehen freundlich und anheimelnd zu illustrieren (Hans Terlinden, Deutsche Jugend heraus zum Wettkampf!, Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 48 v. 17. Februar, 16). Urlaub, Alltags- und Wochenendfreuden, Trinken und Betrunkensein, Liebe und Familienthemen waren ihr Beritt, sie zeichnete die Freuden des Alltags, die guten Dinge der neuen Ordnung. Hinzu traten vielfältige Hilfen zur Alltagsgestaltung, kleine Anleitungen im Sinne des NS-Regimes.

Zeichnungen als Alltagshilfe: Aufhängen nasser Kleidung und Vorgartenentrümpelung (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 6 v. 7. Januar, 1 (l.); Westfälische Landeszeitung 1938, Nr. 317 v. 22. November, 7)

Parallel illustrierte sie Jugendbücher, etwa das in der Tschechoslowakei später verbotene „Jungmädelleben“ der Gauführerin und Pressereferentin in der Reichsjugendführung Trude Höing (Trude Höing, Jungmädelleben. Ein Jahrbuch für 8-14jährige Mädel, Leipzig 1934; Lippische Staatszeitung 1934, Nr. 325 v. 12. Dezember, 6; Illustrirte Zeitung 185, 1935, 388). Erika Beccard-Pilius visualisierte das NS-Frauenbild, zeigte, „wie das Jungmädel als Glied seiner Organisation auf das kampf- und arbeitsreiche Leben einer deutschen Frau vorbereitet wird“ (National-Zeitung 1936, Nr. 265 v. 12. November, 8). Hinzu traten „Kulturarbeiten“ im Umfeld der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (Wolfgang Hirschfeld, Die Betreuung des Dorfes, 31.-35. Tsd. Berlin 1937). Sie lieferten im Kampf gegen die „Landflucht“ Anregungen für Dorfgemeinschaftsabende, insbesondere Theaterarbeit, Musik, Gesang und Marionettentheater (Kulturarbeit auf dem Lande, Beobachter für das Sauerland 1937, Nr. 208 v. 4. August, 3). Der Kontext war agrarromantisch, auch rassistisch (Wolfgang Hirschfeld, Bäuerliche Volkstumsarbeit auf rassischer Grundlage, Rasse 2, 1935, 336-345). Beccard-Pilius‘ Zeichnungen waren freundlich, nett, visualisierten Vorstellungen einer gelingenden Volksgemeinschaft, traditionsbewusst und schollengebunden (Otto Schmidt (Hg.), Feste und Feiern im Jahresring, Berlin 1940; Wilhelm Schleef, Düet es dat Bauk van Schulte Wuordelbuk, hg. aus Anlass d. 800-Jahrfeier d. Ortsteils Dortmund-Sölde v. d. Bauerschaft Sölde in Verb. mit der NS.-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ Kreis Dortmund, Abt. Volkstum-Brauchtum, Dortmund 1938). Wilhelm Schleefs (1889-1968) Band wurde 1971 von der Stadtsparkasse Dortmund neu aufgelegt, unverändert, mit einer Schallplatte ergänzt.

Die junge Zeichnerin etablierte sich lokal, lieferte die Dekoration für das Dortmunder Pressefest 1937 (1500 vergnügte Menschen, Tremonia 1937, Nr. 66 v. 8. März, 5), begann einzelne Zeichnungen über den Deike-Materndienst auch überregional zu platzieren (Ebd. 1937, Nr. 222 v. 25. September, 21; Zeno-Zeitung 1937, Nr. 203 v. 25. Juli, 14). Sie waren zumeist „unpolitisch“, Kinderthemen, Landschafts- und Stadtansichten. 1939 zeichnete sie den Weihnachtsgruß für die Branchenzeitschrift „Deutsche Presse“ (Ebd. 29, 1939, 420). Erika Beccard-Pilius war lokal verwurzelt und überregional bekannt. Politische Themen bediente sie selten, doch sie bediente sie. Frausein mochte helfen, die Simplicissimus-Karikaturistin Franziska Bilek (1906-1991) konnte mit dem Verweis, dass Politik nur etwas für Männer sei, die gängigen, vielfach antisemitischen und antibolschewistischen Hetzzeichnungen dieser bis heute gern als „kritisch“ verklärten NS-Zeitschrift großenteils vermeiden. Erika Beccard-Pilius näherte sich staatpolitisch unmittelbar relevanten Themen in kleinen Schritten, etwa in Zeichnungen gegen die insbesondere von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) seit 1934 immer wieder kritisierten Miesmacher und Meckerer, Spießer und Klatschbasen, präsentierte den Nationalsozialismus als jugendliche Kraft überlegener Moral und wechselseitiger Rücksichtnahme (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 357 v. 31. Dezember, 18). Ihr Harmonieideal war das der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Gleichsam folgerichtig lieferte sie auch eigene, ergänzende Beiträge zu staatlichen Propagandakampagnen, etwa den Eintopfsonntagen oder der Groschengrab-Kampagne.

Beiträge zu staatliche Propagandakampagnen: Groschengrab und Eintopfsonntag (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 219 v. 15. August, 1 (l.); Bremer Zeitung 1939, Nr. 71 v. 12. März, 14)

Während des Weltkrieges zeichnete Erika Beccard-Pilius unverdrossen weiter, meist schöne und nette Alltagsgeschichten, ebenso Landschaften und viele markante Gebäude. Doch sie veröffentlichte zugleich Arbeiten, die im Sinne des NS-Regimes freundlich anleiteten, nationalsozialistische Moral vor Augen führten. Höflichkeit und wechselseitiger Respekt wurden (im Rahmen und in Weitung einschlägiger staatlicher Kampagnen) vor Augen geführt – und das ging bis hin zum Umgang mit den Exkrementen der Mitte des Krieges nicht mehr allzu zahlreichen Hunde.

Für Höflichkeit zwischen Verkäuferinnen und Käuferinnen, für die Beseitigung der Exkremente des eigenen Hundes (Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 63 v. 5. März, 5 (l.); ebd. 1942, Nr. 186 v. 16. Juli, 5)

Ausgrenzung der Gemeinschaftsfremden: Anonyme Briefschreiberin und – im historischen Umfeld – der jüdische Hausierer (Westfälische Landeszeichnung 1944, Nr. 70 v. 23. März, 3; ebd. 1944, Nr. 76 v. 30. März, 3)

Nationalsozialistische Moral sollte die Volksgemeinschaft prägen, definierte und bekämpfte zugleich auch Gemeinschaftsfremde. Sie waren teils grotesk-drastisch, wie das obige Porträt einer anonymen Briefschreiberin, teils stereotyp wie die nebenstehende Illustration eines jüdischen Hausierers. Beccard-Pilius stellte ihre Arbeiten auch aus, als Teil der nationalsozialistischen Künstler der Gegenwart (Ausstellung im „Dietrich-Eckart-Haus“, Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 163 v. 20. Juni, 8). Dominant aber blieben, zumal in der Kolumne „Das bunte Leben“, Eindrücke aus dem kleinbürgerlichen Alltagsleben, dann vielfach eskapistische Naturzeichnungen resp. Abbilder der imaginierten friedlichen und guten Welt vor dem Krieg, eines schönen Septembertages, eines trommelnden Spechtes oder aber der Weinlese. Insgesamt harrt eine vierstellige Zahl von Zeichnungen ihrer stärker systematischen Erschließung.

Wassersparen als Aufgabe der Hausfrau (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 98 v. 27. April, 4 (l.); ebd. 1943, Nr. 258 v. 4. November, 5)

Die Schaffung und Zeichnung der Wasserplansche passte in dieses Umfeld, die mit der Wasserversorgung verbundenen Alltagsfährnisse fanden auch nach Ende dieser Nebenkampagne zu Kohlenklau weiter Beachtung. Auch Texter Kondi bediente kontinuierlich das Feld: „Wasser, das zwar noch keine Kostbarkeit ist, wie in der Wüste, das wir aber trotzdem so behandeln wollen, wie alle Dinge, die wir brauchen: sinngemäß, vernünftig und so, daß sie den größten Nutzen für unsere Kriegsanstrengungen bringen!“ (Kondi, Hier muß was zugedreht werden…, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 258 v. 4. November, 5). Erika Beccard-Pilius zeichnete bis Ende 1944, dann erfolgte ein Bruch, erst 1949 findet man vereinzelte Anknüpfungen an die produktive Arbeit während der NS-Zeit (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 278 v. 28 November, 3; Westfälische Nachrichten 1949, Nr. 85 v. 21. Juli, 4).

Näheres zum Umbruch, zur Entnazifizierung, zum Neubeginn gibt es kaum. Die nun durchweg als Erika Pilius-Beccard erscheinende Zeichnerin nahm 1947 erstmals wieder an einer regional ausgerichteten Ausstellung im Hagener Karl-Ernst-Osthaus Museum teil (Martin Papenbrock, „Entartete Kunst“, Exilkunst, Widerstandkunst in westdeutschen Ausstellungen nach 1945. Eine kommentierte Bibliographie, Weimar 1997, 226). In den Vordergrund traten jedoch Illustrationen für Fibeln und Kinderbücher: Die nicht mehr als solche tätige NS-Pressezeichnerin schuf eine heile Welt für Kinder, für Leseunterricht in der Grundschule (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1947; Lüdenscheid 1947; ebd. 1948, 1951 und 1953). Pilius-Beccard nutzte ihre persönlichen Kontakte für Arbeitsmöglichkeiten, sicher auch für gebrochene Formen der Selbstfindung. Zum Kinderbuch „Die ertrunkene Sonne“ (Frowalt von Woldenberg [d.i. Karl Heinrich Schmidt], Die ertrunkene Sonne und andere Märchen, Recklinghausen 1943, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; 1-5. Tsd. und 6.-10. Tsd. Recklinghausen 1948) hieß es beredt: „Das titelgebende Märchen ist noch ganz vom Trauma des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt.“

Bildwelten in der Nachkriegszeit (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Lüdenscheid 1948, 34)

Weitere Illustrationsarbeiten folgten (Otto Blensdorf, Was sollen wir spielen und singen. Spielturnformen und daraus entstandene Spiel- und Bewegungslieder für Kindergarten, 1. und 2. Schuljahr, Bad Godesberg 1947; Paula Münster, Walddorle und andere Märchen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; Recklinghausen 1948; Georg Breuker, Es klopfte dreimal an mein Tor. Ein Sommeridyll, Bochum 1950). Doch dann endeten einschlägige Arbeiten, mit Ausnahme der Illustration eines späten Buches des Bochumer Schriftstellers Georg Breuker (1876-1964) (Gedichte eines Bergmanns, Hattingen 1961).

Fassen wir zusammen, so unterschied sich Erika Beccard-Pilius Karriere deutlich von der Hans Landwehrmanns. Als Frau leistete sie mit der Wasserplansche einen ergänzenden Beitrag zur Kohlenklau-Kampagne, der versuchte, nationalsozialistische Propagandaziele mit den nur teils deckungsgleichen Wünschen der Leserschaft miteinander in Balance zu bringen. Dazu war ihre Arbeit besonders geeignet, denn sie chargierte während der NS-Zeit zwischen schönen Bildern eines fröhlichen und guten Lebens und den aus ihrer Sicht berechtigten Anforderungen der Volksgemeinschaft und des Regimes. Erika Beccard-Pilius steht für die Einbindung und Nutzung eines zerbrechenden nationalen Bildungsbürgertums, das mit dem Nationalsozialismus kooperierte, ihm gläubig diente, ohne aber in ihm aufzugehen. Diese in den Bildern auch und gerade der Wasserplansche offenkundige Differenz ermöglichte zugleich eine breitere Wirkung der staatlichen Propagandakampagne. Erika Beccard-Pilius baute Brücken, begünstigte das letztlich willige Mitmachen in zunehmend kritischer Zeit, war Teil einer bis zur totalen Niederlage selbstverachtend mitziehenden Volks- und Kampfgemeinschaft.

Humor als popularisierendes Element der Sparsamkeitsappelle

Die Wasserplansche war gewiss der groteske Höhepunkt in der Ausdifferenzierung der Kohlenklau-Kampagne. Sie unterstrich deren Vielgestaltigkeit, die so gewiss nicht geplant war, die aber wesentlich zu ihrer Popularität, eventuell auch zu begrenzten Erfolgen im Sinne des NS-Regimes führte. Während die Wasserplansche-Zeichnungen jedoch noch einen inneren Zusammenhalt besaßen und eine zusammenhängende Geschichte ermöglichen, gilt dies kaum für die abschließend nur anzureißenden vielen kleinen Einzelinitiativen im Umfeld der Kohlenklau-Kampagne. Sie spielten mit den Vorlagen der staatlichen Propaganda, machten sie handhabbar, zu etwas Eigenem. Doch war es NS-Propaganda, wenn Klein-Erika im zur Ersatzbadewanne mutierten Kohleneimer posierte? War dies nicht eher Ausdruck von nicht stillzustellender und doch lenkbarer Phantasie, die für die Leistungsfähigkeit jedes Systems unabdingbar ist? Und was bedeutet dieses Eindringen der Propaganda in die Alltagsbilder für die Analyse der NS-Propaganda als solcher?

Kohlenklau ein Schnippchen schlagen: Humoristische Überdeckung der Alltagsenge (NS Frauen-Warte 12, 1944, 174)

Viele professionelle Zeichner vermengten die politische Zeichnung, die regimetreue Verächtlichmachung des Feindes, mit der Kohlenklau-Kampagne. Dafür gab es keine Anweisung, so etwas erfolgte eigenständig. Das galt auch für die Schaufensterdekoration in der 1809 gegründeten Karlsruher Eisenwarenhandlung Hammer & Helbing: Turmtöpfe lenkten auf das eigene Angebot. Doch im Hintergrund lugte Kohlenklau, gierte nach Energie, auch nach Zuschauern der Inszenierung seiner Schandtaten (Der Führer 1943, Nr. 83 v. 24. März, 3). Endlich ein Schauspiel „Alle gegen Einen“ (Ebd. 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 4).

Kohlenklau als Statthalter Churchills (Oldenburgische Staatszeitung 1943, Nr. 169 v. 25. Juni, 6)

Die Vielgestaltigkeit der Kampagne spiegelte sich auch in immer neuen Sprachkreationen. Groschengrab und Kohlenklau galten nicht nur als Energie-, sondern auch als „Zeitdiebe“ (Nur eine halbe Stunde!, Die Bewegung 11, 1943, 67). Der NS-Vorzeigehumorist Emmerich Huber (1903-1979) visualisierte den „Stundenklau“, auch den „Kartoffelklau“ (Arbeitertum 12, 1943, Nr. 10, 8; ebd. 13, 1944, Nr. 9, 8). Im Lexikon der deutschen Gegenwartssprache finden sich weitere Komposita, unter anderem der Nervenklau.

Auch visuell schrieb man die Kohlenklau-Kampagne fort: Hans Landwehrmann zeichnete 1943/44 für den Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung den „Dreckspatz“ für Kampagnen zum schonenden und chemikalienarmen Wäschewaschen (Kohlenklau als Wäschemarder, Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 153 v. 4. Juli, 4). Kohlenklau inspirierte neue NS-Propagandawelten, auch wenn die von Erika Beccard-Pilius geschaffene Wasserplansche kein Pendant hatte. All dies war funktional für die neuerliche Mutation des Kohlenklaus in der Nachkriegszeit, in der er begründete Widerständigkeit verkörperte, den Diebstahl von Kohle und mehr für das eigene Wohlbefinden oder gar das Überleben insbesondere im Winter 1946/47.

Fazit: Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda

Wie funktionierte NS-Propaganda? Unsere empirisch valide, gleichwohl teils nur an der Oberfläche kratzende Analyse konnte belegen, dass von einer gleichsam in sich geschlossenen Kohlenklau-Kampagne auch nicht ansatzweise die Rede sein kann. So gewichtig und alltagsprägend die Propaganda auch war, so war sie doch nicht einzigartig, denn „Squander Bug“ verweist auf ähnliche, aber doch anders ausgerichtete Kampagnen der westlichen Demokratien, deren Kriegswirtschaft ähnliche Probleme wie das NS-Regime zu bewältigen hatte und zu ähnlichen Negativgeneralisierungen griff. Kohlenklau war die umfangreichste NS-Propagandakampagne während des Zweiten Weltkrieges. Doch sie wurde durch die vielfach eigenständigen Parallelaktionen der Privatwirtschaft nicht nur umkränzt, sondern von der Motiv- und Anzeigenzahl her übertroffen. Werkzeitungen und Annoncen griffen die Kohlenklau-Figur folgsam und doch eigenständig auf, nutzten deren Popularität für eigene Zwecke in den Betrieben und bei der Vermarktung. Die Wasserplansche-Kampagne schrieb die Hauptgeschichte weiter, machte Kohlenklau zum Anhängsel, zur Unterhaltungsware, zur Lachnummer. Dies entsprach der Wahrnehmung der Figur durch die Volksgenossen, die sich in ihrem Alltag an vielen weiteren Fortschreibungen erfreuten. So sehr die Sparsamkeitsideale des NS-Regimes und der Privatwirtschaft auch grundsätzlich geteilt wurden, so enthielt Kohlenklau doch zugleich ein kritisches, rückfragendes, auf die Praxis der NS-Eliten gerichtetes Moment. Die kriegsbedingte Einschränkung der Zeitungen und Zeitschriften hob Kohlenklau unverdient besonders hervor, die Kunstfigur wurde eine auch eigenständig genutzte Projektionsfläche für Ansprüche abseits der Kriegsnotwendigkeiten. Diese Vielgestaltigkeit, teils auch Widersprüchlichkeit machten Kohlenklau zur besterinnerten Kampagne ihrer Zeit, waren auch Garanten für ihre Uminterpretation in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Wie funktionierte NS-Propaganda? Gewiss nicht so, wie es uns die großen politischen Inszenierungen, die Selbstdarstellung des Regimes und auch deren zu enge Analyse in der Geschichtswissenschaft nahelegen.

Uwe Spiekermann, 19. April 2025

Anzeigenappell: Inseratenwerbung in der NS-Presse 1935

„Wie kecke doch und schlichte / Sich drängen Zeil‘ an Zeil‘; / Es liegt Kulturgeschichte / In dem Annoncentheil!“ (Das Inserat, Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 27, 4) Dieser Vers fiel mir ein, als ich bei einer abendlichen Durchsicht der Neuen Westfälischen Zeitung eine Anzeige entdeckte, die ich gleich dem Graphiker Emmerich Huber (1903-1979) zuordnen konnte, einem führenden NS-Humoristen, der anpassungswillig später auch Kriegspropaganda und antisemitische Hetze betrieb.

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Ein Fundstück abendlicher Recherche (Westfälische Neueste Nachrichten 1935, Nr. 7 v. 9. Januar, 8)

„Braucht man am Nordpol Badehosen?“ Tja… Was steht hinter einem solchen Fundstück vom Januar 1935? Man lacht, gewiss, denn Pinguine gab es dort nicht. Doch es geht offenkundig um Werbung für die Werbung, um das Inserieren in Tageszeitungen. Die im Rechteck genannte Zahl verweist auf eine größere Kampagne. Ich habe weiter recherchiert, die Einzelquelle zeithistorisch eingebettet, sie „kontextualisiert“. Heraus kam eine seismographische Bohrung in die frühe, von der Forschung weniger beachtete Zeit des NS-Regimes. Sie führt uns zurück in die Dauerkrise der NS-Wirtschaft, abseits der außenpolitischen „Erfolge“, der innenpolitischen Stabilisierungsmaßnahmen, abseits der mehrheitlich gebilligten, mit Gewalt und Gewaltandrohung begleiteten Maßnahmen gegen staatlich definierte Minderheiten. Sie führt uns in den Alltagsbereich der Presse, der Tageszeitungen, die durch die Nachklänge der Weltwirtschaftskrise, Zeitungsverbote, durch Übernahmen und wirtschaftlichen Druck in eine neue, dienende und erklärende Rolle für das Regime gedrängt wurden. Die Kontextualisierung muss Zeitungen als Wirtschaftsunternehmen ernst nehmen, die sich nicht zuletzt aus Einnahmen aus Inseraten finanzierten. Sie wird Mittlerinstitutionen benennen, die im Sinne des NS-Staates die Werbung beeinflussten und lenkten. Und sie gibt auch einen Blick frei auf die Wandlung eines Graphikers hin zum Dienst für ein Regime, das öffentlich Moral hochhielt und beschwor, das zugleich von täglicher Korruption und Heuchelei geprägt war. All das steckt in diesem Fundstück über Badehosen am Nordpol. Lesen Sie weiter, wenn Sie dies interessiert.

Zerschlagung und Neuordnung: Presse und NS-Regime 1933/34

Wie war die Lage der Presse zu Beginn der NS-Zeit? Das NS-Regime erscheint uns heute kaum in Form gedruckter Texte, sondern vor allem bildmächtig, in Wochenschauschnipseln, Massenkundgebungen, den Inszenierungen der NS-Granden und zahllosen Kinofilmen. Propaganda ist darin allgegenwärtig, mag dieser Begriff auch schwer zu fassen, noch schwerer analytisch zu nutzen sein (Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 527-559). Daneben hören wir in gängigen Dokumentationen schnarrende Stimmen, die Reden der Spitzenpolitiker, die Fanfaren des Wehrmachtsberichts, Marschmusik und Wunschkonzert. Doch der Rundfunk wurde erst langsam Allgemeingut. Obwohl das Billigradio des „Volksempfängers“ ab August 1933 angeboten wurde, kann man doch erst ab 1937 von Massenverbreitung sprechen. Nicht die Presse, sondern die audiovisuellen Medien prägen den heutigen Blick auf die NS-Zeit. In der Frühphase der Diktatur aber dominierten Tageszeitungen (und auch Zeitschriften) die Alltagsberichterstattung, das Wissen der Mehrzahl (Karl-Christian Führer, Die Tageszeitung als wichtigstes Massenmedium der nationalsozialistischen Gesellschaft, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55, 2007, 411-434; Rudolf Stöber, Presse im Nationalsozialismus, in: Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel (Hg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn et al. 2010, 275-294).

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Presse als Meinungsmacht, als Grundlage des Weltwissens (Das Magazin 9, 1932/33, Nr. 98, 58)

Bei der Presse aber scheint das Erbe der Weimarer Republik überwältigend; und schon sind da Erinnerungsfetzen an die kulturelle Blüte der Zwischenkriegszeit. Folgt man dem Handbuch der deutschen Presse, gab es 1932 4.703 Zeitungen, darunter 980 Nebenausgaben (Konrad Dussel, Die Nazifizierung der deutschen Presse. Eine Fallstudie am Beispiel der Presse Badens 1932 bis 1944, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 161, 2013, 427-456, hier 428). Die Auflagenhöhe ist schwer zu bestimmen, schwankte je nach Einbezug der Nebenausgaben zwischen 26 und ca. 19 Millionen. Das ist viel im Vergleich zu heute – im ersten Quartal 2024 wurden 10,4 Mio. Tageszeitungen verkauft – zugleich aber deutlich weniger als 1983, als 30,1 Mio. verkaufte Exemplare einen Höhepunkt in der Verkaufsgeschichte der deutschen Tagespresse markierten (Andreas Vogel, Talfahrt der Tagespresse: Eine Ursachensuche […], Bonn 2014, 19). Die Weltwirtschaftskrise führte Anfang der 1930er Jahre zum Abschmelzen der Zahlen, während die neuen Medien Radio und Kino (mit ersten Tonfilm-Wochenschauen ab 1930) absolut und relativ an Bedeutung gewannen.

Auch wenn die Vielgestaltigkeit, Informationsdichte und Periodizität der Tagespresse der frühen 1930er Jahre selbst die des späten Kaiserreichs übertraf, waren die ökonomischen Probleme jedoch beträchtlich. Die große Mehrzahl der Tageszeitungen hatte eine nur geringe Auflage. 1935 gab es lediglich zwölf Tageszeitungen mit eine Verkaufsauflage von mehr als 100.000 Exemplaren, über 30.000 lagen nicht einmal hundert Titel (Otto Suhr, Der deutsche Anzeigenmarkt, Werben und Verkaufen 20, 1936, 244). Die Tageszeitung war allgemein etabliert, doch das deutsche Zeitungswesen war dezentral organisiert – auch wenn die Großstädte von der Zahl der Zeitungstitel herausragten. Die große Mehrzahl der Zeitungen erschien in Klein- und Mittelstädten. Der Inhalt dieser Zeitschriften war abhängig von Nachrichtenagenturen und Materndiensten. Grundlage der wirtschaftlichen Existenz waren einerseits die während der Weltwirtschaftskrise sinkenden Abonnements, kaum aber der sichtbare Straßen- oder Kioskhandel. Daneben traten anderseits die Anzeigen: „Die große Presse lebt heute durchweg nicht von den Einnahmen der Verkaufskosten, die gerade die Herstellungs- und Vertriebskosten decken, sondern vom Inserat. Der Inseratenteil ist das Barometer für ihre wirtschaftliche Gesundheit. Es ist zugleich die Stelle, an der sie empfindlich getroffen werden kann“ (Eugen Hadamovsky, Propaganda und nationale Macht. Die Organisation der öffentlichen Meinung für die nationale Politik, Oldenburg 1933, 116). Dieser Markt war seit dem Kaiserreich fest in der Hand von Annoncen-Expeditionen, also Agenturen, die im Auftrage ihrer Kunden Anzeigen schalteten, vielfach auch gestalteten, dafür aber gewisse Gebühren und Rabatte verlangten. Lange dominierte die 1867 gegründete Berliner Firma Rudolf Mosse den Anzeigenmarkt, doch seit 1920 trat mit der ALA ein weiterer Großbetrieb hinzu. Es handelte sich um eine Gründung der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, die zum Kernstück des konservativ-nationalen Hugenberg-Konzerns werden sollte, gewolltes Gegengewicht zum liberal eingestellten Mosse-Konzern. Anzeigen- und Zeitungsmacht gingen dabei Hand in Hand. Während der Weltwirtschaftskrise gerieten die Annoncenexpeditionen allerdings unter massiven wirtschaftlichen Druck. Der Umsatz der ALA sank von 1929 bis 1932 auf fast die Hälfte. Mosse verschleppte die Insolvenz, die offiziell erst am 12. Juli 1933 erklärt wurde (Ulrich Döge, Max Winkler. Ein treuer Diener vieler Herrn, Hamburg 2022, insb. FN 1420). Zuvor war das Unternehmen im April 1933 an die neu gegründete Rudolf Mosse GmbH zwangsübertragen worden (Claudia Marwede-Dengg, Die Enteignung der Familie Lachmann-Mosse (MARI (mari-portal.de)). Im Mai 1934 wurde die seither den Markt klar dominierende ALA im Rahmen der Zerschlagung des Hugenberg-Konzerns vom nationalsozialistischen Franz-Eher-Verlag übernommen. Damit gewannen NSDAP und Staat einen weiteren wirtschaftlichen Hebel zur Kontrolle der Presse.

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Zeitungsverbote als Mittel der Stabilisierung während der Präsidialkabinette 1931/32 (Vorwärts 1932, Nr. 409-415 v. 3. September, 1 (l.); Kladderadatsch 84, 1931, Nr. 22, s.p.)

Zuvor hatte der Maßnahmenstaat Fakten geschaffen. Im Februar und März 1933 wurde die linke Presse verboten, im Gefolge auch liberale und einzelne zentrumsnahe Zeitungen – wobei dies anfangs durchaus in der Tradition zeitlich begrenzter Zeitungsverbote durch die Präsidialkabinette stand. Die zuvor nicht wirklich bedeutende NSDAP-Presse wurde nun massiv ausgebaut. Wichtiger war jedoch die Selbstgleichschaltung der meisten Tageszeitungen, vielfach willig, immer aber auch mit Gewalt resp. Gewaltdrohung. Dazu diente auch das brutale Vorgehen gegen linke, demokratische und jüdische Journalisten, die das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 gleichsam legalisierte. Redakteure mussten rassischen und politischen Kriterien genügen, als Mitglieder der im November 1933 gegründeten Reichspressekonferenz dem nationalsozialistischen Staat gegenüber loyal agieren. Tägliche Presseanweisungen folgten. Parallel nahm der wirtschaftliche Druck auf die bestehenden Zeitschriften zu. „Arisierungen“ erfolgten, doch auch „bürgerliche“ Zeitschriften wurden zunehmend von NS-Verlagen, insbesondere dem Franz-Eher-Verlag übernommen. Politische Kontrolle und wirtschaftliche Übernahmen verwoben sich.

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Zeitungsverbote im Gefolge der Notverordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat v. 28. Februar 1933 (Der Kuckuck 5, 1933, Nr. 10, 1)

Die Zahl der Zeitungen nahm weiter ab, die gesamte Druckauflage sank. Die Verbote trafen vornehmlich sozialdemokratische und kommunistische Leser, denn diese verweigerten sich anderen Angeboten der gleichgeschalteten Presse (Karl Christian Führer, Umbruch und Kontinuität auf dem Hamburger Zeitungsmarkt nach 1933, Repositorium Medienkulturforschung 2013, H. 2, 16). Ansonsten aber herrschte 1933 eher Kontinuität durch Selbstgleichschaltung. Das aber betraf nicht nur Verleger und Journalisten, „sondern auch die Käufer der Tageszeitungen[, die] das Ende der freien Presse im Jahr 1933 schweigend und ohne erkennbare Reaktion hinnahmen“ (Ebd.). Neben der wachsenden Einflussnahme von NS-Staat und NSDAP verstärkte sich zugleich die während der Weltwirtschaftskrise nur ansatzweise intensivierte wirtschaftliche Rationalisierung der Presse (Konrad Dussel, Die Nazifizierung der württembergischen Tagespresse, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 78, 2019, 295-325, insb. 324-325). Dazu gehörte auch der Aufbau einer verbesserten Statistik über das Pressewesen. Die ökonomische Bedeutung der Anzeigenwerbung war zwar offenkundig, doch im Gegensatz zur USA gab es keine entwickelte Statistik der Anzeigen (Benno Ludwig Manns, Der wirtschaftliche Wert der Reklame, Badische Wirtschaftszeitung 9, 1929, 25-30; Otto Friebel, Werbungstreibende und Anzeigenstatistik, Werben und Verkaufen 19, 1935, 129-131; Alfons Brugger und Carl Schneider, Der deutsche Anzeigenmarkt, Leipzig 1936, 126-153). Man hoffte, dass der durch die „nationale Regierung“ versprochene Wirtschaftsaufschwung nun die Lage der Verlage verbessern würde, denn damals wurde prozyklisch geworben, wurde also kaum Werbung zur Bekämpfung von Umsatzrückgängen geschaltet. Die Auflagenzahlen des Jahres 1934 waren jedoch ernüchternd. Die Gleichschaltung der Tageszeitungen erodierte langsam deren ökonomische Substanz: Betrug die Druckauflage im ersten Quartal 1934 noch 16.360.349 Exemplare, so sank sie in den drei Folgequartalen über 15.958.993 und 15.742.635 auf lediglich 15.549.220 Exemplare (Die Gesamtauflage der deutschen Zeitungen, Zeitungs-Verlag 41, 1940, 374-376, hier 374). Dies schlug auch auf die an die Auflagen gekoppelten Anzeigenerlöse durch. Lustige Anzeigen über Badehosen am Nordpol waren Teil eines Maßnahmenpaketes, um diesen Schwund zu wenden.

Eigenwerbung: Eine zunehmend relevante Tradition

Mein Zufallsfund warb Anfang 1935 für vermehrte Werbung – doch dies war damals keineswegs neu. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es analoge Bemühungen, allerdings in einem Markt mit wachsenden Druckauflagen, vor dem Hintergrund immer neuer vielfach kleiner Zeitungen.

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Zeitungsreklame als Aufgabe des Geschäftsmannes vor dem Ersten Weltkrieg (Paderborner Anzeiger 1913, Nr. 117 v. 23. Mai, 4)

Derartige Eigenwerbung erfolgte jedoch eher sporadisch, wurde auch genutzt, um Lücken auf den eigenen Seiten zu schließen. Auch in den 1920er Jahren fand sie sich regelmäßig, doch von einem systematischen Einsatz, von einer wissenschaftlich reflektierten Anwendung kann nicht die Rede sein. Das gilt trotz des Wachstums der Werbewirtschaft allgemein, der Absatzorientierung im Speziellen. Für Inserate warben vorrangig die auflagenstärkeren Zeitungen gezielt in Fachzeitschriften einzelner Branchen, auch in der wachsenden Zahl der Werbezeitschriften. Doch dies erfolgte wohl eher durch die Anzeigen-Expeditionen, kaum durch die Zeitungen selbst (E[dmund] Lysinski, Die Organisation der Reklame, Berlin 1924). Deren Eigenwerbung hatte zudem noch keine klare Form gefunden. Sie bestand meist aus einfachen Appellen an die potenzielle Kundschaft, die zumeist an allgemein gehaltene (Vor-)Urteile über die Chancen der Werbung anknüpften: „Inserieren! / Das ist der Punkt, / Um den sich alles dreht, / Ob es im Leben schlecht, / Ob gut es geht. / Am Ende ist es nur die Tat, / Die dem Geschäftsmann / Bringt das Resultat, / Nichts anderes kann / Zu einem Wohlstand führen, / Als immer wieder: / Inserieren! Inserieren!“ (Die Zeitungsanzeige – ein wirksames Reklamemittel, Der Volksfreund 1927, Nr. 134 v. 11. Juni, Sdrbeil., 4). Erst Ende der 1920er Jahre führte die wachsende Verwissenschaftlichung der Absatzlehre und des Marketings zu neuartigen Formen. Auf Basis des gängigen Handbuchwissens der Zeit extrahierten einzelne Zeitungen beispielsweise Anzeigenserien, sog. Reihenwerbung, in denen sie Händler und Gewerbetreibende auf moderne Absatzorientierung – und damit auch eine systematische Anzeigenwerbung – verwiesen. Die folgenden textlastigen Anzeigen entstammen etwa einer 19-teiligen Serie der Zentrumszeitung Westdeutsche Landeszeitung, die im Oktober 1933 ihr Erscheinen einstellte.

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Den Werbetreibenden über die Werbung aufklären: Eine Anzeigenreihe 1930 (Westdeutsche Landeszeitung 1930, Nr. 286 v. 18. Oktober, 13 (l.); ebd., Nr. 304 v. 6. November, 12)

Derartige Eigenwerbung spiegelte den zunehmend reflektierteren Einsatz der Werbemittel, der durch den Bedeutungsgewinn leistungsfähiger Werbeagenturen und einer wachsenden Zahl von Werbeabteilungen zugleich professionalisiert wurde. Für kleinere Firmen gab es eine wachsende Zahl von Ratgebern, in denen die organisatorischen und insbesondere betrieblichen Aufgaben umrissen und gewichtet wurden. Werbung war unverzichtbar, stand zugleich aber erst am Ende einer langen Kette innerbetrieblicher Maßnahmen (Viktor Vogt, Taschenbuch der Geschäftstechnik, 2 Bde., 2. Aufl., Stuttgart 1926; ders., Absatzprobleme. Das Handbuch der Verkaufsleitung für Erzeuger, Groß- und Einzelhändler, 2 Bde., Stuttgart und Wien 1929). Zeitungsinserate befanden sich im Wettbewerb mit anderen Werbemitteln, mit den vielfältigen Formen der Direktwerbung, der Zugaben und der Außenwerbung.

Zeitungsinserate besaßen Ende der 1920er Jahre allseits akzeptierte Vorteile, vorrangig die dichte Streuung in klar umgrenzten Gebieten und die dadurch mögliche Anpassung an die lokalen und regionalen Besonderheiten. Das häufige Erscheinen erlaubte Intensität, einen Eindruck von Neuigkeit und Dynamik. Zeitungsinserate waren billiger als Zeitschrifteninserate, zudem erfolgten sie in enger Kooperation zwischen Hersteller und Einzelhändler, erlaubten also parallele Werbung für Produkte und Produktgruppen. Doch es gab auch Nachteile: Das Zeitungspapier war qualitativ schlechter als das gängiger Zeitschriften, Beilagen federten dies nur ansatzweise ab. Inserate hatten keine Langzeitwirkung, wurden Zeitungen doch nicht aufbewahrt oder wiedergelesen. Markenartikler und Werbeagenturen waren vielfach nicht in der Lage, sich mit den Besonderheiten der lokalen und regionalen Märkte zu befassen; das relative Scheitern der „amerikanischen“ Werbung seit Ende der 1920er Jahre war dafür beredtes Beispiel. Zeitungsanzeigen standen zudem nicht allein, insbesondere bei Großformaten verschwand die Einzelanzeige angesichts der Menge der Anzeigen. Obwohl die Partei- und die konfessionelle Presse noch relativ homogene Milieus ansprachen, war außerdem eine genaue Zielgruppenansprache nicht möglich, da der Leserkreis einer Lokalzeitung recht heterogen war (Vogt, 1929, 570-572). Die Relation von Reklamepreis und Reklamewert blieb auch theoretisch unklar, da Werbeeffekte vielfach kaum zugerechnet werden konnten (Joh. Schupp, Reklamepreis und Reklamewert, Seidels Reklame 14, 1930, 414-415).

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Anzeigennot während der der Weltwirtschaftskrise (Der Führer 1932, Nr. 326 v. 16. Dezember, 8)

Während der Weltwirtschaftskrise nahm die Eigenwerbung angesichts der „Anzeigennot“ tendenziell zu. Sie stand damit gegen den prozyklischen Trend der Konsumgüteranbieter, die durch ihre wachsende Zurückhaltung die Krise tendenziell verstärkten: „Im Laufe der schlimmsten Krisenzeiten hat er [der Einzelhändler, US] sich aber vielfach unter dem Gesetz radikalster Ersparung selbst produktiver Unkosten das Zeitungswerben ‚abgewöhnt‘, und ist noch nicht genügend wieder darauf zurückgekommen“ (Das Schaufenster allein tut’s nicht!, Sauerländisches Volksblatt 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 3).

Prozyklisch wirkte sich auch die zunehmende Werbeabstinenz der Annoncen-Expeditionen selbst aus. Sie erfüllten zwar weiterhin ihre üblichen Aufgaben, also die möglichst kostengünstige und wirksame Platzierung, zudem die Gestaltung der Anzeigen (vgl. zum Profil Zeitungs-Katalog der Annoncen-Expedition Rudolf Mosse, 46. Aufl., Berlin 1913, VII-VIII). Angesichts ihrer wachsenden ökonomischen Probleme versuchten sie aber nicht, den Werbemarkt insgesamt zu vergrößern, sondern konzentrierten sich auf den unmittelbaren Wettbewerb mit Konkurrenten. Preisunterbietungen, Kundenabwerbungen und Einschüchterungsversuche konnten die Probleme allgemein massiv schrumpfender Werbeausgaben jedoch nicht regeln (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing, Berlin 1993, 114-115).

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Gezielte Werbung für die Werbung – durch Annoncenexpeditionen (Ulk 61, 1932, Nr. 14, 2)

Die bestehenden ökonomischen Probleme der Tageszeitungen wurden nach der Machtzulassung der Koalition von NSDAP und Konservativen trotz eines begrenzten Wirtschaftsaufschwungs 1933/34 kaum geringer. Das lag nicht allein am politischen und wirtschaftlichen Druck und den Folgen der (Selbst-)Gleichschaltung. Das war auch Folge dirigistischer, vermeintlich mittelstandsfreundlicher Eingriffe in die Wirtschaft. Errichtungsverbote bei Warenhäusern, Einheitspreisgeschäften und Konsumgenossenschaften minderten das Anzeigengeschäft, ebenso die währungspolitisch gebotenen Produktionsbeschränkungen in Handel und Gewerbe. Angesichts von Devisenzwangswirtschaft und Importrestriktionen wurde zahlreiche Rohstoffe knapp, so dass die Werbung für daraus gefertigte Produkte entfiel. Viele Anbieter und Händler beobachteten propagandistisch gefeierte staatliche Interventionen mit gebotener Skepsis, etwa die Regulierung des Radio- und Automobilsektors oder aber der Zwang zum Einsatz heimischer Ersatzstoffe, etwa in der Margarine oder dem Brot. Auch die staatlich propagierte Gemeinschaftswerbung zu Weihnachten, für Elektrogeräte oder heimische Agrarprodukte minderte den Wettbewerb, bewirkte Werbezurückhaltung (Heinrich Hunke, Ein Jahr Werberat der deutschen Wirtschaft. Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Werberates der deutschen Wirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 56-60, hier 59).

Gleichwohl hatte die Zeitungsannonce weiterhin eine dominante Stellung in der deutschen Werbewirtschaft. 1934 machte sie 55% des gesamten Werbemarktes aus, während Anzeigen in Zeitschriften auf 28% und Plakate auf 6% kamen. Auch bei der Markenartikelwerbung dominierte die Anzeige mit einem Anteil von 55%, während die Außenreklame hier beträchtliche 25% erreichte (Die Zeitungsanzeige steht an der Spitze, Neusser Zeitung 1935, Nr. 13 v. 13. Januar, 2). Für die Zeitungsverleger war dies eine noch kommode Ausgangslage – trotz der durchaus erörterten „Uniformierung der Presse in politischer Hinsicht“ (Verband der Werbungtreibenden „werbefreudig“, Frankfurter Zeitung 1934, Nr. 616 v. 4. Dezember, 7). Der Anzeigenappell im Januar 1935 sollte die Dinge zum Guten wenden.

Der Reichsverband der Anzeigenmittler

Die Serie, von der die Anzeige für Badehosen am Nordpol ein Teil war, war jedoch auch Teil der für das NS-Regime (und alle modernen Gesellschaften) charakteristischen institutionellen Konkurrenz. Die viel beschworene Neuordnung der deutschen Werbewirtschaft, die die NS-Regierung mit dem Gesetz über die Wirtschaftswerbung vom 12. September 1933 auch in rechtlich-bürokratische Formen gegossen hatte, gab den Rahmen vor. Am 27. Oktober 1933 wurde der Werberat der deutschen Wirtschaft gegründet, eine Körperschaft des öffentlichen Rechtes mit starkem Einfluss der Wirtschaft. Er ordnete das Anzeigenwesens neu, beendete die „Mißstände“ einer Marktgesellschaft. Verleger und Werbewirtschaft hatten seit den späten 1920er Jahren immer wieder staatliche Regulierung gefordert: Das Anzeigengeschäft sollte transparent und berechenbar werden, die Aufgaben der Annoncenexpeditionen klar umrissen sein. In seiner 3. Bekanntmachung lieferte der Werberat, normierte die Anzeigenbreiten, etablierte verbindliche Allgemeine Geschäftsbedingungen, regulierte Rabatte und verpflichtete die Periodika zu Auflagentransparenz, regelmäßigen Meldungen, persönlicher Haftung und einer Werbeabgabe (Der Werberat ordnet das Anzeigenwesen, Badische Presse 1933, Nr. 547 v. 23. November, 8). All das hatte seinen Preis: Einerseits wurden die nun Anzeigenmittler genannten früheren Annoncen-Expeditionen als Berufsgruppe in die Nationalsozialistische Reichsfachschaft Deutscher Werbefachleute zwangsintegriert, mussten sich also an der politischen und rassistischen Elle des Regimes messen lassen (Uwe Westphal, Werbung im Dritten Reich, Berlin-West 1989, 57). Anderseits stellte der Werberat die gesamte Werbung unter Aufsicht und in den direkten Dienst für den NS-Staat: „Der Werberat soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein Erziehungsinstrument sein, das das deutsche Volk mit den Zielen der deutschen Wirtschaftspolitik bekannt macht, und ein Werbeinstrument, das die deutsche Volkswirtschaft auf propagandistischem Wege zu einer richtigen Gestaltung der Erzeugung veranlaßt, durch Hinweis auf die Notwendigkeit, sich bei Befriedigung der Bedürfnisse in erster Linie deutscher Erzeugnisse zu bedienen, zur Abdrosselung des überflüssigen Imports anhält und andererseits jede Möglichkeit benutzt, den Absatz deutscher Waren und deutscher Leistungen im Auslande zu fördern“ (Hunke, 1935, 56). Werbung war damit nicht mehr länger ein Mittel im wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern diente immer auch völkischen und staatlichen Zielsetzungen. Der NS-Staat folgte mit der verstärkten Regulierung der Werbung durchaus Anregungen anderer Länder, insbesondere den britischen „Marketing Boards“ (David M. Higgins und Brian D. Varian, Britain’s Empire Marketing Board and the failure of soft trade policy, 1926-33, European Review of Economic History 25, 2021, 780-805). Doch er band diese zugleich an spezifisch nationalsozialistische Imperative, 1934 nicht zuletzt an die vielbeschworene „Arbeitsschlacht“, an „Nahrungsfreiheit“ und militärische „Gleichberechtigung“ – kurzum an die Mobilisierung der deutschen Volkswirtschaft und Gesellschaft für Krisenbewältigung, Machtgewinn und Aufrüstung. Werbung sollte die Verbraucher im Sinne des Regimes beeinflussen, den Verbrauch lenken. Der bedingte Freiraum des Konsums wurde verengt, galt als tägliches Plebiszit über die Vorgaben des Regimes.

Der Begriff „Annoncen-Expedition“ wurde nun zur Seite geräumt, da er an die „liberale“ Wettbewerbsgesellschaft erinnerte. Die NS-Sprachpflege ersetzte ihn seit dem Sommer 1934 durch „Anzeigenmittler“. Werbedienstleister hatten sich im neu gegründeten „Reichsverband der Anzeigenmittel“ einzureihen (Werbetreibende, Anzeigenvermittler und Verleger, Der Landbote 1934, Nr. 196 v, 23. August, 3). Verordnete Sprache ist Ausdruck autoritärer Regime: „Die Annoncen-Expedition heißen künftig ‚Anzeigenmittler‘“ (NS-Kurier 1933, Nr. 398 v. 23. Dezember, 4). All das wirkte nicht recht, im Mai 1935 folgte der nächste Begriff, denn nach der offiziellen Zulassung auch der Anzeigenmittler für Außenwerbung wurde der Reichsverband der Anzeigenmittler im Mai 1935 zum „Reichsverband der deutschen Werbungsmittler“ zusammengeschlossen (Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 218 v. 10. Mai, 11).

Solche Verbände vermittelten aber nicht nur zwischen Staat und Wirtschaft. Sie traten auch zeigefreudig an die Öffentlichkeit. Am 20. November kündigte Heinrich Hunke (1902-2000), stellvertretender Vorsitzender des Werberates, öffentlich eine neue Gemeinschaftswerbung an, „die vom Reichsverband der deutschen Anzeigenmittler vorgeschlagen worden ist und die den Zweck hat, alle Kreise der Wirtschaft über den Wert und die Notwenigkeit guter Werbung aufzuklären“ (Tagung der Anzeigenmittler, Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1934, 1052). Dieser Anzeigenappell galt nachträglich als eine der wichtigen PR-Leistungen des nur kurz bestehenden Reichsverbandes (Günter Schäfer, Die Werbungsvermittler, Köln 1938, 16). Die Badehosen am Nordpol rücken näher.

Emmerich Hubers Weg zum NS-Humoristen

Gezeichnet wurde die Kampagne vom schon erwähnten Graphiker Emmerich Huber, dessen Biographie in den letzten Jahren immer konturenreicher herausgearbeitet wurde (Eckart Sackmann, Emmerich Huber, Deutsche Comicforschung 1, 2005, 56-71; ders., Emmerich Huber – zum Zweiten, Deutsche Comicforschung 6, 2010, 87-92, in der Zeitschrift folgten weitere kleinere Ergänzungen). Insbesondere der Doyen der hiesigen Comicforschung, Eckart Sackmann, hat sich an ihm abgearbeitet, seine Rolle während der NS-Zeit mit wachsender Quellenkenntnis immer kritischer bewertet (Eckart Sackmann, Per aspera ad astra… 20 Jahre Deutsche Comicforschung, in: Ders. (Hg.), Deutsche Comicforschung. Register der Bände 2005-2024, Leipzig 2023, 3-5, hier 4). Ich kann nur empfehlen dort nachzulesen, denn die „Deutsche Comicforschung“ ist ein Muster für wissenschaftliche Entdeckerfreude nach dem viel beschworenen und fast schon wieder vergessenen „visual turn“. In einem Meer zumeist lieblos zusammengebundener und meist hochsubventionierter Fachzeitschriften ragt diese Zeitschrift turmhoch heraus.

Emerich Alexander Julius Karl Huber wurde am 24. September 1903 in Wien geboren, wuchs jedoch seit 1905 in Berlin auf. Volks- und Mittelschule schlossen sich an, Handwerksausbildungen scheiterten. Es folgten erste Ausflüge in die Kunst unter dem kritischen Realisten und Sozialdemokraten Hans Baluschek (1870-1935), dann die Ausbildung zum Gebrauchsgraphiker unter Joe Loe (d.i. Josef Loewenstein (1883-?)), einem der damals führenden Werbespezialisten, bekannt durch seine Arbeit für Salamander, Beiersdorf und Jasmatzi, Mitte der 1920er Jahre vor allem für Fachinger und Kahlbaum. 1924 bis 1926 schloss sich eine erste Anstellung bei Rudolf Mosse an, dann ein kurzer Arbeitsaufenthalt in Dresden, seither freiberufliche Arbeit in Berlin (Lebenslauf v. 17. August 1945, Bundesarchiv Lichterfelde, DR 1, Ministerium für Kultur, Nr. 91452). Emmerich Huber – so der Künstlername mit dem doppelten „M“ – heiratete am 5. September 1930 die Buchhalterin Hildegard Johanna Petero (Landesarchiv Berlin, Heiratsregister 1874-1936, 1930, Nr. 495). Das Ehepaar wohnte in Wilmersdorf, zuerst in der von Huber 1928 bezogenen Wohnung in der Prinzregentenstraße 25, von 1932 bis 1935 in der nahegelegenen Hindenburgstraße 86a, seither in der Prinzregentenstraße 86 (Berliner Adreßbuch 1938, Bd. 3, T. IV, 1468; ebd. 1932, Bd. 1, T. 1, 1349; ebd. 1936, Bd. 1, T. 1, 1084). Die Ehe blieb kinderlos.

Huber wurde in den 1920er Jahren bekannt als Zeichner von Kindergeschichten, kleinen Comics in der Kundenzeitschrift Blauband-Woche, für die er neue Figuren schuf: „Das Neueste von Onkel Jup“ und „Hans und Lottchen“ waren nicht nur bei Kindern beliebt (Eckart Sackmann und Thomas Plock, Frisch gekirnt – »Blauband-Woche« und »Fermetsa-Kurier«, Deutsche Comic-Forschung 19, 2023, 20-37; einschlägige Digitalisate finden Sie unter Archive.org). Parallel arbeitete er schon früh als Werbegraphiker. Man findet Hubers Zeichnungen in so herausragenden Zeitschriften wie „Sport im Bild“, vor allem aber 1931/32 in der Karikaturzeitschrift „Ulk“, einer auch gesondert verkauften Beilage des linksliberalen Berliner Tageblattes, des überschuldeten Herzstücks des Mosse-Konzerns. Parallel zeichnete er auch Werbegraphiken für die Rudolf Mosse-Druckerei (Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 20 v. 17. Mai, 8; ebd., Nr. 21 v. 24. Mai, 8).

09_Ulk_060_1931_Nr53_p2_Silvester_Neujahrswuensche_Emmerich-Huber_Punsch_NSDAP_Preisabbau_Weltwirtschaftskrise_Buergerkrieg_Republik_Boerse

Emmerich Hubers Abbild des Wahnwitzes der Präsidialdiktatur (Ulk 60, 1931, Nr. 53, 2)

Huber war kein politischer Karikaturist wie der Ulk-Zeichner Rudolf Herrmann, dessen Karikaturen die Republik zur Zeit der Präsidialdiktatur gegen die „Reaktion“ und die NSDAP verteidigten. Huber war Humorist, seine Beiträge spiegelten die Erfahrungen der zurückgehenden Zahl der Leser, ließen vereinzelt auch Kritik an den Hakenkreuzlern erkennen. Seine Ulk-Zeichnungen waren meist Comics mit acht bis zehn Abbildungen nebst Sprechblasen, kaum Einzelkarikaturen, zudem Wimmelbilder, die ab Mitte der 1930er Jahre für ihn als NS-Humoristen typisch werden sollten. Der Ulk gewann durch solche Beiträge, bot eine gelungene Balance zwischen Unterhaltung und republikanischer Agitation. Parallel setzte Huber seine Arbeit für Kinder fort, illustrierte eine Reihe von Kinder- und Jugendbüchern, war Allzweckwaffe der kleinen Schmunzelei, des innehaltenden Lächelns (H[ermann] K[arl] Frenzel, Emmerich Huber. Ein lustiger Zeichner, Gebrauchsgraphik 9, 1932, Nr. 4, 4-11).

Die „nationale Revolution“ 1933 war für den österreichischen Staatsbürger Huber offenbar kein wirklicher Bruch. Seine Arbeit, sein Leben standen im Vordergrund – und er dürfte kaum Rilke zitiert haben: „Ich sehe den Bäumen die Stürme an, / die aus lau gewordenen Tagen / an meine ängstlichen Fenster schlagen, / und höre die Fernen Dinge sagen, / die ich nicht ohne Freund ertragen, / nicht ohne Schwester lieben kann“ (Rainer Maria Rilke, Der Schauende, in: ders., Gesammelte Werke. Die Gedichte, Köln 2020, 361-362, hier 362). Huber hat seinen Opportunismus nach 1945 nur beschwichtigt, nicht verleugnet. Doch es bleibt eine offene Frage, wie jemand, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft (Prinzregentenstraße 69/70) eine für 2.300 Gläubige eingerichtete Synagoge während der Novemberpogrome 1938 niedergebrannt wurde, sich auch zu einem antisemitischen Hetzzeichner entwickeln konnte (vgl. etwa Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 108, 1941, 1145; Österreichischer Beobachter 6, 1941, 2. Märznr., 24).

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Gut versus Böse, Optimisten versus Pessimist (Optimist sein, mein Herr! Ein fröhliches Bilderbuch für Große, Zeichnungen von Emmerich Huber, Verse von Hermann Schneider, Berlin s.a., 47)

Emmerich Huber empfahl sich weniger durch seine Jugendbücher oder die Werbezeichnungen für die Serie der Anzeigenmittler, sondern durch ein gemeinsam mit Hermann Schneider verfasstes, im Dezember 1933 veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Optimist sein, mein Herr!“ (Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 100, 1933, Nr. 286 v. 9. Dezember, 6092-6108). Dieses scheinbar unpolitische Buch wurde im Sommer 1934 vielfach angezeigt und positiv besprochen: „In diesem Bilderbuch, welches für Erwachsene bestimmt, zieht Herm. [sic!] Huber gegen die ewigen Pessimisten ins Feld“ (Siegblätter 1934, Nr. 217 v. 19. September, 7). Am Ende des lustigen Bandes wurde der Pessimist wahrlich ins „Pökularium“ geführt, erstickt oder verbrüht, die Welt von ihm befreit: „Die Welt ist schön, das Leben herrlich! Nur Sie sind ganz und gar entbehrlich! Und wenn Sie’s anders sehen, Mann, dann sind sie selber schuld daran – Sie und kein anderer! Marsch, hinaus!! Silentium! Schluß! Ex! Finis! Aus!“ (Optimist, s.a., 54). Damit standen Schneider und Huber in einer Reihe mit dem im Mai 1934 einsetzenden Feldzug gegen „Miesmacher und Kritikaster, Gerüchtemacher und Nichtskönner, Saboteure und Hetzer“, für die vermeintliche Alternativlosigkeit der NS-Politik („Gegen Miesmacher und Kritikaster“. Der Feldzug gegen die Miesmacher, Hamburger Fremdenblatt Nr. 130A v. 12. Mai, 1-2, auch für die folgenden beiden Zitate).

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Emmerich Huber vor Ausgaben seines Optimismus-Buches (Deutsche Fotothek, df_e-0050274, https://www.deutschefotothek.de/documents/obj/70223162)

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) wollte damit die abschwellende Dynamik der „nationalen Revolution“ wieder anfachen, zugleich aber die Deutschen angesichts der offenkundigen ökonomischen Probleme auf ihre Pflicht verweisen, „diese Krise überwinden zu helfen.“ Schließlich sei Deutschland derweil wieder „das Land des Lächelns geworden“. Dieser Feldzug ging einher mit strikt antisemitischen und antiklerikalen Drohungen, forderte von allen eine positive Einreihung: Sag mir, wo du stehst. Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) machte dies unumwunden klar: „Es gibt auch bei uns Leute, die niemals zufrieden zu stellen sind, weil sie nicht bereit sind, positiv mitzuarbeiten. Aber diese Schädlinge werden wir ausmerzen“ (Reichsminister Dr. Frick im Kampf gegen Kritikaster und Nörgler, Jeversches Wochenblatt 1934, Nr. 124 v. 31. Mai, 1). Die Röhm-Morde mit weit über hundert Toten sollten einen Monat später folgen. Es hieß, Optimismus sei Teil des nationalsozialistischen Aufbauwerks, der dadurch mögliche gestalterische Willen werde bestehende Schwierigkeiten überwinden. Oder, in den Worten des politischen Herrn über die deutsche Presse: „Kein Deutscher darf heute mäkeln und kleinliche Kritik üben, es ist nicht die Zeit für kleinliche, persönliche Wünsche, es geht jetzt um das Ganze, um das Reich“ (Auf zum Kampf!, Mittelbadischer Kurier 1934, Nr. 120 v. 26. Mai, 6). Emmerich Huber hatte den Pessimisten zuvor der Ausmerze anheimgegeben, die jovialen krisenwendenden Optimisten gepriesen. Damit arbeitete er dem Regime entgegen: „Wir dürfen uns nicht kleinkriegen lassen von all den mehr oder weniger harmlosen Anfechtungen des Alltags. Wir müssen immun werden gegen den Bazillus der Schwarzseherei“ (Walfried Mayer, Ein Fünklein Schalk im Auge…, Edeka Deutsche Handels-Rundschau 27, 1934, 211).

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Alltagsgeschäft Werbung – Emmerich Hubers Zeichnung für das Berliner Residenz-Casino (Velberter Zeitung 1935, Nr. 15 v. 16. Januar, 8)

Das Optimismus-Buch war Hubers Eintrittsbillett in die Arbeit für Staat und Partei. Er war zuvor Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste geworden, hatte seine rassische Herkunft, politische Loyalität und seine künstlerische Tätigkeit nachgewiesen (Bescheinigung d. Reichskammer der bildenden Künste v. 12. Mai 1936, Landesarchiv Berlin A Rep. 243-04, Nr. 3709). Er war 1934 immer noch vorrangig Gebrauchsgraphiker. Erst 1937 übertrafen seine Einkünfte aus Pressezeichnungen die der Werbeaufträge. 1934 lagen die Anteile bei 37%, 1935 bei 31%, sanken 1936 gar auf lediglich 26% (Schreiben v. Emmerich Huber an d. Reichskammer der bildenden Künste v. 25. Oktober 1937, Landesarchiv Berlin A Rep. 243-04, Nr. 3709). Seither aber wurde er zum breit beworbenen Zeichner mehrerer führender Massenzeitschriften der NSDAP – und erzielte weit überdurchschnittliche Einkünfte (Erklärung zur Beitragsfestsetzung der Reichskammer der bildenden Künste f. d. Rechnungsjahr 1937 v. 19. März 1937, Ebd.). Im Berliner Adressbuch erschien er seit 1936 als Pressezeichner, nicht mehr als Graphiker (Berliner Adreßbuch 1936, Bd. 1, T. 1, 1084; ebd. 1935, Bd. 1, T. 1, 1055). Hubers Serie für den Reichsverband der Anzeigenmittler mochte über Badehosen am Nordpol witzeln. Doch durch sie gewann er das Vertrauen führender nationalsozialistischer Kreise.

Die Kampagne: Motive und Zielsetzungen

Damit sind wir am Jahreswechsel 1934/35 angekommen. Entgegen der gängigen Vorstellung eines durch die Regierung Hitler initiierten schnellen Wirtschaftsaufschwungs, dessen Widerhall sich vor allem in der überraschend schnellen Reduktion der Arbeitslosenzahlen zeigte, blieb die wirtschaftliche Lage 1933/1934 prekär. Im Sommer 1934 stand das Deutsche Reich gar „am Rande einer wirtschaftlichen Katastrophe“ (Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2006, 95). Devisenmangel führte zu Rohstoffmangel, dieser betraf vor allem die Konsumgüterbranchen. Der Wirtschaftsaufschwung geriet ins Stocken, politische Imperative förderten vor allem die Schwer- und Investitionsgüterindustrie. Die für Zeitungsannoncen zentralen Branchen Textil und Bekleidung, Nahrungsmittel, Kosmetika und Drogerieartikel stagnierten, die öffentlichen Kampagnen gegen vermeintliche Miesmacher, Kritikaster und Spießer hielten im Sommer 1934 dagegen, konnten aber die allgemeine Kritik nur im Zaum halten, nicht wirklich brechen.

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Versprechungen 1933 – Ernüchterung 1934 (Der Nebelspalter 59, 1933, Nr. 11, 1)

Der Anzeigenappell begann in den meisten Tageszeitungen am Mittwoch, den 2. Januar 1935, spätestens aber am Freitag, dem 4. Januar. Er währte einen Monat, endete während des am 28. Januar 1935 einsetzenden Inventurverkaufs, zumeist am 30. Januar 1935 (etwa Verbo 1935, Nr. 26 v. 30. Januar, 12; Duisburger General-Anzeiger, Nr. 30 v. 30. Januar, 5). Auch andere Medien trommelten: Am 2. Januar 1935 strahlte der Rundfunk reichsweit einen Vortrag des Juristen und alten Kämpfers Hans Culemann (1901-1944) über „Das neue Gesicht der Zeitungsanzeige“ aus (Gladbach-Rheydter Tageblatt 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 12; vgl. Matthias Rücker, Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus […], Frankfurt a.M. 2001, 361). Vor Ort gab es Ausstellungen, etwa eine Werbeschau der Reichsfachschaft deutscher Werbefachleute in Bonn über neuzeitliche Werbung (Mittelrheinische Landes-Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 3).

Gleichwohl gab es – typisch für die meisten NS-Kampagnen – Friktionen. Eine erste Anzeige findet sich schon am Heiligabend 1934 (Westfälischer Kurier 1934, Nr. 297 v. 24. Dezember, 4), in wenigen anderen Zeitungen setzte die Kampagne bereits Ende Dezember ein (Langenberger Zeitung 1934, Nr. 302 v. 28. Dezember, 5). Andere Zeitschriften begannen die Kampagne teils beträchtlich später (Bremer Zeitung 1935, Nr. 10 v. 10. Januar, 4; Bergische Landes-Zeitung 1935, Nr. 12 v. 15. Januar, 10; Lenneper Kreisblatt, Nr. 15 v. 18. Januar, 4). Und entgegen der Vorstellung einer effizient funktionierenden Diktatur beendeten andere Zeitschriften den Abdruck der Serie schon mal früher (Annener Zeitung 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 4; Ottendorfer Zeitung 1935, Nr. 11 v. 25. Januar, 4; Echo der Gegenwart 1935, Nr. 22 v. 26. Januar, 8). Dafür findet man einzelne Motive noch Anfang Februar (etwa Rheinisch-Bergische Zeitung 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 10; Bürener Zeitung 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 4), die letzten Anzeigen erschienen in der zweiten Februarwoche (Welt am Sonnabend 1935, Nr. 6 v. 9. Februar, 16; Haaner Zeitung 1935, Nr. 36 v. 12. Februar, 7).

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Motiv 1: Einleitung (Verbo 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 6)

Der Anzeigenappell bestand in den Tageszeitungen aus acht Anzeigen, die allesamt ähnlich aufgebaut waren. Am Kopf stand jeweils ein in Sütterlin gedruckter Einzeiler. Er war appellativ gehalten, enthielt durchweg Satzzeichen, meist Frage- und Ausrufungszeichen, teils Auslassungspunkte. Es folgte die eigentliche Aussage der Anzeige, durchweg in lateinischer Schrift, noch nicht aber in der 1941 gängigen Deutschen Normalschrift. Sie war üblicherweise elf Zeilen lang, konnte aber auch bis zu dreizehn Zeilen umfassen. Am unteren Rand enthielt die Anzeige dann einen zumeist zweizeiligen in Sütterlin-Schrift gehaltenen Abschluss, meist die Quintessenz des Gesagten. Den eigentlichen Hingucker bildete jedoch die stets rechts eingefügte Zeichnung Emmerich Hubers. Sie besaß durchweg Sprechblasen, deren Inhalte auf den Anzeigentext Bezug nahmen, ihm damit eine humoristische Note verliehen. Huber präsentierte Durchschnittsmenschen, durchweg Männer, Leute im gesetzten Alter, Menschen wie Du und Ich. Nur in vier Fällen finden sich weitere Geschöpfe, am Nordpol die dort fehlplatzierten Pinguine, ein Singvogel, eine Maus und der für Huber unverzichtbare Zwergschnauzer. An der linken unteren Ecke prangte ein Dreieck mit der Abkürzung RAM, dem Signet des Reichsverbandes der Anzeigenmittler. An der rechten unteren Ecke wurde die Anzeige mit einem Rechteck abgeschlossen, der die Nummer des Motivs enthielt und mit einem befehlshaften „Aufheben!“ die Wertigkeit der Anzeige unterstreichen sollte. Die Anzeigen besaßen eine in sich geschlossene Erscheinung, stachen aus den sonstigen Inseraten klar hervor. Mitreißend und innovativ waren sie nicht, wohl aber gefälliger Durchschnitt.

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Motiv 2: Die negativen Folgen fehlender Werbung (Velberter Zeitung 1935, Nr. 7 v. 8. Januar, 8)

Während das erste Motiv Spannung erzeugte und „Wichtiges“ ankündigte, thematisierte die zweite Anzeige die Macht der Anzeigenwerbung: Sie setze „die Armee der Kunden in Marsch“, lasse „den Schornstein rauchen“. Sie müsse gepflegt werden, andernfalls drohe der ins Bild gesetzte Räumungsverkauf. Wie schon im Feldzug gegen die Pessimisten, Miesmacher und Kritikaster wurde wirtschaftliches Scheitern individualisiert, dem Fehlverhalten des Einzelnen zugerechnet. Wer breiter dachte und die Möglichkeiten annahm, die der nationalsozialistische Volksstaat bot, der würde jedoch nicht scheitern, wäre aufgehoben in einem Netzwerk des Gebens und Nehmens.

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Motiv 3: Der Preis der Werbung (Bremer Zeitung 1935, Nr. 17 v. 17. Januar, 4)

Das dritte Motiv thematisierte die während der Weltwirtschaftskrise so wirksame Vorstellung, dass Werbung teuer sei, tendenziell ein kostspieliger und überflüssiger Luxus. Dies aber, so die Anzeigenmittler, sei allein bei falsch und unreflektiert geschalteter Werbung gegeben. Sie sei jedoch eine ernste Angelegenheit, erfordere Selbstreflektion und Kompetenz. Wie der einzelne Volksgenosse erst zu sich kommen müsse, um völkische Verbundenheit zu erfahren, um sich als Teil eines gemeinsamen Aufbauwerkes zu verstehen, so müsse man auch als Geschäftsmann seine Rolle im Wirtschaftsgeschehen verstehen. Dann aber würde man einsehen, dass Inserate ein unverzichtbares und wirksames Hilfsmittel für den eigenen Erfolg im Rahmen einer prosperierenden Gemeinschaft seien.

Der Inhalt dieser Anzeige machte schon deutlich, dass die Serie einer inneren Logik, einer nachvollziehbaren Argumentation folgte. Die korrekte Reihung war für den Erfolg also wichtig, ebenso das Ausschneiden, Aufheben und nachträgliche Bedenken der einzelnen Anzeigen. Und die meisten Zeitschriften veröffentlichten die Serie in der vorgesehenen Reihenfolge. Das in Dortmund-Hörde erscheinende „Volksblatt“ begann dagegen mit dem letzten Motiv, druckte das erste Motiv gar als Abschluss (Volksblatt 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 4; ebd., Nr. 22 v. 26. Januar, 12). Andere Zeitungen begannen mit späteren Motiven, gingen dann zum gewünschten Reihenabdruck über (Velberter Zeitung 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 8). Weitere wiederum unterbrachen die vorgegebene Abfolge. Dies waren Ausnahmen, zumeist folgte der Abdruck willig den Vorgaben.

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Motiv 4: Werbehilfe durch die Anzeigenmittler (Ottendorfer Zeitung 1935, Nr. 5 v. 11. Januar, 4)

Das vierte Motiv griff die Abwägung des vorherigen Inserates wieder auf. Gegen die Skepsis vor Ort setzte sie nun aber die professionelle Unterstützung: Siehe, Du bist nicht allein, denn wir, der Reichsverband der Anzeigenmittler, haben eine Broschüre mit allen wichtigen Informationen zusammengestellt. Sie weise nicht nur „den rechten Weg“, sondern sei auch „vollkommen kostenlos“ erhältlich. Das Motiv präsentierte den neuen Staat und seine Institutionen als sorgende und zugleich besorgte Instanz: Der Einzelne sei im neuen Volksstaat nicht allein, sondern könne sich auf die Hilfe der Gemeinschaft verlassen. Darin liege allerdings auch eine Pflicht. Wer nicht auf den fahrenden Zug springe, sei selbst schuld, vergehe sich gegenüber sich selbst und der hilfswilligen Gemeinschaft.

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Motiv 5: Unterstützung durch die Werbefachleute (Kölnische Zeitung 1935, Nr. 27 v. 15. Januar, 4)

Dieses Motiv der Hilfe und Unterstützung – die wirtschaftlichen Effekte wurden völlig ausgeblendet – wurde in der fünften Anzeige geweitet. Neben die Anzeigenmittler traten nun auch die Werbefachleute selbst. Mit deren Hilfe könnten auch größere Unternehmen passgenau werben; und diese Profis hätten Spezialisierungsvorteile, entwickelten erfolgsversprechende Ideen. Sie seien nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen begrenzt, sondern vermöchten durch ihre breiteren Kenntnisse von Markt und Verbraucherseele Wege zu weisen, die dem Einzelnen erst einmal fremd seien. Dieser Rat sei nicht kostenlos, gewiss. Doch er werde sich rechnen, für Firma und Volk.

Halten wir angesichts derartiger Beschwörung von Hilfsinstanzen kurz inne. Die Kampagne wurde durch den Reichsverband der Anzeigenmittler initiiert, doch im Rahmen des Werberates umgesetzt. Der Abdruck der vom Reichsverband gelieferten Werbeklischees erfolgte kostenlos, war zugleich aber Dienstleistung für andere Werbetreibende. Das unterstrich ein Gemeinschaftshandeln der Fachleute, bot ein Vorbild für den Umgang auch der Geschäftsleute untereinander. Allerdings spiegelten die Anzeigen nicht immer die Federführung der Anzeigenmittler: Das Dreieck in der linken Ecke war zumeist Bestandteil der Anzeige, mindestens ein Achtel der von mir herangezogenen Vorlagen druckte dieses jedoch nicht mit ab (etwa Wittener Tageblatt 1935, Nr. 2 v. 5. Januar, 2; Bergische Landes-Zeitung 1935, Nr. 18 v. 22. Januar, 1; Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 25 v. 25. Januar, 8). Die am rechten unteren Rand verzeichnete Motivnummer fehlte ebenfalls ab und an, allerdings seltener als das Dreieck des RAM (Oberbergischer Bote 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 12).

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Motiv 6: Die wirksame Anzeige (Jeversches Wochenblatt 1935, Nr. 18 v. 22. Januar, 4)

Das sechste Motiv fächerte das Gemeinschaftsgebot für die Inseratenwerbung weiter aus, nun wurden auch die Zeitungsverlage erwähnt. Bei den Fachleuten herrschte scheinbar Eintracht und Hilfsbereitschaft – und die Anzeige machte dem Werbetreibenden Mut, dass auch sein Beitrag erfolgreich sein könne. Der Einzelne war eingewoben und trotzdem speziell – so wie die Anzeige in der Zeitung.

Auch hier noch eine Ergänzung: Die Motive wurden zumeist in regelmäßigen drei- bis viertägigen Intervallen geschaltet. Ausnahmen bestätigten die Regel, etwa die parteiamtliche NSDAP-Zeitung „Bremer Zeitung“, die mit dem Abdruck spät begann, dann die Motive 2 bis 7 innerhalb von acht Tagen veröffentlichte, ehe nach drei weiteren Tagen die Serie ihren recht frühen Abschluss fand. Zu beachten ist auch, dass die Motive hier gleichsam rein präsentiert werden: Die große Mehrzahl erschien in der Tat ungerahmt, doch es gab auch solche mit Ober- und Unterstrichen (Karlsruher Tagblatt 1935, Nr. 21 v. 21. Januar, 8), Seitenbalken (Bremer Zeitung 1935, Nr. 23. v 23. Januar, 4) oder Komplettrahmen (N.S. Volksblatt für Westfalen 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 8). Die Normierung der Anzeigen durch den Werberat schuf eine gewisse Normierung im Anzeigenteil, nicht aber vollständige Uniformierung.

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Motiv 7: Badehosen am Nordpol oder Zielgruppenfindung (Badische Presse 1935, Nr. 19 v. 23. Januar, 16)

Damit kommen wir schließlich zum siebenten Motiv, dem Fundstück, das diese Tiefenbohrung in Gang setzte. Ja, Werbung für Badehosen war am Nordpol offenkundig unangemessen. Werbung benötige eine innere Begrenzung, bedürfe klarer Zielgruppen, müsse sich auf die Medien konzentrieren, mit denen diese angesprochen werden könnten. Auch hierfür gab es Hilfe, denn die Anzeigenmittler kannten nicht nur den Markt, sondern auch die Medien und ihre Publika. Der Anzeigenappell ging dem Ende entgegen, die federführende Organisation hob ihre Kompetenz nochmals gebührend hervor.

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Motiv 8: Die Partner nachhaltiger Wirtschaftswerbung (Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 27 v. 27. Januar, 12)

Das achte und letzte Zeitungsmotiv fasste den kleinen Serienkurs nochmals zusammen: Es griff die Skepsis gegenüber der Werbung auf – die man wohlweislich nicht „Reklame“ nannte, denn dieser Begriff war Teil der überwundenen ungezügelten „liberalen“ Marktwirtschaft. Zugleich aber plädierten die Macher für einen Vertrauensvorschuss gegenüber der neuen Ära der Werbung, gegenüber den staatlich zugelassenen Fachleuten und dem NS-Staat als Ordnungsmacht. Sie lenkten die Aufmerksamkeit neuerlich auf das kostenlose Vertiefungsmaterial der Anzeigenmittler. Der Werbetreibende hatte durch die Serie nicht nur Anregungen erhalten, sondern auch Kontaktadressen. Zwischen Erfolg und Misserfolg stand nurmehr der Einzelne, der durch die Serie gewappnet wurde, um die Kraft der Werbung auch für sich wirken zu lassen. Anzeigenwerbung wurde nicht befohlen, doch ein um das Volkswohl und das eigene Fortkommen bemühter Geschäftsmann würde den neuzeitlichen Gesetzen wirtschaftlicher Kommunikation folgen. Wer sich anders entschied, würde die Konsequenzen seines Zauderns und Fehlens selbst tragen müssen.

Der Anzeigenappell des Reichsverbandes der Anzeigenmittler richtete sich vorrangig an Zeitungen, darin erschien er reichsweit und fast flächendeckend. Daneben gab es zwei weitere Motive für Zeitschriften. Es ist unklar, ob sie in gleichen Umfang erscheinen sollten. Sie boten jedenfalls eine konzise Zusammenfassung der Zeitungskampagne, präsentierten die Anzeige als „Heilmittel“ gegen die wirtschaftliche Krise, gegen die Stagnation des eigenen Geschäftes. Und sie verwiesen deutlicher auf die kostenlose Broschüre „Anzeigen helfen verkaufen“. In den Zeitschriften im Januar und Februar 1935 aber finden sie sich nur selten (Mitteilungen an die Mitglieder der Hahnemania 1934, 4; Neue Bienen-Zeitung 34, 1935, 32; Westermanns Monatshefte 1935, 96; Illustrirte Zeitung 184, 1935, 90). Zeitschriftenanzeigen folgten einer anderen Werbelogik, ihre teils wöchentliche, vielfach aber auch nur monatliche Erscheinungsweise erlaubte nicht die intensive Verdichtung einer Kampagne. Emmerich Huber illustrierte auch diese Anzeigen, doch die Zeichnungen traten gegenüber dem Text deutlich zurück. Der Anzeigenappell erfolgte vorrangig in Zeitungen, zudem in der auch andernorts angebotenen Broschüre.

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Zwei Motive für Zeitschriften – nicht mehr (Marienbote 18, 1935, Nr. 2, 16 (l.); Jugend 35, 1935, 61)

Flankenschutz und Vertiefung: Die Broschüre „Anzeigen helfen verkaufen“

Nimmt man die Broschüre zur Hand, so fühlt man sich an den Lateinunterricht erinnert: Repetitio delectat. Sie wiederholte im Wesentlichen die Kernargumente der Anzeigen, vertiefte sie ein wenig, war aber mehr Beschwörung als ein Für und Wider der Anzeigenwerbung. Eine klare Gliederung fehlte, die Broschüre erscheint als Nacheinander von Textbausteinen. Am Anfang stand ein Überblick verschiedener Werbemittel, der sich aber rasch als Lob der Anzeige entpuppte (3-6). Sie galt als Königsweg zum deutschen Verbraucher, stand daher zurecht im Mittelpunkt des Werbegeschehens (6-7). Ein längerer praktischer Teil folgte, in dem die Inserate nach verschiedenen Zielsetzungen unterschieden, der mögliche Aufbau dargeboten wurde. All das war präsentistisch, diente dem Einschwören auf Standardlösungen, auf die erforderliche Hilfe durch Fachleute (7-14). Es ging dabei nicht um unmittelbare ideologische Einbindung, denn diese war durch die Auswahl der Fachleute und den wirtschaftspolitischen Rahmen ohnehin gegeben. Der Ton war sachlich, argumentativ, nannte und kannte allerdings kaum Alternativen. Bemerkenswert war die immer wieder aufscheinende ökonomische Engführung: „Die Umsatzsteigerung ist der einzige Wertmesser des Werbeerfolgs.“ (13) Nur Fachleute könnten derartigen Werbeerfolg „garantieren“ – allerdings nicht ohne Risiko. Wichtig sei der Wille zur Werbung – ansonsten aber hieß es „loswerben!“

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Die offizielle Broschüre des Reichsverbands der Anzeigenvermittler (Anzeigen, 1935, I; ebd., 1)

Ausführungen zum Werberat und seinem bisherigen Wirken schlossen sich an (15-17), gefolgt von der Beschreibung der Aufgaben und ständischen Position der Helfer, der „Fachleute“, der Werbeberater, der Anzeigenmittler und der Verlagsvertreter (18-20). Es folgten Adressenlisten einerseits der regional ansprechbaren Werbegestalter (21-24), dann auch der zugelassenen Anzeigenmittler (25-29). Die Broschüre endete mit den zehn Motiven des Anzeigenappells. Zuvor dominierte der Text, auch wenn einzelne Zeichnungen Emmerich Hubers diesen auflockerten und Lücken füllten.

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Anzeigen als Brücke zwischen Konsumenten und Werbetreibenden (Anzeigen, 1935, 24 (l.); ebd., 2)

Trotz der hohen Intensität der Anzeigen, trotz ihrer zeitweilig großen Alltagspräsenz ist unklar, wie viele Exemplare der Broschüre gedruckt, wie viele nachgefragt wurden. Die Zahl heutiger Antiquaritätsangebote ist überschaubar, der Preis von 9 bis 15€ höher als der gängiger Massenbroschüren; das ist nicht unbedingt ein Ausdruck späterer Millionenauflagen, etwa im Umfeld der Kampf-dem-Verderb-Kampagnen oder aber der Anleitungen zum richtigen Heizen. Die Broschüre war schwarz-weiß gehalten, erschien auf gängigem Druckpapier, keinem Tiefdruck. Die Konsumenten wurden zwar immer wieder indirekt beschworen – man war schließlich deren Sachwalter –, doch wie in der Anzeigenserie selbst waren sie nicht präsent. Die Broschüre stammte von einer nationalsozialistischen Körperschaft, vermied aber eine zu offenkundig ideologische Einbettung, die dröhnende NS-Propaganda. Es galt schließlich Zurückhaltung aufzubrechen, einvernehmlich für die eigene Sache zu werben.

Die Kampagne nährt die Massenkampagne: Eigenwerbung der Zeitungen

Der Anzeigenappell wurde reichsweit durchgeführt, war Bestandteil der meisten Zeitungen, nicht aller. Er präsentierte den Reichsverband deutscher Anzeigenmittler einer breiteren Öffentlichkeit, wandte sich dabei vorrangig an Werbetreibende, weniger an die Konsumenten. Als solcher scheint er nicht sonderlich bedeutsam gewesen zu sein: Zehn Anzeigen, ein Monat intensives Trommeln für die Inseratenwerbung – welchen Effekt soll das gehabt haben? Solche Engführungen unterschätzen jedoch die Folgen einschlägiger Kampagnen. NS-Kampagnen waren materialisierte Vorgaben, deren Ausgestaltung von den Volksgenossen – hier den Zeitungsverlegern und Inserenten – selbst unternommen werden sollte. Dahinter stand die Idee eines von einzelnen Institutionen verkörperten Volkswillens, der in Gang gesetzt werden musste, dann aber eigenmächtig wirkte. Dies war Teil deutschen Selbstbewusstseins, deutschen Idealismus: Theodor Körners (1791-1813) nachgelassene Zeile „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ war Anfang des 19. Jahrhunderts Ausdruck des freiheitlichen Aufbegehrens gegen die französische Fremdherrschaft (Männer und Buben, in: Theodor Körners Gedichte, Bd. 1, Stuttgart 1818, 199-201, hier 201). In der Goebbelsschen Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 wurde sie umformuliert und als Mobilisierungsappell genutzt. Appelle gaben vor, das Handeln sollte, ja musste folgen. Dieser simple Mechanismus war eine der wichtigsten Grundlagen der destruktiven Dynamik des NS-Regimes.

Anzeigen waren damals eben nicht Ausdruck einer kommerziellen Mittel-Zweck-Relation, sondern Ausdruck völkischer Verbundenheit: „Es ist so mühelos Deiner Zeitung zu nützen. Berufe Dich bei allen Einkäufen auf die Anzeigen in Deiner Zeitung (Neusser Zeitung 1935, Nr. 2 v. 2. Januar, 8). Die Begleitappelle zielten auf die Nähe zur Heimatzeitung, mit „unserer“ Zeitung, mit dem großen, wohligen „Wir“. Das war ein Geben und Nehmen: „Der Anzeigenteil einer Zeitung ist der beste Berater. Tausende treffen ihre Wahl nach den Zeitungsanzeigen. Das weiß der fortschrittliche Geschäftsmann deshalb inseriert er!“ (Buersche Zeitung 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 8) Der Anzeigenappell gründete auf etwas Überpersönlichem, etwas Gemeinschaftsbildendem. Er setzte auf die Volksgemeinschaft, war Ausfluss der willig geglaubten NS-Parole „Gemeinnutz vor Eigennutz“. Allerdings war die Grenzziehung schwierig, da parallel immer auch Artikel aus den USA über die Erfolge kommerzieller Selbstwerbung veröffentlicht wurden, da Amerika immer auch als Land gewürdigt wurde, das den Wert der Zeitungsanzeige umfassend verstanden habe („Ich bin faul, unzuverlässig, unehrlich“, Werner Zeitung 1935, Nr. 2 v. 2. Januar, 8; Dortmunder Zeitung 1935, Nr. 15 v. 10. Januar, 6). Entsprechende rein ökonomisierte Formulierungen gab es: „An die Kundschaft heran durch Zeitungsanzeigen, die unter allen Werbearten den 1. Rang einnehmen“ (Neusser Zeitung 1935, Nr. 3 v. 3. Januar, 10; ebd., Nr. 27 v. 27. Januar, 5). Doch die Anzeigen und die Broschüre des Reichsverbandes der Anzeigenmittler wollten Anfang 1935 Werbung und Zeitungen durchaus völkisch aufladen.

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Kleine Schläge ins Gehirn: Werbungswerbeanzeigen (Stadtzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1935, Nr. 32 v. 2. Februar, 10 (beide oben); Die Uhrmacherkunst 60, 1935, Nr. 35, Beil., 8 (Mitte, l.); Bergische Zeitung 1935, Nr. 24 v. 29. Januar, 12 (Mitte, r.); Weißeritz-Zeitung 1935, Nr. 19 v. 23. Januar, 4)

Im Januar 1935 waren die deutschen Zeitschriften daher voller Inserate für die Zeitungswerbung: Sie klangen stakkatohaft, schienen nicht still zu stellen: „Anzeigen helfen kaufen und verkaufen“, „Anzeigen helfen gegen Umsatzrückgänge“, „Anzeigen helfen aufbauen“, „Zeitungs-Anzeigen helfen richtig kaufen und verkaufen!“, „Kleine Anzeigen helfen auch Ihnen“, „Bewußt werben! Klug werben! Durch Zeitungsanzeigen werben!“ Sie wollen mehr? Kein Problem: „Die Bearbeitung Tausender von Interessenten und Käufern jeden Alters erreichen sie durch eine Zeitungsanzeige“, „Dauernde Werbung hebt das Geschäft! Wir machen es dem Geschäftsmann leicht, regelmäßig durch die Zeitungsanzeige zu werben“, „Die beste Reklame ist und bleibt die Zeitungsanzeige“, „Unerreicht an Wirksamkeit ist von allen Reklamemitteln die Zeitungsanzeige.“ Die Kleininserate für die eigene Sache, für das Wohlergehen der Zeitungen (und damit der Leser) erschienen in immer neuen Formulierungen: „Die Zeitungsanzeige ist ein Verkaufsgespräch!“, „Versuche es auf jeden Fall! Die Zeitungsanzeige hilft überall!“, „Erfolg, Umsatz, Gewinn – wo dies groß geschrieben wird, ist man auch von der Werbekraft der Zeitungs-Anzeige überzeugt“, „Vertrauen Sie der hohen Werbekraft der Zeitungsanzeige“. Es klang wie eine Schallplatte mit Sprung, war die Variation des Immergleichen.

Dieses Begleitrauschen war lauter und sinnesbetörender als die eigentliche Kampagne des Reichsverbandes der Anzeigenmittler. Es kumulierte im Inventurausverkauf, der am 28. Januar 1935 begann: „Versäumen Sie unter keinen Umständen die Gelegenheit, durch zugkräftige Anzeigen […] Ihr Geschäft während dieser Inventur-Verkauf-Tage günstig zu belegen. Wer nicht durch Zeitungs-Anzeigen sagt, was er zu verkaufen hat, wird beim Einkauf übersehen! Wer nicht inseriert, wird vergessen!!“ (Sauerländisches Volksblatt 1935, Nr. 20 v. 24. Januar, 7). Nun fand man ergänzende Worte, zumeist für den deutschen Kaufmann: „Die billigste und beste Werbung, die dem Kaufmann zur Verfügung steht, ist die Anzeigenwerbung. Durch die Zeitungsanzeige ist die Möglichkeit gegeben, an die Käufer in all ihren Schichten heranzukommen. Diese müssen über die Vorteile, die der Inventurverkauf bietet, aufgeklärt werden. Und diese Aufklärung geschieht einfach und billig durch die Zeitungsanzeige“ (Gelsenkirchener Zeitung 1935, Nr. 24 v. 25. Januar, 10). Zugleich aber erging der Appell an die Kundinnen: „Die Hausfrau tut gut, wenn sie nicht wahl- und planlos kaufen will, vorher genau die Zeitungsanzeigen zu verfolgen und sich eine Liste über die Dinge anzufertigen, zu deren Kauf sie sich entschlossen hat. Natürlich muß diese Liste im Einklang mit dem Geldbeutel stehen. Kaufen schafft Arbeit!“ (Inventurverkäufe, Wittener Tageblatt 1935, Nr. 23 v. 28. Januar, 3).

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Einer Dauerschleife abstrakten Nutzens (Velberter Zeitung 1934, Nr. 355 v. 29. Dezember, 8 (l.); ebd. 1935, Nr. 22 v. 23. Januar, 8)

Zeitungsinserate wurden als einfaches und zugleich modernes Hilfsmittel präsentiert: „Der Mensch von heute bedient sich bei jeder passenden Gelegenheit der Zeitungsanzeige“ (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 28 v. 28. Januar, 7). Die Anzeige wurde naturalisiert, metaphorisch mit der Nordorientierung des Kompasszeigers verglichen (Gevelsberger Zeitung 1935, Nr. 26 v. 31. Januar, 4). Selbstverständlich durfte die „Wissenschaft“ dabei nicht fehlen: Anzeigen präsentierten die Quintessenz einer Studie des Berliner Psychotechnikers und NSDAP-Mitglieds Walther Moede (1888-1953), aus der hervorgehen sollte, „daß das weitaus zugkräftigste und erfolgreichste Werbemittel die Zeitungsanzeige ist“ (Bergische Wacht 1935, Nr. 2 v. 4. Januar, 2). Daher sollten Geschäftsleute auch nicht allzu viel experimentieren, denn das koste nur Geld. Anzeigen waren wirksam und einfach, die Anzeigenmittler würden ihre Brückenfunktion preisgünstig erfüllen (Rheinisches Volksblatt 1935, Nr. 1 v. 5. Januar, 6). Derartige Eigenwerbung wurde zugleich auf die eigene Zeitung gelenkt, somit die Bande zwischen Inserenten, Leserschaft und Verlagen gestärkt. Das galt auch für die vielgestaltigen Kleinanzeigen, also die gleichsam private Welt der Diktatur.

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Anzeigenlenkung auf die eigene Zeitung (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 4 v. 4. Januar 1935, 15 (l.); Der Gemeinnützige 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 12 (Mitte, o.); Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 10 (Mitte, u.); Bremer Zeitung 1935, Nr. 20 v. 20. Januar, 12)

Derart kleinteilig, pseudofreiheitlich blieb es allerdings nicht: Die Werbung für das Inserat machte den einzelnen als Schmied seines eigenen wirtschaftlichen Glückes verantwortlich. Nicht die auf die Mitarbeit des Einzelnen setzende staatliche Wirtschafts- und Währungspolitik war für Umsatzrückgänge oder fehlenden Erfolg verantwortlich, sondern die fehlende Werbeinitiative im Rahmen der ja weiterhin laufenden „Arbeitsschlacht“. Einerseits schien der Weg klar: „Man kann alles durch die Zeitungsanzeige verkaufen!“ (Gevelsberger Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 5). In der seit Jahren andauernden Krise habe sich die Kluft zwischen Handel, Gewerbe und Verbrauchern vergrößert, doch nun, im laufenden Aufschwung, müsse man sie wieder verringern, mit frischem Mut die Anzeige als „sicherste Brücke von Produzenten zum Konsumenten“ nutzen (Bürener Zeitung 1935, Nr. 10 v. 12. Januar, 4). Anderseits sei der Einzelne dafür verantwortlich, die Reserven des Marktes für sich und die allgemeine Wohlfahrt zu nutzen: „Alles mobil machen! Ihre Reserven heranholen. Auch den säumigsten Käufer für Ihr Haus, für Ihre Waren interessieren!“ (Zeno-Zeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 4) Erfolg erfordere einen Mentalitätswandel, hin zum Dienst am Kunden, hin zur stetigen Kundenwerbung mittels Annonce (Bochumer Anzeiger 19355, Nr. 6 v. 8. Januar, 11).

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Teil der Arbeitsschlacht: Werbung für Anzeigen in der Tageszeitung (Hildener Rundschau 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 10)

Die damalige Wirtschaftskrise wurde nur selten direkt benannt, stattdessen die Verantwortung des Einzelnen hervorgehoben. Werbung war Kernelement der Arbeitsschlacht des Handels, des Gewerbes. Und Marktbeobachtung der Beitrag des Verbrauchers.

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Sonderkampagnen vor Ort: Frau Schlauberger als fiktives Bremer Vorbild (Bremer Zeitung 1935, Nr. 25 v. 25. Januar, 4 (l.); ebd., Nr. 26 v. 26. Januar, 4)

Der Anzeigenappell der Reichsverbandes der Anzeigenmittler war somit Ausgangspunkt und Referenz einer wesentlich umfangreicheren Selbstmobilisierung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Er wurde flankiert vom üblichen Storytelling, etwa über die Geschichte der Kleinanzeige (Kuriositäten aus der „Zeitungskiste“, Gütersloher Zeitung 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 5). Vor Ort wurden eigene Werbefiguren ersonnen, die kaufenden und verkaufenden Stände gleichsam an die Hand genommen, auf ihre wechselseitigen Verpflichtungen füreinander verwiesen. „Kleinigkeiten – auf die es ankommt…“ hieß eine Serie in der Gevelsberger Zeitung. Das war die vom NS-Regime gewünschte Eigeninitiative. Sie ging einher mit üblichen Kaskadeneffekten. Auch die Werbung für Werbemittel wurde intensiviert: „Gedrucktes Wort ist Werbekraft, das ständig neue Arbeit schafft!“ (Velberter Zeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 8)

Begrenzter Erfolg und weitere Werbung

Insgesamt steigerte die Werbewirtschaft seit 1934 ihre Umsätze deutlich. Die Ausgaben für Inserate stiegen von 258 Mio. RM 1934 über 276,1 1935 und 305,9 1936 auf 336,1 Mio. RM 1937 (Westphal, 1989, 60). Auch die Annoncen-Expeditionen fassten wieder Tritt, konnten ihren Anteil am Werbekuchen allerdings nicht wirklich ausbauen: Nach Angaben des Werberates stiegen ihre Umsätze von 47,3 Mio. RM (1934) über 64,1 (1935), 73,2 (1936) und 78,9 (1937) bis auf 93,5 RM (1938) (Reinhardt, 1993, 117). Dies war gewiss nicht auf den Anzeigenappell zurückzuführen, denn das damals viel diskutierte nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“ schlug letztlich auch auf die Konsumgütermärkte durch. Doch er war Teil einer nicht nur propagandistischen Kraftanstrengung, die psychologisch wirkte.

Die Auflagenverluste der Tageszeitungen setzten sich bis 1937 moderat fort. Danach nahm sowohl die Druck- als auch die Verkaufsauflage der deutschen Zeitungen aufgrund der Okkupation Österreichs, des Sudetenlandes und der sog. Resttschechei zu (Gesamtauflage, 1940, 374-376), während die Relation Auflage und Bevölkerung weiter sank. Die Zeitungsverleger initiierten 1936/37 resp. 1939 (in Österreich) dagegen die von Albert Schaefer-Ast (1890-1951) gezeichnete Herr Hase-Kampagne, konnten damit aber keinen durchschlagenen Erfolg erzielen. Generell nahm die Bedeutung der Tageszeitungen weiter ab: Die NSDAP übernahm immer mehr Blätter, während die Zahl der Zeitungstitel insbesondere 1935/36 nochmals deutlich abnahm. Innerhalb der deutschen Presse wurde der Kampf gegen den inneren Feind, gegen vermeintliche Kritikaster in weiteren Kampagnen verstetigt. 1939/40 galt das für „Herr und Frau Spießer“ von dem auch in der Nachkriegszeit sehr erfolgreichen Gerhard Brinkmann (1913-1990), 1941/42 dann für die Kampagne „Herr Bramsig und Frau Knöterich“, zu der mehrere Graphiker beitrugen.

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Vorgaben für ein geordnetes Anzeigenwesen während der NS-Zeit (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 38)

Die Eigenwerbung der Zeitungen wurde großenteils verstetigt, vom Werberat zugleich durch immer neue Vorgaben und Ratschläge ergänzt (vgl. etwa Aug[ust] Hans Brey und Fritz Gerathewohl, Werben und Verkaufen im Kunstgewerbe- und Hausrathandel, Bamberg 1937). Werbung wurde eine Pflicht des „deutschen Handels“, diente insbesondere ab 1937 in immer neuen Figurationen der Verbrauchslenkung, die Blaupausen auch für heutige Kampagnen für „gesunde Ernährung“ oder aber die Reduktion der Lebensmittelabfälle schuf.

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Anzeigenkurse in der Tageszeitung (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 130 v. 13. Mai, 16 (l.); Westfälischer Kurier 1936, Nr. 136 v. 19. Mai, 4)

Die Rahmensetzung des Werberates begünstigte zudem eine wachsende Zahl von Werbelehrgängen oder Werbetipps, die immer wieder die Anspruchshaltung an Konsumenten, vor allem aber an die werbetreibende Wirtschaft transportierten: Man habe „einen Schlußstrich gezogen unter die Methoden marktschreierischer Anpreisungen mit ihrem vielfachen Hang zur Täuschung und Unwahrheit, so daß es besonders dem kleinen Geschäftsmann wieder möglich gemacht wurde, seine auf dem Wahrheitsprinzip aufgebaute Werbung im Anzeigenteil der Tageszeitungen zur verdienten Beachtung zu bringen.“ Nun aber müsse gehandelt werden: „Werbung tut not! Anzeigen helfen verkaufen!“ (Beide n. Anzeigen helfen verkaufen! Weihnachtswerbung von Einzelhandel und Handwerk, Bremer Zeitung 1936, Nr. 333 v. 30. November, 7). Die den Anzeigenappell prägende Parole „Anzeigen helfen verkaufen“ sollte bis in die 1970er Jahre ein gängiger Slogan bleiben.

Uwe Spiekermann, 13. Mai 2024

Porter, Schwindel und Bankrott – Johann Hoffs Scheitern im Biermarkt der Gründerzeit

Johann Hoff, der Berliner Krösus, ist heutzutage unbekannt. In den 1860er und 1870er Jahren war er dagegen der wohl bekannteste deutsche Unternehmer. Wie kein anderer hat er die Macht der Reklame genutzt, um einfache Produkte mit einem betörenden Gloriolenschein zu umgeben. Er adelte Malzextrakt zum „Gesundheitsbier“, etablierte überteuerte Malzprodukte als Garanten für Genesung und Heilung. Johann Hoff war ein Schwindler großen Stils, doch er fand Kundschaft und gewinnträchtigen Absatz. Als glühender Patriot verkörperte er die Nationalstaatsbildung, als orthodoxer Jude die brüchige deutsch-jüdische Symbiose. Kaum ein anderer wurde gleichermaßen befehdet, von Karikaturisten, Dramatikern, Konkurrenten und naturwissenschaftlichen Experten. Schon zu Lebzeiten eine mythische Figur, fehlen seriöse Arbeiten zu seinem Leben, seinem Werk. Johann Hoff war ein Selbstdarsteller per Inserat, feilte an seinem öffentlichen Bild, ließ aber weitere Einblicke kaum zu. Forschung fehlt, Historiker folgen eben nur selten vergangener Bedeutsamkeit, sondern meist heutigen Vorstellungen von Erinnerungswürdigkeit.

Mag sein, dass ein biographischer Schneisenschlag sinnvoll wäre – und ich behalte mir diesen vor. Doch in diesem Beitrag möchte ich lediglich eine, wenngleich eine zentrale Episode aus Johann Hoffs Karriere näherungsweise rekonstruieren. Es geht um den wichtigsten Bruch in seinem Leben, dem faktischen Bankrott seines Firmenimperiums während der Gründerkrise 1873. Dieser war Folge einer ungebührlichen Überschätzung der Möglichkeiten moderner Werbung und der Fehleinschätzung des Biermarktes der frühen Kaiserzeit. Johann Hoff wollte damals „Deutschen Porter“ einführen, also ein dunkles kräftiges Bier, wie es vornehmlich in England gebraut wurde. Er antizipierte den damaligen dramatischen Wandel des Biermarktes: Doch statt auf die neuen untergärigen Biersorten, auf bayerisches Lager und böhmisches Pilsner zu setzen, wollte er den englischen Porter billiger herstellen – und diesen zum neuen „Nationalgetränk“ machen. Das war – aus heutiger Sicht – fantastisch und zum Scheitern verurteilt; doch das galt auch für die Marktetablierung des Malzextraktes seit den späten 1850er Jahren. Bevor wir aber auf die Struktur und den Wandel des deutschen Biermarktes Mitte des 19. Jahrhunderts eingehen, sind einige biographische und unternehmenshistorische Grundlagen zu legen.

Johann Hoff – Unternehmer und Unternehmen

Johann Bernhard Hoff wurde am 20. Dezember 1826 in Pleschen, im südöstlichen Posen, als Sohn des Handelsmanns Leob Hoff und seiner Frau Dorothea Hoff, geb. Lefschütz geboren (Landesarchiv Berlin, Sterberegister 1874-1920, Berlin I, 1887, Nr. 216). Er erlernte wohl seit 1852 das Brauereihandwerk und ließ sich Mitte der 1850er Jahre in Breslau nieder, wo er eine Gaststätte mit eigenem Brauereibetrieb eröffnete. Das war Sesshaftwerdung nach seiner Heirat mit Johanna Fränkel (1829-1894), Tochter aus einem Kaufmannshaushalt im nordöstlich von Breslau gelegenen Städtchen Festenberg. Dort hatten Mitte des 18. Jahrhunderts aus Breslau vertriebene Juden eine formidable Gemeinde gegründet, deren Mitglieder ein Jahrhundert später wieder in die wachsenden Städte wanderten. 1855 gebar Frau Hoff in der schlesischen Hauptstadt die Tochter Selma (1855-1916), Therese und die Söhne Max und Martin folgten.

Johann Hoff verlegte später die Anfänge der familiären Malzproduktion in das Jahr 1847, datierte die Geschäftsgründung in Breslau auf 1849 (Vendette 19, 1887, Nr. 1, 8) – doch das waren selbstgenährte Mythen, die gleichwohl Wirkung auf Kritiker hatten, die zwischen Sein und Schein kaum unterscheiden konnten und ihrerseits negative Legendenbildung betrieben (Wilhelm v. Varchim, Die Medicinal-Pfuscherei der Jetztzeit und ihre Koryphäen […], 2. verm. u. verb. Aufl., Bremen 1867, 32). Nachweisbar sind eine Erwähnung des „Brauermeisters Bernhard Hoff“ 1856 (Breslauer Zeitung 1856, Nr. 103 v. 1. März, 44) sowie Anzeigen aus dem Jahre 1857, in denen „Hoff’s Brauerei“ und dann „Hoff’s Pariser Restauration, Wein- und Bierkeller“ beworben wurden (Schlesische Zeitung 1857, Nr. 77 v. 15. Februar, 367; ebd., Nr. 467 v. 7. Oktober, 2447). Beide lagen an der Südseite des Breslauer Rings, also in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rathaus. Hoff produzierte zudem präpariertes Brustmalz zur Linderung von Husten und Atemwegserkrankungen, vertrieb dieses auch regional (Lublinitzer Kreisblatt 1858, Nr. 3 v. 16. Januar, 16). Im Mittelpunkt seiner Geschäftstätigkeit stand jedoch ein „Gesundheitsbier“, das er „Malz-Extrakt“ nannte. Dieses bewarb er offensiv als Heilmittel, gab vor, „Autoritäten der Medicin“ hätten es untersucht, propagierte es dann als Kräftigungsmittel und Hilfe bei zahlreichen unspezifischen Krankheiten (Schlesische Zeitung 1857, Nr. 277 v. 18. Juni, 1473).

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Malzextraktangebot von Johann Bernhard Hoff in Breslau 1858 (Schlesische Zeitung 1858, Nr. 121 v. 13. März, 624)

Die Breslauer Anzeigen spiegeln erstens eine systematische Nutzung der lokalen Inseratenpresse, zweitens einen ausgeprägten Drang nach Größe und Bedeutsamkeit. Schon 1857 gab Hoff vor, Niederlagen in London, Hamburg, Berlin, Magdeburg und ganz Ostelbien zu unterhalten (Ebd., Nr. 439 v. 20. September, 2286). Drittens nahm die Palette seiner durch Zubereitung und Zumischung allesamt heilkräftigen Malzpräparate weiter zu. Sein „Bäder-Malz“ empfahl er zur Kräftigung und gegen degenerative Krankheiten (Ebd., Nr. 535 v. 15. November, 2798). Mit solchen Offerten stand er keineswegs allein, lokale Konkurrenzen offerierten ähnliche Malzpräparate seit den 1840er Jahren (Ebd., 2801). Viertens aber nutzte er schon in Breslau systematisch vermeintliche Zusendungen resp. Empfehlungsschreiben, druckte sie in Anzeigen ab. Damit hob er die Qualität seiner Produkte nochmals hervor, verortete sie im oberen gesellschaftlichen Spektrum. Vielfach handelte es sich allerdings um reine Erfindungen. Der von ihm als Garant erwähnte Prinz Friedrich Wilhelm Karl von Preußen starb beispielsweise schon 1851.

Aller Werbung, allen Anstrengungen zum Trotz ging Hoffs Geschäft spätestens im Sommer 1859 bankrott, der Konkurs über sein Vermögen folgte im Herbst (Ebd. 1859, Nr. 459 v. 22. September, 6). Warum ist unklar, berichtet wurde über „eine unvorsichtige Speculation“ (Der Israelit 8, 1865, 527). Familie Hoff siedelte jedenfalls nach Berlin über, wo er das fortsetzte, was er in Breslau begonnen hatte. Er etablierte sich im Zentrum der preußischen Hauptstadt, in der unmittelbar an der Spree gelegenen Neuen Wilhelmstraße 1 – und begann unter dem Namen Johann Hoff ab spätestens März 1860 neuerlich sein Malzextrakt-Gesundheitsbier und seinen Brustmalz anzubieten (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 30 v. 31. März, 155).

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Schwindel in Premiumlage: Ansicht des Geländes von Johann Hoffs früherem Firmensitz Neue Wilhelmstr. 1, heute ARD Hauptstadtstudio (Uwe Spiekermann, 2019)

Johann Hoff wurde in Berlin zum Exponenten moderner Geheimmittelproduzenten, die ihre objektiv überteuerten Produkte mit Heilsversprechen aufluden und einem zahlungskräftigen Publikum als Alltagshelfer anpriesen. „Malzextrakt“ war eine sprachliche Fiktion, denn darunter hatte man zuvor kein Bier, sondern ein medizinisches Stärkungsmittel verstanden. Hoff betonte stetig und unbeirrt, dass sein Produkt Heilwirkungen habe – und es seine Pflicht sei, seine Mitbürger darüber in Kenntnis zu setzen. Das tat er direkt, vor allem aber mittels realer und großenteils wohl fiktiver Dank- und Empfehlungsschreiben. Als Adressat sah er sich in der „Pflicht, die leidende Menschheit unausgesetzt auf dieses vortreffliche und dabei wohlschmeckende Getränk aufmerksam zu machen“ (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 209 v. 30. Juli, 6).

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Ein altes Familienrezept aus Ägypten: Geheimmittelwerbung a la Johann Hoff (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 82 v. 17. Juli, 332)

Hoffs virtuose Nutzung moderner Werbung machte ihn zu einem der wichtigsten Vorläufer heutigen Marketings. Dies reicht tiefer als der eventuell zutreffende Verweis, Hoff habe als erstes deutsches Unternehmen eine eigenständige Werbeabteilung eingerichtet (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing, Berlin 1993, 24). Der junge Unternehmer verstand die Grundprinzipien moderner Massenmärkte: Hohe Werbekosten waren einerlei, wenn es dadurch gelang, den Umsatz überproportional zu steigern. Hoff meinte dazu anekdotenhaft: Als „ich die ersten Tausend Thaler mit meinem Malzextract verdient hatte, sagte ich mir: die hast du nicht verdient, und steckte sie als Inserate in die Zeitungen. Als es zehntausend geworden waren, sagte ich mir: die Hälfte davon hast du nicht verdient und steckte sie wiederum in die Zeitungen, und so fort“ (Düsseldorfer Volksblatt 1879, Nr. 9 v. 11. Januar, 2-3, hier 3 – auch für das Folgende). Anfang der 1860er Jahre soll er einen Jahresumsatz von ca. 250.000 Talern gehabt und für Anzeigen ca. 100.000 Taler aufgewandt haben. Produktions- und Betriebskosten dürften bei ca. 50.000 Talern gelegen haben, so dass der Gewinn exorbitant war. Hoff betonte aber auch: „Aber das kann ich Ihnen sagen, mit Schund hat man keine Aussicht auf Erfolg, und wenn man Millionen verinserirt.“ Daraus entstand ein Nimbus immensen und wachsenden Reichtums (Altonaer Mercur 1862, Nr. 273 v. 19. November, 2). Während die meisten Geheimittelhersteller nach kurzer Zeit wieder vom Markt verschwanden, etablierte sich Hoffs Malzextrakt als einer der bekanntesten Markenartikel der 1860er Jahre, dessen Produktion hierzulande erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg eingestellt wurde.

Als Person blieb Johann Hoff relativ unsichtbar. Er war ein mediales Phänomen, das mittels seiner Anzeigen kommunizierte, in denen er einen Avatar seiner selbst schuf, sich als sendungsbewussten Unternehmer stilisierte: „Es ist eine weise Lehre, man solle sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern vor den Leuten leuchten lassen“ (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 186 v. 7. Juli, 5). Dabei verwob er Lobpreis seines Produktes mit unbeirrbarem Eigenlob. Er sah sich als Wegbereiter einer neuen Heilsindustrie, als Wegbereiter des Aufschwungs der nationalen Industrie: „Wie können wir eine Anerkennung von außen erwarten, wenn wir sorgfältig das zu verdunkeln suchen, was fähig wäre, uns eine solche zu verschaffen. Mit um so größerer Freude muß uns jeder Ausnahmefall erfüllen, und wir werden es uns zur Pflicht machen, einen solchen im Interesse der vaterländischen Industrie auch jedesmal zur öffentlichen Kenntnis zu bringen, sobald er nur von einiger Bedeutung ist“ (Kölnische Zeitung 1861, Nr. 46 v. 15. Februar, 4).

Widerspruch und erbitterte Kritik

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Bewertungen und Einschätzungen als „Thatsachen“ (Die Presse 1861, Nr. 335 v. 6. Dezember, 6)

Bei aller Übertreibung, bei allem Lobpreis setzte Johann Hoff gleichwohl auf eine quasi dokumentarische Werbung. Die Textmasse seiner Anzeigen bestand aus Zitaten von Empfehlungsschreiben, aus Geschäftskorrespondenz, aus Nachrichten über den erfolgreichen Fortgang des eigenen Geschäftes und die zahlreichen Ehrungen, die ihm zuteilwurden. Die alle paar Tage geschalteten Anzeigen, zuerst in Berlin, ab 1861 zunehmend im ganzen deutschsprachigen Raum, hatten zwar Stakkatocharme, doch sie veränderten sich stetig, waren eine Art Fortsetzungsroman des Immergleichen. Das Publikum war sich gewiss bewusst, dass nicht alles eins zu eins zu nehmen war – doch die Wiederholung machte Eindruck, führte zur Probe, zum Kauf. Dieser mochte seinen eigenen Charme haben – moderater Alkoholkonsum unter dem Deckmantel des Heilmittels –, doch man reihte sich zugleich ein in die große Schar der in den Anzeigen erwähnten Persönlichkeiten. Hoff zielte auf den Adel, den Hochadel, hatte Erfolge bei finanzarmen Häusern, die gegen Gebühr auch Titel vergaben, mit denen er dann weiter warb. Die Empfehlungsschreiben entstammten dagegen dem gehobenen Bürgertum, dem Militär, den Pfarrhäusern. Hoffs Malzextrakt war ein bürgerliches Produkt nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution, war die Materialisierung des dann in der Reichsgründung manifesten Bündnisses des nationalen Bürgertums mit dem angestammten Adel. Hoffs Anzeigen waren Ausdruck selbstbewussten Untertanengeistes, freuten sich am huldvollen Dankeschön, an der Ehrerbietung für ein gelungenes Produkt. All das rief teils erbitterten Widerspruch hervor – vor und auch nach dem preußischen Verfassungskonflikt, der 1866 schließlich mit dem Indemnitätsgesetz gelöst wurde, das das königliche Unrecht nachträglich legitimierte.

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Ein virtueller Johann Hoff inmitten einer Schar durch wissenschaftliche Aufklärung entlarvter Scharlatane (Industrie-Blätter 3, 1866, 1)

Die Kritik zielte erstens auf das Produkt selbst. Den Hoffschen Bewertungen wurden chemisch-pharmazeutische Analysen entgegengestellt: „Es geht daraus zur Genüge hervor, daß der vielgepriesene Hoff’sche Malzextrakt weiter keinen Vorzug hat, als daß er völlig unschädlich ist, sonst aber mit den übrigen Wundermitteln auf gleicher Stufe steht, die keinen andern Nutzen stiften, als den, ihren Erfinder reich zu machen“ (Hoff’scher Malzextrakt, Mittheilungen ueber Gegenstände der Landwirthschaft und Industrie Kärntens 19, 1862, 61-62, hier 62). Es war offenkundig, dass der Malzextrakt ein „dunkles Braunbier“ mit ca. 3% Alkoholgehalt war, dem ein Aufguss aus Dreiblatt und Faulbaumrinde zugefügt wurde (Hoff’sches Malz-Extrakt, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 3, 1861/62, 55 – auch für das Folgende). Die Herstellung einer der üblichen 12-Unzen-Flaschen (ca. 340 ml) kostete demnach ca. 6 Pfennig für das Gebräu und 12 Pfennig für Flasche, Etikett und Kork. Das waren 1 Silbergroschen und 6 Pfennige, während der Verkaufspreis bei 7½ Sgr. lag – das Publikum wurde also offenkundig übervorteilt. Hoff kritisierte derartige Analysen, stellte sie methodisch in Frage (Entlarvte Geheimmittel, Ebd., 193-194) – und in der Tat war die Analytik damals lückenhaft und fehlerbehaftet (Ueber die Analyse des Hoff’schen Malzextrakts, Ebd., 200-202). Hinzu kam, dass viele Mediziner durchaus anderer Meinung waren: Es fehlte an gemeinsamen Standards im Umgang mit gewerblichen Anbietern, gekaufte Gutachten waren nicht unüblich. Während Pharmazeuten und öffentlich besoldete Chemiker versuchten, die Expertenreihen zu schließen – die 1864 gegründeten „Industrie-Blätter“ waren dafür eine Wegmarke – blieb die medizinische Profession deutlich offener gegenüber kommerziellen Zuwendungen.

Hoffs Malzextrakt war für viele Wissenschaftler und Publizisten zweitens ein beredtes Beispiel für die negativen Wirkungen der wachsenden Kommerzialisierung des Alltagslebens im Gefolge zunehmender Gewerbefreiheit und des raschen Wachstums der gewerblichen Produktion. Obwohl es vereinzelte öffentliche Warnungen und auch Verkaufseinschränkungen gab – in Wien, in Hannover – so schien die neue liberale Zeit doch tradierte Schutzrechte erodieren, den Konsumenten zurück auf eigene Urteilskraft zu werfen, die durch die Kapitalkraft über Inserate vernebelt wurde: „Die heutigen Alchymisten tragen Fracks und werden nicht verbrannt, das ist der ganze Unterschied“ (Rosafarbene Blätter aus Hamburg, Nordischer Courier und Altonaer Nachrichten 1862, Nr. 218 v. 18. September, 2).

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Etikettenpräsenz: Konterfei von Johann Hoff (Deutscher Reichsanzeiger 1875, Nr. 246 v. 20. Oktober, 6)

Drittens stießen sich die Kritiker an Johann Hoffs ausgeprägter öffentlicher Spendenbereitschaft, die 1862 mit dem preußischen Kommissionsratstitel und dann mit weiteren Orden obrigkeitlich anerkannt wurde. Für den gläubigen Juden Hoff war dies Ausdruck der Zedeka – und innerhalb der orthodoxen Gemeinschaft dankte man ihm für seine vielfältigen Spenden für Arme in Berlin, in Pleschen, in Osteuropa, in Erez Israel, für Bildungseinrichtungen, für die Gründung einer eigenen Haussynagoge und seine Stipendien (Der Israelit 6, 1865, 527; ebd. 7, 1866, 813; ebd. 8, 1867, 39, 885). Doch Hoff unterstützte als Konservativer und Hohenzollernverehrer parallel die nationale Sache, richtete Stiftungen für Veteranen, Invaliden und Kriegerwitwen ein, begleitete jeden Krieg mit Malzextraktschenkungen, spendete dem König und dem Kriegsministerium anlässlich der zahlreichen nationalen Gedenktage, flaggte seine Fabrik preußisch und deutsch – und breitete diese Wohltätigkeit in seinen Inseraten aus. Für Kritiker war dies übergriffig, eine strategische Ausnutzung von Mildtätigkeit für kommerzielle Zwecke, für öffentliche Aufmerksamkeit. Das entsprach nicht ihrer Vorstellung vom alten Preußen und vom neuen Deutschland.

Es überrascht daher nicht, dass Johann Hoff viertens auch Zielscheibe des schon deutlich vor der Gründerkrise und dem Berliner Antisemitismusstreit akuten Antisemitismus wurde. Sein „Reklamegeschmetter“ galt als jüdische Überhebung, war Teil gängiger bildungsbürgerlicher Kritik an „der“ Reklame (W[ilhelm] Giese, Die Judenfrage am Ende des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1899, 35). Hoff stand für die „ungeheuerlichen, beispiellos frechen und materiell erfolgreichen Schwindel-, Luxus-, Lugs- und Betrugs-, Unsittlichkeits- und Unzuchtsindustrien“, die sie als sittlich verderblich und undeutsch gegeißelt wurden (H[einrich] Beta [d.i. Johann Heinrich Bettziech], Die Geheimmittel- und Unsittlichkeits-Industrie, Berlin 1872, 4). Sein Reichtum, sein Schwindel spiegelte einen aus den Fugen geratenen, vermeintlich von Juden geprägten Kapitalismus. Kurzum, in der Figur von Johann Hoff bündelten sich die vielfältigen Tropen des Alltagsantisemitismus, der nicht nur von bürgerlichen Konservativen und Nationalliberalen, sondern auch von weiten Teilen des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft getragen wurde.

Malz und Malzextrakt – Sprache als Marktelement

Diese vier Kritikpunkte müssten allesamt aufgefächert und ausdifferenziert werden. Für unsere Fragestellung nach dem späteren Scheitern des Braumeisters Hoff an der Etablierung eines neuartigen „Deutschen Porters“ als Substitut des importierten englischen Porters und der damals (in Berlin) noch vorherrschenden obergärigen Biere ist ein Blick auf die Nischenmärkte des Braugewerbes dieser Zeit jedoch wichtiger. Obwohl Hoff sich als „Erfinder“ des Malzextraktes präsentierte, obwohl er sich später auch als Neuerer des „Deutschen Porters“ stilisierte, so zeigt eine genauere Analyse des damaligen Marktumfeldes, dass der Berliner Erfolgsbrauer lediglich die einfach erkennbare Spitze eines vernischten und regional disparaten Marktes von Medizinalbieren war.

Was aber verstand man Mitte des 19. Jahrhunderts unter „Malzextrakt“? Malzextrakt war Teil der Brauersprache, galt als „die Würze“, als zu vergärender Grundstoff (J[ohann] F[riedrich] Dorn, Praktische Anleitung zum Bierbrauen und Branntweinbrennen […], 3. gänzl. umgearb. u. verm. Aufl., Berlin 1833, 65; Heinrich Förster, Praktische Anleitung zur Kenntniß über Besteuerung des Branntweins und des Braumalzes […], 2. umgearb. u. verm. Aufl., Berlin 1830, 72-73). Malzextrakt war einerseits ein aus Dextrin und Traubenzucker bestehendes nichtalkoholisches Vorprodukt der Bierproduktion (Eduard Reich, Die Nahrungs- und Genussmittelkunde, Bd. 1, T. 1, Göttingen 1860, 289-290). Anderseits aber handelte es sich um den stofflichen Rückstand, den man nach dem Abdampfen des Bieres bei der Nahrungsmittelkontrolle zurückbehielt. Bei dunklen Süßbieren, etwa der Braunschweiger Mumme, war er dominant, lag beim englischen Porter hoch, ebenso beim bayerischen Starkbier. Sein Anteil betrug gemeinhin zwischen 4 und 8 Prozent des Bieres (Hermann Klencke, Die Verfälschung der Nahrungsmittel und Getränke […], Leipzig 1858, 311).

Malzextrakt war, wenngleich nicht immer unter diesem Begriff, spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert diätetisches Heilmittel bei Erkältungen. Die relativ rasche Zersetzung der Enzyme und die aufwendige Herstellung begrenzten seine Verbreitung. Apotheker mussten es frisch zubereiten, konnten es nicht lange bevorraten. Dazu wurde Malz, also gekeimtes und wieder getrocknetes Getreide, geschrotet und vollständig mit Wasser bedeckt. Nach 6-8 Stunden wurde die Flüssigkeit abgelassen und dann bei geringer Hitze zu einem Sirup eingedampft. Dieser wurde anschließend nochmals mit Wasser bedeckt – und nach weiteren 6-8 Stunden neuerlich verdampft (Aerztliches Intelligenz-Blatt 9, 1862, 231). Das Resultat bestand aus einfach löslichen Kohlehydraten, war ein Nährmittel für Kranke und Kinder. Zeitweilige Bedeutung gewann ab 1864 die sog. Liebigsche Malzsuppe, ein häuslich zubereitetes Kindernährmittel, das die Muttermilch ersetzen sollte, als gewerbliches Substitut aber kaum Bedeutung gewann (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 91-93).

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Werbung für Liebigs Suppenpulver, einem Malzpräparat für Kinder (Kölnische Zeitung 1869, Nr. 30 v. 30. Januar, 4)

Es ist offenkundig, dass derartige Nähr- und Heilmittel etwas anders waren als die Hoffschen Angebote in Breslau und Berlin. Und entsprechend hieß es apodiktisch: „Der sogenannte Hoff’sche Malz-Extrakt ist kein Malz-Extrakt“ (Wiener Medizinische Wochenschrift 15, 1865, Nr. 42, Beilage). Es handelte sich vielmehr um „ein ziemlich starkes Bier, angeblich mit heilkräftigen Stoffen versetzt“ (Annalen der Landwirtschaft 7, 1867, 342). Hoffs Erfolg gründete jedoch just auf der Illusionskraft der Sprache: Er vermengte begrifflich ein Medizinalprodukt und ein Vorprodukt des Bierbrauens, machte aus ordinärem Bier ein „Gesundheitsbier“, einen neu definierten „Malzextrakt“. Die Schaffung neuer Dachbegriffe war nicht unüblich, überdeckte vielfach Produktänderungen ohne nähere Kennzeichnungen. Backpulver war in den späten 1860er Jahren etwas anderes als um die Jahrhundertwende, auch Brot und Bier veränderten sich derweil beträchtlich. Johann Bernhard Hoff hat die für moderne Konsumgütermärkte üblichen semantischen Illusionen für seine unternehmerischen Zwecke genutzt – und konnte seine Wertschöpfung dadurch massiv erhöhen.

Hoffs Malzextrakt im Marktkontext: Gesundheitsbiere, Deutscher Porter und medizinische Malzextrakte

Die Überlappung von Bier- und Medizinalmarkt, die damit einhergehenden Veränderungen tradierter Marktsegmente wurden von Zeitgenossen als Bruch mit der alten Ordnung verstanden, nicht aber als Übergang zu moderneren Formen der Marktgestaltung. Functional Food oder vegane Ersatzprodukte waren und sind in den letzten Jahrzehnten gleichfalls von intensiven Debatten eingerahmt worden, die nicht beachten, dass Fluidität, das Zerbrechen bestehender Ordnung, ein konstitutives Element moderner Marktwirtschaften ist. Ohne Einbezug der ökonomischen Logik bleiben solche Debatten halbgar, erschöpfen sich in medial gut aufzubereitenden Aufregungen. So auch die Debatten über Bier und Malzextrakt seit den 1860er Jahren: „Die Fabrikate des Hrn. Hoff in Berlin und das des Hrn. Rohrschneider in Potsdam […] sind dünnflüssige gegohrene Flüssigkeiten, die zwar ursprünglich ein Malz-Auszug gewesen seyn können, gegenwärtig aber vollständig den Charakter des Bieres angenommen haben“ (Ueber Malz-Extract, Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1861, Nr. 282 v. 28. November, 4).

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Konkurrierende Malzextraktangebote in Berlin: Rohrschneider, Potsdam (Königlich privilegirte Berlinerische Zeitung 1860, Nr. 230 v. 30. September, 33)

Derartige Zitate belegen, dass Hoff nicht alleine stand. Auch andere Anbieter verkauften ihr Bier als Gesundheitsbier, als Malzextrakt. Die zeitgenössischen Blicke richteten sich vorrangig auf den Marktführer, den Anzeigenkönig. Doch Hoffs Angebote wurden von Konkurrenten unmittelbar nachgeahmt und in ähnlicher Weise beworben. Sprachwandel ist einfacher als eine kapitalintensive produktionstechnische Umgestaltung. Nachahmungen und allgemeine Produktbezeichnungen lassen sich ohne Patentrechte resp. Markenschutz nicht verhindern. Derartiger Rechtsschutz fehlte, hätte auch kaum gewirkt – und die öffentliche Klage über die stets als schlechter bezeichneten Konkurrenzprodukte spiegelte dies nur.

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Andauernde Konkurrenz – auch in der Berliner Nachbarschaft (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 36 v. 27. März, 4)

Bei der den „Malzextrakt“ charakterisierenden Überlappung von Bier- und Gesundheitsmärkten sind drei eng miteinander verwobene Entwicklungen auseinanderhalten: Erstens nutzten zahlreiche kleinere Brauereien den von Hoff gesetzten Trend, um ihrerseits lokale und regionale Märkte zu bedienen. Zweitens griffen weitere Anbieter die Hoffschen Sprachspiele auf und vermarkteten Malzextraktprodukte unter anderen Namen, zumal als „Deutschen Porter“. Drittens grenzten sich Anbieter diätetischer Spezialitäten von den modischen Gesundheitsbieren ab und etablierten einen neuen Markt haltbarer und nichtalkoholischer Malzextrakte, die als Kräftigungs- und Heilmittel „seriös“ beworben wurden und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für Kinder, Kranke und Alte genutzt wurden. Dass all dies ab den späten 1880er Jahren auch zum neuen Getränkesegment der alkoholfreien Malz- und Nährbiere führte, sei nur ergänzt. Doch blicken wir genauer hin.

Lokale Konkurrenz bereiteten Johann Hoff in Berlin vor allem die Hofbrauer und Hoflieferanten Gebrüder Auerbach. Ihre Bitterbierbrauerei bestand seit 1855. Sie hatten seit den späten 1850er Jahren bereits mit Malzpulver als Muttermilchersatz experimentiert, nahmen also die Liebigsche Malzsuppe tendenziell vorweg (Berliner Gerichts-Zeitung 1860, Nr. 60 v. 24. Mai, 244). Seit Sommer 1860 boten sie als „kräftig-nahrhaftes, aber nicht aufregendes Getränk“ ein Gesundheits-Bier an, 15 Flaschen für einen Taler (Ebd., Nr. 87 v. 28. Juli, 352). Das war günstig, gab es für den Taler doch neun Flaschen mehr als bei Hoff. Selbstverständlich betonten die Hersteller, ihr „Gesundheits-Malz-Bier“ schon „seit Jahren“ zu brauen, den guten Ruf bei „fast sämmtlichen berliner Aerzten“, hoben ferner freie Zustellung und mäßige Preise durch „Massenabsatz“ hervor (Ebd., Nr. 99 v. 25. August, 400). Selbst der tägliche Genuss bei Hofe und „von den Königl. Prinzen“ durfte nicht fehlen (Ebd., Nr. 102 v. 1. September, 412). Die Gebrüder Auerbach etablierten Niederlagen ihres „Malz-Extractes“ auch außerhalb Berlins, nutzten bei der Werbung auch Empfehlungsschreiben (Rhein- und Ruhrzeitung 1861, Nr. 147 v. 25. Juni, 4: Dresdner Anzeiger 1861, Nr. 261 v. 18. September, 8). Die Inserate endeten jedoch 1863, danach konzentrierte sich die Firma vorrangig auf Malzpräparate für Kinder (Berliner Gerichts-Zeitung 11, 1863, Nr. 101 v. 29. August, 6). Das galt auch für eine Reihe anderer Berliner Anbieter, etwa die Schweizer Bierbrauerei von B. Weidner (National-Zeitung 1860, Nr. 485 v. 16. Oktober, 9). Einzig das von Julius resp. Carl Schultz seit 1860 angebotene Malz-Extrakt-Gesundheitsbier überdauerte die Hoffsche Marktpräsenz.

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Gesundheitsbier als Getränk des deutschen Michels 1862 (Frankfurter Latern 3, 1862, 108)

Dennoch gab es wiederholt lokale Konkurrenten, die sich nicht nur gegen Hoff behaupteten, sondern ihn offensiv attackierten. Das galt vor allem für die erbitterte öffentlich ausgefochtene Konkurrenz zwischen Johann Hoff und dem Kölner Braumeister Hubert Koch. Seit Mai 1862 bot er einen „Malz-Extract“, ein Gesundheitsbier an, in Flaschen für 3 Sgr., als Hauskrug, aber auch im Ausschank seiner Gast- und Speisewirtschaft (Kölnische Zeitung 1862, Nr. 126 v. 7. Mai, 6). Hoff warf dem Konkurrenten Täuschung vor, beklagte Angebote von „geborgtem Ruf“, verwies auf fehlende Gutachten (Ebd., Nr. 124 v. 5. Mai, 4). Koch nahm den Fehdehandschuh auf, machte sein Produktionsverfahren transparent und sich über seinen Konkurrenten in bemerkenswerter Weise lustig. Er, der „Braumeister ohne Titel“, verspottete den Hoffschen Titelfirlefanz, das Trallala seiner Gewährsleute. Er persiflierte dessen Werbung mittels erfundener Gutachten und forderte Hoff wieder und wieder auf, ihre Produkte vergleichend zu analysieren, statt lediglich die „Annoncen-Drehorgel“ zu spielen: „Nicht Wappensiegel zieren meine Flaschen, / Doch bergen sie viel edlern Saft, / Der – gar nicht wirkend auf die Taschen – / dem Schwachen neue Kräfte schafft“ (Ebd., Nr. 255 v. 14. September, 7). Die Auseinandersetzung zog sich über Monate hin, die Verbalinjurien nahmen zu, struktureller Antisemitismus brach sich Bahn. Als die Fehde im Januar 1863 endete, hatte sich Hubert Koch auf Kosten des Marktführers einen Namen gemacht, das Publikum über die „Malz-Extract-Schwindelei“ (Ebd. 1863, Nr. 25 v. 25. Januar, 8) aufgeklärt. Er verkaufte weiterhin seinen Malzextrakt, konzentrierte sich dann stärker auf das Gaststättengeschäft. Die Kölner Posse unterstrich die Brüchigkeit der Hoffschen Marktstellung, zugleich aber die Kraft einer unbeirrt durchgehaltenen Werbung. Kochs Vorwürfe mochten berechtigt sein, gingen aber an der Essenz des Marktgeschehens und der Konsumentenpsychologie vorbei. Dass zeitgleich der Kölner Braumeister Johann P. Schmitt mit seinem „Malz-Extract (Gesundheitsbier)“ Hoff und Koch erfolgreich Konkurrenz bereitete, unterstreicht die Dynamik des lokalen Wettbewerbs (Ebd. 1862, Nr. 154 v. 4. Juni, 8; ebd., Nr. 297 v. 26. Oktober, 8).

Hoffs Marktführerschaft wurde aber nicht nur von lokalen Braumeistern bedroht, die von Hoff gesetzte Begriffe aufgriffen und die Waren billiger anboten. Das galt auch für Nachfolgeanbieter im Ausland, etwa Wander in Bern oder aber die Wilhelmsdorfer Malz-Produkten-Fabrik in Linz. Allen Klagen über den „Malzextrakt-Gesundheitsbier-Schwindel“ (Malzextrakt nach rationellen Prinzipien bereitet, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 8, 1867, 109-110, hier 109) zum Trotz löste das anders benannte Bier zeitweilige Konsummoden hervor: „Malzextrakt ist die Universalmedizin, die man nicht löffel- sondern gleich krügelweise zu sich nimmt. Jedes Gasthaus ist zur Apotheke geworden und bei der herrschenden Gewitterschwüle schreit alles nur nach Malzextrakt. […] Karawanenweise zieht die Bevölkerung hinaus in den Weichselgarten und – medizinirt“ (Der Wiener Beobachter, Der Zeitgeist 2, 1862, Nr. 29, 5). Innerhalb der Brauereiwirtschaft akzeptierte man die neuartig beworbene Biersorte, plädierte für eine standardisierte und kontrollierte Massenproduktion: „Wenn dabei ferner jeder Schein von Schwindel ängstlich vermieden wird, dann kann jedes solche Etablissement eine glückliche Zukunft ‚anhoffen‘“ (Eigentliches Malzextrakt, Der Bierbrauer 7, 1865, 49-53, hier 53).

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Wettbewerb zwischen Malzextrakten unterschiedlicher Namen: Deutscher Porter vs. simplen Malzextrakt (Coburger Zeitung 1864, Nr. 180 v. 3. August, 1928)

Dazu kam es nicht. Stattdessen fächerte sich der Markt weiter auf – und dies mit Hilfe der zuerst von Hoff genutzten Sprachspiele. Der Leipziger Bierhändler und Hoflieferant Carl Grohmann verkaufte seit spätestens 1858 Zerbster Bitterbier als „Malz-Extrakt-Bier“ (Illustrirter Dorfbarbier 1858, Nr. 12 v. 21. März, 8; Illustrirte Zeitung 1860, Nr. 873 v. 24. März, 228). Dabei handelte es sich um ein seit der frühen Neuzeit gebrautes dunkles Bier, dessen Malz besonders geröstet wurde und in seinem Geschmack an die starken englischen Biere erinnerte. Grohmann ließ seit 1861 ein ähnliches Bier auf eigene Rechnung brauen, verkaufte es aber als „Deutscher Porter (Malzextrakt)“ (Illustrirte Curorte-Zeitung 22, 1897, Nr. 10, 11). Das war ein weiteres Gesundheitsbier, doch die neue Bezeichnung verlieh dem Produkt zeitweilig ein Alleinstellungskriterium, das zudem gut zur laufenden Adaption englischer Biere in deutschen Landen passte. Es handelte sich um ein hochpreisiger Heilsprodukt, zugleich aber um ein „diätetisches Genußmittel“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 9 v. 10. Januar, 179). Grohmann verstand es als Alternative zum Malzextrakt, als Tafelgetränk sollte es auch Wein ersetzen können. Die Werbung setzte mit einer gewissen Verzögerung ein, folgte ab spätestens 1863 der Hoffschen Art der Werbung mit großen Anzeigen (Leipziger Zeitung 1863, Nr. 16 v. 18. Januar, 288; ebd., 1864, Nr. 282 v. 27. November, 6298).

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Moderner Werbeauftritt (Neues Fremden-Blatt 1869, Nr. 68 v. 9. März, 18 (l.); Leipziger Zeitung 1867, Nr. 256 v. 27. Oktober, 6094; Illustrirte Curorte-Zeitung 26, 1901, Nr. 10, 18 (r.))

Johann Hoff blieb Grohmanns Hauptwettbewerber, Gutachten hoben stoffliche Gleichwertigkeit, jedoch höheren Wohlgeschmack und den etwas niedrigeren Preis hervor. Dennoch entwickelte sich der Deutsche Porter eher in Richtung eines Medizinalbieres: Er wurde angepriesen als das „gesündeste und wohlschmeckendste Stärkungsgetränk für Gesunde, Kranke und Reconvalescenten jeden Alters und Geschlechts“ (Dresdner Nachrichten 1865, Nr. 101 v. 11. April, 4), dann gar als prophylaktisches Mittel gegen Cholera (Ebd. 1866, Nr. 285 v. 12. Oktober, 3). Wie Hoffs Malzextrakt sollte es bei „Krankheiten der Respirationswege, Verdauungsbeschwerden, Appetitlosigkeit, geschwächtem oder verdorbenem Magen, Hämorrhoidalleiden“ helfen (Leipziger Zeitung 1868, Nr. 255 v. 25. Oktober, 6465). Auch Grohmann verlieh seinem Deutschen Porter eine längere, bis 1856 zurückreichende Vorgeschichte (Ebd., Nr. 234 v. 1. Oktober, 5997). Bier wurde damals zunehmend zu einem Traditionsgetränk. Geschmack, Nutzen und ein angemessener Preis reichten für die Vermarktung abseits von Haus und Gaststätte nicht mehr aus.

Grohmanns „Deutscher Porter“ unterschied sich zugleich aber vom Hoffschen Vorbild. Seine Zusammensetzung wurde mehrfach verändert, am Ende stand ein für damalige Zeiten sehr starkes Getränk von 4,7 % Alkohol – damals lagen fast alle Biere um 3 % Alkoholgehalt, erst die bayerischen Biere sollten dies ändern (Ebd. 1867, Nr. 54 v. 3. März, 1288; Chemisch-technisches Repertorium 21, 1882, 65). Der Deutsche Porter war kein reines Bier, sondern mit Traubenzucker und konservierenden Schwefelsäure versetzt (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 23, 1892, 406). Zudem pflegte Grohmann einen engen Bezug zum wissenschaftlichen Establishment Sachsens, nutzte Gutachten und Empfehlungsschreiben von Pharmazeuten und vor allem von Medizinern (Leipziger Zeitung 1866, Nr. 268 v. 11. November, 5837). Das half, sich gegenüber dem „Absude nachahmender Speculanten“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 54 v. 3. März, 1288) abzugrenzen. Die Werbung selbst war moderner als die Hoffs, nutzte früher sächsische Hoheitszeichen und Medaillen als Bildelemente (Leipziger Zeitung 1864, Nr. 6298 v. 27. November, 282). Berlin war damals werbetechnisch eher rückständig, während Sachsen vom Lehrmeister Wien profitierte. Grohmann nutzte auch ab 1865 einen Slogan, „genau nach medicinischer Vorschrift gebraut“ (Leipziger Zeitung 1865, Nr. 275 v. 19. November, 5966). Der Absatz konzentrierte sich auf Sachsen, Bayern und Cisleithanien, dort konkurrierte man mit Hoffs Malzextrakt. Dazu dienten niedrigere Verkaufspreise, anfangs 6,5 Sgr., 1868 aber nur noch 5 Sgr. pro Flasche. Hoff bewarb vorrangig Letztkunden, Grohmann zielte stärker auf den Großhandel und konzessionierte Depots (Wiener Medizinische Wochenschrift 19, 1869, Nr. 20, Sp. 36). Das entsprach dem Geschäftsgebaren eines großstädtischen Bierhändlers.

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In vertrautem Ton: Anzeige von Carl Eduard Werners „Deutschem Porterbier“ (Leipziger Zeitung 1867, Nr. 253 v. 24. Oktober, 6031)

Ansonsten finden wir in Sachsen ähnliche Marktentwicklungen wie beim Hoffsche Malzextrakt. Grohmanns nachgeahmtes Pionierprodukt Deutscher Porter wurde seinerseits ab Mitte der 1860er Jahre vom Leipziger Restaurateur Carl Eduard Werner nachgeahmt (Dresdner Anzeiger 1866, Nr. 346 v. 12. Dezember, 18). Dessen Werbung war selbstbewusst, gründete auf chemischen Analysen. Der Mediziner Gustav Hoppe bestätigte, dass Werners „Deutscher Porter“ den vergleichsweise „meisten Nahrungsstoff“ besitze (Dresdner Nachrichten 1866, Nr. 365 v. 31. Dezember, 3). Auch bei Werner ging dem Vertrieb ein Bierhandel und ein Bierausschank voran, auch hier stand das Zerbster Bitterbier am Anfang (Leipziger Tageblatt 1864, Nr. 97 v. 6. April, 1753). Der Herausforderer forderte zudem deutlich niedrigere Preise, 1873 lediglich 2 Sgr. pro Flasche resp. 17 Flaschen für einen Taler (Ebd. 1873, Nr. 57 v. 26. Februar, 3). Damit war auch ein gewisser Rahmen für die 1872 beginnende Einführung des Hoffschen Deutschen Porters gesetzt.

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Hammers Deutscher Porter – Ein weiteres billiges Substitut für Hoffs Malzprodukte (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6241)

In Sachsen etablierten sich in den 1860er und frühen 1870er Jahren mehrere Anbieter Deutschen Porters. In Schlesien lieferte seit spätestens 1868 die Lagerbier- und Porterbrauerei A. Hausdorf „Deutscher Porterbier“ für drei Sgr. die Flasche (Kladderadatsch 21, 1868, Nr. 5, Beibl., 1; ebd. 23, 1870, Nr. 11, Beibl., 4). Auch in Halle a.d.S. entstand mit der Firma Lehmer ein neuer Billiganbieter (Saale-Zeitung 1873, Nr. 233 v. 5. Oktober, 6), verschärfte mit Preisen von 2 Sgr. die Wettbewerbslage für das 7½ Sgr. teure Hoffschen Produkt weiter (Ebd., Nr. 236 v. 9. Oktober, 6). Die Einführung des Hoffschen Deutschen Porters war 1872 daher auch ein Konter gegenüber neuen Billigangeboten. Dass es sich dabei durchweg um ähnliche Biere handelte, versteht sich sicher von selbst. Es ging um Kraftmeierei in einem sprachlich heterogenisierten Markt. Entsprechend verstand Carl Grohmann den Hoffschen Deutschen Porter als Nachahmung seines vermeintlichen Pionierproduktes: „Diese Copien stehen natürlich hinter dem Original weit zurück“ (Leipziger Zeitung 1873, Nr. 30 v. 3. Februar, 678).

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Malzextrakt auf dem Weg zum Pharmazeutikum (Schwäbische Kronik 1872, Nr. 294 v. 11. Dezember, 4413; Dresdner Journal 1878, Nr. 24 v. 29. Januar, 95)

Die mitteldeutsche Produktion Deutschen Porters spiegelte den wettbewerbsbedingten Preisverfall der neuen Gesundheitsbiere. Parallel aber entstanden neue höherpreisige Segmente für neuartige Medizinalprodukte. Firmen wie Eduard Loeflund (Stuttgart) und J. Paul Liebe (Dresden), dann auch Gehe (Dresden) und Schering (Berlin) griffen die Tradition des Malzextraktes als Apothekerware wieder auf. Am Anfang standen trockene alkoholfreie Malzextrakte. In Sirupform waren sie eine Beigabe der Säuglingsernährung, ein ärztlich verordnetes Nährmittel bei Entkräftung und Krankheit (Trocknes Malzextrakt und trocknes Mehlextrakt, Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin 154, 1872, 384-385). Genaueres chemisches Wissen über Kohlehydrate, vorrangig die Dextrine, insbesondere aber die Maltose, erlaubten durch veränderte Prozessführung gehaltreichere, kaum gärende und haltbarere Produkte. Malzextrakte blieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Standardpräparat (Eugen Seel, Zur Kenntnis des Malzextrakts, Medizinische Klinik 7, 1911, 456-458).

Englisches Nationalgetränk: Der Porter

Die marktbezogenen Sprachspiele von Johann Hoff und Carl Grohmann hatten die tradierte Bedeutung von Malzextrakt und Porter unterminiert, spiegelten zugleich aber die innere Gärung des Biermarktes in Mitteleuropa. In der Forschung lesen wir vom Siegeszug der untergärigen Lagerbiere, deren Ursprünge in Böhmen und dann vor allem in Bayern lagen. Diese waren weit aufwändiger herzustellen als die noch dominierenden obergärigen Biere. Doch der Einsatz moderner Technik, der Dampfmaschine, automatischer Malzdarren, dann auch moderner Kühlmaschinen und Reinhefen, ermöglichten eine zuvor nicht erreichbare Kontrolle des Brauprozesses. Technisierung und Verwissenschaftlichung mündeten seit den 1870er Jahren in vollmundigere und alkoholhaltigere Biere bayerischer Art. „Deutsche“ Biere begannen damals ihren internationalen Siegeszug, weniger in Form von Exportbier als vielmehr durch den Export von Brauern, Hopfen, Malz, Maschinen und zahllosen technisch-analytischen Geräten. Die Akzeptanz des Reinheitsgebotes im norddeutschen Braugebiet war 1906 demnach Schlussstein einer Entwicklung hin zur Weltgeltung deutschen Lagerbieres, die zugleich die obergärigen Biere Großbritanniens weltweit verdrängten. Gewiss, so war es – wenn man allein auf die großen Linien blickt. Doch schon der Aufstieg des Deutschen Porters im Sachsen der 1860er und 1870er Jahre sollte aufhorchen lassen. Noch viel mehr, dass Johann Hoff seinen Deutschen Porter just 1872/73 propagierte, parallel zur Gründung zahlreicher Aktiengesellschaften für bayerisches Bier. Er erklärte letzteres für überholt und vergangen und wollte einen Deutschen Porter zum Nationalgetränk machen wollte.

Porter entstand in England, genauer in London im frühen 17. Jahrhundert (Martyn Cornell, Porter for the Geography of Beer, in: Nancy Hoalst-Pullen und Mark W. Patterson (Hg.), The Geography of Beer, Cham 2020, 7-22; James Sumner, Status, scale and secret ingredients: The retrospective invention of London porter, History and Technology 24, 2008, 289-306). Das dunkle, nährstoffreiche und relativ alkoholhaltige Bier war deutlich länger haltbar als die gängigen Biere, als Ale und Stout. Porter setzte sich in Großbritannien auch in breiten Teilen der Arbeiterschaft durch, wurde zudem weltweit exportiert. Das Wachstum des British Empire ging einher mit der Verbreitung des Porterbieres. In deutschen Landen war es seit dem späten 18. Jahrhundert präsent, Hamburg der wichtigste Importhafen (Hamburger Relations-Courier 1780, Nr. 177 v. 6. November, 4; Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 1796, Nr. 32 v. 24. Juli, 7; Altonaischer Mercurius 1798, Nr. 104 v. 29. Juni, 7). Importierter englischer Porter war Anfang des 19. Jahrhunderts im nördlichen und westlichen Deutschland erhältlich (Lippstädtische Zeitung 1800, Nr. 78 v. 16. Mai, 6; Leipziger Zeitung 1814, Nr. 189 v. 26. September, 2694; Berlinische Nachrichten 1814, Nr. 117 v. 29. September, 8). Die Bewertung des ausländischen Bieres war allerdings unterschiedlich: Während es auf der Hamburger Boulevardbühne hieß, dass man „Lüstern nach Porterbier“ sei (Friedrich Ludwig Schmidt, Die Theilung der Erde, Hamburg 1824, 75), urteilte ein bayerischer Reisender nach Besichtigung führender Londoner Brauereien: „So ungeheuer auch die Braustätten […] sind, so ungenießbar ist ihr Porter und ihr Ale für einen Baier, dessen Gaumen und Magen nie ohne Ekel an den stattlichen Porter […] und an das starke Ale […] sich zurück erinnern kann, wenn er auch nur einmahl in seinem Leben zu dem martervollen Versuche aus Durst gezwungen war, davon zu kosten“ (Barclay’s Brauerei in London, Polytechnisches Journal 17, 1825, 129-130). Porter war im deutschsprachigen Raum durch Transport und Zölle zudem teuer, ein Luxusbier für Begüterte, kein Massengetränk.

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Importbier als teures Angebot für deutsche Kenner (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 25, Beibl. 1, 1)

Porter verkörperte im frühen 19. Jahrhundert England, stand für einen militärisch starken, wirtschaftlich prosperierenden Staat mit hohem Lebensstandard: „Des Tages ein- oder mehrmal einige Eier, ein Beefsteak oder Rostbeef, einige Tassen Thee mit Zucker und Porterbier gehören zu den allgewöhnlichsten Lebensbedürfnissen, ohne welche der englische Fabriksarbeiter, so wie selbst der sogenannte Arme über die bitterste Noth klagen würde“ (Liebich, Ueber Vermehrung des Arbeitsfondes und des Brennstoffs, Mittheilungen des Vereines zur Ermunterung des Gewerbegeistes in Böhmen 3, 1844, 637-653, hier 637). Das entsprach nicht der historischen Realität, die Friedrich Engels (1820-1895) präziser beschrieb. Doch auch für ihn spiegelte sich die besondere Not des Armenhauses in dem karg bemessenen, teils gar fehlenden Bier (Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845, 342). Porter galt als englisches Nationalgetränk – so wie der Schnaps für Preußen, das Bockbier für Bayern und der leichte Wein für Österreich. Die neue chemische Lehre der Nahrungsstoffe und des Stoffwechsels ließ Trank und Menschen miteinander verschmelzen, spiegelte vermeintliche Nationalcharaktere: „Der Porterbier trinkende, schwerfällige, ruhige, finstere, schweigsame, Strick-Nerven besitzende Britte bedarf seines Porterbieres, er braucht ein dem Nebel und Kohlendampf besiegendes, mächtig erregendes, den Magen beschäftigendes Getränk; dort wo ein Anderer eines Fingerdruckes bedarf, braucht er einen Rippenstoß, um aus seinem Gleichmuthe zu kommen: der immer rege, thätige Geist fordert Essenzen“ (Der Blasirte, Echo von der Elbe 1875, 127-128, hier 128).

„Nationalgetränke“ spiegelten das Zeitalters des Nationalismus, waren mit der komplexen Realität regional, teils auch lokal geprägter Trinkweisen jedoch nicht in Einklang zu bringen. Sie standen für simplifizierende Homogenität in einer zunehmend fragmentierten Welt, geprägt vom Vordringen neuer „fremder“ Waren, teils aus dem Ausland, teils aus den gewerblichen Betrieben. Letztere nutzen die wohlige Fiktion des Eigenen denn auch konsequent für ihre Werbung. Kräuterlikör von August Dennler mutierte zum „schweizerischen Nationalgetränk“ (Süddeutsche Post 1874, Nr. 63 v. 6. August, 6), doch auch der mit Zichorie versetzte Kaffee tauchte als deutsches Nationalgetränk auf, während „Bier“ damals den Altbayern zugeschrieben wurde und der „Haustrunk“ Most in weiten Teilen Hessens, des Südwesten und Österreichs als Nationalgetränk vermarktet wurde. Der Begriff spiegelte die wachsende Bedeutung, die Speis und Trank für die Identität großer von Wahlmöglichkeiten geprägten Gruppen hatten, der Kümmel etwa für Preußen, der Wein für die Rheingegend. In dem erst 1871 in einem kleindeutschen Rumpfstaat zusammengeführten Deutschland waren Nationalgetränke Herausforderungen, war man doch auf der Suche nach Einheit, gar nach einer nicht vorhandenen deutschen Küche. Der Kauf von Porterbier war lange Zeit ein Verstoß gegen die sittlich gebotene Sparsamkeit: Champagner und Porter verkörperten unangemessenen Luxus, gar Verschwendung. Bierbrauen sei eine deutsche Kunst – trotz der Dominanz des häuslichen Brauens, trotz der Unzahl kleinster Brauereien mit kläglichem, nach Wetterlage unterschiedlichen Resultaten. Doch in einer vielgelesenen Erörterung über die deutsche Misere nach den an sich gewonnenen napoleonischen Kriegen hieß es, nachdem ein billiges und wohlschmeckendes Bier anstelle des Porters gereicht wurde: „Herrmann. Nur wenige deutsche Bierbrauer werden aber ein solch herrliches Bier zu bereiten vermögen? Biedermann. Und doch bin ich überzeugt, daß er jedem diese Kunst gelernt haben würde, der ihn darum ersucht hätte!“ (Unterhaltungen des Pfarrers Biedermann zu Roßberg […] über Deutschland bedenklich-kränklichen Zustand […], Stuttgart 1821, 93)

Lernprozesse, Nachahmung und Adaption: Englischer Porter in deutschen Landen

Der Import von englischem Porter war aufwändig und teuer. Entsprechend gab es schon im späten 18. Jahrhundert Bemühungen, ihn auch in deutschen Landen zu brauen. Das geschah im merkantilistischen Umfeld anfangs nicht marktbezogen, sondern wurde obrigkeitlich angestoßen. Charakteristisch war eine hamburgische Preisaufgabe, die demjenigen „hiesigen Bierbrauer, welcher ein braunes Bier, das dem ächten Englischen Porterbier an Geschmack, Stärke, Klarheit und Dauer gleich kommt, zu einem verhältnißmäßig billigen Preis liefert, eine Prämie von 8. Sp. Duc“ versprach (Intelligenzblatt der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek 1796, Nr. 3, 39).

Zu dieser Zeit war Nachahmung zwar anrüchig, zugleich aber gängige Praxis. Kolonialwaren wurden in wachsendem Maße gekauft, doch abseits von Adel und gehobenem Bürgertum waren Surrogate ein gängiges Mittel bedingter Teilhabe an den Gütern der Welt. Dazu nutzte man einheimische Ressourcen, mit deren Hilfe man sich dem begehrten Original näherte: Aus Rüben wurde Zucker extrahiert, Zichorenwurzeln, Gerstenkörner, gar Eicheln mutierten zu Kaffeeersatz. Oft fehlende Kenntnisse des Originals erleichterten den Ersatz, machten ihn akzeptabler. Wärmender „Kaffee“ war ein Heißgetränk neuer Qualität, der Rübenzucker erweiterte die Geschmacksvielfalt.

Beim Bier, bei der Nachahmung des Porters setzte man hierzulande anfangs auf die Veränderung des Bewährten. In Nord- und Mitteldeutschland gab es eine reiche Tradition starker, haltbarer Biere. Sie waren, wie das schon erwähnte Zerbster Bitterbier, Handelsgüter, die angesichts der Verbreitung des englischen Porters unter Druck gerieten. Auf Basis recht rudimentärer Kenntnisse des Porters veränderte man Anfang des 19. Jahrhunderts daher in vielen Orten tradierte Brauweisen, um neue lokale Spezialitäten herzustellen, mit denen man zumindest den Heimatmarkt gegen die „englischen Biere“ behaupten konnte. Entsprechende Angebote gab es etwa in Lüneburg, in Braunschweig, in Magdeburg und Frankfurt a.M., allesamt Städte mit einer weit zurückreichenden Brau- und Handelstradition (Joh. Heinrich Moritz Poppe, Technologisches Lexicon, T. 1, Stuttgart und Tübingen 1816, 441). Porterbier wurde aber nicht nur nachgeahmt, sondern an vielen Orten auch unter diesem und dem eigenen Namen vermarktet: Althaldenslebener, Halberstädter und Prillwitzer Porter oder aber das Stettiner Porterbier waren bekannte Beispiele (Johann Herrmann Becker, Versuch einer allgemeinen und besondern Nahrungsmittelkunde, T. 2, Abt. 2, Stendal 1822, 151).

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Echtes Porterbier aus Köstritz (Leipziger Zeitung 1815, Nr. 186 v. 23. September, 2218)

Trotz dieser offenbar eindeutigen Bezeichnungen war die Frage nach der genauen Zusammensetzung nicht nur dieser Biere, sondern insbesondere des englischen Porters vielfach offen. In London gab es schon großbetriebliche und maschinelle Porterbrauereien, doch deren Rezeptur war Geschäftsgeheimnis. Damalige Konsumgüter waren aber auch aufgrund der fehlenden Standardisierung der Rohprodukte chamäleonhafte Angebote. Die Brauweise war an sich bekannt, die Zutaten aber unklar. So wurde Hopfen vielfach durch Bitterklee ersetzt (Bereitung des so berühmten, englischen Porter-Biers, für Bierbrauer, Oettingisches Wochenblatt 1802, Nr. 45 v. 10. November, 3). In Deutschland folgten umfangreiche Versuche, Hopfensubstitute sollten das gesamte 19. Jahrhundert über ein kontroverses Thema bleiben. Süßholz resp. Lakritzsaft war ebenfalls üblich und wurde hierzulande ebenso eingesetzt – etwa beim Köstritzer Doppel- und Porterbier (Der Anbau des Süßholzes, Wochenblatt 1812, Nr. 3 v. 17. Januar, Sp. 46-28, hier 47). Daneben aber nutzte man weitere Zusatzstoffe, um Farbe, Geschmack und Haltbarkeit zu verbessern: „Malz, Hopfen, Syrup, Süßholzwurzel, […karamelisierter Zucker…, US], Farbe (gebrannter Zucker, weniger lang und daher weniger bitter) und Capsium (Cayennepfeffer), spanischer Süßholzsaft, Fischkörner, Alaun, Eisenvitriol und Weststeinsalz (Pottasche), Ingwer, gelöschter Kalk, Leinsamen und Zimt“ (Vorschrift zu Porterbier, Das Neueste und Nützlichste der Erfindungen, Entdeckungen und Beobachtungen […], Bd. 8, Aufl. 2, Nürnberg 1820, 18-20). Angesichts derartiger Rezepte war Nachahmung immer auch innovativ, konnte keine Reproduktion des englischen Porters sein. Bis weit über die Jahrhundertmitte wiesen die Angebote aus London oder Dublin beträchtliche Unterschiede auf. Bier war damals immer auch ein Abenteuer, ein Überraschungsmoment im Alltag. Es war den vielfältigen Geheimmitteln dieser Zeit nicht völlig unähnlich.

Stärker als in England debattierte man hierzulande über die genaue Stellung des Porterbieres: War es ein Medizinalbier, wie viele der deutschen Schwarz- und Braunbiere? Oder war es ein nährendes Alltagsgetränk wie in Großbritannien? Das galt analog für viele andere Importwaren: Schokolade und Kakao wurden damals vielfach salzig konsumiert, galten als Genussmittel und als Medizin. Einer der ersten Ratgeber für die Brauerei englischer Biere enthielt demnach „erprobte Anweisungen und Recepte, aus verschiednen Ingredienzien die besten Gesundheitsbiere zu verfertigen, die bey gewissen Krankheiten die herrlichsten Dienste thun“ (Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyschen Correspondenten 1808, Nr. 83 v. 24. Mai, 4). Als Stärkungsmittel wurde Porter, wie die Mumme, ärztlich empfohlen (Medicinisch chirurgische Zeitung 1798, Erg.-Bd. 2, 266). Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein besaß Porter nach Auskunft der Zeitgenossen „einen arzneilichen Geschmack“ (J[ohann] C[arl] Leuchs, Brau-Lexicon, 3. Ausg. v. Leuchs Braukunde, Nürnberg 1867, 165). Erst langsam emanzipierte sich das englische Bier von dieser Bürde. Brauer aber blickten auf die englischen Verhältnisse, auf ein Alltagsgetränk: „Es ist der Trank der untern Volksklasse, der stetige Gesellschaft am Tisch des Bürgers, und niemals fehlend beim Mahle des Reichen“ (Adolph Lion, Handbuch der Medicinal- und Sanitätspolizei, Bd. 1, Iserlohn 1862, 360).

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Wissenstransfer durch Ratgeber (Accum, 1821 (l.) und Hermbstädt, 1826)

Das Wissen um die Porterproduktion wurde seit Anfang des 18. Jahrhunderts in Deutschland erst durch Spezialartikel, dann durch Ratgeber und Lehrbücher verbreitet. Üblich waren Übersetzungen englischer Werke: Johann Gottfried Bönischs (1777-1831) 1806 erschienenes Buch „Ueber das Bierbrauen der Engländer“ stammte großenteils aus dem 1802 erschienenen „A Treatise on brewing“ des Londoner Brauers Alexander Morrice. Andere Arbeiten unterstreichen die Bedeutung von Emigranten beim Wissenstransfer. Andreas Freeport veröffentlichte nach zwanzigjähriger Arbeit als Brauer in Deutschland und England 1808 seine „Theorie und Praxis von dem braunen und weißen Englischen und Deutschen Bierbrauen“ (Reich der Todten 23, 1808, 519-520). Friedrich Accums (1769-1838) 1820 erschienene Anweisung zum Brauen englischer Biere erschien ein Jahr später in deutscher, dann auch in französischer Übersetzung. Als Standardwerke dürften sich aber Sigismund Friedrich Hermbstädts (1760-1833) „Chemische Grundsätze der Kunst Bier zu brauen“ bzw. Johann Carl Leuchs (1797-1877) 1831 erschienene „Vollständige Braukunde“ durchgesetzt haben. Ersterer beschrieb die konstitutive Mischung dreier Malzarten und den Zusatz von Zucker und Süßholz- oder Lakritzsaft, letzterer verglich die verschiedenen Verfahren der Porterbrauerei in England und Deutschland. Gleichwohl bezeichneten Mediziner Porter weiterhin als „ein wahres Compositum giftiger Substanzen“ (A[nton] H[einrich] Nicolai, Grundriss der Sanitäts-Polizei, Berlin 1835, 48).

In der Tat wurde der Exporterfolg in deutschen Landen von fehlenden Standardisierungen und häufigen Verfälschungen insbesondere der Fassware beeinträchtigt. Flaschenware war hochwertiger, doch aufgrund der hohen Verpackungskosten und schlechter Glasqualität nochmals teurer (E.A.F. Hoffmann, Der Getränke-Prüfer, Quedlinburg und Leipzig 1826, 29-35). Porter blieb ein städtisches, gutbürgerliches und norddeutsches Getränk, war unterhalb der Mainlinie selten. Deutschland war keineswegs das typische Bierland, denn im Norden und Osten dominierte der Kartoffelschnaps, der „Branntwein“, in Bayern und den südwestlichen Mostländern wurde weit mehr als doppelt so viel Bier getrunken. Vor allem die Hafen- und Handelsstadt Hamburg galt als Porterstadt, dort gab es zahlreiche Import- und Handelsfirmen, dort wurden englische Biere ausgeschenkt und in Fachgeschäften verkauft (Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1859, Nr. 8 v. 19. Januar, 4).

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Porterverkauf in Hamburg (Staats und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten 1836, Nr. 130 v. 3. Juni, 10 (l.); Hamburger Fremdenblatt 1871, Nr. 201 v. 27. August, 4)

Entsprechend überrascht es nicht, dass sich Porterbrauereien nur in Nord- und Mitteldeutschland etablieren konnten. Neugründungen waren anfangs selten, zumeist handelte es sich um die schon erwähnten lokalen Brauereien, die ein als Porter bezeichnetes Bier in ihr Angebot integrierten. Die wichtigste Neugründung war die Porterbrauerei der Nathusiuschen Gewerbeanstalten in Althaldensleben bei Magdeburg, einem in den 1820er Jahren einzig dastehenden Mischkonzern mit weit über tausend Beschäftigen. Über die dort durchgeführten Versuche und die Produktionstechnik unterrichtete das 1821 veröffentliche Buch „Der deutsche Porterbrauer oder Anweisung, ein dem englischen Porter gleichkommendes Bier zu brauen“, das noch 1836 in vierter Auflage überarbeitet herausgegeben wurde (vgl. auch Leuchs, 1831, 384-386). Zeitgenossen sprachen damals vom „Uebergang aus dem Gebiete der Oekonomie zu dem der Technologie“, lobten insbesondere das dort gebraute Ale, während man dem Porter gegen skeptisch war, „da er seines säuerlichen Geschmacks wegen, der auch dem ächt englischen eigen ist, dem teutschen Gaumen im Allgemeinen schwerlich zusagen wird“ (Oekonomische Neuigkeiten und Verhandlungen 1824, Nr. 93, 742 – beide Zitate). Andere lobten dagegen seine lange Haltbarkeit, seine Nährkraft und betonten, dass der Porter „neuerlich in Deutschland Cours erhalten“ habe (Emil Ferdinand Vogel, Geschichte der denkwürdigsten Erfindungen […], Leipzig 1842, 172 (Zitat)-173).

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Schema einer dampfgetriebenen englischen Porter-Brauerei (Leuchs, 1831, 596)

Mitte des 19. Jahrhunderts war die erste Welle der Gründungen abgeebbt, doch steigende Importe und der insgesamt wachsende Bierkonsum führten im Gebiet des deutschen Zollvereins zu vermehrtem Porterkonsum. Weiterhin gab es regionale Gründungen, so 1853 die kleine Brauerei von Christian Rose (1803-1877) im mecklenburgischen Grabow, der die Porterbraukunst zuvor in London studiert hatte. Im gleichen Jahr entstand auch in München eine erste Porterbrauerei (Philipp Heiß, Die Bierbrauerei mit besonderer Berücksichtigung der Dickmaischbrauerei, München 1853, 156-160). Der Siegeszug des hellen bayerischen Bieres war von weiteren Gründungen gegen die vermeintlichen Trends der Zeit begleitet: 1865 errichtete der Großbrauer Gabriel Sedlmayr (1811-1891) ein Brauhaus für englischen Porter – sechs Jahre bevor er mit der Installation der ersten Lindeschen Großkältemaschine in der Spatenbrauerei sein Gewerbe technisch grundstürzte (Tag-Blatt der Stadt Bamberg 1865, Nr. 76 v. 17. März, 2). Porter wurde in der Fachliteratur jedenfalls stetig behandelt (Ladislaus von Wagner, Handbuch der Bierbrauerei, 5. sehr verm. u. gänzl. umgearb. Aufl., Weimar 1877, 904-907). Wie die bayerischen Biere mit ihrer gemeinschaftsbildenden Gemütlichkeit verkörperte auch der Porter als Getränk aller gesellschaftlichen Klassen die gesellschaftspolitische Idee der bürgerlichen Gesellschaft.

Diese Entwicklungen bildeten den Rahmen für die Sprachspiele mit dem „Deutschen Porter“ erst in Sachsen, dann im gesamten mitteldeutschen Raum. Festzuhalten aber ist, dass Porter englischer Art ein gänzlich anderes Getränk war als die Malzextrakte und Gesundheitsbiere Hoffscher und Grohmannscher Art. Sie waren alkoholhaltiger, süffiger und auch billiger. Es handelte sich nicht um flüssige Medizin, sondern um Bier mit hohem Nährwert. Das schuf Marktchancen, erste Aktiengesellschaften wie die 1868 begründete Norddeutsche Ale- und Porter-Brauerei in Hemelingen entstanden: „Für die Produktion von Ale und Porter ist in Deutschland noch keine Konkurrenz vorhanden; die wenigen in Bremen und Hamburg existierenden Ale- und Porterbrauereien exportiren ihr Produkt überseeisch; es müssen daher alle dergleichen Biere für den Konsum im Zollvereine vom Auslande eingeführt werden“ (Westfälischer Merkur 1868, Nr. 158 v. 12. Juli, Ausg. 2, 1). Die englische Brauart sei kostengünstiger und weniger fehleranfällig als die Produktion untergäriger bayerischer Biere. Mit den niedrigeren deutschen Löhnen und dem besseren Zugang zu heimischen Rohwaren könne man billiger als die englische Konkurrenz produzieren, könne man auch in die Massenproduktion einsteigen.

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Weitreichendes Versandgeschäft: Englische obergärige Biere aus Deutschland (Aschaffenburger Zeitung 1869, Nr. 281 v. 14. November, 3)

Von den 300.000 Goldtalern Grundkapital wurden 200.000 eingezahlt, 1869 begann die Produktion, Anerkennung in der Fachpresse folgte. Englands Brauereien erhielten scheinbar mehr als gleichwertige Konkurrenz, denn moderne Technik ermöglichte ein chemisch reineres Bier (Werner, Porter und Ale, Allgemeine Hopfen-Zeitung 10, 1870, 54). Parallel nahm schon vor der Gründerzeit die Zahl der Gaststätten und Bierhallen zu, die ihren Kunden andere Biere von auswärts boten. All das erfolgte, während Johann Hoff den Einstieg in die Produktion „Deutschen Porters“ vorbereitete, um eine Umgestaltung der deutschen Bierkultur und ein weltweites Verdrängen des englischen Porters zu bewirken.

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Begrenztes Vordringen englischer Biere: Englische Taverne in Köln 1872 (Kölnische Zeitung 1872, Nr. 90 v. 30. März, 8)

Gründerboom: Johann Hoffs Einstieg in die Porterproduktion

Am 22. Februar 1872 blickte Johann Hoff auf eine dreißigjähre Tätigkeit im Brauereifach zurück, ließ sich als Vertreter von „Patriotismus, Wohlthätigkeit, Frömmigkeit und Industriefleiß“ feiern (Der Israelit 13, 1872, 270). Er war umstritten, gewiss, doch erfolgreich, eine Person des öffentlichen Lebens, „eine herrliche Zierde des hiesigen, ja des gesammten orthodoxen Judenthums“ (Der Israelit 13, 1872, 270). Das Malzextraktgeschäft war jedoch nicht mehr so dynamisch wie in den 1860er Jahren, und ein reines Abschöpfen der weiterhin hohen Erträge schien im Umfeld des Gründerbooms der frühen 1870er Jahre nur eine Selbstbeschränkung. Hoff spekulierte, setzte auf eine Ausweitung und Diversifizierung seines Geschäftes, wollte ein noch größeres Rad drehen. Zugleich erhöhten der massive Zufluss französischer Reparationszahlungen und die allgemeine Deregulierung der Wirtschaft den Druck auf alle im tradierten Fahrwasser wirtschaftenden Betriebe.

Zu dieser Zeit litt Berlin unter einer „Bierfrage“, die lange Zeit Wind in die Segel Johann Hoffs war. Berlin besaß spätestens seit den 1860er Jahren nicht genügend Braukapazität für die rasch wachsende Bevölkerung, so dass es insbesondere während des Sommers zur regelmäßigen „Biernoth“ kam. Wie bei anderen Konsumgütern, etwa dem an sich aus Berlin stammenden Baumkuchen, war die neue Reichshauptstadt eine Importstätte für Bier allgemein, für Lagerbiere und Spezialitäten im Besonderen. Das Aktiengesetz vom 11. Juni 1870 initiierte eine Gegenbewegung, denn mit Bier ließ sich scheinbar rasch Gewinn machen.

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Brauereiaktien als Handelsgut (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 92 v. 20. April, 21)

Berlin war traditionell eine Stadt obergärigen Bieres. Im späten 18. Jahrhundert dominierte Braunbier, auch Kufenbier, als lokale Spezialität zudem die „Weiße“. Allerdings gab es damals schon eine erste Brauerei für „englische Biere“ (Otto Wiedfeld, Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720 bis 1890, Leipzig 1898, 148, auch für das Folgende). Bis Mitte des 19. Jahrhundert dominierte der steuerfreie Haustrunk, die Brauereien waren eher mittelständisch. Die Braun- und Weißbierbrauerei geriet in den folgenden Jahrzehnten jedoch unter massiven Druck des zuerst importierten, dann aber zunehmend auch in Berlin produzierten untergärigen bayerischen Bieres. Noch 1860/61 wurden in Berlin 126,334 Ztr. Malz für obergärigen und 75,023 für untergärige Biere versteuert. 1875/76 hatte sich die Relation umgekehrt, zugleich die Produktion massiv erhöht (293,508 vs. 531,448 Ztr. Malz) (Julius Frühauf, Der Bierverbrauch in Berlin, Arbeiterfreund 15, 1877, 253-258, hier 257). Das bayerische Bier galt als schmackhafter und vollmundiger, doch in Berlin produzierten die neuen Aktiengesellschaften fast durchweg „Dividendenjauche“, also schlecht schmeckende Getränke geringer Qualität. Quantitativen Wachstums zum Trotz erodierte in den 1870er Jahren das Vertrauen in das lokale Bier, das als „Erzeugnis der chemischen Bierfabriken“ galt (Gustav Dannehl, Die Verfälschung der Nahrungs- und Genußmittel. 2. Das Bier, Die Gartenlaube 1877, 600-602, hier 600). Importbiere legten weiter zu, der Markt für Spezialitäten schien chancenreich. Auch „Naturwein“ gewann, Oswald Nier wurde später dessen Propagandist. All dies schuf grundsätzlich gute Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige Alternative, für den Johann Hoffschen „Deutschen Porter“.

Die Aktienbrauereien veränderten zugleich die tradierte Art des Bierkonsums. Sie bauten eigene Vertriebsnetze auf, insbesondere von ihnen gepachtete, teils auch errichtete Bierhallen. Die Aktienbrauerei Moabit, die ihren Ausstoß binnen eines Jahres fast verdoppelt hatte, besaß zu Beginn der neuen Saison 1873 gleich acht solcher Etablissements (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 92 v. 20. April, 41). Diese Gaststätten neuen Typs erforderten Hunderte von Gästen, lockten diese mit Musik, Theater und relativ günstigen Speisen. Kellner gewannen an Bedeutung, Trinkgelder erforderten zusätzliche Ausgaben, dennoch wurde immer wieder über die Anhebung des Bierpreises für das Standardbier von 1 Sgr. 6 Pfg. diskutiert (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 185 v. 7. Juli, 3). Mittelfristig setzten sich die Kapitalkräfte durch, seit den 1880er Jahre verbesserte sich die Qualität des Bieres wieder, Folge wachsender Investitionen nicht nur in den Maschinenpark, sondern vor allem in die Mälzerei, die Kühltechnik, den Hefeeinsatz und die chemische Kontrolle des Produktionsprozesses. Seit den 1890er Jahren wurde Berlin schließlich zu einem Bierexporteur mit zugleich hohen Importraten (Henry Gidom, Die Geschichte der Berliner Brauereien von 1800 bis 1925, Rostock 2021).

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Berliner Stammtisch mit Weißbier (Berliner Wespen 6, 1872, Nr. 2, 2)

Investitionsentscheidungen: Glashütte, Ausschankstätten, Ausflugslokal

Der Hoffsche Einstieg in die Produktion eines weiteren Bieres war komplexer als die Gründung einer der vielen Aktienbrauereien in Berlin. Diese bedienten vorrangig den aufnahmefähigen lokalen Markt, während Johann Hoff offenbar von Beginn an auf überregionalen, gar internationalen Erfolg zielte. Entsprechend erwarb er als erstes eine Glashütte, um genügend Flaschen für den Versand und den Verkauf in und vor allem abseits der preußischen Metropole zu haben. Zweitens folgte er dem Trend der Zeit, indem er vor Ort Grundstücke erwarb, auf denen er Ausschankstätten einrichtete, die aber auch als Brauereistandorte dienen sollten. Drittens zielte er auf ein großzügiges Ausflugslokal vor den Toren Berlins, das regelmäßig Tausende in seinen Bann schlagen sollten. Mangels einschlägiger Akten ist leider nicht abzusichern, ob dieser Geschäftsplan 1871 entstand und dann recht konsequent umgesetzt wurde; oder ob es sich um ein sich verstärkendes Wunschgebilde handelte, das immer größer wurde, bevor es zusammenbrach. Angesichts des Einsatzes eines Großteils seines von Zeitgenossen auf ca. 3 bis 4 Millionen Taler geschätzten Vermögens scheint es mir jedoch wahrscheinlicher, von einem durchaus rationalen Plan auszugehen: Man müsse nur die Grundlagen legen – die Werbung und der Durst würden den Rest schon erledigen.

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Erweiterte Kapazitäten in einem strukturschwachen Raum (Stettiner Zeitung 1872, Nr. 207 v. 5. September, 4)

Hoff erwarb erstens am 9. Juni 1871 die Schönemannsche Glashütte zu Neufriedrichsthal bei Uscz, einer südöstlich von Schneidemühl gelegenen Kleinstadt mit etwas mehr als 2000 Einwohnern (Deutscher Reichsanzeiger 1871, Nr. 41 v. 19. Juni, 7). Die Hohlglashütte hatte sich lange Zeit auf Spirituosen- und Süßweinflaschen konzentriert, besaß zum sicheren Versand auch eine eigene Korbflechterei (Königlich Preußischer Staats-Anzeiger 1856, Nr. 1669, 1395). Johann Hoffs verstärkter Einkauf von Malzextraktflaschen verbreiterte die Produktionspalette, zumal nach der 1865 erfolgten Einführung eines mit Torf befeuerten Siemens-Regenerativofens (Ferdinand Steinmann, Compendium der Gasfeuerung in ihrer Anwendung auf die Hüttenindustrie, Freiberg 1868, 55). Wöchentlich produzierte man damals mehr als 15 Tonnen Flaschenglas (Polytechnisches Journal 182, 1866, 216). Die Übernahme ging einher mit massiven Investitionen. Hoff erweiterte den Betrieb um vier neue Glasschmelzöfen: „Die Glasschmelzöfen sind sämmtlich auf Massenproduction eingerichtet, indem z.B. an einem Flaschenofen 24 Mann Glasmacher aus 12 Häfen arbeiten und dieselben in einer Arbeit zusammen mindestens 10,000 Stück Hoff’sche Malzextractflaschen oder ähnliche Größen fabriciren“ (Die Glasindustrie im Regierungs-Bezirk Bromberg, Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 540 v. 17. November, 8). Drei weitere Öfen waren geplant, ein eigenes Torfmoor sicherte die Feuerung, zudem gab es eine Kalkbrennerei und eine Ziegelei, die auch Baumaterial für die Berliner Erweiterungen lieferte.

Der Posener Betrieb wurde von Beginn an als Teil des Hoffschen „Weltgeschäftes“ beworben (Extra-Felleisen des Würzburger Stadt- und Landboten 1872, Nr. 1 v. 2. Januar, 3-4). Hoff sah darin den Eckstein einer massiven Ausweitung erst der Malzextraktproduktion, dann auch des Vertriebs Deutschen Porters (Berliner Börsenzeitung 1872, Nr. 418 v. 7. September, 7-8, hier 8): „Um eine derartige Concurrenz eröffneten zu können, muß auch auf billigste Beschaffung der Materialien Rücksicht genommen werden“. Von Glaswaren im Wert von jährlich 200,000 Talern war die Rede (Altonaer Nachrichten 1872, Nr. 219 v. 18. September, 1-2). Am 23. Dezember 1872 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Neue Friedrichsthaler Glashüttenwerke AG hatte ihren Sitz in Berlin, ein Grundkapital von 400,000 Talern und Johann Hoff fungierte als Direktor (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 5 v. 7. Januar, 6). Die Emission erfolgte durch die Vereins-Bank Quistorp & Co., Berlin, die die meisten Hoffschen Grundstücksgeschäfte federführend begleitete (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 228 v. 27. September, 6).

In einem zweiten Schritt erwarb Johann Hoff eine Reihe zusätzlicher Grundstücke in Berlin, war Teil der Terrainspekulation der Gründerzeit. Ausgangspunkt war weiterhin das Stammhaus in der Neuen Wilhelmsstraße. Dort lag die Brauerei, die Malzschokolade- und Malzbonbonfabrik, eine Druckerei für Etiketten, Verpackungen und Werbematerialien sowie, als „Seele des ganzen Geschäfts“, ein chemisches Laboratorium (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 1 v. 4. Januar, 4). Hier lag auch Johann Hoffs Büro, die Verwaltung, ferner Abfüllerei und Packkeller.

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Sitz des Hoffschen Brauerei: Neue Wilhelmstraße 1 1882 (Droschken-Wegemesser (berliner-stadtplansammlung.de)

Die recht beengten Verhältnisse hatten bereits zur Anmietung weiterer Lager geführt. Am Louisenplatz 6 befand sich zudem eine Mälzerei. 1871 kaufte Johann Hoff weitere Grundstücke in dessen Nachbarschaft. Das betraf erst einmal Louisenstraße 2. Die Mälzerei sollte dadurch erweitert, weiterer Lagerraum geschaffen werden. Wichtiger aber noch war die dortige Schaffung eines neuen Gartens und gleich zweier große Bierlokale. Ergänzt wurde diese Phase des Geschäftsausbau mit einem großen Gelände in Potsdams Bertinistraße 5-6, nördlich des späteren Schlossses Cecilienhof gelegen, zwischen den späteren Villen Strack und Mendelssohn Bartholdy. Bei der Villa Bertini wurde Eis gewonnen und gelagert, das mehr als 20.000 m² große Gelände sollte zu einem Malzkurort umgewandelt werden. Daraus wurde nichts, ebenso wie der Ausbau eines großes, nach Hoffs Auskunft für 50 Häuser ausreichenden Terrains in Charlottenburg.

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Wachsendes Angebot und neue Betriebsstätten: Werbung für Malzseifen und Malzpomade (Schwäbischer Merkur 1872, Nr. 298 v. 15. Dezember, Beil. n. 1298)

Im März 1872 erwarb Hoff dann weitere Grundstücke zur Arrondierung des Besitzes in der Louisenstraße, nämlich die angrenzenden Häuser Louisenplatz 7 und das Eckhaus Louisenstr. 1 (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 138 v. 22. März, 9). Der Komplex sollte als ganzer entwickelt werden, einerseits Lager- und Kühlräume bündeln, anderseits Platz für eine großen Ausschankstätte inklusive Biergartens bieten (Altonaer Nachrichten 1872, Nr. 219 v. 18. September, 2). Dieser Plan schien unwiderstehlich: „So sehen wir im Johann Hoff’schen Weltgeschäft ein Rad in das andere greifen und einen Gesammt-Mechanismus erzeugen, dessen Großartigkeit einzig und allein dasteht“ (Berliner Börsenzeitung 1872, Nr. 418 v. 7. September, 7-8, hier 8).

Dennoch veränderte Johann Hoff dieses Räderwerk des sicheren Erfolgs im Dezember 1872: Er kaufte drittens das in der Nähe von Spandau gelegene Schloß Ruhwald (Ebd., Nr. 604 v. 25. Dezember, 7). Und sogleich präsentierte er diesen Ort als neuen Eckstein seiner Mission Deutscher Porter. Er habe „von der unter Quistorps genialer Leitung so vortrefflich blühender Westendgesellschaft das von dem Herrn von Schäfer-Voit [sic!] in der Nähe des Spandauer Bockes erbaute und allen Berlinern wohlbekannte Schloß Ruhwaldsruh nebst einem großen Länderterrain angekauft“ und werde „nun an dieser Stelle für die Sommermonate ein Ausschanklokal des Deutschen Porterbieres errichten, welches für 10,000 Gäste ausreichenden Platz haben wird. Das himmlisch schön gelegene Etablissement wird wie ein Volksgarten eingerichtet werden und es besteht die Absicht, daselbst allwöchentlich regelmäßig prachtvolle Feuerwerke und Concerte abhalten zu lassen“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 2 v. 3. Januar, 14). Hoff hatte seine Karten werbeträchtig ausgebreitet, doch unbefangene Beobachter dürften den blinden Fleck gleich vermerkt haben. Der Geschäftsplan war auf massives Wachstum ausgelegt, doch es fehlten neue Braustätten. Sie sollten – so immer wieder zwischendurch erwähnt – erst in der Louisenstraße, dann bei Schloß Ruhwald gegründet werden. Doch Hoffs Aktivitäten setzten andere Schwerpunkte: Zuerst die Popularisierung des neuen Deutschen Porters, dann die Vergrößerung des Absatzes per Versandgeschäft, in den Ausschanklokalen, im Ausflugslokal. Und so ging Hoff denn an die Umsetzung seiner ambitionierten Pläne.

Deutscher Porter als neues deutsches Nationalgetränk

Die neuen Gaststätten sollten noch Anfang 1873 dem allgemeinen Ausbau des Hoffschen Brauereigeschäftes dienen. Malzextrakt war dafür nicht geeignet, die Kunden sollten dieses Gesundheitsbier ja entweder mehrfach täglich aus kleinen Weingläsern trinken – oder den Flascheninhalt erhitzen und es als Kurgetränk nutzen. Malzextrakt war ein häusliches Getränk, daher bedurfte es neuer Biersorten. Von Deutschem Porter wurde seit im Mai 1872 gesprochen, im Vorfeld der angekündigten Grundsteinlegung war von „einer Bayerisch-Bierbrauerei (resp. Deutschen Porter-Bierbrauerei) mit Ausschank und Garten“ die Rede (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 240 v. 26. Mai, 9). Über das neue Bier hielt man sich bedeckt, denn bayerisches Bier und deutscher Porter galten als Gegensätze, mochten sie auch beide untergärig herstellbar sein. Dieser Dualismus prägte noch die reichsweite Ankündigung, die „Porter- und Bairisch-Bierbrauerei“ am 1. Oktober zu eröffnen (Bielefelder Wochenblatt 1872, Nr. 103 v. 29. August, 2). Das neue Etablissement – die Blickrichtung war stets die Gaststätte – würde die Reichshauptstadt weiter verschönern und durch die Porter-Brauerei „eine abermalige industrielle Superiorität über die anderer Städte des deutschen Reiches“ erlangen (Westfälischer Merkur 1872, Nr. 227 v. 23. August, 3). Zugleich begann verbal die Mission Deutscher Porter: „Der englische Porter wird nun wohl seinem deutschen Rivalen weichen müssen, besonders da wir endlich zu der Einsicht gekommen sind, daß Deutschland bezüglich seiner Fabrikate dem Auslande in keiner Hinsicht nach zu stehen braucht“ (Hannoverscher Courier 1872, Nr. 5671 v. 24. August, 3). Ab September kippte die Hoffsche Werbung dann vollends in Richtung Deutscher Porter. Spötter kommentierten: „Der Malzextract zieht gewiß nicht besonders mehr, darum ein anderes Bier!“ (Volksblatt für den Kreis Mettmann 1872, Nr. 70 v. 31. August, 3)

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Auftragsannahme für den „Berliner Porter“ – ein Werbeversprechen (Hamburger Nachrichten 1872, Nr. 232 v. 29. September, 9)

Die Anzeigen unterschieden sich deutlich von dem seit 1857 gepflegten Werbestil. An die Stelle einer Abfolge scheinbar nicht versiegender Dank- und Empfehlungsschreiben trat eine für diese Zeit völlig neuartige Werbekampagne. Die Inserate boten eine Art redaktionellen Text, eine Fortsetzungsgeschichte mit immer neuen Ergänzungen und Neuigkeiten. Werbung war für Johann Hoff seit jeher Teilhabe der Kunden an seinem Erfolg, an der Qualität seiner Produkte. Nun aber gewann der Geschäftsplan Gestalt, wurde in immer neuen Facetten öffentlich ausgebreitet. Die Anzeigen wurden parallel in den Berliner Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, nur selten wiederholt. Der Inhalt glich einer Abfolge von Fanfarenstößen. Zugleich aber berichtete man inhaltlich über die Fortschritte und Pläne, ermöglichte den Kunden dadurch Teilhabe. Die Werbung für Deutschen Porter war nicht mehr länger produktzentriert, sie zielte auf die Seele des Kunden, auf seinen Stolz als Deutscher, als Zeitgenosse des allgemeinen Aufstieges. Die Aufforderung zur kommerziellen Teilhabe war Teil eines Plebiszits für einen Prozess, der dank Johann Hoffs Voraussicht, der Größe seines bereits bestehenden Geschäftes und der herausragenden Qualität seines Deutschen Porters sich ohnehin durchsetzen würde. Es galt, einer imaginären Kraft zu folgen, die wie die Eisenbahnen und Dampfschiffe der neuen Zeit ihren Stempel aufdrücken würde.

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Anzeigen in Form von Fortsetzungsgeschichten (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 416 v. 6. September, 4 (l.); Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 152 v. 31. Dezember, 4)

Deutscher Porter bildete von September 1872 bis Ende April 1873 denn auch den begrifflichen Kern der Hoffschen Bier- und Gaststättenwerbung. Lange stand im Keller des Stammsitzes ein großes Bierfass mit der Inschrift „Weil es der Industrie in Preußen Ehr’ gebracht, / drum ward dem Bier zur Ehr‘ / das große Faß gebracht.“ Im Mai 1872 wurde es in werbeträchtigem Umzug in die Louisenstraße verfrachtet – und nun trug es die sloganhaften Worte: „Ruhmvoll besiegt / Deutsches Porterbier / Englisch Porter hier!“ Nun galt es, das neue Getränk vorzustellen.

Erstens sollte der Deutsche Porter ein neues Nationalgetränk der Deutschen werden. Johann Hoff knüpfte an die damals (und noch heute) weit verbreiteten Stereotypen über Völker und die sie charakterisierenden Getränke an: Wodka dem Russen, Tokayer dem Ungarn, dem Franzosen sein leichter Bordeaux. Deutschland sei dagegen ein Bierland. Doch „Bier“ sei wandelbar, müsse sich einem sich wandelnden Volk anpassen: „Wir haben im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts vor den Augen der Welt eine große, gewaltige Umwälzung vollzogen, wir sind vollgewichtiger, kräftiger, imponirender geworden, ganz in derselben Weise, wie unser Nationalgetränk, das Bier“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 534 v. 14. November, 7-8 – auch für das Folgende). Noch vor 40 Jahren sei Weißbier das hiesige Nationalgetränk gewesen, „das Symbol der Ruhe, des Friedens.“ Dann folgte das bayerische Bier: „Der starke, kräftige, braune Trunk war das Symbol der Thatkraft, des Wirkens, des Ringens im Leben, welches ja auch oft mit Bitterkeit gemischt ist. So verging wieder eine Reihe von Jahren und wir Deutsche wurden mit unserem Nationalgetränk großgesäugt, wir nahmen zugleich mit ihm auch diejenigen Eigenschaften an, deren Symbol es ist.“ Doch der Sieg gegen Frankreich hatte die Machtfrage geändert – und damit auch den Charakter der Deutschen: „Wohl sind unsere Grundzüge unverändert geblieben, aber rastlos, athemlos ist unser Aller Thätigkeit im neuen Deutschen Reiche! Wir stehen mitten in der schäumenden Brandung! Wir sind jetzt bis zu dem Moment gekommen, wo unser unaufhörlich arbeitendes Gehirn, unsere stählernen Nerven anderer stärkerer Anregungen bedürfen, als sie uns unser bisheriges Nationalgetränk verschafft!“ Deutscher Porter sei dieses neue Getränk, es repräsentiere eine Nation, die mit England konkurrieren könne. Es sei kräftig und dunkel, nährend und anregend, eine Abkehr von „dem leichten, hellen, dünnen, süßsäuerlichen Getränk vergangener Decennien“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 149 v. 21. Dezember, 3). Diese Aussagen sind doppelt bemerkenswert, denn einerseits war der Trend hin zum „bayerischen“ gerade in Berlin besonders ausgeprägt, anderseits bot Hoff selbst dieses hellere Gebräu an.

Zweitens sei der Deutsche Porter auf friedliche Konkurrenz ausgerichtet, eine Kampfansage an ein Kernprodukt des Welthegemons Großbritannien. Der Konsum des Neuen würde erst einmal helfen, die Importe in Höhe von zwei Millionen Talern zu beenden. Dann aber werde es „nicht nur in unserem Vaterlande, sondern über die Marken desselben hinaus, über das englische schließlich den Sieg davontragen“ (Ebd., Nr. 109 v. 19. September, 4). Als Getränk einer wettbewerbsfähigen und letztlich siegreichen Nation sei es zugleich aber klassenübergreifend, binde alle Schichten in die gemeinsame Anstrengung ein. Der Preis erlaube auch Unbemittelten regelmäßigen Konsum (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 538 v. 16. November, 7), ermögliche es als „Lieblings- und Hauptgetränk selbst der weniger Bemittelten“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 104 v. 7. September, 4). Deutscher Porter war konservative Sozialpolitik, ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage.

Drittens aber vermittelte die Werbung schon lange vor dem ersten Anstich eine Idee des Bieres selbst. Als Nationalgetränk war die Meßlatte hoch gelegt worden – und der Deutsche Porter war „feurig und perlend, stark und kräftig, dunkel und schäumend“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 534 v. 14. November, 7-8, hier 7). Der Geschmack sei milder als der des englischen Produktes. Dieses galt zwar als Vorbild, doch die Importware habe einen „sauren, scharfen, oft widerlich bittern Geschmack“. Deutscher Porter hebe sich davon ab, sei „ein mildes angenehmes, weder kratzendes noch Husten erregendes Getränk, welches voll und gewichtig das Blut durch unsere Adern treibt und an bluterzeugender Kraft vielleicht seines Gleichen sucht. An Farbe ist es dunkel und braun, es schäumt in jenem festen soliden weißen Schaume, der nicht lockere Blasen antreibt und das Kennzeichen eines vorzüglich guten Bieres ist. Es wirkt für den Körper nahrhaft und für den Geist anregend. Es verdirbt nicht unseren Magen noch vergiftet es unsere Säfte durch schädlich Substanzen wie andere Porterbiere. Es rinnt mit einem milden Feuer die Kehle hinab und erweckt das größte Wohlbehagen des Leibes und des Geistes!“ (beide Zitate n. Ebd., Nr. 538 v. 16. November, 7) Deutscher Porter war ein Wunschbier, ein Labetrunk, auf dem Papier unerreicht.

Viertens wiederholten die Hoffschen Anzeigen eine Reihe rationaler Argumente für den Kauf, für den Trank. Der Preis sei mit 2½ Sgr. pro Flasche nur leicht höher als bei Standardbieren; und deutlich niedriger als bei englischen Importen. Die Transportkosten seien gering, Zölle fielen weg. Die Qualität des Deutschen Porter sei höher, da der langwierige und vom steten Wellengang geprägte Seetransport das englische Produkt schädige. Auch aus nationalen Gründen schienen deutsche Kunden verpflichtet, das preiswertere und bessere Hoffsche Getränk zu kaufen. Schließlich klang immer wieder die Größe der „Weltfirma“ an, die anders als die bisherigen deutschen Porterbrauer in der Lage sei, mit den Engländern zu konkurrieren: „Denn an den meisten größern, nach vielen Tausenden zählenden Orten hat Herr Johann Hoff seit fast 30 Jahren einen festen, sicheren, reellen Kundenkreis sich geschaffen, dem er sein Fabrikat ohne Weiteres zusendet und es dadurch in demselben Augenblicke schon fast in den entferntesten Theilen der Erde eingeführt und eingebürgert, wo in Berlin selbst, dem Orte der Fabrikation, vielleicht noch keine Flasche öffentlich verkauft worden ist“ (Ebd., Nr. 560 v. 29. November, 11).

Fünftens prägte die Anzeigen der schrille Klingklang des Erfolgs. In Berlin war noch keine einzige Flasche verkauft worden, da hieß es triumphal: „Mit dem Moment, wo das Johann Hoff’sche Deutsche Porterbier ans Licht der Welt getreten ist, hat es sich auch nicht nur über alle Städte Deutschlands, nicht nur über alle Staaten Europas, sondern fast über alle civilisirten Länder der Welt verbreitet“ (Ebd.). Mögliche Kritik versuchte man im Vorfeld zu entkräften, denn die Malzfabrikate hätten sich doch „über alle bewohnten und civilisirten Theile unserer Erde“ verbreitet. Dieses Vertriebsnetz werde man nutzten – nicht, um angesichts des sinkenden Malzextrakonsums andere Pferde zu reiten, sondern um auf Grundlage globalen Erfolgs eine weitere Mission anzugehen (Ebd., Nr. 594 v. 18. Dezember, 8).

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Kritik an Hoffs Werbung und „Schwindel“ (Frankfurter Latern 9, 1873, 214)

Hoffs Argumente einer globalen Mission des Deutschen Porters trafen vorhersehbar auf Widerspruch. Wie, um Gottes willen, wollte der Berliner Brauer die behaupteten Transport-, Qualitäts- und Zollvorteile bewahren, wenn er mit seinem neuen Bier in der Ferne mit englischem Porter konkurrieren würde? Nicht in Frage gestellt wurde allerdings Johann Hoffs Fähigkeit, eine solche Kraftanstrengung national und international anzugehen. Dabei gab es abseits Cisleithaniens kein wirklich dichtes Absatznetz. Gewiss, es gab Depots und Großhandelsdependancen in Westeuropa, auch in Russland. Hoffs Malzextrakt wurde per Versand verkauft, ihn gab es in Drogerien, Bier- und Feinkosthandlungen. Doch ein straffes Vertriebsnetz fehlte, ebenso Gebietskonzessionen im In- und Ausland – und dieses war für den Absatz von Deutschen Porter daher auch nicht zu nutzen. Selbst in Österreich-Ungarn, dem wichtigsten Auslandsmarkt, wurden die neuen Biere nicht angeboten – und anders als beim Malzextrakt wurde über Deutschen Porter, gar ein neues Nationalgetränk in der K.u.K.-Monarchie nicht diskutiert. In der Schweiz wurde vereinzelt Werbung für Deutschen Porter geschaltet, doch mehr als eine Kuriosität war er dort nicht (Das deutsche Porterbier, Der Bund 1873, Nr. 110 v. 22. April, 6).

Johann Hoff nährte die Idee weltweiter Präsenz allerdings mit regelmäßigen Erfolgsnachrichten über den Export großer Mengen Malzextrakt, etwa nach Holland oder Russland (Hannoverscher Courier 1872, Nr. 5792 v. 4. November, 3). Typisch war die Notiz über einen japanischen Agenten, der nach einer Probe gleich hunderttausend Flaschen für sein Heimatland orderte (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 31 v. 15. März, 4; Saazer Hopfenzeitung und Lokal-Anzeiger 1873, Nr. 53 v. 3. Juli, 2). Da zeitgleich japanische Studenten in Berlin und Weihenstephan als Brauer ausgebildet wurden, war das grundsätzlich denkbar (Jeffrey W. Alexander, Brewed in Japan. The Evolution of the Japanese Beer Industry, Vancouver 2013). Doch eine Parallelüberlieferung fehlt – und angesichts nachgereichter Exporterfolge in der Türkei, gar der Nachricht von einem ablehnten Angebot, eine „Malzbrauerei“ in London zu errichten, dürfte es sich eher um Wünsche gehandelt haben (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 93 v. 14. August, 4; ebd., Nr. 96 v. 21. August, 4)

Neue Ausschanklokale, neues Bier: Neue Wilhelmstraße und Louisenstraße

Doch blicken wir stattdessen auf die Geschehnisse vor Ort. Johann Hoff hatte die Eröffnung seiner beiden neuen Ausschanklokale am Stammsitz Neue Wilhelmstraße und am umgestalteten Komplex der Louisenstraße anfangs für den 1. Oktober und dann den 1. Dezember angekündigt, ebenso, mit etwas anderen Terminen, den Beginn des lokalen Liefergeschäftes: Am 25. Dezember war es dann so weit, das Geschäft mit dem Deutschen Porter begann.

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Das Warten hatte ein Ende: Eröffnungsanzeigen vor Weihnachten (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 600 v. 22. Dezember, 7 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1872, Nr. 301 v. 24. Dezember, 15)

Betrachten wir zuerst das von Hoff ausgiebig belobige Interieur beider Gaststätten. Am Stammsitz hatte er den an der Spree gelegenen Eckladen mit dem Nebenraum zu einem chinesischen Boudoir umgestaltet: „An allen Stellen von den Wänden herab blicken ihn [den Besucher, US] die langzöpfigen Söhne und Töchter des himmlischen Reiches an und eine reiche chinesische Landschaft dehnt sich vor seinen Augen aus. Das Lokal ist bereits aus des Künstlers Hand fertig hingestellt und wartet nur noch des Tages, wo es unter der Obhut eines tüchtigen Oekonomen den Deutschen hier mitten in China die braune Fluth des schäumenden deutschen Porters neben den dampfenden Würstchen oder dem duftenden Beefsteak darreichen wird, vielleicht in demselben Augenblicke, wo im fernen, wirklichen himmlischen Reiche China das erste deutscher Porter im Hafen landet und die langzöpfigen Mandarinen dann mit uns zugleich ein Glas trinken werden zum Lobe der deutschen Industrie, welche mit ihren Produkten die Meere durchfurcht und die fernsten Länder überfluthet“ (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 588 v. 15. Dezember, 8). Exotik sollte offenbar locken, die Mischung war ein Nebeneinander des Eklektischen – doch das galt auch in den damaligen gehobenen Weinrestaurants, die vermeintliche Nationalgerichte nebeneinander darboten, in denen Pressglas und Furnier ein Ambiente scheinbarer Größe schufen.

Weitaus wichtiger als die Aufhübschung des Stammsitzes war der neu erworbene und ausgestattete Komplex an der Louisenstraße, der bei seiner Grundlegung über 2000 Gäste beherbergen sollte (Ebd., Nr. 240 v. 26. Mai, 9). Hier sollte ursprünglich eine zweite Porterbrauerei entstehen, die derweil in Betrieb gegangen sein sollte (Ebd., Nr. 582 v. 12. Dezember, 7). Gleichwohl stammte bei der Eröffnung der Deutsche Porter aus der Stammbrauerei.

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Lage und Umfeld des Hoffschen Brauerei- und Gaststättenkomplexes Louisenstraße (Droschken-Wegemesser (berliner-stadtplansammlung.de)

Wie sah es nun vor Ort aus, in der „Hofbrauerei Friedrich-Wilhelmstadt“? Die Werbung versprach viel: „Der ganze Bau ist ein Meisterwerk und mit fabelhafter Schnelligkeit in wenigen Monaten hergestellt worden. Das Ganze zerfällt in fünf Räume, von denen zwei nach hinten und höher gelegen sind und als lichte, hübsch decorirte Glashallen den Garten des Etablissements umschließen. Die anderen drei mit den Hallen verbundenen Räume sind der mit Oberlicht versehene Mittelsaal und seine beiden Seitenhallen. Der Styl der neuesten italienischen Renaissance, in dem das Ganze erbaut wurde, bringt sich namentlich in der feindurchdachten reichen Ornamentik der Decke zur Geltung, während das Mobiliar, die festen, schweren, eichenen Tische, die soliden, dauerhaften und mit dem Namenszuge J.H. versehenen Stühle, sowie das kunstvoll geschnitzte Büffet sich dem Uebrigen würdig anreihen. Die Wandbilder ringsum in den Seitenhallen zieren die in reich vergoldeten Rahmen befindlichen Bilder der sämmtlichen Herrscher unseres Königshauses. Im Mittel-Saale befinden sich zwei Bilder: Wilhelm I. als Deutscher Kaiser und als Preußens König. Das berühmte große, von Weber in Berlin erbaute Faß befindet sich vorm am Eingang des Gartens, wo es die Blicke der sämmtlichen Besucher fesselt“ (Ebd. 1873, Nr. 23 v. 15. Januar, 9). Der an einen Restaurateur verpachtete Betrieb bot gängige Speisen und Platz für 500 Gästen. Im Ausschank waren Deutscher Porter und Hoffsches Kaiserbier (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577).

Folgt man der Hoffschen Werbung, so war die Eröffnung ein kolossaler Erfolg. 35.000 Flaschen Deutscher Porter seien während der ersten zwei Tage getrunken worden, die Räume waren überfüllt, Tausende fanden keinen Einlass mehr. Alle Stände waren vertreten, „da es sich um ein Nationalgetränk handelte und der Erfolg der deutschen Industrie gegenüber derjenigen Englands gesichert werden mußte. England hat uns lange genug sein Porter geschickt, wofür es unsere Millionen einsackte, nun haben wir eigenes Porterbier im eigenen Lande, und es ist eine That des deutschen Patriotismus, des deutschen Nationalgefühls, uns dessen zu freuen“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1872, Nr. 152 v. 31. Dezember, 4 – auch für das Folgende). Doch der Appell an nationale Pflichten unterstrich, dass etwa schief gelaufen war. Das konnte man selbst zwischen den Zeilen der Anzeigen lesen. Deutscher Porter wurde günstig beurteilt, „namentlich“ von Kennern – und „mißgünstige Bemerkungen neidischer Konkurrenten“ wurden zumindest erwähnt. Das sei Teil erwartbarer und notwendiger Kämpfe gegen fremdländische Erzeugnisse, „aber wir Deutsche werden endlich doch siegen und in der Industrie das erste Volk der Erde werden“.

Ein realistisches Bild findet sich ausgerechnet in einer der mit Daueranzeigen Hoffs bedachten Presseorgane. Das lapidare Fazit zeugte von einem Fiasko, von Großtönerei und grauem Alltag: „Das Local in der Wilhelmstraße an der Weidendammerbrücke ist wenig geräumig und unansehnlich, dagegen ist der in der Louisenstraße 2 erbaute Saal der Residenz würdig. Namentlich fesselt dort die Besuchenden das große, prächtig ausgestattete Porterbierfaß. Für den Sommer wird der dort vorhandene kleine Garten aber schwerlich ausreichen. Das Porterbier traf auf eine sehr gemischte Stimmung der Gäste. Nicht der Preis des Glases mit 2½ Sgr., sondern die große Jugend des Bieres wurde übel bemerkt. Gewöhnliches bayerisches Bier, das dort auch geschenkt werden soll, wurde in den Feiertagen noch nicht verabreicht“ (Ebd., 3).

Das galt auch für das parallel anlaufende Liefergeschäft in Berlin. Schon lange zuvor hatte man von den für sechs Monate ausreichenden ausländischen Großaufträgen berichtet (Ebd., Nr. 127 v. 31. Oktober, 4), vom unausgesetzten Brauen (Berliner Börsen-Zeitung 1872, Nr. 582 v. 12. Dezember, 7). Noch unmittelbar vor dem Ernstfall der Lieferung verwies man auf den in der Provinz seit Monaten laufenden Verkauf und die fehlenden eigenen Braukapazitäten. Das sei Ausdruck immenser Nachfrage, und man wüsse nicht „wo das hinausführen soll, wenn es nicht gelingt, noch eiligst einige Brauereien des Johann Hoff’schen Deutschen Porterbieres einzurichten, was allerdings lebhaft betrieben wird“ (Ebd., Nr. 596 v. 20. Dezember, 11).

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Notbremse angesichts von Qualitätsmängeln (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 4 v. 5. Januar, 32)

Schon kurz nach Beginn der Lieferungen stoppte man das Geschäft teilweise. Der mittlerweile zum „munteren Portersieder“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 2, 1) stilisierte Johann Hoff reagierte damit auf die mangelhafte Qualität seines Deutschen Porters. Er war bestenfalls nicht lange genug gelagert worden, erinnerte viele an einfaches Lagerbier mit Farbstoff und Geschmackszusätzen. In der Werbung klang dies gänzlich anders, denn der große Absatz in den Ausschanklokalen sei klein angesichts „der enormen Anzahl von Flaschen, welche in dem in der Neuen Wilhelmstraße 1 gelegenen Verkaufslocale abgesetzt werden, theils durch direkten Verkauf an solche Kunden, welche das Bier gleich abholen lassen, theils an Andere, welche mündlich oder brieflich Bestellungen auf Porter machen. So haben seit dem Beginn dieses Jahres allein in Berlin drei Wagen in Betrieb gesetzt werden müssen, welche unaufhörlich vom frühen Morgen bis zum späten Abend den Kunden das Johann Hoff’sche Deutsche Porterbier zufahren“ (Ebd. 1873, Nr. 15 v. 10. Januar, 8). Der Deutscher Porter sei ein Erfolg, habe sich als neues Nationalgetränk „bereits bei dem größten Theile der hauptstädtischen Familien so sehr eingebürgert, daß der Fabrikant bei Weitem nicht im Stande ist, selbst nachdem die doppelte und dreifache Anzahl von Wagen in Betrieb gesetzt worden sind, um das Bier nach den Haushaltungen zu fahren“ (Ebd., Nr. 33 v. 21. Januar, 10). Hoff versprach rasche Lieferungen, denn alle sollten sein Bier testen können, „sei es im Palast oder in der Hütte“ (Ebd., Nr. 15 v. 10. Januar, 8). Dies gelang in der Folgezeit – nicht zuletzt aufgrund der recht geringen Bestellungen. Da half es auch nicht, dass man das neue Bier zeitweilig wie den Malzextrakt anpries, indem man auf lobende Urteile von Kennern verwies – ohne sie aber zu veröffentlichen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 12 v. 30. Januar, 4).

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Preise für die lokale Zustellung aller neuen Biere Johann Hoffs (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 98 v. 27. April, 22)

Gegenwind: Verzögerungen, schlechter Geschmack und der Eindruck des Nepps

Die Bewertung des Geschmacks eines vor mehr als 160 Jahren ausgeschenkten Getränkes birgt natürlich Probleme, gab es damals doch noch keine Sensorik, keine einschlägig definierte Sprache, war der Sinneseindruck subjektiv. Beim Hoffschen Deutschen Porter waren sich die Zeitgenossen jedoch einig: Es schmeckte schlecht, reichte nicht ansatzweise an das englische Original an, erreichte auch nicht die damalige Qualität hierzulande produzierter Porterbiere englischer Art. Nüchtern bilanzierte der Mediziner Shephard Thomas Taylor (1840-1936): „Wenn es jemals eine gefälschte Imitation gab, dann war es zweifellos das englische Porter-Bier von Johann Hoff. Deutsche und Engländer waren gleichermaßen unzufrieden damit und kehrten der neuen Brauerei entschlossen den Rücken. Ich selbst trank ein Glas und bestellte nie wieder eines. Wenn ich mir eine Vermutung über die genaue Zusammensetzung erlauben darf, würde ich sagen, dass es sich um gewöhnliches deutsches Bier handelte, das mit Lakritz gesüßt war. Wie ein so kluger Mann annehmen konnte, dass die Berliner Öffentlichkeit ein solches Getränk durch noch so viel Werbung gut finden würde, ist schwer zu verstehen“ (Reminiscences of Berlin during the Franco-German War of 1870-71, London 1885, 224 – eigene Übersetzung).

Zeitgenössisch war der Deutsche Porter schon kurz nach dem ersten Ausschank gebrandmarkt, Ende des Frühlings fielen Hemmungen gegenüber dem wichtigen Anzeigenkunden zunehmend weg. In den Berliner Wespen kokettierte eine Bildgeschichte mit „Unwohlsein“ nach dem Genuss von deutschem Porter (6, 1873, Nr. 21, 4). Im Kladderadatsch sandte der just zum Besuch in Berlin weilende Schah von Persien einem nicht getöteten Verwandten eine Flasche Deutschen Porterbiers, denn das sei Mord im Schenkungsgewande (26, 1873, Nr. 266, Beibl. 2, 1). Und in der Tribüne bekam der Autor des damals verbrochenen Pressegesetzes kein Weißbier ausgeschenkt – und man mutmaßte, dass er sich jetzt aus „Verzweiflung […] dem deutschen Porterbier ergeben“ würde (Neues Fremden-Blatt 1873, Nr. 166 v. 18. Juni, 3).

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Schlechter Porter und Infektionsgefahren auf Schloß Ruhwald (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 32, 4)

Sarkastischer Spott dieser Art traf, muss jedoch auch vor dem Hintergrund des insgesamt schwindenden Geschmacks der Biere gesehen werden. Die Aktienbrauereien sicherten sich Braustätten und Ausschanklokale, verpflichteten Wirte zum Absatz allein ihrer Angebote: „Die Qualität des Bieres wird unter diesen Umständen immer erbärmlicher, wenn anders eine Verschlechterung der ‚Dividendenjauche‘ noch möglich ist“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 462 v. 4. Oktober, 8). Ökonomisch war dies ein nicht nur von Johann Hoff betriebenes zynisches Setzen auf das damals allgemein akzeptierte Saysche Gesetz. Jedes Angebot findet seine Nachfrage, schlechtes Bier war eben besser als kein Bier: „Der biedere Bürger sieht verwunderungsvoll / Und weiß nicht, was vom Bier er sagen soll, / Er nippt am Glas und seufzt voll tiefer Trauer; / Erst’s zweite Glas, schon packt mich tiefer Schauer! / Wer hätte das vor 20 Jahr’n gedacht, / Daß man aus solcher Schmier je ‚Biere‘ macht? / Da knallt der Spund; ein Geist ruft aus dem Loch: / ‚Warum so jammern Freund? / Du saufst es doch!“ (Echo der Gegenwart 1874, Nr. 223 v. 15. August, 6) Bezeichnend, dass Hoff seinen Porter als hochwertige Alternative zur „Mangelhaftigkeit der eingeführten fremden Biere“ bewarb (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 209 v. 6. Mai, 8).

Werbung für ein schlechtes Produkt

Wie wirbt man für ein schlecht schmeckendes Bier, dessen Produktion hohe Investitionen verschlungen hat, von dessen Erfolg die eigene wirtschaftliche Zukunft abhängt? Johann Hoff verfolgte ab Januar 1873 eine fünfteilige Strategie, da ein Produktionsstopp das Vertrauen auch zu seinen Malzprodukten weiter unterminiert hätte und Qualitätsverbesserungen Zeit brauchten.

Erstens gewann die nationale Note der Werbung an Bedeutung. Hoffs Unternehmerkarriere war eng mit einem offensiven Bekenntnis zu Herrscherhaus und Nation verbunden gewesen. Er war Patriot, unterstützte die preußischen Soldaten, vergaß aber die österreichischen nicht vollständig (Stettinger Zeitung 1866, Nr. 564 v. 4. Dezember, 3). Seine Malzpräparate präsentierte er stetig als Blätter im „Ehrenkranze deutscher Industrie“ (Kujawisches Wochenblatt 1867, Nr. 22 v. 18. März, 3). Deutscher Porter war nun Ausdruck deutscher Schaffenskraft, deutschen Genies: „Was wär’s, das Deutsche Industrie / Nicht auch zu Stand brächte? / Wo wär‘ das Wunder von Genie, / Das uns beneiden möchte? – / Was England lange, lange Zeit / Gehalten für Unmöglichkeit, / das sieht’s par excellence nun hier: / Ein Hoch dem Deutschen Porterbier! / Dem Reichen nur, wie Jeder weiß, / War Porter eine Labe, / Denn England hielt gar hoch den Preis / Für solche Wundergabe; / Doch heut ein jeder Deutscher Mann / Am Porter sich erquicken kann. / Der Wunderquell, er sprudelt hier: / Ein Hoch dem Deutschen Porterbier!“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 81 v. 18. Februar, 9) Bier wurde weiter historisiert, zum Nationalgetränk der „alten Deutschen“ stilisiert (Ebd., Nr. 75 v. 14. Februar, 9). Es galt als Kennzeichen der Völker germanischen Ursprungs, grenzte diese ab von den Weintrinkern des Südens und Westens. Bier war deutsche Mission, deutsche Kulturtat: „Und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag, überall, wo der Deutsche auf Erden hingekommen ist, hat er sein Bier mitgenommen und dort eingeführt und dadurch die Verbreitung dieses Getränkes unendlich gefördert“ (Ebd., Nr. 241 v. 27. Mai, 8). Und auch der Porter würde endlich deutsch werden – sein Konsum sei daher nationale Pflicht im In- und Ausland, denn er sei Bannerträger deutscher Industrie.

Zweitens veröffentlichte Johann Hoff erstmals chemische Analysen, um allen Kritikern die Güte des Porter vor Augen zu führen: Der Alkoholgehalt betrug 5,1%, Pflanzenfarbstoff war enthalten, 8% stickstoffhaltige Nährstoffe gaben ihm Nährwert. Deutscher Porter enthielt mehr Malzextrakt als sein englisches Pendant (Theobald Werner, Wissenschaftliches Gutachten über das Johann Hoff’sche ‚Deutsche Porterbier‘, Ebd. 1873, Nr. 85 v. 20. Februar, 9). Hoff behauptete, dass sein Deutscher Porter „mit ganz besonderer Sorgfalt gelagert“ werde und „weder zu jung noch überreif zum Ausschank“ gelange (Ebd., Nr. 109 v. 6. März, 9). Damit wurde indirekt eingestanden, dass die Markteinführung zu früh erfolgt war. Zweifelhaft, dass die Kunden ein „höchst liebliches Aroma“ schmeckten (Ebd., Nr. 169 v. 10. April, 9).

Drittens wurde der Tenor der Werbung beibehalten, Erfolgsmeldungen weiterhin verkündet. Doch es war schwierig, Hybris und Lobhudelei stetig und zugleich sensationsstark fortzuführen. Die Nachteile des englischen Porters wurden weiterhin hervorgehoben (Ebd., Nr. 43 v. 26. Januar, 10), die Weltgeltung des Deutschen eifrig beschworen. Erfolgsgeraune war allzeit präsent, so auch, dass sich das neue Getränk allseits verbreitet habe „wie niemals zuvor irgend ein anderes Product heimischer Industrie“, dass es „in fast allen Nachbarländern Deutschlands seinen siegreichen Einzug gehalten“ habe und große Sendungen nach Polen, Rußland und Österreich, ja auch nach Skandinavien versandt wurden“ (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 70 v. 23. März, 15). Der Porter sei feurig und milde zugleich, „das reinste gesündeste Gebräu der Welt“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 21 v. 20. Februar, 4). Die Werbung raunte vom neuen „Lieblingsgetränk ganzer Generationen“, „welches nur aus den besten Bestandtheilen, dem vorzüglichsten Malz, dem schönsten Hopfen stark eingebraut und in stets gleichbleibender Güte […] hergestellt“ werde (Ebd., Nr. 41 v. 8. April, 4). Dem öffentlichen Spott hielt man entgegen, dass ein Johann Hoff sich „nur mit ganz vorzüglichen Ideen“ beschäftige, er „dem Publikum nur das Beste vom Besten“ geben wolle. Ihm und seinem Porter müsse man einfach vertrauen (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 60 v. 11. Februar, 9). Werbung als Fortsetzungsroman der Eitelkeiten.

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Bestellungen nur am Stammsitz und ein neuer Konzertort (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 195 v. 27. April, 16 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 104 v. 4. Mai, 16)

Viertens veränderte man parallel das Angebot in der Louisenstraße, während das chinesische Ecklokal am Stammsitz nicht mehr weiter erwähnt wurde. Die seit langem angekündigte neue Porterbierbrauerei wurde nur nominell in Angriff genommen, der Lieferdienst auf den Stammsitz zurückgeführt. Neben den Deutschen Porter trat nun vermehrt Bayerisches Bier, auch Bockbier und Ale waren im Ausschank. Zugleich erweiterte man das Konzertangebot, glich sich damit der gängigen Praxis anderer Bierhallen an. Aus der Wiegestätte des Deutschen Porters wurde eine Bierhalle mit Chancen auf Amortisierung der Investitionskosten.

Fünftens aber verlagerte Johann Hoff die Werbung spätestens ab März zunehmend auf sein neues Ausflugslokal, das Schloß Ruhwald. Dort würde eine weitere Porterbrauerei, würde ein Vergnügungsort für Zehntausende entstehen, für die ganze Berliner Bevölkerung. Johann Hoff gab nicht klein bei, verfolgte seinen Geschäftsplan unbeirrt weiter. Zeitgenössischer Spott erreichte ihn nicht, etwa dass Deutscher Porter nicht schmecken wolle, wenn man in das Glas blicken würde (Vom bösen Blick, Berliner Wepsen 6, 1873, Nr. 5, 3). Er trug seinen Kopf oben, verfolgte weiterhin seine Mission.

Abseits von Berlin – Deutscher Porter als Versandware

Johann Hoff hatte seine Pläne eines neuen deutschen Nationalgetränks seit August 1872 reichsweit verbreitet. Geschehen aber war wenig, denn anders als verlautbart war sein Deutscher Porter abseits von Berlin kaum erhältlich. Mit dem Verkaufsbeginn, mit dem Ausschank in eigenen Lokalen änderte sich dies im Frühjahr 1873. Neuerlich wurde die Werbetrommel auch fern der Hauptstadt gerührt, etwa in Baden: „Was Ihr wollt! sagt Herr Johann Hoff in Berlin im neuen Jahr zu seinen Kunden. Er hat nämlich eine Bierhalle in der Louisenstraße gebaut, in welcher das beste bayerische Bier und englischer Porter geschenkt wird, so gut daß es manche Trinker sogar dem Malzextrakt vorziehen“ (Durlacher Wochenblatt 1873, Nr. 11 v. 25. Januar, 2). In der Ferne kannte man das Hoffsche Bier nur aus den Anzeigen, nicht aber spätere Warnungen Berliner Karikaturzeitschriften: „Hier schenkt man deutschen Porter! hieß ein Schild. / Das las ein kund’ger Trinker, ungeheuer / Vom Durst geplagt, allein er ganz wild: / Nein, auch geschenkt ist’s mir zu theuer!“ (Der Unbestechliche, Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 34, 3)

Insgesamt lief die Werbekampagne in der Ferne deutlich später an, mit etwa drei Monaten Abstand. Zugleich konzentrierte sich Hoff auf nur wenige Anzeigentexte, verzichtete auf den kommerziellen Fortsetzungsroman, der die hauptstädtischen Zeitungen füllte. Zugleich enthielten die Inserate wesentlich häufiger Preise. Das neue Bier wurde gemeinhin im noch nicht breit entwickelten Fachhandel angeboten, zudem konnte man es sich als Versandbier ins Haus liefern lassen. Doch auch abseits Berlins gab es Verzögerungen, so dass Hoff Ende Januar, Anfang Februar erst einmal Abbitte leisten musste – wie schon seit Anfang Januar in Berlin.

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Produktionsprobleme im Spiegel einer Massenanzeige (Zweibrücker Zeitung 1873, Nr. 29 v. 4. Februar, 4 (l.); Kölnische Zeitung 1873, Nr. 25 v. 25. Januar, 7)

Reichsweit bewarb man den Deutschen Porter und das eigene Lagerbier mit Verweis auf „massenhaft einlaufende Aufträge“. Die begehrten Bierinnovationen waren deshalb „nicht sofort lieferbar“ (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 27 v. 27. Januar, 2; Hannoverscher Courier 1873, Nr. 5928 v. 26. Januar, 4; Wittener Zeitung 1873, Nr. 12 v. 28. Januar, 4). Das Weltgeschäft wurde zwar beschworen, kam jedoch nicht recht ins Rollen.

Die Preise waren jedoch recht moderat, 12 Flaschen Porter oder Ale für einen Taler im bürgerlichen Milieu konkurrenzfähig. Und wahrlich: Ab Anfang März konnte grundsätzlich geliefert werden, wurde der Deutsche Porter auch abseits von Berlin vereinzelt ausgeschenkt.

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Hoffs Getränk in Essen (Essener Zeitung 1873, Nr. 56 v. 7. März, 4)

Hinzu trat ab spätestens April 1873 der Flaschenbierverkauf; wobei die Preise nun teils deutlich höher lagen. In Essen wurden beispielsweise 5 Sgr. für eine Flasche der knappen Ware gefordert (Essener Zeitung 1873, Nr. 115 v. 18. Mai, 4). Dennoch, der Verkauf schien offenbar anzurollen.

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Absatz in Aachen – fern von Berlin (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 95 v. 5. April, 3)

Der moderate Aufschwung wurde ab Februar durch Werbeanzeigen flankiert. Mittels der schon aus Berlin bekannten Anzeigen wurde dem englischen Porter der Kampf angesagt, der Deutsche Porter als friedliches Kampfmittel gegen den globalen Hegemon präsentiert (Bonner Zeitung 1873, Nr. 45 v. 14. Februar, Bl. 2, 2; Zweibrücker Zeitung 1873, Nr. 102 v. 2. Mai, 4). Der Porter erschien als „neues Nationalgetränk“, als Zukunftsbräu (Dresdner Journal 1873 v. 10. Mai, 648; Bonner Zeitung 1873, Nr. 127 v. 9. Mai, Bl. 1, 2). Dominant war der Lobpreis, die Präsentation des Deutschen Porter als „Perle aller Biere“: Von Februar bis April erschien wenigstens diese eine Anzeige reichsweit – und kündete von der laufenden Umwälzung im Braugewerbe (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 42 v. 11. Februar, 4 Wittener Zeitung 1873, Nr. 19 v. 13. Februar, 4; Karlsruhe Tagblatt 1873, Nr. 74 v. 16. März, 7; Jeversches Wochenblatt 1873, Nr. 60 v. 19. April, 7; Passauer Zeitung 1873, Nr. 49 v. 20. Februar, 3; Rosenheimer Anzeiger 1873, Nr. 51 v. 29. April, 4).

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Ausschank in Bielefeld (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 63 v. 29. Mai, 4)

Die Werbung fern der Reichshauptstadt war damit epigonenhaft, hofffolgsam. Doch es gab zugleich vereinzelt Annoncen mit eigenständigen Formulierungen (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577). Sie boten meist kondensierte Berichte über die großartigen Geschehnisse in Berlin, präsentierten den Deutschen Porter in vermeintlich hauptstädtischem Glanze. Das galt auch für Schloß Ruhwald, dessen gestaltete Natur gepriesen und als Muster großstädtischer Unterhaltungskunst präsentiert wurde, dass „das Publikum wie mit Zaubergewalt nach diesem Fundorte aller Vergnügungen“ hinzog (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 68 v. 10. Juni, 2). Und doch: Eine Analyse der Porter-Werbung abseits von Berlin unterstreicht, dass die Hoffschen Verweise auf seine Weltfirma schlicht haltlos waren. Es gab eine gewisse Vermarktung des Deutschen Porters, doch diese blieb weit hinter der des Malzextraktes und der weiterhin laufenden Offerten des Gesundheitsbieres Deutscher Porter durch andere Anbieter zurück. Das Hoffsche „Nationalgetränk“ scheiterte nicht nur in der Hauptstadt, es scheiterte parallel auch in den deutschen Landen.

Scheitern in Schloß Ruhwald

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Die heutige Schönheit Berlins: Blick auf den Volkspark Ruhwald (Uwe Spiekermann, 2019)

1872 hatte der Verleger der Modezeitschrift „Der Bazar“ sein Anwesen Schloß Ruhwald für 280.000 Taler an die Westend-Gesellschaft H. Quistorp verkauft, der dieses im gleichen Jahr an Johann Hoff weiterverkaufte (Hannoverscher Courier 1881, Nr. 11216 v. 27. Oktober, 6). Schloß Ruhwald war 1867/68 im neoklassizistischen Stil erbaut worden, bildete nun jedoch den attraktiven Rahmen einer umfassenden Transformation des Parks in eine Ausschankstätte des Deutschen Porters, in ein volksgartenhaftes Ausfluglokal. Hoff begann unmittelbar mit neuen Bauten, ließ dort 1873 ein Kavaliershaus mit einem heute noch bestehenden, jedoch verfallenden Arkadengang anlegen.

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Noch erhaltener Arkadengang des nach dem Zweiten Weltkrieges abgerissenen, 1873 von Johann Hoff erbauten Kavaliershaus (Uwe Spiekermann, 2019)

Schon im Januar 1873 begann Johann Hoff die Werbetrommel für seinen wichtigsten Grundstückskauf zu rühren – auch als Reaktion auf die nur schwache Resonanz auf seine beiden ersten Ausschankstätten für Deutschen Porter. Solche seien jedoch für ein Nationalgetränk nur ein Anfang. Schon am 20. Mai sollte Schloß Ruhwald öffnen, 10.000 Gäste sollten Platz finden: „Das himmlisch schön gelegene Etablissement wird wie ein Volksgarten eingerichtet werden und es besteht die Absicht, daselbst allwöchentlich regelmäßig prachtvolle Feuerwerke und Concerte abhalten zu lassen. [… Das] Deutsche Nationalgetränk wird alle Plätze füllen!“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 2 v. 3. Januar, 14) Mitte Februar folgte die nächste Prozession des großen Porterfasses, das „reich bekränzt, gefolgt von sämmtlichen Beamten und Arbeitern des Etablissements mit Musikbegleitung“ nach dem neuen Außenposten geleitet wurde (Echo der Gegenwart 1873, Nr. 47 v. 16. Februar, 2). Dieser sollte ein Sommerlokal werden, größere Überdachungen abseits der Schankstätten waren nicht geplant (Dresdner Journal 1873, Nr. 97 v. 29. April, 577). Das Gelände wurde fotografiert, eine Ausstellung in Hoffs Ausschanklokalen ergänzte die lockende Werbung. Die Eröffnung wurde auf April vorverlegt, schließlich galt es Einnahmen zu generieren (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 33 v. 20. März, 4). Glaubt man den Inseraten, so schufen viele fleißige Hände einen neuen „Lieblingsort unserer hauptstädtischen Bevölkerung“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 17, Beibl. 2, 2).

Dieses Mal gab es keine weiteren Verzögerungen, zu Ostern eröffneten Hoff und sein Ökonom Schloß Ruhwald, den „Ausschank im Fichtenwalde“. Park und Schloß boten mit ihren Naturschönheiten die Kulisse für den Verkauf von Deutschem Porter und Märzen. Flankiert wurde das Vergnügen von Konzerten einer Militärkapelle und abendlichen Feuerwerken. Damit hob sich Johann Hoff deutlich ab von der Konkurrenz der hauptstädtischen Aktienbrauereien und ihren Bierhallen.

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Eröffnung von Johann Hoffs Ausflugslokal Schloß Ruhwald am Ostersonntag 1873 (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 86 v. 13. April, 20)

Hoff pries sein neues Etablissement als den „Tempel des Deutschen Porterbiers“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 48 v. 26. April, 4). Säle und Hallen mochten noch nicht fertiggestellt sein, doch „Tausende“ seien zu Gast gewesen, hätten Johann Hoffs Geschäftsplan bestätigt: „Und so geht denn von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde das reizende Etablissement seiner gänzlichen Vollendung entgegen und binnen wenigen Wochen werden wir es in einem Glanze und in einer Pracht dem Publikum übergeben sehen, daß wir mit Recht den Ausspruch machen dürfen: Hier finden wir das beste aller Biere im schönsten aller Locale“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 193 v. 26. April, 7).

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Mängel der Bewirtung und kontinuierliche Konzerte (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 90 v. 18. April, 16 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 185 v. 22. April, 16)

Auch dies war ein geschönter Bericht, denn dieses Mal musste pünktlich und rasch eröffnet werden – und der Ökonom sah sich genötigt, Abbitte für die noch vorhandenen baulichen Mängel zu leisten. Von den versprochenen „exquisiten Leistungen von Küche und Keller“ war noch wenig zu sehen (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 76 v. 30. März, 36). Doch Schloß Ruhwald lockte nun regelmäßig mit Konzerten – und die Anbindung des zehn Kilometer von der Stadtmitte gelegenen Parks sollte die Pferde-Eisenbahn spätestens ab 1. Juli gewährleisten. Das – zugegeben – „nur provisorisch eröffnete Etablissement“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 53 v. 10. Mai, 3) wurde parallel weiter ausgebaut, neben die regelmäßig aufspielende Militärkapelle traten auch andere Klänge, so die der serbischen Hof-Tambura-Kapelle, die sowohl in Schloß Ruhwald als auch in der Louisenstraße auftrat. Man bedauerte allerdings, dass das Ausschanklokal „nicht mehr im Mittelpunkt der Stadt“ liege, denn dann wäre es dank vorzüglichem Deutschen Porter und seiner exzellenten Küche wohl eines der besuchtesten Gaststätten der Hauptstadt (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 219 v. 13. Mai, 7).

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Serbische Tambura-Klänge in Schloß Ruhwald und der Louisenstraße (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 223 v. 15. Mai, 14 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 109 v. 11. Mai, 15)

Derweil trieb Johann Hoff die Verwandlung des früheren Herrensitzes zu einem Volksvergnügungsort konsequent voran. Er wollte „dieses für Berlin außergewöhnlich schöne Stückchen Erde aller Welt zum Beschauen und Mitgenießen“ öffnen: Plätze, Anlagen und Gastronomie sollten „von einer fröhlichen, der Sorge für diese Augenblicke enthobenen Menschenmenge“ bevölkert werden, die bis Ende Mai vollendeten Bauten gegen die Unbilden des Wetters schützen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 53 v. 10. Mai, 3). Die Pfingstfeiertage wurden zur eigentlichen Premiere, die nach Auskunft der Werbeberichte erfolgreich verlief. Fünfzehntausend Erwachsene zahlten Eintritt, Kinder mussten nichts bezahlen: “Doppelconcert, Theater, Beleuchtung durch bengalische Flammen, steigende Luftballons, die in einer gewissen Höhe allerlei niedliche Sächelchen über die Erdbewohner ausbreiten, belustigende Erscheinungen von Thieren, kurz, ein Leben, welches Vergnügen und freudige Ueberraschung auf den Gesichtern des Publikums erkennen ließ, war sowohl am ersten wie am zweiten Feiertage bei den Besuchern Ruhwalds sichtbar“ (Bielefelder Wochenblatt 1873, Nr. 68 v. 10. Juni, 2). Ebenso wichtig waren mehr als 100 Tonnen ausgeschenkten Bieres. Kein Wunder, dachte man, dass sich schon englische Investoren für den Platz interessierten – fast meinte man, die Anzeigen wären auf solche ausgerichtet (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 225 v. 3. Mai, 7; ebd., Nr. 225 v. 22. Mai, 7). Die Werbung sprach jedenfalls von hunderttausenden zukünftigen Besuchern auf dem 26 Morgen großen Areal. Schloß Ruhwald sei der „künftige Centralpunct des Deutschen Porterbieres, welches ja so richtig schnell das Englische Porter auf dem Continente besiegt hat“ – und auf dem Gelände sei eine Porterbrauerei „bereits in Angriff genommen, da die bisherige in Berlin nicht ausreicht, und sie wird, ehe man sich dessen versieht, in unausgesetzter Thätigkeit sein“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 25, Beibl. 1, 1).

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Großes Theater – nebst Konzerten und Volksbelustigung (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 126 v. 1. Juni, 12 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 261 v. 8. Juni, 14)

Die Transformation des Geländes ging derweil weiter, neben die Konzerte traten Theatervorstellungen mit populären Schwänken. Die Pferdebahn fuhr nun regelmäßig – und das bis spät in die Nacht. Die Werbung hob dies breit hervor, denn zuvor war Einkehr in Schloß Ruhwald meist mit einem längeren Fußweg verbunden (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 267 v. 12. Juni, 8; Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 67 v. 14. Juni, 4). Dreimal wöchentlich gab es nun Illuminationen, bengalische Feuer tauchten das Gelände in verfremdendes Licht (Ebd., Nr. 63 v. 5. Juni, 4). Johann Hoff hatte nach Eigenauskunft das „Privatvergnügen eines Millionairs“ demokratisiert, ein Plateau mit zehntausend Sitzplätzen geschaffen, eine erholsame Wunderwelt für bürgerliches Flanieren, Naturgenuss, eine gute Speise, einen kühlen und erfrischenden Trank (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 273 v. 15. Juni, 9).

Die betriebswirtschaftliche Realität sah jedoch anders aus. Ex post monierten Beobachter, dass Schloß Ruhwald „nur von den unteren Volksschichten besucht wird und keineswegs die Reklame rechtfertigt, welche dafür, in einzelnen Blättern sogar redaktionell, betrieben wird“ (Neues Fremden-Blatt 1873, Nr. 202 v. 24. Juli, 14-15, hier 14). Das alles sei nicht rentabler Humbug gewesen; und Johann Hoff trieb parallel die Gründung einer neuen Aktiengesellschaft voran, der Baubank Imperiale, der er das Etablissement für 2½ Millionen Taler verkaufen wollte. Das aber sollte nicht klappen.

Schon vor dem Scheitern solcher Verkaufspläne zog man intern die Reißleine und veränderte das Angebot. Zum einen nahm die Werbepräsenz des Deutschen Porters zunehmend ab. Hatten anfangs die Anzeigen die Hoffsche Hofbrauerei und ihr Leitprodukt immer prominent hervorgehoben, so traten diese im Laufe zunehmend in den Hintergrund. Parallel bewarb man verstärkt die Bierauswahl von Porter, Ale und Lagerbier. Wichtiger aber war zum andern die neuerliche Transformation des Vergnügungsprogramms. Die gestaltete Natur des Parks pries man, doch sie wurde zunehmend Beiwerk, Mittel zum Zweck. Schloß Ruhwald mutierte zum Veranstaltungsort, zum Stelldichein des Mittelstandes. Kapellmeister Gustav Roßberg präsentierte mit dem Musikkorps des 4. Garderegiments flott getaktete Weisen und eigene Kompositionen, die teils vor Ort uraufgeführt wurden. Der Park wurde konzertant genutzt, um „Tongemälde aufführen“, um dem Publikum neuartige Raumerlebnisse zu bieten (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 287 v. 24. Juni, 8).

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Possen, Patriotismus und Porterbier (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 289 v. 25. Juni, 14 (l.); Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 149 v. 29. Juni, 15)

Parallel träumte Johann Hoff von weiterer Expansion: Die Porterbrauerei sollte im Herbst vollendet, in Berlin ca. 60 Ausschanklokale gegründet werden (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 72 v. 26. Juni, 4). Dies dürfte, wie auch weitere Angaben über den Export von einer Millionen Flaschen Porter und Ale, weniger auf potenzielle Besucher, eher auf potenzielle Investoren gerichtet gewesen sein. Das galt ebenso für die letzte Ausbaustufe von Schloß Ruhwald. Neben Konzerte und Schwänke traten nun auch nationale Weihefeste. Jahrestage der Schlachten von Königgrätz (3. Juli) und Gravelotte (18. August) wurden für Reenactments genutzt: „Bei hereinbrechender Dämmerung wird ein großartiges Schlachtfeuerwerk abgebrannt, welches die Einnahme von Königgrätz, das Defilée der Truppen durchs Gebirge und den Einzug der Sieger darstellt. Kanonendonnner und bengalische Beleuchtung nebst electrischem Licht werden den hierzu nothwendigen Effect hervorbringen. Das ganze Etablissement wird prachtvoll illuminirt und decorirt werden. Zum Schluß findet ein großartiger Zapfenstreich und Gebet statt“ (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 74 v. 1. Juli, 4). Wie schön doch der Krieg ist, wenn er sich auf Sieg reimt, und nicht mit Blut, ausquillenden Därmen und dem letzten Ruf zur Mutter verbunden ist. Der Park wurde zum Riesensandkasten, Sturmangriffe wurden nachgespielt, Preußens Gloria erschien nun auch in elektrischer Beleuchtung (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 309 v. 6. Juli, 7-8). Auf dem Gelände wurden Heerführerbilder ausgestellt, die Ruhwaldschen Felsen spielten die Gebirgspässe Böhmens: „Dazu Festtheater, Illumination, Ballons, Feuerwerk etc. etc.“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 297 v. 29. Juni, 7). Karl Kraus hätte auf Schloss Ruhwald schon lange vor seiner „Reklamefahrt in die Hölle“ entsprechendes Material gefunden.

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Gefahren der weiten Fahrt nach Schloß Ruhland (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 21, 4)

Doch selbst das nationale Spiel im Grünen konnte nicht alles überdecken. Betrunkene Gäste waren leichte Opfer für Diebe; und darüber wurde gerne berichtet. Bis in die USA verbreitete sich Schloss Ruhwalds Ruf als „Monstrum von Wirthshaus-Prellerei“, drang Kunde über „liederliche Wirthschaft und die systematische Prellerei auf Schloß Ruhwald“ (Aus des Deutschen Reiches Hauptstadt, Illinois Staats-Zeitung 1873, Nr. 37 v. 16. September, 2). Ein späteres Resümee klang weniger dramatisch: „Berliner Familien setzen sich an frisch gestrichene Tische und eilige Kellner schleppten gefüllte Seidel herbei. Aber der Name des Schlosses, so poetisch er klingt und so anheimelnd er dem Lyriker sein mag, schien das Verhängnis des öffentlichen Lokals zu werden. Es war in der Tat ein Ruhwald, das Leben erstarb, immer mehr und mehr, schließlich herrschte selbst an Sonntagen solche Ruhe, daß Johann Hoff die Thore wieder schließen ließ“ (Vorwärts 1891, Nr. 239 v. 13. Oktober, 8). An der Schließung im August hatte der Deutsche Porter beredten Anteil: „Trüb, übelriechend und schlammig fließt der Rest deutschen Porterbieres zum Orkus hinab: Johann Hoff […] macht die Bude zu, und Barklay und Perkins in London athmen erleichtert auf. Der gewichtige Spruch: ‚Ruhmvoll besiegt deutsches Porterbier englisch Porter hier‘ wird nicht mehr alle Zeitungsbeilagen zieren, Schloß Ruhwald wird nicht ferner von Leuten umlagert sein, deren Stoffwechsel Herr Hoff unbarmherzig beschleunigt hat“ (Erheiterungen. Belletristisches Beiblatt zur Aschaffenburger Zeitung 1873, Nr. 166 v. 23. Juli, 3-4, hier 3).

Zahlungseinstellungen und Bankrott

Der Gründerboom erreichte im Frühsommer 1873 Höhepunkt und Ende zugleich. Am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873, kollabierte in Wien die Börse, doch es schien einige Zeit, als könne ein weiteres Ausgreifen der Krise verhindert werden. Angesichts der internationalen Verflechtungen im Kredit- und Anleihegeschäft zerstoben diese Hoffnungen im Spätsommer. Zahlreiche Bankrotte an der New Yorker und schließlich auch der Berliner Börse läuteten den Beginn einer längeren Wirtschaftskrise ein. Die Vorzeichen waren jedoch schon im Sommer nicht zu übersehen. Am 17. Juli brach das Hypothekengeschäft Isidor Filehnes zusammen, am 18. konnte Johann Hoff anstehende Zahlungen nicht mehr leisten: „Dieser Vorfall macht hier [in Berlin, US] großes Aufsehen und es wird besorgt, Zahlungseinstellungen anderer Speculanten dürften nicht ausbleiben“ (Hallesches Tageblatt 1873, Nr. 153 v. 20. Juli, 713).

Die Wirtschaftspresse behandelte den Fall als eine zwar gravierende, dennoch zu handhabende Affäre. Sie schien eine nur „augenblickliche Zahlungsstockung“ (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 197 v. 19. Juli, 3) zu sein, hervorgerufen durch unglückliche „Terrainspeculationen“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 330 v. 18. Juli, 3). Doch Johann Hoff war reich, galt als der höchstbesteuerte Berliner (Der Beobachter 1873, Nr. 168 v. 22. Juli, 4). Und so war man am 18. Juli zuversichtlich, dass mit den Gläubigern ein Arrangement erzielt werden könne – auch, um weitere Dominoeffekte auf die beteiligten Kreditgeber zu verhindern. Am 19. Juli fand ein erstes Treffen „dreier Unbetheilgter“ (Fremden-Blatt 1873, Nr. 199 v. 21. Juli, 4) statt – und die von der Preussischen Hypotheken-Versicherungs AG erstellte Vermögensübersicht stimmte sanierungsfroh: Hoff besaß Häuser und Grundstücke im Werte von 1,944,633 Taler. Die Hypotheken lagen bei 360,811, die Wechselschulden bei etwa 900.000 Taler. Der Überschuss betrug demnach 683,822 Taler; wenngleich es warnend hieß, dass er „nicht sogleich flüssig gemacht werden kann“ (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 332 v. 19. Juli, 3).

Eine Gläubigerversammlung wählte am 20. Juli ein sechsköpfiges Komitee, das die Aktiva realisieren und alles erforderliche tun sollte, um die Schulden zu bedienen: „Die anwesenden Gläubiger waren sämmtlich mit den gemachten Vorschlägen einverstanden und cedirte Herr Joh. Hoff an dieselbe behufs Sicherstellung seine sämtlichen Grundstücke und Liegenschaften“ (Ebd., Nr. 334 v. 21. Juli, 4). Hoff verlor damit die Kontrolle über zentrale Bestandteile seines Geschäftes, doch die Zeitungen meldeten sanierungssicher, dass das Geschäft fortgeführt werden könne. Es gab eine temporäre Zahlungsstockung, eine formelle Zahlungseinstellung, eine Insolvenz gab es jedoch nicht (Die Presse 1873, Ausgabe v. 22. Juli, 11). Doch schon kurz darauf wuchsen die Zweifel: Hoff sah sich außerstande, die von ihm zuletzt geschalteten Anzeigen zu bezahlen (Berliner Gerichts-Zeitung 1873, Nr. 84 v. 24. Juli, 3). Und das neugegründete Komitee konnte seine Arbeit noch nicht aufnehmen, weil rechtliche Zweifel bestanden, ob die von Hoff gewährten Zugriffsrechte auf „seine“ Aktiva rechtens seien (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 201 v. 23. Juli, 2). Der parallele Zusammenbruch der Berliner Hypotheken-, Credit- und Bau-Bank unterstrich den Unterschied von Werten und Buchwerten (Ebd., Nr. 204 v. 26. Juli, 2).

Johann Hoff hatte dem Comité gegenüber „sich der selbständigen Disposition über sein Vermögen zu enthalten verpflichtet“ (Wittener Zeitung 1873, Nr. 86 v. 26. Juli, 1). Die Gläubigerversammlung am 25. Juli ließ zu befürchten, „daß trotz aller dagegen gerichteten Bestrebungen die Anmeldung des Concurses werde erfolgen müssen“ (Kölnische Zeitung 1873, Nr. 204 v. 25. Juli, 6). Die Bücher schienen nun unsicher, die Angaben Hoffs zweifelhaft, so dass sich das Komitee weigerte, die Aktiva aufzunehmen und dafür die Schulden abzuwickeln (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 207 v. 26. Juli, 3724). Hoff hatte all dies wahrscheinlich kommen sehen. Mit der Gründung der Baubank Imperiale – nominell ausgestattet mit einem Kapital von 18 Mio. Talern – hatte er noch im Juni versucht, die Grundstücke seines Portergeschäftes an eine andere Firma gewinnträchtig zu verkaufen (Leipziger Tagblatt 1873, Nr. 184 v. 3. Juli, 16). Doch er hatte insbesondere für Schloss Ruhwald einen zu hohen Preis gefordert, so dass zwar ein Abschluss erzielt wurde, das Geschäft aber mangels Kapitals letztlich scheiterte (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 6182 v. 22. Juli, 2; Hamburger Nachrichten 1873, Nr. 177 v. 27. Juli, 4). Wahrscheinlich wäre die Imperiale aber ohnehin nicht in der Lage gewesen, die notwenigen Zahlungen zu leisten, denn es handelte sich vorrangig um eine Börsenfiktion. Johann Hoff war zudem gesundheitlich indisponiert. Bei der Besichtigung seines Besitzes am Louisenplatz hatte er sich – nach eigenem Bekunden – bei den Verkaufsverhandlungen im Eiskeller eine „Erkältung des Gehirns“ zugezogen, war anschließend auf einer Hintertreppe schwer gestürzt (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 179 v. 3. August, 18). Gleichwohl beharrte das Berliner Stadtgericht auf Hoffs Anwesenheit vor Gericht, um die sich häufenden Wechselklagen behandeln zu können (Leipziger Tageblatt 1873, Nr. 227 v. 15. August, 4050). Ende Juli 1873 war klar, dass Johann Hoff die Kontrolle über sein Geschäft verlieren würde.

Reaktionen auf den Abstieg

Die Zahlungsschwierigkeiten und der drohende Konkurs führten zu einer beträchtlichen Resonanz in der Öffentlichkeit. Unglauben und Häme begleiteten viele Meldungen: War er wirklich gescheitert, er, der „durch seine übertrieben großen, marktschreierischen Annoncen bekannte Malz-Extract-Fabrikant Johann Hoff in Berlin“ (Sächsische Dorfzeitung 1873, Nr. 56 v. 22. Juli, 7)? In den Wirtschaftsteilen wurde vorrangig distanziert-sachlich berichtet, standen die Rettungsversuche und die möglichen Auswirkungen auf die Börse im Mittelpunkt. Doch ohne Schadenfreude ging es nicht, zumal im Ausland. Aus dem gebeutelten Wien hieß es: „Die Berliner Börse wurde am 18. d. M. durch die Nachrichten von der Zahlungsstockung des bekannten Reclamehelden und Malzextract Fabrikaten Johann Hoff in sehr unangenehmer Weise deprimirt. Hoff’s Relation zur Börse leitet sich daher ab, daß der Mann über Hals und Kopf in Grundspeculationen steckt und sich momentan nicht flott machen konnte. […] An seinem Malzbier wäre Hoff, hätte er sich darauf beschränkt, sicherlich nicht zu Grunde gegangen. Vielleicht curirt es ihn auch wieder“ (Börse und Malzextract, Der Reporter 1873, Nr. 166 v. 22. Juli, 3).

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Ein Abgang in Reimen (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 34, Beibl. 1, 1 (l.); Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3)

Die lokalen Karikaturzeitschriften reagierten mit gewisser Trauer auf den möglichen Verlust einer öffentlichen Figur, die schon für viele Lacher gedient hatte: „Vater Hoff hat eingepackt / Und geschnürt sein Bündel? / Manchmal hilft doch Malz-Extract / Auch nicht gegen Schwindel! / Große Trauer dort und hier / In den Deutschen Gauen: / Wer wird Deutsches Porterbier / Uns in Zukunft brauen? / Deutschland, du wirst wieder klein! / Armes Deutschland, denke, / Jetzt hast du nun wieder kein / Nationalgetränke! / Einer nach dem Andern, der / Sonst und ließ genesen, […] / Vater Hoff, du bliebst allein / Treu uns gegenwärtig; / Aber jetzt – was kann da sein? – / Bist auch du schon fertig?“ (Kladderadatsch 26, 1873, Nr. 34, Beibl. 1, 1). Zugleich hieß es angesichts großtönenden Wagemutes, Hoff hätte doch weniger groß aufspielen sollen. Die virtuelle Dame Reklame klagte beredt: „Johann, mein Hoff, war das der Lohn? / Ich liebte, Dein Weib, Dich unendlich, / Da, mit der Andern, der Spekulation, / Hast Du mich verrathen schändlich. / Es ist heraus! Ich machte Dich groß, / Doch Alles, was ich Dir brachte, / Warfst Du der Anderen in den Schooß, / Die elend Dich dafür machte. / Du Ungetreuer! Sie zog Dich aus, / Die feilste aller Maitressen, / Hat abgeschmeichelt Dir Schloß und Haus, / Die Mitgift, die ich besessen. / Du warfst Dich verliebt an ihren Hals, / Sie hat Dir Treue geschworen, / Jetzt ist verloren so Hoff als Malz, / Ach, jetzt ist Alles verloren!“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3). Hoff schien „Ruhmvoll besiegt“, war doch das Leben „zu grausam gegen den Malz-Millionär“ (Berliner Wespen 6, 1873, Nr. 30, 3 resp. 4). Allerdings nicht so grausam, dass er selbst von seinem Deutschen Porter getrunken hätte, „um sich den Verfolgungen seiner Gläubiger zu entziehen“ (Berliner Wespen 7, 1873, Nr. 31, 2).

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Der Deutsche Porter entschuldigt sich (Kladderadatsch 26, 1873, 134)

Hoff wurde auch in der ausländischen Presse durch den Kakao oder andere braune Brühe gezogen, denn die Diskrepanz zwischen werblicher Selbstdarstellung und profanem Ende bedurfte einer Einordnung: „Ein fürchterliches Sterben wird stattfinden und die Welt verheeren, falls nicht die Schaar der Gläubiger eines großen Mannes sich zusammenthut, um uns vor diesem Unheil zu bewahren. Johann Hoff, der Retter der Menschen aus den Fährnissen aller möglichen Krankheiten, vom Tode und von der Gewalt des Doktors, – Johann Hoff ist insolvent, und hat, vom Geiste Banquo’s böse heimgesucht, seine Zahlungen eingestellt; sein Malzextrakt soll fürder nicht mehr als flüssige Gesundheit die Adern der Welt durchströmen und ‚Deutsch Porterbier‘ nicht mehr als Pelikan aus der Asche des seligen Stayl aufsteigen, um nicht nur ‚Englisch Porter‘, sondern auch ‚habituelle Leibesverstopfung‘ siegreich zu verdrängen, – falls eben, wie gesagt, nicht die Gläubiger des großen Propheten aller Gläubigen ein Einsehen haben und dem Wohl der Menschheit zu Liebe einen Accord schließen, der ihn und das Menschengeschlecht vor dem Untergang rettet“ (Tagblatt der Stadt Biel 1873, Ausg. v. 23. Juli, 4).

Im Lande des Porters, wo man die Herausforderung des Deutschen Porters nie ernst genommen hatte, hieß es ebenso süffisant: “Johann Hoff, called (by himself) the ‘benefactor of mankind.’ Yes, him have I found—but in the bankrupt list. The man whose miracles, by means of his ‘porter-beer,’ made those in the New Testament look very old-fashioned, and out of date, is discovered to be no better than his own Wunder-Trank—a humbug” (Letter from Berlin, The Scotsman 1873, Nr. 9378 v. 15. August, 2). Kurz darauf, als die Cholera sich in Danzig, Breslau, Dresden und auch in Berlin, am Schiffbauerdamm, gegenüber von Hoff, ausbreitete, spann man in Großbritannien eine vom Kladderadatsch erfundene Anekdote fort (The Evening Standard 1873, Nr. 15288 v. 27. September, 3): Der in Berlin weilende Schah nutzte den Hoffschen Porter, um heimische Rivalen mit Prösterchen aus dem Weg zu räumen. Bis Ende November wurde diese kleine Notiz in dutzenden Zeitungen übernommen:

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Häme über die Qualität des Deutschen Porters – auch international (Edinburgh Evening News 1873, Nr. 57 v. 31. Juli, 4)

Johann Hoffs Abgang machte also auch Spaß, zumindest den nicht Beteiligten. Parallel aber hatte sich auch Obergerichtsanwalt Dr. Georg Setzer, Verwaltungsrat der Ersten Ale- und Porterbrauerei in Hemelingen aus dem Staub gemacht. Zuvor hatte er inexistente Aktien der Firma in Höhe von 80.000 Talern verkauft, ferner Gelder verschiedener Privatanleger unterschlagen (Pfälzischer Kurier 1873, Feuilleton, Nr. 63, 252). Setzer setzte sich offenkundig ins Ausland ab, von der Türkei, von Holland war die Rede. Schon 1869 hatte er das beträchtliche Vermögen seiner Gattin verspekuliert, musste Privatbankrott anmelden. Doch die Spekulationswelle der frühen 1870er Jahren erlaubte ihm einen Neueinstieg (Hannoverscher Courier 1873, Nr. 6145 v. 30. Juni, 3). Der Hype um Deutschen Porter boten ihm und den Aktienkäufern zeitweilig Träume vom raschen Gewinn (Leipziger Tagblatt 1873, Nr. 184 v. 3. Juli, 16). Anders als Setzer blieb Johann Hoff vor Ort, stand mit seinem Vermögen ein und stellte sich bis zur Liquidierung der Geschäfte zahlreichen Wechselklagen.

Liquidierung

Parallel lief die Schlachtmusik in Schloß Ruhwald aus, die Werbung für Hoffs Malzpräparate weiter. Das Gläubigerkomitee setzte seine Tätigkeit fort, um einerseits den Konkurs abzuwenden, anderseits aber die Ansprüche der Gläubiger zu bedienen.

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Fern der Schlachtmusik – Letzte Konzerte in Schloß Ruhwald und kontinuierliche Werbung für Johann Hoffs Malzextrakt (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 191 v. 17. August, 14 (l.); Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 405 v. 31. August, 8)

Die Wirtschaftspresse veröffentlichte in den folgenden Wochen zahlreiche Details nicht nur zu Hoffs Geschäften, sondern zu den dahinterstehenden Firmen- und Personennetzwerken. Indirekt spiegelten sich diese auch in raschen Absetzbewegungen früherer Geschäftspartner Hoffs. Den Beginn machte die Deutsche Prämien-Credit- und Renten-Bank, für die Hoff als Direktor tätig war (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 340 v. 24. Juli, 2). Treibende Kraft der am 4. März 1873 mit einem Grundkapital von 2 Mio. Talern gegründeten Bank war der Lotterieveranstalter Siegfried Braun (Die Berliner Banken, bearb. v. Rudolph Meyer, Berlin 1873, Nr. XCIV, 1-7). Spielbanken wurden Ende 1872 reichsweit verboten, die neue Firma sollte dem Bürger eine Alternative bieten, indem sie Lotterien zwischenfinanzierte, die in kleinen Tranchen jedem den Traum vom großen Gewinn ermöglichten (Problematische Existenzen, Nachrichten für Stadt und Land 1873, Nr. 53 v. 8. März, 2). Die Geschäfte kamen nicht recht in Gang, im Dezember 1873 wurde die Liquidation der Bank beschlossen, die Verluste waren gering (Karl Wilhelm Kunis, Neueste Münz-, Maass- und Gewichtskunde, 5. neubearb. Aufl, Bd. 2, Leipzig 1879, 414). Das Beispiel zeigt, dass Hoff Investitionen deutlich über das Malz- und Biergeschäft hinaus getätigt hatte.

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Finanzierung bürgerlichen Glücksspiels (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung 1873, Nr. 167 v. 20. Juli, 16)

Wichtiger noch war die Abkehr von Hoffs wichtigstem finanziellen Partner, der Vereinsbank Quistorp. Sie verweigerte im August einen außergerichtlichen Vergleich, forderte die vorrangige Bedienung ihrer Forderungen (Deutsche Reichs-Zeitung 1873, Nr. 234 v. 25. August, 4). Der Konkurs des Hoffschen Geschäftes schien dadurch zeitweilig unabwendbar (Die Presse 1873, Nr. 235 v. 26. August, 12). Solche Forderungen standen für die mittlerweile tiefgreifende Zerrüttung der Kreditverhältnisse in Berlin, für das von nahenden Zahlungsterminen geprägte Handeln vieler Unternehmer. Der Zusammenbruch der Vereinsbank markierte Anfang Oktober denn auch den Höhepunkt der Berliner Börsenkrise 1873.

Hoff, Braun und Quistorp standen öffentlich für den „Börsenschwindel“, der langwierige Auswirkungen auf den Finanzplatz Deutschland haben sollte: „Wie es möglich geworden ist, daß ein Crösus, wie Johann Hoff, der durch jahrelange fortgesetzte erfolgreiche Spekulation auf die Dummheit seiner Mitmenschen sich anerkannt so enorme Mittel erworben hat, jetzt seinen Verbindlichkeiten nicht nachkommen kann, wäre rätselhaft“, würde man nicht die allgemeine Spekulation betrachten (Nachrichten für Stadt und Land 1873, Nr. 85 v. 24. Juli, 1). Aus der Gier vieler Einzelner ergab sich ein Sittengemälde der Gründerzeit: „Die Corruption an der Börse […] ist so groß, daß man die Bestechlichkeit der Presse für selbstverständlich und jeden für einen Thoren hält, der allen Beeinflussungen sich unzugänglich zeigt und die Interessen des Publikums über einen schnöden Geldvortheil stellt“ (Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik 1, 1874, 196). Obwohl bei Otto Glagau (1834-1892), dem antisemitischen Investigationsschriftsteller, nicht genannt, galt Johann Hoff als typischer Schwindler und Spekulant: „Die Börsenleute zogen Porter und Ale vor oder vertieften sich in gewisse Weinkeller mit geheimen Gemächern, welche später von der Polizei ihres eindeutigen Charakters wegen verboten wurden“ (Die Biere Bayerns in Berlin, Münchener Gastwirths-Zeitung 3, 1892, Nr. 4, 1).

In Berlin gelang es den Gläubigern dennoch, die Hoffschen Geschäfte so weit zu stabilisieren, dass eine Auffanggesellschaft gegründet werden konnte. Ein außergerichtlicher Masseverwerter wurde eingesetzt, dem es nach Begleichung vorrangiger Ansprüche Anfang September gelang, die vorhandenen Aktiva in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien zu überführen: „Das Geschäft mit dem aus saurem Bier, Gummi, Syrup, Faulbaumwurzel etc. bestehenden Gebräu […] will man fortsetzen“ (Der Zeitgeist 1873, Nr. 46 v. 27. Juli, 2). Die neue Gesellschaft sollte ein Aktienkapital von 1,2 Mio. Talern haben, Johann Hoff davon ein Drittel halten (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 439 v. 20. September, 3). Dadurch konnten die Zahlungen wieder aufgenommen werden. Das öffentliche Fazit war ernüchternd: „Mit Ausnahme einiger einziehbarer Forderungen und Außenstände (ein großer Theil der letzteren ist muthmaßlich nicht beizutreiben), besteht die ganze, den Gläubigern überlassene Masse in Grundstücken, die sehr schwer zu realisiren sind, und die, wenn selbst realisirt, nach Abtragung der darauf haftenden hypothecarischen Lasten für die Gläubiger nur einen sehr geringfügigen Resterlös übrig lassen dürften. Die Ausnutzung der Bierfabrication und der übrigen Malzfabrikate erweist sich, wie sie sich schon im Hoff’schen Privatbesitz während der letzten Jahre erwiesen hat, als eine höchst unfruchtbare. Niemand beißt mehr auf Extract, Bonbons und Chocolade an, seitdem die Concurrenten Alles bei Weitem billiger und besser liefern“ (Kölnische Zeitung 1873, Nr. 291 v. 20. Oktober, 6).

Für Johann Hoff bedeutete all dies einen tiefen Einschnitt. Am 2. Oktober 1873 wurde in Berlin die „Johann Hoff, Commanditgesellschaft auf Actien“ gegründet. Sie übernahm das bisherige Geschäft und die Grundstücke, führte zugleich aber den Betrieb mit Malzpräparaten fort. Johann Hoff wurde zusammen mit dem Berliner Kaufmann Moses Blumenthal persönlich haftender Gesellschafter. Er verlor allerdings seine unternehmerische Handlungsfähigkeit, war alleine nicht mehr zeichnungsfähig (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 463 v. 4. Oktober, 11). Am 23. Oktober 1873 wurde die bisherige Firma Johann Hoff im Handelsregister gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1873, Nr. 253 v. 27. Oktober, 5). Am 7. November schied Johann Hoff aus dem Vorstand der Neu-Friedrichsthaler Glashüttenwerke aus (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 533 v. 14. November, 12). Die Firma ging 1877 in Konkurs (Deutscher Reichsanzeiger 1877, Nr. 101 v. 1. Mai, 8), überstand das Verfahren und etablierte sich als eine führende Glashütte in Posen. Am 18. November wurde Hoffs Filiale in Hamburg aufgehoben (Hamburgischer Correspondent 1873, Nr. 274 v. 20. November, 2).

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Verrottende Reste eines Schlossparks: Kopien der von Carl Cauer (1828-1885) gestalteten Büsten von Ludwig von Schaeffer-Voit (1819-1887) und seiner Gattin Margarethe Voit (1820-1894) im Ruhwaldpark (Uwe Spiekermann, 2019)

Fortsetzung des Geschäfts in altbewährter Weise

Nachdem Johann Hoff intern seine Macht- und Leitungspositionen verloren hatte, begann ab Mitte November 1873 abseits von Berlin der Abverkauf des noch vorhandenen Deutschen Porters (Bonner Zeitung 1873, Nr. 315 v. 15. November, 3). Dazu griff man auf das schon im Februar 1873 erstellte Gutachten des Breslauer Chemikers Theobald Werner zurück, strich dessen Prädikat „vorzüglich“ heraus, seine Einschätzung als „Nationalgetränk“: „Seine Ausführung hält die Ehre unserer vaterländ. Industrie aufrecht und räumt dem Deutschen Porterbier einen höheren Rang ein, als selbst dem besten Englischen Porter“ (Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg 1873, Nr. 93 v. 19. November, 3; ebenso etwa Teltower Kreisblatt 1873, Nr. 95 v. 26. November, 379; Zeitung für Lothringen 1874, Nr. 22 v. 28. Januar, 4). Zugleich druckte man das Gutachten selbst auszugsweise ab (Iserlohner Kreisblatt 1873, Nr. 135 v. 15. November, 2).

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Konzessionen für den Abverkauf in der Ferne (Iserlohner Kreisblatt 1873, Nr. 134 v. 13. November, 4)

Zudem bemühte man sich um neue Großhändler, die den Deutschen Porter fern des Ortes seines Scheiterns verkaufen sollten (Karlsruher Zeitung 1873, Nr. 274 v. 21. November, 4; ebd., Nr. 281 v. 29. November, 4). Der Erfolg dürfte begrenzt gewesen sein, die Bemühungen zogen sich bis mindestens Januar 1874 hin (Zeitung für Lothringen 1874, Nr. 28 v. 28. Januar, 4). Auch das Versandgeschäft wurde zumindest bis zu diesem Zeitpunkt aufrechterhalten (Hannoverscher Courier 1874, Nr. 6472 v. 13. Januar, 4).

Weit wichtiger war jedoch die Fortführung des Kerngeschäftes. Spöttisch hieß es: „Deutscher Porter- und Malzextract müssen ohne Barmherzigkeit weiter getrunken werden, damit für die Gläubiger noch etwas herauskommt“ (Kladderadatsch 26, 1873, 162). In der Tat nahm die Werbung wieder Fahrt auf, schon Ende Oktober kündigten die neuen Besitzer an, die Brauerei und die Kelleranlagen aufgrund wachsender Bestellungen des Malzextraktes zu vergrößern (Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 498 v. 25. Oktober, 8). In den Anzeigen schien die Position der Werbefigur Johann Hoff unangefochten, ebenso die des vorzüglichsten „Heilnahrungsmittel, […] jenes göttliche Geschenk, welches der leidenden Menschheit gegeben wurde“ (Ein enormer Consum, Berliner Börsen-Zeitung 1873, Nr. 548 v. 23. November, 8). Man druckte, wie in diesem Falle, einfach alte Anzeigen nach – doch neue sollten in großer Zahl folgen.

Hoff verließ nach dem Konkurs Berlin in Richtung St. Petersburg, wo er nicht nur Malzpräparate, sondern auch Porterbier produzierte und verkaufte. Warnungen begleiteten ihn: „Doch nun kommt aus Berlin der Hoff, / Nun, Russe, nimm Dich wohl in Acht! / Nun braut er seinen Porter Dir, / Der Jeden radikal kurirt / Vom Uebermuth, der dieses Bier / Mit durst’gen Lippen je berührt!“ (Unfehlbares Gebräu, Berliner Wespen 8, 1875, Nr. 2, 2) 1878 gründete er mit Hilfe seiner Frau in Berlin eine neue Handelsfirma, die 1880 die Kontrolle über die Malzpräparate wiedererlangte. 1881/82 folgte die Filiale in Hamburg. Zuvor, 1881 hatte Victor Schäffer-Voit Schloß Ruhwald zurückerworben. Die Kommanditgesellschaft auf Aktien bestand weiter, liquidierte ihre Aktiva bis 1888 und löste sich dann auf.

Johann Hoff starb als reicher Mann am 16. März 1887 in Berlin. Lapidar hieß es: „In der Gründerzeit ließ er sich zu Speculationen verleiten, die er mit schweren Verlusten büßen musste. Er konnte aber die finanziellen Schäden, die damals erwachsen waren, bald wieder verwinden“ (Prager Tageblatt 1887, Nr. 78 v. 19. März, 3). Seinem „Deutschen Porter“, „welcher eine Zeit lang in vielen Städten verkäuflich war“ (Carl Reclam und J. Ruff, Das Buch der vernünftigen Krankenpflege, Leipzig 1889, 179), wurde kaum mehr gedacht – auch wenn Hoffs frühere Wettbewerber weiterhin andere Biere unter diesem Namen verkauften. Derweil hatte sich das bayerische Lagerbier als deutsches Nationalgetränkt etabliert – und gewann die Weltgeltung, von der Johann Hoff so sehr geträumt hatte.

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Grabstätte von Johann Hoff und seiner Frau Johanna (1828-1894) auf dem Jüdischen Friedhof Weissensee (Uwe Spiekermann, 2019)

Uwe Spiekermann, 29. März 2024

Kinder und Süßwaren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Seit Januar 2023 kämpft der grüne Ernährungsminister Cem Özdemir publikumswirksam gegen die Dickmacher der Industrie. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, soll die an Kinder gerichtete Werbung für zu süße, zu fette und zu salzige Waren eingeschränkt werden, da sie zu einem ungesunden Lebens- und Ernährungsstil verführt. [1] Im Februar folgte ein Gesetzentwurf, der mittlerweile völlig verwässert ist – und als solcher wohl irgendwann vom Bundestag verabschiedet werden wird. [2] Derartige Werbeeinschränkungen für Süßwaren & Co. stehen in einer weit zurückreichenden Tradition von Jugendschutz und Kindererziehung. Schon Özdemirs Vorgänger haben sich an ähnlichen Schutzmaßnahmen versucht, sind gescheitert, mussten Kompromisse eingehen. [3] Und weit länger zurück reichen staatliche und insbesondere familiäre Debatten über das Schickliche, Gebotene und Erforderliche im Umgang der Kinder und Jugendlichen mit den süßen Verlockungen, mit den nicht immer klaren Erfordernissen einer gesunden Ernährung.

Für einen Historiker klingen diese stets engagiert geführten Debatten altvertraut: Schon Johann Peter Frank, Fackelträger der „medizinischen Polizei“ und der Sozialhygiene, fragte vor mehr als zwei Jahrhunderten: „Wäre es nicht besser den Verkauf solcher Naschwaaren besonders durch Fremde, gänzlich zu untersagen, und das ungesunde Zeug, wenn es von jemanden feil getragen würde, wegzunehmen?“ [4] Selbstverständlich, war die wohlmeinende Antwort – und das zu einer Zeit, in der das „Süße“ eine seltene Ausnahme war: Zucker war damals ein adeliges und bürgerliches Privileg, Honig ein aufwändiges und teures Hilfsmittel für die Bürger- und die Bauernfrau, für den Lebzelter. Um 1800 wurde hierzulande pro Kopf jährlich ein Kilogramm Zucker verzehrt, ein Wert, der sich in den folgenden fünfzig Jahren verdoppeln und bis 1913 verzwanzigfachen sollte. [5] Die Debatte über den rechten Umgang der Kinder (und der Erwachsenen) mit der durch die heimische Rübenzuckerindustrie kaum beworbenen und (in Preußen) von 1841 bis 1993 vernehmlich besteuerten Süße nahm daher schon im 19. Jahrhundert breiten Raum ein. Doch erst mit der Entwicklung sowohl einer modernen Ernährungswissenschaft, der Reformpädagogik als auch der Verbreiterung der Süßwarenangebote entstand im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Konsumwelt, deren Konturen denen unserer Gegenwart entsprechen.

Süßwaren werden hierzulande von 60.000 Industriebeschäftigten produziert, das Inlandsangebot betrug 2022 2,64 Mio. Tonnen. [6] Handwerkliche Produkte kommen hinzu. Die Produzenten verstehen ihr Angebot als Ausdruck der Wünsche der Käufer. Sie verweisen auf eine Produktpalette mit zahlreichen zucker-, fett- oder salzreduzierten Angeboten. Süßwaren gäbe es mit Eiweiß und Ballaststoffen angereichert, gluten- oder laktosefrei, auch als vegetarische und vegane Optionen. [7] Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche, könnten demnach selbstbestimmt wählen. Werbeverbote würden nicht nur keinen Beitrag zu einer gesunden Ernährung leisten und Arbeitsplätze gefährden, sondern letztlich Informationen über die breite Palette „guter“ Süßwaren unterdrücken.

Die folgenden Ausführungen werden sich nicht in das Getümmel ritualisierter Gegenwartsdebatten begeben. Sie werden sich stattdessen mit deren historischen Wurzeln beschäftigen. Das ist wichtig, denn in modernen, stets auf „Zukunft“, auf die „Verbesserung“ gerichteten Gesellschaften gelten Herkunft und Entwicklungspfade wenig. Sie gilt es gemeinhin zu brechen, zu nutzen oder zu bewahren – nicht aber in ihrer Bedeutung zu reflektieren.

Das Erbe des langen 19. Jahrhunderts: Kinderernährung und Naschwaren

Kinder galten teils bis ins 20. Jahrhundert hinein als kleine, unfertige Erwachsene. Die „Kindheit“ war ein möglichst rasch zu überwindendes Zwischenstadium, voller Launen und Irrungen. Eltern hatten die Aufgabe, ihre Kinder auf diesem Weg anzuleiten, sie mit Grundfertigkeiten auszustatten, sie arbeitsam und fleißig, fromm und sparsam zu machen, sie zugleich einzubinden in die bäuerliche Ökonomie und die Alltagszwänge einer Subsistenzwirtschaft. Kindheit setzt ein gewisses Wohlstandsniveau voraus, Zeit und materielle Mittel für einen Freiraum kindlichen Daseins abseits der Fron des Alltags. Dies war eng verwoben mit bürgerlicher Existenz – einem auf Produktion und Dienstleistungen basierenden Daseins – und aufklärerischem Gedankengut, das erst die Selbstständigkeit des Individuums propagierte, dann auch Sonderrechte der Frauen, der Kinder, später auch der Jugendlichen beschwor. [8] Ebenso wie Kindheit und Jugend historische Konstrukte sind, ist dies auch die Vorstellung einer engen, quasi anthropologisch determinierten Beziehung zwischen Kindern und Süßwaren.

Naschen oder der Umgang mit Gelüsten im familiären Umfeld

Naschen materialisierte zu Beginn der Neuzeit negative Selbständigkeit, unangemessenes Begehren. „Naschen war ein höchst ambivalentes Tun, ein Gradmesser der Tugend, ein Ausdruck von Erziehung und Charakter. Naschen war nah der Abirrung, der Vertierung des Menschen und der Sünde.“ [9] Es war keineswegs typisch für Kinder oder aber Frauen, sondern spiegelte auch unbürgerliches Erwachsensein, mangelnden (männlichen) Ernst und Leichtsinn im Umgang mit Besitz, mit der Ehre der Frauen. Umso wichtiger war aber die Erziehung im jungen, vermeintlich gut formbaren Kindesalter. Vor dem Hintergrund einer recht eintönigen Alltagskost waren Leckereien, falls verfügbar, von Beginn an umkämpft, nicht nur Zuckerwerk, sondern auch breiter verstandenes Naschwerk, etwa Obst oder Speisereste. Naschen bedeutete einen Übergriff, war Abkehr von Ideal der Ehrlichkeit: „Dem Naschen reicht brüderlich die Hand das Stehlen; in reiferem Alter eines trägen Menschen gesellt sich dazu Raub und Mord. Daher sei alles Naschen strenge untersagt, und bei öfterer Wiederholung mit unnachsichtlicher Strenge bestraft. Was die Eltern dem Kinde geben, soll es mit Dank annehmen; alles Uebrige betrachte es als ein unantastbares Heiligthum.“ [10]

Der Kampf gegen das Naschen war zudem immer ein Kampf um die Hierarchie innerhalb der Familie, um die Ordnung an der bürgerlichen Tafel. Naschen zerstörte den geregelten Ablauf der familiären Mahlzeiten: Das naschende Kind „Aufblät beym Tische sitzt, fast nichts mehr essen kann, / Glaub’s gerne, weil’s schon eh den Bauch gefüllet an.“ [11] Kinder sollten geregelt essen, geregelt wachsen, nicht außer der Zeit: „Daher lasse man sie reichlich essen, wenn es Zeit ist und sie Hunger haben, aber man wehre dem Naschen!“ [12] Das war Elternpflicht, Ausdruck von Sorge um das rechte Gedeihen.

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Das Naschen der Kleinen – gutbürgerlich und zunehmend geduldet (Das Buch für Alle 23, 1888, 108)

Neben Ehrlichkeit und Ordnung trat seit der Biedermeierzeit immer stärker auch die Erziehung zur Sparsamkeit, zur innengeleiteten Moderation. Kindern wurde zwar zunehmend zugestanden, einer „Naschpassion“ [13] frönen zu dürfen, doch gerade in einem Umfeld langsam wachsenden Wohlstandes schien es wichtig, recht zu haushalten, nur selten über die Stränge zu schlagen. Triebunterdrückung sei wichtig, denn stetes Naschen sei sowohl Raubbau am Körper als auch Verschwendung von materiellem Kapital. Recht eingesetzt könne es aber auch eine Investition sein, etwa bei verschenkten Süßwaren oder zur Repräsentation der gesellschaftlichen Stellung der Zöglinge.

Die Pädagogik hielt an diesen Idealen fest, obwohl sie um die soziale Bedeutung kleiner süßer Geschenke wusste, zumal für Freundschaft und Verwandtschaft. Kinder sollten solche Gaben abgeben, die Mutter sie ihnen dann geregelt, nach der verzehrten Mahlzeit, zubilligen. [14] Triebe seien zu lenken, ansonsten drohe Entartung und Verweichlichung. [15] Die süßen Gelüste der Kinder wurden durchaus ernstgenommen, aber zugleich als Erziehungsmittel genutzt. Es ging im frühen 20. Jahrhundert nicht mehr um die einseitige und strikte Verdammung vermeintlicher Sünden, sondern um einen vernünftigen, standes- und altersgemäßen Umgang mit dem Süßen.

Säuglings- und Kinderernährung als naturwissenschaftliche Intervention

Die sich wandelnden, in ihren Rahmensetzungen aber doch recht konstanten Erziehungsideale bezogen sich stets auf die Autorität der Wissenschaft. Das betraf anfangs die Humoralpathologie antiker Tradition mit ihren Vorstellungen von Säftefluss, innerer Balance, klar zu charakterisierenden Nahrungsmitteln. Zu viel Süßes war ein Faktor innerhalb einer breiteren diätetischen Gemengelage: Übermaß veränderte das Gemüt, bewirkte Unpässlichkeiten, dann Krankheiten. Die sich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts langsam entwickelnde organische Chemie und Physiologie verengte den Blick auf die nun stofflich definierte Nahrung, auf die im Zucker vorhandenen Kohlenhydrate, auf deren Stellung im Stoffwechsel von Mensch und Kind. Süßwaren wurden dadurch von überbordenden Moralisierungen befreit, galten als wichtiger Betriebsstoff der menschlichen Körpermaschine. Sie waren notwendig, zugleich aber eher zweitklassig, denn Eiweiß schien damals der eigentliche Baustoff der Muskelbildung und des Wachstums zu sein.

Ähnlich wie viele Pädagogen zielten die frühen Ernährungswissenschaftler auf die Ordnung des Lebens, stärker noch auf die des Überlebens. Kindersterblichkeit war damals alltäglich, stieg seit den 1820er Jahren stetig an, erreichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedrückende Höhen: Jedes fünfte Kind verstarb vor seinem ersten Geburtstag, Interventionen waren daher unabdingbar – zum Schutz der Säuglinge, zur Erziehung der Eltern, zumal der Mutter. Kinder besaßen offenbar eine andere Physiologie als Erwachsene, zugleich aber war ihr Nahrungsbedarf einfacher, entsprach den biologischen Zielen von Wachstum und Kraftbildung, folgte noch nicht individuellen Vorlieben. Tier- und Kinderernährung schienen unmittelbar vergleichbar. [16]

Richtige Säuglings- und Kinderernährung konnte – so das Versprechen vieler Wissenschaftler – Aufzucht und Nährerfolg garantieren. Die markant unterschiedlichen Sterblichkeitsziffern von gestillten und ungestillten Kindern unterstrichen zugleich, dass das Stillen, die „natürliche“ Ernährung mit Muttermilch, der beste Garant für das Überleben war. Gestillt wurden damals nur zwei Drittel bis drei Viertel aller Säuglinge. Kuhmilch war die gängige Alternative, doch die sich damals rasch entwickelnde Bakteriologie wies nach, dass deren Gärung für den „Sommergipfel“ der Todesfälle mit verantwortlich war. Die Folge war eine rasch wachsende Zahl von künstlichen, möglichst sterilen Nährpräparaten. Sie entsprachen dem Ideal der Muttermilch, bauten diese gleichsam nach. Milchpräparate stellten das Eiweiß in den Mittelpunkt, Mehlpräparate die Kohlenhydrate. Fast alle erfolgreichen Angebote aber nutzten Zucker, um einerseits der eingedickten milchigen Flüssigkeit Textur zu verleihen, um anderseits die pulverartigen Mehle geschmacklich zu verbessern.

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Nestlés Kindermehl – eine gesüßte Nährspeise (Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus 13, 1909/10, H. 1, 9)

In den 1890er Jahren waren diese Kindernährmittel alltäglich – die wachsende Stillpropaganda dieser Zeit war eine Reaktion auf den Erfolg einer neuen süßen Industrie. Sie standen für den hohen Gesundheitswert industriell gefertigter Kinderprodukte, für eine lebensrettende und zugleich relativ bequeme (wenngleich teure) Alltagshilfe. Sie prägten nicht nur den Geschmack vieler Säuglinge und Kleinkinder, sondern standen zugleich auch für den Gesundheitswert vieler anderer Süßwaren. Schokolade wurde im späten 19. Jahrhundert eben nicht nur als wohlschmeckendes Kräftigungs- und Nährmittel beworben, sondern galt auch als gesundes Functional Food. Entsprechend empfahlen Pädiater damals Kekse und Schokolade als Teil der Übergangskost – solange es nicht das regelmäßige Nährgeschäft unterminierte. [17] Anderseits begann seit der zunehmenden Akzeptanz der Millerschen Säuretheorie – Karies als Folge der Verstoffwechselung von Kohlenhydraten in der Mundhöhle – eine Bewegung gegen diese wachsende Wertschätzung von Zuckerwaren in der Kinderernährung. [18] Das Süße blieb also medizinisch ambivalent: „Iß nicht, was du nicht kennst, / Wenn’s noch so süße schmeckt, / Weil oft der bittre Tod / In süßen Dingen steckt.“ [19]

Verkaufsautomaten zwischen Verführung und Regulierung

Solche Warnungen kamen auch auf, weil Süßwaren zunehmend außerhäuslich verfügbar waren. Kolonialwarenhändler verkauften Zucker und Zuckerwerk, Konditoreien Backwerk und Speiseeis, Jahrmärkte und Rummelplätze lockten mit Bonbons, kandierten Früchten, Brausen und Schokostücken. Diese außerhäuslichen Räume kindlichen Süßwarenkonsums standen unter dem kontrollierenden Blick der Erwachsenen und der restriktiven Wirkung fehlender Geldmittel. Doch 1887 wurde ein neues Zeitalter des Süßwarenkonsums eingeläutet: In Düsseldorf hieß es erwartungsfroh: „Die rühmlichst bekannte Firma Stollwerck hat in der Stadt an mehreren Stellen Automaten aufstellen lassen, welche beim Einwurf von 10 Pfennigen ein Täfelchen Schokolade oder auch auf Wunsch eine Düte Bonbons von sich geben.“ [20] Verkaufsautomaten waren die wohl revolutionärste Innovation des Einzelhandels in der wilhelminischen Zeit: Der Händler wurde ersetzt durch einen Mechanismus, der Käufer nicht nach Alter, Geschlecht und Klasse taxierte, sondern der einzig durch eine Geldmünze in Bewegung gesetzt wurde. [21] Das schuf Freiräume für selbstbestimmten Konsum: „Die Häuser, an denen diese Reklamekasten angebracht sind, bilden eine Zugkraft für die Jugend“ [22]. Die Folgen waren beträchtlich, die Warnungen schrill: Die Automaten schienen offenkundig die Naschhaftigkeit der Kinder zu reizen, erlaubten Verschwendung auch bei Kindern armer Leute. [23] Rasch begann die Substitution der Geldmünze durch den Knopf, dann – nach verbesserter Sicherheitstechnik – durch speziell für diesen Zweck angefertigte Metallscheiben. Nachsucht und zunehmend auch das Zigarettenrauchen führten offenbar zu Kriminalität und Sittenverfall. Seit Anfang der 1890er Jahre gab es Verbotsgesuche nicht nur vieler Einzelhändler, sondern insbesondere von Pädagogen und Lehrern. [24] Verkaufsautomaten untergruben demnach die Erziehungsbemühungen von Eltern, Schule und Kirche, unterminierten die bürgerliche Ordnung: Die Süßwaren enthielten zunehmend beigepackte Sammelbilder, förderten Eskapismus und Unsittlichkeit: „Es ist unglaublich in welchen Mengen dieses Naschwerk verkauft wird. Die auf den Straßen aufgestellten Verkaufs-Automaten werden vor Beginn und nach Schluß der Schulen förmlich belagert.“ [25]

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Süße Angebote für einen Groschen: Angebot von Stollwerks Verkaufsautomaten (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2565, s.p.)

Ökonomisch waren die Verkaufsautomaten anfangs ein immenser Erfolg, schon 1891 erzielte Stollwerck, die mit Abstand größte Schokoladenfabrik des Deutschen Reiches, ein Fünftel ihres Umsatzes mit dem Naschwerk der Automaten. 1893 waren 15.000 Automaten aufgestellt, zumeist mit Schokolade, Bonbons oder Mandeln bestückt. [26] Doch Widerstände bremsten die Expansion, führten dann zum Zurückdrängen der neuen Verkaufsform. Am Anfang standen lokale Polizeimaßnahmen, Resultat der Intervention besorgter Bürger, häufig von Lehrern und Pfarrern. In Hamburg wurden die Verkaufsautomaten im August 1891 an den öffentlichen Straßen verboten, im November waren sie verschwunden. Zweitens gab es nationale Regulierungen. Die ab 1891 geltende begrenzte Sonntagsruhe war zwar sozialpolitisch begründet, doch Mittelstandsvertreter erreichten, dass Automaten als „offene Verkaufsstellen“ galten. Damit waren sie einerseits an die Ladenverkaufszeiten gekoppelt, parallel gab es eine Art Residenzpflicht. Durften die Automaten anfangs außerhalb von Läden und Gaststätten angebracht werden, so rückten sie nun vielfach zurück in überwachte Räume. Bahnhöfe eröffneten länger Zugangsmöglichkeiten, trotz Bahnsteigkarten und Bahnhofssperre. Dennoch hieß es noch vor dem Ersten Weltkrieg: „Die leichte Art, sich unbeaufsichtigt Genüsse verschiedener Art zu beschaffen, und der hierin liegende starke Anreiz, Geld für diese Genüsse in den Besitz zu bekommen und es rasch der Befriedigung kindlicher Wünsche zuzuführen, läßt Verkaufseinrichtungen der Großstädte, die für den Allgemeinbetrieb ganz einwandfrei sein mögen, für die Kinder bedenklich erscheinen.“ [27] Doch verboten wurden die Süßwaren-Automaten nicht, ermöglichten weiterhin einen allerdings regulierten Zugang zu Schleckereien und Naschwerk. Einzelne Bundesstaaten, etwa das Königreich Württemberg, schlossen sich den restriktiven Maßnahmen zudem nicht an, so dass der Zugang zur süßen Ware regional sehr unterschiedlich war. Das lag aber auch an der wenig aufgeschlossenen Haltung der Lebensmittelhändler. Insgesamt nahm der Automatenverkauf weiter zu: Briefmarken, Fahrkarten, Getränke und auch Bücher konnten zunehmend automatisch gekauft werden. Hinzu kamen die vielfach vehement bekämpften Glücksspielautomaten. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es reichsweit 35-40.000 Verkaufsautomaten. [28] Süßwaren bilden weiterhin deren wichtigste Ware.

Speiseeis zwischen Haus, Konditor und Straßenhändler

Die Verkaufsautomaten waren – so die Kritiker – nicht nur Vehikel der Verschwendung und des Betrugs, sondern schufen vor allem Räume unbeaufsichtigten kindlichen Süßwarenkonsums. Das war auch ein zentraler Vorwurf in den teils erbittert geführten Debatten über den Eisverkauf im Deutschen Reich. [29] Speiseeis war seit Ende des 18. Jahrhunderts eine adelige Repräsentationsspeise, die zunehmend auch im Bürgertum kredenzt wurde. [30] Anfangs lag die Herstellung in der Hand von Zuckerbäckern und Konditoren, doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts übernahmen diese Aufgabe vielfach auch Köchinnen und Hausfrauen. Kinder profitierten davon, denn Speiseeis wurde nun Teil häuslicher Festspeisen. Seit den 1880er Jahren wurden die zuvor üblichen Gefrierbüchsen durch manuell betriebene Eismaschinen ersetzt, die Zutaten Zucker, Kakao, Gewürze und Früchte gehobene Alltagswaren. Der dadurch wachsende Markt für „Gefrorenes“ wurde seither aber auch von Konditoren bedient, die Desserts, Eisbomben und auch kleiner Portionen Speiseeis herstellten und an bürgerliche Haushalte verkauften. Die Qualität war hoch, Sahne und Eier üblich.

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Alltagsfreude nicht nur für Kinder: Ambulanter Speiseeisverkäufer in Berlin (Berliner Leben 10, 1907, Nr. 3, 14)

Das galt nur bedingt für die mobilen Straßenhändler, die seit den 1860er Jahren in den größeren Städten selbstgemachtes Eis verkauften. Es waren anfangs Spanier und Osmanen, später dann zunehmend Italiener. Milcheis war bei ihnen selten, Fruchteis die Regel. Die gebackene Waffel übernahmen sie aus den Niederlanden, machten das Speiseeis so händig. Sie zogen ihre vielfach bunten, teils messingbewehrten Eiskarren mit lautem, einladenden Ruf auch in die Außenbezirke: „Wenn an heißen Sommertagen der Fruchteishändler mit seiner Karre erscheint […], so umringt ihn alsbald die genäschige Jugend, um die ersparten oder dem guten Mutterherzen abgebettelten Nickel schleunigst in Vanille- oder Erdbeereis anzulegen.“ [31] Zu dieser Zeit hatte der Kampf um den Kunden allerdings schon beträchtliche Qualitätseinbußen zur Folge. Bei den Straßenhändlern wurde vielfach nicht Rohware, sondern Essenzen und Fruchtsirup eingesetzt. Mehl diente als Verdickungsmittel, künstliche Färbung war vielfach üblich. Das war auch eine Folge der Qualitätsminderung des Konditoreneises, bei dem Zitronensäure die Zitrone ersetzte, Konservierungsmittel für Haltbarkeit sorgten. [32] Zeitgenossen klagten, dass „die Chemie über die Natur den Sieg davongetragen hat“ [33]. Gekauft wurde dennoch.

Die Gegenreaktion ließ nicht auch sich warten. Verschwendung und öffentliche Zusammenrottungen wurden beklagt, doch die Qualitätsminderung und offenkundige hygienische Gefährdungen führten den Jugendschutz zu neuen Höhen. Speiseeis war immer wieder Bakterienhort, die niedrigen Temperaturen gefährdeten Zähne und die zarten Magenschleimhäute der Kinder. [34] Die Kontrollen wurden intensiviert, vor Ort Polizeiverordnungen erlassen, die den Verkauf der Süßwaren beschränkten. [35] Zum einen durfte Speiseeis an vielen Orten nicht an Kinder unter 14 Jahren verkauft werden, zum anderen gab es Sperrzonen um Schulen. Zudem ermahnten Experten die Eltern an ihre Aufsichts- und Sorgepflicht. [36] Dass man dabei auch die vermeintlichen Verführungskünste der südländischen Verkäufer im Sinn hatte, war offenkundig. [37]

Die Debatten über das Naschen, die Säuglingsernährung, die Verkaufsautomaten und den Speiseeisverzehr belegen die wachsende Bedeutung von Süßwaren für Kinder in der Vorkriegszeit. Sie trafen auf vermehrten Widerstand vor allem bürgerlicher Respektspersonen, die über die wachsende Libertinage der Jugend zunehmend besorgt waren – und das mit durchaus nachvollziehbaren Gründen. Unter dem Banner des Jugendschutzes wurden manche öffentlichen Freiräume beschränkt, zugleich vermehrt an die familiäre Sorgepflicht appelliert. Gleichwohl waren Süßwaren schon vor dem Ersten Weltkrieg für viele Kinder grundsätzlich erlaubt, ja gängig; allerdings noch eingebunden in feste Rituale, im häuslichen Rahmen und an klar definierten Orten.

Langsame Marktbildung: Kinder in der Werbung vor dem Ersten Weltkrieg

Kinder waren schon um die Jahrhundertwende eine wichtige Zielgruppe der seit den 1890er Jahren zunehmend intensivierten Werbung für Konsumgüter, nicht nur der einschlägigen Spielwaren. Zugleich etablierten sich neue Märkte für Kinderwaren. In Berlin gab es seit spätestens den 1880er Jahren Spezialgeschäfte für Kinderkleidung. [38] Spezialfabriken hatten ab den 1890er Jahren größeren Erfolg, so etwa der 1889 gegründete Stuttgarter Strickwarenhersteller Wilhelm Beyle, dessen Matrosenanzüge die Flottenaufrüstung spiegelten. Um die Jahrhundertwende besaßen die größeren Kauf- und Warenhäuser große Spezialabteilungen für Kinder. Die Kleinen dürften beim Kauf Mitspracherechte gehabt haben, doch die Entscheidung traf zumeist die Mutter. Konfektionswaren verdrängten langsam die Hausschneiderei, die durch die vielen Mode- und Frauenzeitungen beigelegten Schnittbögen und die weite Verbreitung von Nähmaschinen in mittleren und auch Arbeiterhaushalten jedoch erfolgreich gestützt wurde. Andere unmittelbar auf Kinderbedarf ausgerichtete Angebote, etwa beim Schul- und Schreibbedarf, nahmen Kinder vor dem Ersten Weltkrieg kaum in den Blick. [39] Hier trafen die Schulen und die Lehrer eine Vorauswahl, während die Eltern nur ergänzten.

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Kinder als Kunden: Auszug aus dem Sortiment des Versandgeschäftes Mey & Edlich (Über Land und Meer 86, 1901, Nr. 30, s.p.)

Kinder wurden vor dem Ersten Weltkrieg zwar immer stärker in das Marketing großer Anbieter und Händler integriert, doch als Kunden wurden sie noch nicht wirklich ernst genommen. Den Kleinen fehlte schlicht die Kaufkraft. Dennoch findet man Kinder als Werbeelemente: Teils als Appell an die sorgende Mutter, so etwa bei der Kakao-Werbung von Bensdorp oder van Houten. Teils aber nur als Blickfang, etwa in der Zigaretten-, Likör- oder Seifenwerbung. Und teils schließlich als symbolisches Element für die Einfachheit neuer Geräte wie Photokameras oder dem selbsttätigen Waschmittel Persil. Die nicht sonderlich elaborierte Süßwarenwerbung – allein die Schokoladeproduzenten nutzten Plakate, Emailleschilder und Anzeigen mit Bildelementen – präsentierte ebenfalls Kinder. Doch sie waren nicht Käufer, sondern Blickfang, verkörperten die häusliche Szenerie eines familiären Konsums. [40]

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Das Kind als Blickfang, nicht als Käufer der Schokolade (Lustige Blätter 25, 1910, Nr. 40, 19)

Die kommerzielle Ansprache der Kinder erfolgte vor dem Ersten Weltkrieg meist direkt. Kindgerechte Feste, Kasperletheater oder kleine Geschenke wie Ballons und illustrierte Broschüren wurden zumeist von Einzelhändlern veranstaltet und ausgegeben, um die Eltern selbst für die Angebote zu interessieren, um sie Hand in Hand mit ihren Zöglingen in ihre Geschäfte zu locken. Für die Kinder waren sie Erlebnisorte – und daran konnte man später anknüpfen, wenn Kaufkraft vorhanden war. Großen Widerhall bei Kindern gewannen Sammelbilder, die Stollwerck bereits seinen Automaten-Schokoladen beigelegt hatte, um so die Sammelleidenschaft anzufachen und den Kauf zu verstetigen. Diesem Beispiel folgten jedoch nur wenige Süßwarenanbieter, sie wurden eher zu einer Spezialität der Speisefett- und Margarineindustrie. Drängende Kinder sollten ihre Eltern zum Kauf bewegen, konnten teils auch selbst Einfluss nehmen, falls es sich um Einkäufe im Auftrag der Mutter handelte. Diese Praxis stieß aber auf teils erbitterten Widerstand insbesondere protestantischer Kreise, da derartige Sammelbilder nicht nur Einblicke in die weite Welt boten und die Phantasie anregten, sondern die Kinder aus dem engen Horizont einer behüteten Lebenswelt hinausführten. [41]

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Erweiterung der Kinderinteressen: Sammelmarken als Kinderplaisir (Lustige Blätter 29, 1914, Nr. 3, 18)

Weltkriegsentbehrungen und Nachkriegswirren

Neue Wertigkeiten: Süßwaren als Alltagssehnsucht und Nährmittel

Diese behütete Welt war eine Imagination, ein Kindheitstraum. Der Weltkrieg machte dies brachial deutlich: „Das zwanzigste Jahrhundert hat man ‚das Jahrhundert des Kindes‘ genannt. […] Da ging der Krieg durch das Land und grinste höhnisch. ‚Das Jahrhundert des Kindes‘ starb als eines der ersten Kriegstoten. ‚Das Jahrhundert des Hungers‘ erstand an seiner Stelle. Wohl darbten die Mütter und litten, um ihren Kindern die Entbehrungen zu ersparen. Aber die Not wuchs schnell und riesenschneller. Die Mütter fanden bald nichts mehr, daß sie sich abdarben konnten. Der Hunger griff mit gierigen Klauen auch nach den roten Kindermündern. […] Eier und Fett, Fleisch und Obst wurden Märchen, Süßigkeiten ein Weihnachtstraum.“ [42]

Das klang anfangs anders, nicht nur weil die Illusion verfing, dass Krieg und Sieg verbunden sein würden. Sparsamkeit war zu Beginn eine patriotische Tugend. Kuchen, Schokolade und Süßigkeiten mutierten zu Liebesgaben an die Soldaten – und zeitweilig verzichteten junge Mädchen bewusst für andere. [43] Welsche Pralinés mutierten zu deutschen Pralinen. Kritiker des Naschens begrüßten das langsame Verschwinden der Zuckerwaren als Rückkehr zur geordneten Ernährung. [44] Zahnärzte feierten das knappe Ernährungsregime anfangs als Gesundbrunnen, denn ohne Schleckereien würden die Kinderzähne kräftig bleiben. [45] Aus kindlicher Perspektive war dies anders, denn das seit 1916 offenkundige Verschwinden der als unzeitgemäßer Luxus denunzierten Süßwaren war eine Abkehr von einer vertrauten guten Welt: „Ich habe heute vor einem Schokoladen-Geschäft gestanden. Ich habe Süßigkeiten eigentlich nie sehr gemocht – nur ein wenig. Jetzt aber habe ich kaum von dem Fenster weggekonnt. […] Ich habe mich schließlich losgerissen. Ich muß ja sparen.“ [46]

Süßwaren gewannen just in der Mangelzeit an symbolischer Bedeutung. Sie verkörperten Frieden. Und sie waren begehrt, eine wichtige Ware des Schleich- und Tauschhandels. Die „Sehnsucht nach süßem Zeug“ [47] stieg, während die Kinder massiv abmagerten und am Ende des Krieges zwei bis vier Zentimeter kleiner waren als ihre Altersgenossen der Vorkriegszeit. Süßwaren erinnerten aber nicht allein an eine vermeintlich heile Vergangenheit. Sie waren kalorienreich, voller Nährwert: „Heute sucht das Auge sehnsuchtsvoll in den Schaufenstern der Konditorläden und Delikatessenhandlungen irgendwelche ‚kompakte‘ Näschereien, die – den Magen verlegen sollen. Und zwar gründlich, daß aller Hunger vergehe. […] Die Leute ‚naschen‘, weil sie hungern. Naschwerk ist Nährmittelersatz geworden.“ [48] In Zeiten existenzieller Knappheit waren Süßwaren zugleich Marker der sozialen und wirtschaftlichen Hierarchien, teils neuer, durch Hamstern, Schleichhandel und Wucher geprägter: Nur „Kriegsgewinnerkinder oder die Sprößlinge der Reichen sind so glücklich, als Naschwerk diese so nahrhaften Zuckerwaren genießen zu dürfen. […] Die Zuckerwaren sind Luxus geworden, weil betriebsame Erzeuger und Händler es verstanden haben, den ihnen zur Verfügung stehenden Zucker so zu verschwenden, daß Luxusartikel aus den hergestellten Produkten wurden, deren Erzeugung sich natürlich nicht höher stellt, als wenn weniger luxuriös aussehende Zuckerwaren daraus gemacht worden wären. Die Zuckerwarenerzeuger verdienen 200 bis 300 Prozent an den Erzeugnissen. Und auch die Händler erzielen hohe Gewinne. Der Zucker aber (natürlich im Schleichhandel erworben und so dem allgemeinen Konsum entzogen) wird verschwenderischen Zwecken zugeführt, anstatt daß er den armen, unterernährten Kindern zugute kommt, die, abgesehen von dem Nährwert der Zuckerwaren, sich nach den lange, lange entbehrten Näschereien sehen.“ [49]

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Zucker als nährender Bestandteil der Rationen der Quäker-Speisung 1922 (Amerikanische Kinderhilfsmission der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker). Bericht 10. – 31. Juli 1922, Berlin 1922, 9)

Die monarchische Ordnung stürzte, doch auch die neu errungene republikanische konnte die Alltagsversorgung kaum sicherstellen. Internationale Hilfswerke leisteten Liebeswerke, dämmten ab 1919 den Hunger mit Kinderspeisungen ein. Das wichtigste, das der amerikanischen Quäker, verabreichte bis 1922 290 Millionen warme Mahlzeiten, bis 1925 waren es 700 Millionen. Sie alle enthielten warmen Kakao, mit Zucker gesüßt. Die Bedürfnisse der Kleinen gingen über Kalorien hinaus.

Süßwaren in einer aus den Fugen geratenen Welt

Die neue Wertigkeit der Süßwaren führte zu Debatten, die uns heute fremd vorkommen mögen, doch zugleich unterstreichen, dass Konsumgüter nur dann angemessen verstanden werden können, wenn sie historisch konkret in das jeweilige Hier und Jetzt eingebettet werden können. Das gilt etwa für die Anfang der 1920er Jahre grell aufwallende Debatte über Importe und ihre volkswirtschaftlichen Konsequenzen: „Nach wie vor strömen aber große Mengen überflüssiger Luxuswaren in das Land, englische Zigaretten, ausländische Schokolade, Süßigkeiten u.a. und finden in allen Kreisen des Volkes Käufer. Solche Käufe sind Torheit, denn sie verschlechtern fortgesetzt den Geldbestand, vergeuden unsere schwindende Kaufkraft und entziehen sie dem Einkauf von Lebensmitteln, Bekleidungsstoffen und anderem dringenden Bedarf.“ [50] Sparsamkeit und Selbstzucht wurden gefordert, die Vorteile globalen Güteraustausches ignoriert. Während der Weltwirtschaftskrise sollten diese Debatten wieder aufkommen und die Süßwarenindustrie hart treffen. Gravierender aber waren konkrete Beobachtungen vor Ort. Zucker war teuer und rationiert, Süßwaren dennoch zu hohen Preisen erhältlich: „In diesen Schaufenstern gibt es Marzipansachen, Bonbons, Drapees, Fondants, Pralines, überzuckerte Mandel- und Nußkern, Schokoladen in zwölf Sorten und Kecks [sic!]. Die Herstellung mancher dieser Süßigkeiten ist zwar verboten, aber wer kehrt sich daran? Niemand. Die Regierung erläßt zwar Verbote, ist aber zu schwach, denselben Geltung zu verschaffen und sieht deshalb dem Treiben mit verschränkten Armen zu. […] Zucker und Brot muß das Volk haben, denn auch das Entbehren hat seine Grenzen.“ [51]

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Jugend ohne Aufsicht (Simplicissimus 24, 1919/20, 691)

Vor diesem Hintergrund unterminierter Rechtsstaatlichkeit nahmen sich auch Kinder und Jugendliche ihren Teil – und dies mündete in eine breite Debatte über die Verwahrlosung und Krise der Jugend. Der Krieg hatte sie ohne Väter aufwachsen lassen, hatte die soziale Kontrolle der geordneten Vorkriegszeit erodiert. Nun aber mehrte sich die Zahl der Diebstähle, sei es direkt in den Läden oder Lagerhallen, sei es indirekt durch Diebstahl, Unterschlagung und Betrug. Kinder bestahlen ihre Eltern, um sich Süßwaren zu kaufen. [52] Minderjährige Lehrlinge stahlen Briefmarken, Hausgehilfinnen vergingen sich am Besitz ihrer Herrschaft, um ins Kino gehen zu können, um einzeln oder in Gemeinschaft zu naschen. [53] Vielen Kindern ging es um Teilhabe: Eine 15-Jährige rechtfertigte den Diebstahl von Schmuck, „sie habe so viel Taschengeld haben wollen wie ihre Freundinnen, die in einem Monat für viele hundert Mark in Konditorwaren und für Naschwerk verausgabten.“ [54] All das war kriminell, zugleich aber Ausdruck einer erwünschten und ganz anderen Normalität: In Gelsenkirchen kauften sich 1922 mehrere Jugendliche in einem Café von eigenem Geld Süßwaren – und starteten dann vor den Augen der Gäste ein Kuchenschlacht. [55] Verausgabung als Form des unlenken Protestes, als Provokation derer, die auf Sparsamkeit setzten. Parallel hielt man, wenn möglich, fest an der kleinen süßen Gabe als Geschenk, als Beziehungspflege, zum Ruhigstellen der Kinder.

Während der Hyperinflation brachen die Dämme des Gebotenen neuerlich. Jugendliche – ein Begriff der damals langsam aufkam und vor allem Kinder im arbeitsfähigen Alter (also ab 14 Jahren) bezeichnete – nahmen damals die Geldbeschaffung neuerlich in die Hand, um Süßwaren, „Tand“ und „Naschwerk“, zunehmend auch Zigaretten, Kinokarten und „schlüpferische Literatur“ zu kaufen. Darauf wollten sie “auch heute nicht darauf verzichten, und so macht man eben Geschäfte. Zunächst: Man verkauft.“ [56] Kinder besorgten sich Altmaterialien und verkauften diese, stahlen Metall und andere Wertgüter. [57] Und sie bettelten – verschämt, aber drängend, so wie dann wieder während der Weltwirtschaftskrise.

Für die Erwachsenen war dies Ausdruck einer aus den Fugen geratenen Welt, denn Kinder verwendeten mit ihrem Drang zum Süßen die kargen Geldmittel eben nicht vernünftig, sondern vernaschten sie. Dieses generationelle Unverständnis betraf aber zunehmend Jugendliche, zumal Mädchen, die in den Cafés und Konditoreien demonstrativ konsumierten. Die Jungen huldigten dort „ihren männlichen Helden und weiblichen Hulden in Naschwerk und leicht verwelklichen Blumen und Rauchwerk.“ [58] Der generationelle Bruch manifestierte sich in einer anderen Stellung zu den Verlockungen der Konsumsphären. Jugendliche blendeten die Not der Vielen scheinbar aus, brachen zugleich mit der haushälterischen Vernunft der Alten. Die wetterten über Jugendliche, „für die es den Begriff ‚Geld‘ anscheinend nicht mehr gibt, die das, was sie erhält oder verdient, nur ausgibt für Putz und Tand und Amüsement. Unsere Vergnügungsstätten, unsere Tanzsäle, Kinos, Cafés und Konditoreien sind voll von jungem Volk, das das Geld mit vollen Händen ausstreut. Die jungen Mädchen, die jungen Burschen entwickeln eine Eleganz, wie man sie früher nie gekannt hat. Naschwerk, Zigaretten werden in ihren Händen niemals alle.“ [59]

Das Amüsement der Jungen, ihre Nachsucht, erfolgte nicht mehr länger heimlich und häuslich, sondern offen und öffentlich. Entsprechend kamen alte Elemente der Debatten über das Naschen wieder auf, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts seltener geworden waren. Süßwaren wurden seit der Inflationszeit vermehrt in den Kontext der sexuellen Verführung und des sexuellen Mißbrauchs gestellt. „Zuwendung von Naschwerk“ [60] war probates Mittel für Pädophile, um sich Kindern zu nähern. Parallel zu öffentlichen Debatten über „Entartete“ und negative Eugenik wurde immer wieder über die Anbändelqualität der Süßwaren berichtet: Die Täter freundeten sich in Parks und auf Spielplätzen „allmählich mit den Kindern an, locken sie mit Versprechungen oder Süßigkeiten an sich. In kleinen Mädchen steckt schon der Evatrieb zu gefallen, es schmeichelt ihnen, wenn sie auf einen Erwachsenen Eindruck zu machen scheinen. Und so viel Kinder plappern, so tief können sie auch schweigen, wenn ihr neuer Freund, der sie mit Süßigkeiten beschenkt, ihnen einschärft, daß sie zu Hause nichts erzählen dürfen.“ [61] Der öffentliche Raum wurde zur Gefahr, die Großstadt zum verzehrenden Moloch, die Sittlichkeit untergrub und die Bande des Schicklichen auflöste. Das galt aber nicht nur für Triebtäter, die sich mangels eigener Qualitäten der Offerten der Konsumgesellschaft bedienten. Das galt auch für junge, zumal arme Mädchen, „die die Sehnsucht nach hübschen Kleidern oder nur nach einem Kinobesuch oder Naschwerk dazu trieb […] sich zu perversen Handlungen herzugeben“ [62].

All das sind Momentaufnahmen, geschürt von einer zunehmend sensationell aufmachenden Presse. Sie sind einzubetten in allgemeinere Strukturveränderungen. Zum einen nahm der Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Bevölkerung trotz Geburtenrückgangs zu. Der Arbeitsmarkt war darauf kaum vorbereitet, Jugendarbeitslosigkeit wurde zu einem strukturellen Problem. Die Jungen wurden in den Betrieben häufig diskriminiert, Schläge gehörten noch zur häuslichen aber auch betrieblichen Erziehung. Der Staat strich Jugendlichen 1931 gar den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, band sie so an die elterliche Unterstützung. Dennoch büßten insbesondere Väter ihre Autoritätsstellung in der Familie ein, während sich parallel in vielen Großstädten Jugendcliquen, ja Jugendgangs bildeten. Sie bildeten Subkulturen im halböffentlichen Raum, Arbeitszeitverkürzungen und Arbeitslosigkeit ließen dafür auch Zeit. Neben derartigen Kleingruppen entstanden innerhalb der noch bestehenden religiösen, politischen und sozialen Milieus relativ autonome Jugendkulturen, in denen Alter und altersgerechter Konsum zentrale Rollen spielten.

Abstrakte Gefahren: Süßwaren und Gesundheitsschädigungen

Diese wachsende Selbstorganisation und Eigenständigkeit ließen auch viele an sich begründete Mahnungen von Erwachsenen und speziell Wissenschaftlern vor zu viel Süßwaren ohne Widerhall verebben. Das galt etwa für die schon vor dem Ersten Weltkrieg intensiv geführte Debatte über Zahnpflege und Zahnkaries. Schon damals war es Gemeinwissen, dass klebrige und schwerlösliche Süßwaren das Zähneputzen zwingend geboten, da ansonsten die Säurebildung bei der Vorverdauung im Mund Karies und mehr verursachen würde. [63] Süßwarenproduzenten nutzten diesen Zusammenhang, um Karies nicht als Krankheit von Zuckerwarenkonsumenten, sondern von Zahnpflegeverweigerern zu präsentieren. [64]

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Zahnpflege als Freifahrtschein für Süßwarenverzehr (Kladderadatsch 82, 1929, 159)

Eltern konnten demnach wählen, ob sie ihr Kind vom Naschen fernhalten oder zu regelmäßiger Zahnpflege anhalten sollten. Generell milderten sie ihre rigide Ablehnung des Süßwarenverzehrs, drangen aber auf tägliches Zähneputzen. Das Ritual der Entsagung wurde immer häufiger zugunsten der Routine der Zahnpflege aufgegeben. Die Zahnpastahersteller griffen dies in den späten 1920er Jahren auf und warben offensiv um Käufer. Der Konsum von Süßwaren ging also Mund in Mund mit dem Konsum pharmazeutischer Präparate. Ähnlich warb man für den Kauf des im Kriege wieder zugelassenen Saccharins, um Süßwarenkonsum und die Mitte der 1920er Jahre breit propagierte schlanke Linie in Einklang bringen zu können. [65] Marktbildung zog weitere Marktbildung nach sich, ein gängiger Mechanismus moderner Konsumgesellschaften.

Ernährungswissenschaftler empfahlen dagegen Zurückhaltung beim Süßwarenverzehr. Vor dem Hintergrund der sich etablierenden Vitaminlehre erschien ihnen Obst als gesunde Süße, Süßmost als Alternative zu gezuckerten Limonaden. Das Haushaltsgeld solle man in eine gesunde und frische Mischkost investieren, nicht aber für Näschereien ausgeben. [66] Zahnpflege verstand sich aus ihrer Sicht von selbst. [67] Rigider urteilten Vertreter der Naturheilkunde, die Süßwaren möglichst umfassend aus dem Ernährungsalltag verbannen wollten. Dagegen verwahrten sich Vertreter der Süßwarenindustrie, die Zahnschäden bei Schulkindern etwa durch Schokolade schlicht in Abrede stellten – zumal die Ursachen der Zahnkaries „noch nicht geklärt“ seien. [68] In der Tat nahmen in der Folge insbesondere Zahnärzte von einer monokausalen Beziehung zwischen Süßwaren und Karies Abstand, sahen vielmehr in der Ernährung mit hochverarbeiteten Nahrungsmitteln ein größeres Problem, dem sie eine frische, vitamin- und mineralstoffreiche Kost entgegensetzten. [69]

Von diesen Debatten drang kaum etwas in den Alltag der Kinder und Jugendlichen. Das Für und Wider wissenschaftlicher Debatten war kaum nachzuvollziehen, allein einfache Regeln blieben bei ihnen haften, wurden über die Erziehung teils auch eingeübt. Die abstrakte und keineswegs gesicherte Verbindung von Süßwarenkonsum und Krankheiten wie Adipositas oder Diabetes hatte für sie keine Alltagsrelevanz – zumal die Folgen nicht unmittelbar erfahrbar waren.

Marktbildung und Marketing der Süßwaren in den 1920er Jahren

Die Süßwarenindustrie im staatlich-konjunkturellen Wechselspiel

Der bisher verwandte Begriff „Süßwaren“ wurde mit Bedacht gewählt. Er handelt sich einerseits um eine seit dem Ersten Weltkrieg verwandte Sammelbezeichnung für eine an sich recht heterogene Branche der Lebensmittelindustrie. Zucker war das wertbestimmende und geschmacksprägende Element der vier Hauptbranchen, der Produktion von Backwaren, Schokolade und Kakao, Zuckerwaren und Konfekten. Die zumeist mittelständischen Unternehmen deckten aber zumeist mehrere dieser Branchen ab. Zur Süßwarenindustrie hinzuzurechnen ist das zuckerverarbeitende Handwerk, also die Konditorei, und eine in den 1920er Jahren rasch wachsende Zahl von Bäckereien. Die Herstellung zuckerhaltiger Getränke müsste hinzugerechnet werden, wurde statistisch jedoch anders verortet. Auch die eigentliche Zuckerindustrie führte nicht nur statistisch ein Eigenleben, wurde als gesonderte Industrie gezählt und verstanden. Die Süßwarenindustrie ist also statistisch nicht präzise zu fassen, nur Größenordnungen sind möglich.

Der Begriff „Süßwaren“ zielt zweitens auf die gewerbliche Herstellung von Süßwaren in einer kapitalistischen Marktgesellschaft. Über die Bedeutung der häuslich hergestellten Plätzchen, Kuchen, Süßspeisen, Desserts etc. sind keine verlässlichen Informationen verfügbar. Doch das Wachstum der Backartikelanbieter war während der 1920er Jahre beträchtlich, entsprechend dürfte nicht nur der Kauf, sondern auch die häusliche Herstellung von Süßem zugenommen haben. Schließlich stieg der Zuckerkonsum nach dem Einbruch während des Weltkrieges nochmals deutlich an, übertraf 1925 wieder die Vorkriegswerte, lag 1929 und 1930 bei mehr als 23 Kilogramm pro Kopf, erreichte nach einem deutlichen Rückgang während der Weltwirtschaftskrise ab 1936 neuerliche Höchstwerte zwischen 24 und 25 Kilogramm. Zu beachten ist, dass dieses neuerliche Wachstum anfangs durch hohe Zuckersteuern begrenzt, durch die zwischen 1926 und 1928 erfolgte Herabsetzung der Steuersätze auf die Hälfe aber begünstigt wurde. [70]

Die Süßwarenindustrie umgriff vor dem Kriege mehr als 800 Betriebe mit 50.000 bis 60.000 Beschäftigten, in der Mehrzahl Frauen. Dresden, Berlin, Magdeburg, Köln und Herford bildeten die regionalen Schwerpunkte. [71] Sie war eine Boombranche der zweiten Industrialisierung: „Die Zahl der Betriebe hat sich seit 1875 nahezu um das Zehnfache, die Zahl der beschäftigten Personen um mehr als das Fünffache gesteigert.“ [72] Die Gewerbezählung des Jahres 1925 unterstrich eine weitere Aufwärtsentwicklung: Die Schokoladenindustrie wies 677 Betriebe und 51.200 Beschäftigte auf, die Zuckerwarenindustrie 1.889 Betriebe und 23.900 Beschäftigte. Hinzu kamen 9.089 Konditorenbetriebe mit 47.042 Beschäftigten, zudem ein Teil des Bäckerhandwerks (94.061 Betriebe, 314.484 Beschäftigte). [73]

Einen genaueren Überblick ergeben die Daten der Gewerbeaufsichtsbehörden, die allerdings nur Mittel- (> 5 Beschäftigte) und Großbetriebe (> 50) umfassen. Nach der Stabilisierung stieg die Zahl letzterer von 238 1926 auf 256 1927, die der Beschäftigten von 48.667 auf 53.901. [74] Danach stagnierte die Industrie auch aufgrund einer verstärkten Konzentrationsbewegung, die allerdings zugleich zu einer erhöhten Produktivität führte. 1929 gab es in der Kakao- und Schokoladenindustrie 867 Mittel- und Großbetriebe (61.427 Beschäftigte) resp. 238 Großbetriebe (51.699 Beschäftigte). [75] Die Weltwirtschaftskrise lichtete die Reihen der Branche erheblich, die Einfuhrbeschränkungen und Zollerhöhungen der Präsidialkabinette und des NS-Staates machten eine substanzielle Erholung unmöglich. 1936 gab es in der Kakao- und Schokoladenindustrie 571 Mittel- und Großbetriebe (49.333 Beschäftigte) resp. 175 Großbetriebe mit 43.246 Beschäftigten. [76]

Diese Zahlen sind Ausdruck beträchtlicher Wandlungen der Süßwarenbranche, vor allem aber ihrer Abhängigkeit vom staatlich-regulativen Rahmen. Freie Wahl, freie Angebote sind Chimären. Süßwaren galten trotz ihres hohen Nährwertes während des Ersten Weltkrieges rasch als Luxus. Ende 1915 wurde ihr nur noch die Hälfte der vor dem Kriege verarbeiteten Zuckermengen zugestanden, parallel ebbten die Kakaolieferungen durch die britische Seeblockade ab. Süßwaren waren daher knapp, verteuerten sich massiv, wurden zugleich zu einer begehrten Rarität. Die Preise wurden staatlich festgesetzt, doch Süßwaren mutierten zu einer prototypischen Schwarzmarktware. Die Branche schloss sich in dieser Situation zum Reichsbund der Deutschen Süßwaren-Industrie zusammen, doch die 1921 aufkommenden Hoffnungen auf ein Ende der Zwangswirtschaft, der administrierten Preise und kontingentierten Rohstofflieferungen währten nur kurz. [77] Erst nach der Hyperinflation, im April 1924, gewann die Branche wieder Dispositionsfreiheit. [78] Dies bedeutete auch eine Abkehr von den vielfältigen Ersatzmitteln der Kriegszeit, die das öffentliche Angebot lange Jahre prägten, während die besseren Sorten ihren Weg in den Schwarzmarkt und Schleichhandel fanden.

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Rückkehr zu tradierten Angeboten nach Ende der Zwangswirtschaft (Die Kunst 26, 1924/25, H. 11, XI (l.); Die Woche 26, 1924, Nr. 2, VIII)

Konsolidierung und neuerliches Wachstum dürfen allerdings nicht überdecken, dass die Süßwarenbranche ihre Produkte deutlich anders absetzte und bewarb als dies uns Nachgeborenen normal erscheint. Die Schokoladenproduktion stieg in den 1920er Jahren beträchtlich, von 21.000 Tonnen 1907, auf 92.300 Tonnen 1926 und 105.800 Tonnen 1927. [79] Diese Mengen konnten in den 1920er Jahren zwar Herstellern zugeordnet werden, doch sie wurden vornehmlich als loses Angebot schnell umgeschlagen. Die großen Markenartikelhersteller, die sich zu einer Markenkonvention zusammengeschlossen hatten, machten nur ein Viertel des Gesamtabsatzes aus. Schokolade stammte zumeist von Anbietern mit nur regionaler Bedeutung. Der Absatz erfolgte nicht vorrangig über die große Zahl der kleinen inhabergeführten Ladengeschäfte, sondern zumeist über Spezialanbieter, insbesondere große Filialunternehmen. Sie verkauften Süßwaren anonym, kaum als Markenware.

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Süßwaren als anonyme, teils lose verkaufte Ware 1927 (Münchner Neueste Nachrichten 1927, Nr. 321 v. 25. November, General-Anzeiger, 6)

Auch Zucker- und Dauerbackwaren wurden zumeist anonym verkauft, als Bonbon oder Plätzchen, verborgen hinter lockendem Glas, verkauft per Stück oder nach Gewicht. Höhere Qualitäten waren Spezialgeschäften und Konditoreien vorbehalten, kleine Läden offerierten meist billige (und regional recht unterschiedliche) Standardware, die sie vielfach direkt von den Produzenten bezogen. Das war Ausdruck eines wachsenden Marktes, eines wachsenden Anteils am Handelsumsatz. Das Angebot wurde in den späten 1920er Jahren vielfältiger, die Fülle der Spezialitäten war von Grossisten vielfach nicht mehr zu bewältigen, Direktabsatz üblich. [80]

Taschengeld zwischen Verschwendung und Kontrolle

Kinder und Jugendliche besaßen in den 1920er Jahren nur begrenzte Geldmittel. Lehrlinge erzielten teils sehr moderate Einkommen, das ab dem Alter von siebzehn mögliche Erwerbseinkommen ging großenteils als Kostgeld an die Eltern. Übrig blieb ein Taschengeld. Kinder erhielten dieses deutlich früher. Es verstetigte und monetarisierte den Geschenkefluss der Eltern und Verwandten. Taschengeld wurde seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts üblich, doch zu Beginn war es ein frei disponierbarer, regelmäßig bezahlter Geldbetrag an Dienstboten, an die Hausfrau und schließlich auch an den Hausherrn. Die nominelle Setzungsgewalt lag beim Hausherrn, beim Vater. Taschengeld trat neben das Haushaltsgeld, neben Erspartem. Seine Zahlung setzte ein regelmäßiges Einkommen und einen gewissen Wohlstand voraus. Es war daher im 19. Jahrhundert typisch bürgerlich.

Taschengeld für Kinder wurde seit dem späten 19. Jahrhundert üblich. Anders als das der Erwachsenen war es keine reine Gabe, sondern sollte auf kleiner Flamme in die Zwänge der Geldwirtschaft, die Regeln des modernen Kapitalismus einführen. [81] Erziehungsideale wie Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Demut traten demgegenüber zurück. [82] Taschengeld setzte Vertrauen in den verantwortungsvollen Umgang mit Geld voraus. Skeptiker fragten allerdings: „Wird dadurch nicht der Naschsucht und der Verschwendung Tür und Tor geöffnet?“ Kinder neigten schließlich zum situativen Kauf, gaben dem „Gelüst des Augenblicks“ nach. [83] Aus diesem Grund knüpften die bürgerlichen Eltern vielfältige Bedingungen an die Zahlung des Taschengeldes. [84] Erstens legten sie teils fest, wofür die Kinder aufzukommen hatten. Das galt insbesondere für den Schulbedarf, Papier, Tinte, auch die Schreibfedern. Pfleglicher Umgang damit eröffnete kindliche Dispositionsräume, unterstützte also Ordnungssinn und Reinlichkeit. Zweitens hatten viele Kinder Rechnung über ihre Ausgaben zu führen. Die Eltern kontrollierten die Buchführung, intervenierten bei Verschwendung für Tand und Naschzeug. Gedacht als Mittel der Selbsterkenntnis und der Sparsamkeit, führte diese Art der Verschriftlichung jedoch oft zu falschen Angaben. Aus diesem Grunde wurde den Kindern schon kurz vor dem Weltkrieg ein gewisser Freiraum eingeräumt, also Ausgaben toleriert, die nicht näher spezifiziert werden mussten. Das gab dem Drang der Kinder nach, sollte ihnen aber auch den Wert des Geldes deutlich machen. Viertens zielte dieses frei verfügbare Taschengeld auch auf die Tugend der Sparsamkeit. Größere Käufe erforderten Moderation, zielgerichteten Verzicht, selbst wenn die in bürgerlichen Haushalten häufig schon vorhandene Sparbüchse ebenfalls hinzugezogen wurde. [85]

Taschengeld wurde um die Jahrhundertwende ab dem Alter von 14 vergeben, dann rasch ab 12, Anfang der 1920er ab 10, teils gar ab 8. [86] Mädchen bekamen es später als Jungen, erst in den 1920er Jahren gab es vermehrt Parität. [87] Die Höhe variierte, je nach Einkommen, je nach Wirtschaftslage. Taschengeld war dennoch immer wieder umstritten, insbesondere um die Härte der Kontrolle wurde gerungen. Angesichts des Anfangs der 1920er Jahren wachsenden „Lustbarkeitsunfugs unter den Jugendlichen“ hieß es: „Die Eltern sollen sich mehr darum kümmern, wo die Kinder sind und was sie mit dem Taschengelde machen.“ [88] Während der Inflation wurde Sparsamkeit, also temporärer Konsumverzicht, entwertet. Kinder erfassten dies, sprangen nach Erhalt des Taschengeldes „vergnügt davon, um im nächsten Kramladen das erquälte Taschengeld in Leckereien oder wertlosem Unfug umzusetzen.“ [89]

Die Inflationserfahrung veränderte auch die Funktion und Stellung des Taschengeldes: Zuvor diente es zum Erkunden des kindlichen Charakters, dem dann begründeten Gegensteuern gegen die Naschhaftigkeit, Verträumtheit, Liederlichkeit. Taschengeld blieb ein Erziehungs- und Kontrollmittel. Doch es galt nun zunehmend als Recht der Kinder und insbesondere der Jugendlichen in einer kommerzialisierten Umwelt. Geld regierte die Welt und daher mussten Eltern ihre Kinder lehren „mit dem Gelde umzugehen“ [90]. Das schien wichtig, da Kino und Illustrierte neue Konsumformen plakativ vor Augen führten und die „Dollarjugend“ [91] in den USA Träume hervorrief, die in Mitteleuropa nicht umsetzbar waren. Wichtiger noch wurde seit 1925 die von den Sparkassen ausgehende und im seither jährlich zelebrierten Weltspartag kulminierende Sparbewegung. [92] Sparen eröffnete insbesondere Jugendlichen neue Konsumhorizonte, Fahrräder, Radios, gar Motorräder – Ratenzahlung und eine Arbeitsstelle vorausgesetzt. Naschen wurde zunehmend als kindlich abqualiziert: „Als kleiner Junge war ich aus auf’s Naschen, / Sah ich Süßigkeiten, war ich sehr ergötzt, / Und den letzten Groschen hab‘ ich eingesetzt, / Mit Bonbons zu füllen meine Taschen. / Niemals schämt‘ ich mich, / Denn ich dacht‘ nicht mitten in der Näscherei, / Daß ein Junge so wie ich / Doch ein richtig dummer Junge sei. / […] Und ich folgte seinem guten Rate, / Tat Verzicht auf Zuckerzeug, Sch[…] / Legte jeden Groschen in die Heimsparkasse / Nimmer nasch‘ ich mehr, / Denn ich weiß jetzt, wie man‘ macht. / Alle Taschen sind leer, / Aber – – – – meine Sparkasse ist voll!“ [93]

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Abbitte eines einstmals naschenden jungen Sparers (Sparkassen-Rundschau 1928, Nr. 20, 8)

Taschengeld ermöglichte in den 1920er Jahren Kindern und Jugendlichen eine begrenzte eigenständige Teilhabe am Alltagskonsum. Süßwaren standen dabei hoch im Kurs, doch je älter die Kinder wurden, um so breiter gefächert wurden ihre Wünsche. Süßwaren blieben insbesondere bei Mädchen und Backfischen weiterhin hoch geschätzt, doch Kleidung, Schönheitsprodukte und Kosmetika traten hinzu. Der Trend hin zu anderen Produkten schon im Kindesalter war nicht zu übersehen.

Wachstum der Begehrlichkeiten: Die Weitung der Kinderinteressen

Die Debatte über das Taschengeld der Kinder wurde immer auch mit Einblicken in die Konsumwelt der Kleinen gewürzt. Verschwendungen wurden beklagt, auch nicht standesgemäße Geldverwendung: „Schon das Kleinste, das noch kaum den Groschen kennt, läuft zum Automat, um den gefundenen Knopf oder ein Steinchen hineinzuwerfen und sich Bonbons dafür zu holen. Mit der Semmel als Frühstücksbrot ist der Schüler von heutzutage nicht zufrieden; Bonbons- und Konditorläden in der Nähe der Schulen machen stets das beste Geschäft. Diese Bemerkungen kann man besonders bei den Volksschülern machen. Im zerrissenen Kleidchen und verrissenen Schuhen schnullt man Bonbons und Schokolade; halberwachsene Knaben, denen die Armut aus dem Gesicht und Anzug spricht, stoßen stolz den Qualm der Zigaretten aus dem Mund. Und dabei ist man immer unzufrieden, weil das Taschengeld nie zur Befriedigung der vielen Wünsche ausreicht.“ [94] Neben die in jungen Jahren dominierenden Süßwaren trat früh die „männliche“ Zigaretten. Auch die Ausgabebücher des Taschengeldes wurden variabler: „20 Groschen für Schokolade, 50 Groschen Kino, ‚Der Cowboy-König‘, 10 Groschen für Schokolade“ [95].

Neue Medien drangen in den 1920er Jahren vor, das Kino lockte, ebenso die grellen „Riesenplakate an den Warenhäusern. Tausende und Abertausende von kleinen Kinderballons dienen, in der Hand freudig strahlender Kinder, diesen Geschäften als ‚wandernde‘ Reklame.“ [96] Kinder durchblätterten Zeitungen, prägten sich auch ohne Lesefertigkeiten „die Inserate und Reklame-Anzeigen mit ihren in die Augen fallenden charakteristischen Figuren und Bildern“ [97] ein. Diese frühe Marktsozialisierung rief scharfe Kritik hervor, führte im Rahmen der Schmutz- und Schund-Debatten zu Bücherverbrennungen. Es ging um Konsumresilienz: „Unsere Kinder: das ist unsere Hoffnung und Freude, Glück und Sorge, alles in einem. […] Niemals war unsere Jugend so sehr gefährdet und umlauert, wie in der Gegenwart. Gefahren für Seele und Leid, Gefahren der Umwelt und der Öffentlichkeit, der Straße und der Gesellschaft, der schreienden und verführerischen Reklame, Gefahren für die Unschuld und Reinheit unserer Kinder. Gefahren für ihren Glauben.“ [98] Billige Fabrikware schien auf dem Vormarsch, Kitsch nahm das Hirn der Kinder in Besitz, Billigspielwaren verdrängten die gediegenen Angebote der Vorkriegszeit: „Daß Kinder Süßigkeiten lieben, ist nachgewiesenermaßen in ihrem Organismus begründet, aber müssen das Gummischlangen und auf ein Stöckchen gespießte farbige Zuckerkleckse sein?“ [99] Derartig kulturkritische Einwürfe hatten ihre Berechtigung, waren aber zugleich Rückfragen aus einer den Kindern kaum bewussten Vergangenheit.

Sie spiegelten jedoch die neuartige Bilderwelt des Alltags, die Vielgestaltigkeit der Reklame, die Sinnesreizung durch Anpreisung und Angebot. Das Interesse der Kinder wurde weiterhin auf Süß- und Spielwaren gelenkt: „Wie anders als damals die Kleinstadt bietet die Großstadt jetzt durch die viel bunteren und kunstgerecht ausgeschmückten Auslagen der Schaufenster und durch allerlei andere Schaustellungen der Reklame der bildhungrigen Phantasie der Kinder eine üppige Fülle von Bildern, wenn auch freilich nicht immer in einer für die frühe Jugend passenden Auswahl.“ [100] Konsumgüter gewannen eine neue soziale Bedeutung. Sport und Freizeit waren von ihnen geprägt, waren Erfordernisse für Spiel und Spaß. Mobilität gewann an Bedeutung, prägte den Sonntagsausflug und die Freizeit: Bildreportagen konturierten Erwartungen, Faltboote und Segelflug ließen sie jugendnah und abenteuerlich erscheinen. Die Grenzen des Schicklichen verflüssigten sich, Groschenromane präsentierten prickelnde Kriminalität, schräge Typen und den Reiz des Unerlaubten. Comics drangen vor, einfach gezeichnet, mit plumpem Witz; doch auch schon verfeinert, mit Raffinesse, künstlerischem Geschick und Hintersinn. Bildserien wie die der Stosch-Sarrasani-Hefte führten weltweite Abenteuer augenscheinlich vor. Markenartikelanbieter nutzten diese für ihre Zwecke, boten Reklamekinderzeitschriften an, „frei von jeder Reklame […] und pädagogisch in jeder Hinsicht einwandfrei.“ [101] Gewiss, die Reklame konzentrierte sich auf Erwachsene, doch auch die Kinder wurden zunehmend umworben. Süßwaren blieben ein wichtiges Kinderprodukt, doch der konsumtive Horizont weitete sich auch für sie: „Nicht umsonst ist ein Großteil der Reklame der großen Markenartikelfirmen und Konsumentenorganisationen bemüht, einen beträchtlichen Teil ihrer Reklame auf das Gefühlsempfinden des Kindes einzustellen, um auf diese Art suggestiv auf das Kind einzuwirken. Schon den Kindern soll dieser jener Name eines Artikels oder einer Ware von jenem Zeitpunkte an in die Ohren gehämmert werden, von dem an es zu begreifen beginnt. Unwiderstehlich wird der Zwang dann, wenn das Kind die Schulbank zu drücken beginnt und der kleine ABC-Schütze schreiben und lesen lernt und mit Interesse all die Flugzettel und deren fettgedruckten Stellen zu entziffern sucht.“ [102]

Der neue Lockreiz des Süßen: Marketing, Angebote, Konsumumfeld

Jugend als Markt: Wachsende Marktsegmentierung

Kinder und Jugendliche waren nicht nur Teil und Adressaten von Werbung und Waren. Seit den späten 1920er Jahren segmentierte sich auch ein Jugendmarkt, der ökonomisch reflektiert und dann mit Hilfe spezieller Produkte etabliert und erweitert wurde. Jugend wurde zum Mittel der Wertschöpfung: „Um die Jugend zu werben, bedeutet eine neue Käuferschaft gründen! Denn rasch wächst sie heran und wer die Jugend gewinnt, baut für die Zukunft vor. Das Kind beeinflußt aber auch die Entschlüsse der Eltern in besonderem Maße. Mancher Kauf oder auch zusätzliche Verkauf kommt dort zustande, wo man das Kind im Mittelpunkt des Interesses macht. Der Einfluß des Kindes auf den Wareneinkauf tritt nicht immer offen in Erscheinung, um so bedeutender ist er. Deshalb ist es wesentlich, die Anhänglichkeit der Jugend zu gewinnen.“ [103] Dies war nicht zuletzt Folge des amerikanischen Marketings der späten 1920er Jahre. Auch wenn amerikanische Firmen im deutschen Markt vielfach nicht erfolgreich waren – Wrigley gründete zwar 1926 in Frankfurt a.M. eine Kaugummifabrik, schrieb aber hohe Verluste – fanden Ideen von Massenproduktion und Massenbeeinflussung, von Sozialtechnologie und Geschmacksstandardisierung doch insbesondere bei den Markenartikelherstellern beträchtlichen Widerhall: „Wer als Markenartikelhersteller die Jugend von heute gewinnt, hat Markenartikelkunden von morgen.“ [104] Jugendliche kannten einschlägige Markenartikel der Süßwarenbranche, in Umfragen lag Stollwerck vorn, gefolgt von Dr. Hillers (Pfefferminzbonbons) und Sarotti. Doch die oben analysierte großenteils mittelständisch und von anonymer Ware geprägte deutsche Süßwarenindustrie hatte nicht die Kapitalkraft für regelmäßige Reklamefeldzüge, setzte zudem auf die Attraktivität einer breiten Angebotspalette.

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Jugend als neues Marktsegment: Titelbild eines Marketing-Ratgebers (W[alter] H[ans] Wolff, Jugend. Wege zu einer neuen Käuferschaft, Stuttgart 1928, I)

Das Wachstum der Jugendmärkte fand zwar auch bei Süßwaren statt, prägte aber andere Branchen stärker: „Früher beschränkte sich die Jugend auf Bäcker- und Zuckerbäckerläden, in denen die zehn Pfennige Taschengeld vernascht wurden. Heute bildet die Jugend – und das ist vielleicht eines der hervorragendsten Kennzeichen der ‚neuen‘ Zeit – eine neue Käuferschaft. Zigarette – Radio – Kino – Sport – Lektüre sind die fünf Hauptinteressen der modernen, entromantisierten, entsentimentalisierten, materialistisch (Technik und Geld!) gesonnenen Jugend von heute.“ [105] Dies spiegelte dann auch die kommerzielle Wiederentdeckung von Jugendmärkten seit den späten 1950er Jahren. [106] Damals kauften „Teenager“ ca. 11% aller Süßwaren, dagegen knapp 20% aller Schuhe und Textilien, knapp 40% der Fahr- und Motorräder sowie mehr als 40% der Schallplatten und Plattenspieler. [107] Dieser Prozess begann in den 1920er Jahren, auch wenn Süßwaren insbesondere für Kinder noch an der Spitze ihrer Wünsche und Ausgaben rangierten.

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Neue Konsumfelder: Haarpflege für junge Mädchen (Der Welt-Spiegel 1930, Nr. 26 v. 29. Juni, 7)

Neue und billige Süßwaren

Der Süßwarenmarkt entwickelte sich in den 1920er Jahren nicht „amerikanisch“, also in Richtung auf einige massiv beworbene und überall erhältliche Markenartikel, die mit regionalen Spezialitäten ergänzt wurden. Die große Masse wurde noch unter ihrer Warenbezeichnung verkauft, also als Bonbon oder Marzipankartoffel, als Rumkugel oder Mürbegebäck. Große Bedeutung hatten auch Mischungen von Handelsfirmen. Es galt, etwas Süßes, etwas nicht Alltägliches zu genießen. Markentreue war eher etwas für die Erwachsenen.

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Produktinnovationen Vivil (Pfefferminzbonbons) und Wrigley (Kaugummi) (Badische Presse 1930, Nr. 206 v. 5. Mai, 12 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 202 v. 1. September, 4)

Gleichwohl entstanden in den 1920er Jahren auch heute noch bekannte Markensüßwaren: Haribos Gummibärchen wurden seit 1922 verkauft. Nappo, ein mit Schokolade überzogenes Nougatkonfekt folgte 1925, das Kaubonbon Maoam 1931. Derartige Markenartikel etablierten sich meist neben anonymer Ware. Pfefferminzbonbons wie Vivil oder Dr. Hillers wurden seit den späten 1920er Jahren massiv beworben, wurden eingewoben in neue Freizeitaktivitäten, zugleich als gesund und erfrischend positioniert. Kaugummi gab es vereinzelt schon vor dem Ersten Weltkrieg, doch erst die amerikanischen Anbieter initiierten seit Mitte der 1920er Jahre eine kurze Mode. Längerfristigen Erfolg hatten die ebenfalls schon vor dem Weltkrieg bekannten Kolagetränke, bei denen Coca-Cola den Takt angab, doch die „deutsche“ Afri-Cola seit 1931 dagegenhielt. Ergänzt wurde dieser Reigen von Markenprodukten, bei denen der Firmenname als Dachmarke genutzt wurde. Konfitüren von Schwartau oder Zentis standen für solide, zugleich aber um immer neue Geschmacknuancen ergänzte Süßwaren.

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Neue Geschmacksrichtungen: Lakritze und Rahmkonfekt (Hörder Volksblatt 1921, Nr. 170 v. 23. Juli, 8 (l.); Illustrierter Beobachter 7, 1932, 830)

Hinzu kamen sozial differenzierte Süßwaren ganz unterschiedlichen Geschmacks, teils nur mit regionaler Verbreitung. Das galt etwa für die im Westen häufig genossenen Lakritze, die in anderen Teilen der Republik eher als Medizin bekannt waren. Das teure Rahmkonfekt war dagegen Teil bürgerlicher Konsums. Beide Segmente verwiesen zugleich auf die für Süßwaren zunehmend wichtigeren transnationalen Übernahmen von Produktideen.

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Süße Woche oder Die billige Angebotspalette der Süßwaren (Badischer Beobachter 1928, Nr. 298 v. 28. Oktober, 10)

Süßwaren boten Kindern aber nicht nur höchst unterschiedliche Geschmacksrichtungen, eine süße Einführung in die Vielfalt möglicher Gaumenfreuden. Sie waren zugleich billig, zugeschnitten auf das karge Taschengeld, klein portioniert, ein Lutsch- und Schluckprodukt, das sofort genossen, aber auch aufbewahrt werden konnte. Typisch für die zweite Hälfte der 1920er Jahre waren zahllose „Süße Wochen“, in denen zumeist anonyme Ware zu Ausnahmepreisen angeboten wurden. Hauptanbieter waren Filialbetriebe, freiwillige Ketten und lokale Spezialanbieter. Auch Warenhäuser nutzten diese Absatzmethode, die an die seit der Jahrhundertwende üblichen „Weißen Wochen“ anknüpfte.

Zeitgenössisch wurde auch Obst und auch Süßmost als Alternativen zu Zuckerwaren angeboten. Doch ihr Nährwert war vielfach gering, die Qualität insbesondere deutscher Ware schwankend, ihr Angebot stark saisonal geprägt und zudem relativ teuer. Trotz wissenschaftlicher Empfehlungen galten sie daher vielfach als „überflüssiges Naschwerk“ [108]. Die Konsumraten stagnierten in dieser Zeit, auch wenn insbesondere die Banane als süße und nährende Frucht an Bedeutung gewann – und sich Äpfel und Pflaumen süß umrahmt als Kuchen im Kindesmagen wiederfanden.

Das relative Scheitern von Obst als Zuckerwarensubstitut hing allerdings auch damit zusammen, dass insbesondere während der Weltwirtschaftskrise der Nährwert neuerlich in den Vordergrund trat: „Es hat sich nun erwiesen, daß der Genuß von allerhand kleinen Süßigkeiten treffliche Kräfte zu verleihen vermag.“ [109] Immer wieder wurde in den Zeitungen und Illustrierten darauf verwiesen, „daß Süßigkeiten für Kinder notwendig sind und daß eine wirklich gute Gesundheit ohne sie nicht erlangt werden kann.“ [110] Dabei handelte es sich nicht nur um die weit verbreitete, bei Anzeigenkunden gern aufgenommene redaktionelle Reklame. Chemisch war es durchaus richtig, dass Konditorwaren „vollwertige und vitaminreiche Nahrungsmittel sind, deren Nährwert bei gleichem Gewicht den vieler Fleischgerichte und Beilagen“ überstieg. [111] Zucker bot rasch resorbierbare Kohlenhydrate, half bei Erschöpfung und Mattigkeit. Die Ambivalenz jedes Lebensmittels erlaubt weder Verdammung, noch hymnische Begeisterung, sondern erfordert eine ausbalancierte Bewertung.

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Geselligkeit und Nährkraft: Mädchen im Café (Illustriertes Unterhaltungsblatt 1932, 55)

Neue Kundenkreise

Für die 1920er Jahre typisch war aber nicht nur ein zunehmend breiteres und preislich abgestuftes Angebot. Süßwaren wurden damals auch zu einer gängigen nährenden und schmackhaften Alltagskost für Arbeiterkinder. [112] Die deutschen Konsumgenossenschaften, die Ende der 1920er Jahre etwa zehn Millionen Menschen mit preiswerten industriell gefertigten Lebensmitteln versorgten, weiteten ihr Angebote nicht nur allgemein auf Süßwaren aus. Sie richteten ihre Offerenten zudem gezielt an die Kleinen resp. die einkaufende Mutter.

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Süßwaren als Teilhabe an den Errungenschaften der industriellen Welt (Konsumvereinsbote für Rheinland und Westfalen 21, 1928, 158 (l.); ebd. 20, 1927, 166)

Süßwaren, wenngleich in „den niedrigeren Preislagen“ wurden als Ausbruch aus Alltagstrott verstanden, aus der Enge einer von Arbeitslosigkeit geprägten Zeit. Und sie waren zugleich Soul Food, denn im Angesicht der naschenden Kinder dachte der Erwachsenen wohl „an jene Zeit zurück, wo ihm diese Süßigkeiten ebenfalls der Inbegriff aller Seligkeit waren.“ Sparsam sollten sie gegeben werden, nicht hemmungslos: „Aber ein paar Bonbons zur rechten Zeit, das heißt nach der Mahlzeit […] sind gut.“ [113] Die Konsumgenossenschaften produzierten als Handelsmarken Schokolade und Waffeln, Drops und Kekse, Malzbonbons und Karamellen, Pralinen und Konfekt. Hinzu kamen süße Getränke und eine breite Palette von Backartikeln und Puddingpulvern für häusliche bereitete Süßspeisen. Diese Angebote waren Teil einer „distributiven Gegenwelt“, die fair, hygienisch, effizient, bedürfnisorientiert und mit guten Arbeitsbedingungen verbunden war. [114]

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Erfrischungen und Stärkungen für auch für Genossenschaftskinder (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 15, 16 (l.); ebd., 12)

Neue Orte

Süßwarenkonsum fand in den 1920er Jahren zunehmend an neuen, außerhäuslichen Orten statt. Sie traten an die Stelle tradierter Erfahrungsräume. Da war das „Schaufenster voll Süßigkeiten“ [115], da war vor allem der Laden. Während der großen Schulpause „kommen in höchster Eile hintereinander vier oder fünf Kinder hereingestützt, Knaben oder Mädchen jeder Altersstufe, zwischen sechs bis vierzehn, die ihren Fünfer oder Zehner auf den Ladentisch legen und dafür Süßigkeiten verlangen.“ Darüber kam eine Käuferin mit der Verkäuferin ins Gespräch: „Während wir uns noch unterhielten, kam eine Frau herein mit ihrem kleinen Mädchen auf dem Arm. Ehe die Mutter noch ihre Bestellungen machen konnte, hatte die Kleine die ihr offenbar wohlbekannten bunten Zuckersteine in der Glasbüchse entdeckt und streckte verlangend beide Hände danach aus.“ [116] Das Begehrte, es war sichtbar – nur die Mutter war noch zu überzeugen. Doch auch die Folgen waren sichtbar, fanden sich doch vielfach „zahllose Orangen-, Kastanien-, Nuß- und Obstschalen, dann Papier- und Staniolhüllen von Schokolade, Zuckerwerk usw. von den vielen Straßenmahlzeiten, die da gehalten werden“ auf der Straße. [117] Abfalleimer gab es halt nurmehr selten, auch nicht für Streichhölzer und Zigarettenkippen. Als Konsumraum für Süßwaren blieb die Straße jedoch von eher geringer Bedeutung: Eiskarren waren seltener geworden, Automaten spien weiterhin Schokoriegel und Bonbons, dafür vermehrt Kaugummi und Pfefferminzbonbons. Doch stattdessen etablierten sich zunehmend neue Orte, in denen Kinder und Jugendliche nicht nur Süßwaren kaufen konnten, sondern an denen sie diese auch verspeisen konnten.

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Veränderungen im Straßenhandel: Eisgekühler Kakao to go sowie Kaugummiautomat (Illustriertes Unterhaltungsblatt 1931, 1334 (l.); Westdeutsche Landeszeitung 1927, Nr. 20 v. 21. Januar, 10)

In den frühen 1920er Jahren galt das vor allem für die Konditoreien. Lustbarkeiten und Verausgabungen fanden in der Nachkriegszeit hier einen neu definierten, verjüngten Raum, der auf zuvor „ungeahnte Höhe“ gebracht wurde. [118] Die Folge war ein beträchtliches Wachstum – Ende der 1920er Jahre gab es fast so viele Konditoreien wie heute Bäckereien. Der außerhäusliche Backwarenmarkt wuchs in den 1920er Jahren auch durch die Abkehr der Bäckereien von Brot und Brötchen, durch ein wachsendes Angebot von einfachen Teilchen, von Hefe- und Plundergebäck, von Streusel- und einfachem Napfkuchen. Speiseeis blieb eine wichtige Konditorware, doch die Konkurrenz insbesondere der Erfrischungsräume von Waren- und auch Kaufhäusern sowie der modischen Konzertkaffees wurde härter. Ausgeweitet wurde das Sortiment von Sahne- und Cremegebäck, von Torten und aufwändigerer Kuchenware: „Allgemein haben sich aber die Ansprüche des Publikums im Vergleich zur Vorkriegszeit erhöht. Die Kunden verlangen heute für ihr Geld allerbeste Ware. Der Hunger der Kriegsjahre ist vergessen. Wir müssen ferner immer neue Sachen bringen.“ [119] Sozialpolitische Maßnahmen, wie das Sonntagsbackverbot oder die moderate Arbeitszeitverkürzung führten zu stetigerer Arbeit und damit zur Produktion von Spitz- und Baumkuchen oder aber von Konfitüren. Schlagsahne blieb ein wichtiger Artikel, wenngleich diese zunehmend zuhause frisch geschlagen wurde. Die Konditoren verloren zugleich ihre Dominanz bei Kleingebäck. Teekuchen, Mürbegebäck und Keks boten nun auch Bäcker an, Konsumvereine, insbesondere aber die Süßwarenindustrie. Das galt auch für Marzipan, Konfekt und Pralinen.

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Lockreiz der Cremeschnittchen (J.M. Erich Weber, Schule und Praxis des Konditors, 2. Aufl., Radebeul 1927, Taf. 30)

Auch Bäckereien gewannen an Bedeutung, nicht zuletzt durch die zunehmende Verwendung von Weizenmehl. Sie profitierten vom schwindenden häuslichen Brotbacken, auch durch das wachsende Angebot von Feingebäck. Wie bei den Konditoreien nahmen die Ansprüche an Ladenausstattung und Verpackung zu: „Die Kundschaft wünscht das Pergamentpapier oder bei Konditoreiartikeln und beim Stollenversand die Cellophanpackung. Früher mußte ein Bäckerladen nur sauber sein. Heute muß dagegen eine gewisse Eleganz aufgewendet werden, um die Kundschaft zu halten oder heranzulocken.“ [120] Im ästhetischen Kapitalismus folgten nicht nur Jugendliche den ehedem verfemten Anforderungen der Inflationszeit.

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Eine moderne Feinbäckerei (Innen-Dekoration 45, 1934, 277)

Noch stärker als die Zahl der Konditoreien wuchs die Zahl der Eisdielen. Italienische Straßenhändler mieteten vielfach im Sommer Ladenlokale an, deutsche Konkurrenten folgten, auch manche dem scharfen Wettbewerb nicht mehr gewachsene Konditoren. Sie waren zugleich Nutznießer der Weltwirtschaftskrise. 1934 gab es im Deutschen Reiche etwa 2.000 Eisdielen. [121] Danach intensivierte sich der Wettbewerb mit den Konditoreien. Letztere sanken auf etwa 8.000 Betriebe, während die 3.500 bis 4000 Eisdielen mehr Speiseeis umsetzen als ihre handwerklichen Konkurrenten. [122] Sie entwickelten sich zum Tummelplatz von Kindern und Jugendlichen – und sahen sich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt wie ehedem die Straßenhändler: „Die Verbreitung von sogenannten ‚Eisdielen‘ in den Vorstadtgegenden der Großstädte bedeutet eine hygienische Gefahr, weil dadurch Appetitlosigkeit und Magendarmstörungen bei Kindern begünstigt und die Grundlage zu den Erscheinungen der Fehlernährung gelegt wird.“ [123] Entsprechende Regulierungen folgten, nun allerdings auf Reichsebene. [124]

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Weiterhin flexibel: Eisdielen in Berlin als Sommergewerbe (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 20, 10 (l.); ebd. 1932, Nr. 38, 9)

Konditoreien und Eisdielen standen nicht nur für neue Orte des Süßwarenkonsums, sondern auch für – selbstverständlich kritisch beäugte – Freiräume von Kindern und Jugendlichen. Das galt ansatzweise auch für die große Zahl von Kinos. Dort erfolgte der Süßwarenverkauf über den Bauchladen. Nüsse, Bonbons und Knabberzeug ermöglichten Zerstreuung bei der Zerstreuung, Gaumengenuss begleitete Konsumgenuss. Vielfach wurden Süßwaren auch ins Kino mitgenommen – nicht nur von Jugendlichen und Kindern. [125] Erwachsene aber besuchten nach der Vorstellung häufig noch ein Café, eine Bar – doch diese waren Jungen nicht mehr zugänglich, das Gaststättengesetz wurde 1930 verschärft. Tradierte Konsumorte wie Jahrmärkte, Rummelplätze und Schützenfeste waren dagegen offener. Ihre Vielgestaltigkeit und fehlende valide Statistiken erlauben aber keine fundierten Aussagen zum Süßwarenkonsum. Sicher ist allerdings, dass es sich bei ihnen immer auch um herbeigesehnte Feste mit einem ansonsten nur selten erhältlichen Sortiment handelte. Das ging weit über kandierte Früchte, gebrannte Mandeln, Liebesperlen und umzuckerte Herzen hinaus.

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Exotische Angebote auf dem Coburger Schützenfest 1924 (Coburger Zeitung 1924, Nr. 184 v. 7. August, 4)

Säkularisierung und Kommerzialisierung? Die Versüßung der christlichen Festkultur

Eduard Hamm, liberaler bayerischer Handelsminister, beschwor 1921 auf der ersten großen Konditoren-Ausstellung nach dem Weltkrieg, dass es „ein Verlust an unserer Kultur und unseren geistigen Werten [… wäre, US], wenn die traditionellen Erzeugnisse der Zuckerbäcker zu Weihnachten, Ostern und Allerseelen verschwinden würden. […] Wohl könne die Frage aufgeworfen werden, ob es schon an der Zeit sei, unserem Volke ein solches Paradies von Süßigkeiten zu zeigen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir einen langen mühevollen Weg über Sparsamkeit und Arbeit gehen müssen und daß erst unsere Kinder und Kindeskinder vielleicht ein sorgenfreieres Leben führen können.“ [126] Es ist offenkundig, dass Hamm dem schon wieder boomenden Gewerbe Mut machen wollte. Doch er irrte in zweierlei Richtungen. Zum einen waren die christlichen Hochfeste trotz Feingebäck und Hausbäckerei keineswegs eine Domäne der Zuckerbäcker. Ostern und Weihnachten waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine wirklich süßen Feste, trotz vielgestaltiger Gebildbrote und Weihnachtsbäckereien. Das lag nicht nur am fehlenden Zucker und den teuren Gewürzen, sondern auch daran, dass diese christlichen Feste in ihrer Form erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „traditionelle“ Gestalt annahmen. Zum anderen aber setzte in den 1920er Jahren eine neuerliche Versüßung der christlichen Festkultur an, die eng mit dem Aufschwung der Süßwarenindustrie verbunden war, die aber auch durch eine intensivierte Hausbäckerei gestützt wurde.

Beginnen wir mit Ostern. Im Berlin galt noch im frühen 19. Jahrhundert: „Kuchen wurde damals nur an den Festtagen gegessen, und Rosinen gab es nur in der Weihnachtsstolle und im Osterkringel. Die Kinder liebten Ostern besonders darum, weil es das einzige Fest war, an dem es Süßigkeiten gab.“ [127] Damals wurden Zuckerstücken verteilt, teils auch Kalmus. In der Werbung der frühen 1920er Jahre feierte man dagegen „Ostern, das Fest der Süßigkeiten, der Osterhasen und Ostereier“ [128]. Ostern wurde im späten 19. Jahrhundert zunehmend mit süßen Eiern umrahmt, aus Marzipan und Schokolade. Das war Mitte der 1920er Jahre Standard, wurde von bürgerlichen Kindern erwartet. [129] In den Folgejahren nahm der Aufwand, der Umfang und die Art der Geschenke zu: „Ostereier, Schokolade, Zuckerstangen und nicht zu vergessen die reichlichen Ostermahlzeiten mit den herrlichen süßen Nachspeisen werden prächtig munden.“ [130] Die gewachsene Zahl der Konditoren bestückte ihre Schaufenster mit zuvor nicht bekannter süßer Pracht: „Kleine Eier und große, verschiedenfarbig, in reizenden Aufmachungen, in blinkendes, schimmerndes Stanniol gehüllt, mit luftigen, farbigen Schleifen, und ganz hinten, da steht auch ein großes Ei, von dessen brauner Schokoladenfärbung ‚Frohe Ostern‘ weiß aufleuchtet. Seiner meisterhaften handwerklichen Kunst hat dort der Osterhase in der Verzierung Ausdruck gegeben in dem zarten Rosengebinde, das sich unter der Schrift wie ein lächelnder Gruß an das Ei schmiegt. Aus Marzipan […] hat der Meister die keuschen Kelche geformt, die zarten Blätter, so zierlich und fein, daß einen ihre Vernichtung zwischen den Zähnen reuen möchte. Ihr Anblick ist herrlicher fast denn ihr Genuß.“ [131] Geschenkkörbe traten hinzu, Ostereier in verschiedenen Größen und aus verschiedenen Materialien, Schokolämmer und Zuckerhäschen. Doch diese Nestgelege waren zumeist industriell hergestellt, preiswerte Massenware. Die süße Osterware wurde umkränzt von gängigen Alltagsprodukten. All das wurde mit Werbung und Sonderangeboten gezielt vorbereitet, gezielt forciert. Ostern, bekanntermaßen das Fest der Auferstehung Christi, wurde dadurch weiter kommerzialisiert und säkularisiert. Die Wiederauferstehung der süßen Ware erlaubte nach dem Massenschlachten des Weltkrieges eine neue Aufladung des Hochfestes, dessen Kerngehalt immer weniger Menschen teilten. Die Form der christlichen Hochfeste wurde hochgehalten, doch sie waren häufig ihres transzendentalen Gehaltes entkleidet. Die Freude am kleinen süßen Geschenk war Flankenschutz und integraler Bestandteil eines wonnenfrohen konsumtiven Miteinanders.

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Ostern als Süßwarenfest (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 15, 32 (l.); Mittelbadischer Kurier 1929, Nr. 70 v. 23. März, 8)

Ähnlich die Entwicklung beim Fest des Heiligen St. Nikolaus am 6. Dezember. Es fand einst im kirchlichen Rahmen statt, als Weihefest, gab aber auch den Anlass für Nikolausmärkte, die auf Weihnachten hinführten. Dort gab es Naschwerk zu kaufen, doch wichtiger waren Krampuss-Puppen, Ruten und Dekorationsartikel. [132] Vielerorts gab es Umzüge zu Nikolaus, die mit Gaben endeten, Weißgebäck, einem Stutenkerl. Doch aus dem religiösen Gemeinschaftserlebnis wurde später immer stärker ein häusliches Fest. St. Nikolaus zog mit Sack und seinem rutenbewerten Wiederpart, dem Knecht Rupprecht herum, besuchte die Familien mit ihren Kindern. Sie hatten Rechenschaft abzulegen ob ihrer Taten, ihrem Fleiß, ihrem Gehorsam, ihrem Charakter. Ähnliches galt auch für Dienstboten. Böse Taten wurden nicht nur symbolisch vom rutenschwingenden Knecht verurteilt, während der Heilige im Sack Geschenke barg, die er zumeist auch übertrug. Feinbrot, Honig, Äpfel, kaum Süßes – zu Beginn. Seit den 1860er Jahren traten vermehrt Nüsse hinzu – billig importiert aus den USA. Erst dann kam Schokolade hinzu, auch preiswertere Süßwaren. Das Ritual der Jahresbeichte, der Jahresbewertung blieb auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vielfach erhalten: [133] „Was hat der Mann ein gut‘ Gemüt; Denn wo er art’ge Kinder sieht, / Da greift er in die Taschen. / Da greift er in den Sack hinein, / Daß sich die artigen Kinder freu’n / Da gibt es was zu naschen. […] Doch sind die Kinder bös‘ im Haus, / Da zieht er gleich die Rute raus, / Die Kinder zu erschrecken. / O, lieber Nikolaus, halte ein, / Ich will auch immer artig sein, / Laß nur die Rute stecken!“ [134]

Das Nikolausfest wurde rationalisiert und weiter versüßt. Anfangs erfolgte dies durch Teller und Körbchen, die vom Nikolaus – wem sonst? – in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember mit Nüssen, Äpfeln und Süßwaren angefüllt wurden. Zunehmend aber traten Schuhe an deren Stelle. [135] Der Nikolaus und sein dunkler Knecht verschwanden langsam, doch die „Tradition“ der zu füllenden Schuhe blieb bestehen. Weniger Aufwand, etwas mehr Kauf. Spielwaren traten hinzu, die Dienstboten erhielten Geld oder eine andere Aufmerksamkeit. Das Fest wurde versüßt, zugleich stärker auf die Kinder zugeschnitten. Davon profitierte abermals die Süßwarenindustrie. Händler boten in den 1920er Jahren vielfach „schwarze Knechte“ an, Lieferboten süßer Gaben. [136] Auch der Martinszug erfuhr Neuerungen, zumindest in Bernburg: „Am Montag, den 5. ds. erschienen vor 6 Uhr abends plötzlich am hiesigen Bahnhofplatz drei einspurige und drei doppelspurige Motorräder mit maskierten Fahrern und Insassen, welche während der langsamen Fahrt Naschwerk für die Kinder abwarfen. Eine große Menschenmenge bestaunte diese neue Bescherungswelle. […] Am meisten Freude hatten die Kinder, denen nicht nur eine Seltenheit, sondern auch etwas fürs Leckermäulchen geboten wurde.“ [137]

28_Rosenheimer Anzeiger_1924_12_05_Nr283_p09_Bochumer Anzeiger_1930_12_02_Nr282_p13_Nikolaus_Suesswaren_Mann-Frau_Gedicht_Filialbetrieb_Hill_Suesse-Woche

Säkularisierung und Kommerzialisierung des Festes von St. Nikolaus (Rosenheimer Anzeiger 1924, Nr. 283 v. 5. Dezember, 9 (l.); Bochumer Anzeiger 1930, Nr. 282 v. 2. Dezember, 13)

Weihnachten hatte und hat ein anderes Festgewicht als Ostern und St. Nikolaus. Der Weihnachtsbaum, entstanden und verbreitet in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war anfangs nur moderat geschmückt. Kerzen waren teuer, erst die Erfindung der Milly- und dann der Paraffinkerzen führten Mitte des Jahrhunderts zum festlichen Kerzenbaum. Er wurde zunehmend mit Naschwerk dekoriert, mit Äpfeln, Nüssen, Gebildbroten und Weihnachtsgebäck. Die Süßwaren für die Kinder entstammten im 19. Jahrhundert vornehmlich der Hausbäckerei, die teils Wochen vor dem Hochfest einsetzte und deren Vorräte teils bis weit in den Januar reichte. [138] Schokolade trat hinzu, doch der Kauf industriell hergestellter Süßwaren blieb auch vor dem Ersten Weltkrieg noch begrenzt. Die Geschenke selbst waren wertvoller, praktischer, das Festessen am Weihnachtstag war üppig und reichhaltig (nicht am Heiligabend mit einer gewissen Fastentradition). Während des Krieges gewann das Weihnachtsfest weiter an Bedeutung, als Symbol der deutschen Kultur, als Verknüpfung der Lieben im Graben und an der Heimatfront. Auch in der Hochzeit der Ernährungskrise gab es Sonderrationen zu Weihnachten: „Denn Weihnachten ohne Naschwerk? Das ist doch zu traurig! […] Außerdem aber sind Kuchen durchaus kein ‚Luxus‘, denn sie enthalten wirkliches Nahrhaftes in konzentrierter Form: Mehl, Fett und Zucker.“ [139]

Diese Aufladung als Besinnungsfest der deutschen Nation mag auch dazu geführt haben, dass es in den frühen 1920er Jahren deutlichere Widerstände gegen die Versüßung gab als etwa beim Osterfest. Bücher wurden als Weihnachtsgabe empfohlen, bleibende Geisteswerte. [140] Für gekaufte süße Teller fehlte Geld, beim Selbstgebackenem wurden wieder Abstriche gemacht: „Die Kinder, auf die es in der Weihnachtszeit wohl hauptsächlich ankommt, sind aber nicht so wählerisch, als daß sie nicht leicht zu befriedigen wären, wenn das Gebotene nur süß ist und dem Charakter der gewohnten Weihnachtsbäckereien entspricht.“ [141] Und doch, auch die zwischen Krieg und Hyperinflation allgemein üblichen Weihnachtsspeisungen armer Kinder verzichteten nie auf etwa Süßes; neben den Eßwaren, neben der warmen Kleidung. [142] Auch Süßwarenfabriken steuerten ihr Scherflein bei. [143]

29_Vobachs Frauenzeitung_32_1929_H50_p31_Bergische Landes-Zeitung_1933_12_21_Nr298_p4_Gebaeck_Weihnachtsgebaeck_Kuchen_Weihnachten_Backpulver_Dr-Oetker_Familie_Einkaufsgenossenschaft_Rewe_Schokolade_Nuesse

Weihnachten familiär: Hausbäckerei und nur begrenzter Zukauf (Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 50, 31 (l.); Bergische Landes-Zeitung 1933, Nr. 298 v. 21. Dezember, 4)

Gleichwohl blieb Weihnachten auch nach der Stabilisierung und trotz gezielter Werbung von Markenartikelfirmen und Filialbetrieben weniger stark durch industriell gefertigte Süßwaren geprägt. Ausnahmen gab es bei Dauergebäck, bei Leb- und Honigkuchen, bei Printen und Spekulatius. Auch Schokomänner waren seltene Gäste, während teurere Konfitüren, Konfekt und Pralinen an Bedeutung gewannen. Gegentendenzen zur Versüßung gab es jedoch auch, denn das Naschwerk am Baum, das am Ende des Festes von den Kleinen verzehrt wurde, fiel vielfach weg; die neue Sachlichkeit ließ grüßen. [144] So blieb Weihnachten, trotz massiver Kommerzialisierung durch zunehmend teurere Geschenke nicht zuletzt an die Kinder doch zugleich ein Familienfest: „Es darf nichts fehlen von den althergebrachten Dingen, [… denn, US] ein Fest ohne das althergebrachte Naschwerk, das in jedem Hause selbst bereitet wird, gibt es nicht.“ [145] Angesichts der unbezahlten Hausfrauenarbeit war selbstgemachtes Backwerk preiswerter und zugleich Ausdruck der Liebe der Mutter zum Kind, zum Mann. Ähnliches galt auch für Kindergeburtstage, wo das von der Mutter bereitete Backwerk nur selten durch Konditorware ersetzt wurde.

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Torte im Mittelpunkt des Kindergeburtstages (Die Frau und Mutter 21, 1932, H. 11, 15)

Hochfeste waren im ersten Drittel des 20. Jahrhundert ohne Süßes nicht zu denken. Doch während für Kinder und Jugendliche Ostern und St. Nikolaus zunehmend von Süßwaren dominiert wurde, blieb das Weihnachtsfest ein Beziehungshort, der Zeit band, in dem die Kinder auch eingebunden wurden. Zu Weihnachten konsumierte man nicht einfach Süßes, sondern man vergewisserte sich der eigenen Herkunft, der engen Beziehung zu seinen Lieben. Das konnte mit billiger Standardware (noch) nicht nachgebildet werden.

 Der rudimentäre Blick auf Kinder und Jugendliche

All diese Aussagen zum Beziehungsfeld von Süßwaren und Kindern sind notgedrungen oberflächlich. Historische Forschung ist rar, denn die Konsumgeschichte ist jugend-, die Sozialgeschichte dagegen konsumvergessen. [146] Gleichwohl sollten am Ende Kinder und Jugendliche nochmals breiter betrachtet werden, denn das hilft, die vorgelegten Ergebnisse und Hypothesen präziser einzuordnen. Dabei ist zu beachten, dass dabei durchweg Erwachsene über Jüngere reden – und die vielgestaltigen Bewertungen von deren Süßwarenkonsum lassen Zweifel an der „Objektivität“ der Erwachsenen keimen. Die historische Familien- und Jugendforschung ist zudem stark auf die Krisenerfahrung der Zwischenkriegszeit fokussiert. [147] Ihr Fokus richtet sich zudem stark auf das vermeintlich Neue der Zeit, auf den „Schein von einer demokratischen Massengesellschaft“ [148], auf das Wechselspiel von „Verdienen und Vergnügen“ [149] im Leben vornehmlich der Jugendlichen. Das Vergnügen wird meist außerhalb der Familie, in den zunehmend wichtigeren Cliquen und Freundeskreisen verortet, auch in der organisierten Freizeit innerhalb der jeweiligen Milieus. Letztere begrenzten das Aufgehen in der neuen kommerziellen Kultur. Limitierend war zudem die letztlich frei verfügbare Zeit, denn ein erwerbstätiger Jugendlicher hatte eine durchschnittliche tägliche Arbeitszeit von 11 Stunden und 15 Minuten. Zeit für Süßwaren war begrenzt, bestand am Abend, am freien Samstagnachmittag, am Sonntag, am kargen Urlaub und – typisch für die Jüngeren und das Süße – im Zwischendurch des Konsums. Generell aber galt, dass Jugendfreizeit „eine Knappheitsökonomie in einer vom Angebot auf Konsumrausch orientierten Freizeitwelt“ [150] blieb. Obwohl ein Drittel der 17-Jährigen Mädchen bereits einen Freund hatte, obwohl Kino eine wichtige Rolle spielte, blieb die Kleinfamilie und das Milieu für die Freizeit – und damit auch für den Konsum – zentral. Deren Bedeutung schwand, blieb aber erst einmal bestimmend. Größere Freiräume hatten bzw. nahmen sich eher ungelernte und arbeitslose Jugendliche, die häufiger auf dem Rummelplatz, aber auch bei Sport, Ausflügen und Wandern anzufinden waren.

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Großstadtkinder im öffentlichen Gefährdungsraum (Volkswille 1926, Nr. 197 v. 24. August, 6)

Die hier dargelegten Veränderungen bei den Süßwaren waren „real“, doch sie waren zugleich Brüche im recht geregelten Alltag, Besonderheit, nicht Regel. Das unterstreichen auch die zahlreichen Jugendstudien Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Junge Mädchen waren erst einmal Beobachter der Straßen und Schaufenster, der Cafés und Kinos, der Auslagen und Angebote. Erst ältere Mädchen nutzten diese Konsumkultur, zumal mit einem Freund. [151] Untersuchungen der Lebenswelt junger Arbeiterinnen unterstrichen die zentrale Bedeutung der eigenen Familie, zumal der Mutter. Geld war bewegendes Element, doch auch zentraler Grund von Streitigkeiten. Entsprechend groß war die Bedeutung von Erwerbsarbeit. Konsum war demnach scheinbar ein Randthema: „‚Das Leben ist ein kummervoller Kampf mit einer stillen Hoffnung im Herzen.‘“ [152]

All dies unterstrich die langsame Erosion tradierter Milieus, des familiären Zusammenhalts: Alice Salomon formulierte prägnant: Charakteristisch sei „die Beengtheit und Eingeschränktheit des durchschnittlichen Lebens, des Lebens der Massen, nicht nur in Arbeiterkreisen, sondern in den Schichten des ländlichen und städtischen Mittelstandes. Eine Beengtheit in wirtschaftlicher und geistiger Beziehung, in Lebensraum und Lebensmöglichkeit – beide Worte in wahrstem Sinne verstanden: in Entspannung und Erholung, in Fortbildung und Erlebnisbreite.“ [153] Süßwaren besaßen daher eine eskapistische und konformistische, potenziell aber auch eine eigensinnige und selbstbestimmte Funktion. Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen, unterstrichen die Dominanz außerhäuslicher Arbeiten gleichermaßen für Erwachsene und Jugendliche. [154] Die Mehrzahl der Jugendlichen verbrachte ihre karge Freizeit im Familienrahmen, war damit grundsätzlich auch zufrieden. Spaziergänge, Fahrten, der Schrebergarten und Gesellschaftsspiele waren wichtiger als Theater, Konzerte, Kino und Radio. [155] Doch zugleich bestand eine spürbare Spannung zwischen dieser Normalität und dem immensen, durch die kindliche und jugendliche Phantasie nochmals verstärkten Möglichkeitsraum der Unterhaltungsindustrie, des Alltagskonsums. [156]

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Jugendlicher Konsum und die Abscheu der Alten (Fliegende Blätter 185, 1936, 152)

Ausnahmen gab es vornehmlich bei der unterbürgerlichen Jugend, bei Arbeitslosen und Ungelernten. Sie lebten – glaubt man den zeitgenössischen Analysen – in einer Kultur der Zerstreuung: „Mit dumpfen Glücksverlangen oder vielmehr mit ganz unkritischem Drang nach Triebbefriedigung will er sein monotones Arbeitsdasein durch Sensationen und Abwechslungen übertäuben.“ [157] Sie rebellierten häufiger gegen den autoritären Vater, schlossen sich in Cliquen zusammen, konsumierten gesellig Alkohol und Schokolade, verschenkten Süßwaren an Freunde und Freundinnen, griffen zu und amüsierten sich, wann immer sich die Möglichkeit bot. Sie kapselten sich verstärkt ab von ihren Eltern, kappten Bezüge, während Arbeiter- und Bürgerkinder meist realisierten, dass sie von ihren Eltern abhängig waren. Kinder waren nämlich auch damals teuer, erforderten 1927/28, abhängig vom Alter der Eltern, etwa ein Viertel bis ein Drittel der Familiennettoausgaben. [158] Die Auseinandersetzungen um Süßwaren und Taschengeld waren daher nur ein kleiner Teil gesellschaftlich hochgradig relevanter Auseinandersetzungen um familiäre Mittelverwendungen.

Chancen eines historischen aufgeklärten kulinaristischen Blicks auf Kinder und Süßwaren

Am Beginn des Beitrages stand Cem Özdemirs an sich unterstützungswürdiges Bestreben, heutige Kinder vor den Dickmachern der Industrie zu schützen, sie auf ihrem Lebensweg dadurch zu stärken, dass man sie vor der Werbung für zu süße, zu fette, zu salzige Lebensmittel bewahrt – anfangs in allen visuellen Medien zwischen 6 und 23 Uhr, derweil lediglich im Fernsehen werktags zwischen 17 bis 22 Uhr, samstags zusätzlich von 8 bis 11 Uhr und sonntags von 8 bis 22 Uhr. Flankierende Maßnahmen sollen ergänzen, sollen in Gänze Kinder gesünder, stärker, glücklicher machen. Sie werden angesichts der hier vorgelegten historischen Analyse der historischen Wurzeln dieser Debatte um den Stellenwert von Süßwaren für Kinder und Jugendliche vielleicht mit mir übereinstimmen, dass derartige politischen Maßnahmen unterkomplex sind. Es handelt sich um mikroautoritäre Steuerungsphantasien, die von der vielgestaltigen und widersprüchlichen Realität einer Konsumgesellschaft abstrahieren und zudem geschichtliche Erfahrungen ignorieren. Der Gesetzentwurf wird am selbstgesetzten Ziel scheitern, so wie die wohlmeinenden Klagen gegen das sündige Naschen, gegen verführerische Automaten, südländische Eisverkäufer, gegen die Verschwendungssucht der Jugend und die Profitgier von Industrie und Handel.

Dem engen, röhrenartigen Regelwerk fehlt es an historischen und pädagogischen Kenntnissen, an einer basalen Reflektion über Essen und Ernährung, über die Stellung von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft, über die Gestaltungschancen staatlicher Interventionen: „Die Kinder als Verkörperung der ungesellschaftlichen, reinen, aber rohen, ungeschliffenen Natur werden zu Objekten pädagogischer Maßnahmen, damit sie bürgerliche Eßstandards, seine räumlichen, zeitlichen und sozialen Arrangements, mithin Wertmaßstäbe erlernten.“ [159] Jugendliche und Kinder sind nicht arme verführte Wesen, sondern sie haben Eigensinn, gehen selbstbewusst mit Rahmenbedingungen um, die in staatlichen Regelwerken ausgewählter Experten ausgeblendet werden. Eltern und Vorbilder sind dabei zentral. Die Sorgen der 1920er Jahre vor Verschwendung, Krankheit, Ausbeutung und Verführung spiegeln sich auch in staatlichen Maßnahmen ein Jahrhundert später. Sie erfordern aber andere Antworten als die der Vergangenheit.

Beim Konsum von Süßwaren geht es nicht nur um einen speziellen Geschmack, um einen kurzen Kick abseits des Einerlei des Alltags. Es geht um Vertrautes und Angenehmes in einer fremden, indifferenten, ja feindlich wahrgenommenen und existierenden Welt. Der Konsum ist ein paradoxer Widerspruch gegen Langeweile und für Sinn und Sinnlichkeit. [160] Es geht um Eigenerfahrung, um Freiräume, mögen sie auch gesundheitlich nicht förderlich sein, mögen sie auch nicht frommen. Es geht um einen Rest von Freiheit in einer Gesellschaft wachsender Fremdbestimmung, die auch durch die tägliche Wahl im Laden oder am Tresen nicht wirklich durchbrochen werden kann. Die realen Risiken der zu süßen, zu fettigen und zu salzigen Lebensmittel sind wahrlich nicht gering zu bewerten. Doch sie sind überschaubare Risiken im Vergleich mit fehlender Bildung, fehlender Liebe, fehlender Perspektiven in einer Gesellschaft, die schon Kinder und Jugendliche überwachen und strafen will, weil Zuwendung zu aufwändig oder zu mühselig, weil Sozialtechnologie billiger ist und willige Claqueure finden wird.

Uwe Spiekermann, 7. Oktober 2023

Quellen- und Literaturnachweise

[1] Constanze von Bullion, Özdemirs Kraftprobe. Kinderwerbung für Dickmacher, Süddeutsche Zeitung v. 26. Januar 2023 [www.sz.de.1.5739924].
[2] Mehr Kinderschutz in der Werbung: Pläne für klare Regeln zu an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung (25. Juli 2023) [https://www.bmel.de./goto/87044]; Özdemir schränkt Werbeverbot-Pläne für Süßigkeiten ein, rnd.de v. 24. Juni 2023.
[3] Renate Künast, Die Dickmacher. Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen, München 2004.
[4] Johann Peter Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizei, Bd. 2, Neue Aufl., Mannheim 1804, 234.
[5] Günter Wiegelmann, Zucker und Süßwaren im Zivilisationsprozeß der Neuzeit, in: Hans J. Teuteberg und Ders. (Hg.), Unsere tägliche Kost, Münster 1986, 135-152.
[6] Https://www.bdsi.de/zahlen-fakten/suesswarenindustrie-in-zahlen [Zugriff: 26. August 2023].
[7] Süßwaren und Knabberartikel. Eine bunte, vielfältige, genussbringende Lebensmittelgruppe mit Angeboten für alle Ernährungsbedürfnisse, hg. v. Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie, Bonn 2023.
[8] Vgl. Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, 9. Aufl., München 1990; Harry Hendrick, The Evolution of Childhood in Western Europe c.1400-c.1750, in: Jens Qvortrup, William A. Corsaro und Michael-Sebastian Honig (Hg.), The Palgrave Handbook of Childhood Studies, Houndsmill und New York 2009, 99-113; Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017.
[9] Uwe Spiekermann, Verengte Horizonte. Naschen im Wandel (2023).
[10] J[oseph] G[abriel], Kurze, praktische, sittliche Erziehungslehre […], Abt. 1, München 1841, 41.
[11] Augustin Hoffer, Samlung Aus den Kriegsquartieren […], Innsbruck 1770, s.p. [§ 48].
[12] Karl Georg Neumann, Beiträge zur Natur- und Heilkunde, Bd. 1, Erlangen 1845, 10.
[13] Morgen-Post 1866, Nr. 97 v. 10. April, 1; ähnlich H[ermann] Emminghaus, Die psychischen Störungen im Kindesalter, Tübingen 1887, 122.
[14] Th[eodor] Goerges, Das Kind im ersten Lebensjahr, Berlin s.a. [1902], 107.
[15] Gertrud Moldzio, Mein Kind, Leipzig 1900, 76.
[16] Zur Säuglingsernährung s. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 87-106.
[17] Arthur Keller, Die Lehre von der Säuglingsernährung, Leipzig und Wien 1911, 52-53.
[18] Otto Hauser, Grundriss der Kinderheilkunde, mit besonderer Berücksichtigung der Diätetik, Berlin 1894, 69; Gebt den Kindern keinen Zucker!, Monika 22, 1890, 158-159.
[19] Peter Koch, Die Gesundheitslehre und Gesetzeskunde in der Volksschule, 2. verm. u. verb. Aufl., Dortmund 1878, 15.
[20] Düsseldorfer Volksblatt 1887, Nr. 246 v. 14. September, 2.
[21] Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 354-363.
[22] Rhein- und Ruhrzeitung 1887, Nr. 247 v. 22. Oktober, 2.
[23] G.A. Weiß, Die moderne Erziehung und ihre Folgen in körperlicher und sittlicher Beziehung. Ein Weck- und Mahnwort, Berlin 1890, 21; Bergischer Sonntags-Anzeiger 1891, Nr. 26 v. 28. Juni, 6-7.
[24] 7. Westfälische Provinzial-Versammlung des ‚Katholischen Lehrerverbandes‘ in Rheine, Westfälischer Merkur 1897, Nr. 194 v. 21. April, 1-2, hier 2.
[25] Solinger Kreis-Intelligenzblatt 1899, Nr. 245 v. 18. Oktober, 3.
[26] Gustav Wilhelm Pohle, Probleme aus dem Leben eines industriellen Großbetriebs, Phil. Diss. Rostock, Naumburg 1905, 6-7.
[27] Jugendfürsorge und Gesellschaftsschutz, Münchner Neueste Nachrichten 1912, Nr. 472 v. 15. September, 1.
[28] Angaben n. Otto Suhr, Die stummen Verkäufer, Die Wirtschaftskurve 16, 1937, 40-52, hier 42; Hans Riepen, Sonderformen, in: Rudolf Seyffert (Hg.), Handbuch des Einzelhandels, Stuttgart 1932, 104.
[29] Uwe Spiekermann, Die verfehlte Amerikanisierung. Speiseeis und Speiseeisindustrie in Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: Hermann Heidrich und Sigune Kussek (Hg.), Süße Verlockung. Von Zucker, Schokolade und anderen Genüssen, Molfsee b. Kiel 2007, 31-38.
[30] Günter Wiegelmann, Speiseeis in volkstümlichen Festmahlzeiten, in: Teuteberg und Wiegelmann (Hg.), 1986, 217-223, hier 217-218.
[31] Walter Tiedemann, Die Italiener in Berlin, Die Woche 8, 1906, 1492-1495, hier 1494.
[32] Gefrorenes, Die Gesundheit in Wort und Bild 5, 1908, 198.
[33] Andrea Cantalupi, Gefrorenes, Die Woche 7, 1905, 1237-1238, hier 1238.
[34] Speiseeis im Sommer, Blätter für Volksgesundheitspflege, 5, 1905, 156-157.
[35] Vom Straßenhandel, Arbeiterzeitung 1910, Nr. 142 v. 21. Juni, 8.
[36] Sollen Kinder Süßigkeiten essen?, Die Gesundheit in Wort und Bild 4, 1907, Sp. 161.
[37] Kontrolle der Strassenhändler mit Speiseis, Zeitschrift für öffentliche Chemie 9, 1903, 293-294.
[38] Etwa Louis Levins Magazin eleganter Kinder-Garderoben (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1882, Nr. 506 v. 29. Oktober, 24).
[39] Die Werbung für Leonhardi-Tinte oder Klio-Füllfederhalter waren Ausnahmen.
[40] Vgl. für den Berliner Anbieter Hildebrand etwa Fliegende Blätter 124, 1906, Nr. 3173, Beibl., 5; Sport im Bild 19, 1913, Nr. 19, IV; ebd., Nr. 33, III; Illustrirte Zeitung 142, 1914, 140.
[41] Warnung, Bonner Volkszeitung, 1903, Nr. 387 v. 4. Dezember, 1; Die Ausbeute der Kinder durch Reklame, General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1907, Nr. 53 v. 22. Februar, Unterhaltungsblatt, 3.
[42] Kindernot, Velberter Zeitung 1921, Nr. 24 v. 29. Januar, 3.
[43] Emma Sauerland, Kleine Mädchen und deutsche Soldaten, Daheim 51, 1914/15, Nr. 24, 28.
[44] Die Appetitlosigkeit der Großstadtkinder, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 9, 1916, 89.
[45] Friedrich Lorenzen, Das Gute an der Kriegskost, Daheim 53, 1916/17, Nr. 28, 20-21, hier 20.
[46] Hans Friedrich, Hunger, Jugend 20, 1915, 181-182, hier 182.
[47] Das süße Geheimnis, Sport und Salon 22, 1918, Nr. 7, 9-10, hier 10.
[48] Näscherei, Die Zeit 1919, Nr. 5934 v. 4. April, 5.
[49] Zuckerwarenwucher, Die Zeit 1919, Nr. 5903 v. 4. März, 3.
[50] Coburger Zeitung 1920, Nr. 27 v. 2. Februar, 1.
[51] Die Zuckerschieber obenauf, Münchner Stadtanzeiger 1920, Nr. 8 v. 21. Februar, 3.
[52] O[skar] Pfister, Die Behandlung schwer Erziehbarer und abnormer Kinder, Bern und Leipzig 1921, 67-68.
[53] Jugend von heute, Coburger Zeitung 1923, Nr. 140 v. 18. Juni, 3.
[54] Die Gefahren der Jugendlichen, Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1922, Nr. 212 v. 9. September, 2.
[55] Alf Lüdtke, Feingebäck und Heißhunger auf Backwaren. Bemerkungen zum süßen Geschmack im deutschen Faschismus, in: Zuckerhistorische Beiträge aus der Alten und Neuen Welt, Berlin (W) 1988, 399-426, hier 406-407.
[56] Wie unsere Jugend Geld verdient, Niederrheinisches Tageblatt 1923, Nr. 126 v. 5. Juni, 2.
[57] Jugend in Gefahr!, Duisburger General-Anzeiger 1923, Nr. 317 v. 19. November, 9-10, hier 9; Streiflichter, Ratinger Zeitung 1922, Nr. 144 v. 2. Dezember, 2.
[58] Ein Bonner Sittenbild, Bonner Zeitung 1922, Nr. 246 v. 9. November, 6.
[59] Dorothee Goebeler, Mitleidslose Jugend, Lippstädter Zeitung 1923, Nr. 16 v. 20. Januar, 2.
[60] Hütet eure Kinder, Triestingtaler und Piestingtaler Wochen-Blatt 1925, Nr. 1 v. 7. November, 7.
[61] Von Liebermann, Wer kann der Mutter Nachricht geben?, Das Buch für Alle 59, 1927, 448-450, hier 449.
[62] Kinderprostitution in Wien, Vorarlberger Wacht 1928, Nr. 16 v. 7. Februar, 4.
[63] Otto Hauser, Grundriss der Kinderheilkunde, mit besonderer Berücksichtigung der Diätetik, Berlin 1894, 69; Otto Horrwitz, Die Pflege der Zähne im Kindesalter, Vorwärts 1899, Nr. 233 v. 29. November, Unterhaltungsbeil., 930-931.
[64] Zucker ein Nährstoff. Eine allgemeinverständliche Darstellung der neuesten Forschungsergebnisse, Berlin 1898, 14-15.
[65] Medicus, Die schlanke Linie, Dortmunder Zeitung 1925, Nr. 252 v. 3. Juni, 9.
[66] H[einrich] Finkelstein, Bemerkungen zur Ernährung der Kinder im Spielalter, Blätter für Volksgesundheitspflege 22, 1922, 39-41, hier 41.
[67] Ernst Jessen, Die Zähne des Kindes und ihre Pflege, Das Buch für Alle 58, 1926, 43-44; Martin Vogel, Ein Kulturübel, Borken-Bocholter Anzeiger 1931, Nr. 86 v. 8. Mai, 2.
[68] H[einrich] Fincke und Zilkens, Zahnschädigungen und Schokolade, Die Volksernährung 6, 1931, 268-271, hier 271.
[69] Ilse Wille, Zahnverhältnisse und Ernährung bei Berliner Kindern, Zahnmed. Diss. Berlin 1938.
[70] Deutsche Wirtschaftskunde, 21.-40. Tausend, Berlin 1930, 326: Pro Kopf und Jahr lag die Zuckersteuer im Deutschen Reich 1913 bei 2,59 M, 1925 bei 3,85 RM, 1926 bei 4,62 RM, 1927 bei 3,69 RM und 1928 bei schließlich 2,69 RM.
[71] Die Arbeitslosigkeit in der Süßwarenindustrie, Arbeiter-Zeitung 1916, Nr. 124 v. 27. Mai, 6.
[72] Wirtschaftskunde, 1930, 161 (auch für die folgenden Angaben).
[73] Das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der gewerblichen Betriebszählung 1925, Wirtschaft und Statistik 8, 1928, 262-272, hier 264.
[74] Die industriellen Mittel- und Großbetriebe in den Jahren 1926 und 1927 nach der Statistik der Gewerbeaufsichtsbehörden, Wirtschaft und Statistik 8, 1928, 570-575, hier 572.
[75] Die gewerblichen Mittel- und Großbetriebe im Jahre 1929 nach der Statistik der Gewerbeaufsichtsbehörden, Wirtschaft und Statistik 10, 1930, 734-737, hier 736.
[76] Die Entwicklung der gewerblichen Betriebe von 1932 bis 1936 nach der Statistik der Gewerbeaufsichtsbehörden, Wirtschaft und Statistik 18, 1938, 310-313, hier 311. Die gleichwohl hohe Bedeutung des Süßen während der NS-Zeit unterstreicht Lüdtke, 1988.
[77] Zusammenschluß in der deutschen Süßwaren-Industrie, Echo der Gegenwart 1919, Nr. 267 v. 15. November, 2; Neue Preise für Süßigkeiten, Coburger Zeitung 1920, Nr. v. 24. April, 3; Die Abwehr der Teuerung, Rosenheimer Anzeiger 1922, Nr. 212 v. 13. September, 1.
[78] Kölnische Zeitung 1924, Nr. 233 v. 1. April, 3.
[79] Walter Herzberger, Der Markenartikel in der Kolonialwarenbranche, Stuttgart 1931, 35 (danach auch die folgenden Ausführungen).
[80] Alle Angaben n. Herzberger, 1931, 38. Der Anteil der Zucker- und Backwaren am Gesamtumsatz betrug 1929 etwas mehr als zwei Prozent, lag in der umsatzstärkeren Stadt niedriger als auf dem Lande.
[81] Hermine Wedel, Taschengeld, Kindergarderobe 9, 1902, Nr. 1, 10.
[82] Eine Ursache der Verwilderung der Jugend, Vorarlberger Volksblatt 1897, Nr. 296 v. 28. Dezember, 3-4.
[83] Beide Zitate n. Das Taschengeld der Kinder, Freie Stimmen 1911, Nr. 55 v. 10. Mai, 1-2, hier 1.
[84] M. Schmerler, Sollen wir Kindern Taschengeld geben?, Das Blatt der Hausfrau 20, 1909/10, H. 46, 9; Ernst Friedrich, Soll das Kind Taschengeld erhalten?, Deutsche Reichs-Zeitung 1924, Nr. 247 v. 20. Oktober, 2.
[85] Karl Meisner, Taschengeld für Kinder, Österreichs Illustrierte Zeitung 27, 1917, 137; Kinder zur Sparsamkeit zu erziehen, Castroper Zeitung 1923, Nr. 74 v. 29. März, 3-4; Taschengeld, Oberkasseler Zeitung 1925, Nr. 19 v. 14. Februar, 5.
[86] B. Hoche, Das Taschengeld unserer Kinder, Kindergarderobe 26, 1918/19, Nr. 11, 11; Taschengeld, Neues Wiener Journal 1921, Nr. 9849 v. 1. April, 6.
[87] Unsere Töchter und das Taschengeld, Wiener Hausfrau 11, 1913/14, Nr. 19, 7; Das Taschengeld der Mädchen, Alpenländische Rundschau 1927, Nr. 213 v. 5. November, 27.
[88] Beide Zitate n. Das Taschengeld und der Vergnügungstaumel, Rheinische Volkswacht 1921, Nr. 185 v. 30. April, Nr. 185, 5.
[89] Das Taschengeld der Kinder, Schwerter Zeitung 1923, Nr. 59 v. 10. März, 5.
[90] Der erzieherische Wert des Taschengeldes, Essener Anzeiger 1926, Nr. 42 v. 19. Februar, 3; H. Knapp, Taschengeld als Erziehungsmittel, Schwäbischer Merkur 1927, Nr. 589 v. 17. Dezember, Frauen-Zeitung, Nr. 1, 1.
[91] Zwischen siebzehn und zwanzig, Arbeiter-Zeitung 1929, Nr. 190 v. 12. Juli, 8-9, hier 8. Der Bestseller von Elizabeth Benson, Zwischen siebzehn und zwanzig. Junge Menschen von heute – gesehen von einer Dreizehnjährigen, Zürich 1929 zeichnete eine sorgenfreie Jugend in einer Welt des relativen Luxus nach; und ließ auch deutscher Kinder träumen und fordern.
[92] B. Hoche, Kind und Geld, Sparkassen-Rundschau 1928, Nr. 20, 3; Sidonie Rosenberg, Die Jugend sparen lehren!, Kölnische Zeitung 1929, Nr. 181 v. 3. April, 12.
[93] Sparkassen-Rundschau 1928, Nr. 20, 8.
[94] Dina Ernstberger, Taschengeld, B. Gladbacher Volkszeitung 1925, Nr. 272 v. 23. November, Aus dem Reich der Frau, 1.
[95] Karl Eschner, Das Taschengeld, Ullsteins Blatt der Hausfrau 45, 1927/28, H. 3, 7-8, hier 8.
[96] General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1925, Nr. 12122 v. 20. Januar, 2.
[97] A. Rothert, Zeitung und Kind, Münsterischer Anzeiger 1925, Nr. 111 v. 5. Februar, 5.
[98] Ein ernstes Wort an unsere kath. Eltern!, Westdeutsche Landeszeitung 1926, Nr. 292 v. 15. Dezember, 5.
[99] Anna Maria Renner, Kunsterziehung in der Volkserziehung?, Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 12 v. 8. Januar, 2.
[100] Kind und Großstadt, Hamborner Volks-Zeitung 1927, Nr. 16 v. 17. Januar, 7.
[101] Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 292 v. 13. Dezember, 4.
[102] Der Haushalt 1, 1929, Nr. 3, 8.
[103] C.L. Frischholz, Jugend und Zukunft, Werben und Verkaufen 25, 1941, 20.
[104] Leder, Wie steht die Jugend zum Markenartikel?, Der Markenartikel 9, 1942, 104-108, hier 104 (auch für die folgende Angabe).
[105] W[alter] H[ans] Wolff, Jugend. Wege zu einer neuen Käuferschaft, Stuttgart 1928, 69.
[106] Ruth Münster, geld in nietenhosen. jugendliche als verbraucher, Stuttgart 1961, insb. 59-60.
[107] Die Teenager als Verbraucher, Der Verbraucher 17, 1963, 56-57, hier 56. Vgl. auch Dorothea-Luise Scharmann, Konsumverhalten von Jugendlichen, München 1965.
[108] Grazer Volksblatt 1926, Nr. 192 v. 28. August, 4.
[109] Süßigkeiten als Stärkungsmittel, Die Unzufriedene 8, 1930, Nr. 26, 6.
[110] Dora Rathke, Nahrung und Zähne, Freiheit! 1931, Nr. 1203 v. 31. Juli, 5.
[111] Nährwert des Zuckers, Medizinische und pharmazeutische Rundschau 8, 1932, Nr. 165, 10.
[112] Zur Dekonstruktion „des“ Kindes vgl. Meike Sophia Baader, Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt a.M. 2014.
[113] Zitate n. Eine süße Sache, Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 25, 1932, Nr. 15, 12.
[114] Zum Anspruch vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 150-189.
[115] Jutta auf Entdeckungsreise, Illustriertes Unterhaltungsblatt 1932, 131-132, hier 132.
[116] Vom Naschen, Vobachs Frauenzeitung 38, 1935, H. 29, 15.
[117] Etwas zum Abgewöhnen, Vorarlberger Tagblatt 1925, Nr. 44 v. 24. Februar, 6.
[118] München im Zeichen der Süßigkeiten, Bayern-Warte und Münchner Stadtanzeiger 1921, Nr. 28 v. 9. Juli, 1.
[119] Das Konditorhandwerk, in: Das deutsche Handwerk. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Gewerbe: Industrie, Handel und Handwerk (III. Unterausschuß) 8. Arbeitsgruppe (Handwerk), Bd. 3, Berlin 1930, 97-136, hier 114 (hieraus auch die anderen Angaben).
[120] Das Bäckerhandwerk, in: Ebd., XI-95, hier 45 (auch für alle anderen Angaben dieses Absatzes).
[121] Der Verbrauch von Speiseies, Die Kälte-Industrie 31, 1934, 58.
[122] Eisdielen, ein typisches Saisongewerbe, Die Deutsche Volkswirtschaft 6, 1937, 534-535.
[123] Th[eodor] Fürst, Die Beurteilung des Entwicklungs- und Ernährungszustandes von Schulneulingen, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 100-102, hier 101.
[124] E[rnst] Merres, Verordnung über Speiseeis, 2. umgearb. u. erg. Aufl., Berlin 1939.
[125] Vergnügter Kinobesuch, Wiener Tag 1937, Nr. 4977 v. 22. April, 9.
[126] Deutsche Konditoren-Fachausstellung, Münchner Neueste Nachrichten 1921, Nr. 264 v. 27. Juni, 13-14, hier 13.
[127] Alt-Berliner Ostern, Solinger Tageblatt 1921, Nr. 71 v. 26. März, Unterhaltungsbeil, 2.
[128] Coburger Zeitung 1922, Nr. 82 v. 6. April, 4.
[129] Margarte Hodt, Ostereier, Duisburger General-Anzeiger 1925, Nr. 160 v. 12. April, 14.
[130] Herta Hagen, Unsere kleinen Leckermäulchen, Hildener Rundschau 1927, Nr. 86 v. 12. April, 8.
[131] Der Osterhas, Fürstenfelder Blatt 1929, Nr. 69 v. 23. März, 4.
[132] Innsbrucker Nachrichten 1921, Nr. 278 v. 6. Dezember, 3.
[133] St. Nikolaus, Der Westfale 1920, Nr. 236 v. 6. Dezember, 3.
[134] Dora Ritter, Kindestraum im Dezember, Essener Anzeiger 1924, Nr. 315 v. 25. Dezember, 10.
[135] St. Niklas kommt, Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1921, Nr. 282 v. 2. Dezember, 5.
[136] Bräuche am Nikolaustag, Coburger Zeitung 1932, Nr. v. 3. Dezember, 5.
[137] Badener Zeitung 1927, Nr. 99 v. 10. Dezember, 5.
[138] Dorothee Goebeler, Vor fünfzig Jahren in der Kleinstadt, Schwerter Zeitung 1924, Nr. 302 v. 24. Dezember, Weihnachtsbeil., 3-4.
[139] Haltbare Weihnachtsbäckereien, Das Blatt der Hausfrau 30, 1919/20, H. 8, 8.
[140] Berg.-Gladbacher Volks-Zeitung, 1920, Nr. 270 v. 23. November, 3; Was verschenke ich zu Weihnachten?, Volkswille 1924, Nr. 296 v. 18. Dezember, 3.
[141] Wilhelmine Bird, Ullsteins Blatt der Hausfrau 38, 1922/23, H. 4, 1, 19, hier 1.
[142] Ein Freudentag, Rosenheimer Anzeiger 1922, Nr. 269 v. 20. Dezember, 2.
[143] Beglückte Kinder, Münchner Neueste Nachrichten 1923, Nr. 7 v. 9. Januar, General-Anzeiger, 1.
[144] Der Weihnachtsbaum, Ruhrwacht 1922, Nr. 333 v. 9. Dezember, 3; E. Gebhart, Vom Christbaumschmuck, Der Modenwechsel des Christbaumes, Velberter Zeitung 1924, Nr. 299 v. 20. Dezember, 10.
[145] Weihnachtssitten und -gebräuche, Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 50, 28.
[146] Barbara Stambolis, Jugend und Jugendbewegungen. Erfahrungen und Deutungen, in: Nadine Rossol und Benjamin Ziemann (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Bonn 2022, 677-696; Dies., Aufgewachsen in „eiserner Zeit“. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise, Gießen 2014.
[147] Vgl. Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt (Hg.), Familienleben im Schatten der Krise, Düsseldorf 1988, 171-179 (Kinder), 187-198 (Jugend).
[148] Richard Birkefeld, Jugend zwischen Vergnügungssucht und politischer Mobilisierung in den ‚Wilden Zwanzigern‘, in: „Mit 17 …“ Jugendliche in Hannover von 1900 bis heute, Hannover 1997, 43-54, hier 49.
[149] Detlev J.K. Peukert, Das Mädchen mit dem »wahrlich metaphysikfreien Bubikopf«. Jugend und Freizeit im Berlin der zwanziger Jahre, in: Peter Alter (Hg.), Im Banne der Metropolen, Göttingen und Zürich 1993, 157-175, hier 157. Ähnlich: Detlev J.K. Peukert, Jugend zwischen Krieg und Krise, Köln 1987.
[150] Peukert, 1993, 162.
[151] Hildegard Jüngst, Die jugendliche Fabrikarbeiterin, Paderborn 1929, 53.
[152] Mathilde Kelchner, Kummer und Trost jugendlicher Arbeiterinnen, Leipzig 1929, 85.
[153] Alice Salomon und Marie Baum (Hg.), Das Familienleben in der Gegenwart, Berlin 1930, 374 (Nachwort).
[154] Marie Baum und Alix Westerkamp, Rhythmus des Familienlebens, Berlin 1931.
[155] Günter Krolzig, Der Jugendliche in der Großstadtfamilie, Berlin 1930. 125-126.
[156] Ähnlich auch Robert Dinse, Das Freizeitleben der Großstadtjugend, Eberswalde und Berlin 1932.
[157] Gertrud Staewen-Ordemann, Menschen in Unordnung. Die proletarische Wirklichkeit im Arbeitsschicksal der ungelernten Großstadtjugend, Berlin 1933, 97.
[158] Helga Schmucker, Der Lebenszyklus in Erwerbstätigkeit, Einkommensbildung und Einkommensverwendung, Allgemeines Statistisches Archiv 40, 1956, 1-18, hier 11.
[159] Jens-Uwe Rogge, Von Pommes, Mayo und Wundertüten – Näherungen an eine Kultur zum Essen, Lutschen und Schmecken, Zeitschrift für Kulturaustausch 36, 1986, 23-30, hier 25.
[160] Vgl. Mark Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, Hamburg 2020.

Coca-Colas Anfänge im Deutschen Reich – Erste Werbekampagnen und mehr

Coca-Cola war lange die wertvollste Marke der Welt. Das braune Getränk stand und steht für den American Way of Life, für die Koppelung von Massenproduktion, Massenkonsum und Markenartikelwerbung. Coca-Cola steht aber auch für globale Probleme des Kapitalismus, für Wasser- und Ressourcenverschwendung, für Steueroptimierung und Lobbyismus (Bartow J. Elmore, Citizen Coke. The Making of Coca-Cola Capitalism, New York und London 2015 (lesenswert!); Amanda Ciafone, Counter-Cola. A Multinational History of the Global Corporation, Oakland 2019; Robert Crawford, Linda Brennan und Susie Khamis (Hg.), Decoding Coca-Cola. A Biography of a Global Brand, London und New York 2021). Das gilt auch für Deutschland. Gleichwohl wird Coca-Cola hier immer auch mit dem Lebensgefühl der „Wirtschaftswunderzeit“ verbunden, also der außergewöhnlichen Wachstumsphase der 1950er und frühen 1960er Jahre und der Reintegration Westdeutschlands in die globale Wirtschaft (Jeff R. Schutts, Coca-Cola History: A “Refreshing” Look at German-American Relations, GHI Bulletin 40, 2007, 127-142; Milena Veenis, Cola in the German Democratic Republic. East German Fantasies on Western Consumption, Enterprise & Society 12, 2011, 489-524). Dies ist überraschend, denn Coca-Cola wurde seit 1900 – wenn auch in kleinen Mengen – ins Deutsche Reich exportiert, und seit 1929 übernahmen zwei deutsche Ableger Produktion und Vertrieb vor Ort. Coca-Cola war Teil und zugleich später Widerhall der Amerikanisierung der späten 1920er Jahre, wurde dann auch integraler Teil der NS-Konsumgüterindustrie. Über die Verbindung von Coca-Cola und NS-Regime ist bereits einiges veröffentlicht worden, während über die Anfänge in Deutschland nur wenig bekannt ist. Dank der unlängst erfolgten Digitalisierung einschlägiger Essener Tageszeitungen ist es nun jedoch möglich, ein genaueres Bild der Anfänge der Coca-Cola GmbH zu zeichnen und diese zugleich in die Konsum- und Wirtschaftsgeschichte der Zeit breiter einzubetten (Dank an Michael Herkenhoff und die Mitarbeiter von https://zeitpunkt.nrw).

Ein kaum bekannter Trank im fernen Amerika

Coca-Cola war im Deutschen Reich schon während des Kaiserreiches bekannt. Doch verglichen mit anderen Besonderheiten der amerikanischen Konsumkultur, etwa dem Kaugummi, blieb die Zahl der Nennungen überraschend gering (Philipp Berges, Welt-Ausstellungs-Fahrt nach St. Louis. XV., Hamburger Fremdenblatt 1904, 154 v. 3. Juli 1904, 13; Lene Haase, In Bluffland, Württemberger Zeitung 1912, Nr. 131 v. 7. Juni, 17-18, hier 18 und Nr. 143 v. 22. Juni, 34, hier 34). Coca-Cola war in den USA anfangs eines der vielen Geheimmittel, mit denen man dort – so die Anpreisung – Alltagskrankheiten erfolgreich bekämpfen konnte, ohne den Arzt konsultieren zu müssen. John S. Pembertons (1831-1888) 1887 geschützte Rezeptur wäre jedoch ohne die Marketingkompetenz von Asa G. Candler (1851-1929) nur noch Kennern bekannt. Der Methodist und Abstinenzler wurde zum eigentlichen Promoter des ungewöhnlichen und von vielen Mythen umrahmten Getränkes. Er propagierte Coca-Cola erst in den Südstaaten, dann in der ganzen Union erfolgreich als schmackhafte Alternative zu den von ihm bekämpften Alkoholika – und als Trank der US-Prohibition wurde es dann während den frühen 1920er Jahren auch in Deutschland immer stärker wahrgenommen (Mark Pendergrast, Für Gott, Vaterland und Coca-Cola. Die unautorisierte Geschichte der Coca-Cola-Company, München 1995; Christa Murken-Altrogge, Coca-Cola art. Konsum, Kult, Kunst, München 1991).

01_American Food Journal_15_1920_Nr12_p34_Coca-Cola_Konsumenten_Sommer_Durst

Das gute Produkt verkauft sich: Die Masse der Konsumenten im frühen Coca-Cola Marketing (American Food Journal 15, 1920, Nr. 12, 34)

Auch wenn die gespaltene deutsche Temperenzbewegung nicht zuletzt vor dem Hintergrund von eugenischen und gesundheitspolitischen Debatten damals durchaus wichtig war, waren es vor allem der ökonomische Erfolg und die massive Werbung, die deutsche Berichterstatter an Coca-Cola interessierten (Amerikanische Reklame-Etats, Der Zeitungs-Verlag 26, 1925, Sp. 547-548, hier 548). Werbefachleute bewunderten beispielsweise die „Ideenverbindung von charakteristischen Merkmalen“ (Ernst Schmidt, Der rote Faden in der Reklame, Seidels Reklame 11, 1927, 153-155, hier 153). Die Anzeigenmotive mochten kommen und gehen, doch die Verankerung des Coca-Cola-Namenszuges und der erst seit 1915 in der „klassischen“ Form entstandenen Glasflasche hatten die Marke als Alltagsbegriff und Marktführer etabliert. Zudem erwähnten seit Mitte der 1920er Jahre zahlreiche Reiseberichte dieses vermeintlich typisch amerikanische Getränk (Mexikanische Abenteuer, Kölnische Zeitung 1928, Nr. 212b v. 17. April, 1; Arnold Höllriegel, Abenteuer im Wilden Westen, Berliner Tageblatt 1928, Nr. 343 v. 22. Juli, 21). Das fremde Produkt schmeckte allerdings nur den wenigsten Besuchern. Aus Kalifornien hieß es entsprechend: „Auf den Tischen sieht man alle möglichen Fruchtsäfte, Limonaden, Orangeaden, Coca Cola und endlich als Erträgliches die Flasche Ginger Ale aus Kalifornien – alles eisgekühlt, aber wässerig, Wasser mit verstohlenem Fruchtgeschmack, nur nicht das, wonach der Europäergaumen lechzt, besonders im Sommer: Bier!“ (Maximilian Hartwich, Im ‚Apollo‘ in der 86. Straße, Neues Wiener Tagblatt 1930, Nr. 156 v. 7. Juni, 2-3) An einen Erfolg von Coca-Cola in Deutschland glaubten nur wenige. Lieber ließ man sich in seinen Vorurteilen über die USA bestätigen, indem man über den vermeintlich letzten Schrei, die Mischung aus Coca-Cola und Aspirin in Studentenkreisen berichtete (Amerikanisches Allerlei, Badische Presse 1927, Nr. 508 v. 1. November, 3).

Internationalisierung: Coca-Colas moderate Expansion in Europa

Die ersten Exporte von Coca-Cola ins Deutsche Reich zielten vornehmlich auf die Versorgung der dort lebenden amerikanischen Staatsbürger. Sie waren noch nicht Bestandteile einer unternehmerischen Expansionsstrategie. Die Coca-Cola Company konzentrierte sich vorrangig auf die systematische Durchdringung des heimatlichen Marktes, die erst Ende der 1920er Jahre erreicht war (Robert W. Woodruff, After National Distribution-What?, Nation’s Business 17, 1929, Nr. 9, 125-127, hier 126-127). Erste ausländische Abfülllizenzen wurden im Gefolge des Einsatzes des amerikanischen Expeditionskorps – mehr als einer Million Soldaten – im Ersten Weltkrieg 1919 in Frankreich vergeben. Eine Ausweitung über die auch als Besatzungs- und Interventionstruppen im Deutschen Reich eingesetzten US-Soldaten scheiterte 1922 allerdings an massiven Hygieneproblemen, die den Coca-Cola-Absatz in Frankreich fast zum Erliegen brachten – die Kronkorken waren nicht sachgemäß desinfiziert worden (Pendergast, 1995, 260).

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Eintragung des Warenzeichens „Coca-Cola“ in der Schweiz 1923 (Schweizerisches Handelsamtsblatt 41, 1923, 564)

Die während der 1920er Jahre dennoch vorangetriebene multinationale Expansion war Folge der nach dem Weltkrieg günstigen Investitionsbedingungen in Europa, dessen Kapitalarmut und der während des Krieges nochmals intensivierten Massenproduktion in den USA. Sie war zugleich Folge des Verkaufs von Coca-Cola durch Asa Candlers Erben an eine von Ernest Woodruff (1863-1944) angeführte Investorengruppe. Sein Sohn Robert W. Woodruff (1889-1985) übernahm 1923 die Präsidentschaft der in Atlanta ansässigen Coca-Cola-Company, die im Gefolge der Nachkriegsrezession und massiv gestiegener Zuckerpreise kränkelte (August W. Giebelhaus, The pause that refreshed the world. The evolution of Coca-Cola’s global marketing strategy, in: Geoffrey Jones und Nicholas J. Morgan (Hg.), Adding Value. Brands and Marketing in Food and Drink, London und New York 1994, 191-214, hier 195-196). Er führte das Unternehmen wieder auf eine höchst profitable Erfolgsspur und vergab bis Ende der 1920er Jahre Abfüllkonzessionen in mehr als 20 Ländern – mit allerdings sehr unterschiedlichem Erfolg (Jeff R. Schutts, Born Again in the Gospel of Refreshment? Coca-Colonization and the Re-Making of Postwar German Identity, in: David F. Crew (Hg.), Consuming Germany in the Cold War, Oxford und New York 2003, 121-150, hier 122).

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Weiße und wohlhabende Kunden: Coca-Cola-Werbung 1929 (The American Girl 1929, Juli-Nr., 43)

Coca-Cola war eben ein Getränk für weiße Konsumenten der amerikanischen Mittelschicht. Ihre Lebens- und Konsumwelt wurde in der Werbung der Firma gefeiert – und damit die Alltagsrealität nicht nur vieler Amerikaner, sondern mehr noch vieler Europäer schlicht ignoriert. Sie entsprach gleichwohl idealisierten Vorstellungen des aufwändigen, ja verschwenderischen Lebens in den USA, das in Hollywood-Filmen und zahlreichen US-Illustrierten präsentiert und auch zelebriert wurde (die beste Analyse dieser Interaktion bietet Mary Nolan, The Transatlantic Century: Europe and America, 1890-2010, Cambridge und New York 2012).

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Transport von Coca-Cola in Barcelona und in den Niederlanden (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 112 v. 23. April, 10)

Die Firmengründungen im Ausland galten den US-Muttergesellschaften – einmal der Firmenzentrale in Atlanta, Georgia, zum anderen der Exportzentrale im steuerbegünstigen Wilmington, New Jersey – als weitere Belege für die Einzigartigkeit ihres Getränks. Doch Coca-Cola war nur als Werbeimagination einzigartig und einheitlich. Die Konzessionsvergabe erfolgte an formal unabhängige Lizenznehmer, deren vorrangige Aufgabe es war, das Franchisesystem mit jeweils nationalen Konzessionären zu etablieren. Diese mussten sich verpflichten, „den Coca-Cola-Sirup zu kaufen und mit Wasser und Kohlensäure auf Flaschen aufzufüllen. Außerdem haben sie sich zur Hälfte an den Kosten der Werbung zu beteiligen. Vor allem aber haben die Abfüller – im eigenen Interesse – dafür zu sorgen, daß die Ware an den Mann gebracht wird.“ (Willi Bongard, Coca-Cola. Das große Geschäft mit der kleinen Pause. Vom Aufstieg und Niedergang eines großen Slogans, in: Ders., Fetische des Konsums. Portraits klassischer Markenartikel, Hamburg 1964, 80-89, hier 87; ähnlich Seidels Reklame 14, 1930, 299). Die Dezentralisierung der Produktion war aufgrund der Transportkosten des Massengutes sachlich geboten. Die Konsequenz war aber auch, dass es abseits des einheitlichen Marketingdaches kein einheitliches Produkt geben konnte. Die Zusammensetzung von Wasser variierte nicht unerheblich, ebenso die des Zuckers. Coca-Cola war zudem in vielen Ländern nicht preisgebunden, die Preisgestaltung also nicht nur national, sondern auch regional unterschiedlich.

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Amerikanischen Ursprungs, doch zugleich ein Weltgetränk (The City Builder 1929, Nr. 8, II)

Die wachsende Präsenz von Coca-Cola war spürbar, zugleich aber kaum vergleichbar mit den Folgen massiver Direktinvestitionen führender US-Unternehmen in Deutschland, etwa dem Kauf der Adam Opel AG in Rüsselsheim durch General Motors 1929 oder aber der Gründung des 1925 in Berlin etablierten, 1929/30 dann nach Köln übergesiedelten Ford-Werkes. Auch die Gründung der Wrigley-Kaugummiwerke in Frankfurt a.M. 1925 und die ein Jahr später in Berlin begonnene Fabrikation von Frigidaire-Kühlschränken entsprachen dem Standardmuster multinationaler Auslandspräsenz. Coca-Cola nutzte eine gänzlich andere ökonomische Strategie, wurde aber gleichwohl im allgemeinen Umfeld der kontrovers diskutierten Amerikanisierung der deutschen Wirtschaft bewertet: „Eine Überschwemmung mit amerikanischer Limonade droht allmählich Europa, nachdem die größte Fabrikantin alkoholfreier Getränke in Amerika, die Coca Cola Company, für den Ausbau ihrer europäischen Interessen eine Dachgesellschaft in Luxemburg gegründet hat“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1931, Nr. 159 v. 4. August, 11). Frühere Konzessionsvergaben in der Schweiz und auch in Österreich waren allerdings wenig erfolgreich gewesen (Irene Bandhauer-Schöffmann, Die Amerikanisierung des Geschmacks: Coca-Cola in Österreich, Historicum 1995, Herbstnr., 22-28; Georg Kreis, Coca-Cola erobert den Schweizer Markt, Schweizer Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 70, 2020, 369-390). Im Deutschen Reich sollte dies anders werden – so jedenfalls die Hoffnung der amerikanischen Repräsentanten von Coca-Cola.

Amerikanisierung im Widerstreit

Die Amerikanisierung während der späten 1920er Jahre war begrenzt und widersprüchlich. Sie machte sich vor allem an den Kulturimporten fest, am Jazz, an schwarzen Unterhaltungskünstlern, an neuen Tänzen, neuen Filmen, vor allem auch an einer neuen Frauenrolle. Der Zuschauersport mit seinen neuen Heroen war amerikanisch angehaucht, das Boxen zumal. Und die Girls der Revuen verwiesen nicht nur indirekt auf Florence Ziegfelds Broadway-Shows. Sie alle gewannen Aufmerksamkeit, prägten zahlreiche Zeitgeistillustrierte, wurden belebt durch die immer stärkere Sichtbarkeit des Amerikanischen durch die Fotopresse. Doch man sollte dies nicht gar zu sehr zum Kennzeichen der Epoche machen, zumal es sich ja vielfach – Hollywood ist dafür ein beredtes Beispiel – um Reimporte europäischer und insbesondere auch deutscher Einwandererunternehmer handelte. Hinter „Amerikanisierung“ verbarg sich nämlich eine schon während des Kaiserreichs immer wieder neu, immer wieder engagiert geführte Debatte um die Identität des aufstrebenden Deutschen Reiches und den Stellenwert von Hoch- und Konsumkultur. Seit den 1870er Jahren gab es immer wieder neue Konsumgüter aus den USA, die teils übernommen und verbessert wurden, die teils aber auch schlicht scheiterten. Man denke nur an das Liebig-Horsfordsche Backpulver, Edisons Phonograph, Gillettes Rasierapparate, Wilsons Rasierseife, Potter-Braces Hosenträger, eine wachsende Palette von Automobilen, Autoreifen, Fahrradnaben, Uhren, Kosmetika, Gartengeräten, Füllfederhaltern, Korsetts, Schuhen usw. Und was wäre Deutsche Weihnacht ohne die amerikanischen Nüsse gewesen…

Die Deutschen kannten und schätzten die standardisierten und zumeist praktischen Angebote aus dem Westen, waren sich zumeist jedoch sicher, Besseres bieten zu können. Nach dem verlorenen Weltkrieg schwand diese Zuversicht. Zugleich aber waren immer mehr Deutsche fasziniert von dem deutlich höheren Lebensstandard in den USA, der sich nicht nur am Dollar festmachte, dieser Bezugsgröße des inflationären Niedergangs 1922/23, sondern auch im Kaufrausch der US-Touristen nach Ende des Weltkriegs. Man war zurückgefallen, man war relativ arm: „Für etwa die gleiche Arbeitszeit wie hier kann der amerikanische Arbeitnehmer die gleiche Lebenshaltung wie sein deutscher Kollege genießen und hat darüber hinaus mindestens den gleichen Betrag wie für diese deutsche Lebenshaltung an Kaufkraft noch einmal frei für höheren Lebensgenuß, für Ersparnis oder Anschaffung – oft auch einen noch erheblich größeren Betrag“ (Julius Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, 36-37). Amerikanisierung bedeutete daher Lernen, Übernehmen, aber immer auch ein Adaptieren, Verbessern und Überholen – so wie man dies mit den überlegenen Angeboten Großbritanniens im 19. Jahrhundert getan hatte.

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Der Kampf gegen die kulturelle Amerikanisierung und die Faszination des Fortschrittsversprechens des Fordismus (Fliegende Blätter 168, 1928, 1 (l.); BZ am Mittag 1929, Nr. 122 v. 6. Mai, 16)

Die Amerikanisierung war daher in den späten 1920er Jahren immer ambivalent, zielte auf ein neues Erfolgsrezept für die geschundene Nation (zur Ambivalenz dieser Zeit vgl. Harald Jähner, Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, Bonn 2023). Mögen in den üblichen Gesamtdarstellungen auch die kulturellen Aspekte im Mittelpunkt stehen, so waren für die politischen, wissenschaftlichen und insbesondere wirtschaftlichen Eliten doch Fragen einer betrieblichen Rationalisierung, verbesserter Massenproduktion und Marktforschung wichtiger (Adelheid v. Saldern und Rüdiger Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert: Eine Einleitung, Zeithistorische Forschungen 6, 2009, 174-185; Stefan Link, Rethinking the Ford-Nazi Connection, Bulletin of the German Historical Institute Washington 49, 2011, 136-150). Das galt auch für die Konsumgütermärkte: „An oberster Stelle steht heute der schlagfertige, straff geleitete Vertriebsapparat, der wie ein feinmaschiges Netz den ganzen Markt bedeckt, dessen weite Verästelungen wie die eines Nervensystems alle Beobachten an die Zentrale weitergeben und doch auch selbständig mit geschickten Reflexbewegungen auf jede Einwirkung von außen so reagieren, wie es die Zentrale nachträglich als allein richtig bestätigt“ (Victor Vogt, Absatzprobleme, Bd. 1, Stuttgart und Wien 1929, 7).

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Importierte Coca-Cola im Amerikanischen Restaurant Roberts in Berlin (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 20 v. 13. Mai, 14)

Das zeigte sich auch im direkten Umgang mit amerikanischer Konsumkultur. Im April 1928 wurde am Berliner Kurfürstendamm beispielsweise das Amerikanische Restaurant Roberts eröffnet, dessen Eröffnung viele Monate von Geheimnissen umrankt war. Ein deutscher Architekt und amerikanische Geldgeber hatten dort einen kulinarischen Kunstraum geschaffen, der nicht nur eigenartige Speisen, sondern in einer fast echten Soda-Fountain auch Getränke am Bartisch bot: „Limonaden aus frischen Früchten, Coca Cola, Ice Creames mit Sodawasser, Frappes mit allerlei Früchten, Milchfrappees, Malzmilchfrappees, Frappees mit Milch und Ei und viele andere geheimnisvolle Drinks“ (Wir essen amerikanisch, Deutsche Allgemeine Zeitung 1928, Nr. 163 v. 5. April, 8). Andere Städte waren vorausgegangen, doch erst die Berliner Gründung machte qua Presseagenturen die Deutschlandrunde (Ein amerikanisches Restaurant in Berlin, Jeversches Wochenblatt 1928, Nr. 86 v. 12. April, 8). Das Fremde wurde beim Namen genannt, konnte ausprobiert und einverleibt werden. Und es wurde zeitweilig ein großer Erfolg, denn schon im August hieß es resümierend: „Es ist in Mode gekommen, und an den schönen Sommertagen ist die Terrasse draußen vor der Tür immer voll. […] So sieht man denn schon am Nachmittag viele Kurfürstendamm-Jünglinge mit ihren Begleiterinnen hier sitzen, sie bevölkern die niedrigen Barstühlchen, die zum Aufklappen eingerichtet sind, radebrachen Englisch und kommen sich ganz international vor“ (Oskar Mysing, Gewitter am Kurfürstendamm, Kölnische Zeitung 1928, Nr. 428b v. 6. August, 2). Coca-Cola gehörte dazu. Es schien Zeit zu sein für „dieses vom Europäer zunächst mit besonderer Verachtung gestraften Getränkes“ (Max R. Kaufmann, Dollarmillionen aus Wasser und Zucker, Münchner Neueste Nachrichten 1932, Nr. 100 v. 13. April, 3).

Zwischen Atlanta, Köln und Essen: Konturen der Firmengeschichte

Die Gründung der deutschen Coca-Cola-Ableger erfolgte knirschend, war anfangs von persönlichen Rivalitäten und einem doch recht bescheidenen Ertrag überschattet. Und doch sollte es sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zur wichtigsten europäischen Coca-Cola-Dependance entwickeln (Giebelhaus, 1994, 199). Am 13. April 1929 wurde ins Handelsregister der Ruhrgebietsmetropole Essen die „Essener Vertriebsgesellschaft mit beschränkter Haftung für Naturgetränke“ eingetragen (Essener Anzeiger 1929, Nr. 92 v. 21. April, 20). Sie war mit einem Stammkapital von 20.000 RM ausgestattet, Geschäftsführer wurde der aus Atlanta stammende Ray Rivington Powers (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 96 v. 25. April, 22). Coca-Cola-Präsident Robert W. Woodruff hatte dafür persönlich grünes Licht gegeben – und diese neue Firma lancierte auch die ersten Werbekampagnen für Coca-Cola in Deutschland 1929/30. Anfang Juni folgte dann die von der Export-Abteilung in Wilmington initiierte „Coca-Cola GmbH“ mit Sitz in Köln und einem Stammkapital von 300.000 RM. Sie sollte die weitere Herstellung und den Vertrieb von Coca-Cola im Deutschen Reich, in Danzig und im Saargebiet flankieren, geleitet von dem in Brüssel ansässigen Repräsentanten Donald Shaw Hawkes (Kölnische Zeitung 1930, Nr. 2302 v. 3. Juni, 3). Nur eine Woche später folgte eine weitere Gründung, abermals in Köln, dieses Mal die „Deutsche Vertriebs-Gesellschaft mit beschränkter Haftung für Naturgetränke“. Powers war abermals Geschäftsführer, doch dank Krediten Woodruffs verfügte er nun über ein Stammkapital von 470.000 RM, mit dem er den gleichen Zweck wie die Coca-Cola GmbH verfolgen sollte (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 137 v. 16. Juni, 18). Reibereien und Zuständigkeitsprobleme waren die Folge, das schwache Wachstum der Anfangsphase hatte auch hierin ihre Ursache.

Die Coca-Cola GmbH wurde im Juni 1931 nach Essen verlegt, Geschäftsführer Hawkes musste dem neuen Brüsseler Repräsentanten Albert Hammond Staton weichen (Deutscher Reichsanzeiger 1931, Nr. 131 v. 12. Juni, 21). An der doppelten Unternehmensstruktur änderte sich jedoch erst einmal nichts (Deutscher Reichsanzeiger 1931, Nr. 146 v. 26. Juni, 32). Immerhin siedelte im Oktober auch die „Deutsche Vertriebsgesellschaft mbH. für Naturgetränke“ nach Essen über, so dass die Entscheidungen nun einem Ort gebündelt waren (Bergisch-Märkische Zeitung 1931, Nr. 282 v. 17. Oktober, 16; Deutscher Reichsanzeiger 1931, Nr. 244 v. 19. Oktober, 5). Doch erst im Jahre 1937 etablierte sich eine einheitliche Zentrale. Im März wurde Geschäftsführer Staton durch den Deutschen Max Keith (1903-1987) ersetzt, zugleich das Stammkapital auf ein Drittel gesenkt (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 66 v. 20. März, 25). Anschließend erfolgte im April die Zusammenlegung der Deutschen Vertriebsgesellschaft mbH für Naturgetränke und der Coca-Cola GmbH – als Name beließ man es bei der Coca-Cola GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 79 v. 8. April, 12). Die Export-Abteilung behauptete ihren Einfluss, mit ihren Einlagen wurde das Stammkapital wieder erhöht. Powers, der 1938 tödlich verunglückte, wurde angemessen entschädigt (Giebelhaus, 1994, 199). Die weitere Unternehmensgeschichte während der Ära Keith ist für unsere Fragestellung nicht mehr von Belang, auch wenn sie den institutionellen Behauptungswillen der Coca-Cola GmbH unter Beweis stellt. Gleichwohl waren die Anfangsjahre kein Glanzstück unternehmerischer Führungskultur.

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Präsenz zeigen: Coca-Cola-Wagen im Korso der Essener Rosenfahrt 1929 (Essener Anzeiger 1929, Nr. 170 v. 23. Juli, 9)

Die ersten Werbekampagnen 1929/30 waren demnach Ausdruck des Gestaltungswillens der von Powers geleiteten Essener Vertriebsgesellschaft. Sie standen für die Leistungsfähigkeit und die Gestaltungsmöglichkeiten regionaler Repräsentanten. Weiteren Lizenznehmern sollte dadurch ein Beispiel für ihre regional begrenzte Arbeit gegeben werden. Atlanta und Wilmington waren fern, mochten helfen. Doch – so hieß es in den USA „die Vertriebssorgen haben sie auf die Schultern der ‚Abzieher‘ und des Zwischenhandels abgeschoben. Die Abzieher verdünnen den Syrup mit Sodawasser, füllen das fertige Getränk in Flaschen ab und verkaufen es an die Erfrischungsstände in den Städten und an den Autostraßen sowie an die Spezereiwarenhändler“ (Kaufmann, 1932). Über die Anfänge in Essen gibt es mehrere retrospektive Berichte, die allerdings immer von der späteren Wachstumsgeschichte eingefärbt waren.

Der aus Essen stammende Marketing-Experte Hubert Strauf (1904-1993), der mit seiner Firma „Werbe-Strauf“ die Coca-Cola-Werbung seit den 1930er Jahren mitbestimmte und in den 1950er Jahren zu einem der führenden westdeutschen Werbetexter werden sollte, berichte in einem späteren Interview: „‚Ich begegnete Coca-Cola zuerst in amerikanischen Prospekten, die damals in Essen ins Deutsche übersetzt werden sollten. Das waren ganz billige kleine Prospekte, wo vorne drauf ein großes Wort stand: ‚Was ist Coca-Cola‘, Fragezeichen. Und dann machte man das auf und da lag da quer die Flasche und drunter stand: ‚Coca-Cola ist das eingetragene Warenzeichen für das einzigartige Getränk der Coca-Cola-Gesellschaft‘. Cé tout (lacht). Auf der Rückseite waren solche amerikanischen Beschäftigungsspiele, Quiz, Rätsel, das wurde dann auf der Straße, in den Gaststätten und bei Sportveranstaltungen verteilt. Die erste Coca-Cola-Flasche wurde damals in Essen 1929 abgefüllt, in einer winzigen Baracke von Krupp aus der Kriegszeit.‘ Essen war von den Amerikanern ausgewählt worden, weil es als Zentrum der Arbeit die nötige Gewähr für den großen Durst zu bieten schien – zum Freizeitgetränk sollte Coca-Cola erst später werden. Außerdem hoffte man unter den dort ansässigen Brauereien die ersten Cola-Konzessionäre zu finden: ‚Die Leute, die dafür in Frage kamen, die Selterswasserfabrikanten, die Bierverleger, die probierten das und sagten dann auf gut Ruhrdeutsch: ‚Dat tüch, dat süpt hier nemmes!‘ Das Zeug, das trinkt hier keiner. Schließlich hat er [Powers, US] sich die ersten Flaschen selbst abgefüllt – mit einem einzigen Arbeiter. Mit dem ist er dann mit einer Blechkarre und der ersten Produktion von drei oder vier Kisten an die Ruhr gefahren, zur sog. Hügelregatta und hat die ersten Flaschen Coca-Cola selbst verkauft, der Amerikaner in einem schönen Marengo-Überzieher und steifem Hut, ein Mann wie ein Schrank, der rief: Trinken sie Coaca-Coala, eiskalt, koöstlich und erfrischt…‘“ (sämtlich zit. n. Helmut Fritz, Das Evangelium der Erfrischung. Coca-Cola – Die Geschichte eines Markenartikels, Siegen 1980, 21).

Ein zweiter Bericht entstammt der PR-Abteilung von Coca-Cola, beschrieb die kargen Anfänge vor dem Hintergrund einer sich seit 1949 rasch zu neuen Höhen aufschwingenden Absatzbewegung: „Der erste Essener und der erste deutsche Abfüllbetrieb für COCA-COLA in der Essener Hammerstraße, mit selbstverständlichem Sinn für tadellose Sauberkeit und Hygiene errichtet, und am 8. April 1929 in Betrieb genommen, war alles andere als ein moderner Großbetrieb. Damals bediente ein junger Essener, Josef Ignasiak, eine automatische 6-Flaschen-Abfüllmaschine und schickte die ersten Sendungen COCA-COLA mit einem Pferdefuhrwerk auf die Reise. Heute ist der kleine Angestellte von damals Fabrikmeister in der Essener Fabrik auf dem Kaninchenberg. An einem Tage füllen die von ihm betreuten Maschinen heute mehr Flaschen ab, als während des ganzen Jahres 1929“ (Die Idee der erfrischenden Pause, Deutscher Kantinen-Anzeiger 29, 1954, H. 9, 6-8, hier 7). Das PR-Narrativ des Aufstiegs aus kleinsten Anfängen hin zu späterer Größe charakterisierte auch eine spätere Jubiläumsschrift, die alle negativen Aspekte dieses Genres peinlich bündelte: „‚Es war ein bescheidener Anfang. Wir hatten einen halbautomatischen Füller, und mit viel Geschick gelang es uns, bis zu 35 Kisten Coca-Cola pro Stunde abzufüllen,‘ erinnert sich Josef Ignasiak, Mann der ersten Stunde von Cola-Cola in Deutschland. Der Absatz entwickelt sich langsam. Die Deutschen müssen erst auf den Geschmack kommen. […] Die Wirte sind skeptisch. Sie kaufen nur zwei, höchstens einmal sechs Flaschen. Probeweise wollen sie Coca-Cola, die als ‚köstlich – erfrischend‘ beworben wird, an ihre Gäste ausschenken. Der Verkauf von 24 Flaschen am Tag ist absoluter Rekord. Die Ware wird in der legendären ‚Seufzertasche‘ transportiert. Eine Art Aktentasche, mit Zink ausgeschlagen und mit Eiswasser gefüllt, sorgt für die richtige Trinktemperatur. Ihr Gewicht und die mageren Umsätze sind noch Anlass für Stoßseufzer. Doch die Pioniere halten durch“ (75 Jahre Coca-Cola in Deutschland, hg. v.d. Coca-Cola GmbH, Essen 2004, 8-9).

Derartige Beschreibungen sind natürlich nicht als Abbild der Anfänge in Essen zu verstehen, sondern sind wichtige Ergänzungen zu den dokumentierbaren Werbeaussagen 1929/1930. Die Berichte erinnern in ihrem einseitigen Blick auf die Widrigkeiten zugleich an die vielgestaltigen Erzählungen von Missionaren und Entdeckern im Umgang mit Ungläubigen und Eingeborenen. Konsum hat eben auch etwas mit Glauben und Bekehrung zu tun.

Essen, nirgendwo sonst: Die Anfänge der Coca-Cola-Werbung

Kommen wir nun endlich zu den ersten deutschen Werbekampagnen für Coca-Cola. Es handelte sich dabei um Zeitungsanzeigen, also nur ein Element der oben schon angerissenen Werbeanstrengungen der „Pioniere“. Coca-Cola wurde zudem mittels Direktwerbung, also Broschüren und Werbezetteln, mittels Plakaten und Giebelwerbung, Proben und Ausstellungen angepriesen: Das verbindende Element war dabei nicht nur das Getränk, sondern immer auch die zwei stetig präsentierten Hauptelemente der Werbeanstrengungen, nämlich der Namenszug und die seit 1915 nicht veränderte Glasflasche mit einem Inhalt von 0,192 Liter, also 6,5 Unzen (Norman L. Dean, The Man behind the Bottle, s.l. 2010). „Flaschenform wie Warenzeichen zeigen: Das ist »Coca-Cola«!“ (Wiener Illustrierte 61, 1942, Nr. 21, 12) – so hieß es bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein.

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Start des anvisierten Siegeszuges (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 115 v. 26. April, 5)

Die Anzeigen stammen aus drei lokalen Tageszeitungen: Der zentrumsnahen „Essener Volks-Zeitung“ des Verlages Fredebeul & Koenen, dem „Essener Anzeiger“ des Reismann-Grone-Verlags, dessen Besitzer Theodor Reismann-Grone (1863-1949) 1933 NSDAP-Oberbürgermeister Essens werden sollte, und der nationalen „Essener Allgemeine Zeitung“ des Giradet-Verlages. Die im Verlag Franz Gemoll erscheinende sozialdemokratische „Volkswacht“ wurde nicht mit Coca-Cola-Anzeigen bedacht. Arbeiter bildeten eben nicht die Zielgruppe des neuen, relativ teuren Getränks. Coca-Cola war ein Angebot für die urbanen Mittelschichten. Die Firmenleitung hielt engen Kontakt mit den Presseorganen, die wiederum an potenten Anzeigenkunden interessiert waren. Und mehr als das: Kurz vor der Produkteinführung betonte der Dokumentarfilmer Dietrich W. Dreyer (1887-1961) in einem in Essen gehaltenen Vortrag einige Hintergedanken: „Wenn wir Amerika in seiner ganzen Größe und Kraft gesehen haben, müssen wir fast unser gutes, altes Europa bedauern, doch eins haben wir, was die Amerikaner nicht einfach importieren und dreimal vergrößern können, Kultur und Tradition. Dennoch wollen wir lernen von Amerika, was uns in Wirtschaft und Weltgeltung helfen kann“ („Das schaffende Amerika.“, Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 97 v. 8. April, 3).

Lernen konnte man gewiss die gängigen Abläufe einer Werbekampagne: „Seit Wochen prangen nämlich tiefgroße Plakate an den Anschlagsäulen mit den geheimnisvollen zwei Worten Coca-Cola. Man blieb davor stehen, schüttelte den Kopf und glaubte wohl, daß eine neue Zigarette im Anmarsch sei. […] Neue Plakate tauchten in diesen Tagen auf; sie lüfteten das Geheimnis: ‚Coca-Cola ist ein herrliches Getränk‘“ (Mister Powers erklärt: „Coca-Cola ist ein herrliches Getränk“, Essener Anzeiger 1929, Nr. 92 v. 20. April, 7 – auch für die folgenden Zitate). Powers stand im Mittelpunkt der lokalen Presseberichterstattung: „Er hat einen Stab von sehr smarten Amerikanern um sich, die die Fabrikation leiten und die Organisation des Verkaufes durchführen. Ihre Zelte haben sie an der Hammerstraße aufgeschlagen, und zwar dort, wo die Firma Alfred Paas ihre riesigen Niederlassungen hat. Die Amerikaner sind sehr praktische Geschäftsleute; sie fangen klein an und bauen den Betrieb nach den Bedürfnissen der Konsumenten aus. Einstweilen produzieren drei Maschinen täglich 7000 Flaschen. Mister Powers will es dabei aber nicht bewenden lassen“. Er wollte den Markt auch in Deutschland erobern – das Produkt sei überlegen, die für den deutschen Geschmack viel zu kleinen Flaschen seien Teil eines für die Konsumenten notwendigen Lernprozesses: „‚Das Trinken ist eine Frage der Erziehung. Nicht die großen Mengen erfrischen, sondern das richtige Quantum zur richtigen Zeit.‘“ Rückfragen nach einer vermeintlich amerikanischen „Invasion“ wies Powers jedoch zurück. Er wolle Geld in Deutschland anlegen – und dieses werde vor allem Deutschen zugutekommen.

Neben derartigen Selbstdarstellungen gab es auch gängige Produktpräsentationen: Unter dem Mantel der Information wurde das neue Getränk den Lesern in Form eines redaktionellen Artikels präsentiert. Coca-Cola erschien – wie in der Werbebroschüre – als eine „raffinierte Mischung von Frucht-, Blätter- und Nußsäften (vierzehn an der Zahl), die aus den verschiedensten Ländern stammen […], als ein reines Naturprodukt, das keinerlei chemische oder künstliche Produkte enthält. Nur die besten Materialien werden zur Fabrikation benutzt, bester Kristallzucker, eiskaltes, klares, filtriertes, kohlensäurehaltiges Wasser und der mit größter Sorgfalt behandelte Sirup, die Seele des Getränkes“ (Was ist Coca-Cola?, Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 112 v. 23. April, 10; auch für die weiteren Zitate). Die von Struff benannte winzige Baracke mutierte zur „blitzsauberen Fabrik“, die Essener Bürger fanden sich auf Augenhöhe mit den Bewohnern Shanghais, San Franciscos und Roms. Essen war auserwählt als „Ausgangspunkt für Deutschland“ – und zugleich vergewisserte man, dass „nur ein ganz winziger Teil des Ertrages […] durch die Einfuhr von verschiedenen Fruchtsäften ins Ausland“ fließe. Der werbefrohe Artikel schloss mit der hoffnungsfrohen Kunde: „Coca-Cola wird sich in Kürze wegen seiner naturreinen Qualität in Deutschland derselben Beliebtheit erfreuen, die es über die ganze Welt besitzt, es ist der Champagner der alkoholfreien Getränke.“

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Coca-Cola als Genussmittel (Essener Anzeiger 1929, Nr. 101 v. 1. Mai, 9)

Entsprechend hochwertig präsentierten die Anzeigen das braune Zuckerwasser: Nicht Erfrischung stand im Vordergrund, sondern „Genuß“. Die zweite Anzeige war mit „Eine Neuigkeit für Feinschmecker“ überschrieben, erlaubte einen Blick in ein gehobenes Café mit gut gewandten „modernen“ Menschen und durchweg „neuen“ Frauen (Essener Anzeiger 1929, Nr. 99 v. 28. April, 7; auch für das folgende Zitat). Gleichwohl war dieser naturreine Wonnennektar auch in Essen überall erhältlich: „Nach Spaziergängen, im Büro, im Café, bei Ihrem Kolonialwarenhändler – verlangen Sie Coca-Cola“ – so könne man 14 verschiedene Fruchtarten aus neun Ländern in nur einem Getränk genießen.

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Das Lieblingsgetränk von vielen Tausenden? Ein neues Getränk sorgt für virtuelle Furore (Essener Anzeiger 1929, Nr. 104 v. 4. Mai, 5)

Die ersten Anzeigen verbeugten sich verbal vor den potenziellen Kunden der Ruhrmetropole, hießen sie willkommen in einem exklusiven internationalen Kreis der Millionen: „Ganz Essen spricht von Coca-Cola“ (Essener Volkszeitung 1929, Nr. 126 v. 7. Mai, 4). Die Anzeigen selbst hatten eine klare, gut wiedererkennbare Struktur: Neben Flasche und Namenszug traten einfache Graphiken von Menschen, die zumeist im freudigen Miteinander präsentiert wurden. Die Schriftart war einheitlich, klare Überschriften korrespondierten mit der aus der Rolle fallenden und daher besonders hervorgehobenen Spencerian Script-Typographie des 1886 geschaffenen Namenszuges.

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Das deutsche Publikum klar verfehlt (Essener Volks-Zeitung, Nr. 140 v. 22. Mai, 7 (l.); ebd., Nr. 144 v. 26. Mai, 11)

Der Verbeugung vor den Essener Bürgern folgten Einblicke in die imaginierte Lebenswelt der amerikanischen Coca-Cola-Trinker. Schicke Wagen, schicke Kleidung, Club und Ober – die Bildsprache der Folgeanzeigen war fern vom Alltag im industriellen Herzen des Deutschen Reiches, in einer von Stahl, Maschinen und Energiewirtschaft geprägten Stadt, die zugleich die reichsweit wohl modernste Einzelhandelsstruktur aufwies: Zwei große Konsumgenossenschaften, katholisch und sozialdemokratisch, Krupps Konsumanstalt, leistungsfähige Filialbetriebe wie Tengelmann, Kaisers Kaffeegeschäft oder Hill. Die lokalen Berater wussten um das Schielen derartiger Werbung, rangen mit dem Sendungsbewusstsein der amerikanischen Markteroberer: „The Americans always told us to only translate the ads” (zit. n. Jeff R. Schutts, „Die erfrischende Pause“: Marketing Coca-Cola in Hitler’s Germany, EBHA paper 2005 (Ms.), 7. Erschienen in: Pamela E. Swett, S. Jonathan Wiesen und Jonathan R. Zatlin (Hg.), Selling Modernity. Advertising in Twentieth Century Germany, Durham 2007, 151-181), so Hubert Struff. Er hob zugleich lokale Bemühungen des Umpolens derartiger Anzeigen hervor. Es ging um die Lokalisierung des US-Getränks, um einen glaubhaften Bezug zu den nominellen Zielsubjekten derartiger Werbung. Dafür zentral wurde ein im Mai 1929 ausgelobtes Preisausschreiben: „Trinken Sie 2 bis 3 Glas Coca-Cola, und sagen Sie uns, was Sie davon halten – Ihr Urteil interessiert uns! Bedingungen: Schreiben Sie in höchstens 20 Worten, warum Sie Coca-Cola mögen / Es sind 12 Preise ausgesetzt: 1. Preis: Mk 500,- für das beste Urteil / 2. Preis: Mk. 250,- für das nächstbeste Urteil / 10 Preise à Mk 100,- / Ferner erhalten die Einsender der 20 weiteren besten Beurteilungen je 6 Flaschen Coca-Cola“ (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 142 v. 24. Mai, 3).

Preisausschreiben waren keineswegs neu, sie kamen im Deutschen Reich kurz nach der Jahrhundertwende auf. Schwerpunkte waren Markenartikel, zumeist des Lebensmittelsektors, optische Instrumente und auch Druckwaren. In den 1920er Jahren nahm ihre Bedeutung leicht ab, doch gerade bei Innovationen blieben sie ein wichtiges Werbemittel – allerdings auch eine vorrangig kleinbürgerliche Passion (Preisausschreiben der modernen Welt, Moderne Welt 14, 1932/33, H. 1, 7). Bei den amerikanischen Firmen ragten die regelmäßigen Preisausschreiben von Kodak hervor.

Während eine Reihe Essener Bürger ihre Reime schmiedeten und die Coca-Cola-Repräsentanten auf die Ergebnisse warteten, waberte die Anzeigenwerbung ohne rechte Richtung dahin: Zum einen wurden Anzeigen geschaltet, die abermals die Cola-Flasche in den Mittelpunkt rückten, die nun „abends im Familienkreise“ getrunken werden sollte. Entsprechend erweiterte sich der Verkaufskreis: „Ihr Kolonialwarenhändler führt es“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 132 v. 8. Juni, 7). Zum anderen präsentierte man weiterhin mondäne US-Anzeigen, deren Bildmotive Verzehrssituationen der gehobenen Mittelschicht präsentierten, die sich im Straßen- oder Strandcafé erfrischten, die zugleich aber nur sich selbst gertenschlank oder männlich-durchtrainiert repräsentierten (Essener Anzeiger 1929, Nr. 109 v. 11. Mai, 11; Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 172 v. 22. Juni, 3; ebd., Nr. 175 v. 25. Juni, 3; Essener Anzeiger 1929, Nr. 156 v. 6. Juli, 9). Parallel veränderte sich die Periodizität der Anzeigen. Gab es anfangs alle drei Tage eine Annonce, so schaltete man seit Juli nurmehr alle sechs Tage eine Beschwörung des Erfrischungskaufes. Einzelne Motive wurden mehrfach gedruckt, schon bekannte Bild- und Textelement neu rekombiniert. Doch mit ca. 30 Einzelanzeigen handelte es sich um eine elaborierte Werbekampagne, deren Umfang und Ausstattung viele andere dieser Zeit in den Schatten stellte.

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Das Preisausschreiben als lokales Ereignis (Essener Allgemeine Zeitung 1929, Nr. 273 v. 15. Juni, 4 (l.); ebd., Nr. 334 v. 18. Juli, 12)

Das Preisausschreiben ermöglichte zudem eine neuerliche Lokalisierung der Werbung: Frau Antonie Zierau, Inhaberin eines Essener Schönheitssalons, präsentierte sich zwar in etwas rüschiger Bluse: Doch mit einem Bubikopf nebst angedeuteten Herrenwinkern machte sie Louise Brooks (1906-1985) durchaus Ehre, der Hollywoodbelle, die 1929 für zwei Filme nach Deutschland gekommen war. Präzise hatte sie die Wortgrenze ausgenutzt – und strich 500 RM Preisgeld ein, die sie gleich in eine Reise an die Ostsee investierte: „Coca-Cola, Trank der Götter, / Jedem Sportler Siegesretter, / Jedem Wandrer unentbehrlich, / Jeder Hausfrau zugehörig, / Labetrunk der neuen Zeit, / Herzlichster Bekömmlichkeit.“ Nun gut, es ging um ein Lebensgefühl, auf dessen Wellen die Produkteinführung gelingen sollte. Und das Gedicht besaß eine gewisse Eigenständigkeit, anders als das Reimwerk des Zweitplatzierten, eines Essener Buchhändlers, der die Werbeattribute der Coca-Cola-Macher nur leicht variierte, diesen damit aber Selbstbestätigung ermöglichte. Weitere Einsendungen posaunten werbeträchtig: „Siegreich dringst in alle Zonen, / Du Getränk der Millionen, / Herb, erfrischend, ohnegleichen, / Wirst Dein Ziel bestimmt erreichen“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 143 v. 21. Juni, 17). Entsprechende Auszüge mixten die Werbeverantwortlichen in die visuell weiterhin fremd-amerikanisch geprägt Anzeigen, boten so kreolisierende Anreize für Essener Bürger – nicht unbedingt für den Durchschnittsmalocher (Essener Anzeiger 1929, Nr. 145 v. 23. Juni, 17; Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 179 v. 29. Juni, 3; ebd., Nr. 184 v. 4. Juli, 3). Wie wichtig den Machern diese lokale Erdung war, unterstricht die Wiederholung einzelner Anzeigen (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 194 v. 14. Juli, 5). Damit konnte man zugleich die relative Erfolglosigkeit der Anfangsphase überspielen. Am Ende blieben Slogans übrig: „Erfrischend… gibt geistigen Schwung!“, „Erfrischend, stärkend und pikant“, „Was Millionen heut erfrischt“ und natürlich „Labetrunk der neuen Zeit…“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 171 v. 24. Juli, 7; Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 203 v. 23. Juli, 3; Essener Anzeiger 1929, Nr. 174 v. 27. Juli, 9; ebd. 1929, Nr. 182 v. 6. August, 15). So verging in Essen der Sommer, begleitet von nunmehr schon bekannten Bildern und Appellen.

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Zielgruppendifferenzierung in der Coca-Cola-Werbung: Golfer (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 263 v. 26. September, 3)

Erst im September änderte man die Strategie – und griff dabei wiederum auf vermeintlich bewährte Vorlagen aus den USA zurück. Außergewöhnlicher war jedoch, dass man am Ende des Sommers nicht auch die Werbeanstrengungen einstellte. Im Deutschen Reich war das nur bei Heilwassern üblich, zudem vor Weihnachten und Ostern. Doch optimistisch erklang nun: „Früchte schmecken und erfrischen zu jeder Jahreszeit. […] Coca-Cola ist das ideale Erfrischungsgetränk zu jeder Jahreszeit“ oder „Im Wechsel der Jahreszeiten gleichbleibender Genuss“ (Essener Volks-Zeitung 1929, Nr. 277 v. 5. Oktober, 13; Essener Allgemeine Zeitung 1929, Nr. 441 v. 1. Oktober, 13). Neben die Naturmystik des eigenen „naturreinen“ Getränkes trat in der dunkleren Jahreszeit zudem eine Art Sonnenkult, der auch die Essener erwärmen sollte: „Die Naturkraft der Sonne in jeder Flasche dieses köstlichen Getränks!“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 238 v. 10. Oktober, 7). Sprachlich baute man durchaus Brücken zum Alltagsleben, sprach von „Feierabend“ nach „anstrengender Tagesarbeit“, präsentierte zugleich aber weiter Werbebilder fern dieser Massenrealität (Essener Allgemeine Zeitung 1929, Nr. 455 v. 15. Oktober, 6).

Die Differenz zwischen Alltag und Traumwelt schien durch das mit 30 Pfennig pro Glas resp. Flasche recht teure Getränk überbrückt werden können – doch diese Diskrepanz war nicht unbedingt erwünscht, spiegelte die für viele US-Unternehmen (und auch deutsche) typische Ignoranz der formal adressierten Konsumenten. Und so wurde im November von der „Erhitzung des Tanzes“ gesprochen, garniert mit Armbändern für die Upper Class, vor Weihnachten dagegen von der Ermüdung durch Weihnachtsbesorgungen (Essener Anzeiger 1929, Nr. 275 v. 23. November, 7; ebd. 1929, Nr. 293 v. 14. Dezember, 11). Ebenso unpassend dürfte die stete Gleichsetzung von Coca-Cola mit einem Fruchtgetränk gewesen sein – da erschien die langsam einsetzende Werbung für deutschen Süßmost doch glaubwürdiger (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 535-543). Das Konzentrat sollte aus 14 verschiedenen „Früchten“ komponiert worden sein, Coca-Cola sei „Gesund – wie frische Früchte“ (Essener Anzeiger 1929, Nr. 264 v. 9. November, 11), ja im Getränk seien „Aufgespeicherte Sonnenstrahlen“ (Ebd, Nr. 303 v. 28. Dezember, 15) enthalten. Heutzutage wäre das wohl irreführend.

Insgesamt haben die Essener „Pioniere“ massiv in die Anzeigenwerbung investiert, nutzten den Lockreiz ferner US-amerikanischer Lebenswelten, führten ein gut dotiertes Preisausschreiben durch, verbeugten sich immer mal wieder vor den Essener Konsumenten, warben für den Coca-Cola-Genuss bis zum Jahresende. Danach endete die Werbekampagne. Und das Resultat? Im ersten Jahr wurden 5.840 Kisten des braunen Nasses verkauft. Für knapp 650.000 Einwohner war das nicht gerade viel. Es ist nachvollziehbar, dass die Export-Abteilung in Wilmington nun auf die Ausweitung der Lizenzvergabe drängte – und dem mit der Gründung der Coca-Cola GmbH in Köln auch Nachdruck verlieh.

15_DGA_1930_07_12_Nr322_p09_Remscheider General-Anzeiger_1930_12_12_Nr161_p13_Getraenke_Erfrischungsgetraenke_Coca-Cola_Duisburg_Remscheid_Glasflasche

Erweiterung des Vertriebsnetzes (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1930, Nr. 322 v. 12. Juli, 9; Remscheider General-Anzeiger 1930, Nr. 161 v. 12. Dezember, 13)

Die Folgen spiegeln sich in einer zweiten, deutlich kleineren Werbekampagne, die in Essen, aber auch vom neuen Lizenznehmer am Niederrhein durchgeführt wurde. Neuerlich wurde die lokale Bevölkerung direkt angesprochen. Flasche und Namenszug traten noch stärker hervor, wurden neu umrahmt. Die Mischung von Bild und Text wurde beibehalten, doch nun auf Fotos gesetzt. Anders ausgedrückt: Die „Pioniere“ lernten aus dem Desaster der ersten Werbekampagne. Die Anzeigen erhielten kräftigere, durch Großschreibung unterstrichene Schlagzeilen. Vor allem aber versuchte man, andere Lebenswelten anzusprechen, solche, mit denen deutsche Käufer ansatzweise Verbindung hatten. Die Anzeigen propagierten Coca-Cola nun kaum mehr als Genussmittel, sondern als Erfrischungsgetränk. Nicht mehr die mondäne Welt der sich seit dem Börsenkrach in New York in freiem Fall befindlichen USA wurde beschworenen, sondern ehrliche Sportler, von denen man mit realen Leistungen in der Presse lesen konnte.

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Werbung mit nationalen Sportgrößen: Hans Wichmann (1905-1981), Victor Rausch (1904-1985) und Gottfried Hürtgen (1905-?) (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1930, Nr. 370 v. 9. August, 5 (l.); ebd. 1930, Nr. 406 v. 30. August, 9)

Den Anspruch relativer Exklusivität bediente man mit schönen Frauen aus Hollywood, aber auch aus Deutschland. Diese Frauen mochten zwar in einer Traumwelt leben, doch sie waren nahbarer als die seelenlosen Bleistiftfiguren, die 1929 für Coca-Cola warben.

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Weiblichen Pendants aus der Welt des Glamours: Filmschauspielerin Lisa Lee (1902/7-2001) und die spätere Miss Germany Ruth Ingrid Richard (Essener Volks-Zeitung 1930, Nr. 232 v. 22. August, 9 (l.), ebd., Nr. 239 v. 29. August, 6)

Es wäre dennoch verfehlt, die in dieser zweiten Werbekampagne sichtbar werdenden Lernprozesse zu stark zu gewichten. 1930 verkaufte Coca-Cola in Deutschland lediglich 9.439 Kisten (Schutts, 2005, 5), so dass angesichts des gewachsenen Absatzgebietes von einer Trendwende nicht gesprochen werden konnte. Wichtiger als verbesserte Werbung – und das war der eigentliche Lernprozess – waren massive Verbesserungen der Vertriebsstruktur. Entsprechend stellte die Firma weitere Anzeigenkampagnen ein – und nahm diese erst 1936 wieder auf. Die ersten Werbekampagnen 1929/30 spiegelten demnach ein überbordendes Vertrauen in die Kraft der Werbung – doch dies war in Deutschland nicht nur während der Weltwirtschaftskriese eine Chimäre.

Abseits der Werbung: Die nur langsame Verankerung vor Ort

Der Fehlschlag von Coca-Cola war nicht allein Folge der eigenen innerorganisatorischen Probleme, der zu stark an US-Vorlagen orientierten Anzeigenwerbung und dem fremden Geschmack eines recht teuren Getränkes. Es gab eine Reihe weiterer Ursachen, die allesamt außerhalb der Kontrolle der Amerikaner waren, die eine mehr als oberflächliche Marktanalyse jedoch hätte vorab kennen müssen.

Erstens war es für Coca-Cola recht schwierig, ihr Produkt als eisgekühltes Getränk anzubieten – und warme Coca-Cola ist in der Tat eine geschmackliche Herausforderung. Das Deutsche Reich war zwar im Felde der Großkältemaschinen auf Augenhöhe mit den amerikanischen Konkurrenten, doch bei der häuslichen und auch kleingewerblichen Kühlung lag es weit, weit zurück. In ganz Berlin, einer voll elektrifizierten Weltmetropole, gab es Anfang 1929 erst 1.126 Kühlschränke – trotz der Präsenz des weltgrößten Herstellers Frigidaire vor Ort (Elektrizitätswirtschaft 28, 1929, 528-529). In den USA gab es 1929 dagegen bereits 840.000 elektrische Kühlschränke, 1934 dann 1,39 Mio. (Helios 11, 1935, 698). Bis 1939 sollte die Zahl in Deutschland auf ca. 250.000 steigen, ergänzt durch deutlich mehr mit Kunsteis betriebenen Eisschränken. Während Ausfluglokale und Gaststätten seit den späten 1920er Jahren langsam in Kühlräume investierten, waren diese, ebenso wie kleinere Kühltruhen, im Einzelhandel und bei den meisten Gaststätten unüblich. Eine Kühlkette bestand nicht. Entsprechend hatte Coca-Cola beträchtliche Probleme, ihr Produkt durchweg kühl anzubieten. Damit entfielen auch gängige Vertriebsmöglichkeiten über den Einzelhandel, denn für die in den USA schon üblichen Six-Packs fehlte schlicht die Kühlinfrastruktur. Entsprechend konzentrierte sich der Absatz auf Gaststätten, wurde in der frühen Werbekampagne nur mit Erfrischung, kaum aber mit „eisgekühlt“ oder aber „eiskalt“ geworben (Pendergast, 1995, 329-331).

Zweitens hatte man in den USA die deutsche Getränkekultur nur unzureichend studiert. Neben Wasser bildeten (Ersatz-)Kaffee, Bier und Milch die wichtigsten Getränke. Nicht alkoholische Getränke besaßen – auch mangels Prohibition – eine deutlich geringere Bedeutung als in den USA. Der Tafel- und Heilwasserkonsum lag 1928 bei mehr als 2,5 Liter pro Kopf. Limonaden galten lange als Kinder- und Frauengetränke, doch während des Ersten Weltkrieges stieg ihr Konsum auf bis zu 10 Liter pro Kopf. Es handelte sich vielfach um Ersatzmittel mit schlechtem Geschmack – und dieses Negativimage war entscheidend für den raschen Niedergang der Branche nach dem Kriege (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur. Ein historischer Rückblick, Aktuelle Ernährungsmedizin 21, 1996, 29-39, hier insb. 32-34). Gleichwohl gab es immer wieder neue Brausen, Erfrischungsgetränke, die als Saisonangebote jedoch nur selten wirklich lukrativ waren. Der heutzutage wichtige Fruchtsaftkonsum setzte erst langsam ein. Insgesamt lag der Konsum nichtalkoholischer Kaltgetränke 1937 bei 8 Liter pro Kopf – so dass die Wachstumsmöglichkeiten auch für Neuentwicklungen strukturell begrenzt waren (Helmut Cron, Wandlungen im Genußmittelverbrauch, Stuttgarter Neues Tagblatt 1940, Nr. 302 v. 2. November, 15).

Drittens war der Konsum noch stark regional geprägt. Die bei Powers deutlich hervortretende Attitüde, dass man den Konsumenten über belehrende Reklame an ein neues, national vertriebenes Produkt heranbilden könne, war daher ignorant (H.F. Simon, Amerikas Industriesystem, Der deutsche Volkswirt 6, 1931/32, 187-190, 220-222, 251-254, hier 189).

Die weitere Entwicklung lag daher in der grundsätzlichen intellektuellen Abkehr von der Leistungskraft amerikanischer Vertriebssysteme, der Gewinnung neuer Konzessionäre und Absatzmöglichkeiten sowie einer teils deutlich anderen Marktpositionierung von Coca-Cola. Dies bedeutete eine begrenzte De-Amerikanisierung und Nationalisierung von Coca-Cola. All das kann hier nicht im Detail diskutiert werden, doch auf einige Besonderheiten ist hinzuweisen.

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Deutsche Besonderheit: Coca-Cola als Katermittel (Iserlohner Kreisanzeiger 1938, Nr. 306 v. 31. Dezember, 12)

Erstens wurde Coca-Cola im Deutschen Reich stets auch als Katermittel vermarktet. Das war in den „trockenen“ USA kaum opportun – obwohl ja der Alkoholkonsum während der Prohibition kaum gesunken war (Thomas Welskopp. Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010, 125-159). Coca-Cola galt als Mittel gegen „Spitz und Kater“, gegen den „Affen“, war „Katervertilgungsmittel“ (Grenzwarte 1930, Nr. 315 v. 18. November, 3; ebd., Nr. 354 v. 31. Dezember, 3; ebd., Nr. 353 v. 30. Dezember, 3). Coca-Cola war ein Präventivmittel gegen die Wirkungen des Alkoholkonsums, unterstützte diesen also indirekt: „Deshalb trinken wir zum Appetitanregen vor dem Abendbrot etwas Asbach-Uralt, anschließend Coca-Cola“ (Grenzwarte 1931, Nr. 5 v. 7. Januar, 3). Und nach durchgezechter Nacht galt es als Heil- und Linderungsmittel: „Da habe ich ihm zunächst mal zärtlich sein pupperndes Pulschen gefühlt, ihm einen Eisbeutel aufs Kahle Asten-Haupt gelegt […] dann habe ich eisgekühltes Coca Cola eingeflözt (!). So kam er denn langsam, aber sicher wieder zu sich“ (Grenzwarte 1930 v. 16. Dezember 1930, 3). Die Fremdbezeichnung als „Gesundheitsgetränk“ (Volkswacht 1931, Nr. 207 v. 5. September, 6) gewann so auch abseits der Temperenzbewegung an Kontur. Coca-Cola war in Deutschland eben kein Mittel der Enthaltsamkeit.

Zweitens findet man Anfang der 1930er Jahre eine verstärkte Integration in die Freizeitkultur – teils durchaus im Einklang mit den US-Konsummustern. So wurde – Kühlung vorausgesetzt – Coca-Cola etwa in Kinos angeboten, halfen Gutscheine und Proben bei der Gewinnung von Kunden.

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Coca-Cola als Getränk im Kino (Ohligser Anzeiger 1932, Nr. 256 v. 31. Oktober, 12 (l.); Essener Anzeiger 1934, Nr. 82 v. 23. März, 16)

Auch im alkoholschwangeren Karneval fand es einen Platz: „In diesem Lokal herrscht nur Frohsinn und Heiterkeit. / Vergiß die Alltagssorgen, fühl dich als Mensch. / Trinke, lache und lebe! / Coca-Cola, der Sekt der alkoholfreien Getränke regt zu neuen Taten an“ (Essener Anzeiger 1932, Nr. 38 v. 14. Februar, 11). Das war ein Appell an relative Nüchternheit, an Feiern mit Verweis auf die Folgen eines Rausches.

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Marktausweitung: Coca-Cola als Angebot eines Konzertcafés (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1930, Nr. 471 v. 12. Oktober, 14)

Drittens investierte die Coca-Cola GmbH vermehrt in Ausstellungen. Hier konnten sowohl Konsumenten, zugleich aber auch potenzielle Konzessionäre und Großhändler mit Proben versorgt werden. Coca-Cola war dabei ein gern gesehener Gast, etwa auf der Braunen Messe in Solingen, wo der Stand sich „regsten Besuches“ erfreute und „dieses dunkle Getränk mit Behagen“ vertilgt wurde („Braune Messe“ in Solingen, Bergische Post 1934, Nr. 230 v. 3. Oktober, 3). Der Erfolg derartigen Direktmarketings war groß, so dass später sogar die Größe der Werbeflaschen auf 100 ccm begrenzt wurden, um Werbeexzesse einzudämmen (Weihnachtstagung des Gaststättengewerbes, Ohligser Anzeiger 1938, Nr. 292 v. 14. Dezember, 4).

Viertens weitete die Coca-Cola GmbH langsam – während der Weltwirtschaftskrise sehr langsam – ihr Vertriebsnetz aus. Sie nutzte dazu den Anfang der 1930er Jahre stark gesunkenen Bier- und Mineralwasserkonsum, bot sich insbesondere Großhändlern als langfristig volumenträchtiger Lückenfüller an. Entscheidend war die Expansion über das Rhein-Ruhrgebiet hinaus, wobei die Gründung eines zweiten Abfüllbetriebes in Frankfurt a.M. 1934 entscheidend war. Weitere folgten einige Jahre später in Breslau und dann – im Anschluss an den Anschluss Österreichs – auch in Wien.

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Andockstelle für Gaststätten, dann auch Einzelhändler: Werbung der Konzessionäre (Niederrheinisches Tageblatt 1933, Nr. 212 v. 9. September, (l.); Dorstener Volkszeitung 1933, Nr. 291 v. 21. Oktober, 14)

Fünftens spiegelte sich der relative Erfolg Coca-Colas in wachsender Konkurrenz. Afri-Cola wurde seit 1931 angeboten, 1934 erweiterte der Marktführer Sinalco sein Angebot um Sinalco-Cola. Sie waren Konkurrenten, gewiss, ebneten der Verbreitung von Cola-Getränken jedoch ebenfalls den Weg.

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Der Erfolg all dieser inkrementalen Veränderungen war beträchtlich: 1933 wurden im Deutschen Reich 111.720 Kisten abgesetzt (Schutts, 2005, 5). Zur Erfolgsgeschichte wurde Coca-Cola jedoch erst den Folgejahren. Sie war Folge einer strikten Anpassung der Coca-Cola GmbH und ihrer Konzessionäre an die Spielregeln des NS-Regimes.

Erfrischung für die Volksgenossen: Anpassung und wirtschaftlicher Erfolg während der NS-Zeit

Über die NS-Zeit liegen einige genauere Analysen vor, die gleichwohl große blinde Flecken aufweisen. Anfangs herrschte in der Forschung gar Erstaunen über den relativen Erfolg der „amerikanischen“ Coca-Cola während der NS-Zeit (Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945, München 1983). Andere behaupteten – leider ohne unmittelbaren Quellenbezug – eine weitgehende „Germanisierung“ des Getränkes, die dann nach 1945 in eine Re-Amerikanisierung gemündet sei (Silke Horstkotte und Olaf Jürgen Schmidt, Heil Coca-Cola! – Zwischen Germanisierung und Re-Amerikanisierung. Coke im Dritten Reich, in: Heike Paul und Katja Kanzler (Hg.), Amerikanische Populärkultur in Deutschland, Leipzig 2002, 73-86). Dabei zeigen genauere Analysen, etwa des Haarfärbemittels Nurblond, dass hybride nationale (und bedingt auch ideologische) Zuschreibungen integraler Bestandteil der Bedeutungsproduktion und Ästhetisierungen moderner Konsumgesellschaften sind.

Fünf Punkte gilt es abschließend anzusprechen, wohl wissend, dass diese sämtlich genauer und quellengesättigter diskutiert und breiter eingebettet werden müssten. Erstens stand Coca-Cola während der NS-Zeit unter beträchtlichem ideologischem Druck. Die antikapitalistischen und antiamerikanischen Kräfte in der NSDAP fanden nach der Machtkonsolidierung weiterhin Gefallen an Denunziationen in der Tradition des Amerikanisierungsdebatten der späten Weimarer Republik. Auch in Essen hieß es 1933: „Die Firma Coca-Cola behauptet immer, daß sie ganz und gar deutsch sei. Die Kundenwerbung, die sie losläßt, ist aber bestimmt amerikanisch!“ (Essener Anzeiger 1933, Nr. 319 v. 24. Dezember, 11) Gravierender waren die 1935 aufkommenden Denunziationen in der wöchentlich erscheinenden antisemitischen Zeitung „Der Stürmer“. Über Stürmerkästen in einer wachsenden Zahl deutscher Städte prangerhaft präsentiert, hatte die 1935 in einer Auflage von fast einer halben Millionen Exemplare gedruckte Zeitschrift Coca-Cola als eine „jüdisch-amerikanische“ Firma gebrandmarkt. Dagegen wurde lokal protestiert, wurde lokal das „Deutschtum“ der Firma und ihrer Konzessionäre betont. Dabei vermeldete man, dass es innerhalb der Firmen „keinerlei jüdischen Einfluß“ gäbe. Zugleich umgarnte man die Denunziatoren, schaltete man doch in der Folge Anzeigen im Stürmer. All das führte wiederum zu kritischen Rückfragen in den USA: Der Aufbau, eine deutsch-jüdische Exilzeitschrift, betonte angesichts dieser relativen Liaison: „Unsere Leser werden daraus die nötige Konsequenz ziehen“ (Zur Beachtung!, Aufbau 1935, Nr. 10 v. 1. September, 5). Das erfolgte 1935, also vor den in der Literatur vielfach erwähnten Denunziationen des Kölner Afri-Cola-Produzenten Karl Flach (1905-1997). Coca-Cola-Konzessionäre erwirkten insbesondere 1936 mehrere einstweilige Verfügungen, die gegen Haftstrafen Behauptungen untersagten, „das Coca-Cola-Getränke sei ein jüdisches Erzeugnis“ (Der Führer 1936, Nr. 261 v. 20. September, 8; Badische Presse 1936, Nr. 225 v. 19. September, 15).

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Ein deutsches Unternehmen ohne jeglichen jüdischen Einfluss: Stellungnahme und Beschwichtigungswerbung (National-Zeitung 1935, Nr. 108 v. 8. Mai, 12 (l.); Der Stürmer 13, 1935, Nr. 28, 11)

Zweitens – und dies müsste gewiss weiter aufgefächert werden – führten diese vor Gericht fast durchweg erfolgreichen Abwehrerfolge gleichwohl zu einer tendenziellen Überkompensation. Selbstbehauptung ging einher mit einer bewusst regimetreuen Außenkommunikation. Coca-Cola bezeichnete sich vielfach als ein „rein arisches Unternehmer“ (gleich doppelt etwa in Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 439 v. 22. September, 3), ließ damit wohlwollende Akzeptanz der antijüdischen Politik des NS-Regimes erkennen. Entsprechend finden sich in den führenden NSDAP-Zeitschriften – etwa dem „Illustriertem Beobachter“ oder dem „Völkischen Beobachter“ – Werbeanzeigen von und für Coca-Cola. Auch die Aufrüstung bot Marktchancen, die Anzeigen in der Zeitschrift „Die Wehrmacht“ belegen dies.

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„Rein arisches Unternehmen“: Coca-Cola als Unterstützer der NS-Judenpolitik (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 439 v. 22. September, 7)

Drittens unterstützte Coca-Cola die für die Akzeptanz des NS-Regimes recht wichtigen sportlichen Großereignisse: „In Berlin wurden bei den Olympischen Spielen Unmengen Coca-Cola getrunken, bei den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen gab es einen Rekordumsatz, auf dem Nürburgring, bei den Schmeling-Kämpfen“ (Der Führer 1939, Nr. 193 v. 15. Juli, 14). Insbesondere die beiden Olympiaden waren für die Coca-Cola GmbH entscheidende Wegmarken für die Akzeptanz der Marke im Deutschen Reich und für die Entwicklung hin zur wichtigsten europäischen Auslandsdependance des amerikanischen Mutterunternehmens. Die nun wieder einsetzenden Werbekampagnen nutzten dies, gingen mit der Sportpolitik des Regimes Hand in Hand. Dies fand zunehmend bei Kindern und Jugendlichen Widerhall. Eine 1939 durchgeführte Befragung Braunschweiger Jugendlicher ergab, dass die große Mehrzahl Selterswasser, Brause und Sprudel an die Spitze der ihnen bekannten antialkoholischen Getränke stellte, doch mehr als ein Viertel nannte Coca-Cola, mehr Nennungen als Limonade, Apfelsaft, Milch und Traubensaft (W[alter] Hermannsen, Erzieher und Erzieherinnen! Ein Wort an Euch!, in: Ders. und Heinz Lübke, Erzieher, Erzieherinnen, ein Wort an Euch!, Berlin-Dahlem 1940, 3-19, hier 14).

25_Essener Anzeiger_1936_07_10_Nr188_p11_Essener Volks-Zeitung_1936_07_03_Nr181_p11_Getraenke_Coca-Cola_Sport_Huerdenlauf_Wasserball

Arbeit, Pause, Arbeit – nicht nur in der Welt des Sports (Essener Anzeiger 1936, Nr. 188 v. 10. Juli, 11 (l.); Essener Volks-Zeitung 1936, Nr. 181 v. 3. Juli, 11)

Viertens konnte sich Coca-Cola ab 1936 langsam von dem zuvor dominanten Geschäft mit Gaststätten und dem Außer-Haus-Konsum emanzipieren. Bis daher zierten die meisten Anzeigen Verweise wie: „In Gaststätten und Cafés erhältlich“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 306 v. 3. Juli, 14; ebd., Nr. 330 v. 17. Juli, 14). Die Werbung verwies nun immer stärker auf „Eisgekühltes Coca-Cola“, „immer eisgekühlt“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 354 v. 31. Juli, 8; ebd., Nr. 404 v. 29. August, 8; Der Führer 1937, Nr. 255 v. 16. September, 7). Wachsende Bedeutung gewann zudem eines von Hitlers Lieblingsadjektiven, war Coca-Cola doch „stets eiskalt resp. „Immer eiskalt!“ (Riesaer Tageblatt 1937, Nr. 104 v. 7. Mai, 4; Essener Anzeiger 1939, Nr. 197 v. 22. Juli, 10). Ab 1938 finden sich jedoch zunehmend Hinweise auf die „bekannten Schilder“ für das Erfrischungsgetränk (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1820). Sie verwiesen immer häufiger auf Einzelhandelsgeschäfte: 1937 übertraf der Flaschenabsatz im Einzelhandel erstmals den in der Gastronomie (Schutts, 2005, 6). Dies war Folge einer wachsenden Zahl von Kühlanlagen insbesondere in Filialbetrieben, teils Vorläufer der im Rahmen des Vierjahresplanes vorangetriebenen Tiefkühlkost. Es war aber auch Folge staatlich erzwungener Preisreduktionen: 1938 wurden Höchstpreise für Coca-Cola eingeführt. Der Einstandspreis pro Flasche lag seither bei 15 Pfennig – eine Halbierung gegenüber den 1929 ursprünglich geforderten Preisen, die sich anschließend weiter reduziert hatten (Anordnung über die Festsetzung von Höchst-Preisen für Coca-Cola, Der Führer 1938, Nr. 173 v. 26. Juni, 5). Eingehalten wurden sie vielfach jedoch nicht (Oberbergischer Bote 1940, Nr. 206 v. 31. August, 7). Trotz des beträchtlich gestiegenen Absatzes – 1939 wurden erstmals mehr als eine Million Flaschen Coca-Cola im Deutschen Reich abgesetzt (Schutts, 2005, 6) – darf man die Resultate jedoch nicht überschätzen. Coca-Cola war vor Kriegsbeginn das erfolgreichste nichtalkoholische Markenprodukt im Deutschen Reich; doch es hatte nur einen Marktanteil von 15% in diesem weiter von Mineralwasser dominierten Segment erobert können (Schutts, 2003, 125).

26_Bochumer Anzeiger_1938_08_13_Nr188_p25_Badische Presse_1936_07_20_Nr167_p12_Filialbetrieb_Lebensmittel_Getraenke_Erfrischungsgetraenke_Coca-Cola_Hill_Pfannkuch_Rabatt

Grundlage steigenden Konsums: Kühltechnik erlaubt die Verbreitung in Filialbetrieben (Bochumer Anzeiger 1938, Nr. 188 v. 13. August, 25 (l.); Badische Presse 1936, Nr. 167 v. 20. Juli, 12)

Fünftens blieb Coca-Cola während der NS-Zeit trotz aller Erfolge umstritten. 1939/40 dominierten die Kritik allerdings schon zuvor artikulierte gesundheitliche Argumente gegen das koffeinhaltige „Genußgift“ (Coca-Cola und Jugendliche, Zahnärztliche Mitteilungen 30, 1939, 834). Schon während der Olympiade hatte man für einschlägige Getränke eine Kennzeichnungspflicht – koffeinhaltig – eingeführt (Anordnung des Werberates der Deutschen Wirtschaft über die Kennzeichnungspflicht koffeinhaltiger Erfischungsgetränke [sic!]. Vom 17. Juli 1936, Reichs-Gesundheitsblatt 11, 1936, 684). 1938 wurde sie reichsweit verpflichtend (vgl. Essener Anzeiger 1939, Nr. 197 v. 22. Juli, 10). Die Coca-Cola GmbH halbierte parallel den durchschnittlichen Koffeingehalt des Getränkes, ohne dadurch aber Verbotsforderungen für Jugendliche unterbinden zu können (Constant Griebel, Der Koffeingehalt von „Coca-Cola“, Die Ernährung 5, 1940, 260-262; Wiener Pharmazeutische Wochenschrift 73, 1940, 117; Kurt Oxenius, Gegen Koffeinmißbrauch Jugendlicher, Münchener Medizinische Wochenschrift 86, 1939, 1586-1587). Die NS-Gesundheitsaktivisten nahmen für sich in Anspruch, dass der Konsum nach Kriegsbeginn aufgrund einschlägiger Propaganda „erheblich“ zurückgegangen sei ([Hanns] D[erstro]ff, Ein neues kohlensäurehaltiges Fruchtsaft-Milch-Mischgetränk und seine Beurteilung, Zahnärztliche Mitteilungen 33, 1942, 155-156, hier 155), doch das dürfte ein unbegründetes Selbstlob gewesen sein. Den Coca-Cola-Produzenten machten vielmehr erst abnehmende Zuckerkontingente zu schaffen, dann auch wachsende Probleme, das Konzentrat zu importieren. Coca-Cola wurde jedoch bis Oktober 1942 aktiv beworben (Hamburger Tageblatt 1942, Nr. 279 v. 10. Oktober, 8). An seine Stelle trat seit 1941 die in Essen entwickelte Kriegslimonade Fanta, die bis Anfang 1945 erfolgreich angeboten wurde (Werben und Verkaufen 25, 1941, 237; Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 322).

27_Illustrierter Beobachter_13_1938_p1429_Getraenke_Coca-Cola_Verpackung_Erfrischungsgetraenke_Weltruf_Glasflasche

Pausengetränk der Volksgemeinschaft: Beispiel für die regelmäßige Coca-Cola-Werbung in der führenden NSDAP-Illustrierten (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1429)

Seit 1929 hatte sich Coca-Cola als Pausengetränk der Volksgemeinschaft etabliert, hatten die „Pioniere“ Lernfähigkeit, Selbstbehauptungswillen und Systemnähe demonstriert. Ab 1949 sollten diese Eigenschaften zu neuen, zuvor undenkbaren Absatzrekorden führen – und sich das Getränk zu einem Symbol des Wiederaufbaus und der westdeutschen Demokratie wandeln.

Uwe Spiekermann, 11. September 2023

Fortschrittlicher Ersatzkaffee? Zur Geschichte von Quieta

Fast zweihundert Jahre war Ersatzkaffee das mit Abstand wichtigste Heißgetränk in deutschen Landen. Noch vor achtzig Jahren stand er für die Hälfte des hiesigen Getränkekonsums – während heutzutage die jährlichen Prokopfausgaben bei ganzen 42 Cent liegen und die laufenden Wirtschaftsrechnungen keine Mengenangaben mehr enthalten (Wirtschaftsrechnungen 2018, o.O. 2021 (Fachserie 15, H. 3), 18). Ersatzkaffee ist damit das Lebensmittel mit den größten Veränderungen in der Ernährungsgeschichte der Neuzeit.

Gewiss, so der gängige Einwand, das war doch ein Fortschritt, ist Ausdruck unseres Wohllebens. „Wir“ trinken heutzutage knapp fünf Kilogramm Kaffee pro Kopf: 2022 bezifferte der Deutsche Kaffeeverband den jährlichen Konsum auf ca. 167 Liter – „echten“ Kaffee wohlgemerkt. Ersatzkaffee entstand im 18. Jahrhundert eben als Surrogat eines teuren kolonialen Genussmittels, blieb ein billiges Substitut, konnte sich nur so behaupten und durchsetzen. Die Sprache unterstrich dies. Kaffee – Bohnenkaffee – blieb stets Referenzprodukt: Man kochte sich im 19. Jahrhundert auch dann einen Kaffee, wenn es sich um Zichorien- oder aber Malzkaffee handelte (Heinrich Trillich, Ueber Ersetzen, Ersatz, Ersatzmittel und Einschlägiges, Zeitschrift für öffentliche Chemie 24, 1918, 191-194, hier 192). Offen bleibt dabei jedoch die Frage, warum sich der Ersatzkaffee eben nicht hat behaupten können; anders als etwa die Kunstbutter Margarine, die wir trotz billiger und allseits verfügbarer Butter weiterhin als preiswertes, gar gesundes Streich- und Backfett nutzen, mögen die Rohstoffe dafür auch aus aller Welt beschafft werden müssen. Eine mögliche Antwort darauf findet man vielleicht in der Art, wie die neuen Kaffeeprodukte werblich präsentiert wurden. Margarine wurde seit der Jahrhundertwende ein neuartiges Produkt, mutierte vom animalischen zum pflanzlichen Fett. Sie galt nicht länger als Billigfett, sondern als modern und verlässlich, eine hygienische und standardisierte Industrieware für alle. Just das traf – zur gleichen Zeit – aber auch für Ersatzkaffee zu (Nicolai, Der Kaffee und seine Ersatzmittel. Hygienische Studie, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 33, 1901, 294-346, 502-538: Erwin Franke, Kaffee, Kaffeekonserven und Kaffeesurrogate, Wien und Leipzig 1907).

01_Dresdner Nachrichten_1906_03_25_Nr025_p18_Wiesbadener Tageblatt_1912_07_01_Nr301_p10_Ersatzkaffee_Malzkaffee_Kathreiner_Kornfranck

Marktführer im Wachstumsmarkt: Kathreiners Kneipp-Malzkaffee und Francks Kornfranck (Dresdner Nachrichten 1906, Nr. 82 v. 25. März, Frühausgabe, 18 (l.); Wiesbadener Tageblatt 1912, Nr. 301 v. 1. Juli, 10)

Seit den 1890er Jahren hatte sich der Markt deutlich verändert: Malzkaffee war ein ambitioniertes chemisch-technisches Produkt, mochte es auch als ländlich und natürlich beworben werden. Kathreiners Malzkaffee wurde nicht nur rasch Marktführer im neuen Segment, sondern war Endprodukt patentierter Verfahrenstechnik, war standardisiert, verpackt und wurde ästhetisch beworben. Ersatzkaffee war damals ein modernes Produkt – im Gegensatz zu dem vielfach noch lose ausgewogenem und anonym verkauften Bohnenkaffee. Zunehmend dominierten mittlere und große Markenartikelanbieter, neben Kathreiner etwa Ernst Seelig (Heilbronn) und vor allem der wichtigste Zichorienkaffeeproduzent Heinrich Franck Söhne (Ludwigsburg). Letzterer beschäftigte, auch aufgrund von Übernahmen, 1913 ca. 3.450 Personen, 1928 dann 4.130 (Hans Kalscheuer, Technologischer Fortschritt und die Entwicklung der Märkte am Beispiel der Franck Produkte, in: »Die Hauptstadt der Cichoria«. Ludwigsburg und die Kaffeemittel-Firma Franck, Ludwigsburg s.a., 63-73, hier 72). Ersatzkaffee stand für eine breite und zugleich wachsende Palette unterschiedlicher Geschmacknuancen: Das galt für Kaffeezusätze („Kaffeegewürze“) von Weber (Radebeul) oder Pfeiffer & Diller (Horchheim), auch für den vornehmlich in Österreich-Ungarn konsumierten Feigenkaffee von Imperial, Titze oder Andreas Hofer. Parallel gewannen Handelsmarken langsam an Bedeutung, etwa Malzkaffee der Massenfilialisten Kaisers Kaffeegeschäft (Viersen), Emil Tengelmann (Mülheim a.d. Ruhr), dann auch der GEG, der Hamburger Zentrale der sozialdemokratischen Konsumgenossenschaften.

Ersatzkaffee war ein urbanes, zunehmend in Mittel- und Großbetrieben produziertes Konsumgut. Hinter dem Dachbegriff verbargen sich zudem immer neue Mischungen. Das galt für Kornkaffees, die aus geröstetem Roggen, Weizen und Gerste bestanden. Ähnlich wie Margarine, die Container für eine wachsende Palette von Pflanzenfetten wurde, stand Ersatzkaffee um die Jahrhundertwende nicht mehr länger für Pures, Eindimensionales, für Zichorien- oder Malzkaffee: Tradierte Inhaltsstoffe wie Eicheln oder Erbsen verloren zwar an Bedeutung, exotische, etwa Sojabohnen oder Mandeln, kamen aber verstärkt auf. Neue Kenntnisse über Aromastoffe und Röstprozesse ermöglichten geschmackliche Verbesserungen und Nuancierungen. Für die wachsende Zahl der Anbieter stellte Ersatzkaffee eben kein Ersatzprodukt her, sondern eine Ware eigenen Rechts. Sie war zeitgemäß, gesünder und preiswerter als Bohnenkaffee. Sie war eine überlegene Offerte. Ersatzkaffee, so die Hoffnung, stand für eine Umgestaltung der täglichen Kost, international, doch auf vorrangig deutscher Rohstoffgrundlage. Auch der Rübenzucker hatte den Rohrzucker verdrängt.

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Heißgetränke als Handelsmarken (Volksstimme 1904, Nr. 198 v. 24. August, 6 (l.); General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1897, Nr. 143 v. 25. Mai, 1)

Dies schlug sich auch in der damaligen Sprache nieder: Bezeichnungen wie Kaffeesurrogate traten zurück, zugleich fächerte sich das Feld weiter aus. Einerseits traten „Ersatz“-Komposita hervor. Das war nicht allein defensiv angesichts des langsam wachsenden Konsums von Bohnenkaffee. Ersatz stand auch für eine neue Anspruchshaltung, für Kaffeeersatz als wirklichen, ja besseren Ersatz für Bohnenkaffee. Anderseits etablieren sich seither vermehrt umschreibende Bezeichnungen: Kaffeemittel war ein eher technisch-analytischer Begriff, während im Markt von Malzkaffee oder Kornkaffee gesprochen wurde. Andere, etwa „Gesundheitskaffee“, verloren an Bedeutung, so wie ehedem der „Bauernkaffee“. Diese untergründige Vielfalt ging einher mit verstärkter Regulierung bzw. einer genaueren begrifflichen Definition der einzelnen Angebote (Beschlüsse der bayrischen Chemiker über die Kaffeesorten und Kaffeesurrogate des Handels, Zeitschrift für Nahrungsmittel-Untersuchungen, Hygiene und Waarenkunde 9, 1895, 385-286). Der Sprachwandel unterstrich die wachsende Eigenständigkeit der Branche, ihre Abkehr von tradierten Formen der Billigsurrogatproduktion. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden schließlich jährlich rund 200 Liter Ersatzkaffee pro Kopf getrunken – und zwar aus sehr unterschiedlichen Rohstoffen. 1912 dominierten Gerste (100.000 t), Zichorien (60.000 t) und Roggen (23.000 t), doch auch Zuckerstoffe (3.000 t), Feigen (1.700 t) und Eicheln (1.500 t) waren Teil der Gesamtproduktion von 193.000 t (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 36).

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Ein neues Produkt in einem dynamischen Markt: Kaffee HAG (Das Blatt der Hausfrau 18, 1907/08, 1230)

Hinzu kamen neue Produkte, mit denen die tradierten Vorstellungen vom Kaffee aufgebrochen wurden. Das galt etwa für Kaffee HAG, einem seit 1906 produzierten koffeinarmen Gesundheitsprodukt, das sich in den Folgejahrzehnten weltweit durchsetzen sollte. Das galt scheinbar auch für die neuen von der Lebensreform getragenen Nährsalzpräparate. Quieta war anfangs deren wichtigster Exponent – und auch hier dürfte die Hoffnung bestanden haben, einen Markenartikel mit nationaler Strahlkraft zu etablieren.

Die Vermarktung der Lebensreform: Quieta als Functional Food

Als im Februar 1913 die ersten Anzeigen „Quieta“ bewarben, bewarben sie eben nicht einen weiteren ordinären Kaffeeersatz. Im Mittelpunkt standen vielmehr ein neuartiger Nährsalzkaffee, ferner ein aus Kakao, Bananen und Nährsalzen bestehender Krafttrunk, zudem ein Malzpräparat. Letzteres wurde über Reformhäuser, Apotheken und Drogerien vertrieben, erstere auch über den gängigen Kolonialwarenhandel. Quieta war ein Nahrungsmittel, doch vermarktet wurde es anfangs als Gesundheitsprodukt, als Functional Food.

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Quieta, ein Jungbrunnen für Körper und Geist (Badische Presse 1913, Nr. 87 v. 21. Februar, 6)

Der Begriff „Nährsalz“ war vor dem Ersten Weltkrieg ein teils gekaperter Begriff, Kennzeichen für eine stärker pflanzliche und gesunde Reformkost. Eingeführt hatten ihn in den 1860er Jahren führende Vertreter der organischen Chemie, die ihr neues Stoffwechselmodell des Lebens eben nicht auf die Nährstoffgruppen Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate begrenzten. Nährsalze waren für sie die anfangs auch Asche genannten Mineralstoffe. Sie galten als anorganische Bau- und Hilfsstoffe der Körpermaschine (etwa Justus v. Liebig, Ueber den Ernährungswerth der Speisen, in: Ders., Reden und Abhandlungen, Leipzig und Heidelberg 1874, 115-147; [Carl v.] Voit, Ueber die Unterschiede der animalischen und vegetabilischen Nahrung, die Bedeutung der Nährsalze und der Genussmittel, München 1869, insb. 498-499). Populär wurde der Begriff „Nährsalze“ jedoch durch die Übernahme und Verdichtung in frühe Reformwaren: Heinrich Lahmann (1860-1905), Julius Hensel (1833-1903) und Friedrich Eduard Bilz (1842-1922) sprachen von der Entlaugung der Böden durch die moderne Agrikultur und der Entwertung der Lebensmittel durch industrielle Verarbeitung. Makroelemente wie Eisen, Kalk und Phosphor seien entscheidende Bausteine eines gesunden Lebens. Der Mensch erhielt sie durch neuartige Produkte, so konnte eine neue natürliche Balance geschaffen werden. Zahlreiche fortifizierte „Präparate“ fanden eine zahlungskräftige bürgerliche Kundschaft, etwa bei Säuglingsnahrung, Kakao und Kräftigungsmitteln. Kaffee, pardon, Kaffeeersatz folgte als Nährsalzkaffee kurz nach der Jahrhundertwende. Anfangs meist dezentral in Apotheken, Drogerien oder Reformhäusern angefertigt, nahm die Zahl standardisierter Markenangebote langsam zu. Zeitgenossen kannten Dr. Pragers, Schmidts oder aber Felkes Nährsalzkaffee. Parallel aber sprach die öffentliche Gesundheitsaufklärung weiterhin von „Nährsalzen“, verstand darunter aber wie zuvor die auch „Mineralsalze“ genannten Mineralstoffe (C[arl] Virchow, Die Bedeutung der Nährsalze, Die Gesundheit in Wort und Bild 5, 1908, 246-249). Ihre Vertreter wetterten zugleich gegen den überbürdenden Wunderglauben und die missbräuchliche kommerzielle Anwendung der wohl lebensnotwendigen, damals aber erst ansatzweise analysierten Stoffgruppe. 1918 wurde der Begriff „Nährsalze“ schließlich offiziell als irreführend eingestuft und verschwand anschließend aus dem Massenmarkt (Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 16, 1918, 40).

05_Velberter Anzeiger_1904_08_19_Nr194_p4_Rhein- und Ruhrzeitung_1905_09_30_Nr230, 4_Reformwaren_Naehrsalzkaffee_Ersatzkaffee_Dr-Prager_Aug-Schmidt_Naehrsalze

Werbung für frühe Nährsalzkaffees (Velberter Anzeiger 1904, Nr. 194 v. 19. August, 4 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1905, Nr. 230 v. 30. September, 4)

„Quieta“ war eine Dachmarke, der so bezeichnete Ersatzkaffee Bestandteil eines Angebotes, dessen Konsum für alle Familienmitglieder heilsame Wirkungen besitzen sollte. Dieser Ansatz war weder neu, noch originell, eine typische Drogistenphantasie der Vorkriegszeit. Dutzende von Kräftigungsmitteln wurden zeitgleich mit ähnlichen Botschaften beworben. Für einen Eindruck reicht der gängige Klang der kleinen redaktionellen Textbeiträge der Quieta: Darin fand sich zum einen die für die Vorkriegszeit übliche Zivilisationskritik (sie sollte angesichts des sinnlosen Verreckens an den Fronten in den Folgejahren bald weniger fanfarenhaft tönen): Laster, vor allem aber „eine verkehrte Lebensweise vieler, ja der meisten Menschen“ seien lebensverkürzend. Zu wenig Schlaf, überbürdender Genussmittel- und vor allem Kaffeekonsum führten nicht nur bei Kindern zur „Entartung des Herzens“. Quieta-Kaffee-Ersatz könne dem einen Riegel vorschieben, bewirkten die darin enthaltenen Nährsalze doch „wahre Wunder“. Zudem schmecke er selbst dem Feinschmecker, sowohl pur als auch als schadenwendender Zusatz zum Bohnenkaffee (Zitate n. Was verkürzt unser Leben?, Der Volksfreund 1913, Nr. 217 v. 17. September, 2). Doch Quieta-Präparate sollten nicht nur die Gesundheit stärken, sondern zugleich den Menschen verjüngen und verschönern. Nährsalze würden die „Bildung von frischem gesundem Blut“ fördern: „Schwächliche Kinder blühen auf, Blutarme werden rotwangig, Magere erzielen gefällige Formen, Nervöse und Neurastheniker gesunden in kürzester Zeit.“ Quieta-Malz bewirke gar mehr: „Es gibt blühendes, gesundes Aussehen, kräftig intensiv und macht leistungsfähiger“ (Zitate n. „Sie sehen glänzend aus!“, Der Volksfreund 1913, Nr. 197 v. 25. August, 7). Quieta stand mit derartigen Wirkversprechen in einer langen Reihe zeitgenössischer Geheimmittel, Lifestylepräparate und Performance Food, etwa von Biomalz, Kola Dallmann oder auch Vollkornbrot. Gesunder Menschenverstand und suggestives Großsprechertum waren innig verbunden, markierten den Fortschrittsglauben dieser Zeit.

Redaktionelle Texte dieser Art waren lediglich Ergänzungen einer dominierenden Anzeigenwerbung mit eingängigen und einladenden Bildern. Das entsprach dem allgemeinen Wandel der Drucktechnik seit den späten 19. Jahrhundert. Die Werbung für die Quieta-Präparate war zugleich ansprechend und konventionell. Vor dem Ersten Weltkrieg lassen sich vier unterschiedliche Kampagnen unterscheiden, die eine stets ähnliche Werbebotschaft in veränderten Formen an die zu gewinnenden und zu verstetigenden Käufer brachten. Dies entsprach nicht nur dem seit Mitte der 1900er Jahre zunehmend unverzichtbaren Zwang zum Motivwandel. Dies verdeutlichte auch, dass sich die Quieta-Werke noch auf der Suche nach einer einheitlichen Formsprache befanden. Es gab weder einen durchweg beauftragten Werbegraphiker (wie etwa Henry van der Velde 1897/98 beim Eiweißpräparat Tropon) oder eine unternehmensinterne Werbeabteilung (wie etwa beim Mundwasser Odol seit der Jahrhundertwende). Die unterschiedlichen Motive spiegelten demnach ein Unternehmen und ein Dachmarke auf der Suche nach Kontur.

06_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1913_04_08_Nr8247_p3_Fliegende Blaetter_140_1914_Nr3577_Beibl5_p7_Ersatzkaffee_Malzextrakt_Naehrsalze_Quieta_Krafttrunk_Functional-Food_Bad-Duerkheim

Bilder mit Botschaft und Bezugsquellen (Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1913, Nr. 8247 v. 8. April, 3 (l.); Fliegende Blätter 140, 1914, Nr. 3577, Beibl. 5, 7)

Erstens finden sich von Beginn an einfache, regelmäßig wiederholte Bildanzeigen. Sie enthielten bereits Slogans, allerdings recht austauschbare. Beschworen wurde der Zusatznutzen der Quieta-Nährpräparate: Gesundheit und Schönheit als Folge des Kaufs relativ hochpreisiger Artikel. Adressanten waren bürgerliche Kunden. Der Schwerpunkt lag auf Zeitungsannoncen, wenngleich auch in reichsweit gelesenen Illustrierten und Karikaturzeitschriften inseriert wurde. Regional konzentrierten sich die Anzeigen auf den badischen, hessischen und rheinisch-westfälischen Raum.

07_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1913_11_28_Nr8476_p05_Naehrmittel_Quieta_Kraeftigungsmittel_Malzextrakt_Krafttrunk_Kinder

Elterliche Sorge und positive Eugenik (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1913, Nr. 8476 v. 28. November, 5)

Die Einzelbildanzeigen zielten unmittelbar auf Leser und potenzielle Käufer. Seit Oktober 1913 wurden sie durch Doppelbilder ergänzt, temporär auch ersetzt. Einfache Gegensatzpaare dominierten, etwa Vorher und Nachher, Jung und Alt, Mann und Frau (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1913, Nr. 8466 v. 20. November, 8; ebd., Nr. 8436 v. 17. Oktober, 12; Volksmund 1913, Nr. 84 v. 22. Oktober, 4). Damit wurden im Leben stehende und Sorge für ihre Familie tragende Konsumenten angesprochen, wurde an die individuelle Verantwortung für sich selbst und seine Lieben erinnert. Fürsorgehandeln mutierte zu Kaufhandlungen. Charakteristisch waren ferner die selten fehlenden Hinweise auf die Verkaufsstätten. Drogerien dominierten eindeutig, doch Kolonialwarenhandlungen gewannen rasch an Bedeutung. Der die Quieta leitende Alfred Kasper knüpfte also an die ihm von seinem Drogeriegeschäft bekannten Vertriebsstrukturen über den Großhandel an, erschloss aber zunehmend neue Absatzkanäle für Krafttrunk und Kaffee-Ersatz.

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Experten raten, Käufer sollen folgen (Badische Presse 1913, Nr. 568 v. 5. Dezember, 14)

Gegen Jahresende 1913 folgten neue Motive: Das Querformat wurde beibehalten, die Bildelemente zurückgefahren, zugleich die Ware altbekannt beworben. An die Stelle der Alltagswelt des Konsumenten trat die Autorität des ärztlichen Experten. Sie fächerten die Gesundheitsversprechen auf, die zugleich aber allgemein genug gehalten waren, um breite Kreise zu adressieren: Nervosität, Schlafprobleme, Verdauungsbeschwerden und Blutarmut wurden angesprochen, Quieta-Präparate als Hilfe und Lösung anempfohlen. Am Ende dieser Kampagne stand schließlich eine Frontalansicht des zuvor nur seitlich gezeigten Experten, verbunden mit der Einsicht: „Sie haben keine Wahl“ (Honnefer Volkszeitung 1914, Nr. 16 v. 21. Januar, 4). Die Sorge für sich selbst und seine Lieben wandelte sich in die Verpflichtung zum Kauf der Produkte.

09_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1913_12_12_Nr8489_p07_Ersatzkaffee_Naehrmittel_Krattrank_Quieta_Zaubertrank_Zauberer

Wunderglaube Seit an Seit mit ärztlichen Empfehlungen (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1913, Nr. 8489 v. 12. Dezember)

Die Ansätze einer klaren Kampagnenführung zerfransten jedoch angesichts einer wachsenden Motivfülle. Schon die Doppelbilder umgriffen nicht nur Alltagssituation und Familienmitglieder, sondern boten heterogen gezeichnete Ehepaare, hochherrschaftliche Diener, aber auch Zauberer (Mittelbadischer Courier 1913, Nr. 244 v. 21. Oktober, 4; Badische Neueste Nachrichten 1913, Nr. 315 v. 11. Juli, 13). Sie verwiesen aufeinander und auf die Produkte, enthielten zugleich appellativ gedoppelte Aussagen wie „Sie schlafen ruhig“, „Mütter können stillen“, „Das Herz bleibt gesund“ oder „Schwächlinge blühen auf“. Dieses Wechselspiel entsprach dem werblichen Modezwang kaleidoskopartiger Motivwechsel. Entsprechend wurde der Experte teils durch andere Personen ersetzt, oben durch einen Zauberer, doch ebenso durch einen Diener, eine bürgerliche Frau, die Dame am Jungbrunnen, auch einen antikisierenden Meisterschaftsgeher (Mittelbadischer Courier 1913, Nr. 226 v. 30. September, 4; Badische Presse 1913, Nr. 283 v. 21. Juli, 6; Aachener Anzeiger 1913, Nr. 255 v. 30. Oktober, 1; Volksmund 1913, Nr. 98 v. 10. Dezember, 4).

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Familienidyll in den ersten eingetragenen Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1914, Nr. 96 v. 24. April, 17 (l.); ebd., Nr. 241 v. 13. Oktober, 13)

Eine stärkere Markenführung baute dem 1914 vor – und für den katholischen Familienmenschen Kasper spielte die imaginierte Durchschnittsfamilie dabei eine zentrale Rolle. Erste Warenzeichen wurden mit diesem Motiv verbunden, als Rahmen zudem das verbindende Q rechtlich gesichert. Die Familienmitglieder waren Rollenträger, bündelten zugleich Altersbeschwerden, Schönheitsfragen und Erziehungsaufgaben.

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Fokus auf nurmehr ein Produkt (Badische Presse 1914, Nr. 201 v. 1. Mai, 7)

Dies erlaubte unterschiedliche Perspektiven trotz einheitlicher Motivwahl. Zugleich emanzipierte sich die Quieta-Werbung von ihrem Fokus auf die gesamte Präparatepalette. Nunmehr stand jeweils ein Produkt im Mittelpunkt, nicht mehr mehrere. Obige Anzeige zeigt den damit verbundenen Wandel im Angebot: Nährsalze traten zurück, neue Gemische mit Bohnenkaffee traten in den Vordergrund: Quieta Gelbsiegel enthielt 25% Bohnenkaffee, Rotsiegel 10%, Grünsiegel dagegen keinen. Anfang 1913 hatte Quieta mit einer fortifizierten Nährsalzmischung von Gerste, Roggen und Feigen begonnen, nun wurde auch der zuvor so eifrig bekämpfte Bohnenkaffee hinzugefügt. Das verbesserte den Geschmack, führte zugleich zu einer preislichen Abstufung des Angebotes. Dies sollte sich als ein Erfolgsrezept herausstellen – und besiegelte zugleich den Bruch mit der einseitigen Fokussierung auf ein Nischenprodukt wie Nährsalzkaffee.

Die Werbepalette der Quieta umfasste vor dem Ersten Weltkrieg mehr als die hier vorgestellten vier Kampagnen. Das galt nicht allein für weitere Motive, etwa handschriftlich gehaltene Anzeigen (Mittelbadischer Courier 1914, Nr. 144 v. 25. Juni, 4; Badische Presse 1914, Nr. 318 v. 13. Juli, 8). Dies galt insbesondere für den Direktabsatz vor Ort. Wie schon zuvor Suppenpräparate, Konservierungsgeräte oder Kochkisten wurden auch Quieta-Präparate vor Ort präsentiert – mit einem „wissenschaftlichen“ Vortrag – und dann gemeinsam verkostet. Derartige Verkaufsveranstaltungen nutzte die Firma zugleich, um anschließend darüber sachlich-preisend zu berichten (Badische Presse 1914, Nr. 243 v. 27. Mai, 19; Der Volksfreund 1914, Nr. 126 v. 3. Juni, 4). Die Trennung von redaktionellem und Werbeteil wurde so perforiert, denn, oh Wunder, „die Besucher zeigten großes Interesse und waren besonders von dem vorzüglichen Geschmack des Quieta-Kaffees überrascht“ (Der Volksfreund 1914, Nr. 123 v. 19. Mai, 6). Weitere Anzeigen waren der Dank für diese PR-Artikel.

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Proben und Produktpropaganda 1914 (Mittelbadischer Courier 1914, Nr. 20 v. 30. Mai, 4)

Daneben traten die damals üblichen Werbemittel, nämlich kleine Broschüren, farbig gehaltene Werbeflugblätter, Sammelmarken, Aufsteller und Plakate für die Läden. Sie sind vereinzelt erhalten, waren zugleich markante und flüchtige Begleiter des damaligen Alltagskonsums.

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Slogan und Bild zur Kundenansprache in einem Flugblatt (Mittelbadischer Courier 1914, Nr. 80 v. 6. April, Beilage)

Nicht vergessen werden sollte schließlich, dass neben dieser Konsumentenwerbung von Beginn an auch Institutionen umworben wurden, etwa Krankenhäuser und Gefängnisse, Kasernen und Pensionen. Sie erforderten eine gesonderte, häufig sachlicher gehaltene Sprache. Die aufgrund von Rabatten niedrigeren Preise wurden durch große Bestellmengen mehr als wettgemacht.

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Seriöse Werbeansprache der Herren Ärzte (Münchener Medizinische Wochenschrift 60, 1913, Nr. 47, Anzeigen, 25)

Ein letzter Punkt: Die beträchtliche Arbeit für die Präsentation und die Vermarktung eines Produktes wird häufig unterschätzt, geht unter im Rauschen der Röstapparate, im Rascheln in der Packabteilung. Die Quieta etablierte von Beginn an eigenständige Werbung mit eigenständigen Werbefiguren. Doch die grundlegenden Ideen hatten andere Anbieter zuvor bereits entwickelt und präsentiert. Quieta griff sie auf und variierte sie. Die Firma übernahm von anderen Anbietern, die Anlehnung an Kaffee HAG war nur eines von vielen Beispielen.

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Kaffeeinnovationen und ihre Verpackungen (Über Land und Meer 103, 1910, 635 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 76 v. 30. März, 24)

Halten wir also fest, dass die Quieta-Präparate anfangs als Functional Food beworben wurden. Diese Ausrichtung hatte ihre Tücken, da die Werbeaussagen für „Geheimmittel“ einer steten öffentlichen Kritik unterworfen waren. Ihr Reiz lag allerdings in hohen Gewinnspannen, mit denen man in wenigen Jahren sein Säckel füllen könne. Zwei Elemente unterschieden die Quieta-Werke jedoch von derartiger Konkurrenz: Zum einen versuchte Alfred Kasper aus einem billigen Ersatzprodukt ein modernes Lifestyleprodukt zu machen. Nicht mehr länger die Nische, sondern der Massenmarkt war sein Ziel. Dieses Ziel scheiterte bereits im ersten Jahr, der Übergang vom Nährsalzkaffee zur Mischung von Ersatz- und Bohnenkaffee unterstrich dies. Die Quieta-Werke meisterten zweitens diese Phase, anders als viele ähnliche Unternehmen dieser Zeit. Die gescheiterten fortschrittlichen Reformpräparate setzten die Suche nach neuen fortschrittlichen Angeboten frei. Kasper war dazu in der Lage, denn bereits vor, vor allem aber nach dem Weltkrieg präsentierte er Quieta als eine wirkliche Alternative in einem den Gegensatz von Bohnen- und Ersatzkaffee pflegenden Markt. Doch bevor wir dies genauer untersuchen, sind einige Informationen zum Unternehmen und dem bereits erwähnten Unternehmer erforderlich.

Ein Drogist auf dem Weg nach oben: Alfred Kasper und Grundkonturen der frühen Firmengeschichte

Die Geschichte der Quieta-Werke war bisher keine Thema wissenschaftlicher Analyse; doch sie bildete bereits den Resonanzboden für einen Roman (Karin Tempel, Mandeljahre, München 2015): Geschichte wurden darin als Steinbruch genutzt, als Hintergrund für eine imaginierte Liebesgeschichte (Kultur Bad Dürkheim Digital 2020 | Mandeljahre – YouTube). Das mag (abseits zahlreicher sachlicher Fehler, Verkürzungen und der Fehlzeichnung einzelner Akteure) legitim sein, widerspricht jedoch dem Grundimpetus wissenschaftlicher Arbeit. Deren Lektüre mag weniger unterhaltsam sein. Doch sie hat den Charme empirisch nachvollziehbarer „Wahrheit“. Sie ist zugleich Ausdruck einer wissenschaftlichen Entdeckerfreude, die dem Roman fern liegt, da in diesem Genre Sperriges und Widerständiges stets „phantasievoll“ beiseite gewischt werden kann und wird. Romane haben ihren eigenen Wert, doch sie sind häufig nicht mehr als Ersatzmittel für den klaren, ungeschminkten Blick auf die (historische) „Realität“.

Die Geschichte der Quieta war immer auch die Geschichte des 1880 im sächsischen Hainichen geborenen [Karl] Alfred Kasper (NARA Washington, DC, Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at and Departing from Ogdenburg, New York, Microfilm Serial T715). Sein Vater Max Kasper hatte die 1895 vom Chemiker Ernst Stutzmann (1864-1927) in Dürkheim gegründete „Medizinal-Drogerie zum rothen Kreuz“ übernommen (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 51 v. 28. Februar, 14). Dürkheim, ab 1904 Bad, war eine westlich von Mannheim gelegene Mittelstadt in der Pfalz, Teil des Königreichs Bayern. Stutzmann war dagegen in Hessen, Baden und Bayern aktiv. Gut vernetzt, führte er, nicht immer erfolgreich, das Farbwerk Birkenau, die Vereinigten Farbenfabriken Weinheim, eine 1906 in Konkurs gegangene Mannheimer Handelsfirma, nach der Konsolidierung dort auch eine Seifenfabrik. Seine dann von Max Kasper übernommene Drogerie war mit einem chemischen Laboratorium verbunden (Bayerische Handelszeitung 25, 1895, 397). Nach dessen Tod ging sie im Februar 1907 an seine Frau Klara Elisabeth Kasper über (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 46 v. 19. Februar, 16). Schon im Juni trat ihr Sohn Alfred an ihre Stelle (Ebd., Nr. 143 v. 21. Juni, 12). Er hatte seine Ausbildung in Wien abgeschlossen, wo er 1902 Mitglied der dortigen Drogistenvereinigung wurde (Drogisten-Zeitung 17: 1902, 51; ebd. 22, 1907, 207).

Dem jungen Drogisten wurde Anfang 1908 das Warenzeichen „Quieta“ zugestanden, das er wahrscheinlich nutzte, um Eigenprodukte vor Ort zu entwickeln und zu verkaufen (Apotheker-Zeitung 23, 1908, 247). Der vom lateinischen „quies“ abgeleitete Begriff stand für „Ruhe“ resp. „Erholung“. Zeitgenössisch war er ein viel verwandter Bestandteil des von Otto von Bismarck (1815-1898) in seiner Friedrichsruher Ansprache vom 14. April 1891 ins politische Gedächtnis gerufene Sallust-Zitats „quieta non movere“. Etwas, was ruhig liegt nicht zu stören, es erst dann anzugehen, wenn es notwendig war – das erschien dem kurz zuvor entlassenen Reichskanzler als Grundprinzip konservativer Gesinnung. Zugleich aber war der Begriff modisch, stand in der langen, langen Reihe von Kunstworten lateinisch-griechischen Ursprungs, mit denen damals zahllose medizinische und pharmazeutische Präparate benannt wurden. Diese Spannung von Tradition und Innovation dürfte Teil der Lebensphilosophie des Katholiken Alfred Kasper gewesen sein, der den Kommerzienrat-Titel erstrebte und erhielt, dem 1922 aber auch das goldene Ehrenkreuz pro Ecclesia et Pontifice von Papst Pius XI. verliehen wurde (Sächsische Volkszeitung 1922, Nr. 251 v. 14. Dezember, 3).

Die von Kasper geleitete, in der Kurgartenstraße 1 gelegene „Medizinal-Drogerie Dr. E. Stutzmann“ ging 1922, also vor Kaspers Umzug nach Leipzig, schließlich auf seinen Schwager Kurt Opitz über (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 154 v. 22. Juli, 23). Die operative Leitung hatte schon in der Dekade zuvor in dessen und Curt Otto Fischers Händen gelegen. 1912 schied Kaspers Mutter aus der Drogerie aus, Alfred Kasper übernahm sie als alleiniger Gesellschafter (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 143 v. 21. Juni, 12). Anfang November 1912 gründete er schließlich in der Friedelsheimer Straße die „Quietawerke Alfred Kasper“ in Bad Dürkheim zwecks „Herstellung von diätetischen Nährmitteln und pharmazeutischen Präparaten“ (Deutscher Reichsanzeiger 1912, Nr. 271 v. 13. November, 13). Auch wenn in der Werbung später mehrfach auf den Eintritts Kaspers in die elterliche Drogerie im Jahre 1907 verwiesen wurde (Riesaer Tagblatt 1932, Nr. 135 v. 11. Juni,, 2), um der Firma dadurch eine weiter zurückreichende Tradition zuzuweisen, so galt innerhalb der Firma doch 1912 als der eigentliche Beginn der Nähr- und Kaffeemittelproduktion (Volksfreund 1922, Nr. 275 v. 24. November, 5; Badische Neueste Nachrichten 1949, Nr. 239 v. 3. Dezember, 11).

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Mitglieder der Familie Opitz bei der Arbeit in den Quieta-Werken Bad Dürkheim 1919. Rechts Kurt Opitz, davor seine Schwester Käthe Kasper, Gattin von Alfred Kasper (Stadtmuseum Bad Dürkheim, Foto-Sammlung Adolf Krapp, Ordner 8; Museumsgesellschaft Bad Dürkheim e.V. [CC BY-NC-SA])

Die Quieta war ein Familienunternehmen: 1914 erhielt Kaspers Gattin Käthe, geb. Opitz, Prokura sowohl für die Drogerie als auch die Quieta (Deutscher Reichsanzeiger 1914, Nr. 197 v. 22. August, 10). Dennoch unterminierten die Folgen des Ersten Weltkrieges die wirtschaftlichen Grundlagen der Bad Dürkheimer Firma. Die Pfalz wurde 1919 von französischen Truppen besetzt, der Versailler Vertrag sah eine Räumung erst im Jahre 1935 vor. Dies bedeutete Zollprobleme und Rechtsunsicherheit, zudem die Gefahr möglicher Zwangsverwaltung, galten die dortigen Unternehmen doch als produktive Pfänder zur Sicherstellung der dem Deutschen Reich auferlegten Reparationszahlungen. Noch 1924 musste die Produktion in Bad Dürkheim aufgrund fehlender Ausfuhrgenehmigungen zeitweilig eingeschränkt werden (Sächsische Volkszeitung 1924, Nr. 173 v. 27. Juli, 4). Parallel unterstützte die französische Besatzungsmacht separatistische Kräfte. Alfred Kasper, dessen Werk der größte industrielle Arbeitgeber in Bad Dürkheim war, wurde denunziert und sah sich zu öffentlichen Erklärungen genötigt.

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Loyalitätserklärung für das Deutsche Reich 1919 (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 234 v. 17. Juni, 7 (l.); Kölnische Zeitung 1919, Nr. 486 v. 13. Juni, 2)

Die betrieblichen Konsequenzen waren einschneidend. Kasper errichtete 1919 eine zweite Produktionsstätte im bayerischen Augsburg, in der Holzbachstraße 2 am dortigen Fabrikkanal. 1921 begann dann die Verlagerung des Firmensitzes nach Leipzig, wo die dritte Fabrikationsstätte 1922 in der Wittenberger Straße 5 ihren Betrieb aufnahm (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 132 v. 9. Juni, 15; ebd. Nr. 159 v. 21. Juli, 21). Auch in Altona wurde von 1923 bis 1925 eine Zweigniederlassung für den Vertrieb betrieben (Hamburger Correspondent 1923, Nr. 74 v. 14. Februar, 7; Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 14 v. 17. Januar). Eine weitere Dependance gab es zwischen 1925 und 1934 in Berlin-Charlottenburg (Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 31 v. 26. Februar, 12; ebd. 1934, Nr. 267 v. 14. November, 5). Bad Dürkheim stand nicht mehr im Mittelpunkt der Quieta-Aktivitäten, Alfred Kasper zog nach Leipzig, in die Karl-Tauchnitz-Straße 15 (Leipziger Adreß-Buch 101, 1922, 434).

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Die Belegschaft der Quieta in Bad Dürkheim 1920: Alfred Kasper in der Mitte der ersten Reihe, daneben seine Gattin Käthe, vor beiden die Söhne Fred und Helmut (Stadtmuseum Bad Dürkheim, Foto-Sammlung Adolf Krapp, Ordner 8; Museumsgesellschaft Bad Dürkheim e.V. [CC BY-NC-SA])

Weltkrieg als Wegmarke: Billiger und guter Ersatzkaffee als Ziel

Die Verlagerung des Firmensitzes war mehr als eine Folge der französischen Besatzungsherrschaft. Sie war zugleich eine Neuerfindung der Quieta-Werke, die eben nicht an die anfänglichen Ideen eines Nährsalzkaffees anknüpften, sondern sich in einen Massenproduzenten neuartigen, fortschrittlichen Ersatzkaffees wandelten. Eine Million Hausfrauen nutzten nach eigenen Angaben 1923 täglich ihre Produkte (Vorwärts 1923, Nr. 126 v. 16. März, 8). Quieta stand zwischen Bohnen- und Ersatzkaffee: „Quieta ist eigentlich nicht als Kaffeeersatz zu bezeichnen, sondern es ist gemahlener Bohnenkaffee, der mit Malzkaffeepulver verdünnt ist. Die einzelnen Sorten enthalten 10, 20 und 50 v.H. Bohnenkaffee und können auch zur Streckung von Bohnenkaffee im Haushalte empfohlen werden“ (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 62, 1921, 660). Wie schon 1914/15 besetzte Quieta eine nun allerdings breite Nische innerhalb der weiten Palette von Bohnenkaffee und Kaffeemitteln. Festzuhalten ist, dass sich die Zusammensetzung von Quieta während des Krieges, der Nachkriegszeit und wahrscheinlich auch während der Inflation wiederholt änderte. Chemiker bezeichneten Quieta Grün zu dieser Zeit als eine Mischung aus Gerste und Zichorie, ein „braunes, ungleichmäßiges Pulver“, „nach Zichorie“ riechend, geschmacklich von Zichorien dominiert, mit Nuancen von Getreide (Wilhelm Meyer, Aguma-Gerstenkaffee und andere Kaffee-Ersatzstoffe (Ein Vergleich), Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 64, 1923, 477-480, hier 479). Dem damit zubereiteten Getränk billigten sie ein „angenehmes Aroma und guten Geschmack“ zu. Auch mit süßlich anmutenden Feigenzusätzen wurde experimentiert.

Die Frage ist, warum und wie dieser Wandel erfolgte: Offenkundig geriet der Absatz der anfangs angebotenen Nährsalzpräparate rasch an seine Grenzen. Das galt geschmacklich aber auch preislich. Erste Konsequenzen hieraus wurden bereits 1914 gezogen. Alfred Kasper passte sich der Marktlage und dem Verbrauchergeschmack an – und entwickelte daraus während des Krieges eine Produktstrategie, die auch abseits seines Heimatortes Bad Dürkheim tragen konnte. Dieser Wandel wurde durch die tiefgreifenden Veränderungen der Kaffee- und Kaffeemittelversorgung während des Ersten Weltkrieges entscheidend beeinflusst.

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Verhaltene, aber doch neue Werbemotive zu Beginn des Weltkrieges (Aachener Anzeiger 1915, Nr. 94 v. 22. April, 3 (l.); ebd., Nr. 91 v. 18. April, 3)

Die Quieta hatte ihre Anzeigenwerbung schon Mitte 1914 deutlich reduziert, stellte sie Anfang des Krieges dann ein. Quieta wurde nicht als „Liebesgabe“ beworben, das geschah durch die Händler (Karlsruher Tagblatt 1915, Nr. 42 v. 11. Februar, 4). Der Anzeigenstopp endete erst 1921 – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Solche bewarben Quieta im alten Schema mit neuen Motiven und dem Quieta-Q. Produktwerbung wurde allein noch von Einzelhändlern betrieben, die anfangs den Abverkauf des verbleibenden Nährsalzkaffees, dann auch die neuen Bohnenkaffeemischungen bewarben (Pforzheimer Anzeiger 1915, Nr. 26 v. 1. Februar, 3; ebd., Nr. 82 v. 9. April, 4).

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Bemühen um Rohware 1916 (Kölnische Zeitung 1916, Nr. 894 v. 2. September, 4 (l.); ebd., Nr. 626 v. 22. Juni, 3)

Die schon in den ersten Kriegswochen offenkundigen Versorgungsprobleme veränderten die unternehmerischen Aufgaben tiefgreifend. Es bildete sich ein Verkäufermarkt, bei dem Ware auch ohne Werbung einfach und zu attraktiven Preisen abzusetzen war. Knapp wurden dagegen erst Arbeitskräfte, dann Betriebsstoffe und schließlich die Rohware. Die völkerrechtswidrige britische Seeblockade unterband einen Großteil der Kaffeeimporte, ab 1915 wurden aber auch Gerste, Roggen, Weizen und Zichorien kontingentiert. Schon 1916 waren die Vorräte praktisch erschöpft, so dass die Quieta-Werke ihre Bohnenkaffeemischungen kaum mehr produzieren konnten.

Hinzu kamen die Fährnisse der Kriegsernährungswirtschaft, darunter nicht nur die massiven Eingriffe in die Preisgestaltung. Malz- und Kornkaffee waren etablierte Produkte, daher nicht zulassungspflichtig. Die neuen Mischprodukte der Quieta mussten dagegen ein während des Krieges zur Überwachung des Wildwuchses der Ersatzmittelwirtschaft etabliertes Genehmigungsverfahren durchlaufen. Dies war in jedem Einzelstaat erforderlich. Quieta-Rot- und Gelbsiegel wurden in Bayern am 19. März 1917 zugelassen, in Sachsen Rot-, Gelb- und Grünsiegel dagegen erst am 9. Juni (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 180 v. 11. April, 6; Sächsische Staatszeitung 1917, Nr. 133 v. 12. Juni, 5). Der neu ins Sortiment aufgenommene Quieta-Tee folgte, in Baden am 8. Dezember 1917 (Karlsruher Zeitung 1917, Nr. 336 v. 9. Dezember, 4). Hinzu kamen neuartige Kennzeichnungs- und Verpackungsvorgaben durch die Verordnung über Kaffee-Ersatzmittel vom 16. November 1917 – und auch eine wachsende Konkurrenz im schmaler werdenden Markt. Obwohl die ca. 250 vor dem Krieg bestehenden Ersatzkaffeefabriken beträchtliche freie Kapazitäten hatten, nahm deren Zahl bis 1916 auf 560 zu (Fritz Bürstner, Die Kaffee-Ersatzmittel vor und während der Kriegszeit, Berlin 1918, 29). Insgesamt wuchsen die bürokratischen Lasten der Quieta. Paradox war, dass ihre Angebote erst während des Krieges den staatlichen Stempel der Ersatzmittel aufgedrückt bekamen – wodurch diese neuen Kaffeemittelangebote nun erst zu geringwertigem Ersatz sowohl für Bohnenkaffee als auch für den gängigen Ersatzkaffee der Vorkriegszeit wurden.

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Rechtssicherheit für die Ersatzkaffeepackungen: Rotsiegel als Beispiel (Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 13)

Ein weiteres Paradoxon lässt sich anfügen: Erst während des Krieges ging Alfred Kasper die zeichenrechtlichen Maßnahmen an, die erforderlich waren, um Quieta als starke Marke im Massenmarkt zu etablieren. Den Bedrückungen des Krieges zum Trotz antizipierte er 1917/18 die künftige Dachmarke Quieta, deren Konturen dann nochmals Anfang der 1920er Jahre ergänzt wurden. Drei Schritte waren dabei zu unterschieden: Erstens sicherte Kasper das Wortzeichen Quieta. Das aber nicht nur direkt, sondern insbesondere durch sog. Defensivzeichen wie etwa Guida, Kwitta, Kwieta, Quitin, Quitol, Quitur, Quitesa, Quit, Quinta, Kwieta oder Quietsch (Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 308 v. 31. Dezember, 14; ebd., Nr. 207 v. 31. August, 12 und 13; ebd., Nr. 180 v. 31. Juli, 13; ebd. 1918, Nr. 51 v. 28. Februar, 20). Konkurrenten schreckte Kasper zweitens auch durch die zuvor vor allem in der Margarineindustrie üblichen zeichenrechtliche Sicherung der einzelnen Verpackungen ab. Dies betraf die Gesamtausstattung. Drittens wurden aber auch Einzelelemente gesondert eingetragen, etwa die Slogans „In der Tat! Delikat“ oder auch „In der Tat Frau Rat delikat!“ (Ebd. 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 14; ebd., Nr. 53 v. 2. März, 14). Sie konnten damit gefahrlos auch einzeln eingesetzt werden. Ähnliches galt für Varianten des Quieta-Q, die einerseits das Hauptzeichen sicherten, anderseits mögliche Alternativen in der Hinterhand beließen. Auch Produktbezeichnungen fielen darunter, denn neben den etablierten Siegel-Begriffen wurden auch Warenzeichen wie Gold-, Rot-, Grünpunkt usw. geschützt (Ebd. 1918, Nr. 151 v. 29. Juni, 29).

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Varianten des Quieta-Warenzeichens (Deutscher Reichsanzeiger 1917, Nr. 207 v. 31. August, 14 (l.); ebd., Nr. 284 v. 30. November, 16; ebd. 1918, Nr. 51 v. 28. Februar, 20 (r.))

In alledem zeigte sich die unternehmerische Weitsicht Alfred Kaspers, der die weitere Entwicklung seines Unternehmens möglichst präzise planen wollte, mochten sich die verändernden Rahmenbedingungen auch letztlich als stärker erweisen. Dies ging allerdings auch in Pedanterie und Gängelei von Geschäftspartnern und Zeitungen über. Als sich beispielsweise Ende 1917 ein Münchner Kolumnist über die unklare Zusammensetzung der Quieta-Ersatzmittel mokierte, forderte die Firma gleich eine Richtigstellung. Die launige Reposte ließ nicht auf sich warten: Quieta wurde gelobt als besänftigendes Getränk für das Warten in den Lebensmittelpolonaisen und als „Gegenmittel gegen den echten Bohnenkaffee, den man ohnehin nicht haben kann“ (Quieta (-Kaffee) – non movere, Münchner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 23 v. 14. Januar, General-Anzeiger, 1 resp. Das tägliche Brot, ebd. 1917, Nr. 634 v. 15. Dezember, General-Anzeiger, 1). Das entsprach nicht Kaspers Bild von seinem Kaffeeprodukt, wohl aber der Realität unzureichender Alltagsversorgung.

Moderne Werbung auf der Höhe der Zeit: Tiere, Kannen und Familiengespräche

Die Verlagerung des Firmensitzes nach Leipzig brachte 1921 beträchtliche Änderungen mit sich. Obwohl Kasper die vollständige Kontrolle über seine Unternehmen behielt, erweiterte sich erstens der Kranz verantwortlicher Manager. Hans Evers und Georg Laskowski wurden Prokuristen, ebenso Kaspers Gattin Helene Katharine („Käthe“) (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 159 v. 21. Juli, 21). Die Quieta-Werke blieben ein Familienbetrieb, doch zugleich begann die Integration qualifizierten Führungspersonals (Ebd. 1923, Nr. 9 v. 11. Januar, 16). Zweitens wurde die Betriebsstruktur optimiert. Es gab künftig zwei von Alfred Kasper geleitete Gesellschaften, die eine in Bad Dürkheim, die andere in Leipzig. Augsburg war lediglich noch Fabrikationsort. Zudem trennte man Produktion und Vertrieb, etablierte eigenständige Verkaufszentralen, die großenteils in Personalunion geführt wurden (Ebd., Nr. 132 v. 9. Juni, 15). Betriebliche Risiken wurden so minimiert, auch steuerliche Überlegungen dürften eine Rolle gespielt haben. Zugleich schuf man dadurch Rahmenbedingungen für weiteres Wachstum. Bis in die späten 1930er Jahre sollte der Ersatzkaffeekonsum im Deutschen Reiche trotz der Bevölkerungsverluste um 30 % steigen (Spiekermann, 1996, 36).

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Beispiele für warenrechtlich geschützte Logos der Quieta-Werke (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 64 v. 16. März, 21 (l.); ebd., Nr. 21 v. 9. Januar, 7; ebd. 1923, Nr. 143 v. 22. Juni, 17 (r.))

Drittens gab es eine weitere Umgestaltung der Warenzeichen, also der Grundlagen für das Marketing der Quieta-Werke. Neue Logos wurden rechtlich abgesichert, zumeist gruppiert um verschiedene Variationen des Firmen-Q. Hinzu kamen neue Slogans, etwa „Quieta ist Qualität“ oder „Quieta Etwas für Feinschmecker“ (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 87 v. 15. April, 25; ebd., Nr. 127 v. 3. Juni, 22), aber auch neue Verpackungen für Quieta Gold (40 % Bohnenkaffee), Gelb (25 %) und Rot (10 %) (ebd., Nr. 130 v. 7. Juni, 19), ferner erste Kaffeekannen als Warenzeichen (ebd. 1921, Nr. 100 v. 30. April, 1). Viertens intensivierte man ab Mitte 1921 die Quieta-Werbung. Zum einen wurde mit Ivo Puhonny (1876-1940) einer der damals führenden deutschen Werbegraphiker gewonnen. Er war bekannt für seine Vorkriegsentwürfe für Sunlicht, Meßmer, Kupferberg, Dallmann, vor allem aber für die Palmin- und Palmona-Plakate für Heinrich Schlinck (1840-1909). In den 1920er Jahren gestaltete er den Markenauftritt der Batschari-Zigaretten. Mit Puhonnys Engagement trat Quieta in die erste Liga der Markenartikelproduzenten ein.

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Puhonnys Leitentwurf und Familienreminiszenzen auf dem Kaffeetisch (Remscheider General-Anzeiger 1921, Nr. 199 v. 23. Juli, 10 (l.); Solinger Tageblatt 1921, Nr. 188 v. 21. August, 10)

Zum anderen investierte die Firma ab 1922 in erste Werbefilme: Bei der Leipziger Dux-Film wurden einfache Bildstreifen in Auftrag gegeben: „Quieta gibt guten Kaffee“ hieß es nun auf der Leinwand, oder auch „Quieta Gold, die Qualitätsmarke für Feinschmecker“ (Bundesarchiv Berlin R 9346 I 4182; ebd. 4183). Wichtiger noch war der 1923 entstandene Industriefilm „Ein Blick in die Quieta-Werke“, der über siebzehn Stationen die Produktion der Quieta-Mischungen in Leipzig dokumentierte (Ebd., 4593). Kasper schuf damit Rahmenbedingungen für einen modernen Markenartikel. Doch die Härten dieser Zeit sollten nicht vergessen werden. Die Quieta-Werke in Bad Dürkheim waren durch eine Zollgrenze von den rechtsrheinischen Gebieten getrennt. Man bat „die schwerkämpfende Industrie“ beim Einkauf zu bevorzugen (Badische Presse 1921, Nr. 341 v. 26. Juli, 3). Auch das zehnjährige Firmenjubiläum wurde 1922 nicht groß gefeiert (Der Volksfreund 1922, Nr. 275 v. 24. November 1922, 5). Dennoch hatten Kaspers Strukturentscheidungen die Quieta-Werke kampagnenfähig gemacht. Vier Werbekampagnen seien hervorgehoben.

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Tiere als Menschen (Badischer Beobachter 1922, Nr. 156 v. 11. Juli, 4 (l.); Echo der Gegenwart 1922, Nr. 156 v. 7. Juli, 8)

Den Anfang machte eine zehnteilige Kampagne, die 1922/23 Tiere nutzte, um Aufmerksamkeit auf Quieta-Produkte zu lenken. Hahn und Huhn, Maus und Gans, ferner Rabe, Fuchs, Papagei, sowie Hund und Katze repräsentierten nicht nur Vierbeiner, sondern auch die bürgerliche Familie und ihr Umfeld. Quieta wurde präsentiert als Übergangsware, als Näherung an die vermeintliche Bohnenkaffeezeit der Vorkriegsjahre. Die Quieta-Mischungen waren billiger, bewahrten aber doch den Geschmack der guten, alten Zeit. Zugleich waren sie gesunder als die reine Dröhnung voller Koffein. Quieta hob sich damit deutlich von der Werbung unmittelbarer Konkurrenten ab. Die Mischung war ein Fortschritt etwa gegenüber Kathreiners Malzkaffee, den Hausfrauen damals mit etwas Bohnenkaffee verbessern sollten (Karlsruher Zeitung 1922, Nr. 245 v. 20. Oktober, 3). Quieta war bequemer handhabbar.

Mit ihren Werbeaktivitäten gewannen die Quieta-Werke zugleich Macht über die Inserenten. Illustrierte wurden von Kasper nur selten genutzt, Quietas Bühne waren eher Tageszeitungen. Ihre kleinteilige Macht wusste die Firma reichsweit zu nutzen: Die Quieta-Werke befanden sich schon 1921 auf einer Art schwarzen Liste von Firmen, die ihre Anzeigenmacht nutzten, um Zeitungen für ihre geschäftlichen Zwecke einzuspannen (Zeitungs-Verlag 1921, Nr. 29 v. 22. Juni, Sp. 962). Die Vorgaben waren harsch (Ungehörige Zumutungen eines Inserenten, Zeitungs-Verlag 1924, Nr. 11 v. 14. März, Sp. 378-379): Anzeigenkunden mussten die Anzeigen sichtbar in den Ecken platzieren, zudem kostenlose redaktionelle Notizen kostenlos schalten. Das gilt es auch bei den folgenden Kampagnen zu bedenken.

26_Muensterische Zeitung_1923_03_05_Nr087_p2_Badischer Beobachter_1923_03_16_Nr063_p4_Vorwaerts_1923_04_14_Nr178_p8_Ersatzkaffee_Quieta

Beispiele für den Einsatz der menschelnden Kaffeekanne (Münsterische Zeitung 1923, Nr. 87 v. 5. März, 2 (l.); Badischer Beobachter 1923, Nr. 63 v. 16. März, 4; Vorwärts 1923, Nr. 178 v. 14. April, 8 (r.))

Nach den Tiermotiven folgten menschelnde Kaffeekannen. Sie entsprachen dem Produkt, überbrückten zugleich die Spannung zwischen Ersatz- und Bohnenkaffe, denn sie alle wurden in Kannen mit heißem Wasser gekocht. Eine erste Serie repetierte immer wieder sechs Motive, konzentrierte sich dabei auf einfache Slogans. Die Mischungen von Quieta wurden von simplem Kaffeeersatz abgehoben, zugleich dessen Preiswürdigkeit hervorgehoben.

27_Hannoversche Hausfrau_21_1923-24_Nr20_pIII_Muenchener Neueste Nachrichten_1923_12_15_Nr340_p11_Sieg-Post_1924_02_05_Nr030_p4_Ersatzkaffee_Quieta_Kaffeekanne_Gemuetlichkeit

Die menschelnde Kaffeekanne in unterschiedlichen Teilkampagnen im Winter 1923/24 (Hannoversche Hausfrau 21, 1923/24, Nr. 20, III (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1923, Nr. 340 v. 15. Dezember, 11; Sieg-Post 1924, Nr. 30 v. 5. Februar, 4 (r.))

Das Motiv bot Humor, Alltagsfreuden in einem Umfeld von Hyperinflation und Ermächtigungsgesetz, von Ruhrbesetzung und nahendem Staatsbankrott. Die Kaffeekanne war Rückzugssymbol, verteidigte immer auch das deutsche Heim, die deutsche Eigenart. Eine weitere Serie folgte 1924/25, ließ typenhaft Hausherr, Hausfrau, Kind, Köchin und Feinschmecker zu Worte kommen – wenngleich aus dem Inneren von Kaffeekannen. Und zwischendurch trieben die Kannen Sport, deutschen Wintersport, ließen sich durch die Zeitläufte nicht verdrießen. Mochte die Zeit auch aus den Fugen fliegen, das Kaffeemittel erlaubt Einkehr und Neubesinnung. Diese Art der Werbung war populär, spiegelte zugleich die wachsende Akzeptanz und wohl auch den wachsenden Markterfolg der Quieta-Angebote. Nicht nur Großbetriebe wie Maggi und Knorr, sondern auch die Quieta-Werke repräsentierten damals „die deutsche Leistungsfähigkeit auf dem Gebiete des Ernährungswesens“ (Karlsruher Tagblatt 1924, Nr. 179 v. 11. Mai, 15).

Es hätte so weitergehen können. Doch Anfang 1927 wurde die weitere Verwendung dieser bauchigen Kanne, „aus der sich mit dem Deckel auf dem Kopf ein ganz markantes Gesicht“ hervorhob, vom Reichsgericht untersagt. Die Quieta-Werke hatten zuvor in mehreren Instanzen obsiegt, unterlagen letztlich aber dem größten deutschen Massenfilialisten und Malzkaffeeproduzenten Kaiser’s Kaffeegeschäft, dessen lachende Kaffeekanne eine stärkere warenrechtliche Stellung besaß (Nachrichten für Naunhof und Umgebung 1927, Nr. 13 v. 27. Januar, 2). Der 1923 einsetzende Stillstand an der Warenzeichenfront machte sich negativ bemerkbar.

28_Erzgebirgischer Volksfreund_1926_04_04_Nr079_p3_Saechsische Volkszeitung_1926_04_11_Nr079_p5_Durlacher Tagblatt_1926_03_13_Nr611_p4_Ersatzkaffee_Quieta_Ruhe_Sparsamkeit_Wien_Vetter-Waldemar

Vetter Waldemar im Einsatz (Erzgebirgischer Volksfreund 1926, Nr. 79 v. 4. April, 3 (l.); Sächsische Volkszeitung 1926, Nr. 79 v. 11. April, 5; Durlacher Tagblatt 1926, Nr. 611 v. 13. März, 4 (r.))

Zugleich aber erlaubte diese juristische Niederlage den Auftritt von Vetter Waldemar. Die vorherigen Kampagnen hatten zwar gewiss Aufmerksamkeit hervorgerufen, doch die vielgestaltige Tierschar und die vielfältigen Aussagen und Abenteuer der menschelnden Kannen mochten zwar die Breite des Quieta-Angebotes spiegeln, doch es fehlte an einer mit der Marke verbundenen Kernfigur. Die Chancen und Risiken solchen Marketings zeigte 1924/25 Kukirols Dr. Unblutig. Seine Abenteuer belebten den Markt der Hühneraugenmittel, doch die Kukirol-Fabrik hatte Schwierigkeiten, ihre eigentlichen Produkte neben der zunehmend dominanten Werbefigur hervorzuheben. Vetter Waldemar, Quieta-Propagandist mit einem Kaffeekannendeckel als Kopfbedeckung, war präsent, ansprechend, zugleich nicht ganz so exaltiert wie das 1927/28 aktive Vivil-Werbemännchen. Vetter Waldemar wurde seit 1926 eingesetzt. Er hatte die schwierige Aufgabe, standardisierte Massenprodukte zu heterogenisieren. Die verschiedenen Quieta-Mischungen boten dafür an sich eine gute Grundlage, doch vermarktet wurden sie vorwiegend durch ihre unterschiedlichen Preise. Vetter Waldemar war „der kleine Herr, der große Freude in jedes Haus bringt. […] Seine Aufgabe besteht darin, durch sein Erscheinen oder seine Handlungen das Publikum auf das intensivste zu fesseln“ (Toddy, Kaffee unter Trommelfeuer, Seidels Reklame 14, 1930, 194-195, hier 195). Die Botschaften waren vorhersehbar, nämlich Quieta als billiges, gesundes, zugleich schmackhaftes und nahe am Bohnenkaffe anzusiedelndes Produkt zu materialisieren. Doch man ließ den Vetter nicht recht von der Kette. Stattdessen war die von anfangs sechs Motiven geprägte Werbung 1926/27 eingehegt durch eine einfachere Werbung mittels wiedererkennbarer, graphisch unterstützter Schriftzüge. Sie konnten, wohl auch weil billiger, die Bandbreite der Werbebotschaft einfacher vermitteln: Quieta als ein fortschrittlicher und neuartiger Ersatz für reinen Bohnenkaffee, als preiswerte Alternative und zugleich – die Ideen der Functional Food-Periode kehrten angesichts der Fitness- und Schlankheitsbewegung Mitte der 1920er Jahre wieder – als Mittel gegen mehr oder minder akute Alltagsbeschwerden.

29_Mittelbadischer Kurier_1926_09_18_Nr216_p4_Ebd_11_11_Nr261_p3_Ebd_10_16_Nr240_p7_Ersatzkaffee_Quieta_Magen_Feinschmecker

Die Bandbreite der Quieta-Produkte (Mittelbadischer Kurier 1926, Nr. 216 v. 18. September, 4 (l.); ebd. 1926, Nr. 261 v. 11. November, 3; ebd. 1926, Nr. 41 v. 17. Oktober, 7 (r.))

1927 folgte dann eine vierte klar benennbare Kampagne. Sie war eng verbunden mit einer neuen graphischen Figur, Dr. Sorgsam. Er stand ebenfalls in der Nachfolge von Dr. Unblutig, knüpfte an die Expertenwerbung 1913/14 an, zugleich aber an die damals intensivierte Herz-und-Nerven-Reklame für Kaffee HAG (Amerikafahrt des Zeppelins, Der Welt-Spiegel 1924, Nr. 43 v. 26. Oktober, 15; Jugend 34, 1929, 587). Das stets präsente Herz war Augenfang, verkörperte zugleich aber die schonende Wirkung des Produktes (Sport im Bild 32, 1926, 999). Damit hoben sich sowohl Kaffee HAG als auch die Quieta-Produkte vom wieder erschwinglichen Bohnenkaffeekonsum ab, standen gegen dessen potenziell herzschädigende Wirkung. Mischkaffees waren billiger und gesunder, bildeten einen Kompromiss zwischen Wohlgeschmack und begrenzten Einkommen, für moderne gesundheitsbewusste Ernährung.

30_ Riesaer Tageblatt_1926_03_03_Nr052_p04_Mittelbadischer Kurier_1927_10_29_Nr252_p6_Saechsische Volkszeitung_1927_04_21_Nr091_p8_Ersatzkaffee_Quieta_Herz_Aerztlicher-Rat_Sorgsam

Der Doktor als Blickfang (Riesaer Tageblatt 1927, Nr. 52 v. 3. März, 4 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 252 v. 29. Oktober, 6; Sächsische Volkszeitung 1927, Nr. 91 v. 21. April, 8 (r.))

In den Folgejahren zerfaserte die Werbung für Quieta-Produkte allerdings – so wie schon vor dem Ersten Weltkrieg. Abermals wurde Quieta als Functional Food präsentiert, mochten die engeren Grenzen staatlicher Regulierung von Werbeaussagen auch eine Rückkehr zu den großtönenden Behauptungen der Vorkriegszeit nicht mehr zulassen.

31_Saechsische Volkszeitung_1928_03_11_Nr060_p16_Mittelbadischer Kurier_1928_03_19_Nr067_p3_Functional-Food_Ersatzkaffee_Quieta_Gesundheit

Quieta-Kaffee als Grundlage eines gesunden, den Körper bewahrenden Lebens (Sächsische Volkszeitung 1928, Nr. 60 v. 11. März, 16 (l.); Mittelbadischer Kurier 1928, Nr. 67 v. 19. März, 3)

Verjüngung aber blieb ein Thema, ebenso das gute Aussehen, die Konkurrenzfähigkeit in einer die inneren Werte und Fähigkeiten des Einzelnen kaum mehr berücksichtigenden kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft. Quieta mutierte zu einem Produkt der Selbstbehauptung insbesondere im Angestelltenmilieu, im abschmelzenden Segment des alten Mittelstandes. Doch die Quieta-Werke zielten auch auf die Facharbeiterschaft, inserierten auch in deren Zeitschriften. Der gegenüber Bohnenkaffee weitaus niedrigere Preis war immer ein Argument, ebenso die Ergiebigkeit. Das die Preise für Kaffeemittel de facto durch das Kartell der Kaffeemittelproduzenten bestimmt wurde, änderte nichts an der Werbeaussage. Quieta-Mischungen hatten beim Preisvergleich Vorteile, da die Marktpreise sowohl der Standardersatzware als auch der preiswerteren Bohnenkaffeesorten nur selten präsent waren.

32_Karlsruher Tagblatt_1929_03_07_Nr066_p5_Mittelbadischer Kurier_1929_02_16_Nr040_p5_Ersatzkaffee_Quieta_Sparsamkeit_Ergiebigkeit

Mehr als Malzkaffe, gleichwohl billig (Karlsruher Tagblatt 1929, Nr. 66 v. 7. März, 5 (l.); Mittelbadischer Kurier 1929, Nr. 40 v. 16. Februar, 5)

Diese dynamische Werbewelt der Quieta-Produkte war, wie schon vor dem Ersten Weltkrieg, nur ein Teil der breiter angelegten Reklamebemühungen von Kasper und seinen Leipziger Managern. Mitte der 1920er Jahre schaltete man erste Werbekampagnen mit eigenständigen Werbefiguren auch für Einzelhändler. Sie wurden vor allem auf die attraktiven Handelsspannen hingewiesen, später auch auf die Sonderzahlungen bei höherem Verkauf. Obwohl die Werbung damit vielgestaltiger wurde, änderte Kasper doch nichts an ihrer Struktur. Der Vertrieb lief wie in der Vorkriegszeit über den Großhandel, entsprach also der ständischen Kette Produktion, Groß- und Einzelhandel. Die neuen Betriebsformen, Warenhäuser, Filialbetriebe und auch Konsumgenossenschaften, führten Quieta, doch es war dort eine Ergänzungsware, kein Preisbrecher. Die Quieta-Werbung orientierte sich an einer kommerziell zunehmend unterminierten Absatzkette, bei der jeder Marktakteur feste und relativ hohe Gewinnspannen besaß – aller Billigwerbung zum Trotz.

33_Konsumgenossenschaftliche Praxis_12_1923_vorp261_Der Materialist_45_1924_Nr04_p01_Ersatzkaffee_Quieta_Leipzig_Bad-Duerkheim_Einzelhaendler

Veränderte Werbeansprache der Händler, hier der christlichen Konsumgenossenschaften und des Facheinzelhandels (Konsumgenossenschaftliche Praxis 12, 1923, vor 261 (l.); Der Materialist 45, 1924, Nr. 4, 1)

Das galt auch für die vielfältigen Formen der Direktwerbung, die allerdings mit dem vorliegenden Quellenmaterial nur ansatzweise nachzuzeichnen sind. Generell folgten die Quieta-Werke den Pfaden der Vorkriegszeit, modernisierten allerdings im Einklang mit den jeweils akuten Kampagnen.

34_Paul-Gregor_Schmissige Reklame_Leipzig_1924_p47_Quieta_Leipziger-Messe_Ersatzkaffee_Reklamewagen

Quieta-Werbewagen auf der Leipziger Messe 1923 (Paul Gregor, Schmissige Reklame, Leipzig 1924, 47)

Das mag nicht sonderlich umwälzend klingen. Doch die nahezu jährlich veränderten Kampagnen mussten in vordigitalen Zeiten erst einmal umgesetzt werden. Nicht zu vergessen sind die vielgestaltigen Herausforderungen der Inflationszeit. Die Verkaufspreise der führenden Sorte Quieta-Gold – Ersatzkaffee mit 40 % Bohnenkaffee – lagen im Bonner Delikatessenhaus Braunschweig im März 1923 noch bei 2000 Mark pro Pfund, ehe sie bis auf 1,2 Mrd. Mark im Dezember anstiegen. Danach erst trat die preisbewahrende Aufgabe von Markenartikeln wieder in ihr Recht, sanken die Preise doch von Februar bis April 1924 von 80 auf 65 Pfennig (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1923, Nr. 11376 v. 28. März, 4; ebd., Nr. 11789 v. 12. Dezember, 4; ebd. 1924, Nr. 11830 v. 1. Februar, 4; Nr. 11903 v. 29. April, 8).

Fasst man die Werbeaktivitäten in den 1920er Jahren zusammen, so stand die Quieta 1928/29 auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ihres öffentlichen Renommees. Nur führende Firmen präsentierten Werbefilme (Seidels Reklame 16, 1932, H. 3, Beilage) und waren in der Lage Direktvermarktung und Anzeigenkampagnen öffentlichkeitswirksam und ansprechend aufeinander abzustimmen. Zugleich aber vermochte die Quieta ihre Kaffeemittel zu dieser Zeit als fortschrittliche Produkte zu präsentieren. Ersatzkaffee war eben nicht länger Ersatz, sondern ein eigenständiges Produkt mit Zukunft.

Amerikanisierung? Die Idee einer modernen Fertigmischung

Die große Bedeutung der Werbung für den Aufstieg der Quieta zu einem Großunternehmen mit mehreren Fabrikationsstätten entsprach amerikanischen Idealen des Erfinderunternehmers, des durchsetzungsstarken Firmengründers – mochte dies in den 1920er Jahren in den USA auch längst nicht mehr der Realität der dortigen oligopolistisch organisierten Industriewirtschaft entsprechen (Julius Hirsch, das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, 30-68). Gleichwohl war ihre industrielle Organisation nicht nur durch Fließfertigung und hochgradige Arbeitsteilung Vorbild für viele, aber wahrlich nicht alle deutschen Unternehmer. Das Aufkaufen, Integrieren und Optimieren kleinerer Fabriken und die dadurch möglichen Rationalisierungseffekte hatten während der Inflation schon Männer wie Hugo Stinnes (1870-1924) oder Jakob Michael (1894-1979) aufgezeigt. Auch Alfred Kasper sah darin eine Chance für weiteres Wachstum.

1925 kaufte er die in Schönebeck ansässigen Albingia Keks-Werke. Südlich von Magdeburg gelegen hatte die Mittelstadt seit Einweihung der dortigen Elbbrücke einen beträchtlichen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Die Albingia war 1921 als GmbH und Hauptniederlassung einer Hamburger Firma gegründet worden. In den Folgejahren gab es Besitzwechsel und 1923 die Umwandlung zur Aktiengesellschaft (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 36 v. 12. Februar, 13; ebd., Nr. 299 v. 22. Dezember, 15). Der Betrieb war solide, litt aber an Kapitalmangel (Ebd. 1928, Nr. 106 v. 7. Mai, 1). Kaspers Leipziger Quieta-Werke übernahmen (Leipziger Tageblatt 1925, Nr. 44 v. 13. Februar, 8), firmierten sie in Lessing AG um. Warum nun diese Diversifizierung? Das Schönebecker Unternehmen konnte von den etablierten Absatzwegen der Quieta profitieren, eröffneten diese doch nationale Vertriebsstrukturen. Neben Gebäck und Süßwaren stellte die Lessing AG Kakao, Schokolade und Tee her, bot also eine konsumnahe Ergänzung zu den Kaffeesorten der Quieta. Neue Marken wurden etabliert, Suleika für Tee, Lessing für das sonstige Angebot. Für Kasper war wichtig, dass er damit zugleich eine breitere Grundlage für die Wertreklame gewann. Rasch setzte eine gemeinsame Werbung ein, vielfach in Form einer Ergänzung der Quieta-Anzeigen, auch durch gemeinsame Auftritte bei Ausstellungen (Neue Mannheimer Zeitung 1925, Nr. 536 v. 18. November, 8; Münchner Neueste Nachrichten 1926, Nr. 295 v. 24. Oktober, 4).

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Die Produktionsstätten der Quieta-Werke – inklusive der Lessing AG (undatierte Postkarte, Ende der 1920er Jahre)

Die Akquise der Lessing AG war durchaus erfolgreich, auch wenn die Kapitalkosten unklar waren. Die Firma konnte in den späten 1920er Jahren ihren Gewinn steigern, ebenso den Fabrikationsertrag. Der hohe Warenbestand unterstrich jedoch, dass die Produktionskapazitäten mehr ermöglicht hätten. Zu Beginn der Weltwirtschaftskrise behauptete sich die Lessing AG, folgte dann aber dem allgemeinen Abwärtstrend.

Betriebsergebnisse der Lessing AG, Schönebeck a.E. 1925/26-1933/34 (RM)

35a_Betriebsgebnisse der Lessing AG 1925-1934

(Deutscher Reichsanzeiger 1927, Nr. 107 v. 9. Mai, 6, ebd. 1928, Nr. 9. v. 11. Januar, 4; ebd. 1929, Nr. 301 v. 27. Dezember, 5; ebd. 1932, Nr. 145 v. 23. Juni, 7; ebd. 1934, Nr. 271 v. 19. November, 7; ebd. 1934, Nr. 271 v. 19. November, 7)

Ansatzweise gelang es, die Werbung zu intensivieren, wenngleich sie weit hinter den Kampagnen für die Quieta-Produkte zurückblieb. Immerhin gelang ein gemeinsames Preisausschreiben für Werbeslogans. Ähnliches hatte es im Deutschen Reich schon vor dem Weltkrieg gegeben, entsprach aber zugleich dem Stil der urbanen Konsumkultur der 1920er Jahre: „Niemand kann heutzutage erfolgreich sein, wenn man keinen besonderen Kaufreiz bieten kann. Man muß Außergewöhnliches anbieten, um Hausfrauen dahin zu bringen, von einer vertrauten Marke auf eine unbekannte, unerprobte Marke übergeben“ (Toddy, Die Packung – Ein wichtiger Verkaufsfaktor, Die Reklame 23, 1930, 141-143, hier 141).

36_Grafinger Zeitung_1928_03_06_Nr055_p5_Ersatzkaffee_Quieta_Tee_Suleika_Kakao_Lessing_Preisausschreiben

Preisausschreiben für Werbeslogans (Grafinger Zeitung 1928, Nr. 55 v. 6. März, 5)

Der Quieta gelang das Außergewöhnliche Ende der 1920er Jahre. Als einzige führende Kaffeemittelfirma öffnete sie sich für kurze Zeit Trends, mit denen eine innovative Positionierung ihrer Produkte möglich war. Die besondere Zwischenstellung der Mischprodukte – nicht reiner Ersatzkaffee, nicht Kaffeezusatz, nicht Bohnenkaffee – wurde nun genutzt, um Quieta als praktische Fertigmischung zu präsentieren. Ähnliches gelang zu dieser Zeit mit Ovomaltine, das bereits seit 1904 verkauft wurde.

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Quieta als fortschrittliche „gebrauchsfertige“ Mischung (Remscheider General-Anzeiger 1928, Nr. 111 v. 10. Mai, 5)

1928 war die Hochzeit der Amerikanisierungsdebatten. Das gelobte Land im Westen, aufgebaut nicht zuletzt durch die mehr als fünf Millionen deutschstämmigen Einwanderer, war damals Modell einer Konsumwelt, in der es für (fast) jedes Alltagsproblem ein passgenaues Markenprodukt gab. Quieta stilisierte seine gebrauchsfertigen Mischungen als Teil dieser auch ins Deutsche Reich kommenden Zukunft.

38_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1927_03_03_Nr12760_p4_Die Reklame_23_1930_p142_Ersatzkaffee_Quieta_Fortschritt_Amerikanisierung_Fertigmischung

Quieta als „Mischung der Neuzeit“ (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1927, Nr. 12760 v. 3. März, 4 (l.); Die Reklame 23, 1930, 142)

Amerika stand für praktisch denkende Menschen, die ihren Lebensweg selbstbestimmt beschritten, die wählten und dann bei den auserwählten fertigen Mischungen blieben. Die Quieta-Packungen erhielten zeitweilig neue Aufdrucke, die „Mischung der Neuzeit“ wurde offensiv beworben. Werbegestalter applaudierten: „Diese Art der Kaufanreizung ist einzigartig in Deutschland!“ (Toddy, 1930, 141). Zugleich spielte man mit dem neuen Gegensatzpaar Alt und Neu: „Zieht die Hausfrau die Petroleumlampe dem elektrischen Licht vor? Gewiß nicht! Ebenso gern wird sie auch andere Vorteile bemühen, die ihr die Neuzeit bietet, zumal wenn sie Geld und Zeit dabei spart. Sie setzt darum ihrem gewohnten Kaffee Quieta zu und ist immer wieder überrascht, wie vollkommen dann der Kaffee schmeckt!“ (Badischer Beobachter 1928, Nr. 301 v. 31. Oktober, 11).

39_Essener Anzeiger_1929_03_14_Nr062_p7_Castrop-Rauxeler Volkszeitung_1929_02_14_Nr045_p4_Ersatzkaffee_Quieta_Fortschritt_Modernitaet

Quieta als eine Alternative zwischen Kaffee und Kaffee-Ersatz (Essener Anzeiger 1929, Nr. 62 v. 14. März, 7 (l.), Castrop-Rauxeler Volkszeitung 1929, Nr. 45 v. 14. Februar, 4)

All dies wurde begleitet von einer klaren und verständlichen Kundenansprache. Die Fähigkeit zum Kaffeekochen wurde nicht mehr vorausgesetzt, sondern als Fertigkeit, als Kompetenz präsentiert: „Immer frisches Wasser nehmen! Nur ein kleiner Esslöffel auf einen Liter. Bei Beginn des Kochens zusetzen. Sofort vom Feuer nehmen, drei Minuten ziehen lassen, dann durchseihen. Auch Überbrühen genügt“ (Zeit. n. Toddy, 1930, 142). Fehlende Kochfertigkeiten: Kein Problem! Fehlende Vertrautheit mit dem Produkt: Kein Problem! Wichtig war allein das Ergebnis, der Kauf für den Produzenten, das Heißgetränk für den Kunden. Einfache Sprache war eben nicht gönnerisch, sondern reagierte auf die vielfältigen Qualitätsunterschiede der Produkte: Bohnenkaffee und Kaffeemittel waren nur selten frisch geröstet, waren in den gängigen Pappschachteln Umwelteinflüssen vielfach ausgesetzt. Mit diesen wenigen neu gestalteten Anzeigen und Verpackungen beschritt die Quieta einen Weg der Neudefinition ihres Produktes. Heinrich Franck folgte ab 1929 mit dem gewürfelten Karo-Franck, der jedoch im Deutschen Reich nicht verkauft wurde.

Allerdings brachen diese Werbeanstrengungen rasch ab. 1929 liefen die Anzeigenwerbungen für Quieta-Produkte großenteils aus. An deren Stelle traten Direktwerbung und eine intensivierte Wertreklame. Die Chance einer Neupositionierung der eigenen Produkte wurde damit vertan. So sehr auch Geschmack und Preiswürdigkeit hervorgehoben wurden, so blieb man dem Verdikt des Zweitklassigen, des Surrogates doch stets verbunden, präsentierte den Bohnenkaffeezusatz als die eigentliche Wertsteigerung, die Verbilligung „echten“ Bohnenkaffeearomas als die eigentliche Leistung der eigenen Mischungen. Sie als praktische Alternativen zum Bohnenkaffee zu vermarkten vermochten die Quieta-Werke nur kurzfristig. Dabei waren noch hundert Jahre zuvor Suppen das wichtigste Morgengericht gewesen, nicht der dann erst aufkommende „Kaffee“. Seit spätestens der Jahrhundertwende versuchten Kakao und Cerealienanbieter diesen Platz zu übernehmen. Die Kaffeemittelhersteller nahmen diesen Kampf um die historische Nachfolge nicht auf. Sie waren und blieben im Dualismus von Bohnenkaffee und Ersatz gefangen.

Direktwerbung und Wertreklame

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Reste früherer Werbepräsenz (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 330 v. 4. Dezember, 18 (l.); ebd., Nr. 262 v. 27. September, 11)

Statt die eigenen Produkte fortschrittlich zu positionieren, erweiterte man die Produktpalette. Ein gesonderter Malzkaffee war schon länger im Angebot, ebenso Turka-Mischungen. Anfang der 1930er kam mit dem Diäta-Bohnenkaffee ein innovativ nachgeahmtes Produkt hinzu. Es handelte sich dabei um eine Reaktion auf den seit 1927 von der Hamburger Kaffeerösterei Darboven angebotenen Idee-Kaffee, entwickelt vom Hamburger Lebensmittelchemiker Karl Lendrich (1862-1930). Wie das Vorbild wurde er „durch eine künstliche Nachreife veredelt und durch Verminderung gewisser Röststoffe bekömmlicher gemacht“ (Sächsische Volkszeitung 1933, Nr. 44 v. 21. Februar, 7).

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Werbeveranstaltung der Quieta-Werke in Pfaffenhofen im Dezember 1930: Verteilung von Ersatzkaffee, Tee, Keksen, Kakao und Schokolade (Facebook Hauptplatz Pfaffenhofen)

Während der nun verschärft einsetzenden Wirtschaftskrise trat weiter Direktwerbung hervor. In Zeiten der Enge und Not war die Lockwirkung von Werbepaketen mit Essbarem hoch – auch wenn sie nicht zu Käufen führte. Neue Werbefiguren wurden geschaffen, etwa die Kaffee-Königin Frau Meta, die mit ihren Rezepten die ganze Palette von Diäta-Bohnenkaffee bis Quieta-Zichorienkaffee abdeckte (Sächsische Volkszeitung 1933, Nr. 46 v. 23. Februar, 8). Alltagsflucht wurde so unterstützt. Der akuten Sorge um das tägliche Mahl begegnete man mit Preisreduktionen.

Allerdings konnte die Quieta ihre Verkaufspreise zu dieser Zeit nicht selbst festsetzen. Wie in vielen anderen Branchen gab es bei Ersatzkaffee ein Preiskartell. Das sicherte Gewinne bei Produzenten, sicherte auch die Handelsspannen von Einzel- und Großhändlern. In den späten 1920er Jahren wurde Ersatzkaffee zu vier Fünfteln über den Großhandel vertrieben. Einkaufgenossenschaften wie die Edeka verkauften ungefähr 10 % des Angebotes, preisbrechende Konsumvereine und Filialbetriebe je 5 % (Walter Herzberger, Der Markenartikel in der Kolonialwarenbranche, Stuttgart 1931, 32). Die gebundenen Preise wurden seit 1930 mehrfach gesenkt, erst freiwillig im Kartellrahmen, dann auch staatlich erzwungen im Rahmen der Notverordnungen der Präsidialregierungen. Der billigste Zichorienkaffee kostete bei Quieta ab 1930 25 Pfg. pro halbes Pfund, die billigste Mischung Quieta Grün lag bei 55 Pfg. das Pfund (Ingolstädter Anzeiger 1930, Nr. 196 v. 29. August, 7; Badischer Beobachter 1930, Nr. 312 v. 4. November, 4). Damit konnte der Preisabstand zu Handelsmarken der Filialbetriebe und Konsumgenossenschaften zwar reduziert werden, doch im Vergleich zu den Markenanbietern von Kathreiner, Kornfranck und Seelig gewann man dadurch nicht, reduzierten sie ihre Preise doch zeitgleich und in gleichem Umfang (Schreiben des Deutschen Gewerkschaftsbundes a. Frank Glatzel, MdB v. 13. März 1931, Anlage, BA Berlin NS 5 VI 9832, Unlauterer Wettbewerb 1929-1931, 53).

Der Preisabbau untergrub Bestrebungen einer qualitativen Differenzierung der einzelnen Marken, reduzierte die Rentabilität der Firmen. Anfangs profitierte die Branche von der Krise, vom Übergang auf das billigere Heißgetränk. 1928 hatte die Ersatzkaffeeindustrie ca. 2,5 kg pro Kopf produziert, 1931 wurde mit 2,7 kg ein Spitzenwert erzielt. 1932 brach der Absatz jedoch auf 2,1 kg ein, stabilisierte sich 1934 dann bei 2,6 kg (Neue Berechnungen über den Verbrauch an Nahrungs- und Genußmitteln, Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs 47, 1938, IV. 93-IV. 105, hier IV. 103). Dieses Auf und Ab war begleitet von deutlich reduzierten Werbebudgets. Manche Slogans klangen halt wie Hohn, etwa die Zeile „Es gibt nichts Besseres heutzutage!“ für Quieta-Malzkaffee (Sächsische Volkszeitung 1933, Nr. 23 v. 8. Februar, 4). Doch, es gab Besseres.

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Werbung für Quieta-Produkte mit Gutscheinen (Karlsruher Tagblatt 1926, Nr. 306 v. 26. September, 9 (l.); Badische Presse 1931, Nr. 485 v. 18. Oktober, 15)

Entsprechend offerierten die Quieta-Werke seit 1926 vermehrt Zugaben. Den Packungen eigener Kaffeemittel und der Lessing AG wurden Gutscheine beigegeben, die man ab einer gewissen Menge in wertvolles Rosenthal-Porzellan, später auch in KPM-Ware umtauschen konnte. Diese „Wertreklame“ verbreitete sich schon kurz nach der Jahrhundertwende, war damals Gegenstand intensiver Debatten über die Lockkraft unlauterer Angebote, die Verführung oder aber Erziehung durch Sammelmarken, die Solidität von Produzenten und Händlern. Sie war typisch für Branchen mit recht homogenen Gütern, etwa Zigaretten oder aber Margarine. Zugaben banden die Käufer fest an ein Produkt, verstetigten den Kauf, wollte man die Serie mit Sammelbildern vollständig haben oder aber ein Figurenset.

Alfred Kasper, der auch Vorstandsmitglied des Schutzverbandes für Wertreklame wurde, ging allerdings einen Schritt weiter. Während Zugaben zuvor meist geringen materiellen Wert hatten, stellten seine Firmen hochwertige Waren in Aussicht. Auch das hatte es vorher schon gegeben, die Keramik- und Porzellanindustrie hatte schon vor dem Weltkrieg einfache Teller, Tassen und Kannen just für diesen Zweck produziert. Doch Kasper erhöhte den Einsatz, die Attraktivität der Zugabe. Rosenthal und KPM waren Luxusmarken, Traum vieler Kleinbürger. Kasper zielte aber auch darauf, die Händler für seine Verkaufszwecke einzuspannen, denn seit dem 1. Dezember 1927 erhielten sie ein Rosenthal-Kaffeeservice, wenn der Umsatz bestimmte Höhen überschritt. Betriebswirtschaftlich bedeuteten derartige Zugaben eine gewisse Preisreduktion, also ein moderates Ausscheren aus dem Preiskartell der Ersatzkaffeebranche. Quietas Hauptkonkurrenten lehnten diese Werbung daher ab: Zugaben aller Anbieter würden die Kosten erhöhen. Die Kundenbindung sollte durch die Ware selbst erfolgen, durch die Stärke der Marken. Zugleich waren die Kosten der Wertreklame an sich überschaubar, denn bei wertvolleren Zugaben verfielen die meisten Gutscheine.

Die Quieta-Werke hatten dafür auch vorgesorgt, denn die Gültigkeit war befristet und mit dem steten Kauf von Billigprodukten war selbst eine Kaffeetasse nur schwer zu erreichen. Für sie waren 75 grüne Gutscheine erforderlich, mussten also 75 Halbpfundpakete Quieta Grün gekauft wurden. Bei den teureren Mischungen waren es weniger. Für ein vollständiges Service benötigen die Käufer etwa sieben Zentner Kaffeemittel. Entsprechend spotteten Zeitgenossen: „Da muß sich aber ein Mädchen, das jetzt unter die Haube kommt, beeilen, damit sie noch als Großmutter alle Einzelteile des köstlichen Geschenks glücklich beisammen hat. Manche erlebt es freilich nie. Mütter werden gut tun, ihre Kinder in Kornkaffee oder noch besser in Suleika-Tee zu baden (Teebäder sollen die Haut schön braun färben), um schneller in den Besitz der kostbaren Gabe zu gelangen. Die meisten Hausfrauen werden sich aber leider nicht die Zeit nehmen, zu berechnen, wie viel gelbe, rote oder grüne Gutscheine erforderlich sind, um das Service zu erhalten, und die meisten dürften es im besten Falle zu einer einsamen Kaffeetasse bringen“ (Wie es gemacht wird, Castrop-Rauxeler Volkszeitung 1927, Nr. 133 v. 16. Mai, 3).

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Der Reiz der Weltmarke: Werbung für ein preiswerteres Rosenthal-Service (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 43 v. 21. Oktober, 15)

Eine überraschende Insolvenz

Die Insolvenz der Quieta-Werke, genauer der Konkurs über das Vermögen Alfred Kaspers im März 1934 kam überraschend. Noch im Januar und Februar 1934 hatte er zusammen mit seiner Gattin Käthe und dem jungen Chemiker Fritz Artur Vorsatz die USA besucht, um dort dem in der Zigarren- und Kaffeeindustrie wohlbekannten Chemiker Eduard Adolph Closmann Patente zur Extraktion ungerösteter Kaffeebohnen abzukaufen (NARA Washington, DC, Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at and Departing from Ogdenburg, New York, Microfilm Serial T715; Index of Patents issued from the United States Patent Office 1934, 141). Etwa ein Jahr zuvor war Kasper in den Verwaltungsrat der 1931 im schweizerischen Glarus gegründeten Beteiligungsfirma Commerzinag AG eingetreten; und auch für sie erwarb er ein neues Patent, nachdem er zuvor schon die Patente für den wohl von Closmann entwickelten Diäta-Kaffee eingebracht hatte (Schweizerisches Handelsamtsblatt 50, 1932, 2802-2803; ebd. 52, 1934, 2925; Food Industries 6, 1934, 530).

Mangels fundierter Quellen kann man über die Gründe für Insolvenz und Konkurs kaum Sicheres aussagen. Politische Gründe dürften auszuschließen sein. Kasper war ein national gesinnter Zentrumsmann. In der Leipziger Diaspora unterstützte er die lokale Caritasarbeit des Elisabethvereins und die katholische Presse (Sächsische Volkszeitung 1932, Nr. 48 v. 26. Februar, 6). Er war Mitglied des Kuratoriums für den Bau des 1932 eröffneten katholischen St. Elisabeth-Krankenhaus, einer Zinne katholischer Sozialpolitik in Sachsen (Jakob Stranz, Katholisches Schaffen im Bistum Meißen, Sächsische Volkszeitung 1932, Nr. 153 v. 3. Juli, 25-26, hier 26). Im November 1933 geriet Kasper allerdings unter Druck mittelständischer Aktivisten, die ihn als Inflations-Ehrendoktor denunzierten. Diesen Doktor honoris causa hatte er 1923 von der Universität Marburg verliehen bekommen, „wegen seiner Verdienste um die Förderung der deutschen Volkswirtschaft […] durch die Beschaffung preiswerter und wohlschmeckender Nährmittel für die Massenversorgung des Volkes aus überwiegend heimischen Rohstoffen […], sowie wegen seiner warmherzigen Fürsorge für die Wissenschaft und für die Wohlfahrt seiner Arbeiter und ihrer Familien“ (Sächsische Volkszeitung 1923, Nr. Nr. 53 v. 20. April, 4). Diese Gründe wogen stärker als die wohl gezahlten Spenden. Erkundigungen u. a. bei der Leipziger NSDAP bestätigten nur die Haltlosigkeit der Anschuldigungen (Anne Christine Nagel (Hg.), Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus, Stuttgart 2000, 66, FN 166 (auch zuvor)). Generell passte sich das Unternehmen an die Vorgaben der nationalsozialistischen Machthaber an. Schon lange vor der Machtzulassung der NSDAP und ihrer deutschnationalen Bündnispartner bezeichnete sich die Firma als ein „rein deutsches Unternehmen“ (Riesaer Tagblatt 1932, Nr. 135 v. 11. Juni, 2).

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Katholische Sozialarbeit in der Diaspora: Blick auf das Leipziger St. Elisabeth-Krankenhaus (Sächsische Volkszeitung 1932, Nr. 153 v. 3. Juli, 26)

Gleichwohl unterminierten staatliche Maßnahmen die Rentabilität der Quieta-Werke. Die Mittelstandspolitik während der Präsidialdiktatur und der frühen NS-Zeit schlugen nun durch, denn sie bedeuteten hohe Kosten für die Wertreklametreibenden. Das am 1. September 1933 in Kraft getretene Gesetz über das Zugabewesen bedeutete gegenüber der Notverordnung „zum Schutze der Wirtschaft“ vom 9. März 1932 eine beträchtliche Verschärfung. Die von der Quieta vor dem 1. September 1933 ausgegebenen Gutscheine wurden in Sachwerten ausgegeben, in Form des Rosenthal-Geschirrs. Nach dem 31. Dezember 1933 musste stattdessen der Barbetrag zurückgezahlt werden (Die Neuregelung des Zugabewesens, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 30, 1933, 478). Gutscheine wurden nun nicht mehr nur von Käufern gesammelt, vielmehr bildeten sich vereinzelt Sammelpools, um die geldwerten Gutscheine aufzukaufen und den Geldwert zu realisieren. Doch eine direkte Kausalität zu Insolvenz und Konkurs ist nicht zu ziehen. 1933 waren alle Beteiligten nämlich bemüht, die Folgen des teilweisen Zugabeverbotes bei Händlern, Zugabenproduzenten und auch der werbetreibenden Industrie zu minimieren. Angesichts der langjährigen, spätestens 1927 intensiv geführten öffentlichen Debatte über entsprechende Wettbewerbsregulierungen hatten die Quieta-Werke mehr als genügend Zeit für Risikomanagement (vgl. Das Zugabewesen, Leipzig 1930; Claudius Torp, Konsum und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, 304-313; mit Bezug auf die Quieta: Toddy, Der Kampf um die Zugabe, Seidels Reklame 15, 1931, 412-413). Man bezahlte zudem nicht den Verkaufspreis der Geschirre, sondern den deutlich niedrigeren Einkaufspreis. Alfred Kasper war als Vorstand des Schutzverbandes für Wertreklame über die politischen Risiken genau informiert, zeichnete als solcher Eingaben an die Reichsregierung (BA Berlin, NS 5 VI 9833 Unlauterer Wettbewerb 1931-1932). Seitens des Deutschen Industrie- und Handelstages wurde ein Ausschuss zur Vermeidung wirtschaftlicher Härten gegründet. Gewiss, die Auswirkungen des Zugabeverbotes waren insbesondere für die Porzellanindustrie spürbar, doch konnten „größere Arbeiterentlassungen vermieden werden“ (Berliner Börsen-Zeitung 1933, Nr. 552 v. 25. November; BA Berlin, NS 5-VI 9834, Bd. 4: Unlauterer Wettbewerb 1933-1934).

Wichtiger dürften die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewesen sein. Die Kaffeepreise waren seit Ende Oktober 1929 weltweit eingebrochen, doch die Zölle für Kaffeeimporte wurden 1930 deutlich erhöht (Toddy, Kaffee unter Trommelfeuer, Seidels Reklame 14, 1930, 194-195, hier 194). Das traf die Quieta-Werke stärker als ihre Konkurrenten. Insbesondere der massive Konsumrückgang der Kaffeemittel 1932 zehrte an den Reserven, denn die Fixkosten konnten durch Entlassungen nicht genügend gedrückt werden. Kasper war zudem offenkundig nicht bereit, einzelne Standorte, zumal das einstige Stammwerk in Bad Dürkheim ganz zu schließen.

Hinzu kam wohl Wirtschaftskriminalität, die in der gelenkten Presse kaum diskutiert wurde. Mehrere Direktoren hatten dem Betrieb Barvorschüsse entzogen (Quieta-Werke – Keine Fortführung des Werkes Bad Dürkheim?, Hakenkreuzbanner 1934, Nr. 195 v. 27. April, 11). Alfred Kasper und der seit 1921 in Leipzig und Berlin tätige Georg Laskowski stellten Selbstanzeige „wegen Prüfung des Verdachtes betr. Bilanzfälschung und Kreditbetrug“ (Um die Erhaltung der Quieta-Werke, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 88 v. 17. April, 8). Schon 1933 waren Leitungspersonen ausgetauscht worden; in Bad Dürkheim traf dies Georg Opitz, in der Berliner Verkaufszentrale die langjährige Führungskraft Hans Evers (Deutscher Reichsanzeiger 1933, Nr. 119 v. 23. Mai, 9; ebd., Nr. 225 v. 26. September, 9 ebd., Nr. 252 v. 27. Oktober, 7).

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Kampf um den Fortbestand: Briefkopf der Quieta-Werke 1930 (Sächsisches Wirtschaftsarchiv, BK 1786 [CC BY-SA 4.0])

Die Insolvenz selbst war weniger einschneidend als anfangs befürchtet, denn es gelang den Produktionsbetrieb der Leipziger und Augsburger Quieta-Werke aufrechtzuerhalten. Kaspers Firmen mit ihren 700 bis 750 Beschäftigten stellten am 26. März 1934 ihre Zahlungen ein, danach begann ein hier im Detail nicht nachzuzeichnendes Bemühen um Konsolidierung und Folgenminimierung (Quieta-Werke insolvent, Hamburger Nachrichten 1934, Nr. 146 v. 28. März, 5). Ein Gläubigerausschuss wurde etabliert, eine Vermögensübersicht angefertigt. Demnach besaßen die Kasper gehörigen Leipziger Quieta-Werke Verbindlichkeiten von 3,87 Mio. RM. Sein Privatvermögen wurde auf 2,74 Mio. RM geschätzt, von dem allerdings 1,96 Mill. RM belastet waren. Hinzu kamen moderate Schulden der Leipziger Verkaufszentrale (Kölnische Zeitung 1934, Nr. 206 v. 24. April, 10).

Sie diente daher als Auffanggesellschaft (20 Proz. Gläubigerquote bei den Quieta-Werken, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 96 v. 26. April, 7). Ihr Konkurs konnte vermieden werden, da eine einstweilige Verfügung der Londoner Bank Goschens & Cunliffe gerichtlich abgewehrt werden konnte. Sie war ein wichtiger Kreditgeber im globalen Zucker- und Kaffeehandel, wurde durch die ausfallenden Zahlungen ihrerseits hart getroffen, so dass sie 1940 ihre Unabhängigkeit verlor (John Orbell und Alison Truton, British banking, London und New York 2017, 234). Die Rosenthal AG nahm Abschreibungen vor, entsandte zugleich aber Vertreter erst in die Gläubigerausschüsse, dann in die Leitungsgremien der Verkaufszentrale und auch der Lessing AG. Direkt betroffen war Alfred Kasper, über dessen Vermögen am 14. Mai 1934 das Konkursverfahren eröffnet wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1934, Nr. 119 v. 25. Mai, 1).

Es folgte eine lange Phase der Konsolidierung. Rasch ergab sich, dass die Produktion in Bad Dürkheim stillgelegt werden musste, während die beiden anderen Standorte weiter produzieren konnten. Die Marke war demnach gerettet. Der Fortbestand wurde durch den NS-Wirtschaftsaufschwung möglich. Die Erträge wurden genutzt, um die unterschiedlichen Ansprüche gestuft zu bedienen. Geplant war, bis 1935 die Vorrechte erster Klasse vollständig auszuzahlen, nachrangige sollten sich anschließen (Neuer Mannheimer Morgen 1935, Nr. 197 v. 30. April, 7). Der Konkurs endete jedoch erst im Dezember 1939 mit einem Zwangsvergleich. Bevorrechtigte Gläubiger wurden voll bedient, nachrangige erhielten etwas mehr als 50 % (Konkurs Alfred Kasper, Leipzig, Dresdner Nachrichten 1940 v. 7. Februar, 4). Die konsolidierten Quieta-Werke wurden Alfred Kasper dann am 1. Januar 1940 von einer „Kapitalgruppe“ abgekauft (Quieta-Werke GmbH, Leipzig, Ebd., Nr. 34 v. 4. Februar, 8). Darunter befand sich auch die Rosenthal AG (Ebd. 1941, Nr. 111 v. 22. Februar, 6). In den Folgemonaten wurde das Stammkapital und die Investitionen deutlich erhöht (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 167 v. 19. Juli, 23; ebd., Nr. 277 v. 25. November, 9).

Die Lessing AG bot an sich deutlich bessere Rettungsmöglichkeiten, denn Verbindlichkeiten von 197.000 RM standen einem größtenteils freien Vermögen von 345.000 RM gegenüber (Kölnische Zeitung 1934, Nr. 206 v. 24. April, 10). Auch hier wurde das Führungspersonal, inklusive Alfred Kasper, ausgetauscht (Deutscher Reichsanzeiger 1934, Nr. 257 v. 2. November, 4). Sein Sohn Friedrich erhielt im Januar 1935 Prokura, der neu besetzte Aufsichtsrat begleitete das am 14. März 1935 eröffnete Konkursverfahren (Ebd. 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 9; ebd., Nr. 28 v. 2. Februar, 6; Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 76 v. 14. Februar, 12). Es zog sich bis September 1940 hin (Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1943, 6373). Die Lessing AG konnte ihren Betrieb ebenfalls fortführen. Am Ende der Konsolidierungskette stand der Unternehmer und Einzelkaufmann Alfred Kasper. Durch den Verkauf seiner Betriebe hatte er einen gewissen Ersatz erhalten. Das Konkursverfahren wurde offiziell am 28. Dezember 1943 aufgehoben (Deutscher Reichsanzeiger 1944, Nr. 11 v. 14. Januar, 1).

Werbeaskese, Standardware und Kriegsdienst

Seit 1934 besaßen die Quieta-Werke weder die Finanzkraft für fortschrittliche Kaffeemittel, noch einen kreativen Manager, der neue Wege beschritt. Das hing gewiss mit den strikten Kontrollen und Vorgaben im Rahmen des Reichsnährstandes zusammen. Kaffeemittel waren ein Grundnahrungsmittel, wurden staatlich propagiert, auch wenn es nicht gelang, den Wiederanstieg des Bohnenkaffeekonsums nach Ende der Weltwirtschaftskrise zu verhindern.

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Simple Werbeparolen für Quieta (Badischer Beobachter 1935, Nr. 34 v. 3. Februar, 7 (l.); ebd., Nr. 41 v. 10. Februar, 7)

Die Insolvenz führte nicht nur zum Ausscheiden von Alfred Kasper aus der operativen Leitung. Sie führte vor allem zu einem Rückzug aus dem werblichen Wettbewerb um den Kunden. Die wenigen Anzeigen blieben aussagearm, präsentierten Banalitäten, dienten eher der Bestätigung, der Erinnerung, rangen nicht mehr um die Gunst der Käufer. Das Ergebnis war entsprechend: Ökonomisch blieben die Quieta-Werke profitabel, konnten die Schulden stetig abgebaut werden, so dass die Gläubiger letztlich recht erfolgreich bedient werden konnten. Frühe Marktuntersuchungen zu den bekanntesten Kaffeemittelmarken ergaben jedoch ernüchternde Resultate: 1935 kannten 85 % der Befragten Kathreiner, 55 % Kornfranck, 25 % Seeligs Kornkaffee, während Quieta lediglich vereinzelt genannt wurde. Ähnliches galt für die Quieta-Haferflocken, die angesichts der Werbepräsenz von Knorr, Hohenlohe und Quäker ebenfalls unter ferner liefen (Angaben n. Werben und Verkaufen 20, 1936, 169).

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Volksgemeinschaft und Quieta-Kaffeemittel (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 109 v. 11. Mai, 10 (l.); ebd., Nr. 126 v. 1. Juni, 21; ebd., Nr. 132 v. 8. Juni, 9 (r.))

Die Quieta konzentrierte sich damals immer stärker auf die einfachen Angebote, auf Malz- und Zichorienkaffee, auf die preiswerte Mischung Quieta Grün, kaum aber mehr auf die Mischungen mit höheren Bohnenkaffeeanteilen. Zugleich dürfte man das Geschäft mit institutionellen Kunden ausgebaut haben, war Ersatzkaffee in Lagern und Gefängnissen, in Krankenhäusern und Kantinen, vielfach auch in Cafés und Gaststätten doch üblich, teils verpflichtend. Erst nach der Kapitalspritze 1940 investierten die Quieta-Werke wieder stärker in neue Anzeigenmotive. Sie waren jedoch alten Ansätzen verpflichtet, koppelten das übliche Q mit Werbeköpfen, die der Breite der Volksgemeinschaft entsprachen.

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Ein Kriegsgetränk, sparsam und schmackhaft (Der Markenartikel 9, 1942, 135 (l.); Wirtschaftswerbung 9, 1942, H. 2, II)

Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges dürfte die Ausrichtung auf staatliche Abnehmer, insbesondere die Wehrmacht, immer größeren Umfang eingenommen haben. Sparsamkeit wurde propagiert, zugleich der kaffeeähnliche „Wohlgeschmack“ hervorgehoben.

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Kontinuierliche Lieferungen für Wehrmacht und Kriegswirtschaft (Militär-Wochenblatt 126, 1941/42, Sp. 743-744)

Dies währte bis Mitte, Ende 1942. Die neuerlich versiegenden Bohnenkaffeevorräte wurden kaum mehr zu Mischungen genutzt, und Soldaten, Arbeitsmänner und Rekonvaleszenten erhielten Standardware. Die breite Mehrzahl erhielt seither ein Ersatzprodukt des Ersatzkaffees: Röstperle „in bester Beschaffenheit“ bot etwas Geschmack, etwas Warmes.

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Abschied von Quieta – Ersatz durch Röstperle (Pulsnitzer Anzeiger 1942, Nr. 292 v. 12. Dezember, 3 (l.); Der Markenartikel 9, 1942, 225)

Angesichts der Frage nach einem fortschrittlichen Ersatzkaffee muss die Nachkriegszeit nicht weiter untersucht werden. In der sowjetisch besetzten Zone nahm die Quieta ihren Betrieb nach Kriegsende wieder auf: Röstperle sollte ein bekanntes Markenprodukt auch der DDR werden (Dieter Zimmer, Für’n Groschen Brause, Bern 1984, 23). In Augsburg, in der US-Besatzungszone wurde das 1944 schwer zerstörte Zweigwerk weitergeführt. 1952 baute man dort eine neue Fabrik, erweiterte diese noch 1955. Hier produzierte man spätestens seit 1950 auch wieder Bohnenkaffeemischungen. Die dortige Quieta wurde 1997 zur heute noch bestehenden Carl Moll Landkaffee GmbH umfirmiert (Gerhard Stumpf, Quieta-Werke GmbH, in: Stadtlexikon Augsburg, 2. Aufl., 1998, Alle Lexikonartikel (wissner.com)). Auch die Quieta Vertriebsgesellschaft mbH in Bad Heilbrunn vertreibt einschlägige Produkte.

Parallel veränderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Relationen zwischen Kaffee- und Ersatzkaffeekonsum: Wurde 1950 noch mehr als fünfmal so viel Ersatzkaffee wie Bohnenkaffee getrunken, so neigte sich die Wage 1957 erstmals zugunsten des Importproduktes. 1961 übertrafen dessen Konsumwerte die des Konkurrenten um mehr als das Doppelte (Bärbel Heinicke, Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Berlin-West und München 1964, 108).

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Marktpräsenz in Ost und West (Die Versorgung 4, 1949/50, n. 32 (l.); Südkurier 1950, Nr. 127 v. 18. Oktober, 3; ebd., Nr. 262 v. 18. Dezember, 6 (r.))

Die Leipziger und Augsburger Quieta-Werke stritten vor Gericht über die weitere Verwendung der Warenzeichen, entsprechende Verfahren zogen sich bis 1960 hin (Bundesarchiv Berlin DF 3/22541, Bd. 2; ebd., DF 3/22544, Bd. 5). Für unsere Fragestellung ist all dies unerheblich, denn beide Unternehmen hatten keine Antwort auf den Niedergang ihrer Branche, ihrer Produkte. Fortschrittlicher Ersatzkaffee wurde in den späten 1920er Jahre bei Quieta und wenigen anderen Firmen beworben, fertige, gar vorportionierte Mischungen als Alternative zum einfachem Ersatzkaffee und einfachem Bohnenkaffee offeriert. Die Sonderkonjunktur während der NS-Zeit sollte nur überdecken, dass die Anbieter ihre Produkte seither letztlich nur verwalteten, nicht aber fortentwickeln konnten.

Uwe Spiekermann, 24. Juli 2023

Die aufrechte Hausfrau: Das Bohnerwachs Wichsmädel

Nein, darauf war ich nicht gefasst. Als ich eine Ausgabe der einst neuen, frisch-anstößigen Illustrierte „Das Magazin“ durchblätterte, erwartete ich die lebensdralle Ästhetik der 1920er Jahre, erwartete neue Frauen und smarte Männer, die Anbetung des Urbanen und einer neuen Freizeit- und Konsumkultur. Und dann das: Freundlich lächelnd hielt ein als Dienstmädchen verkleidetes Modell eine große Blechdose in die Kamera. Wichsmädel Bohnerwachs stand darauf, zeigte eine eifrig bohnernde Frau auf den Knien, mit kurzem Haarschnitt und durchaus modischen Absätzen. Und schon wandelte sich meine Irritation in Forscherdrang: Darauf musste ich mir einen Reim machen. Kommen Sie mit – oder klicken Sie rasch weiter.

Fußbodenreinigung im Wandel

Dreck ist ein Teil des Lebens, Putzen hält dagegen, sysiphoshaft, als Ringen um Sauberkeit und Alltagshygiene. In gängigen Darstellungen der Geschichte des Wohnens findet sich allerdings kaum etwas zu dieser Fron des Alltags (Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914, Münster 1985; Maren-Sophie Fünderich, Wohnen im Kaiserreich, Berlin und Boston 2019). Auch über die breite und wachsende Palette von Putz- und Reinigungsmitteln wissen wir wenig. Allgemeiner parlieren ist einfacher: Vom vermeintlichen Wandel der respektablen hauswirtschaftlichen Tätigkeit zur Hausarbeit. Von deren doppelter Marginalisierung als unbezahlten Liebesdienst an Mann und Familie einerseits, als einfache, nicht wirklich ernst zu nehmende Beschäftigung anderseits. Dabei belegt der seit Mitte des 19. Jahrhunderts immens wachsende Ratgebermarkt für das Kochen und die Haushaltsführung die vielfältigen und komplexen Aufgaben in einer häuslichen Welt, in der Convenience- oder Fertigprodukte fehlten, die wenigen Geräte Maschinen nicht ersetzen konnten, Kühlung und Konservierung zeitaufwändige Tagesaufgaben waren, das Schneidern und Reparieren der Kleidung und Textilien mit Blick auf die begrenzten Geldmittel erforderlich war, von der Kindererziehung und Gartenwirtschaft ganz zu schweigen (einseitig luftig-normativ hierzu Inga Wiedemann, Herrin im Hause […], Pfaffenweiler 1993; Evke Rulffes, Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung, Hamburg 2021). Und da war noch das Haus, das Heim selbst. Es musste gepflegt und in Ordnung gehalten, gekehrt, geputzt, von Unrat und Keimen befreit werden.

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Idealisiertes Bild des Hausputzes (Sydow (Hg.), 1884, 561)

Wie aber sah das Reinigungsumfeld aus, die zu reinigende Wohnung, der zu kehrende und zu bohnernde Fußboden? Dazu müssen wir uns wegbewegen von unseren heutigen einfach zu pflegenden, versiegelten, mit Kunststoff abgedichteten und auf trockenen Grundlagen ruhenden Fußböden. Das galt auch für die in der Hauswirtschaftsliteratur vorrangig behandelten bürgerlichen Haushalte. Sie standen im Mittelpunkt des Wandels, einerseits hin zu besseren Wohnungen und Fußböden, anderseits als Konsumenten einer wachsenden Zahl neuartiger Putz- und Reinigungsmittel, die eng mit dem Aufstieg der chemischen Industrie und insbesondere der Fettchemie seit den 1870er Jahren verbunden waren.

Damals bestanden Fußböden zumeist aus gestampftem und befestigtem Lehm, vielfach mit Brettern überbaut oder aus Holzböden. Die Böden waren teils behandelt, verschieden zusammengesetzte Firnisse aus Leinöl, Schellack oder Deckharzen schützten die Oberflächen. Diese mussten regelmäßig abgewischt werden, meist mit Wasser, kombiniert mit Kernseife oder Seifenlaugen. Putzen war wichtig, zumal in Zeiten unzureichender Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, angesichts der Gesundheitsgefahren der noch nicht wirklich bekämpfbaren Infektionskrankheiten. Das gefährdete nicht nur den Hausfrieden, bedeutete Putzen doch Umräumen, das Bewegen der Teppiche, der Truhen und Möbel. Nasses Putzen griff auch die Bodensubstanz an, denn den Böden fehlten vielfach konservierende Appreturen. Verbesserte Parkette sowie Steinböden waren leichter zu pflegen, waren aber auch teurer.

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Blanker Holzboden in einer oberbayerischen Bauernstube (Der Bazar 39, 1893, 429)

Zur Zeit der Reichsgründung verbreiteten sich daher neue Techniken der Bodenkonservierung. Zum einen erlaubte die Teerfarbenindustrie zahlreiche Farben und dann auch Glasuren, mit denen man die Oberflächen imprägnieren und damit gegen die Verdreckung schützen konnte. Zum anderen nutzte man vermehrt Wachse, um die Böden gleichsam zu versiegeln. Industrielle Wachse, teils auf Grundlage von Importgütern, waren billiger als tradierte Bienenwachse, zudem einfacher zu handhaben: „Das Einlassen oder Bohnen der gewöhnlichen, sowie der parquetirten Fußböden geschieht gewöhnlich mit einer Wachsseife, dem sogenannten Bohnerwachs, es wird aber auch mit reinem Wachs in Stücken gebohnt, eine Operation, die indessen Kraftanstrengung und Uebung erfordert und besser dem Zimmerputzer von Fach überlassen bleibt“ (Vom Fußboden, F. J. Singer’s Fünf-Kreuzer-Bibliothek 5, 1873, 30-31, hier 30). Gebohnerte Flächen durften nicht feucht gereinigt werden, doch man konnte sie einfach kehren.

Bohnerwachs wurde zu dieser Zeit noch vielfach in den Haushalten selbst hergestellt. Die Rohmaterialien, meist gelber Wachs und Pottasche, kauften die Hausfrauen in Drogerien, Gemischtwarenhandlungen und Apotheken. Das Wachs wurde dann auf dem heimischen Herd, im häuslichen Kessel angesetzt, dann auch gefärbt (Johanna von Sydow (Hg.), Das Buch der Hausfrau, 3. völlig umgearb. Aufl., Leipzig und Berlin 1884, 561-562; Illustrirte Welt 34, 1886, 72). Dazu nutzte frau anfangs meist naturale Farben, wie Orleans oder Katechu, oder aber Erdfarben, wie Oker oder Terra di Siena. Bohnerwachse dieser Art chargierten zwischen gelb und tiefrot, waren also noch nicht Basis weißer Reinlichkeit. Das Kochen derartiger Wachse war schwierig, denn die Temperaturführung auf offenem Feuer glich der Arbeit der Glasmacher und Schmiede, gründete auf Erfahrung, stellt die immer nur normativ behauptete Trennung der häuslichen und gewerblichen Sphäre in Frage. Doch ein gebohnerter Boden war schmutzabweisend und einfacher zu fegen. Angesichts kleiner, vollgestellter und vom Ruß und der Asche des Herdes stets umkränzter Zimmer war dies immer noch eine mühselige Arbeit, die möglichst an Dienstboten delegiert wurde. Doch deren Zahl ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch zurück, wenngleich sie um 1900 noch ca. fünf Prozent der großstädtischen Bevölkerung ausmachte. Bohnern war wiederkehrende Alltagstätigkeit: In größeren Abständen musste die Grundimprägnierung erneuert werden, Flecken aber erforderten gezielten und möglichst unmittelbaren Einsatz: „Gebohnte Fußböden, auch Parkettfußböden, werden täglich mit einem trocknen um die Bohnerbürste geschlungenen wollenen Lappen oder einem trocknen noch neuen Scheuerlappen aufgewischt. Einzelne Flecke wischt man mit einem feuchten Läppchen mit Terpentinöl ab oder man entfernt sie mittels abreiben mit Stahlspänen. Die Stellen müssen dann mit etwas Bohnermasse eingerieben und abgebürstet werden. Allwöchentlich reibe man den Fußboden mit Stahlspänen ab; durch dieselben wird Schmutz und das festgetretene Bohnerwachs entfernt, so daß der Boden seine klare Farbe wieder erhält“ (Wiesbadener General-Anzeiger 1894, Nr. 192 v. 19. August, Für’s Haus, 131).

Der Markt übernimmt: Wichsprodukte aus Drogerien und chemischen Fabriken

03_Koeniglich privilegirte Berlinische Zeitung_1885_02_08_Nr065_p26_Putzmittel_Bohnerwachs_Oswald-Oehler_Fussbodenwichse

Enthäuslichung der Bohnerwachsbereitung durch gewerbliche Fertigwachse (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1885, Nr. 65 v. 8. Februar, 26)

Bohnerwachs wurde anfangs häuslich hergestellt, doch die bereits erwähnten „Zimmerputzer“ – noch ein qualifizierter männlicher Beruf – nutzten schon selbst produzierte Reinigungsmittel. Diese stammten zumeist von Drogisten, die analog zu den Haushalten, doch unter kontrollierteren Bedingungen größere Mengen produzierten und zunehmend unter eigenem Namen verkauften. Der Begriff „Bohnerwachs“ war jedoch noch nicht stofflich definiert und reguliert, sondern eine Ware, mit der man putzen, säubern, imprägnieren konnte. Die einschlägigen Handbücher benannten die Hauptgruppen: „Theils sind es Lösungen von Wachs oder wachsähnlichen Stoffen in Terpentinöl, theils eine Art von überfetteten Wachsseifen, entstanden durch theilweises Verseifen des Wachses durch Pottasche“ (Gustav-Adolf Buchheister, Handbuch der Drogistenpraxis, Bd. 2, 3. verm. Aufl., Berlin und Heidelberg 1898, 277; Karl Dieterich, Bohnerwachs, in: Ewald Geissler und Josef Moeller (Hg.), Real-Enzyclopädie der gesamten Pharmazie, 2. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 3, Berlin und Wien 1904, 115).

04_Berliner Tageblatt_1893_11_05_Nr565_p16_Putzmittel_Parkett_Parquetbohne_Holzmacher_Moebelpolitur

Vor der allgemeinen Geltung des Begriffs Bohnerwachs: Die Parquetbohne (Berliner Tageblatt 1893, Nr. 565 v. 5. November, 16)

Wir haben es also schon im späten 19. Jahrhundert mit einem Markt zu tun, der geringe Zugangshürden hatte, denn die Produktion übernahm und verfeinerte häusliche Praktiken. Zudem wurden die Häuser der Jahrhundertwende immer häufiger mit einfacher zu pflegenden Stein-, Steinholz-, Linoleum- und Parkettböden versehen, die allesamt gewichst und gebohnert werden konnten und mussten. Während die Drogisten lediglich lokale, selten auch regionale Märkte mit ihren Angeboten versorgten, traten seit den späten 1890er Jahren vermehrt Lack- und Schuhwichseproduzenten in den Markt ein, bauten regionale, in selten Fällen auch schon nationale oder gar erste internationale Vertriebsstrukturen auf. War anfangs der Name des Produzenten Marker des Angebotes, so bedienten sie sich nunmehr vermehrt allgemeiner Markennamen, erst mit engem Bezug zur Pflege selbst – Parket-Rose –, dann auch solche mit chemisch-wissenschaftlichem Anspruch, etwa Cirine. Sie entwickelten also neue Markenidentitäten, gründeten sie auf einem niedrigen Preis oder aber auf besonderen Eigenschaften: Parket-Rose sollte beispielsweise auch nass wischbar sein, Cirine war flüssig und daher gleichmäßiger aufzutragen.

05_Koelner Local-Anzeiger_1905_08_06_Nr213_p01_Der Bazar_59_1913_p85_Putzmittel_Bohnerwachs_Parket-Rose_Finster-Meisner_Muenchen_Cirene_Boehme-Lorenz_Chemnitz

Markenartikel vor dem Ersten Weltkrieg (Kölner Local-Anzeiger 1905, Nr. 213 v. 6. August, 1 (l.); Der Bazar 59, 1913, 85)

Mit diesen kurzen Strichen ist der Boden skizziert, auf dem ein Produkt wie das Bohnerwachs Wichsmädel entwickelt und erfolgreich vermarktet werden konnte. Primär war, wie bei jedem Marktangebot, die Gewinnabsicht der Anbieter. Es war aber auch Quintessenz einer schon lange vor den 1920er Jahren begonnenen Haushaltsrationalisierung, in dem der Markt zuvor häusliche Tätigkeiten übernahm, in dem zugleich andere Baumaterialien und Wohnungskonstruktionen das Putzen schon erleichtert hatten. Die Fron der Hausarbeit wurde eben nicht nur von den betroffenen Frauen als Problem empfunden. Der Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933) fasste dieses Dilemma in prägnante Worte: „Unsere Frauen altern und verblühn, leisten eine Arbeitsmenge, die kein Mann zu leisten vermochte und erreichen doch nichts, als dass alle dieses, Kochwirtschaft, Hauswirtschaft, Kinderpflege ganz unrationell, unzweckmässig und dilettantisch geübt wird, als dass sie mit all ihrer undifferenzierten, planlosen Wirtschafterei sich und andern das Leben vergällen. Zumal der Vormittag und der frühe Morgen in den Familienhaushalten der ‚weniger Bemittelten‘ ist eine kleine Privathölle. Ein ewiges Schruppen, Kratzen, Bohnern, Umkramen und Umräumen. Ein Tollhaus knarrender, kreischender, wetzender Geräusche. Dazwischen Zurufe und Menschenstimmen. Wenn dann schliesslich die rasselnden Privatmaschinen der Familienhaushalte leidlich in Gang kamen, wenn genug geklopft, gewischt, geruckt und geschruppt ist, dann ist der halbe Tag herum. Die Sonne steht in Mittag; die Arbeitskraft ist verbraucht, die Seele müde und stumpf“ (Der Lärm, Wiesbaden 1908, 63).

Bohnern und Wichsen

Während die Mehrzahl der Bohnerwachse und Reinigungsmittel lediglich noch wenigen Spezialisten und Sammlern bekannt ist, besitzt Wichsmädel einen relativen Ausnahmestatus. Es gab bis vor einigen Jahren eine eigene Website resp. eine liebevoll gemachte Facebookseite. Einschlägige T-Shirts sind weiterhin zu kaufen. Original-Blechdosen, die in diesem Segment ansonsten für 10 bis 15 Euro zu haben sind, kosten mit Wichsmädel-Konterfei 60 Euro und mehr. Selbstverständlich werden derartige populärkulturelle Entwicklungen im offiziösen Kulturleben gespiegelt, dann aber mit Verweis auf die vermeintliche Frauenfeindlichkeit von Warenzeichen und Verpackung gebrochen (Reklame. Verführung in Blech, hg. v. GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig 2020, 102-103). In der Berichterstattung über eine Reklame-Ausstellung im Leipziger Grassi-Museum war Wichsmädel 2020 ein wichtiger Quell der Heiterkeit und Aufmerksamkeitsökonomie.

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Vermeintlicher Kult – T-Shirt-Angebote mit variiertem Wichsmädel-Warenzeichen (Ebay)

Das gängige Anspringen auf den vermeintlichen Kultartikel Wichsmädel sagt allerdings mehr über uns als unsere Vorfahren aus. Sprachwandel wird kaum mehr reflektiert, Bedeutungstransfers werden selten thematisiert. Beim Wichsen ergötzen sich viele an der Ziel-, nicht an der Ausgangsbedeutung. Das Adjektiv bezeichnete eine Bewegung, das Bohnern des Bodens, das schmückende Bürsten und Kämmen von Bart und Haar, das Auf und Ab der Bürste bei der Schuhpflege. Neben den Reinigungsartikeln wurden während und auch nach dem Kaiserreich Haar- und vor allem Schuhwichsen angepriesen. Das lag an einem Moment des Innehaltens, an dem Verteilen der Grundmasse, an dem Einziehen und Versteifen der Auftragsmasse. Bohnern war eng damit verbunden, dann aber vor allem beim beherzten Kampf mit dem Fleck, mit dem am Ende stehenden Resultat: „Die Bohnermassen werden ähnlich den Polituren mittelst eines weichen Ballens auf dem Fussboden, Leder oder Linoleum etc. vertheilt und dann so lange gerieben oder gebürstet, bis ein glänzender Wachsüberzeug entstanden ist“ (Buchheister, 1898, 278). Dass dabei auch Hilfsmittel wie die Bohnerbürste verwandt wurden, ist nicht nur jedem Putzenden geläufig.

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Schuhwichse als gängiges Angebot (Vorwärts 1902, Nr. 292 v. 14. Dezember, 15)

Wichsen und bohnern waren vor dem Ersten Weltkrieg gängige Alltagsworte, das Reichspatentamt ließ Eintragungen im Warenverzeichnis „Wichse“ zu (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 232 v. 29. September, 9). Doch während des Krieges – also kurz vor der Etablierung des Markennamens Wichsmädel – wurde das lange bestehende Wortfeld auf die gängige Masturbation der Soldaten des Kaisers ausgeweitet (Sascha Bechmann, Sprachwandel – Bedeutungswandel. Eine Einführung, Tübingen 2016, 236). Hinzu kamen Dienstleistungen in Feldbordellen oder aber einschlägige Dienstleistungen in der Etappe oder der Heimatfront. Das erfolgte verschämt, in der Alltagssprache, erst in den 1920er Jahren in realistischen Schilderungen der Fronterfahrungen. Wichsen war negativ besetzt, entsprach es doch nicht dem gerne hochgehaltenen Bild des tapferen und sittenstrengen deutschen Soldaten.

Im Glucksen über Wichsmädel Bohnerwachs spiegeln sich nicht nur Restbestände spätpubertärer Unaufgeklärtheit, sondern auch Vorstellungen über Frauen als Objekt männlicher Sexualphantasien. Die Wichsmädel-T-Shirts unterstreichen, dass man daraus einen kleinen ironischen Nischenmarkt etablieren kann. Dem ging jedoch eine stete, meist unreflektierte Präsenz des Wichsmädels in populären Darstellungen zur Geschichte der Reklame voraus (Klaus Pressmann (Hg.), Email-Reklame-Schilder von 1900 bis 1960 […], Zürich 1986, 256; Eugen Leitherer und Hans Wichmann, Reiz und Hülle. Gestaltete Warenverpackungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Basel 1987, 216; Kuh von links, Der Spiegel 1994, Nr. 23, 190). Sprachwandel ist eben höchst ambivalent, werden bestimmte Alltagsworte nicht nur einfach vergessen, sondern auch gleichsam ausgegrenzt, weil man sich nicht dem Ruch der Sexualisierung resp. der Frauenfeindlichkeit aussetzen möchte. Das gilt ähnlich auch für das „Putzen“, wenngleich dessen sexuelle Aufladung seit dem späten 19. Jahrhundert eher zurückgetreten ist.

Die Lack- und Farbenfabrik Wilhelm Süring

Wichsmädel wurde seit Ende 1919 angeboten – und das als Folge der Konversion eines Rüstungsbetriebes in einen zivilen Markenartikelanbieter. Es handelte sich um die Dresdener Firma Wilhelm Süring, die sich als Lackproduzent schon vor dem Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht hatte. Die Firma entstand 1841 als Handwerksbetrieb, Carl Wilhelm Süring zeichnete noch ein Jahrzehnt später als „Wagenlackirer“ (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1851, Nr. 76 v. 17. März, 14), baute seinen Betrieb jedoch aus, stellte in den 1850er Jahren Lackierer auch für „Bau- und Möbel-Arbeit“ ein (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1856, Nr. 141 v. 20. Mai, 6). 1866 gründete Süring dann gemeinsam mit dem Kölner Kaufmann Ferdinand Funhoff eine „Lacksiederei“ (Dresdner Anzeiger 1866, Nr. 306 v. 2. November, 1; ebd. 1867, Nr. 12 v. 12. Januar, 2). Später trat an dessen statt Alfred Bruno Angermann in die Firma ein (Adressbuch und Warenverzeichnis der Chemischen Industrie des Deutschen Reiches Bd. 1, Berlin 1888, 220). Das Verhältnis der Partner scheint freundlich gewesen zu sein, denn er fungierte als Trauzeuge bei der zweiten Hochzeit von Sürings gleichnamigem Sohn 1896. Carl Wilhelm Süring (1851-1915) folgte seinem Vater als Firmenchef und gründete nach dem Ausscheiden Angermanns im April 1902 die „Lack- und Farbenfabrik mit Dampfbetrieb“ Wilhelm Süring in Dresden (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 94 v. 22. April, 18). Sein Sohn Karl Friedrich Wilhelm Süring (1883-1962) wurde damals technischer Leiter. All das war erfolgreich. 1909 errichtete Süring im Vorort Dresden-Reick neue, größere Produktionsstätten (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 223 v. 21. September, 12; Dresdner Nachrichten 1909, Nr. 37 v. 6. Februar, 9). Sein Sohn wurde Ende 1914 Teilhaber, nach dem Tode des Vaters im April 1915 dann Alleineigentümer der auf Lacke und Firnisse spezialisierten chemischen Firma (Farben-Zeitung 20, 1915, 371; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1915, Nr. 201 v. 22. April, 5; Farben-Zeitung 20, 1915, 830).

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Ein Rüstungsproduzent voller Tradition (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 601 v. 27. November, 4 (l.), ebd. 1918, Nr. 39 v. 22. Januar, 8)

Der neue Inhaber stellte Süring in den Dienst der deutschen Kriegsanstrengung, wollte die Firma „nach den bisherigen, bewährten Grundsätzen weiterführen“ (Farben-Zeitung 20, 1915, 914). Doch er wechselte zugleich den Prokuristen aus (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 115 v. 19. Mai, 8). Weiteres folgte. Zum einen errichtete Karl Friedrich Wilhelm Süring neben der bereits bestehenden Zweigniederlassung in Berlin weitere in München und dann auch Nürnberg (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 139 v. 18. März, 10; Deutscher Reichsanzeiger 1920, Nr. 180 v. 3. August, 9). Das bedeutete Nähe zu den Militärbehörden in Bayern und Preußen und eine Erweiterung des Vertriebsnetzes über die sächsische Kernregion hinaus. Zum anderen aber richtete der neue Firmeninhaber die Firma schon während des Krieges auf den zivilen Nachkriegsmarkt aus.

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Verbindende Dachmarke: Der SÜ-Ring (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 127 v. 31. Mai, 16 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1)

Seit 1915 etablierte Süring mit dem SÜ-Ring eine neue Dachmarke in unterschiedlichem Design, mit denen das sich durch Heereslieferungen und Rohstoffmangel rasch verändernde Angebot werblich verbunden werden konnte. Die Analyse der nicht zahlreichen Quellen spiegelt das Bemühen um eine einheitliche Außendarstellung, doch angesichts wiederholt veränderter Einzelelemente gelang dies nur ansatzweise (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 263 v. 7. November, 10; ebd. 1916, Nr. 295 v. 15. Dezember, 9; Dresdner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 271 v. 4. Oktober, 10).

Parallel sicherte sich Süring Warenzeichen für seine wichtigsten Zivilangebote. Der Emaillelack Ringolin machte den Anfang, gefolgt von der Bronzefarbe Ringos-Aluminium und weiteren Speziallacken wie Ringolit, Sürings-Wetterlack und -Wetterhart sowie einer Universalfarbe (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 97 v. 25. April, 18; ebd. 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 17; ebd. Nr. 284 v. 30. November, 18; ebd. 1919, Nr. 211 v. 16. September, 15; ebd. 1918, Nr. 151 v. 29. Juni, 26).

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Neue Markenprodukte mit Qualitätsimage (Das Echo 42, 1923, 4790 (l.), ebd., 4932)

Diese unternehmerische Strategie wurde ergänzt durch den Kauf neuer Patente (Kunststoffe 8, 1918, Nr. 23, Anzeigen, 2) und eine überraschend aktive Werbung für die in Haushaltsgrößen angebotenen Produkte. In den damaligen Dresdner Adressbüchern fällt seine Seitenrandwerbung unmittelbar auf. 1919 und dann 1923 wurden die Betriebsstätten in Dresden-Reick erweitert, zudem Häuser für die Beschäftigten erbaut.

11_Adressbuch_1921_pIX_Deutsche Luftfahrer-Zeitschrift_22_1918_Nr11-12_p45_Lacke_Emaille_Ringolin_Wichsmaedel_Wilhelm-Suering_Dresden_Sortiment_Ringon_Produktionsstaette

Ein breites Sortiment, inklusive Wichsmädel-Bohnerwachs, und die Produktionsstätten der Lackfabrik Wilhelm Süring (Adressbuch, 1921, IX (l.); Deutsche Luftfahrer-Zeitschrift 22, 1918, Nr. 11/12, 45)

Und Wichsmädel Bohnerwachs? Dieser war Teil der Diversifikationsbestrebungen Sürings nach dem Ende des Weltkrieges. Er wurde vorrangig als Einzelprodukt beworben, war jedoch immer auch Teil des Gesamtsortiments.

12_Sport im Bild_27_1921_p1245_Das Echo_42_1923_p4789_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmädel_Emaille_Wilhelm-Suering_Dresden_Ringos-Aluminium

Wichsmädel als Teil einer Markenstrategie mit Angeboten für den Kleinabsatz (Sport im Bild 27, 1921, 1245 (l.); Das Echo 42, 1923, 4789)

Etablierung der Marke Wichsmädel

Vor diesem unternehmerischen Hintergrund überrascht es kaum, dass auch die Markenetablierung im Umfeld des Süring-Rings erfolgte. Die kniende Frau begann ihr Bohnerwerbewerk zwar schon Ende 1919 (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 478 v. 25. November, 3), doch das Warenzeichen wurde erst 1922 warenrechtlich geschützt.

13_Deutscher Reichsanzeiger_1922_03_18_Nr066_p01_Warenzeichenblatt_29_1922_p645_Bohnerwachs_Wilhelm-Suering_Dresden_Wichsmaedel

Wichsmädel-Warenzeichen: Die kniende und bohnernde Frau (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1 (l.); Warenzeichenblatt 29, 1922, 645)

In der Sammler- und Museumsliteratur wird das Kernmotiv ohne verlässliche Belege auf den Graphiker Ludwig Hohlwein (1874-1949) zurückgeführt (etwa  Sylke Wunderlich, Das grosse Buch der Emailplakate, München 1997, 73; Margaret Horsfield, Der letzte Dreck. Von den Freuden der Hausarbeit, Berlin 1999, 231; Reklame, 2020, 103 sowie auch im entsprechenden Ausstellungsflyer des Grassi-Museums). Zudem wird um resp. ca. 1915 als Entstehungsjahr des Entwurfs angegeben. Beide Angaben scheinen mir hochgradig fraglich zu sein, sind eher Teil einer selbstreferentiellen Kulturszene, in der der spätere Nationalsozialist Hohlwein auch heute als Künstler mit einer lediglich „durchaus streitbaren politischen Orientierung“ präsentiert wird (Patrick Rössler, Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag, arthistoricum.net: Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag), in der Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit unzureichend beachtet werden.

Während des Ersten Weltkrieges waren Fettprodukte wie Bohnerwachs abseits des Militärbedarfs jedenfalls strikt rationiert, war Schuhwichse eine seltene Ausnahme mit Ersatzmittelqualität. Sürings zahlreiche Anzeigen zum Ankauf von Rohwaren für seine Lacke und Firnisse unterstreichen dies indirekt. Auch in der unmittelbaren Übergangszeit war Bohnerwachs selten, erst 1920 begann sich die Versorgungslage langsam zu entspannen (Wiener Illustrierte Zeitung 29, 1920, H. 20 v. 15. Februar, 20). Zahlreiche Hausfrauen waren  zwischenzeitlich wieder zur häuslichen Herstellung von Bohnenwachs übergegangen; vorausgesetzt, sie konnten sich entsprechende Rohmaterialien organisieren.

Für einen Lack- und Firnisproduzenten wie Wilhelm Süring war die Produktion von Bohnerwachs technisch unproblematisch. Das galt auch für den recht frühen Markteintritt. Man hatte zuvor gewiss umfangreiche Erfahrung im Umgang mit kriegsbedingten Ersatzmitteln machen können, denn insbesondere das Terpentin als wichtigstes Lösungsmittel wurde damals durch Benzol, Solventnaphtha oder hydrierte Naphtaline substituiert (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 60, 1920, 292; allgemein Carl Ebel, Die Fabrikation von Schuhcreme und Bohnerwachs, Halle a.d.S. 1930). Wichsmädel Bohnerwachs passte auch deshalb in Sürings Diversifikationsstrategie, weil die Zahl der Konkurrenten Anfang der 1920er Jahre noch klein war (Adressbuch der Farben-, Lack- und Firnis-Industrie […], IV. Ausg., Berlin 1921, 368). Die Eigenwerbung klang selbstbewusst: „Wichsmädel-Bohnerwachs in vornehmen dreifarbig bedruckten Dosen, anerkannt beste Qualitätsware, monatliche Leistungsfähigkeit 75.000 Dosen“ (Ebd., 452).

14_Berliner Leben_26_1923_Nr09_p19_Mann-Frau_Scherenschnitt_Pinup_Nacktheit

Scherenschnitte als Mode der 1910er und frühen 1920er Jahre (Berliner Leben 26, 1923, Nr. 9, 19 (l.); ebd. Nr. 7, 20)

Der Scherenschnitt der knienden und bohnenden Frau passte auch in die neuerliche Mode dieses in Europa im späten 18. Jahrhundert künstlerisch entwickelten Genres, ebenso ihre nicht unmodische Erscheinung mit zurückgebundenem Haar und kurzen, breiten Absätzen. Wichtiger dürften für Süring ökonomische Aspekte gewesen sein – die in kulturwissenschaftlichen Museen ja nur selten beachtet werden. Werbung ist ein Mittel zur Erzielung von Gewinn – und man muss nicht Bazon Brocks emphatischen Kunstbegriff folgen, um zu verstehen, dass Ästhetik und Design vorrangig Mägde des Marktes sind und als solche auch analysiert werden müssen, um nicht in Ästhetizismus oder glucksende Fehleinschätzungen abzugleiten.

15_Deutscher Reichsanzeiger_1923_01_30_Nr025_p21_Ebd_05_09_Nr107_p01_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsfrau_Wichsdiener_Wichsmaedel_Wilhelm-Suering_Dresden

Absicherung des semantischen Terrains durch Defensivzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 25 v. 30. Januar, 21 (l.); ebd., Nr. 107 v. 9. Mai, 1)

Erstens besetzte die Dresdener Firma mit „Wichsmädel“ nicht nur das semantische Feld, sondern sicherte es auch durch Defensivzeichen ab. „Wichsfrau“ und „Wichsdiener“ wurden als 1923 als Warenzeichen eingetragen, so dass es für Wettbewerber kaum möglich war, weitere Wichskomposita zu etablieren. Der 1922 eingetragene Bohnerwachs „Bohnerliesel“ der Märkischen Wachsschmelze Becher & Rechnitz unterstrich, dass solche Befürchtungen nicht unbegründet waren (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1002). Dieser semantischen Sicherung diente zudem die im Herbst 1921 erfolgte Umbenennung der einschlägigen Dresdener Produktionsstätten in Wichsmädelwerke (Wiesbadener Tagblatt 1921, Nr. 495 v. 30. Oktober, 4). Die Sicherung der Markenrechte dauerte auch danach an, denn das die Blechdosen zierende Warenzeichen wurde erst am 28. Juli 1923 beantragt und am 7. Januar 1924 dem Wichsmädelwerk Wilhelm Süring erteilt (Warenzeichenblatt 31, 1924, 196).

16_Deutscher Reichsanzeiger_1922_04_22_Nr094_p01_Das Echo_42_1923_p4816_Schuhcreme_Wilhelm-Suering_Dresden_Wichsmaedel

Ausweitung der Markenfamilie: Wichsmädel-Schuhglanz (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 94 v. 22. April, 1 (l.); Das Echo 42, 1923, 4816)

Zweitens erweiterte die Firma spätestens 1922 die Produktpalette der unter dem Warenzeichen Wichsmädel verkauften Waren. Wichsmädel Schuhglanz war eine Schuhcreme, die ebenfalls in drei verschiedenen Dosen angeboten wurde. Produktionstechnisch dürfte das keine Probleme bereitet haben, unterschied sich die Herstellung beider Produkte doch nur geringfügig. Das gewählte Warenzeichen zeigte abermals eine Frau in Bewegung, dieses Mal beim Schuhputzen. Das erfolgte in halb gebückter Haltung, teils mit angewinkelten Knien. Die auf Knien bohnernde Frau agierte auch hier wie im richtigen Leben, nämlich aufrecht (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1001).

Markteinführung mit begrenzten Mitteln

Wichsmädel Bohnerwachs war ein Drogerieartikel. Diese Selbstbegrenzung folgte der damaligen, vor der Raum- und Sortimentsentwicklung der Selbstbedienungsläden noch üblichen Spezialisierung des Fachhandels. Wie andere Angebote Sürings war Wichsmädel ein Qualitätsprodukt, dessen Vorzüge von ausgebildeten Drogisten gut präsentiert werden konnten – anders als vom Lebensmittelhändler mit seinen anderen Fertigkeiten. Feste Preise und wechselseitig verlässliche Gewinnspannen boten Ausgleich für die Mühewaltung. Der Absatz erfolgte anfangs parallel zum Vertrieb der Lacke und Farben, doch schon Anfang der 1920er Jahre baute Süring ein reichsweites Vertreternetz auf, um Wichsmädel in möglichst vielen Drogerien zu listen. Die Läden bildeten zugleich eine wichtige Werbesphäre, denn hier fand man Emailleschilder, wurde Proben und später Wertmarken verteilt und wieder eingelöst. Doch diese Vertriebsarten sind kaum mehr zu rekonstruieren.

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Aufbau eines reichsweiten Vertriebsnetzes für Wichsmädel-Bohnerwachs (Berliner Tageblatt 1921, Nr. 95 v. 26. Februar, 10 (l.); Hamburger Anzeiger 1921, Nr. 48 v. 27. Februar, 7)

Anders ist dies bei gedruckten Anzeigen. Sechs Aspekte kennzeichnen die Werbung von Wichsmädel Bohnerwachs vor der Hyperinflation 1923.

18_Muenchner Neueste Nachrichten_1919_12_27_Nr526_p11_Ebd_1920_10_18_Nr433_p10_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Arbeitserleichterung und Eigentumsbewahrung (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 526 v. 27. Dezember, 11; ebd. 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10)

Die Markteinführung erfolgte seit Herbst 1919 erstens im Bannstrahl des SÜ-Rings, also der Dachmarke Wilhelm Sürings. Sie war Teil der Erweiterung des Markenportfolios. Zweitens gab es abseits vom SÜ-Ring und der bohnernden Frau keine verbindliche Markenführung. Deutlich wird dies etwa an der Nutzung skurriler Werbefiguren, auf die aber in der Folgezeit nicht wieder zurückgegriffen wurde. Offenkundig bestand kein systematischer Werbeplan. Wichsmädel war ein beworbenes Produkt ohne eigentliche Markenidee.

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Warenzeichen, Gedicht und Bildelemente bei der Markteinführung (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 106, v. 23. April, 9 (l.); ebd., Nr. 102 v. 18. April, 12; Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 203 v. 1. Mai, 17 (r.))

Mit der Benennung und werblichen Ausgliederung der Wichsmädelwerke (parallel zum Bezug neu erbauter Produktionsstätten) emanzipierte sich die Marke drittens ab Herbst 1921 von den Werbemitteln Wilhelm Sürings. Der Produzent trat hinter das Produkt zurück, ermöglichte diesem eine virtuelle Eigenexistenz – wenngleich in vorrangig kleinen Anzeigen. Dabei setzte man vorrangig auf den Wiedererkennungseffekt der knienden und bohnernden Frau, während der SÜ-Ring verschwand (Duisburger General-Anzeiger 1921, Nr. 178 v. 9. Oktober, 7; Westfälische Zeitung 1921, Nr. 244 v. 29. Oktober, 5).

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Übergang zwischen SÜ-Ring und Wichsmädelwerk (Die Woche 23, 1921, Nr. 44 v. 5. November, s.p.)

Diese Emanzipation der Marke ging einher mit Variationen des Namenszuges und unterschiedlichen Größen der bohnernden Frau. Das Grundmotiv erschien stetig, doch die relative Langeweile des nur einen Motivs wurde ansatzweise aufgebrochen (Wiesbadener Tagblatt 1922, Nr. 247 v. 28. Mai, 4; General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1922, Nr. 11327 v. 27. Mai, 13).

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Experimente mit dem Warenzeichen (Die Woche 24, 1922, Nr. 24 v. 17. Juni, s.p.)

Parallel veränderte man die Position der Werbedame, spiegelte das Zeichen, veränderte moderat die Proportionen, auch die Haarpracht.

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Bohnern von links nach rechts, aber auch von rechts nach links (Der Welt-Spiegel 1922, Nr. 50 v. 10. Dezember, 5)

Viertens setzte man beim Vertrieb von Wichsmädel vielfach auf Werbelyrik, während appellative Slogans wie etwa „Für Möbel, hol Wichsmädel“ nicht weiterentwickelt wurden. Schon oben wurden erste Gedichte sichtbar. Sie chargierten zwischen versuchter Leichtigkeit und der Vermittlung zentraler Werbebotschaften, so etwa: „Kennen Sie Wichsmädel schon? / Das Bohnerwachs? Die Sensation? / Das Wachs, das hart und fest? / Das sich nachwischen läßt? / In Qualität sich immer gleicht / Und noch einmal so lange reicht, / Als wenn man weiches Kriegswachs nimmt? / Noch nicht? Versuchen Sie’s bestimmt!“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 102 v. 18. April, 12) In solchen lyrischen Ergüssen wurden männliche und weibliche Perspektiven eingenommen, die Friedensqualität hervorgehoben, die leichte Anwendung, der Beitrag des Bohnerwachses zu einem schönen Heim, zu einer sparsamen Haushaltsführung: „Wichsmädel ist die Bohnermasse, / die Friedensware erster Klasse. / Sehr leicht gib damit jeder / Linoleum und Leder, / Parkett und Möbeln Eleganz / Und lang anhaltend hohen Glanz. / Wer nun meint gescheit zu sein, / Kauft Wichsmädel-Wachs nur ein!“ (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 179 v. 4. Mai, 5)

23_Hamborner Volks-Zeitung_1922_05_21_Nr138_p5_Koelnische Zeitung_1923_05_01_Nr302_p7_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Gedicht

Deutsche Werbelyrik – bar jeder Kunst (Hamborner Volks-Zeitung 1922, Nr. 138 v. 21. Mai, 5 (l.); Kölnische Zeitung 1923, Nr. 302 v. 1. Mai, 7)

Obwohl diese Gedichte ungelenk und teils unfreiwillig komisch wirken, obwohl sie bar jedes Gefühls für die Möglichkeiten deutscher Sprache waren und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Erguss professioneller Werbetexter, wurden derartige Gedichte doch bis zur Weltwirtschaftskrise geschaltet, vielfach auch als Teil größere Anzeigen (Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 107 v. 7. Mai, 2; Mittelbadischer Courier 1928, Nr. 108 v. 8. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 79 v. 3. April, 5). Aus Sicht der Produzenten und Händler müssen sie also wirkmächtig gewesen sein.

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Werbung um die solventeren Kreise (Erzgebirgischer Volksfreund 1921, Nr. 131 v. 8. Juni, 3)

Fünftens kennzeichnete die Markeinführung schließlich eine doppelte Qualitätsorientierung. Einerseits verwiesen die Anzeigen vielfach auf die „besseren“ Hausfrauen und die „besseren“ Geschäfte. Die Kundinnen wurden in einfachen Textanzeigen entsprechend adressiert, die „gnädige Frau“ war auch zu Beginn der Weimarer Republik noch Zielpublikum (Leipziger Tageblatt 1921, Nr. 155 v. 1. April, 3; Badische Presse 1921, Nr. 161 v. 8. April, 3; Hamburger Nachrichten 1921, Nr. 247 v. 31. Mai, 5). Parallel kommunizierten die Anzeigen ein Qualitätsversprechen, priesen ein überlegenes Produkt „aus edelsten Rohfetten mit gutem Terpentinsalz“ in Vorkriegsqualität. Wichsmädel verwies auf die gute alte Zeit vor dem Weltenbrand, seine Werbung zielte in Zeiten der Mangelversorgung und politischen Unsicherheit auf Haltepunkte im eigenen Heim. Das Bohnerwachs war reine Ölware, hatte einen milden, angenehmen Geruch, verlieh dem Boden Glanz, doch immer noch Griffigkeit. Es schützte Boden und Möbel, frischte auf, war zugleich aber hart, konservierend und sparsam (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10; Gartenlaube 1922, Nr. 41 v. 12. Oktober, s.p.). Das klang wie ein Wunschzettel des verarmten und verarmenden Mittelstandes.

Weitet man den Blick über die Einzelanzeigen hinaus, fällt neben der im Vergleich zur Konkurrenz recht hohen Zahl von Annoncen deren saisonale Verteilung auf. Wichsmädel-Werbung begleitete die Kunden zwar durch das Jahr, doch die meisten Anzeigen finden sich zwischen März und Mai, also zu Zeiten des Frühjahrsputzes bzw. eines umfassenderen Hausputzes. Zugleich handelte es sich bei den Anzeigen der ersten Jahre um eine überraschend einseitige Flankierung des lokalen Verkaufs durch Werbemaßnahmen des Produzenten. Während bei vielen anderen Konsumgütern die Händler aktiv und an die lokalen Besonderheiten angepasst Werbung schalteten, dabei Klischees nutzen und variierten, fehlten solche dezentralen Bemühungen. Die Werbung für Wichsmädel wurde von Dresden aus bestimmt, dazu ergänzende Werbemittel geliefert, etwa Kassenblöcke mit Wichsmädel-Signet, Postkarten mit Eindrucken, selbst Rationierungskarten (s. die einschlägige Facebookseite resp. die Facebookseite von Christian Grobie Menz, der auch die Markenrechte von Wichsmädel besitzt).

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Abebbende Qualitätswerbung vor dem Werbestopp 1923/24 (Berliner Tageblatt 1923, Nr. 13 v. 9. Januar, 18)

Neue Facetten, späte Ordnung: Werbung für Wichsmädel nach der Hyperinflation

Die bisherige Analyse der Süringschen Werbung mag zu der Annahme verleiten, dass diese gleichsam nebenher, mit linker Hand betrieben wurde. Dem steht entgegen, dass Wichsmädel schon nach wenigen Jahren ein reichsweit etablierter Markenartikel war (Deutsches Markenartikel-Adressbuch 1932/33, Hamburg 1932, 319). Zudem steht bei der Analyse der Werbung der 1920er Jahre stets die zweite „goldene“ Hälfte des Jahrzehnts im Vordergrund, charakterisiert durch wirtschaftliches Wachstum, neue Visualisierungs- und Markentechniken und eine moderate Amerikanisierung, verkörpert etwa durch auch während der NS-Zeit erfolgreichen Vollagenturen wie Dorland. Doch die Veränderungen sind angemessen zu gewichten. Das mich im „Magazin“ anblickende Dienstmädel verkörpert den Übergangscharakter der Zeit besser als etwa avantgardistische Werbung amerikanischer Automobil- oder Elektrogerätehersteller, wie etwa Chrysler oder Frigidaire.

Wilhelm Süring war ein werbeaffines Unternehmen in einer Branche mit nur begrenzter Publikumswerbung. Die Wichsmädel-Werbung entwickelte sich vor dem Hintergrund steter Werbeanstrengungen auch abseits der Anzeigenwerbung. Wilhelm Süring unterstützte 1921 etwa Reklamewettbewerbe der Leipziger Messe, etablierte dadurch enge Kontakte zum Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1921, Nr. 310 v. 2. Juli, 5). Wichsmädel-Dekorationen zierten die sächsische Hauptstadt während eines umfassenden Schaufensterwettbewerbes von nicht weniger als 142 Drogisten, gewannen dort fünf Preise (Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 461 v. 30. September, 4). Nach der wirtschaftlichen Konsolidierung folgten erfolgreiche Teilnahmen an Geschäftswagenumzügen oder an hauswirtschaftlichen Ausstellungen (A. Dossmann, II. Dresdner Geschäftswagenschau, Seidels Reklame 9, 1925, 307). Dem heutigen Glucksen über Wichsmädelprodukte zum Trotz wurde das Bohnerwachs als modernes Produkt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Frankfurter oder aber Stuttgarter Küche präsentiert, also von Ikonen der damaligen Haushaltsrationalisierung („Der neuzeitliche Haushalt“, Münsterische Anzeiger 1927, Nr. 1073 v. 19. Oktober, 2).

Man kann also von einer Markenpräsentation auf der Höhe der damaligen Zeit ausgehen. Das wurde auch von dritter Seite bestätigt. Das Bohnerwachs war 1930 Teil der Anzeigenkampagne des Bamberger Tageblatts (Seidels Reklame 14, 1930, H. 6, 8). In München gewann er 1931 einen der Anzeigenpreise für gelungene Werbung in den Münchner Neuesten Nachrichten – der damals wichtigsten bayerischen Tageszeitung (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 5). Die Zeitungsredaktion selbst war stolz auf derartige Annoncen, zählte Wichsmädel zu „den wesentlichen Namen, die als Markenartikel in Deutschland überhaupt bekannt sind“ (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 9). Auch aus der Sicht hauswirtschaftlicher Expertinnen gab es Lob und Empfehlungen. Untersuchungen der Leipziger Versuchsstelle für Hauswirtschaft des Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine empfahlen Wichsmädel (wie auch Cirene, Perwachs und die Büdo-Waren) als gutes und erprobtes Produkt, klar besser als billige Hausiererware (Wittener Tageblatt 1931, Nr. 222 v. 22. September, 3).

In diesen Hintergrund ist die Wichselmädel-Werbung der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einzuordnen. Auch nach der Hyperinflation blieb das Warenzeichen der knieenden bohnernden Frau das zentrale Werbeelement. Doch nun wurde es über mehrere Jahre mit zahlreichen Bild- und Textelementen ergänzt und variiert. Dies ermöglichte auf verschiedene Zielgruppen einzugehen. Von einem organischen Wandel hin zu neuen Standards kann man nicht reden, vielmehr von vielfältigen, eher unkoordinierten Einzelmaßnahmen, in denen jeweils bestimmte werbliche Elemente hervorgehoben wurden. Die bohnernde Frau kniete zwar weiterhin, wurde aber in die Welt aufrecht agierender Frauen überführt.

Erstens warben die Wichsmädel-Werke ab 1924 in zahlreichen vorher nicht bedachten Zeitschriften, insbesondere in den neuartigen Magazinen nach meist amerikanischem Vorbild. Während altbekannte Karikaturzeitschriften noch mit eher traditioneller Werbung bestückt wurden, erforderten die neuen, durch ganzseitige Fotos geprägten Magazine neue Werbemotive, um aufzufallen.

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Neues Werbeumfeld Karikaturzeitschriften bzw. Magazine (Fliegende Blätter 161, 1924, 583 (l.); K.E.-Magazin 1, 1925, Nr. 2, 127)

In den Anzeigen finden sich Warenzeichen, Grafiken und Texte zu einem neuen Ganzen verbunden. Das mich anfangs irritierende Dienstmädchenmodell präsentierte eben nicht nur die Blechdose, sondern lobte auch die Qualität des Bohnerwachses, appellierte an ihre das Magazin lesende gnädige Frau, „verlangen Sie aber ausdrücklich Wichsmädel!“ (Uhu 1, 1924/25, Nr. 8, XIII). Diese Vorteile wurden in anderen Anzeigen offensiv propagiert, der wachsende Marktdruck führte zu einer klareren und nachvollziehbareren Argumentation, die auch Hilfe für die Drogisten war.

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Argumente für den Kauf von Wichsmädel (Uhu 1, 1924/25, Nr. 7, XIII)

Es blieb jedoch bei Einzelmotiven. Das zeigt sich etwa an einer Werbegrafik von Paul Simmel (1887-1933), einem der bekanntesten deutschen Illustratoren und Karikaturisten, der auch andere Markenartikel propagierte, etwa Maizena oder Kukirol-Hühneraugenpflaster. Sein Blick in die Drogerie gibt einen Eindruck der verschiedenen Dosen und der Werbung im Inneren eines Ladens. Aber dies war nicht der Beginn einer größeren Kampagne, sondern blieb Einzelstück.

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Paul Simmel als Wichsmädel-Propagandist (Das Magazin 1, 1924/25, Nr. 9, 109)

Daneben lassen sich Mitte der 1920er Jahre zweitens eine Reihe von Anzeigen finden, in denen Bildelemente, Werbetexte und Warenzeichen in werbetechnisch professioneller Art verbunden wurden. Nach der erfolgreichen Markteinführung investierte Wilhelm Süring offenbar gezielt in neue Werbemotive. Die folgende Anzeige stammt beispielsweise vom Dresdener Reklameatelier Hannemann (Das Plakat 11, 1920, H. 7, XI; ebd. H. 11, VI).

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Zwischen Hausfrau und Dienstmädel (Weißeritz-Zeitung 1925, Nr. 292 v. 17. Dezember, 4)

Die Heterogenität der Wichselmädel-Werbung deutet allerdings auf Auftragsvergaben an unterschiedliche Graphiker sowie wohl auch an unterschiedliche Werbeagenturen. In diesen Motiven fand sich war die bohnernde Frau immer wieder, doch die Hauptfiguren, die Hausfrau und auch die Dienstmädchen, standen nun aufrecht, entsprachen den sich langsam emanzipierenden Frauen dieser Zeit.

30_Dresdner Nachrichten_1926_06_14_Nr275_p15_Badische Presse_1929_05_03_Nr204_p09_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Hausfrau_Dienstmaedchen

Qualitätsdiskurs und Warengespräch (Dresdner Nachrichten 1926, Nr. 275 v. 14. Juni, 15 (l.); Badische Presse 1929, Nr. 204 v. 3. Mai, 9)

Die unterschiedlichen Motive unterstrichen zugleich die zunehmende Abkehr von Dienstmädchen und den wachsenden Zwang auch vieler bürgerlicher Frauen ihr Heim selbst zu putzen. Gleichzeitig wurde das Ideal der Hausgehilfin hochgehalten, dabei zugleich auf das Produkt übertragen.

Aufrecht stehende Dienstmädchen präsentieren Wichsmädel (Hörder Volksblatt 1926, Nr. 217 v. 16. September, 4 (l.); Berliner Tageblatt 1926, Nr. 421 v. 6. September, 10)

Dennoch gelang es den Wichsmädelwerken nicht, eine einheitliche Werbesprache abseits des Warenzeichens zu etablieren. Modernere und jüngere Frauenbilder wurden ergänzt, sollten der Marke ein zeitgemäßeres Image verleihen, vor allem aber auch jüngere Hausfrauen ansprechen. Ob diese Wendung gegen die typische Alterung fast jeder Marke gelungen ist, ist unklar.

Die kokette Tochter wirbt für Wichsmädel in lokalen Drogerien (Generalanzeiger für Bonn und Umgebung 1926 v. 12660 v. 29. Oktober, 21)

Unterentwickelt: Lokale Werbung für Wichsmädel

Im Vergleich mit anderen Konsumgütern, etwa den frühen Backpulvern, den in Drogerien und Apotheken vertriebenen cannabishaltigen Asthmazigaretten oder Massenartikeln wie dem Eierkonservierungsmittel Garantol blieb die lokale Werbung der Drogisten unterentwickelt (Ausnahme Hörder Volksblatt 1922, Nr. 40 v. 16. Februar, 3). Sie verließen sich großenteils auf die vor allem gegen Mitte und Ende der 1920er Jahre breit gestreuten Werbevorlagen und Anzeigenkampagnen der Dresdener Wichsmädelwerke. Vor Ort, in den noch so zahlreichen kleinen, lokalen Blättern, warben lokale Anbieter erstens zu Zeiten, in denen der Werbeelan des Herstellers erlahmte, namentlich während der Inflationszeit.

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Dezentrale Werbung durch Drogeristen (Bramstedter Nachrichten 1923, Nr. 5208 v. 4. April, 4)

Zweitens integrierten Drogisten Wichsmädel vornehmlich bei saisonalen Anzeigen, zumeist beim Hausputz im Frühjahr. Einzelne Annoncen gab es, doch sie blieben seltene Ausnahmen.

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Werbung vor Ort durch eine lokale Drogerie (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 223 v. 23. September, 4 (l.); Godesberger Volkszeitung 1926, Nr. 46 v. 25. Februar, 4)

Drittens nutzen lokale Anbieter Wichsmädel, um den Bohnerwachs als Teil einer breiten, ja umfassenden Angebotspalette des eigenen Geschäftes zu präsentieren. Der Markenartikel diente dabei als Ensembleteil, im Mittelpunkt stand jedoch die Auswahl des Ladens. Die Einzelangebote dürften davon profitiert haben, doch im Sinne des Herstellers war die parallele Werbung für Konkurrenzprodukt nicht ideal.

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Bohnerwachs Wichsmädel als Teil der gängigen Angebotspalette für Fußbodenpflege (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 285 v. 4. Dezember, 5 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 121 v. 25. März, Landwirtschaftl. Beil., 6; ebd. 1928, Nr. 117 v. 19. Mai, Unterhaltungsbeil., 8 (r.))

Konsolidierte Marktstellung und langsames Verschwinden

Der Bohnerwachs Wichsmädel dürfte aufgrund seiner intensivierten und vielfältigeren Werbung seine Marktstellung bis in die späten 1920er Jahre gehoben haben. Doch dies ist eine begründete Annahme, keine sichere Quintessenz. Das gilt auch für die Annahme, dass die Marktstellung seit den späten 1920er Jahren tendenziell sank; auch wenn das Produkt bis weit in die DDR-Zeit weiter produziert wurde. Fünf Entwicklungen sind hervorzuheben.

Erstens wurde das Produkt selbst moderat modernisiert. Schon die Anzeigen verwiesen darauf, nannten sie doch mal französisches, später dann amerikanisches Terpentinöl als wichtiges, wohlriechendes Lösemittel. Die Reintegration des Deutschen Reiches in die globale Wirtschaft dürfte dann jedoch weitere Auswirkungen gehabt haben, denn damals nutzte man zunehmend billigere und teils mit anderen Verfahrenstechniken hergestellte Lösungsmittel. Ebenso nahm die Zahl preiswerter Importwachse zu (B. Edburg, Bohnermasse, bzw. Bohnerwachs, Drogisten-Zeitung 40, 1925, 344-347).

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Ein neuer flüssiger Bohnerwachs mit einer aufrechten Hausfrau © Christian Grobie Menz, Wichsmädel | Facebook

Wichsmädel dürfte davon betroffen gewesen sein, entweder durch den Einsatz entsprechender Rohware, sicher aber durch günstigere Angebote der Konkurrenz. Dass man in Dresden nicht beim Alten verharrte zeigte sich 1926, als die Wichsmädelwerke unter gleichem Namen einen flüssigen Bohnerwachs einführten, der von einer nun aufrecht stehenden Frau genutzt wurde. Das war eine Reminiszenz an die wachsende Zahl einfacher zu pflegender Stein- und Linoleumfußböden.

Die Preise blieben nach der Währungskonsolidierung erwartbar stabil, auch wenn man 1926 die anfangs gültigen Preise für die gängige ¼ Dose von 75 auf 85 Pfennig erhöhte. Während der Weltwirtschaftskrise reduzierte man den Preis erst sehr spät. Ab April 1931 wurde er auf 70 Pfennig gesenkt (Dortmunder Zeitung 1931, Nr. 154 v. 1. April, 15), wobei einzelne Drogerien weiter zu alten Preisen verkauften (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1931, Nr. 157 v. 15. Juni, 10). Eine weitere Preisreduktion auf 63 Pfennig erfolgte im März 1932; abermals zogen nicht alle Verkäufer mit – im klaren Gegensatz zu verbindlichen Regeln der Preisbindung (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1932, Nr. 148 v. 3. Juni, 10). Als gewisse Kompensation boten die Wichsmädelwerke spätestens seit 1930 Wertmarken an, also Zugaben, die während der NS-Zeit dann untersagt wurden (Solinger Tageblatt 1932, Nr. 65 v. 17. März, 11). Dies spiegelt den damals üblichen Preisdruck in der Abwärtsspirale der Deflationspolitik.

Zweitens intensivierte sich in dem späten 1920er Jahren die redaktionelle Textwerbung, also das Schalten von thematischen Kurztexten, um bestimmte Eigenschaften von Wichsmädel hervorzuheben. Diese begannen schon nach der Hyperinflation, die gefetteten Überschriften lauteten etwa: „Hausfrauen! Pflegt den Fußboden!“ oder „Hausfrauen! Der Geldbeutel merkt’s!“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1924, Nr. 424/5 v. 2. Oktober, 5; Castroper Zeitung 1925, Nr. 293 v. 17. Dezember, 6). Bemerkenswert war nicht nur die relative Abkehr von der gnädigen Frau, sondern auch der Kampagnencharakter derartiger Anzeigen. Die „kluge Hausfrau“ (Vorwärts 1926, Nr. 460 v. 30. September, 8) wurde beschworen, die „billige und minderwertige Wachse“ (Frankenberger Tageblatt 1926, Nr. 220 v. 1. Oktober, 3) zurückweisen würde, denn „Billig gekauft ist schlecht gekauft“ (Deutsche Allgemeine Zeitung 1927, Nr. 151 v. 31. März, 5).

39_Mittelbadischer Kurier_1927_06_01_Nr126_p4_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Redaktionelle-Reklame

Transfer vom Dienstmädchen auf das Bohnerwachsprodukt (Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 126 v. 1. Juni, 4)

Die höhere Qualität wurde immer wieder beschworen, auch von unabhängigen Ratgebern geteilt (Die Umschau 33, 1929, 100). Wichtiger aber war einerseits der Einbezug des Urteils der Hausfrau, das durch den immer wieder betonten angenehmen Geruch des Terpentins sinnennah propagiert wurde (Frankenberger Tageblatt 1927, Nr. 77 v. 1. April, 7; Flörsheimer Zeitung 1929, Nr. 68 v. 13. Juni, 2; Bonner Zeitung 1929, Nr. 331 v. 5. Dezember, 10; Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 230 v. 17. Mai, 5). Andererseits schufen die Textanzeigen die Imagination des Produktes als Helfers im Alltag und beim „Großreinemachen“ (Badische Presse 1927, Nr. 245 v. 28. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 71 v. 23. März, 3), wurde das Dienstmädchen also zunehmend ersetzt. Textanzeigen waren flexibel, schufen neue Bezüge, präsentierten Wichsmädel als Vorreiter zukünftiger Arbeitserleichterung, banden auch das einkaufende Fritzchen in die Werbewelt mit ein (Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 58 v. 9. März, 4; Vorwärts 1930, Nr. 212 v. 8. Mai, 11).

Drittens nahmen die Wichsmädelwerke seit 1928 Abstand von bebilderten Anzeigen. Sie vertrauten auf Schlagzeilen, kurze Texte und dem weiterhin verwandten Warenzeichen. Der stets ähnliche und schon zuvor angelegte Aufbau – oben eine fette Schlagzeile, rechts die kniende Frau – bewirkte Aufmerksamkeit durch direkte Ansprache, lenkte dann auf die schon zuvor erwähnten Themen.

40_Dresdner Nachrichten_1928_11_30_Nr564_p05_Durlacher Tagblatt_1929_03_08_Nr057_p4_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Die imaginären Frauen Hausmann und Neumann (Dresdner Nachrichten 1928, Nr. 564 v. 30. November, 5 (l.); Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 57 v. 8. März, 4)

Hier war die ordnende Hand von Werbeprofis erkennbar, zumal derartige Anzeigen reichsweit parallel geschaltet wurden (Hausmann etwa auch in Riesaer Tageblatt 1928, Nr. 279 v. 30. November, 16; Badische Presse 1928, Nr. 562 v. 30. November, 4). Allerdings spiegelten auch diese Motive den wachsenden Preisdruck, denn die mit einem höheren Preis verbundene höhere Qualität des Wichsmädels musste immer wieder hervorgehoben werden.

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Sparsamkeit dank Qualität (Annener Zeitung 1928, Nr. 132 v. 1. November, 5; Dresdner Nachrichten 1929, Nr. 136 v. 21. März, 15)

Derartigen Anzeigen wurde schließlich durch variable Schrifttypen und durch immer wieder veränderte Texte eine gewisse Dynamik verliehen.

42_General-Anzeiger für Bonn und Umgebung_1928_03_30_Nr13085_p03_Durlacher Tagblatt_1930_05_08_Nr107_p6_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel_Bohnern

Feste Struktur mit variablen Elementen (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13085 v. 30. März, 3 (l.); Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 6)

Viertens war man sich der geringeren werblichen Kraft derartiger Anzeigen offenbar bewusst – und beantwortete sie mir der parallelen Schaltung unterschiedlicher Anzeigen. Zum einen redaktionelle Textanzeigen oder aber ein Werbegedicht, zum anderen eine der typischen schwarz unterlegten Anzeigen mit der knienden Frau, wie sie schon Mitte der 1920er Jahre verwandt wurde (Annener Zeitung 1927, Nr. 65 v. 2. Juni, 2; Rheinisches Volksblatt 1928, Nr. 105 v. 3. Mai, 6; ebd. 1929, Nr. 57 v. 8. März, 3: Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 4).

Fünftens endete 1930 die stete Innovation der Wichsmädel-Werbung. Das mag mit anderen Schwerpunkten in der Produktpalette von Wilhelm Süring zu tun gehabt haben, denn die Automobilbranche bot mit Poliermitteln und Autolacken neue Geschäftsfelder (Das Süring-Spritz-Lackierverfahren für Automobile, Dresden s.a. [1929]). Zugleich muss man aber von einem relativ gefestigten Absatz für Bohnerwachs ausgehen, der durch intensivierte Werbung nicht mehr wesentlich beeinflusst werden konnte. In diesem Fall war es einfacher, die bestehenden Motive als Erinnerung zu wiederholen und mit abnehmenden, aber immer noch gewinnträchtigen Umsätzen zu leben. Parallel nahm die absolut geschaltete Zahl von Anzeigen seit 1930 beträchtlich ab.

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Letzte Variationen des Grundmotivs (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13100 v. 19. April, 3; Wittener Tageblatt 1928, Nr. 104 v. 3. Mai, 4)

Entsprechend verwundert es nicht, dass Wichsmädel Bohnerwachs während der NS-Zeit mit zuvor entwickelten Formen und Themen beworben wurde. Die mit dem Fettplan 1933 einsetzende Bewirtschaftung vieler Rohstoffe und die Verteuerung von Importen durch schon zuvor massiv erhöhte Außenzölle führten dazu, dass Markterfolge nur durch Qualitätsänderungen und/oder Kämpfen um die Rohmaterialien möglich gewesen wären. Einfacher war gewiss, das ohne Anstrengung mögliche Bohnern mit Wichsmädel zu beschwören (Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12).

44_Badische Presse_1938_04_14_Nr103_p8_Schwerter Zeitung_1939_03_17_Nr065_p12_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Kontinuität während der NS-Zeit (Badische Presse 1938, Nr. 103 v. 14. April, 8; Schwerter Zeitung 1939, Nr. 65 v. 17. März, 12)

Wichsmädel blieb auch während der NS-Zeit eine führende Bohnerwachsmarke, deren Warenzeichen man nicht nur in Tageszeitungen und Drogerien, sondern auch in Adressbüchern und Telefonverzeichnissen finden konnte.

45_Amtliches Fernsprechbuch Leipzig_1938-39_Branchen_p037_Dass Berlin_1941_T2_p250_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsmaedel

Alltagspräsenz von Wichsmädel (Amtliches Fernsprechbuch für den Bezirk der Reichspostdirektion Leipzig 1938/39, Branchen, 37; Amtliches Fernsprechbuch für Berlin 1941, T. 2, 250)

Bei Süring trat mit Ernst Wilhelm Süring im 1939 ein weiterer Stammhalter als Prokurist in das Geschäft ein (Dresdner Nachrichten 1939, Nr. 359 v. 3. August, 5), die Hundertjahresfeier wurde nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion ruhig begangen (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1941, Nr. 181 v. 5. August, 3). Unter sowjetischer Besatzung, auch während der DDR-Zeit konnte sich Wilhelm Süring lange als Familienbetrieb behaupten, wurde erst 1972 verstaatlicht. Als VEB Lackfabrik Dresden wurde er dann Teil des Dresdner Kombinats Elaskon, dessen Nachfolger bis heute Schmierstoffe produziert.

Abschied von Wichsmädel

Der globale Markt für Haushaltsreiniger beträgt gegenwärtig knapp 41 Mrd. € und wird in Zukunft wohl weiter wachsen (Statistica.com). Multinationale Konzerne wie Proctor & Gamble, Unilever und Henkel prägen und bestimmen ihn – in enger Kooperation mit den führenden Handelskonzernen. Wichsmädel Bohnerwachs war ein frühes Produkt dieser insbesondere im Felde der Konsumgeschichte unterschätzten Branche. Über die Großkonzerne wissen wir einiges, wenig aber über die Vorgeschichte der heutigen oligopolistischen Märkte. Am Ende dieses kleinen, durch eine eigenartige Anzeige in einem Magazin der 1920er Jahre angeregten Beitrages, will ich deshalb mit Seitenblicken auf das Marktsegment enden, erklärt dies doch auch die abnehmende Bedeutung des Dresdner Bohnerwachses Wichsmädel.

46_Warenzeichenblatt_31_1924_p0597_ebd_p766_Bohnerwachs_Drilling_Hunde_OSA

Wachsende Zahl von Konkurrenzprodukten (Warenzeichenblatt 31, 1924, 597 (l.); ebd., 766)

Bereits seit den frühen 1920er Jahren nahm die Zahl der Wettbewerber deutlich zu. Angesichts eines sich reetablierenden Marktes und der Abkehr von Wohnungen mit Lehm- oder Holzboden wuchs der Markt für Reinigungsmittel in der Zwischenkriegszeit deutlich an – und schuf angesichts der langen Nutzungsdauern von Wohnungen (und Fußböden) damit zugleich die Voraussetzungen für weitere Absatzsteigerungen von Bohnerwachs bis in die 1960er Jahre. Der vermehrte Wettbewerb prägte jedoch bereits das Marktumfeld von Wichsmädel in den 1920er und 1930 Jahren. Die Zahl lokaler Angebote von Drogerien nahm ab, die der Markenartikel zu. Sie hatten vermehrt einnehmende Warenzeichen, wie etwa der mit Welpen beworbene Bohnerwachs „Drilling“ oder der an die Legende von den Heinzelmännchen erinnernde „Gnom“ Bohnerwachs (Die Woche 24, 1922, Nr. 10 v. 11. März, III).

47_Westdeutsche Landeszeitung_1927_03_31_Nr089_p8_Bergische Zeitung_1933_11_03_Nr258_p12_Putzmittel_Bohnerwachs_Loba-Beize_Gefest_Thompson

Modernere Werbeansprachen (Westdeutsche Landeszeitung 1927, Nr. 89 v. 31. März, 8 (l.); Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12)

Die Werbung für Bohnerwachs wurde modernisiert, etwa durch Einsatz von gezeichneten Werbefiguren wie dem Raben der Loba-Beize oder aber die modernen Schrifttypen der „Gefest“-Reklame der dann von Henkel übernommenen Thompson-Werke. Henkel dominierte den Markt der Wasch- und Reinigungsmittel jedoch nicht nur ökonomisch und technologisch. Der Düsseldorfer Konzern prägte auch neue Werbebilder und Konsumnarrative, die das Bild der Hausfrauen und des Putzens deutlich veränderten.

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Kniend, doch adrett: Die moderne VIM-Hausfrau (Volksstimme 40, 1929, Nr. 68, 13 (l.); Der oberschlesische Wanderer 1929, Nr. 103 v. 3. Mai, 7)

Bohnerwachs verblieb im Schlagschatten derartiger Veränderungen. Preiswertere Produkte wie Wachseifen gewannen Marktanteile, doch Wachslösungen in Terpentin oder anderen nichtpflanzlichen Lösungsmitteln blieben dominant (Gustav A. Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, Bd. 2, 11. neubearb. Aufl., hg. v. Georg Ottersbach, Berlin 1933, 416). Zahlreiche Marken bestanden parallel, meist mit regionalen Schwerpunkten. Die Preisbindung ermöglichte überdurchschnittliche Gewinne, die langsame Aufteilung des Marktes zwischen Drogerien und vermehrt auch Lebensmittelhändlern milderte wirtschaftliche Kämpfe zwischen den Anbietern. Nationale Markenprodukte bestanden, neben Wichsmädel sei an Cirene, Sigella, Cefka oder Tunix erinnert (Marktüberblick bei Klockhaus, 1934, BV 46). Doch ihre Werbung konnte mit der Henkels weder in der Quantität noch in der werblichen Vielfalt konkurrieren. Sie blieb sekundär, unterschied sich strukturell kaum von der für Wichsmädel (vgl. für Globella Fliegende Blätter 163, 1925, Nr. 4170, II).

Bohnerwachs war ein stetig präsentes Reinigungsmittel, unambitiös, Beiklang zu einem Leben, in dem Putzen Alltagsfron blieb, doch keine Alltagspräsenz hatte. Das traf sich mit den Zielsetzungen der Haushaltsrationalisierung: „Der Ablauf des täglichen Lebens soll reibungslos erfolgen, ohne daß wir Hausfrauen, die wir uns Hilfskräfte nur noch in bescheidenstem Maße leisten können, in einem Springen und Rennen bleiben, in ewigem Staubwischen und Reinemachen, in ständigem Suchen und Hervorzerren nach verräumten oder ungünstig untergebrachten Gebrauchsgegenständen. Um das zu erreichen, brauchen wir Häuser und Wohnungen, bei deren Bau und Einrichtung von vornherein daran gedacht wird, daß hier Menschen täglich essen, schlafen, sich erholen – und daß wir Frauen hier arbeiten wollen, um das Essen, Schlafen und Sich-Erholen einer Anzahl von Menschen täglich von neuem zu ermöglichen“ (Erna Meyer, So wollen wir wohnen, Scherl’s Magazin 7, 1931, 466-470, 480).

49_Berliner Tageblatt_1928_09_22_Nr447_p11_Haushaltsgeraete_Parkettboden_Reinigungsgeraet_Fussbodenreinigung_Mascotte_Teilzahlung_Nover

Abkehr vom knienden Putzen (Berliner Tageblatt 1928, Nr. 447 v. 22. September, 11)

Boden- und Oberflächenpflege mutierten zu einem wichtigen Feld der Haushaltstechnisierung – obwohl der eigentliche Durchbruch erst ab Mitte der 1950er Jahre erfolgte, als neue Reinigungsmittel und Kunststoffe das Bohnern und den Einsatz der Bohnermaschinen zunehmend begrenzten. Mitte der 1920er Jahre war das noch anders, der Odem der Arbeitserleichterung beflügelte auch den maschinellen Einsatz von Bohnerwachs. Die Maschinen waren vielfach noch nicht ausgereift, noch war nicht klar, ob die Walzen parallel oder senkrecht zum Boden stehen sollten, ob Staubsauger und Bohnermaschinen zu koppeln waren, ob rotierende Drehköpfe oder einfache Walzenapparate sinnvoller seien (Mangold, Reinigungstechnik im Hause, Die Umschau 32, 1928, 403-405, 407, hier 405, 407). Allen Geräten gemein war – neben ihrem relativ hohen Preis –, dass sie der Arbeitserleichterung dienten, dass sie versprachen, das kniende Putzen zu beenden: Ziel war die aufrechte Frau – femina erecta! Die neuen Maschinen erlaubten Bohnern im Stehen, das weiterhin erforderliche Nachputzen wurde als einfach zu bewältigende Bagatelle verniedlicht.

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Die Suggestion der kinderleichten Hausarbeit: Eine Blockermaschine und der Protos-Bohnerapparat (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 22, IX (l.); ebd. 5, 1927, 413)

Hausarbeit wurde so – zumindest in der Werbung – zu dem Vergnügen, das auch schon in Wichsmädel-Werbung anklang. Nicht umsonst hieß eines der frühen Erfolgsmodelle „Hobby“ (Zeitbilder 1929, Nr. 4 v. 27. Januar, 8). Doch die Werbewelt dieser Bohnermaschinen war noch verhalten und ernst, vergleicht man sie mit den beschwingten Bildern der Wirtschaftswunderzeit.

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Fröhliche Hausfrauen, neue Verpackungen, alter Dreck (Frankfurter Illustrierte 1958, Nr. 36, 21 (l.); Hamburger Abendblatt 1960, Nr. 83 v. 7. April, 22)

Mit diesen wahrhaft aufrechten Frauen möchte ich mich verabschieden. Diese Frauen hatten sich vom Boden erhoben, tanzten spielerisch durch ihre Wohnung, bohnerten scheinbar mühelos im Handumdrehen. Nichts erinnerte mehr an die Alltagsfron des Wichsmädels, an die abhängige Lage eines Dienstmädchens. Die Irritation des Namens war gewichen, die Welt erschien glatt, gefällig und glänzend. Einzig der Dreck, der blieb und kam immer wieder. Und wir müssen uns ihm stellen, ob aufrecht oder auf den Knien.

Uwe Spiekermann, 3. Februar 2023